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German Pages 196 [204] Year 1971
JULIUS STENZEL METAPHYSIK DES ALTERTUMS
JULIUS STENZEL
METAPHYSIK DES ALTERTUMS
1971
R. OLDENBOURG MÜNCHEN • WIEN
Unveränderter reprografischer Nachdruck der Ausgabe München und Berlin 1934 (aus dem Handbuch der Philosophie. Abteilung I, Beitrag D)
© 1971 R . Oldenbourg, München Druck und Einband: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt Printed in Germany
ISBN 3-486-47441-3
Hans Heinrich gewidmet
Schaeder
INHALTSÜBERSICHT I. Einleitung 1. Vorläufige Begrenzung des Begriffs Metaphysik 2. Methode und äußere Beschränkung der Durchführung 3. Wandlungen der Geschichte der antiken Philosophie vom 20. J a h r h . in Philosophie und Altertumswissenschaft 4. Zielsetzung der Darstellung 5. Literatur
3 3 4 19. zum
II. Vortheoretische Metaphysik 1. Der Anfang metaphysischen Denkens 2. Der Mensch in seiner Welt bei Homer und Hesiod 3. Dike und Schuldbegriff 4. Die allmähliche Rationalisierung des Begriffs der Dike von bis Solon 5. Grundzüge der archaischen Metaphysik
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I I I . Die vorsokratische Metaphysik 1. Thaies, Anaximander, Anaximenes 2. Xenophanes von Kolophon 3. Pythagoreismus 4. Parmenides von Elea 5. Heraklit 6. Die Entwicklung der vorsokratischen Metaphysik bis zur Sophistik .
31 31 37 41 46 56 60
IV. Die Neubegründung der Metaphysik in der attischen Philosophie . . . 1. Attisches Drama. Sokrates 2. Piaton 3. Aristoteles
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V. Der Ausgang der Metaphysik des Altertums 1. Der veränderte Welt- und Ichbegriff im Hellenismus 2. Plotin
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I. E I N L E I T U N G . 1. V O R L Ä U F I G E B E G R E N Z U N G D E S B E G R I F F S
METAPHYSIK.
M e t a p h y s i k ist weder ein eindeutiger n o c h ein o h n e weiteres in einer D e f i n i t i o n b e s t i m m b a r e r Begriff. Die übliche D e f i n i t i o n i s t : Lehre v o m Sein, also Ontologie. Die Griechen h a b e n sehr f r ü h ü b e r ov, oiaia spekuliert. M a n k ö n n t e also die A u f g a b e d a r a u f b e s c h r ä n k e n , d u r c h möglichst g e n a u e I n t e r p r e t a t i o n festzustellen, was diejenigen Griechen, die ü b e r ¿V u n d o i a i a gesprochen h a b e n , eigentlich d a r u n t e r v e r s t a n d e n h a b e n . Die m o d e r n e Ontologie h a t u n s aber d e n Blick d a f ü r g e s c h ä r f t , d a ß die F r a g e n a c h d e m Sein u n d d e m Seienden aufs engste v e r b u n d e n ist m i t der F r a g e n a c h d e m Dasein des F r a g e n d e n selber, u n d h a t u n s den Zus a m m e n h a n g von Sein, Welt- u n d S e l b s t b e w u ß t s e i n als eigentliches P r o b l e m jeder M e t a p h y s i k k e n n e n gelehrt. D a in j e d e r E p o c h e der Ges c h i c h t e ein Z u s a m m e n h a n g zwischen d e n t h e o r e t i s c h e n L e h r e n ü b e r das Sein u n d zwischen d e m W e l t d e n k e n u n d u n m i t t e l b a r erlebten W e l t f ü h l e n b e s t e h t , so soll hier e i n m a l a u s d r ü c k l i c h dieser Z u s a m m e n h a n g von v o r n h e r e i n b e i m A n f a s s e n der A u f g a b e m i t b e r ü c k s i c h t i g t w e r d e n . Das b e d e u t e t , d a ß n i c h t einfach v e r s u c h t wird, n u r die b e w u ß t e n L e h r e n ü b e r Sein u n d Seiendes zu d e u t e n , s o n d e r n m i t dieser A u f g a b e a u s d r ü c k lich v e r b u n d e n wird die w e i t e r e : zu e r k e n n e n , wie die Griechen a u c h in i h r e r vor- u n d a u ß e r t h e o r e t i s c h e n H a l t u n g ihr Dasein in der W e l t aufgefaßt und zum Ausdruck gebracht haben. Untersuchungen über den griechischen Geist, den griechischen Menschen, die griechische W e l t a n s c h a u u n g sind n i c h t n e u ; was hier v e r s u c h t wird, ist, diese etwas v e r s c h w i m m e n d e schwer f a ß b a r e A u f g a b e v o n v o r n h e r e i n i m a u s d r ü c k lichen H i n b l i c k auf die b e w u ß t e griechische Seinslehre hin d u r c h z u f ü h r e n u n d beides, die b e w u ß t - p h i l o s o p h i s c h e n L e h r e n v o m Sein u n d die Selbsta u f f a s s u n g dieser g e s a m t e n K u l t u r als E n t w i c k l u n g einer k o n k r e t e n historischen Gegebenheit in ihrer zeitlichen u n d r ä u m l i c h e n E n t f a l t u n g zu begreifen. Diese n o t w e n d i g e E r w e i t e r u n g u n s e r e r D a r s t e l l u n g ü b e r die ausd r ü c k l i c h e n m e t a p h y s i s c h e n oder g e n a u e r ontologischen E r ö r t e r u n g e n i n n e r h a l b der a n t i k e n Philosophie h i n a u s auf die A r t u n d Weise, wie das ganze Dasein, das Orientiertsein in der W e l t , sich philosophisch ausd r ü c k t , soll d e m n a c h n u r d e m o b e r s t e n Zwecke dienen, die eigentlichen T h e o r i e n des Seins in i h r e m geschichtlich k o n k r e t e n geistigen L e b e n D
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und damit in ihrer überzeitlichen sachlichen Bedeutung klarer werden zu lassen. Über die klassischen Darstellungen der theoretischen Ontologie hinauszugehen wird sich aber auch deshalb als notwendig erweisen, weil sonst die metaphysische Bedeutung weder der archaischen noch der hellenistischen und besonders der römischen Philosophie faßbar wird. Denn was der ersten und im Grunde an Wucht und Kraft unüberbotenen Ontologie der Eleaten vorhergeht und sie vorbereitet, ist auch für deren Verständnis grundwichtig, ganz abgesehen von dem hohen Reiz, den dieses fragmentarische und in wenigen Trümmern uns überlieferte Denken für jeden Betrachter haben muß. Die vorläufige Destruktion der eleatischen Metaphysik in der Sophistik ist wieder alles andere als bewußte Ontologie und doch eine metaphysische Angelegenheit allerersten Ranges und höchster Aktualität. Was andrerseits n a c h der klassischen Fundierung der Metaphysik durch Piaton und Aristoteles an Neuem in der Geschichte der Metaphysik hinzutritt, ist keine neue Gedankenbildung im eigentlichen Sinne, sind keine neuen theoretischen Begriffe, sondern ist der Einsatz des reichen metaphysisch-ontologischen Gedankengutes der Vorzeit zum Ausdruck eines sich im Tiefsten verändernden Selbst- und Wirklichkeitsbewußtseins. Dies gilt nicht nur für die Metaphysik des Hellenismus, sondern auch für die letzte große geistige Leistung der antiken Philosophie, für Plotin und den sogenannten Neuplatonismus; in ihm sucht eine ganz allmählich sich vollziehende Veränderung des geistigen Seins ihren letzten, zusammenfassenden Ausdruck, und zwar wird in bewußtem Zurückgreifen auf die ältere Philosophie deren gedankliche Fülle nun zum letzten Male innerhalb der Antike neu erfaßt und gedeutet. 2. M E T H O D E U N D Ä U S S E R E B E S C H R Ä N K U N G D E R D U R C H FÜHRUNG. Die Durchführung unserer Aufgabe kann hier nur in einer zusammenfassenden Darstellung geschehen, und die eindringende Einzelinterpretation wird auf die wenigen Höhepunkte der bewußten Seinsspekulation beschränkt werden müssen. Die Fühlung mit der konkreten historischen Substanz, auf die natürlich alles ankommt, muß für die übrigen Gebiete der zu behandelnden Aufgabe auf andere Weise gesichert werden; es muß zunächst der Nachweis geführt werden, daß der Seinsbegriff in diesem doppelten Sinne, einmal gerichtet auf Sache und objektives Sein, zum andern gerichtet auf das Subjekt, das dieses Sein denkt, kurz der Zusammenhang von Erkenntnis und Persönlichkeit in anderer Form seit langem das treibende Problem der Altertumswissenschaft ist, und daß die Energien dieser dem Altertum spezifisch zugewandten Wissenschaft der philosophischen Bearbeitung dieser Aufgabe zugeführt werden können. Die verfeinerten Mittel der Philologie sollen im folgenden auf ihre Verwendbarkeit für unsere Aufgabe geprüft werden.
