Menschenwürde: Zur Frage ihrer Unverfügbarkeit 9783161610066, 9783161611506, 3161610067

Die Menschenwürde nimmt in vielen nationalen Verfassungen und internationalen Vereinbarungen eine herausragende Stellung

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German Pages [276] Year 2022

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Titel
Inhaltsverzeichnis
Einleitung — Dietmar von der Pfordten/Philipp Gisbertz-Astolfi
Zur Unverfügbarkeit der Menschenwürde — Dietmar von der Pfordten
„Menschenwürde“ als Begriff der internationalen Menschenrechtskonzeption: „angeboren“, „gleich“, „innewohnend“ – aber auch unverfügbar? — Georg Lohmann
Das Axiom der Menschenwürde und die Ontologie der Person — Thomas Buchheim
Die Menschenwürde als anerkennungstheoretische Meta-Norm der Menschenrechte — Markus Rothhaar
Uneinholbare Distanz. Zur Relevanz des Naturbegriffs im Diskurs um die Menschenwürde — Walter Schweidler
Unverfügbarkeit oder Kontingenz? Gemeinsamkeiten und Trennlinien philosophischer Positionen — Philipp Gisbertz-Astolfi
Gottebenbildlichkeit und Menschenwürde — Franz-Josef Bormann
Die Würde des Menschen als Menschenrecht und Fundament der Menschenrechte — Stephan Kirste
Die Unverfügbarkeit der Menschenwürde unter Geltung des Grundgesetzes — Angelika Siehr
Die Unverfügbarkeit der Menschenwürde im geltenden Recht: Ein Überblick — Friederike Löbbert/Friederike Wapler
Strafe und Demütigung. Über Menschenwürde, Kontingenz und reflexives Recht — Benno Zabel
Autorinnen und Autoren
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Menschenwürde: Zur Frage ihrer Unverfügbarkeit
 9783161610066, 9783161611506, 3161610067

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Perspektiven der Ethik

herausgegeben von

Reiner Anselm, Thomas Gutmann und Corinna Mieth

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Menschenwürde Zur Frage ihrer Unverfügbarkeit Herausgegeben von

Dietmar von der Pfordten und Philipp Gisbertz-Astolfi

Mohr Siebeck

Dietmar von der Pfordten ist Professor für Rechts- und Sozialphilosophie an der Universität Göttingen und Direktor der dortigen Abteilung für Rechts- und Sozialphilosophie. Philipp Gisbertz-Astolfi ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Rechts- und Sozialphilosophie der Universität Göttingen.

ISBN  978-3-16-161006-6 / eISBN  978-3-16-161150-6 DOI 10.1628/978-3-16-161150-6 ISSN  2198-3933 / eISSN  2568-7344 (Perspektiven der Ethik) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbib­ liographie; detaillierte bibliographische Daten sind über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2022  Mohr Siebeck Tübingen. www.mohrsiebeck.com Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für die Verbreitung, Vervielfältigung, Übersetzung und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Gulde Druck aus der Minion gesetzt, in Tübingen auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und gebunden. Printed in Germany.

Inhaltsverzeichnis Einleitung Dietmar von der Pfordten/Philipp Gisbertz-Astolfi . . . . . . . . . . . . . . . 1 Zur Unverfügbarkeit der Menschenwürde Dietmar von der Pfordten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 „Menschenwürde“ als Begriff der internationalen Menschenrechtskonzeption: „angeboren“, „gleich“, „innewohnend“ – aber auch unverfügbar? Georg Lohmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 Das Axiom der Menschenwürde und die Ontologie der Person Thomas Buchheim . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 Die Menschenwürde als anerkennungstheoretische Meta-Norm der Menschenrechte Markus Rothhaar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 Uneinholbare Distanz. Zur Relevanz des Naturbegriffs im Diskurs um die Menschenwürde Walter Schweidler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 Unverfügbarkeit oder Kontingenz? Gemeinsamkeiten und Trennlinien p ­ hilosophischer Positionen Philipp Gisbertz-Astolfi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 Gottebenbildlichkeit und Menschenwürde Franz-Josef Bormann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 Die Würde des Menschen als Menschenrecht und Fundament der Menschenrechte Stephan Kirste . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 Die Unverfügbarkeit der Menschenwürde unter Geltung des Grundgesetzes Angelika Siehr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173

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Inhaltsverzeichnis

Die Unverfügbarkeit der Menschenwürde im geltenden Recht: Ein Überblick Friederike Löbbert/Friederike Wapler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 Strafe und Demütigung. Über Menschenwürde, Kontingenz und reflexives Recht Benno Zabel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239

Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265

Einleitung Dietmar von der Pfordten/Philipp Gisbertz-Astolfi Die Menschenwürde steht am Anfang vieler nationaler Verfassungen und interna­ tionaler Vereinbarungen. So heißt es in Artikel  1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 der Vereinten Nationen: „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren“. Und Artikel  1 des deutschen Grundgesetzes von 1949 sowie der Charta der Grundrechte der Europäischen Union von 2000 lautet: „Die Würde des Menschen ist unantastbar […]“. In zahlreichen rechtlichen Regelungen finden sich ähnliche Formulierungen. Die Menschenwürde hat danach jeder Mensch schon aufgrund seines Menschseins. Sie kann keinem Menschen abgesprochen und muss deshalb auch keinem Menschen zugesprochen werden. Weder muss man sie erst durch bestimmte Leistungen erwerben noch kann man sie wieder verlieren. Die Menschenwürde ist nach diesen rechtlichen Normen unverfügbar. Die Einsicht in die Unverfügbarkeit der Menschenwürde speist sich aus den Erfahrungen der ersten Hälfte des 20.  Jahrhunderts. Sie ist eine Lehre aus Kollektivismus, Totalitarismus, verbrecherischer Kriegsführung und Genozid. Nach den vorangegangenen Verbre­ chen war es unabdingbar, zu konstatieren, dass die Menschenwürde nicht von der Gesellschaft oder dem Staat ausgeht bzw. zugesprochen werden muss, sondern diesen vorausgeht und sie verpflichtet. Die Menschenwürde ist jedem einzelnen Menschen qua seines Menschseins inhärent. Sie steht nicht zur Disposition anderer, weder an­ derer individueller Menschen noch der Gesellschaft oder des Staates. Die durch sie gesetzte Grenze ist zumindest als ethische und moralische nicht aufhebbar. Diesem Inhalt wesentlicher Regelungen des Rechts dürfte die vorherrschende Mei­ nung der Menschen sowie der Rechtswissenschaft und anderer Einzelwissenschaften entsprechen. Doch sie ist weder unumstritten noch in all ihren Details und ­Folgerungen klar und eindeutig begründet. Der Klärungsbedarf lässt sich nur im interdisziplinären Gespräch zwischen Philosophie, Rechtswissenschaft, Politikwis­ senschaft, Theologie und Angewandter Ethik befriedigen. Zu diesem Zweck versam­ melt der vorliegende Band disziplinübergreifende Beiträge, welche die Unverfügbar­ keit der Menschenwürde untersuchen. Im Kontrast zum Recht findet sich vor allem in der Philosophie eine signifikante Anzahl skeptischer Stimmen, welche die Menschenwürde nicht für unverfügbar, sondern in wenigstens zweifacher Weise für kontingent halten: Diese Stimmen wol­ len die Menschenwürde zum einen allenfalls als Ergebnis einer bloß tatsächlichen Anerkennung durch andere Menschen bzw. die Gesellschaft oder den Staat auffas­

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sen, also einer Anerkennung, welche in einzelnen Zeiten und Kulturen erfolgen oder eben auch nicht erfolgen kann. Und sie wollen die Menschenwürde zum anderen von bestimmten, ebenfalls nur kontingenten Leistungen des einzelnen Menschen abhän­ gig machen. In der aktuellen philosophischen Diskussion existieren einige Theorien, welche die Menschenwürde z. B. auf die bloße, kontingente soziale Stellung einer Per­ son, besonders mit Bezug auf die ihr entgegengebrachte Achtung oder Geringschät­ zung anderer reduzieren wollen. Es soll das primäre Anliegen normativ angemesse­ ner Gesellschaften sein, Menschen vor Situationen der Demütigung und der Res­ pektlosigkeit zu schützen. Vertreten wird eine solche Auffassung etwa von Avishai Margalit (1996), Ralf Stoecker (2003), Franz Josef Wetz (2005), Arnd Pollmann (2005), Christoph Menke (2007) sowie Peter Bieri (2013). Mario Brandhorst und Eva Weber-­ Guskar haben Beiträge zu verschiedenen Auffassungen von der Kontingenz der Men­ schenwürde in einem Sammelband vereint (2017). Der vorliegende Band ist nicht zuletzt eine Reaktion auf diesen Sammelband. Er lässt Gegenauffassungen zu Wort kommen, welche die in den erwähnten zentralen rechtlichen Regelungen ausge­ drückte Annahme einer Unverfügbarkeit der Menschenwürde grundsätzlich teilen. Was die Unverfügbarkeit der Menschenwürde genauer bedeutet und wie sie sich be­ gründen lässt, untersucht Dietmar von der Pfordten. Er analysiert neun Eigenschaf­ ten der Menschenwürde, etwa ihre Notwendigkeit, Gleichheit und Allgemeinheit, die unter der Metaeigenschaft der Unverfügbarkeit zusammengefasst werden. Vier (Teil-)Begriffe der Menschenwürde werden im Hinblick auf ihre solchermaßen ver­ standene Unverfügbarkeit unterschieden. Die „große Menschenwürde“, die er in der Selbstbestimmung über die eigenen Belange erkennt, weise alle diese Eigenschaften auf und sei daher unverfügbar. Die sozialen Würdeverständnisse der ungleichen, „kleinen“ und gleichen, „mittleren“ Menschenwürde der wesentlichen sozialen Stel­ lung sowie die ökonomischen Würdebedingungen, die er von dieser großen Men­ schenwürde abgrenzt, seien hingegen nur im Hinblick auf ihren gleichen und natür­ lichen Kern unverfügbar. Georg Lohmann geht in seinem Beitrag von den historisch-politischen Gründen der internationalen Deklaration der Menschenrechte aus. Er erkennt diese in einer Reaktion auf die Verbrechen des Totalitarismus, insbesondere des Nationalsozialis­ mus. Die Idee der Inhärenz und Unverfügbarkeit der Würde sei nicht naturrechtlich oder theologisch zu verstehen. Sie sei aber auch nicht rechtspositivistisch zu reduzie­ ren. Die Menschenwürde im Sinne des internationalen Rechts sei vielmehr historisch bedingt gesetzt worden, aber im Anschluss daran mit guten Gründen als unverfüg­ bar zu verteidigen. Vor allem in Deutschland zu findenden, naturrechtlichen Inter­ pretationen hält Lohmann vor, dass sie diesen „historischen Index“ ignorierten. Kor­ rekt interpretiert, fordere das so entwickelte Verständnis der Menschenwürde eine transnationale Konzeption der Menschenrechte. Thomas Buchheim argumentiert, dass es ontologische, ethisch neutrale Gründe gebe, das Axiom der Menschenwürde als das einzig vernünftige Axiom aller Ethik

Einleitung

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und normativen Ordnung unter Menschen anzuerkennen. Diese Gründe findet er in der Personalität der Menschen, die ontologisch in der gemeinsamen Lebensform im Zeichen der Stellvertretung und des möglichen Stellentauschs wurzele. Durch diese nicht-natürliche Lebensform seien Normen der Gerechtigkeit für Menschen als Fi­ liationsverband wesentlich. Genau darin liege der ethisch neutrale Grund dafür, dass es für Menschen notwendig sei, das Axiom der Menschenwürde zugrunde zu legen. Markus Rothhaar beginnt seinen Beitrag mit einer Rekonstruktion und Kritik des rechtlichen Verständnisses der Menschenwürde in Deutschland. Zunächst analysiert er die Kernelemente dieses zeitgenössischen Verständnisses und verweist auf eine gravierende Spannung zwischen der Unabwägbarkeit der Menschenwürde als eigen­ ständigem Grundrecht und der darin implizierten Abwägbarkeit der durch die Men­ schenwürde begründeten anderen Grundrechte. Diese Spannung löst er, indem er zeigt, dass ein solches Verständnis der Menschenwürde als grundlegendes, unab­ wägbares Recht und zugleich Prinzip der weiteren Rechte schlüssig aus Fichtes Phi­ losophie der Anerkennung hergeleitet werden kann. Dies wiederum führe zu einem Verständnis der Menschenwürde, das zwar der Struktur, nicht aber dem Inhalt nach dem zeitgenössischen Rechtsverständnis entspreche, welches daher nun seinerseits mit dem philosophischen Begriff in ein „Überlegungsgleichgewicht“ gebracht wer­ den müsse. Für Walter Schweidler hängt die Menschenwürde ganz fundamental mit der menschlichen Personalität zusammen. Ausgehend von Joas’ Begriff der Sakralisie­ rung der Person entwickelt Schweidler ein Verständnis der Menschenwürde, das in der Personalität als einerseits dem Handeln entzogener und andererseits als das Han­ deln leitender Kategorie gründet, in der „uneinholbaren Distanz“ von Handlungs­ leitung und dem (auch rechtlichen und politischen) Handeln Entzogenen. Schweidler folgert daraus: „Die Würde eines Menschen ist wesentlich dasjenige, was jedem an­ deren verbietet, danach zu fragen, worin sie besteht.“ Den Kern der Unverfügbarkeit der Menschenwürde findet er in der Idee des Menschen als animal symbolicum, die alle Menschen als Repräsentanten der Menschheit zur Grenze des menschlichen Handelns macht. Philipp Gisbertz-Astolfi kritisiert die verbreitete Betonung der Unterscheidung zwischen Demütigungs- und Autonomietheorien der Menschenwürde. Diese Eintei­ lung in Denkschulen verdecke einen gemeinsamen Kern der meisten Theorien der menschlichen Würde, nämlich einen engen Bezug zur personalen Identität im Sinne einer „Zusammenfassung derjenigen Aspekte, die wir für unsere individuelle Per­ sönlichkeit für konstitutiv erachten“. Der zentrale Streitpunkt müsse vielmehr darin gesehen werden, dass einige Theorien die Unverfügbarkeit der Menschenwürde ver­ neinten. Solche Theorien einer Kontingenz der menschlichen Würde stellten den un­ bedingten gleichen ethischen Anspruch aller Menschen in Frage – und dies sei der entscheidende Schritt der Reduktion der Menschenwürde, gegen den man die Men­ schenwürde verteidigen müsse.

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Dietmar von der Pfordten/Philipp Gisbertz-Astolfi

Der Verbindung von Menschenwürde und Gottebenbildlichkeit ist Franz-Josef Bormanns Untersuchung gewidmet. Er zeichnet die Idee der Würde des Menschen im Alten und Neuen Testament und in der Patristik nach und zeigt systematisch, dass deren beste Deutung sich auf einen herausgehobenen Status des Menschen in Anbetracht von dessen in Freiheit und Vernunft begründeter Fähigkeit zur Verant­ wortungsübernahme bezieht. Nicht der säkulare Begriff der Menschenwürde sei aus der religiösen Vorstellung der Gottebenbildlichkeit ableitbar, sondern im Gegenteil setze die Gottebenbildlichkeit als theologische Interpretation der Menschenwürde die säkular konstatierte Fähigkeit zur Verantwortungsübernahme voraus. Bormann begegnet damit der Kritik, dass die Menschenwürde kein säkularer, sondern ein bloß religiös gewachsener, kontingenter Begriff sei. Stephan Kirste analysiert das Verhältnis der Menschenwürde und der Menschen­ rechte. Er kritisiert die Lesart der Menschenwürde als bloße Reaktion auf die Er­ fahrungen der Unrechtsregime des 20.  Jahrhunderts. Vielmehr habe sich der Begriff im Recht fortentwickelt und mittlerweile sei die Menschenwürde ein eigenständiges Menschenrecht. Dieses Recht sieht er als moralisch fundiert und nicht nur politisch gesetzt an. Es sei das Recht auf Anerkennung als Rechtssubjekt. Insofern sei die ­Menschenwürde nicht nur Fundament der Menschenrechte, insofern alle Rechte die Rechtssubjektivität voraussetzten, sondern zugleich selbst ein Menschenrecht, das sich der rechtlichen Verfügung entziehe. Um diese These zu fundieren, schlägt Kirste einen weiten Bogen bis hinein in die Debatten um ein „Urrecht“ im frühen Kantia­ nismus und im deutschen Idealismus und zieht insbesondere die Statuslehre Georg Jellineks zur Verdeutlichung seiner Interpretation heran. Angelika Siehr rekonstruiert den positivrechtlichen Gehalt des Begriffs der Men­ schenwürde im deutschen Verfassungsrecht. Sie stellt fest, dass der Begriff der ‚Un­ ver­ füg­ barkeit‘ selbst kein Rechtsbegriff, sondern ein interdisziplinär anschluss­­fähi­ger Brückenbegriff sei, der sich grundrechtsdogmatisch im Begriff der ‚Unantast­ barkeit‘ und in einem absoluten Schutz der Menschenwürde spiegele. Die Menschen­ würdegarantie weise jedoch verschiedene Dimensionen auf und der absolute Schutz gelte zwar für das aus Art.  1 Abs.  1 GG folgende Grundrecht und auch für die We­ sensgehaltsgarantie des Art.  19 Abs.  2 GG, in der auch das ‚Antastungsverbot‘ wieder auftauche, nicht aber für andere Dimensionen der Menschenwürde. Zudem sei eine restriktive Auslegung geboten: Nicht alles, was nach den unterschiedlichen ideen­ geschichtlichen Begründungssträngen der Menschenwürde als ‚unverfügbar‘ gelte, sei auch positiviert worden. Vielmehr gehe es in Art.  1 Abs.  1 GG vor allem um die (wechselseitige) Anerkennung und den (staatlichen) Schutz des autonomen Subjekts. Der Begriff der Menschenwürde hat mit der Gründung der Vereinten Nationen im Völkerrecht und auch im deutschen Grundgesetz eine erhebliche rechtliche Bedeu­ tung erlangt. Der Beitrag von Friederike Wapler und Friederike Löbbert zeichnet die Entstehungsgeschichte der Menschenwürdeklauseln im Völkerrecht und im Grund­ gesetz nach und vergleicht unterschiedliche Entwicklungslinien in der methodischen und inhaltlichen Ausgestaltung dieser Normen.

Einleitung

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Einen Mittelweg zwischen den philosophisch diskutierten Positionen einer not­ wendigen und unantastbaren Menschenwürde sowie einer kontingenten und verletz­ lichen Würde entwickelt Benno Zabel am Beispiel des Strafrechts. Beide Menschen­ würdeverständnisse stünden nicht in einem Exklusivitätsverhältnis zueinander, son­ dern könnten (und würden) sich beispielsweise im Strafrecht miteinander verbinden. Die notwendige Anerkennung der gleichen Freiheit und die Vulnerabilität und Ein­ gebettetheit in kontingente Lebensgeschichten führten zu einem inklusiven Men­ schenwürdeverständnis. Für die Strafe bedeute dies, dass sie sich an alle Beteiligten, vor allem also Täter und Opfer, sowohl als vulnerable als auch als freie Wesen richten müsse; dass also weder die Idee der Würde freier Wesen noch die konkreten (Verlet­ zungs-)Erfahrungen im Strafprozess und -urteil ausgeblendet werden dürften. Der vorliegende Band beruht weitgehend auf Vorträgen, die auf einer Tagung am Zentrum für interdisziplinäre Forschung (ZiF) in Bielefeld gehalten wurden. Daher gilt dem ZiF und seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern sowie allen, die an der Organisation beteiligt waren, ein besonderer und herzlicher Dank. Die Herausgeber bedanken sich zudem für die wertvolle Mithilfe bei der Erstellung dieses Bandes bei Jan Ebeling, Leonie von Erdmannsdorff, Lore-Marie Junghans, Anne Karzel, Malena Koch, Julica Schütz, Moritz Specht und Tristan Wißgott. Wir widmen dieses Buch dem Andenken des treuen Freundes und inspirierenden Wissenschaftlers Georg Lohmann.

Zur Unverfügbarkeit der Menschenwürde Dietmar von der Pfordten Einleitung „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren.“ – so formuliert Art.  1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen vom 10. Dezember 1948 die allgemeine Auffassung über die Menschenwürde. In der Prä­ ambel dieser Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte wird die Menschenwür­de weiterhin als dem Menschen „inhärent“ charakterisiert.1 Art.  1 I S. 1 des Deutschen Grundgesetzes von 1949 lautet: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“  – eine Formulierung, welche im Jahr 2000 wörtlich von Art.  1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union übernommen wurde.2 Wesentliche Menschenrechts­ erklärungen sowie Verfassungen formulieren also drei zentrale Merkmale der Menschenwürde: Die Menschenwürde ist angeboren, inhärent und unantastbar. Das Gemeinsame dieser drei Merkmale liegt – so die Ausgangsthese dieser Untersu­ chung  – darin, dass die Menschenwürde des jeweiligen Trägers der einfachen Verfügbarkeit durch andere, seien es andere Menschen oder politische Gemeinschaften wie Staaten, entzogen ist. Alle drei genannten Merkmale stimmen also darin überein, dass die Menschenwürde faktisch und normativ unverfügbar ist.3 Was bedeutet diese Unverfügbarkeit der Menschenwürde genauer?4 Nach den Erfahrungen mit den totalitären Diktaturen, Kriegen und Genoziden in der ersten Hälfte des 20.  Jahrhunderts wollten die Mütter und Väter der Menschen­ rechtserklärungen und Verfassungen betonen, dass die Menschenwürde nicht bloß gesellschaftlich oder staatlich gewährt wird, nicht von zufälligen Leistungen des Rechtsträgers bzw. der Rechtsträgerin abhängt und nicht durch sein Verhalten verlo­ ren gehen kann, sondern eine unverfügbare Rechtsstellung des Menschen gegenüber 1  Art.  1 S.  1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen: „All human beings are born free and equal in dignity and rights“; Präambel: „Whereas recognition of the inher­ ent dignity and of the equal and inalienable rights of all members of the human family…“. 2  Art.  1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie ist zu achten und zu schützen.“ 3  Vgl. zur Kennzeichnung der Menschenwürde als „unverfügbar“: Maihofer, Rechtsstaat und menschliche Würde, 17; Isensee, Menschenwürde, 207. 4  Vgl. zum Begriff der Unverfügbarkeit: Vorster, Unverfügbarkeit, Sp.  334 f. Nachdem der Be­ griff in den 30er Jahren des 20.  Jahrhunderts vor allem durch Rudolf Bultmann geprägt wurde, hat ihn insbesondere Martin Heidegger verwendet. Vgl. zu einer neueren soziologischen Behandlung der Unverfügbarkeit: Rosa, Unverfügbarkeit.

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Dietmar von der Pfordten

Staat und Gesellschaft begründet.5 Dies entspricht der allgemein geteilten Auffassung in Gesellschaft, Politik, Recht und Staat über die Menschenwürde. Es entspricht der ständigen Rechtsprechung der Gerichte.6 Und es entspricht nach wie vor der über­ wiegenden Meinung unter Juristen, Theologen, Medizinern, Sozialwissenschaftlern und anderen Vertretern der Einzelwissenschaften. Es gibt allerdings Skeptiker, und zwar vor allem in der Philosophie, welche die Menschenwürde für kontingent halten:7 Sie wollen sie allenfalls als Ergebnis einer Anerkennung durch andere Menschen bzw. die Gesellschaft sehen, also einer Aner­ kennung, welche in einzelnen Zeiten und Kulturen erfolgen oder auch nicht erfolgen kann bzw. konnte.8 Oder sie wollen die Menschenwürde von bestimmten ebenfalls nur kontingenten Leistungen des einzelnen Menschen abhängig machen, sei es im Hinblick auf ihren Erwerb oder ihren Verlust.9 Besonders radikale Skeptiker halten die Menschenwürde bloß für ein „falsches moralisches Bewusstsein“.10 Oder sie wol­ len die Menschenwürde sogar ganz verabschieden und zum „Sperrmüll“ bringen.11 Die Menschenwürde wird von diesen Skeptikern also jedenfalls nicht als unverfügbar angesehen. Nachfolgend soll die Unverfügbarkeit der Menschenwürde untersucht werden. Das soll in zwei Schritten geschehen. Zunächst wird gefragt, was die Unverfügbarkeit der Menschenwürde genauer bedeutet (I.). Dann werden vier Aspekte bzw. (Teil-) Begriffe der Menschenwürde skizziert, auf die sich die Unverfügbarkeit der Men­ schenwürde beziehen kann. Daran anschließend wird die Frage der Unverfügbarkeit für diese vier Aspekte bzw. Teilbegriffe näher untersucht (II.).

I. Was bedeutet die Unverfügbarkeit der Menschenwürde genauer? Bei einem relativ abstrakten und zugleich noch nicht sehr lange etablierten Begriff wie dem der Unverfügbarkeit stellt sich die Frage nach seinem Verständnis. Zunächst ist festzustellen, dass es sich um eine Negation eines Gegenbegriffs handelt. Deshalb wird sich eine Erhellung zuallererst am positiven Gegenbegriff der Verfügbarkeit 5  Vgl. zu einer Darstellung der deutschen Debatte um die Menschenwürde seit 1949: Baldus, Kämpfe um die Menschenwürde. 6  Vgl. zur Rechtsprechung des deutschen Bundesverfassungsgerichts etwa: Hömig, Menschen­ würdeschutz in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, 25–68. Vgl. zur Rechtspre­ chung des europäischen Gerichtshofs: Schorkopf, Würde des Menschen, §  15 Rn.  4 –16. Vgl. zur Rechtsprechung des Supreme Courts der USA: Goodman, Human Dignity in Supreme Court Con­ stitutional Jurisprudence, 740–794; Barak, Human Dignity, 185 ff. 7  Vgl. die meisten, wenn auch nicht alle Beiträge in: Brandhorst/Weber-Guskar (Hg.), Men­ schenwürde. 8  Mohr, Ein ‚Wert, der keinen Preis hat‘, 13–39; Hofmann, Die versprochene Menschenwürde, 353–377. 9  Luhmann, Grundrechte als Institution, 64 ff. 10  Lohmar, Falsches moralisches Bewusstsein. 11  Bittner, Abschied von der Menschenwürde, 100.

Zur Unverfügbarkeit der Menschenwürde

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bzw. des Verfügbarmachens orientieren müssen. Hartmut Rosa hat vier Dimensionen des Verfügbarmachens unterschieden: das Sichtbarmachen, das Erreichbar- bzw. Zu­ gänglichmachen, das Beherrschbarmachen bzw. Unter-Kontrolle-Bringen und das Nutzbarmachen.12 Er differenziert allerdings nicht zwischen der Verfügung bezüg­ lich Einzelobjekten und bezüglich allgemeiner Sachverhalte. Bei der Menschenwürde geht es sicherlich um den je einzelnen Menschen. Und um als Verpflichtung wirken zu können, wird die Menschenwürde bereits sichtbar und zugänglich sein müssen. In allgemeiner Form ist die Sichtbarmachung und Erreichbarkeit der Menschenwürde bereits durch die am Anfang der Untersuchung erwähnten Statuierungen in Men­ schenrechtserklärungen und Verfassungen erfolgt. Mit der Unverfügbarkeit der Würde des einzelnen Menschen kann also nur eine Negation des Unter-Kontrolle-­ Bringens und des Nutzbarmachens des je einzelnen Menschen gemeint sein. Dabei werden nur gravierende Formen der Menschenwürde erfasst werden, denn ein gewis­ ses proportionales Maß an Kontrolle und Nutzbarmachung wird jeder Mensch in so­zialen Beziehungen, etwa als Schüler, Auszubildender, Arbeitnehmer usw., auf sich nehmen müssen. Wie lässt sich vor diesem Hintergrund des allgemeinen Begriffs der Unverfügbarkeit die spezifische Unverfügbarkeit der Menschenwürde als Vernei­ nung eines gravierenden Unter-Kontrolle-Bringens und Nutzbarmachens genauer verstehen? Wird die Menschenwürde als angeboren, inhärent und unantastbar qualifiziert, so wird sie implizit, aber begriffsanalytisch notwendig als eine Eigenschaft des Menschen verstanden. Es ist nicht vorstellbar, wie etwas an einer Entität wie dem Menschen angeboren, inhärent und unantastbar sein soll, sofern es nicht dessen Eigenschaft in einem ontologischen Sinn ist.13 Mit der Qualifikation der Menschenwürde als Eigen­ schaft ist eine wesentliche ontologische Einordnung erfolgt. Die Menschenwürde ist danach weder ein Ding bzw. eine Substanz wie der Mensch als solcher, noch eine Relation oder ein Nichts, sondern gemäß den relativ abstrakten ontologischen Kate­ gorien, welche wir unserem Verständnis der Welt zu Grunde legen, eine Eigenschaft des Menschen. Und zwar handelt es sich um eine primäre Eigenschaft, nicht eine Metaeigenschaft, die sich auf andere Eigenschaften bezieht. Weiterhin liegt bei der Menschenwürde eine natürliche Eigenschaft vor, nicht eine künstlich erworbene Ei­ genschaft wie etwa das Beherrschen einer Fremdsprache. Weder die Tatsache, dass es sich bei der Menschenwürde um eine Eigenschaft des Menschen handelt, noch die Tatsache, dass diese Eigenschaft natürlich ist, schließt aus, dass die Eigenschaft der Menschenwürde neben ihrer Faktizität zusätzlich und darauf aufbauend eine Verpflichtung gegenüber anderen enthält. Man vergleiche z. B. ein Bedürfnis, etwa das der Nahrungsaufnahme des Menschen, mit der körperlichen Ausdehnung des 12  Rosa, Unverfügbarkeit, 21 f. Teilweise leicht davon abweichend aber auch 107: Transparenz, Zurechenbarkeit, Kontrollierbarkeit und Effizienz. 13  In den Beratungen zum Grundgesetz hat insbesondere Carlo Schmid von einem „Attribut des Menschen“ gesprochen: Pickart u. a., Der Parlamentarische Rat, 72. Vgl. zur Qualifikation als Ei­ genschaft des Menschen auch: Baldus, Kämpfe um die Menschenwürde, 27.

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Dietmar von der Pfordten

mensch­lichen Körpers. Die körperliche Ausdehnung des menschlichen Körpers ist rein faktisch, hat als solche also kein zusätzliches verpflichtendes Element. Beim Be­ dürfnis ist das grundsätzlich anders. Im Falle des Bedürfnisses der Nahrungsaufnah­ me handelt es sich um eine natürliche Eigenschaft des Menschen, die neben fakti­ schen auch verschiedene verpflichtende Elemente enthält, etwa beim Kleinkind das verpflichtende Element der ständigen Nahrungszuführung und beim Erwachsenen immerhin noch die verpflichtenden Elemente der Nahrungszuführung durch andere im Fall des Verhungerns und der Nichtverhinderung der selbständigen Nahrungs­ aufnahme durch den Hungrigen. Mit der Konstatierung, dass eine Eigenschaft zu­ sätzlich eine solche Verpflichtung enthält, ist aber natürlich noch nicht festgelegt, dass diese Verpflichtung auch berechtigt ist und deshalb oder aus anderen Gründen zu einem moralischen, ethischen oder gar rechtlichen Anspruch führt. Das verpflicht­ ende Element, das mit einem Bedürfnis und auch mit der Eigenschaft der Menschen­ würde verbunden ist, ist zunächst einmal nur eine tatsächlich-normative Anforde­ rung an andere und vielleicht auch an sich selbst, ohne dass es sich schon um einen moralischen, ethischen oder rechtlichen Anspruch handelt. Die Menschenwürde als primäre Eigenschaft des Menschen hat nun ihrerseits ­sekundäre Metaeigenschaften, nämlich – sofern man die Statuierungen der eingangs erwähnten Normierungen ernst nimmt – unter anderem die drei erwähnten Metaei­ genschaften, angeboren, inhärent und unantastbar zu sein. Die Unverfügbarkeit stellt ein wesentliches Merkmal dieser drei Metaeigenschaften der Menschenwürde dar. Sie ist also keine primäre Eigenschaft des Menschen und auch keine sekundäre Eigenschaft der Menschenwürde, sondern eine tertiäre Metaeigenschaft verschiedener Eigenschaften der Menschenwürde. Es handelt sich um eine tertiäre Metaeigenschaft, welche ein Bündel von sekundären Eigenschaften der Menschenwürde zusammen­ fasst, während andere Eigenschaften der Menschenwürde nicht Teil der Unverfügbarkeit sind. Worin liegt diese tertiäre Metaeigenschaft der Unverfügbarkeit der Men­ schenwürde genauer? Sie liegt darin, dass jedenfalls durch andere kein Zugriff auf die Menschenwürde einer Person erfolgen kann und darf. Jedenfalls andere können und dürfen die Würde eines anderen Menschen nicht wegnehmen, zerstören, sich aneig­ nen, rauben, verletzen usw. Aber was bedeutet das genauer?14 Nachfolgend sollen zunächst Eigenschaften der Menschenwürde genannt werden, die nicht zur Unverfügbarkeit gehören und dann solche, welche dazugehören. Auf diese Weise soll die Annahme der Unverfügbarkeit der Menschenwürde weiter kon­ turiert werden.

14  Ich klammere hier die schwierige und umstrittene Frage aus, ob die Menschenwürde auch für den Träger selbst unverfügbar ist, also eine einschränkende Verpflichtung impliziert.

Zur Unverfügbarkeit der Menschenwürde

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1. Eigenschaften bzw. mögliche Eigenschaften der Menschenwürde, welche nicht zu ihrer Unverfügbarkeit gehören a) Unabwägbarkeit Von vielen wird die Menschenwürde für unabwägbar gehalten. So soll etwa die in Art.  1 GG als „unantastbar“ gekennzeichnete Menschenwürde nach der herrschen­ den Auffassung der Gerichte und juristischen Kommentare nicht mit anderen Wer­ ten bzw. Rechten abwägbar sein, etwa der Religionsfreiheit oder dem Schutz der kör­ perlichen Unversehrtheit.15 Der Geiselnehmer darf etwa keiner Folter und damit keiner Verletzung seiner Menschenwürde ausgesetzt werden, um das Leben der Gei­ sel zu retten.16 Die Menschenwürde sticht also alle möglichen anderen Werte und Rechte aus. Aber diese Unabwägbarkeit der Menschenwürde ist klar von der Unver­ fügbarkeit zu unterscheiden. Die Abwägung ändert nichts an der Angeborenheit und Inhärenz der Menschenwürde. Die Abwägung wäre – sofern sie zulässig ist – keine „Verfügung“ anderer über die Menschenwürde einer Person, sondern nur die Relati­ vierung in einem ethischen oder rechtlichen Deliberationsprozess. Die Kennzeich­ nung der Menschenwürde als „unantastbar“ mag auch die Unabwägbarkeit enthal­ ten, aber es ist nicht diese Abwägungssperre der Unantastbarkeit, welche die Unver­ fügbarkeit der Menschenwürde ausmacht. b) Eigentümlichkeit Die Menschenwürde ist dem Menschen als Gattungswesen eigentümlich. Das heißt, es handelt sich um eine Eigenschaft des Menschen, welche einen Unterschied bzw. eine Differenz zu allem anderen, insbesondere allen anderen Lebewesen ausmacht. Die Menschenwürde kommt schon begrifflich notwendig nur dem Menschen zu, nicht etwa Tieren oder Gott. Dies hindert nicht, dass die Tiere vielleicht so etwas wie eine eigene „Tierwürde“ haben.17 Die Menschenwürde ist aber dem Menschen vorbe­ halten. Die Eigentümlichkeit der Menschenwürde ist jedoch keine Eigenschaft, wel­ che von der Unverfügbarkeit umfasst ist.

15  BVerfGE 75, 369–382, hier: 380; 93, 266–319, hier: 293; 107, 275–286, hier: 283 f.; 130, 1–51, hier: 22; Dreier, in: ders. (Hg.), GG, Art.  1 Abs.  1 Rn.  46; Herdegen, in: Maunz/Dürig, GG, Art.  1 Abs.  1 Rn.  73 f.; Höfling, in: Sachs (Hg.), GG, Art.  1 Rn.  10 f.; Kunig, in: v. Münch/Kunig, GG, Art. Rn.  4, 26; Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art 1 Rn.  34 f. 16  Vgl. Landgericht Frankfurt a. M., Neue Juristische Wochenschrift 2005, 692–696; von der Pfordten, Ist staatliche Folter als fernwirkende Nothilfe ethisch erlaubt?, 149–172; von der Pfordten, Menschenwürde, 89 ff. 17 Vgl. von der Pfordten, Tierwürde nach Analogie der Menschenwürde?, 105–123. Wiederab­ gedruckt in Sabine Odparlik, Peter Kunzmann (Hg.), Eine Würde für alle Lebewesen?, 119–141.

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c) Absolutheit Verschiedentlich wird die Menschenwürde als „absolut“ oder als „Absolutes“ bezeich­ net.18 „Absolut“ bedeutet „ohne alle Relationen“. Aber es ist zweifelhaft, was das für die Menschenwürde bedeuten kann. Sofern es sich nur auf die Abwägung bezieht, meint es nicht mehr als die bereits unter a) erwähnte Unabwägbarkeit. Sofern es dage­ gen über die Abwägung hinausgeht, ist fraglich, was es impliziert. Die Menschenwür­ de ist als Eigenschaft mit dem je einzelnen Menschen als ihrem Träger verbunden. Und sie richtet sich normativ an andere handlungsfähige Wesen. Insofern ist die Ei­ genschaft der Menschenwürde nicht absolut, sondern in doppelter Weise relativ. Die Unverfügbarkeit der Menschenwürde kann also nicht ihre Absolutheit enthalten. 2. Eigenschaften, welche zur Unverfügbarkeit der Menschenwürde gehören Welche Eigenschaften der Menschenwürde werden durch die tertiäre Metaeigen­ schaft der Unverfügbarkeit zusammengefasst? Es sind jedenfalls zumindest die Fol­ genden: a) Allgemeinheit Die Menschenwürde ist allgemein. Das heißt, sie kommt nach weitverbreiteter Über­ zeugung allen Menschen zu, also allen Angehörigen der Gattung Mensch. Anders als noch die altrömische „dignitas“ ist die Menschenwürde somit nicht auf bestimmte, besonders herausgehobene Personen beschränkt, etwa Magistrate, Offiziere, Patri­ zier, Priester, Senatoren usw.19 Sie ist auch nicht an eine weitere typologische Eigen­ schaft von Menschen gebunden, etwa Geschlecht, Alter, Gesundheitszustand, Ethnie/­ Rasse, Herkunft, Klasse, Gesinnung, politische Überzeugung usw. Dabei ist Voraus­ setzung für die Allgemeinheit nur das regelmäßige bzw. normale Vorliegen bei allen Mitgliedern der Gattung aufgrund der natürlich vorgegebenen Chance und Wahr­ scheinlichkeit der Ausprägung, nicht das tatsächliche Vorliegen in jedem einzelnen Vorkommen, das krankheitsbedingt vermindert oder nicht vorhanden sein kann. b) Gleichheit Die Menschenwürde ist als Eigenschaft des Menschen gleich. Das heißt, sie kommt als Eigenschaft allen Menschen in gleicher Weise und gleicher Stärke zu, also allen Angehörigen der Gattung Mensch. Es gibt keine stärkere oder schwächere Men­ schenwürde bei einem oder mehreren Menschen, so wie es etwa eine stärkere oder schwächere Körperkraft bei mehreren Menschen oder einem Menschen in unter­ schiedlichen Lebensaltern gibt. 18  Vgl. etwa Isensee, Menschenwürde. Die säkulare Gesellschaft auf der Suche nach dem Abso­ luten, 173–218. 19  Vgl. zur altrömischen dignitas: Pöschl, Der Begriff der Würde im antiken Rom und später.

Zur Unverfügbarkeit der Menschenwürde

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c) Nichtkörperlichkeit Die Menschenwürde ist nicht körperlich. Das heißt, sie ist keine körperliche Eigenschaft. Würde es sich um eine körperliche Eigenschaft handeln, so könnte sie nicht unverfügbar sein, denn der Körper des Menschen als Ganzes und jeder körperliche Teil des menschlichen Körpers sind einer möglichen Verfügung durch den Inhaber des Körpers und andere ausgesetzt. Die Menschenwürde eines einzelnen Menschen kann nur durch den Tod dieses Menschen, also das Aufhören seiner wesentlichen Körperfunktionen verschwinden. d) Unveränderlichkeit Die Menschenwürde ist als Eigenschaft in ihrem Kern unveränderlich. Ein Mensch wird mit ihr geboren und behält sie sein ganzes Leben lang, zumindest bis zum Tod. Die Menschenwürde kann zwar eingeschränkt, tangiert und verletzt, nicht aber in ihrem Kern verändert werden. Der Folterer verletzt z. B. die Menschenwürde, aber er kann sie weder in ihrer Faktizität, noch in ihrer Normativität als verpflichtender An­ spruch verändern, etwa vermindern oder einschränken. Entkommt der Gefolterte seinem ersten Peiniger und gerät er in die Hände eines zweiten Folterers, so hat er die Menschenwürde in genau gleicher Art und genau gleichem Maße wie vorher und kann sie auch seinem zweiten Peiniger in gleicher Form und Stärke entgegenhalten. e) Notwendigkeit Die Menschenwürde ist für jeden einzelnen Menschen als Eigenschaft notwendig. Das heißt, sie kommt jedem einzelnen Menschen nicht nur wirklich oder möglich zu, also nicht bloß zufällig oder beliebig, sondern wirklich und notwendig. Es handelt sich nicht nur um eine manchmal wirkliche, nicht aber notwendige Eigenschaft, wie etwa gebildet oder höflich zu sein. Die Eigenschaft ist also nicht bloß kontingent. Als not­ wendige Eigenschaft ist die Menschenwürde ein Attribut des Menschen, das heißt eine notwendige Eigenschaft, nicht nur ein Akzidens, das heißt eine bloß wirkliche Eigen­ schaft, oder gar eine Potentialität, eine bloß mögliche Eigenschaft des Menschen. Unter den notwendigen Eigenschaften gibt es die essentiellen und die nichtessen­ tiellen. Für den Menschen ist es etwa notwendig, dass er lachen kann.20 Dies ist aber nicht essentiell für ihn. Essentiell für den Menschen ist es aber, geistig bzw. denkend mit einem hohen Grad an Abstraktionsfähigkeit zu sein, weil eben dies ihn von allen anderen Lebewesen wesentlich unterscheidet. Die Eigenschaft der Menschenwürde ist sicherlich nicht identisch mit dieser Eigenschaft, geistig bzw. denkend zu sein. Aber wenn man die Menschenwürde – wie nachfolgend erläutert werden wird – zu­ mindest in ihrem wesentlichen Teil als Selbstbestimmung über die eigenen Belange erkennt, dann handelt es sich bei dieser Selbstbestimmung über die eigenen Belange um einen wesentlichen, unverzichtbaren Teil der menschlichen Geistigkeit bzw. des 20 

Vgl. bereits Aristoteles, De partibus animalium 3,10 (673a9).

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menschlichen Denkens. Zumindest dieser Teilaspekt der Menschenwürde partizi­ piert also an der Essenz des Menschen. f) Unerwerbbarkeit Wenn die Menschenwürde angeboren ist, dann ist sie auch unerwerbbar. Das heißt sie kann bzw. muss vom einzelnen Menschen nicht erst durch ein eigenes oder frem­ des Verhalten erworben werden. Dies ergibt sich bereits begrifflich aus der Qualifika­ tion der Menschenwürde als angeboren. Der jeweilige Träger der Menschenwürde kann bzw. muss die Menschenwürde nicht erst durch ein bestimmtes Verhalten, das heißt eine bestimmte Leistung, herstellen oder sich beschaffen. g) Unverlierbarkeit Wenn die Menschenwürde inhärent ist, dann ist sie auch unverlierbar. Das heißt, selbst das größte Fehlverhalten eines Menschen führt nicht zum Verlust seiner Wür­ de. Sogar der grausamste Mörder oder Verbrecher kann durch sein Verhalten seine Menschenwürde nicht abschütteln. Mensch und Menschenwürde sind als Etwas und Eigenschaft notwendig verbunden, und zwar unabhängig von allem Tun und Unter­ lassen. h) Unwegnehmbarkeit Die Menschenwürde ist unwegnehmbar. Man kann sie dem Träger also nicht wie ein abtrennbares Ding wegnehmen. Sie kann nicht wie ein Diebesgut aus den Taschen gestohlen oder aus dem Haus getragen werden. Mensch und Menschenwürde sind als Etwas und Eigenschaft unauflösbar miteinander verbunden. Die Unwegnehmbarkeit der Menschenwürde ist dabei nicht das Gleiche wie ihre Unveränderlichkeit. Dies kann man sich mit Bezug auf den Unterschied zu körperlichen Eigenschaften der Menschen klarmachen. Der Blutkreislauf kann dem Menschen z. B. nicht wegge­ nommen werden, er ist aber natürlich veränderbar, etwa durch die Einnahme oder Verabreichung von aktivitätssteigernden Mitteln, welche Koffein enthalten. i) Unzusprechbarkeit und Unabsprechbarkeit Die Menschenwürde kann keinem Menschen zu- und abgesprochen werden, ist also nicht von der zufälligen Anerkennung oder Aberkennung anderer Menschen oder In­ stitutionen abhängig. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der UN sowie das Grundgesetz und die EU-Grundrechtecharta machen ganz deutlich, dass sie die Eigenschaft der Menschenwürde nicht selbst zusprechen bzw. schaffen, sondern dass sie nur etwas bereits vor ihrer Setzung Bestehendes beschreiben. Machte man die Men­schenwürdeeigenschaft von einem willkürlichen Zusprechungsakt anderer Men­schen abhängig, so hätten Verbrecherregime wie das sowjetische unter Stalin, das kommunistische unter Mao oder das nationalsozialistische unter Hitler die Men­

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schenwürde nicht verletzen können, weil sie diese niemals explizit oder auch nur implizit zugesprochen haben. Wir sind uns aber sicher, dass alle drei Regime massive Menschenwürdeverletzungen begangen haben. Da die Menschenwürde nicht zuge­ sprochen bzw. anerkannt werden kann und muss, kann der Zusprechungsakt auch nicht widerrufen werden. Sie kann also auch nicht abgesprochen bzw. aberkannt wer­ den.

II. Die vier Aspekte bzw. (Teil-)Begriffe der Menschenwürde Nun muss aufgeklärt werden, worauf sich die einzelnen, soeben erläuterten Merkma­ le der tertiären Metaeigenschaft der Unverfügbarkeit der Menschenwürde genauer beziehen. Dazu ist es notwendig, die einzelnen Aspekte bzw. (Teil-)Begriffe der Men­ schenwürde zu untersuchen. Man muss zwischen wenigstens vier derartigen Aspek­ ten bzw. (Teil-)Begriffen der Menschenwürde unterscheiden:21 einer „großen“, einer „kleinen“, einer „mittleren“ und einer „ökonomischen“ Würde. Bei der großen Men­ schenwürde handelt es sich um eine innere Eigenschaft des Menschen. Diese große Menschenwürde lässt sich am besten als Selbstbestimmung über die eigenen Belange verstehen. Mit der kleinen Menschenwürde ist dagegen die äußere Eigenschaft der wesentlichen sozialen Stellung und Leistung eines Menschen gemeint, wie sie auf eine herausgehobene soziale Position eingeschränkt bereits mit dem lateinischen Aus­ druck dignitas bezeichnet wurde. Als Grenzfall der kleinen Würde kennt man seit Pufendorf noch eine mittlere Würde.22 Auch sie bezieht sich auf die äußere Eigenschaft der wesentlichen sozialen Stellung der Menschen, betont aber die natürliche und damit im Prinzip unveränderliche Gleichheit dieser sozialen Stellung. Schließlich forderten im 19.  Jahrhundert insbesondere Vertreter der sozialistischen Bewegung, etwa Lassalle, ein „menschenwürdiges Dasein“, was sich in Art.  151 WRV nieder­ schlug.23 Damit wurde die Verwirklichung ökonomischer bzw. materieller Voraus­ setzungen der Menschenwürde verlangt. Man kann insofern abkürzend von einer „ökonomischen“ Würde sprechen, genauer von einer „ökonomischen Würdebedingung“. Diese vier Aspekte bzw. (Teil-)Begriffe der Würde sollen im Folgenden im Hinblick auf die tertiäre Metaeigenschaft der Unverfügbarkeit untersucht werden.

21 

22 

78 f.

Vgl. zum Folgenden: von der Pfordten, Menschenwürde, 9 ff., 54 ff. von Pufendorf, Über die Pflicht des Menschen und des Bürgers nach dem Gesetz der Natur,

23  Lassalle, Arbeiter-Programm. Über den besonderen Zusammenhang der gegenwärtigen Geschichtsperiode mit der Idee des Arbeiterstandes, 26; Art.  151 I WRV: „Die Ordnung des Wirt­ schaftslebens muss den Grundsätzen der Gerechtigkeit mit dem Ziele der Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins für alle entsprechen. In diesen Grenzen ist die wirtschaftliche Freiheit des Einzelnen zu sichern.“

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1. Die große Würde: Selbstbestimmung über die eigenen Belange Ausgangspunkt der stärksten Interpretation ist der große Begriff der Menschenwür­ de, wie er seit zweitausend Jahren vor allem von Cicero, den christlichen Denkern und Kant entwickelt und durch die Charta und Allgemeine Menschenrechtserklä­ rung der Vereinten Nationen sowie Art.  1 des deutschen Grundgesetzes und die EU-Charta statuiert wurde, also der Begriff einer inneren Eigenschaft des Menschen. Insbesondere Kant hat das Verständnis dieser Eigenschaft von metaphysischen und religiösen Fundamenten gelöst und als Selbstbestimmung bzw. Autonomie des Men­ schen bestimmt. Wesentlich für den Begriff der Menschenwürde wird bei ihm 1785 in der „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“ die Idee der Selbstgesetzgebung des Menschen in einem gemeinsamen Reich der Zwecke.24 Allerdings wird man diese Einsicht Kants dahingehend konkretisieren müssen, dass nicht jede Form der Selbst­ bestimmung als Ausdruck der Menschenwürde angesehen werden kann. Die große Menschenwürde ist nur eine ganz bestimmte Selbstbestimmung, nämlich die Selbstbestimmung über die eigenen Belange.25 Um dies einzusehen, ist es notwendig, die Mehrstufigkeit unserer Belange bzw. Interessen zu verstehen: Die wesentlichen inne­ ren Eigenschaften eines Menschen, welche sowohl tatsächlich bestehen als auch für andere verpflichtend sind, sind seine Strebungen, Bedürfnisse, Wünsche und Ziele.26 Strebungen sind rein vegetativ-körperlich fundierte und orientierte Eigenschaften, die der Aufrechterhaltung der körperlichen Einheit jenseits der bloßen Wirkung der physikalischen Grundkräfte dienen. Bedürfnisse haben häufig eine körperliche Basis, sind aber geistig beeinflussbar, etwa im Hinblick auf den Zeitpunkt und den Umfang der Befriedigung. Wünsche haben gelegentlich auch eine körperliche, primär aber eine geistige Komponente, die sich vollständig durchsetzen kann, also die Befriedi­ gung des Wunsches inhaltlich modifizieren oder sogar ganz unterdrücken kann. ­Ziele (Absichten) sind schließlich rein mentale Eigenschaften, etwa das Verfassen ei­ nes Buches. Die vier normativ-ethisch relevanten Begriffe der Strebungen, Bedürf­ nisse, Wünsche und Ziele lassen sich mit den abstrakteren Begriffen der Belange bzw. Interessen zusammenfassen. Diese Belange und Interessen wurden und werden von den Menschenrechten ge­ schützt, wie sie seit dem 18.  Jahrhundert in den klassischen Menschenrechtserklä­ rungen und dann in vielen Verfassungen und internationalen Verträgen statuiert wurden: das Recht auf Leben, auf körperliche und psychische Unversehrtheit, auf Freiheit der Handlung usw. Worin kann dann noch die Menschenwürde bestehen? Die Menschenwürde ist spät zum Bewusstsein gelangt und spät statuiert worden, weil sie keinen einfachen, primären Belang des Menschen, wie Leben, Leib, Psyche, Freiheit, etc. darstellt. Die innere Eigenschaft der großen Menschenwürde ist viel­ 24  Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, AA IV, 434 f. Vgl. von der Pfordten, Zur Würde des Menschen bei Kant, 9–26. 25  Vgl. zum Folgenden: von der Pfordten, Menschenwürde, 54 ff. 26 Vgl. von der Pfordten, Normative Ethik, 50 ff.

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mehr die Eigenschaft der tatsächlichen oder wenigstens potentiellen Selbstbestimmung über die eigenen Belange, das heißt die Bestimmung der eigenen Belange primärer bzw. niederer Stufe durch die Wünsche und Ziele zweiter bzw. höherer Stufe. Die Konkretisierung der Menschenwürde als innere Eigenschaft der Selbstbestimmung über die eigenen Belange bezieht sich auf eine nicht bezweifelte, allgemeine, in äuße­ ren Anzeichen und verbalen Selbstbeschreibungen empirisch feststellbare Eigen­ schaft des Menschen. Es wird, soweit ersichtlich, von niemandem bestritten, dass der Mensch derartige Belange zweiter und höherer Stufe hat. Diese Konkretisierung der Menschenwürde als Selbstbestimmung über die eigenen Belange bedarf also keiner starken metaphysischen, ontologischen oder religiösen Annahmen. Sie kann somit auch von metaphysischen Skeptikern und Agnostikern akzeptiert werden. Fasst man die innere, notwendige Würde des Menschen derart als seine Fähigkeit zur Selbst­ bestimmung gegenüber den eigenen Belangen auf, so lassen sich unumstrittene Ver­ letzungen der Menschenwürde wie Folter, Sklaverei, Zwangsarbeit erklären.27 Wie steht es nun um die einzelnen Elemente der Unverfügbarkeit, die im vorigen Ab­ schnitt identifiziert wurden? Lassen sie sich bei der großen Menschenwürde der Selbstbestimmung über die eigenen Belange auffinden? Es kann kein Zweifel bestehen, dass die Selbstbestimmung über die eigenen Belan­ ge als Gattungsmerkmal allgemein ist, also allen Menschen zukommt, da sie jeder Mensch im Normalfall ausbildet. Einzelne krankheitsbedingte Reduktionen ändern daran nichts, weil sie nie absolut sicher irreversibel sein können. Eine quantitative Differenzierung dieser großen Menschenwürde ist nicht möglich, weil es sich um eine qualitative Eigenschaft handelt. Somit haben alle Menschen diese große Men­ schenwürde in grundsätzlich gleicher Weise. Wer Mitglied der Gattung Mensch ist, der hat oder entwickelt typischerweise eine Selbstbestimmung über die eigenen Be­ lange. Die Selbstbestimmung über die eigenen Belange ist auch keine körperliche Eigenschaft, also nichtkörperlich. Da man die Selbstbestimmung über die eigenen Belange als Mensch mit der Zunahme der Geisteskräfte natürlich ausprägt, ist diese in ihrer Grundkonstitution unveränderlich, mag die tatsächliche Fähigkeit in psy­ chologischer Hinsicht auch bei den einzelnen Menschen schwanken. Die Selbstbe­ stimmung über die eigenen Belange kommt jedem einzelnen Menschen nicht nur wirklich oder möglich zu, also nicht bloß zufällig oder beliebig, wie etwa die Fähig­ keit, geschriebene Sprache zu lesen, sondern wirklich und notwendig. Die Selbst­ bestimmung über die eigenen Belange muss vom Menschen nicht erst erworben wer­ den, wie die Fähigkeit, eine Fremdsprache zu sprechen. Sie ist also unerwerbbar. So­ lange der Mensch lebt, wird er seine eigenen Belange zu steuern versuchen. Diese Steuerung ist im Schlaf und im Falle einer geistigen Erkrankung für eine gewisse Zeit aufgehoben oder vermindert. Sie wird aber regelmäßig wieder aktiviert oder kann zumindest wieder aktiviert werden, sei dies auch in reduzierter Form. Die Tatsache, dass eine schwere geistige Erkrankung im Einzelfall zu einer Unterbrechung oder 27 Vgl.

von der Pfordten, Menschenwürde, 62 ff.

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permanenten Aufhebung führen kann, ändert an der typologischen Qualifikation als Gattungsmerkmal nichts. Die Selbstbestimmung über die eigenen Belange ist für den Menschen als Gattungswesen also auch unverlierbar, weil sie notwendig mit der für den Menschen essentiellen Eigenschaft gesteigerter geistiger Fähigkeiten verbun­ den ist. Die Selbstbestimmung über die eigenen Belange kann dem Träger von einem an­ deren nicht weggenommen werden, wie ein Dieb eine Sache stehlen kann. Niemand kann sie von einem anderen für sich erwerben und dann innehaben, wie sie der Trä­ ger innehat. Die Selbstbestimmung über die eigenen Belange ist schließlich – wie oben erwähnt – ein allgemein angenommenes Faktum und keine bloße Projektion oder Konstruktion durch andere. Insofern ist die große Menschenwürde auch nicht bloß durch andere zusprechbar und absprechbar. Die große Menschenwürde der Selbstbestimmung über die eigenen Belange zeigt also insgesamt alle Eigenschaften, welche der tertiären Metaeigenschaft der Unverfügbarkeit zu Grunde liegen. Die Un­ verfügbarkeit der Menschenwürde lässt sich somit jedenfalls auf die innere Eigen­ schaft der Selbstbestimmung über die eigenen Belange stützen. 2. Die kleine und mittlere bzw. extrinsische oder kontingente Würde: wesentliche soziale Stellung, Selbstachtung und Schutz vor Demütigungen Neben der großen Menschenwürde der Selbstbestimmung über die eigenen Belange haben alle Menschen auch eine kleine, extrinsische bzw. kontingente Menschenwürde der äußeren, veränderlichen Eigenschaft ihrer wesentlichen sozialen Stellung in Ge­ meinschaften.28 Diese Gemeinschaften können einen verschiedenen Radius aufwei­ sen. Er reicht von der Familie über die Sippe/den Clan, das Dorf, die Religions­ gemeinschaft, die Ethnie, die Nation, den Staat bis hin zur gesamten Menschheit. Die mittlere Menschenwürde der grundlegenden normativen Gleichheit der sozialen Stel­ lung, wie sie Pufendorf zum ersten Mal gefasst hat,29 bildet den sehr wichtigen Grenzfall dieser Eigenschaft. Der äußeren Eigenschaft der wesentlichen sozialen Stellung des einzelnen Men­ schen korrespondiert seine innere Eigenschaft der veränderlichen Selbstbewertung mit Bezug auf diese jeweilige wesentliche soziale Stellung, wobei man weiter zwi­ schen der Selbstachtung (self-respect) der gleichen Selbstbewertung als Mensch und dem Selbstwertgefühl (self-esteem) der besonderen Selbstbewertung im Hinblick auf spezielle Leistungen, Verdienste oder Positionen unterscheiden kann.30 Die verän­ derliche Selbstbewertung hängt bis zu einem gewissen Grade von der äußeren sozia­ 28  Margalit, The Decent Society, deutsch: Politik der Würde. Über Achtung und Verachtung; Hörnle, Menschenwürde als Freiheit von Demütigungen, 41–61; Rosen, Dignity. Its History and Meaning. 29  von Pufendorf, Über die Pflicht des Menschen und des Bürgers nach dem Gesetz der Natur, Kap.  7, §  4. Vgl. bereits Aristoteles, De partibus animalium 3,10 (673a9). 30  Margalit, The Decent Society, 44 ff.

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len Stellung ab, beeinflusst diese aber auch regelmäßig. Inwieweit beides geschieht, ist von Mensch zu Mensch verschieden, je nachdem, wie ernst der Einzelne seine sozia­ le Stellung nimmt. Bewertungen und damit auch Abwertungen der sozialen Stellung eines Menschen durch andere müssen bedauerlicherweise häufig erfolgen. Man den­ ke an negative Bewertungen in der Schule, im Beruf, im Sport, in der Kunstkritik usw. Derartige Abwertungen stellen keine Verletzung der kleinen Menschenwürde dar, sofern sie begründet sind, also sowohl den Tatsachen als auch den humanen und gleich beurteilenden Regeln der jeweiligen Gemeinschaft entsprechen. Wer etwa we­ gen einer Ordnungswidrigkeit im Straßenverkehr eine Verwarnung erhält, wird ab­ gewertet, nicht aber in seiner Menschenwürde verletzt. Die Verletzung der kleinen und mittleren Menschenwürde setzt eine wesentliche, nicht durch Tatsachen und notwendige Normen gedeckte Abwertung eines anderen voraus. Um genauer zu ver­ stehen, welche wesentliche Abwertung eine Demütigung und damit eine Verletzung der kleinen bzw. mittleren Würde darstellt, wird man den Kern dieser Würdeeigen­ schaft ins Auge fassen müssen. Dieser liegt nicht in der Abwertungshandlung, also der Demütigung oder Erniedrigung auf der einen Seite, und auch nicht in der Min­ derung der Selbstbewertung des Gedemütigten auf der anderen Seite. Das sind nur innere und äußere Aspekte, die mehr oder minder direkt und regelmäßig mit der Abwertung der sozialen Stellung des Betroffenen verbunden sind. Der Kern der klei­ nen und mittleren Würde liegt vielmehr in der äußeren Eigenschaft der wesentlichen sozialen Stellung des Betroffenen selbst. Diese wesentliche soziale Stellung macht die kleine bzw. mittlere Würde des Einzelnen aus und hängt von vielen Faktoren ab: den Regeln einer Gemeinschaft, den Fakten, auf die sich diese Regeln beziehen, dem frü­ heren Verhalten des Betroffenen, dem früheren Verhalten der anderen Mitglieder der Gemeinschaft usw. Bei der mittleren Würde ist schließlich die natürliche Gleichheit jedes Menschen als Wesen mit Gedanken, Gefühlen und Belangen entscheidend. Die kleine bzw. mittlere Würde des Menschen besteht darin, dass alle diese Faktoren nicht in gravierender Art und Weise falsch oder zumindest ungerechtfertigt miss­ achtet werden. Verbietet eine Regel in einer Gesellschaft etwa das Anspucken ande­ rer, so stellt die Missachtung dieser Regel eine Verletzung der kleinen bzw. mittleren Menschenwürde dar, vorausgesetzt diese Missachtung impliziert eine schwere, unge­ rechtfertigte Abwertung der wesentlichen sozialen Stellung des Betroffenen, die vom Verletzenden auch gewollt oder zumindest in Kauf genommen wird. Eine solche schwere, ungerechtfertigte Abwertung wäre das Anspucken dagegen nicht, wenn es etwa Teil eines allgemein akzeptierten Rituals, z. B. eines Initiationsritus wäre, mit dem keine Erniedrigung bzw. Demütigung verbunden wäre. Wie lässt sich die Unverfügbarkeit der kleinen und mittleren Menschenwürde be­ werten? Der Mensch kann, von der extremen Ausnahme des Eremitentums abgese­ hen, nicht allein existieren. Er lebt in Gemeinschaften und hat deshalb notwendig eine soziale Stellung in diesen Gemeinschaften inne. Die Tatsache, dass der Mensch eine wesentliche soziale Stellung aufweist, gilt also sicher allgemein. Die ursprüngli­ che natürliche Gleichheit dieser wesentlichen sozialen Stellung wurde von Pufendorf

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statuiert und hat sich im Laufe der Jahrhunderte gegen alle Standesvorrechte durch­ gesetzt. Sie wird durch die Ergänzung der kleinen Würde durch die mittlere Würde anerkannt. Diese soziale Stellung ist auch nichtkörperlich. Allerdings ist die wesentli­ che soziale Stellung nur in ihrer ursprünglichen Gleichheit unveränderlich. Ansons­ ten ist sie veränderlich. Ein wesentliches Sinnen und Trachten des modernen Men­ schen geht dahin, sich im Beruf und in der Gesellschaft eine bessere soziale Stellung zu erwerben. Während diese Verbesserung der sozialen Stellung zumindest in der Bürgergesellschaft des 19. und 20.  Jahrhunderts regelmäßig als Ehre bzw. Ruhm auf Leistung beruhte (etwa die Leistung des ehrlichen Kaufmanns), ist es mittlerweile die weitgehend leistungsentkoppelte Prominenz bzw. Bekanntheit, die von manchen an­ gestrebt und von einigen Medien erzeugt und vermarktet wird (was die Qualifikation der solchermaßen erworbenen sozialen Stellung als Menschenwürde sehr zweifelhaft macht). Die wesentliche soziale Stellung ist demnach nur in ihrem Gleichheitskern notwendig, nicht jedoch in ihrem variablen Teil der je individuellen Bewertungen durch andere. Eine vergleichbare Qualifikation gilt für die Unerwerbbarkeit und Unverlierbarkeit. Nur in ihrem Kern der Natürlichkeit und Gleichheit ist die wesentliche soziale Stellung des jeweils einzelnen Menschen unerwerbbar und unverlierbar. An­ sonsten kann sie durch eigenes Verhalten gesteigert oder vermindert werden. Da die soziale Stellung etwas Nichtkörperliches ist, kann sie nicht wie eine Sache wegge­ nommen werden. Allerdings ist eine Wegnahme auf einer sozial-geistigen Ebene möglich, etwa durch die kollektive Ausstoßung. Der antike Ostrazismus in Grie­ chenland und die spätere Institution der Erklärung als „vogelfrei“,31 die bis heute in der Zwangsausbürgerung durch Diktaturen weiterexistieren,32 sind eine solche Weg­ nahme der wesentlichen sozialen Stellung, wenn auch jeweils ein natürlicher und gleicher Kern im Rahmen einer neuen Lebensgemeinschaft im Ausland weiterbeste­ hen wird. Diese Wegnahme der sozialen Stellung stellt sicherlich eine Verletzung der kleinen und mittleren Menschenwürde dar (und vielleicht sogar der großen Men­ schenwürde). Insgesamt wird man konstatieren müssen, dass die kleine Menschen­ würde grundsätzlich wegnehmbar ist. Fraglich ist schließlich die Zu- oder Absprechbarkeit der kleinen und mittleren Menschenwürde. Wie bereits zu Beginn erwähnt, hat jeder Mensch, der mit anderen Menschen zusammenlebt, faktisch eine solche wesentliche soziale Stellung. Diese kann in einem natürlichen und gleichen Kern also nicht zu- oder abgesprochen wer­ den. Allerdings ist der Grad der sozialen Stellung und damit der Anerkennung durch andere zu- und absprechbar. Man kann diese Bewertung zusammenfassen: Die kleine und mittlere Menschen­ würde der wesentlichen sozialen Stellung und damit der Verpflichtung, andere Men­ 31 

Schmidt-Wiegand, Art. vogelfrei, Sp.  930–932. Art.  15 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte ächtet daher die willkürliche Entzie­ hung der Staatsangehörigkeit: „(1) Jeder hat das Recht auf eine Staatsangehörigkeit. (2) Niemandem darf seine Staatsangehörigkeit willkürlich entzogen noch das Recht versagt werden, seine Staatsan­ gehörigkeit zu wechseln.“ 32 

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schen nicht zu demütigen, ist anders als die große Menschenwürde nur in ihrem na­ türlichen und gleichen Kern, also der Fassung seit Pufendorf, unverfügbar. Alles, was an Auf- und Abwertungen der wesentlichen sozialen Stellung eines Menschen über diesen natürlichen und gleichen Kern der wesentlichen sozialen Stellung hinausgeht, ist nicht unverfügbar. 3. Die ökonomischen Bedingungen der Verwirklichung der Menschenwürde Verschiedentlich wird die Menschenwürde in Weiterführung der Lassalle‘schen For­ derung nach einem menschenwürdigen Dasein und Art.  151 der Weimarer Reichs­ verfassung auf die ökonomischen bzw. materiellen Voraussetzungen der menschlichen Existenz erstreckt, also im Sinne der ökonomischen Würdebedingung verstanden. Nach 1945 hat etwa der marxistische Philosoph Ernst Bloch die Schaffung men­ schenwürdiger Lebensbedingungen verlangt.33 Und gemäß Werner Maihofer hat der Staat alle Verhältnisse abzuschaffen, auch solche der außerstaatlichen Sphäre, welche die Menschenwürde beeinträchtigen.34 Das deutsche Bundesverfassungsgericht hat nach anfänglicher Ablehnung geurteilt, dass eine staatliche Verpflichtung zum Schutz des menschenwürdigen Daseins bestehe, welche das Gebot zur Sicherung bzw. Belassung des Existenzminimums umfasse.35 Wie steht es mit der Unverfügbarkeit dieser ökonomischen Würdebedingung? Die ökonomischen Bedürfnisse zur Lebensführung sind sicherlich hinsichtlich eines zum Überleben notwendigen Minimums allgemein und bei jedem Menschen im Grundsatz gleich. Sie sind in weiten Teilen körperlich, nicht aber vollständig. So hat jeder Mensch auch Grundbedürfnisse nach Liebe und Zuneigung. Die ökonomi­ schen Bedürfnisse zur Lebensführung sind sicherlich nur in einem Kern unverän­ derlich. Und in diesem Kern kann kein Mensch auf sie verzichten. Sie sind also auch notwendig. Für diesen Kern essentieller ökonomischer Bedürfnisse gilt auch, dass sie unerwerbbar, unverlierbar und unwegnehmbar sind. Schließlich handelt es sich bei diesen Bedürfnissen auch um ein unbezweifelbares Faktum, das jeder Mensch tag­ täglich an sich selbst und anderen erfährt. Das bedeutet, dass die essentiellen ökono­ mischen Bedürfnisse auch unzusprechbar und unabsprechbar sind. Insofern gibt es auch bei der ökonomischen Würdebedingung wie bei der kleinen und mittleren Würde der wesentlichen sozialen Stellung einen unverfügbaren Kern. Allerdings sind die konkreten ökonomischen Mittel zur tatsächlichen Führung des mensch­ lichen Lebens weder allgemein noch gleich noch unkörperlich noch unveränderlich noch unerwerbbar, unverlierbar und unwegnehmbar. Man kann sie auch von Fall zu Fall substituieren und damit zu- und absprechen. Die konkreten ökonomischen Mit­ tel zur Führung eines menschenwürdigen Lebens sind also nicht unverfügbar. Man 33 

Bloch, Naturrecht und menschliche Würde. Maihofer, Rechtsstaat und menschliche Würde, 39 ff. 35  Ablehnend: BVerfGE 1, 97–108, hier: 104 f., zustimmend: BVerfGE 40, 121–140, hier: 133. 34 

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sieht hinsichtlich der ökonomischen Würdebedingung also eine Zweiteilung: Der Kern der ökonomischen Bedürfnisse ist unverfügbar, aber nicht der Randbereich. Des Weiteren wird man hinsichtlich der ökonomischen Würdebedingung zwi­ schen der großen sowie der kleinen und mittleren Menschenwürde als durch die ökonomische Bedingung Bedingtes unterscheiden müssen. Bei der großen Men­ schenwürde der Selbstbestimmung über die eigenen Belange schlägt deren Unver­ fügbarkeit auch auf die ökonomische Würdebedingung durch. Bestimmte äußere ökonomische bzw. materielle Voraussetzungen, bei denen andere es unterlassen, die­ se zu ändern, obwohl sie dazu verpflichtet sind, können gravierenden Einschränkun­ gen der Selbstbestimmung über die eigenen Belange gleichkommen. Sobald die Schwierigkeit der alltäglichen Befriedigung der elementaren Bedürfnisse für den Betroffenen so dominant wird, dass für sie oder ihn wie bei der Sklaverei eine Ver­ wirklichung von Belangen zweiter und höherer Ordnung faktisch aussichtslos ist, wird die große, unverfügbare Menschenwürde verletzt. Beispiele wären Hunger, Ob­ dachlosigkeit, Kleidungsmangel, schwere Krankheit, massive hygienische Unterver­ sorgung, große Armut. In all diesen Fällen ist die Freiheit, Belange zweiter und höhe­ rer Ordnung zu bilden, so stark durch die unbefriedigten ökonomischen Bedürfnisse erster Ordnung eingeschränkt, dass die zur Solidarität Verpflichteten helfen müssen, also vor allem die Familie und die politische Gemeinschaft. Insofern besteht ohne Zweifel ein Kern von Unverfügbarkeit. Im Mangel bestimmter materieller Lebensbedingungen kann eine Verletzung der kleinen und mittleren, kontingenten Menschenwürde insofern liegen, als damit eine Demütigung verbunden ist.36 Unverfügbar ist hier wiederum der natürliche und glei­ che Kern der Bedürfnisbefriedigung, während die Stärke der notwendigen Mittel variiert.

Ergebnis Man kann das Ergebnis dieser Untersuchung zur Unverfügbarkeit der Menschen­ würde wie folgt zusammenfassen: Die Eigenschaft der Unverfügbarkeit der Men­ schenwürde umfasst als tertiäre Metaeigenschaft mindestens die sekundären Me­ taeigenschaften der Allgemeinheit, Gleichheit, Nichtkörperlichkeit, Unveränderlich­ keit, Notwendigkeit, Unerwerbbarkeit, Unverlierbarkeit, Unwegnehmbarkeit sowie Unzu- und Unabsprechbarkeit der Menschenwürde. Alle diese sekundären Meta­ eigenschaften sind bei der großen Menschenwürde der Selbstbestimmung über die eigenen Belange erfüllt. Für die kleine und mittlere Menschenwürde der wesentli­ chen sozialen Stellung besteht die Unverfügbarkeit nur hinsichtlich eines natürlichen und gleichen Kerns. Bei der ökonomischen Würdebedingung wird man einen Kern der natürlichen und gleichen Bedürfnisse als unverfügbar ansehen müssen, während 36 

Spaemann, Über den Begriff der Menschenwürde, 295–313, hier: 307.

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die konkrete Ausgestaltung der Mittel zur Führung eines würdigen Lebens nicht un­ verfügbar ist. Im Übrigen muss man hier differenzieren, je nachdem, ob die Mittel zur Sicherung der großen oder der kleinen und mittleren Menschenwürde dienen sollen. Im ersten Fall der Selbstbestimmung über die eigenen Belange besteht eben­ falls eine Unverfügbarkeit, im zweiten Fall der wesentlichen sozialen Stellung besteht eine solche Unverfügbarkeit nur hinsichtlich eines natürlichen und gleichen Kerns.

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„Menschenwürde“ als Begriff der internationalen Menschenrechtskonzeption: „angeboren“, „gleich“, „innewohnend“ – aber auch unverfügbar? Georg Lohmann I. Einleitung. Eine historische Vergewisserung zu „Würde“ im internationalen Recht Der Begriff der „Würde des Menschen“ hat seit der Neufassung des internationalen Rechts mit der Gründung der Vereinten Nationen (VN, 1945) und der in diesem Rahmen sich neu entwickelnden internationalen Menschenrechtskonzeption1 (seit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, AEMR, 1948 und den zahlreichen internationalen und regionalen Menschenrechtsübereinkommen) eine überraschen­ de und erstaunliche, natürlich aber auch problematische und diskussionswürdige, rechtliche Karriere erhalten.2 Er hat auch, in unterschiedlicher Weise, Eingang ge­ funden in nachtotalitäre oder nachdiktatorische neue nationale Staatsverfassungen, zuerst nach dem Zweiten Weltkrieg (Deutschland, Japan, Italien), dann im Zuge der Überwindung europäischer und südamerikanischer diktatorischer Regime, dem Zusammenbruch des sowjetischen Ostblocks (seit 1989), vorher auch in einigen nachkolonialen Staatsverfassungen und nach dem arabischen Frühling sogar in einer islamisch sich verstehenden neuen Verfassung (Tunesien).3 Waren in diesen Fällen gewissermaßen antitotalitäre, antidiktatorische, antikoloniale und antirassistische, nationale Motive (mit-)bestimmend für die Aufnahme eines Würdebegriffs in die neuen Verfassungen, so fügten auch, mit zunehmendem Einfluss des internationalen Rechts, von ihrer Tradition her demokratische Staaten die neue internationale Wür­ dekonzeption (auch hier in unterschiedlicher Weise) in ihre Verfassungen ein.4 Und selbst heutige diktatorische Regime können sich der internationalen Wirkung des internationalen Rechts und der internationalen Menschenrechtskonventionen, zu­ 1  Ich unterscheide drei Menschenrechtekonzeptionen: nationale am Ende des 18.  Jahrhundert, die gegenwärtig dominierende internationale Konzeption seit 1945 und eine sich entwickelnde und/ oder normativ zu fordernde transnationale Konzeption, siehe dazu Lohmann, Different Concep­ tions and a General Concept of Human Rights, 369–385. 2 Vgl. Schweizer/Sprecher, Menschenwürde im Völkerrecht, 127–161. 3  Vgl. z. B. Dupré, Constructing the Meaning of Human Dignity: Four Questions, 113–122. 4  Siehe z. B. Kirste, Menschenwürde im internationalen Vergleich der Rechtsordnungen, 175–214; einen informativen Überblick zu den ganz unterschiedlichen Positionen von „Würde“ in der europä­ ischen Union gibt Calliess, Die Menschenwürde im Recht der Europäischen Union, 133–174.

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mal wenn sie sie ratifiziert haben, nicht entziehen und fügen zumindest (wie in Chi­ na) Aspekte der neuen Würdekonzeption in ihre Verfassungen ein. Die ersten, nationalen Menschenrechtskonzeptionen am Ende des 18.  Jahrhunderts (Amerika 1776, Frankreich 1789) deklarierten ohne implizite oder explizite Bezug­ nahme auf „Würde“ die Menschenrechte weitgehend im Rahmen der revolutionären Verfassungsgebungen, begründeten aber die positivrechtliche Setzung der Men­ schenrechte durch unterschiedliche naturrechtliche und vernunftrechtliche Inter­ pretationen. Der hier angelegte Streit zwischen einer positivrechtlichen und einer vorpositiven (naturrechtlichen oder theologischen) Auffassung von Recht und Rech­ ten wirkte auch noch 1945 bei der historisch und systematisch erstmaligen Verwen­ dung des Würdebegriffs im Zusammenhang mit einer Erklärung der Menschenrech­ te nach und übertrug sich auf das umstrittene Verständnis von „Würde“. Rechts­ positivistisch war „Würde“ (wie auch die Menschenrechte) nun ein politisch gesetzter Rechtsbegriff und dementsprechend wurde „Würde“ als durch entsprechende Akte (Erklärungen) „verliehen“ oder „gestiftet“ verstanden. Aus naturrechtlicher Perspek­ tive aber war Würde durch externe Instanzen (Gott, Natur oder Vernunft) bestimmt und den Menschen und der Rechtsetzung entsprechend vorgegeben und in diesem Sinne „unverfügbar“. Das bedeutete auch, analog zu der Rede von Rechten als „natür­ liche Rechte“, dass sie für den Träger der Würde „unveräußerbar“, „unverlierbar“ und für die staatliche Gewalt „nicht aberkennbar“, „unwiderrufbar“ oder „untrennbar“ sei. Die in den internationalen Dokumenten verwendeten Charakterisierungen von „Würde“ als „gleiche Würde“, als „angeborene Würde“ (engl. „born in dignity“) als „innewohnend“ (engl. „inherent dignity“, dt. auch als „angeboren“ oder „innere“ übersetzt) waren alle in naturrechtlichen Traditionen als von Rechten ausgesagt be­ kannt und so scheint es der Fall zu sein, dass auch der nach 1945-er, internationale Würdebegriff in dieser Tradition zu verstehen ist, zumindest aber, dass er im obigen Sinne „unverfügbar“ ist.5 Verstärkt wird diese Auffassung noch durch die vorherrschende Interpretation des deutschen Grundgesetzes, heißt es doch im alles bestimmenden Artikel  1 Absatz  1 des Grundgesetzes: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“. Die Interpretation dieses Satzes ist Legion, aber zumeist wird aus der „Unantastbarkeit“ der Würde auf ihre „Unverfügbarkeit“ im obigen Sinne geschlossen, oder aber beide Begriffe, wenn auch dann mit unterschiedlichen Bedeutungsaspekten, aufeinander bezogen.6 Was als „unantastbar“ sich jeder Verfügung oder Abwägung entzieht, hat einen quasi re­ ligiös „heiligen“ oder säkular-heiligen (was immer das ist) Status.7 Solche Interpreta­ 5  Auch die Veranstalter der Tagung, deren Beiträge hier gesammelt sind, schreiben in ihrem Bericht: „Es kann kein Zweifel bestehen, dass hier von einer Menschenwürde die Rede ist, die allen Menschen in unverfügbarer Weise zukommt“ (https://www.uni-bielefeld.de/(de)/ZiF/AG/2018/1205-­Horn.html, letzter Zugriff 13.4.2020). 6  Zu Unterscheidung beider Begriffe siehe Lohmann, Unantastbare Menschenwürde und un­ verfügbare menschliche Natur, 55–75. 7  Siehe dazu Joas, Die Sakralität der Person; meine Kritik daran: Lohmann, Nicht affektive Er­ griffenheit, sondern öffentlicher Diskurs, 13–27.

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tionen eines absoluten Wertes oder Status situieren sich oft in ein naturrechtliches oder theologisches Verständnis von „Würde“ und Menschenrechten und sie inter­ pretieren und missverstehen (meines Erachtens) den international neu gefassten Würdebegriff zu häufig aus dieser betont deutschen Perspektive. So wird ein mög­ licher Unterschied zur internationalen Begrifflichkeit entweder ignoriert oder ver­ wischt. Das liegt zu einem großen Teil auch daran, dass die Beteiligten sich einen Begriff von „Würde“ konstruieren (oder aus der Tradition, mit Vorliebe von Kant, Fichte, Cicero, Thomas u. a., entlehnen) und zu vorschnell unterstellen, dass es nur diesen einen Würdebegriff gibt (oder geben soll), mit dem sie dann arbeiten.8 Ich möchte diese Verwischung der Perspektiven und Kontexte korrigieren und im Fol­ genden für Differenzierungen in der Diskussion der Bedeutung und Rolle der Men­ schenwürde für Menschenrechte plädieren.9 Alles das ist vielfach interpretiert und analysiert, allerdings mit dem erstaunlichen Resultat, dass immer noch weitverbreitet Uneinigkeit besteht, wie denn genau dieser nach 1945-er Begriff von „Würde“ zu verstehen ist, welchen begrifflichen und forma­ len Status er hat und welche Inhalte mit ihm verbunden sind oder verbunden werden können. Das alles hier auszubreiten und zu behandeln, würde den hier zur Verfü­ gung stehenden Rahmen sprengen; es wäre wahrscheinlich auch ermüdend, denn fast alle Fragen sind schon so oder anders gestellt und behandelt worden. Ohne den Anspruch, etwas wirklich Neues sagen zu können, beschränke ich mich daher im Folgenden auf eine historische Vergewisserung der im Titel genannten Kennzeich­ nungen der internationalen Würdekonzeption und interpretiere die genannten Cha­ rakteristika aus einer dann zu erläuternden und hoffentlich überzeugenden Position, die ich voranstellend zunächst kurz skizziere (II). Ich versuche dann, zu den einzel­ nen Charakteristika eine genauere Deutung zu geben (III und IV), kann aber ab­ schließend die nicht so selbstverständlichen Folgen dieser Deutung nur noch pro­ grammatisch skizzieren (V).

II. Zur internationalen, menschenrechtlichen Konzeption von „Menschenwürde“. Eine Vorverständigung Das Wort „Würde“ ist in ganz unterschiedlichen historischen und sozialen Kontex­ ten in unterschiedlichen Bedeutungen verwendet worden.10 Mit anderen unterschei­ de ich analytisch erstens soziale, besondere Würden, die einigen Menschen im Unter­ schied zu anderen auf Grund von Leistungen, Abstammung, Ämtern etc. zugeschrie­ ben werden (z. B. Amtswürden), von zweitens ethisch oder theologisch bestimmten 8 

Siehe Beispiele dazu in Lohmann, Allerlei „Würden“, 558–572. Ich hoffe das umfassender in einem in Kürze erscheinendem Buch „Differenz und Menschen­ rechte. Eine kritische Auseinandersetzung mit Menschenrechten und Menschenwürde“ ausführen zu können. 10 Siehe Kondylis, Würde, 645–677; Pöschl, Würde, 637–645. 9 

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allgemeinen Würde-Konzeptionen, die allen Menschen auf Grund sie besonders ­auszeichnenden Eigenschaften (Intellektualität, Gottesebenbildlichkeit, Kreativität, Ver­nunftfähigkeit, Leidensfähigkeit, Autonomie, etc.) zukommen oder zugeschrie­ ben werden. Beide Arten von Würde-Begriffen verlangen erstens Achtung (Hoch­ schätzung und Respekt) von anderen und sind zweitens mit Pflichten gegen sich ver­ bunden. Sie sind drittens kompatibel mit einer Ungleichwertigkeit von Menschen und mit sozialen und politischen Ungleichheiten. Und viertens sind sie manchmal mit Privilegien, nicht aber mit Rechten verbunden und begründen nicht das Haben von Rechten. Von diesen beiden Arten von Würdekonzeptionen unterscheidet sich drittens die Würdekonzeption, die, wie oben angedeutet, nach dem Zweiten Weltkrieg im Rah­ men des Völkerrechts (und dann in nationalen Verfassungen) verwendet wurde.11 Sie ist ein Rechtsbegriff, nimmt aber nicht mehr Bezug auf eine besondere, den Menschen als Menschen gegenüber anderen Lebewesen auszeichnende Eigenschaft des Men­ schen, sondern spricht, quasi in performativer Weise (Deklaration), allen individuel­ len Menschen, nur weil sie Menschen sind, „Würde“ zu. Da dies im Kontext und mit Bezug auf Menschenrechte geschieht, spreche ich im Folgenden auch von „Men­ schenwürde“, auch wenn in den entsprechenden Dokumenten nur das Wort „Würde“ benutzt wird. Im Unterschied zu den beiden vorgenannten Arten von Würdebegriffen verlangt sie und steht sie erstens für Gleichwertigkeit und rechtlich bestimmbare Gleichheit aller Menschen und begründet zweitens schließlich das Haben von Rechten (Men­ schenrechten) (siehe unten). Als ein Rechtsbegriff ist sie drittens nicht mehr mit Pflichten gegen sich verbunden, da rechtlich gesehen erzwingbare Rechtspflichten ge­ gen sich nicht möglich sind. Sie dient viertens als neu formulierter, nun globaler normativer Maßstab für die Legitimität staatlicher Herrschaft. Diese hier im Sinne eines Vorverständnis skizzierte neue Konzeption von „Würde“ ist begrifflich formal, wie die Menschenrechte, universell, egalitär, individuell und kategorisch, d. h. sie wird von den Vertragsstaaten der internationalen Menschenrechts­ verträge allen individuellen Menschen in der gleichen Weise, nur weil sie Menschen sind, zugeschrieben. Der Modus dieser Zuschreibungen, die ja rechtliche, vertrag­ liche, performative Setzungen sind, steht von Anfang an im Verdacht, nur relativ zu sein: Was zugeschrieben wird, könnte auch wieder aberkannt werden.12 Er steht aber auch in Spannung zu dem begrifflichen Status und den Eigenschaften, die dieser „Menschenwürde“ begrifflich attribuiert werden: Sie soll, obwohl vertraglich dekla­ riert und gesetzt, „angeboren“ („born in“) sein und jedem Menschen als Person „in­ 11 Zuletzt: Lohmann, Was umfasst die „neue“ Menschenwürde der internationalen Menschen­ rechtsdokumente?, 15–39. 12 Diesen Einwand erhebt Schaber, Sind Menschenrechte zugeschriebene Rechte?, 89–100; Schaber verbindet aber Zuschreibung mit „ein Recht auf Zuschreibung“ haben, und versteht das wohl als „natürliches Recht“. Damit aber bleibt seine Argumentation letztlich in naturrechtlichem Fahrwasser und verfehlt m. E. die neue Konstellation der internationalen Menschenrechte, s. u.