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METHODE U. ÄUSSERE BESCHRÄNKUNG
D. DURCHFÜHRUNG
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Man hat in neuerer Zeit in der Altertumswissenschaft für die Veränderungen eines gedanklich identischen Motivs, gleichviel ob künstlerischer oder -wissenschaftlicher Art, den Begriff des Formwandels eingeführt. Form ist hier die aus dem Wesen einer individuellen Situation entspringende Abwandlung, in der „dieselben Gedanken", „dasselbe" plastische, malerische oder literarische Motiv, „dasselbe" stilistische, wissenschaftliche oder religiöse Prinzip in einer andern geistigen Umwelt sich darstellen. Durch diesen Formbegriff erhält diese allgemein erstrebte ,,geistesgeschichtliche" Methode ein bestimmtes Ziel. Sie läßt sich auf die Philosophiegeschichte ausdehnen. Die T o t a l i t ä t des geistigen Lebens in seiner jeweiligen geschichtlichen konkreten Individualität ausdrücklich zum Gegenstande der Betrachtung zu machen, die Einheit zu zeigen, aus der sich die besondern religiösen, ästhetischen, literarischen Züge verstehen lassen, dieses Ziel darf auch in einer Geschichte der Metaphysik nicht fehlen. Hier liegt das Gebiet jener nicht über das Sein reflektierenden, sondern den Sinn des Seins unmittelbar darstellenden metaphysischen Haltung, von der wir gesprochen haben. Was F o r m h i e r dem Ganzen des Seins gegenüber bedeutet, das bedarf freilich einer näheren Bestimmung. Die Erweiterung und Verwicklung unserer Aufgabe durch die Einbeziehung auch der Nicht-Philosophen würde nicht gerechtfertigt sein, wenn nicht in der heutigen systematischen Behandlung der Metaphysik eine Einbeziehung des geistigen Daseins geschichtlicher Individualität selbst neu begründet worden wäre. Mit immer größerer Klarheit ist neuerdings die innere Verbindung der metaphysischen Seinsfrage mit der nach dem Dasein des Menschen in der G e s c h i c h t e begriffen worden. Zwar darf man ohne Zweifel Metaphysik d e r N a t u r definieren als „Wirklichkeitslehre" ( D r i e s c h , dieses Handbuch S. 3, 4), als Lehre vom Wirklichen a n s i c h , als von dem, was nicht nur f ü r m i c h , nicht nur „ E r scheinung" i s t ; aber die Geschichte der Metaphysik zeigt als deren wichtigste, immer wieder bestätigte Wahrheit ein eigentümliches Umbiegen dieser Gedankenrichtung. Das metaphysisch forschende S u b j e k t , das sich bemüht, absolutes Sein zu erfassen, findet sich an entscheidender Stelle zurückgeworfen auf sich selbst, auf einen inneren Kern und Grundbestand seines eigenen geistigen Daseins, mit dem das Sein und Wesen der sogenannten äußeren Wirklichkeit in enger Wechselbeziehung verbunden bleibt. Auch hier t a u c h t zur Bezeichnung dieses Wechselverhältnisses zwischen Innen und Außen, zwischen Ich und Gegenständlichkeit, zwischen Begriff und Gegebenheit immer wieder das Wort „ F o r m " und „ F o r m u n g " auf, um den Anteil des Subjektes an der Gestaltung und Erfassung der objektiven Wirklichkeit zu bezeichnen. Wie in den verschiedenen geschichtlichen Stufen die Anordnung und Gestaltung einzelner geistiger Gehalte aus einer konkreten personalen Einheit als Formung bezeichnet werden konnte, so erscheint hier analog der tätige Anteil des Subjektes, das das Ganze der Wirklichkeit begreift
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und ihre Mannigfaltigkeit denkend vereinheitlicht, ebenfalls als ein Formungsprozeß allgemeiner Art. Wie verschieden auch die Gesichtspunkte sind, unter denen im einzelnen Falle die Formung einer „Gegebenheit" vollzogen wird und wie abgestuft die Einheitsvorstellungen, die als Träger dieser Formkraft unterschieden werden können und müssen, so wichtig ist die Tatsache, daß es immer ein konkreter wirklicher Mensch ist, der jene Formung vollzieht und damit sein subjektiv erlebtes Dasein mit objektivem verknüpft. Es ist wesentlicher Inhalt und entscheidende Aufgabe der Metaphysik als philosophischer Wissenschaft, die Beziehungen zwischen demjenigen geschichtlichen Menschen aufzudecken, der sein konkretes individuelles Dasein in der Formung seines Weltbildes an einer bestimmten Zeitstelle zum Ausdruck bringt, und jenem Subjekt, das in metaphysischer Besinnung forschend die Wirklichkeit sich gegenüberstellt, sie von sich „ a b l ö s t " , sie also absolut denken will und grade dadurch sie unter die jeweilige „ F o r m " seines erkennenden Bewußtseins stellt. 3. W A N D L U N G E N D E R G E S C H I C H T E D E R A N T I K E N P H I L O S O P H I E VOM 19. ZUM 20. J A H R H U N D E R T IN P H I L O S O P H I E U N D ALTERTUMSWISSENSCHAFT. Der hier angedeutete Begriff der Metaphysik scheint zu der herrschenden Auffassung von der Geschichte der antiken Philosophie nicht zu passen. Tritt doch in der antiken Seinslehre, der oi'ffi«-Spekulation, die Gegenständlichkeit durchaus in den Vordergrund, j a , scheint doch die Schranke antiken Denkens grade auf metaphysischem Gebiete zu sein, daß alles dasjenige, was mit dem vieldeutigen Worte des Subjektiven, Ich-Zugewandten zusammengefaßt werden kann, zurücktritt und gleichsam abgeblendet wird. Die Geschichte der Philosophie meinte stets als die eigentümliche und wichtige Leistung des Griechentums die Schöpfung der objektiven W i s s e n s c h a f t herausarbeiten zu müssen, und zwar zunächst die der rationalen Naturwissenschaft, deren Anfänge sie bereits bei Thaies und den andern Yorsokratikern in abgestufter Reinheit und Sicherheit feststellen zu können glaubt. Diese Tendenz gipfelt dann in der sogenannten Marburger Philosophiegeschichte, für die Piaton zum Vorläufer Kants wird, und zwar eines bereits einseitig umgedeuteten Kant, für den die Erkenntnistheorie der Naturwissenschaft zum Zentrum des Philosophierens geworden ist. Die philosophische Energie, mit der diese Auffassung für weite Gebiete der griechischen Philosophie durchgeführt wurde, bestimmt noch mehr als es bei der grundsätzlichen Preisgabe dieses Programms möglich scheinen könnte, die heutige Auffassung im einzelnen. Denn hier ist der Zeitcharakter des 19. Jahrhunderts der Nährboden einer geschichtlichen Einstellung gewesen: wenn die Wirkungen der Naturwissenschaften so stark das gesamte Leben bestimmen, so scheint kein Verdienst der Väter und gestaltenden
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DER GESCHICHTE
DER ANTIKEN
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Urheber unserer europäischen Kultur größer und der Hervorhebung würdiger als eben jenes, auch zu einer rationalen Durchforschung und Bewältigung der Natur die entscheidenden Schritte getan und der gesamten Folgezeit die Wege gewiesen zu haben. Inzwischen hatte die klassische Philologie und die allgemeine Geistesgeschichte der Antike ihr Bemühen an die Aufgabe gesetzt, in der griechischen Geschichte und Dichtung die s e l b s t b e w u ß t e , von individuellem Leben erfüllte Persönlichkeit in ihrer Entwicklung vom 7. bis zum 5. Jahrhundert zu erfassen und die weitere Fortbildung des „Menschen" in den späteren Jahrhunderten und im Römertum zu verfolgen. Die Forscher dieser Richtung sehen h i e r i n dasjenige Gut, das die europäische Geistesentwicklung den Griechen und der Antike überhaupt zu danken hat. Den ,,Charakterkopf", den lebendigen Menschen dort zu entdecken, wo die klassizistische Altertumswissenschaft objektivierte idealisch blasse Typen gesehen hatte, ist das Ziel der geschichtlich orientierten Altertumswissenschaft am Ende des 19. Jahrhundert geworden, ein Ziel, das ganz dem „geschichtlichen", nach „Realität" auch in der Region nicht naturhaften Daseins verlangenden Jahrhundert entsprach. Die methodischen Veränderungen aller einzelnen Wissenschaften und der Philosophie und die Wandlungen in der Auffassung ihres kulturellen Sinnes im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts, deren ganzes Ausmaß spätere Geschlechter besser als wir langsam Mitlebenden überschauen werden, haben natürlich auch jenen Gegensatz zwischen einer aufs Individuell-Menschliche gerichteten Gechichte des Altertums und einer die Wissenschaftstendenz der alten Philosophie unterstreichenden Philosophiegeschichte mannigfach verändert und ausgeglichen. Aus den philosophischen und philologischen Bestrebungen, deren Ziel eine neue Stellung zum Griechentum geworden ist, sollen hier nur diejenigen herausgegriffen werden, die unmittelbar die antike Metaphysik angehen. Zuerst ist die geschichtliche Individualitätsforschung, das Suchen der charakteristischen Persönlichkeit, einfach psychologistisch auf die Philosophen übertragen worden. Zwar hat die philologisch-geschichtlich vertiefte Bearbeitung der alten Philosophen die zu erforschenden Grundlagen, das gegebene Material gesichert und erweitert, und die lebendige Erfassung der Einzelheiten stellte viele ganz neue Aufgaben. Aber die eigentliche philosophische Durchdringung des Stoffes wurde durch die äußere Komplizierung der Fragen mehr gelähmt als gefördert, die bequeme Bereitstellung des Quellenmaterials, z. T. sogar mit deutscher Übersetzung, erzeugte eine Vielgeschäftigkeit, und nach derselben Richtung der äußeren Komplizierung und Vereinzelung wirkte das, was an die Stelle jener wissenschafts- und erkenntnistheoretischen Auffassung der griechischen Philosophie zu treten begann, als man Zivilisation, Technik und Kultur besser zu scheiden lernte und nach andern als bloß naturwissenschaftlichen Motiven im Denken der alten Philosophen suchte. So hat
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merkwürdigerweise eine im einzelnen vertiefte geschichtliche Forschung den Sinn, den die eigentliche Philosophie aus der Betrachtung ihrer Geschichte gewinnen konnte, mehr verdunkelt als erhellt. Es ist nun zu untersuchen, in welcher Richtung der allgemeine geistige Wandel des 20. Jahrhunderts die These der philosophiegeschichtlichen Yulgata modifizierte, daß die Wissenschaft, und zwar die rationale mathematisch-physikalische Bewältigung der Natur, die große Errungenschaft des griechischen Geistes gewesen sei. Hier ist nun zunächst festzustellen, daß in der Kulturkrise des 20. Jahrhunderts diese These vielfach nicht modifiziert, sondern das rational wissenschaftliche Motiv in der griechischen Philosophie radikal vernachlässigt und in seiner großen Bedeutung für das Gesamtbild des griechischen Geistes geleugnet worden ist. U m das Überpersönlich-Sachliche als „Irrationales" aus dem Bestände der griechischen Philosophie herauszuholen, ließ man sie in dem vieldeutigen Begriff des Mythos gipfeln, hinter dem alles andere zurückzutreten hätte. Zwei Motive laufen in der modernen Mythosforschung oft unklar durcheinander. Einmal wird der Mythos als geheimnisvolles Produkt überindividueller Kräfte, als Werk des Volksgeistes aufgefaßt, zum zweiten wird die Wurzel des Mythos in gewisse Regionen der individuellen Seele verlegt und der Mythos zum Ausdruck der irrationalen Vermögen des Menschen gemacht, die neben und über den rationalen Kräften sein Wesen konstituieren. Wichtige philosophisch-metaphysische Möglichkeiten sind sichtlich in diesem Mythosbegriff latent; aber daneben Möglichkeiten höchst gefährlicher, den Sinn der Antike zerstörender Modernisierungen. Wenn sogar das philosophische Denken lediglich zum bunten Spiel dichterischer Phantasie wird, kann seine Einheit nur in der irrationalen „mythischen Tiefe" der einzelnen Seele gesehen werden. Individuellen Absonderlichkeiten nachzuspüren, diese im Physiologisch-Pathologischen zu verankern, entspricht der modernen Individualitätsforschung. So setzen sich Psychoanalyse und Tiefenpsychologie, um die letzten Ausstrahlungen dieser Betrachtungsweise zu nennen, in die engste Beziehung zum Mythos; zur „Vertiefung" des Seelenproblems durch erotische Komplexe bietet ja der Mythos aller Völker gewisse Vorwände. Aber auch wenn von diesen extremen Formen der Mythospsychologie abgesehen wird, bleibt es ihre allgemeine Tendenz, von dem objektiven Gehalte, um derentwillen sich die Philosophie um die Antike zu kümmern hätte, nicht eben viel übrig zu lassen.