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newohnend“ („inherent“) sein. Das lässt vermuten, dass sie auch unabhängig von den gesetzten Zuschreibungen zu verstehen ist. Das kann man so verstehen, dass die ­genannten Attribute als Anzeichen einer externen Quelle der Menschenwürde ver­ standen werden. Dann haben die Menschen diese Menschenwürde, weil sie ihnen durch transzendente13 Instanzen (Gott, Natur, absolute Vernunft) gegeben wurde und sie in diesem Sinne „unverfügbar“ ist. Diese Auffassungen werden häufig mit den (von mir so genannten) ethischen oder theologischen allgemeinen Würdebegriffen verbunden. Ich werde gegen beide Interpretationen versuchen, eine dritte Interpretationsvari­ ante zu verteidigen, die, schlagwortartig, die Zuschreibung selbst im Sinne einer his­ torisch situierten, konstituierenden „Setzung“ versteht, die etwas setzt, „was dann nicht zu ändern ist“; Hegel würde das ein „Setzen als Voraussetzen“ nennen oder man könnte von einer „bedingten Unbedingtheit“14 sprechen. Damit wird für die internationale Menschenwürdekonzeption zwar nicht der Anspruch der „Unverfüg­ barkeit“ aufgegeben, er wird aber gewissermaßen prozessualisiert und in ein komple­ xes Verfahren demokratischer Setzung konkretisiert, verliert aber auf diese Weise alle absolutistischen Implikationen und bleibt, wie alle menschlichen Errungen­ schaften, historisches Menschenwerk. Er nimmt die historischen, antitotalitären Motive der „Einsetzung“ eines Würdebegriffs in die Erklärung der Menschenrechte ernst und gibt ihnen eine rechtlich-politische Gestalt, die die gleiche Würde aller Menschen verwirklichen kann und deshalb auch ein traditionell etabliertes, einseiti­ ges oder verzerrtes Menschenrechtsverständnis immer wieder aufs Neue zu korrigie­ ren und zu kritisieren gestattet. Dazu muss auch auf die inhaltlichen Gehalte der neu entworfenen „Menschenwürde“15 Bezug genommen werden. Und wie bei der offenen Entwicklung der Menschenrechte kann man auch hier eine zunehmend differenzier­ tere und auch umfangreichere Entwicklung der anfänglichen inhaltlichen Bereiche von Gleichheit, Freiheit und würdevollen Leben konstatieren, die sich dann auch in den inhaltlichen Differenzierungen und Konflikten zwischen den unterschiedlichen Menschenrechten spiegeln. Und wie bei jenen muss man auch bei ihr fragen, ob diese Entwicklung immer positiv zu werten ist.16 Ich muss aber im Folgenden diese inhalt­ lichen Fragen weitgehend ausblenden und kann mich nur auf einen formalen Aspekt des begrifflichen Status dieser neu entworfenen „Menschenwürde“ fokussieren.17 13 

Siehe dazu Vorländer, Transzendenz und die Konstitution von Ordnungen. Lohmann, Die Menschenrechte fordern eine bedingte Unbedingtheit, 160–167. 15  Lohmann, „Neue“ Menschenwürde. 16  Lohmann, Werden die Menschenrechte überschätzt? Über Missbrauch, problematische Aus­ weitungen und Grenzen der Menschenrechte, 9–23; Lohmann, Impliziert die Entwicklung der Menschenrechte einen normativen Fortschritt?, 125–155. 17  Man muss auch diese „kleine“ Frage von den davon zwar nicht unabhängigen, aber doch an­ ders gelagerten weit ausgreifenden Fragen nach den Kriterien und Verfahren der Abwägungen zwi­ schen konkurrierenden Menschenrechten und der Rolle der Menschenwürde dabei und zwischen Menschenrechten insgesamt und darüberhinausgehenden normativen Inhalten unterscheiden; das muss im Rahmen dieses Aufsatzes ganz unberücksichtigt bleiben. 14 

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Nach diesen vorgreifenden Ausführungen will ich auf den Anfang dieser ge­ schichtlichen Entwicklung zurückblicken und in einer historischen Vergewisserung die historischen Diskussionen der charakteristischen Attribute der neuen „Würde“ revidieren, um Absicht, Sinn und Potential der formal begrifflichen Bestimmung von „Würde“ für die Konzipierung der Menschenrechte herauszuarbeiten und auf diesem Wege ein historisch situiertes, „bedingt unbedingtes“ Verständnis der begrifflich zu verstehenden „Unverfügbarkeit“ der Menschenwürde zu skizzieren.

III. Zur Bedeutung von „angeboren“ im Sinne von „are born free and equal in dignity“ 18 Dass Menschen „in Würde“ „geboren werden“, wird zum ersten Mal in Artikel  1 der AEMR von 1948 formuliert: „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rech­ ten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geist der Solidarität (engl: a spirit of brotherhood) begegnen“ (kursiv G.L.). Ich will die Be­ deutung von „in Würde geboren“ aus der Interpretation dieses 1.  Artikels beleuchten. 1. Geboren werden Dass jeder einzelne Mensch mit einem Körper geboren wird, ist (wie dass jeder Mensch auf Grund seines Körpers sterblich ist) ein für Menschen konstitutives Fak­ tum, das für alle Menschen in gleicher Weise kategorisch zutrifft. Welche Bedeutung aber diese universelle und für alle gleiche Tatsache der Geburt in den sozialen Le­ benswelten bekommt, das hängt von ihren Deutungen und sozial konstruierten Be­ deutungen ab. Mit zunehmendem biologischen und medizinischen Wissen wird der Akt der Geburt verzeitlicht, bekommt Prozesscharakter und wird als Zur-WeltKommen eines menschlichen Lebewesens in unterschiedliche Phasen einteilbar, wo­ bei strittig ist, wann ein menschliches Lebewesen als ein individuelles beginnt und, wie am Ende des Lebens, wann es aufhört.19 Eine Geburt wird aus der Beobachter­ perspektive anderer als nach Ort und Zeit individuiertes Ereignis festgestellt, aus der Teilnehmerperspektive ist sie nur in vermittelter Erinnerung deutend zugänglich. Da durch die Geburt jedes menschliche Leben als körperlich individuelles zur Welt ge­ bracht wird, wird die Geburt eines menschlichen Wesens von den beteiligten Ande­ ren (in der Regel den Eltern, familiären Verwandten und den Gemeinschaften, in die wir „hineingeboren werden“) und vom jeweiligen Individuum selbst vielfältigen, le­ bensweltlich verankerten, kulturellen, religiösen und auch rechtlichen Deutungen 18  Ich zitiere, da wo die deutsche Übersetzung vom englischen Originaltext abweicht oder mehr­ deutig ist, den englischen Text. Alle Texte finden sich leicht im Internet unter unterschiedlichen Angaben, so dass ich hier auf eine Quellenangabe glaube verzichten zu können. 19  Siehe dazu umfassend Angehrn, Vom Anfang und Ende. Leben zwischen Geburt und Tod.

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unterzogen.20 Die Geburt als ein biologischer oder „natürlicher“ Vorgang des körper­ lich „Zur-Welt-Kommens“ stattet jedes menschliche Lebewesen mit bestimmten „na­ türlichen“, „angeborenen“ (kongenital oder konnatal) Merkmalen/Eigenschaften21 aus, die zumeist unterschiedlich ausgebildet sind und in der Regel Potentialcharakter haben, d. h. durch natürliche Entwicklung und kulturelle Bildung sich weiter entwi­ ckeln und verändern. Zu diesen natürlichen Eigenschaften gehören aber nicht Rechte oder Würde und natürliche Eigenschaften selbst sind auch nicht bei allen in der glei­ chen Weise ausgebildet, so dass in einem wörtlichen Sinne, Menschen nicht mit Rech­ ten oder Würde gleich geboren werden. Erst die Einbettung und die intersubjektiven, anerkennenden Interaktionen in so­ zialen Verhältnissen ermöglichen und bilden den Einzelnen in seiner unverwechsel­ baren Individualität. Diese sozialkulturellen Deutungen und Praktiken legen Zuge­ hörigkeiten, Mitgliedschaften, soziale Rollen oder Status fest, zu denen der oder die Einzelne sich unterschiedlich verhalten kann und die sie gegebenenfalls auch ändern können. Von der Tatsache aber, dass sie da und da, mit bestimmten natürlichen Ei­ genschaften und auch bestimmten lebensweltlichen Deutungen und Vorbestimmun­ gen geboren sind, und in diesen Hinsichten allen andern Menschen gleich sind, kön­ nen sie sich nicht befreien. Das entzieht sich ihrer Verfügbarkeit; über sich frei verfü­ gen können sie nur unter Anerkennung dieser für alle unverfügbaren gleichen Tatsache, in eine Lebenswelt hineingeboren zu sein.22 Die soziokulturellen Zuschrei­ bungen sind ihnen daher ebenso wie ihre natürlichen Eigenschaften, nun aber in einem übertragenen Sinne „angeboren“. Zu diesen historisch wandelbaren Zuschrei­ bungen gehört in bestimmten Kulturen auch die These, dass Menschen mit (im über­ tragenen Sinne) „natürlichen Rechten“ (und nach 1945 „in Würde“) geboren werden. Ich will nach diesen Vorüberlegungen zunächst kurz die Rede von „angeborenen Rechten“ in Erinnerung rufen, um dann die Übertragung dieser Redeweise auf „Würde“ in den historischen Diskussionen bei der Formulierung jenes ersten Satzes in den Vorbereitungskommissionen der AEMR zu erörtern. 2. Angeborene Rechte Für unseren Kontext prominent ist sicherlich der naturrechtlich klingende Artikel  1 der französischen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789, der offen­ sichtlich die Formulierung von 1948 angeregt hat: „Alle Menschen werden frei und gleich an Rechten geboren und bleiben es.“23 Mit dem entscheidenden Unterschied, 20  21 

303.

Labouvie, Andere Umstände. Eine Kulturgeschichte der Geburt. Zum biologischen Begriff „angeboren“ siehe Koehler, Angeboren/erworben, erlernt, Sp.  302–

22  Jürgen Habermas stellt diese Beobachtung in einen weiteren, Erkenntnis und praktisches Handeln umgreifenden Zusammenhang, und spricht von der „Nichthintergehbarkeit des lebens­ weltlichen Hintergrunds der kommunikativen Alltagspraxis“, siehe Habermas, Auch eine Ge­ schichte der Philosophie, 773 ff. 23  Wieder abgedruckt in Fritzsche, Menschenrechte, 217.

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dass „geboren werden“ als von einem „Schöpfer“ (Gott/ Natur) „geschaffen werden“ verstanden wurde, hieß es zuvor in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung von 1776: „dass alle Menschen gleich geschaffen sind, dass sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten ausgestattet sind.“24 Von „geboren werden“ spricht auch J.J. Rousseau, allerdings nicht auf Rechte bezogen, sondern auf Freiheit. Zu Beginn seines „Gesellschaftsvertrags“ (1762) schreibt er: „Der Mensch wird frei geboren, und überall ist er in Banden.“ Später spricht Kant in der Rechtslehre davon, dass ein „angeborenes Recht“ „dasjenige Recht ist, welches unabhängig von allem rechtlichen Act jedermann von Natur zukommt“. Für Kant ist bekanntlich „[d]as an­ geborene Recht […] nur ein einziges. Freiheit, (Unabhängigkeit von eines Anderen nöthigender Willkür), sofern sie mit jedes Anderen Freiheit nach einem allgemeinen Gesetz zusammen bestehen kann, ist dieses einzige, ursprüngliche, jedem Menschen kraft seiner Menschheit zustehende Recht“25 und er setzt sich damit wohl von frühe­ ren Auffassungen einer Vielzahl unterschiedlicher innative rights ab.26 Da Kant „von Natur aus zukommt“ als „kraft seiner Menschheit zustehend“ interpretiert, verlegt er die sonst als extern unterstellte „Quelle“ für das Haben von Rechten (Gott, Natur) in den Menschen selbst: „von Natur aus“ bedeutet daher von der „menschlichen Natur“ oder von der „Wesensbestimmung des Menschen“ her gesehen. Da Kant aber eine dualistische Auffassung des Menschen (homo noumenon und homo phaenomenon) hat, ist es auch hier eine zwar in das Innere des Menschen verlegte, aber mit Bezug auf den sinnlichen Bürger unterschiedene, ihn durch seine Intellektualität bestimmende „externe“ Relation27, der er sein Recht verdankt. Während es im christlichen Natur­ recht „Gott“ ist, der als Schöpfer die Menschen mit „natürlichen Rechten“ geschaffen hat, oder deistisch interpretiert, die (göttliche) Natur selbst den Menschen mit „ange­ borenen Rechten“ versieht, beruft sich das rationale Naturrecht oder Vernunftrecht auf die Vernunft, die, so könnte man sagen, der „Natur des Menschen“ entsprechend ihm „angeborene Rechte“ zuschreibt. In all diesen Varianten der verschlungenen Na­ turrechtstraditionen ist aber der Sinn von „angeborenen“ oder „natürlichen Rechten“, dass diese Rechte „vor allem rechtlichen Act jedermann … zukommen“ (Kant), d. h. dass sie also vorpositive Rechte sind, die ihre Universalität und Egalität einer externen oder übergeordneten Instanz (Schöpfer-Gott, Natur, Vernunft, Menschheit) verdan­ ken. Was für die einen ein positives Resultat darstellt und die Legitimität positiven Rechts erst zu begründen gestattete, war für andere, wie z. B. Jeremy Bentham, Grund diesen „ante-juridischen und anti-juridischen“ Charakter „angeborener“ oder „natür­ licher“ Rechte kritisch zu sehen und als „Unsinn auf Stelzen“ abzuurteilen.28 24 

A. a. O., 211. Kant, Metaphysik der Sitten, Rechtslehre, 237; dazu Klemme, Das ‚angeborne Recht der Frei­ heit‘. Zum inneren Mein und Dein in Kants Rechtslehre, 180–188. 26  Garber, Vom „ius connatum“ zum „Menschenrecht“. Deutsche Menschenrechtstheorien der Spätaufklärung; ich verdanke diesen Literaturhinweis Matthias Kaufmann. 27 Dazu Klemme, Das „angeborene Recht der Freiheit“, 183. 28  Bentham, Nonsense upon Stilts, 330. Zur naturrechtlichen Auffassung und der Kritik Ben­ thams daran siehe Stepanians, Menschenrechte und Grundrechte, 323 ff. Eine Bentham differen­ 25 

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Naturrechtliche oder auch vernunftrechtliche Vorstellungen dienten so zur Recht­ fertigung der ersten, nationalen Menschenrechtsdeklarationen in Amerika und Frankreich am Ende des 18.  Jahrhunderts. Diese waren einerseits in den Prozess der revolutionären Verfassungsgebungen der neuen Demokratien in unterschiedlicher Weise einbezogen und dadurch positivrechtlich zu verstehen, anderseits sollte ihnen durch natur- und vernunftrechtliche Auffassungen und Begründungen ein vor-posi­ tiver Status vorgegeben oder gesichert werden.29 Dieser im weiten Sinne naturrecht­ liche Hintergrund bestimmte auch in der Vor- und Entwurfsphase der AEMR die Vorstellungen von „Menschenrechten“. Allerdings war er nicht unumstritten und wurde von vielen nichteuropäischen Delegierten nicht geteilt. Umstritten war auch, ob es überhaupt eine Menschenrechtserklärung im neu zu entwerfenden Völkerrecht geben sollte.30 Schließlich aber setzten sich die Befürworter einer Erklärung durch, die dann, trotz der vielen unterschiedlichen kulturellen Herkünfte und Religionen etc., eine gemeinsame Position für die Menschenrechte zu finden suchten. Und ge­ meinsam war zunächst allen die Intention, dass es die Barbarei der Weltkriege und des Totalitarismus nicht mehr geben sollte. 3. Antitotalitarismus als dominierendes Motiv für „gleiche Würde“ in der Menschenrechtserklärung Eine international zusammengesetzte Human Rights Commission erhielt am 15.2.­ 1946 von einem nachgeordneten (!) Ausschuss der Vereinten Nationen (Council for Economic and Social Affairs) den Auftrag, einen Entwurf für eine Menschenrechts­ konvention zu erstellen.31 In den zwei Jahre dauernden Beratungen wurden unter­ schiedliche Entwürfe und Vorschläge, auch von beratenden externen Nicht­regie­ rungs­organisationen, gesichtet32 und im Wesentlichen in einem zusätzlich geschaf­ fenen Drafting Committee diskutiert. Ich konzentriere mich auf die Passagen der Diskussionen, die sich auf Artikel  1 der AEMR und insbesondere auf den ersten Satz und die Verwendung eines Würdebegriffs beziehen. ziert darstellende Interpretation gibt Niesen/Bentham, Unsinn auf Stelzen. Schriften zur Franzö­ sischen Revolution. 29  Zu den Unterschieden zwischen amerikanischen und französischen Deklarationen siehe Ha­ bermas, Naturrecht und Revolution, 89–127; Brunkhorst, Die amerikanische Unabhängigkeits­ erklärung und die Virginia Declaration of Rights von 1776, 91–98; Brunkhorst, Die Französische Revolution und die Erklärung der Rechte des Menschen und des Bürgers von 1789, 99–105. 30  Zu den unterschiedlichen, ja konträren Auffassungen zwischen den Sieger- und Kolonial­ mächten und Aktivisten und zivilen Gruppen, über die Einfügung einer Menschenrechtserklärung in das neu gefasste internationale Recht, siehe Eckel, Die Ambivalenz des Guten. Menschenrechte in der internationalen Politik seit den 1940ern, 47–90. 31  Gute Darstellungen dieser Beratungen bei Morsink, The Universal Declaration of Human Rights; Lindholm, Article 1, 41–74; Glendon, A World Made New. Eleanor Roosevelt and the Uni­ versal Declaration of Human Rights; Vögele, Menschenwürde zwischen Recht und Theologie, 197–265; Krenberger, Anthropologie der Menschenrechte – hermeneutische Untersuchungen rechtlicher Quellen. 32  Zu diesen Vorschlägen siehe Vögele, Menschenwürde, 204–222.

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Zum ersten Mal tauchte „Würde“ als rechtlicher Begriff im Dekret zur Abschaf­ fung der Sklaverei in Frankreich (1848)33 auf und wurde dann mit Bezug auf Entwür­ digungserfahrungen in den antikolonialen Bewegungen zur Bezeichnung des kolo­ nialen Unrechts verwandt,34 schaffte es aber nicht in die Völkerbunderklärung nach dem Ersten Weltkrieg.35 In der Zwischenkriegszeit verbinden einige Autoren vor­ greifend die Forderung nach Menschenrechten mit Würde (z. B. Ernst Troeltsch36, Herrmann Broch37) und zum ersten Mal wird in der irischen Verfassung (1937) ein staatliches Handeln verpflichtender Bezug auf (freilich katholisch verstandene) „Würde“ formuliert.38 Bis 1945 sind es dann einerseits zivile Menschenrechtsaktivis­ ten und unterschiedliche Widerstandsgruppen gegen totalitäre Regime, die von Würde als Maßstab staatlichen Handels im Zusammenhang mit Menschenrechten sprechen, andererseits wehren staatliche Vertreter, insbesondere der Kolonialmäch­ te, eine rechtliche Bezugnahme auf Würde (und Menschenrechte) ab.39 Im Kontext des Völkerrechts40 ist dann prominent von „Würde“ in der Präambel der Charta der Vereinten Nation die Rede41. Wer den entscheidenden Vorschlag für die auffällig zentrale Positionierung des Würdebegriffs gemacht hat und mit welcher Bedeutung er verstanden wurde, ist in der Literatur umstritten. Zumeist wird berich­ tet, dass er von dem Südafrikaner Jan Chr. Smuts42 eingeführt worden ist.43 Das ist 33  Décret d´abolition de l´esclavage du 27 avril 1848, abgedruckt in: https://la1ere.francetvinfo. fr/abolition-de-l-esclavage-que-dit-le-decret-du-27-avril-1848-993883.html. Dort heißt es: „Sklave­ rei ist ein Anschlag auf die menschliche Würde“, siehe auch Scott, Dignité/Dignidade: Organzing against Threats to Dignity in Societies after Slavery, 61–77, Zitat: 61. 34  Eckel, Ambivalenz, 260–342. 35 Dazu Stepanians, Gleiche Würde, gleiche Rechte, 43–63, hier: 46. 36  Troeltsch, Die Persönlichkeits- und Gewissensmoral, 27–49; dazu Joas, Sakralität, 48 ff. 37 Dazu Pollmann, Heimkehr aus der Sklaverei. Der Schriftsteller Herrmann Broch als verges­ sener Vordenker des völkerrechtlichen Zusammenhangs von Menschenrechten und Menschenwür­ de, 1235–1252. 38  Kritisch dazu Moyn, The Secret History of Constitutional Dignity, 95–112; allerdings glaube ich nicht, dass die irische Version von „Würde“ dann für die internationale Menschenrechtskonzep­ tion vorbildhaft war. 39  Eckel, Ambivalenz, 54 ff., 267 ff. 40  Zuerst wohl in der Erklärung von Philadelphia der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) (1944), siehe dazu die auch sonst anregende Arbeit von Gisbertz, Menschenwürde in der anglo­ amerikanischen Rechtsphilosophie, 71–78. 41  „Wir, die Völker der Vereinten Nationen – fest entschlossen, …unseren Glauben an die Grund­ rechte des Menschen, an Würde und Wert der menschlichen Persönlichkeit, an die Gleichberechti­ gung von Mann und Frau sowie von allen Nationen, ob groß oder klein, erneut zu bekräftigen.“ 42  Jan Christiaan Smuts (1870 -1950) war militärischer General, Philosoph und Politiker in Süd­ afrika; er war Prime Minister der Union of South Africa von 1919–1924 und 1939–1948 und als Vertreter des Dominion Südafrika signierte er die Friedensverträge nach dem 1. und dem 2. Welt­ krieg. Politisch agierte er widersprüchlich: als Anhänger der Apartheid Politik war er gegen eine rechtliche Gleichstellung von „Schwarzen“ und gegen „black political rights“, bei der Gründung der Vereinten Nationen aber „in 1945, at the conference held in San Francisco to create the United Na­ tions, it was Smuts who proposed adding the phrase „fundamental human rights“ into the preamble to its charter.“, Dubow, South Africa’s Racist Founding Father Was Also a Human Rights Pioneer. 43  Vögele, Menschenwürde, 198; Lindholm, Article 1, 44.

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von Samuel Moyn insofern korrigiert worden, als Smuts in einem ersten Entwurf nicht von „dignity“ sondern von „sanctity of the human being“ spricht, und es dann offensichtlich seine Assistentin, Virginia Gildersleeve44, war, die diesen ersten Ent­ wurf korrigierte und das Wort „sanctity“ durch „dignity“ (und „human being“ durch „human person“) ersetzte. Warum aber diese Ersetzung oder Korrektur vorgenom­ men wurde, bleibt nach den von Moyn herangezogenen Dokumenten unerläutert und ist auch später im Vorbereitungskommitee nicht diskutiert worden.45 Offiziell war es dann aber Smuts, der diese Änderung und damit den Begriff der Würde („dig­ nity“) in die Diskussion einbrachte, und man kann daher spekulieren, was er damit gemeint und bezweckt hatte. Fraglich ist nämlich, ob Smuts mit „Würde und Wert der menschlichen Persönlichkeit“46 „gleiche Würde“ (und „gleiche“ Rechte) im Sinn hatte. Als Rassist konnte er nämlich fundamentale Rechte auf diejenigen einschrän­ ken, die „Würde“ besaßen, das hieß in seinem Sinne, dass sie zivilisiert seien, so dass Menschen, die diesen Status, wie die südafrikanische Apartheidpolitik, die Smuts vertrat, unterstellte, noch nicht erreicht hatten, auch keinen Anspruch auf diese Rechte hätten stellen können.47 Wie bei den traditionellen (in meiner Redeweise) allgemeinen Würdebegriffen war hier eine „Würde“ der Menschen mit sozialen, recht­ lichen und politischen Ungleichheiten vereinbar, ja ließ sogar unterschiedliche Wer­ tungen der Menschen zu: zivilisiert – unzivilisiert. Es blieb dann auch in der Charta ein explizierter Bezug auf gleiche Würde und gleiche Rechte aus, obwohl in der Char­ ta nach der Bekundung des Glaubens „an Würde und Wert der menschlichen Per­ sönlichkeit“ gleich die „an die Gleichberechtigung von Mann und Frau sowie von allen Nationen, ob groß und klein“48 folgte. So wird der Begriff dann aber im ersten Entwurf des 1.  Artikels der AEMR ver­ standen, den René Cassin (Frankreich) am 16.6.1947 bei der ersten Sitzung des Draf­ ting Committee präsentierte: „All men, being members of one family, are free, pos­ sess equal dignity and rights, and shall regard each other as brothers“ (kursiv G.L.).49 Im Unterschied zu den bisherigen (in meiner Redeweise) allgemeinen Würdebegriffen und auch zu den konventionellen, besonderen Würdebegriffen, sollte daher jetzt von gleicher Würde und gleichen Rechten in Bezug auf alle Menschen die Rede sein. Die­ 44 

So berichtet sie in ihren Memoiren: Gildersleeve, Many a Good Crusade, 346. Moyn, Why is dignity in the Charter of the United Nations?; ich verdanke Tore Lind­ holm den Hinweis auf diesen Aufsatz von Moyn. 46  Präambel der Charta der Vereinten Nationen. 47  Siehe zu dieser Beurteilung von Smuts auch Joas, Sakralität, 279. 48  Präambel der Charta der Vereinten Nationen. 49  Lindholm, Article 1, 43; Joas weist darauf hin, dass Cassin offenbar nicht der Verfasser dieses Entwurfs war, und seine Rolle im Drafting „eher die eines juristisch geschulten logischen Systema­ tisierers als die eines Ideengebers gewesen sei“, Joas, Sakralität, 273. Lindholm hat aber sicherlich recht, wenn er den Begriff „Würde“ verstanden als „gleiche Würde“, einen „watershed notion in the history of international relations“ nennt, weil vorhergehende Versuche, ein, wenn auch nicht dem Wort nach, aber der Sache nach gleichgerichtetes „statement on racial equality“ in den Völkerbund­ vertrag 1920 einzufügen, am Widerstand der Kolonialmächte (und des amerikanischen Präsiden­ ten) scheiterte, Lindholm, Article 1, 44 und 64. 45 Siehe

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se Intention wurde dann auch im „Nicht-Diskriminierungs“-Artikel  2 der AEMR ausführlich und differenziert bekräftigt. Aber gab es eine explizite Motivation, nun, historisch zum ersten Mal, in einer Menschenrechtserklärung sich auf „gleiche Würde“ (und in welcher Bedeutung?) zu beziehen? Dazu scheint es keine expliziten Äußerungen zu geben, aber man kann aus einigen Protokollnotizen doch eine dann schließlich von allen geteilte Intention er­ schließen. So argumentierte der für die Entwurfsarbeit besonders wichtige libanesi­ sche Delegierte Charles Malik 50 laut dem Protokoll der Sitzung zunächst gegen Vor­ schläge, einen Begriff von „Würde“, weil der zu vage und abstrakt sei, aus der Erklä­ rung wegzulassen: It would be better to run the risk of being vague than of being too particular, and considering the reaction of mankind to the barbarous activities of the Nazis, he felt that these expressions (dignity, indignity) should be included in the Article.51

Und gegen einen abschwächenden Vorschlag des Sekretariats wandte er ein: that in his opinion the Secretariat document did not contain a sufficient reference to the digni­ ty of man. This, he felt, ought to be made the basis woof of the Preamble. He stated that the four points enumerated in the suggestions for Preamble made by the Secretariat were excellent ones but that even when all were considered together they somehow failed to bring out what is dis­ tinctive, fundamental and human about man.52

Die von allen Beteiligten verurteilten Barbareien der Nationalsozialisten und ande­ rer totalitärer Regime, so verstehe ich seine Äußerungen, waren nicht nur Verletzun­ gen von Gleichheit, Freiheit, Gerechtigkeit und Wohlstand, sie waren darüber hinaus unbegreifbare Entwürdigungen jedes einzelnen Menschen. Zur begrifflichen Erfas­ sung dieser Greultaten, die in den Nürnberger Prozessen in Aufnahme eines älteren Begriffs „Crimes against humanity“53(im Deutschen etwas abschwächend: „Verbre­ chen gegen die Menschlichkeit“ statt „Verbrechen gegen die Menschheit“ übersetzt), in der Präambel der AEMR „Akte der Barbarei“ genannt wurden, erschien der um­ fassende Begriff der „Würde“, von seinen Negationen aus bestimmt, geeignet.54 Die 50 

Zu Malik siehe Glendon, A World made New, 227 ff.; Joas, Sakralität, 273 f. Docs E/CN.4/AC.1/SR.2. abgedruckt in: https://digitallibrary.un.org/record/629278?ln. Vgl. auch Krenberger, Anthropologie der Menschenrechte, 196. 52  UN Docs E/CN.4/AC.1/SR.2. abgedruckt in: https://digitallibrary.un.org/record/629278?ln. Vgl. auch Krenberger, Anthropologie der Menschenrechte, 193. 53 Siehe dazu die Erläuterungen der VN: https://www.un.org/en/genocideprevention/crimesagainst-­humanity.html, letzter Zugriff 13.5.2020. 54 Vgl. Lindholm, Article 1, 54 f.; Morsink, World War Two and the Universal Declaration, 357–405; Menke/Pollmann, Philosophie der Menschenrechte, 129; Pollmann, Lernen aus histo­ rischem Unrecht? Zur menschenrechtlichen Bedeutung der Erfahrung von Krieg, Gewalt und Ent­ würdigung, 43–66. Das gilt auch dann, wenn es, wie Samuel Moyn behauptet, zutrifft, dass der Holocaust nur am Rande bei diesen Überlegungen eine Rolle spielte, siehe Moyn, The Last Utopia: Human Rights in History, 44–83. Ausführlicher dazu Lohmann, Menschenwürde als „soziale Ima­ gination“. Über den geschichtlichen Sinn der Deklaration der Menschenrechte und Menschenwür­ de nach 1945, 54–74. 51  UN

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Beteiligten hielten keine Argumentation gegen diese nun deklarierte Gleichheit mehr für zutreffend oder überzeugend, d. h., die Annahme der wertmäßigen Gleich­ heit aller Menschen ergab sich negativ, als Resultat des Ausschlusses von Argumen­ tationen, die eine grundlegende ungleiche Wertigkeit behaupten oder begründen wollen. Aber andere Ungleichheiten waren nicht ausgeschlossen.55 Diese zugeschriebene „gleiche Würde“ ist zunächst eine Wertschätzung,56 die allen Menschen prinzipiell eine gleiche Wertstellung zuspricht, d. h., es ist begrifflich (aber nicht faktisch!) ausgeschlossen, dass hinsichtlich dieser Wertschätzung: „Alle haben gleiche Würde!“ einige Menschen anderen Menschen vorgezogen werden, so als ob es Menschen erster und zweiter Klasse geben könnte. Offen aber ist noch, welcher Status denn mit dieser gleichen Wertstellung aller Menschen verbunden ist oder sein soll. Und offen ist auch, ob und wie gegebenenfalls diese gleiche Wertung und der mit ihr verbundene Status begründet werden muss. 4. Ablehnung absoluter, transzendenter oder faktischer Begründungen Die entscheidenden Diskussionen dazu wurden erst im Drafting Committee in meh­ reren Sitzungsrunden geführt, dann aber in den abschließenden Treffen des überge­ ordneten „Third Committee of the General Assembly“, mit Delegierten aller 58 Mit­ glieder der VN, in der Zeit vom 30.9. bis 8.12.1948 gewissermaßen wiederholt und entschieden.57 Nach längerer Diskussion wurden Vorschläge, den Artikel  1 der Vor­ lage des Drafting Committee in die Präambel der AEMR zu verschieben, abgelehnt. Ich zitiere eine entscheidende Wortmeldung von Rene Cassin: Within the preceding ten years, millions of men had lost their lives precisely because those principles had been ruthlessly flouted. Barbarism, which men had thought safely buried, had risen once more to stalk the world. It was essential that the United Nations should again pro­ claim to mankind those principles which had come so close to extinction and should explicit­ ly refute the abominable doctrine of Fascism.58

Über die prinzipielle Rolle des Artikel  1 für die Menschenrechtserklärung bestand so weitgehend Einigkeit, aber wie genau die Menschenrechte begründet werden könn­ ten und ob überhaupt eine Begründung nötig sei, das war weiterhin offen. Im Drafting Committee waren entsprechende Vorschläge einer gewissermaßen absoluten oder dem Menschen transzendenten, externen Quelle oder Begründung 55  Bezogen auf den Bereich der Moral hatte Ernst Tugendhat in einer ähnlichen Weise von dem Ausschluss einer „primären Diskriminierung“ gesprochen, bei dessen Anerkennung dann durch­ aus „sekundäre Diskriminierungen“ vorstellbar und begründbar sind, Tugendhat, Vorlesungen über Ethik, 375 ff. Siehe auch Tugendhat, Macht und Antiegalitarismus bei Nietzsche und Hitler, 225–261. 56  Auf die heftig umstrittenen philosophischen Probleme von Wertschätzungen und von „Wer­ ten“ kann ich hier nicht eingehen; meine Position in dieser Sache siehe Lohmann, Menschenwürde, 22 ff. 57  Ich beziehe mich im Folgenden hauptsächlich auf Lindholm, Article 1, 52–61. 58  A. a. O., 54 f.

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schon formuliert und diskutiert worden, die nun wiederholt wurden. Ich kann auf diese Argumentationen im Einzelnen hier nicht eingehen und folge im Wesentlichen der übersichtlichen Darstellung dieser Diskussionen durch Tore Lindholm.59 In den Traditionen des Naturrechts wurden insbesondere drei Begründungsoptionen vor­ geschlagen: „by nature“, „by human nature“ oder „by God“. Sie wurden aber alle mit unterschiedlichen Einwänden, die insbesondere die unterschiedlichen kulturellen und weltanschaulichen Positionen zum Ausdruck brachten, in Frage gestellt, was letztlich dazu führte, dass alle vorgeschlagenen Optionen mit unterschiedlichen Mehrheiten und auch unterschiedlichen Argumenten abgelehnt wurden, anderer­ seits aber gerade Einverständnis darüber bestand, dass Artikel  1 „foundation and cornerstone“ der gesamten Erklärung sei, die Menschenrechte aber nicht explizit mit Bezug auf „nature“, „human nature“ oder „God“ zu begründen seien.60 Wenn also nach einer Begründung der Menschenrechte gesucht werden sollte, dann sollten das keine aus den Traditionen des Naturrechts sein, oder, wie ich es verstehe, es sollten keine Begründungsvarianten akzeptiert werden, welche die Rechte und Würde des Menschen mit Bezug auf externe Instanzen absolut, d. h. von menschlichem Han­ deln, Entscheiden und Argumentieren unabhängig oder für es nicht mehr „verfüg­ bar“, begründen wollen. Wenn also die normativen Ansprüche des Artikels  1 Satz  1 begründet werden sollten, dann müssten dazu Hinweise oder Ansätze in der verblie­ benen Formulierung des konsentierten Artikels  1 zu finden sein. Damit wurden die Aussagen in Satz  2 des Artikels  1 wieder thematisch: „They are endowed with reason and conscience and should act towards one another in a spirit of brotherhood.“ Schon in vorhergehenden Sitzungen war „reason and conscience“ zur Begründung gleicher Rechte und Würde vorgeschlagen worden, vielleicht mit Rückgriff auf (in meiner Redeweise) allgemeine Würdebegriffe, die zur Begründung auf besondere, den Menschen auszeichnende und gegenüber den Tieren heraushe­ bende Eigenschaften oder Fähigkeiten sich beriefen. Dagegen wurden Einwände er­ hoben; so argumentierte der mexikanische Delegierte: „Unfortunately, it is not exac­ tly true that all men are endowed by nature with reason and conscience“, und deshalb seien „reason and conscience“ nicht geeignet, gleiche universale Rechte, und auch gleiche Würde, wie man hinzufügen kann, zu begründen.61 Sie seien, so der Vor­ schlag des Chinesen Chang, nicht auf die Begründung gleicher Rechte und gleicher Würde zu beziehen, sondern als Begründung der im zweiten Satz angeführten Pflicht „[to] act towards one another in a spirit of brotherhood“ und der gemeinschaftsbezo­ genen Pflichten in Artikel  29 Absatz  1 zu verstehen.62 So fanden Vorschläge, die im 59 

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A. a. O., 55–58; siehe auch mit einer etwas anderen Deutung Vögele, Menschenwürde, 229–

60  Lindholm, Article 1, 58. Damit waren für die Zukunft auch Positionen abgelehnt, die die Gleichwertigkeit aller Menschen aus einen „absoluten“ Wert des Menschen oder einer absolut ver­ standenen menschlichen Würde folgern, wie z. B. Vlastos, Justice and Equality, 41–76. 61 Siehe Lindholm, Article 1, 62. 62  Ebd.; siehe dazu Lohmann, Individual Human Rights and Obligations Towards Communi­ ties, 387–399.

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2.  Satz von Artikel  1 angeführten „Begabungen“ der Menschen: „reason and con­ science“ als Begründung für gleiche Würde und gleiche Rechte aller Menschen auf­ zufassen, keine Mehrheit.63 Also verblieb die im ersten Satz zunächst als „Tatsache“ angesehene Behauptung, dass alle Menschen frei und gleich in Würde geboren seien. Aber in welchem Sinne sei hier „are born free and equal“ ein „fundamental fact“? Der sowjetrussische Dele­ gierte Pavlov wandte ein, „that equality of rights before the law is determined not by the fact of birth but by the social structure of the state“.64 In der dann folgenden Diskussion setzte sich die Auffassung durch, dass „All human beings are born free and equal“, in der zusammenfassenden Beschreibung von Lindholm, „meant that the right to freedom and equality was inherent from the moment of birth (kursiv G.L.)“65, also in der deutschen Übersetzung „angeboren“. Nicht die allgemeine Tat­ sache, dass Menschen geboren werden, begründet daher ihre Freiheit und gleiche Würde, sondern Freiheit, gleiche Rechte und gleiche Würde werden allen Menschen ab der Geburt in gleicher Weise zugeschrieben, oder, anders formuliert: The locution ‚are born‘ (etc.) was interpreted by most speakers, it appears, to indicate the nor­ mative character and pre-positive status of freedom and equal dignity, while ‚freedom‘ and ‚dignity‘ were left undefined.66

In gewisser Weise blieb damit die Frage nach einer nicht positivrechtlichen Begrün­ dung der Menschenrechte offen. Durch die politisch verabschiedete Deklaration, die zunächst nur einen moralischen Anspruch formulierte, war politisch fixiert, was in Recht umzusetzen und dann auch moralisch zu begründen sei. Und es war auch in den Erläuterungen (z. B. in der Präambel) und durch die Diskussionen bei der Erstel­ lung der AEMR durch die beteiligten Vertragsstaaten der VN ausgedrückt, dass eine solche Begründung wünschenswert, gegebenenfalls sogar nötig sei, um erneute „Akte der Barbarei“ zu verhindern. Es war ferner, freilich nur durch das Fehlen na­ turrechtlicher oder religiös-absoluter Begründungsvarianten zu erschließen, welche Begründungen (philosophischer, religiöser oder traditioneller Art auch immer) aus­ geschlossen sein sollten. So blieb, um angesichts des Pluralismus von Weltanschau­ ungen und philosophischen Positionen einen Konsens über die Menschenrechte nicht zu gefährden, die Begründungsfrage offen.67 Letzteres hatte schon eine von der UNESCO 1947 eingesetzte Kommission zur Begründung einer „Universal Declara­ tion of Human Rights“ empfohlen.68 63 Siehe

Lindholm, Article 1, 62. A. a. O., 59. 65 Ebd. 66 Ebd. 67  Und bis heute kann man daher durchaus, wenn klar ist, was begründet werden muss, einen „Begründungspluralismus“ akzeptieren, siehe Lohmann, Was muss man wie bei den „Menschen­ rechten“ begründen?, 23–43. 68 Siehe UNESCO, Human Rights. Comments and Interpretations; siehe auch Lindholm, Arti­ cle 1, 46–48; Vögele, Menschenwürde, 204 ff. 64 

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IV. „Inherent“ / „innewohnende“ Würde als Begründung für den Rechtsstatus, Träger von Menschenrechten zu sein So war also in dieser ersten Phase der Entwicklung der internationalen Menschen­ rechtskonzeption offen, ob es eine solche Begründung geben würde, und wenn ja, in welche Richtung oder mit welchem Ansatz sie zu entwickeln und zu bestimmen sei. Wie in der Charta der VN (1945) und der Präambel der AEMR (1948) werden in dieser Phase Rechte und Würde noch gleichwertig nebeneinandergesetzt. In der Fol­ gezeit, überschattet durch den Kalten Krieg und aufgehellt durch die Antikolonialbe­ wegungen, gewann aber der Begriff der „Würde“ eine immer deutlichere, gehaltvol­ lere und auch bedeutungsvollere Rolle. Im antikolonialen Kampf ging es oftmals weniger um zu erkämpfende Menschenrechte als um gleiche Würde und nationale Selbstbestimmung,69 und mit der Mehrheit der nun staatlich selbständig geworde­ nen ehemaligen Kolonien und Schutzgebieten in der Generalversammlung der VN wurden nicht nur die bisher bloß moralisch deklarierten Menschenrechte (AEMR) in völkerrechtlich verbindliche Internationale Pakte (Zivilpakt: Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte, IPbpR; Sozialpakt: Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, IPwskR; 1966, ratifiziert 1976.) trans­ feriert.70 Es wurde auch eine Lösung für die Begründungsfrage der Menschenrechte vorgeschlagen: In den Präambeln beider Pakte heißt es gleichlautend, dass die Ver­ tragsstaaten „Recognizing that these rights derive from the inherent dignity of the human person; […] Agree upon the following articles.“ (kursiv G.L.). Damit war die anfängliche Gleichstellung von Rechten und Würde korrigiert und es wurde die an­ geborene Würde als „inherent“ dignity, im deutschen nun als „innewohnende“ Wür­ de übersetzt, als Begründungsbasis für das Haben von Menschenrechten aufgewer­ tet. Was aber ist mit „inherent dignity of the human person“ gemeint? Ist dadurch, nun unter anderem Namen, nicht doch wieder eine naturrechtliche Begründung der Menschenrechte unterstellt? 71 1. „Inherent rights“ – „inherent dignity of the human person“ Es fällt zunächst auf, dass nicht einfach nur, wie in der Präambel der AEMR von „inherent dignity“ gesprochen wird, sondern, mit Rückgriff auf die Präambel der Charta (dort heißt es: „dignity and worth of the human person“) von „inherent dig­ nity of the human person“ (kursiv G.L.).72 „Person“ ist in der Sprache des Rechts die 69 

Siehe dazu Eckel, Ambivalenz, 768–802. Beide Pakte z. B. in Fritzsche, Menschenrechte, 237 ff., 247 ff. 71  Lohmann, Echo des Naturrechts? Menschenwürde, Menschenrechte und Demokratie, 450–462. 72  In der amtlichen deutschen Übersetzung heißt es hingegen: „dass sich diese Rechte aus der dem Menschen innewohnenden Würde herleiten“ (kursiv G.L.). Das englische Original ist insofern enger, als es ja umstritten ist, ab wann und wie lange ein Mensch (oder noch allgemeiner „mensch­ liches Leben“) Person ist. Offenbar waren die sich aus dieser Differenz ergebenden, insbesondere medizinischen Probleme für die Verfasser der AEMR noch nicht virulent, und sie verstanden, 70 

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Bezeichnung für jemand, der frei entscheiden und verantwortlich gemacht werden kann und so den Status eines Rechtsträgers einnehmen kann. Träger von Rechten aber kann nur jemand sein, dem innerhalb einer Rechtsgemeinschaft ein anerkannter Status zugesprochen wird, der rechtstechnische Begriff dafür ist (zunächst) „Person“. Das Recht kennt natürliche Personen, d. h. solche, die als Menschen geboren werden, und künstliche, rechtlich konstruierte Personen, z. B. Unternehmen, als Träger von Rechten. „Person“ ist so eine rechtstheoretisch funktionale Kategorie, aber hier ist aus dem Kontext ersichtlich, dass mit „inherent“ nur natürliche Personen, die gebo­ ren werden, als mögliche Träger von Menschenrechten in Frage kommen.73 „Hu­ man person“ steht daher für einen rechtlich anerkannten Status, den Menschen ein­ nehmen müssen (!), wenn sie Träger von (Menschen-)Rechten sind oder als solche anerkannt werden.74 Aber auch mit dieser Klarstellung, was kann mit „inherent“, nun auf deutsch „in­ newohnend“ (und nicht „angeboren“) übersetzt, gemeint sein? Und in welcher Weise können die Menschenrechte aus einer „inherent dignity of the human person“ (dt.: „aus der der menschlichen Person innewohnenden Würde“) „derived“ („hergelei­ tet“) werden. Beide Begriffe „inherent“/ „innewohnend“ und „derived“/ „hergeleitet“ sind zu erläutern. „Inherent“ hat gewissermaßen zwei Bedeutungen: Sie leiten sich ab vom lateini­ schen Wort inhaerens, dem Partizip Präsens des Verbs in-haerēre, (dt.: in/an etwas hängen, stecken, angewachsen sein), so dass damit einmal etwas fest Angefügtes, dann aber auch etwas Innewohnendes gemeint sein kann. Das United Kingdom Dic­ tionary bestimmt „inherent“ daher beide Aspekte verbindend als „existing in some­ thing as a permanent, essential, or characteristic attribute“ (kursiv G.L.).75 In der Naturrechtstradition wird das Attribut „inherent“ auf rights bezogen. So lautete der Artikel  1 der Virgina Declaration of Rights: That all men are by nature equally free and independent, and have certain inherent rights, of which, when they enter into a state of society, they cannot, by any compact, deprive or divest their posterity; namely, the enjoyment of life and liberty, with the means of acquiring and possessing property, and pursuing and obtaining happiness and safety (kursiv G.L.).

Begründbar waren diese „inherent rights“, wie bei der Rede von „born with rights“ (angeborene Rechte), durch die oben schon genannten „externen“ Instanzen der Na­ turrechtstraditionen: Nature, God, human Nature, Reason. Johannes Morsink hat dem metaphysischen Charakter dieser Auffassungen überzeugend nachgespürt und rechtstheoretisch korrekt, Personen als Träger von Rechten. Siehe zur umstrittenen Rolle von „Wür­ de“ (in vielerlei Bedeutungen) in der Medizin: Joerden u. a., Menschenwürde und Medizin. Ein interdisziplinäres Handbuch. 73  Und daher nicht, wie der amerikanische Supreme Court unterstellt, Unternehmen in ihrem Menschenrecht auf Meinungsfreiheit eingeschränkt werden können, siehe Oliver, Companies and Their Fundamental Rights: A Comparative Perspective, 661–696. 74  Siehe auch Kirste, Human Dignity and the Concept of Person in Law, 274–296. 75  https://www.lexico.com/definition/inherent, letzter Zugriff 13.5.2020.

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ihn herausgearbeitet76. Aber er beachtet nicht, dass für die AEMR die von ihm als notwendig angeführten, metaphysischen externen Begründungsquellen für den vor-positiven Charakter dieser „inherent rights“ gerade explizit ausgeschlossen wor­ den waren. Die Argumentationen und dann die Entscheidungen der Drafting Com­ mittees der AEMR sind dann auch sinngemäß auf die beiden Internationalen Pakte von 1966, und die Rede von „inherent dignity“ zu übertragen. Im Ergebnis folgt ­daraus, dass „inherent dignity of the human person“ als eine Würde zu verstehen ist, die einer Person in dem Sinne „innewohnt“, dass sie von ihr nicht mehr getrennt werden kann. Diese negative Bestimmung: „nicht trennbar“ (oder „nicht verlierbar“, „nicht ver­ äußerbar“ oder „nicht abzuerkennen“) kann man nun auch im Sinne von „unverfüg­ bar“ verstehen. Das hat aber, je nachdem wie man „Würde“ positiv versteht, unter­ schiedliche Bedeutungen. Wäre Würde eine natürliche, biologisch „innewohnende“, d. h. dem Körper einer Person innewohnende Eigenschaft, dann wäre sie vom Träger, der Person, nur so zu trennen, dass der natürlichen Person in ihrer Körperlichkeit etwas Inneres entfernt würde, wie als wenn ein Organ entnommen würde. Das sollte man gefälligst nicht tun, und so sollte ein solcher Eingriff auch nicht zur Verfügung stehen. Da „Würde“ aber, wie „Rechte“, keine biologisch natürliche Eigenschaft von Menschen, die geboren werden, ist, sondern eine soziale, symbolisch und sinnhaft konstruierte, hochgewertete und auf einen Status bezogene „Entität“, muss nicht nur das „innewohnend“ und „kann nicht von ihr getrennt werden“, sondern auch das „sich herleiten“ (4.2) und dann auch die reklamierte „Unverfügbarkeit“ (5) in einem übertragenen Sinne verstanden werden. 2.  Varianten der „Herleitung“ der Menschenrechte: moralisch, vertraglich, öffentlich- rechtlich Im Text wird der Träger der innewohnenden Würde nur „Person“ genannt; eine Per­ son aber, so hatten wir gesagt, bezeichnet einen innerhalb eines Rechtssystems an­ erkannten Status als Rechtträger. Es hängt daher von der Bestimmung des Rechts­ systems oder der Rechtsordnung und damit vom Charakter der Rechte (hier Men­ schenrechte) ab, deren Träger die Person ist, in welcher Weise zunächst „Person“ weiter zu bestimmen ist, dann aber auch was „sich herleiten“, was „innewohnend“ und „untrennbar“ bedeuten, und schließlich, welchen Sinn wir mit „Unverfügbarkeit der Menschenwürde“ verbinden können. Hier spalten sich nun die Interpretationsansätze: Die einen reduzieren den ganzen Sachverhalt auf seine moralische Dimension: Sie verstehen die Rechtsordnung ir­ gendwie als moralische Gemeinschaftsordnung, die Menschenrechte dann als rein moralische Rechte,77 und dementsprechend Person als „moralische Person“ (Marx 76 

Morsink, Inherent Human Rights: Philosophical Roots of the Universal Declaration, 17–54. Siehe dazu Lohmann, Über den Rechtscharakter von Menschenrechten als ‚moralische Rech­ te‘, 255–275. 77 

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würde sagen: als „Mensch“78). Eine zweite Interpretationsposition versteht die Rechtsordnung als durch wechselseitige Verträge konstituierte Privatrechtsordnung, die Menschenrechte dann als privatrechtliche „subjektive Rechte“,79 und dementspre­ chend „Person“ als Subjekt von Verträgen, „Bürger als Privatperson“ (Marx würde sagen, als „Bourgeois“). Und eine dritte Position versteht die Rechtsordnung als poli­ tisches öffentliches Recht, die Menschenrechte dann als „subjektive Rechte des öffentlichen Rechts“80 und dementsprechend „Person“ als politischen Bürger (Marx würde sagen: „Citoyen“). Ich habe alle drei Interpretationsansätze ausführlich behandelt und muss auf den entsprechenden Aufsatz hier verweisen.81 Je nachdem, welche dieser Interpretations­ möglichkeiten man vertritt, verändert sich die Bedeutung von „derive“/„sich her­ leiten“: In der moralischen Perspektive bedeutet „herleiten“ moralisch begründen, im Rahmen des Privatrechts ist „herleiten“ „durch wechselseitige Verträge gesetzt/vereinbart“, und im Rahmen des öffentlichen Rechts ist „herleiten“ als allgemeine, politische Gesetzgebung, d. h. als demokratische Gesetzgebung zu verstehen. In der Literatur werden diese Interpretationsansätze oft unverbunden und verab­ solutiert behandelt oder vertreten und das führt dann zu jeweils charakteristischen Einseitigkeiten oder Verkürzungen.82 Die aber werden erst angemessen deutlich, wie auch die jeweiligen Mängel sich relativeren, wenn die moralische und die vertrags­ theoretische in die demokratisch- republikanische Lesart integriert werden. Versteht man die „Herleitung“ als demokratische Setzung der Menschenrechte, so steht „inherent dignity“ dann für den nicht abzuerkennenden Status als Bürger, der allen Menschen in der gleichen Weise zusteht. Wenn aber alle Bürger gleiche Rechte haben, und Rechte immer in einer allgemeinen Gesetzgebung gegeben werden müs­ sen, dann folgt daraus, dass alle als Autoren sich die Rechte geben, die sie als Träger von Menschenrechten haben.83 Aber es ist offen, wie denn der universelle Anspruch der Menschenrechte eingelöst werden kann, wenn die Bürger nur im Rahmen natio­ naler Rechtsordnungen ihre demokratischen Rechte ausüben können und es auf der globalen Ebene keine Weltrepublik oder angemessene Äquivalente dafür gibt, und das gegenwärtige internationale Recht wesentlich durch Verträge souveräner Staa­ ten, und nicht durch eine allgemeine Gesetzgebung von allen Menschen als Weltbür­ ger, Menschenrechte setzt (s. u.).

78  Diese Unterscheidungen behandelt Marx bekanntlich in seiner Kritik der Menschenrechte, Marx, Zur Judenfrage, 347–377; siehe dazu meine Kritik: Lohmann, Karl Marx’ fatale Kritik der Menschenrechte, 91–104. 79  Siehe dazu Menke, Kritik der Rechte; meine Kritik an dieser Position: Lohmann, Menschen­ rechte als subjektive Rechte des öffentlichen Rechts. 80  Lohmann, Menschenrechte als subjektive Rechte des öffentlichen Rechts. 81 Ebd. 82  A. a. O., 22 f. 83  Das ist bekanntlich die Auffassung von Habermas, Faktizität und Geltung, 109 f.

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3. „Inherent dignity of the human person“ als antitotalitäres Versprechen einer demokratischen Setzung („Herleitung“) der Menschenrechte Menschenrechte sind „subjektive Rechte“, die politisch gesetzt werden, eine rechtliche Fassung haben, aber hinsichtlich ihrer normativen Implikationen beanspruchen, moralisch begründbar zu sein. In diesem moralischen Vorbehalt kommt der nicht-­ positive Charakter des Rechts zum Ausdruck. Die nicht aufeinander reduzierbaren „Dimensionen“ haben unterschiedliche Charaktere: Während das rechtlich Geltende und das politisch Gewollte und Vereinbarte letztlich auf öffentlich kontrollierbare, gemeinsame Entscheidungen von dazu institutionalisierten Entscheidungsträgern zurückgehen und Legalität beanspruchen können, ist das moralisch Richtige von der Überzeugungskraft guter Gründe abhängig, die nicht durch gemeinsame oder einsa­ me Entscheidungen ersetzt oder hergestellt werden können. Was immer daher die rechtliche Form politisch gesetzter Rechte ist, ihre moralisch zu rechtfertigende Legitimität kann nicht allein rechtlich oder politisch durch Entscheidungen hergestellt werden und ist von der kritischen Überzeugungskraft guter Gründe abhängig. Wir hatten gesehen, dass die Erklärung der Menschenrechte selbst, wie insbeson­ dere die Aufnahme des Begriffs „equal dignity“ in die Erklärung einer von allen Be­ teiligten geteilten antitotalitären Motivation geschuldet war. Die weiteren attributi­ ven Bestimmungen dieser Würde, als mit der Geburt für alle gleich gegeben („born in“/ „angeboren“) und unabtrennbar vom einzelnen, individuellen Menschen als Per­ son, („inherent“/ „innewohnend“), machten – nach einer kritischen Zurückweisung naturrechtlicher Auffassungen – den Weg frei, diese allen Menschen gleiche, nicht abtrennbare oder verlierbare („inherent“) Würde als Herleitungs-„Basis“ für das Ha­ ben von Menschenrechten für alle Staaten und global zu verstehen. Das war etwas historisch Neues, waren doch bisher nur die Menschen als Träger von Rechten anzu­ erkennen, die eigene Staatsbürger waren. Nun wurde auf Basis der performativ de­ klarierten Menschenwürde, als Antwort auf die Barbareien der „vergangenen 10 Jah­ re“ (Cassin) völkerrechtlich gesetzt, dass nicht nur eigene Staatsbürger, sondern auch Staatenlose und fremde Staatsbürger in der gleichen Weise als Träger von Rechten mit den in der AEMR und den internationalen Pakten aufgeführten Rechten anzu­ erkennen seien. Diese Rechte sind (darauf konnte ich im Rahmen dieses Aufsatzes nicht eingehen), inhaltlich unterschiedlich und nicht nur mit negativen Unterlassungspflichten ver­ bunden, sondern auch mit positiven Hilfs- und Schutzpflichten, die durch die unter­ scheidbaren inhaltlichen Gehalte der Menschenwürde mit begründet werden kön­ nen.84 Zu ihnen gehören nicht nur das Recht von „jedermann […] überall als rechts­ fähig anerkannt zu werden“ (Art.  16 IPbpR), was einem passiven Bürgerstatus ent­spricht, sondern mit den Rechten auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit 84 Dazu Lohmann, Die unterschiedlichen Menschenrechte, 9–23; Lohmann, Was umfasst die „neue“ Menschenwürde.

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(Art.  18, 19, 21, 22 IPbpR) und den Rechten auf politische Teilnahme und Wahlen (Art.  25 IPbpR) alle die Rechte, die für einen aktiven Bürgerstatus entscheidend sind. Wenn aber alle Menschen gleiche Rechte haben, und eine den Menschen externe Setzung oder Stiftung der Menschenrechte ausgeschlossen ist, dann kann es nicht sein, dass einige darüber hinaus noch diejenigen politischen Rechte haben, um diese Rechte zu setzen. Aus der performativ gesetzten Menschenwürde folgt so notwendig, dass die Träger von Rechten auch ihre Mitautoren sein müssen, und das heißt, dass die Menschenrechte, normativ gesehen, nur angemessen in einem republikanisch/demo­ kratischen Verfahren, das alle Menschen einschließt, gesetzt werden können. Damit wird eine neue, dritte, transnationale Konzeption von Menschenrechten im Rahmen einer „Konstitutionalisierung des Völkerrechts“85 gefordert, verstärkt noch durch die Herausforderungen und Probleme (Klimawandel, Arten- und Umweltschutz, globale Armut, Pandemien etc.) einer nicht gesteuerten Globalisierung, die alle Formen glo­ baler rechtlicher und politischer Regelungen und Institutionen verlangen. Diese im republikanisch-demokratischen Impuls der Menschenwürde liegende normative For­ derung nach transnationaler Demokratie, letztlich nach globalen Formen von Demo­ kratie ist einerseits eine Herausforderung86 der internationalen Menschenrechtskon­ zeption und zeigt, angesichts der immer beschränkten Leistungen der „Quellen“ des internationalen Rechts: internationaler Verträge, Völkergewohnheitsrecht und allge­ meinen Rechtsprinzipien, das demokratische Manko der rechtlichen und politischen internationalen Institutionen. Andererseits aber werden die vertraglichen Konstitu­ tionen der Menschenrechte beachtet und weiterentwickelt, und so revolutioniert sich das internationale Recht durch die Aufnahme der Menschenrechte, 87 und die zöger­ lichen, aber durch vertragliche Setzungen und global law fortschreitenden Prozesse einer Rechtsfähigkeit des Individuums im Völkerrecht88 werden zunehmend durch den demokratischen Impuls der Menschenwürde zur Anerkennung der Rechtsset­ zungskompetenz jedes Einzelnen in transnationalen Belangen normativ gedrängt.89 Flankiert werden diese Prozesse durch moralisch begründete Forderungen nach „mehr Demokratie“, die in den engagierten Öffentlichkeiten, durch Nichtregierungs­ organisationen (NGOs) gebündelt und formuliert, einen öffentlichen Druck und eine öffentliche Kontrolle bewirken. Das ist freilich nur die eine Seite; dieses zumeist aus 85  Siehe dazu die Vorschläge von Habermas, der seiner ursprünglichen Frage „Hat die Konstitu­ tionalisierung des Völkerrechts noch eine Chance?“, in: Habermas, Der gespaltene Westen, 113– 193, nun mit Hilfe der Idee einer „gespaltenen Souveränität“ eine neue und differenzierte Fassung gibt, siehe Habermas, Im Sog der Technokratie. Statt vieler anderer dazu: Peters u. a., The Con­ stitutionalization of International Law; Lang/Wiener, Handbook on Global Constitutionalism. 86  Lohmann, Menschenrechte und transnationale Demokratisierungen. Überforderungen oder Erweiterungen der Demokratie?, 64–77. 87  Klein, Menschenrechte. Stille Revolution des Völkerrechts und Auswirkungen auf die inner­ staatliche Rechtsanwendung. 88  Peters, Jenseits der Menschenrechte: Die Rechtsstellung des Individuums im Völkerrecht. 89 Dazu Lohmann, Echo des Naturrechts?; Lohmann, Kosmopolitismus als uneingelöster Re­ publikanismus von Menschenrechten und Menschenwürde, 57–70.

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der Opferperspektive motivierte Engagement zur Verbesserung der Lage der Men­ schenrechte wird konterkariert und bekämpft durch mächtige, ökonomische, politi­ sche und auch kulturell-religiöse Gegenströmungen90.

V. „Realistische Utopie“ statt ideologisches Vertrauen in eine scheinbar „unverfügbare“ Menschenwürde als Basis der Menschenrechte Hier sei ein Rückblick auf die spezifisch deutsche Geschichte der Einführung und des Verständnisses von „Würde“ in das Grundgesetz gestattet. Auch in der Entwurfspha­ se des Grundgesetzes wurden Vorschläge, „Menschenwürde“ naturrechtlich oder als Gott-gegeben zu konzipieren, mehrheitlich abgelehnt91, und es war Konsens, dass mit dem Begriff „Würde“ „die Abkehr von der nationalsozialistischen Vergangenheit dokumentiert werden sollte“ und sie als „antitotalitäre Grundnorm der neu zu schaf­ fenden Verfassung“ zu verstehen sei, die „jedem Menschen einen Mindeststandard an Rechten“92 zuerkenne. Darin mag man eine Wirkung der Entwürfe der AEMR er­ kennen, die dem Parlamentarischen Rat zugespielt worden waren, im Wesentlichen aber war allen Beteiligten evident, dass die Unrechtstaten des Naziregimes (und der Sowjetdiktatur) im Würdebegriff ihren angemessenen Gegenbegriff gefunden ha­ ben.93 Beachtet man diese historische Konstellation, die das Andenken an die Opfer von Würdemissachtungen präsent hält, so ist es nicht eine naturrechtlich, theolo­ gisch oder philosophisch unterstellte „Unverfügbarkeit“, welche die grundsätzliche Bedeutung der Menschenwürde als Begründungsprinzip für Menschenrechte garan­ tiert, sondern eine historische, letztlich kontingent entstandene Motivation, welche die politische Setzung der gleichen Menschenwürde für alle Menschen als oberste Grundnorm zustande gebracht hat. Sie kann dann, und philosophisch gesehen muss sie es, sich in der argumentativen Zurückweisung konkurrierender Gegenannah­ men, die die Vorenthaltung der rechtlichen Bedingungen eines würdevollen Lebens glauben begründen zu können, kognitiv stabilisieren, d. h. via negationis begründen. Sie sollte aber nicht, wie es dann in der 1950 Jahren in Deutschland geschehen ist, durch eine wert- und naturrechtlich argumentierende Deutung verdrängt werden, die sich auf zeitunspezifischen „christliche(n) Personalismus und abendländische Wertgemeinschaft“94 beruft, und damit die irritierende Bezugnahme auf die natio­ nalsozialistischen Verbrechen verdrängen und nun die neue Bundesrepublik exkul­ 90 

Lohmann, Droht der Menschenrechtsentwicklung eine Regression? Eine Skizze, 126–149. Immer noch lesenswert: Jaber, Über den mehrfachen Sinn von Menschenwürde-Garantien; siehe, mit weiterer Literatur jetzt: Baldus, Kämpfe um die Menschenwürde, 41. 92  So zusammenfassend Baldus, Kämpfe um die Menschenwürde, 26, 28. 93  Baldus kann überzeugend zeigen, dass die „Rede von der Würde des Menschen eingesetzt [wur­ de], um das ungeheuerliche Ausmaß an Humanitätsverletzungen infolge totalitärer […] Herrschaft zu benennen“, und dafür war ein „starker moralischer Intuitionismus“ nötig, nicht aber ein „Ausfluss von philosophischen Lehren oder Religionen“, Baldus, Kämpfe um die Menschenwürde, 55–57. 94  A. a. O., 78. 91 

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pierend auf ein „positives“ und „ideales Menschenbild“ und letztlich auf eine un­ historische „unverfügbare“ Basis „Menschenwürde“ glaubt gründen zu können.95 Aus dieser historischen Erfahrung heraus bekommt ein metaphysisches Verständnis von „Unverfügbarkeit der Menschenwürde“ einen ideologischen Beigeschmack. In dem historisch motivierten und, gerade nicht nur durch „westliche“ Staaten,96 politisch mit globalem Anspruch gemeinsam entschiedenen und rechtlich gefassten und kontrollierbaren institutionellen, internationalen Menschenrechtsregime er­ scheinen grundsätzliche97 Einschränkungen und Widerrufungen der universellen, egalitären, individuellen und kategorischen Ansprüche der Menschenrechte als Ver­ letzungen der allen Menschen zugeschrieben gleichen Menschenwürde. Die Men­ schenwürde als historisch gesetzte, normative Basis (axia als „radikale Imagination“ im Sinne von Cornelius Castoriadis98) erscheint so wie ein antitotalitäres Verspre­ chen,99 dass barbarische „Verbrechen gegen die Menschheit“ durch staatliche (und zunehmend auch durch nichtstaatliche) Akteure nicht mehr rechtlich ungesühnt ge­ schehen können. Realisiert wird dieses Versprechen durch die offene demokratische Entwicklung der Menschenrechte, gegenwärtig auf Basis des internationalen (und regionalen) Rechts und in nationalen Verfassungen, beginnend und für die Zukunft normativ zu fordern auf transnationaler, globaler Basis (etwa im Sinne einer „Konsti­ tutionalisierung des Völkerrechts“). Kritisch unterstützt und normativ gefordert werden diese rechtlichen und politischen Prozesse zwar auch durch Interessen ver­ folgende Entscheidungen und historisch situierte Motivationen, die aber nicht die moralischen Argumentation ersetzen können, die den normativen Universalismus und Egalitarismus der ursprünglichen antitotalitären Motivation in allgemeine und Objektivität beanspruchende Gründe übersetzen und bewahren und für alle Men­ schen „gleiche“ und „innewohnende“ Würde und entsprechend die demokratische Realisierung gleicher Menschenrechte verlangen. Alles das erscheint wie eine „realistische Utopie“,100 in der der neu konzipierte Menschenwürdebegriff die normative Basis abgibt für eine zu fordernde republika­ nisch-demokratische Setzung und rechtsstaatliche Durchsetzung und Kontrolle der 95 

A. a. O., 80. Joas, Sind die Menschenrechte westlich? 97  Natürlich können Menschenrechte, wie alle Rechte, durch gleichwertige Rechte anderer ein­ geschränkt werden; erst die Aberkennung der Rechtsträgerschaft wäre eine Missachtung der Men­ schenwürde, und dementsprechend wären grundlegende Einschränkungen von Menschenrechten solche, in denen die Rechtsträgerschaft selbst geleugnet oder aufgehoben würde. Auf diese weiter­ führenden Fragen kann ich hier aber nicht eingehen, siehe z. B. Kirste, Die Würde des Menschen als Recht auf Anerkennung der Rechtsperson, 41–68; Stepanians, Gleiche Würde, gleiche Rechte. 98  Castoriadis, Die Gesellschaft als imaginäre Institution, 603; siehe dazu Lohmann, Men­ schenwürde als „soziale Imagination“. 99  Siehe auch Hofmann, Die versprochene Menschenwürde. 100  Zuerst von John Rawls vorgeschlagen, Rawls, Das Recht der Völker, 13 ff., verwendet auch Jürgen Habermas den Begriff einer „realistischen Utopie“, um das historische Projekt der Men­ schenrechte und in ihm die Rolle der Menschenwürde zu kennzeichnen, Habermas, Das Konzept der Menschenwürde und die realistische Utopie der Menschenrechte, 13–38. 96 Siehe

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Menschenrechte. Sie ist Ergebnis, so kann man das hier behandelte Geschehen deu­ ten, eines unabgeschlossenen, historisch bitteren Lernprozesses, den die Menschheit, repräsentiert durch die Vertreter aller Staaten, zum Anlass genommen hat, sich eine neue normative Basis rechtlicher und politischer Institutionen zu geben und von der sie, freilich in einem historisch nicht wiederholbarem Augenblick, gewollt hat, dass über diese neue Basis in Zukunft nicht mehr (beliebig) verfügt werden solle.101 Der Anspruch der „Unverfügbarkeit“ der Menschenwürde (und nur darum ging es ja in diesen Überlegungen) hat daher einen historischen Index und sollte mit dieser Rela­ tivierung auch verstanden und verteidigt werden. Dieser verfassungsgebende, kons­ titutive Impuls ist freilich, wie die Lage, in die die Menschenrechtsentwicklung da­ durch eingetreten ist, wie alles Menschenwerk prekär, diesmal in dem Sinne, dass man zwar rekonstruieren kann, wie man da hineingekommen ist, aber nicht mehr sicher weiß, ob man darin auch verbleiben wird. Dazu gehört auch, was man beinahe 80 Jahre nach Weltkriegsende vermuten und feststellen kann, dass sich die ursprüngliche historisch bestimmte Gestalt dieser an­ titotalitären Motivation abschwächt oder relativiert, und von jüngeren Generationen und in anderen Gegenden der Welt mit einer anderen Geschichte auch als „nicht für uns zutreffend“ (abwehrend?) gesehen wird. Allerdings zeigt sich, dass aus der Per­ spektive der Opfer von barbarischen Verbrechen welcher Couleur auch immer die normativen Forderungen eines Würde-basierten, menschenrechtlichen Schutzes sehr wohl treffend und angemessen sind, und nicht, was einige gegenwärtige (Über-) Kritiker der Menschenrechte behaupten, die Menschen in ihrer Humanität verhin­ dern, oder, wie gegenwärtige diktatorische Regime vorbringen, nur ein kulturimpe­ rialistisches Mittel sind, um westliche Dominanz zu etablieren. Gegen diese Relati­ vierungen ist es in der Tat wichtig, die ursprünglich historisch motivierten universel­ len und egalitären Ansprüche beizubehalten und ihre zeitbedingten Abschwächungen durch verbesserte Begründungen kompensierend zu stärken. Die Philosophie kann dazu durch eine klare, nüchterne und argumentative Verteidigung einer bedingten „Unverfügbarkeit“ der Menschenwürde beitragen.

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Das Axiom der Menschenwürde und die Ontologie der Person Thomas Buchheim I. Die Würde ist keine absolut indisponible Eigenschaft des Menschen Weder die allgemeine Erklärung der Menschenrechte noch das deutsche Grundge­ setz sprechen von der Menschenwürde als einer unantastbaren Eigenschaft der menschlichen Person. Vielmehr sprechen sie davon, dass die Würde unantastbar und alle damit verbundenen Rechte den Menschen ohne Ausnahme „angeboren“ und un­ veräußerlich seien. Es mag sich wie ein unbedeutendes Detail ausnehmen, dass, all­ gemein gesprochen, ein Wert oder eine Würde nur schlecht als Eigenschaft eines Din­ ges verstanden werden kann. Denn durch Eigenschaften werden Dinge charakteri­ siert und beschrieben und daran erkennt und identifiziert man sie. Wenn also ein Wert die Eigenschaft eines Dinges wäre und zugleich das allgemeine logisch-philoso­ phische Prinzip gilt, dass ein jedes Ding durch seine Eigenschaften identifiziert wird  – dann wäre ein Streit darüber, ob ein Ding einen bestimmten Wert oder gar Würde hat oder nicht, zugleich ein Streit darüber, um welches Ding es sich eigentlich handelt. Wir würden so die Frage des Wertes oder der Würde eines Dinges mit der Frage nach seiner Identität und Beschreibung vermengen. Was vor allem deshalb nicht gut tut, weil die eine Partei im Streit über den Wert behaupten könnte, sie sprä­ che gar nicht über dasselbe, worüber die andere Partei spricht. So könnten sie beide meinen, am Ende Recht zu behalten, obwohl sie sich doch bezüglich einer sehr wich­ tigen Angelegenheit – der Würde des Menschen – widersprechen. Wir sollten uns deswegen davor hüten zuzulassen, dass jemand, der die Würde des Menschen an­ ficht, glaubt, unter dem Menschen etwas anderes verstehen zu dürfen als die, die an der ihm „angeborenen“ Würde festhalten möchten. Aus dem gleichen Grund ist auch der Weg versperrt, die Würde des Menschen als eine Frage der Definition des Menschen aufzufassen, sie also für eine notwendige Komponente seines Wesens zu halten. Denn dies führt in der Tendenz nur dazu, zwischen einerseits einer weltbildabhängigen und, wie man sagt, ‚humanen‘ oder ‚humanistischen‘ Definition des Menschen und andererseits einer natürlichen oder wissenschaftlichen Definition im Sinne der Spezies ‚Mensch‘ zu unterscheiden. In der einen Definition ist die Würde definitionsgemäß etabliert und zwingend anzuer­ kennen; in der anderen dagegen äußerst fragwürdig und prekär. Wer aber möchte auf die Dauer ein bestimmtes Weltbild gegenüber der neutralen Wissenschaft als all­ gemeinverbindlich hochhalten und verteidigen? Vielmehr sprechen die Menschen­

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rechtserklärung und das Grundgesetz nicht umsonst von der „angeborenen“ Würde, die Geburt eines jeden Menschen ist aber, so denke ich, ein unstrittig natürlicher und weltbildunabhängiger Vorgang, infolge dessen allen Menschen eben die Würde zu­ kommt. –Wir brauchen also eine weltbildunabhängige Begründung dafür, dass allen Menschen, die geboren werden, aber eben auch nur ihnen unter allen uns empirisch bekannten Spezies, Würde zukommt. Aber warum ist das so? Die Frage der Menschenwürde (ob sie allen Menschen zukommt oder nicht) ist deshalb, so möchte ich behaupten, von vornherein gar keine ontologische Frage (d. i. eine Frage nach einer Eigenschaft oder Definition der gemeinten Sache), sondern vielmehr eine ethische oder, weiter gefasst, normativitätstheoretische Grundsatz­ frage, ähnlich wie die, ob ein Sein jemals ein Sollen rechtfertigen könne oder nicht; oder ob, wie Thomas von Aquin meint, das Gute immer auch einen Formaspekt des Wahren besitzt oder nicht. Es handelt sich um eine ethische oder normativitätstheoretische Grundsatzfrage in einem alle mögliche Ethik oder alle erdenklichen normativen Systeme unterfüt­ ternden Sinn, den ich dadurch ausdrücke, dass ich sage, die positive Beantwortung der Frage, ob dem Menschen Würde absolut zukommt oder nicht, sei ein Axiom für alle mögliche Ethik oder Theorien normativer Ordnung, welche auf diesem Axiom aufzubauen hätten. Das bedeutet noch nicht, dass es keine Ethik oder Theorie nor­ mativer Ordnung abseits dieses Axioms geben könne – das stimmt offensichtlich nicht. Sondern es bedeutet, dass alle Ethik oder Theorie normativer Ordnung, die das Axiom der Menschenwürde teilt, axiomatisch verschieden ist von aller Ethik und Theorie normativer Ordnung, die es nicht teilt. Eine solche axiomatische Verschie­ denheit kommt in allen Theoremen und regulären Zusammenhängen und Schluss­ folgerungen einer Theorie zum Tragen, ist also von durchgängiger und grundlegen­ der Bedeutung für die entsprechenden Theorien – so wie im Falle der Geometrie die euklidischen Axiome (z. B. das Parallelenaxiom) in allen Theoremen, regulären Zu­ sammenhängen und Schlussfolgerungen der euklidischen Geometrie zum Tragen kommen – und dennoch die euklidische Geometrie nicht die einzige Art von Geo­ metrie ist, die man überhaupt entwickeln und anwenden könnte. Ein Axiom aber – und daher eben auch die Menschenwürde, wenn sie ein Axiom rationaler Ethik und Theorien normativer Ordnung wäre – kann nicht demonstriert werden. Kein Axiom kann demonstriert werden. Vielmehr kann nur jemand, der das Axiom der Menschenwürde bestreitet, in ethisch-rationale Schwierigkeiten und Un­ gereimtheiten getrieben werden. Das heißt, das Axiom der Menschenwürde hat zwar wohl gute Gründe auf seiner Seite, Gründe, die die Allgemeinheit und Unantastbar­ keit der Menschenwürde gegen jede Verneinung verteidigen und sich nicht leicht bei­ seite drängen lassen. Aber der Inhalt des Axioms hat keinen ihm noch vorgeordneten Grund, aus dem er seinerseits gefolgert werden könnte. Wenn ich in der Folge dennoch von einer Begründung für das Axiom der Men­ schenwürde sprechen werde und einen Grund seines Anspruchs auf Anerkennung zu benennen versuche, so bezieht sich dieser Begründungsvorschlag entsprechend

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dem Gesagten nicht direkt auf den Inhalt dessen, was man die Würde des Menschen zu nennen pflegt, sondern auf ihre Heranziehung als eben ein geeignetes Axiom für rational gerechtfertigte normative Ordnungen und Rechtssysteme. Dies hat zugleich den Vorteil, dass nicht eindeutig gemacht werden muss, worin denn die Würde des Menschen eigentlich bestehe, und man diesbezüglich durchaus verschiedener Mei­ nung bleiben kann, obwohl man ihren axiomatischen Rang doch gemeinsam anzu­ erkennen bereit ist. Dies scheint mir auch die gedankliche Lage widerzuspiegeln, die zum Beispiel der Artikel  1 I unseres Grundgesetzes und die dort ausgesprochene „Unantastbarkeit“ der Würde tatsächlich formuliert. Denn das, was unantastbar ist, lässt sich in seinem genauen Umfang und durch exakte Definition eben nicht fassen. Eine der guten, aber nicht zwingenden Begründungen dafür, warum die Men­ schenwürde rational Anspruch darauf machen darf, ein Axiom aller rechtfertigungs­ fähigen Ethik und Theorie normativer Ordnung zu heißen, ist ontologischer Art. Eine Begründung dieser Art macht, weil ontologisch, einen Grund dafür geltend, der schlechthin nicht zur Disposition unserer Willkür und Entscheidungsmacht steht. Macht man also eine ontologische Begründung dafür geltend, dann bezieht sich die stützende Kraft dieses Grundes auf die rationale Rechtfertigung seiner Einsetzung als ein Axiom, während die Anerkennung seines Inhalts (die universelle und unantast­ bare Verknüpfung von Menschsein und Würde) immer noch eine ethische (oder al­ lenfalls metaethische), aber nicht ontologisch zu entscheidende Angelegenheit bleibt. Wird auf diese Weise nur die Einsetzung eines solchen Axioms der Menschenwürde für rational rechtfertigungsfähige ethische und normative Systeme begründet, nicht aber unmittelbar sein Inhalt ontologisch interpretiert und zu fundieren gesucht, dann ist und bleibt es möglich, dem genauen Inhalt dieses Axioms noch unterschied­ liche Auslegungen zu geben – wie es ja gerade mit dem Axiom der Menschenwürde ethisch und normativ bestellt ist. Denn die Würde, was sie verlangt und wie sie dem Menschen zukommt, ist und bleibt ein ethisch-moralisch, juristisch und politisch höchst umstrittener Begriff. Man braucht all diese offenen Fragen nicht erst auf eine bestimmte Weise geklärt zu haben meinen, bevor der Versuch unternommen wird, eine triftige Begründung für ihre Einsetzung als Axiom auf die hier vorgeschlagene Weise zu entwickeln. Der ontologische Grund für die Einsetzung des Axioms der Menschenwürde, den ich in der Folge deutlich machen möchte, ist, dass alle Menschen Personen sind, Per­ son zu sein aber an für Personen unverfügbaren, ontologischen Gegebenheiten liegt. Dieser ontologische Grund für das Axiom der Menschenwürde ist dann, wie schon betont, nicht wiederum ein ethisches Axiom oder ein in sich normativ aufgeladener, zugebilligter Rang des Menschen, sondern eine ethisch neutrale Tatsache oder Gege­ benheit, die aber einen rationalen Grund im Sinne einer unerlässlichen Vorausset­ zung dafür liefert, gerade dem Menschen – im Unterschied zu allen anderen Lebewe­ sen auf unserem Globus – Würde zuzusprechen und sie zum Axiom von aller ratio­ nalen Ethik und Theorie normativer Ordnung zu erklären. Aber es ist, wie ich auch klar machen möchte, keine hinreichende Bedingung dafür, insofern es auch Personen

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geben könnte, bei denen es nicht vernunftethisch konsequent wäre, das Würdeaxiom auf sie auszudehnen. Meine Überlegungen sind also nicht dazu geeignet – und zielen nicht einmal darauf –, eine direkte ontologische Ableitbarkeit des Axioms der Men­ schenwürde zu behaupten.

II. Verschiedene Begründungen für das Axiom der Menschenwürde Die vermittelte Frage nach dem Warum des Axioms der Menschenwürde ist also im Unterschied zur unmittelbaren Frage nach Besitz und Anspruch der Würde als un­ antastbare Geburtsfolge eine mit Blick auf den Menschen durchaus ontologisch be­ antwortbare Frage, obwohl eine ontologische Antwort auf die gestellte Frage (War­ um ist es richtig, gerade Menschenwürde in aller primär rational orientierten Ethik und Normentheorie als ein Axiom anzusehen?) sicher nicht die einzig mögliche Ant­ wort darauf ist. Vielmehr hat zum Beispiel Kant auf dieselbe Frage eine ihrerseits fundamental-­ ethische oder moralphilosophische Antwort gegeben, nach der das Axiom der Würde Ausdruck unserer eigenen Vernunftautonomie sei, ohne die wir uns selbst weder ver­ stehen noch achten könnten. Ich meine aber, dass solche fundamentalethischen Be­ gründungsansätze (wie auch etwa der von Emmanuel Levinas1) letztlich nur zirkulä­ re Begründungen geben, was ja angesichts des axiomatischen Charakters der Men­ schenwürde auch gar kein Wunder ist, obwohl es damit nicht weniger zirkulär ist: Wenn wir uns selbst als kraft unserer Vernunft autonome Wesen verstehen wollen, dann müssen wir allen „Vernunftwesen“ wie uns selbst Würde zugestehen. Wenn wir allerdings bereit wären, unsere eigene Autonomie als vernunftregierte Wesen für zur Disposition gestellt und etwa primär ökologischen Lebenszwecken untertan zu hal­ ten, dann könnten wir uns mit Berufung auf gewisse diagnostizierte Lebenszwänge rational gerechtfertigt sehen, mangelhaft öko-verantwortlich denkenden Subjekten empfindliche Würdebeschneidungen aufzuerlegen – etwa Überwachung ihrer Ernäh­ rungsgewohnheiten und eine drohende Einweisung in Umerziehungslager, um sie nachhaltig auf vegetarische Kost und tierfreundliches Denken umstellen zu lassen. Eine Begründung hingegen, wie ich sie mit Rekurs auf die ontologische Statur des Menschen als Person geben möchte, wäre keine derart direkte, sondern nur eine höchst indirekte Rechtfertigung dafür, dass wir das besagte Axiom aller unserer Ethik und Normativitätstheorien zugrunde legen. Eine ontologische Begründung kann das nahelegen oder rational empfehlen, aber kann nicht ein Axiom der Ethik direkt begründen, so wie Kants zirkuläres (oder transzendentales) Verfahren den Vorteil der Direktheit besitzt. Wenn aber das Axiom der Menschenwürde nur Aus­ druck unserer Selbstachtung als moralisch autonome Vernunftsubjekte ist, dann ist schon ein kleiner Mangel an Selbstachtung unter Umständen ein großer Gewinn an 1 

Vgl. z. B. Levinas: Autrement qu’être ou au-delà de l’essence, 17–23.

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effektiver Sozialorganisation, deren Effektivität es opportun macht, die Menschen­ würde da und dort einzuschränken. Wir haben nicht den Eindruck, dass das, was heute in unseren Breiten ‚gutes Leben‘ für den Menschen heißt, in erster Linie an der Wahrung von Selbstachtung aufgehängt ist. Das ontologische Begründungsargument für das Axiom der Menschenwürde, das mir insgesamt vorschwebt, lässt sich sehr kurz folgendermaßen zusammenfassen: Weil alle Menschen ohne Ausnahme und, in unserem heutigen empirischen Ge­ sichtskreis, nur die Menschen Personen sind, deshalb ist es mit Blick auf deren nor­ mative Praktiken gerechtfertigt, das Axiom der Menschenwürde aller Ethik und Theorie normativer Systeme zugrunde zu legen. Man erkennt natürlich sofort, dass ich mich mit dieser vorgeblich ontologischen Begründung des Axioms der Menschenwürde u. a. auf die Meinung festlege, dass ‚Person‘ erstens nicht ein begriffliches Synonym für ‚Mensch‘ ist, dass also nicht alles, was Person ist, unbedingt auch Mensch sein muss (obwohl umgekehrt ja: alles, was Mensch ist, ist auch Person); und dass zweitens der Begriff der Person darin nicht wiederum als selbst ein ethischer, sondern vielmehr ein ontologisch signifikanter Be­ griff firmiert und insofern auch ethisch neutral in seiner Bedeutung expliziert wer­ den muss. Ich will dadurch aber natürlich nicht leugnen oder korrigieren, dass ‚Per­ son‘ in manchen Zusammenhängen als ein ethisch-moralischer, erst recht als norma­ tivitätstheoretischer und juristischer Begriff in Gebrauch ist. Sondern ich zeige nur, dass es eine ethisch neutrale Explikation seines Sinnes gibt, die unsere üblichen Ge­ brauchs- und Anwendungsfälle für den Begriff bereits voll rechtfertigt. Doch ist es natürlich immer möglich und manchmal auch sinnvoll, einem Terminus höhere ethische Weihen zu erteilen. So halten wir es z. B. für gewöhnlich mit den Worten ‚Freiheit‘ oder ‚Demokratie‘. Und so wird auch oft mit dem Ausdruck ‚Person‘ verfah­ ren, was ich gar nicht kritisieren möchte. Nur sind diese Weihen eben nicht ein neu­ tral-philosophischer Grund dafür, die Menschenwürde als ein Axiom aller Ethik anzuerkennen. Wenn ich also die besagte ontologische Begründung des Axioms der Menschenwürde gebe, dann meine ich nicht so etwas wie: Weil der Mensch als ein Ebenbild Gottes nicht nur ein Tier, sondern wie Gott selbst auch Person ist, deshalb ist das Axiom der Menschenwürde aller Ethik und Normentheorie zugrunde zu le­ gen. Ich will aber damit natürlich auch nicht ausgeschlossen haben, dass der Mensch ein Ebenbild Gottes sei, sondern nur darauf beharren, dass dies keine neutrale onto­ logische Begründung des Axioms der Menschenwürde leistet, sondern noch viel en­ ger zirkulär wäre als die ethische Begründung Kants. Also verpflichte ich mich durch meine ontologische Begründungsthese dazu, auf eine neutrale ontologische Weise zu explizieren, was eine Person ist – etwa im Unterschied zu anderen Lebewesen, die nicht Personen sind, oder auch im Unterschied zu nicht lebendigen Wesen, die etwa intelligent wären (also Wesen mit hoher künstlicher Intelligenz), um erst dann deut­ lich zu machen, warum es angesichts dieses ontologischen Befundes über den Men­ schen rational am meisten Sinn ergibt, das Axiom der Menschenwürde für alle Ethik und Normentheorie zugrunde zu legen.