Auch die Mythosphilosophie dieser Art — E. Cassirers Philosophie des Mythos wird von dieser Kritik nicht getroffen — treibt letzten Endes darauf hin, das Gedankliche auf die charakteristische individualpsychologische Konstitution zurückzuführen. Hierin läuft sie weithin zusammen mit der vorher geschilderten Richtung auf charakteristische Individualität schlechthin, deren Gefahr die Vereinfachung und unbewußte Angleichung an den modernen geistigen Typus war. Andrerseits aber hat diese moderne Mythosphilosophie und -philologie die Ehrfurcht vor den ganz andern, uns entschwundenen Lebensmächten archaischer Zeiten, das Gefühl der Distanz zu ihnen zweifellos gestärkt; hierin liegen wichtige Fingerzeige für die heutigen Aufgaben der Metaphysik; aber die Gefahr ist oft nicht vermieden worden, in ein recht unantikes Raffinement zu geraten, für sehr moderne pseudoreligiöse oder ästhetisierende Sehnsüchte
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einen Eideshelfer in der Antike zu suchen und sie im Sinne eines verfeinerten Bildungs- und Menschenideals umzudeuten. Die starken Antriebe zur wirklich sachgemäßenVerfeinerung der Methoden der Altertumswissenschaft überhaupt lind der antiken Philosophiegeschichte im besondern, die von diesen Bestrebungen ausgingen, in die auch die Anregungen des Stefan George-Kreises einzuordnen sind, sollen nicht verkannt werden. Wenn modernste Geistigkeit in der Antike Züge zu sehen glaubt, die ihr zum Aufbau einer Persönlichkeitskultur geeignet zu sein scheinen, so ist auch dies noch ein guter Beweis, daß hinter der gewaltigen sachlichen Leistung des Griechentums und der Antike überhaupt Form- und Bildungskräfte besonderer Art wirksam sind und ein allgemeineres Menschliches in ihr lebendig sein muß. Diese Bestrebungen tragen ein neues Interesse auch an der griechischen Philosophie weit über die von Berufs wegen der Antike zugewandten Kreise hinaus. Zu den Fragen, die in diesen philosophischen und außerphilosophischen Bewegungen neu gesehen erschienen, mußte wiederum die eigentliche strengere Altertumswissenschaft Stellung nehmen. Soweit sie für die mit ihrem Wesen geforderte humanistische Problematik gar kein besonderes Interesse aufbringt und sich als historische oder philologische Spezialwissenschaft fühlt, hat sie diese in der Tat zum Teil mehr literatenhaft sich äußernden Bestrebungen kaum einer erheblichen Beachtung gewürdigt. Ein zweiter Teil der Forscher hat sich offen, auch im Stil und literarischen Gehaben, dieser neuen Richtung hingegeben und versucht, auf diese Weise die neuen Probleme in die eigene Forschung einzubeziehen. Bei weitem am wichtigsten und fruchtbarsten ist aber die von W . Jaeger ausgehende neueste Humanisierung der Altertumswissenschaft, die mit dem mehrdeutigen Worte der Paideia-Forschung zunächst bezeichnet sei. Insofern in ihr latent eine bestimmte geschichtsphilosophische Stellung zum Ausdruck drängt, führt sie an die Schwelle unserer metaphysischen Problemstellung unmittelbar heran. Diese Geschichtsphilosophie sucht die historische Haltung des 19. Jahrhunderts unter Vermeidung ihrer bedenklichen Konsequenzen beizubehalten: nicht lediglich die tatsächlichen Leistungen der griechischen Kultur als die eines Volkes n e b e n a n d e r n gilt es zu erforschen, sondern die besonderen Momente und Motive, die diese Leistung zur Fortwirkung befähigen, sie „renaissancefähig" machen. Nicht die bloßen Tatsachen der historischen Kontinuität vom Altertum zur Gegenwart auf allen Kulturgebieten, in deren oft äußerlicher Sammlung sich der Humanismus leicht zu verzetteln droht, sondern das Prinzip dieser Kontinuität selbst wird in den Mittel- und Blickpunkt gerückt. Beide Ziele sind in e i n e Betrachtung zusammenzufassen, in die Betrachtung der die europäische Geschichte von allen andern abhebenden Kulturidee, die in der Paideia, der bewußten Selbstformung des griechischen Volkes ihr Prinzip hat, ihre äqxV d e m doppelten griechischen Sinne,
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der sowohl den zeitlichen A n f a n g wie die sich aus dessen K r a f t e n t f a l t u n g ergebende G e s e t z m ä ß i g k e i t bezeichnet. I n Jaegers V o r t r a g s r e i h e „ P i a t o s S t e l l u n g i m A u f b a u der griechischen B i l d u n g " S. 2 9 f f . = Antike IVM wird die i n n e r e Beziehung dieser auf d e m B o d e n der A l t e r t u m s w i s s e n s c h a f t e r w a c h s e n e n Idee v o m geschichtlichen W e s e n des europäischen Menschen zur Sache der Philosophie z u m e r s t e n Male deutlicher g r e i f b a r . Z w a r ist v o n P i a t o n d e u t u n g die Rede, a b e r diese h ä n g t n u n einmal m i t der g e s a m t e n griechischen Philosophie u n d schließlich mit der Philosophie ü b e r h a u p t aufs engste z u s a m m e n . J a e g e r s e t z t S. 29 „eine m o d e r n e F a c h p h i l o s o p h i e " v o r a u s , f ü r die „die Gleichung des Logischen m i t d e m W e s e n u n d eigentlichen K e r n der P h i l o s o p h i e " „naheliegend u n d s e l b s t v e r s t ä n d l i c h " ist, wobei d a n n das Logische w i e d e r in dem spezifisch m o d e r n e n Sinne g e n o m m e n w u r d e , d a ß m a n e r s t die ontologische Seite u n d die E i n h e i t m i t d e m E t h i s c h e n abzog, u m das „ R e i n " - L o g i s c h e zu e r h a l t e n . D a ß dies f ü r die Marburger Philosophen, als sie ihre P i a t o n w e r k e schrieben, z u t r a f , u n d d a ß die von diesem Z e n t r u m ausgehende G e s a m t a u f f a s s u n g der griechischen Philosophie weithin h e r r s c h e n d ist, w u r d e oben zugegeben. I n der T a t h a t die heutige Philosophie eben erst begonnen, die m e t h o d i s c h u n d sachlich v o n einer g a n z e n Schule g e t r a g e n e Marburger P i a t o n d e u t u n g zu ü b e r w i n d e n u n d d u r c h ein neues a u s ihrer eigenen philosophischen P r o b l e m a t i k erzeugtes, philosophisch ebenso tief gegründetes, a b e r m i t reinerem historischem Gewissen e m p f a n g e n e s P i a t o n b i l d zu e r s e t z e n . Doch die s y s t e m a t i s c h e E n t w i c k l u n g ist ü b e r die ursprüngliche M a r b u r g e r Lehre längst h i n w e g g e s c h r i t t e n , u n d hier m u ß die These J a e g e r s weitgehend e i n g e s c h r ä n k t w e r d e n . Das beweist schlagend das gegenwärtige Philosophieren d e r beiden originalsten aus der M a r b u r g e r Schule hervorgegangenen F o r s c h e r , E r n s t Cassirer u n d Nicolai H a r t m a n n . Die „ L o g i k " , auf die J a e g e r s C h a r a k t e r i s t i k z u t r i f f t , ist n i c h t m e h r selbstverständlicher A u s g a n g s p u n k t , s o n d e r n ein heiß u m s t r i t t e n e s P r o b l e m der gegenwärtigen Philosophie. W a s er dagegen einer philosophischen B e h a n d l u n g der griechischen Philosophie neben- oder ü b e r o r d n e t (S. 30), ihre E i n f ü g u n g i n die geistige S u b s t a n z der g e s a m t e n a n t i k e n K u l t u r , e n t s p r i c h t d e m Ziel einer m e t a p h y s i s c h e n B e t r a c h t u n g , wie sie sich genau u n d s t r e n g aus der h e u t i g e n Lage der F a c h p h i l o s o p h i e ergibt. Es ist e b e n kein Zufall, d a ß gerade in dieser h e u t i g e n S i t u a t i o n der Philosophie die I d e e jenes h u m a n i s t i schen Menschenbegriffs u n d eines h u m a n i s t i s c h e n Logos als F o r d e r u n g der A l t e r t u m s w i s s e n s c h a f t a u f t r a t . 4. Z I E L S E T Z U N G D E R
DARSTELLUNG.
Die A u f g a b e n einer Darstellung der griechischen M e t a p h y s i k sind dam i t e i n i g e r m a ß e n a b g e s t e c k t . Auf drei P u n k t e m ü ß t e eine u m f a s s e n d e r e D a r s t e l l u n g das Schwergewicht gleichmäßig zu verteilen s u c h e n : ein-
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mal müßte das charakteristische menschliche Dasein der Philosophen aus dem Ganzen ihrer geschichtlichen Lage verständlich werden. Zweitens müßte in ihrer philosophischen Selbsterkenntnis das Bewußtwerden ihres einmaligen geschichtlichen Daseins aufgesucht und in ihm die systematische Einheit der Lehren gewonnen werden. Das Dritte und Letzte ist das Wichtigste: an und mit dem Begreifen dieses sich selbst verstehenden philosophischen Daseins, wie es die Geschichte der Philosophie uns aufgibt, muß die von den Griechen herreichende und uns mit umfassende Entwicklung des menschlichen Geistes als menschliches Sein, so wie es wirklich war und ist, als inneres Schicksal unseres eigenen denkenden Bewußtseins hervortreten. Nicht indem wir unser heutiges Denken hineindeuten in die Vergangenheit, erheben wir uns selbständig über sie, sondern indem wir unsere geschichtlich gewordene Existenz bewußt anerkennen, das früher wahr Gewesene in seinem eigenen Sinne durchschauen, indem wir dadurch d u r c h s c h a u e n und durchstoßen bis zum menschlichen, d. h. geschichtlichen Sein schlechthin, bis zu demjenigen Grunde, in dem die Einheit des früheren und des heutigen Daseins sich als s a c h l i c h e s Wesen des Menschen erfüllt und den übergreifenden Zusammenhang von Einst und Jetzt herstellt. Dann werden die in dem verengten Blick der bloßen Gegenwart uns entschwundenen, durch allerlei Zufälle verschütteten Probleme der Metaphysik wieder lebendig werden und diese wird sich zur umfassenden Seinslehre erweitern. Diese allgemeine, durch die Sache geforderte Zielsetzung muß auch trotz der gebotenen Einschränkung dieses Abrisses in der M e t h o d e der Betrachtung festgehalten werden. Dem Plan dieses Handbuches entsprechend darf bei der Auswahl des Stoffes die bescheidenere Zielsetzung eintreten, „ d a s , was bei der eigenen philosophischen Arbeit aus dem Früheren lebendig und bedeutsam geworden i s t " , für die aktuelle systematische Frage nach einer Metaphysik des Menschen fruchtbar zu machen. 5. L I T E R A T U R . Die hier zugrunde gelegte Auffassung von Metaphysik wäre wesenlos, wenn sie in einer programmatischen Angabe geklärt und bezeichnet werden könnte; kommt doch alles darauf an, den Sinngehalt der zur vorläufigen Umschreibung benutzten, völlig v a g e n Begriffe, wie menschliches Dasein, rationale und wissenschaftliche Haltung usw. anders zu bestimmen und zu erfüllen, als sie dem modernen Bewußtsein zunächst vorzuschweben pflegen. D a n a c h kann die vorstehende Einleitung zunächst lediglich d a z u dienen, gegenüber den verwandten Teilen des Handbuches die Richtung der Untersuchung ungefähr anzudeuten, also gegenüber der Metaphysik der N a t u r v o n Driesch (II B ) , der Erkenntnistheorie von K u n t z e (I B), der Philosophischen Anthropologie von Groethuysen (IV A), der Metaphysik der Seele von Seifert, der E t h i k des Altertums von Howald ( I I I F, B). Die immanente Stellungnahme zu diesen Arbeiten ist keine Kritik, sondern E r g ä n z u n g ; das dort nicht Behandelte, diejenigen Seiten des doch schließlich einheitlichen Gegenstandes der Antike, die nach dem Blickpunkt jener Verfasser zurücktreten durften und mußten, sind hier bewußt herausgearbeitet. Soweit ist die durch