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III. Skizze einer Ontologie der Person 1. ‚Person‘ zwischen Naturbegriff und Zuschreibungsbegriff Nach meiner hier nur skizzenhaft wiederzugebenden These2 ist der Terminus ‚Per­ son‘ weder ein reiner Naturbegriff oder natural kind, wie z. B. die Spezies ‚Mensch‘, ‚Pferd‘ oder auch Naturbegriffe allgemeinerer Art wie ‚Lebewesen‘, ‚lebendiger Orga­ nismus‘, die ein Individuum in seiner natürlichen Substanz erfassen. Noch ist ‚Per­ son‘ ein reiner Zuschreibungs-, Rollen-, oder Status-Begriff wie z. B. ‚Polizist‘, ‚Wäh­ ler‘, ‚Bürger‘ oder ‚Sprecher einer Sprache‘ usw. ‚Person‘ ist vielmehr eine partielle Verbindung von beidem, ein Hybrid aus gewissen Zügen eines Naturbegriffs (z. B. lebendiges Wesen zu sein – nichts nicht-Lebendiges ist eine Person) und gewissen Zügen eines Zuschreibungsbegriffs (etwa: von irgendwem dafür gehalten zu werden). Nichts, was nicht von irgendwem dafür gehalten wird, ist eine Person. Das verhält sich ähnlich wie: nichts, was nicht von irgendwem dafür gehalten wird, ist Sprecher einer Sprache. Denn kein Sprecher irgendeiner Sprache wird von niemandem jemals als ein solcher auch angesprochen.3 Naturbegriffe sollen also Begriffe heißen, die von etwas erfüllt werden, ganz unab­ hängig davon, ob wir das Betreffende dafür halten oder nicht, während Zuschrei­ bungsbegriffe die sind, die wir nur auf dem Weg einer Zuschreibung für erfüllt hal­ ten, sei es aus Fremd- oder auch Selbstzuschreibung. Die Person ist eine Hybridbil­ dung aus Begriffen beiderlei Typs: Insofern nur Lebendiges eine Person sein kann,4 hat Person zu sein Züge eines Naturbegriffs. Insofern aber Person nur etwas sein kann, dem dies auch zugeschrieben wird, und sei es von ihr selbst, trägt das, was eine Person ist, auch Züge eines Zuschreibungs- oder Rollenbegriffs. Reine Naturbegriffe sind dagegen selbstverständlich nicht so gebaut: Man kann nicht behaupten, dass nichts ein Frosch sei, was nicht von irgendwem dafür gehalten wird. Aber andererseits ist auch klar: nicht schon dadurch, dass etwas für eine Person gehalten wird, ist etwas schon eine Person. Wie das Lebendigsein ist auch das Dafür­ halten nur notwendige Bedingung für die ontologische Statur von Person. Denn man kann vieles für eine Person halten, was es nicht ist. Sondern ein entsprechendes We­ sen wäre nur dann nicht eine Person, wenn es gar niemanden, d. h. keine Person, gäbe, die sie dafür auch ansehen würde. Mir kommt es nun weiterhin besonders auf die Frage an, wie diese beiden Anfor­ derungen an den Begriff der Person – die an einen Naturbegriff als Begriff für ein jedenfalls lebendiges Wesen und die an einen Zuschreibungsbegriff als Begriff eines 2  Ausführlich argumentiere ich in gleicher Richtung in: Verf., What are Persons; sowie ders./ Noller, Sind wirklich und, wenn ja, warum sind alle Menschen Personen? 3  Vgl. Wittgensteins berühmtes Privatsprachenargument, das die Wurzel aller sprachlichen Re­ geln in einer gemeinsamen „Lebensform“ oder „Gepflogenheit“ erkennt, Wittgenstein, Philoso­ phische Untersuchungen, 198 f.; 202; 241 f. u. a. 4  Versteht sich: eine Person im nicht-abgeleiteten Sinn; denn bspw. ‚juristische‘ Personen sind nur abgeleiteter Weise Personen zu nennen und setzen für ihre Existenz lebendige Personen voraus.

Das Axiom der Menschenwürde und die Ontologie der Person

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Dinges, der u. a. deswegen darauf zutrifft, weil es dafür gehalten wird – ontologisch auf einmal oder in ein und demselben formalen Zug des betreffenden Wesens zu er­ füllen sind. Denn zwar ist es so, dass auch bspw. ‚Polizistin‘, obwohl ein reiner Zu­ schreibungsbegriff, impliziert, dass es sich um ein lebendiges Wesen handelt. Aber davon völlig unabhängig, dass es sich um ein lebendiges Wesen handelt, ist eine Po­ lizistin eine Polizistin. Ihr Sein als Polizistin hängt nur akzidentell zusammen mit ihrem Lebewesen-Sein. Man kann sich stattdessen einen Roboter vorstellen, der dazu eingesetzt wird, die Rolle einer Polizistin genauso zu erfüllen. Anders im Falle der Person nach meiner These: Es ist die Art und Weise, in der sie ein lebendiges Wesen ist, die macht, dass sie Person ist. Es gibt eine formale Verbin­ dung, eine Verbindung in der Form ihres Lebendigseins, die sie zur Person macht. Das führt direkt zu meiner Hauptthese, dass, Person zu sein, darin besteht, Teilhaber oder Teilnehmerin einer bestimmten Lebensform zu sein; wobei ich unter ‚Lebens­ form‘ nicht eine kulturelle oder natürliche Ausprägung von menschlichem Leben verstehe, sondern wirklich eine Form zu leben, die menschliches Leben überhaupt (wenn auch nicht notwendig nur menschliches Leben überhaupt) auszeichnet. Diese Form zu leben ist in sich so gebaut, dass sie als Form nicht einem einzelnen lebendigen Individuum für sich genommen zukommen kann. Während also bei­ spielsweise Aristoteles ‚Formen‘ des Lebendigseins unterschied, die sehr wohl von Einzelexemplaren instanziiert werden (und eben deshalb natürliche Formen sind, die uns reine Naturbegriffe von ihnen an die Hand geben), so spreche ich von einer Le­ bensform, die, ohne prinzipielle Reservierung auf gerade menschliches Leben, gar niemals von einem lebendigen Individuum allein gehabt oder instanziiert wird, son­ dern nur von vielen zusammen in einem Lebensverband. 2. Die biographische (nicht biologische) Grundlage personalen Daseins überhaupt Um dies genauer zu sehen, muss man zunächst eine innere Unterscheidung von zwei­ erlei Verhaltenszügen oder Verhaltenskomponenten in jedem lebendigen Wesen zu­ mindest höher entwickelter Art machen, nämlich zwischen dem Leben im (art-)biologischen und dem Leben im individuell biographischen Sinn. Menschliches Leben, aber auch das meiste tierische Leben setzt sich fortlaufend aus beiden Komponenten zusammen, wobei interessanterweise die biologische Lebenskomponente eine per­ manente und stabil bleibende Hypothek oder Bedingung des Lebens darstellt, unter der sich alle biographische Variation des individuellen Lebens allein abspielen kann. Der Weberknecht, der dem brennenden Licht zu nah kommt, wird verbrannt. Wie nah er ihm kommt und wie und wann er sich wieder entfernt, ist eine Frage des bio­ graphischen Lebens. Alles Lernen lebendiger Individuen, aller Erwerb von Fähigkeiten und Vermögen gehören der biographischen Komponente des Lebens an, die, wie gesagt, permanent unter der gleichen Hypothek des Lebens im biologischen Sinn steht. Es ist den leben­ digen (im Unterschied zu nicht-lebendigen) Wesen essentiell, ein individuell steuer­

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bares, biographisches Leben nur unter einer solchen Hypothek oder begleitenden Bedingung zu haben, in der, bei aller Variation des biographischen Lebens von Indi­ viduum zu Individuum, doch viele von ihnen gleich sind. Und diese Fusionierung von permanenter Hypothek und biographischer Variation des Lebens ist so gebaut, dass erstere auch Konstituente eines Interesses an letzterer ist. Dies verhält sich bei Robotern und nichtlebendigen Wesen meiner Auffassung nach generell anders: Zwar agiert auch ein Roboter, formell betrachtet, nur unter der Hypothek oder Bedingung, bei Ausübung seiner Funktion nicht irreversibel zerstört zu werden, weswegen es definierte (programmierte) Korridore seiner möglichen Funktionseinsätze gibt. Je­ doch ist bei einem nichtlebendigen Wesen die permanente Hypothek individueller Funktionsbewältigung nicht zugleich Konstituente eines nachdrücklich verfolgten Interesses an ihr. Sondern das einzige ‚Interesse‘ eines Roboters, wenn man über­ haupt so reden möchte, ist die Funktion. Deshalb spricht man eben auch gar nicht im eigentlichen Sinn von einem ‚Interesse‘ eines Roboters oder Computers o. ä., weil es nicht zugleich ein Selbstinteresse ist. Viele biographisch different lebende Individuen unter der für alle gleichen Hypo­ thek ihres Lebendigseins – das scheint mir demnach die unerlässliche naturbegriffli­ che Basis und Ausgangsfolie für den ontologischen Begriff der Person ganz im Allge­ meinen, d. h. womöglich auch jenseits der menschlichen Person, zu sein. Weil nun die gleiche Hypothek des Lebens für viele lebendige Exemplare im Wege einer Vererbung (egal ob mit technischer oder nur biologischer Unterstützung) an alle betreffen­ den Individuen verteilt ist, deshalb kann man sagen, dass jede Person oder alles, was Person ist (im nicht-abgeleiteten Sinn), immer als Mitglied eines Filiationsverbandes vieler mit dem gleichen Lebenserbe existiert. ‚Filiationsverband‘ heißt wörtlich so viel wie: ein Verband durch Vertöchterung oder Verzweigung in Gestalt der Weiterga­ be von Leben. Nichts ist Person, was nicht in so einem Verband existiert. Und auch Gott, wenn er existiert, ist insofern Person, als er, sei es in mehreren oder nur einer einzigen Person, innerhalb eines Filiationsverbands von lebendigen Wesen mit dem gleichen, d. h. von einander genommenen oder abstammenden Lebenserbe existiert. Personen also kann es, wenn es sie überhaupt gibt, nur im Plural geben – was eine bekannte und schon lange vertretene Grundthese des Münchner Philosophen Robert Spaemann gewesen ist.5 Während nun dieser Bauteil (Mitglied eines Filiationsverbandes zu sein) der per­ sonalen ‚Lebensform‘ jedenfalls bei uns Menschen in der Hauptsache dem Leben im natürlichen oder biologischen Sinn zuzuordnen ist, gilt dies für die anderen und entscheidenden Formzüge des Seins von Personen gerade nicht. Sie sind nämlich der biographischen, nicht der biologischen Komponente des Lebens entnommen. Denn natürlich gibt es ja auch viele Nichtpersonen, die nur als Mitglieder in solchen Filia­ tionsverbänden existieren, wie bisher beschrieben. Alle oder die meisten Tiere, so­ fern überhaupt ihre gemeinsame biologische Hypothek des Lebens sich signifikant 5 

Spaemann, Personen, 9, 87, 144.

Das Axiom der Menschenwürde und die Ontologie der Person

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von individueller Biographie unterscheidet, haben insofern noch die gleiche Aus­ gangsfolie, die nicht als solche schon personales Leben kennzeichnet. Obwohl nun das biographische Leben weite Korridore für individuelle Verschie­ denheit öffnet, kommt die Form des Personalen dennoch wiederum allen gemeinsam zu (deshalb eben ist sie überhaupt eine Form des biographischen Lebens aller), so dass, wenn diese Form gegeben ist, ein jedes Mitglied des betreffenden Filiationsver­ bandes tatsächlich Person ist, und nicht nur diejenigen Mitglieder, die eine bestimm­ te Biographie oder bestimmte biographische Kompetenzen aufweisen. Es hat also hier seinen ontologischen Grund, dass man z. B. bei Menschen nicht sagen kann, dass die einen Personen sind (weil ihr Leben die und die biographischen Züge, z. B. eine minimal-menschliche Intelligenz oder Vernunft-Performance auf­ weist), die anderen aber nicht oder noch nicht oder nicht mehr oder dergleichen. Die personale Lebensform ist eine biographisch von vielen nur zusammen erwirkte, aber dennoch zugleich universal auf allen Mitgliedern des Filiationsverbands etablierte oder errichtete Form ihres Lebens. So wie z. B. zwar nicht universal, aber regional ein Familienleben oder familiäres Leben nur zusammen biographisch erwirkt, aber zu­ gleich ausgedehnt auf demente oder ungeborene Familienmitglieder sein kann, ob­ wohl sie nicht aktiv durch ihre je eigene Biographie dazu beitragen. Nur zusammen biographisch erwirkt zu sein, trifft zunächst auf viele, ja die aller­ meisten biographischen Züge des Lebens in solchen Filiationsverbänden zu. Diese Züge des Lebens sind biographisch komplex, d. h. vereinigen viele Biographien in der einer jeden Partizipierenden oder jedes Teilhabers daran. Denken wir z. B. an Schwangerschaften oder an Liebesverhältnisse, an Lernverhalten usw. usf. In diesem biographischen Feld gibt es demzufolge auch nur passive oder zugewachsene Züge signifikant geprägter Biographie, wie z. B. Attraktivsein oder Mächtigsein. Jemand hat viel Macht, weil sie ihm zugestanden wird oder zuwächst von anderen her. Das heißt also, ein bestimmtes Gepräge biographischen Lebens kann oft rein passiv zu­ kommen, muss nicht immer aktiv durch biographisches Engagement oder Vollzüge erwirkt sein, sondern kann auch nur passiv in den Biographien der Beteiligten seinen Niederschlag finden. 3. Die personale Lebensform im Zeichen der Stellvertretung Dass die personale Lebensform allgemein der biographischen Komponente des Le­ bens zuzuordnen ist (d. h. im weitesten Sinn verhaltenserwirkt, nicht einfach biolo­ gisch gegebene Form ist), liegt seinerseits an einer durchgängigen Formalität des biographischen Lebens in personalen Filiationsverbänden, die als unhintergehbar vorhanden passiv auf alle Mitglieder zutrifft, obwohl sie (die Formalität) nicht von allen biographisch aktiv realisiert werden muss. Die gemeinte Formalität setzt sich aus zwei Stücken zusammen: Das eine Stück ist die Tatsache, dass alle Mitglieder eines personalen Filiationsverbandes durch eine doppelte oder auf zwei Wegen erfolgende Identifizierbarkeit gekennzeichnet sind:

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Nämlich einmal auf dem Weg der deskriptiven Identifikation durch ihre Eigenschaf­ ten; zum anderen aber auch durch den einmaligen Platz oder Ort, den sie im System der Filiationsbeziehungen zwischen ihnen einnehmen. Diese zweite numerische Identifikation wird bei Menschen insbesondere durch den Namen markiert, der oft noch seine Herkunft aus der Filiation verrät: ‚der erste Sohn des Soundso‘ oder ‚die Tochter von der und der‘ usw. Das zweite Stück jener Formalität besteht darin, dass diese auf zwei Wegen mögli­ che Identifikation eine permanente, in allen Bereichen biographischen Lebens signi­ fikante Rolle im Verhalten der meisten Mitglieder spielt. Denken wir beispielsweise unter Kindern an die Wahl zweier Fußballmannschaften, die gegeneinander spielen sollen, wie wichtig es ist, in welcher Folge und an welche Stelle wer gewählt wird. Die Starken, Schnellen zuerst, die Sympathischen wenigstens nicht zuletzt usw. Ein aus­ geprägtes Bewusstsein der prinzipiellen Doppelidentität und damit zugleich Aus­ tauschbarkeit eines jeden (bei all den höchst unterschiedlichen Eigenschaften) an jedem Platz kennzeichnet durchgängig das biographische Verhalten eines jeden Teil­ nehmers (aber nicht Teilhabers6) an der beschriebenen Lebensform. In Filiations­ verbänden, wo man sich z. B. vorrangig durch den Geruch, also eine prominente Ei­ genschaft, identifiziert, könnte man sich das nicht vorstellen. D. h., es ist das hohe Maß an Aufmerksamkeit auf den Unterschied zwischen die­ sen beiden Identitäten eines jeden und die damit verbundene prinzipielle Austausch­ barkeit auf den Plätzen in den Beziehungssystemen, die sie einnehmen, was ein formales und für das gesamte biographische Leben hochsignifikantes Element in den betreffenden Filiationsverbänden von gemeinsamem Lebenserbe oder Lebenshypo­ thek darstellt, dem zugleich tatsächlich alle Mitglieder, sei es passiv (als Teilhaber) oder auch aktiv (als Teilnehmer), ausgesetzt sind. Dieses formale individualbiographische, aber zugleich universale Element nun­ mehr eben personalen Lebens oder personaler Filiationsverbände (das ganz unab­ hängig von der Spezieszugehörigkeit etwa zur Spezies ‚Mensch‘ ist, indem es auch in anderen Filiationsverbänden genauso und darum formal stattfinden könnte), dieses formale, biographisch universale Element möchte ich bezeichnen als Leben im Zeichen der Stellvertretung und eines möglichen Stellentauschs – Stellvertretung sowohl in aktiv erwirkendem als auch passiv zuwachsendem Sinn. Und ich möchte behaup­ ten, Leben im Zeichen der Stellvertretung und eines möglichen Stellentauschs sei immer das Leben von Personen. Es ist somit – nach dieser These – eine so konstitu­ ierte allgemeine Formalität des biographischen (nicht biologischen) Zusammenle­ bens aller, die macht, dass es sich um Personen handelt. Es scheint mir aber einigermaßen klar zu sein, dass Leben im Zeichen von Stellvertretung und möglichem Stellentausch nicht selbst wiederum eine ‚natürliche‘ oder 6  Denn es kann, wie schon gesagt, rein passive Teilhaber an der Lebensform geben, die kein Be­ wusstsein von der erklärten Doppelidentität haben und trotzdem dank der geteilten Lebensform im vollen und gleichen Sinne Personen sind.

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biologische Kategorie ist, sondern Plattform zu alledem, was wir als über Natur hin­ ausgehend erachten. Dennoch ist es, obwohl nicht natürlich, doch nicht schon eine ethische Kategorie oder so etwas wie eine aus der Natur entstammte ethische ‚Grund­ norm‘ menschlich personalen Lebens, der alle Menschen und sogar alle Personen unterlägen (es sei denn, man wollte das Wort ‚Ethos‘ hier in ursprünglicher Bedeu­ tung als normativ neutrale Weise des bloßen ‚Aufenthalts-im-Leben‘ verstehen, wie sie allen Menschen ab ovo zukommt). Dass es sich nicht um eine ethische Grundform oder Norm des Umgangs miteinan­ der handelt, erkennt man u. a. daran, dass die erste und nächstliegende Weise, wie das Leben im Zeichen der Stellvertretung und des möglichen Stellentauschs sich biogra­ phisch geltend macht, die ist, sein Eigeninteresse nicht nur zu haben und zu verfolgen, sondern zu vertreten, d. h. als eines zu verfolgen, das ich an meiner Stelle oder an mei­ nem Platz habe, der nur einer unter anderen Plätzen und daher mit prinzipieller Er­ setzbarkeit durch andere an meinem Platz behaftet ist. Es ist aber klar, dass dieses stellvertretende Schielen auf andere Plätze und die prinzipiell bestehende Ersetzbar­ keit an dem meinen bei der Verfolgung meines Eigeninteresses per se noch keine ge­ nuin ethische Qualifikation hat, sondern ebenso verwerfliche wie löbliche Strategien einschlagen kann. Es ist nichts Ethisch-Normatives am Grunde unseres Daseins, son­ dern, wie mir scheint, eine ontologisch ausgezeichnete Verfassung, nämlich eine Le­ benssituation mit einem besonderen, aber dennoch ubiquitär verbreiteten formalen Gepräge, das wir biographisch realisieren, sobald uns diese Situation auffällig wird. Die Formalität dieses ontologischen Grundmoments personaler Existenz kann nur stattfinden, wenn der Personen mehrere sind oder zumindest ursprünglich waren. Das besagte Zeichen der Stellvertretung und des möglichen Stellentauschs reicht im Prinzip so weit, so weit der abstrakte Unterschied zwischen den zwei Versionen von Identität des Lebendigen in derartigen Filiationsverbänden in den biographi­ schen Verhaltensweisen ihrer Mitglieder hinreichend deutlich und verbreitet zum Niederschlag kommt, und d. h. eben: Formen der Stellvertretung und des Schielens auf Ersetzbarkeit zeitigt. Da eine solche Lebensform ganz unabhängig von der Spezi­ es ‚Mensch‘ definiert ist, sind es womöglich nicht nur die Menschen, die im Zeichen der Stellvertretung und des möglichen Stellentauschs leben, sondern alle Personen überhaupt, d. h. alle lebendigen Individuen, die ihrerseits eine solche auf mögliche Stellvertretung abonnierte Formalität ihrer gemeinsam errichteten Lebensform an den Tag legen. Das kann unter Umständen schwer zu beurteilen sein, ob dies der Fall ist oder nicht. Es ist aber, zumindest nach der These, die ich verteidigen möchte, et­ was, das so ist oder nicht, d. h. ein ontologischer Sachverhalt besonderer und jeden­ falls nicht natürlicher Art. Solche Wesen, auch wenn sie nicht Menschen wären, ins Zeichen der Stellvertretung und des möglichen Stellentauschs eingebunden zu sehen, zöge noch keine ethische Verpflichtung nach sich. Vielmehr könnte es sein, dass man sich ihrer erwehren muss, wenn auch im Zeichen der Stellvertretung: Man müsste mit ihnen ganz anders rechnen als mit Tieren oder Maschinen. Denn sie sind auch anderes, nämlich Personen.

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IV. Die Person als notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung für die Einsetzung des Würdeaxioms Jedoch – und das bringt mich nun zurück zum Thema der Menschenwürde – ist ein gemeinsames Leben im Zeichen der Stellvertretung und des möglichen Stellentauschs anders gebaut und anders verfasst als ohne dieses Zeichen. Denn, wie gesagt, muss eine jede mit ihrer eigenen prinzipiellen Austauschbarkeit an dem Platz rechnen, von dem aus sie ihre Interessen formuliert und vertritt. Austauschbar nämlich immer mit solchen, die selbst andere Plätze im gemeinsamen Beziehungsgeflecht einnehmen. Deshalb ist ein solches Beziehungsgeflecht des gemeinsamen Lebens im Zeichen der Stellvertretung und des möglichen Stellentauschs dazu disponiert, bevorzugt solche Normen und ethische Grundsätze aufzustellen, die tendenziell als ‚gerecht‘, und sol­ che Normen und ethische Grundsätze zu revidieren, die tendenziell als ‚ungerecht‘ beurteilt oder empfunden werden. Diese aus der personalen Lebensform begünstigte Tendenz kann allerdings weder begründen, was im konkreten Fall als ‚gerecht‘ bzw. ‚ungerecht‘ beurteilt oder empfunden wird, noch kann sie ausschließen, dass nicht Personen dadurch als gebührlich empfundene Verhältnisse herbeiführen, dass sie andere Personen zum eigenen Vorteil systematisch ausbeuten oder zu dezimieren streben. Das bedeutet, die ontologische Verfassung des gemeinsamen Lebens im Zeichen der Stellvertretung und des möglichen Stellentauschs – als Personen – kann eine von ethischen Grundsätzen unabhängige Begründung für die Auswahl bestimmter Ty­ pen ethischer Grundsätze vor anderen an die Hand geben. Und im Gefolge dieser ethisch neutral prämierten Auswahlneigung wäre es folglich sinnvoll und rational zu behaupten, dass eine gute Begründung dafür, das Prinzip der Menschenwürde zum Axiom aller von uns bevorzugten Ethik und Normentheorie zu machen, darin be­ steht, dass die Menschen Personen sind und zwar alle. Würden wir hingegen dereinst bemerken, dass gewisse, nach all unserem Dafür­ halten lebendige Systeme zwar unter sich und mit uns im Zeichen der Stellvertretung und des möglichen Stellentauschs leben, aber so orientiert sind, dass sie z. B. auf sys­ tematische Verdrängung oder gar Ausrottung unserer Spezies aus sind oder auf un­ sere entpersonalisierende Manipulation zu ihrem eigenen Vorteil, dann, so meine ich, gäbe es für uns noch keinerlei ethische Verpflichtung, das Axiom der Menschen­ würde bei anderer Bezeichnung auch auf die Mitglieder dieser personalen Filiations­ verbände auszudehnen. Vielmehr – weil eben das Leben im Zeichen der Stellvertre­ tung – anders als zum Beispiel Levinas gemeint hat – noch gar keinen ethisch-nor­ mativen Charakter besitzt, sind wir auch nicht ethisch verpflichtet, das sicherlich ethische Axiom der Würde auf sie mehr als billig auszudehnen. Es führt also nach dem, was ich zu erklären versucht habe, kein unmittelbar ver­ bindlicher Weg von der ontologischen Verfassung zu ethischen Grundsätzen, son­ dern nur eine mittelbare Rechtfertigungschance. Wir stellen fest, es handelt sich um

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Personen. Aber wir merken auch, dass sie permanent dazu tendieren, andere Nor­ men und Regeln des Umgangs mit uns zu favorisieren, als wir, die wir auch Personen sind, für ‚gerecht‘ empfinden können. So hüteten wir uns besser, das Axiom der Wür­ de auf sie auszudehnen. Derart unterschiedlich in ihren basalen Interessen und nor­ mativer Grunddisposition könnten also verschiedene Filiationsverbände personaler Form getrimmt sein. Dies aber bedeutet nicht, dass auch menschliche Personen unter sich so verschie­ den sein können. Vielmehr hat sich herausgestellt, dass sie es nicht sind, obwohl bei sicherlich gleicher Ontologie nicht selten gewisse Gruppierungen von ihnen in frühe­ ren Zeiten dachten, die anderen Menschen seien Barbaren. Sie haben sich geirrt. Wenn wir nicht dächten, die Menschen früherer Zeiten, die kein Axiom der Men­ schenwürde kannten, hätten sich geirrt, wenn sie andere Menschen für würdelose Barbaren hielten – dann müssten wir glauben, wir wären heute allgemein ethisch anders disponiert als die Menschen früher, die es demnach womöglich auch noch gar nicht verdient hätten, den Würdestatus zu genießen. Allein, wo wäre da die Begrün­ dung, wo eine scharfe Grenzlinie für das Axiom der Würde? Es gibt uns also viel größere Bewegungsfreiheit und Manövrierfähigkeit, wenn wir die Ontologie der Person und den ethischen Grundsatz der Menschenwürde ausein­ anderhalten: Denn wir Menschen schreiten noch weiter fort in der Entwicklung un­ serer moralischen Ansichten und sehen heute, dass auch die Tiere es augenscheinlich besser finden, wenn sie geschont statt geschunden werden. Sollte man also nicht bes­ ser (und moralisch fortgeschrittener) das Axiom der Würde auch auf Tiere ausdeh­ nen, die es spüren, ungerecht und nach verächtlichen Normen behandelt zu werden? – Keineswegs! Vor diesem Fehler kann uns vielmehr die Ontologie der Person bewah­ ren: Tiere sind keine Personen; ihre Filiationsverbände leben nicht im Zeichen der Stellvertretung und des möglichen Stellentauschs; sie vertreten nicht ihre Interessen, sondern wir vertreten auch ihre Interessen. Aber das ist etwas anderes, solange das Lebenserbe oder die Hypothek, unter der die verschiedenen Tierarten leben, eine ganz andere und Personalität nicht unterstützende ist als die derer, die sie vertreten. Ein Tier zu vertreten ist etwas ganz anderes, als eine demente Person zu vertreten. Deshalb hüten wir uns auch hier mit vollem Recht, das Axiom der Menschenwürde unter anderem Namen auch auf Tiere auszudehnen.

V. Warum ist der Vermittlungsschritt über die Person philosophisch von Vorteil? Es verbinden sich also mehrere rationale Vorteile damit, eine trennscharfe und nicht ethisch-zirkuläre Begründung für die universale Zuerkennung von Menschenwürde und dementsprechenden Menschenrechten zu geben, die nicht im Verdacht steht, ein bestimmtes religiöses oder kulturelles Weltbild als ebenso verbindlich anzusehen wie den universalen Würde- und Rechtsanspruch aller Menschen ohne Ausnahme. Also

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weder einer Fokussierung auf die Spezies Mensch vor allen anderen bekannten und unbekannten Spezies das Wort zu reden, noch einem bestimmten humanistisch ge­ prägten Selbstverständnis allgemeine ethisch-politische Dominanz erteilen zu müs­ sen. Eine solche trennscharfe und nicht ethisch-zirkuläre Begründung sehe ich in der ontologischen Explikation der Tatsache, dass alle Menschen ohne Ausnahme Personen sind aufgrund einer gewissen sich automatisch einstellenden Form ihres gemein­ samen Lebens, deren Formalcharakter zugleich unabhängig von ihrem biologischen Menschsein expliziert zu werden vermag und deswegen auch auf ganz anderen le­ bendigen Spezies Platz greifen könnte. (1) Eine so explizierte Ontologie der Person kann erstens erklären, warum Würde, wenn überhaupt, dann prinzipiell allen Menschen zukommen muss, nicht nur de­ nen, die gewisse Kennzeichen ihrer Biographie aufweisen. (2) Zweitens macht die Ontologie der Person klar, warum die Würde den Men­ schen nicht als natürlichen Wesen, d. h. nicht im Wege eines bloßen Speziesismus zuzusprechen ist. Denn wenn es an den natürlichen Eigenschaften unserer Spezies liegt, dann könnte man mit gleicher Rationalität andere Arten von ‚Würde‘ für an­ dere Arten von Lebewesen einfordern: die spezifische Würde der Bienen, die spezi­ fische Würde der Delphine oder der Primaten etc. Aber die Frage der Würde ist eben wesentlich keine, die im Naturbegriff einer Sache liegen kann, sondern eine, die über das natürliche Dasein hinausgeht. (3) Kommt dem Menschen hingegen die Würde qua Person zu, dann knüpft sie drittens auf erklärbare Weise an etwas Nichtnatürliches an, das bei Zugrundelegung des Axioms der Menschenwürde nach unveräußerlichen Rechten verlangt, nicht nur, wie das Natürliche, nach guter Behandlung. (4) Schließlich viertens ermöglicht es der Zwischenschritt über die Ontologie der Person – weil diese selbst noch keine ethische Implikation besitzt –, hinreichend ra­ tionale Beweglichkeit in Bezug auf die Frage zu behalten, welche auf die personale Ontologie aufbauenden speziellen proto-ethischen Gegebenheiten es sind, die ein Würdeaxiom für Personen bestimmter Filiationsverbände rational unerlässlich ma­ chen, und welche anderen Gegebenheiten dies rational nicht ebenso folgerichtig er­ scheinen ließen. Argument Weil alle Menschen Personen sind, deren Dasein prinzipiell durch eine Form nicht-­ natürlichen Lebens im Zeichen der Stellvertretung und des möglichen Stellentauschs geprägt ist, das von sich her Normen der Gerechtigkeit begünstigt, deshalb ist das Axiom der Menschenwürde, wonach allen Menschen im Unterschied zu allen Nicht­ personen allein unantastbare Würde zukommt, in der Sache begründet und als das einzig vernünftige Axiom aller Ethik und normativen Ordnung unter uns Menschen anzuerkennen.

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Literaturverzeichnis Buchheim, Thomas, What are Persons? Reflections on a Relational Theory of Personhood, in: Jörg Noller (Hg.), Was sind und wie existieren Personen? Probleme und Perspektiven der gegenwärtigen Forschung, Paderborn: mentis 2019, 31–55. Buchheim, Thomas/Noller, Jörg, Sind wirklich und, wenn ja, warum sind alle Menschen Personen? Zu Robert Spaemanns philosophischer Bestimmung der Person, in: Josef Kreiml/ Michael Stickelbroeck (Hg.), Die Person – ihr Selbstsein und ihr Handeln. Zur Philosophie Robert Spaemanns, Regensburg: Verlag Friedrich Pustet 2016, 145–179. Levinas, Emmanuel, Autrement qu’être ou au-delà de l’essence, La Haye: Nijhoff 1974. Spaemann, Robert, Personen. Versuche über den Unterschied von „etwas“ und „jemand“, Stuttgart: Klett-Cotta 1996. Wittgenstein, Ludwig, Philosophische Untersuchungen, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1977.

Die Menschenwürde als anerkennungstheoretische Meta-Norm der Menschenrechte Markus Rothhaar I. Einleitung Der Weg, den der zeitgenössische Begriff der Menschenwürde durch das Dickicht von Philosophie und Recht genommen hat, gehört zu den vielleicht merkwürdigsten und verschlungensten Wegen, den die Geschichte der Rechtsphilosophie aufzubieten hat. Von seinen Anfängen bei Cicero1 und dem antiken Christentum2 bis Kant und darüber hinaus nämlich dient der Begriff in erster Linie dazu, zum Ausdruck zu bringen, dass Menschen aufgrund ihrer Vernunftnatur und der daraus resultieren­ den Freiheit bestimmte Pflichten gegen sich selbst haben. Zwar gibt es bei verschiede­ nen Autoren, nicht zuletzt bei Thomas von Aquin3, Ansätze, die Menschenwürde auch als einen Begriff zu verstehen, der Pflichten gegen andere impliziert; erst mit Kant erhält die Menschenwürde aber eine systematische Stellung, die sowohl für Pflichten gegen sich selbst als auch Pflichten gegen andere Relevanz besitzt. Selbst für Kant spielt die Menschenwürde allerdings keineswegs die fundierende Rolle, die ihr in vielen Rechtsdokumenten zukommt. Vielmehr bringt bei Kant der Begriff Menschenwürde gerade die fundierende Rolle eines anderen Konzepts, nämlich desjeni­ gen der Autonomie für die Moralphilosophie zum Ausdruck: Menschen kommt Würde zu, weil sie im anspruchsvollen, kantischen Sinn autonome Vernunftwesen sind.4 Dementsprechend ist es auch kaum verwunderlich, dass der Begriff der Men­ schenwürde in Kants Rechtsphilosophie, in der es primär um den Schutz vor äußerer Heteronomie geht, nicht einmal auftaucht5 – wenngleich man sicherlich zeigen 1  Zum Menschenwürdebegriff bei Cicero vgl. Rothhaar, Die Menschenwürde als Prinzip des Rechts, 104–114. 2  Zum Würdebegriff im antiken Rom und im frühen Christentum allgemein vgl. Pöschl, Der Begriff der Würde im antiken Rom und später. 3 Vgl. Rothhaar, Menschenwürde als Prinzip des Rechts, 124–136. 4  Insofern ist auch Oliver Sensen zuzustimmen, der betont, dass die verbreitete Meinung, wo­ nach Kant die Auffassung verträte, Vernunftwesen müssten geachtet werden, weil ihnen ein beson­ derer Wert namens „Würde“ zukomme, falsch sei. Sensen schreibt: „In Kant scholarship the reason why one should respect others is often thought to be that all human beings as such possess a value. I have argued that Kant does not have such a conception of value, and that his arguments rule out the possibility that value is the justification for the moral requirements Kant puts forward.“ Sensen, Kant on Human Dignity, 53. 5  Vgl. zu dieser Problematik von der Pfordten, Zur Würde des Menschen bei Kant, 11–47.

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kann, dass die Autonomie auch aus der kantischen Rechtslehre nicht als deren syste­ matische Grundlage weggedacht werden kann.6 Insgesamt bleibt die Menschenwürde in der Philosophie aber über die längste Zeit ein randständiger, oft bloß rhetori­ scher Begriff, der eher dazu dient, das Verhältnis von Vernunft und Pflicht zu ver­ deutlichen, nicht aber, es zu begründen. Erst im Laufe des 19. und dann vor allem im 20.  Jahrhundert taucht der Begriff der Menschenwürde zunehmend in Rechtsdokumenten auf.7 Bedeutsam für die philoso­ phische Einschätzung dieser Entwicklung ist dabei, dass der Menschenwürde­begriff nicht in irgendeinen beliebigen rechtlichen Begriff überführt wurde, sondern häufig den Rang eines zentralen und grundlegenden Begriffs erhalten hat. So setzt das deut­ sche Grundgesetz das Konzept der Menschenwürde in Gestalt des Art.  1 GG als oberstes Prinzip der gesamten Rechts- und Verfassungsordnung. Mit einem solchen Schritt steht das Grundgesetz freilich nicht alleine da, nimmt der Begriff doch seit der Nachkriegszeit in zahlreichen Verfassungen und internationalen Rechts­texten eine vergleichbare Position ein. Zu nennen wären hier neben dem Grundgesetz ins­ besondere die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 und die Grund­ rechte-Charta der Europäischen Union aus dem Jahr 2000. In allen drei Dokumen­ ten spielt der Begriff insofern eine hervorgehobene Rolle, als er jeweils deren ersten Artikel trägt und als Prinzip, Inbegriff oder Geltungsgrund der folgenden, konkrete­ ren Grund- bzw. Menschenrechte fungiert. Jedes der Dokumente stellt mithin eine enge Verknüpfung zwischen Menschenwürde und Menschen- bzw. Grundrechten her, die näher zu bestimmen sicher als eine der wichtigsten Herausforderungen für die rechtsphilosophische und rechtsdogmatische Befassung mit dem Menschenwür­ debegriff in unserer Zeit gelten kann. So tritt der Menschenwürdebegriff der Philosophie heute nicht mehr nur aus der eigenen Tradition, sondern zugleich immer auch von außen, d. h. aus dem Verfas­ sungs- und Völkerrecht, entgegen. Überhaupt wird man feststellen müssen, dass die vertiefte philosophische Beschäftigung mit dem Menschenwürdebegriff, die aktuell zu beobachten ist, ganz wesentlich auf Anstöße zurückzuführen ist, die die Philoso­ phie in den vergangenen Jahrzehnten von gesellschaftspolitischen und verfassungs­ rechtlichen Debatten her erhalten hat.8 Genau das stellt die Philosophie aber vor ein gravierendes methodisches Problem, wenn sie sich nicht nur mit der philosophischen Begriffsgeschichte von Cicero bis Kant, sondern auch und gerade in rechtsphiloso­ phischer Absicht mit dem zeitgenössischen Menschenwürdebegriff befassen möchte. Grundsätzlich scheinen nämlich angesichts der skizzierten Ausgangslage drei Heran­gehensweisen denkbar zu sein: Zum einen könnte der Philosoph eine der zahl­ reichen Menschenwürdekonzeptionen der Tradition herausgreifen und diese zum normativen Maßstab des rechtlichen Menschenwürdebegriffs machen. Das Problem 6 

Vgl. dazu Rothhaar, Menschenwürde als Prinzip des Rechts, 187–199. Eine gute Übersicht findet sich bei Tiedemann, Menschenwürde als Rechtsbegriff, 7–56. 8  Dazu gehören etwa die Debatten um den Schwangerschaftsabbruch, die verbrauchende Em­ bryonenforschung oder das Luftsicherheitsgesetz. 7 

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dabei wäre allerdings, dass damit die genuin rechtswissenschaftlichen Debatten ebenso sehr aus dem Blick gerieten, wie die Rechtswissenschaften eine solche Heran­ gehensweise als ihnen äußerlich zurückweisen könnten. Alternativ dazu könnte der Philosoph eine beliebige normative Theorie herausgreifen – in der Regel wird es die Theorie sein, die ihn ohnehin am meisten überzeugt – und diese zum Ausgangs­ punkt und Maßstab einer rechtsphilosophischen Menschenwürdekonzeption erklä­ ren. Auch dies könnte von den Rechtswissenschaften allerdings mit Fug und Recht als einseitig, äußerlich und vor allem willkürlich zurückgewiesen werden. Erfolgversprechender erscheint daher eine dritte Möglichkeit, die darin bestünde, zunächst die normativen Kernelemente des zeitgenössischen rechtlichen Menschen­ würdebegriffs herauszuarbeiten. Darauf aufbauend könnte dann gefragt werden, ob es eine philosophische Theorie gibt, die diese Kernelemente zu explizieren und zu fundieren vermag. Erweist sich das als durchführbar, könnten die Ergebnisse dieser Überlegungen im Sinn eines Überlegungsgleichgewichts wiederum herangezogen werden, um die existierenden rechtswissenschaftlichen Menschenwürdekonzeptio­ nen kritisch zu beleuchten und begrifflich zu klären. Der große Vorteil einer solchen Herangehensweise bestünde darin, dass ihre Resultate von den Rechtswissenschaf­ ten nicht als kontingent und äußerlich abgetan werden könnten. Ich möchte im Fol­ genden zeigen, dass eine Theorie der Anerkennung im Gefolge von Fichte und Hegel die damit formulierten methodischen Anforderungen an eine Konzeption erfüllt, die in der Lage ist, die Kernelemente des rechtlichen Menschenwürdebegriff ange­ messen zu rekonstruieren, zu begründen und zu klären. Im Anschluss daran sollen dann die wichtigsten normativen Implikationen dieses Ansatzes aufgezeigt werden.

II. Kernelemente des rechtlichen Menschenwürdebegriffs Stellt man die im vorigen Abschnitt skizzierte Frage nach den Kernelementen des rechtlichen Menschenwürdebegriffs, so fällt zunächst ins Auge, dass die Menschen­ würde in den meisten nationalen und internationalen Rechtsdokumenten in irgend­ einer Weise als Grund, Prinzip und/oder als eine Art Inbegriff der Menschenrechte verstanden wird. Besonders deutlich wird das im deutschen Grundgesetz, dessen Artikel  1 lautet: (1) Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt. (2) Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Men­ schenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerech­ tigkeit in der Welt.

Das darum des Absatzes (2) signalisiert deutlich, dass die Menschenwürde hier in einer noch näher zu bestimmenden Weise als Grundlage der Menschenrechte oder jedenfalls des Bekenntnisses zu den Menschenrechten angesehen wird: Weil die

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Würde des Menschen unantastbar ist und weil sie zu achten und zu schützen ist, deshalb bekennt das deutsche Volk sich zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten. Diese Aussage kann eigentlich kaum anders ausgelegt werden als dahingehend, dass die Menschenwürde etwas ist, das zum einen der Grund der Men­ schenrechte ist und dessen Schutz und Achtung zum anderen durch ebendiese Men­ schenrechte erfolgt. Die darin zum Ausdruck kommende Auffassung vom rechtlichen Status der Men­ schenwürdegarantie habe ich an anderer Stelle9 die prinzipialistische Auffassung der Menschenwürde genannt. Sie ist dadurch charakterisiert, dass die Menschen­ würde a. den Geltungsgrund, das Prinzip und/oder den Inbegriff der Menschenrechte bil­ det und b. auf der rechtspraktischen Ebene dadurch geschützt wird, dass die einzelnen Grund- bzw. Menschenrechte in ihrer Gesamtheit geschützt werden. Das Verhältnis von Menschenwürde und Menschenrechten lässt sich nach dieser prinzipialistischen Lesart dementsprechend, mit den Worten von Christoph Enders, knapp folgendermaßen beschreiben: „Der Schutz der Menschenwürde wird subjek­ tiv-rechtlich durch die Grundrechte gewährleistet.“10 Auch Christian Starck, der die prinzipialistische These dezidiert ablehnt, sieht sie dadurch charakterisiert, „dass der gesamte subjektiv-rechtliche Gehalt der Menschenwürde in den einzelnen Grund­ rechten eingefangen sei und zudem durch die Wesensgehaltsgarantie des Art.  19 Abs.  2 geschützt werde“.11 In ähnlicher Weise stellt die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der Ver­ einten Nationen von 1948 einen engen, wenngleich vageren Zusammenhang zwi­ schen Menschenwürde und Menschenrechten her, indem sie in Artikel  1 erklärt: Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geist der Brüderlichkeit begegnen.

Menschenwürde und Menschenrechte werden hier offenkundig als etwas betrachtet, das bis zu einem gewissen Grad deckungsgleich ist, zum einen insofern alle Men­ schen im Hinblick auf Würde und Rechte gleich sind und zum anderen insofern die Gleichheit an Würde und Rechten in der gleichen Vernunft- und Moralfähigkeit aller Menschen verankert wird. Vor diesem Hintergrund geht man sicherlich nicht fehl, wenn man als die Kernelemente des zeitgenössischen rechtlichen Menschenwürde­ begriffs die folgenden fünf Punkte identifiziert: 1.) Prinzipien- und Fundierungscharakter: Erstens kommt der Menschenwürde in praktisch allen Rechtstexten, in denen auf sie Bezug genommen wird, die Funktion eines Geltungsgrundes und/oder Prinzips der Grund- bzw. der Menschenrechte zu. 9 Vgl.

Rothhaar, Menschenwürde als Prinzip des Rechts, 32–101. Enders, Die Menschenwürde in der Verfassungsordnung, 503 f. 11  Starck, in: von Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art.  1 Abs.  1 GG, Rn.  28. 10 

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2.) Statusanzeige: Damit geht zweitens notwendigerweise einher, dass der Menschen­ würde die Funktion eines statusanzeigenden Begriffs im Hinblick auf die Menschen­ rechte zukommt: Wer immer Träger der Menschenwürde ist, dem kommen auch diejenigen grundlegenden Rechte zu, die man gemeinhin „Menschenrechte“ nennt. 3.) Grund im Menschsein: Drittens zeigt der Begriff der Menschenwürde an, dass die­ se Rechte an das Menschsein geknüpft werden, und zwar dergestalt, dass der Begriff der Menschenwürde zum Ausdruck bringt, dass einem Menschen jene Rechte aufgrund seines Menschseins zukommen. Offen muss an dieser Stelle allerdings noch bleiben, ob Menschsein dabei im Sinn einer Zugehörigkeit zur biologischen Spezies Mensch zu verstehen ist, oder ob die Zuerkennung von Menschenwürde und Men­ schenrechten an spezifische Eigenschaften geknüpft ist, die Menschen zwar üblicher­ weise zumindest zeitweise zukommen, die aber nicht notwendig mit der Spezies­ zugehörigkeit verbunden sind, wie etwa empirisch feststellbares Selbstbewusstsein, Leidensfähigkeit oder Kommunikationsfähigkeit. Wäre die zweite Alternative der Fall, so würde sich nicht nur die Perspektive eröffnen, auch andere Lebewesen in den Kreis der Menschenwürde- und Menschenrechtsträger einzubeziehen, sondern es könnten auch menschliche Lebewesen, die diese Eigenschaften nicht, noch nicht oder nicht mehr aufweisen, aus diesem Kreis ausgeschlossen werden, es sei denn, man würde diesen Ausschluss mit Zusatzargumenten wie dem Potentialitäts- oder dem Identitätsargument wieder auffangen. 4.) Universalität: Unabhängig davon, welche Alternative befürwortet wird, führt die Bindung der Trägerschaft von Würde und Rechten an ein wie immer näher gefasstes Menschsein zu einem bereits in der Einleitung explizierten Charakteristikum der Menschenwürde, nämlich ihrer Universalität. Gleich wie man das „Menschsein im moralisch und rechtlich relevanten Sinn“ nämlich näher bestimmt, ist die Menschen­ würde doch so gedacht, dass sie – und damit auch die grundlegendsten Menschen­ rechte – jedem Menschen epochen-, staats- und kulturunabhängig zukommt, eben weil sie ihm aufgrund von etwas zukommen soll, das allen diesen Menschen intrin­ sisch eignet. Eine Theorie, die eine solche Universalität nicht kennt, kann alleine da­ rum schon keine Theorie der Menschenwürde sein. Wenn die Menschenwürde ihren Trägern aufgrund von etwas zukommt, das ihnen allen gemeinsam ist, so bedeutet das weiterhin, dass normative Forderungen, die an den Begriff der Menschenwürde geknüpft sind, für alle Träger der Menschenwürde gleichermaßen gelten. Daher schließt die Menschenwürde hinsichtlich der aus ihr folgenden Normen eine Un­ gleichbehandlung aufgrund spezifischerer Charakteristika wie Rasse, Religionszu­ gehörigkeit, Geschlecht etc. aus. Es kann daher nur eine solche normative Theorie, in der allen Menschenwürdeträgern dieselben Rechte zukommen bzw. in der gegenüber allen Menschenwürdeträgern dieselben Pflichten gelten, überhaupt eine Theorie der Menschenwürde sein.

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5.) Individuen als Träger: Die Menschenwürde stellt das menschliche Individuum in den Mittelpunkt der normativen Theoriebildung und bezieht diejenigen Rechte oder Pflichten, die mit dem Menschenwürdetheorem verknüpft sind, auf dieses. Andere, insbesondere kollektive Entitäten, also beispielsweise religiös oder ethnisch be­ stimmte Gruppen, kommen damit nicht als Träger der Menschenwürde in Frage. Diese zentrale Stellung des Individuums ist aufs engste mit Punkt 4.) verknüpft, wo­ nach hinsichtlich aller Träger der Menschenwürde dieselben normativen Maßstäbe gelten. Gerade innerhalb der deutschen Verfassungsrechtsdogmatik tritt zu diesen fünf Punkten noch ein sechster hinzu: die Menschenwürde als eine absolute deontologi­ sche Schranke oder Grenze der (konsequentialistischen) Abwägbarkeit von Rechten gegeneinander. Diese Rolle, eine Schranke der Abwägbarkeit zu bilden, wird inner­ halb der deutschen Debatte üblicherweise aus der Formulierung des Art.  1 Abs.  1 GG hergeleitet: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“. Den zugrundeliegenden Ge­ danken bringt etwa Höfling prägnant zum Ausdruck, wenn er schreibt: Mit der Unantastbarkeitsformel entzieht die Verfassung die Menschenwürdegarantie dem grundrechtlichen Abwägungsprozess. […] Die Garantie der Menschenwürde unterliegt also keinerlei Beschränkungsmöglichkeiten; die sachliche Reichweite des Tatbestandes markiert zugleich die Verletzungsgrenze.12

Von der herrschenden Meinung der deutschen Verfassungsrechtsdogmatik wird die Menschenwürdegarantie auf der Grundlage der Formulierung des Art.  1 Abs 1 GG dementsprechend heute meist als eine Art spezielles Grundrecht neben und über den Grundrechten verstanden, für das gilt, dass es a. einen subjektiv-rechtlichen Anspruch begründet, der einen eigenen Schutzbereich aufweist, welcher von dem Schutzbereich unterscheidbar ist, der durch die Ge­ samtheit der Grund- bzw. Menschenrechte gewährleistet wird, b. nicht ein auf die sonstigen Grundrechte bezogenes Meta-Recht (z. B. im Sinn von Hannah Arendts „Recht auf Rechte“) bildet, sondern mit diesen auf derselben lo­ gisch-normativen Ebene steht, dass sie aber c. ein subjektives Recht darstellt, das neben oder über den weiteren Grundrechten steht und daher im Fall einer Rechtekollision jedes andere Grundrecht „über­ trumpft“. Ein Beispiel für eine solche „spezifisch-rechtliche“ Auffassung der Menschenwürde findet sich etwa bei Werner Heun in Abgrenzung zum Recht auf Leben und kör­ perliche Unversehrtheit, wenn er schreibt: „Die beiden auch in unterschiedlichen Normen verankerten Grundrechte müssen entkoppelt werden. Schon die systemati­ sche Überlegung, dass Art.  2 Abs.  2 Satz  1 GG unter einfachem Gesetzesvorbehalt steht, beweist, dass zwischen unantastbarer Menschenwürde und einschränkbarem Lebensrecht ein gravierender Unterschied besteht, der eine untrennbare Verknüp­ 12 

Höfling, in: Sachs (Hg.), GG, Art. Rn.  11.

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fung geradezu verbietet. Beides sind selbständige, unabhängig voneinander beste­ hende Grundrechte.“13 In einem ganz ähnlichen Sinn führt der Verfassungsrechtler Wolfram Höfling aus: Die Menschenwürde ist unantastbar, in das Schutzgut ‚Leben‘ kann aufgrund des Gesetzes­ vorbehalts des Art.  2 II 3 GG durchaus eingegriffen werden. […] Ein Eingriff in das Schutzgut ‚Leben‘ indiziert deshalb keineswegs […] eine Menschenwürdeverletzung.14

Die Unantastbarkeit oder Unverfügbarkeit der Menschenwürde wird hier also in dem Sinn verstanden, dass die Menschenwürdegarantie eine Art spezielles subjekti­ ves Recht darstelle, das im Gegensatz zu allen anderen Grund- bzw. Menschenrech­ ten unabwägbar sei. Das impliziert die aus rechtsphilosophischer und ethischer Sicht hochproblematische Annahme, dass alle anderen Grund- bzw. Menschenrechte, auch so hochrangige Rechte wie das Recht auf Leben und körperliche Unversehrt­ heit, in einem letztlich konsquentialistischen Sinn abwägbar seien. Zwar ist richtig, dass Gerichte sich üblicherweise nicht direkt auf die Menschenwürde beziehen, son­ dern zumeist auf die Menschenwürde in Verbindung mit irgendeinem anderen Grundrecht. Das ändert aber nichts daran, dass die Auffassung, es gebe Handlungen, die die Menschenwürde als solche verletzten, impliziert, dass die Tatbestandsmerk­ male dieser Klasse von Handlungen sich von denen der bloßen Menschenrechtsver­ letzungen unterscheiden. Tatsächlich wird in der Verfassungsrechtsdogmatik meist die Auffassung vertreten, dass eine Menschenwürdeverletzung erst dann vorliegt, wenn eine Grund- oder Menschenrechtsverletzung einen bestimmten Charakter an­ nimmt, der dem Tatbestand der Rechtsverletzung gewissermaßen ein weiteres Tatbe­ standsmerkmal hinzufügt. Die wichtigsten und am meisten diskutierten Kandidaten für dieses zusätzliche Tatbestandsmerkmal sind dabei die von Günter Dürig15 in die Debatte eingeführte „Instrumentalisierung“ und die neuerdings immer wieder ins Spiel gebrachte „Erniedrigung“16. Die gesamte Diskussion um die Unantastbarkeit der Menschenwürde scheint auf den ersten Blick eine deutsche Eigentümlichkeit zu sein. Zum einen, weil nur die deutsche Verfassungsrechtsdogmatik den Gedanken entwickelt hat, die Unantastbarkeit des obersten Verfassungsgrundsatzes tatsächlich für die Rechtspraxis im Sinn einer bestimmten Norm auszulegen und zu operationalisieren. Zum anderen, weil die Frage nach der unbedingten Geltung bestimmter Normen – eine alte Frage der Ethik und der Rechtsphilosophie – im internationalen Kontext selten unter dem Stichwort der Menschenwürde diskutiert wird. Vielmehr wird sie dort unter Stich­ worten wie Deontologie vs. Konsequentialismus, moral absolutism etc. diskutiert. 13 

Heun, Humangenetik und Menschenwürde, 197–211, hier: 199. Höfling, Die Abtreibungsproblematik und das Grundrecht auf Leben, 119 –144, hier: 126. 15 Vgl. Dürig, in: Maunz/Dürig (Hg.), GG, Art.  1 Rn.  1–58. 16  Der Versuch, die Menschenwürdegarantie als Verbot der Erniedrigung aufzufassen, geht zu­ rück auf Margalit, Politik der Würde. Für eine Kritik dieses Ansatzes vgl. Horn, Die verletzbare und die unverletzbare Würde des Menschen, 30–41. 14 

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Angesichts dessen könnte der Eindruck entstehen, dass dieses sechste Kernelement des rechtlichen Menschenwürdebegriffs, die Auffassung der Menschenwürdegarantie als einer deontologischen Schranke der Abwägbarkeit von Rechten gegeneinander, eine deutsche Idiosynkrasie darstellt, die sich kontingenterweise aus der Formulie­ rung des Art.  1 Abs.  1 GG ergeben hat, philosophisch aber nicht mit den übrigen Kern­elementen unter einen konsistenten Begriff zu bringen ist. Als unbegründet wür­ de dieser Verdacht sich umgekehrt genau dann erweisen, wenn es gelänge, die ver­ meintlich äußerliche und kontingente Verknüpfung der Kernelemente des rechtlichen Menschenwürdebegriffs tatsächlich aus einer rechtsphilosophischen Theorie zu ent­ wickeln. Das wiederum wäre genau dann der Fall, wenn gezeigt werden könnte, dass die im zeitgenössischen Recht identifizierten Kernelemente und Funktionen des Men­ schenwürdebegriffs zum einen in einem nichtkontingenten wechselseitigen Implika­ tionsverhältnis stehen und sich zum anderen aus den das Recht grundlegenden Be­ griffen herleiten lassen. Insbesondere müsste gezeigt werden, dass das Moment der Unantastbarkeit von bestimmten Rechten und Rechtspflichten, das im zeitgenössi­ schen deutschen Recht mit dem Menschenwürdebegriff verknüpft ist, in der Konzep­ tion der Trägerschaft von Rechten selbst, die im zeitgenössischen Rechtsdenken vor­ rangig mit dem Menschenwürdebegriff verknüpft ist, bereits impliziert ist. Es müsste sich mithin zeigen lassen, dass die Konzeption der Rechtssubjektivität gar nicht sinn­ voll gedacht werden kann, wenn nicht zugleich die Unantastbarkeit und Unabwäg­ barkeit zumindest einiger Rechte mitgedacht wird. Gelingt dies, so wäre damit die scheinbar äußerliche und kontingente Voraussetzung einer im zeitgenössischen Rechtsdenken einfach vorfindbaren Verknüpfung beider Elemente theoretisch einge­ holt und verlöre so ihren äußerlich-kontingenten Charakter. Im Folgenden will ich nun zeigen, dass eine rechtsphilosophische Anerkennungstheorie in Anknüpfung an Fichte und Hegel genau das zu leisten vermag. Ausgehend davon lässt sich dann der normative Gehalt der Menschenwürdegarantie genauer bestimmen.

III. Fichtes Theorie der wechselseitigen Anerkennung als Rechtssubjekt Wie zu zeigen sein wird, liegt der Schlüssel für eine Theorie, bei der dasselbe philoso­ phische Prinzip, das die Menschenrechte überhaupt begründet, identisch mit dem­ jenigen Grund ist, dessentwegen einige dieser Menschenrechte unbedingte, unab­ wägbare Geltung besitzen, im Prinzip der wechselseitigen Anerkennung17 von freien Vernunftwesen als Rechtssubjekten. Dieses Theorem der Anerkennung wurde erst­ mals von Johann Gottlieb Fichte in seinen Grundlagen des Naturrechts nach Principien der Wissenschaftslehre formuliert, die bereits 1796, also noch ein Jahr vor Kants Rechtslehre, erschienen sind. 17  Für einen nicht nur philosophiegeschichtlichen, sondern auch systematischen Überblick vgl. Wildt, Autonomie und Anerkennung.

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Kennzeichnend für Fichtes Ansatz ist der Umstand, dass er bereits die Konstitution von individuellem Selbstbewusstsein als intersubjektiven Prozess denkt. Als indivi­ duelles und endliches Ich kann sich ein Wesen, das wesentlich Bewusstsein seiner selbst ist, so Fichte, nur erfahren, indem es sich als freies erfährt. Um sich als frei er­ fahren zu können, bedarf es aber – nach Fichtes transzendentalphilosophischer Ana­ lyse des Begriffs eines endlichen Ich – einer Aufforderung zur Freiheit durch ein ande­ res freies, selbstbewusstes Ich. Da es den Rahmen des vorliegenden Beitrags sprengen würde, den Gedankengang Fichtes im Detail nachzuzeichnen, sei an dieser Stelle le­ diglich eine grob verkürzende Skizze gegeben18. Demnach besteht der Grund dafür, dass die endliche Subjektivität zu ihrer Genese einer Aufforderung zur Freiheit durch ein anderes Subjekt bedarf, letztlich darin, dass das endliche Subjekt nicht zugleich als Subjekt praktisch frei sein und seine eigene Freiheit als Objekt theoretisch denken kann. Denn Selbstbewusstsein ist gerade dadurch gekennzeichnet, dass dasjenige, was sich auf sich bezieht, identisch mit demjenigen ist, worauf es sich bezieht – an­ dernfalls hätten wir es nicht mit einem Bewusstsein seiner selbst zu tun. In dem Mo­ ment, in dem ein Subjekt dasjenige, worauf es sich bezieht, konkret seine eigene Frei­ heit, aber als ein Objekt denken würde, würde ebendiese die Einheit von Subjektivität und Objektivität wieder auseinanderfallen; das Subjekt sich auf ein anderes als es selbst beziehen. Das einzelne Subjekt kann sich daher nicht selbst objektivieren, ohne sich als Subjekt zu verfehlen; es muss sich aber objektivieren, da es sonst nichts gäbe, worauf der Selbstbezug Bezug wäre. Es muss daher zunächst durch ein anderes Sub­ jekt als frei gedacht oder entworfen werden – nichts anderes meint der Begriff der Aufforderung –, um sich als frei erfahren zu können, ohne die eigene Freiheit sofort wieder durch eine Objektivierung zu vernichten. Nur und erst vermittelt über die Ob­ jektivierung der eigenen freien Subjektivität, die ein anderes Subjekt vornimmt, kann das individuelle endliche Subjekt sich insofern auf sich als Objekt beziehen, ohne dass darüber der für die Subjektivität konstitutive Selbstbezug verlorenginge. Da eine Aufforderung zur Freiheit aber auf Seiten der auffordernden Instanz eine freiwillige Rücknahme der eigenen Freiheit voraussetzt, kann die Aufforderung nur ihrerseits von einem freien Subjekt ausgesprochen worden sein. Damit ist sich das jeweilige Subjekt im Moment der Konstitution seiner selbst als Subjekt daher immer schon zugleich der Existenz anderer individueller Subjekte bewusst: anderer Subjek­ te, die es einerseits als von ihm unterschieden erfährt, die es andererseits aber auch insofern als gleiche betrachten muss, als sie ebenfalls ihrer selbst bewusst und frei sind. Das Bewusstsein der eigenen Freiheit und Subjekthaftigkeit ist für Fichte daher gleichursprünglich immer auch das Bewusstsein der Freiheit und Subjekthaftigkeit der anderen. Er bringt das pointiert zum Ausdruck, wenn er schreibt: Der Mensch (so alle endlichen Wesen überhaupt) wird nur unter Menschen ein Mensch; und da er gar nichts anderes seyn kann denn ein Mensch, und gar nicht seyn würde, wenn er dies 18  Vgl. zum folgenden Fichte, Grundlage des Naturrechts nach Principien der Wissenschafts­ lehre, 329–348.

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nicht wäre – sollen überhaupt Menschen seyn, so müssen mehrere seyn. Dies ist nicht eine willkürlich angenommene, auf die bisherige Erfahrung oder auf andere Wahrscheinlichkeits­ gründe aufgebaute Meinung, sondern es ist eine aus dem Begriff des Menschen streng zu er­ weisende Wahrheit. Sobald man diesen Begriff vollkommen bestimmt, wird man von dem Denken eines einzelnen aus getrieben zur Annahme eines zweiten, um den ersten erklären zu können. Der Begriff des Menschen ist sonach gar nicht der Begriff eines Einzelnen, denn ein solcher ist undenkbar, sondern der einer Gattung.19

Da sodann nicht alle freien Wesen gleichzeitig in unbegrenztem Maß frei sein kön­ nen, ist mit der Existenz anderer freier Wesen als man selbst zugleich die Einge­ schränktheit der eigenen Freiheit und der Freiheit aller anderen endlichen, vernünf­ tigen Subjekte immer schon mitgesetzt20. Insofern nämlich die Freiheit der anderen die Voraussetzung für die Konstitution meiner selbst als freiem selbstbewusstem Individuum ist, kann ich auch meine eigene Freiheit von vorneherein je nur als ein­ geschränkte Freiheit denken, da ich sonst die Freiheit der anderen nicht denken könnte, die die Voraussetzung meiner Freiheit und demnach auch meiner Existenz als Subjekt überhaupt ist. Freiheit ist daher immer nur als eingeschränkt durch die Freiheit der anderen überhaupt denkbar, die ihrerseits nur als eingeschränkt durch meine Freiheit denkbar ist. Indem die endlichen Subjekte sich dieser Reflexionsbewe­ gung bewusst werden, ergibt sich an sie schließlich die Forderung, ihre Beziehungen untereinander in die Form des Rechts zu bringen, d. h. in ein System praktischer Regeln, das so gestaltet ist, dass es jedem Rechtssubjekt eine gleiche Sphäre von im Hinblick auf die Freiheitssphären aller anderen Rechtssubjekte eingeschränkter Frei­ heit zuerkennt.21 Eine andere Person als Rechtssubjekt anzuerkennen, bedeutet demnach, sie als ein Wesen anzuerkennen, das von jedem anderen Rechtssubjekt beanspruchen kann, ihm eine exklusive Sphäre der Ausübung seiner Freiheit zuzugestehen: eine Sphäre also, von der es die Freiheitsausübung jedes anderen Subjekts legitimerweise aus­ schließen darf. Das bedeutet nicht zuletzt, dass nicht Güter der Gegenstand von Rechten sind, sondern die Unverfügbarkeit der je eigenen legitimen Freiheitssphäre jedes Subjekts für alle anderen Subjekte. Diese Unverfügbarkeit ist der eigentliche normative Gehalt der Anerkennungsbeziehung. Es ist unschwer zu erkennen, dass genau diese Konstellation der wechselseitigen Anerkennung von endlichen Subjek­ ten als Träger grundlegender Menschenrechte dasjenige „Prinzip der Menschenrech­ te“ ist, die die meisten modernen Verfassungen – so auch das deutsche Grundgesetz  – mit dem Begriff der „Menschenwürde“ umschreiben. Auch geistesgeschichtlich lässt sich dieser Zusammenhang leicht aufweisen, knüpft Fichte in seiner anerkennungs­ 19 

A. a. O., 347. Vgl. a. a. O., 361–365. 21  Noch Hegel legt diesen Gedanken Fichtes praktisch unverändert dem „Abstrakten Recht“ zugrunde, wenn er als dessen Prinzip benennt: „Sei eine Person und respektiere die anderen als Personen.“ Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse, 95. 20 

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theoretischen Grundlegung des Rechts doch avant la lettre offenkundig an dasjenige an, was Kant in seiner Rechtslehre dann die „Rechtsidee“ nennt. Fichtes Ansatz hat so den Vorzug, das Bewusstsein der Existenz fremder Autono­ mie mit der normativen Forderung nach einer Achtung der Freiheit des anderen zu verschränken und so das Verallgemeinerungsprinzip auf eine Grundlage zu stellen, die bei Kant noch nicht in den Blick kommt: Die Gleichursprünglichkeit des Be­ wusstseins der eigenen Subjektivität und der Subjektivität der anderen ist es – so Fichtes zentraler Gedanke – die sich auf der normativen Ebene in die Forderung übersetzt, sich im praktischen Verhältnis zu den anderen an den Prinzipien der Frei­ heit, Gleichheit und Allgemeinheit auszurichten. Der Kernbestand der abgegrenzten und endlichen Freiheitssphäre jedes einzelnen Subjekts besteht nun, folgt man Fichtes Überlegungen bis an diese Stelle, in der Un­ verfügbarkeit der je eigenen Leiblichkeit für den Zugriff durch andere Subjekte. Fich­ te selbst spricht in diesem Zusammenhang bereits von einem „Urrecht“, das allen weiteren Rechten zugrunde liege. Es weist zwei Momente auf: nämlich das „Recht auf die Fortdauer der absoluten Freiheit und Unantastbarkeit des Leibes [gegen den Zu­ griff anderer, d. h. in der abwehrrechtlichen Dimension – d. Verf.]“22 und das „Recht auf die Fortdauer unseres freien Einflusses in die gesammte Sinnenwelt“.23 In dieser doppelten Ausformung als abwehrrechtlich gefasstes Recht auf Leben und körperli­ che Unversehrtheit einerseits und als Recht auf eine je eigene Sphäre der Handlungs­ freiheit andererseits stellt das „Urrecht“ mithin die erste und vorrangige Konkretion des Anerkennungs- und folglich des Menschenwürdeprinzips dar. Das „Urrecht“ nämlich kann anders als manche andere Rechte nicht aufgehoben oder einschränkt werden, ohne dass dadurch das Anerkennungsprinzip selbst negiert würde. Der anerkennungstheoretisch rekonstruierte Menschenwürdegrundsatz erweist sich somit als etwas, das einerseits den Grund und das Prinzip aller Rechte bildet, das aber zugleich auch der Grund dafür ist, dass derjenige Kernbestand von Menschen­ rechten, der durch das „Urrecht“ umschrieben ist, jeder Einschränkbarkeit und jeg­ lichem konsequentialistischen Abwägungskalkül entzogen ist. Und damit wären, wenn dieser Ansatz richtig wäre, wiederum genau die beiden wesentlichen Funktio­ nen rechtsphilosophisch einholbar geworden, die dem Menschenwürdegrundsatz in deutschen und internationalen Rechtsdokumenten zukommen: Prinzip der Men­ schenrechte zu sein und zugleich die Grenze der Abwägbarkeit von Menschenrechten gegeneinander anzugeben. Was das bedeutet, soll im abschließenden Abschnitt dar­ gelegt werden.

22 

A. a. O., 409.

23 Ebd.

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IV. Menschenwürde als Rechtsprinzip und als Abwägungsschranke In Fichtes Rechtsphilosophie bildet die wechselseitige Anerkennung der endlichen Subjekte als Träger von Rechten die Grundlage des Rechts schlechthin. Kennzeich­ nend für diesen Ansatz ist, dass der Gedanke der endlichen Subjektivität überhaupt nicht gedacht werden kann, ohne jedes solche endliche Subjekt als einen Träger von Rechten zu denken. Subjektivität und Rechtlichkeit sind mithin denknotwendig mit­ einander verknüpft. Dass eine solche denknotwendige Verknüpfung besteht, heißt zwar nicht, dass jedes Subjekt faktisch alle anderen Subjekte als Träger von Rechten anerkennt. Sie bedeutet aber, dass demjenigen, der solche Anerkennung verweigert, durch eine transzendentalphilosophische Reflexion auf die Bedingungen der Mög­ lichkeit seiner eigenen Subjekthaftigkeit die Notwendigkeit aufgezeigt werden, den Anderen als einen Träger von Rechten anzuerkennen24 . Das Anerkennungsprinzip bildet dementsprechend nichts weniger als das Prinzip und den Geltungsgrund grundlegender subjektiver Menschenrechte. Es erfüllt damit das erste der Kriterien, die weiter oben anhand der Kernelemente des rechtlichen Menschenwürdebegriffs für eine valide rechtsphilosophische Theorie der Menschenwürde formuliert wurden. Ebenso erfüllt es das Kriterium, ein statusanzeigender Begriff zu sein: Wer immer Subjekt ist, dem kommt genau darum auch der Status eines Trägers subjektiver Rech­ te zu. In dieser Hinsicht impliziert das Anerkennungsprinzip auch bereits jene Universalität, die als viertes Kernelement des zeitgenössischen rechtlichen Menschen­ würdebegriffs herausgearbeitet wurde. Sofern das Anerkennungsprinzip an der Sub­ jektivität festgemacht ist, sind des Weiteren notwendigerweise nicht Gruppen oder Kollektive sein Referenzpunkt, sondern Individuen, da Gruppen oder Kollektiven ein psychisches Innenleben abgeht, das wiederum die notwendige Voraussetzung der Subjektivität wäre. Schließlich bezieht sich das Anerkennungsprinzip auf etwas, das Menschen als Menschen kennzeichnet, nämlich die Fähigkeit, Subjektivität bzw. Selbstbewusstsein auszubilden. Aus diesen Überlegungen lässt sich sodann auch ein erster Ansatzpunkt für die Beantwortung der Frage herausarbeiten, ob und wenn ja in welchem Sinn die Men­ schenwürde nicht nur mittelbar durch eine Verletzung eines einzelnen Menschen­ rechts, sondern auch direkt verletzt werden könnte. Wenn es nämlich richtig ist, dass der rechtliche Menschenwürdebegriff als das Prinzip der wechselseitigen Anerken­ nung als Träger von Rechten rekonstruierbar ist, dann würde die Menschenwürde genau dann unmittelbar verletzt, wenn einem Menschen oder einer Gruppe von Menschen generell abgesprochen würde, überhaupt Träger von grundlegenden sub­ jektiven Rechten sein zu können. Hannah Arendt hat demnach durchaus den richti­ gen Punkt getroffen, wenn sie den normativen Status des Menschenwürdegrundsat­ zes als den eines „Rechts auf Rechte“ bestimmt. Arendt hatte den Gedanken eines 24  In diesem Sinn ist eine Anerkennungstheorie im Sinn Fichtes eine kognitivistische normative Theorie.

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solchen „Rechts auf Rechte“ allerdings für problematisch gehalten, da es ihr unklar erschien, wie ein Anspruch auf die Anerkennung als Träger von Rechten selbst den Charakter eines „Rechts“ haben könne.25 Wie sich gezeigt hat, ist der Gedanke eines „Rechts auf Rechte“ aber keineswegs so problematisch und unklar, sobald man dieses Recht auf die Bewegung der wechsel­ seitigen transzendentalen Anerkennung von Subjekten als Rechtssubjekte gründet. Dann ist es so, dass die Anerkennungsbewegung den Begriff eines „Rechts“ erst her­ vorbringt und verständlich macht. Dabei zeigt sich dann, dass der Begriff eines „Rechts“ selbst bereits auf einem vorstaatlichen und überpositiven Anspruch auf die Anerkennung als Träger von Rechten gegründet ist und ohne die Zugrundelegung eines solchen Anspruchs gar nicht sinnvoll gedacht werden kann. Was Hannah Arendt für tendenziell aporetisch gehalten hatte, ist dementsprechend keineswegs eine Aporie, sondern die implizite Grundstruktur des Begriffs eines „Rechts“. Die Verweigerung des „Rechts auf Rechte“ stellt insofern eine Verletzung der Menschen­ würde als solcher dar. Damit ist zugleich eine Dimension aufgezeigt, in der die Men­ schenwürdegarantie eine absolute deontologische Schranke in das Recht einführt: einem Subjekt zu verweigern, überhaupt als Träger von Rechten anerkannt zu wer­ den, verstößt gegen die Konstitutionsbedingungen des Rechts selbst und kann damit für eine Rechtsordnung prinzipiell keinen Bestand haben. Es gibt aber, wie im Folgenden gezeigt werden soll, auch noch eine zweite, weniger formale Dimension, nach der die Menschenwürde als eine absolute deontologische Schranke innerhalb des Rechts verstanden werden kann. Diese Problematik führt uns zu der im zweiten Abschnitt dieses Aufsatzes entwickelten Frage zurück, ob die Annahme einer deontologischen Schrankenfunktion der Menschenwürdegarantie gegenüber der konsequentialistischen Abwägung von Rechten gegeneinander eine Idiosynkrasie der deutschen Verfassungsrechtsdogmatik bildet, oder sich die Prin­ zipien- und die Schrankenfunktion der Menschenwürde aus einem gemeinsamen Grund heraus verstehen lassen. In der „herrschenden Meinung“ der deutschen Ver­ fassungsrechtsdogmatik wird, wie wir gesehen haben, der Charakter der Menschen­ würde, eine absolute Grenze der Antastbarkeit von Rechten zu bilden, meist dahin­ gehend expliziert, dass die Menschwürde als eine Art spezifisches Recht, meist auf „Nicht-Instrumentalisierung“ oder „Nicht-Erniedrigung“ aufgefasst wird. Der Ansatz beim Anerkennungsprinzip eröffnet demgegenüber im Rekurs auf den Gedanken des „Urrechts“ eine andere Möglichkeit, die Funktion einer absoluten, ­gegen jede Abwägung resistenten Grenze der Einschränkbarkeit von Rechten zu ­explizieren. Wie gesehen, geht das bei Fichte so genannte „Urrecht“ auf Leben, Un­ versehrtheit und auf die Einräumung einer Freiheitssphäre überhaupt aus der Bewe­ gung der wechselseitigen Anerkennung unmittelbar hervor. Alle weiteren Frei­heitsund Teilhaberechte lassen sich demgegenüber zwar auf das „Urrecht“ zurückbeziehen, es kann hier aber nicht rein deduktiv vorgegangen werden, so dass sich genuin poli­ 25 Vgl.

Arendt, Elemente und Ursprünge totalitärer Herrschaft, 260–264.

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tisch-deliberative Gestaltungsräume eröffnen. Allerdings müssen alle politischen Gestaltungen wiederum sowohl den Schranken genügen, die das „Urrecht“ impli­ ziert, wie sie auch zweitens dem Grundsatz genügen müssen, dass jede Freiheitsein­ schränkung nur nach allgemeinen – d. h. für alle Glieder der Rechtsgemeinschaft gleichermaßen gültigen – Gesetzen erfolgen und drittens nicht über das Maß dessen hinausgehen darf, was zur Ermöglichung gleicher Freiheit aller Glieder der Rechts­ gemeinschaft erforderlich ist. Damit zeichnet sich dann zugleich auch ab, welcher Kernbestand von Rechten durch das Menschenwürdeprinzip als unantastbar und unabwägbar gesetzt wird, nämlich genau diejenigen Rechte, die im „Urrecht“ impli­ ziert sind. Betrachtet man das Anerkennungsprinzip unter der Perspektive des „Urrechts“, so zeigt sich, dass es die Möglichkeit mit sich führt, grundlegende und innerliche Rech­ te, die sich auf das Subjekt-Sein selbst beziehen und die daher für die Rechtsgedan­ ken konstitutiv sind, von Rechten zu unterscheiden, die das Subjekt-Sein nur in äu­ ßerlichen bzw. partiellen Hinsichten betreffen. Diese Unterscheidung eröffnet die Perspektive, jedenfalls einige der Grund- bzw. Menschenrechte als unter bestimmten Umständen abwägbar und einschränkbar zu begreifen, während andere aus Grün­ den, die im Anerkennungsprinzip selbst liegen, als unantastbar gesetzt werden müs­ sen. So können zum einen das Recht auf Gleichheit vor dem Gesetz und das Recht darauf, nicht weiter in seiner Freiheit eingeschränkt zu werden, als dies zur Ermögli­ chung gleicher Freiheit aller nach allgemeinen Regeln erforderlich ist, deshalb nicht eingeschränkt oder angetastet werden, da sie die Konstitutionsbedingungen des Rechts bilden. Jede Einschränkung oder Aufhebung eines dieser Rechte wäre daher gleichbedeutend mit einer Aufhebung des Rechts überhaupt. Eine Sonderstellung in­ nerhalb des Gefüges der durch das anerkennungstheoretisch reformulierte Men­ schenwürdeprinzip garantierten Rechte kommt zweitens dem Recht auf Leben und körperliche wie seelische Unversehrtheit zu. Da das Leben eines Subjekts nichts an­ deres ist als das Sein der Subjektivität selbst, stellt jeder Angriff auf das Leben eines anderen Subjekts eine Form der Anerkennungsverweigerung dar, die in ihrer Radi­ kalität und Grundsätzlichkeit von keiner anderen Rechtsverletzung erreicht wird. Die vorsätzliche Tötung ist diejenige Negation der Anerkennung, die den Anderen nicht in irgendeiner besonderen Hinsicht seiner Subjektivität betrifft, sondern sein Subjekt-Sein als solches und als Ganzes26, verwandelt die Tötung doch einen Men­ schen von einem durch Selbstbezug gekennzeichneten Subjekt in ein bezugsloses Ding, den toten Körper. Sie ist daher mit jeglicher Anerkennung auch prinzipiell 26  Dieser Gedanke und damit der Gedanke der absoluten Sonderstellung des Rechts auf Leben im Gefüge des Normativen findet sich auch an zentraler Stelle bei dem den Gedanken der wechsel­ seitigen Anerkennung ansonsten radikal ablehnenden Emmanuel Lévinas: „Ni la destruction des choses, ni la chasse, ni l’extermination des vivants – ne visent le visage qui n’est pas du monde. Elles relèvent encore du travail, ont une finalité et répondent à un besoin. Le meurtre seul prétend à la négation totale. La négation du travail et de l’usage, comme la négation de la représentation – effec­ tuent une prise ou une compréhension, reposent sur l’affirmation ou la visent, peuvent Tuer n’est pas dominer mais anéantir, renoncer absolument à la compréhension.“ Lévinas, Totalité et infini, 216.

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unvereinbar. Der Anerkennungsgedanke und mithin die Menschenwürdegarantie impliziert daher die Unverfügbarkeit des Lebens eines Subjekts für jedes andere Sub­ jekt.27 Die Menschenwürde setzt insofern die kategorische Unantastbarkeit und Nichteinschränkbarkeit des Rechts auf Leben nach seiner abwehrrechtlichen Dimen­ sion genommen, und kein Rechtssystem, das sich auf die Menschenwürde beruft, kann dieses Recht anders denn als unantastbar behandeln. Demgegenüber ist etwa das Recht auf Eigentum, das die Subjektivität lediglich in einer veräußerten Form betrifft, ein typisches Beispiel für ein Recht, das im Hinblick auf konkrete Fälle, wie sie z. B. in Notstandssituationen gegeben sein können, durchaus abwägbar und ein­ schränkbar ist. Selbst diese Einschränkung steht allerdings unter der Bedingung, dass nur ein konkreter und ganz bestimmter Eigentumstitel negiert wird und nicht etwa die Befugnis, überhaupt Eigentümer von etwas zu sein, denn diese Befugnis ist wiederum wesentlich für das Haben einer genuinen Freiheitssphäre überhaupt. Fasst man diese Überlegungen zusammen, so lässt sich konstatieren, dass die an­ erkennungstheoretisch reformulierte rechtliche Menschenwürdegarantie nicht allei­ ne das Prinzip und den Geltungsgrund der Menschenrechte bildet, sondern auch dasjenige Prinzip, von dem her sich die Frage der Abwägbarkeit und Unabwägbarkeit von Grund- bzw. Menschenrechten beantworten lässt. Dies jedoch auf eine gänzlich andere Art, als es in der weithin „herrschenden Meinung“ innerhalb des deutschen Verfassungsrechtsdiskurses aufgefasst wird. Denn es zeigt sich, dass es sich bei der Menschenwürdegarantie nicht um ein spezielles „Supergrundrecht“ neben und „über“ den eigentlichen Grund- bzw. Menschenrechten handelt, sei es auf Nichtinst­ rumentalisierung oder Nichtdemütigung. Vielmehr stellt die Menschenwürde dasjenige Prinzip dar, von dem her sich be­ stimmte Menschenrechte, allen voran das Recht auf Leben in seiner abwehrrechtli­ chen Dimension und der Grundsatz der Gleichbehandlung vor dem Gesetz, als un­ antastbare Rechte bestimmen und von abwägbaren Rechten unterscheiden lassen. Wie die Erörterung des „Urrechts“ gezeigt hat, gibt es in der Tat einige Rechte – allen voran das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit in seiner abwehrrecht­ lichen Dimension –, die eben durch den Menschenwürdegedanken als „immer und in jedem Fall“ unantastbar und unabwägbar bestimmt werden müssen, weil deren Verletzung mit dem Prinzip der wechselseitigen Anerkennung als Rechtssubjekt nicht nur in partieller und äußerlicher Hinsicht, sondern auf eine grundlegende Art und Weise unvereinbar ist. Demnach kann die Menschenwürdegarantie in einer be­ stimmten Hinsicht als eine Meta-Norm der Menschenrechte gelten: als eine Norm, 27  Einer der wenigen deutschen Verfassungsrechtler, der sich dieses Zusammenhangs noch be­ wusst ist und der ihn gegen den allgemeinen Trend geltend macht, ist Christian Hillgruber. Hillgru­ ber führt zutreffend aus: „Die Unantastbarkeitsformel garantiert die Achtung der Menschenwürde umfassend. Ein Mensch ist – für jedermann verbindlich – selbständige Person, nicht verfügbare Sache, er gehört niemand anders als sich selbst und muss deshalb stets Zweck an sich selbst bleiben. Damit ist aber die eigenmächtige und eigennützige Inanspruchnahme von Leib und Leben eines Dritten kategorisch ausgeschlossen.“ Hillgruber, Grundrechtlicher Schutzbereich, 981–1032, hier: 993 f.

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die die Frage regelt, wie im Fall von Rechtekollisionen auf der Objektebene zu verfah­ ren ist. Die Menschenwürde kann dementsprechend die beiden scheinbar heteroge­ nen Rollen ausfüllen, die ihr im deutschen und internationalen Recht zukommen: Sie vermag ebenso sehr als Prinzip und Geltungsgrund der Menschenrechte zu fungie­ ren, wie sie als Prinzip und Geltungsgrund der Unantastbarkeit der fundamentalsten unter diesen Rechten sowie als Grund der Unterscheidung zwischen abwägbaren und unantastbaren Rechten begriffen werden kann.

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Uneinholbare Distanz Zur Relevanz des Naturbegriffs im Diskurs um die Menschenwürde Walter Schweidler I. „Naturrecht“ und von Natur aus Rechtes Der Begriff der Menschenwürde hat ins internationale und nationale Recht nicht Eingang gefunden im Zuge der „Naturrechtsrenaissance“, die, ausgehend von den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen,1 zumindest die deutsche Verfassungsdis­ kussion nach 1945 wesentlich mitbestimmte. Es lässt sich, so Manfred Baldus, mit Sicherheit ausschließen – daß […] der Parlamentarische Rat sich in seiner Mehrheit die Vorstellung von der Menschenwürde als naturrechtlichem Grund des positiven Rechts […] zu eigen machte und im Grundgesetz zum Ausdruck bringen wollte.2

Die für die rechtliche Bedeutung der Idee der Menschenwürde maßgeblichen Wur­ zeln führen vielmehr zurück in den Ursprung der Allgemeinen Erklärung der Men­ schenrechte und der UNO-Charta.3 Es ist plausibel, wenn man mit Blick auf die in diesem Kontext leitenden Debatten die Frage, ob dem Würdekonzept eine oder eini­ ge bestimmte metaphysisch oder religiös geprägte Auffassungen vom Menschen zu­ grunde gelegt wurden, verneint.4 Eine ganz andere Frage ist jedoch, ob man das, was sich in diesen Debatten und schließlich in der Grundmarkierung staatlicher Le­ gitimität im Zeichen des Begriffs der Menschenwürde, wie wir sie heute über den ganzen Erdball hinweg akzeptiert finden, ereignet hat, verstehen kann, ohne auf die Religion und ihre Bedeutung für das politische Dasein des Menschen zu sprechen zu kommen. Diese Frage würde ich verneinen: Die Religion in einem nicht theologisch, sondern anthropologisch zu explizierenden Sinn spielt hier sehr wohl eine Rolle. Der Schlüssel für die Entwicklung, durch die der Würdebegriff zum staatlichen Legiti­ mationsprinzip geworden ist, scheint mir nämlich in der geschichtlichen Bewegung zu liegen, die Hans Joas mit dem Wort von der „Sakralisierung der Person“ gekenn­ zeichnet hat. Joas bezieht sich dabei direkt auf Durkheim und Mauss und indirekt auf Kant, der inhaltlich die Heiligkeit und die Unantastbarkeit der Würde der menschlichen Per­ 1 Vgl.