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T h e m a u n d R a u m g e f o r d e r t e Auswahl, die A k z e n t u i e r u n g der stofflichen Gebiete v o n j e n e n A r b e i t e n in gewissem Sinne abhängig. D a r a u s ergibt sich f ü r den Leser die N o t w e n d i g keit, die a n d e r n g e n a n n t e n Teile immer im A u g e zu b e h a l t e n . U m d e m j e n i g e n , w a s sich mir b e i m D u r c h d e n k e n der a l t e n Philosophie u n t e r der b e s o n d e r e n A u f g a b e dieses H a n d b u c h s a n n e u e n E i n s i c h t e n ergeben h a t , R a u m zu s c h a f f e n , m u ß v o n d e m R e c h t des Verweisens auf f r e m d e u n d eigene Arbeiten G e b r a u c h g e m a c h t w e r d e n . Die allgemeine A u f f a s s u n g d e r M e t a p h y s i k als d e i v e r s t e h e n d e n Analyse des menschlichen Daseins in seiner geschichtlichen E n t w i c k l u n g liegt m e i n e n A r b e i t e n seit m e i n e r H a b i l i t a t i o n s schrift „ Z u m P r o b l e m d e r Philosophiegeschichte" K a n t s t u d . 1921, z u g r u n d e ; eine allgemeinere E r ö r t e r u n g des Seinsbegriffs b i e t e t der A u f s a t z : D a s P r o b l e m der Willensfreiheit i m P i a t o n i s m u s , A n t i k e IV. Die b e s o n d e r e n A n w e n d u n g e n auf die Philosophie d e r Griechen werden v o n Fall zu Fall e r w ä h n t werden. Die H i n w e n d u n g der M e t a p h y s i k zu einer Ontologie geistig-seelischen D a s e i n s e n t spricht so sehr d e m allgemeinen T r i e b der gegenwärtigen Philosophie, d a ß die A u s w a h l zufällig bleiben m u ß . D i l t h e y s Ringen u m die „ K r i t i k der historischen V e r n u n f t " , seine D a r s t e l l u n g der Geschichte der Philosophie i m zweiten Teile der E i n l e i t u n g in die Geistesw i s s e n s c h a f t e n mit ihrer Entgegenstellung v o n M e t a p h y s i k u n d „ i h r e m S c h a t t e n , dem S k e p t i z i s m u s " ist mir zuerst wichtig geworden. Seine F o r d e r u n g einer neuen, den geisteswissenschaftlichen A u f g a b e n gewachsenen Psychologie ist auf verschiedene Weise in der D e n k s p y c h o l o g i e u n d in der Phänomenologie erfüllt worden. Die Denkpsychologie h a t i n der philosophisch v e r t i e f t e n F o r m , die i h r R . H ö n i g s w a l d gegeben h a t , f ü r meine A u f f a s s u n g d e r m e t a p h y s i s c h e n Probleme eine große B e d e u t u n g gewonnen. I n d e m j e d e o b j e k t i v e G e g e n s t ä n d l i c h k e i t ihre Beziehung z u m „ P r i n z i p u n d zur T a t s a c h e des — hic e t n u n c erlebenden — I c h " erhält, e n t s t e h t f ü r die E r k e n n t n i s t h e o r i e die Möglichkeit einer m e t a p h y s i s c h e n B e g r ü n d u n g i m Dasein der P e r s o n , der geistigen M o n a d e ; i n d e m d e r e n E r k e n n t n i s e r l e b n i s s e mit d e n e n der a n d e r n M o n a d e n i m „ V e r s t ä n d n i s p r o z e s s e " innerlich v e r k n ü p f t werden, wird der H ö n i g s w a l d s c h e B e g r i f f s a p p a r a t gerade b e s o n d e r s f r u c h t b a r f ü r die Erschließung des a n t i k e n Menschenbegriffes, in d e m die Vereinzelung des d e n k e n d e n Ichs, diese crux m e t a p h y s i c a des m o d e r n e n D e n k e n s , i m m e r wieder, wo sie a u f t r a t , e r k e n n t n i s t h e o r e t i s c h sofort ü b e r w u n d e n w u r d e (z. B. die Sophistik i n Sokrates). Wesentliche Aufschlüsse über das Gesamtsein der A n t i k e i m Gegensatze z u m C h r i s t e n t u m sind i m m e r noch b e i Hegel zu g e w i n n e n ; weniger aus d e n ausdrücklich diesen D i n g e n z u g e w a n d t e n Vorlesungen als aus d e n W e r k e n , in d e n e n die s y s t e m a t i s c h e K r a f t des D e n k e n s a u c h seinen historischen Blick s c h ä r f t , also vor allem i n der P h ä n o m e n o l o g i e ; a u c h die theologischen J u g e n d s c h r i f t e n w a r e n mir sehr wichtig. Die m o d e r n e P h ä n o m e n o l o g i e bleibt historisch u n d sachlich m i t der Ontologie der antik e n Philosophie v e r b u n d e n ; a u c h H e i d e g g e r s n e u e s t e W e n d u n g des G a n z e n k n ü p f t a n die Seinslehre des p l a t o n i s c h e n Sophistes u n d der aristotelischen M e t a p h y s i k an. V o n H e i d e g g e r ist die m e t a p h y s i s c h e Frage des „Menschen u n d seines D a s e i n s " a m u m f a s s e n d s t e n gestellt u n d ü b e r i h f e antike F o r m h i n a u s g e f ü h r t w o r d e n , i n d e m menschliches D a s e i n nicht n u r in seiner menschlichen U m w e l t , in seiner m o n a d i s c h e n E x i s t e n z gleichsam f l ä c h e n m ä ß i g , s o n d e r n zugleich i n seiner geschichtlichen Tiefe, in seiner Zeitlichkeit aufgewiesen w o r d e n ist. D a in d e m V e r h ä l t n i s der P h ä n o m e n o l o g i e Husserls zu der Schelers u n d Heideggers sich eine parallele D i a l e k t i k abspielt wie in der a n t i k e n Philosophie i m Ü b e r g a n g e von S o k r a t e s - P l a t o n zu Aristoteles, soll später d a r a u f noch einmal z u r ü c k g e g r i f f e n w e r d e n . Soviel zur allgemeinen s y s t e m a t i s c h e n Orientierung. Die n o t w e n d i g e und f r u c h t b a r e Tendenz z u m „ C h a r a k t e r i s t i s c h e n " ist wie mir scheint a m s c h ä r f s t e n f o r m u l i e r t bei E d . Schwartz, C h a r a k t e r k ö p f e aus der a n t i k e n L i t e r a t u r I (Lpz. 1906), S. 1, bes. S. 2 : „ D e n I d e a l t y p u s soll der C h a r a k t e r k o p f ersetzen, die klassischen Gespenster sich v e r d i c h t e n zu I n d i v i d u e n l e i b h a f t i g e n W e s e n s " . H ö c h s t wichtig die s o f o r t folgende E i n s c h r ä n k u n g : „ A u c h einer solchen B e t r a c h t u n g schieben sich n u r z u leicht P h a n t o m e vor die e c h t e n Bilder. D a s i n der Ü b e r t r e i b u n g falsche P r i n z i p , in j e d e m L i t e r a t u r w e r k ein persönliches B e k e n n t n i s zu sehen, u n d die nie a u s s t e r b e n d e N e i g u n g der Menge, in den G r o ß e n des Geistes die eigene K l e i n h e i t wiederzufinden,
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n ä h r e n i m m e r v o n n e u e m die Meinung, es k ä m e n u r d a r a u f a n , die Neigungen u n d Leidens c h a f t e n , die individuellen Fehler u n d die Zufälligkeiten des einzelnen Menschendaseins, oder gar, u m den greulichen A u s d r u c k zu g e b r a u c h e n , das sog. Milieu möglichst g e n a u h e r a u s z u p r ä p a r i e r e n u n d vor A u g e n zu stellen, als sei d a m i t das volle V e r s t ä n d n i s einer geistigen Persönlichkit u n d ihres W e r k e s gesichert." Dieser K r i t i k S c h w a r t z ' verfällt ein großer Teil der Philosophiegeschichte. D a r i n ist das philosophisch Unzureichende der D a r s t e l l u n g e t w a in T h . G o m p e r z „ G r i e c h i s c h e n D e n k e r n " b e g r ü n d e t . Versuche, m o d e r n e Psychologie auf die A n t i k e zu ü b e r t r a g e n : Heinrich G o m p e r z , Psychologische B e o b a c h t u n g e n a n griechischen Philosophen ( I n t e r n a t , p s y c h o a n a l . Verl. 1924); H o wald. Die A n f ä n g e der e u r o p ä i s c h e n Philosophie ( M ü n c h e n 1925); die Einleitung int e r e s s a n t d u r c h den Versuch, d e m archaischen D e n k e n d u r c h eine „ R e i h e n p s y c h o logie" — „ E r s a t z f ü r I n d i v i d u a l p s y c h o l o g i e " — b e i z u k o m m e n , o h n e die m o d e r n e n Kategorien aufzugeben. D e r „ F o r m b e g r i f f " in der obigen B e d e u t u n g ist vor allem v o n W e r n e r J a e g e r u n d K a r l R e i n h a r d t a n g e w a n d t w o r d e n , v o n J a e g e r i n der E i n l e i t u n g seines Aristoteles (Berlin 1923). J a e g e r g e w a n n ihn sichtlich a n der Gegenüberstellung des platonischen u n d aristotelischen Philosophierens, R e i n h a r d t a n d e r E r f a s s u n g des Poseidonios. Die beiden großen B ü c h e r v o n R e i n h a r d t : „ P o s e i d o n i o s " (München 1921) u n d „ K o s m o s u n d S y m p a t h i e " ( M ü n c h e n 1926). s. Poseidonios S. 1 „ D a s f ü r w a h r Geh a l t e n e wird n u n a b h ä n g i g v o n einer i n n e r e n F o r m , u n d diese wird f ü r u n s das T ö n e n d e , V e r t r a u t e r e , a u c h wo die I n h a l t e a n f a n g e n , u n s zu b e f r e m d e n . Diese F o r m ist e t w a s a n d e r e s als die Persönlichkeit, der Mensch als Gegenüber seines W e r k s , was doch n u r wieder ein a n d e r e r , ebenso o b e r f l ä c h e n h a f t e r I n h a l t wäre, äußerlich lebendiger vielleicht f ü r Schaulustige a n z u s e h e n , doch starr wie das Modell eines v e r s c h w u n d e n e n Tieres, das m a n n a c h seinen K n o c h e n k o n s t r u i e r t : die innere F o r m ist f ü r u n s das, w a s i m E r s t a r r t e n u n d f ü r w a h r G e h a l t e n e n selber f ü r u n s nicht e r s t a r r t " . — Der v o n J a e g e r n e u e n t d e c k t e Begriff der Paideia: H u m a n i s m u s u n d J u g e n d b i l d u n g , Berlin, W e i d m a n n 1921 u n d in der g e n a n n t e n A b h a n d l u n g A n t i k e I V , a u c h als S o n d e r d r u c k . Die F r a g m e n t e der V o r s o k r a t i k e r w e r d e n n a c h Diels' S a m m l u n g zitiert. Von allgemeineren W e r k e n seien hier ein f ü r allemal g e n a n n t : Zellers Philosophie der Griechen, P r a e c h t e r s D a r s t e l l u n g in Überweg-Heinzes G r u n d r i ß u n d B u r n e t s A n f ä n g e der griechischen Philosophie. I n B u r n e t s gediegener u n d a n r e g e n d e r B e h a n d l u n g ist die in vielem von der d e u t s c h e n F o r s c h u n g a b w e i c h e n d e A u f a s s u n g , die in E n g l a n d ü b e r wesentliche F r a g e n der griechischen Philosophie b e s t e h t , z u s a m m e n g e f a ß t . Hönigswalds Philosophie des A l t e r t u m s ist energisch problemgeschichtlich orientiert, vgl. G n o m o n I I 1. W i c h t i g w u r d e mir i m m e r die A u s e i n a n d e r s e t z u n g m i t E r n s t Cassirers k l a r e n u n d w e i t s c h a u e n d e n D a r s t e l l u n g e n , die er an verschiedenen Stellen gegeben h a t , zuletzt in Dessoirs L e h r b u c h der Philosophie. Z u der S c h l u ß b e m e r k u n g des A b s a t z e s liier n u r soviel: die o f t , meistens v o n m a t h e m a l i s c h - n a t u r w i s s e n s c h a f t l i c h orientierten P h i l o s o p h e n wiederholte, gegen den Sinn der Philosophiegeschichte ausgespielte B e m e r k u n g K a n t s , die Gegenüberstellung v o n „ G e l e h r t e n , d e n e n die Geschichte der Philosophie (der alten sowohl als neuen) selbst ihre Philosophie i s t " u n d d e n j e n i g e n , „ d i e aus den Quellen der V e r n u n f t selbst s c h ö p f e n " , h a t i h r e n guten Sinn. E s gibt eine — m. E . d u r c h a u s n o t w e n d i g e — Behandlungsweise der Philosophiegeschichte, die n u r das „ T a t s ä c h l i c h e " feststellen will u n d die eigene philosophische B e w e g u n g u n d S t e l l u n g n a h m e a u s s c h a l t e t bzw. gar nicht e r s t in Gang b r i n g t (wie weit dies möglich, wie weit dieser Versuch o f t a u f S e l b s t t ä u s c h u n g b e r u h t , d a r ü b e r vgl. die oben g e n a n n t e A b h a n d l u n g „ Z u m P r o b l e m der Philosophiegeschichte"). Ferner gibt es eine A r t s y s t e m a t i s c h e n Philosophierens, das die Probleme a k t i v a n g r e i f t , aber doch die Geschichte als S t ü t z e , zur gelegentlichen m e h r beispielsweisen I l l u s t r a t i o n nicht e n t b e h r e n will. Beiden A r t e n der Philosophiegeschichte s t e h t diejenige gegenüber, die hier v e r s u c h t wird. Sie b e r u h t auf der Ü b e r z e u g u n g v o n der Geschichtlichkeit unseres philosophischen D e n k e n s . U m W a h r h e i t h a b e n sich a u c h die „ h i s t o r i s c h e n " Philosophen bem ü h t u n d o f t genug, was ich hier z u zeigen hoffe, a u s einer f ü r den A n s a t z u n d die A u f -
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hellung gewisser, besonders metaphysischer Problemstellungen sehr viel günstigeren geistigen Umwelt heraus als es unsere Gegenwart ist. Andrerseits sind wir „Gegenwart", wir mögen uns stellen wie wir wollen, wir können in die geistige Haut früherer Geschlechter nicht mehr hineinschlüpfen, nicht einmal in die der vorigen Generation; wir sind genötigt, alles frühere zu „deuten" und auszulegen. J e lebhafter wir die Organe dieser Deutung zur treuen Aufnahme des früheren Wahrheitsstrebens ausbilden und üben, j e mehr wir das Geschichtliche der Vergangenheit in seiner wahren philosophischen Substantialität in Bewegung setzen, desto tiefere Regionen der „ S a c h e " decken wir auf. Ob es eine solche Philosophiegeschichte gibt und ein solches Philosophieren, und wie weit wir heute dazu schon fähig sind, kann nur die Erprobung lehren.
II. VORTHEORETISCHE METAPHYSIK. 1. D E R A N F A N G M E T A P H Y S I S C H E N
DENKENS.