Künnecke, Naturrechtsdiskussion, 95 f. Baldus, Kämpfe um die Menschenwürde, 41. 3 Vgl. Tiedemann, Menschenwürde als Rechtsbegriff, 57 f. 4  Baldus, Kämpfe um die Menschenwürde, 56. 2 

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son gleichgesetzt hat.5 Der Glaube an die Menschenrechte und die universale Men­ schenwürde sei, so zitiert Joas Durkheim, als die „Religion der Moderne“ aufzufas­ sen, für welche die menschliche Person „etwas von der transzendenten Majestät, welche die Kirchen zu allen Zeiten ihren Göttern verleihen“, an sich habe.6 Gegen die radikal atheistische weitere These Durkheims, dass in dieser Religion „der Mensch zugleich Gläubiger und Gott“ sei, setzt sich Joas klar ab, diskutiert aber dann intensiv die Annahme Durkheims, dass in Zeiten des Verschwindens der weltan­ schaulichen Gemeinsamkeiten in einer großräumigen und arbeitsteiligen Gesell­ schaft die Sakralisierung der individuellen Person sogar das einzige Glaubenssystem bedeute, das überhaupt noch „die moralische Einheit des Landes sicherstellen“ kön­ ne.7 Das Christentum sieht Durkheim dabei als entscheidenden und insofern höchst verdienstvollen geschichtlichen Wegbereiter, der diese moderne Religion er­ möglicht habe, von ihr aber auch in seiner Substanz überwunden und ersetzt worden sei.8 Hieran anschließend kann man nach Joas dann tatsächlich den Prozess der seit dem Ende des 18.  Jahrhunderts global virulent gewordenen Idee der Menschenrechte als eine „Inklusionsbewegung von großer Radikalität“ betrachten, die im geschicht­ lichen Kampf mit entgegengesetzten Sakralisierungsbewegungen etwa der Nation oder der klassenlosen Gesellschaft das eigentliche Erbe des christlichen Staatsver­ ständnisses angetreten hat. „Die Sakralisierung der Person“, so Joas, „war eine Wei­ terführung jüdisch-christlicher Motive, auch wenn die einzelnen Aufklärer vor al­ lem den Bruch mit der religiösen Tradition akzentuierten und die Kirchen entspre­ chend sich gegen sie stellten.“9 Sie war und ist also zwar keine Ersatzreligion, hat aber offenbar doch etwas von einem Religionsersatz am Grunde der ethischen und weltanschaulichen Selbstverständigung der demokratischen Gesellschaft. Die Quint­ essenz ist, so Joas, „daß die Geschichte der Menschenrechte eine […] Sakralisie­ rungsgeschichte sei, und zwar eine Geschichte der Sakralisierung der Person.“10 Ich halte es zwar für irreführend, in diesem geschichtlichen Zusammenhang von „Sakralisierung“ zu sprechen, so als habe es das, was Kant als die Heiligkeit der Menschheit in jeder Person expliziert hat, nicht schon gegeben, bevor es in den genu­ in politischen Prozess seiner Anerkennung in der Moderne eingegangen ist, auf den ich mich hier beziehe. Aber ich will die Annahme verteidigen, dass wir in dem Be­ griff, der wesentlich durch Kants Säkularisierung eines in unvordenkliche Tiefen des religiösen Bewusstseins des Menschen zurückreichenden Topos in unserer gegen­ wärtigen Vorstellung von staatlicher Legitimität verankert worden ist, den Bedeu­ tungskern dessen finden, was mit der Würde des Menschen bezeichnet ist. Denn 5 Vgl. Joas, Sakralität, 84; weitere Quellen, die Joas nennt, sind der Theologe Henry Churchill King und der Bürgerrechtler Martin Luther King, vgl. a. a. O., 85, Fn.  21. 6  So Durkheim 1898 im Kontext des Dreyfus-Skandals, s. Durkheim, Individualismus, 56 f., zitiert nach Joas, Sakralität, 82. 7  Zitiert wiederum nach Joas, Sakralität, 88. 8 Vgl. Joas, Sakralität, 90. 9  A. a. O., 106. 10  A. a. O., 18.

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nichts anderes als diese säkularisierte Form des Topos der Heiligkeit der Menschheit kann uns am tiefsten erklären, was wir meinen, wenn wir von der „Unantastbarkeit“ der Würde sprechen. Ein Schlüssel zum Verständnis dieses Topos und damit auch all dessen, was wir vernünftigerweise über die „Unverfügbarkeit“ der Menschenwürde sagen können, liegt in seiner unaufhebbar paradoxen Konstitution: Die Unantastbar­ keit unserer Würde zeigt sich wesentlich und womöglich sogar überhaupt nur dort, wo sie verletzt werden kann, verletzt worden ist und weiterhin verletzt zu werden droht und verletzt werden wird! Der Anspruch auf ihre Anerkennung kommt zu dem, was die Würde der menschlichen Person ausmacht, nicht als eine politische und rechtliche Implikation hinzu, sondern in ihm und damit seiner Durchsetzung gegen aktuelle oder drohende Verletzung zeigt sie sich wesentlich und findet sie ihre – in noch zu erläuterndem Sinne – natürliche Realisierung. In dieser prinzipiell kon­ trafaktischen und selbstreferentiellen Konstitution hat der Würdebegriff sogar eine strukturelle Analogie zum Anspruch aller rechtlichen Gesetzlichkeit überhaupt – auch der Gesetzgeber legitimiert sein legislatives Handeln ja aus dem allgemeinen Willen, der, wenn er ganz der wäre, den er als seinen vernünftigen Grund reklamiert, das Gesetz mitsamt seiner Zwangsordnung überflüssig machen würde. („Vernünftige fahren hier nicht Rad, dem Rest ist es verboten“, hat man in Tettnang und Weingar­ ten über die Marktplätze geschrieben.) Aus dieser Analogie kann man noch eine Verbindung zum ganz ursprünglichen Topos des „von Natur aus Rechten“ ziehen, wie er in der Nikomachischen Ethik und der Rhetorik von Aristoteles auftaucht.11 Von ewigen Normen, die dem staatlichen Gesetz als Deduktions- oder auch nur als Korrekturquelle vorgegeben wären, ist dort ja keine Rede. Im Gegenteil: Das „von Natur aus Rechte“ ist nach Aristoteles – vielleicht, so sagt er, nicht bei den Göttern, aber bei uns Menschen – wandelbar.12 Es ist keineswegs der Ort, der das „von Natur aus“ Rechte von der staatlichen Rechtsetzung unterschiede; wo anders als in ihr soll­ te es denn situiert sein? Ja, es ist nicht einmal die Legitimationsquelle als solche; wes­ sen Handeln, wenn nicht das des staatlichen Rechtsetzers, sollte denn der Verant­ wortung vor dem, was von Natur aus recht ist, gerecht werden können? Der Bestim­ mungsgrund des von Natur aus Rechten liegt nicht jenseits des Staatshandelns, sondern vielmehr gerade darin, dass er einen Kernbereich dieses Handelns um­ grenzt, der nicht nur je einem, sondern allen Staaten und also jedem Rechtsetzer auf der ganzen Welt zur Verwirklichung aufgegeben ist. Das von Natur aus Rechte „hat überall dieselbe Kraft der Geltung und ist unabhängig von Zustimmung oder Nicht-Zustimmung (der Menschen).“13 Das von Natur aus Rechte unterscheidet sich, jedenfalls im Hinblick auf diesen Kernbereich, eigentlich nur von der je partikulären staatlichen Ordnung, also nur dadurch, dass es nicht nur für sie, sondern ebenso für alle anderen staatlichen Ordnungen in der Welt gilt: als, wie es im deutschen Grund­ 11 Vgl.

Aristoteles, Nikomachische Ethik, V; ders., Rhetorik, I. „der Veränderung unterworfen“, s. Aristoteles, Nikomachische Ethik, V, 1134b26–30. 13  A. a. O., V, 1134b19–20. 12 

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gesetz bezüglich der Menschenrechte heißt, „Grundlage jeder menschlichen Ge­ meinschaft“. Die Universalität seiner Geltung also ist es, was das von Natur aus Rech­ te zum Bestimmungsgrund des Gesetzes eines Staates macht. Und der Begriff der „Sakralisierung der Person“ lässt sich als Kennzeichnung für die Entwicklung zur weltweiten Anerkennung dieser universalen Geltung verstehen. „Würde“ ist der strukturelle Topos, der die Bezugnahme auf jenen Kernbereich des Gesetzeshan­ delns leitet, wenn und insofern sie im staatlichen Gesetz selbst zur Geltung gebracht wird. Was alle Menschen miteinander verbindet und von allem Nichtmenschlichen trennt: das zu ihrer Leitlinie zu machen, ist Grund und Aufgabe der staatlichen Ord­ nung. Philosophisch interessant und relevant wird die Menschenwürde wesentlich des­ halb, weil in dieser Konstellation, darin also, dass im je partikulären staatlichen Ge­ setz ein Grund integriert ist, der über es hinausweist, aber nur durch es real werden kann, enorme gedankliche Voraussetzungen enthalten sind. So weltenthoben es dem, der primär an der konkreten Bewältigung rechtlicher Konflikte interessiert ist, erscheinen mag, für das philosophische Verständnis der Prinzipien unseres Zusam­ menlebens und damit auch des Begriffs der Menschenwürde, sind vor allem der ­paradoxe und selbstreferentielle Grundaspekt, unter dem in diesem Kontext des Rechts von dem „Natürlichen“ gesprochen werden muss, entscheidend. Thomas ­Hobbes hat ihn nicht weniger radikal, wohl aber um einiges präziser formuliert als Aristoteles. „Das Gesetz der Natur und das bürgerliche Gesetz“, so das Fazit seiner grandiosen Analyse im Leviathan, schließen sich gegenseitig ein und sind von gleichem Umfang. […] Bürgerliches und natür­ liches Gesetz sind keine verschiedenen Arten, sondern verschiedene Teile des Gesetzes, wobei der eine – geschriebene – Teil bürgerlich, der andere – ungeschriebene – natürlich genannt wird.14

Jedes geschriebene Gesetz verdankt sich faktisch dem staatlichen Zwang, auch die Verfassung, die sich auf dessen Legitimationsgrundlage beruft; und jedes Gesetz, das sich auf eine vorgesetzliche Geltungsquelle beruft, setzt sich faktisch selbst als seine Ermächtigungsgrundlage ein. Daran ändert sich nichts, wenn als diese Ermächti­ gungs- und Legitimationsgrundlage die Menschenwürde beschworen wird. Wenn der Begriff der Menschenwürde etwas leistet, das ihn vor und gegenüber anderen Begründungskonzepten staatlichen Zwangshandelns auszuzeichnen erlaubt, dann kann dies nicht darin bestehen, dass er diese kontrafaktische und selbstreferentielle Konstitution der Begründung staatlichen Zwangs aufhebt, sondern nur in der Weise, in der er sie zu Bewusstsein bringt und uns einen Schlüssel zum richtigen Umgang 14  Hobbes, Leviathan, 253 f. Dass hier mit „bürgerlichem Gesetz“ nicht die gesamte Regelungs­ materie staatlicher Vorschriften, sondern eben jener Kernbereich gemeint ist, den auch Aristoteles im Auge hatte, lässt sich eindeutig an Hobbes“ Definition in der englischen Fassung des Leviathan (a. a. O. 250) ersehen: „Unter bürgerlichen Gesetzen verstehe ich Gesetze, zu deren Beachtung die Menschen nicht deshalb verpflichtet sind, weil sie Glieder dieses oder jenes besonderen Staates, sondern überhaupt eines Staates sind.“

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mit ihr in die Hand gibt. Darin eben besteht der Anspruch, den wir im genuin para­ doxen Prinzip der „Unantastbarkeit“ der Menschenwürde expliziert finden und der dieses von einen „Naturrechtsdenken“ abhebt, das sich auf vorpositive Normen und übergeschichtliche Wesensbestimmungen beruft, die dem menschlichen Dasein von transzendenten Rechtsquellen her vorgegeben sein sollen. Auf die „Renaissance“ ei­ nes in diesem Sinne verstandenen Naturrechts können und brauchen wir nicht zu­ rückzugehen, wenn wir gleichwohl die These verteidigen wollen, dass der Naturbe­ griff für den Diskurs um die Menschenwürde von wesentlicher Relevanz ist.

II. Die symbolische Dimension des Handelns Zur Explikation dieses fundamental paradoxen Aspekts, auf den uns der Topos der „Unantastbarkeit“ der menschlichen Würde zurückverweist, möchte ich von dem locus classicus ausgehen, an dem Kant in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten15 den Menschen dadurch definiert, dass „seine Würde (Prärogativ) vor allen blo­ ßen Naturwesen es mit sich bringe, seine Maximen jederzeit aus dem Gesichtspunk­ te seiner selbst, zugleich aber auch jedes anderen vernünftigen als gesetzgebenden Wesens (die darum auch Personen heißen), nehmen zu müssen“. Man könnte sagen, dass Kant hier die wichtigste Bestimmung dessen, was für ihn Würde bedeutet, in Klammern stehen hat: den Hinweis auf das, was uns zu „Personen“ macht. Personen heißen wir, weil wir die Wesen sind, aus deren Gesichtspunkt „jederzeit“, also von jeglichem jemals in irgendeiner Weise handelnden oder zur Handlung ansetzenden Akteur, die Maximen zu nehmen sind, die seine Handlung bestimmen und damit auch legitimieren. Person heißt also nicht primär der, der ein solcher Akteur ist und als dieser handelt oder zum Handeln ansetzt, sondern er wie jedes andere mensch­ liche Wesen ist deshalb Person, weil das ihn betreffende Handeln jeglichen und wel­ chen anderen Akteurs auch immer aus seiner, des von jenem Handeln betroffenen Wesens Perspektive mit bestimmt und gerechtfertigt werden muss. Keinerlei fakti­ sche Eigenschaft, keine Qualität, keine Kapazität und kein Vermögen konstituiert das Personsein, sondern ein Verhältnis, in das wir uns, ob wir wollen oder nicht, al­ lein durch den Anspruch versetzt sehen, mit dem sich ein Akteur, von dessen Aktion wir betroffen sind, als vernünftiges Wesen konfrontiert sieht. Personalität ist somit definiert durch einen essentiell passiven Bezug zur Situation vernünftigen, also be­ gründbaren und zu legitimierenden Handelns; Emmanuel Lévinas hat diesen Bezug die „absolute Passivität des Sich“ genannt, eine Passivität, die „diesseits der Alterna­ tive Passivität-Aktivität und passiver als alle Trägheit ist“.16 Die Kategorie der Passivität, die das markiert, was jedem handelnden Zugriff ent­ zogen ist und gerade als solches unser gesamtes Handeln auf das ihm Uneinholbare 15  16 

Kant, Grundlegung, BA 82 f. Lévinas, Jenseits des Seins, 269; vgl. dazu Schweidler, Absolute Passivität.

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orientiert, scheint mir eine der authentischsten Reformulierungen zu sein, die der Kantischen Würdedefinition in der Philosophie unserer Zeit gegeben worden sind. Wie so vieles bei Lévinas mutet auf den ersten Blick kryptisch und fast idiosynkra­ tisch an, was doch in den innersten Kern der Humanität hineinführt, der jenes ganz Andere bedeutet, dessen Bezug zur Welt unserer Institutionen man von der Religion, vom Sinn für das Unfassbare an und in uns, nicht wird ablösen können. Man braucht sich deshalb nicht in Glaubensdebatten zu verstricken, aber man muss bereit sein, den Irrglauben hinter sich zu lassen, dass wir vermittels unserer Institutionen, unse­ rer Zweck-Mittel-Berechnungen und unserer Folgenabschätzungen jemals das in den Griff bekommen könnten, was Wittgenstein „die Lebensprobleme“ genannt hat, die wir noch nicht einmal berührt hätten, selbst wenn alle wissenschaftlichen Fragen für immer beantwortet wären. Nicht unähnlich Wittgenstein ist für Lévinas der philoso­ phische Diskurs die einzigartige Aktivität, die ihren Sinn darin hat, das Unfassbare aller unserer Aktivität zu entziehen, es gewissermaßen vor uns selbst in Sicherheit zu bringen. Und nur in Relation zu diesem uns entzogenen Geheimnis bekommen phi­ losophische Begriffe die Bedeutung, die sie für die uns fassbaren Bereiche unseres Lebens haben, auch und insbesondere für den Bereich des Politischen. Was „Men­ schenwürde“ bedeutet, das wird man nicht nur niemals aus dem Zusammentragen positiver Bestimmungen, sondern überhaupt nur aus der Funktion ermessen kön­ nen, die diesem Begriff als der Markierung der Grenze zukommt, die uns hinsicht­ lich der Bestimmung dessen gezogen ist, was einem Menschen seine Einzigartigkeit gibt. Die Würde eines Menschen ist wesentlich dasjenige, was jedem anderen verbie­ tet, danach zu fragen, worin sie besteht; der originäre Ordnungsraum aber, in dem wir letztendlich das regeln, was uns verboten ist, ist der rechtliche und damit der politische Raum. Darum steht die Philosophie, in der Diktion von Lévinas also der genuin ethische Diskurs, zum Grund der politischen Ordnung im Verhältnis der Verteidigung dieses Grundes gegen jede mögliche Thematisierung. Ihre Beziehung zu ihm besteht in nichts anderem als dem Ringen um die Aufrechterhaltung der uneinholbaren Distanz, die diesen Grund sowohl der von ihm getragenen politi­ schen Ordnung wie auch ebenso unserem Philosophieren, das seiner Spur nach­ denkt, entzieht und ihn nur als dieses uns an die Grenze jeglichen Wissens führende Entzogene überhaupt fassbar macht. Und das gilt für die Philosophie auch und gera­ de als Phänomenologie: „im Umschlag von der Thematisierung in die Anarchie“ ge­ lingt es, so Lévinas, „das Paradox auszudrücken, in das sich die Phänomenologie unversehens verstrickt findet, denn das Ethische ist jenseits des Politischen diesem Umschlag gewachsen“17. Der Grund der politischen Ordnung ist so essentiell anar­ chisch, wie für Lévinas die Philosophie, gerade als Phänomenologie, ihren eigent­ lichen Gegenstand an dem findet, was selbst kein Phänomen ist. Oder, um es in für rechtliche Überlegungen geläufigerer Form auszudrücken: Das „Definitionsverbot“

17 

Lévinas, Jenseits des Seins, 268.

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ergibt sich nicht als Implikation der Menschenwürde, sondern es macht, zumindest was ihren Bezug zur Legitimation politischen Handelns angeht, ihr Wesen aus. Dass die Person kein Phänomen, ja eigentlich das Anti-Phänomen schlechthin ist, ist auch für Robert Spaemann ein Schlüssel zum Verständnis des Begriffs der Würde und ihrer Unantastbarkeit.18 Was Kant mit der „Heiligkeit“ der Menschheit in den Blick genommen hat, ist nach Spaemann nicht der angebliche „Wert“ des mensch­ lichen Lebens im Unterschied zu dem anderer Lebewesen, sondern die allein für den Menschen spezifische Inkommensurabilität seines gegenüber dem Leben aller ande­ ren seiner Art. „Darum“, so Spaemann, sprechen wir nicht vom Wert des Menschen, sondern von seiner Würde. Mag der Wert von zehn Menschenleben größer sein als der eines einzigen, die Würde von zehn Menschen bedeu­ tet nicht mehr als die eines einzigen Menschen. Personen sind überhaupt nicht addierbar. Sie bilden miteinander ein Beziehungssystem, das jeder Person im Verhältnis zu allen anderen einen einmaligen Platz anweist.19

Die Bedeutung der uneinholbaren Distanz, in welche wir durch den Begriff der Men­ schenwürde unsere politische und rechtliche Ordnung zu ihrem Grund versetzt se­ hen, zeigt sich ganz entscheidend in dieser Inkommensurabilität, die uns grundsätz­ lich die Abwägung menschlichen Lebens gegen mögliche konkurrierende Rechtsgü­ ter verbietet. „Aus dem universalen Charakter des personalen Beziehungsraums folgt“, so heißt es bei Spaemann, „daß die Ausgrenzung auch nur einer Person aus diesem Anerkennungsgefüge den personalen Charakter des ganzen Systems zum Verschwinden bringt.“20 Die uneinholbare Distanz zwischen jeder menschlichen Person und jeder anderen ihrer Art, die gleichbedeutend ist mit ihrer Unvertretbar­ keit als der Konstitutionsbedingung des diese Distanz gewährleistenden Rechtsver­ bandes, ist es letztlich, was der Rede von der Unantastbarkeit und Unverfügbarkeit ihrer Würde zugrunde liegt. Sie bringt auf eine Kurzformel, was wir als die paradoxe und selbstreferentielle Dimension jener Konstitutionsbedingung gekennzeichnet ha­ ben: Der politische und rechtliche Diskurs hat seinen Sinngrund in der Grenze, die er sich zieht und in deren Ziehung er sich letzten Endes als die Ziehung dieser Grenze selbst beschreibt – „beschreibt“ so, wie eine Rakete ihre Bahn beschreibt. Mit dem nicht metaphorischen Sinn, in dem wir hier vom Beschreiben seiner selbst reden, ist nun der Zusammenhang zwischen dem Sinn des rechtlichen und politischen Dis­ kurses und dem Sinn angesprochen, den wir auch heute noch in der Rede von einem „von Natur aus Rechten“ finden können. Um diesem Zusammenhang näher nachzu­ gehen, müssen wir nun allerdings von der Sphäre der absoluten Passivität in der Kon­ stitution unseres Personseins zu ihrem unverzichtbaren Komplement und Gegen­ stück überleiten.

18 Vgl.

Spaemann, Personen, 193. A. a. O., 196. 20  A. a. O., 208. 19 

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Denn so wenig es für die unantastbare Würde eines Menschen darauf ankommt, ob und inwieweit er faktisch sich dieser Würde bewusst ist und ihr gemäß handeln kann, so entscheidend ist andererseits, dass ich, wenn und insoweit ich denn hand­ lungsfähig und für mein Tun verantwortlich bin, mir der Würde all derer, die von meinem Handeln betroffen sind, bewusst bin und sie in meinem Tun konkludent anerkenne. Markus Rothhaar hat dies in Übernahme eines von Thomas Nagel in die Debatte gebrachten Konzepts21 als die prinzipielle „Akteursrelativität“ des An­ spruchs der unantastbaren Menschenwürde bezeichnet.22 Der Ort, an dem sich ent­ scheidet, was die Würde des Menschen konkret bedeutet, ist mein Handeln. Was immer ich tue, ich muss mich dafür im universalen Horizont dessen verantworten, was für alle Menschen gilt. Mich dazu zu zwingen, das ist der letzte Grund allen ge­ setzlichen Zwangs. So kritisch man gegenüber manchen sie als Legitimationsprinzip staatlicher Ordnung vielleicht etwas inflationierenden Charakterisierungen der Menschenwürde sein mag – als „tragendes Konstitutionsprinzip, oberstes und un­ verfügbares Prinzip der verfassungsmäßigen Ordnung, Leitstern, Fundamentalnorm der Verfassung und Grundnorm der Rechtsordnung, […] norma normans des Grundgesetzes, archimedischer Punkt des Verfassungsstaates“23 –, der philoso­ phisch präzis explizierbare Inhalt des Grundes der Normativität im Verhältnis der menschlichen Person zu sich selbst und allen ihresgleichen ist doch in keinem ande­ ren Begriff unserer heutigen politischen Theorie und Wirklichkeit so präzise aufge­ hoben wie in ihm. Die Menschenwürde bedingt es, dass, wie Markus Rothhaar sagt, „jegliche Verletzung einer Pflicht, die gegenüber einem anderen Subjekt besteht […], eine Negation des Anerkennungsverhältnisses selbst“ bedeutet. Der Anspruch auf die Anerkennung der Menschenwürde ist nicht als „Norm der Normen“ im Sinne eines von der Seins-Sollensspaltung her gedachten vermeintlichen Naturrechts, wohl aber als „Metanorm“ zu denken, ja sogar, um Rothhaars Begriff aufzunehmen, als „Metanorm aller Normen überhaupt“, die lautet: Eine Normverletzung ist […] prinzipiell nicht dadurch rechtfertigbar, dass sie Mittel zum Zweck der Erfüllung einer durch die Normverletzung bedingten Erfüllung einer Norm ist.24

Der Zusammenhang zwischen der Universalität und der Akteursrelativität des Men­ schenwürdeanspruchs ist nicht normativ-moralischer, sondern performativ-logi­ scher Art: Wer auch nur einen von seinem Handeln betroffenen Angehörigen des Verbandes, der alle Personen miteinander verbindet und sie von den nichtpersonalen Wesen abgrenzt, aus dem Verband der Instanzen ausschließt, vor denen er sein Han­ deln zu legitimieren hat, tritt damit und insoweit in Widerspruch zu den Bedingun­ gen der Möglichkeit der Legitimation seines Tuns, das heißt zu der gesamten diesen Verband konstituierenden Beziehung überhaupt. „Widerspruch“ aber ist eben eine 21 Vgl.

Nagel, View from Nowhere, Kap.  9, §  1. Rothhaar, Menschenwürde, 257–260; vgl. ders., Akteursrelativität. 23  Baldus, Kämpfe um die Menschenwürde, 11. 24  Rothhaar, Menschenwürde, 270. 22 

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logische, keine moralische Kategorie. Der Schlüssel zur philosophischen Rekon­ struktion jenes in Kants Klammerdefinition reklamierten Verhältnisses, das jede Person, insofern sie in ihrer Würde verletzt werden kann, für alle anderen ihrer Art stehen lässt, ist deshalb nicht auf der Ebene der uns zum Handeln verpflichtenden, sondern auf der Ebene derjenigen Beziehung zu finden, die jeden von uns zum Re­ präsentanten aller wie wir zu ihr gehörenden Wesen und sogar zum Repräsentanten dieser Art selbst macht: der symbolischen. Weil unser Handeln symbolisch über sich selbst hinaus auf alles das verweist, was Personen zu Repräsentanten aller anderen ihrer Art und sogar dieser Art selbst macht, kommt es für die Beurteilung würdigen oder würdeverletzenden Handelns niemals nur auf die kausalen Auswirkungen an, die es für diejenigen, die davon betroffen sind, sondern immer auch auf die Bedeutung, die es für das Menschsein überhaupt hat. Darum empören sich Menschen mit Behinderung mit guten Gründen darüber, dass die Behinderung eines Kindes, mit dem sie konkret nie etwas zu tun haben würden, als Abtreibungsgrund gilt. Darum kann Christus sagen: Was ihr dem geringsten mei­ ner Brüder getan habt, habt ihr mir getan. Und darum heißt es im Koran, dass es, wenn jemand einen Menschen tötet, so ist, als habe er die ganze Menschheit getötet und wenn er ihn rettet so, als habe er sie gerettet. Eben diese symbolische Dimension ist es, von der her allein sich rational explizieren lässt, warum die Würde des Men­ schen „unantastbar“ ist: Die Verletzung der Würde findet auf der kausalen Ebene statt, weshalb sie die symbolische Beziehung, durch die sie als solche definiert ist, nicht tangieren kann, weil sie die Beziehung ist, die alle zum Personenverband ge­ hörenden Wesen, auch Täter und Opfer, in uneinholbare Distanz zueinander versetzt. Und nur die symbolische Beziehung macht, umgekehrt zu diesem negativen Grund, aus dem die Würde nicht angetastet werden kann, auch positiv die Erfüllung des durch sie implizierten universalen Anspruchs durch den immer in die Grenzen seiner Endlichkeit eingeschlossenen Akteur möglich: Was man der Menschheit schuldet und auf der kausalen Ebene nie geben könnte, kann man und muss man in seiner moralischen Verantwortung gegenüber den wenigen wahrnehmen, denen man es stellvertretend für alle zu geben vermag. Ein Guter, so der Konfuzianer Menzius, be­ handelt die Fremden wie die Seinigen, ein Schlechter die Seinigen wie Fremde.

III. Natur und Rechtskultur Mit dieser genuin symbolischen Dimension unseres Handelns ist nun, wie ich in ei­ nigen wenigen Thesen skizzieren möchte, der Naturbegriff zumindest als analyti­ sches Rekonstruktionsinstrument essentiell verbunden und in ihr liegt somit seine Relevanz für den Diskurs um die Menschenwürde begründet. Die erste These betrifft den geistesgeschichtlichen Hintergrund des Würdebegriffs, der, wie ich meine, in den vormodernen, der antiken Metaphysik entstammenden Begriff einer mensch­ lichen Natur zurückverweist, der ein anderer ist als der, den wir im modernen Natur­

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recht in Form von vorgesetzlichen Normen bzw. normativ aufgeladenen Kennzeich­ nungen des vernünftigen und sozialen Menschenwesens finden. Es ist, grob gesagt, die genuin moderne Seins-Sollens-Spaltung, die den Grund von Aussagen über die Natur des Menschen in mehr oder weniger axiomatisch postulierten Normen veror­ tet hat, statt ihn dort zu suchen, wo er im Horizont einer aus dem originären Zusam­ menhang von Sein und Sollen denkenden Anthropologie seine legitimatorische Be­ deutung entfaltet hat, nämlich als Kennzeichnung der sinnstiftenden Differenz des Menschen zu allen anderen natürlichen Wesen. Der antike Naturbegriff war ein Dif­ ferenzkonzept: Natur, physis, ist demnach, was die nicht von außen ihm eingegebe­ nen, sondern von sich selbst her innewohnenden Lebensformen bezeichnet, durch die ein Lebewesen sich seiner Art gemäß entwickelt und durch die es sich von allen anders gearteten natürlichen Wesen zugleich unterscheidet und in den Zusammen­ hang der das Ganze der Natur bildenden Differenzen einordnet.25 Das Natürliche eines Wesens zeigt sich an dem, wodurch es sich von allen anders gearteten Wesen unterscheidet, ohne deshalb in irgendeiner Weise der Natur als solcher gegenüberoder aus ihr herauszutreten. Das Natürliche an uns ist, was alle Menschen miteinan­ der verbindet und sie von allen nichtmenschlichen Wesen ontologisch unterscheidet. Im Licht eines solchen Differenzkonzepts ist die anthropologische Kennzeichnung des Menschen als animal symbolicum (die ich als eine legitime Nachfolgerin des Kan­ tischen „vernünftigen als gesetzgebenden Wesens“ ansehe) nichts anderes als eine Bezugnahme auf seine Natur. Dass es als solches nicht explizit formuliert werden kann, hat wesentlich mit der aus unserem heutigen wissenschaftlichen und eben auch politisch-ethischen Diskurs nicht hinauszudenkenden Revolutionierung zu tun, die der Naturbegriff spätestens mit Descartes’ anthropologischem Dualismus erfahren hat. Er ist, am präzisesten in Kants Definition der Natur als Inbegriff gesetz­ lich geordneter Erscheinungen,26 vom Differenz- zum Homogenisierungsprinzip geworden, mit dem die Subjekt-Objekt-Spaltung zementiert wird, die auch der Seins-Sollens-Gegensatz wesentlich reflektiert. Freiheit und Natur sind dadurch in einen Gegensatz getreten, den zu vermitteln nicht zuletzt die Aufgabe und Leistung des Konzepts der Würde sein dürfte, das in seiner an sich ja langen Begriffsgeschich­ te, in der es praktisch keinerlei legitimatorische Rolle für Politik und Ethik gespielt hat, immer mit dem Begriff und Anspruch der Freiheit verbunden gewesen ist.27 Vor diesem Hintergrund erscheint der Begriff der Würde durchaus als ein Platzhalter der verdrängten Denkfigur der Natur des Menschen, mit dem metaphysisch das gekenn­ zeichnet wurde, was nun den Inhalt der anthropologischen Charakterisierung des animal symbolicum bildet: das spezifisch menschliche, uns alle miteinander verbin­ dende und von allen anders gearteten natürlichen Wesen unterscheidende, das freie Verhältnis zu unserer Natur. 25 Vgl.

Schweidler, Über Menschenwürde, Kap. II. Kant, Prolegomena, A 111. 27  Vgl. das Vorwort in Koyré, From the Closed World, viii. 26 Vgl.

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Die zweite These betrifft die indirekte Relevanz, die der Naturbegriff, und zwar nunmehr unabhängig von dem gerade genannten geistesgeschichtlichen Hinter­ grund, sondern auch in seiner heute allgemein akzeptierten Bedeutung, für den Le­ gitimationsanspruch des modernen Rechtsstaats hat. Die Legitimität des Rechtsstaa­ tes ist, wie die Begriffe der Unverfügbarkeit, Unteilbarkeit und Unantastbarkeit der Menschenwürde es ja in aller Deutlichkeit besagen, eine Sache der Negation von Ne­ gation, das heißt sie ist wesentlich auf die Sicherung seiner Bürger vor Rechtsverlet­ zung gegründet – Hinderung eines Hindernisses der Freiheit nach allgemeinen Ge­ setzen, wie es bei Kant heißt –, nicht oder jedenfalls nur in abgeleiteter Weise auf die Erfüllung positiver Gestaltungspflichten. Anders kann er die Beziehung zwischen Universalität und Akteursrelativität des Würdeanspruchs ja gar nicht konkret für sich reklamieren; auf beiden Seiten muss er seinen Anspruch lückenlos und vollstän­ dig erheben. Die Normen, die für alle Menschen gelten, kann er nur in seinem Han­ deln zur Geltung bringen, indem er alle Akteure davon abhält, diese Normen zu ver­ letzen. Darum kann sich dieser Schutzauftrag nicht nur auf staatliches Handeln selbst beziehen; wenn der Staat die fremdnützige Forschung an nicht einwilligungs­ fähigen Personen verbietet, dann spielt es dafür im Wesentlichen keine Rolle, ob die­ se Forschung von staatlichen oder nichtstaatlichen Stellen durchgeführt würde. Das Verbot, den legitimationsrelevanten Schutzbereich des Daseins seiner Bürger anzu­ tasten, richtet sich gegen alle Akteure. Insofern ist Markus Rothhaar zuzustimmen, dass, wenn man diesen durch die Menschenwürde gebotenen Schutzauftrag als In­ strumentalisierungsverbot charakterisiert, man alle Verletzungen von legitimations­ relevanten Abwehrrechten als Instrumentalisierungshandlungen verstehen muss, aus deren Negation sich die Logik der staatlichen Gesetzgebung begründet.28 Der Aspekt der legitimatorisch entscheidenden Selbstbegrenzung des staatlichen Hand­ lungsanspruchs liegt nicht darin, dass er sich nur gegen staatliche Instrumentalisie­ rung richten würde, sondern er liegt allein darin, dass er sich aus dieser wesentlich negativen, unrechtsverhindernden Aufgabe und Leistung definiert und eben nicht darüber hinaus die Schaffung von absoluter Gerechtigkeit, vollendetem Glück oder anderen positiven Zielen für sich in Anspruch nimmt. Entsprechendes gilt dann aber auch für das mit einem solchen Instrumentalisierungsverbot intrinsisch verknüpfte Definitionsverbot: Niemand hat die Kompetenz, darüber zu entscheiden, wer zum Kreis der Träger von Menschenwürde gehört und wer nicht, auch nicht der Staat. Das staatliche Gesetz legitimiert sich als Schutz-, nicht als Definitionsinstanz der Men­ schenwürde. Wenn das staatliche Gesetz die Würde des Menschen für unantastbar erklärt, dann legitimiert es auch noch sich selbst aus einem Verbot und einer Grenze, die es sich setzt. Es schließt die Fragen, welchem menschlichen Wesen Würde zu­ komme und welchem nicht oder welchem ein höherer Grad an Würde zukomme als einem anderen, aus dem Bereich legitimer Inhalte des juristischen Diskurses aus. Es gründet sich damit auf ein kategorisches Verbot der Abwägung des „Wertes“ von 28 

Rothhaar, Menschenwürde, 336.

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Menschenleben gegen andere Güter oder gegeneinander und auch der Instrumenta­ lisierung eines menschlichen Wesens für die Interessen anderer. Wenn es aber so entscheidend ist, dass der gemeinsame Nenner von Universalität und Akteursrelativität in der Vollständigkeit des Kreises der für beides relevanten Subjekte, also darin besteht, dass er nur alle umfassen kann, die zu diesem Kreis ge­ hören und dass er also umwillen der Rechtssicherheit und Rationalität des staat­ lichen Handelns eindeutig umgrenzt sein muss, dann scheint mir die Gewährleis­ tung der Vorhandenheit dieses gemeinsamen Nenners nur durch die Bezugnahme auf die Natur des Wesens möglich zu sein, das Kant in seiner Klammerdefinition mit dem Begriff der Person bezeichnet hat, also des Menschen. Unverfügbarkeit der Menschenwürde kann nur heißen, dass dem Akteur, an den sich der Anspruch auf ihre Respektierung richtet, jegliche Verfügung über die Bestimmung darüber ent­ zogen ist, wer zu dem Kreis derer gehört, aus deren Perspektive er die Maximen sei­ nes Handelns zu nehmen hat. Wenn die Zugehörigkeit zu diesem Kreis in der absolut passiven Weise konstituiert wird, die sich aus Kants Klammerdefinition ergibt, dann kann nichts, was auf der Seite des je zu ihm gehörenden Wesens geschehen könnte, sollte oder müsste, etwas an dem Anspruch, der sich aus dieser Zugehörigkeit ergibt, ändern. Und damit bleibt als Antwort auf die Frage, warum ein menschliches Wesen zu diesem Kreis gehört, allein die Bezugnahme auf seine und damit die Natur über­ haupt übrig. Ein Mensch, jeder Mensch ist konstitutiver Faktor für die Umgrenzung dieses Kreises nicht deshalb, weil ihm nichts fehlen würde, was zur natürlichen Aus­ stattung menschlicher Wesen gehört, sondern deshalb, weil ihm das fehlt, was ihn zum Exemplar einer anderen als der menschlichen Gattung machen würde. Die ge­ samte Natur ist vollständig und lückenlos in Arten aufgeteilt, und jedes natürliche Wesen gehört nur einer einzigen, seiner Art an. Es gibt nicht so etwas wie ein den Speziesgrenzen entzogenes Niemandsland. Darum, nicht aus irgendwelchen Grün­ den einer angeblich „speziesistischen“ Auszeichnung dieser Gattung durch uns als ihre Angehörigen, treten die biologischen Zusammenhänge gewissermaßen subsi­ diär in das Vakuum ein, das wir bewusst schaffen, wenn wir uns die Beantwortung der Frage, was ein menschliches Leben zum Träger von Würde mache, verbieten. Wenn der juristische Diskurs sich aus ethischen Gründen hier die unüberschreitbare Grenze setzt, dann bleibt als die Instanz, die darüber entscheidet, wer Mensch ist und wer nicht, nur die Natur übrig. Wenn uns die positive Auszeichnung von Eigen­ schaften, aufgrund derer ein menschliches Leben einem anderen überzuordnen wäre, verboten ist, dann bleibt nur übrig, als menschliche Wesen gleichermaßen alle diejenigen gelten zu lassen, die durch natürliche Abstammung aus anderen mensch­ lichen Wesen hervorgehen. Wir müssen die Natur respektieren, nicht weil sie an sich heilig wäre, sondern weil wir sie nur nach Maßgabe von Kriterien korrigieren könn­ ten, die uns, ob wir wollen oder nicht, zu Herren über das Leben anderer Menschen machen müssten. Und dies gilt in abgeleiteter Weise auch für alle Formen der Abstu­ fung der Menschenwürde und der ihren Schutz gebietenden staatlichen Handlungs­ aufträge.

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Mit der dritten These möchte ich auf den Aspekt zu sprechen kommen, unter dem die Bezugnahme auf die Natur auch für den Schritt fundamental ist, der von der anthropologischen Grundvoraussetzung, die Kants Klammerdefinition trägt, also der Charakterisierung der menschlichen als der Natur des vernünftigen Wesens, des animal rationale, zu derjenigen führt, die den performativ-logischen Charakter des Widerspruchs, in den wir treten, wenn wir die vollständige und lückenlose Verknüp­ fung zwischen Universalität und Akteursrelativität des Menschenwürdeanspruchs negieren, auf die, wie ich meine, heute überzeugendste Weise expliziert: die Bestim­ mung des Menschen als animal symbolicum, als zeichenhaftes Wesen. Diese Bestim­ mung ist von keinem Denker der neueren Zeit so eindrücklich und präzise begrün­ det und anthropologisch belegt worden wie von dem von jeder metaphysisch-natur­ rechtlichen Konzeption so weit wie nur möglich entfernten Strukturalisten Claude Lévi-Strauss. Das Prinzip seines Denkens markiert die eine entscheidende Kategorie: Differenz. Der Mensch ist nach Lévi-Strauss das Wesen, das die Differenz zwischen seiner und allen anderen natürlichen Arten zum absoluten Leitprinzip der Erzeu­ gung und Entwicklung seiner soziokulturellen Identität gemacht hat, indem es sich jenseits der für ihn wie alle anderen Wesen geltenden natürlichen eine zweite Art von Gesetzen, die soziokulturellen Regeln, gegeben hat, die diese Identität über die Tau­ sende Generationen hinweg, die vom Eintritt der symbolischen Dimension in unser Dasein bis auf den heutigen Tag führen, geformt und bewahrt haben. Die entschei­ dende Bedingung für diesen soziokulturellen Selbstzeugungsakt war die Emergenz des Codes, aufgrund dessen es den Menschen möglich wurde, die Differenzen inner­ halb des gesamten Gebietes der in Arten und Individuen gegliederten Natur in die Zeichensysteme zu transformieren, mittels derer die menschliche Gesellschaft es vermocht hat, ihre sie aus diesem Rest vollumfänglich heraushebenden soziokultu­ rellen Strukturen zu schaffen und als Garantiefaktoren ihres Überlebens im Gegen­ zug gegen die Vergänglichkeit der natürlichen Zeit mit unabsehbarer Dauer zu ze­ mentieren. Diese den Rest der Natur in die für den Menschen konstitutive Differenz codierende Transformation: das war die originär symbolische, die Leistung der Sprache. Dies, also die eigentliche ontologische Alternative zum Kantischen Vernunftsub­ jekt, hat nach Lévi-Strauss in nichts anderem seinen Ursprung als in einen für unse­ re und die Natur überhaupt schlechthin differenzbegründenden einzigartigen Ereig­ nis, durch das wir die Natur als Palimpsest der Kultur zu lesen gelernt haben. Welches auch der Augenblick und die Umstände ihres Erscheinens auf der Stufe des animali­ schen Lebens gewesen sein mögen — die Sprache hat nur auf einen Schlag entstehen können. Die Dinge haben nicht allmählich beginnen können, etwas zu bedeuten. […]. Es gibt also in der Geschichte des menschlichen Geistes einen fundamentalen Gegensatz zwischen dem Sym­ bolismus, der den Charakter von Diskontinuität trägt, und der Erkenntnis, die durch Konti­ nuität gekennzeichnet ist. […].29

29 

Lévi-Strauss, Einleitung, 38. Vgl. dazu Schweidler, Zeichen-Person-Gabe, 34.

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Walter Schweidler

Für das Verhältnis von Natur und Kultur ist nun nach Lévi-Strauss entscheidend, dass wir nicht nur nicht hinter es zurück-, sondern auch nicht über es hinaus gehen können, ohne wieder in die vormenschliche Natur zurückzufallen. Der Grund dafür besteht darin, dass die menschliche Natur wesentlich und ausschließlich kulturell codiert ist. Dass wir von Natur aus sprechende Wesen sind, zeigt sich gerade darin, dass es keine natürliche Sprache gibt, sondern dass alle Zeichensysteme, in denen wir uns als Menschen miteinander verständigen, kulturell codiert, das heißt ineinander übersetzbar sind. Unser natürliches Dasein konstituiert sich nicht durch irgendwel­ che transkulturellen Determinanten, sondern allein und vollumfänglich durch die Regeln, in denen die kulturellen Differenzen, die unsere gesellschaftliche und damit letztlich auch politische Identität bestimmen, in ihrer unaufhebbaren Pluralität ihren gemeinsamen Nenner finden, den universalen. „Überall dort,“ so Lévi-Strauss in sei­ ner Studie über Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft, wo eine Regel auftaucht, wissen wir mit Bestimmtheit, daß wir uns auf der Ebene der Kultur befinden. Symmetrisch dazu bereitet es keine Schwierigkeit, in der Universalität das Krite­ rium der Natur zu erkennen. Denn das, was bei allen Menschen konstant ist, entzieht sich zwangsläufig dem Bereich der Bräuche, Techniken und Institutionen, durch die ihre Gruppen sich unterscheiden und einander entgegentreten. In Ermangelung einer realen Analyse liefert uns das doppelte Kriterium der Norm und der Universalität das Prinzip einer ideellen Analy­ se, die es – zumindest in einigen Fällen und innerhalb gewisser Grenzen – ermöglichen kann, die natürlichen Elemente von den kulturellen Elementen zu trennen, die in den Synthesen komplexerer Art vorkommen. Halten wir also fest, daß alles, was beim Menschen universal ist, zur Ordnung der Natur gehört und sich durch Spontaneität auszeichnet, und daß alles was einer Norm unterliegt, zur Kultur gehört und die Eigenschaft des Relativen und des Besonde­ ren aufweist.30

Der Rückbezug aller, insbesondere der rechtlichen und politischen Normen und Re­ geln unseres Daseins auf den natürlichen als einen nicht transkulturellen, sondern auf den Horizont der universalen, für alle Menschen und nur die Menschen gelten­ den Ansprüche gegeneinander ist in dieser anthropologischen Perspektive die Legi­ timationsbedingung unseres soziokulturellen Daseins. Nicht jeder Mensch versteht aktual und bewusst, was unser Handeln für ihn bedeutet, aber wir selbst als Han­ delnde verstehen es, ob wir uns dagegen wehren oder nicht, aus dem, was es für jeden von ihm betroffenen Menschen bedeutet; wir verstehen es aus unserer zeichenhaften Existenz. Dass diese jeden von uns, der zu solchem aktualen und bewussten Verste­ hen fähig ist, selbst zu einer Art Zeichen, zu einem Wesen von der Art der Arten, macht, ist nach Lévi-Strauss ein Schlüssel zum Selbstverständnis der menschlichen Gesellschaft als der Gesellschaft mit einem Unbedingten, das wir in unserem Dasein repräsentieren bzw. dem wir uns darin präsentieren. So bleibt die Frage nach der Religion nicht als gläubiger, aber als anthropologischer Wesensbedingung unserer nichtbiologischen, aber natürlichen Verwandtschaft ein Schlüssel zum Verständnis 30 

Lévi-Strauss, Verwandtschaft, 52.

Uneinholbare Distanz. Zur Relevanz des Naturbegriffs im Diskurs um die Menschenwürde 103

unseres Verhältnisses zu unserem Leben. Lévi-Strauss hat dafür in seinem Haupt­ werk Das wilde Denken eine sehr eindrückliche Formulierung gegeben. Aus biologischer Sicht sind die Menschen […] Specimen einer Abart oder Unterabart; desglei­ chen sind alle Mitglieder der Art Homo sapiens logisch vergleichbar mit den Mitgliedern einer beliebigen Tier- oder Pflanzenart. Und doch bewirkt das soziale Leben in diesem System eine merkwürdige Umwandlung, denn sie veranlasst jedes biologische Individuum zur Entwick­ lung einer Persönlichkeit, ein Begriff, der nicht mehr das Specimen innerhalb der Abart evo­ ziert, sondern vielmehr einen Typ der Art oder Abart, […] den man ‚mono-individuell‘ nen­ nen könnte. Das, was verschwindet, wenn eine Persönlichkeit stirbt, besteht in einer Synthese von Vorstellungen und Verhaltensweisen, die ebenso exklusiv und unersetzbar ist wie jene, die von einer Blumenart hervorgebracht wird […] Der Verlust eines Angehörigen oder einer öf­ fentlichen Persönlichkeit […] berührt uns also auf die gleiche Weise, wie wir den unwiderruf­ lichen Verlust eines Duftes empfinden würden […] Alles geht so vor sich, als hätte in unserer Zivilisation jedes Individuum seine eigene Persönlichkeit zum ‚Totem’: sie ist das Bezeichnete seines bezeichneten Seins.31

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Lévi-Strauss, Das wilde Denken, 249.

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Unverfügbarkeit oder Kontingenz? Gemeinsamkeiten und Trennlinien philosophischer Positionen Philipp Gisbertz-Astolfi Die Debatten um die Menschenwürde und um deren korrekte Deutung haben sich in Schulstreitigkeiten verirrt. Autonomie, (Selbst-)Achtung, Demütigung und Status sind zu Namen für Denkschulen geworden. Es scheint fast so, als werde nicht mehr über den gleichen Begriff geredet, wenn Theoretikerinnen und Theoretiker der menschlichen Würde miteinander diskutieren. Doch dieser Eindruck täuscht. Bei­ nahe alle plausiblen Konzeptionen der Menschenwürde teilen einen gemeinsamen Grundgedanken, nämlich einen engen Bezug zum moralischen Status der persona­ len Identität bzw. des Selbst im Sinne eines Persönlichkeitskerns, den die Einzelnen durch ihre autonomen Lebenspläne, Entscheidungen und Werte, aber auch durch Zugehörigkeiten zu identitätsstiftenden Gruppen definieren. Die Argumente der Denkschulen sind dabei (bei allen zugestandenen Unterschieden) oft viel enger über diesen gemeinsamen Kern verbunden, als es den Anschein erweckt. Die eigentliche Grenze zwischen den einander widerstreitenden Theoriegruppen ist eine andere: Nicht Autonomie und Achtung, sondern Kontingenz und Unverfügbarkeit markie­ ren den zentralen Streitpunkt und die Trennlinie zwischen verschiedenen unver­ söhnlichen Theoriegruppen. Im Folgenden werde ich versuchen, diese These in drei Schritten herzuleiten und zu verteidigen: Zunächst werde ich ein Problem verdeutlichen, mit dem sich die Phi­ losophie der Menschenwürde konfrontiert sieht, nämlich den Einwand, dass die Vielfalt und Divergenz der Theorien der Menschenwürde zeige, dass der Begriff der Menschenwürde inhaltsleer bzw. gar nicht ein einziger, allen Theorien gemeinsamer Begriff sei. In einem zweiten Schritt werde ich diese Behauptung widerlegen und die Gemeinsamkeiten vieler Theorien zeigen, die in ihrem Bezug zur personalen Identi­ tät liegen. Dies dient dem Infragestellen vermeintlich klarer und unversöhnlicher Grenzen zwischen einzelnen Denkschulen. Meiner Meinung nach sind wir uns in viel größerem Maße über den Kernbezug des Begriffs der Menschenwürde einig, als unsere Debatten widerspiegeln, und es kann kein Zweifel bestehen, dass der Begriff der Menschenwürde in diesen Debatten ein geteilter und inhaltlich spezifischer Be­ griff ist. Im letzten Schritt werde ich jedoch aufzeigen, dass nicht alle Theorien der Menschenwürde auf diese Art miteinander versöhnt werden können, sondern dass eine fundamentale theoretische Kluft zwischen Theorien der Kontingenz und Theo­

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rien der Unverfügbarkeit besteht. Diese Kluft werde ich näher erörtern und auch die Begriffe der Kontingenz und Unverfügbarkeit näher untersuchen. Im Ergebnis steht ein Verständnis der Menschenwürde anhand eines gemeinsamen Kerns der Theorien der Unverfügbarkeit, welches die Einwände vonseiten der Theoretikerinnen der Kon­ tingenz zurückzuweisen vermag.

I. Menschenwürde als Leerformel? In den Debatten zur Menschenwürde lassen sich mindestens vier Denkschulen un­ terscheiden: (1) Autonomie- und Eigenschaftstheorien, (2) Demütigungs- und Ach­ tungstheorien, (3) Statustheorien und (4) soziale bzw. Kommunikationstheorien. Erstere begründen die Menschenwürde häufig über eine wesentliche menschliche Eigenschaft, vor allem eine in gewisser Hinsicht qualifizierte Autonomiefähigkeit. Die bekannteste Theorie dieser Art ist sicherlich Kants Philosophie der Menschen­ würde, welche den Grund der menschlichen Würde in der moralischen Autonomie der Menschen verortet.1 Demütigungstheorien nehmen hingegen ihren modernen Ausgang in der Philosophie Margalits.2 Sie verbinden die Menschenwürde mit dem menschlichen Interesse, nicht gedemütigt zu werden, und somit mit der Selbstach­ tung bzw. Achtung, die jedem Menschen gebührt. Demütigungstheorien stellen in gewissem Sinne einen Versuch dar, die Menschenwürde weniger voraussetzungs­ reich als über eine dem Menschen wesentliche Eigenschaft zu begründen, da eine solche Begründung leicht in den Verdacht der ungerechtfertigten Metaphysik ge­ rät.3 Noch weniger voraussetzungsreich sind Kommunikationstheorien, welche die Menschenwürde auf kommunikative oder soziale Akte reduzieren, also vor allem auf faktische Zuschreibungs- und Anerkennungsverhältnisse. Solche Theorien basieren nicht auf einem universellen ethischen Argument für oder wider eine spezifische Behandlung von Menschen, sondern auf der faktisch vorliegenden Zuschreibung von oder Anerkennung der Menschenwürde. Beispielhafte Vertreter einer solchen Idee sind Hasso Hofmann4 und Niklas Luhmann.5 Mit dieser Art der Begründung ist selbstredend noch nichts über den Inhalt der Menschenwürde gesagt, der in den ein­ zelnen Theorien bzw. Zuschreibungsverhältnissen variieren kann. Ihre Gemeinsam­ keit liegt eher in der Reduktion eines universellen ethischen Anspruchs auf faktische soziale Verhältnisse. Sie werden daher auch im Folgenden inhaltlich nicht näher auf­ 1  Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, AA IV, 385, 436. Vgl. hierzu auch Hill, Kanti­ an Perspectives on the Rational Basis of Human Dignity, 215 ff.; von der Pfordten, Zur Würde des Menschen bei Kant, 9, 18. 2  Margalit, The Decent Society. 3  So etwa Neumann, Das Rechtsprinzip der Menschenwürde als Schutz elementarer menschli­ cher Bedürfnisse, 290. Vgl. hierzu auch die Beiträge in Neumann/Tiedemann/Liu, Menschenwür­ de ohne Metaphysik. 4  Hofmann, Die versprochene Menschenwürde, 353 ff. 5  Luhmann, Grundrechte als Institution, 53 ff.

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gegriffen. Diese drei Theoriearten entsprechen weitgehend denen, die Avishai Mar­ galit in The Decent Society als positive, negative und skeptische Begründungen der Gebote einer anständigen Gesellschaft aufstellt.6 Es gibt aber noch eine vierte Theorieart, die vor allem von Jeremy Waldron7 ver­ treten wird. Hier bezeichnet Menschenwürde nicht so sehr ein spezifisches Interesse des Menschen, etwa an seiner Autonomie oder daran, nicht gedemütigt zu werden, sondern der Begriff der Menschenwürde weist auf einen spezifisch ethischen, mora­ lischen oder rechtlichen Status hin, den alle Menschen teilen. Statustheorien bilden insofern nur bedingt eine eigene Denkschule, als sie letztlich enge Korrelationen mit den anderen Theorien aufweisen: So kann die Begründung für den gleichen ethi­ schen Status natürlich in menschlichen Eigenschaften oder der Tatsache liegen, dass Menschen auf spezifische Weise schlecht behandelt, nämlich gedemütigt werden können. Wenn hingegen der Status bloß rechtlicher oder faktisch-moralischer Art ist, so liegt eine Begründung über kommunikative oder soziale Tatsachen nahe. Aber der Fokus auf den gleichen Status beinhaltet dennoch ein Spezifikum, das es wert ist, als solches benannt zu werden: Wenn die Menschenwürde einen Status beschreibt, liegt es nahe, sie nicht als eigenes Recht, sondern als Grundlage aller oder spezifischer Rechte zu verstehen. Insofern sind sowohl Theorien, welche die Menschenwürde als Grundlage der Menschenrechte begreifen,8 als auch solche, welche einige ausgewähl­ te Rechte als Ensemble der Menschenwürde behaupten,9 Statustheorien. Und das hebt sie von anderen Theorien signifikant ab. Das soll als kurzer Überblick über die Denkschulen genügen. Hier stellt sich nun aber ein Problem: Wenn der Begriff der Menschenwürde wirklich so vage ist, dass seine Interpretationen vom Schutz der Autonomie über ein Demütigungsverbot bis hin zur Grundlage der Menschenrechte oder einiger weniger Rechte reichen können, dann liegt es nahe, dass es sich hierbei gar nicht um den gleichen Begriff handelt, sondern dass diese unterschiedlichen Denkschulen sich lediglich mit dem gleichen Wort (und seinen Übersetzungen) auf gänzlich unterschiedliche Begriffe beziehen. Menschenwürde wäre dann in der Tat eine Leerformel, wie einige Kritikerinnen und 6 

Margalit, The Decent Society, 57 ff., 76 ff., 89 ff. Wobei alle drei Begründungen bei Margalit letztlich in ein Demütigungsverbot münden, das als Maßgabe der Anständigkeit (decency) einer Gesellschaft dient. Die negative Begründung gleicht also zwar inhaltlich und methodisch vielen heutigen Demütigungstheorien, allerdings behauptet Margalit, dass auch die anderen Denkschulen letztlich auf ein Demütigungsverbot zielen – sofern man Margalits Gedanken zur Anständigkeit überhaupt so ohne Weiteres auf die Menschenwürde übertragen kann. 7  Vgl. die Beiträge in Waldron, Dignity, Rank, and Rights. 8  Vgl. etwa Düwell, Menschenwürde als Grundlage der Menschenrechte, 64, 73; Knoepffler, Menschenwürde heute, 9 ff.; Habermas, Das Konzept der Menschenwürde und die realistische Utopie der Menschenrechte, 343 ff.; Müller, Menschenwürde als Fundament der Menschenrechte, 99 ff. 9  Birnbacher, Mehrdeutigkeiten im Begriff der Menschenwürde, 4 ff.; ders., Drei Begriffe von Menschenwürde, 45 ff.

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Kritiker behaupten.10 Die Diskussionen über den Begriff wären philosophische Ver­ irrungen, in denen die Diskutierenden nicht bemerkten, dass sie gar nicht über das Gleiche redeten.11 Aber das scheint nicht so zu sein. Erstens gehen die meisten Theoretikerinnen und Theoretiker der Menschenwürde sehr wohl davon aus, dass sie über den gleichen Begriff sprechen. So gibt es etwa vermittelnde Positionen,12 die vor dem Hinter­ grund völlig unterschiedlicher Begriffe schwer verständlich wären, und man besitzt offenbar eine gemeinsame Diskussionsgrundlage, die bei unterschiedlichen Begrif­ fen lediglich eine Täuschung wäre. Und zweitens finden sich die Theorien auch nicht in einem luftleeren Raum, sondern in einer gesellschaftlichen Realität, in welcher der Schutz der Menschenwürde zum Kernbestandteil vieler nationaler Rechtssysteme sowie des internationalen Rechts gehört. Es geht darum zu verstehen, was wir in unserer rechtlichen und moralischen Praxis meinen und gerechtfertigterweise mei­ nen können und sollten, wenn wir von „Menschenwürde“ sprechen. Aber genügt das als Gegenargument? Vielleicht meinen wir eben alle etwas ande­ res und geben dem Wort völlig unterschiedliche, beliebige Bedeutungen. Auf den Punkt gebracht findet sich diese Unterscheidung bei Dietmar von der Pfordten, der zwischen vier „(Teil-)Begriffen“ der Menschenwürde unterscheidet.13 Es scheint mir äußerst relevant, ob die unterschiedlichen Verständnisse und Theorien Teile eines gemeinsamen Begriffs oder schlichtweg unterschiedliche Begriffe sind. Der Klam­ merzusatz bei von der Pfordten macht daher einen erheblichen Bedeutungsunter­ schied aus: Die philosophischen Debatten zwischen den Vertreterinnen und Vertre­ tern verschiedener Theorien können nur sinnhaft sein, wenn die einzelnen unter­ schiedenen Begriffe jedenfalls Teil eines gemeinsamen Begriffs der Menschenwürde sind bzw. sich auf den gleichen Begriff beziehen. Ansonsten bliebe nur eine Debatte über die ethische Rechtfertigbarkeit der inhaltlichen Positionen, während der Begriff der Menschenwürde offenbar gar nicht miteinander geteilt würde. Ein erster Gegeneinwand gegen eine solche Kritik findet sich in der Begriffstheorie Ronald Dworkins, der verschiedene Arten von Begriffen unterscheidet. So teilen wir einige Begriffe über Kriterien, welche die korrekte Begriffsverwendung markieren. Der Begriff des Klaviers beispielweise wäre definiert über gewisse Kriterien, etwa Tasten in einer bestimmten Anordnung, den Zweck des Musizierens und so weiter. Wenn ein Grenzfall auftritt, bei dem man sich nicht einig ist, ob ein Gegenstand ein Klavier ist, wird man dies über solche Kriterien debattieren und entscheiden. Ob also ein E-Piano ein Klavier ist, wird anhand dessen entschieden, ob man die analoge Mechanik des Klaviers als Kriterium des Begriffes versteht oder nicht. Wertbegriffe 10 Etwa

Kondylis, Würde, 637, 677; Macklin, Dignity is a Useless Concept. Vgl. zur Kritik sprachlicher Verirrungen in der Philosophie: Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, v. a. §§  132, 154, 339. 12 Etwa Nida-Rümelin, Warum Menschenwürde auf Freiheit beruht, 141 ff. 13  von der Pfordten, Menschenwürde, 9. Vgl. auch den Beitrag von Dietmar von der Pford­ ten in diesem Band. 11 

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im weiteren Sinne teilen wir aber nach Dworkin nicht auf diese Art, also nicht über geteilte Kriterien, sondern über paradigmatische Fälle. Wie der Wertbegriff der Frei­ heit verstanden werden müsse, sei also zum Beispiel nicht kriterial, sondern allein aus dem besten Verständnis der paradigmatischen Fälle herzuleiten. Diese Begriffe seien interpretative Begriffe, d. h., sie verlangten nach der besten Interpretation para­ digmatischer Anwendungsfälle.14 Dementsprechend ist die Tatsache, dass Menschenwürdetheorien sich nicht über die Kriterien und Begründungen der Menschenwürde einig sind, für einen geteilten Begriff der Menschenwürde nicht problematisch, solange sie sich auf gemeinsame paradigmatische Fälle beziehen. Aber auch dann könnte man kritisieren, dass die Interpretationen so weit auseinanderliegen und die paradigmatischen Fälle aus so unterschiedlichen Gründen zusammengefasst werden, dass diese Theoriegruppen sich nicht auf einen gemeinsamen Begriff bezögen oder dieser Begriff so vage wäre, dass er allzu viele und divergente Interpretationen zuließe.

II. Personale Identität als Kern des Begriffs der Menschenwürde Es ist folglich zentral für das Verständnis der Menschenwürde und der philosophi­ schen und rechtlichen Debatten um diese, dass die genannten Denkschulen einen gemeinsamen Kern aufweisen. Genau das wird im Folgenden zu zeigen versucht. Bei aller Uneinigkeit ist es nämlich nicht so, wie die Kritik der „Leerformel“ behauptet, dass der Begriff der Menschenwürde jede beliebige Bedeutung annehmen kann. In nahezu allen Theorien gibt es, so die hier vertretene These, einen mindestens impli­ ziten Bezug zur personalen Identität. Diesen als Kern des Begriffs der Menschenwür­ de zu verstehen, ermöglicht zugleich ein besseres Verständnis der Debatte um die Menschenwürde und der theoretisch relevanten Unterschiede. Vor allem aber er­ möglicht uns die Erkenntnis dieses gemeinsamen Kerns zu verstehen, dass viele The­ orien der Menschenwürde mehr miteinander gemeinsam haben, als es zunächst den Anschein haben mag, und dass sie daher als Interpretationen des gleichen Begriffes verstanden werden können, während einige, besonders reduktionistische Theorien in der Tat den Kern dieses Begriffes in Abrede stellen. Der Begriff der personalen Identität ist selbst präzisierungsbedürftig. Eine solche Präzisierung kann hier allerdings nur in sehr begrenztem Rahmen erfolgen.15 Es scheint für die Zwecke dieses Aufsatzes auszureichen, eine grobe Definition der per­ sonalen Identität anzubieten, die ein gutes Verständnis der folgenden Analyse er­ möglicht: Unter personaler Identität verstehe ich die Zusammenfassung derjenigen Aspekte, die wir für unsere individuelle Persönlichkeit für konstitutiv erachten. Die­ se Aspekte definieren unsere Persönlichkeit auf eine Art, dass wir sie nicht als Gegen­ 14 

15 

Dworkin, Justice for Hedgehogs, Kap.  8. Siehe genauer Gisbertz, Overcoming Doctrinal School Thought.

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stand bloß zufälliger, willkürlicher Änderungen begreifen können. Es sind die zen­ tralen Merkmale unserer Persönlichkeit. Welche Merkmale das sind, wird in der folgenden Analyse noch deutlicher werden und diese tentative Definition schärfen. Wie hängen diese Merkmale nun mit den verschiedenen Theorien der Menschen­ würde zusammen? (1) Beginnen wir mit den Autonomietheorien: Klassischerweise wurde und wird die Menschenwürde anhand von spezifisch menschlichen Eigenschaften definiert. Im Laufe der Geschichte wurden verschiedene, meist eng verwandte Eigenschaften hier­ für vorgeschlagen, etwa die Gottesebenbildlichkeit, die Freiheit, die Vernunft und die Moralität.16 Sie alle rekurrieren mehr oder weniger direkt auf die menschliche Autonomie als das Vermögen, nach selbst gesetzten Regeln bzw. selbstbestimmt zu handeln: Für dieses Vermögen muss der Mensch Vernunft besitzen, die das Setzen und Verfolgen von selbstbestimmten Zwecken ermöglicht, er muss frei sein, sich nach den selbstgesetzten Regeln zu richten, und erst die Autonomie ermöglicht mo­ ralisches, d. h. prinzipiengeleitetes, Verhalten. Schließlich wurde die Gottesebenbild­ lichkeit in ihren wichtigsten Deutungen stets im Sinne dieser Merkmale verstanden, etwa bei Thomas von Aquin als Begabung mit Freiheit und Vernunft.17 Heute wird daher auch häufig genau diese eine Eigenschaft, die Autonomie, zur Begründung der Menschenwürde angeführt. Doch Autonomie allein scheint ein viel zu weiter Begriff für die Menschenwürde zu sein. Personale Autonomie in einem weiten Sinne um­ fasst alle frei gewählten Handlungen, etwa die Wahl, zum Abendessen ein Schnitzel oder eine Pizza zu essen. Diese Wahl ist aber für die meisten offenkundig nicht Teil des Schutzbereichs der Menschenwürde.18 Autonomie allein ist viel zu weit, um eine inhaltliche Bestimmung der Menschenwürde zu bieten. Daher beschränkt etwa Dietmar von der Pfordten die Menschenwürde, jedenfalls in der von ihm als „groß“ bezeichneten Form, auf die Selbstbestimmung über die eigenen Belange, also eine Selbstbestimmung zweiter Ordnung.19 Es ist offenbar nötig, die Autonomie mit wei­ teren Qualifikationen zu versehen, um ihren Bezug zur Menschenwürde verständ­ lich zu machen. Diese Qualifikation lässt sich meiner Meinung nach gut mit der Selbstbestim­ mung über die eigenen Belange fassen. Nehmen wir noch einmal das Beispiel des Abendessens: Wähle ich ein Schnitzel oder eine Pizza? Die meisten treffen diese Wahl vermutlich nach ihrem primären Interesse, nämlich anhand der einfachen Fra­ ge: Worauf habe ich mehr Lust? Dann läge es fern, diese freie Entscheidung als einen 16  Vgl. allgemein zur Geschichte der Menschenwürde: von der Pfordten, Menschenwürde; Gisbertz, Menschenwürde in der angloamerikanischen Rechtsphilosophie. 17  von Aquin, Summa Theologica, Bd.  7, I 93, 4. Vgl. auch den Beitrag von Franz-Josef Bor­ mann, in diesem Band sowie Gisbertz, Menschenwürde in der angloamerikanischen Rechtsphilo­ sophie, 28–33. 18  Vgl. zu einer Kritik der Menschenwürde als Autonomie, Macklin, Dignity is a Useless Con­ cept. 19  von der Pfordten, Menschenwürde. Vgl. auch den Beitrag in diesem Band.

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Fall der Menschenwürde zu begreifen. Wenn jemand, der mehr Lust auf eine Pizza hat, nur ein Schnitzel zu essen erhält, ist die Menschenwürde nicht betroffen. Das sieht aber anders aus, wenn in der Wahl prinzipielle Gründe zum Ausdruck kommen: Vielleicht bevorzugt man eine Pizza, weil diese vegetarisch ist und man aus moralischen Gründen kein Fleisch essen möchte. Ein Zwang, nicht nach den eigenen moralischen Grundsätzen leben zu können, scheint sehr viel eher in den Anwen­ dungsbereich der Menschenwürde zu fallen.20 Gleichzeitig scheint mir aber auch, dass man an diesem Fall die Grenze der Definition als Selbstbestimmung über die eigenen Belange sehen kann. Ich bestimme auf einer Sekundärebene über meine Be­ lange, wenn ich beispielsweise die Pizza wähle, weil sie etwas gesünder ist, d. h. ich wäge zwei Belange erster Ordnung ab und gewichte mein Interesse an Gesundheit höher als meinen Appetit auf ein Schnitzel. Solange eine gesunde Ernährung für mich aber keine überragend wichtige Bedeutung besitzt, scheint es mir unangemes­ sen, die Menschenwürde ins Spiel zu bringen. Was unterscheidet diese Fälle vielmehr? Unsere autonomen Entscheidungen kon­ stituieren, wer wir sind. Wir definieren uns selbst durch all unsere Entscheidungen. Doch nicht all diese Entscheidungen besitzen ein bleibendes Gewicht in unserer Selbstdefinition: Weder die lustgesteuerte Wahl zwischen Schnitzel und Pizza noch die bloß nebensächliche gesundheitsbewusste Ernährung prägen, wer wir wirklich sind. Zwar gehören sie zu uns und sind Teil einer umfassenden Selbstdefinition, aber wir hätten auch die gegenteilige Wahl treffen können und würden uns dennoch als die gleiche Person verstehen. Wenn die autonome Entscheidung allerdings funda­ mental definiert, wer wir sind und sein wollen, also beispielsweise wichtige morali­ sche Grundsätze oder zentrale Lebenspläne zum Ausdruck bringt, dann erhält sie für uns ein völlig anderes Gewicht. Die moralische Überzeugung, seine Mittäterin­ nen und Mittäter nicht zu verraten, die durch Folter gebrochen wird, oder der Le­ bensplan, Vater zu werden, der durch eine Zwangskastration verhindert wird, betref­ fen beispielsweise einen Bereich unserer Persönlichkeit, der für uns von herausragen­ der Bedeutung ist. Es sind diese autonomen Entscheidungen, welche wir mit dem Gebot der Achtung der Menschenwürde schützen wollen. Eine autonome Entschei­ dung ist erst dann menschenwürderelevant, wenn sie Teil der personalen Identität ist, wenn sie für uns konstitutiv für unsere individuelle Persönlichkeit ist. Der Zu­ sammenhang von Autonomie und Menschenwürde ergibt sich also aus dem beson­ deren Schutzinteresse, das wir an unserer personalen Identität haben.21 20  Hierin liegt noch keine Behauptung, dass dieser Fall ein Anwendungsfall der Menschenwürde ist. Wie wir unten sehen werden, bedarf es für eine Menschenwürdeverletzung einer weiteren, sym­ bolischen Ebene. 21  Man sollte nicht verschweigen, dass ein solches Begriffsverständnis nicht zu einer moralisch absolut geschützten Vorstellung der Menschenwürde führen muss. Menschenwürde könnte also moralisch abwägbar sein. Es gibt aber sehr gute rechtsethische Gründe, eine solche Abwägung im Recht zu verbieten, vgl. etwa von der Pfordten, Ist staatliche Folter als fernwirkende Nothilfe ethisch erlaubt?; Gisbertz, Overcoming Doctrinal School Thought, 205.

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(2) Einen sehr ähnlichen Zusammenhang können wir auch bei der zweiten großen Denkschule, nämlich den Demütigungstheorien, nachweisen. Diese Theorien stüt­ zen die Menschenwürde nicht auf eine Eigenschaft, wie die Autonomie, sondern de­ finieren sie über die Handlungen, die Verletzungen der Menschenwürde darstellen. Diese Handlungen werden als Demütigungen bezeichnet. Anstatt eine abstrakte Ei­ genschaft zu bestimmen, deren Schutz mit dem Gebot der Achtung der Menschen­ würde korreliert, ziehen es Demütigungstheoretikerinnen und -theoretiker vor, Fälle der Verletzung der Menschenwürde zu untersuchen, um die Norm des Schutzes und der Achtung der Menschenwürde auf der Basis dieser paradigmatischen Verletzun­ gen begreifbar zu machen. Der in unserer Praxis vorhandene Begriff der Menschen­ würde wird also nicht abstrakt bestimmt, sondern anhand konkreter Verletzungser­ fahrungen erschlossen. Das entspricht in gewisser Weise der erwähnten Interpreta­ tion von Wertbegriffen über ihre paradigmatischen Anwendungsfälle bei Dworkin. Der Gegenbegriff zu den Demütigungen ist die Achtung: Menschenwürdeverletzun­ gen lassen die notwendige Achtung vor dem anderen vermissen und sind daher de­ mütigend. Das Problem vieler Demütigungstheorien ist allerdings, dass die Begriffe der De­ mütigung und Achtung nicht weniger vage sind als der Begriff der Menschenwür­ de.22 Ist es demütigend, wenn mich jemand auf der Straße abfällig anschaut, weil ihm mein Äußeres missfällt? Und was ist, wenn derjenige auf mich zeigt und lacht? Oder wenn er mir vor die Füße spuckt? Klarerweise können jedenfalls die ersten beiden Fälle (und ich denke auch der dritte) wohl kaum Verletzungen des höchsten und absolut geschützten Verfassungswertes darstellen. Sie zeigen einen Bezug zur Würde, das ist unzweifelhaft. Aber „Würde“ ist eben nicht „Menschenwürde“. Es gibt andere Würden, soziale Würden. Auch bei Verletzungen dieser Würden sprechen wir im Alltagssprachgebrauch von Demütigungen. Avishai Margalit, auf dessen Theorie der Decent Society viele Demütigungstheori­ en basieren, unterscheidet demnach zwischen Eingriffen in das Selbstwertgefühl und in die Selbstachtung. Das Selbstwertgefühl (self-esteem) bildeten wir anhand unserer Leistungen und Handlungen aus. Verletzungen dieses Gefühls nennt er Kränkung (insult). Die Selbstachtung hingegen sei nicht an den Charakter oder die Leistungen eines Menschen gebunden. Sie bezeichne vielmehr die Achtung, die jedem Menschen qua Mensch- bzw. Person-Sein gebühre. Allein die Verletzung dieser Selbstachtung bezeichnet Margalit als Demütigung (humiliation).23 Doch hilft diese Einschränkung wirklich, um besser zu verstehen, was eine Demü­ tigung ist? Was ist die Achtung, die jedem und jeder qua Person-Sein gebührt? Es scheint unmöglich, einen solchen Achtungsanspruch von anderen Achtungsansprü­ chen über eine bloße Phänomen- bzw. Verletzungsbeschreibung begreifbar zu ma­ 22  Zu einer Kritik von Demütigungstheorien Horn, Lässt sich Menschenwürde in Begriffen von Selbstachtung und Demütigung verstehen?, 103. Vgl. auch Gisbertz-Astolfi, Die Sackgassen des Humiliationismus in Metaphysik oder Positivismus. 23  Margalit, The Decent Society, 44 ff., 119 ff.

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chen. Hierfür bedarf es eben doch einer abstrakten Theorie, worauf der menschliche Anspruch auf Achtung beruht.24 Nun ist es wiederum so, dass man Demütigungen in dem notwendigen, an­ spruchsvollen Sinne der Demütigungstheorien recht gut anhand der personalen Identität erklären kann. Verachtung kann uns für viele Dinge entgegengebracht wer­ den und die wenigsten davon eignen sich für den Vorwurf einer Menschenwürdever­ letzung. Der abfällige Blick auf der Straße ist hierfür ein ebenso klares Beispiel wie das arrogante und verächtliche Kopfschütteln einer Kollegin auf einer Tagung, wäh­ rend man einen Vortrag hält. Aber auch die Inhalte meiner personalen Identität kön­ nen missbilligt werden, ohne dass meine Menschenwürde verletzt wird: Wenn je­ mand meine Wahl der vegetarischen Pizza lächerlich macht und damit Unverständ­ nis und vielleicht auch Verachtung für meine moralische Überzeugung ausdrückt, mag das in vielerlei Hinsicht problematisch sein, eine Verletzung meiner Menschen­ würde ist es nicht. Der Zusammenhang zwischen personaler Identität und Achtung ist komplexer: Man kann sich ihm annähern, indem man zur Kenntnis nimmt, dass es ausweislich des Wortes „Selbstachtung“ offenbar um die Achtung eines Selbst geht. Dieses Selbst bzw. diese personale Identität konstituieren wir durch unsere wichtigsten Lebensplä­ ne und Selbstbestimmungen höherer Ordnung. Es kann aber auch andere Merkmale beinhalten, etwa und vor allem die Zugehörigkeit zu identitätsstiftenden Gruppen sowie andere Identitätsmerkmale. Dieses Selbst wird nun nicht schon dadurch missund verachtet, dass einzelne dieser Merkmale nicht als wertvoll anerkannt werden. Doch einige Handlungen drücken nicht nur mangelnde Achtung gegenüber einem einzelnen persönlichkeitsdefinierenden Merkmal aus, sondern die Nichtanerken­ nung des Gegenübers als Wesen mit einer selbstkonstituierten Persönlichkeit und mit Anspruch auf diese Selbstkonstituierung.25 Das geschieht zum Beispiel, wenn eine Person auf eines dieser Merkmale, etwa die Hautfarbe, die Religion oder eine zentrale moralische Überzeugung reduziert wird und sich daran eine Nichtanerken­ nung knüpft. Julian Nida-Rümelin fasst einen ähnlichen Gedanken, wenn er Menschenwürde­ verletzungen als existenzielle Demütigungen kennzeichnet, welche vorlägen, wenn einem Menschen Gründe gegeben würden, sich nicht als autonomes und verantwort­ liches Wesen behandelt zu fühlen.26 Es geht bei der menschenwürderelevanten De­ mütigung nicht um die einzelne autonome Entscheidung – selbst im Falle von Merk­ malen der personalen Identität –, sondern um die Achtung des Menschen als Wesen, das eine eigene personale Identität hat, das sich als Selbst wahrnimmt. Die Demütigung, das muss man sich vor Augen führen, ist schließlich ein symbo­ lischer Akt. In ihr liegt begrifflich ein kommunikativ-symbolisches Element: Die 24  Vgl. auch Gisbertz-Astolfi, Die Sackgassen des Humiliationismus in Metaphysik oder Posi­ tivismus. 25  Stoecker, Die philosophischen Schwierigkeiten mit der Menschenwürde, 8, 18. 26  Nida-Rümelin, Warum Menschenwürde auf Freiheit beruht, 141 ff.

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Tatsache, dass Menschen voneinander wissen, dass sie allgemeine Gesetze und mo­ ralische Prinzipien ausbilden und beachten können, führt auch dazu, dass menschli­ che Handlungen gegenüber anderen Menschen einen Symbolwert aufweisen. Men­ schen sind untereinander dazu in der Lage, mit einer einzelnen Handlung mehr zu tun, als nur eine spezifische Folge mit einer spezifischen Handlung hervorzubringen. In menschlichen Handlungen drücken sich Urteile aus, die einen die bloße Hand­ lung übersteigenden Gehalt ausweisen. Der Mensch ist animal symbolicum.27 Um sich das zu verdeutlichen, muss man sich nur fragen, was die gleiche Handlung eines Menschen und eines Tieres in uns für Reaktionen auslöst: Stellen Sie sich vor, Sie wurden von einem Lama und von einer Bekannten angespuckt. Es scheint klarerwei­ se falsch zu sein, der Handlung des Lamas eine die bloße Handlung übersteigende symbolische Bedeutung zuzuschreiben. Hingegen liegt es nahe, dass die Bekannte mit dieser Handlung symbolisch mehr kommuniziert hat, als die Deskription der Handlung erfasst. Menschen bilden eine symbolisch-kommunikativ verfasste Ge­ meinschaft.28 Das Anspucken drückt nun zwar sicherlich eine Missachtung aus. Es ist aber ­(ceteris paribus) noch kein symbolischer Ausdruck der Missachtung als Wesen mit personaler Identität. Viele andere Handlungen, etwa das von Stoecker und Hörnle erwähnte Beispiel29 jüdischer Mitbürgerinnen und Mitbürger, die unter dem NS-­ Regime mit Zahnbürsten den Gehsteig reinigen mussten, bieten hingegen klare Bei­ spielsfälle. Wenn einem Menschen aufgrund einzelner oder der Gesamtheit seiner Merkmale der personalen Identität die Achtung als Wesen verweigert wird, das eine eigene personale Identität ausbildet, wird eine Demütigung zur Menschenwürde­ verletzung.30 (3) Es ist nach all dem nicht mehr schwer den Zusammenhang von Demütigungs­ theorien und Statustheorien zu erkennen. Statustheorien, vor allem die bekannteste, nämlich diejenige von Jeremy Waldron, gehen davon aus, dass allen Menschen ein Anspruch zusteht, als hochrangiges Wesen behandelt zu werden. Alle Menschen be­ sitzen den gleichen hohen Status.31 So sehr diese Überlegungen vage bleiben, so ist doch klar zu erkennen, dass dieser hohe Status genau dann verletzt ist, wenn der Status selbst in Frage steht und nicht nur einzelne Rechte, die aus ihm herrühren. 27 

Cassirer, Versuch über den Menschen, 51. Vgl. hierzu bereits Gisbertz, Würde des Menschen – Würde des Tiers? 29  Hörnle, Menschenwürde als Freiheit von Demütigungen, 41, 54; Stoecker, Menschenwür­ de und das Paradox der Entwürdigung, 133, 135 ff. 30  Insoweit weisen Demütigungstheorien auch auf eine Lücke in vielen Autonomietheorien hin, insofern es bei der Menschenwürde nicht um den Schutz einzelner autonomer Entscheidungen geht, sondern um den Schutz der autonom ausgebildeten personalen Identität. Das scheint mir auch sehr viel besser der kantischen Theorie zu entsprechen, in der die Menschenwürde zwar in der morali­ schen Autonomie der Menschen begründet ist, aber nicht bloß den Anspruch auf Schutz dieser Autonomie bezeichnet. 31  Waldron, Dignity and Rank, 13, 33; ders., Law, Dignity, and Self-Control, 47, 59. 28 

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Wann anders sollte das der Fall sein, wenn nicht im Falle eines symbolischen In-Ab­ rede-Stellens dieses Status? Ein solches symbolisches In-Abrede-Stellen ist aber nichts anderes als die soeben beschriebenen menschenwürderelevanten Demütigun­ gen. Waldrons Theorie ist inhaltlich nicht neu. Sie legt nur einen anderen Fokus als die Demütigungstheorien, nämlich auf den Status statt auf dessen Achtung und Ver­ letzung. Interessanterweise unterlässt Waldron eine (rechts-)ethische Begründung in wei­ ten Teilen. Er merkt an, dass er für seine Begründung beim Recht ansetze, da die menschliche Würde vor allem ein Rechts- und Sozialkonstrukt sei, das vom Recht (im Wechselspiel mit moralischen Überlegungen) entwickelt worden sei.32 Mich überzeugt das nicht. Es scheint eher so zu sein, dass auf diese Weise der schwierigen moralphilosophischen Begründung ausgewichen wird. Doch dadurch verwischt ge­ nau die Gemeinsamkeit, auf die dieser Artikel hinweisen möchte. Waldron argu­ mentiert gegen Prinzipien- und Wertbegriffe der Menschenwürde, aber keine Theo­ rie der Menschenwürde als Wert oder Prinzip würde im Ergebnis den gleichen Status aller Menschen verneinen. Sie begründen diesen nur anders bzw. lassen sich über­ haupt auf eine moralphilosophische Begründung ein. Aber warum sollten alle Menschen nicht nur den gleichen, sondern zugleich einen hohen moralischen und rechtlichen Status haben? Die Antwort kann nur in der selbstkonstituierten menschlichen Persönlichkeit liegen, die herabzuwürdigen eine menschenwürderelevante Demütigung darstellt und die sich ganz maßgeblich, wenn auch nicht ausschließlich aus den autonomen Entscheidungen des Individuums kon­ stituiert. Das Recht verweist hier nicht einfach auf eine kontingente Konvention. Das scheint auch Waldron nicht anzunehmen. Vielmehr geht es ihm wohl um eine Art Konstruktivismus im Sinne Rawls‘.33 Doch dieser setzt bei Rawls sowohl in der ver­ tragstheoretischen34 als auch in der kantianischen35 Fassung die Freiheit und Gleich­ heit der Menschen voraus. Er unterstellt also moralphilosophische Grundlagen, um die es hier genau geht. Ich will nicht abstreiten, dass eine konstruktivistische Herleitung viele philosophi­ sche Vorteile im Falle von Meinungsverschiedenheiten bietet. Sie scheint mir auch nicht im Widerspruch zu vielen inhaltlichen Bestimmungen der Menschenwürde zu stehen. Hierauf kann ich in diesem Rahmen nicht näher eingehen. Es sollte aber ein­ leuchten, dass dieser methodische Unterschied nicht die Ähnlichkeit in der Sache überdecken kann. Besonders auffällig ist diese Ähnlichkeit in Bezug auf autonomie­ theoretisch geprägte Theorien eines Rechts auf Rechte36 und in Bezug auf Anerken­ nungstheorien37, die auch eine moralphilosophische Begründung für den gleichen 32 

Waldron, Dignity and Rank, 14 f., 20. Rosen, Dignity Past and Present, 79, 81. 34 Vgl. Rawls, A Theory of Justice, 10 f. 35  Rawls, Kantischer Konstruktivismus in der Moraltheorie, 80–158, 133. 36  Vgl. den Beitrag von Stephan Kirste in diesem Band. 37  Vgl. den Beitrag von Markus Rothhaar in diesem Band. 33 So

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Status bieten: Das Recht auf gleiche Rechte entspricht der Anerkennung des gleichen Status einer selbstkonstituierten Persönlichkeit. Wir werden nicht als Wesen behan­ delt, die aufgrund ihrer spezifischen Art der Persönlichkeitsausbildung einen we­ sentlichen gleichen moralischen Status haben, wenn uns der basale Anspruch auf Rechtsfähigkeit verwehrt wird. Es ist also, so können wir festhalten, keineswegs so, dass die verschiedenen Denk­ schulen der Menschenwürde aneinander vorbeireden. Viele Theorien weisen implizit einen gemeinsamen Kern auf. Das sagt natürlich noch nichts darüber, welche Theo­ rie die beste Interpretation dieses Kerns anbietet. Diese Frage werde ich hier auch nicht zu beantworten versuchen.38

III. Kontingenz oder Unverfügbarkeit? Im Folgenden soll vielmehr das bisher gezeichnete, nahezu harmonische Bild der Menschenwürdedebatte fundamental korrigiert werden. Die meiner Meinung nach zentrale Abgrenzung muss aber nicht zwischen Demütigungstheorien, Statustheo­ rien und Autonomietheorien erfolgen, sondern zwischen denjenigen Theorien, wel­ che die Menschenwürde als unverfügbar verstehen, und denjenigen, die sie für kon­ tingent halten. Theorien, welche die Menschenwürde für kontingent und veräußer­ lich halten, reduzieren deren Gehalt auf eine Art und Weise, die grundlegend unvereinbar ist mit der Menschenwürde als oberstem Wert der Rechtsordnung. Um das zu plausibilisieren, müssen wir zunächst verstehen, was Kontingenz und Unverfügbarkeit hier bedeuten. Das soll zuerst abstrakt erklärt und im Anschluss anhand ausgewählter Theorien exemplifiziert werden. Unter Unverfügbarkeit verstehe ich die Eigenschaft der Menschenwürde, dass sie den Menschen unabhängig von deren Verhalten zukommt, d. h. dass man sie weder verlieren kann noch erst erwerben muss. Sie wird den Menschen auch nicht nur zu­ gesprochen – oder gar abgesprochen. Menschen besitzen39 Menschenwürde unab­ hängig von all diesen kontingenten sozialen Faktoren, und sie besitzen alle die glei­ che Menschenwürde bzw. einen gleich starken Anspruch aus der Menschenwürde. Kontingenz verstehe ich in Bezug auf die Menschenwürde demnach als die Be­ hauptung, der Anspruch auf menschenwürdige Behandlung sei in irgendeiner Weise von den zufälligen sozialen Verhältnissen abhängig. Menschenwürde kann nach Theorien der Kontingenz also verloren werden oder sie muss erst durch Leistung er­ worben werden. Sie ist ein soziales Konstrukt und zwar nicht im Sinne einer notwen­ digen sozialen Tatsache, die auf ethischen Vernunftgründen basiert. Die Menschen­ 38 

Siehe hierzu Gisbertz, Overcoming Doctrinal School Thought. Mit dieser Formulierung soll nicht ausgesagt sein, dass die Menschenwürde Eigenschaft statt Status oder Prinzip wäre. Diese Frage kann hier offenbleiben. 39 

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würde entweder Einzelner, die sie verwirken oder nicht erwerben, oder als sozial an­ erkanntes Schutzgut ist also eine zufällige Erscheinung. Es könnte auch anders sein. Es mag viele mit der Menschenwürde verbundene kontingente Aspekte geben. Aber die These der Unverfügbarkeit steht dafür, dass der für alle Würdeträgerinnen und -träger gleiche ethische Anspruch nicht kontingent, d. h. weder durch die sozia­ len Verhältnisse noch durch die individuelle Leistung bestimmt, ist.40 Die gegentei­ lige Kontingenzbehauptung kann verschiedene Formen annehmen: Sie kann einer­ seits die ethische Begründung und Begründbarkeit der Menschenwürde anzweifeln oder andererseits ein alternatives Verständnis von Menschenwürde anbieten, das die These der Unverfügbarkeit ablehnt. Zu der ersten Gruppe zählen vor allem zwei Arten von Theorien, nämlich erstens metaethisch inspirierte Positionen, welche der Ethik als solcher und insbesondere in Bezug auf die Menschenwürde die Möglichkeit absprechen, objektiv wahrheitsfähig zu sein. Eine solche Position findet sich etwa bei Mario Brandhorst.41 In dessen Kri­ tik verbindet sich eine allgemeine moderat-relativistische Metaethik mit einer spezi­ fischen Skepsis gegenüber der Menschenwürde. Eine relativistische Grundlagenkri­ tik in Bezug auf einen spezifischen Begriff der Ethik und des Rechts ins Feld zu füh­ ren, scheint mir allerdings problematisch. Entweder stimmt diese Kritik per se oder nicht. Sie kann sich aber nicht nur auf einen Begriff beziehen. Vielmehr wird so eine scheinbare Einigkeit zwischen Theorien der Kontingenz hergestellt, die gar nicht ge­ geben ist. Wenn der Relativismus Recht hat, dann stimmen auch diejenigen univer­ salistischen Theorien der Menschenwürde nicht, die diese für einen kontingenten, graduellen und viel schwächeren Wert halten als Theorien der Unverfügbarkeit. In­ sofern werde ich diese Debatte hier auch nicht aufgreifen. Es ist selbstverständlich, dass unsere inhaltlichen ethischen Debatten objektive (und in diesem Fall auch uni­ verselle) Wahrheitsansprüche, d. h. einen metaethischen Kognitivismus, auf die eine oder andere Art voraussetzen. Unter den Theoretikern der Menschenwürde finden sich dabei meiner Wahrnehmung nach eher mehr als weniger, die einen vorsichtigen metaethischen Realismus42 oder eine konstruktivistische bzw. transzendentalphilo­ sophische43 Argumentation begründen und nicht schlichtweg voraussetzen.44 Interessanter scheint mir die Kritik bei Brandhorst, dass die Menschenwürde be­ sondere historische Verdachtsmomente gegen ihre säkular-universalistische Deu­ tung mit sich brächte. Brandhorst stützt diese These auf eine angebliche Diskontinu­ ität zwischen theologischen und metaphysischen Ideen der Menschenwürde und 40 

So wohl auch Brandhorst/Weber-Guskar, Einleitung, 7. Brandhorst, Zur Geschichtlichkeit menschlicher Würde, 113 ff. 42  Dworkin, Justice for Hedgehogs, passim; Nida-Rümelin, Unaufgeregter Realismus sowie ders., Warum Menschenwürde auf Freiheit beruht, 127 ff. 43 Vgl. Göbel/Düwell, Die „Notwendigkeit“ der Menschenwürde, 60 ff.; Düwell, Menschen­ würde als Grundlage der Menschenrechte, aber auch Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sit­ ten, passim sowie 433 f.; Gewirth, Human Dignity as the Basis of Rights. 44  Vgl. auch die Beiträge in Neumann/Tiedemann/Liu, Menschenwürde ohne Metaphysik. 41 Vgl.

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heutzutage noch philosophisch vertretbaren Positionen.45 Das scheint mir der Be­ griffsgeschichte nicht gerecht zu werden. Die unverfügbare Menschenwürde wurde von Cicero über das christliche Mittelalter und Kant bis zu den oben dargestellten zeitgenössischen Theorien nicht besonders divers verstanden. Die Vernunft bei Cicero, die Gottesebenbildlichkeit des Christentums, die transzendental verstandene Freiheit und moralische Autonomie bei Kant – sie alle verweisen im Rahmen ihrer Zeit auf die gleiche Besonderheit des Menschen, nämlich dass uns nur der Mensch als autonomes und moralisch verantwortliches Wesen gegenübertritt. Die darwinistisch inspirierte Kritik an dieser Erkenntnis, die auch Bittner46 vorbringt, verkürzt das Problem dramatisch. Man muss nicht verneinen, dass der Mensch ein Naturwesen und Tier ist, man muss auch nicht die moralische Zweckhaftigkeit nichtmensch­ licher Tiere leugnen, um zu sehen, dass der Mensch sich von diesen Tieren jedenfalls für andere Menschen fundamental unterscheidet. Das kann hier nicht im Detail aus­ geführt werden. Aber es ist doch auffällig, dass diese Kritik nie mit der gleichzeitigen Forderung nach moralischer Verantwortung von hochentwickelten Tieren einher­ geht. Die meisten Menschen sind eben doch (für die menschliche Moral) etwas ande­ res als nichtmenschliche Tiere.47 Die Behauptung einer Diskontinuität der Theorien verfehlt die Begriffsgeschichte, wie beispielsweise auch Franz Bormann in seinem Beitrag in diesem Band zeigt. Die Alternative, die Kritikerinnen und Kritikern wie Brandhorst bleibt, kann man besonders deutlich in den oben erwähnten Kommunikationstheorien sehen. Bei Hasso Hofmann48 beispielsweise ist die Menschenwürde im juristischen Sinne das gegenseitige Gründungsversprechen der Bundesbürgerinnen und -bürger unterei­ nander. Sie gelte daher in Deutschland, aber nicht zum Beispiel im gleichen Maße gegenüber einem hungernden Menschen, der zur deutschen Botschaft in einem an­ deren Land komme. Hofmann hofft, auf diese Weise erklären zu können, warum die Menschenwürde in Deutschland Ansprüche auf ein Existenzminimum gewährt, die im Außenverhältnis nicht eingehalten werden. Doch wenn die Menschenwürde nur ein Gründungsversprechen ist, dann ist sie kontingent. Die Bundesbürgerinnen hät­ ten sich gegenseitig auch alle möglichen anderen Dinge versprechen können. Eine ethische, universelle Grundlage, die dieses Versprechen fordert, erwähnt Hofmann nicht. Ein anderes Beispiel ist die Theorie Luhmanns.49 Für Luhmann ist der Mensch in der modernen, ausdifferenzierten Gesellschaft in der Situation, dass er seine ver­ schiedenen sozialen Rollen in einer gelungene Identitätsleistung zusammenbringen muss, d. h., er muss alle seine Rollen so ausfüllen, dass sie eine konsistente Persön­ lichkeit ergeben. Diese so konstituierte Persönlichkeit wird durch das Grundrecht 45 

Brandhorst, Zur Geschichtlichkeit menschlicher Würde, 138 f. Bittner, Abschied von der Menschenwürde, 91 ff. 47 Vgl. Gisbertz, Würde des Menschen – Würde des Tiers? 48  Hofmann, Die versprochene Menschenwürde, 353 ff. 49  Luhmann, Grundrechte als Institution, 53 ff. 46 

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auf Achtung der Menschenwürde geschützt. Im Ergebnis ist Luhmanns Theorie also nicht weit entfernt von der hier vertretenen Ansicht darüber, was den Kern der Men­ schenwürde ausmacht, nämlich die personale Identität. Aber statt eines ethischen Anspruchs, der sich aus der menschlichen Fähigkeit ergibt, eine solche Identität aus­ zubilden, autonome Entscheidungen zu treffen, die eine solche Identität ausformen, und schließlich Teil einer für Menschen notwendigen symbolischen Praxis zu sein, die Miss- und Verachtung dieser Identität als Verletzung der Menschenwürde ver­ ständlich macht, wird die Menschenwürde bei Luhmann auf faktische soziale Ver­ hältnisse reduziert. Vor der Ausdifferenzierung der Gesellschaft, so der Umkehr­ schluss aus seiner Argumentation, hatten die Menschen keinen Anspruch auf Ach­ tung der Menschenwürde; mehr noch: Der Begriff der Menschenwürde ergibt innerhalb der luhmannschen Theorie vor der Ausdifferenzierung der Gesellschaft keinen Sinn. Und innerhalb dieser ausdifferenzierten Gesellschaft müssen die Men­ schen zunächst eine grundlegend konsistente Persönlichkeit ausbilden. Wenn sie das nicht schaffen (aus grundsätzlicher Unfähigkeit, etwa einer schweren geistigen Be­ hinderung, oder aus Versagen im Einzelfall), dann erwerben sie auch keine Men­ schenwürde – oder verlieren diese wieder. Kommunikationstheorien sind positivistisch. Sie gründen sich auf tatsächliche, kontingente soziale Verhältnisse. Sie erheben nicht den Anspruch, eine (rechts-)ethi­ sche Begründung der Menschenwürde zu liefern. Das mag in gewisser Weise auf­ grund der theoretischen Voraussetzungslosigkeit ein Vorteil sein, aber wenn der höchste Wert50 der Verfassung und einer der höchsten Werte des internationalen Rechts und der Ethik nur deswegen verpflichtet, weil das in der derzeitigen Gesell­ schaft zufälligerweise anerkannt ist, dann wird er gleichzeitig erheblich entwertet. Das ist der Preis einer übertriebenen metaethischen Skepsis. Die zweite Möglichkeit, die Menschenwürde als kontingent auszudeuten, findet sich in Theorien, welche die Menschenwürde graduell verstehen. Eine solche Position vertritt etwa Weber-Guskar, aber auch teilweise Margalit. Margalit bestimmt die Menschenwürde51 als den „äußeren Aspekt der Selbstachtung“ („external aspect of self-respect“) im Sinne der „Summe aller Verhaltensweisen, die bezeugen, daß ein Mensch sich selbst tatsächlich achtet“ („the behavioral tendencies that attest to the fact that one’s attitude toward oneself is an attitude of self-respect“). 52 Offenkundig sind diese äußeren Verhaltensweisen von Mensch zu Mensch unter­ schiedlich. Aber wie schon beschrieben, ist Margalits Theorie bedeutsamer für die Theorie der Menschenwürde wegen ihres Bezuges zur Selbstachtung. Hier steht sie, 50  Wobei der Begriff „Wert“ hier in einem sehr allgemeinen und untechnischen Sinne zu verste­ hen ist. 51  Das gilt jedenfalls für die meisten Textstellen. Vereinzelt nutzt Margalit den Ausdruck „hu­ man dignity“ auch, um ein anständiges Leben zu beschreiben, vgl. etwa Margalit, The Decent Society, 20. Das ist aber nicht der theoretische Hauptpunkt und würde von dem Vorwurf der Kon­ tingenz nicht weniger getroffen. 52  Beide Zitate in Margalit, The Decent Society, 51; Übersetzung nach ders., Politik der Wür­ de, 61.

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soweit ich sie verstehe, genau an der Grenze zwischen Kontingenz und Unverfügbar­ keit, weil sie an entscheidender Stelle vage bleibt. Einerseits grenzt Margalit die Selbstachtung vom Selbstwertgefühl ab. Selbstachtung bezeichne die Achtung, die jedem Menschen qua Mensch- bzw. Person-Sein gebühre. Insofern kann das Gebot der Achtung nicht kontingent sein. Doch Margalit betont auch, dass im Falle der Missachtung das Gefühl eines intrinsischen Werts („sense of intrinsic value“) verletzt würde. Dieses „Ehrgefühl“ scheint klarerweise kontingent. Und so schreibt Margalit auch, dass es Menschen ohne Selbstrespekt geben könne.53 Einen kohärenten Zu­ sammenhang zwischen einem Anspruch qua Menschsein und einer graduellen Ei­ genschaft sucht man, soweit ersichtlich, vergebens in Margalits Werk. Auch bei Weber-Guskar54 ist Menschenwürde ein graduelles Phänomen. Sie be­ schreibe eine graduelle Haltung, und zwar eine Haltung der Übereinstimmung mit sich selbst. Dementsprechend erführen wir es als entwürdigend, wenn wir auf eine Weise behandelt würden, die es uns verunmöglicht, unser Selbstbild aufrechtzuhal­ ten. Anders als bei Margalit bringt Weber-Guskar diese graduelle Haltung recht schlüssig mit einem gleichen Anspruch zusammen: Sie argumentiert, dass Würde als Übereinstimmung mit sich selbst Teil eines guten Lebens sei. Da nun niemand in seinem Streben nach einem guten Leben eingeschränkt werden dürfe, sofern dieses nicht mit den gleichen Ansprüchen der anderen kollidiere, folge, dass die Bedingungen der Würde für alle potenziellen Würdeträgerinnen zu schützen seien. Doch auch das vermag nicht zu überzeugen. Zunächst einmal ist auf den hier ver­ nachlässigten Unterschied von Würde und Menschenwürde hinzuweisen. Die von Weber-Guskar beschriebenen Situationen, in denen uns verunmöglicht wird, unser Selbstbild aufrechtzuhalten, beschreiben Verletzungen von Würde, aber nicht der Menschenwürde. Weber-Guskar führt als Beispiele Folter und Vergewaltigung an. Doch eine traumatisierende Erfahrung, in der mir mein Selbstbild verunmöglicht wird, ist nicht nur in diesen menschenwürderelevanten Extremfällen gegeben. We­ ber-Guskars Begründung lässt sich ebenso gut auf viel trivialere Fälle erstrecken: Wenn wir von unserem Partner oder unserer Partnerin verlassen werden, kann das zu langwierigen und traumatisierenden Kämpfen um das eigene Selbstbild führen. Wir fühlen uns in der Tat entwürdigt. Aber unsere Menschenwürde ist gewiss nicht betroffen. Es ist üblich, dass Theorien der Kontingenz auf die Wortherkunft aufmerksam machen und damit die Menschenwürde auf ein allgemeines Gefühl der Würde redu­ zieren. Sie betonen die Herkunft von der lateinischen dignitas, die ursprünglich eine soziale Stellung bezeichnete.55 Doch Begriffe entwickeln sich nicht notwendigerwei­ se derart, dass man aus dem Wortursprung auf deren Inhalt schließen kann. Viel­ 53 

Margalit, The Decent Society, 44. Weber-Guskar, Würde als Haltung; dies., Menschenwürde: Kontingente Haltung statt absoluter Wert, 206 ff. 55  So etwa: Waldron, Dignity and Rank, 24 sowie zahlreiche Beiträge in Brandhorst/ ­WeberGuskar (Hg.), Menschenwürde. 54 Vgl.

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mehr gibt es einen historischen Differenzierungsprozess der Begriffe. Dass also bei­ spielsweise Recht und Moral lange Zeit nicht begrifflich differenziert waren und erst in den lateinischen Ausdrücken ius und mos deutlich auseinandertraten, spricht nicht dafür, dass man nur ihre Gemeinsamkeit betonen müsste, sondern dass man sich ebenso wohl fragen kann und sollte, welche Gründe zu ihrer Differenzierung geführt haben.56 Das ist im Falle der Menschenwürde genau die Abkopplung von einem solchen kontingenten Würdebegriff. Diese Differenzierung zeigt historisch, dass der Begriff der Menschenwürde neben den kontingenten Aspekten, die Weber-­ Guskar beschreibt und die auch beispielsweise Dietmar von der Pfordten57 als „kleine Menschenwürde“ kennzeichnet, auch eine allen Menschen gemeinsame Stellung oder Eigenschaft bezeichnet, die dieser Kontingenz nicht unterfällt. Historisch scheint mir dieses Urteil recht eindeutig.58 Nun darf man natürlich auch nicht umgekehrt den Fehler machen, aus dieser be­ grifflichen Differenzierung ohne Weiteres auf eine sachliche Begründetheit zu schlie­ ßen. Wie wir an der Kritik Brandhorsts gesehen haben, könnte diese Differenzierung auch philosophisch nicht haltbare Gründe gehabt haben, etwa religiöse. Dass das nicht so ist, zeigt Franz Bormann in seinem Beitrag in diesem Band. Es ergibt sich aber auch daraus, dass sich ein Konzept unverfügbarer Menschenwürde gegen die Einwände der Skeptiker verteidigen lässt. Wie wir gesehen haben, beziehen sich die meisten Theorien auf einen gemeinsa­ men begrifflichen Kern, nämlich die personale Identität. Wenn man diese reduktio­ nistisch versteht, ist sie ein kontingentes Phänomen. Einigen gelingt die Ausbildung einer kohärenten Persönlichkeit besser als anderen. Das entspricht Luhmanns Posi­ tion – und auch Weber-Guskar und Stoecker59 kann man vermutlich so verstehen. Aber die Fähigkeit, eine personale Identität auszubilden, d. h. autonom zu sein, sich identitätsstiftenden Gruppen zugehörig fühlen zu können und so weiter, und der in ihr begründete Anspruch auf Achtung sind keineswegs im dargestellten Sinne kon­ tingent. Die allermeisten Menschen haben diese Fähigkeit und diese Fähigkeit lässt sich auch nicht graduieren. Wir alle haben eine personale Identität. Weber-Guskars Argument für den Schutz der Bedingungen der Menschenwürde verfehlt also meiner Meinung seinen Gegenstand: Es ist inhaltlich in weiten Teilen schlüssig, aber es geht hier nicht allein um die Bedingungen einer graduellen Würde. Es geht um die Menschenwürde selbst.60 Diese verbietet Abstufungen. Einzelne Menschen können zwar mehr Würde haben als andere, aber niemand hat mehr Menschenwürde als ein anderer. 56 

So etwa Schulz, Prinzipien des römischen Rechts, 13 ff., v. a. 14. von der Pfordten, Menschenwürde, passim, sowie sein Beitrag in diesem Band. 58  Vgl. zur Geschichte des Begriffs der Menschenwürde, von der Pfordten, Menschenwürde, 11–53; Gisbertz, Menschenwürde in der angloamerikanischen Rechtsphilosophie. 59  Stoecker, Die philosophischen Schwierigkeiten mit der Menschenwürde, 18. 60  Wobei sich vermutlich schlüssig argumentieren ließe, dass der Bezug der Menschenwürde zur personalen Identität diese zugleich auch zur Bedingung jeder graduellen, sozialen Würde macht, insofern eine soziale Würde eine selbstkonstituierte Persönlichkeit zum Subjekt hat. 57 

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Menschen leben in einer kommunikativ vermittelten, symbolischen und morali­ schen Gemeinschaft miteinander. Das ist keine kontingente Wahl – und das ist auch keine Erscheinung der christlich-westlichen Welt. Für sie alle haben zentrale Le­ bensentscheidungen und Zugehörigkeiten eine identitätsstiftende Wirkung. Das ist Teil des Menschseins, und zwar kein metaphysisch überhöhter Teil, sondern ein Fak­ tum, das uns jeden Tag empirisch begegnet. Nun gibt es zugegebenermaßen einige wenige Menschen, die diese Fähigkeit nicht aufweisen. Doch braucht es weder ein metaphysisch problematisches Konzept der Menschenwürde noch einen übertriebenen Reduktionismus, um diese wenigen Fälle zu erfassen. Eine besonders überzeugende Argumentation, die viele naturalistisch-­ reduktive Kritiken61 widerlegt, findet sich beispielsweise bei Nussbaum: Die gängige Behauptung, ein Mensch, dessen moralisch relevante Eigenschaften sich nicht von denen eines nichtmenschlichen Tieres unterschieden, könne auch nicht mehr oder andere Rechte haben als diese Tiere, ist ein kruder Fehlschluss. Ein Bonobo kann glücklich unter Bonobos leben. Ein Mensch, der – wenn wir diese Behauptung mal so hinnehmen – sich in Bezug auf die relevanten Fähigkeiten und Eigenschaften nicht von einem Bonobo unterscheidet, ist aber in einer Hinsicht doch grundverschieden: Er wird nicht ein glückliches Leben unter Bonobos führen können, sondern er wird unter Menschen leben müssen.62 Die Frage ist dann nur, wie die menschliche Ge­ meinschaft ihre Mitglieder behandeln will. Sie in Ruhe zu lassen, wie es sich bei ei­ nem Bonobo gehörte, ist jedenfalls keine Option. Vielmehr sind alle Menschen Teil einer gemeinsamen symbolischen und moralischen Praxis. Damit werden Tierrechte und ihre ethische Rechtfertigbarkeit nicht in Abrede gestellt. Es geht aber um funda­ mental unterschiedliche Fragen, ob wir über Menschen mit Behinderungen oder über nichtmenschliche Tiere reden. So wenig ich das hier ausführen kann, so wichtig ist es doch, es zu betonen. Fassen wir zusammen: Theorien, welche die Menschenwürde als kontingent darstel­ len, verfehlen entscheidende Punkte. Erstens nehmen sie eine Uneinigkeit und histo­ rische Diskrepanz an, die weder historisch noch in den aktuellen Theorien nachweis­ bar ist. Die Theorien der unverfügbaren Menschenwürde verweisen auf einen ge­ meinsamen Begriff, der in seinem Kern auf die personale Identität der Menschen und deren gleichen Anspruch auf Achtung verweist. Positivistische Reduktionen lösen ein Scheinproblem, wenn sie annehmen, dass die Menschenwürde metaphysisch un­ haltbar wäre. Es gibt zahlreiche zeitgenössische Positionen, die methodisch sorgfältig und überzeugend, etwa auf transzendentalphilosophische Weise oder auch im Rah­ men eines gemäßigten Realismus, für die Menschenwürde argumentieren. Theorien, welche die Menschenwürde positivistisch auf soziale Fakten reduzieren, erkaufen sich diese Vermeidungsstrategie damit, dass sie den obersten Wert des nationalen 61 Etwa 62 

Bittner, Abschied von der Menschenwürde, 91 ff. Nussbaum, Frontiers of Justice, 192.

Unverfügbarkeit oder Kontingenz?

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Rechts sowie einen der obersten Werte des internationalen Rechts und der Ethik massiv und unnötigerweise abschwächen. Demgegenüber sind Theorien, welche die Menschenwürde graduell deuten, unter­ komplex in einem anderen Sinne. Sie reduzieren die Menschenwürde auf ihre gradu­ elle Komponente und übersehen dabei, dass es einen sehr gut begründbaren Begriff der unverfügbaren Menschenwürde gibt. Diese Unverfügbarkeit der Menschenwür­ de kennzeichnet das Fundament unseres anständigen Zusammenlebens. Die philo­ sophische Skepsis befördert insofern unfreiwillig die Erosion der Menschenwürde. In den Debatten um die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte wendete sich der Abgeordnete des südafrikanischen segregationistischen Regimes Te Water gegen die Formulierung der Würde aller Menschen mit dem Einwand, die Würde sei kein Recht und werde schließlich in allen Kulturen unterschiedlich verstanden. Es war kein westlicher Vertreter, sondern der Libanese Charles Malik, der diesen Vorschlag als Erster zurückwies.63 Wer die Menschenwürde zur kleinen Münze verkommen lässt, ermöglicht es Menschen wie Te Water, graduelle Würdeunterschiede zwischen Menschen, in diesem Fall Frauen und Männern, Schwarzen und Weißen, zu behaup­ ten. Die Gegeneinwände gegen eine solche Auffassung sind nicht kontingent. Sie sind auch nicht ideologisch. Sie beziehen sich auf die unverfügbare Menschenwürde, die sich philosophisch begründen lässt und deren Begründung wir uns nicht entziehen sollten.

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Unverfügbarkeit oder Kontingenz?

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Gottebenbildlichkeit und Menschenwürde Franz-Josef Bormann Die Annahme, eine der entscheidenden Wurzeln des modernen Begriffs der ‚Men­ schenwürde‘ sei in der sog. Gottebenbildlichkeitsvorstellung zu finden, wie sie sich in der jüdisch-christlichen Tradition herausgebildet habe, gehört zu den ebenso ver­ breiteten wie interpretationsbedürftigen Gemeinplätzen der begriffsgeschichtlichen Forschung.1 Um sie auf ihre Angemessenheit zu überprüfen und ihre geltungstheo­ retischen Implikationen zu entfalten, bedarf es neben einer genaueren Analyse des­ sen, was im Kontext der derzeitigen Moral- und Rechtsphilosophie überhaupt unter ‚Menschenwürde‘ zu verstehen ist, auch einer Auseinandersetzung mit den normati­ ven Quellen von Judentum und Christentum. Beides kann hier nur skizzenhaft erfol­ gen, wobei zunächst die Kernelemente eines starken Menschenwürdeverständnisses kurz umrissen werden sollen. Danach sind der jüdische Ursprung und die sukzessive Transformation des Theologoumenons von der ‚Gottesstatuenhaftigkeit‘ des Men­ schen zu rekonstruieren. Einige Überlegungen zu den daraus zu ziehenden Schluss­ folgerungen für die Beurteilung des lehramtlichen Umgangs mit dem Würdebegriff in jüngerer Zeit beschließen diese Ausführungen.

I. Zum Sinngehalt und Anwendungsbereich des Begriffs der ‚Menschenwürde‘ Die gegenwärtige Kontroverse um Absolutheit2 oder Kontingenz3 des Begriffs der ‚Menschenwürde‘ scheint ein gutes Beispiel für eine grundsätzliche Problematik zu sein, mit der sich schon der späte J. Rawls im Rahmen seiner Überlegungen zu den ‚burdens of judgement‘4 auseinandergesetzt hat. Rawls zufolge liegt eine der we­ sentlichen Quellen für zahlreiche philosophische Auseinandersetzungen in der ‚Vagheit‘ unserer Begriffe und ihrer ‚schwierigen Anwendbarkeit auf Grenzfälle‘.5 1 Vgl. Horstmann, s. v. Menschenwürde, Sp.  1124; Huber, s. v. Menschenrechte/Menschenwür­ de, Sp.  578; Barth, Gottesebenbildlichkeit und Menschenwürde, Sp.  187–190; Herms, s. v. Würde des Menschen, Sp.  1737–1739; Pleger, s. v. Würde, Sp.  2602. 2 Vgl. Horn, Die verletzbare und die unverletzbare Würde des Menschen – eine Klärung, 30–41 sowie ders., Lässt sich die Menschenwürde in Begriffen von Selbstachtung und Demütigung verste­ hen?, 101–118. 3 Vgl. Brandhorst/Weber-Guskar (Hg.), Menschenwürde. 4 Vgl. Rawls, Politischer Liberalismus, 127–132. 5  Vgl. a. a. O., 130.

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Solche Vagheiten beziehen sich aber nicht nur punktuell auf die konkrete Intensions­ bestimmung einzelner normativ relevanter Begriffe und die daraus resultierenden Konsequenzen für die Extension dieser Kategorien. Vielmehr dürften sie auch nahe­ zu unvermeidliche Begleiterscheinungen jenes ungleich komplexeren Reflexionspro­ zesses sein, der von der Identifikation basaler Intuitionen über ihre terminologische Ausdeutung vermittels spezifischer Interpretationsbegriffe bis hin zu deren Integra­ tion in eine möglichst kohärente Gesamttheorie reicht. Da in diesen mehrstufigen Prozess gewöhnlich verschiedene, einander ergänzende systematische Fragestellun­ gen (z. B. phänomenologischer, epistemologischer, ontologischer oder normativer Art) miteinander verwoben sind, steht auch eine überzeugende Analyse des Begriffs der ‚Menschenwürde‘ vor einer wenigstens vierfachen Herausforderung: Erstens hat sie möglichst präzise dessen Verankerung in basalen intuitiven Überzeugungen zu rekonstruieren. Zweitens muss sie die verschiedenen an diesen Überzeugungen an­ knüpfenden systematischen Fragestellungen so zur Geltung bringen, dass falsche Alternativen und Weichenstellungen der Theoriebildung vermieden6 und die Eigen­ ständigkeit der praktischen Vernunft gewahrt bleibt. Drittens ist die zwar wichtige, aber durchaus begrenzte Funktion des Würdebegriffs innerhalb einer ethischen Ge­ samttheorie herauszuarbeiten und deutlich zu machen, worin sich diese von derje­ nigen eines obersten Moralprinzips unterscheidet, das beansprucht, eine Grund­lage für die Bewertung der Gesamtheit menschlichen Handelns zu bieten. Und viertens sollte sie die unverzichtbaren Kernelemente eines plausiblen Würdeverständnisses von den verschiedenen kontingenten Anlagerungen abgrenzen, die sich im Zuge ei­ nes langen ideengeschichtlichen Entwicklungsprozesses mit verschiedenen Deu­ tungsvarianten dieser Kategorie verbunden haben. Im Fall der Menschenwürde scheint die basale Intuition zunächst einmal in einer Statusbestimmung zu bestehen, die entweder i. S. individueller Vortrefflichkeit eines Einzelnen (z. B. eines besonderen Amtsträgers) oder aber i. S. generischer Exzellenz aller Menschen näher ausgedeutet werden kann. Der zweiten – für die moderne Deu­ tung des Würdebegriffs entscheidenden – Verwendungsweise zufolge kommt dem Menschen als Menschen grundsätzlich ein besonderer moralischer Status zu, der vom Status anderer belebter und unbelebter Entitäten verschieden ist. Soll diese Status­ bestimmung mehr als eine willkürliche Selbstprivilegierung (i. S. eines fragwürdigen Speziesismus7) sein, dann ist nicht nur zu klären, um welche Art von Status es sich dabei näherhin handelt, sondern es ist auch eigens zu begründen, auf welche spezifi­ schen (intrinsischen) Eigenschaften des Menschen sich dieser Status konkret stützt und welche normativen Konsequenzen daraus sowohl für das Verhältnis des Trägers dieser Eigenschaften zu sich selbst als auch für die Beziehungen Dritter ihm gegen­ über abzuleiten sind. 6  So darf etwa die 1. Person-Perspektive der Selbstreflexivität des Subjekts nicht gegen die 3. Per­ son-Perspektive der Epistemologie oder der (Moral-)Ontologie ausgespielt werden, da eine umfas­ sende Analyse alle diese unterschiedlichen Perspektiven zu integrieren hat. 7 Vgl. Singer, Praktische Ethik, 82–114.

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Sowohl hinsichtlich der inhaltlichen Konkretisierung der würdekonstituierenden Eigenschaften als auch bezüglich der Qualifikation der ihnen korrespondierenden normativen Geltungsansprüche gibt es nun eine Fülle unterschiedlicher Interpreta­ tionsansätze mitgifttheoretischer, anerkennungstheoretischer oder leistungstheore­ tischer Art, die sich teils ergänzen und überlappen, teils aber auch wechselseitig aus­ schließen.8 Während Anhänger einer absoluten Deutung der Menschenwürde in der Nachfol­ ge Kants in der Regel als statusbegründende Eigenschaft auf die in Freiheit, Ver­ nunftbegabung und Handlungsfähigkeit wurzelnde Anlage zur sittlichen Subjektivität jedes Menschen verweisen, der ein universaler, egalitärer, unveräußerlicher, inkommensurabler und kategorischer Anspruch auf Achtung (sc. der Selbstzwecklichkeit des Menschseins) entspreche, neigen Verfechter einer kontingenten Interpretation dazu, Eigenschaften als würdekonstitutiv ins Feld zu führen, die stärker am subjektiven Selbsterleben orientiert sind, und die daraus resultierenden Geltungsansprüche infolge der kulturellen Imprägnierung dieser Eigenschaften deutlich abzuschwä­ chen. So wurde etwa vorgeschlagen, den normativen Gehalt des Würdebegriffs durch den ‚Anspruch auf Schutz vor Erniedrigung‘9 oder ‚Demütigung‘10 oder die ‚Er­ möglichung von Selbstachtung‘11 zu bestimmen. Obwohl sich relativ leicht zeigen lässt, dass derart schwache Interpretationsansätze weder dem tatsächlichen politi­ schen und (verfassungs-)rechtlichen Gebrauch des Würdebegriffs noch dessen spezi­ fischem Sinngehalt gerecht werden, da es zweifellos Erfahrungen von Demütigung oder Erniedrigung gibt, die keinen Würdeverstoß implizieren, und umgekehrt kei­ neswegs alle Würdeverletzungen eine Erniedrigung oder Demütigung voraussetzen, reicht es nicht aus, zur Rechtfertigung der absoluten Deutungsvariante allein auf der­ artige Differenzen im Sinngehalt zwar verwandter, aber bedeutungsverschiedener Begriffe zu verweisen oder an die wichtige Unterscheidung zwischen der gewiss von sozio-kulturellen Kontingenzen geprägten Genese und der davon unabhängigen uni­ versalen Geltung elementarer moralischer Forderungen zu erinnern, um alle Ein­ wände der Kritiker aus dem Feld zu schlagen. Vielmehr bedarf es dazu umfassender anthropologischer, epistemologischer, moralontologischer, fähigkeits- und identi­ tätstheoretischer Analysen, um die Plausibilität eines starken Begriffs der ‚Men­ schenwürde‘ nicht nur zu verteidigen, sondern seinen legitimen Gebrauch auch auf überzeugende Weise so zu begrenzen, dass inflationäre Ausweitungseffekte vermie­ den werden. Welchen Beitrag eine Erinnerung an die jüdisch-christliche Schöp­ fungstheologie dabei leisten kann, ist nachfolgend zu untersuchen. 8  Vgl. Tiedemann, Menschenwürde als Rechtsbegriff. Eine philosophische Klärung; Sandkühler (Hg.), Menschenwürde; Kapust, Menschenwürde auf dem Prüfstand, 279–307; Haucke, Mitgift, Leistung, Anerkennung, 227–254. 9 Vgl. Schaber, Menschenwürde als Recht, nicht erniedrigt zu werden, 119–132. 10 Vgl. Hörnle, Menschenwürde als Freiheit von Demütigungen, 41–61. 11 Vgl. Margalit, Politik der Würde. Über Achtung und Verachtung, sowie Stoecker, Men­ schenwürde und das Paradox der Entwürdigung, 133–151.

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II. Biblischer Befund und theologische Interpretation der sog. Gottebenbildlichkeitsvorstellung Bevor wir einen kurzen Blick auf die innerbiblische Entwicklung der sog. Gotteseben­ bildlichkeitsvorstellung werfen, ist zur Vermeidung möglicher Missverständnisse an drei wichtige Sachverhalte zu erinnern: Erstens gibt es innerhalb der Bibel ebenso wenig eine einheitliche Anthropologie wie im Bereich der zeitgenössischen Human­ wissenschaften, deren derzeitiger Erkenntnisstand sich „durch eine dem Pluralismus unterschiedlicher Rationalitäten geschuldete Unübersichtlichkeit“12 auszeichnet. In­ nerhalb des Kanons biblischer Schriften findet sich ein facetten- und spannungsrei­ ches Nebeneinander verschiedener Aussagen über den Menschen, das sich nicht ein­ fach diachron auflösen lässt. „Komplementäre und kontrastive Dialogizität“ erweist sich daher als „konstitutiv und unaufhebbar für eine hermeneutisch, theologisch und methodisch verant­ wortbare Biblische Anthropologie, in der die Frage ‚Was ist der Mensch?‘ in ihrer prinzipiellen Offenheit ernst genommen […] wird“.13

Zweitens ist davon auszugehen, dass die biblischen Texte zwar durchgängig von den Denkvoraussetzungen eines vormodernen kosmologischen Weltbildes aus formuliert sind, dabei jedoch in ihren jeweiligen normativen Geltungsansprüchen in sehr unter­ schiedlichem Maße von diesen inzwischen weithin obsoleten Prämissen abhängen. Aufgrund der relativen Eigenständigkeit der praktischen Vernunft bleibt der stete Wechsel naturwissenschaftlicher Paradigmen für die theologische und philosophi­ sche Ethik zwar nicht folgenlos, doch sollte er in seiner moralischen Bedeutung auch nicht in der Weise überschätzt werden, dass man ohne weiteres unterstellt, mit der kopernikanischen Wende, der modernen Evolutionstheorie oder den Einsichten der zeitgenössischen Neurowissenschaften sei die basale Annahme einer Sonderstellung des Menschen bereits hinlänglich widerlegt und müsse zugunsten eines vollständig naturalisierten Weltbildes aufgegeben werden.14 Und drittens ist zu berücksichtigen, dass die Kategorie der ‚Menschenwürde‘ überhaupt kein genuin biblischer Begriff ist, sondern erst nachträglich im Zuge theologischer Inkulturationsbemühungen Ein­ gang in den kirchlichen Sprachgebrauch gefunden hat. Im Blick auf diesen Prozess sind wenigstens drei Phasen voneinander zu unterscheiden: erstens die ursprüngliche hebräische Idee des Menschen als ‚Statue Gottes‘, zweitens die griechische Vorstellung einer ‚Gottebenbildlichkeit‘ des Menschen und drittens die sukzessive Verschmel­ zung dieser biblischen Vorstellungen mit philosophischen, insbesondere stoischen Gedanken, die sich im Zuge der patristischen Theologie vollzogen hat.15 12 

Frevel, Die Frage nach dem Menschen, 29–63, hier: 33. A. a. O., 36. 14  Das übersieht m. E. Brandhorst, Zur Geschichtlichkeit menschlicher Würde, 113–153. 15 Vgl. Struker, Die Gottebenbildlichkeit des Menschen in der christlichen Literatur der ersten zwei Jahrhunderte, sowie Bruch, Die Würde des Menschen in der patristischen und scholastischen Tradition, 9–29. 13 

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1. Die hebräische Deutung des Menschen als ‚Statue Gottes‘ Befragt man die für die Statusbestimmung des Menschen einschlägigen Texte des hebräischen Alten Testamentes – insbesondere Gen 1,26–28 und Ps 8,6–9 sodann aber auch Ps 144,3–4 sowie Ijob 7,1–10 und 19,9 –, dann dürften aus systematischer Perspektive vor allem folgende fünf Aspekte von Interesse sein: Erstens findet sich überhaupt erst in den jüngsten Textschichten des Alten Testa­ ments ein universalistischer Blick auf den Menschen, wobei es sich bei der ‚Gottes­ statuenhaftigkeit‘ (slm) um „ein junges, wohl frühnachexilisches, isoliertes Theolo­ gumenon“16 handelt, das nur in einem einzigen Werk, der Priesterschaft, hier „aller­ dings an strukturell herausragender Stelle“17 – nämlich der Erschaffung des Menschen (Gen 1,26.27; 5,1) und Einsetzung der nachsintflutlichen Lebensordnung (Gen 9,6) – auftaucht. Die dabei zunächst zum Ausdruck gebrachte basale Differenz ist diejenige zwischen Schöpfer und Geschöpf, wobei der – aus Erde vom Ackerboden gebildete – Mensch einerseits eng mit den anderen Geschöpfen verbunden erscheint, andererseits innerhalb der Sphäre des Geschaffenen aber zugleich einen besonderen Rang einnimmt (so erhält er seinen Lebensatem direkt vom Schöpfer).18 Zweitens ist davon auszugehen, dass die Gottesstatuen-Metapher keine originäre Erfindung biblischer Autoren darstellt, sondern Israel „aus Varianten der altorientali­ schen Königtumstheologie“ zugewachsen ist. Als Statue Gottes und insofern „macht­ voller und tätiger Repräsentant der Gottheit galt in Ägypten (dort vielfältiger und systematisch entfaltet) und in Assyrien der König“19. Nach dem Ende des Königtums in Israel ist diese Vorstellung dann – durchaus herrschaftskritisch – in der Idee des ‚königlichen Menschen‘ von den priesterschriftlichen Verfassern des sog. Schöp­ fungsberichts universalisiert worden und erhielt so „im Übergang in den alttesta­ mentlichen Monotheismus neue Akzente und umfassendere Bedeutung.“20 Drittens fällt auf, dass diese Sonderstellung des Menschen zunächst rein funktional mittels des Verbes rdh (herrschen) bestimmt wird.21 Unabhängig davon, ob man dabei von einem ‚sanft hirtlichen Verständnis von Herrschaft‘ (i. S. von Hege und Pflege bzw. sorgender Verantwortung für das Schöpfungsganze)22 oder einem ‚ge­ 16 

Gross, Gen 1,26.27; 9,6: Statue oder Ebenbild Gottes?, 11–38.

17 Ebd. 18 Vgl.

Frevel, Eine kleine Theologie der Menschenwürde, 244–272, hier: 256. Gross, Gen 1,26.27; 9,6: Statue oder Ebenbild Gottes?, 12. 20  A. a. O., 13. 21  Vgl. a.a. O., 21 sowie Neumann-Gorsolke, „Mit Ehre und Hoheit hast Du ihn gekrönt“ (Ps  8,6). Alttestamentliche Aspekte zur Menschenwürde, 39–65. 22  Walter Groß zufolge gibt es für diese modern anmutende Deutung keine hinreichende Be­ gründung: „Die neueste Diskussion hat gezeigt: Zugehörigkeit von […] [rdh] zu den Verba pascendi und gewaltfreie Hirtenmetaphorik in Gen 1 sind ungenügend begründet; die Etymologie von […] [rdh] und speziell sein etymologischer Zusammenhang mit redu(m) [sc. dem assyrischen Begriff für den universalen Herrschaftsanspruch des assyrischen Großkönigs] sind zu unsicher, als daß sich ein Argument darauf bauen ließe.“ (Gross, Gen 1,26.27; 9,6: Statue oder Ebenbild Gottes?, 25). Vgl. dazu auch Janowski, Herrschaft über die Tiere. Gen 1,26–28 und die Semantik von rdh, 142–165. 19 

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waltbetonenden Herrschaftsverständnis‘ (i. S. einer Domination, die ganz im Interes­ se der Herrschenden und nicht der Beherrschten praktiziert wird) ausgeht, zeigen sich dabei zwei markante Kennzeichen: zum einen die perspektivische Ausrichtung auf den subhumanen Bereich und zum anderen das Fehlen jeglicher inhaltlich-qualitativer Angaben darüber, was den Menschen überhaupt zu einer derartigen Herr­ schaft befähigt. Viertens ist diese Funktionsbestimmung des Menschen eng mit einem nicht nur für das hebräische Denken typischen konstellativen Personbegriff23 verbunden, der die menschliche Grundsituation primär relational ausdeutet. Die beiden für diesen Personbegriff im Allgemeinen und für die Gottesstatuen-Metapher im Besonderen entscheidenden Bezugspunkte sind die Mitgeschöpfe und der Schöpfer. Einerseits ist der Mensch als Geschöpf seinem Schöpfer deutlich unterlegen, erscheint niedrig, ver­ letzlich und gefährdet und ‚herrscht‘ nur innerhalb der von Gott gesetzten Rahmen­ bedingungen, andererseits ist der Mensch als Repräsentant Gottes den anderen Ge­ schöpfen aber auch deutlich vorgeordnet und trägt eine besondere Verantwortung nicht nur für sich selbst, sondern für seinen gesamten Herrschaftsbereich, zu dem neben Tieren und Pflanzen auch die als bedrohlich erlebte chaotische Außenwelt ge­ hört, der gegenüber er eine Ordnungsfunktion zu erfüllen hat.24 Fünftens wirft die in der Herrschaftssemantik implizierte Vorstellung einer „durch die königliche Verantwortung für die Lebenswelt gekennzeichneten Sonderstellung des Menschen“25 zwei für die ethische Theoriebildung wichtige systematische Fra­ gen auf, von denen die eine die lebensweltliche Plausibilität, sachliche Berechtigung und konkrete Reichweite der Annahme einer der spezifisch menschlichen Hand­ lungsmacht korrespondierenden besonderen Verantwortlichkeit des Menschen be­ trifft, und die andere auf die geltungstheoretische (Un-)Abhängigkeit der hier be­ schriebenen anthropozentrischen Verantwortungskonstellation von ihren spezifisch religiös-theozentrischen Einkleidungen abzielt. Bevor eine Antwort auf diese Fragen gegeben werden kann, ist noch kurz auf die teilweise dramatischen Veränderungen einzugehen, die die hebräische Vorstellung vom ‚königlichen Menschen‘ als Manda­ tar Gottes beim Übergang in den griechischen Kulturraum erfahren hat. 2. Die griechische Vorstellung einer ‚Gottebenbildlichkeit‘ des Menschen Unter dem Einfluss hellenistischer Strömungen beginnt bereits in der Septuaginta, der griechischen Übersetzung des Alten Testaments, ein folgenreicher Prozess der 23 Vgl. Janowski, Konstellative Anthropologie: zum Begriff der Person im Alten Testament, 109–­127 sowie Assmann, Konstellative Anthropologie. Zum Bild des Menschen im alten Ägypten, 35–57. 24 Vgl. Janowski, Die lebendige Statue Gottes. Zur Anthropologie der priesterlichen Urge­ schichte, 183–214; Frevel, Eine kleine Theologie der Menschenwürde, 255 f. sowie Görg, Alles hast Du gelegt unter seine Füße: Beobachtungen zu Ps 8,7b im Vergleich mit Gen 1,28, 125–148. 25  Frevel, Eine kleine Theologie der Menschenwürde, 244.

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Neuinterpretation der Statusbestimmung des Menschen, für den wenigstens die fol­ genden fünf Elemente charakteristisch erscheinen: Erstens führt die Ersetzung der beiden hebräischen Lexeme slm und dmt durch die griechischen Begriffe εἰκών/eikôn (Abbild) und ὁμοίωσις/homoiôsis (Nomen actionis i. S. von ‚ähnlich-machen‘) zu einer Akzentverschiebung weg von der funktionalen Betrachtung des Menschen hin zur Etablierung einer qualitativen Bestimmung des Menschseins.26 Die Formulierung κατʼ εἰκόνα ἡμέτεραν/katʼ eikona hêmeteran (‚nach unserem Bild‘) zeigt, dass hier erstmals von ‚Gottebenbildlichkeit‘ die Rede ist, wobei der Mensch selbst nicht Gottes Bild ist, sondern lediglich nach dem Bild Gottes erschaffen wurde. Zweitens geht mit dieser Sinnverschiebung auch eine deutliche Veränderung der Perspektive einher. Nicht mehr der Bezug des Menschen auf den untermenschlichen Bereich – die Tiere, die es zu beherrschen gilt –, sondern die Ausrichtung auf den übermenschlichen Bereich – auf Gott als Ursprung und Ziel des menschlichen Le­ bens, dem der Mensch ähnlich werden soll – steht jetzt im Vordergrund. Drittens ist damit auch eine strukturelle Veränderung verbunden: An die Stelle einer zweigliedrigen Aussage mit Gott und Mensch als den beiden Bezugsgrößen tritt nun eine dreigliedrige Aussage, die neben Gott noch ein Urbild und ein Abbild als einschlägige Relata kennt. Durch das Einströmen der platonisch inspirierten grie­ chischen Urbild-Abbild-Spekulationen in die Begriffswelt der Bibel wird der Boden dafür bereitet, dass man „seit Philo von Alexandrien fragt […], wer denn das von Gott unterschiedene Bild sei, nach dessen Norm der Mensch erschaffen ist.“27 Viertens begünstigen diese Modifikationen eine fortschreitende Ontologisierung der anthropologischen Vorstellungen, wobei die Lockerung der Verbindung zwi­ schen der funktionalen Herrschaftsaussage und der qualitativ akzentuierten Ur­ bild-Abbild-Relation zunehmend perfektionistischen Spekulationen Raum gibt.28 So kommt es schon im Kontext des hellenistischen Judentums dazu, die entscheidende statuskonstituierende Eigenschaft in die Unsterblichkeit zu verlegen. In diesem Sinne heißt es in Weish 2,23, Gott habe den Menschen „zur Unvergänglichkeit erschaffen“ und „zum Bild seiner eigenen Ewigkeit [εἰκόνα τῆς ἴδιας αἰδιότητος/eikona tes idias aidiotetos] gemacht“, womit implizit unterstellt wird, dass es sich bei der Gotteben­ bildlichkeit um eine nur eschatologisch wiederzugewinnende Qualität des Menschen handelt. Fünftens ist im Blick auf die weitere neutestamentliche Rezeption des εἰκών/ eikôn-Theologoumenons in den Paulinen und Deuteropaulinen festzustellen, dass 26 Vgl.

Frevel, Gottesbildlichkeit und Menschenwürde, 267. Gross, Gen 1,26.27; 9,6: Statue oder Ebenbild Gottes?, 35. 28  In diesem Sinne stellt Walter Groß fest: „Da die Herrschaft über die Tiere keine enge inhalt­ liche Verknüpfung mit der Urbild-Abbild-Relation Gott – Mensch zu haben scheint, wächst die Tendenz, die Gottebenbildlichkeitsaussage kontextfrei auszulegen.“ (Gen 1,26.27; 9,6: Statue oder Ebenbild Gottes?, 36). Frevel warnt in diesem Zusammenhang zu Recht davor, eine „diametrale Gegenüberstellung von Funktion und Wesen“ vorzunehmen, da „die funktionale Bestimmung auch qualitative Momente einschließt“ (Frevel, Gottesbildlichkeit und Menschenwürde, 267). 27 

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hier der universalistische Bedeutungsgehalt der ursprünglich schöpfungstheologi­ schen Aussage über den Menschen immer mehr verloren geht. Als maßgebliches Bild Gottes wird jetzt allein Christus präsentiert29, wobei die Aufgabe der Christen darin besteht, die durch die Sünde verlorene30 und in der Taufe erneuerte Herrlichkeit der Gotteskindschaft (δόξα/doxa) möglichst rein für das ewige Leben zu bewahren, in welchem sie schließlich diesem Urbild gleichgestaltet werden. Die ‚Abbildlichkeit‘ wird hier entsprechend nicht mehr schöpfungstheologisch im Sinne eines Abbild­ seins aller Menschen gedacht, sondern soteriologisch zum Abbildwerden dynami­ siert und dabei extensional auf die Gläubigen eingeschränkt.31 Wie sehr der ur­ sprüngliche Sinngehalt der schöpfungstheologischen Statusbestimmung des Men­ schen dabei durch partikulare kulturelle Einflüsse geradezu in sein Gegenteil verkehrt werden kann, zeigt 1 Kor 11,7: „Der Mann darf sein Haupt nicht verhüllen, weil er Abbild (εἰκών/eikon) und Abglanz (δόξα/doxa) Gottes ist; die Frau aber ist der Abglanz (δόξα/doxa) des Mannes.“ Hier kommt nicht mehr der Mensch, sondern nur noch der Mann als Ebenbild Gottes in den Blick, während den Frauen lediglich ein  – ihrer damaligen gesellschaftlichen Stellung entsprechender – verminderter Rang zu­ gewiesen wird. 3. Theologische Reflexion Nähert man sich der Frage nach dem Beitrag der jüdisch-christlichen Tradition für die Begründung eines robusten Verständnisses der Menschenwürde allein auf der Basis des textlichen Befundes der kanonischen Schriften von Altem und Neuem Tes­ tament, dann zeigt sich ein durchaus uneinheitlicher Befund, der in verschiedene Richtungen weist: Einerseits scheint es durchaus Indizien dafür zu geben, dass zwischen dem in der alttestamentlichen Schöpfungskonzeption greifbaren hebräischen Menschenbild und unserer modernen Vorstellung einer unveräußerlichen universalen Menschen­ würde wichtige motivische Verbindungslinien bestehen. So gehen die priesterschrift­ lichen Autoren nicht nur ganz selbstverständlich von der basalen Intuition einer Sonderstellung des Menschen in der Welt des Geschaffenen aus, sondern verbinden diese allen Menschen zukommende Statusbestimmung auch mit einer aus einer praktischen Perspektive formulierten spezifischen Funktionszuschreibung, die eine beson­ dere Verantwortung des Menschen für seine Mitgeschöpfe impliziert. Trotz der rela­ tiv engen Verbindung zwischen beiden Vorstellungen bleiben aber die qualitativen Voraussetzungen für die im Herrschaftsgedanken implizierte Forderung der Verantwortungsübernahme noch gänzlich unentfaltet. Hier gibt es eine systematisch be­ deutsame Leerstelle im alttestamentlichen Denken, die der Füllung bedarf. 29 

Vgl. 2 Kor 4,4 und Kol 1,15. Vgl. Röm 3,23. 31  Vgl. Röm 8,29 und 2 Kor 3,18; evtl. auch 1 Kor 15,48. 30 

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Andererseits ist aber auch nicht zu übersehen, dass sich die vom griechischen Bild­ denken inspirierte Gottebenbildlichkeitsvorstellung in Septuaginta und neutesta­ mentlichem Schrifttum in mehrfacher Hinsicht von der modernen Idee einer unver­ äußerlichen Menschenwürde unterscheidet: Abgesehen davon, dass unterstellt wird, der Mensch könne seinen ursprünglich hervorgehobenen Rang etwa durch morali­ sches Fehlverhalten wieder verlieren32 , führt die stark soteriologische Perspektive der neutestamentlichen Autoren auch dazu, dass die Wiederherstellung dieses Status nicht nur von bestimmten perfektionistischen Voraussetzungen (wie einer moralisch besonders qualifizierten Lebensweise oder einem bestimmten Gnadenstand) abhän­ gig gemacht und in eine eschatologische Jenseitigkeit verschoben wird, sondern auch einem begrenzten Personenkreis vorbehalten bleibt. Aus der basalen schöpfungs­ theologischen Statusbestimmung des Menschen als solchem ist im Zuge dieses Transformationsprozesses ein voraussetzungsreiches Vollkommenheitsprädikat ge­ worden, das sich auf den jenseitigen Endpunkt eines Vergöttlichungsprozesses be­ zieht, den letztlich nur eine Minderheit erreicht. Angesichts dieses durchaus ambivalenten biblischen Befundes legen sich aus christlich-theologischer Perspektive zwei unterschiedliche Handlungsstrategien nahe: Die eine – m. E. verfehlte – Strategie besteht darin, den Versuch einer Begründung der Menschenwürde mittels der Gottebenbildlichkeitsvorstellung generell aufzuge­ ben und nach alternativen biblischen Begründungsmustern (wie z. B. einer relational ausgerichteten Schöpfungslehre) Ausschau zu halten.33 Die andere – m. E. vorzugswürdige – Strategie besteht darin, die in der funktiona­ len Ausdeutung der Sonderstellung des Menschen mittels des Herrschaftsprädikats aufgezeigte systematische Lücke dadurch zu schließen, dass man versucht, möglichst 32  Die bereits von Aristoteles erwähnte Möglichkeit der „tierischen Wildheit und Verrohung“ einzelner Menschen oder ganzer Gemeinschaften (vgl. EN VII 6, 1148 b 15–1149 a 20) wird daher später von christlichen Theologen wie z. B. Thomas von Aquin im Gedanken der bestialitas um­ standslos rezipiert: vgl. InEth. VII l.1, l.5 und l.14. Vgl. dazu auch Bormann, Natur als Horizont sittlicher Praxis, 114–120. 33  Diesen Weg beschreitet Christian Frevel, wenn er feststellt: „angesichts der nicht aufhebbaren Spannung zwischen der ursprünglich funktionalen und unverlierbaren Gottebenbildlichkeit und der rezipierten qualitativen verlierbaren Gottebenbildlichkeit muss man eingestehen, dass die bib­ lische Gottebenbildlichkeitsaussage zur Begründung einer unveräußerlichen Würde des Menschen nicht ausreicht und dass nach anderen Begründungszusammenhängen in der Schrift Ausschau ge­ halten werden muss“ (Frevel, Gottesbildlichkeit und Menschenwürde, 271). Eine Alternative, meint er, in der „personale[n], unaufhebbare[n] Beziehung zwischen Schöpfer und Geschöpf“ ge­ funden zu haben. Allerdings räumt Frevel selbst ein, dass eine solche spezifisch religiöse Begrün­ dung keine universale Geltung beanspruchen kann: „Die beiden Konzepte der Gottesbildlichkeit und der relationalen Würde der Gotteskindschaft schließen einander nicht aus, sondern ergänzen einander. Aufgrund der aufgezeigten Schwierigkeiten, die das Konzept der Gottebenbildlichkeit durch die christologische Engführung macht, ist es m. E. in der Würdediskussion angemessener, auf die Schöpfungswürde und das personale Gottesverhältnis zurückzugreifen. Dann allerdings kann das biblische Menschenbild als Bezugspunkt einer christlich begründeten Würde aller Menschen dienen. Dass das Konzept nicht über den christlichen Binnenraum hinausreicht, muss nicht ein­ schränkend betont werden. Vielleicht ist das angesichts der Pluralität der Begründungen noch nicht einmal ein Manko“ (Frevel, Gottesbildlichkeit und Menschenwürde, 273 f.).

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präzise jene qualitativen Bestimmungen zu identifizieren, die den Menschen über­ haupt erst dazu befähigen, Verantwortung für sein eigenes (Herrschafts-)Handeln zu übernehmen. Genau dieser Weg ist auch tatsächlich innerhalb der patristischen Theologie überall dort beschritten worden, wo man sich etwa im Gespräch mit den Logos-Spekulationen der Stoa um eine Synthese der christlich-heilsgeschichtlichen Konzeption mit der philosophischen Anthropologie und Ethik bemüht hat. Der wichtige Beitrag der stoischen Philosophie zur Verinnerlichung und Universalisierung des Würdegedankens34 musste für christliche Theologen vor allem deswegen besonders attraktiv erscheinen, weil er sich komplementär zur funktionalen Perspek­ tive des eigenen ursprünglichen Schöpfungsgedankens verhielt und daher als wert­ volle Ergänzung betrachtet werden konnte.35 Allerdings führten diese frühen Inkulturationsprozesse aus wenigstens zwei Gründen noch keineswegs zu einer überzeugenden Präzisierung des Würdebegriffs: Zum einen erwies sich die stoische These der Teilhabe aller Menschen am göttlichen Logos ungeachtet ihrer egalitaristischen Stoßrichtung insofern selbst noch als präzisionsbedürftig, als das Vernunftverständnis in seiner Zweipoligkeit von theoretisch-­ spekulativer Welterschließung und praktischer Handlungsorientierung in verschie­ dene Richtung ausdeutbar war. Anstelle einer Konkretisierung durch eine überzeu­ gende Konzeption praktischer Rationalität, wie sie später etwa in der mittelalterlichen Theologie anzutreffen sein wird, ließen es die meisten patristischen Autoren dabei bewenden, die den Menschen auszeichnende Würde pauschal in der ‚Geistseele‘ zu lokalisieren und von der ambivalent beurteilten Leiblichkeit des Menschen abzu­ grenzen.36 Zum anderen führte die perfektionistische Aufladung und Dynamisierung der Gottebenbildlichkeit i. S. eines Prozesses der Verähnlichung mit Gott (ὁμοίωσις θεῷ/ homoiôsis theô) dazu, dass innerhalb der Patristik vor allem zum Würdestatus des Sünders sehr unterschiedliche und durchaus spannungsreiche Aussagen entwickelt wurden: Während einige Autoren37 die Unverlierbarkeit der Würde jedes Menschen verteidigten, wiesen andere Autoren38 darauf hin, dass die Würde durch den Ein­ 34 Vgl.

Forschner, Marktpreis und Würde oder vom Adel der menschlichen Natur, 33–59. Sowohl die jüdisch-christliche Schöpfungstheologie als auch die stoische Anthropologie kon­ vergieren zwar bezüglich ihrer Universalisierungstendenz, doch unterscheiden sie sich darin, dass der besondere Status des Menschen einmal aus einer rein funktionalen und einmal aus einer quali­ tativen Perspektive bestimmt wird, sodass beide Ansätze nicht auseinander ableitbar sind. 36  Zwar konnte auch der Leib in der zweckmäßigen Einrichtung seiner Organe durchaus zur Demonstration der Weisheit Gottes herangezogen werden, doch neigten die meisten Kirchenväter unter dem Einfluss (neu-)platonischer Gedanken einer latent dualistischen Anthropologie zu, der eine Tendenz zur Leibfeindlichkeit innewohnte. Vgl. Seibel, Fleisch und Geist beim Heiligen Am­ brosius, 18 f. 37  Vgl. z. B. Tertullianus: „Quod enim a Deo est, non tam extinguitur quam obumbrantur“ (De anima 41 [PL 2, 764]) sowie Klemens von Alexandrien, Paidagogos I, 98, 2, 3. 38  Vgl. z. B. Gregorius von Nyssa, De oratione dominica, 1145 D; vgl. Merki, ´OMOIOSIS THEO. Von der platonischen Angleichung an Gott zur Gottähnlichkeit bei Gregor von Nyssa. 35 

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fluss der Sünde überdeckt bzw. geschwächt wird oder sogar gänzlich verloren gehen kann.39 R. Bruch zufolge lässt sich dieser Sachverhalt jedoch „leicht klären, wenn man von einer zweifachen Würde des Menschen spricht: von der unauf­ hebbaren Würde, die sich aus der auf der Vernunftausstattung beruhenden Gottebenbildlich­ keit und der mit ihr zusammenhängenden Personalität des Menschen und deren Auswirkun­ gen (Selbstbestimmung [liberum arbitrium] und Heilsfähigkeit [capacitas Dei seu beatitudi­ nis]) ergibt, und der verlierbaren Würde, die auf übernatürlicher Ebene in der Erfülltheit mit dem göttlichen Leben (gratia sanctificans) und im natürlichen Bereich in der sittlichen Tadel­ losigkeit oder Tugendhaftigkeit besteht.“40

Obwohl von einer ‚leichten Klärung‘ dieser Problematik m. E. insofern keine Rede sein kann, als die nähere Verhältnisbestimmung von Natur und Gnade sowie die Analyse des Einflusses der Sünde auf die menschliche Freiheit und Vernunft im Grunde die gesamte abendländische Theologiegeschichte begleitet, soll es hier nicht um eine historische Rekonstruktion dieser Spannungsverhältnisse gehen, die sich bis in den gegenwärtigen lehramtlichen Gebrauch des Würdebegriffs hinein verfolgen lassen. Vielmehr ist noch einmal die systematische Frage aufzugreifen, ob und – wenn ja – wie es gelingen könnte, ausgehend von der biblischen Gottebenbildlich­ keitsvorstellung eine Brücke zum modernen Begriff der ‚Menschenwürde‘ i. S. einer robusten unverlierbaren Eigenschaft jedes Menschen zu schlagen. Denn wenn es stimmt, dass sowohl die neuzeitliche Aufklärungsphilosophie als auch die jüdisch-christliche Schöpfungstheologie den herausgehobenen Status des Menschen als sittliches Subjekt bzw. als Mandatar Gottes oder imago dei aus einer praktischen Perspektive durch eine besondere Verantwortlichkeit bestimmen, die sich rein phänomenologisch durch die unvergleichliche Handlungsmacht des Men­ schen plausibilisieren lässt, dann könnte es durchaus hilfreich erscheinen, im Ge­ spräch mit der zeitgenössischen Fähigkeitsethik nach den notwendigen Voraussetzun­ gen einer Befähigung zur tatsächlichen Verantwortungsübernahme des Menschen zu fragen. Ein solcher fähigkeitsethischer Begründungsansatz steht gleichwohl vor mehreren Herausforderungen: Erstens sind die für einen verantwortlichen Selbstvollzug des Menschen notwen­ digen Einzelfähigkeiten möglichst differenziert zu bestimmen. Da sowohl die ‚Frei­ heit‘ als auch die ‚Handlungsfähigkeit‘ als Bündelbegriffe jeweils verschiedene Ein­ zelkompetenzen umfassen, bedarf es dazu einer differenzierten interdisziplinären Analyse all derjenigen kognitiven, emotionalen und sozialen Fähigkeiten, ohne die ein verantwortliches Handeln nach derzeitigem Kenntnisstand aller handlungstheo­ retisch einschlägigen Disziplinen schlechterdings unmöglich erscheint. Zweitens ist zu berücksichtigen, dass die für das verantwortliche Handeln erfor­ derlichen Einzelkompetenzen dynamische entwicklungsoffene Größen darstellen, 39  Vgl. dazu Otto, Gottes Ebenbild in Geschichtlichkeit; sowie Karpp, Probleme altchristlicher Anthropologie. 40  Bruch, Die Würde des Menschen in der patristischen und scholastischen Tradition, 28 f.

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die unterschiedliche Realisierungsniveaus zulassen. Der Begriff der ‚Würde‘ bezieht sich nicht auf die volle oder bestmögliche Entfaltung dieser Kompetenzen i. S. eines ‚glücklichen oder guten Lebens‘41, sondern schützt lediglich die unverzichtbaren Mini­malbedingungen der Fähigkeit zur Verantwortungsübernahme. Dies allerdings insofern in einem durchaus anspruchsvollen Sinne, als nicht erst der aktuelle Besitz dieser Fähigkeiten, sondern schon die individuelle Anlage zu ihrem Gebrauch unter den Schutzbereich der Menschenwürde fällt. Aufgrund der Einheit des mensch­ lichen Lebens sind dabei auch solche Phasen der Existenz einzubeziehen, in denen das betroffene Individuum entwicklungs- oder krankheitsbedingt noch nicht oder nicht mehr aktuell handlungsfähig ist und daher auch keine Verantwortung für die eigene Lebensführung übernehmen kann.42 Drittens ist im Blick auf eine überzeugende Extensionsbestimmung des Begriffs der ‚Menschenwürde‘ zu klären, wie es um den moralischen Status derjenigen (le­ bensfähigen) Mitglieder der biologischen Gattung homo sapiens bestellt ist, die infol­ ge schwerster Krankheit und/oder Behinderung niemals zu einer minimalen Form verantwortlichen Handelns in der Lage sind, weil ihnen nachweislich die dafür erfor­ derlichen somatischen und/oder mentalen Voraussetzungen fehlen.43 Im Blick auf diese Individuen ist nicht nur der Unterschied zwischen der Individual- und der Gattungswürde relevant, sondern auch an wichtige Differenzierungen bezüglich unserer moralischen Verantwortung zu erinnern44: nämlich erstens die ‚Verantwortung für eine Handlung‘, zu der nur handlungsfähige Subjekte der Moralität in der Lage sind; zweitens die ‚Verantwortung für ein Objekt der Moralität‘, die alle Entitäten mit ei­ nem intrinsischen Wert (wie z. B. Pflanzen und Tiere) betrifft; und drittens die ‚Ver­ antwortung vor einer Instanz‘, die auch dann bestehen bleibt, wenn ein Artgenosse z. B. krankheitsbedingt seine Rechte nicht selbst einfordern kann. Instanz der Ver­ antwortung ist jeder Mensch als Mitglied der biologischen Gattung, auch wenn er selber der für den vollen Status als sittliches Subjekt erforderlichen Fähigkeiten (ak­ tuell oder generell) entbehrt. Die biologische Artgemeinschaft ist also selbst dann 41  Vgl. dazu Bormann, „Handlungsfähigkeit“ und „gutes Leben“. Plädoyer für einen schwachen Perfektionismus, 177–194. 42  Dieser fähigkeitsethische Ansatz ist insofern auch eng mit einer Güterlehre verbunden, als alle Güter, die notwendig dafür sind, jenes basale Entfaltungsniveau der individuellen Handlungsfähig­ keit zu erreichen, das die Bedingung der Möglichkeit für eine faktische Verantwortungsübernahme darstellt – wie z. B. das Leben, die körperliche Unversehrtheit sowie ein gewisses Maß an Sicherheit, Freiheit, medizinischer Versorgung, sozialer Integration, materieller Ausstattung –, legitime Be­ zugspunkte für normative menschenrechtliche Ansprüche darstellen, die mit dem Würdestatus verbunden sind. Vgl. hierzu Gewirth, Human Dignity as the Basis of Rights, 10–28; Bormann, Naturrechtliche Begründung von Menschenrechten? Ein Blick in die aristotelische Tradition, 135– 159 sowie Laukötter, Zur Begründung der Menschenrechte im Fähigkeitenansatz, 161–179. 43  Solche seltenen Konstellationen zwingen dazu, das Binnenverhältnis der verschiedenen Krite­ rien der biologischen ‚Artzugehörigkeit‘, der ‚Entstehungsbedingungen‘ (‚was vom Menschen ab­ stammt‘), der phänomenologischen Ähnlichkeit (‚was menschliches Antlitz trägt‘) sowie fähig­ keitsbezogener qualitativer Bestimmungen genauer zu klären. 44  Vgl. dazu Ricken, Mensch und Person, 86–101, bes. 98–101.

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eine basale Rechts- und Verantwortungsgemeinschaft, wenn nicht alle ihre Mitglie­ der auch als ‚Subjekte der Moralität‘ im strengen Sinne einzustufen sind, sondern als ‚Instanzen der Verantwortung‘ von solchen Objekten der Moralität unterschieden werden, die zwar einen begrenzten intrinsischen Wert haben, aber nicht zu dieser Gattung gehören und daher auch nicht als Inhaber von Rechtsansprüchen bezeich­ net werden sollten. Durch die fähigkeitsethische Unterfütterung des Begriffs der ‚sittlichen Subjektivität‘ ist sichergestellt, dass der Verdacht des bloßen Speziesismus ausgeräumt werden kann, ohne das Faktum der Gattungsgemeinschaft generell für moralisch bedeutungslos erklären zu müssen.45 Viertens hat dieser Ansatz auch das Potenzial zur Klärung der Frage, ob und in­ wiefern es sich bei der Menschenwürde um einen Begriff handelt, der einer rein säkularen Interpretation zugänglich ist.46 Da der entscheidende Rechtfertigungsgrund für die Annahme eines Sonderstatus des Menschen letztlich nicht in der für die ­Verähnlichung mit Gott maßgeblichen aktuellen Sittlichkeit und damit in der persön­ lichen moralischen Leistungsfähigkeit einzelner Individuen, sondern in der generel­ len, in Freiheit und Vernunftbegabung gründenden bloßen Anlage zur sittlichen Subjektivität als notwendiger Voraussetzung jeder Verantwortungsübernahme über­haupt besteht, dürfte hinreichend deutlich sein, dass der normative Kern des Würdebegrif­ fes von spezifisch religiösen Voraussetzungen geltungstheoretisch unabhängig ist. Die verbreitete Annahme, der säkulare Würdebegriff sei aus der religiösen Vorstel­ lung einer spezifischen ‚Gottebenbildlichkeit‘ ableitbar, stellt die tatsächlichen logi­ schen Abhängigkeitsverhältnisse zwischen beiden Begriffen auf den Kopf. Die prak­ tische Einsicht in den Würdestatus des Menschen stellt kein Derivat aus der voraus­ gehenden spekulativen Erkenntnis seiner Gottebenbildlichkeit dar. Vielmehr setzt der theologisch-spekulative Begriff der ‚Gottebenbildlichkeit‘ seinerseits jene philo­ sophisch-praktische Einsicht in die prinzipielle Befähigung zur Verantwortungs­ übernahme voraus, die im Würdebegriff ausgesagt und in der biblischen Annahme einer Sonderstellung des Menschen als Privileg und Aufgabe des Menschen immer schon implizit vorausgesetzt wird. Nur weil der Mensch als freies, potentiell vernünf­ tig handelndes Wesen existiert und somit grundsätzlich Verantwortung überneh­ men kann, ist es überhaupt möglich, in einer vertiefenden theologisch-metaphysi­ schen Interpretation von einer Gottebenbildlichkeit des Menschen zu sprechen und den Menschen damit als Bundespartner eines Gottes zu präsentieren, der selber als moralisch vollkommenes Wesen gedacht wird. Das hat die christliche Theologie spä­ testens seit Thomas von Aquin auch immer gewusst, indem sie die Eigenständigkeit der praktischen Vernunft betont und zum Anknüpfungspunkt einer universalistisch ausgerichteten Naturrechtslehre gemacht hat.47 Die Gottebenbildlichkeit ist nicht die begriffslogische Voraussetzung für den Würdebegriff, sondern eine mögliche, mit 45 Vgl.

Spaemann, Über den Begriff der Menschenwürde, 115 f. Höffe, Menschenwürde als ethisches Prinzip, 111–141, bes. 112 und 116. 47 Vgl. von Aquin, STh I II prol. und q.94 a.2; dazu Kluxen, Philosophische Ethik bei Thomas von Aquin; sowie Bormann, Natur als Horizont sittlicher Praxis, bes. 192–236. 46 Vgl.

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dem Würdebegriff kompatible, geltungslogisch sekundäre religiöse Deutungskate­ gorie für die Sonderstellung des Menschen, deren funktionale Ausrichtung die im Konzept der Menschenwürde enthaltenen qualitativen Bestimmungen des Mensch­ seins immer schon implizit voraussetzt, ohne sie jedoch aus sich heraus selbst schon entfaltet zu haben.

III. Folgerungen für den lehramtlichen Umgang mit dem Würdebegriff Die oben skizzierte fähigkeitsethische Interpretation der Würde als einer unverfüg­ baren Eigenschaft, die jedem Menschen für die gesamte Dauer seiner Existenz zu­ kommt, der über die bloße Anlage zu verantwortlichem Handeln und damit zur sitt­ lichen Subjektivität verfügt, hat nun aber auch Konsequenzen für die moraltheologi­ sche Beurteilung des intensiven Gebrauchs, den das universalkirchliche Lehramt in jüngerer Zeit vom Würdebegriff in verschiedenen Kontexten gemacht hat. Das darin aufscheinende Begrenzungsproblem sei abschließend an zwei Beispielen kurz ver­ deutlicht. Im vielleicht wichtigsten Text des Zweiten Vatikanischen Konzils, der Erklärung Dignitatis humanae über die Religionsfreiheit48, mit der das katholische Lehramt in einer beispiellosen Selbstkorrektur seine früheren Vorbehalte gegenüber den neu­ zeitlichen Freiheitsrechten des Menschen überwunden49 und erfolgreich Anschluss an die moderne Menschenrechtsbewegung gefunden hat, trifft man auf einen ebenso sparsamen wie sachlich überzeugenden Gebrauch des Würdebegriffs. So erklären die Konzilsväter, das „Recht des Menschen auf religiöse Freiheit“ habe „seine Grundlage in der Würde der Person, deren Forderungen die menschliche Vernunft durch die Jahrhunderte vollständiger erkannt hat“.50 Die Religionsfreiheit wird dabei engstens mit der Gewissensfreiheit verbunden, deren normativer Kern darin besteht, dass „in religiösen Dingen niemand gezwungen wird, gegen sein Gewissen zu handeln, noch daran gehindert wird, privat und öffentlich, als einzelner oder in Verbindung mit anderen – innerhalb der gebührenden Grenzen – nach seinem Gewissen zu han­ deln“.51 Auch wenn der Handlungstyp des illegitimen Gewissenszwangs nicht nur auf den Bereich spezifisch religiöser Praktiken eingeschränkt werden darf, verdeut­ licht das von den Konzilsvätern hier angesprochene Beispiel doch eindrücklich, wo­ rum es beim Schutz der Menschenwürde geht. Der Gewissenszwang stellt nämlich vor allem deswegen einen eklatanten Würdeverstoß dar, weil er die Möglichkeit des Akteurs zu einem verantwortlichen, d. h. Gründe geleiteten Handeln zerstört und damit die moralische Identität des Menschen als einsichtsgeleiteten Verantwortungs­ 48 Vgl. Böckenförde, Über die Autorität päpstlicher Lehrenzykliken am Beispiel der Äußerun­ gen zur Religionsfreiheit, 22–39. 49  Declaratio de libertate religiosa (= DH), in: Acta Apostolicae Sedis 58 (1966), 929–946. 50  DH Nr.  9. 51  DH Nr.  2 .

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träger in extremster Form direkt angreift. Wer dazu gezwungen wird, gegen sein Gewissen zu handeln, der agiert in einer Weise, die er selbst nicht verantworten kann, da sein Gewissen als oberste subjektive Instanz rationaler Handlungssteue­ rung diese Handlungsweise als moralisch unzulässig qualifiziert hat. Der Akteur folgt dann nicht mehr eigener Einsicht und ihm plausibel erscheinenden Gründen, sondern der schieren Macht und Willkür Dritter, was jede Möglichkeit der Verant­ wortungsübernahme ausschließt. Ein ganz anderer Umgang mit dem Würdebegriff begegnet uns in einem zweiten lehramtlichen Dokument, der Instruktion der Glaubenskongregation über die Ach­ tung vor dem beginnenden menschlichen Leben und die Würde der Fortpflanzung Donum vitae vom 10. März 1987, das sich mit verschiedenen Fragen der Reproduk­ tionsmedizin beschäftigt. Aus der Fülle der hier behandelten Themen sei mit der sog. homologen In-Vitro-Fertilisation nur ein einziges technisches Verfahren herausge­ griffen, in dessen normativer Bewertung das Würde-Argument eine besondere schil­ lernde Rolle spielt. Der Instruktion zufolge widerspricht der den ehelichen Akt erset­ zende medizinische Eingriff der IVF-Behandlung mit den Gameten des betroffenen Ehepaares selbst im sog. einfachen Fall (d. h. „wenn alles getan wird, um den Tod des menschlichen Embryos zu vermeiden“52) nicht nur „der Würde und den Rechten der Eheleute und des Ungeborenen“53, er stehe auch „im Widerspruch zur Würde der Fortpflanzung und der ehelichen Vereinigung“54, so dass diese Behandlungsform in streng deontologischer Manier als „in sich unerlaubt“55 qualifiziert wird. Im Blick auf den Gebrauch des Würdebegriffs in dieser zweigliedrigen These drängen sich wenigstens zwei gewichtige Einwände auf. Das eine Problem besteht darin, dass sich der Würdebegriff im ersten Teil der Aussage zwar in Übereinstimmung mit dem allgemeinen Sprachgebrauch auf menschliche Personen bezieht, aber in keiner Weise angegeben wird, worin die gravierende Schädigung der betroffenen Ehepartner bzw. Kinder eigentlich besteht. Es scheint sich um eine bloße ad-hoc-Behauptung zu han­ deln, die nicht nur in hohem Maße kontraintuitiv ist, sondern für die jedenfalls bis­ lang auch jede empirische Evidenz fehlt.56 Gerade der sog. einfache Fall der homolo­ gen IVF-Behandlung lässt – ungeachtet seiner relativ geringen Erfolgsaussichten – ein hohes Maß an Verantwortlichkeit aller Betroffenen erkennen und kann daher schwerlich mit einer praktischen Unterminierung der basalen Fähigkeit zur Verant­ wortungsübernahme in Zusammenhang gebracht werden. Das andere Problem betrifft den zweiten Teil der These und besteht darin, dass der Referenzpunkt des Würde-Argumentes hier gar keine menschliche Person ist, son­ 52 

Donum vitae, 33. Donum vitae, 35. 54  Donum vitae, 33. 55 Ebd. 56  Selbst wenn es stimmen sollte, dass bestimmte reproduktionsmedizinische Techniken wie die ICSI mit bestimmten gesundheitlichen Beeinträchtigungen der so gezeugten Kinder korrelieren, dürften diese kaum so schwerwiegend sein, dass sie die Diagnose eines Würdeverstoßes rechtferti­ gen. 53 

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dern eine Handlung – die ‚eheliche Vereinigung‘ – bzw. ein abstraktes Nomen – die ‚Fortpflanzung‘ –, deren biologischer Integrität dann in naturalistischer Manier of­ fenbar eine direkte Normativität unterstellt wird.57 Nicht nur Menschen, sondern auch bestimmte Handlungsformen verfügen demnach aufgrund bestimmter Merk­ male über eine spezifische Würde, gegen die immer dann verstoßen wird, wenn diese Eigenschaften nicht in der gebotenen Integrität realisiert werden. Ausgehend von einem ganz bestimmten perfektionistischen Verständnis der inneren Teleologie des menschlichen Sexualaktes wird jedes Zurückbleiben hinter einzelnen (Teil-)Zielbe­ stimmungen als Würdeverstoß gewertet. Eine solche Argumentation führt zwangs­ läufig zu einer Inflationierung vermeintlicher Würdeverstöße, die auf lange Sicht ein robustes Verständnis der Menschenwürde untergräbt. Auch der Rückgriff des kirch­ lichen Lehramtes auf den Würdebegriff bedarf daher einer beständigen kritischen Begleitreflexion, um – i. S. des II. Vatikanums – die der Würde tatsächlich entsprin­ genden Forderungen mittels der Vernunft „vollständiger“58 zu erkennen.

Literaturverzeichnis Aristoteles, Ethica Nicomachea, hg. v. Ingram Bywater, Oxford: Clarendon Press 191986. Assmann, Jan, Konstellative Anthropologie. Zum Bild des Menschen im alten Ägypten, in: Bernd Janowski (Hg.), Der ganze Mensch, Stuttgart: Katholisches Bibelwerk 2012, 35–57. Barth, Ulrich, Gottesebenbildlichkeit und Menschenwürde, in: Klaus D. Hildemann (Hg.), Die Zukunft des Sozialen, Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2001, Sp.  187–190. Böckenförde, Ernst-Wolfgang, Über die Autorität päpstlicher Lehrenzykliken am Bei­ spiel der Äußerungen zur Religionsfreiheit, in: Theologische Quartalschrift 186 (2006), 22–39. Bormann, Franz-Josef, Natur als Horizont sittlicher Praxis. Zur handlungstheoretischen Interpretation der Lehre vom natürlichen Sittengesetz bei Thomas von Aquin, Stuttgart: Kohlhammer 1999. Bormann, Franz-Josef, ‚Handlungsfähigkeit‘ und ‚gutes Leben‘. Plädoyer für einen schwa­ chen Perfektionismus, in: Matthias Hoesch u. a. (Hg.), Glück – Werte – Sinn. Metaethische, ethische und theologische Zugänge zur Frage nach dem guten Leben, Berlin/Boston: De Gruyter 2013, 177–194. Bormann, Franz-Josef, Naturrechtliche Begründung von Menschenrechten? Ein Blick in die aristotelische Tradition, in: Margit Wasmaier-Sailer/Matthias Hoesch (Hg.), Die Be­ gründung der Menschenrechte, Tübingen: Mohr Siebeck 2017, 135–159. Brandhorst, Mario, Zur Geschichtlichkeit menschlicher Würde, in: ders./Eva Weber-­ Guskar (Hg.), Menschenwürde, Berlin: Suhrkamp 2017, 113–153. Brandhorst, Mario/Eva Weber-Guskar (Hg.), Menschenwürde. Eine philosophische De­ batte über Dimensionen ihrer Kontingenz, Berlin: Suhrkamp 2017. 57  Hatte die Instruktion eingangs noch zu Recht festgestellt, der „Bezugspunkt“ für das natür­ liche Sittengesetz sei „die leibliche und geistige Natur der menschlichen Person“, so verlagert sich die Argumentation hier auf die problematische Vorstellung der ‚Natur‘ einer bestimmten einzelnen Handlungsweise, deren konstitutive Merkmale notorisch umstritten sind. 58  DH Nr.9.

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Die Würde des Menschen als Menschenrecht und Fundament der Menschenrechte Stephan Kirste I. Einleitung Die Würde des Menschen bezeichnet im Recht keinen Vergangenheitsbegriff, der seinen Inhalt aus Unrechtserfahrungen gewinnen würde. Diese Erfahrungen waren vielmehr die Veranlassung dafür, die Würde des Menschen als Fundament und zu­ gleich selbst als Menschenrecht in das Recht zu transformieren. In dieser Form ist sie jedoch ein Zukunftsbegriff, der die Bedingung dafür formuliert, dass alle Menschen als Personen nicht in Gewalt-, sondern in Rechtsverhältnissen stehen können. Durch die Transformation dieser transzendentalen Bedingung für Rechtsverhältnisse wird sie zugleich jedem Menschen als Anspruch gewährt und ist deshalb in der Tat im Recht unantastbar und daher absolut. Neben den andauernden Debatten über die Bedeutung der Menschenwürde ist auch die Frage ihrer Form weiterhin in der Diskussion. Drei Problemkreise sind es, die den Zusammenhang zwischen Menschenwürde und Menschenrechten in der heutigen Diskussion betreffen: Erstens wird in theoretischer Hinsicht in der Men­ schenwürde das Abgrenzungskriterium zwischen Menschenrechten und sonstigen subjektiv-öffentlichen Rechten gesucht, die nicht notwendig allen Menschen zukom­ men müssen. Zweitens wird in normativer Hinsicht die Menschenwürde als ein ob­ jektives Rechtsprinzip verstanden, das alle Menschenrechte inhaltlich begründet. In dieser Hinsicht wird sie als Verfassungsversprechen,1 Wert,2 Verfassungsgrund­ satz,3 Konstitutionsprinzip,4 objektive Verpflichtung und als Staatsziel5 etc. ver­ standen. Drittens wird diskutiert, ob die Menschenwürde als Rechtsprinzip auf diese objektive Funktion beschränkt ist oder selbst ein Menschenrecht darstellt.6 Im Ver­ 1  Enders, Menschenwürde in der Verfassungsordnung, 448: „Die Unantastbarkeit mensch­ licher Würde bleibt so ein unmittelbar rechtlich nicht einzulösendes und nie eingelöstes Verspre­ chen“. 2  Tiedemann, Menschenwürde als Rechtsbegriff, 552 f. – Als solcher wird sie in Art.  2 EUV aus­ drücklich bezeichnet; Rothhaar, Menschenwürde als Prinzip des Rechts, 37 ff. 3  Brugger, Menschenwürde, Menschenrechte, Grundrechte, 395: „leitendes objektives Verfas­ sungsprinzip“. 4  Tiedemann, Menschenwürde als Rechtsbegriff, 544 ff. 5  Brugger, Menschenwürde, Menschenrechte, Grundrechte, 382. 6  Rothhaar, Menschenwürde als Prinzip des Rechts, 41 f.