Um gegenüber einem so mannigfaltig in sich selbst sich gliedernden Gebilde wie der vorsokratischen Philosophie aus den Trümmern der Zeugnisse den richtigen Ansatz zu finden, verwerten wir das bisher Erörterte. Wir schlössen oben mit der allgemeinen metaphysischen Behauptung, es sei möglich, h i n d u r c h z u s e h e n durch die Erscheinungen der Geschichte auf ein Tieferes, auf Etwas, das sich in den abwandelnden Erscheinungsformen selbst dauernd darstellt. Auf dieser Möglichkeit beruht jede philosophische Auswertung früherer Philosophie, die D e u t u n g ihrer zunächst in „natürlicher" geschichtlicher Einstellung aufzusuchenden Zeugnisse aus einem sachlichen Ganzen, über dessen Existenzform hiermit zunächst noch nichts Genaueres gesagt sein soll. Dieses Prinzip, aus seiner Verengerung befreit und von der Deutung der Philosophiegeschichte erweitert zur Deutung jedes Wirklichen und schließlich aller Wirklichkeit, ist zugleich das erste und, so wie es bisher ausgesprochen ist, noch rohe Prinzip der Metaphysik selbst: nämlich fortzuschreiten von der schlichten Hinnahme der Wirklichkeit, von dem einfachen Dasein in der Welt zu einem andern Sein, zu dessen Charakteristik zunächst bloß die unentschiedene und bedenkliche Bezeichnung des „Tieferen", Eigentlichen wiederholt sei. Diesen Übergang von der „natürlichen" Einstellung zu einer andern hat G. Misch als den „Weg in die Philosophie" dargestellt, denn ihm schien das, was hier „metaphysisch" genannt wurde, den allgemeinen Titel des Philosophischen überhaupt zu verdienen. Überraschend ähnlich klingt zunächst in der Tat die Schilderung dieses Überganges von der einen Haltung zur andern in den Worten Goethes, Diltheys, Husserls, Dschuangtses, Buddhas, Spinozas, Piatons. Ich wähle die Problemstellung Mischs zum Ausgangspunkte und empfehle nicht nur die von ihm gebotenen Texte, sondern auch die einleitenden und verknüpfenden Betrachtungen Mischs der sorgfältigsten Beachtung. Gerade daß kein Versuch gemacht wird, geschichtliche Beziehungen zwischen der östlichen und westlichen Philosophie zu stiften, sondern die parallelen f o r m e n des gleichen Motivs rein nebeneinander gestellt sind, bietet den großen, bis jetzt so viel ich weiß an keiner andern Stelle gebotenen
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Vorteil, die besondere Struktur jeder einzelnen Form durch den Gegensatz klarer zu erfassen. Gerade durch Verzicht auf die historische Ableitung kommt so ein treffliche» Hilfsmittel zustande, die konkrete geschichtliche Gegebenheit zu erfassen. Es verdient hervorgehoben zu werden, daß Misch grade die iranischen Lehren, denen nach Ansicht mancher anderer Forscher, besonders Reitzensteins, auch für die griechische Frühzeit Bedeutung zukommt, zu seiner Parallelisierung nicht verwendet hat. Zu der gesamten Frage hier nur ein grundsätzliches Wort. Ich glaube, daß die Möglichkeit orientalischen Einflusses auf die griechische Philosophie der Frühzeit durchaus zugegeben werden kann. Man kann eine Behauptung wie die, daß übereinstimmende Erscheinungen hier und dort spontan entstanden sind, nicht beweisen und nicht widerlegen. Wichtiger scheint es mir, aus der typischen Reaktion, mit der etwa in der alten Akademie oder in der Stoa und im Neuplatonismus notorische Einflüsse orientalischer Anschauungen beantwortet werden, für die Frühzeit Schlüsse zu ziehen. Diese könnten nur so lauten: wie später die griechische Philosophie alles Orientalische, das sie aufnahm, in einer ganz bestimmten Weise umgestaltete und es in griechische Form goß und eine Reihe von Gedanken stets bewußt von sich fern hielt, so wird es auch mutatis mutandis früher gewesen sein. Die spezifischen Kräfte des griechischen Denkens könnten gerade durch die Entgegensetzung gesteigert und zur Wirkung gebracht worden sein. Beweisbar und zugleich geschichtlich wie historisch wichtig ist lediglich die tiefe Abwandlung der ganzen Gedankenbildung; das charakteristisch Griechische hervorzuheben wird in der ganzen folgenden Erörterung das Hauptbestreben bleiben. Und dieses Ziel empfahl die Anknüpfung an die Mischsche Fibel.
Zunächst ergeben sich im Anschluß an die von Misch gegebenen Parallelen eine Reihe von Fragen. Misch hebt drei große Typen des Durchbruchs durch die natürliche Einstellung hervor, je nach dem Ansatz beim Ich, bei der Gemeinschaft und bei der Welt. Der Durchbruch wiederholt sich auch innerhalb einer und derselben Kultur auf verschiedenen E n t wicklungsstufen. Auf jeder Stufe der Entwicklung kann ein „Verfallen" (Heidegger), ein Einschlafen des metaphysischen Bewußtseins eintreten und je nachdem völlig verschiedene neue Reaktionen nötig machen. Zum Zwecke weiterer Differenzierungen seien zunächst einige Probleme ganz schematisch formuliert — sie zu verfeinern wird gerade die Geschichte der griechischen Metaphysik sofort Veranlassung geben: 1. Ist die sogenannte natürliche Einstellung, der T a t - und Geschehenszusammenhang, in dem sich das Bewußtsein vorfindet, überall dieselbe ? 2. Wie weit läßt sich für eine metaphysische Betrachtung die unter bestimmten anderen Gesichtspunkten durchaus notwendige Unterscheidung einer theoretischen und praktischen Vernunft — von anderen Verhaltungsweisen zunächst abgesehen — durchführen, wie weit lassen sich Entsprechungen dieser Scheidung im vorphilosophischen Denken der natürlichen Einstellung nachweisen ? 3. Angenommen, diese und vielleicht noch andere Verhaltungsweisen ließen sich scheiden: welche Typen des „Durchbruchs zum wahren Sein" lassen sich überhaupt aufstellen ? W i r versuchen eine vorvorläufige Gruppierung.
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a) Der unbewußt tätige Mensch der natürlichen Einstellung geht vom Tun zum Denken über, er gibt sich Rechenschaft irgendwelcher Art über sein Tun, tritt also aus der natürlichen B a h n heraus in eine Theoria, die der Wissenschaft mannigfach sich annähern kann. b) E i n ursprünglich zur Reflexion geneigter und äußerlich und innerlich dazu befähigter Mensch glaubt handeln zu müssen; der Übergang ist auf Tätigkeit schlechthin gerichtet. c) Übergang von einem Tätigkeitstypus zum andern, z. B . von der Vielgeschäftigkeit zur verinnerlichten T ä t i g k e i t ; der Wertgesichtspunkt ist entscheidend: es soll „ g u t " , besser als bisher gehandelt werden. 4. Wie steht jener Vorgang, den wir bisher metaphysisch orientierten, zur „ E r w e c k u n g " ? Wo liegen die Ähnlichkeiten, wo die Verschiedenheiten ? Wir unterscheiden wieder einige typische Möglichkeiten: a) Den Fall der „ B e r u f u n g " : aus gleichgültigem Zustand Intensivierung, Glauben. b) Durch „ A u f k l ä r u n g " tritt in einer religiösen Haltung Zweifel ein; im Zweifel lassen sich eine Reihe von Stufen unterscheiden. c) Die „Aufklärung" kann aber auch umgekehrt als Bestätigung des Glaubens wirken, sie kann sich an seine Stelle setzen, „dieselben" Wirkungen hervorrufen — der an sich unwahrscheinlichste, aber für die griechische Metaphysik wichtigste Fall. 5. Welche Bedeutung h a t unter dem Gesichtspunkte des Überganges von natürlicher zu philosophischer Haltung das ästhetische Verhalten ? Gibt es etwa auch in der natürlichen Einstellung ästhetische Verhaltungsmöglichkeiten ? Ist umgekehrt die philosophische Theoria ablösbar durch die ästhetische ? (auch diese Frage gerade für die Antike zu erwägen). Misch hat die Unterschiede zunächst einmal hinter dem Grundphänomen jenes „ D u r c h b r u c h s " zurücktreten lassen; in der T a t könnte man formal in allen möglichen Fällen eine Änderung des Seins- und des Daseinserlebnisses anerkennen, die als Übergang zum besseren, wertvolleren, wahreren Sein und Dasein empfunden wird. Gerade wenn man dies festhält, tritt die unendlich reiche Fülle der Möglichkeiten hervor, in denen dieser Vorgang sich darstellen kann, die Verschiedenheiten der Richtung und die Wirkung des Ausgangs- und Zielpunktes, die oben angedeutet wurden. Angesichts dieser verschiedenen Möglichkeiten muß es unsere erste Aufgabe sein, den Anfang der europäischen Geistesgeschichte, d. h. die geistige Lage der Griechen, in der die Geschichte ihrer Metaphysik und Philosophie anhebt, richtig zu fassen.
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IN SEINER
WELT BEI HOMER
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2. D E R M E N S C H I N S E I N E R W E L T B E I H O M E R U N D H E S I O D . Als umfänglichere Zeugnisse aus älterer Zeit, aus denen eine bes t i m m t e G e s a m t h a l t u n g d e m Dasein gegenüber mit einiger Sicherheit erschlossen werden kann, k o m m e n nur die Homerischen u n d Hesiodischen Gedichte in Frage. H i n t e r diese Zeit z u r ü c k z u g e h e n ist n u r insofern möglich, als a u s d e m höchst komplexen, in sich uneinheitlichen Bilde, das H o m e r u n d Hesiod b i e t e n , auf eine räumlichzeitliche Gliederung dessen, w a s als ,,die G r i e c h e n " n o t w e n d i g z u s a m m e n g e f a ß t werden m u ß , u n d d a m i t auf die v o r h e r g e h e n d e E n t w i c k l u n g zurückgeschlossen werden k a n n u n d m u ß . Die griechische W e l t ist in d e m Augenblicke, in d e m sie f ü r u n s sichtbar i n die Geistesgeschichte e i n t r i t t , n i c h t n u r n a c h S t ä m m e n verschiedener E i g e n a r t gegliedert, s o n d e r n diese S t ä m m e h a b e n n o c h j e d e r eine verschiedene E n t w i c k l u n g h i n t e r sich, u n d ihre kulturell-geistige E n t w i c k l u n g s s t u f e ist sehr v e r s c h i e d e n ; beide M o m e n t e durchdringen u n d ü b e r s c h n e i d e n sich n a t ü r l i c h m a n n i g f a l t i g . Der ionische S t a m m in Kleinasien ist „ w e i t e r " , weil er eine a n d e r e Geschichte g e h a b t h a t , weil er a n d e r n Einflüssen unterlegen ist als die f e s t l ä n d i s c h e n Griechen des M u t t e r l a n d e s ; zugleich ist er a n sich a n d e r s , h a t f ü r diese Einflüsse eine a n d e r e E m p f ä n g l i c h k e i t ; es ist hier nicht unsere Sache, ü b e r die Feststellung dieser z u s a m m e n g e h ö r i g e n , in W e c h s e l w i r k u n g stehenden Züge h i n a u s z u g e h e n u n d weitere geschichtliche F r a g e n zu stellen.
E s gilt h e u t als sicher, daß die Homerischen Gedichte ihre entscheidende F o r m u n g d e m ionischen Geiste verdanken. Hesiod, dessen Vater zwar aus Kleinasien eingewandert ist, gilt als Vertreter mutterländischen Empfindens. Die „ B a u e r n g e s i n n u n g " der „ E r g a " , das R e c h t s g e f ü h l , besser die R e c h t s s e h n s u c h t , die Schwere des Geistes, wird n i c h t n u r individuelle zufällige E i g e n h e i t des Menschen Hesiod u n d seines persönlichen Schicksals, des v o m B r u d e r e r f a h r e n e n U n r e c h t s sein. Es greifen m i n d e s t e n s s t a r k e U n t e r s c h i e d e des sozialen H i n t e r g r u n d e s ein. Hesiod verfolgt die „ G e s c h e n k e f r e s s e n d e n " R i c h t e r k ö n i g e m i t seinem H a ß , die h o m e r i s c h e W e l t a b e r ist die der f e u d a l e n R i t t e r g e s e l l s c h a f t Ioniens, f ü r deren H ö f e die homerischen Sänger da waren.
D e s t o wichtiger sind für uns gewisse gemeinsame Züge der allgem e i n e n Stellung z u m Dasein. Ihre B e z i e h u n g zu grundlegenden Problem e n der griechischen Metaphysik wird sofort hervortreten, auch wenn wir diese Züge zunächst wieder ganz schematisch zusammenstellen. Wir wollen uns aber vorher kurz die Frage vorlegen, welche Stellungn a h m e z u m D a s e i n der e x t r e m e Klassizismus H o m e r u n d den Griechen überhaupt zuschrieb. Sorgloses, unproblematisches H i n n e h m e n des eigenen Seins u n d des Seins der Welt, „ U n g e b r o c h e n h e i t " der geistig-sinnlichen N a t u r , „ N a i v i t ä t " bezeichnen dieses Wunschbild des Daseins, das m a n auch in den Homerischen Gedichten zu f i n d e n glaubte, n a c h d e m m a n es aus ganz andern Regionen —• v o n Theokrit u n d der hellenistischen Bukolik ü b e r h a u p t — e m p f a n g e n h a t t e . D a g e g e n stellte Nietzsche den Pessimismus der Griechen, den Silensspruch v o m wertlosen Dasein, v o m W u n s c h e n a c h d e m N i c h t s . Gemildert u n d vielfach eingeschränkt liegt der Pessimismus den Hesiodischen Gedichten zugrunde. D o c h mit e i n e m so einfachen Schlagworte ist keine Stellungnahme zu bezeichnen. Handb. d. Phil. I.
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E i n e i g e n t ü m l i c h v e r k l e i d e t e r R e s t klassizistischer A u f f a s s u n g h a t sich a b e r h a r t n ä c k i g i n d e r V u l g a t a der P h i l o s o p h i e g e s c h i c h t e g e h a l t e n . D e r S e l b 6 t a u f f a s s u n g des g r i e c h i s c h e n D e n k e n s w u r d e dieselbe u n g e s c h i c h t liche V e r a b s o l u t i e r u n g des Seins z u g e s c h r i e b e n , i n der d e r K l a s s i z i s m u s i n r ü c k w ä r t s g e w e n d e t e r B e t r a c h t u n g d a s G r i e c h e n t u m s a h . So e n t s t a n d die M e i n u n g v o n d e r „ U n g e s c h i c h t l i c h k e i t " des g r i e c h i s c h e n Geistes, d e r „ r a t i o n a l i s t i s c h " d a s „ W e r d e n " v e r l e u g n e t h ä t t e u n d s t e t s d e m „zeitlos S e i e n d e n " a u f d e r S p u r gewesen sei. H i e r l i e g t ein e r n s t e s m e t a p h y s i s c h e s P r o b l e m . D a ß e r s t d e m 19. J a h r h u n d e r t d a s e i g e n t l i c h e B e w u ß t s e i n ges c h i c h t l i c h e n W e r d e n s a u f g e g a n g e n i s t , d a ß die „ G e s c h i c h t l i c h k e i t " des D a s e i n s e r s t in d e r n e u e s t e n m e t a p h y s i s c h e n F o r s c h u n g a u f g e h e l l t w o r d e n i s t , m u ß z u g e g e b e n w e r d e n (vgl. A n t i k e I V , 42 Die G e f a h r e n m o d e r n e n D e n k e n s u n d d e r H u m a n i s m u s ) ; a b e r die W i c h t i g k e i t dieser E n t d e c k u n g k a n n i n u n s e r e r A u f f a s s u n g n u r s t e i g e n , w e n n es sich h e r a u s s t e l l e n sollte, d a ß t r o t z d e m k e i n f r ü h e r e s B e w u ß t s e i n o h n e eine F o r m des W i s s e n s u m seine G e s c h i c h t l i c h k e i t e x i s t i e r t h a t . I n w e l c h e r F o r m l e b t dieses W i s s e n i n d e r a l t e n E p i k ? D a s ist die e r s t e F r a g e . 1. E i n e E v o l u t i o n , ein F o r t s c h r e i t e n z u m B e s s e r e n als G e s a m t s i n n g e s c h i c h t l i c h e r E n t w i c k l u n g gibt es i m U m k r e i s dieses g r i e c h i s c h e n D e n k e n s n i c h t : Presbytaton, d a s Ä l t e s t e zugleich als d a s E h r w ü r d i g s t e , b l e i b t eine G r u n d k a t e g o r i e griechischer S e i n s v o r s t e l l u n g . E s b e s t i m m t also die F o r m des A b s t i e g s , d e r V e r s c h l e c h t e r u n g , wie sie i n d e r F a b e l d e r W e l t a l t e r bei Hesiod a u s d r ü c k l i c h b e s c h r i e b e n w i r d , d a s W e l t - u n d I c h V e r s t ä n d n i s . G e n a u die gleiche A u f f a s s u n g h e r r s c h t i m h o m e r i s c h e n E p o s , n u r a n d e r s g e w e n d e t . ( N e s t o r ist i h r t y p i s c h e r Vertreter.) 2. L i e g t n u n d e r G l a u b e v o r , d a ß der M e n s c h einer d a u e r n d e n Vers c h l e c h t e r u n g v e r f a l l e n sei ? Dies ist n i c h t d e r F a l l , u n d d a m i t t r i t t die e r s t e A n t i n o m i e a u f : ü b e r die V o r s t e l l u n g d e s d a u e r n d e n A b s t i e g s s c h i e b t sich e i n e a n d e r e , die k u r z u n d s c h e m a t i s c h so b e z e i c h n e t w e r d e n k a n n : D e r A b s t i e g h a t eine Grenze, er k a n n a u f g e h a l t e n w e r d e n ; e i n e Soteria, R e t t u n g , B e w a h r u n g ist m ö g l i c h ; a u c h dies i s t eine griechische G r u n d k a t e g o r i e . U n d s c h o n i n d e r ä l t e s t e n Zeit g e w i n n t diese V o r s t e l l u n g d e n S i n n : es i s t g u t , d a ß d e r A b s t i e g g e r a d e a n d i e s e r , d e m g e g e n w ä r t i g e n Sein e n t s p r e c h e n d e n Stelle der g r o ß e n E n t w i c k l u n g a u f h ö r t ; w e n n a u c h d a s L e b e n s c h w e r i s t , so m ü s s e n wir d o c h w ü n s c h e n , d a ß dieser „ w i r k l i c h e " Z u s t a n d i n n e r h a l b seiner s p e z i f i s c h e n S e i n s m ö g l i c h k e i t e n sich e n t w i c k e l t u n d b r a u c h e n d a n n n i c h t a u f eine W i e d e r k e h r des „ g o l d e n e n Z e i t a l t e r s " , d . h . a u f eine g r u n d s ä t z l i c h a n d e r s a r t i g e S e i n s a r t z u r e c h n e n . Bei Hesiod ist die gesamte Theogonie und Anthropogonie darauf angelegt, die Herrschaft des Zeus genetisch zu erklären als den Zielpunkt einer Entwicklung; Zeus hat „mit Recht" seinen Vater besiegt, und deshalb hat seine Herrschaft ein Anrecht auf Bestand. Wenn das mit i h m in die Welt eintretende Prinzip der Dike, der Gerechtigkeit, dem er seine Herrschaft verdankt, auch bei den Menschen durchgeführt wird, dann wird
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sein Zeitalter auch für die Menschen nach ihrer Natur der wünschenswerteste Zustand sein. Genau dieselbe Vorstellung bei Homer, nur daß da die Herrschaft des Zeus bereits völlig konsolidiert ist. Diese Tatsache ist desto wichtiger, weil oft genug die Spuren der theogonischen Idee sich vorfinden, deutliche Hinweise, daß den Dichtern die kämpfereiche Vorgeschichte der Zeusherrschaft durchaus bekannt ist und sie darauf Rücksicht nehmen. Als im 1. Buche der Ilias die feste Ordnung des Götterkreises gestört zu werden droht, erinnert Zeus an die Zeit, in der er wider alle Götter stand. Im Ton und Gehalt veränderte Motive theogonischer Spekulation klingen in die merkwürdige Szene von der Überlistung des Zeus durch Hera hinein.
Zusammengefaßt und als metaphysische Haltung betrachtet kann also die Stellung beider Gedichte als der Entschluß zur Bejahung dieser erlebten wirklichen Welt bezeichnet werden. Aus dem lebhaft empfundenen — gleichviel aus welchen Quellen empfangenen — Glauben vom Verfallen des Gesamtdaseins menschlich-göttlicher Entwicklung und dem stärksten Erlebnis der Schwere dieses Daseins für alle an ihm beteiligten Wesen wächst der in äußerster Spannung zu diesem Glauben stehende Optimismus hervor, der seine Wünsche und Hoffnungen in diesem Dasein beschlossen sein läßt. Dieser dem Diesseits zugekehrte Wirklichkeitssinn bestätigt sich in dem folgenden dritten Gedankengange. 3. Genau so wie in der mythisch sich symbolisierenden Wertgliederung der zeitlichen Abfolge möglicher, an sich erwünschter und dem religiösen Glauben zugänglicher Daseinsweisen die volle Kraft metaphysischer Bejahung auf d i e s e n Ablauf, auf die Zeusepoche fällt, und alle Tatbereitschaft dem Zwecke gilt, dieses Leben in seinem wesensmäßigen Bestände zu verwirklichen und zu bewahren, so wird auch in der gleichsam räumlich vertikalen Gliederung gleichzeitig bestehender Seinsweisen der Götter, der Menschen, der abgeschiedenen Seelen dieses menschliche Leben in mehrfachem Sinne zum mittleren zwischen extremen Seinsformen, und zwar wird in ihm der Mittel- und Zielpunkt erfaßt, nach dem alle andern Seinsarten vorgestellt werden. Wir betrachten erst die Spiegelung des menschlichen Daseins in der Götterwelt und dann die in dem Totenreiche, in dem die Seelen als kraftlose „Abbilder" der volleiblichen Existenz ein „Schattendasein" führen. In unserem ersten und zweiten Gedankengange hatten wir das metaphysische Bewußtsein eines mythischen Abstiegs einfach neben das des „ontischen" Übergewichts d i e s e r erlebten Seinsordnung stellen müssen, um zunächst einmal den Tatbestand zu beschreiben, wie er sich aus den Quellen ergibt. Wir müssen nun fragen: wie stellt sich einem Bewußtsein, das an ein Ende des Abstiegs, an sein Einmünden in eine bestehende und zwar zu „ R e c h t " bestehende Ordnung glaubt, jener dem Abstieg vorhergehende höhere Zustand dar ? Man könnte meinen, daß von einem solchen Bewußtsein der Diesseitigkeit aus jenes Presbyteron, die ehrwürdige Ahnenzeit besserer Zeitalter, und die sie erfüllenden göttlichen Wesen einfach verblassen und damit eine „realistische" Weltauffassung
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sich auf den Umkreis der unmittelbar erfahrenen Wirklichkeit beschränkt und verengt. Dies n i c h t zu tun, nichts Früheres aufzugeben, sondern dem neuen Zustande des Geistes unwillkürlich anzupassen, darin spricht sich eine noch lange wirksame Eigentümlichkeit des griechischen Geistes aus. Gegenüber dem starren Konservativismus anderer großer archaischer Kulturen einerseits und dem selbstbewußten Pochen auf Fortschritt und Höherentwicklung andrerseits, in dem wir Späteren leben, lebt die griechische Antike in einer beispiellosen und darum ewig vorbildlichen Kraft der Metamorphose; nachdem einmal die Soteria, die Bewahrung des Vorhandenen als metaphysisches Grundmotiv wirksam ist, weitet sich ihr Anwendungsbereich auf alles Frühere aus, indem auch für die schöneren und besseren Daseinsformen in einer andern Dimension eine Fortdauer gesucht und in dem Leben der olympischen Götter gefunden wird. (Bereits das bedeutet einen ersten Schritt zu jener merkwürdigen Freiheit dem Zeitbegriff gegenüber, die für das griechische metaphysische Denken immer charakteristisch bleiben wird; die doxy, ursprünglich das Frühere vor dem Sein, wird zum „Prinzip", zu einem wesentlichen Bestandstück des einheitlich Seienden.) Wir sahen, daß die theogonische Spekulation einen mythischen Vorgang zunächst einfach so beschreibt: Zeus siegt im Kampfe mit früheren Göttergeschlechtern auf Grund seines R e c h t e s ; Wahrer des Rechtes, der Dike bleibt er in der mutterländischen Dichtung, bei Hesiod, bei Solon, im ganzen noch bei den älteren Tragikern. In den Homerischen Gedichten ist die Einbeziehung des göttlichen Daseins in die Sphäre der diesseitigen Wirklichkeit vollendet. Dem ungemeinen Reichtum des homerischen Weltbildes gegenüber bleibt hier für uns nur die ganz schematische Zusammenstellung einzelner Züge möglich. a) Die Götter bleiben von einem merkwürdigen Glanz umgeben, der im letzten Grunde auf ihrer Unabhängigkeit von der Zeit, vom Alter und Tod, von allen menschlichen Tributen an die Zeitlichkeit beruht; sie sind die ewig Währenden. b) Diesen Eindruck zu wahren, erfordert die größte Meisterschaft des Dichters, denn nichts Menschliches ist ihnen fremd. Sie werden sogar verwundet, aber ihre Wunden heilen schnell; auch ihre Ehre, menschlich gesprochen, kann vorübergehend gefährdet werden, aber wie feudale Herren überstehen sie auch peinliche Situationen rasch, und bald ist alles wie's war; es ändert sich nichts, es tritt kein neuer Gott in den Olympos ein, das göttliche Reich ist konsolidiert. Anthropomorphismus und Anthropopathismus gilt gemeinhin für bloße Unfähigkeit, einen reinen Gottesbegriff zu bilden; hier ist aber sichtlich geradezu das Motiv wirksam, Götter soviel als möglich den Menschen anzunähern, damit sie ihre eigentliche Funktion erfüllen. c) Diese besteht in der handgreiflichen Regelung des menschlichen Daseins. Dadurch allein kommt die göttliche Macht zum Ausdruck;
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m i t Fleiß h a b e n diese Dichter für das D a s e i n u n d Leben der Götter eigentlich nichts übrig gelassen, w e n n m a n ihre Sorge u m ihre Schützlinge, ihr Eingreifen in deren L e b e n a b z i e h t ; hierfür aber müssen sie „ a n t h r o p o m o r p h " sein, wie wir in den Gedichten deutlich s e h e n ; sie n e h m e n j a nur z u m Zwecke ihres Eingreifens Gestalt an, diese oder j e n e ; daß sie das t u n können, das ist ein wesentlicher Teil ihrer G ö t t lichkeit. Wie sie sonst aussehen, was sie „ a n sich" sind, darüber erhalten wir keine eindeutige A n t w o r t : denn Menschen dürfen sie s o nicht sehen, e t w a A t h e n e m i t der Aegis — daß m a n sie sehen könnte, wenn m a n die 10 u n g ü n s t i g e n Folgen auf sich n i m m t , ist wohl keine Frage. d) Aus dieser wesensmäßigen A u f g a b e entspringt auch notgedrungen der A n t h r o p o p a t h i s m u s : da die Menschen widerstreitende Ziele h a b e n , alle aber der göttlichen Allmacht unterstehen, so müssen eben die Götter unter sich uneins sein — darin liegt eine Folgerichtigkeit der griechischen Anschauung, über die sich keine Zeit überlegen d ü n k e n möge. Also m ü s s e n die Götter sich streiten, sich b e t r ü g e n ; selbst Zeus erliegt vorübergehend d e m Trug der Hera, obwohl er mit jener Macht a m nächsten verbunden ist, die über Göttern und Menschen gleichermaßen waltet, d e m Schicksal, der gewaltigen Moira. Eine einheitliche Kraft m u ß natürlich für so den Ausgleich aller himmlisch-irdischen K o m p e t e n z k o n f l i k t e sorgen. Aber die Götter unterstehen d e m Schicksal nur insofern, als sie sich auf die widerspruchsvolle A u f g a b e einlassen, das Menschenleben zu ordnen. Ihr eigentliches Sein wird v o m Schicksal n i c h t berührt, aber es ist j a die Frage, wie weit v o n e i n e m absoluten Sein der Götter überh a u p t gesprochen werden kann.