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hältnis zu den Menschenrechten kann sie als Prinzip verstanden werden, das ihnen voraus- oder zugrunde liegt, als etwas, was sich als Summe aus ihnen ergibt oder schließlich kann sie selbst als ein Menschenrecht interpretiert werden. Wenn ich im Folgenden auf diese Problemkreise eingehe, wird es meine These sein, dass die Würde des Menschen – unbeschadet ihrer fortdauernden moralischen, religiösen7 und weltanschaulichen Bedeutung – inzwischen selbst zu einem Men­ schenrecht geworden ist. Genauer ist sie das Recht eines jeden Menschen auf Aner­ kennung als Rechtsperson.

II. Menschenwürde als Abgrenzungskriterium von Menschenrechten und anderen Rechten 1. Zur Form der Menschenrechte Menschenrechte sind subjektive Rechte des Menschen,8 die von ihm verkörperte fundamentale Werte und Interessen schützen.9 Der Form nach treten sie als über­ positive – naturrechtliche oder moralische – und positive – verfassungs- oder völker­ rechtliche – Rechte auf. Überpositiv sind solche Menschenrechte, die nicht auf nor­ mativ gebundenen (völker-)vertraglichen oder anderen Entscheidungen beruhen. Natürliche Menschenrechte sollen gelten, weil sie zur Natur des Menschen als solcher gehören10 und Träger öffentlicher Gewalt verpflichten.11 Folgt man nicht der gelegentlich vertretenen Ansicht, dass von Menschenrechten überhaupt nur in dieser überpositiven Form gesprochen werden kann,12 sind hier­ von die positiven Menschenrechte zu unterscheiden. Diese sind in vielfältigen Erklä­ rungen, Konventionen und Verfassungen völkerrechtlich vereinbart oder durch Ver­ fassungen geschützt. Hierdurch werden Adressat, Verpflichtung und Verpflichteter konkretisiert.13 Als positives Recht tritt an die Seite der sachlichen Legitimation der Menschenrechtsinhalte, die aus der Natur des Menschen oder anderen philosophi­ 7  Teilweise wird der religiöse Ursprung der Würde des Menschen auch heute noch für den einzig tragfähigen Grund insbesondere der Rechtfertigung ihrer Absolutheit verstanden, Isensee, Men­ schenwürde, 173 ff.; dagegen Neumann, Rechtsprinzip der Menschenwürde als Schutz elementarer menschlicher Bedürfnisse, 298. 8  Kritisch dazu Chwaszcza, Concept of Rights in Contemporary Human Rights Discourse, 333 ff. 9  Alexy, Institutionalisierung der Menschenrechte im demokratischen Verfassungsstaat, 244 f. 10  Koller, Geltungsbereich der Menschenrechte, 96: „Menschenrechte sind nach üblichem Ver­ ständnis Rechte, die alle Menschen sozusagen von Natur aus besitzen, also unabhängig von kontin­ genten Umständen wie Abstammung, Rasse, Geschlecht, Nation und Religion“. 11  Menke, Philosophie der Menschenrechte, 30 f.; Pogge, International Significance of Human Rights, 53. 12  Griffin, On Human Rights, 2: Ein Menschenrecht ist „[a] right that we have simply in virtue of being human“. 13 Näher Kirste, naturrechtliche Idee überstaatlicher Menschenrechte, Rn.   42; Rothhaar, Menschenwürde als Prinzip des Rechts, 318 ff.

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schen Begründungen resultiert, eine prozedurale Legitimation. Positive Menschen­ rechte sind nicht nur im Besitz der wenigen, denen sie in ihrer natürlichen Form „einleuchten“ (lumen rationis naturalis),14 sondern Gemeingut und Ausdruck der politischen Autonomie. Entsprechend den Verfahren zu ihrer Setzung gelten sie uni­ versell wie die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (AEMR), regional für eine Gruppe von Staaten wie die Europäische Menschenrechtskonvention oder national wie die Grundrechtskataloge von Verfassungen. Ihre Verbindlichkeit ist hingegen unterschiedlich ausgestaltet und reicht von der zunächst als Orientierung gedachten AEMR bis zu den für die öffentliche Gewalt und über die Drittwirkung auch für Private jedenfalls mittelbar verbindlichen Grundrechten. Hiervon ist ihre über ­unterschiedliche Implementations-, Monitoring- und Sanktionsmechanismen nicht immer gewährleistete faktische Geltung im Sinne ihrer Durchsetzbarkeit zu unter­ scheiden. Internationale Menschenrechte schützen heute den Menschen gegenüber unge­ rechter staatlicher Machtausübung, fordern staatliche Leistungen in Bereichen, in denen er sich nicht selbst helfen kann, fördern seine kulturelle und politische Selbst­ bestimmung und sichern sein Zusammenleben in autonomen Gemeinschaften. Schon die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte vom 10. Dezember 1948 aner­ kennt vier Gruppen von Menschenrechten.15 Eine erste Gruppe umfasst negative oder Abwehrrechte, die dem Einzelnen einen Freiraum zur privaten Lebensgestal­ tung belassen. Die AEMR gewährt neben diesen Freiheiten und Diskriminierungs­ verboten auch bestimmte positive Rechte als Forderungen des Einzelnen an die öf­ fentliche Gewalt.16 Die Rechte dieser zweiten Gruppe sollen angemessene Lebensbe­ dingungen für alle gewährleisten.17 Hier sichern die Menschenrechte den Einzelnen gegenüber natürlichen und gesellschaftlichen Risiken, vor denen sich der Einzelne nicht selbst schützen kann, und geben ihm einen Anspruch auf öffentliche Leistun­ gen, wo diese als Freiheitsvoraussetzungen erforderlich sind. Eine dritte Gruppe von Menschenrechten in der Allgemeinen Erklärung garantiert ihm die Mitwirkung bei der Begründung und Konkretisierung von Rechten und Pflichten durch die öffent­ liche Gewalt. Daher anerkennt die AEMR das Recht des Menschen auf demokrati­ sche Teilhabe an Wahlen im eigenen Staat (Art.  21 I). Jeder Mensch besitzt aber nicht nur ein Recht darauf, an der Begründung der öffentlichen Gewalt beteiligt zu sein, sondern auch daran, in gleicher Weise wie alle anderen an ihrer Ausübung durch die Verwaltung mitwirken zu können. Wird er schließlich in seinen Rechten verletzt, soll er dem nicht passiv ausgeliefert sein, sondern aktiv für sein Recht vor Gericht streiten dürfen. Deshalb anerkennt die AEMR ein Recht des Menschen auf gerichtlichen 14  Zu diesem Gedanken bei Thomas von Aquin, Böckenförde, Geschichte der Rechts- und Staatsphilosophie, 235 f. 15  Vergleiche zur Einteilung in drei Gruppen Verdross, Idee der menschlichen Grundrechte, 335. 16 Im Questionaire der UNESCO, http://unesdoc.unesco.org/images/0015/001550/155042eb. pdf, letzter Zugriff: 01.05.2020. 17  Lohmann, Die Menschenrechte, 9 f.

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Rechtsschutz (Art.  8) und auf ein gerechtes Verfahren und deshalb darf er strafrecht­ lich nicht zur Verantwortung gezogen werden, wenn die Strafbarkeit seines Han­ delns nicht zuvor feststand, und es gilt zu seinen Gunsten die Unschuldsvermutung (Art.  11). Die dritte Gruppe von Menschenrechten regelt also die aktive Mitwirkung des Menschen in den drei Gewalten der Legislative, der Exekutive und der Judikative. Die Menschenrechte werden nicht nur gegen die öffentliche Gewalt wie die Abwehr­ rechte, sie werden auch nicht nur durch sie wie die Schutz- und Leistungsrechte, ­sondern sie werden auch in und mit der öffentlichen Gewalt realisiert. Mit Georg Jellinek18 lassen sich die Menschenrechte in zunächst in drei Status des Menschen im Verhältnis zum Staat zusammenfassen: den Status der Freiheit gegenüber dem Staat (status negativus), den Status der Freiheit durch den Staat (status positivus) und den Status der Freiheit im Staat (status activus).19 Präambel und Art.  1 der AEMR – „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Wissen begabt und sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen“ – passen jedoch nicht in diese Einteilung. Schon die indikative Formulierung scheint gegen eine Norm oder gar ein subjektives Recht zu sprechen. Und doch wird schon hier die Überzeugung der Autoren der AEMR zum Ausdruck gebracht, dass sich die Einzelnen untereinander und im Ver­ hältnis zum Staat auf der Basis des Rechts begegnen sollen. Artikel  2 der AEMR zieht daraus die Konsequenz und gewährt jedem Menschen den prinzipiell gleichen An­ spruch auf alle Rechte der Erklärung. Dazu gehört auch das Recht, überall als rechts­ fähig (Art.  6) und jedenfalls als Bürger eines Staates anerkannt zu werden (Art.  15). Die Erklärung unterstellt mithin das Verhältnis der Menschen untereinander und zum Staat dem Recht. In Weiterentwicklung der Jellinekschen Statuslehre könnte man insofern auch als viertes von einem status subjectionis sprechen. Diese vier Gruppen von Menschenrechten – die Rechte des Menschen gegenüber der öffentlichen Gewalt, der Rechte durch die öffentliche Gewalt, der Mitwirkungs­ rechte an der öffentlichen Gewalt und des Rechts auf Anerkennung der Rechtsfähig­ keit des Menschen – sind durch weitere völkerrechtliche Deklarationen und Über­ einkommen konkretisiert und für die Staaten verpflichtend anerkannt worden, so dass sie insgesamt eine „internationale Bill of Rights“ ergeben.20 2. Die Abgrenzung der Menschenrechte von sonstigen subjektiven Rechten Da es auch subjektive Rechte in den genannten vier Status gibt, die nicht als Men­ schenrechte verstanden werden, reicht es nicht aus, die Menschenrechte formal als subjektiv öffentliche Rechte zu bestimmen.21 Dieser formale Ansatz wird auch der 18 

Jellinek, System der subjektiven öffentlichen Rechte, 85 ff. Vgl. hierzu Brugger, Jellineks Statuslehre, 10 ff. 20  Thürer/Buergenthal, Menschenrechte, 29  f. Zu Gruppenrechten als Menschenrechten Kirste, Gruppenrechte als Menschenrechte, 45 ff. 21  Kelsen, Allgemeine Staatslehre, 62. 19 

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normativen Forderung nicht gerecht, dass alle Menschen Träger von Menschenrech­ ten sein sollen. Es bedarf also eines theoretischen Abgrenzungskriteriums zwischen Menschen- und sonstigen subjektiven öffentlichen Rechten. Prozedurale Theorien betonen zu Recht, dass Menschenrechte den Menschen nicht paternalistisch verord­ net werden können, sondern aus rechtsbegründenden Diskursen hervorgehen müs­ sen.22 Aber Grund und Grenze zu anderen Rechten, die auch aus solchen Diskursen hervorgehen, bleiben doch etwa beim rawlsianischen Ansatz von Charles Beitz, der Menschenrechte als Grenzen von Eingriffsrechtfertigungen ansieht, offen. Er ver­ meidet zwar Naturalismen,23 kann aber auch kein allgemeines Kriterium zwischen solchen politischen Praktiken aufzeigen, die legitimerweise Menschenrechte be­ schränken und anderen.24 Auch denjenigen Theorien, die annehmen, dass die Menschenrechte aus „exemp­ larischer Unrechtserfahrung“ hervorgehen25, fehlt letztlich ein Kriterium dafür, wann eine Verletzung die Negation eines Rechts ist. „Traurige und aufwühlende Ge­ schichten“ mögen ein Gefühl dafür wecken,26 dass es hier um ein Recht geht. Ohne Zweifel haben die massiven Menschenrechtsverletzungen durch den Nationalsozia­ lismus als Gegenreaktion das Nachdenken über völkerrechtlich zu schützende Men­ schenrechte veranlasst. Das Problem der Begründung der Menschenrechte aus ex­ emplarischen Unrechtserfahrungen ist jedoch, dass jedenfalls seit der Französischen Revolution die abstrakt-allgemeinen Menschenrechte nicht aus den konkret-indivi­ duellen historischen Erfahrungen zu erklären sind.27 Auch Hannah Arendts Forderung nach einem Recht auf Rechte ist dadurch veran­ lasst worden, arbeitet aber positiv heraus, dass die Würde des Menschen hinter die­ sem Recht steht. Nun mag man gegenüber Ansätzen, die die Menschenrechte aus der Würde des Menschen im Sinne einer anti-rationalistisch verstandenen „Sakralität der Person“ (Hans Joas) 28 herleiten, skeptisch sein, weil eine glaubens- und offenba­ rungsgeleitete Begründung29 zwar moralische und religiöse Menschenrechte, nicht aber die positiven zu begründen vermag. Diese Skepsis braucht sich jedoch nicht auf die Begründung der Menschenrechte und die Menschenwürde mit anderen Argu­ menten zu erstrecken. Menschenrechte könnten sich aber inhaltlich dadurch auszeichnen, dass sie fun­ damentale Interessen schützen. Nur, welche Interessen erfüllen dieses Kriterium? 22 

Habermas, Über den internen Zusammenhang von Rechtsstaat und Demokratie, S.  301. Beitz, The Idea of Human Rights, 48 ff. 24  Zu möglichen Kriterien Beitz, a. a. O., 29 f. u. 160. 25  Brugger, Menschenwürde, Menschenrechte, Grundrechte, 129. 26  Rorty, Menschenrechte, Rationalität und Gefühl, 151: „Wir Pragmatisten stützen uns in un­ serer Argumentation auf die Tatsache, daß die Entstehung der Menschenrechtskultur offenbar nichts dem wachsenden sittlichen Wissen verdankt, dafür aber alles den traurigen und aufwühlen­ den Geschichten, die man hört […]“. 27  Hofmann, Menschenrechtliche Autonomieansprüche, 169. 28  Joas, Sakralität der Person, 225. 29  Joas, Sakralität der Person, 164. 23 

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Für Höffe sind es fundamental in einem universellen Tausch wechselseitig für unver­ zichtbar anerkannte, d. h. den Menschen als Menschen ermöglichende Interessen.30 Robert Alexy nimmt an, dass ein Interesse fundamental ist, „wenn seine Verletzung oder Nichtbefriedigung entweder den Tod oder schweres Leiden oder den Kern­ bereich der Autonomie betrifft.“31 Auch andere wollen Autonomie32 oder ein würde­ gemäßes Leben33 als fundamental ansehen. Welche Interessen sollten sich jedoch Menschen als unverzichtbar wechselseitig anerkennen? James Griffin verstand solche Interessen, die Menschenrechte begründen können, als „what is needed to function as a normative agent.“34 Menschenrechte hätten dann die Aufgabe, „dignity and ­human agency“ zu schützen.35 3. Zum Begriff der Menschenrechte Formale Theorien, die Menschenrechte als Rechte jedes Menschen ansehen und dis­ kurstheoretische Ansätze, die Menschenrechte als Ausdruck der politischen Autono­ mie des Menschen verstehen, setzen aber einen Wert voraus: die Würde des Men­ schen. Hinter der politischen Autonomie steht die Freiheitsfähigkeit des Menschen. Dass subjektive Rechte Rechte aller Menschen sind, folgt nicht aus ihrer Form als subjektives Recht, sondern setzt einen Anspruch auf dieses subjektive Recht voraus. Wo die Grenze für Eingriffsrechtfertigungen liegt, ist mit der Menschenwürde be­ stimmt. Insofern begründen die materialen Theorien zutreffend, dass das Abgren­ zungskriterium in der Würde des Menschen oder der Person liegt. Damit grenzen sie jedoch die positiven Menschenrechte durch ein überpositives Kriterium von sonsti­ gen Rechten ab. Insofern erfolgt die Kritik der formalen und prozeduralen Theorien zu Recht. Die Menschenwürde ist aber nicht nur materiales Abgrenzungskriterium von Menschen- und sonstigen Rechten. Sie rechtfertigt auch die Forderung nach Verfah­ ren, aus denen die Menschenrechte begründet werden sollen. Es ist dann konsequent, dass völkerrechtliche Dokumente selbst davon sprechen, dass sich die Menschen­ rechte von der Würde „herleiten“.36 Sie gründen so in einer spezifischen Würde des Menschen als solchem und nicht etwa in seinen Leistungen oder seiner sozialen Stel­ lung. Als Würde des Menschen ist sie speziesistisch: Sie ist eben nicht die „Würde der 30 

Höffe, Transzendentaler Tausch, 34. Alexy, Institutionalisierung der Menschenrechte im demokratischen Verfassungsstaat, 251. 32  Schild, Systematische Überlegungen zur Fundierung und Konkretisierung der Menschen­ rechte, 46. 33  Nussbaum, Grenzen der Gerechtigkeit, 223. 34  Griffin, On Human Rights, 90. 35  „To adopt the personhood account of human rights is to adopt normative agency as the inter­ pretation of ‘the dignity of the human person’ when that phrase is used as the ground of human rights“, Griffin, On Human Rights, 152. 36  So etwa Übereinkommen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedri­ gende Behandlung oder Strafe vom 10. Dezember 1984. 31 

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Kreatur“, die daneben geschützt sein mag37 und auch nicht diejenige „menschlicher und nicht-menschlicher Tiere“. 38 Sie ist so das theoretisch-philosophische Funda­ ment der Menschenrechte:39 Ohne sie könnte man diese subjektiven Rechte nicht als Rechte aller Menschen verstehen.40

III. Die Menschenwürde als normatives Prinzip der Menschenrechte Dass inhaltliche Theorien zur Bestimmung der Menschenrechte die Menschenwürde als Kriterium der Bestimmung fundamentaler Interessen, dass negative Theorien sie zur Abgrenzung der menschenrechtsrelevanten von sonstigen Unrechtserfahrungen, dass prozedurale und diskurstheoretische Ansätze sie als Ziel der Prozeduren benö­ tigen und schließlich formale Ansätze ohne sie zu unspezifisch bleiben, bedeutet nun noch nicht, dass die Menschenwürde außer einem theoretischen Abgrenzungskrite­ rium zu sonstigen subjektiven öffentlichen Rechten auch ein normatives Prinzip der Menschenrechte darstellt. Zu einer entsprechenden Annahme geben freilich die Menschenrechtserklärungen und Pakte insofern Anlass, als sie sie im Regelungsteil neben den Menschenrechten erwähnen. 1. Die Transformation der Würde des Menschen ins Recht Die Würde des Menschen ist nicht etwas, das dem Recht rechtsverbindlich vorliegen würde. Entsprechende naturrechtliche oder anthropologische Ansätze verkennen, dass diese Vorstellungen von Würde zunächst ins Recht transformiert und hier eine rechtliche Bedeutung gewinnen mussten. Hierzu mag bei den beteiligten Personen freilich eine moralische Verpflichtung bestehen. Die Würde des Menschen ist zum Rechtsbegriff geworden.41 Durch die Aufnah­ me des Begriffs in die Präambel der Charta der Vereinten Nationen von 1945,42 die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948,43 die Menschenrechtspakte 37 

Wie Art.  7 und 120 der Schweizerischen Bundesverfassung deutlich machen. Nussbaum, Grenzen der Gerechtigkeit, 96, bevorzugt es daher, von der „Würde nichtmensch­ licher Tiere“ zu sprechen. 39  Kogler/Schmalenbach, Menschenwürde im Völkerrecht, 241. 40  So verstehe ich den Ansatz von Tiedemann, Menschenwürde als Rechtsbegriff. 41  Hain, Menschenwürde als Rechtsprinzip, 87 ff.; Tiedemann, Menschenwürde als Rechtsbe­ griff; Rothhaar, Die Menschenwürde als Prinzip des Rechts. 42  „[…] unserem Glauben an die Grundrechte des Menschen, an Würde und Wert der mensch­ lichen Person […]“, näher zur Entstehungsgeschichte Kogler/Schmalenbach, Menschenwürde im Völkerrecht, 233 f. 43  Präambel: „Anerkennung der allen Mitgliedern der menschlichen Familie innewohnenden Würde und ihrer gleichen und unveräußerlichen Rechte“, „Glauben an die grundlegenden Men­ schenrechte, an die Würde und den Wert der menschlichen Person“, Art.  1: „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. 38 

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von 1966 über die Bürgerlichen und Politischen Rechte44 und die Wirtschaftlichen und Sozialen Rechte45 sowie eine Reihe von weiteren universellen und regionalen Menschenrechtspakten46 hat die Menschenwürde nicht nur eine völkerrechtliche Form erhalten. Infolge der Verabschiedung dieser Erklärungen und Pakte durch die dafür legitimierten völkerrechtlichen Organe und ihre Ratifizierung durch die Staa­ ten haben diese Menschenrechtsdokumente auch eine andere als eine philosophische oder moralische Legitimation erfahren. In dieser rechtlichen Form ist die Würde des Menschen kein Erfahrungsbegriff, der aus der Empirie seinen Gehalt beziehen könnte. Wie kaum ein anderer Begriff der politisch-rechtlichen Sprache ist die Menschenwürde ein Zukunftsbegriff: Wer nur auf die Erfahrung schaut oder den Sprachgebrauch, wird sie als Leerformel oder als inhaltsloses, vielleicht auch als ein in sich widerspruchsvolles Konzept verste­ hen.47 Reinhard Koselleck hatte gezeigt, wie mit der Französischen Revolution Er­ fahrungsbegriffe Ziel- und Zukunftsbegriffe werden.48 Sie sind nicht darauf ange­ legt, eine bestimmte Tatsache zu beschreiben, sondern in offenen Diskursen mit Sinn gefüllt zu werden. Insofern hat Theodor Heuß die Menschenwürde 1949 zutreffend als „nicht interpretierte These“ verstanden.49 Ihre Interpretationsoffenheit kann ge­ rade als Grundlage des Erfolgs gewertet werden.50 Die rechtsphilosophische Interpretation der Menschenwürde muss also nicht vom Stand der Nachkriegsdiskussion ausgehen,51 wo sie zunächst in den Präambeln als Auslegungsgrundsatz mit geringer oder keiner normativen Verbindlichkeit und in­ haltlich als ein „Ideal“52 erschien.53 Es muss auch nicht dabei bleiben, dass in diesen ersten Bezugnahmen auf die „große Würde“54 – etwa in der Erklärung über die Ziele und Zwecke der Internationalen Arbeitsorganisation von Philadelphia“ vom 10. Mai 1944,55 der „Verfassung der Organisation der Vereinten Nationen für Erziehung, 44  Präambel: „in der Erkenntnis, dass sich diese Rechte aus der dem Menschen innewohnenden Würde herleiten“, Art.  10 „(1) Jeder, dem seine Freiheit entzogen ist, muss menschlich und mit Achtung vor der dem Menschen innewohnenden Würde behandelt werden.“ 45  Präambel: „Anerkennung der allen Mitgliedern der menschlichen Gesellschaft innewohnen­ den Würde und der Gleichheit und Unveräußerlichkeit ihrer Rechte“. 46 Näher Kirste, Würde des Menschen als Grundlage des Rechtsstaats, 176 ff. 47  Macklin, Dignity is a Useless Concept, 1419 ff., 1420 f.; Brandhorst/Weber-Guskar, Ein­ leitung, 7 ff.; kritisch zu Recht von der Pfordten, Menschenwürde, 79 ff. 48  Koselleck, Einleitung, XVI f. 49  Tiedemann, Menschenwürde als Rechtsbegriff, 76 f. 50  Kogler/Schmalenbach, Menschenwürde im Völkerrecht, 238. 51  Zur Verwendung der Menschenwürde im älteren humanitären Völkerrecht Kogler/Schma­ lenbach, Menschenwürde im Völkerrecht, 229. 52  Verfassung der Organisation der Vereinten Nationen für Erziehung, Wissenschaft und Kultur vom 16. November 1945. 53 Auch Kogler/Schmalenbach, Menschenwürde im Völkerrecht, 229. 54  von der Pfordten, Menschenwürde, 9 f., 54 ff. 55  „Alle Menschen, ungeachtet ihrer Rasse, ihres Glaubens und ihres Geschlechts, haben das Recht, materiellen Wohlstand und geistige Entwicklung in Freiheit und Würde […] zu erstreben“.

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Wissenschaft und Kultur (UNESCO)“ von 1945, der erwähnten Präambel der Char­ ta der Vereinten Nationen von 1945 und der Präambel der American Declaration of the Rights and Duties of Man von 194856 – die Würde als ein objektives Prinzip, das Verpflichtungen gegenüber den Staaten entfaltet, aber nicht als ein Menschenrecht genannt wird. Die Achtung der Würde aller Menschen scheint hier als Bedingung „des Friedens in der Welt“ (Präambel der AEMR) auf und nicht in erster Linie als Grundlage indi­ vidueller Gerechtigkeit. Sie verpflichtet Staaten, ohne zugleich Individuen unmittel­ bar zu berechtigen. Der frühere Vizepräsident des IGH, Fouad Ammoun, versteht die Menschenwürde des Art.  1 der AEMR als ein Axiom und somit als Grundlage aller weiteren Prinzipien der Erklärung.57 Stärker als andere betont er aber sowohl den Gleichheits- als auch den Freiheitsbezug der Würde und bringt sie damit jedenfalls schon in die Nähe eines subjektiven Rechts. 2. Menschenwürde als Fundament der Menschenrechte Jedenfalls erscheint in dieser objektiven Dimension auch den internationalen Ge­ richten die Würde des Menschen als primärer Zweck der völkerrechtlichen Men­ schenrechte58 mit wesentlichen Auswirkungen auf die Fortbildung des internatio­ nalen Strafrechts.59 Auch für den EGMR ist der Schutz der Würde der Kern der Eu­ ropäischen Menschenrechtskonvention.60 Sie ist so die Ratio der Universalität der Menschenrechte61 und fordert zur philosophischen Reflexion der Prämissen des Völkerrechts auf.62 Als objektives Prinzip ist die Menschenwürde Fundament der Menschenrechte, aber nicht selbst eines.63 Sie könnte aber auch in einem substantiellen Sinn Funda­ ment der Menschenrechte sein. Dann wären alle Menschenrechte ihre Konkretisie­ rungen und enthielten ein Element von Menschenwürde.64 Jede Verletzung eines Menschenrechts und nur sie wäre dann auch eine Würdeverletzung.65 Einen unab­ 56 

O.A.S. Res. XXX vom 30. April 1948. Legal Consequences for States of the Continued Presence of South Africa in Namibia (South West Africa) notwithstanding Security Council Resolution 276, Advisory Opinion vom 21. Juni 1971, ICJ Rep. (1971), 16, 77. 58  ICTY, Furundžija, Case No. IT-95-17/1, Urteil vom 10. Dezember 1998, Rn.  162. 59  Kogler/Schmalenbach, Menschenwürde im Völkerrecht, 232. 60  EGMR Urteil vom 29.04.2002, Appl. Nr.  2346/02 (Pretty/The United Kingdom), Rn.  65. 61  Kogler/Schmalenbach, a. a. O., 235. 62  Kogler/Schmalenbach, a. a. O., 245. 63  Dreier, Bedeutung und systematische Stellung der Menschenwürde im deutschen Grund­ gesetz, 36. 64  In diesem Sinn versteht – in Bezug auf die deutschen Grundrechte – Christoph Enders die Menschenwürde, Enders, Menschenwürde in der Verfassungsordnung, 503 f.; Sandkühler, Men­ schenrechtsverletzungen, 316. 65  Diese Annahme ist problematisch, wenn sie mit der Interpretation der Würde als einer „nicht interpretierten These“ (Heuß) verbunden wird, Menke, Menschenwürde, 145. Denn aus einer offe­ nen Formel kann offenbar nichts abgeleitet werden. 57 

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hängigen subjektivrechtlichen Schutz der Würde des Menschen gäbe es demgegen­ über nicht. Menschenwürde und Menschenrechte sind aber nicht gleichbedeutend, da die Menschenwürde nur den subjektbezogenen Aspekt der Menschenrechte be­ trifft.66

IV. Die Menschenwürde als Menschenrecht Auf der Basis der Würde des Menschen als einem objektiven Fundament der Men­ schenrechte wird häufig angenommen, dass dieses Prinzip immer dann verletzt wird, wenn ein Menschenrecht verletzt wird.67 Die Frage ist jedoch, ob der Einzelne auch einen eigenständigen Anspruch darauf hat, dass sie nicht beeinträchtigt wird?68 Das ist nur dann der Fall, wenn sie selbst ein Menschenrecht darstellt – und diese These soll hier vertreten werden. Diese Annahme ist freilich sowohl auf verfassungsrechtlicher als auch auf völker­ rechtlicher Ebene hoch umstritten. Manche verstehen die Menschenwürde nur als normativen Grund der Menschenrechte.69 Auch wird die Würde des Menschen als Ausdruck der Menschenrechte verstanden.70 Andere sehen sie weder als ein objekti­ ves Prinzip noch als ein subjektives Recht an.71 1. Ein Blick ins Völkerrecht und in einige Verfassungen Wenn Art.  1 AEMR und die Präambel der Amerikanischen Erklärung der Rechte und Pflichten des Menschen „Würde und Rechte“ einander gegenüberstellt, deutet dies eher darauf hin, dass die Würde des Menschen nicht selbst ein Menschenrecht sein soll. Auch nach 1948 wird zunächst von „Würde und Wert“ der menschlichen Person gesprochen, die etwa durch Sklaverei und Menschenhandel,72 Prostitution73 sowie verschiedene Formen der Diskriminierung74 verletzt werden. Noch 1989 hieß 66 

Rothhaar, Menschenwürde als Prinzip des Rechts, 327. Brugger, Menschenwürde, Menschenrechte, Grundrechte, 391. 68  Steinvorth, Menschenwürde, Menschenrechte, Menschenpflicht, 93. 69  Düwell, Menschenwürde als Grundlage der Menschenrechte, 76. 70  In diesem Sinn vielleicht am ehesten auch §  16 des österreichischen ABGB: „Jeder Mensch hat angeborne, schon durch die Vernunft einleuchtende Rechte, und ist daher als eine Person zu be­ trachten. Sclaverey oder Leibeigenschaft, und die Ausübung einer darauf sich beziehenden Macht, wird in diesen Ländern nicht gestattet.“ 71  Dreier, Achtung und Schutz, 334. 72  Konvention zur Unterbindung des Menschenhandels und der Ausnutzung der Prostitution anderer v. 2.12.1949 (Präambel). 73  Zusatzabkommen über die Abschaffung der Sklaverei, des Sklavenhandels und sklavereiähn­ licher Einrichtungen und Praktiken vom 07.09.1956. 74 Internationales Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung vom 7. März 1966; Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau vom 18. Dezember 1979. 67 

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es, dass „die Abschaffung der Todesstrafe zur Förderung der Menschenwürde und zur fortschreitenden Entwicklung der Menschenrechte beiträgt“, nicht jedoch, dass sie selbst ein Menschenrecht sei.75 Weiter geht aber das Übereinkommen über die Rechte des Kindes vom 20. Novem­ ber 1989. Nicht nur in der Präambel, sondern auch im Regelungsteil sind Menschen­ würdeverbürgungen enthalten, die Kinder, insbesondere auch behinderte Kinder (Art.  23), gegenüber entwürdigenden Erziehungsmaßnahmen (Art.  28, 40) und Ver­ nachlässigungen schützen und eine Einrichtung des Erziehungswesens (Art.  37) so­ wie von Wiedereingliederungsmaßnahmen (Art.  39) fordern, die der Entfaltung der Persönlichkeit dienen sollen. Hier wird u. a. ein Anspruch auf „Achtung vor der dem Menschen innewohnenden Würde“ formuliert. Auf der Ebene regionaler Erklärungen ergibt sich etwa aus Art.  3 EMRK ein Recht auf menschenwürdige Haftbedingungen.76 Die Amerikanische Menschenrechts­ konvention vom 22. November 1969 nimmt diese subjektivrechtliche Dimension schon auf.77. Im Bereich der Afrikanischen Union sichert die am 27. Juni 1981 noch unter der OAU verabschiedete Banjul Charta der Menschenrechte und Rechte der Völker in Art.  5 die Menschenwürde als Recht: „Jedermann hat Anspruch auf Ach­ tung seiner Menschenwürde und auf Anerkennung seiner Rechtspersönlichkeit. Jede Form der Ausbeutung, Folter, grausamen und unmenschlichen Behandlung ist ver­ boten.“ Einen Meilenstein stellt die Einstufung nicht nur von „Folter und unmenschlicher Behandlung“, sondern auch der „Beeinträchtigung der persönlichen Würde, insbe­ sondere eine entwürdigende und erniedrigende Behandlung“ als ein Kriegsverbre­ chen durch Art.  8 Abs.  2 lit.  b ii u. xxi des Rom-Statut des Internationalen Straf­ gerichtshofs78 dar. Hier wird nicht nur die Würde von Bewusstlosen, sondern auch ein postmortaler Würdeschutz garantiert und strafrechtlich bewehrt.79 Vorsichtig formuliert inzwischen der Beratende Ausschuss: „Dignity is not just a ground of rights, but also an aspect of the content of certain rights.“80 Nationale Verfassungen gingen noch weiter. Mit seiner apodiktischen Formulie­ rung „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Aufgabe aller staatlichen Gewalt“ streicht das deutsche Grundgesetz nicht nur die Bedeutung als grundlegende inhaltliche Ausrichtung des deutschen Staates heraus, sondern verstärkt gegenüber dem humanitären Völkerrecht auch noch einmal sein 75  Zweites Fakultativprotokoll zum Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte zur Abschaffung der Todesstrafe vom 15. Dezember 1989. 76  EGMR Urteil vom 13.03.2007, H. C. gegen Deutschland Nr.  41559/06, Rz.  76. 77  Art.  5 II, vgl. auch Art.  13 II, des Zusatzprot. zur AMRK über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte vom 17. November 1988. 78  vom 17. Juli 1998, 2187 U.N.T.S. Bd.  2187, 90. 79  Kogler/Schmalenbach, Menschenwürde im Völkerrecht, 231. 80  Study of the Human Rights Council Advisory Committee on Promoting Human Rights and Fundamental Freedoms, A/HRC/22/71 vom 6. Dezember 2012, Rn.  16, zit. nach Kogler/Schma­ lenbach, Menschenwürde im Völkerrecht, 244.

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formales Gewicht. Aus ihr folgt nicht nur ein Bekenntnis zu den Menschenrechten (Art.  1 Abs.  2 GG) und die Grundlegung eines Kerns der Grundrechte. Das Prinzip ist auch fest mit der Identität des Grundgesetzes verbunden und kann nicht geändert werden (Art.  79 Abs.  3 GG). Im Jahr 2000 wurde dieser Stand der europäischen Men­ 1 der Europäischen Grund­ schenrechtsentwicklung81 in Präambel und Art.   rechtecharta sogar noch prägnanter formuliert: „Die Würde des Menschen ist unan­ tastbar. Sie ist zu achten und zu schützen.“ Ihre Unantastbarkeit garantieren Verfassungen überall auf der Welt.82 In ihnen finden sich aber auch Formulierungen, die ausdrücklich die Menschenwürde als ein subjektives Recht schützen.83 Die Südafrikanische Verfassung von 1996 spricht in Sec. 10 ausdrücklich von einem „right to have their dignity respected and protecte­ d“.84 Differenziert schützt die Brasilianische Verfassung die Menschenwürde nicht nur als fundamentales Prinzip, sondern auch als subjektives Recht und hat dabei insbesondere Gefährdungslagen vor Augen, in denen die Würde des Menschen den Schutz des Staates benötigt.85 Der Schutz der Würde des Menschen in der Brasilia­ nischen Verfassung ist auch deshalb von Interesse, weil der Oberste Gerichtshof als Verfassungsgericht bei ihrer Auslegung intensiv auf die Rechtsvergleichung zurück­ gegriffen hat. Das zeigt, dass die verfassungsrechtliche Entwicklung der Transforma­ tion der Würde weiter fortgeschritten ist und es nahelegt, die Würde des Menschen nun auch selbst als ein Menschenrecht zu verstehen. In welchem Sinn kann dies ge­ schehen? 2. Die Würde des Menschen als Recht auf Anerkennung als Rechtsperson Wieso sollte nun die Würde, die Menschenrechte von sonstigen subjektiven öffentli­ chen Rechten unterscheidet, die die normative Grundlage der völkerrechtlichen Menschenrechte darstellt und die seit der zweiten Hälfte des 20.  Jahrhunderts von immer mehr Verfassungen zugleich anerkannt wurde, ein subjektives Recht sein? 81  Vgl. etwa Art.  2 der Verfassung Griechenlands von 1975; die Ergänzung der Luxemburgischen Verfassung 1995: Art.  27 1) „Die Würde des Menschen ist zu achten und zu schützen“; Art.  30 der Verfassung Polens von 1997; außerhalb der EU auch die Verfassung der Schweizerischen Eidgenos­ senschaft von 1999. 82  Art.  71 der Verfassung von Vietnam von 1992. Art.  21 der Litauischen Verfassung von 1992; unter der Überschrift des Art.  19 „Human dignity and personal freedoms“ statuiert die Verfassung von Malawi aus dem Jahr 1994 „1. The dignity of all persons shall be inviolable.“; Art.  24, Ch. 2, Art.  3 der Afghanischen Verfassung von 2004; Art.  8 I der Verfassung von Namibia von 1990; in Art.  16 der Verfassung von Eritrea von 1996 „Right to Human Dignity“. 83  Art.  34 der Slowenischen Verfassung von 1991; Art.  10 der Tschechischen Verfassung; Art. II des „neuen“ Grundgesetzes Ungarns (Magyarország Alaptörvénye) von 2011; Art.  46 der Verfas­ sung von Aserbaidschan von 1995. 84  Andere Beispiele sind etwa Art.  11 der Verfassung Mazedoniens von 1991. 85  Sarlet, Menschenwürde und soziale Grundrechte in der brasilianischen Verfassung, 143 ff.; Monia, Menschenwürde und Existenzminimum in der Rechtsprechung des brasilianischen Supre­ mo Tribunal Federal, 175 ff.; Kirste, Menschenwürde im internationalen Vergleich der Rechtsord­ nungen, 200 ff.

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a) Das „Recht auf Rechte“ Die wohl wichtigste zeitgenössische Vertreterin dieses Ansatzes war Hannah Arendt mit ihrem Gedanken eines „Rechts auf Rechte“: Angesichts der Abhängigkeit subjek­ tiver Rechte von staatlichen Gewährungen, könne der Entzug der Staatsbürgerschaft zugleich zu einer Rechtlosigkeit führen und den Einzelnen zu den Staaten in ein blo­ ßes Gewaltverhältnis bringen, indem er deren Willkür ausgeliefert sei. Daher bedür­ fe es eines Anspruchs auf Rechte.86 Georg Lohmann hat auf die Ambivalenz der Formel bei Arendt hingewiesen. Recht1 der Formel könne nicht dasselbe wie Recht2 meinen, aber auch nicht nur ein moralisches Recht, weil dann die besondere Kraft verloren gehe.87 Die Würde bürge nur dafür, dass der Mensch Menschrechte haben könne. Dieses Bürgen sei aber nicht selbst ein Menschenrecht und auch keine Pflicht des Staates, sondern ein Einstehen für ein Recht, dass sich der Mensch selbst gibt.88 Als solches wäre Recht1 etwas ganz anderes als Recht2. Es fragt sich jedoch, was ein solches Recht in Verfassungen und völkerrechtlichen Menschenrechtsverbürgungen zu suchen hätte, wenn sein Ver­ pflichtungsadressat doch der Mensch selbst ist? In der Tat unterscheiden sich in Arendts Formulierung „Recht auf Rechte“ Recht1 und Rechte2. Schon der Plural zeigt dies an. Worin besteht die Differenz? Zunächst ist es sicherlich ein inhaltlicher Unterschied: Rechte2 enthalten vielerlei Freiheits- und Gleichheitsrechte. Diese wiederum haben verschiedene Schutzbereiche – Leben, ­Meinung, Bewegung, Diskriminierungsverbote etc. Die Würde des Menschen kann deshalb nicht das Gesamt der Menschenrechte umfassen, denn diese unterscheiden sich wesentlich – schon in Freiheit und Gleichheit und dann in den verschiedenen geschützten Formen der Freiheit und den besonderen Diskriminierungsverboten. Be­ deutet dieser inhaltliche Unterschied jedoch auch, dass sie sich der Form nach unter­ scheiden müssen? Denn das meint Lohmann ja? Da sich jedoch die Menschenrechte auch untereinander unterscheiden, ohne dass einige von ihnen aufhören Menschen­ rechte zu sein, kann die Unterschiedenheit alleine kein Grund dafür sein, dass Recht1 kein Menschenrecht ist. Wie ist dann aber die merkwürdige Formulierung „Recht auf Rechte“ zu verstehen? Zur Erläuterung soll auf eine Debatte zurückgeblickt werden, die in der Wende zum 19.  Jahrhundert über das Urrecht geführt wurde. b) Die Menschenwürde als Urrecht Die Vorstellung eines „Rechts auf Rechte“ war nach dem II. Weltkrieg so neuartig nicht, wie sie schien. Vielmehr war sie der Sache nach im Kantianischen Naturrecht 86 

Arendt, Elemente und Ursprünge totalitärer Herrschaft, 614, 617. Lohmann, Die rechtsverbürgende Kraft der Menschenrechte, 55 f.: „Die nach 1945 „neu ent­ deckte Würde des Menschen“ steht für eben jenes Recht1, Rechte2 zu haben, ist aber nicht selbst eins dieser Rechte2, sondern bürgt nur dafür, dass der einzelne Mensch unmittelbar als Träger von Men­ schenrechten anzuerkennen ist.“ 88  Lohmann, Die rechtsverbürgende Kraft der Menschenrechte, 56. 87 

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des ausgehenden 18.  Jahrhunderts vorbereitet worden.89 Bekanntlich hatte Immanu­ el Kant seine Vorstellung von der Menschenwürde zunächst in der „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“ und der „Kritik der praktischen Vernunft“ als Selbst­ zwecklichkeit entwickelt.90 Die Anwendung dieser Grundlagen für die Rechtsphilo­ sophie und für die Ethik ließ – vielleicht aus Sorge wegen der drohenden Zensur in Preußen – nach der Französischen Revolution auf sich warten. Einige Anhänger sei­ ner Philosophie waren hingegen weniger zurückhaltend und versuchten auf der Basis seiner Grundlagenschriften zur Moralphilosophie eigene Rechtsphilosophien zu schreiben. In diesen transzendentalen Naturrechtslehren wurden die Bedingungen der Möglichkeit eines vernünftigen positiven Rechts untersucht. Dazu gehörten die Bestimmung eines Urrechts als nicht ableitbare Bedingung der Möglichkeit der posi­ tiven subjektiven Rechte.91 Während jedoch Kant in seiner 1797 erschienenen „Me­ taphysik der Sitten“ ganz klar die Freiheit, sofern sie mit der Freiheit aller anderen zusammen bestehen kann, als dieses Urrecht bestimmte, gingen seine Schüler teil­ weise auch noch nach der Publikation seiner Rechtsphilosophie andere Wege. So war es etwa für den Kantianer Theodor Schmalz (1760–1831) der „oberste Grundsatz des Naturrechts als des Inbegriffs der äußern vollkommenen Rechte und Pflichten […]: Behandle die Menschheit in andern nie als bloßes Mittel“.92 Daraus folgert er: „Das erste Urrecht des Menschen ist das Recht auf sich selbst, das ist, er darf mit allem, was die Natur seiner Seele und seinem Körper gab, daseyn und le­ ben.“93 Und fügt hinzu: „Unverletzlichkeit der Person ist daher die Würde der ver­ nünftigen Natur in der sinnlichen Welt.“94 Dieses Recht ist nicht abwägbar.95 Er nennt dieses Recht daher auch das „Urrecht“, aus dem die anderen „herausgehoben“ werden, allen voran die allgemeine Handlungsfreiheit. Aus ihr folgt auch die Gleich­ heit aller anderen Urrechte. Andere Kantianer stimmten zu.96 In mehr objektiver Hinsicht zog Ludwig von Jakob (1759–1827) daraus eine Konsequenz für den Rechtsbegriff überhaupt, wenn er schreibt: „Recht ist das, wobey alle vernünftigen Wesen als Selbstzwecke gedacht werden können.“ In subjektiver Hinsicht entwickelt er daraus einerseits einen An­ 89  Zum Folgenden ausführlich Kirste, Das Urrecht der Menschenwürde in der vernunftrecht­ lichen Debatte der Wende zum 19.  Jahrhundert, 97 ff. 90  Eingehend hierzu von der Pfordten, Zur Würde des Menschen bei Kant, 501 ff.; ders., Men­ schenwürde, 32 ff. 91  Ludwig von Jakob formulierte etwa „Ein Recht heißt ursprünglich, ein Urrecht, in wiefern es von keinem andern abgeleitet ist; abgeleitet, in wiefern es durch ein anderes bestimmt ist.“, von Ja­ kob, Philosophische Rechtslehre oder Naturrecht, 19. 92  Schmalz, Das reine Naturrecht, 26. 93  Schmalz, a. a. O., 29. 94  Schmalz, a. a. O., 66 f. 95  Schmalz, a. a. O., 25. 96  So schrieb Henrici: „Er zuerst wählte aus den bekannten Formeln des kritischen Sitten-Impe­ rativs die negative, in so mancher Hinsicht vortreffliche Formel: „behandle die Menschheit im An­ dern nie als bloßes Mittel“ zum Prinzipe des natürlichen Rechts“, Henrici, Ideen zu einer wissen­ schaftlichen Begründung der Rechtslehre, 243.

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spruch: „Positiv: Jeder hat ein Recht, Selbstzweck oder ein für sich selbst bestehendes Wesen oder eine Person zu seyn“ und andererseits „negativ: Niemand kann ein Recht haben, irgend eine andere Person als bloße Sache, oder als willkührliches Mittel ­äußerlich und mit der That (nicht etwa blos der Denkungsart nach) zu behandeln.“97 Es ist ein aus der Menschheit in jedem begründetes, und deshalb jedem Menschen zukommendes Recht und in diesem Sinn ein Menschenrecht. Johann Christoph Hoffbauer (1766–1827) erläuterte, „alle meine Rechte habe ich nur in so fern, als ich von andern nicht als ein willkürliches Mittel ihrer Zwecke behandelt werden darf.“98 Zu den praktischen Ableitungen gehört unter anderem, dass kein Mensch Eigentum eines anderen werden kann.99 Auch die jungen Schelling100 und Fichte101 folgen die­ sem Verständnis der Menschenwürde als Urrecht. Als dann 1797 die „Metaphysik der Sitten“ erschien, änderte sich die Diskussions­ lage bei den Kantianern keineswegs schlagartig. Immerhin hatte Kant darin neben dem Urrecht der Freiheit auch rechtliche Urpflichten formuliert. Noch vor der Rechtspflicht, niemanden zu schädigen und in einen Rechtszustand mit ausgleichen­ der und austeilender Gerechtigkeit zu treten, stellt er den an Ulpian angelehnten Satz: 1) Sei ein rechtlicher Mensch (honeste vive). Die rechtliche Ehrbarkeit (honestas iuridica) beste­ het darin: im Verhältnis zu anderen seinen Wert als den eines Menschen zu behaupten, welche Pflicht durch den Satz ausgedrückt wird: „mache dich anderen nicht zum bloßen Mittel, son­ dern sei für sie zugleich Zweck“.102

Dass ich mich dem anderen als Selbstzweck anbiete, damit er mich als solcher aner­ kennen kann, ist überhaupt die Voraussetzung dafür, dass wir in ein Rechtsverhält­ nis eintreten können. Nur zwischen Wesen, die Rechte und Pflichten haben könnten, bestehen Rechtsverhältnisse. Nur sie können Zurechnungssubjekte seiner Normen sein und damit Personen. Sklaverei oder Leibeigenschaft hält Kant also offenbar für einen der Würde des Menschen nicht angemessenen Zustand.103 Jedenfalls kann nie­ mand sich durch Vertrag aller seiner Rechte entäußern, „dadurch er aufhört, eine Person zu sein; denn nur als Person kann er einen Vertrag machen“. Deshalb muss der Mensch „im Staate immer als mitgesetzgebendes Glied“ betrachtet werden („nicht bloss als Mittel, sondern auch zugleich als Zweck an sich selbst“) (§  55). Wie­ der besteht eine klare Rechtspflicht des Herrschers, die Staatsbürger als Zweck an sich selbst in ihrer Menschenwürde zu achten.104 In diesen, oft bei der Interpretation des Kantischen Begriffs der Menschenwürde übersehenen Stellen aus der Rechtslehre führt Kant die Selbstzwecklichkeit als transzendentale Grundlage des Rechts ein. 97 

von Jakob, Auszug aus dem Naturrechte des Professor Jakob, 32. Hoffbauer, Untersuchungen über die wichtigsten Gegenstände des Naturrechts, 146. 99  von Jakob, Philosophische Rechtslehre oder Naturrecht, 49. 100  Schelling, Neue Deduktion des Naturrechts, 135. 101  Fichte, Grundlage des Naturrechts nach den Principien der Wissenschaftslehre, 110 f. 102  Kant, Metaphysik der Sitten, 344. 103  Kant, Metaphysik der Sitten, 348 u. 449. 104  Beck, Commentar über Kants Metaphysik der Sitten, 444. 98 

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Deshalb verwundert es auch nicht, wenn Jacob Sigismund Beck (1761–1841) 1798 an der älteren Konzeption des Urrechts festhält und es als „die Möglichkeit, Rechte zu haben“ oder geradewegs als „die Rechtlichkeit des Menschen“ bestimmt.105 Frei­ lich kann er dies nun mit der Rechtspflicht aus der Metaphysik des Sitten verbin­ den.106 Wird das Urrecht aber nicht anerkannt, resultiert das in der vollkommenen Rechtlosigkeit.107 Man könne dann zu anderen nur in Gewalt-, nicht aber in Rechts­ verhältnissen stehen, wie Fröbel meint.108 Konsequenzen werden aus dem Urrecht sowohl für die Abwehr staatlichen Verhaltens, also auch für die Gewährleistung hu­ maner Lebensbedingungen als auch für die politische Mitwirkung gezogen. Hegel und seine Schule anerkannten sicher nicht den transzendentalen Anspruch des Urrechts als einer Bedingung der Möglichkeit rechtlichen Zusammenlebens überhaupt. Aber auch für die Philosophie der Vernunft in der Wirklichkeit war es das grundlegende Rechtsgebot, eine Person zu sein und den anderen als Person anzuer­ kennen, was inhaltlich so weit nicht von den Urrechtstheorien entfernt ist. Während im römischen Recht der soziale Status die Grundlage der Rechte gewesen sei, habe mit der Französischen Revolution der Gedanke Platz gegriffen, dass der Mensch als Mensch frei und Träger von Rechten sei.109 Grundlage seiner Würde ist die Vernunftnatur des Menschen.110 Im Naturzustand leben die Menschen in bloßen Gewaltverhältnissen, wo sie sich noch nicht als frei­ heitsfähige Personen anerkennen – ein Zustand, der ihnen als Menschen unange­ messen ist.111 Denn ohne, dass sich der Einzelne anderen gegenüber als Person prä­ sentiert und sie als Person anerkennt, kann er mit ihnen nicht in Rechtsverhältnissen stehen. Das ist aber das einzige Verhältnis, was Freiheitswesen angemessen ist, denn das Recht ist schließlich das Dasein der Freiheit für Hegel. Überhaupt sieht Hegel, dass es Rechte gibt, die dem Menschen kraft seines Menschseins zukommen. Er feiert es als eine Epochenwende: Es ist als etwas Großes zu achten, daß der Mensch jetzt, weil er Mensch ist, als Rechte haben zu müssen angesehen wird, so daß also sein Menschsein höher ist, als sein Status.112 105 

Beck, Commentar über Kants Metaphysik der Sitten, 117. Beck, Commentar über Kants Metaphysik der Sitten, 117: „Diese Rechtspflicht sagt also ei­ gentlich die Möglichkeit: Rechte zu haben, aus, die Rechtlichkeit selbst des Menschen, […] die aber doch schon Handlung, und als solche Pflicht ist, nicht wie das moralische Bewußtseyn selbst des Menschen, das als ihm angeboren, […] worin sich der Mensch als moralisches Wesen gegeben ist“. 107  Pfizer, Gedanken über Recht, Staat und Kirche, 39 f.: „Verlust oder Veräußerung des Ur­ rechts […] gänzliche Rechtlosigkeit“. 108  Fröbel, System der sozialen Politik, 95. 109  Hegel, Vorlesungen über die Philosophie des Rechts (Mitschrift Hotho, 1822/23), Bd.  2 , 813: „Es ist dies ein ungeheurer Schritt der Bildung, daß man einen als Menschen schon als Person be­ trachtet.“ Wie es in einer Vorlesungsmitschrift von 1822/23 heißt: „[…] jeder Mensch ist Person als Mensch, und das andere ist Zustand, und zwar ein unrechtlicher“. 110  Hegel, Vorlesungen über die Philosophie des Rechts (Mitschrift Ringier, 1819/20), Bd.  1, 527: „Ihre wahre Würde haben die Menschen nur in ihrer allgemeinen vernünftigen Natur“. 111  Hegel, Vorlesungen über die Philosophie des Rechts (Anonyme Mitschrift, 1821/22), Bd.  2 , 734. 112  Hegel, Vorlesungen über die Philosophie des Rechts (Mitschrift Hotho, 1822/23), Bd.  2 , 773. 106 

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Die Pflicht jedes Menschen, eine Person zu sein und den Anderen als Person anzuer­ kennen, ist dann auch die Grundlage von Gleichheit, denn [e]inen Menschen vernünftig, den anderen unvernünftig zu machen wäre das höchste Un­ recht, er ist nur Mensch als Vernunft als denkendes Selbstbewußtsein.113

Wenn hingegen der Rechtsstatus vom sozialen Status oder etwa von der Konfession abhängig ist, der Mensch also rechtlich nur gilt, „weil er Jude, Katholik, Protestant, Deutscher, Italiener pp. ist“, dann ist der Begriff des Menschen, des Ich „in seiner Allgemeinheit“ als Grundlage des Rechts noch nicht gedacht worden.114 Diese Dis­ kriminierungen sind historisch bedingt durch die falsche Vorstellung, dass „Rechte auf besonderen Begünstigungen“ und nicht auf dem Begriff der Person selbst basie­ ren.115 Als Person, die Rechte und Pflichten hat, bin ich den Anderen gleich.116 Ebenso ist sie die Grundlage der Freiheit: Der Mensch als Mensch, also als besonderes Individuum muß zur Existenz kommen, wirklich werden, dieß gehört zum Recht der subjektiven Freiheit, einer Freiheit, die wir besonders in neuerer Zeit sehr hochschätzen, wonach jeder sich machen kann wozu er sich berufen fühlt.117

Auf dieser Grundlage ist es ein „Menschenrecht“, als Persönlichkeit anerkannt zu werden. Sklaverei ist deshalb eine Verletzung dieses Rechts.118 Ein Vertrag, der die Selbstversklavung zum Gegenstand hätte, wäre daher nichtig.119 Auch wenn der Mensch aus präventiven Gründen bestraft wird und nicht, weil er willentlich einen dem objektiven Recht entgegenstehenden Geltungsanspruch für seine Rechtsbe­ hauptung aufgestellt hat, wird seine Würde verletzt.120 Hegels Schüler Michelet 113 

1329.

Hegel, Vorlesungen über die Philosophie des Rechts (Mitschrift Griesheim, 1824/25), Bd.  3,

114  Hegel, Grundlinien, §  209; ders., Vorlesungen über die Philosophie des Rechts (Mitschrift Griesheim, 1824/25), Bd.  3, 1343. 115  Hegel, Vorlesungen über die Philosophie des Rechts (Mitschrift Hotho, 1822/23), Bd.  2 , 773. 116  Hegel, Grundlinien, §  155 Z: „Nicht bloß: Andere haben Rechte, ich bin ihnen gleich, bin Person wie sie, ich soll Pflichten gegen ihre Rechte haben, – als ihnen gleich soll ich durch diese Pflichten auch Rechte haben – Zusammenhang durch Vergleichung“. 117  Hegel, Vorlesungen über die Philosophie des Rechts (Mitschrift Griesheim, 1824/25), Bd.  3, 1329. 118  Hegel, Vorlesungen über die Philosophie des Rechts (Anonyme Mitschrift, 1821/22), Bd.  2 , 627: „Menschen, die Sclaven sind, haben das absolute Recht, sich frei zu machen und kein Contract kann dagegen halten, daß Menschen zu Sclave gemacht sind, ist gegen seine Idee, seine Wirklichkeit als Mensch“. 119  Hegel, Vorlesungen über die Philosophie des Rechts (Anonyme Mitschrift, 1821/22), Bd.  2 , 627: „Es kann geschehen, daß die Menschen nach der Willkür zum Sclaven gemacht sind auch durch sich selbst, und ein solcher Vertrag ist Null und Nichtig. […] Insofern er sich zur Person macht, ist er ein freier und erst dann kann er in das Verhältniß eines Vertrags treten; in dem Verhältnisse des Rechts können nur Die stehen, die Personen sind, es wird bei einem Vertrag ein beiderseitiger freier Wille vorausgesetzt“. 120  Hegel, Vorlesungen über die Philosophie des Rechts (Anonyme Mitschrift, 1821/22), Bd.  2 , 648 f.: „Wird der Verbrecher angesehen aus dem Gesichtspunct, daß er gebessert werden soll, so wird er betrachtet als ein Mittel für Andere.“

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schreibt später „Jeder Einzelne ist Selbstzweck; ohne diese grundsätzliche Gleichheit ist keine Freiheit und kein Recht möglich.“121 c) Vom Urrecht zum Recht auf Anerkennung als Rechtsperson Es ist hier nicht der Ort, diesen Gedanken bis in die Debatte nach dem II. Weltkrieg weiterzuverfolgen. Deutlich geworden sein sollte aber die Möglichkeit, dass in den Gewaltverhältnissen des Naturzustands ebenso wenig ein der Würde des Menschen entsprechendes Verhältnis zu anderen Menschen bestehen kann, wie dann, wenn das Recht an den besonderen Status anknüpft. Vielmehr ergibt sich aus der Würde des Menschen in der Urrechtsdebatte die Forderung an den Einzelnen, sich anderen als Person anzubieten und die Pflicht der Anderen, den Anbietenden kraft seines Menschseins als Rechtsperson anzuerkennen. Nur so ist ein der Selbstzwecklichkeit des Menschen angemessenes freies Rechtsverhältnis der Menschen untereinander möglich. Aus der Würde des Menschen folgt sein Ur- oder eben Menschenrecht auf Anerkennung als Rechtsperson. Diese naturrechtliche Begründung der Rechtsperson aus der Würde des Men­ schen wurde zunächst noch von den rechtswissenschaftlichen Diskussionen um die Rechtsperson im 19.  Jahrhundert als moralische Forderung vorausgesetzt. Die unter den Vorzeichen des Positivismus sich gegenüber moralischen Vorgaben verselbstän­ digende und dadurch zugleich den Rechtsbegriff der Person differenzierende Diskus­ sion ließ diese Voraussetzung aber zusehends in Vergessenheit geraten.122 War es bei von Savigny noch selbstverständlich, dass jeder Mensch Rechtsperson sei und diese Fähigkeit fiktiv auch auf andere Einheiten wie Unternehmen als juristische Personen übertragen werden konnte, bestand am Ende des Jahrhunderts eine verbreitete Über­ zeugung darin, dass die Zuteilung der Rechtsfähigkeit, die die Rechtssubjektivität als Grundlage der Rechtsperson begründet, der souveränen Entscheidung des Staates unterliege.123 Das musste aber auch für deren Entziehung gelten. Bei aller Umwer­ tung der liberalen Rechtsbegriffe durch den Nationalsozialismus blieb diese Vorstel­ lung der souveränen Verfügung über die Rechtsträgerschaft auch dann noch erhal­ ten, als unter dem Prinzip „Rechtsgenosse ist, wer Volksgenosse ist, und Volksgenos­ se ist, wer deutschen Blutes ist“ ganzen Bevölkerungsgruppen die volle Rechtsfähigkeit bestritten wurde. Daran entzündet sich dann die Kritik Arendts und ihre Konzep­ tion des „Rechts auf Rechte“.

121 

Michelet, Naturrecht oder Rechtsphilosophie als praktische Philosophie, 146. Zum Folgenden Kirste, Dezentrierung, Überforderung und dialektische Konstruktion der Rechtsperson, 335 ff.; Altwicker, Rechtsperson im Positivismus, 225 ff. 123  „Die physische oder juristische Person, die Rechtspflichten und subjektive Rechte – als deren Träger „hat“, ist diese Rechtspflichten und subjektiven Rechte, ist ein Komplex von Rechtspflichten und subjektiven Rechten, deren Einheit im Begriff der Person figürlich zum Ausdruck kommt […]. Rechtsperson ist die Einheit des Komplexes von Rechtspflichten und subjektiven Rechten“, Kelsen, Die Hauptprobleme der Staatsrechtslehre, 177 f. 122 

Die Würde des Menschen als Menschenrecht und Fundament der Menschenrechte

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Im Lichte der Urrechtsdiskussion muss dieses Recht aber als ein „Recht auf Aner­ kennung als Rechtssubjekt“ als Grundlage der Personalität des Menschen im Recht verstanden werden. Die Bedeutung ihrer Erkenntnis liegt darin, dass dieses Recht sich als bloßes Naturrecht oder als moralisches Recht als zu schwach erwiesen hatte. Vielmehr musste es als ein positives Menschenrecht ins Völkerrecht transformiert werden. Die Geschichte dieser Transformation ist die zuvor geschilderte Geschichte von der Charta der Vereinten Nationen über die AEMR, die beiden Pakte von 1966 bis hin zu den stärkeren Formulierungen in verschiedenen nationalen Verfassungen in vielen Teilen der Welt. Der Zusammenbruch der Unrechtsregime am Ende des 20.  Jahrhunderts hat dieses Bewusstsein erneut geschärft, weshalb die Verfassungen der ehemaligen Ostblockstaaten das Recht auf Würde in ihre Kataloge aufgenommen haben. Auf der Basis der Urrechtsdebatte lässt sich Arendts Ausdruck „Recht auf Rechte“ besser verstehen: Der von Lohmann beschriebene Widerspruch zwischen Recht1 und Recht2 liegt darin, dass Recht1 hier etwas fordert, was keines der Rechte2 ver­ langt und doch auch „Recht“ heißt. Recht1 fordert Rechte; Rechte2 sind aber Rechte, die nicht wiederum Rechte fordern, sondern den Schutz von etwas. Dieser Wider­ spruch kann aufgehoben werden, wenn Recht1 etwas in den Rechten2 und nicht die­ se vollständig selbst fordert. Aus der Urrechtsdiskussion ergibt sich, dass dies der Anspruch ist, Rechtssubjekt zu sein. Dieses Recht wird in allen Recht2-Rechten vor­ ausgesetzt. Wie die Rechte2 alle möglichen Werte wie Freiheit, Gleichheit etc. schüt­ zen, so schützt Recht1 die Subjekthaftigkeit aller Menschen in diesen. Insofern haben sie inhaltlich etwas gemeinsam. Deshalb sind Recht1 und Rechte2 Menschenrechte. Ihre Differenz liegt in den Schutzgegenständen: Recht1 Subjekthaftigkeit, Rechte2 Handlungsformen dieser Subjekte in den Freiheitsrechten, Nichtdiskriminierung in den Gleichheitsrechten. Das Recht1 ist ein Recht auf Anerkennung der Würde. Die Rechte2 hingegen sind Rechte aus der Anerkennung als Rechtssubjekt und beziehen sich auf den weiteren Schutz der Freiheiten. Die Menschenrechte garantieren so, dass alle Menschen als Subjekte von Rechten anerkannt werden, sich als Subjekte mit An­ spruch auf rechtlichen Schutz betätigen können und nicht wegen ihrer Eigenschaften als Menschen diskriminiert werden. Aus dem Inhalt der Würde des Menschen folgt ihre Form als subjektives Recht. Subjektive Rechte sind Erlaubnisse eines Menschen, die anderen eine Pflicht zur Duldung oder Leistung des Erlaubten gewähren. Inso­ fern schützen alle subjektiven Rechte Potentiale des Menschen.124 Die Menschen­ rechte dienen der Sicherung seiner Fähigkeit zur Selbstbestimmung in ihren ver­ schiedensten Äußerungsmöglichkeiten. Die weiteren Menschen- und Grundrechte können mithin nicht in ihren besonderen Schutzrichtungen einfach aus ihr abgeleitet werden. Zwar setzen alle Menschenrechte den Menschen als Subjekt voraus; aber nicht alle schützen diese Subjektstellung, sondern seine Freiheit und Gleichheit. Nur hinsichtlich der Subjektstellung setzen sie die Würde voraus. Deshalb ist nicht jede 124 

Und nicht nur die Würde. Pollmann, Menschenwürde nach der Barbarei, 40 f.

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Verletzung eines Menschenrechts eine Würdeverletzung. Insofern mag es auch ge­ rechtfertigt sein, sie als Kern der Menschenrechte zu bezeichnen, als Subjektstellung aller Menschen im Recht.125 Veranlasst durch die Erfahrungen der Exklusion von Menschen aus einer Voll­ rechtsstellung126 ist die Würde des Menschen als transzendentale Bedingung der Menschenrechte nun selbst als subjektives Recht in das Recht transformiert worden. 3. Menschenwürde als Fundament der Menschenrechte und als Recht Dass die Menschenwürde theoretisches Differenzierungskriterium zwischen Men­ schen- und sonstigen subjektiven Rechten, normatives Fundament der Menschen­ rechte und zugleich selbst eines ist, könnte sich widersprechen:127 Fundament und Fundamentiertes, Bedingung und Bedingtes schließen sich aus und können nicht zusammenfallen. Der Widerspruch kann jedoch vermieden werden, wenn die Men­ schenwürde das inhaltliche, nicht jedoch das formale Fundament der Menschen­ rechte ist. Sie gibt dann dem Recht rechtsförmig die Ausrichtung auf die Würde des Menschen vor, ist aber nicht das Fundament der Rechtsform selbst.128 Eine Rechtsordnung kann sehr wohl den Kreis derjenigen, an die sie ihre Ver­ pflichtungen richtet, enger oder weiter fassen, ohne dadurch ihren Rechtscharakter zu verlieren; denn der Rechtsbegriff sagt ja nicht, wer Adressat dieser Normen ist, sondern nur, dass das Recht aus normierten Normen besteht. Nicht-Adressaten sei­ ner Normen sind vom Recht ausgeschlossen. Ist die Würde des Menschen aber gegenüber der Form des Rechts neutral, kann sie offenbar innerhalb des Rechts oder außerhalb auftreten, ohne dass dies ihrer begrün­ denden Funktion widersprechen würde: Es kann eine moralische Forderung aus der Menschenwürde sein, dass das Recht alle Menschen als Subjekte behandeln soll. Möglich ist aber auch, dass dies selbst als Rechtsgebot aufgestellt wird. Dieses könnte dann diejenigen, die das Recht schaffen, verpflichten, alle Menschen als Rechtssub­ jekte anzuerkennen oder auch gleich alle Menschen berechtigen, dies auch von den Rechtserzeugern verlangen zu können. In der ersten Form würde die Menschenwür­ de ein objektives Prinzip etc. sein, in der letzteren hingegen selbst ein subjektives Recht aller Menschen und in diesem Sinn selbst ein Menschenrecht. Die Verletzung eines Menschenrechts bedeutet bei einem eigenständigen Charak­ ter der Menschenwürde als eines subjektiven Rechts nur dann ihre Verletzung, wenn gewissermaßen in Tateinheit damit zugleich die Subjektstellung des Trägers verletzt 125 

Kritisch dazu auch Düwell, Menschenwürde als Grundlage der Menschenrechte, 71. Pollmann, Menschenwürde nach der Barbarei, 31 f. 127  So offenbar Rothhaar, Menschenwürde als Prinzip des Rechts, 37 ff. 128  Nimmt man die Würde des Menschen als Teil einer anerkennungstheoretischen Begründung des Rechts selbst (so neuerdings auch Rothhaar, Menschenwürde als Prinzip des Rechts, 317 ff.), muss von den wechselseitig sich anerkennenden Subjekten eine Leistung verlangt werden, die nicht alle, die vom Recht geschützt werden sollen, erbringen können. Schwer geistig Behinderte können diesen Anerkennungsbeitrag nicht leisten und sollen doch vom Recht geschützt werden. 126 Auch

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wird. Nicht die Menschenwürde, sondern die Menschenrechte schützen den Men­ schen dann in seiner freien Lebensführung.129 Wer jemanden durch körperliche Qualen foltert, um eine Aussage zu erzwingen, misshandelt das Opfer nicht nur kör­ perlich; vielmehr sollen so starke Qualen erzeugt werden, dass der Wille gebeugt wird und das Opfer unwillkürlich etwas preisgibt. Die Selbständigkeit der Würde­ verletzung zeigt sich aber auch darin, dass selbst ohne körperliche Qualen gefoltert werden kann. – Eine Freiheitsbeschränkung stellt noch keine Würdeverletzung dar; wenn sie aber zu einer faktischen Versklavung führt, dann verletzt sie den Subjekt­ status des Einzelnen und damit seine Würde. – Nicht jede Diskriminierung verstößt gegen die Menschenwürde. Vielmehr bleibt es bei Gleichheitsverstößen, wenn nicht zugleich die Fähigkeit einiger Menschen aberkannt wird, vollrechtsfähiges Rechts­ subjekt zu sein, wie dies im Nationalsozialismus mit den Juden, anderen Minder­ heiten und „Schwachsinnigen“ geschah. Es geht also nicht um eine quantitative Stei­ gerung der Verletzung des Menschenrechts, sondern darum, dass der körperliche Eingriff – auch wenn er selbst nicht massiv ist –, die Freiheitsbeschränkung oder die Diskriminierung darüber hinaus noch eine andere qualitative Bedeutung hat, näm­ lich das Bestreiten der Subjektstellung. Das Rechtsverhältnis, das bei Eingriffen in die körperliche Unversehrtheit oder bei Freiheitsbeschränkungen und -entziehun­ gen noch gewahrt bleibt, wird in diesen Fällen in ein bloßes Gewaltverhältnis ver­ kehrt. Die Diskriminierung oder der Grundrechtseingriff werden dann gewisser­ maßen zum Mittel, um zugleich die Würde des Menschen zu treffen.130

V. Zusammenfassung Als theoretisches Prinzip ist die Menschenwürde das Unterscheidungskriterium ­zwischen Menschen- und sonstigen subjektiven Rechten. Als normatives Prinzip fundiert sie die Menschenrechte und verpflichtet alle öffentliche Gewalt auf die An­ erkennung des Menschen als Rechtssubjekt. Als Menschenrecht gewährt die Men­ schenwürde jedem Menschen das subjektive Recht auf Anerkennung als Rechts­ subjekt. Es kann nicht angetastet werden, ohne die generelle Fähigkeit des Menschen, Rechte zu haben, insgesamt in Frage zu stellen (Unantastbarkeit im status subjectionis). Der Staat hat diese grundsätzliche Stellung des Menschen als eines Rechtssub­ jekts in allen seinen Vollzügen zu achten und darf den Menschen daher nicht foltern, als Sklaven behandeln oder zum Zweck des Schutzes anderer instrumentalisieren (Achtung im status negativus). Wo dem Menschen die tatsächlichen Bedingungen fehlen, ein selbstbestimmtes Leben zu führen oder wo dies von dritter Seite gefährdet ist, hat der Einzelne einen Rechtsanspruch zum Schutz der Würde des Menschen auf entsprechende Leistungen oder Partizipation an diesen (Schutz im status positivus). 129 

130 

Menke, Menschenwürde, 148. So auch Schaber, Würde als Status, 52.

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Schließlich wäre er bloßes Objekt dieser Rechte, weiterer Pflichten und des Gemein­ wohls, wenn er nicht als Subjekt von Partizipationsrechtsverhältnissen an ihrer Be­ gründung mitwirken könnte (Partizipation im status activus). Insofern verlangt das Recht der Anerkennung als Subjekt von Rechten auch, dass er an dieser allgemeinen Selbstbestimmungspraxis beteiligt sein kann. All diese Dimensionen der Würde des Menschen setzen nicht voraus, dass der Einzelne auch tatsächlich selbstbestimmt handeln kann. Sie sind vielmehr Bedingungen der Möglichkeit dafür, dass, wenn er handeln kann, er darin im Recht als Subjekt geachtet wird. Die Menschenwürde ist damit nicht nur das Fundament der Menschenrechte, son­ dern auch selbst eines. Fundament ist sie, insofern alle anderen Menschenrechte die Rechtssubjektivität voraussetzen. Ein subjektives Recht ist sie, weil sie jedem Men­ schen ein Recht auf Anerkennung dieser Subjektivität gewährt. Absolut ist sie, weil die Rechtsordnung diese Würde nicht mehr im Wege einer Verfassungsänderung beseitigen kann, da jede Änderung die Würde antastete. Relativ ist sie nur inhaltlich, insofern im status negativus die Stellung des Einzelnen als Rechtssubjekt im Verhält­ nis zum Staat, im status positivus gegenüber gesellschaftlichen Bedrohungen und in sozialen Gefahren und im status activus in der Partizipation am Recht geschützt wer­ den. Sie bezeichnet nicht eine „Summe der Menschenrechte“,131 weil sie kein Recht auf Menschenrechte bezeichnet, sondern nur auf die Anerkennung als Rechtssub­ jekt. Sie ist notwendig, um allen Menschen eine angemessene Stellung im Recht einer Verfassungsordnung zu sichern; aber sie ist nicht hinreichend, um der Rechtsperson die Rechte zu verleihen, die sie zu ihrer Entfaltung benötigt. Die übrigen Menschenund Grundrechte sichern dann diese Handlungsformen.132

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131 

132 

Treffend gegen diese Annahme Pollmann, Menschenwürde nach der Barbarei, 38 f. Höffe, Transzendentaler Tausch, 34.

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Die Unverfügbarkeit der Menschenwürde unter Geltung des Grundgesetzes Angelika Siehr I. Einleitung Die Berufung auf die Menschenwürde prägt seit der Zäsur des Zweiten Weltkriegs den öffentlichen Diskurs in Deutschland vor allem immer dann, wenn es um Grenz­ fragen von elementarer Bedeutung für das eigene Selbstverständnis als Mensch geht, wenn also etwa Fragen der Reproduktionsmedizin1 oder gar der Zulässigkeit von gentechnischen Veränderungen am menschlichen Erbgut2 diskutiert werden. In diesem Zusammenhang wird in der zwischen Biologen, Medizinern, Medizinethi­ kern, Theologen, Juristen, Philosophen und Vertretern anderer Disziplinen geführ­ ten Debatte auch explizit auf die „Unverfügbarkeit der Menschenwürde“ Bezug ge­ nommen3 oder dieses Argument schwingt zumindest im Hintergrund mit. In ei­ nem gewissen Kontrast zu dem über solche ‚letzten Fragen‘ weit hinausgehenden, fast inflationären Gebrauch des Menschenwürdearguments4 steht der Befund, dass hinsichtlich der Frage, ob und in welcher Weise die in Art.  1 Abs.  1 GG verankerte Menschenwürde bestimmten (wissenschaftlichen bzw. technischen) Entwicklungen tatsächlich verfassungsrechtliche Grenzen zieht, noch immer manches im Dunkeln liegt. Die schier überbordende Literatur zum Thema Menschenwürde5 ändert nichts daran, dass namentlich auch die Rolle, die die Unverfügbarkeitsthese in diesem Kon­ text spielt, unklar ist. Der Begriff der ‚Unverfügbarkeit‘ taucht im Grundgesetz nicht auf; es handelt sich nicht um einen Rechtsbegriff.6 Vielmehr lautet Art.  1 Abs.  1 S.  1 GG: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Die Frage ist also, wie sich die Be­ griffe der ‚Unverfügbarkeit‘ und der ‚Unantastbarkeit‘ zueinander verhalten und, in 1 Dazu Siehr, Regulierungsauftrag für den Staat im Bereich der Fortpflanzungsmedizin?, 393– 440; s. für einen stärker rechtsvergleichenden Zugriff Sydow, Regulierungsauftrag für den Staat im Bereich der Fortpflanzungsmedizin?, 361–392, jeweils mwN. 2 S. Habermas, Die Zukunft der menschlichen Natur, hier auch sehr deutlich zum Zusammen­ hang mit dem eigenen Selbstverständnis als Mensch. 3  S. z. B. Habermas, Die Zukunft der menschlichen Natur, 59; s. für eine Auseinandersetzung mit Habermas und dem Begriff der Unverfügbarkeit Lohmann, Unantastbare Menschenwürde und unverfügbare menschliche Natur, 55, zur Unverfügbarkeit bes. 60–62. 4  Dazu krit. schon Hofmann, Die versprochene Menschenwürde, 104–128, hier: 107. 5  S. für umfangr. Nachw. statt vieler Baldus, Kämpfe um die Menschenwürde, 265–432. 6  S. dazu allg. Fateh-Moghadam u. a., Säkulare Tabus. Die Begründung von Unverfügbarkeit.

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Angelika Siehr

welcher Form der Gedanke der Unverfügbarkeit in positives Verfassungsrecht über­ setzt wird. Insbesondere fragt sich auch, welche verfassungsrechtlichen Grenzen sich für bestimmte technisch mögliche Entwicklungen aus der in Art.  1 Abs.  1 GG veran­ kerten Menschenwürdenorm ergeben. Es geht hier somit im Unterschied zu anderen Beiträgen in diesem Band um eine spezifisch rechtswissenschaftliche Perspektive auf die Unverfügbarkeitsthese und um ihr Verhältnis zu Art.  1 Abs.  1 S.  1 GG. Eine Annäherung an diese Fragestellung soll in vier Schritten erfolgen, und zwar erstens über eine historische Kontextualisierung des Art.  1 Abs.  1 GG, die seine fun­ damentale Bedeutung erhellt, aber auch verdeutlicht, welche Fragen seinerzeit offen­ blieben (II.). Zweitens gilt es, die Begriffe der ‚Unverfügbarkeit‘ und der ‚Unantast­ barkeit‘ zueinander ins Verhältnis zu setzen (III.). Drittens sind die unterschied­lichen Funktionen und Dimensionen des Art.  1 Abs.  1 GG näher zu bestimmen und es ist zu klären, inwieweit sie dem Gedanken des absoluten Schutzes des ‚Unverfügbaren‘ Rechnung tragen und in welchen Konstellationen es umgekehrt nur um eine relative, für Abwägungen offene Wirkung der Menschenwürdenorm geht (IV.). Viertens soll der Bedeutung der Unverfügbarkeitsthese im Hinblick auf Problemstellungen, die sich erst im Zuge des technischen Fortschritts ergeben haben, nachgegangen werden. Dafür bietet sich das Beispiel des Umgangs mit extrakorporalen menschlichen Em­ bryonen im Bereich der Reproduktionsmedizin an: Hier stellt sich die Frage, ob sich das in den hochkontroversen Debatten rund um ihre gesetzliche Neuregelung ins Feld geführte Argument der ‚Unverfügbarkeit‘ der Menschenwürde tatsächlich in absolut geltende verfassungsrechtliche Vorgaben für den Gesetzgeber übersetzen lässt, die seinen Gestaltungsspielraum entsprechend einschränken (V.). Spiegelbild­ lich wird damit natürlich auch die Frage beantwortet, was nicht verfassungsrechtlich determiniert, sondern dem politischen Prozess zu überantworten und in diesem Sin­ ne auch nicht ‚unverfügbar‘ ist. Die Ergebnisse werden fünftens noch einmal kurz zusammengefasst (VI.).

II. Historische Kontextualisierung der Menschenwürdenorm des Art.  1 Abs.  1 GG Menschenrechte stellen, historisch gesehen, sehr häufig eine Reaktion auf elementare Unrechts- und Verletzungserlebnisse dar und sollen vor staatlichem Machtmiss­ brauch schützen.7 Dies gilt für klassische Menschenrechte, bspw. für die in der Tra­ dition der englischen Habeas-Corpus-Rechte stehenden Art.   2 Abs.   2 S.   2 und Art.  104 GG, ebenso wie für neuere Entwicklungen. So sind einige der erstmals in den Grundrechtskatalog des Grundgesetzes aufgenommenen Rechte gerade als der 7  S. dazu, dass die Menschenrechte teils auf elementare Unrechtserlebnisse antworten, teils ge­ gen alle Arten von Heteronomien gerichtet sind, Hofmann, Menschenrechtliche Autonomie­ ansprüche, 51–72, hier: 59 f.; s. a. Siehr, Die Deutschenrechte des Grundgesetzes, 53–59.

Die Unverfügbarkeit der Menschenwürde unter Geltung des Grundgesetzes

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Schutzgewähr dienendes Pendant zu den furchtbaren, massenhaft und systematisch durch das NS-Regime begangenen Menschheitsverbrechen entstanden. In diesem Sinne formuliert das Bundesverfassungsgericht bezogen auf Art.  2 Abs.  2 S.  1 GG: Die ausdrückliche Aufnahme des an sich selbstverständlichen Rechts auf Leben in das Grund­ gesetz […] erklärt sich hauptsächlich als Reaktion auf die ‚Vernichtung lebensunwerten Le­ bens‘, auf ‚Endlösung‘ und ‚Liquidierung‘, die vom nationalsozialistischen Regime als staat­ liche Maßnahmen durchgeführt wurden.8

Der menschenverachtende, auf die systematische Entrechtung von Millionen von Ju­ den, Sinti und Roma und anderen Verfolgten gerichtete Ungeist, in dem diese Ver­ brechen begangen wurden, stellte sich jedoch noch tiefergreifend als grundlegender Angriff auf die Würde des Menschen dar. Aus diesem elementaren Verletzungserleb­ nis erwuchs der Entschluss der Verfassungsväter und -mütter, die Bundesrepublik Deutschland in bewusster Abgrenzung zum NS-Regime auf die Würde des Men­ schen zu gründen und alle staatliche Gewalt auf ihre Achtung und ihren Schutz zu verpflichten (Art.  1 Abs.  1 S.  2 GG). Ganz bewusst wurde der Grundrechtskatalog im Unterschied zur Weimarer Reichsverfassung an den Anfang des Grundgesetzes und an seine Spitze in Art.  1 Abs.  1 GG die Menschenwürde gestellt: Fortan sollte verfassungsrechtlich der einzel­ ne Mensch und der Schutz seiner Freiheit im Mittelpunkt stehen. Dies kommt beson­ ders deutlich in der Formulierung des Herrenchiemseer Entwurfs zum Ausdruck: ,,Der Staat ist um des Menschen willen da, nicht der Mensch um des Staates wil­ len“.9 Die Menschenwürde war als philosophischer Begriff zwar schon in der Anti­ ke bekannt, aber weder in den klassischen Menschenrechtserklärungen des 18.  Jahr­ hunderts noch in den Kodifikationen des 19.  Jahrhunderts enthalten. Als Rechts­ begriff spielte sie erst nach der weltweiten Erschütterung durch den Holocaust eine so prominente Rolle; bis dahin war sie nur sehr vereinzelt bzw. unter thematisch be­ grenzten Aspekten in Verfassungsdokumenten aufgetaucht.10 Nach 1945 fand die Menschenwürde dann jedoch Eingang in die zwar nicht rechtsverbindliche, gleich­ wohl aber sehr wirkungsmächtige Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (AEMR) von 1948, deren Entwurf dem Parlamentarischen Rat bei seiner Arbeit am 8 

BVerfGE 39, 1 (42). S. Verfassungsausschuss der Ministerpräsidenten-Konferenz der westlichen Besatzungszonen, Bericht über den Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee vom 10. bis 23. August 1948, 61. 10  So lautete Art. 151 der Weimarer Reichsverfassung v. 1919: „Die Ordnung des Wirtschafts­ lebens muss den Grundsätzen der Gerechtigkeit mit dem Ziele der Gewährleistung eines menschen­ würdigen Daseins für alle entsprechen.“ Eine seltene Ausnahme stellt die frühe Bezugnahme auf die Menschenwürde in der offiziellen Begründung der Abschaffung der Todesstrafe, der Strafen des Prangers, der Brandmarkung und der körperlichen Züchtigung in § 139 Paulskirchenverfassung v. 28 März 1849 dar: „Ein freies Volk [hat] selbst bei dem Verbrecher die Menschenwürde zu achten“, zit. nach Kühne, Die Reichsverfassung der Paulskirche. Vorbild und Verwirklichung im späteren deutschen Rechtsleben, 344. Wie Poscher, Menschenwürde, § 17, Rn. 35, unterstreicht, wurde in der Menschenwürde aber schon früh Grund und Grundlage des Rechts gesehen, auch wenn sie erst nach dem Zweiten Weltkrieg zu der zentralen Grund- und Menschenrechtsnorm wurde. 9 

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Grundgesetz auch vorlag.11 Zudem wurde sie auch in weitere völkerrechtliche Texte und in Nachkriegsverfassungen aufgenommen, so auch in Japan (1946) und in Ita­ lien (1948), den ehemaligen Verbündeten Nazi-Deutschlands. Die Menschenwürde wurde zum archimedischen Punkt der neuen verfassungs­ rechtlichen Ordnung des Grundgesetzes; zugleich wurde sie dort als ‚Wurzel‘ der Menschenrechte rekonstruiert.12 Auch dieser Zusammenhang zwischen Menschen­ würde und Menschenrechten zeigt sich gleichfalls in der AEMR;13 die Entwicklun­ gen auf der nationalen verfassungsrechtlichen und der internationalen Ebene be­ fruchteten sich im Zeichen des Neubeginns nach 1945 also gegenseitig. Doch blieb dabei zunächst offen, welche Bestandteile des Konzepts der Menschenwürde, das von der antiken Stoa ebenso Impulse empfangen hat wie vom Christentum, der Renais­ sance und der Aufklärung – hier vor allem durch die Philosophie Kants –, sich nun eigentlich im normativen Gehalt der Menschenwürde als Rechtsbegriff niederschla­ gen. Diese Frage stellt sich natürlich insbesondere auf der sich durch große Werthe­ terogenität auszeichnenden internationalen Ebene, aber eben auch bezogen auf die freiheitlich-pluralistische Ordnung des Grundgesetzes. Auf diesen Punkt wird noch einmal zurückzukommen sein. Doch soll vorab schon darauf hingewiesen werden, dass der Menschenwürdesatz des Art.  1 Abs.  1 GG geradezu „ein Exempel für die Einigkeit bloß in Ergebnissen, nicht aber in der Gesamtlehre“ ist, denn die unter­ schiedlichen Ansätze treffen sich vor allem in der „Antithese zu den erlebten Un­ menschlichkeiten in der Geschichte.“14 Und dieser kleinste gemeinsame Nenner gilt, wie der ebenfalls durch den Holocaust geprägte Entstehungszusammenhang der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen von 1948 zeigt, auch für das Völkerrecht.15 Speziell in Deutschland verbindet sich mit dem Bekenntnis zu Menschenwürde und Menschenrechten auch das Bemühen um die Reintegration in die westliche Wertegemeinschaft. In der Phase der Naturrechtsrenaissance nach Ende des Zweiten Weltkriegs wird hier ganz bewusst der Anschluss an das menschenrechtliche Den­ ken der Aufklärung bzw. an die Menschenrechtserklärungen des ausgehenden 18.  Jahrhunderts gesucht.16 Hinsichtlich des Verhältnisses der nach Art.  1 Abs.  3 GG 11  So wies v. Mangoldt im Grundsatzausschuss auch explizit auf die AEMR hin, s. dazu Siehr, Die Deutschenrechte des Grundgesetzes, 19, Fn.  16 mwN. 12 S. Stern, Menschenwürde als Wurzel der Menschen- und Grundrechte, 627–642; s. a. BVerf­ GE 93, 266 (293): ,,[…] denn die Menschenwürde als Wurzel aller Grundrechte ist mit keinem Ein­ zelgrundrecht abwägungsfähig.“ 13  Art.  1 S.  1 AEMR lautet: „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren.“ Zuvor nimmt schon der erste Satz ihrer Präambel auf die „angeborene Würde“ und die „gleichen und unveräußerlichen Rechte aller Mitglieder der Gemeinschaft der Menschen“ Bezug, die „Grund­ lage von Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden in der Welt“ seien. 14 So Wahl, Die Rolle des Verfassungsrechts angesichts von Dissens in Gesellschaft und Rechts­ politik, 551–594, hier: 575 f. 15  S. dazu im Einzelnen den Beitrag von Georg Lohmann in diesem Band. 16  S. dazu Hofmann, Die Grundrechte 1789–1949–1989, 23–50, hier: 29 ff., 39, 42 f.; s. a. Siehr, Die Deutschenrechte des Grundgesetzes, 19 f., 187 f.