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D a ß die homerischen Götter keinen ethischen V o r r a n g vor den Menschen h a b e n , ist klar, u n d a n diesem P u n k t e setzte bekanntlich die philosophische Kritik zuerst ein. Auch die Dike, die mit Zeus in die Welt k o m m t , ist bei Hesiod noch kein Prinzip der Sittlichkeit im strengen Sinne. Gerade die Unklarheiten u n d Widersprüche beweisen das eine: der damalige Mensch, der diese Gestalten entwarf oder ihre Züge s a m m e l t e oder schließlich sie als Grundlage der Erziehung gelten ließ, ist entschlossen, die Gegebenheit dieser Welt mit ihrer b u n t e n Fülle von Gewalt u n d Leiden, von Ungleichheit u n d Unerklärlichkeit des Schicksals gelten zu lassen so wie sie ist, u n d als oberstes Prinzip, aus dem T u n u n d Leiden begriffen werden soll, n u r ein eigentümliches Gesetz des Ausgleichs festzusetzen. I n diesem Gesetz ist der C h a r a k t e r einfach gesetzmäßigen N a turgeschehens ebenso beschlossen wie der des Ablaufs des menschlichen Lebens. W e n n Zeus in der Ilias den E n t s c h e i d u n g s k a m p f zwischen d e n beiden H a u p t h e l d e n d u r c h die Schicksalswage entscheidet, so liegt darin bereits ein einfaches Symbol einer statisch objektiven M a ß e t h i k , f ü r die erst spätere Zeiten des Griechentums Gründe u n d vers t e h b a r e Ausdrucksmöglichkeiten suchten u n d f a n d e n . Jedenfalls wird d a m i t d e n G ö t t e r n ebenso wie die höhere Sittlichkeit auch eine höhere Freiheit entzogen, etwa n a c h G u t d ü n k e n , n a c h Liebe u n d H a ß das Leben der Menschen letztlich zu gestalten. Wie i n den eigentlichen Kerngedichten der homerische Held in den Betätigungen seiner K r a f t innerhalb der dynamischen Möglichkeiten wirklichen Daseins bleibt, so waltet auch i m w u n d e r b a r e n G ö t t e r t u m der homerischen W e l t , verglichen mit orientalischem W u n d e r glauben u n d W u n d e r s e h n s u c h t , eine eigentümliche Z u r ü c k h a l t u n g . Die Seinsweisen der Götter u n d Menschen bleiben d u r c h Mittelglieder v e r b u n d e n ; nirgends h a t die religiöse Urvorstellung der Gotteskindschaft eine so naive F o r m gewonnen wie bei den
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Griechen. Zeus und die andern Götter sind Stammväter der Heldengeschlechter; wenn der Bestand der Götterfamilien in sich auch streng gewahrt wird, so wird doch der göttliche Same über das Menschengeschlecht verstreut, um in diesem die Möglichkeiten menschlichen Daseins vorbildlich im Helden und König zur Erfüllung zu bringen. Wer immer an die Theogonie Hesiods die Frauenkataloge angefügt haben mag, in denen alle die Verbindungen von Göttern und Menschen registriert sind, er hat hier die griechische Auffassung vom Sinne göttlichen Daseins als dauerndem schöpferischen Hineinwirken göttlicher Kraft in das menschliche Sein ganz charakteristisch und spezifisch griechisch zum Ausdruck gebracht. (Ein merkwürdiger Vers der hesiodischen Erga faßt dies alles schlicht zusammen (108): Von gleicher Herkunft sind Götter und Menschen 1 ).
4. Wie alles Sinnen über Götter und Schicksal letzten Endes immer wieder auf dieses menschliche Dasein zurückführt und seine Kraft und Würde befestigt, so tragen auch alle Vorstellungen über den T o d und die vom Leibe getrennte Seele nur dazu bei, das volle leiblich-geistige Leben in dieser Welt als das Sein kat> exochen auszuzeichnen. Wie das Verhältnis dieser Welt zu der göttlichen Region sich am sinnfälligsten in dem vertraulichen Umgangstone zwischen Menschen und Göttern ausdrückt, so ist das Lebensgefühl dieser Menschen am eindringlichsten in dem für jeden der ihn kennt unvergeßlichen Ausbruch des Achilles zu fühlen, als er, in der Unterwelt von Odysseus gefragt, dieses und jenes Leben vergleicht. Dabei ist das Dasein der Seele nach dem Tode durchaus ein Leben, nur ein Leben von abgeleiteter, sekundärer Seinsart, ein schwacher k r a f t l o s e r Abglanz dieses Lebens, ein Dämmerzustand, kein traumloser Schlaf, wie ihn Sokrates später als höchstes Glück der müden Seele an einer merkwürdigen Stelle der platonischen Apologie ausmalt, sondern ein halber Wachzustand, der die trostlose Schwäche deutlich zu erleben zwingt. Kein Zug dieses qualvoll ewigen Lebens zeichnet es positiv gegenüber der menschlichen Seinsweise aus, alles ist nur entkräftete Menschlichkeit. Kein belohnendes Glück, keine rächende Strafe ist diesem Leben nach dem Tode in der eigentlich homerischen Fassung eigentümlich; die gestraften Sünder der Nekyia gehören anderer Spekulation an — ob späterer oder früherer, bleibe dahingestellt, wenn auch die Fassung dieser Stelle sicher später ist. Älter sind sicher die Überreste des Seelenkultes beim Totenopfer des Achilleus und bei der Totenbeschwörung des Odysseus.
Wie wir es bei den theogonischen Mythen sahen, so ist auch hier die homerische Welt in sich selbst von deutlich faßbarer Einheit, sie zeigt die Züge fremden Denkens und Fühlens nur am Horizonte; ihr Umkreis ist umstellt mit fremden Riten, Gebärden und Gefühlen, die aber in ihrer eigentümlichen Bedeutung völlig umgestaltet sind. ') Ob dieser Vers in der Tat den Sinn der Weltalterlehre vorausnehmend bezeichnen soll — an dieser Stelle steht er — ist schwer zu sagen. Er müßte dann so verstanden werden, daß insofern auch die Götter geworden sind, sie derselben Seinsweise wie die Menschen angehören. Deren absteigende Entwicklung läßt immerhin einen höheren Ursprung noch über das erste Zeitalter hinaus vermuten. Vgl. jetzt v. Wilamowitz zur Stelle.
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W e n n Achilleus dem toten Freunde die trojanischen Jünglinge opfert, so wirkt dies auf keinen unbefangenen Leser als eine Beschwichtigung der Rache des Toten; jeder Gedanke daran würde die „Form" dieser Stelle zerstören; denn nur die ungemeine Größe der Freundschaft und der Rache — also i m Grunde unveränderliche menschliche Gefühle — sollen durch die archaische Geste dieses Opfers ausgedrückt werden. W e n n Odysseus den Toten das Blut der Opfer fließen läßt, so hat sich auch der Sinn dieses Opfers wesentlich geändert; nicht die übermenschliche Kraft der Schatten soll versöhnt werden, sondern im Gegenteil sollen sie durch den Trank des Blutes für kurze Zeit die Kraft ihres menschlich-irdischen Daseins wiedererhalten und aus dem Dämmerzustand in die Verständigungsgemeinschaft mit wirklichen Menschen vorübergehend erhoben werden.
Es wird also wieder altes religiöses Gut umgeschmolzen in eine andere F o r m ; nicht etwa wird das Fortleben der Seele nach dem Tode verneint oder diese Frage gleichgültig gar nicht gestellt: wie überhaupt die Vorstellungen eines völligen Vergehens oder Entstehens aus dem Nichts schwer R a u m im griechischen Denken finden. Die unzerstörbare Existenz der Seele wird einfach vorausgesetzt, aber in einer Form, für die wie k a u m f ü r eine andere Religion das Goethesche Wort gilt, daß sie „den Menschen ins Leben zurückdrängt und ihn handeln l e h r t " . 5. Die unter 3 und 4 behandelten Gesichtspunkte sind deshalb so wichtig, weil sie zeigen, d a ß die „Diesseitigkeit" des griechischen Seinserlebnisses nicht bloße Beschränktheit auf diese Welt ist. Sondern die Griechen behalten die andern über- u n d unterweltlichen Regionen durchaus im Blick, lassen sich aber weder durch himmlischen Glanz noch durch mythische Abgründigkeit geblendet von der b u n t e n Fülle dieser Welt abwenden, sondern stellen sich frei und selbständig auf den Standpunkt ihres menschlichen Daseins und bejahen es als höchste Realität vor allen andern Seinsweisen. Denn das ist die zur Genüge bekannte Eigentümlichkeit des griechischen Welterlebnisses von Anfang an, die Scharfsinnigkeit in dem eigentlichen und in dem uns vertrauteren übertragenen Sinne, die Gegenstandsnähe des erkennenden Blicks, die ungemeine K r a f t der Wahrnehmung, die Bereitschaft, mit allen Organen die Glieder u n g u n d Ordnung der sinnenmäßig gegebenen Welt in sich aufzunehmen. Nicht etwa nur die vielberedete Visualität, die die Griechen zum Eidos u n d zur Idea f ü h r t , sondern die viel umfassendere Aufgeschlossenheit, die eigentlich gerade dadurch charakterisiert wird, d a ß sie beim einzelnen sinnlichen Eindruck nicht stehen bleibt, sich nicht in ihm verliert, wie das orientalische Märchen sich in einen wunderbaren Goldglanz, in einen zauberhaft süßen Klang gleichsam einspinnt; bei aller Schärfe der Beobachtung, die in den homerischen Gleichnissen immer wieder erstaunen läßt, ist es doch eben gar nicht das Einzelne, das eigentlich gemeint wird, sondern die im Denken erfaßte Beziehung zu anderem, die V e r k n ü p f u n g ; und wenn das Gleichnis sich auch gerne in Einzelheiten ergeht, die vom kühl intellektuellen S t a n d p u n k t aus nicht zur Sache gehören, so ist doch diese Beschreibungsfreude entbunden u n d ent-
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schuldigt
durch jenes
andere
DES
ALTERTUMS
Bedürfnis
des
D
Zusammenhangs;
zudem
g r e i f t d a s G l e i c h n i s m e i s t h i n t e r d e n sinnlichen E i n d r u c k , es s c h i l d e r t i n n e r e , n i c h t äußere, d y n a m i s c h e , n i c h t a n s c h a u l i c h e V o r g ä n g e . das
Gleichnis
den
großartigeren,
heroischen
Actus
in
Parallele
m i t d e m e i n f a c h e n V o r g a n g des T i e r l e b e n s , des h a n d w e r k l i c h e n
Indem setzt Tuns,
j e d e n f a l l s der s c h l i c h t e n W i r k l i c h k e i t des A l l t a g s , t r ä g t es so zu d e m A b b l e n d e n aller v e r s t i e g e n e n P h a n t a s t i k b e i , zu der g r o ß a r t i g e n E r n ü c h t e r u n g , i n der die g e s a m t e W i r k l i c h k e i t als ein einheitlicher
Zusammen-
h a n g e r s c h e i n t , i n n e r h a l b dessen s i c h d a s v o n den G o t t h e i t e n geleitete T u n u n d L a s s e n der M e n s c h e n abspielt, ohne E i n b r ü c h e einer W u n d e r w e i t , d i e zur v ö l l i g e n sammenhangs
A u f g a b e de6 einheitlich v e r s t e h b a r e n
io
Naturzu-
zwänge.