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mit Bindungswirkung als „unmittelbar geltendes Recht“ ausgestatteten „nachfolgen­ den Grundrechte“ zu den in Art.  1 Abs.  2 GG angesprochenen (vorstaatlichen) Men­ schenrechten finden sich vor allem in der älteren Literatur widersprüchliche Aussa­ gen:17 Teils wird dort vertreten, dass die Grundrechte auf den in Art.  1 Abs.  2 GG in Bezug genommenen überpositiven Menschenrechten beruhten,18 meist auch deren Inhalt umfassten, teils wird betont, dass das Grundgesetz die in Art.  1 Abs.  3 GG angesprochenen Grundrechte nicht durch Rückgriff auf die zuvor als Bekenntnis­ gegenstand deklamierten Menschenrechte, sondern nur durch die Positivierungen im nachfolgenden Verfassungstext bestimme.19 Historisch und ideengeschichtlich habe hier zwar auch die Idee vorstaatlicher Menschenrechte Niederschlag gefunden, doch hätten die Grundrechte mit ihrer Positivierung eine neue, für ihre Wirksamkeit gestärkte und gefestigte Dimension erhalten.20 Während der positivistische Ansatz, der sich im Laufe der Zeit immer stärker durchgesetzt hat, jedoch in der Rechtspraxis allein die positivierten Grundrechte für maßgeblich hält und die Heranziehung der überpositiven Menschenrechte als externen Maßstab ablehnt, wurde zumindest bis in die 1990er Jahre hinein daneben auch ein ‚doppelter Geltungsbegriff‘ vertreten,21 wonach das überpositive Menschenrecht wieder aufleben solle, wenn die positiv­ rechtliche Dimension ihm nicht mehr entspreche.22 Dies wird aus dem als „absolut“ und unabdingbar vorausgesetzten Charakter vorstaatlicher Menschenrechte abgelei­ tet, denen daher Vorrang vor allen anderen Verfassungsbestimmungen zukomme.23 Als Beispiel dafür wird insbesondere auch der Satz von der Unantastbarkeit der Men­ schenwürde genannt, der „als Naturrechtssatz auch gelten würde, wenn er nicht in der Verfassung stünde“, nunmehr aber auf der Positivierung in Art.  1 Abs.  1 GG be­ ruhe, „ohne daß er seinen besonderen Charakter verloren“ habe.24 17 

S. dazu schon Siehr, Die Deutschenrechte des Grundgesetzes, 20 mwN. Dürig, Der Grundrechtssatz von der Menschenwürde, 117–157, hier: 119–122; s. für die Sichtweise im Parlamentarischen Rat Starck, Menschenwürde als Verfassungsgarantie im moder­ nen Staat, 457–464, hier: 457 f. Vorsichtiger Böckenförde, Zur Lage der Grundrechtsdogmatik nach 40 Jahren Grundgesetz, 14: Danach erscheinen die Grundrechte „als Ausfluß des Bekenntnis­ ses zu unveräußerlichen Menschenrechten, die ihrerseits ihren Grund in der Unverletzlichkeit der Menschenwürde haben.“ Damit seien die Grundrechte meta-positiv verankert, in einen bestimmten Begründungszusammenhang hineingestellt. 19  S. dazu Sachs, in: Stern, Staatsrecht III/1, §  63: Der Bestand der Grundrechte, 316 ff. (349). 20 S. Stern, Staatsrecht III/1, §  70: Die Grundrechtsberechtigung natürlicher Personen, 999 ff. (1026); s. a. ders., Idee der Menschenrechte und Positivität der Grundrechte, §  108 Rn.  51 ff., aktua­ lisiert ders., Idee der Menschenrechte und Positivität der Grundrechte, §  184 bes. Rn.  118 f. 21 S. Siehr, Die Deutschenrechte des Grundgesetzes, 21 ff.; dazu näher bei Denninger, Über das Verhältnis von Menschenrechten zum positiven Recht, 225–231, hier: 227 f. 22  Stern, Staatsrecht III/1, §   70: Die Grundrechtsberechtigung natürlicher Personen, 1026; ders., Idee der Menschenrechte und Positivität der Grundrechte, §  108 Rn.  52 u. §  184 Rn.  118. 23 So Nipperdey, Die Würde des Menschen, 7 f. 24  Ebd. Auch das BVerfG stellt in einer frühen Entscheidung fest, dass dadurch, „daß der Gesetz­ geber des Grundgesetzes in seine Grundentscheidung Normen einbezogen und damit im Grund­ gesetz positiviert hat, die vielfach als übergesetzlich bezeichnet werden (etwa in Art.  1, aber auch in Art.  20 GG), […] sie ihren besonderen Charakter nicht verloren [haben]“, s. BVerfGE 3, 225 (233); 18 S.

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Auch wenn der naturrechtliche Ansatz bzw. der ‚doppelte Geltungsbegriff‘ in den beiden Jahrzehnten nach der Jahrtausendwende noch weiter in den Hintergrund tra­ ten, wird, wie schon angedeutet, gerade bei Grenzfragen der menschlichen Existenz, die einen starken Menschenwürdebezug aufweisen, nach wie vor das Argument der ‚Unverfügbarkeit‘ der Menschenwürde im Diskurs stark gemacht. Auch das Bundes­ verfassungsgericht greift den Begriff der ‚Unverfügbarkeit‘ gelegentlich auf.25 In die­ sem Begriff hallt das naturrechtliche Versprechen der Menschenrechtserklärungen des 18.  Jahrhunderts nach, die die dort aufgeführten Rechte als „inaliénables“ bzw. „unalienable“ betrachteten. Die Begriffe „unveräußerlich“ und „unverfügbar“ („indi­ sponible“) sind zwar nicht bedeutungsgleich, liegen aber doch im selben Wortfeld, sind also bedeutungsähnlich. So ist die ‚Unverfügbarkeit‘ mit angesprochen, wenn die französische Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 ausweislich ihrer Präambel „les droits naturels, inaliénables et sacrés de l‘Homme“ proklamierte, wenn die einzelstaatlichen US-amerikanischen Rechteerklärungen als „natural, es­ sential, and unalienable“ bezeichnete Rechte verbrieften26 und wenn in weiteren Verfassungsdokumenten dieser Zeit wie der amerikanischen Unabhängigkeitserklä­ rung vom 4. Juli 1776 von „unalienable Rights“ die Rede ist. In Art.  1 Abs.  2 GG wird dann ebenfalls auf die „unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechte […]“ Bezug genommen. Die Frage, die sich im Hinblick auf die Menschenwürdenorm – auch von einem positivistischen Ansatz aus – stellt, ist damit die, wie die hinsichtlich der Unverfügbarkeitsthese an das Denken der Aufklärung anknüpfende Vorstellung in der Menschenwürdenorm des Art.  1 Abs.  1 GG durch einen besonderen, gar ‚abso­ luten‘ Schutz positivrechtlich umgesetzt wurde. Diese Frage zielt vor allem auch auf das schon angesprochene Verhältnis der Idee der Unverfügbarkeit zu dem in Art.  1 Abs.  1 S.  1 GG verwandten Begriff der Unantastbarkeit.

III. Zum Verhältnis von ‚Unverfügbarkeit‘ und ‚Unantastbarkeit‘ der Menschenwürde Die Unverfügbarkeit der Menschenwürde ist mit ihrer Unantastbarkeit nicht iden­ tisch; die Idee der Unverfügbarkeit bildet vielmehr den Grund für den absoluten Schutz vor Menschenwürdeverletzungen, der mit dem Begriff der Unantastbarkeit umschrieben wird. Begriffsgeschichtlich ist der Begriff der ‚Unverfügbarkeit‘ im deutschen Sprachraum erst in den 1930er Jahren bei dem evangelischen Theologen dazu auch Starck, Menschenwürde als Verfassungsgarantie im modernen Staat, 457–464, hier: 462 f. 25  Vgl. BVerfGE 45, 187 (229) – lebenslange Freiheitsstrafe: „Bei alledem darf nicht aus den Au­ gen verloren werden: Die Würde des Menschen ist etwas Unverfügbares.“ 26  So die Formulierung in Art. I der Bill of Rights von Massachusetts (1780). In Art. I der Rechte­ erklärungen Pennsylvanias und Vermonts lautet die Formulierung: „That all men are born equally free and independent, and have certain natural, inherent and inalienable rights.“ S. dazu Siehr, Die Deutschenrechte des Grundgesetzes, 28 f. mwN.

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Rudolf Bultmann nachweisbar.27 Nach Bultmann ist die „Unverfügbarkeit Gottes […] nicht eine zufällige, wie die Unverfügbarkeit eines unverfügbaren Seienden. Sondern sie ist zugleich die Unverfügbarkeit des Menschen über sich selbst.“28 Diese Konnota­ tion des Begriffs der Unverfügbarkeit, also die Unverfügbarkeit des Menschen über sich selbst als Teil seiner Würde, wurde in der Rechtsprechung des Bundesverwal­ tungsgerichts im Jahr 1982 im Ansatz aufgegriffen, als das Gericht bezogen auf die Würdeverletzung, die es in einer Peep-Show sah, feststellte: Diese Verletzung der Menschenwürde wird nicht dadurch ausgeräumt oder gerechtfertigt, daß die in einer Peep-Show auftretende Frau freiwillig handelt. Die Würde des Menschen ist ein objektiver, unverfügbarer Wert, auf dessen Beachtung der einzelne nicht wirksam verzich­ ten kann.29

Dies verweist zugleich schon auf weitere Bedeutungsgehalte des Begriffs der Unver­ fügbarkeit: Es geht zum einen im ethischen Sinne um das, ‚worüber wir nicht verfü­ gen dürfen‘ (im weiteren Sinne auch ‚können‘). Zum anderen birgt der deutsche Aus­ druck „Verfügbarkeit“ aber auch den Gehalt des Rechtsbegriffs „Verfügen“ im Sinne von „Gebieten“ und „Herrschen“.30 Philosophischen Einfluss gewann der Begriff der Verfügbarkeit auch durch Martin Heideggers Ansicht, dass die abendländische Meta­ physik das Seiende als Vorhandenes und „Verfügbares“ aufgefasst habe, mit dem der Mensch jetzt „schaltet und waltet“.31 Bultmann formulierte dann die theologische Gegenposition, nach der dem Wirklichkeitsverständnis der verfügbaren Vorhanden­ heit ein existentiales Sichverstehen aus dem „Unverfügbaren“ gegenüberzustellen sei.32 Dies umfasst dann insbesondere auch die Unverfügbarkeit des Menschen über sich selbst, die aber lediglich einen Teilaspekt der insoweit aus christlichen Wurzeln gespeisten Konzeption der Unverfügbarkeit der Menschenwürde darstellt. Die Unverfügbarkeit des Menschen über sich selbst kann allerdings mit dem gleichfalls in der Menschenwürde verankerten Autonomieprinzip in Konflikt gera­ ten und wird hinsichtlich der konkreten Konsequenzen der entsprechenden Annah­ men auch vom gesellschaftlichen Wertewandel beeinflusst. Wie die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom Februar 2020 zur assistierten Sterbehilfe zeigt, hat sich der Gedanke der Selbstbestimmung des Einzelnen, auch und gerade bezogen auf die Frage der Selbstbestimmung über den Zeitpunkt, in dem das eigene Leben 27 

S. dazu Vorster, Unverfügbarkeit, 334. Bultmann, Theologische Enzyklopädie. 54. 29  BVerwG, Urt. v. 15.12.1981, abgedruckt in: Neue Juristische Wochenschrift 1982, 664 f., hier: 665. In Anlehnung an diese Argumentation des BVerwG stellte das VG Neustadt in einer vielbeach­ teten (aber auch kritisch kommentierten) Entscheidung v. 21.5.1992 fest, dass auch der sog. „Zwer­ genweitwurf“ trotz Einwilligung des Betroffenen gegen die in Art.  1 Abs.  1 S.  1 GG verankerte Men­ schenwürde verstoße, s. VG Neustadt, abgedruckt in: Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht 1993, 98 f. 30  S. zu beiden Aspekten Vorster, Unverfügbarkeit, 334. 31  Heidegger, Einführung in die Metaphysik, 67. 32  Bultmann, Neues Testament und Mythologie. Das Problem der Entmythologisierung der neutestamentlichen Verkündigung, 33. 28 

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enden soll, heute auf verfassungsrechtlicher Ebene durchgesetzt.33 Es bestehen in diesem Bereich in einer pluralen Gesellschaft natürlich auch weiterhin sehr unter­ schiedliche, namentlich auch religiös motivierte, Vorstellungen darüber, was inso­ weit unter welchen Bedingungen ethisch vertretbar ist. Aber es ist nicht Sache des Staates, dem Einzelnen das Verfügungsrecht über sich selbst hinsichtlich dieser letz­ ten Konsequenzen des Selbstbestimmungsrechts unter Berufung auf die Menschen­ würde, die zudem der ‚Ewigkeitsgarantie‘ des Art.  79 Abs.  3 GG unterliegt,34 ein für allemal aus der Hand zu nehmen. Zwar kann und muss der parlamentarische Ge­ setzgeber, wie das Gericht auch klarstellt, Rahmenbedingungen für die assistierte Sterbehilfe formulieren. Aber diese fließen in ihrer konkreten Ausformung nicht un­ mittelbar aus Art.  1 Abs.  1 GG, sodass sie anschließend im Sinne des Art.  79 Abs.  3 GG veränderungsfest wären. Vielmehr ist die nach Maßgabe der sog. Wesentlich­ keitstheorie angesichts der hohen Grundrechtsrelevanz sogar zwingend erforder­ liche gesetzliche Ausgestaltung einer assistierten Sterbehilfe Gegenstand des politi­ schen Prozesses, in den unterschiedliche Vorstellungen einfließen, debattiert werden und ggf. von neuen parlamentarischen Mehrheiten auch revidiert werden können. Diskutiert wird die Frage nach den Grenzen der durch die Menschenwürdenorm geschützten Autonomie des Einzelnen – oder spiegelbildlich betrachtet: die Frage nach dem Unverfügbaren – heute vor allem auch bezogen auf neue Möglichkeiten, die sich für den Menschen erst im Zuge des technischen Fortschritts ergeben haben. Hier geht es nicht mehr allein im Sinne Heideggers um das „Seiende als Vorhandenes und Verfügbares“, sondern auch um das „potentiell Seiende“, sofern das entsprechen­ de ‚Schalten und Walten‘ des Menschen, der es erschafft, Fragen der menschlichen Identität oder menschlicher Potenzialität berührt. Dies ist einerseits im Zusammen­ hang mit der künstlichen Intelligenz (KI) ein wichtiges Thema, wenn es also bspw. um die Schaffung von Cyborgs bzw. Mensch-Maschine-Hybriden geht,35 die ja in sehr unterschiedlichen graduellen Abstufungen denkbar sind. Andererseits gilt dies aber auch im Hinblick auf die eingangs erwähnten möglichen Manipulationen des menschlichen Erbguts oder gar und vor allem auch für das Klonen von Menschen.36 33  S. BVerfG, Urt. v. 26.2.2020, abgedruckt in: Neue Juristische Wochenschrift 2020, 905–921; dazu die Anm. v. Sachs, Grundrechte: Recht auf selbstbestimmtes Sterben, 580–582; Muckel, Ver­ fassungswidrigkeit des Verbots der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung, 473–476. Zuvor zum Recht auf einen selbstbestimmten Tod Hufen, In dubio pro dignitate. Selbstbestimmung und Grundrechtsschutz am Ende des Lebens, 849–857, hier: 851; differenzierend Herdegen, in: Dürig/ Herzog/Scholz (Hg.), GG, Art.  1 I Rn.  85 (Selbsttötung als Kern eigenverantwortlicher Selbstbestim­ mung, Anspruch auf aktive Sterbehilfe überspanne aber die Würdenorm). Nettesheim, Die Ga­ rantie der Menschenwürde zwischen metaphysischer Überhöhung und bloßem Abwägungstopos, 71–113, hier: 106, sieht in der Hinderung der Verfügung über den eigenen Tod geradezu eine Ver­ kehrung des Sinns von Art.  1 Abs.  1 GG. 34  Darauf wird unter IV. noch näher einzugehen sein. 35  S. dazu Kersten, Menschen und Maschinen, 1–8 mwN. 36  Dazu grundlegend Kersten, Das Klonen von Menschen. Eine verfassungs-, europa- und völ­ kerrechtliche Kritik; zur Problematik von Genmanipulationen bei Menschen s. Habermas, Zu­ kunft der menschlichen Natur.

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In solchen Fällen, aber etwa auch schon bezogen auf den Umgang mit mensch­ lichen Embryonen im Bereich der Reproduktionsmedizin, stellt sich die Frage, ab welchem Punkt der Staat dem Handeln des Einzelnen bzw. juristischer Personen des Privatrechts Grenzen setzen muss. Wie ein Blick auf den Wortlaut des Art.  1 Abs.  1 S.  2 GG zeigt, wonach es „Verpflichtung aller staatlichen Gewalt“ ist, die Würde des Menschen „zu achten und zu schützen“, ist aber natürlich in erster Linie der Staat selbst verpflichtet, alles zu unterlassen, was die Menschenwürde verletzen könnte. Der Begriff der ‚Achtung‘ zielt auf die entsprechenden Unterlassungspflichten des Staates, der unter dem Schutzaspekt aber auch mögliche Verletzungen der Menschen­ würde durch Private abwehren bzw. Bereiche mit starkem Menschenwürdebezug, wie etwa die Reproduktionsmedizin, regulieren muss.37 Der in Art.  1 Abs.  1 S.  1 GG verwandte Begriff der „Unantastbarkeit“ der Men­ schenwürde bringt sowohl ihren hohen Wert als auch den ganz besonderen Schutz, den die Menschenwürde genießt, zum Ausdruck. Es versteht sich angesichts der Ent­ stehungsgeschichte von selbst, dass der Satz: „Die Würde des Menschen ist unantast­ bar“ normativ und nicht präskriptiv gemeint ist,38 da die eklatanten und massenhaf­ ten Menschenwürdeverletzungen durch das NS-Regime ja gerade Ausgangspunkt seiner Normierung waren. Die Menschenwürde, genauer: der auf sie bezogene Achtungsanspruch, kann also faktisch verletzt werden, doch berührt dies die Integrität des Betroffenen in seiner Personhaftigkeit nicht, d. h. auch der Gefolterte oder Ge­ ächtete ‚verliert‘ seine Würde nicht.39 Vor dem Hintergrund des Höchstranges, der der Menschenwürde in der grundgesetzlichen Ordnung zukommt – das Bundes­ verfassungsgericht sprach schon früh von einem „Höchstwert“40 oder „obersten Wert“41, – erweist sich der in der Formulierung „ist unantastbar“ verwandte Indika­ tiv damit als „schärfste Form des Imperativs“42: Die Menschenwürde soll und darf unter keinen Umständen angetastet werden, sie genießt absoluten Schutz. Dies kommt grundrechtsdogmatisch in der sogenannten ‚Abwägungsfestigkeit‘ der Men­ 37 Dazu Siehr, Regulierungsauftrag für den Staat im Bereich der Fortpflanzungsmedizin?, 396 mwN. in Fn.  4 u. 5. 38  Dies ist die ganz überwiegende Ansicht, s. dazu Giese, Das Würde-Konzept. Eine normfunk­ tionale Explikation des Begriffes Würde in Art.  1 Abs.  1 GG, 46; Geddert-Steinacher, Menschen­ würde als Verfassungsbegriff, 80; Lohmann, Unantastbare Menschenwürde, 57 f.; Dreier, in: ders. (Hg.), GG, Art.  1 I Rn.  128 mwN., auch zur Gegenansicht. 39  In BVerfGE 87, 209 (228), heißt es daher treffend: Die Würde „kann keinem Menschen genom­ men werden. Verletzbar ist aber der Achtungsanspruch, der sich aus ihr ergibt.“ Seither st. Rspr., s. nur BVerfGE 115, 118 (152) – Luftsicherheitsgesetz I; s. a. Dreier, in: ders. (Hg.), GG, Art.  1 I Rn.  128 mwN. 40  Vgl. nur BVerfG, Beschl. v. 13.3.2002, abgedruckt in: Neue Juristische Wochenschrift 2020, 2699–2725, hier: 2701: „Dem Recht auf Achtung der Menschenwürde (Art.  1 Abs.  1 GG) kommt in der Verfassung ein Höchstwert zu; es ist als tragendes Konstitutionsprinzip im System der Grund­ rechte zu betrachten (vgl. BVerfGE 45, 187 [227]; 87, 209 [228]).“ 41  BVerfGE 5, 85 (204); ähnlich E 45, 187 (223). Teils ist auch von einem „obersten“ oder „tragen­ den Konstitutionsprinzip“ die Rede, vgl. nur BVerfGE 6, 32 (36); 30, 173 (193); 32, 98 (108); 45, 187 (227); 50, 166 (175); 72, 105 (115). 42  Isensee, Würde des Menschen, §  87 Rn.  6 4.

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schenwürde zum Ausdruck. Während bezogen auf alle anderen Grundrechte, selbst beim Grundrecht auf Leben, eine Abwägung möglich ist, kommt dies bei der Men­ schenwürde nicht in Betracht,43 wie auch das Bundesverfassungsgericht wiederholt betont hat.44 Die Unterschiede, die zwischen Menschenwürdeschutz und dem Schutz des Le­ bens aus Art.  2 Abs.  2 S.  1 GG hinsichtlich der Frage der Abwägungsmöglichkeit be­ stehen, zeigen sich aufgrund der unmittelbaren Kontrastierung besonders plastisch in der ersten Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Luftsicherheitsgesetz aus dem Jahr 2006:45 Den ursprünglich nach §  14 Abs.  3 LuftSiG aF unter bestimm­ ten Umständen möglichen Abschuss eines von Terroristen zur Waffe umfunktio­ nierten Luftfahrzeugs lehnte das Bundesverfassungsgericht für den Fall, dass die Maschine auch mit Passagieren und einer an der Tat unbeteiligten Crew besetzt ist, unter Hinweis auf die darin liegende Menschenwürdeverletzung ab.46 Das Gericht betont, dass der Staat, der zur Abwehrmaßnahme des §  14 Abs.  3 LuftSiG greife, die Passagiere und die Besatzung als bloße Objekte seiner Rettungsaktion zum Schutze anderer behandele, sie damit also verdingliche und zugleich entrechtliche.47 Auch das Argument, dass das Leben der Passagiere und Besatzung eines solchen Renega­ de-Flugzeugs ohnehin dem Tode geweiht sei, wird verworfen, da menschliches Leben und menschliche Würde nach dem Bundesverfassungsgericht „ohne Rücksicht auf die Dauer der physischen Existenz des einzelnen Menschen gleichen verfassungs­ rechtlichen Schutz“ genießen.48 Demgegenüber begegne es verfassungsrechtlich keinen Bedenken, wenn gesetzlich geregelt werde, dass ein allein mit Terroristen besetztes Luftfahrzeug als ultima ratio auch abgeschossen werden dürfe.49 Der Hintergrund ist der, dass das Leben unter dem Grundgesetz zwar einen sehr hohen Wert darstellt, aber eben nicht den Höchst­ wert. Auch Eingriffe in das Leben können also unter bestimmten Umständen verfas­ sungsrechtlich gerechtfertigt werden. Anders ist dies allein bei der ‚abwägungsfesten‘ Menschenwürde, die hier aus Sicht des Gerichts aber nicht verletzt wäre: 43 Dazu Baldus, Menschenwürdegarantie und Absolutheitsthese. Zwischenbericht zu einer zu­ kunftsweisenden Debatte, 529–552, hier: 530: „Absolut heißt: nicht einschränkbar, nicht abwägbar, vorrangig – und zwar ausnahmslos“; differenzierend ders., Kämpfe um die Menschenwürde, 111– 115. u. pass. Zur Unantastbarkeit als absolute Garantie, die Unabwägbarkeit bedeute, auch Dreier, in: ders. (Hg.), GG, Art.  1 I Rn.  46. 44  S. BVerfGE 93, 266 (293): „mit keinem Einzelgrundrecht abwägungsfähig“; E 107, 275 (284): „absolute Grenze“/„mit keinem Einzelgrundrecht abwägungsfähig“; E 109, 279 (314, Rn.  121); E 130, 1 (22, Rn.  99). S. für weitere Nachw. unten Fn.  76. 45  BVerfGE 115, 118; dazu krit. Baldus, Kämpfe um die Menschenwürde, 201–206, s. für um­ fangr. Nachw. pro und contra seine Anm.  92, 376–380. 46  BVerfGE 115, 118 (119, 151–160) – Luftsicherheitsgesetz I; s. dazu auch Kaiser, Ausnahmever­ fassungsrecht, 202, 282, 326–330 mwN. auch zur Gegenansicht, die u. a. das Argument des „Bürger­ opfers“ stark macht. 47  BVerfGE 115, 118 (154); kritisch gegenüber der Einordnung von Passagieren und Besatzung als bloße Objekte Poscher, Menschenwürde, § 17 besonders Rn. 91–96. 48  BVerfGE 115, 118 (158, ähnlich schon 152). 49  BVerfGE 115, 118 (160–165).

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Wer, wie diejenigen, die ein Luftfahrzeug als Waffe zur Vernichtung menschlichen Lebens missbrauchen wollen, Rechtsgüter anderer rechtswidrig angreift, wird nicht als bloßes Objekt staatlichen Handelns in seiner Subjektqualität grundsätzlich in Frage gestellt […], wenn der Staat sich gegen den rechtswidrigen Angriff zur Wehr setzt und ihn in Erfüllung seiner Schutz­ pflicht gegenüber denen, deren Leben ausgelöscht werden soll, abzuwehren versucht. Es ent­ spricht im Gegenteil gerade der Subjektstellung des Angreifers, wenn ihm die Folgen seines selbstbestimmten Verhaltens persönlich zugerechnet werden und er für das von ihm in Gang gesetzte Geschehen in Verantwortung genommen wird. Er wird daher in seinem Recht auf Achtung der auch ihm eigenen menschlichen Würde nicht beeinträchtigt.50

Bekanntlich wurde das in dieser Konstellation zutage tretende Dilemma, das darin liegt, dass möglicherweise eine noch weitaus höhere Zahl unschuldiger Menschen den Terroristen zum Opfer fällt, sofern diese ihr Ziel erreichen, von Ferdinand von Schirach auch zum Gegenstand seines mit großem Erfolg aufgeführten Theaterstücks „Terror“ gemacht, in dem die Theaterzuschauer am Ende das Urteil über den Piloten eines Kampfflugzeugs fällen, der eine von Terroristen gekaperte Passagiermaschine gegen den Befehl seines Vorgesetzten abschießt und dadurch in letzter Minute ver­ hindert, dass sie in ein voll besetztes Fußballstadion stürzt. Bei solchen existenziel­ len, auf die Menschenwürde fokussierten Konflikten wird die Standhaftigkeit des Rechtsstaats in der denkbar schmerzhaftesten Weise auf die Probe gestellt. Man den­ ke nur an die berühmten „ticking-bomb“-Szenarien, in denen der Schutz der Men­ schenwürde den Einsatz von Folter gegen einen Verbrecher auch dann verbietet, wenn dies das Leben vieler unschuldiger Menschen retten könnte. Glücklicherweise sind diese Szenarien der sog. ‚Rettungsfolter‘ meist hypotheti­ scher Natur. Der Fall Magnus Gäfgen zeigt aber, dass diese Fragen auch praktische Relevanz erlangen können. Gäfgen, der seinen Namen mittlerweile geändert hat, wur­ de im Jahr 2003 wegen der Entführung und Ermordung des elfjährigen Ban­k ierssohns Jakob v. Metzler zu lebenslanger Haft verurteilt. In der polizeilichen Vernehmung hat­ te der damalige Frankfurter Polizeivizepräsident Daschner angeordnet, dass eine Aussage zum Aufenthaltsort des Entführungsopfers ggf. auch durch Androhung von Gewalt erzwungen werden solle, da er hoffte, das Kind so noch retten zu können. Er wusste nicht, dass der Junge zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr lebte. Gäfgen gab den Fundort der Leiche daraufhin tatsächlich preis. Daschner und der die Anordnung ausführende Polizeibeamte mussten sich später strafrechtlich verantworten und wur­ den zu Geldstrafen verurteilt. Der Fall hatte u. a. auch ein Nachspiel vor dem Europä­ ischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR). Die – von der großen Kammer des EGMR bestätigte51 – Quintessenz dieses Falles ist, dass der Staat von der Unantastbar­ 50 

BVerfGE 115, 118 (161). Unter Hinweis darauf, dass die deutschen Gerichte eine Verletzung von Art.  3 EMRK (Verbot der Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung) ja bereits anerkannt hätten und auch die verantwortlichen Polizeibeamten strafrechtlich verurteilt worden seien, sprach der EGMR dem Entführer Gäfgen den Opferstatus iSd Art.  34 S.  1 EMRK zunächst ab, s. EGMR Nr.  22978/05, Urt. v. 30.6.2008 – Gäfgen ./. Deutschland, Rn.  75–82, zusf. Rn.  82. Die gegen diese Entscheidung angerufene große Kammer des EGMR entschied hingegen, dass die Gewaltandrohung zwar keine 51 

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keit der Menschenwürde auch in Konstellationen wie der sog. ‚Rettungsfolter‘ nicht abrücken darf, wenn er nicht seine eigenen Fundamente zum Einsturz bringen will. Das in einer solchen extrem seltenen Ausnahme­situation auftretende Dilemma ist also letztlich (verfassungs-)rechtlich nicht auflösbar.52 Umgekehrt ist aber auch nicht alles, was einen Menschenwürdebezug aufweist, durch die das ‚Unverfügbare‘ sichernde Unantastbarkeitsgarantie geschützt. Um hier die erforderlichen Differenzierungen vornehmen zu können, soll noch einmal ein genauerer Blick auf die unterschiedlichen Dimensionen des Menschenwürdesatzes geworfen werden.

IV. Unterschiedliche Funktionen und Dimensionen des Art.  1 Abs.  1 GG unter dem Fokus der ‚Unverfügbarkeit‘ der Menschenwürde Die staatskonstitutive Bedeutung des Art.  1 Abs.  1 GG wurde oben unter II. bereits angesprochen: Als Staatsfundamentalnorm53 steht Art.  1 Abs.  1 GG für die Grundent­ scheidung, die neue verfassungsrechtliche Ordnung des Grundgesetzes in dezidierter Abgrenzung zu den grauenvollen, die Grundlagen menschlicher Zivilisation erschüt­ ternden Verbrechen der NS-Diktatur in der Würde des Menschen zu gründen.54 Der Garantie der Menschenwürde in Art.  1 Abs.  1 S.  1 GG kommt damit eine Schlüsselrol­ le zu: Sie hebt diese Verfassung von ihren Vorläufern ab und markiert im Ringen um die Neukonstituierung bundesrepublikanischer Staatlichkeit einen Neuanfang.55 Folter, aber eine gleichfalls durch Art.  3 EMRK verbotene unmenschliche Behandlung gewesen sei, EGMR Nr.  22978/05, Urt. v. 1.6.2010 – Gäfgen ./. Deutschland, abgedruckt in: Neue Juristische Wo­ chenschrift 2010, 3145–3150, hier: Leitsatz 2 u. Rn.  107 f. Gäfgen könne auch noch geltend machen, Opfer eines Verstoßes gegen Art.  3 EMRK zu sein, denn die Opferstellung iSd Art.  34 EMRK sei insb. aufgrund der geringen Strafen für die verantwortlichen Polizeibeamten und des von Gäfgen angestrengten und noch nicht in der Sache entschiedenen Amtshaftungsprozesses nicht entfallen (a. a. O., Leitsatz 3 u. Rn.  115–130). Im Übrigen konnte Gäfgen mit seiner Rechtsansicht, dass auch sein durch Art.  6 EMRK garantiertes Recht auf ein faires Verfahren verletzt sei, aber auch vor der großen Kammer des EGMR nicht durchdringen, da die Verurteilung sich auf ein neues Geständnis von ihm gestützt hatte (a. a. O., Leitsatz 4 u. Rn.  162–188). 52  Dazu grundlegend Kaiser, Ausnahmeverfassungsrecht, die für eine weitgehende Verrechtli­ chung der Krise plädiert, die Krisenregelungen des Grundgesetzes ebenso analysiert wie die Rspr. des BVerfG, aber auch auf die wenigen Ausnahmen eingeht, in denen eine Verrechtlichung aus­ scheidet. Dazu zählt u. a. die sog. Rettungsfolter, s. S.  125, 314–319, oder der Abschuss eines sog. Renegade-Flugzeugs, S.  201–205, 236 f., 282 u. pass., s. zusammenfassend zu solchen Konstellatio­ nen, in denen ggf. der Einzelne gefordert ist, sich anschließend aber strafrechtlich verantworten muss, S.  359–364. 53  Die Bezeichnung als „Staatsfundamentalnorm“ geht auf Nawiasky, Allgemeine Rechtslehre als System der rechtlichen Grundbegriffe, 33, zurück. Hasso Hofmann spricht, um das Prozesshafte des Staatsgründungsvorgangs zu betonen, von ,,Staatsfundamentierungsnorm“ s. Hofmann, Die versprochene Menschenwürde, 119. 54 Dazu Baldus, Kämpfe um die Menschenwürde, 21 f., 28, 35, 41, 57 f., 81 u. pass. mit Zitaten aus dem Parlamentarischen Rat u. mwN. 55 Dazu Siehr, Das Recht am öffentlichen Raum. Theorie des öffentlichen Raumes und die räumliche Dimension von Freiheit, 495 mwN.

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Die Menschenwürdenorm des Art.  1 Abs.  1 S.  1 GG stellt, wie schon erwähnt, eine Reaktion auf die historischen Unrechtserfahrungen dar und schützt als Eingriffs­ abwehrrecht56 gegen Folter und andere fundamentale Rechtsverletzungen, um so den erreichten rechtskulturellen Standard gegen (weitere) eklatante Tabubrüche zu si­ chern. Darin erschöpft sich die fundamentale Bedeutung des Art.  1 Abs.  1 GG für die freiheitliche Ordnung des Grundgesetzes aber nicht, sondern sie besitzt darüber ­hinausgehend eine dreifache Funktion:57 Erstens steht der Menschenwürdesatz als Staatsfundamentalnorm im Zentrum ei­ nes Gründungsvorgangs,58 den Hasso Hofmann wie folgt charakterisiert: Die „in der Präambel als Subjekte des Verfassungswerkes auftretenden Teilhaber der verfassung­ gebenden Gewalt des Deutschen Volkes“ gründen diesen Staat um der Würde des Menschen willen auf die gegenseitige Anerkennung als prinzipiell in glei­ cher Weise freie und in gleicher Weise würdige Mitglieder des Gemeinwesens – unbeschadet aller sonstigen Unterschiede.59

Daraus folgt zweitens, dass das auf einem wechselseitigen Versprechen der Teilhaber der verfassunggebenden Gewalt beruhende Grundgesetz den Geist eines republika­ nischen Verständnisses von Volkssouveränität atmet, nach dem das Recht der Selbst­ regierung, ganz im Sinne von Alexis de Tocqueville, auf dem Prinzip der Selbstbe­ stimmung des Einzelnen als Mensch und Bürger beruht.60 So wird auch eine Brücke zwischen dem Prinzip der Volkssouveränität und dem im Menschenwürdesatz ver­ ankerten Autonomieprinzip geschlagen und die beiden Legitimationsstränge des Grundgesetzes, also der individuell-freiheitliche und der egalitär-demokratische, finden zusammen. Freiheit als archimedischer Punkt dieser Verfassungsordnung meint somit individuelle und kollektive Selbstbestimmung. Und drittens enthält die Menschenwürdegarantie des Art.  1 Abs.  1 GG im Kern auch bereits die Menschen­ rechtsidee,61 auf die dieser Staat sich gründet. Die Menschenwürde weist insbesondere einen starken Bezug zum Gleichheitssatz auf, der sich mit dem Autonomieprinzip im Grundprinzip der gleichen Freiheit aller verbindet. Folglich muss sich das von Hofmann betonte Moment der „gegenseitige[n] 56 

Darauf wird noch zurückzukommen sein, s. unten bei Fn.  70. S. dazu schon Siehr, Das Recht am öffentlichen Raum, 496–498 mwN. 58 Dazu Hofmann, Die versprochene Menschenwürde, bes. 117: Es gehe bei der Fundamen­ talnorm des Art.  1 Abs.  1 GG um mehr und etwas anderes als „bloße Proklamation eines allgemei­ nen Prinzips oder Artikulation eines kollektiven Wertbewußtseins“, nämlich um „Einigung des Willens in Gründungsabsicht“. 59  Hofmann, Die versprochene Menschenwürde, 119. 60  Tocqueville, Democracy in America (1835 u.d.T. De la démocratie en Amérique), hier zit. nach d. engl. Fassung, hrsg. v. Bender, New York 1981, Kap. XIX, 277 f.: „In the United States the sovereignty of the people is not an isolated doctrine, bearing no relation to the prevailing habits and ideas of the people; it may, on the contrary, be regarded as the last link of a chain of opinions which binds the whole Anglo-American world. That Providence has given to every human being the degree of reason necessary to direct himself in the affairs that interest him exclusively is the grand maxim upon which civil and political society rests in the United States.“ 61  Dazu eingehend Stern, Menschenwürde als Wurzel der Menschen- und Grundrechte, pass. 57 

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Anerkennung unserer menschlichen Achtungsansprüche“62 inhaltlich in der Tat auf die Anerkennung als „in gleicher Weise freie und in gleicher Weise würdige Mitglie­ der des Gemeinwesens“ beziehen. Umgekehrt ist aber auch bei den Einzelgrundrech­ ten nicht ohne Grund von ihrem ‚Menschenwürdekern‘ die Rede. Dieser innere Zu­ sammenhang wird äußerlich stabilisiert, indem Art.  1 Abs.  3 GG explizit alle drei Staatsgewalten an die nachfolgenden Grundrechte als unmittelbar geltendes Recht bindet. Bezogen auf die skizzierte Verbindung zwischen Menschenwürde und Menschenbzw. Grundrechten zeigt sich, dass die Menschenwürdenorm des Art.  1 Abs.  1 GG wiederum zwei unterschiedliche Dimensionen besitzt: Zum einen geht es um das mit Art.  1 Abs.  1 S.  1 GG gesetzte Axiom, dass der Mensch als Mensch mit dem Recht auf Selbstbestimmung63 ausgestattet und damit von Rechts wegen sein eigener Herr ist. Zum anderen bedeuten Achtung und Schutz der Menschenwürde, dass alle staatliche Gewalt nach Art.  1 Abs.  1 S.  2 GG zur Wahrung der Subjektqualität des Einzelnen64 durch Schutz vor Verletzungen der körperlichen und seelischen Identität und Integ­ rität verpflichtet ist. Kurz gesagt, sind damit die Aspekte von Schutz und Freiheit angesprochen.65 Ohne Schutz der körperlichen und seelischen Identität und Integrität des Einzel­ nen ist keine freie Selbstbestimmung möglich; Freiheit setzt also den Schutz des au­ tonomen Subjekts, der Personhaftigkeit des Menschen, voraus. Beide Aspekte wur­ zeln im Grundgedanken individueller Autonomie. Dies spiegelt sich umgekehrt auch darin, dass alle zur positiven Begründung der Menschenwürde herangezogenen The­ orien – zumindest auch – auf das Autonomieprinzip rekurrieren: Dies gilt nicht nur für die – hier in der Variante der Versprechenstheorie vorgestellten – Kommunika­ tions- oder Anerkennungstheorien, sondern auch für die Wert- oder Mitgifttheorien, die auf die dem Menschen im Sinne seiner Gottesebenbildlichkeit von Gott oder aber von der Natur mitgegebenen Eigenschaften bzw. die ihn auszeichnende besondere Qualität seiner Vernunftbegabung und der Fähigkeit zur Selbstbestimmung abstel­ len.66 Schließlich betrifft es aber auch die Leistungstheorien, die Würde als Ergebnis eines gelingenden Prozesses individueller Identitätsbildung und Selbstdarstellung 62  Hofmann, Die versprochene Menschenwürde, 120. Das nachfolgende Zitat findet sich auf S.  119. 63  Diese Idee prägt seit der Rede „De dignitate“ des Florentiners Pico della Mirandola (mit Aus­ nahme der NS-Zeit) die europäische Geistesgeschichte, s. Hofmann, Die versprochene Menschen­ würde, 109 mit Fn.  23; allg. Enders, Die Menschenwürde in der Verfassungsordnung, 11, 147, 491– 496, 499 u. pass. Zum Zusammenhang zwischen Selbstbestimmung und Würde auch von der Pfordten, Some Remarks on the Concept of Human Dignity, 13–23, hier: 20 f.; ders., The rise of human dignity, 217–229, hier: 225–227; ders., Menschenwürde, 54–65. 64 Zu der für Art.   1 Abs.  1 GG entscheidenden Subjektqualität des Individuums eingehend ­Enders, Die Menschenwürde in der Verfassungsordnung, 18 f., 383 f., 391 f., 400, 427, 492–498 u. pass., jeweils mwN., der (ebd., S.  18 mit Fn.  93) deutlich macht, dass es sich dabei um einen von allen konsentierten Fixpunkt handelt. 65  S. dazu Siehr, Die Deutschenrechte des Grundgesetzes, 53–65. 66  S. dazu Dreier, in: ders. (Hg.), GG, Art.  1 I Rn.  57; zum Folg., ebd., Rn.  58, jeweils mwN.

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sehen: Somit beruhen auch diese Mitgift- und Leistungstheorien „letztlich beide auf dem Prinzip der Personhaftigkeit des Menschen, der Subjektivität des Individuums und d. h.: auf dem Prinzip der Autonomie des einzelnen.“67 Wie die im Kern schon durch Art.  1 Abs.  1 GG geschützte Autonomie dann bezo­ gen auf unterschiedliche Lebensbereiche – sei es der Beruf, die Religion oder die Fa­ milie – gewährleistet ist und vor welchen Verletzungen der körperlichen und psychi­ schen Integrität der Einzelne zu schützen ist, wird in den nachfolgenden Grundrech­ ten konkretisiert.68 Das bedeutet jedoch nicht, dass die Einzelgrundrechte aus dem abstrakten Prinzip der Menschenwürde deduziert werden könnten. Vielmehr wurde der Autonomiegedanke hier jeweils in einem ganz spezifischen historischen Kontext und in Abhängigkeit von den konkreten Unrechts- und Verletzungserlebnissen, auf die diese Grundrechte reagierten, näher ausgeformt und diese durch den Entste­ hungszusammenhang, konkrete Vorbilder und weitere Faktoren geprägten besonde­ ren Merkmale der jeweiligen Grundrechte ergeben sich natürlich nicht aus dem abs­ trakten Prinzip selbst. Gleichwohl weisen diese Grundrechte, indem sie nun für be­ stimmte Lebensbereiche das Autonomieprinzip näher ausbuchstabieren, alle einen Menschenwürdebezug auf. Dieser Menschenwürdebezug der Grundrechte markiert aber eben nicht jenen Be­ reich, in dem die Menschenwürde als ‚unverfügbar‘ gilt und nach Art.  1 Abs.  1 S.  1 GG als „unantastbar“ geschützt ist. Ganz im Gegenteil finden hier bei Grundrechts­ eingriffen im Rahmen der Prüfung der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne die üblichen Abwägungen statt, der Schutz ist also nur relativ. Anders sieht es erst bei der Wesensgehaltsgarantie des Art.  19 Abs.  2 GG aus; danach darf „ein Grundrecht in keinem Fall in seinem Wesensgehalt angetastet werden“. Dieser Wesensgehalt ist nach zutreffender Ansicht absolut (und nicht im Sinne erneuter Abwägungen nur relativ) zu bestimmen,69 denn hier geht es um den oben schon kurz erwähnten ‚Menschenwürdekern‘ des jeweiligen Grundrechts. In Art.  19 Abs.  2 GG taucht dann auch wieder – nicht ganz zufällig – das in der Formulierung stark an die ‚Unantast­ barkeit‘ im Sinne von Art.  1 Abs.  1 S.  1 GG erinnernde ‚Antastungsverbot‘ auf. Ein erstes Zwischenergebnis lautet somit, dass der Menschenwürdebezug der Grundrechte von der ‚Unverfügbarkeit‘ der Menschenwürde zu unterscheiden ist. Der Gedanke der ‚Unverfügbarkeit‘, der über den Begriff der ‚Unantastbarkeit‘ den absoluten Schutz der Würde trägt, materialisiert sich vielmehr erst wieder bei der Schranken-Schranke der Wesensgehaltsgarantie des Art.  19 Abs.  2 GG und der We­ sensgehalt ist dann in der Tat absolut zu bestimmen. 67 

Hofmann, Die versprochene Menschenwürde, 109. Enders, Die Menschenwürde in der Verfassungsordnung, 499 f., s. a. 501–509: „Men­ schenwürde: ein Recht auf Rechte“; s. a. ders., Würde- und Lebensschutz im Konfliktfeld von Bio­ technologie und Fortpflanzungsmedizin?, 666–674, hier: 667; a. A. Herdegen, in: Dürig/Herzog/ Scholz (Hg.), GG, Art.  1 I Rn.  22. 69  Dazu jetzt auch Kaiser, Ausnahmeverfassungsrecht, 238–241 (dort insbes. auch zum Begriff der Unantastbarkeit) u. 279–282 zur Problematik einer relativen Auslegung des Wesensgehalts. 68 Vgl.

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Wie sieht es nun aber hinsichtlich der Frage der Unverfügbarkeit aus, wenn man allein die Menschenwürdenorm des Art.  1 Abs.  1 GG als solche betrachtet? Zunächst einmal muss hier zwischen ihrer objektiv-rechtlichen Dimension und ihrer subjek­ tiv-rechtlichen Geltung unterschieden werden. Die objektiv-rechtliche Dimension des Art.  1 Abs.  1 GG ist unstreitig. Nach weit verbreiteter, wenn auch nicht unbestrit­ tener Ansicht beinhaltet Art.  1 Abs.  1 GG jedoch zusätzlich auch ein Grundrecht.70 Der Schutzbereich des Eingriffsabwehrrechts aus Art.  1 Abs.  1 GG kann aber – an­ ders als der schon angesprochene Menschenwürdebezug der nachfolgenden Grund­ rechte – nicht über die positive, auf das Autonomieprinzip fokussierte Dimension der Menschenwürde bestimmt werden, sondern allein aus einer negativen Definition des Verletzungstatbestandes heraus.71 Die Fragestellung ist hier also allein die, wann die Menschenwürde verletzt ist und dies wird ganz herrschend über die von Günter Dürig im Anschluss an Josef Wintrich formulierte sog. Objektformel beantwortet.72 Sie besagt, dass der Einzelne nicht zum Objekt staatlichen Handelns gemacht werden darf und geht auf die ethischen Maximen Immanuel Kants, namentlich auf das Inst­ rumentalisierungsverbot, zurück.73 Würdeverletzende Handlungen werden in Rechtsprechung und Literatur einerseits durch Formulierungen wie „Erniedrigung, Brandmarkung, Verfolgung, Ächtung“ umschrieben.74 Andererseits werden sie an­ hand von Fallgruppen veranschaulicht, die u. a. das Folterverbot, Menschenversuche, körperliche Strafen, Sklaverei oder Aussagezwang umfassen.75 70  Für die Bejahung des Grundrechtscharakters Höfling, in: Sachs (Hg.), GG, Art.  1 Rn.  5 –7; Herdegen, in: Dürig/Herzog/Scholz (Hg.), GG, Art.  1 I Rn.  29; Jarass, in: Jarass/Pieroth (Begr.), GG, Art.  1 Rn.  3; Dreier, in: ders. (Hg.), GG, Art.  1 I Rn.  121–127, jeweils mwN.; a. A. Enders, Die Menschenwürde in der Verfassungsordnung, 91–126 mwN. 71  S. zu diesen beiden Dimensionen des Art.  1 Abs.  1 GG Siehr, Die Deutschenrechte des Grund­ gesetzes, 53–65 mwN. 72  BVerfGE 9, 89 (95); 27, 1 (6); 28, 386 (391); 45, 187 (227 f.); 50, 166 (175); 72, 105 (116); 96, 375 (399); 109, 133 (149 f.); 109, 279 (311 f.); 117, 71 (89). Wintrich, Über Eigenart und Methode verfas­ sungsgerichtlicher Rechtsprechung, 227–249, hier: 231 f., hatte sie in Bezug auf Art.  100 BayVerf entwickelt. Bekannt wurde sie jedoch erst durch Dürig, Menschenwürde, 127 f. Krit., auch zur De­ finition vom Verletzungstatbestand her, Enders, Die Menschenwürde in der Verfassungsordnung, 20–22, 92, 156–159, 385–388, 497 f. 73  S. Hofmann, Die versprochene Menschenwürde, 110; Kersten, Klonen, 408–425; Herdegen, in: Dürig/Herzog/Scholz (Hg.), GG, Art.  1 I Rn.  36; Dreier, in: ders. (Hg.), GG, Art.  1 I Rn.  55 mwN.; krit. Hilgendorf, Die mißbrauchte Menschenwürde, 137–158, hier: 141–147. Vertiefend zu Kant: von der Pfordten, Zur Würde des Menschen bei Kant, 9–26. 74  Diese Formulierung hat das BVerfG bereits 1951 geprägt, vgl. BVerfGE 1, 97 (104); s. dazu Enders, in: Friauf/Höfling (Hg.), BKGG, Art.  1 Rn.  53; Herdegen, in: Dürig/Herzog/Scholz (Hg.), GG, Art.  1 I Rn.  37. 75 S. Enders, in: Friauf/Höfling (Hg.), BKGG, Art.  1 Rn.  53 u. 89–103 zu Fallgruppen wie Sklave­ rei, Aussagezwang und Folter. Hufen, Erosion der Menschenwürde?, 313–318, hier: 317, macht deutlich, dass die Objekt-Formel vor allem ein Bollwerk gegen den befürchteten Rückfall in die Nazi-Barbarei errichten soll. Hofmann, Die versprochene Menschenwürde, 113, differenziert zwi­ schen der durch Art.  1 Abs.  1 GG garantierten prinzipiellen rechtlichen Gleichheit aller Menschen, der durch die Würdenorm geforderten Wahrung der menschlichen Subjektivität durch Schutz der körperlichen und seelischen Identität und Integrität (bspw. durch das Folterverbot) und dem aus Art.  1 Abs.  1 GG folgenden Gebot der Sicherung eines menschenwürdigen Existenzminimums.

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Im Ergebnis spricht deutlich mehr für als gegen den Grundrechtscharakter, zumal die von Art.  1 Abs.  1 S.  1 GG statuierte ‚Unantastbarkeit‘ der Menschenwürde und der damit verbundene Anspruch eines absoluten Schutzes noch deutlich besser ge­ währleistet ist, wenn der Einzelne Würdeverletzungen auch subjektiv-rechtlich gel­ tend machen kann, er sich insoweit also auf ein justitiables Grundrecht berufen kann. Wichtig ist allerdings, dass dieser grundrechtliche Schutz auf solche Ausnahmekonstellationen begrenzt bleibt, die vom Gewicht her den gravierenden Unrechtsund Verletzungserlebnissen entsprechen, die zur Verankerung der Würdenorm ge­ führt haben, d. h. sie muss vor einer inflationären Inanspruchnahme als Grundrecht geschützt werden. Als zweites Zwischenergebnis ist also zu resümieren, dass über das aus Art.  1 Abs.  1 GG folgende Grundrecht auch der Gedanke der ‚Unverfügbarkeit‘ der Menschen­ würde umgesetzt wird, denn vom Schutzbereich dieses Grundrechts ist überhaupt nur das erfasst, was unter keinen Umständen zur Disposition des Staates steht und aus eben diesem Grund auch als „unantastbar“ gilt. Auf diese Weise wird ein Mini­ malstandard des rechtskulturell Erreichten gegen den Rückfall in die Barbarei ge­ sichert und jeder staatlichen Disposition als ‚unverfügbar‘ entzogen. Erst hier macht das Verbot jeder Abwägung Sinn.76 Die besondere und dieses Grundrecht von allen anderen Grundrechten unterscheidende grundrechtsdogmatische Konsequenz ist daher die, dass jeder Eingriff zugleich eine Verletzung des Grundrechts darstellt, eine Rechtfertigung des Eingriffs also ausgeschlossen ist. Genau dies ist mit der Formulie­ rung gemeint, dass Art.  1 Abs.  1 GG ‚abwägungsfest‘ ist: Soweit der – allerdings sehr eng zu ziehende – Schutzbereich dieses Grundrechts tatsächlich eröffnet ist, ist jede Form der Relativierung durch Abwägungen ausgeschlossen; der Schutz aus Art.  1 Abs.  1 GG gilt absolut und sichert damit die ‚Unverfügbarkeit‘ der Würde. Bezogen auf dieses Moment der ‚Unverfügbarkeit‘ ergibt sich, wenn man die Be­ sonderheiten vorgeburtlichen menschlichen Lebens zunächst einmal ausklammert, wohl ein Gleichlauf zwischen der Reichweite der subjektiv-rechtlichen und der objek­ tiv-rechtlichen Dimension der Menschenwürde: Es ist keine Fallgruppe erkennbar, in der etwas über Art.  1 Abs.  1 GG objektiv-rechtlich als „unantastbar“ und damit absolut geschützt wird, was nicht auch subjektiv-rechtlich einklagbar wäre. Tatsäch­ lich reicht – und dies darf als drittes Zwischenergebnis gelten – die objektiv-rechtliche 76  S. BVerfGE 93, 266 (293): ,,[…] denn die Menschenwürde als Wurzel aller Grundrechte ist mit keinem Einzelgrundrecht abwägungsfähig“; E 109, 279 (314, Rn.  121): „Dieser Schutz darf nicht durch Abwägung […] relativiert werden“; s. a. die in E 130, 1 (22, Rn.  99) aufgelistete Rspr. Aus der Lit. statt vieler Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Begr.), GG, Art.  1 Rn.  34; Dreier, in: ders. (Hg.), GG, Art.  1 I Rn.  46, 130, jeweils mwN.; s. a. die zahlr. Nachw. zu dieser Position bei Baldus, Menschenwürdegarantie und Absolutheitsthese, 530 f. mit Fn.  1–5, der es aber für ungeklärt hält, ob dies noch die „‚völlig h. M.‘“ sei, s. S.  535 u. für Nachw. zur Gegenansicht S.  532–536. Zu einer i. E. relativen Konstruktion der Menschenwürde gelangt u. a. Alexy, Menschenwürde und Verhältnis­ mäßigkeit, 497–513. S. für einen Überblick über die (von ihm sehr kritisch gesehenen) relativisti­ schen Argumentationen Isensee, Menschenwürde: die säkulare Gesellschaft auf der Suche nach dem Absoluten, 173–218, hier: 194–199.

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Wirkung über die subjektiv-rechtliche Geltung der Menschenwürde wohl nur in ih­ rer relativen, also Abwägungen zugänglichen Bedeutung hinaus. Insofern ist die Feststellung, dass die Menschenwürdenorm „Relatives und Absolutes“ enthalte,77 prinzipiell zutreffend, wenn man Art.  1 Abs.  1 GG insgesamt in den Blick nimmt. Die herrschende Meinung bezieht sich mit dem Abwägungsverbot aber eben ausschließ­ lich auf jenen Teil, der aus den oben dargestellten Gründen absoluten Schutz verlangt oder anders ausgedrückt: auf das ‚Unverfügbare‘. Eine durch Abwägungen relativierbare Wirkung hat die objektive Dimension des Art.  1 Abs.  1 GG hingegen immer dann, wenn von seiner Ausstrahlungswirkung die Rede ist. Seit der berühmten Lüth-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts78 ist anerkannt, dass die auch als objektive Wertordnung verstandenen Grundrechte – samt ihres Menschenwürdebe­ zugs – auf das gesamte einfache Recht ausstrahlen und dies gilt selbstverständlich auch für die Menschenwürde selbst als „obersten Wert“79. Es bleibt damit noch ein letzter Punkt zu klären, der allerdings nur kursorisch behandelt werden kann: Welches Gewicht kommt dem Argument der Unverfügbar­ keit der Menschenwürde im Rahmen der Kontroversen um die sich durch den tech­ nischen Fortschritt neu eröffnenden Möglichkeiten in bestimmten Grenzbereichen des menschlichen Lebens unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten zu? Ent­ sprechen ihm tatsächlich absolut geltende verfassungsrechtliche Grenzen, die den Gesetzgeber ggf. dazu zwingen, bestimmte Maßnahmen zu verbieten? Diesen Fragen soll im Folgenden am Beispiel der Reproduktionsmedizin nachgegangen werden.80 77  Bäcker, Begrenzte Abwägung. Das Menschenwürdeprinzip und die Unantastbarkeit, 433–460, hier: 459 f. Diese Doppelstruktur erkläre, warum Art.  1 Abs.  1 GG trotz der Unantastbarkeitsklausel einer Abwägung zugänglich sein könne, s. S.  455–458, s. für seine Differenzierung zwischen ,,Abwä­ gungsfähigkeit“ und „Abwägungszulässigkeit“ S.  444 f., 451 f., 454, 457 f. u. pass.: Zwar sei die Men­ schenwürde grundsätzlich abwägungsfähig, doch ziehe das GG um einen bestimmten Bereich den besonderen Schutzwall des Abwägungsverbots. Sei ein Eingriff im konkreten Fall von hinreichend hoher Intensität, so löse er den absoluten Schutz der Unantastbarkeitsregel aus. Umgekehrt bedeute das aber, dass entgegen der h. M. nicht jeder Eingriff in die Menschenwürde auch eine Verfassungsver­ letzung darstelle. M.E. müssen die Differenzierungen zwischen „Absolutem“ und „Relativem“, wie oben unter IV., insb. bei Fn.  63–77, dargestellt, in anderer Weise vorgenommen werden: Es geht um unterschiedliche Dimensionen der Menschenwürde, die unterschiedlichen verfassungsrechtlichen Vorgaben folgen. Während die in den „nachfolgenden Grundrechte[n]“ (Art.  1 Abs.  3 GG) näher aus­ geformte positive Dimension des in der Menschenwürde wurzelnden Autonomieprinzips relativierbar und somit auch einschränkbar ist (Bäcker spricht insoweit zutreffend von der Menschenwürde als „Prinzip“, ebd., 454–458 u. pass.), unterliegt die negative Definition aus dem Verletzungstatbestand des Art.  1 Abs.  1 GG heraus einem strikten Abwägungsverbot: Jeder Eingriff in diesen absolut ge­ schützten Bereich, der in Rspr. u. Literatur durch die Bildung einiger weniger (aber im Hinblick auf neue Bedrohungen erweiterungsfähiger) Fallgruppen konkretisiert wurde, stellt eine Menschenwür­ deverletzung dar, ohne dass angesichts dieser kategorialen Zuordnung zuvor noch nach der Intensität des Eingriffs im konkreten Fall gefragt werden müsste. So stellt eben auch die bloße Androhung von Folter, wie der Fall Gäfgen zeigt (s. o. bei Fn.  51), eine Menschenwürdeverletzung dar. 78  BVerfGE 7, 198 (207, 212) – Lüth, st. Rspr., s. bezogen auf Art.  5 Abs.  1 S.  1 GG auch BVerfGE 107, 275 (280 f., Rn.  18 mwN.) – Schockwerbung II. 79  S. auch oben Fn.  41. 80  Dies kann hier nur in aller Kürze dargestellt werden, s. ausführlicher Siehr, Regulierungsauf­ trag für den Staat im Bereich der Fortpflanzungsmedizin?, 411, 414–435.

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V. Die Unverfügbarkeitsthese in Grenzbereichen des menschlichen Lebens am Beispiel der Reproduktionsmedizin Fragt man nach der Bedeutung der Unverfügbarkeitsthese für die Regulierung der Reproduktionsmedizin, so muss man drei Fragen voneinander trennen: Die erste Frage zielt darauf, wie der Begriff der ‚Unverfügbarkeit‘ inhaltlich zu bestimmen ist und welche dieser Bedeutungsgehalte über die Menschenwürdenorm des Art.  1 Abs.  1 als „unantastbar“ geschützt werden. Anders gefragt: Welche Bestandteile des sich aus ganz unterschiedlichen Quellen speisenden Würdekonzepts sind auch zum rechtsdogmatischen Gehalt der Menschenwürdenorm des Art.  1 Abs.  1 GG zu rech­ nen? Die zweite Frage betrifft das Subjekt der Würdenorm: Kann der extrakorporale Embryo bereits im gleichen Sinne als Träger der Menschenwürde gelten wie der ge­ borene Mensch? Ab welchem Zeitpunkt steht menschliches Leben unter dem Schutz des Art.  1 Abs.  1 GG? Sofern der extrakorporale Embryo bereits durch Art.  1 Abs.  1 GG geschützt sein sollte, so richtet sich die dritte Frage auf die Art und Weise (absolut oder relativ) und den Gegenstand dieses Schutzes, d. h. es ist zu klären, ob mensch­ liches Leben in der Petri-Schale durch Art.  1 Abs.  1 GG in genau der gleichen Weise geschützt wird wie der geborene Mensch. Mit der ersten Frage wird nicht nur der interdisziplinäre Zugriff auf die Menschen­ würde adressiert, sondern sie hat auch Implikationen, die das Demokratieprinzip und andere verfassungsrechtliche Grundentscheidungen berühren. Die geistigen Grundlagen der Menschenwürde sind, wie bereits erwähnt, sehr vielfältig; bis in die griechische Antike zurückreichende philosophische Entwicklungslinien haben un­ ser heutiges Würdekonzept ebenso geprägt wie die christliche Begründungslinie, die auf die imago dei-Lehre rekurriert.81 Auf all dies kann hier nicht näher eingegangen werden. Zudem ist der Begriff der ‚Unverfügbarkeit‘ auch kein Rechtsbegriff, 82 son­ dern ein vieldeutiger und interdisziplinär anschlussfähiger Brückenbegriff. Wird er in den interdisziplinären Diskurs eingeführt, so lädt er sich, je nach disziplinärem Hintergrund, mit unterschiedlichen Bedeutungsgehalten auf: Jürgen Habermas hat, wenn er zu Manipulationen des humangenetischen Materials Stellung nimmt, eine andere Vorstellung von „Unverfügbarkeit“83 als etwa der Theologe Rudolf Bultmann, 81  Zu den geistigen Grundlagen der Menschenwürde (u. a. zur Lehre von der Gottesebenbildlich­ keit, zu Thomas v. Aquin, Pico della Mirandola, Pufendorf, Kant und Hegel) eingehend Enders, Die Menschenwürde in der Verfassungsordnung, 176–219 u. pass. mwN.; für einen Überblick P ­ oscher, Menschenwürde, § 17 Rn. 3–13; s. a. Starck, Menschenwürde als Verfassungsgarantie im modernen Staat, 459–461; Hofmann, Die versprochene Menschenwürde, bes. 108 f., 120 f.; s. zur philosophi­ schen Entwicklungslinie der Würdeidee, beginnend in der griechischen Antike auch von der Pfordten, Menschenwürde, 11–40; ders., The rise of human dignity, 217–224; speziell zu Kant s. ders., Würde des Menschen bei Kant, 9–26; s. zur christlichen Auffassung auch Huber, Das Ende der Person? Zur Spannung zwischen Ethik und Gentechnologie, 51–66, hier: 53: ,,Für den christli­ chen Glauben gründet das Personsein des Menschen darin, dass er von Gott angesprochen und da­ durch zur Antwort befähigt wird. Person ist der Mensch, weil er das Gott entsprechende Wesen ist.“ 82  Dazu oben bei Fn.  6. 83  S. dazu oben im Text bei Fn.  3.

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wenn er auf Martin Heidegger reagiert.84 Nicht alles, was – mit guten Gründen (!) – aus unterschiedlichen Perspektiven als ‚unverfügbarer‘ Teil der Menschenwürde be­ zeichnet wird, kann aber auch durch Art.  1 Abs.  1 GG als „unantastbar“ geschützt werden. Bereits aus dem Charakter des Art.  1 Abs.  1 GG als Staatsfundamentalnorm folgt, dass die Menschenwürdenorm hinsichtlich ihres absolut geschützten materialen ver­ fassungsrechtlichen Gehalts eher ‚sparsam‘ interpretiert werden sollte. Denn sie muss auch auf Dauer Stabilität, Zukunftsoffenheit und Vielfalt sichern können,85 was bei einer ausgreifenden, partikulare religiös-ethische Konzepte in Verfassungs­ recht überführenden Interpretation jedoch gefährdet wäre. Als Staatsfundamen­ talnorm – d. h. als die zentrale Norm, auf die wir unser Staatswesen gründen – ist sie Ausdruck des verfassungsrechtlichen Grundkonsenses bzw. des „overlapping con­ sensus“ im Sinne von John Rawls.86 Rawls meint damit, dass man sich auf den ratio­ nalen Kern unterschiedlicher, gleichermaßen legitimer Lehren konzentrieren und ihre miteinander unvereinbaren religiösen, philosophischen und moralischen Be­ gründungsstränge ausklammern muss.87 Überträgt man diesen Gedanken auf un­ sere Vorstellung vom verfassungsrechtlichen Grundkonsens, so geht es um die Schnittmenge unterschiedlicher Konzeptionen von Menschenwürde und damit im Ergebnis um die verfassungsrechtliche Stellung und den Schutz des autonomen Subjekts. Wie oben (unter IV.) vor dem Hintergrund der Differenzierung zwischen ver­ schiedenen Dimensionen der Menschenwürdenorm deutlich wurde, gilt der absolute Schutz im Sinne der Unantastbarkeit der Menschenwürde für ihre Definition aus dem Verletzungstatbestand heraus und ist auf besonders gravierende Würdeverlet­ zung begrenzt, die abstrakt über die sog. Objektformel bestimmt und durch die Bil­ 84 

Dazu oben im Text bei Fn.  31 f. allg. für das Grundgesetz Vosskuhle, Stabilität, Zukunftsoffenheit und Vielfaltssiche­ rung, 917–924. 86  Rawls hatte sich die folgende Frage gestellt: ,,Wie kann eine stabile und gerechte Gesellschaft freier und gleicher Bürger, die durch vernünftige und gleichwohl einander ausschließende religiöse, philosophische und moralische Lehren einschneidend voneinander getrennt sind, dauerhaft beste­ hen?“ Anders formuliert: ,,Wie können solche Lehren zusammen bestehen und dennoch alle diesel­ be politische Konzeption einer konstitutionellen Ordnung bejahen?“ S. für beide Zitate Rawls, Politischer Liberalismus, 14. 87  Rawls, Politischer Liberalismus, 219–265, insb. 223, 225–227, 231–238. Eingehend zum „over­ lapping consensus“ vernunftbegabter Subjekte auch ders., The Idea of an Overlapping Consensus, 421–448. Wahl, Die Rolle des Verfassungsrechts, 575 f., argumentiert ganz ähnlich im Hinblick auf Art.  1 Abs.  1 GG, wenn er darin geradezu „ein Exempel für die Einigkeit bloß in Ergebnissen, nicht aber in der Gesamtlehre […]“ sieht: „Konsentiert sind die Ergebnisse, nicht die Ursprungslehren.“ Denn Kants Lehre von der Selbstzweckhaftigkeit des Menschen unterscheide so sich stark von der christlichen Lehre von der Gottesebenbildlichkeit des Menschen, dass sie für Theologen zunächst nichts anderes als Blasphemie gewesen sei. Sie sei mit dieser erst in einem längeren Prozess für einen Teilbereich, das Verständnis der Menschenwürde, kompatibel gemacht worden und auch das nur partiell. „In diesem komplexen Prozess wurde der Gehalt der Menschenwürde als verfassungsrecht­ liches Konzept viel schmaler […] und keinesfalls so voll und inhaltsreich wie die ursprünglichen religiösen, ethischen oder philosophischen Vorstellungen“ (S.  576). 85  So

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dung von Fallgruppen (Verbot von Folter, Menschenversuchen o. Ä.) konkretisiert werden. Weitere Dimensionen der Menschenwürde, also insbesondere das dort ebenfalls verankerte Autonomieprinzip und die Ausstrahlungswirkung der Men­ schenwürde auf das gesamte einfache Recht, sind hingegen für Abwägungen offen, genießen also nur einen relativen Schutz. Allein der so umschriebene (teils absolute, teils relative) Schutz des autonomen Subjekts ist also Gegenstand der verfassungsrechtlichen Verbürgung des Art.  1 Abs.  1 GG, nicht hingegen die darüber hinausgreifenden Elemente der philosophischen und christlichen Traditionslinien der Würdeidee. Aber die entsprechenden Wertvor­ stellungen und die sich darauf gründenden Positionen zu konkreten Streitfragen können selbstverständlich im politischen Meinungskampf artikuliert werden und so auch die Gesetzgebung beeinflussen. Sie manifestieren sich aber nicht in absolut wir­ kenden Vorgaben oder Grenzen für den Gesetzgeber. Prämisse der Reduktion des verfassungsrechtlichen Gehalts der Staatsfundamentalnorm des Art.  1 Abs.  1 GG auf den gemeinsamen Grundkonsens ist ja gerade die Anerkennung des Umstandes, dass diese miteinander unvereinbaren moralischen Standpunkte alle gleichermaßen Legitimität beanspruchen können. Es stellt sicherlich „nicht die schlechteste Lösung dar, ihre Überzeugungskraft und Problemlösungskapazität bezogen auf drängende aktuelle Fragen, wie jetzt im Bereich der Fortpflanzungsmedizin, im parlamentari­ schen Prozess zu klären und über das Mehrheitsprinzip zu entscheiden.“88 Ein weiteres Argument, dass das hier gefundene Ergebnis stützt, wonach der allge­ mein konsentierte Kern des Art.  1 Abs.  1 GG allein der Schutz des autonomen Sub­ jekts ist, ergibt sich aus der sog. ‚Ewigkeitsgarantie‘ des Art.  79 Abs.  3 GG: Nach dieser Norm sind bekanntlich Änderungen des Grundgesetzes, durch welche die Gliede­ rung des Bundes in Länder, die grundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der Ge­ setzgebung oder die in den Artikeln 1 und 20 niedergelegten Grundsätze berührt werden, unzulässig. Alles, was unmittelbar aus der Menschenwürdenorm folgt und ihren absoluten Schutz genießt, ist somit in dem Sinne veränderungsfest, dass es auch dem Zugriff des verfassungsändernden Gesetzgebers entzogen und damit auch für ihn ‚unverfügbar‘ ist. Auch unter diesem Aspekt sollte man sich davor hüten, erst weitere Bestandteile von Würdekonzepten in Art.  1 Abs.  1 GG hineinzulesen, um aus dieser Norm dann wiederum ganz konkrete Vorgaben für die Behandlung hochkontrover­ ser Themen herauslesen zu können. Gerade die Menschenwürdenorm darf in einer pluralistischen Gesellschaft nicht durch partikulare Auffassungen vereinnahmt wer­ den, denn dies würde im Hinblick auf andere, gleichermaßen legitime Positionen eine Freiheitsgefährdung darstellen. Das Parlament sollte die Arena des politischen Meinungskampfes bleiben, zumal sich dann ggf. nach Neuwahlen auch andere Mehrheiten durchsetzen können. Die Festschreibung partikularer Positionen in der Menschenwürde käme hingegen vor dem Hintergrund der ‚Ewigkeitsklausel‘ des 88  Siehr, Regulierungsauftrag für den Staat im Bereich der Fortpflanzungsmedizin?, 420, s. a. 404–411 vertiefend zu den hier zusammengefassten Überlegungen.

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Art.  79 Abs.  3 GG einer Petrifizierung dieser Positionen gleich und würde so zugleich das Demokratieprinzip untergraben.89 Damit kommen wir zur zweiten Frage, die den Träger der Menschenwürdenorm in den Blick nimmt: Ab welchem Zeitpunkt steht menschliches Leben unter dem Schutz des Art.  1 Abs.  1 GG? Natürlich handelt es sich bei extrakorporalen mensch­ lichen Embryonen um menschliches Leben. Die Frage ist aber, ob diese artspezifische Qualifikation ausreicht, um auch den vollen Schutz aus Art.  1 Abs.  1 GG zu mobili­ sieren. In der medizinethischen Debatte um den Status des extrakorporalen Em­ bryos werden vier Argumente diskutiert, die unter dem Akronym SKIP zusammen­ gefasst werden: das Speziesargument, das Kontinuum- oder Kontinuitätsargument, das Identitätsargument und das Potenzialitätsargument.90 Kurz gesagt, leitet das Speziesargument die Würde des Embryos aus der Zugehörigkeit zur Spezies Mensch ab, während das Kontinuitätsargument sich insoweit auf die kontinuierliche Ent­ wicklung der befruchteten Eizelle bis zur Geburt eines Menschen stützt. Letzteres wird nicht zuletzt von Christiane Nüsslein-Volhard, einer Nobelpreisträgerin für Me­ dizin, bestritten, nach der es ,,[b]iologisch gesehen […] fast nichts Diskontinuier­ licheres“ gibt als die Nidation;91 ca. 70  % aller Embryonen sterben zu diesem Zeit­ punkt im mütterlichen Körper ab. Das Identitätsargument betont, dass zwischen Embryo und der Person, die sich daraus entwickeln könne, eine Identitätsbeziehung bestehe (die andere erst retrospektiv bejahen wollen) und das Potenzialitätsargument unterstreicht, dass Embryonen deshalb Würde zugesprochen werden müsse, weil sie das Potenzial besitzen, sich zu einem würdebegabten Wesen zu entwickeln.92 Das Bundesverfassungsgericht hat bisher nicht explizit zum Rechtsstatus des ex­ tra­korporalen Embryos Stellung genommen. Seine beiden Abtreibungsentscheidun­ gen werden sehr unterschiedlich bewertet: Ein Teil der Literatur weist darauf hin, dass die apodiktische Aussage des Gerichts: ,,Wo menschliches Leben existiert, kommt ihm Menschenwürde zu“,93 im Widerspruch dazu stehe, dass das Gericht die gesetzliche Regelung, nach der eine Abtreibung nach einer bloßen Beratung straffrei bleibt, im Ergebnis gleichwohl für verfassungsgemäß gehalten habe.94 Andere ent­ 89  S. dazu auch Siehr, Regulierungsauftrag für den Staat im Bereich der Fortpflanzungsmedi­ zin?, 419–421 u. in der Diskussion S.  456. 90 Dazu Merkel, Forschungsobjekt Embryo. Verfassungsrechtliche und ethische Grundlagen der Forschung an menschlichen embryonalen Stammzellen, 131–183; Dreier, in: ders. (Hg.), GG, Art.  1 I Rn.  86; ders., Bioethik – Politik und Verfassung, 42–46, jeweils mwN. 91  S. dazu Nüsslein-Volhard, Das Werden des Lebens. Wie Gene die Entwicklung steuern, 190. 92  S. dazu und zu den gegen diese Argumente jeweils vorgebrachten Einwänden Siehr, Regulie­ rungsauftrag für den Staat im Bereich der Fortpflanzungsmedizin?, 424–427 mwN. 93  BVerfGE 39, 1 (41); E 88, 203 (252); zustimmend Höfling, in: Sachs (Hg.), GG, Art.  1 Rn.  56; ebenso Isensee, Würde des Menschen, §  87 Rn.  200; krit. Dreier, Bioethik, 35 f. mwN.; Hofmann, Verfassung der Freiheit gegen Gentechnik?, 63–72, hier: 69 f., der auch darauf hinweist, dass sich dieser Satz auf die Phase nach der Nidation beziehe. 94 Dazu Dreier, in: ders. (Hg.), GG, Art.  1 I Rn.  71; ders., Grenzen des Tötungsverbotes – Teil  1, 261–270, hier: 267–270; s. a. Herdegen, in: Dürig/Herzog/Scholz (Hg.), GG, Art.  1 I Rn.  112; Schlink, ­Aktuelle Fragen des pränatalen Lebensschutzes, insb. 7–10 u. 13–15; Merkel, Forschungsobjekt Em­

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gegnen, dass die Aussage des Bundesverfassungsgerichts zur Menschenwürde zu­ sammen mit dem Satz, dass Leben „jedenfalls“ ab der Nidation bestehe,95 doch be­ lege, dass auch für den extrakorporalen Embryo der volle Menschenwürdeschutz gelte.96 Der Streit um die Abtreibungsentscheidungen kann hier nicht weiter verfolgt werden, zumal die Nidation, die den Beginn der Schwangerschaft markiert, einen ganz entscheidenden Unterschied zum extrakorporalen Embryo begründet: Nahezu zeitgleich mit der Nidation findet auch die Individuation statt; ab diesem Zeitpunkt ist u. a. keine Mehrlingsbildung mehr möglich. Ein Teil der Literatur hält dies auch für maßgeblich für den Grundrechtsschutz, der individuelles – und eben nicht nur artspezifisches – menschliches Leben voraussetze.97 Auch diese Hürde kann überwunden werden, indem man bezogen auf den extra­ korporalen Embryo – anders als in den Abtreibungsentscheidungen – nicht auf die aus dem Recht auf Leben (Art.  2 Abs.  2 S.  1 GG) ableitbare staatliche Schutzpflicht98 und parallel dazu auf die objektiv-rechtliche Wirkung des Art.  1 Abs.  1 GG abstellt, sondern allein auf eine objektiv-rechtliche Vorwirkung der Menschenwürde.99 Denn Grundrechte sind in der Tat stets individuelle Rechte; insofern können sie vor der Nidation auch keine rechtliche Wirkung zugunsten des Embryos entfalten.100 Der Menschenwürde kommt im Gefüge der Grundrechte jedoch eine herausgehobene Sonderstellung zu: Als Staatsfundamentalnorm spannt sie über den Schutz der Auto­ nomie des Individuums den Bogen auch in die Zukunft der Gemeinschaft der Freien und Gleichen und kann so auch das Potenzial künftiger individueller Autonomie in den Blick nehmen. Allein die Menschenwürde als Wurzel der Grundrechte kann da­ her auch den extrakorporalen Embryo im Rahmen einer Vorwirkung objektiv-recht­ lich adressieren.101 bryo, 64–111; Ipsen, Der ‚verfassungsrechtliche Status‘ des Embryos in vitro, 989–996, hier: 992; Störtkuhl/Rothhaar, Menschenwürde und embryonale Stammzellforschung, 783–798, hier: 791. 95  S. BVerfGE 39, 1 (37). Es heißt dort: ,,Leben […] besteht […] jedenfalls vom 14. Tage nach der Empfängnis (Nidation, Individuation) an“; auf den Zeitpunkt der Nidation stellt auch BVerfGE 88, 203 (251 f.), ab. 96 So Benda, Verständigungsversuche über die Würde des Menschen, 2147 f., hier: 2148, der sich insoweit auf die Aussage des BVerfG beruft, wonach der Nasciturus sich „nicht erst zum Menschen, sondern als Mensch“ entwickele (E 88, 203 [252]); s. a. Sacksofsky, Der verfassungsrechtliche Sta­ tus des Embryos in vitro, 51, 53 mwN. 97 Dazu Dreier, Bioethik, 40–42; Enders, Würde- und Lebensschutz, 670. 98  BVerfGE 39, 1 (36–41, 42 [Schutzpflicht]). 99 Dazu Siehr, Regulierungsauftrag für den Staat im Bereich der Fortpflanzungsmedizin?, 429 f. mwN.; Jarass, in: Jarass/Pieroth (Begr.), GG, Art.  1 Rn.  9 mwN., nimmt eine solche Vorwirkung der Menschenwürde auch ganz explizit für die Zeit zwischen Befruchtung und Nidation an; s. a. ­Dederer, Menschenwürde des Embryo in vitro?, 1–26, hier: 10. 100  S. die Nachw. oben in Fn.  97; vgl. auch BVerfGE 30, 173 (194), wonach die Grundrechte ,,die Existenz einer wenigstens potentiell oder zukünftig handlungsfähigen Person als unabdingbar vor­ aus[setzen].“ Hier stellt sich dann wieder die Frage, ob davon schon ab der Kernverschmelzung oder frühestens ab der Nidation und Individuation ausgegangen werden kann. Nach der hier vertretenen Auffassung muss die Individuation abgeschlossen sein. 101  S. dazu Siehr, Regulierungsauftrag für den Staat im Bereich der Fortpflanzungsmedizin?, 430 f.

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Damit bleibt die dritte Frage zu beantworten, ob menschliches Leben in der Petri-­ Schale durch Art.  1 Abs.  1 GG in genau der gleichen Weise geschützt ist wie der gebo­ rene Mensch. Hier ist zunächst in Erinnerung zu rufen, dass „Art.  1 Abs.  1 S.  1 GG […] sich auf den geborenen Menschen [bezieht], d. h. der geborene Mensch ist der ,Normalfall‘ der Menschenwürdegarantie […].“102 Dies ist ein Punkt, der in der Tat häufig übergangen wird. Mit Vollendung der Geburt ist der Mensch gem. §  1 BGB rechtsfähig, genießt selbstverständlich – völlig unabhängig von allen im konkreten Einzelfall gegebenen oder auch nicht gegebenen Fähigkeiten, Eigenschaften oder Leistungen der Identitätsbildung – den vollen Schutz des Art.  1 Abs.  1 GG und ist Grundrechtsträger. Darüber hinaus kann es bestimmte Vorwirkungen des Grund­ rechtsschutzes geben: Im Hinblick auf das werdende menschliche Leben wird ab der Nidation vielfach von einem Konzept des anwachsenden Lebensschutzes ausgegan­ gen103 und nach der hier vertretenen Auffassung ist auch für den extrakorporalen Embryo eine Vorwirkung der Menschenwürde zu bejahen. Damit ist aber noch nicht die Frage beantwortet, ob dieser Embryo auch wie der geborene Mensch als autonomes Subjekt geschützt werden kann. Im Ergebnis wird man diese Frage verneinen müssen, da ein Embryo in der Petrischale, der sich viel­ leicht erst im Vierzellstadium befindet, schlicht in keiner Weise dem entspricht, was wir uns unter dem Menschen als ‚autonomes Subjekt‘ vorstellen; etwas (noch) nicht Vorhandenes kann aber auch bei bestem Willen nicht geschützt werden. Tatsächlich geht es hier um etwas anderes, das gleichfalls Achtung, Schutz und Respekt verdient, nämlich darum, dass dieser Embryo das Potenzial besitzt, sich unter günstigen Be­ dingungen zu einem Menschen und damit zu einem autonomen Subjekt und einem Gleichen unter Gleichen zu entwickeln. Insofern kann die Menschenwürdenorm in ihrer Vorwirkung für den Embryo zwar nicht den Schutz des autonomen Subjekts garantieren, sie beinhaltet jedoch ein auf dieses ganz besondere Potenzial bezogenes Respekt- und Achtungsgebot.104 Dem muss auch der Gesetzgeber bei der – dringend erforderlichen – Neuregelung der Reproduktionsmedizin105 Rechnung tragen. In der Regel wird dieses Respekt- und Achtungsgebot Abwägungen mit anderen betroffenen Grundrechten, bspw. der Fortpflanzungs- und der Forschungsfreiheit,106 102 

Dederer, Menschenwürde, 10. zu dem gestuften Schutzkonzept, das auch den §§  218 ff. StGB zugrunde liegt, Dreier, Stufungen des vorgeburtlichen Lebensschutzes, 377–383; ders., Bioethik, 53–60. Für ein „Konzept des anwachsenden Lebensschutzes“ spricht sich auch Sacksofsky, Der verfassungsrecht­ liche Status des Embryos in vitro, 25–27, aus; dagegen Huber, Das Ende der Person?, 52. 104  Siehr, Regulierungsauftrag für den Staat im Bereich der Fortpflanzungsmedizin?, 429–432. 105  S. zu den Gründen, die eine Neuregelung dringend erforderlich erscheinen lassen, Siehr, Regulierungsauftrag für den Staat im Bereich der Fortpflanzungsmedizin?, 398–403, zur gesetzge­ berischen Ausgestaltung des Respekt- und Achtungsgebots, 431 f. 106  Zur Herleitung der Fortpflanzungsfreiheit, die meist auf das allgemeine Persönlichkeitsrecht aus Art.  2 Abs.  1 i.Vm. Art.  1 Abs.  1 GG gestützt wird, Siehr, Regulierungsauftrag für den Staat im Bereich der Fortpflanzungsmedizin?, 395, Fn.  3 mwN. S. zur Forschungsfreiheit in der bioethischen Diskussion Dreier, Bioethik, insb. 48–52 mwN., der betont, dass aus Art.  2 Abs.  2 S.  1 GG auch 103  Eingehend

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zugänglich sein, besitzt also nur eine relative Wirkung.107 Wie das gestufte Konzept des Lebensschutzes während der Schwangerschaft, das auch hinter den §§  218 ff. StGB steht,108 zeigt, ist das selbst in späteren Entwicklungsphasen des Nasciturus nicht anders. Erst recht gilt jedoch für den extrakorporalen Embryo im Vier- oder Achtzellstadium, dass die Zulässigkeit oder Unzulässigkeit von bestimmten Maß­ nahmen nicht nach der sog. Objektformel bestimmt werden kann, da zu diesem Zeit­ punkt noch gar kein autonomes Subjekt existiert.109 Anderenfalls müsste man die Reproduktionsmedizin generell verbieten, da der extrakorporale Embryo hier per­ manent als ‚Objekt‘ behandelt wird. Gleiches gilt für den Einsatz der Spirale und auch die ‚Pille danach‘ müsste strikt verboten werden. Schwangerschaftsabbrüche dürften unter gar keinen Umständen durchgeführt werden, also auch dann nicht, wenn das Leben der Mutter bedroht wäre, da die Menschenwürde beim geborenen Menschen solche Abwägungen verbietet. Auch diese Praxis zeigt, dass Differenzierungen zwi­ schen dem geborenen Menschen und dem ungeborenen menschlichen Leben sowie ein gestuftes Schutzkonzept offenbar prinzipiell ganz überwiegend akzeptiert wer­ den. – Wer dies anders sieht, müsste zu dem Schluss kommen, dass die Menschen­ würde unter Geltung des Grundgesetzes seit vielen Jahren kontinuierlich verletzt wird. Auch wenn dem Respekt- und Achtungsgebot aus Art.  1 Abs.  1 GG also im Regel­ fall nur eine relative Wirkung zukommt, gibt es aber auch bezogen auf den Umgang mit extrakorporalen Embryonen letzte Grenzen, die dem Schutz des ‚Unverfügbaren‘ Rechnung tragen und unter keinen Umständen überschritten werden dürfen. Auch hier ist für die Ermittlung dessen, was im Sinne des Art.  1 Abs.  1 GG als „unantast­ bar“ dem absoluten Schutz durch die Menschenwürde unterfällt, die negative Defini­ tion aus dem Verletzungstatbestand heraus maßgeblich: Ein objektiv-rechtlicher Verstoß gegen die Menschenwürde läge demnach in Handlungen, die das Potenzial des Embryos, sich zu einem autonomen Subjekt zu entwickeln, ganz grundsätzlich negieren. Dementsprechend wäre beispielsweise ein Eugenik-Gesetz wegen Versto­ ßes gegen das Respekt- und Achtungsgebot aus Art.  1 Abs.  1 GG ohne jede Abwä­ gungsmöglichkeit nichtig. Ebenso müsste die gentechnische Erzeugung eigenständi­ ger Chimären- und Hybridwesen unter Verwendung menschlichen Erbmaterials wegen des darin liegenden Verstoßes gegen die Menschenwürde zwingend unter­ bunden werden.110 staatliche Schutzpflichten für Leben und Gesundheit erwachsen können, die die Forschungsfreiheit in der Abwägung stärken (S.  46 f. mwN.). 107 Auch Jarass, in: Jarass/Pieroth (Begr.), GG, Art.  1 Rn.  9, betont, dass der Schutz des Embryos durch die Vorwirkung des Prinzips der Menschenwürde in dieser Phase nicht absoluter Natur sei, sondern dem Prinzipiencharakter entsprechend bloßer Abwägungsschutz. 108  S. dazu oben Fn.  103. 109  Dazu näher Siehr, Regulierungsauftrag für den Staat im Bereich der Fortpflanzungsmedi­ zin?, 428, in der Diskussion 457 f. (dort auch zum Folg.). 110  S. dazu im Einzelnen Siehr, Regulierungsauftrag für den Staat im Bereich der Fortpflanzungs­ medizin?, 432 mit Fn.  122.