6. N a c h derselben R i c h t u n g t r e i b t a u c h ein a n d e r e s M o t i v , d a s w i e alle b i s h e r
geschilderten
noch
weiter konstitutiv
für
alle
griechische
Wirklichkeitsauffassung bleibt. Alles Wirkliche wird immer unter dem Gesichtspunkt menschlichen
des
politisch-ethischen
Daseins
a n der , , N a t u r "
betrachtet.
Wo
Lebens,
also
des
eigentlichen
ein rein t h e o r e t i s c h e s
als s o l c h e r in u n s e r e m
Interesse
S i n n e v o r z u l i e g e n s c h e i n t , ist
dies m e i s t n u r u n s e r e P e r s p e k t i v e , die f ü r d a s d a m a l i g e D e n k e n
Selbst-
verständliches wegläßt u n d uns heute Selbstverständliches ohne weiteres ergänzend
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hinzufügt.
Zu j e d e m einzelnen der bisher b e h a n d e l t e n P u n k t e m ü ß t e eigentlich von hier aus n o c h eine E r g ä n z u n g h i n z u t r e t e n . D e r Z u s a m m e n h a n g zwischen G ö t t e r n u n d Menschen, wie er d e n F r a u e n k a t a l o g e n z u g r u n d e liegt, h a t a u c h eine d y n a s t i s c h e B e d e u t u n g ; der K ö n i g will sich u n d sein Geschlecht legitimieren, i h m eine u n z w e i f e l h a f t e B e g n a d u n g zuschreiben. Das W e l t b i l d d e r homerischen G e d i c h t e e n t s p r i c h t , wie m a n oft gesagt h a t , einem f e u d a l e n H e r r e n s t a n d , f ü r d e n der Sänger z u n ä c h s t singt. A b e r der S ä n g e r h a t eine u n v e r k e n n b a r e , im einzelnen schwer zu f a s s e n d e Überlegenheit über diese s t ä n d i s c h e G l i e d e r u n g : n i c h t alle K ö n i g e sind m i t dem Glänze u m g e b e n , der i h r e r göttlichen G e b u r t e n t s p r ä c h e ; aus rein m e n s c h l i c h e m Geschlecht e n t s t a m m e n d e M ä n n e r u n d F r a u e n e r h a l t e n ein wirklich menschliches E t h o s , d a s h i n t e r d e m aller j e n e r G ö t t e r s ö h n e u n d -enkel d u r c h a u s nicht z u r ü c k s t e h t . Der Gegensatz der hesiodischen Gedichte, in denen die große Bewegung zur D e m o k r a t i e , die K r i t i k der bestechlichen R i c h t e r k ö n i g e offen h e r v o r b r i c h t , zur geistigen H a l t u n g der homerischen D i c h t e r ist i m G r u n d e n i c h t allzu g r o ß . Die Thersitesreden i m Z u s a m m e n h a n g der i m m e r h i n m e r k w ü r d i g e n „ P e i r a " , der V e r s u c h u n g des Heerkönigs i m 2. B u c h e d e r Ilias (v. W i l a m . Ilias, 260 ff.) werden zwar m i t der ganzen P e r s o n des sehr f r e i m ü t i g e n R e d n e r s der V e r a c h t u n g preisgegeben. A b e r w e n n m a n den T o n b e r ü c k s i c h t i g t , i n dem von G ö t t e r n u n d H e l d e n gelegentlich g e s p r o c h e n wird, und w e n n m a n daneben d e n I n h a l t der T h e r s i t e s r e d e n h ä l t , wird m a n i m Zweifel sein d ü r f e n , was ursprünglicher i s t : die eigentümliche Überlegenheit, mit der hier die H e l d e n u n d deren S c h w ä c h e n , oder die Gelassenheit, m i t der dort die B e z i e h u n g e n zwischen den H e l d e n u n d d e n G ö t t e r n b e h a n d e l t werden, denn beides h ä n g t eng genug m i t e i n a n d e r z u s a m m e n . W e n n andrerseits die W i r k u n g des g u t e n Königs sich n a c h der b e k a n n t e n Stelle der Odyssee X I X 108 bis a u f die F r u c h t b a r k e i t v o n Acker u n d Vieh ers t r e c k t , so k a n n eine religiös mystische V e r e h r u n g des „ Z e u s g e n ä h r t e n " F ü r s t e n u n d seiner F u n k t i o n k a u m einfacher u n d stärker ausgesprochen w e r d e n als es hier geschieht. Gewiß k a n n m a n hier „ W i d e r s p r ü c h e " i n n e r h a l b der epischen D i c h t u n g sehen, u n d es werden wohl diese v e r s c h i e d e n e n A n s i c h t e n d u r c h verschiedene Menschen zu verschiedenen Zeiten ihre P r ä g u n g erhalten h a b e n (vgl. P i a t o n Gesetze I V c. 9).
30
40
D
DIKE
UND
SCHULDBEGRIFF
Die kritische Tätigkeit der Philologie, die festzustellen sucht, welche Stücke der homerischen Gedichte verschiedener Herkunft sein mögen, zeigt uns die gewissermaßen natürlichen Ursachen des ungemeinen Reichtums der epischen Dichtung. Aber die — nicht ästhetische, sondern pädagogische — Einheit dieser Dichtung, die als Grundlage der Bildung und Erziehung auf die geistige Entwicklung der Griechen einwirkte, das freie, um die „ästhetische" Einheit unbekümmerte Hinnehmen alles dessen, was sich schließlich zum Werke „ H o m e r s " oder „ H e s i o d s " zusammenschloß wie die Teile einer kristallisierenden Flüssigkeit, hat mit dazu beigetragen, die Weite des griechischen Geistes zu erhalten und ihm die geschichtliche Tiefe zu geben, die räumlich verschiedene Stämme und zeitlich das Lebensgefühl sehr verschiedener Zeitalter und Generationen zusammenfaßt. Vgl. Handb. d. Pädag. herausg. v. Nohl u. Pallat I. Bd., Abschnitt 2. Schon daraus ergibt sich ein ganz besonderes Verhältnis der griechischen Denker zur Geschichte und zur Geschichtlichkeit des Daseins; an dieser Stelle wird sich immer deutlicher die wesentliche Grundlage der griechischen Metaphysik und damit die wichtige Abweichung von aller Modernität zeigen. 3. DIKE
UND
SCHULDBEGRIFF.
E s war bereits mehrfach der Begriff der Dike, des „Rechtes", wie man ihn übersetzen mag, erwähnt worden, ein Begriff, der näher bestimmt werden muß, um für diese Zeiten griechischer Kultur zu passen. Eine Reihe von Zügen der oben geschilderten Grundhaltung dem Sein gegenüber sind der Ausbildung eines sittlichen Rechts, d. h. eines Verantwortungsbewußtseins, einer klaren Vorstellung von sittlicher Schuld und entsprechender Sühne hinderlich. Die großartige Gelassenheit, mit der grade das Wollen und Handeln der Menschen unter den Einfluß der Götter gestellt wird, die selbstverständliche Ergebenheit, mit der Erfolg oder Mißerfolg, Sieg oder Untergang, langes Leben oder früher Tod als unvermeidliches Schicksal und göttliche Fügung hingenommen wird, andrerseits die Kraft, die aus dieser Einsicht für die unbeirrbare Durchführung der schicksalsgemäßen Mission (Achilles) gewonnen wird — alles dies ist einem sittlich und rechtlich den Anteil freier Selbstbestimmung am Tun und Lassen abwägenden Verantwortungsgefühl nicht eben förderlich, jedenfalls nicht einer Verantwortlichkeit der einzelnen, zu sich selber sich wendenden Person, und an diese müssen wir doch unserem Begriff der Schuld entsprechend letzten Endes immer denken. Aber das eigentliche Welt- und Selbstbewußtsein ist eben hier noch nicht zu derjenigen individuellen Reflexion entwickelt, die sich und das eigene Tun zum Gegenstande hat oder gar ausdrücklich sich, das Ich, als den entscheidenden Ausgangspunkt des Geschehens begreifen will. Sondern der Mensch fühlt sich im letzten Grunde Gegebenheiten mannigfacher Art gegenüber leidend. Nichts bezeichnet besser den Gesamt-
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METAPHYSIK
DES
ALTERTUMS
D
charakter der antiken Metaphysik als dieses „Haben" von Gegebenem, dieses Verhaftetsein an Seiendes. Diese Haltung ist nicht bloß theoretisch, sondern sie schließt auch Wollen und Fühlen in sich, und selbst in ihren höchsten theoretischen Sublimierungen reichen die Wurzeln der griechischen Metaphysik bis in die mythische Sphäre hinab. Desto auffälliger sind die Spuren, die auf den Durchbruch eines anderen Schuldbewußtseins durch die Schicht dieser eben bezeichneten Gedankenwelt schließen lassen. Zeus setzt am Anfang der Odyssee in der Götterversammlung den Anteil der Menschen an ihrem Glück und Unglück auseinander (I, 32). Zum ersten Male in der griechischen Literatur wird die Wahrheit ausgesprochen, in der Piaton seinen Staatsmythos gipfeln läßt: Gott ist unschuldig, die Schuld ist des das Gute oder Schlechte wählenden Menschen: „Ha n6noi oiov Si] vv -D-eovg ßqoToi alTi&ovrai. ¿J fjfiitov yaQ yaai x&x' tfipEvai' o* di xai atool 6a n&vt' äXfovm (ivkcct. J a e g e r h a t diese W o r t e eines j u n g e n Dichters, eines P r o b l e m a t i k e r s , der bereits in das Zeitalter des w e r d e n d e n „ionischen R a t i o n a l i s m u s g e h ö r t " (Stzb. d. p r e u ß . A k a d . d . W i s s . Phil. hist. Klasse 1926, 72) in den Z u s a m m e n h a n g des griechischen D e n k e n s e i n g e o r d n e t u n d a n einem Musterbeispiel gezeigt, wie ein b e s t i m m t e s Motiv, das des W a r n e r s , in verschiedener geistiger F o r m u n g u n d E r f ü l l u n g d u r c h die D i c h t u n g hind u r c h g e h t . E r zeigt, wie bei Äschylos a m Schlüsse des „ P r o m e t h e u s " gen a u dasselbe Motiv des W a r n e r s a u f t r i t t , vor allem, wie es bei Solon einen ganz n e u e n Sinn g e w i n n t , der u n m i t t e l b a r auf die A n f ä n g e der Philosophie bei A n a x i m a n d e r hinweist. 4. D I E A L L M Ä H L I C H E R A T I O N A L I S I E R U N G D E S B E G R I F F E S D E R DIKE V O N H O M E R B I S S O L O N . D a s Neue, d a s i n d e m D e n k e n Solons a u f t r i t t , des ä l t e s t e n a t t i s c h e n , d u r c h die ionische A u f k l ä r u n g b e e i n f l u ß t e n Weisen, ist die A u s s c h a l t u n g d e r s p o n t a n e n A k t e göttlicher S t r a f e u n d göttlicher W a r n u n g . An ihre Stelle t r i t t der u n a u f h e b b a r e Z u s a m m e n h a n g der Ereignisse, den der Geist des klugen u n d weisen Menschen e r k e n n e n k a n n ; so k a n n der einsichtige Geist des F ü h r e r s z u m W a r n e r werden, wie in d e m E u n o m i e gedicht (Nr. 3, 30 Diehl) des S o l o n : mein Sinn (¿>iy/.