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VI. Fazit Die Ergebnisse dieser Überlegungen zur ‚Unverfügbarkeit‘ der Menschenwürde un­ ter Geltung des Grundgesetzes lassen sich wie folgt zusammenfassen: Die Idee der ‚Unverfügbarkeit‘ der Menschenwürde wird in Art.  1 Abs.  1 S.  1 GG über einen sich im Begriff der ‚Unantastbarkeit‘ ausdrückenden absoluten Schutz umgesetzt, der aber nicht für alle Dimensionen der Menschenwürde gilt. Die seit der Lüth-Entschei­ dung anerkannte Ausstrahlungswirkung der Menschenwürde auf das gesamte einfa­ che Recht ist ebenso von ihrer ‚Unverfügbarkeit‘ zu unterscheiden wie der Menschenwürdebezug der Grundrechte. Die Grundrechte weisen gerade deshalb einen Men­ schenwürdebezug auf, weil sie das in Art.  1 Abs.  1 GG verankerte Autonomieprinzip für einzelne Lebensbereiche konkretisieren. Dieser Grundrechtsschutz ist aber unter dem Aspekt, dass es um die gleiche Freiheit aller geht, Eingriffe also im Rahmen von Abwägungen gerechtfertigt werden können, relativierbar. Der Gedanke der ‚Unver­ fügbarkeit‘ der Menschenwürde reduziert sich insoweit auf den sog. Menschenwürdekern eines jeden Grundrechts und wird erst bei der Schranken-Schranke der Wesensgehaltsgarantie des Art.  19 Abs.  2 GG wieder aufgegriffen. Der Wesensgehalt eines Grundrechts, der wiederum einem der ‚Unantastbarkeit‘ nach Art.  1 Abs.  1 S.  1 GG entsprechenden ‚Antastungsverbot‘ unterliegt, ist dann jedoch in der Tat absolut (und nicht relativ über Abwägungen) zu bestimmen. Hingegen wird über das unmittelbar aus Art.  1 Abs.  1 GG folgende Grundrecht auch der Gedanke der ‚Unverfügbarkeit‘ der Menschenwürde umgesetzt, denn vom Schutzbereich dieses Grundrechts ist überhaupt nur das erfasst, was unter keinen Umständen zur Disposition des Staates steht und also als „unantastbar“ gilt. Was Gegenstand dieses absoluten Schutzes ist, wird über eine am Verletzungstatbestand orientierte negative Definition der Menschenwürde im Sinne der sog. Objektformel ermittelt. Der Schutzbereich des Grundrechts aus Art.  1 Abs.  1 GG ist sehr restriktiv zu interpretieren, da es der hohen Bedeutung der Menschenwürde entsprechend kei­ nen Relativierungen durch Abwägungen zugänglich ist. Aufgrund dieser ‚Abwägungsfestigkeit‘ führt jeder Eingriff in Art.  1 Abs.  1 GG ohne Rechtfertigungsmög­ lichkeit zu einer Menschenwürdeverletzung. Das Gebot der restriktiven Interpretation gilt auch für die Menschenwürdenorm in ihrer Funktion als Staatsfundamentalnorm. Insoweit kann es inhaltlich aber nicht allein um die abstrakt durch die sog. Objektformel umschriebene negative Definition der Menschenwürde gehen. Denn allein auf den Schutz eines rechtskulturellen Mini­ malstandards, der (bspw. über das Folterverbot) den Rückfall in die Barbarei verhin­ dern soll, lässt sich noch kein freiheitliches Staatswesen gründen. Letztlich ist die negative Definition der Menschenwürde jedoch nur ein Unterfall des durch Art.  1 Abs.  1 GG garantierten Schutzes und der Anerkennung des autonomen Subjekts. Der objektiv-rechtliche Gehalt der Staatsfundamentalnorm des Art.  1 Abs.  1 GG ist durch den Kerngedanken geprägt, dass wir unsere freiheitlich-demokratische staatliche Ordnung auf das wechselseitige Versprechen der unbedingten verfassungskräftigen

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Anerkennung der – auf individuelle und kollektive Selbstbestimmung angelegten – Subjektstellung des Einzelnen gründen.111 Mehr als den Schutz des autonomen Subjekts sollte man in Art.  1 Abs.  1 GG schon aus demokratietheoretischen Gründen nicht hineinlesen. Denn die sog. ‚Ewigkeits­ garantie‘ des Art.  79 Abs.  3 GG entzieht das, was als unverfügbarer Gehalt des verfas­ sungsrechtlichen Würdekonzepts angesehen wird, sogar der Disposition des verfassungsändernden Gesetzgebers. Es verbietet sich daher, weitere Elemente des sich aus ganz unterschiedlichen christlichen und philosophischen Traditionssträngen for­ menden Würdekonzepts als Teil der verfassungsrechtlichen Garantie des Art.  1 Abs.  1 GG zu begreifen. Soll die freiheitlich-pluralistische Ordnung bewahrt und eine ver­ fassungsrechtliche Petrifizierung bestimmter partikularer Positionen im Hinblick auf das Würdekonzept vermieden werden, so sind solche mit der Idee der Menschen­ würde verbundenen Vorstellungen vielmehr als konkurrierende Ideen des Guten einzuordnen. Sie können selbstverständlich im öffentlichen Diskurs artikuliert wer­ den und auf diesem Wege – auf Basis des demokratischen Mehrheitsprinzips – auch Einfluss auf konkrete Gesetzesvorhaben nehmen. Besonderheiten im Hinblick auf die Menschenwürde ergeben sich für die Frühsta­ dien artspezifischen menschlichen Lebens, denn der Normalfall der Würdegarantie ist eben der geborene Mensch. Speziell für den extrakorporalen Embryo gilt, dass er zwar durch eine objektiv-rechtliche Vorwirkung der Menschenwürdenorm verfas­ sungsrechtlich geschützt wird. Allerdings kann es hier noch nicht um den Schutz als ‚autonomes Subjekt‘ gehen, sondern nur um den Schutz des besonderen Potenzials, sich unter günstigen Umständen zu einem autonomen Subjekt entwickeln zu können. Daraus folgt ein Respekt- und Achtungsgebot, das jedoch im Regelfall Abwägungen mit anderen Grundrechten – z. B. der Fortpflanzungs- und der Forschungsfreiheit – zugänglich ist. Gleichwohl lassen sich auch bezogen auf den extrakorporalen Embryo im Kulturmedium aus dem Verletzungstatbestand heraus bestimmte Fallgruppen formulieren, in denen der Schutz absolut gilt. So wäre bspw. ein Eugenik-Gesetz oder ein Gesetz, das die gentechnische Erzeugung eigenständiger Chimären- und Hybrid­ wesen unter Verwendung menschlichen Erbmaterials ermöglicht, wegen Verstoßes gegen Art.  1 Abs.  1 GG nichtig. Auch bezogen auf diese ganz frühen Formen mensch­ lichen Lebens gibt es demnach Konstellationen, in denen die Idee der ‚Unverfügbarkeit‘ der Menschenwürde über das jede Abwägung sperrende ‚Antastungsverbot‘ des Art.  1 Abs.  1 S.  1 GG eine absolute Grenze setzt.

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Vgl. dazu Siehr, Das Recht am öffentlichen Raum, 496–498, 523 f. u. pass. mwN.

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Die Unverfügbarkeit der Menschenwürde im geltenden Recht: Ein Überblick Friederike Löbbert und Friederike Wapler Die Formulierung von Grund- und Menschenrechten kam über mehrere Jahrhun­ derte ohne einen Verweis auf die Menschenwürde aus. Weder die Verfassung der Vereinigten Staaten (1789) einschließlich der Federal Bill of Rights (1791) noch die französische Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte (1789) enthalten ein Be­ kenntnis zur Menschenwürde, sondern beginnen mit der angeborenen bzw. natür­ lichen Freiheit und Gleichheit aller als Grundlage individueller Menschenrechte. Die Weimarer Reichsverfassung von 1919 enthält in Art.  151 einen punktuellen Verweis auf die Pflicht des Staates, ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen.1 Als Be­ griff, der die Grundlage einer gesamten Verfassungsordnung beschreibt, findet sich die Menschenwürde nach bisherigem Forschungsstand zum ersten Mal in der Prä­ ambel der irischen Verfassung von 1937, die bis heute geltendes Recht ist.2 Dort steht sie für ein Bekenntnis zu einer christlich (präziser: katholisch) fundierten De­ mokratie, die sich sowohl von den kommunistischen und faschistischen Regierun­ gen der damaligen Zeit als auch von dem Konzept einer liberalen, säkularen Demo­ kratie mit ihrer Betonung individueller Freiheit abgrenzt.3 Erst nach dem Zweiten Weltkrieg hat sich die Menschenwürde zu einem Schlüsselbegriff für unverfügbare Rechte des Individuums gegen den Staat entwickelt, der die Gründung der Vereinten 1  Art.  151 Abs.  1 S.  1 WRV: „Die Ordnung des Wirtschaftslebens muß den Grundsätzen der Ge­ rechtigkeit mit dem Ziele der Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins für alle entspre­ chen.“ Vgl. Tiedemann, Menschenwürde als Rechtsbegriff, 62. Der ebd. enthaltene Hinweis auf Art.  6 der faschistischen Verfassung Portugals von 1933 ist nicht ganz korrekt, da dort in Absatz  2 von dem „menschlichen Existenzminimum“ (mínimo de existência humanamente) die Rede ist. Erst 1951 wurde die Formulierung geändert in „ein mit der Menschenwürde vereinbares Lebensniveau“ (um nível de vida compatível com a dignidade humana), vgl. Lei No.  2048, Diario de Governo 117/1951 v. 11.07.1951, 407. 2 Vgl. von der Pfordten, Menschenwürde, 42. Die Formulierung lautet im Original: „[…] see­ king to promote the common good, with due observance of Prudence, Justice and Charity, so that the dignity and freedom of the individual may be assured, true social order attained, the unity of our country restored, and concord established with other nations […].“ 3  Zur Entstehungsgeschichte der Menschenwürdeklausel in der irischen Verfassung und ihrer Fundierung im „politischen Katholizismus“ vgl. Moyn, Constitutional Dignity, insb. 47: „But it seems clear that ‘the dignity of the human person’ mainly became one slogan for civil society Catho­ lics attempting to stave off both secular liberalism, with its destitute atomism, and corporatist reac­ tion, with its demand for clerical forms of authoritarianism or flirtation with Nazi Germany and other fascist regimes that were viewed as fit for support in spite of the fact that they were ‘pagan’.“

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Nationen begleitet und das Völkerrecht wie auch das deutsche Verfassungsrecht bis heute prägt.4 Achtung und Schutz der Menschenwürde stehen am Beginn der Charta der Vereinten Nationen von 1945 (Präambel), der Allgemeinen Menschen­ rechtserklärung (AEMR) von 1948 (Präambel, Art.  1) und darauf aufbauender Kon­ ventionen wie den beiden Internationalen Menschenrechtspakten von 1966 (jeweils in der Präambel). Das deutsche Grundgesetz von 1949 stellt die Unantastbarkeit der Menschenwürde an den Anfang des Grundrechtskatalogs (Art.  1 Abs.  1). In den fol­ genden Jahren und Jahrzehnten wurden Bekenntnisse zur Menschenwürde in zahl­ reichen Staatsverfassungen, völkerrechtlichen Dokumenten und auch im Primär­ recht der Europäischen Union verankert.5 Der Schutz und die Achtung der Menschenwürde gelten heute mit einiger Selbst­ verständlichkeit als fundamental für freiheitliche, menschenrechtsbasierte Ord­ nungen. Daraus zu folgern, über die Gewährleistungsgehalte rechtlicher Menschen­ würdeklauseln bestände Einigkeit, wäre jedoch verfehlt. Schon auf der Ebene des Normtextes und der Gesetzessystematik bestehen erhebliche Unterschiede: Der Be­ zug auf die Menschenwürde kann allgemein formuliert sein, wie etwa in Art.  1 Abs.  1 des deutschen Grundgesetzes („Die Würde des Menschen ist unantastbar.“), oder aber bereichsspezifisch begrenzt (Art.  10 des Internationalen Pakts für bürgerliche und politische Rechte (IPbpR) – menschenwürdige Behandlung bei Freiheitsentzug; Art.  22, 23 Abs.  3 AEMR – menschenwürdige Lebensverhältnisse; Art.  1, 2 der UNESCO-­Erklärung zur Genomforschung v. 1997 – Achtungsanspruch jedes Men­ schen unabhängig von seinen genetischen Eigenschaften). Die Menschenwürde kann Gegenstand eines allgemeinen Bekenntnisses sein (insbesondere in Präambeln völ­ kerrechtlicher Verträge), als „Grundwert“ verstanden werden (z. B. in Art.  2 des Ver­ trages über die Europäische Union (EUV)) oder aber als einklagbares Grundrecht ausgestaltet sein bzw. interpretiert werden (wie im deutschen Grundgesetz (GG) und der EU-Grundrechtecharta (GrCh)). Daneben wird die Menschenwürdegarantie zu­ weilen auch dort als Fundamentalnorm anerkannt, wo sie nicht ausdrücklich nor­ miert ist. Keine Menschenwürdeklausel enthält etwa die Europäische Menschen­ rechtskonvention (EMRK) von 1950. Gleichwohl argumentiert der Europäische Ge­ richtshof für Menschenrechte (EGMR) mittlerweile in unterschiedlichen Kontexten mit der Menschenwürde, die er insbesondere aus dem Recht auf Achtung des Privatund Familienlebens (Art 8 Abs.  1 EMRK) und dem Folterverbot (Art.  3 Abs.  1 EMRK) ableitet.6 Fortdauernde Skepsis schlägt rechtlichen Konzeptionen der Men­ schenwürde hingegen aus Großbritannien entgegen. Bezweifelt wird dort ganz grund­legend, ob sich aus der Menschenwürde rechtliche Garantien ableiten lassen 4 Vgl.

Rensmann, Menschenwürde, 75. Barak, Human Dignity, 35 f. 6  Z. B. Valasinas v. Litauen, EGMR, Urt. v. 24.07.2001, Az. 44558/98; Kalashnikov v. Russland, EGMR, Urt. v. 15.07.2002, Az. 47095/99; Pretty v. United Kingdom, EGMR, Urt. v. 29.07.2002, Az. 2346/02 (deutsche Übersetzung: NJW 2002, 2851), s. auch von Schwichow, Menschenwürde, 41 ff.; Meyer-Ladewig, Menschenwürde, 981 f. Siehe dazu ausf. noch unten II. 5 M.w.N.

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oder ob der Rekurs auf die Menschenwürde lediglich programmatischen Charakter hat.7 Um die Bedeutung der rechtlichen Menschenwürdeklauseln besser verstehen zu können, bietet es sich an, zunächst auf die frühen Normierungen und ihre histo­ rischen Beweggründe einzugehen. Dies geschieht im Folgenden anhand der Ent­ stehungsgeschichte der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte sowie des Grundgesetzes. Zum Vergleich und zur Untersuchung von Entwicklungslinien wer­ den zudem einige neuere bereichsspezifische Regelungen in den Blick genommen, namentlich die Europäische Menschenrechtskonvention und die Charta der Grund­ rechte der Europäischen Union. Ähnlich wie in der philosophischen Diskussion wer­ den in dieser vergleichenden Perspektive unterschiedliche Dimensionen des Begriffs erkennbar, die sich folgendermaßen kategorisieren lassen: – Die Menschenwürde als Verweis auf die ursprüngliche Gleichheit aller Menschen. – Die Menschenwürde als Chiffre für die Selbstzweckhaftigkeit des Menschen, die ihm einen allgemeinen Anspruch auf Achtung der individuellen Identität sowie auf Schutz vor staatlicher Willkür und (vollständiger) Entrechtung verschafft. – Die Menschenwürde als Grenze staatlichen Handelns im Sinne eines Verbots „un­ menschlicher“ Behandlung wie Folter, Demütigung und Instrumentalisierung. – Die Menschenwürde als Ausdruck eines gesellschaftlichen Status; häufig gedacht als Ausdruck desjenigen sozialen und ökonomischen Status, den ein Mensch in jedem Fall haben muss, um ein „menschenwürdiges Leben“ führen zu können. – Die Menschenwürde als Verweis auf die menschliche Fähigkeit bzw. das mensch­ liche Potenzial zur Selbstbestimmung und/oder seine Freiheit. Des Weiteren wird im Hinblick auf das Forschungsinteresse dieses Bandes besonde­ res Augenmerk auf die Frage gelegt, ob und in welcher Weise die Menschenwürde als unverfügbar und/oder unantastbar betrachtet wird und welche juristischen bzw. rechtsmethodischen Folgerungen daraus abgeleitet werden.

I. Die Menschenwürde in der Charta der Vereinten Nationen (1945) und der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (1948) 1. Entstehungs- und Wirkungsgeschichte Die Charta der Vereinten Nationen ist das Gründungsdokument und zugleich die Satzung dieser internationalen Organisation. Sie wurde am 26. Juni 1945 durch die Gründungsmitglieder unterzeichnet und trat am 24. Oktober 1945 in Kraft.8 Die Charta ist ein bindender völkerrechtlicher Vertrag, dem alle Mitgliedstaaten der Ver­ 7 

Für einen Überblick siehe Tiedemann, Menschenwürde, 62–64. Charta der Vereinten Nationen vom 26. Juni 1945, United Nations Conference on International Organization Documents XV, 1945, 143; deutscher Text in BGBl. 1973 II, 431, 505. 8 

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einten Nationen beigetreten sind. Bereits sie enthält Bezüge zur Menschenwürde. Die eigentliche Ausformulierung der Menschenwürde als Grundlage der Vereinten Na­ tionen und des von ihnen etablierten Menschenrechtsschutzes findet sich jedoch in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und den auf ihr beruhenden Inter­ nationalen Pakten. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte wurde als Resolution der UN-Ge­ neralversammlung in der Sitzung vom 10. Dezember 1948 in Paris verkündet.9 Die „Nichtanerkennung und Verachtung der Menschenrechte“ (vgl. Präambel) wurde als Ursache des erst kurz zuvor zu Ende gegangenen zweiten Weltkrieges angesehen und die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte als Antwort und Zukunftsentwurf formuliert.10 Die intellektuelle Vorarbeit zu der Erklärung hatte bereits in den Zwischenkriegs­ jahren begonnen. Bevor etwa der französische UN-Botschafter René Cassin den Ent­ wurf einer Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte am 09. Dezember 1948 in der Sitzung der UN-Generalversammlung vorlegte, war er bereits von 1924 bis 1938 Mitglied der französischen Delegation zum Völkerbund gewesen.11 Der Völkerbund beruhte bei seiner Gründung auf dem etablierten Grundsatz, wonach Menschen­ rechte eine rein nationale Angelegenheit seien und das Völkerrecht allein die Bezie­ hungen zwischen Staaten regele.12 Eine völkerrechtliche Begrenzung staatlicher Macht zugunsten der Rechte von Individuen war in diesem Völkerrechtsverständnis nicht vorgesehen. Während seiner Arbeit in Genf wurde Cassin Teil einer Gruppe progressiver, meist in Frankreich ausgebildeter Juristen, welche diese Grundannah­ me allumfassender staatlicher Souveränität in den internationalen Beziehungen zu­ nehmend in Frage stellten.13 Für Cassin folgten diese Überlegungen vor allem aus dem Kontakt zu den gefangenen Soldaten des Ersten Weltkrieges, die zum Spielball nationaler Politik geworden waren.14 Kernfrage der akademischen Welt des interna­ tionalen Rechts zu dieser Zeit wurde die Suche nach alternativen, zeitgemäßen Kon­ zepten, um schrankenlosen nationalstaatlichen Machtansprüchen gegenüber Indivi­ duen zu begegnen.15 In seiner Vorlesung an der Hague Academy of International Law im Jahre 1930 formulierte Cassin die These, nicht die Nationalität sei für die Identität der Menschen entscheidend, sondern ihr Aufenthaltsort (domicile). Unab­ hängig von den aktuellen Bedingungen der politischen Herrschaft seien die Men­ schen an diesen Ort gebunden (attached).16 Dieser Ansatz lieferte ein starkes Argu­ 9 

Resolution 217 (III) der Generalversammlung der Vereinten Nationen v. 10. Dezember 1948. Fritzsche, Menschenrechte, 58. 11  Winter/Prost, Cassin and Human Rights, 51. 12  Fassbender, Menschenrechteerklärung, 5. 13  Z. B. Politis, Le problème des limitations de la souverainité. 14  Winter/Prost, Cassin and Human Rights, 221. 15  Szabo, Historical Foundations, 25. 16  Cassin, La nouvelle conception, 740. Bereits 1929 hatte das Institut de Droit International eine „Déclaration de droits internationaux de l’homme“ als Resolution verabschiedet, abrufbar unter https://www.idi-iil.org/app/uploads/2017/06/1929_nyork_03_fr.pdf (15.03.2021). 10 

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ment für den Schutz von Minderheiten sowie gegen nationalistisch-expansive Ten­ denzen und bereitete den Boden für ein universell geltendes, auch auf den einzelnen Menschen bezogenes Völkerrecht. Cassin beteiligte sich während des Zweiten Weltkriegs im Londoner Exil gemein­ sam mit anderen Politikern und Intellektuellen an Überlegungen für die internatio­ nale Ordnung nach Ende des Krieges.17 Die Erfahrungen mit Faschismus und Nati­ onalsozialismus verstärkten den Gedanken, dass eine Begrenzung des staatlichen Machtanspruchs zum Wohle der Rechte der Einzelnen für eine friedliche Welt unab­ dingbar war.18 In der zwischen den USA und Großbritannien 1941 als Kriegsziel vereinbarten „Atlantik-Charta“ bekennen sich die unterzeichnenden Staatsober­ häupter Roosevelt und Churchill zu dem Ziel, einen Frieden zu schaffen, „der es allen Menschen in allen Ländern ermöglicht, ihr Leben frei von Furcht und Not zu ver­ bringen“ (Nr.  6). Die Atlantik-Charta gilt als wichtige Vorarbeit zur Gründung der Vereinten Nationen; die zitierte Formulierung wird als Bekenntnis zu universal gül­ tigen Menschenrechten gelesen. Noch während des Krieges erarbeitete das American Institute of Law in New York ein „Statement of Essential Human Rights“, das 1945 publiziert wurde.19 Enormen Einfluss entfaltete auch der parallel in Großbritannien veröffentlichte Entwurf einer „International Bill of Rights of Men“ des britischen Völkerrechtlers Hersch Lauterpacht, selbst emigrierter Jude aus der Gegend um Lwiw (Lemberg). Auf ihn ist wesentlich zurückzuführen, dass Menschenrechte im modernen Völkerrecht nicht mehr nur als staatliche Absichtserklärungen, sondern als verbindliches und – wenn auch nur schwach – gegen die Staaten durchsetzbares Recht verstanden werden.20 Nach Ende des Krieges war der öffentliche Druck auf die in der Gründung begrif­ fenen Vereinten Nationen immens, sich klar und verlässlich zur Achtung der Men­ schenrechte zu bekennen.21 Bereits im zweiten Satz der Präambel der UN-Charta von 1945 wird daher der „Glauben an die Grundrechte des Menschen“ betont.22 Au­

17 

Winter/Prost, Cassin and Human Rights, 231. Außerhalb des Kreises um Cassin z. B. auch bei Lauterpacht, International Bill, 6 und pas­ sim; allg. Fassbender, Menschenrechteerklärung, 5. 19  American Law Institute, Statement of essential Human Rights, 1945, als Faksimile abruf­ bar unter https://www.ali.org/media/filer_public/fc/ea/fcea8b14-8d49-4263-8cd9-e0133751ff64/state ment-of-essential-human-rights.pdf (15.03.2021); der Hinweis bei Morsink, Universal Declaration, 1, auf eine von dieser Organisation publizierte „International Bill of Rights“ scheint sich auf dieses Dokument zu beziehen. 20  Lauterpacht, International Bill. Zur Lebensgeschichte Lauterpachts und seiner Bedeutung für den internationalen Menschenrechtsschutz wie auch für die Entwicklung des Völkerstrafrechts s. auch Sands, East West Street. 21  Morsink, Universal Declaration, 2; Szabo, Historical Foundations, 23; Moyn, Constitutional Dignity, 57. 22  Der authentische englische Wortlaut „Faith in the fundamental human rights“ könnte auch mit „Vertrauen in …“ übersetzt werden. Darin zeigt sich das Verständnis von der Geltung der Men­ schenrechte als Lösung für internationale Spannungen. 18 

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ßerdem nennt Art.  1 Nr.  3 der Charta als eines der Ziele der UN, die Achtung der Menschenrechte zu fördern und zu festigen. Nach der Gründung der Vereinten Nationen setzten diese auf der Grundlage des Art.  68 der UN-Charta eine Kommission zur Förderung der Menschenrechte ein, deren Vorsitz 1946 Eleanor Roosevelt übernahm. Bereits in dem ersten Diskussions­ entwurf, den der kanadische Völkerrechtler John Peters Humphrey für das Sekreta­ riat der Kommission erarbeitet hatte, findet sich die Menschenwürde als Merkposten für die noch auszuformulierende Präambel.23 Die Formulierung des Artikels  1 der Erklärung, mit der die Menschenwürde zur verbindlichen Grundlage der Völker­ rechtsordnung gemacht wird, geht jedoch auf Cassin zurück. In seinem zweiten Dis­ kussionsentwurf für die Menschenrechtskommission heißt es im ersten Artikel: „All men are brothers. Being endowed with reason, members of one family, they are all free and possess equal dignity and rights.“24 Seinen heutigen Wortlaut erhielt dieser Artikel in der überarbeiteten Fassung des Cassin-Entwurfs, der im Mai 1948 vor­ lag.25 Verabschiedet wurde die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte schließ­ lich als Resolution der Generalversammlung – ohne Gegenstimmen, jedoch unter Enthaltung von acht Staaten, darunter der Sowjetunion.26 Als Resolution der Generalversammlung ist die Erklärung kein völkerrechtlich verbindlicher Vertrag. Nach Art.  10 der UN-Charta sind die Beschlüsse der General­ versammlung lediglich Empfehlungen an die Mitgliedsstaaten. Die Geltung der Menschenrechte ist jedoch in der UN-Charta bereits angelegt und verankert. Auch deswegen ist es allgemeiner Konsens, dass die Menschenrechtserklärung keine Reso­ lution wie jede andere ist. Aufgrund ihrer breiten Akzeptanz geht die völkerrecht­ liche Literatur zunehmend davon aus, dass ihr Inhalt – zumindest in wesentlichen Teilen – zu Völkergewohnheitsrecht27 erstarkt ist.28 Konkretisiert werden die Rech­ te aus der Allgemeinen Menschenrechtserklärung zudem durch die 1966 verabschie­ deten Internationalen Menschenrechtspakte. Der Zivilpakt regelt bürgerliche und politische Rechte, während der Sozialpakt wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte hervorhebt. Beide Dokumente sind als Staatenverträge für die Unterzeichner­ staaten bindend.29 23  Zur Entstehungsgeschichte siehe den Bericht des Entwurfskomitees der UN-Menschenrechts­ kommission v. 1. Juli 1947, UN-Doc. E/CN.4/21. Die hier zitierten Entwürfe finden sich als Nach­ druck auch bei Glendon, A World Made New, Anhang 1 (Humphrey Draft) und 2 (Cassin Draft). 24  Vgl. Nw. in der vorigen Fn. 25  Vgl. Bericht des Entwurfskomitees an die Menschenrechtskommission v. 21. Mai 1948, UNDoc. E/CN.4/95, Annex A. 26  Fassbender, Menschenrechteerklärung, 6 f. 27  Der Ausdruck „Völkergewohnheitsrecht“ bezeichnet im Völkerrecht Rechtsgrundsätze, die universell gelten, ohne durch einen Vertragstext vereinbart worden zu sein. Dies setzt neben einer international geteilten Übereinkunft über den Rechtssatz eine wiederholte entsprechende Praxis einer großen Zahl von Staaten voraus, vgl. Schweitzer/Dederer, Staatsrecht III, Rn.  471–473. 28  Riedel, Universeller Menschenrechtsschutz, 28; Nettesheim, Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, Rn.  39–41, insb. 54. 29  Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte v. 19. Dezember 1966, BGBl. 1973

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2. Der Begriff der Menschenwürde im Völkerrecht Die UN-Charta bekräftigt im zweiten Satz der Präambel den Glauben nicht nur an die Menschenrechte, sondern auch an „Würde und Wert der menschlichen Persön­ lichkeit“ (the dignity and the worth of the human person). In der Präambel der Allge­ meinen Erklärung der Menschenrechte ist gleich im ersten Satz von der „Anerken­ nung der allen Mitgliedern der menschlichen Familie innewohnenden Würde“ (recognition of the inherent dignity and of the equal and inalienable rights of all members of the human family) als der Grundlage von Freiheit, Frieden und Gerechtigkeit die Rede. Im fünften Satz wird zudem die „Glaubens-Formel“ der UN-Charta wieder­ holt. In Art.  22 wird ein Anspruch des Individuums auf „den Genuss der für seine Würde und die freie Entwicklung seiner Persönlichkeit unentbehrlichen wirtschaft­ lichen, sozialen und kulturellen Rechte“ formuliert (the economic, social and cultural rights indispensable for his dignity and the free development of his personality); in Art.  23 Nr.  3 wird jedem arbeitenden Menschen eine Entlohnung zugesichert, die ihm und seiner Familie „eine der menschlichen Würde entsprechende Existenz si­ chert“ (ensuring for himself and his family an existence worthy of human dignity). Alle großen Menschenrechtsverträge, die die Vereinten Nationen seither verab­ schiedet haben, enthalten unterschiedlich formulierte Bezüge auf die Menschenwür­ de. Neben wiederkehrenden allgemeinen Bekenntnissen zu Wert und Würde jedes Menschen sind in diesem Zusammenhang etwa hervorzuheben der Würdebezug des Rechts auf Bildung (Art.  13 Abs.  1 S.  1 IPwskR, Art.  28 der Kinderrechtskonvention (KRK), Art.  24 der Konvention für die Rechte von Menschen mit Behinderungen (BRK)) sowie das Recht auf menschenwürdige Unterbringung im Strafvollzug (Art.  10 Abs.  1 IPbpR, Art.  37, 40 KRK). a. Gleicher Anspruch auf Schutz vor staatlicher Willkür – jeder Mensch als Individuum mit angeborenem Achtungsanspruch Aufgrund der geschichtlichen Erfahrung und Entwicklung hat die Menschenwürde in der UN-Charta und in der Allgemeinen Menschenrechtserklärung die Funktion, es allen Staaten weltweit in Zukunft unmöglich zu machen, Menschen vollständig zu entrechten. Die Menschenwürde soll daher zuallererst ein starker Schutzschild gegen staatliche Willkür sein.30 Mit dem Begriff gelingt es außerdem, eine allen Menschen innewohnende Quelle für die Geltung der Menschenrechte zu benennen, die neben die klassische naturrechtliche Annahme einer angeborenen Freiheit und Gleichheit aller Menschen tritt.31 Die Menschenwürde wird in diesem Kontext nicht nur als II, 1534; Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte v. 19. Dezember 1966, BGBl. 1973 II, 1570. 30  Brownsword, Human Dignity, 3. 31  Schachter, Human Dignity, 106. Die amerikanische Unabhängigkeitserklärung (1776) for­ muliert: „We hold these truths to be self-evident, that all men are created equal, that they are en­ dowed by their Creator with certain unalienable Rights.“ In der französischen Erklärung der Men­

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Begründung universaler Menschenrechte verstanden, sondern auch als Ausdruck ihrer verpflichtenden Geltung gegenüber staatlicher Gewalt.32 Die Menschenwürde in Art.  1 AEMR gehört damit zu den fundamentalen Quellen des menschenrecht­ lichen Systems der Erklärung und des darauf aufbauenden Völkerrechts.33 Dieser abwehrrechtliche Gehalt der Menschenwürde hat eine starke gleichheits­ rechtliche Komponente, heißt es doch in Art.  1 AEMR, alle Menschen seien frei und gleich an Würde und Rechten geboren.34 In späteren Dokumenten, etwa des UN-Be­ hindertenrechtsausschusses, wird folgerichtig auch das Recht auf Gleichheit vor dem Gesetz in der Würde des Menschen verankert.35 Die Menschenwürde erscheint in dieser Norm insofern weniger als Beschreibung einer konkreten Eigenschaft oder Fähigkeit denn als Chiffre für etwas, was ein Staat nach den Erfahrungen mit den totalitären Systemen des 20.  Jahrhunderts nicht mehr dürfen soll:36 Eine vollständi­ ge Entrechtung einzelner Menschen oder ganzer Bevölkerungsgruppen soll nicht mehr begründbar sein. Neben die Aussage, alle Menschen seien „frei“, wird damit eine Formulierung gesetzt, die als Identifikationsfaktor genutzt werden kann, um sich mit anderen zu solidarisieren: Allen Menschen ist, egal wie unterschiedlich sie sein mögen, doch immer gemeinsam, dass sie Träger der Würde und darum auch universeller Rechte sind.37 Die Menschenwürdeformel unterstreicht insofern den Grundgedanken des modernen Völkerrechts, wonach jeder Mensch allein aufgrund seines Menschseins einen unverlierbaren Status hat, welcher von jeder hoheitlich handelnden Gewalt anzuerkennen ist.38 Noch deutlicher als in Art.  1 AEMR kommt dieser Gedanke eines unantastbaren Status in den Präambeln der AEMR und der UN-Charta zum Ausdruck. Die Erklärung spricht von der „Anerkennung der ange­ schen- und Bürgerrechte (1789) heißt es in Art.  1: „Les hommes naissent et demeurent libres et égaux en droits.“ In der Literatur wird wegen des Bezugs zu einem Menschen innewohnenden bzw. ange­ borenen Merkmal gelegentlich eine ungebrochene Traditionslinie von diesen Erklärungen zu den nach 1945 verabschiedeten Dokumenten gezogen. Dabei wird indessen die naheliegende Frage nicht gestellt, ob es einen Unterschied ausmacht, wenn dem Menschen „Rechte“ (im Sinne eines Anspruchs gegen andere) oder eine „Würde“ (im Sinne einer unveränderlichen Eigenschaft) als an­ geboren zugeschrieben werden. Vgl. Morsink, Universal Declaration, 281, der den Menschenwür­ debezug in der Präambel der AEMR schlicht als „Reformulierung“ (rewrite) des Art.  1 der französi­ schen Erklärung versteht. Nach dieser Lesart hätte der Begriff der Menschenwürde neben der Frei­ heit und Gleichheit keine eigenständige Bedeutung. 32  Gilabert, Human Dignity, 119. 33  Marhaus, Menschenwürde, 152; Baranzke, Menschenwürde, 10, 14 f. 34  Zu Art.  1 AEMR als allgemeinem Gleichheitssatz s. Nettesheim, Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, Rn.  59. 35  Committee on the Rights of Persons with Disabilities (CRPD), General Comment No.  1 – Equal recognition before the law, UN-Doc. CRPD/C/GC/1, 2014, §  33: „Freedom from dis­ crimination in the recognition of legal capacity restores autonomy and respects the human dignity of the person in accordance with the principles enshrined in article 3 (a) of the Convention.“; siehe auch dass., General Comment No.  6 on equality and non-discrimination, CRPD/C/GC/6, 2018, §  4. 36  In diese Richtung auch Rensmann, Menschenwürde, 77. 37  Gilabert, Human Dignity, 120. 38  Fredman, Comparative Human Rights Law, 33.

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borenen Würde“ (inherent dignity) und der „gleichen und unveräußerlichen Rechte aller Mitglieder der Gemeinschaft der Menschen“. Schon in der Charta heißt es: We, the people of the United Nations determined to reaffirm faith in fundamental human rights, in the dignity and worth of the human person, in the equal rights of men and women and of nations large and small […]39

Die Bezeichnung als „angeboren“ bzw. dem Menschen „innewohnend“ ist hier einer­ seits deskriptiv zu verstehen – als etwas, was jeden Menschen von Geburt an ohne Weiteres auszeichnet – muss jedoch im rechtlichen Kontext normativ gedeutet wer­ den. Indem die Menschenwürde als dem Menschen „innewohnend“ markiert wird, wird sie einem möglichen staatlichen Zugriff noch weiter entzogen. Sie ist dann mehr als ein Recht, das Menschen zugestanden oder verweigert werden kann, nämlich ein Status, den staatliche Gewalt unbedingt zu achten hat. In diesem Sinn verweisen die zitierten Normen bereits auf die Unantastbarkeit der Menschenwürde, wie sie 1949 in Art.  1 Abs.  1 GG formuliert wird, wenngleich die im deutschen Recht und im Recht der Europäischen Union virulente Frage einer Abwägbarkeit der Menschen­ würde mit anderen Rechten, Gütern oder Interessen im Völkerrecht keine nennens­ werte Rolle spielt. Auch die begriffliche Unterscheidung zwischen „Würde“ und „Wert“ des Menschen kommt weder in den Dokumenten des Beratungsprozesses zur Sprache,40 noch hat sie in der Interpretationsgeschichte Bedeutung entfaltet. Ob ein mehr als nur allgemeiner geistesgeschichtlicher Zusammenhang zu Kants Differen­ zierung zwischen Würde und Wert besteht,41 bedürfte tiefergehender Untersuchun­ 39  „Wir, die Völker der Vereinten Nationen – fest entschlossen, unseren Glauben an die Grund­ rechte des Menschen, an Würde und Wert der menschlichen Persönlichkeit, an die Gleichberechti­ gung von Mann und Frau sowie von allen Nationen, ob groß oder klein, erneut zu bekräftigen“. 40  Allerdings war in der ersten Fassung dieses Satzes der Präambel in der englischen Fassung noch von dignity and value statt heute von dignity and worth die Rede, vgl. Protokoll der Sitzung der Kommission I/1 v. 31. Mai 1945, UN-Doc. WD 62 I/1/A/18, in: Documents of the United Nations Conference on International Organization San Francisco, 1945 Vol.  VI: Commission I – General Provisions, 694. Die schließlich verabschiedete Fassung geht auf nicht weiter begründete redaktio­ nelle Änderungen im Juni 1945 zurück, vgl. Bericht des Koordinierungsausschusses v. 25. Juni 1945, UN-Doc. 1192 CO/185, in: Documents of the United Nations Conference Vol.  15, 260 (261), sowie Protokoll der 41. Sitzung des Koordinierungskomitees v. 23. Juni 1945, UN-Doc. WD 441 CO/205, in: Documents of the United Nations Conference Vol.  17, 379 (380). 41  Kant unterscheidet den bedingten Wert eines Gegenstands im Sinne eines veränderlichen Preises von dem „inneren“ oder „absoluten“ Wert eines Gegenstands, der ein Zweck an sich selbst ist. Da der Mensch für ihn ein Zweck an sich selbst ist, hat er keinen relativen, sondern einen abso­ luten bzw. inneren Wert, den Kant auch als „Würde“ bezeichnet. Vgl. Kant, Grundlegung, AA IV, 434 f.: „Was sich auf die allgemeinen menschlichen Neigungen und Bedürfnisse bezieht, hat einen Marktpreis; das, was, auch ohne ein Bedürfniß vorauszusetzen, einem gewissen Geschmacke, d. i. einem Wohlgefallen am bloßen zwecklosen Spiel unserer Gemütskräfte, gemäß ist, einen Affectionspreis; das aber, was die Bedingung ausmacht, unter der etwas allein Zweck an sich selbst sein kann, hat nicht bloß eine relativen Werth, d. i. einen Preis, sondern einen innern Werth, d. i. Würde.“ Siehe auch a. a. O., 428, 438 f. Zur Formulierung eines allgemeinen Achtungsanspruchs im Zusammen­ hang mit der Würde siehe Kant, Metaphysik, AA VI, 434 f.: „Allein der Mensch als Person betrach­ tet, d. i. als Subjekt einer moralisch-praktischen Vernunft, ist über allen Preis erhaben; denn als ein solcher (homo noumenon) ist er nicht blos als Mittel zu anderer ihren, ja selbst seinen eigenen Zwe­

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gen. In der Literatur wird diese Verbindung – neben anderen Traditionslinien – häu­ fig hergestellt,42 jedoch ist eine konkrete Auseinandersetzung mit den geistesge­ schichtlichen Wurzeln des Menschenwürdebegriffs in der Entstehungsgeschichte der UN-Charta nicht dokumentiert. Unabhängig davon trägt es zur inhaltlichen Bestimmung des Würdebegriffs kaum etwas bei, wenn man ihn als Ausdruck eines ebenso wenig bestimmten dem Menschen „innewohnenden Wertes“ beschreibt.43 b. Schutz vor Folter, Demütigung und grausamer Bestrafung Neben dieser allgemeinen Bedeutung der Menschenwürde als Begründung eines staatlicherseits nicht disponiblen Status jedes Menschen finden sich im Völkerrecht bereichsspezifischere Verwendungen. Mit dem Menschenwürdeschutz werden die Verbote von demütigender und grausamer Behandlung, Folter und Todesstrafe sowie ein Anspruch auf menschenwürdigen Strafvollzug gerechtfertigt.44 Ähnlich wie bei den sozialen Rechten (siehe dazu noch unten) wird der menschenwürdige Straf­ vollzug über die Möglichkeit definiert, seine Menschenrechte weiterhin genießen zu können und nur insoweit Abstriche machen zu müssen, wie es die Umstände des Freiheitsentzugs zwingend erfordern.45 Wegweisend für diesen Bereich des Men­ schenwürdeschutzes war vor allem die UN Anti-Folter Konvention vom 26. Juni 1987, die sich in ihrer Präambel ebenfalls direkt auf die Menschenwürde bezieht.46

cken, sondern als Zweck an sich selbst zu schätzen, d. i. er besitzt eine Würde (einen absoluten inne­ ren Werth), wodurch er allen andern vernünftigen Weltwesen Achtung für ihn abnöthigt, sich mit jedem Anderen dieser Art messen und auf den Fuß der Gleichheit schätzen kann.“ Ausf. zur Men­ schenwürde bei Kant siehe von der Pfordten, Menschenwürde, Recht und Staat, 9–11; Baranzke, Menschenwürde, 17–19. 42  Vgl. exemplarisch Baranzke, Menschenwürde, 17–19; Fredman, Comparative Human Rights Law, 34–36. 43  Vgl. die Formulierung „inherent worth“ bei McCrudden, Human Dignity, 655 und die Kritik bei Fredman, Comparative Human Rights Law, 33. 44  Zum Verbot der Todesstrafe (Art.  6 IPbpR) als einer grausamen, unmenschlichen und ernied­ rigenden Bestrafung (cruel, inhumane or degrading form of punishment) vgl. Human Rights Com­ mittee (HRC), General Comment No.  36, §  51; zum Folterverbot (Art.  7 IPbpR) vgl. HRC, General Comment No.  20, §  2; zum humanen Strafvollzug vgl. neben dem Wortlaut des Art.  10 IPbpR („Achtung vor der dem Menschen innwohnenden Würde“) HRC, General Comment No.  21, §§  3, 4. 45  Human Rights Committee (HRC), General Comment No.  21, §  3: „Thus, not only may per­ sons deprived of their liberty not be subjected to treatment that is contrary to article 7, including medical or scientific experimentation, but neither may they be subjected to any hardship or con­ straint other than that resulting from the deprivation of liberty; respect for the dignity of such per­ sons must be guaranteed under the same conditions as for that of free persons. Persons deprived of their liberty enjoy all the rights set forth in the Covenant, subject to the restrictions that are una­ voidable in a closed environment“. 46  Übereinkommen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Be­ handlung oder Strafe, BGBl. 1990 II, 247.

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c. Achtung der (auch genetischen) Identität In neueren Dokumenten der Vereinten Nationen dient der Begriff der Würde als Grenzbegriff für ethisch komplexe und umstrittene Fragen der Bioethik, insbesonde­ re im Bereich der biomedizinischen Forschung (s. dazu auch noch unter II.).47 Die Quellen, denen ein derartiges Verständnis entnommen werden kann, sind im Ver­ gleich zu den Menschenrechtskonventionen von geringerer völkerrechtlicher Ver­ bindlichkeit und daher dem sogenannten soft law zuzurechnen. Zu dem völkerrecht­ lichen soft law gehören beispielsweise die Erklärungen und Resolutionen internatio­ naler Organisationen und Staatenkonferenzen. Sie dienen der Weiterentwicklung des Völkerrechts insbesondere durch die Formulierung von Zielen oder Verhaltens­ standards, begründen aber unmittelbar keine Staatenpflichten. In diese Kategorie fällt beispielsweise die „UNESCO-Erklärung über das menschliche Genom und Menschenrechte“, die 1997 von der Generalversammlung der UNESCO verabschie­ det wurde. In Art.  2 dieser Erklärung wird ein Recht jedes Menschen „auf Achtung seiner Würde und Rechte, unabhängig von seinen genetischen Eigenschaften“ be­ gründet. Damit soll einer denkbaren Diskriminierung aufgrund der genetischen Ei­ genschaften entgegengewirkt werden. Erklärtes Ziel der Deklaration ist es, den Men­ schen „in seiner Einzigartigkeit und Vielfalt“ zu achten.48 Die biomedizinische For­ schung wird in dieser und zwei Folgeerklärungen auf die Achtung der menschlichen Würde verpflichtet, und bestimmte Praktiken wie das reproduktive Klonen von Menschen werden für unvereinbar mit der Menschenwürde erklärt (Art.  11 der De­ klaration). Erstmals werden in den bioethischen Deklarationen auch personenbezo­ gene (hier: genetische) Daten als identitätsbestimmende Faktoren der menschlichen Existenz unter den Schutz der Menschenwürde gestellt (Art.  7). Der abwehrrechtli­ che Gehalt der Menschenwürde bezieht sich auch in dieser Hinsicht auf eine existen­ zielle Bedingung des menschlichen Daseins. d. Das menschenwürdige Leben als Gegenstand staatlicher Schutzpflichten Der völkerrechtliche Begriff der Menschenwürde beschränkt sich aber von Beginn an nicht nur auf eine Abwehrkomponente gegenüber staatlichen Übergriffen. In Art.  22 AEMR heißt es: Everyone, as a member of society, has the right to social security and is entitled to realization, through national effort and international co-operation and in accordance with the organiza­ tion and resources of each State, of the economic, social and cultural rights indispensable for his dignity and the free development of his personality.49 47 

Vgl. zu dieser Entwicklung Vöneky, Völkerrecht und Ethik. Siehe auch die beiden darauf aufbauenden UNESCO-Erklärungen über den Schutz humange­ netischer Daten (2003) und über Bioethik und Menschenrechte (2005). Zum Text der Erklärungen von 1997, 2003 und 2005 siehe Müller-Terpitz, Recht der Biomedizin, 213–215. 49  „Jeder hat als Mitglied der Gesellschaft das Recht auf soziale Sicherheit und Anspruch darauf, durch innerstaatliche Maßnahmen und internationale Zusammenarbeit sowie unter Berücksichti­ 48 

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Art.  23 ergänzt außerdem das Recht jedes arbeitenden Menschen auf einen Lohn, welcher eine menschenwürdige Existenz sichert.50 Damit manifestiert sich ein Grundkonflikt bei der Ausgestaltung von Menschenrechten, nämlich die Frage, ob neben die Freiheitsrechte auch noch soziale oder wirtschaftliche Rechte treten müs­ sen,51 auch in der Definition des Begriffs der Menschenwürde. Der Allgemeinen Er­ klärung der Menschenrechte kann hier durch die Formulierungen der Art.  22 und 23 zumindest eine Tendenz zu einem umfassenderen Verständnis entnommen werden. Einklagbare Leistungsansprüche werden nicht formuliert, jedoch werden Staaten­ pflichten deutlich, die über den bloßen Verzicht auf aktive menschenwürdewidrige Maßnahmen hinausreichen: Jedenfalls hat jeder Mensch ein Recht auf soziale Sicher­ heit und ein Mindestmaß an staatlicher Fürsorge.52 Maßstab für die notwendigen Aktivitäten des Staates ist das „menschenwürdige Leben“. Damit wird einem Ver­ ständnis der Menschenwürde Rechnung getragen, das neben der formalen Zuerken­ nung von Rechten einen Mindeststandard an Gütern für ihre tatsächliche Realisier­ barkeit verlangt.53 Die soziale und ökonomische Dimension der Menschenrechte wird unter anderem in dem bereits genannten Internationalen Pakt für wirtschaftliche, soziale und kul­ turelle Rechte konkretisiert. Die Präambel dieses Paktes leitet die darin gewährleis­ teten Rechte unmittelbar aus der Menschenwürde ab.54 Die Menschenwürderele­ vanz sozialer und ökonomischer Rechte wird auch in späteren Dokumenten des UN-Fachausschusses für die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte (CECSR) betont: Auch wenn das Menschenrecht auf soziale Sicherheit im Normtext des Art.  9 des IPwskR – anders als in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrech­ te – keinen Bezug zur Menschenwürde mehr enthält, wurzelt es nach Auffassung des Fachausschusses doch in der Staatenpflicht, jedem Menschen ein menschenwürdiges Leben zu garantieren. Denn nur, wenn diese Mindestbedingungen erfüllt sind, so der Ausschuss, haben die Menschen die Chance, ihre Menschenrechte vollständig zu re­ alisieren.55 Auch die Menschenrechte auf Wasser (hergeleitet aus Art.  11 und 12 gung der Organisation und der Mittel jedes Staates in den Genuss der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte zu gelangen, die für seine Würde und die freie Entwicklung seiner Persönlichkeit unentbehrlich sind.“ 50  Wörtlich heißt es in Art.  23 Nr.  1: „Jeder Mensch, der arbeitet, hat das Recht auf angemessene und befriedigende Entlohnung, die ihm und seiner Familie eine der menschlichen Würde entspre­ chende Existenz sichert und die, wenn nötig, durch andere soziale Schutzmaßnahmen zu ergänzen ist.“ 51  Fritsche, Menschenrechte, 103–105. 52  Nettesheim, Die Allgemeine Erklärung, Rn.  60. 53 Vgl. Gisbertz, Menschenwürde, 229–231, der auf die Dimension der „ökonomischen und so­ zialen Aktualisierung“ der Menschenwürde verweist; aus rechtlicher Perspektive Rensmann, Men­ schenwürde, 81. 54  „In der Erkenntnis, dass sich diese Rechte aus der dem Menschen innewohnenden Würde herleiten, […]“. 55  Committee on Economic, Social and Cultural Rights (CECSR), General Comment No.  19, §  1: „The right to social security is of central importance in guaranteeing human dignity for

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IPwskR)56 und auf Teilnahme am kulturellen Leben sowie den Schutz kultureller Vielfalt (Art.  15 IPwskR)57 verankert der Ausschuss in deren Notwendigkeit für ein menschenwürdiges Leben. Was ein menschenwürdiges Leben ausmacht, konkreti­ siert sich in diesen Äußerungen als ein Zustand, in dem das Individuum seine Rech­ te umfassend wahrnehmen kann und nicht durch Umstände extremer Armut oder andere Not- und Gefahrenlagen daran gehindert wird. An dieser Stelle wird das Verhältnis von Menschenwürde und Menschenrechten im völkerrechtlichen Kontext deutlich: Ist jedem Menschen eine Würde „innewoh­ nend“, wie es in den Menschenrechtserklärungen heißt, so kann er sie aus einer de­ skriptiven Perspektive zwar nicht verlieren, wenn er unter unwürdigen Bedingungen leben muss. Menschenwürde aber realisiert sich in dem Genuss der Menschenrechte. Anders gesagt: Wo Menschen ihre Rechte nicht wahrnehmen können, gerät ihre Würde in Gefahr. Die Anerkennung einer inhärenten Menschenwürde verpflichtet die Staaten daher, jedenfalls die absolut notwendigen Bedingungen dafür zu schaf­ fen, dass jeder Mensch in die Lage versetzt wird, seine Rechte wahrzunehmen. Dieser Zusammenhang lässt sich auf Freiheitsrechte und soziale Rechte gleichermaßen be­ ziehen: So, wie eine Person ihr Recht auf Versammlungsfreiheit nicht genießen kann, wenn ein Staat oppositionelle Versammlungen verbietet und strafrechtlich verfolgt, kann sie ihr Recht auf Gesundheit nicht realisieren, wenn ihr kein sauberes Wasser zur Verfügung steht. Jedoch wird man die Menschenwürdebezüge in den völkerrechtlichen Menschen­ rechtserklärungen nicht so verstehen dürfen, dass jede Verletzung eines der konkre­ ten Menschenrechte (etwa des Rechts auf Gesundheit) zugleich eine Verletzung der Menschenwürde darstellt, die Menschenwürde also als eine Art „Supermenschen­ recht“ zu verstehen wäre. Vielmehr dient die Menschenwürde in zweierlei Hinsicht als Argumentationsfigur, die das Gewicht der Menschenrechte herausstreicht: Zum einen wird ein nicht näher definierter Kern menschenrechtlicher Gewährleistungen dem staatlichen Zugriff absolut entzogen. Zum anderen wird die existenzielle Bedeu­ tung und Notwendigkeit der Menschenrechte für jedes Individuum hervorgehoben und ihrer Realisierung damit Priorität gegenüber anderen Belangen verliehen. Auch dies kommt bei der Betrachtung der sozialen Rechte anschaulich zum Ausdruck, wenn der UN-Ausschuss sich mit den Kosten sozialer Garantien befasst: Ihm sei be­ wusst, dass die Realisierung des Rechts auf soziale Sicherheit finanzielle Belastungen für die Staaten erzeuge. Angesichts der Bedeutung dieser Rechte für die Menschen­ würde aber seien die Staaten verpflichtet, der Umsetzung sozialer Rechte in ihrem all persons when they are faced with circumstances that deprive them of their capacity to fully real­ ize their Covenant rights.“ 56  Committee on Economic, Social and Cultural Rights (CECSR), General Comment No.  15, §  1: „The human right to water is indispensable for leading a life in human dignity. It is a prerequisite for the realization of other human rights.“ Siehe zum Menschenrecht auf Wasser ­Stubenrauch, Menschenrecht auf Wasser, 521. 57  Committee on Economic, Social and Cultural Rights (CECSR), General Comment No.  21, §§  1, 40.

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Recht und ihrer Politik „angemessenen Vorrang“ (appropriate priority) zu geben.58 Mit Hilfe des Menschenwürdearguments wird hier also eine Priorisierung sozialer Rechte vor beispielsweise wirtschaftlichen Interessen verlangt. e. Freiheit und Selbstbestimmung Die vorstehenden Ausführungen lassen einen umfassenden Begriff der Menschen­ würde erkennen, der sich nicht lediglich auf eine konkrete Eigenschaft des Menschen bezieht und eine Dimension des Menschseins beschreibt, die nicht erst im Laufe des Lebens erworben werden muss. Eine Begründung der Menschenwürde allein aus der Fähigkeit oder dem Potenzial des Menschen zu Vernunft oder Selbstbestimmung entspricht insofern nicht dem völkerrechtlichen Begriffsverständnis. Jedoch wird die menschliche Selbstbestimmung als wichtiges Element der Menschenwürde im Völ­ kerrecht durchaus auch erkennbar. Dies zeigt sich schon an der erwähnten Auffas­ sung, wonach ein menschenwürdiges Leben eine unabdingbare Voraussetzung dafür ist, die Menschenrechte wahrzunehmen. Menschenwürde wird damit zumindest auch zu einer Bedingung eines selbstbestimmten Lebens, in dem die Individuen tat­ sächlich die Freiheit haben, zwischen unterschiedlichen Optionen zu wählen.59 So schützt das Recht auf Leben gem. Art.  6 IPbpR nach dem Verständnis des UN-­ Menschenrechtsausschusses, der den Internationalen Pakt über bürgerliche und ­politische Rechte überwacht, nicht nur vor lebensbeendenden Handlungen wie der Todesstrafe, sondern auch vor Umständen, die einem menschenwürdigen Leben ent­ gegenstehen.60 Solche Umstände können etwa eine hohe Kriminalitätsrate im unmit­ telbaren Lebensumfeld, extreme Armut sowie mangelnder Schutz vor Gefahren und Umweltschäden sein. Ausdrücklich erwähnt der Ausschuss im Zusammenhang mit dem Recht auf Leben (genauer: einem Recht auf Sterben in Würde) auch die Bedeu­ tung der personalen Autonomie für die Menschenwürde.61 f. Ein Leben in Würde als Bildungsziel Wenig beachtet wird in der juristischen Auslegung des Menschenwürdebegriffs seine völkerrechtliche Bedeutung für das Recht auf Bildung. Noch nicht in Art.  26 AEMR, dann aber in Art.  13 Abs.  1 IPwskR wird „die volle Entfaltung der menschlichen Per­ 58  Committee on Economic, Social and Cultural Rights (CECSR), General Comment No.  19, §  41. 59  Zu der Bedeutung tatsächlicher Wahlmöglichkeiten als äußere Bedingung selbstbestimmten Lebens vgl. Raz, Morality of Freedom, 395, 408 f.; Holzleithner, Herausforderungen des Rechts 28 f.; sowie Wapler, Reproduktive Autonomie, 185, 198–200. 60  Human Rights Committee (HRC), General Comment No.  36, §  3: „The right to life is a right that should not be interpreted narrowly. It concerns the entitlement of individuals to be free from acts and omissions that are intended or may be expected to cause their unnatural or premature ­death, as well as to enjoy a life with dignity.“ Siehe zur Todesstrafe a. a. O., §  50, zu den nachfolgen­ den Beispielen §  26. 61  Ebd., §  9.

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sönlichkeit und des Bewusstseins ihrer Würde“ als Bildungsziel benannt. Die For­ mulierung wird in dem 2008 in Kraft getretenen Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen aufgegriffen (Art.  24 Abs.  1 lit.  a BRK). Die Kin­ derrechtskonvention enthält in Art.  28 Abs.  2 ein Verbot menschenunwürdiger Be­ handlung in der Schule und bezieht die Menschenwürdegarantie damit nicht nur auf die Inhalte, sondern auch auf die Methoden im Bildungswesen. Der UN-Kinder­ rechtsausschuss begreift die Menschenwürde in diesem Zusammenhang als eine dem Kind innewohnende Eigenschaft, zu deren Respekt die Staaten nicht nur in ei­ nem abwehrrechtlichen Sinne verpflichtet sind. Vielmehr ist es ihre Aufgabe, in dem Kind das Bewusstsein für seine Würde zu wecken und ihm dadurch die vollständige Entfaltung seiner Persönlichkeit zu ermöglichen. Bildung in diesem Sinne hat keinen rein instrumentellen, auf wirtschaftliche Verwertbarkeit ausgerichteten Wert, son­ dern wird als Mittel verstanden, dem Kind die Entfaltung seiner Begabungen und Fähigkeiten und letzten Endes ein gutes Leben zu ermöglichen.62 Das Bildungsrecht für Menschen mit Behinderungen muss denselben Standards genügen; auch hier nimmt der Fachausschuss Bezug auf die dem Menschen innewohnende Würde und damit auf die grundlegende Gleichheit aller Menschen unabhängig von ihren per­ sönlichen Eigenschaften und Merkmalen.63 g. Zwischenfazit Zusammengefasst gehört der Begriff der Menschenwürde zu den Grundbegriffen des modernen Völkerrechts seit der Gründung der Vereinten Nationen im Jahr 1945. Die völkerrechtlichen Menschenwürdeklauseln enthalten unterschiedlich gestaltete – und aus dem Englischen auch divergierend ins Deutsche übersetzte – Bekenntnisse zu ihrer Unverfügbarkeit. Im Grundgesetz und der EU-Grundrechtecharta wird die Menschenwürde als „unantastbar“ bzw. englisch inviolable bezeichnet (Art.  1 Abs.  1 GG, Art.  1 GrCh). Das englische inherent wird im Deutschen mal mit „angeboren“ (Präambel des UN-Übereinkommens gegen Rassendiskriminierung v. 1996), mal als dem Menschen „innewohnend“ (Präambeln der AEMR, der Internationalen Pakte, der UN-Anti-Folter-Konvention, der KRK und der BRK; Art.  10 IPbpR, Art.  1 der Erklärung zur Genomforschung) übersetzt. In die Kategorie der „angeborenen“ Menschenwürde fallen daneben auch Formulierungen, in denen der Mensch als „frei und gleich an Würde und Rechten geboren“ (born free and equal in dignity and rights) beschrieben wird (Art.  1 AEMR; Präambel der Frauenrechtskonvention). Die Unver­ 62  Committee on the Rights of the Child (CRC), General Comment No.  1, §  2: „The goal is to empower the child by developing his or her skills, learning and other capacities, human dignity, self-esteem and self-confidence. ‘Education’ in this context goes far beyond formal schooling to embrace the broad range of life experiences and learning processes which enable children, individ­ ually and collectively, to develop their personalities, talents and abilities and to live a full and satis­ fying life within society.“ 63  Committee on the Rights of Persons with Disabilities (CRPD), General Comment No.  4, §§  10 lit.  b, 15, 55, 67.

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fügbarkeit der Menschenwürde wird des Weiteren vielfach mit der Existenz „unver­ äußerlicher“ (inalienable) Rechte in Verbindung gebracht (z. B. Art.  1 Abs.  1, 3 GG, Präambeln der AEMR und der BRK). Einen Hinweis auf die Nichtabwägbarkeit der Menschenwürde, die das deutsche verfassungsrechtliche Verständnis prägt, findet sich im Völkerrecht, soweit es hier untersucht wurde, nicht. Die Entstehungsgeschichte des modernen Menschenrechtsdenkens zeigt, wie sehr der Rekurs auf die Menschenwürde als Reaktion auf die totalitären Systeme des 20.  Jahrhunderts gedeutet werden muss. Dies kann auch die vielfältigen Zusammen­ hänge erklären, in denen der Menschenwürdebegriff in den internationalen Men­ schenrechtskonventionen erscheint. Primär darauf angelegt, eine elementare Gleich­ heit aller Menschen in ihrem grundlegenden und von persönlichen Eigenschaften unabhängigen Achtungsanspruch zu formulieren, erscheint der Ausdruck immer da, wo es um existenzielle Bedingungen des menschlichen Lebens geht: die Sicherung unabdingbarer Bedingungen des Überlebens (wie sauberes Wasser, das materielle Existenzminimum und die Freiheit vor Gewalt), der Persönlichkeitsentfaltung (wie der Selbstbestimmung, Bildung, gleichberechtigten Teilhabe am kulturellen Leben und der Freiheit von Diskriminierung), der Freiheit von Ausbeutung sowie von grau­ samer, unmenschlicher und demütigender Behandlung. Viel konkreter wird es im völkerrechtlichen Kontext indessen nicht, was nicht zuletzt daran liegt, dass für die Umsetzung der menschenrechtlichen Staatenpflichten ein breiter und nur schwach justiziabler nationaler Gestaltungsspielraum besteht. Bevor man aber den Men­ schenwürdebegriff aus diesem Grund als Menschenrechtslyrik kritisiert, sollte man sich klar machen, wie viel historisch schon erreicht ist, wenn sich die Weltgemein­ schaft immerhin auf einen abstrakten „kleinsten gemeinsamen Nenner“ einigt, der extreme Formen menschlichen Leides zu unterbinden anstrebt.64

II. Exkurs: der mittelbare Bezug auf die Menschenwürde in der Europäischen Menschenrechtskonvention Die 1950 in Kraft getretene „Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten“ des Europarates (kurz: Europäische Menschenrechtskonvention, EMRK) enthält in ihrem Normtext die Ausdrücke „Würde“ oder „Menschenwürde“ nicht.65 Jedoch verbietet sie zahlreiche Praktiken, die im übrigen Völkerrecht und 64 

Byk, Is human dignity a useless concept?, 363; vgl. auch Tiedemann, Menschenwürde, 111–113. Zu einer möglichen Ursache, die in dem Einfluss des utilitaristisch geprägten Großbritanni­ ens liegen könnte, s. von der Pfordten, Menschenwürde, 45. Zur Vorgeschichte der Menschen­ rechtserklärungen, die nach 1945 verfasst wurden, gehören allerdings auch Entwürfe britischer Ju­ risten, die in ihren Präambeln einen Menschenwürdebezug vorsehen, vgl. die Präambel des Ent­ wurfs von Lauterpacht (1945): „Whereas the dignity of man, the dictates of justice, and the principle of solidarity in modern society require that no person shall suffer undeserved want […]“, zit. n. Lauterpacht, An International Bill, 69, und die Präambel des britischen Vertreters in der UN-Menschenrechtskommission, Lord Dukeston (1947): „Whereas the peoples of the United Na­ 65 

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auch in der deutschen Rechtsordnung als Verletzungen der Menschenwürde angese­ hen werden, insbesondere Folter, unmenschliche und erniedrigende Behandlung (Art.  3) sowie Sklaverei und Zwangsarbeit (Art.  4). Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) betrachtet das Folterverbot als absolut geltenden völker­ rechtlichen Grundsatz und begründet damit einen Bereich des Unantastbaren und Unabwägbaren im staatlichen Handeln gegenüber dem Individuum.66 Dieser Schutz gilt auch in humanitären Ausnahmesituationen. So hat die zweite Kammer des Ge­ richtshofs 2015 in Khlaifia and Others v. Italy entschieden, dass auch zeitweilige staatliche Überlastungen aufgrund außergewöhnlicher Einwanderungswellen die Staaten nicht von der „Verpflichtung befreien zu garantieren, dass jede Person […] in den Genuss von Bedingungen kommt, die mit dem Respekt ihrer Menschenwürde kompatibel sind.“67 Geklagt hatten drei tunesische Staatsbürger, die 2011 in über­ füllten Aufnahmeeinrichtungen zunächst auf Lampedusa und anschließend auf Schiffen im Hafen von Palermo von der italienischen Polizei festgehalten worden waren, bevor sie nach Tunesien zurückgebracht wurden. Die zweite Kammer des Ge­ richtshofs entschied zunächst zugunsten der Migranten, indem sie feststellte, dass „ihre Anhaltung unter Bedingungen, welche ihre Menschenwürde beeinträchtigen, eine Art.  3 EMRK zuwiderlaufende erniedrigende Behandlung“ sei.68 Die von Italien daraufhin angerufene Große Kammer des Gerichtshofs revidierte das Urteil jedoch und verneinte in diesem Einzelfall unter Berufung auf den ununterbrochenen Zu­ gang von Hilfsorganisationen eine Verletzung von Art.  3 EMRK.69 An dem Grund­ satz der jederzeit bestehenden Verpflichtung zur Achtung der Menschenwürde auch in Notunterkünften für Flüchtlinge hielt aber auch die große Kammer fest.70 Noch grundsätzlicher äußerte sich der EGMR bereits 2002 in dem Verfahren ­Pretty v. United Kingdom bei der Prüfung des Art.  8 EMRK: Das Wesentliche der Konvention ist die Achtung der Menschenwürde und der menschlichen Freiheit. Ohne den von der Konvention geschützten Grundsatz der Unverletzlichkeit des Le­ bens in irgendeiner Weise antasten zu wollen, ist der Gerichtshof der Auffassung, dass es bei Art.  8 EMRK ist, wo der Begriff der Lebensqualität Bedeutung gewinnt. In einer Zeit fort­ schreitender Entwicklung der Medizin in Verbindung mit einer längeren Lebenserwartung ist es für viele Personen ein Anliegen, im hohen Alter oder bei fortschreitendem körperlichen oder geistigen Abbau nicht dazu gezwungen zu werden, weiterzuleben, weil das nicht mit für wesentlich gehaltenen Vorstellungen von eigener und persönlicher Freiheit im Einklang ste­ hen würde.71 tions have reaffirmed their faith in fundamental human rights and in the dignity and worth of the human person […]“, zit. n. dem Bericht des Entwurfskomitees v. 1. Juli 1947, UN-Doc. E/CN.4/21, Annex B, 29. 66  Vgl. zum Zusammenhang zwischen der Menschenwürde und Art.  3 EMRK: Bührer, Men­ schenwürdekonzept, 200–202. 67  EGMR, Urt. v. 01.09.2015, Az. 16483/12, Rn.  128. 68  EGMR, Urt. v. 01.09.2015, Az. 16483/12, Rn.  135. 69  EGMR, Große Kammer, Urt. v. 15.12.2016, Az. 16483/12, Rn.  200. 70  EGMR, Große Kammer, Urt. v. 15.12.2016, Az. 16483/12, Rn.  184. 71  EGMR, Urt. v. 29.4.2002, Az. 2346/02, NJW 2002, 2851, Rn.  65.

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Geklagt hatte eine 43-jährige Frau aus Großbritannien, die unheilbar krank war und deren Mann es nach dem britischen Recht untersagt war, ihr Sterbehilfe zu leisten. Auch wenn der Gerichtshof in dieser Entscheidung ein Recht auf Sterben in Würde grundsätzlich bejahte, stellte er im Ergebnis keine Verletzung von Art.  8 Abs.  1 EMRK fest. Der Eingriff durch die nationale Norm sei nach Art.  8 Abs.  2 EMRK durch den Zweck, vulnerable Personen in dieser Lage zu schützen und Missbrauch zu verhindern, gerechtfertigt.72 Die neueren biologisch-medizinischen Entwicklungen greift auch das „Überein­ kommen zum Schutz der Menschenrechte und der Menschenwürde im Hinblick auf die Anwendung von Biologie und Medizin“ (Biomedizinkonvention) des Europara­ tes aus dem Jahr 1997 auf.73 Hierbei wird die Menschenwürde nun auch textlich erwähnt (Titel,74 Präambel, Art.  1). Art.  1 enthält die Selbstverpflichtung der Ver­ tragsstaaten, die Würde und Identität aller menschlichen Lebewesen zu schützen. Die Norm stellt dabei einen Zusammenhang mit dem für Menschenrechtserklärungen unüblichen Begriff der Identität her. Der Begriff Würde nimmt in der Konvention insgesamt eine zentrale Rolle ein. Eine Präzisierung erfolgt im Vertragstext jedoch nicht, sieht man davon ab, dass sie den Menschenwürdeschutz nicht auf geborene Menschen begrenzt, wie es etwa in Art.  1 AEMR zum Ausdruck kommt.75 Über diesen Aspekt hinaus bleibt, wie es bei Dokumenten des Europarats üblich ist, breiter Raum für unterschiedliche Verständnisse in den Mitgliedstaaten. Da Deutschland der Konvention bislang nicht beigetreten ist, hat sich auch noch keine innerstaatliche Debatte um das Verhältnis ihrer Regelungen zum grundgesetzlichen Schutz der Menschenwürde entwickelt. Auf der Ebene des Europarates ist für den Menschenwürdeschutz außerdem das 13. Zusatzprotokoll zur Abschaffung der Todesstrafe aus dem Jahr 2002 wichtig. Die Präambel geht davon aus, dass „die Abschaffung der Todesstrafe […] für die volle Anerkennung der allen Menschen innewohnenden Würde von wesentlicher Bedeu­ tung ist“. Das Protokoll greift dabei den klassischen Menschenwürdebegriff, wie er auch in der Präambel der AEMR zu finden ist, auf. Die Abschaffung der Todesstrafe wird schon seit der Aufklärung gefordert,76 ist jedoch keinesfalls eine menschen­ rechtliche Selbstverständlichkeit. Art.  2 EMRK in seiner bis heute gültigen Fassung von 1950 geht noch von der Möglichkeit der Todesstrafe im innerstaatlichen Recht 72 

s. hierzu auch Meyer-Ladewig, Menschenwürde, 981, 983. Übereinkommen zum Schutz der Menschenrechte und der Menschenwürde im Hinblick auf die Anwendung von Biologie und Medizin: Übereinkommen über Menschenrechte und Biomedi­ zin, Europarat, Vertragsnummer SEV 164, vgl. Alber, Die rechtlichen Standards der Biomedi­ zin-Konvention des Europarates. Deutschland ist der Konvention bislang nicht beigetreten (Stand Juni 2021). 74  Erster völkerrechtlicher Vertrag, der die Menschenwürde im Titel trägt, s. von Schwichow, Menschenwürde, 25. 75  Radau, Biomedizinkonvention, 19; Hassmann, Embryonenschutz, 63. 76  Grundlegend: Beccaria, Verbrechen und Strafen, Kap. XXVIII; s. auch Joerden, Todesstrafe, 470–475. 73 

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der Vertragsstaaten aus.77 Ihre Abschaffung erfolgte schrittweise zunächst für Frie­ denszeiten durch das 6. Zusatzprotokoll von 1983 und schließlich vollständig durch das 13. Zusatzprotokoll. Bereits seit 1998 wurden in den Mitgliedstaaten des Europa­ rates keine Todesurteile mehr vollstreckt. Außerhalb von Russland ist die Todesstra­ fe in keinem Mitgliedsland (zumindest für die Friedenszeit) mehr vorgesehen.78 Die Frage wurde daher in der Rechtsprechung der EGMR auch nur indirekt viru­ lent, als im Fall Soering v. Großbritannien 198979 ein deutscher Staatsbürger in die USA ausgeliefert werden sollte, wo ihm die Todesstrafe drohte. Da der Wortlaut des Art.  2 EMRK die Todesstrafe nicht verbietet, stellte sich dem Gerichtshof die Frage, ob die Norm aufgrund veränderter Staatenpraxis mittlerweile überholt sei und die Todesstrafe gegen den mit der Menschenwürde eng verknüpften Art.  3 EMRK ver­ stoße. In diesem Fall wäre eine Auslieferung nicht zulässig.80 Eine solche stillschwei­ gende Veränderung des klaren Wortlauts durch entgegenstehende Praxis wollte der Gerichtshof jedoch nicht anerkennen. Vielmehr begreift er das 6. Zusatzprotokoll in dieser Entscheidung als völkerrechtlichen Mechanismus zur Abänderung eines in­ ternationalen Vertrages: Während geänderte Staatenpraxis den ursprünglichen Ver­ tragstext für alle Mitgliedstaaten modifizieren würde, kann jeder Vertragsstaat selbst entscheiden, ob er dem Zusatzprotokoll beitritt und sich damit zur Abschaffung der Todesstrafe verpflichtet. Für das Verhältnis von Art.  2 und 3 EMRK bedeutete dies nach Auffassung des Gerichtshofs letztlich, dass die Todesstrafe nach Art.  2 weiter zulässig bleibe und auch nach Art.  3 nicht per se als grausame und unmenschliche Behandlung anzusehen sei. Jedoch seien im Fall Soering die Art und Weise der Ver­ hängung und Vollstreckung der Strafe aufgrund der zu erwartenden langen Warte­ zeit in der Todeszelle und dem körperlichen Zustand des Betroffenen als grausam und unmenschlich anzusehen. 81 In der Entscheidung Al-Saadoon and Mufdhi v. United Kingdom82 aus dem Jahr 2010 (das 13. Zusatzprotokoll war mittlerweile von 77  Art.  2 Abs.  1 EMRK: „Das Recht jedes Menschen auf Leben wird gesetzlich geschützt. Nie­ mand darf absichtlich getötet werden, außer durch Vollstreckung eines Todesurteils, das ein Ge­ richt wegen eines Verbrechens verhängt hat, für das die Todesstrafe gesetzlich vorgesehen ist.“ 78  Alleweldt, Abschaffung der Todesstrafe, Rn.  3. 79  EGMR, Urt. v. 07.07.1989, Az. 14038/88, Rn.  101–103; s. ausführlich zum Fall Soering, Lillich, The Soering Case. 80  EGMR, Urt. v. 07.07.1989, Az. 14038/88, Rn.  88. Der Fall war für den EGMR auch die erste Gelegenheit, um festzustellen, dass dieser allgemeine Grundsatz des „non-refoulment“, der in Art.  3 der UN-Anti-Folter Konvention ausdrücklich enthalten ist, auch aus Art.  3 EMRK folgt. Danach darf niemand in einen Staat abgeschoben werden, wenn ihm dort nachweislich unmenschliche Be­ handlung oder Folter drohen, vgl. Lillich, The Soering Case, 138. 81  EGMR, Urt. v. 07.07.1989, Az. 14038/88, Rn.  110. Der Fall wurde daraufhin politisch gelöst, in­dem sich die USA verpflichteten, gegen Herrn Soering keine Todesstrafe zu verhängen. Er wurde daraufhin ausgeliefert und nach einem Prozess in den USA zu zweimal lebenslänglicher Haft verur­ teilt, Lillich, The Soering Case, 141. 82  EGMR, Urt. v. 03.03.1010, Az. 61498/08. In dem Fall hatten die Antragssteller in einem Ge­ fängnis auf irakischem Boden eingesessen, welches jedoch vom britischen Militär geleitet und über­ wacht wurde. Sie waren dann für das Strafverfahren den irakischen Behörden überstellt worden. Der EGMR sah darin eine Verletzung von Art.  3 (Rn.  144), da die reale Gefahr bestehe, dass die

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45 der 47 Mitgliedsstaaten ratifiziert worden) sah der Gerichthof nun „starke Anzei­ chen“ dafür, dass Art.  3 EMRK trotz des systematischen Bruchs mit Art.  2 EMRK die Todesstrafe verbieten könne und sah in einer Überstellung trotz drohenden Todes­ urteils eines Drittstaats einen Verstoß gegen Art.  3 EMRK.83 Die Menschenwürde ist insofern sowohl in der Praxis des Europarats als auch in neueren Dokumenten als Grundlage menschenrechtlicher Garantien und schutzwür­ diges Gut präsent, allerdings bleiben die begrifflichen Konturen bislang eher unklar.

III. Die Menschenwürdegarantie im deutschen Grundgesetz 1. Entstehungsgeschichte Wie die Gründungsdokumente der Vereinten Nationen ist auch das (west)deutsche Grundgesetz, das in der Bundesrepublik am 24. Mai 1949 in Kraft trat, von den Er­ fahrungen der nationalsozialistischen Herrschaft und des Zweiten Weltkrieges ge­ prägt. Der Wille des Parlamentarischen Rates, die Würde sowie die Freiheit und Gleichheit aller Menschen in den Mittelpunkt der westdeutschen Nachkriegsord­ nung zu stellen, zeigt sich schon systematisch an der Gliederung des Grundgesetzes, in dem – anders als in der Weimarer Reichsverfassung – die Grundrechte unmittel­ bar im Anschluss an die Präambel am Beginn stehen und von der Menschenwürde­ garantie in Art.  1 Abs.  1 GG eingeleitet werden. Ebenfalls in Art.  1 werden alle staat­ lichen Gewalten auf die Beachtung der Grundrechte als unmittelbar geltendes Recht verpflichtet (Art.  1 Abs.  3 GG).84 Art.  1 Abs.  2 GG verknüpft die Menschenwürde außerdem mit den Menschenrechten, die als Grundlage des Friedens und der Ge­ rechtigkeit in der Welt bezeichnet werden. Ähnlich wie das Völkerrecht stellt also auch das Grundgesetz eine enge Verbindung zwischen Menschenwürde, Menschen­ rechten und Friedenssicherung her.85 Während sich der Grundrechtekatalog des Grundgesetzes in weiten Teilen an der zwar verabschiedeten, aber niemals in Kraft getretenen Paulskirchenverfassung von 1848/49 und der Weimarer Reichsverfassung orientiert, ist die Menschenwürdeklau­ sel in dieser Form ohne historisches Vorbild im deutschen Recht.86 Der Parlamenta­ Angeklagten zu Todesstrafen verurteilt würden; zum Verständnis des Falles s. Milanovic, AlSaadoon and Mufdhi Merits Judgment. 83  „All but two of the Member States have now signed Protocol No.  13 and all but three of the States which have signed have ratified it. These figures, together with consistent State practice in observing the moratorium on capital punishment, are strongly indicative that Article 2 has been amended so as to prohibit the death penalty in all circumstances. Against this background, the Court does not consider that the wording of the second sentence of Article 2 §  1 continues to act as a bar to its interpreting the words `inhuman or degrading treatment or punishment´ in Article 3 as including the death penalty.“ EGMR, Urt. v. 03.03.1010, Az. 61498/08, Rn.  123. 84  V. Münch/Kunig, in: dies., GG, Vor Art.  1–19 Rn.  15–17. 85  Dreier, in: ders. (Hg.), GG, Art.  1 II Rn.  6. 86  Art.  151 WRV enthielt lediglich die Vorgabe an das Wirtschaftsleben, ein „menschenwürdiges

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rische Rat orientierte sich stattdessen an Entwicklungen, die während des Zweiten Weltkriegs im deutschen Widerstand sowie in der internationalen Diskussion be­ gonnen hatten.87 Aus der internationalen Diskussion waren den Delegierten die Formulierungen der UN-Charta und der Allgemeinen Menschenrechtserklärung bekannt.88 Bereits der erste Entwurf für ein Grundgesetz des Verfassungskonvents von Herrenchiemsee (1948), auf den die Beratungen des Parlamentarischen Rates aufbauten, hatte zudem eine Menschenwürdeklausel vorgesehen.89 Auch die Verfas­ sungen der neu gegründeten Bundesländer Bayern, Hessen (beide 1946) und Bremen (1947) bekannten sich ausdrücklich zur Achtung der Menschenwürde. Gemeinsam ist diesen Verfassungsnormen die Intention, sich von der Gewaltherrschaft des Na­ tionalsozialismus in Deutschland und ihrer völkisch-rassistischen Vernichtungspo­ litik zu distanzieren.90 Zwar ist im Grundgesetz nicht ausdrücklich von einer „dem Menschen innewoh­ nenden“ Würde die Rede. Jedoch wird aus dem Entstehungszusammenhang deut­ lich, dass die Menschenwürdegarantie in Art.  1 Abs.  1 GG dem Rechnung trägt, dass Recht nicht erst durch den Gesetzgeber geschaffen wird, sondern grundlegende Rechte des Einzelnen als dem Staat vorausgehend gedacht werden müssen, um sie dem staatlichen Zugriff so weitgehend wie möglich zu entziehen.91 Gleichzeitig han­ delt es sich um eine kompromisshafte Formulierung, mit der vermieden wurde, sich ausdrücklich zu einer christlichen oder naturrechtlichen Grundlage der Staatsord­ nung zu bekennen.92 Auch auf die Normierung sozialer Rechte im Sinne eines Rechts auf ein menschenwürdiges Dasein, wie sie noch in Art.  151 WRV und nach 1945 völkerrechtlich in Art.  22, 23 AEMR formuliert worden waren, konnten die De­ legierten des Parlamentarischen Rates sich nicht einigen. 2. Menschenwürdegarantie als Grundrecht Während die Menschenwürde in den untersuchten völkerrechtlichen Dokumenten eher als eine wesentliche Grundlage und Rechtfertigung konkreter Menschenrechte erscheint, war für die Menschenwürdegarantie des Grundgesetzes zunächst unklar, ob sie ebenso gemeint sei oder ein einklagbares Grundrecht darstelle. In einer Ent­ Dasein für alle“ zu ermöglichen, eine Formulierung, die nicht in das Grundgesetz übernommen wurde. 87  Zu den Wurzeln der Menschenwürdeklausel in den Dokumenten des deutschen Widerstands, insbesondere des Kreisauer Kreises s. Dreier, in: ders. (Hg.), GG, Art.  1 I Rn.  22; Gisbertz, Men­ schenwürde, 69 f. 88 Abg. von Mangoldt, zit. n. Häberle (Hg), Entstehungsgeschichte, 50. 89  Art.  1 Abs.  2 des Entwurfs lautete: „Die Würde der menschlichen Persönlichkeit ist unantast­ bar. Die öffentliche Gewalt ist in all ihren Erscheinungsformen verpflichtet, die Menschenwürde zu achten und zu schützen.“ 90  Starck, in: von Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art.  1 Rn.  1; Gmür/Roth, Grundriss, Rn.  501. 91  Hufen, Grundrechte, 1504. 92  Dreier, in: ders. (Hg.), GG, Art.  1 I Rn.  28.

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scheidung aus dem Jahr 1956 bezeichnete das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) die Menschenwürde als „obersten Wert“ der freiheitlichen Demokratie.93 Man könnte der Menschenwürde in diesem Sinne lediglich einen programmatischen Charakter zusprechen, zumal sie systematisch vor der Klausel steht, mit der die staat­ liche Gewalt an die Grundrechte gebunden wird (Art.  1 Abs.  3 GG: „Die nachfolgenden Grundrechte binden Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht.“).94 Jedoch hat das BVerfG in späteren Entschei­ dungen klargestellt, dass Art.  1 Abs.  1 „als Grundrecht die Würde jedes individuellen Menschen schützt.“95 Der erste Teil des Grundgesetzes ist außerdem mit „Die Grundrechte“ überschrieben und schließt Art.  1 ebenfalls mit ein. Begreift man die Menschenwürdegarantie als Grundrecht, so ist der aus ihr folgende Achtungsan­ spruch unmittelbar mit der Verfassungsbeschwerde einklagbar und bietet insofern bestmöglichen Schutz.96 3. Der Menschenwürdebegriff des Grundgesetzes a. Die „Objektformel“ Um dem Problem der Uneinigkeit bei der Beschreibung der Menschenwürde zu be­ gegnen, beginnt das BVerfG bei der Frage, welches staatliche Verhalten die Men­ schenwürde verletzt.97 In einer am 26.02.2020 ergangenen Entscheidung hat das BVerfG dabei erneut98 auf die sog. „Objektformel“ abgestellt, die seine Rechtspre­ chung seit den 1950er Jahren prägt: Von der Vorstellung ausgehend, dass der Mensch in Freiheit sich selbst bestimmt und entfaltet, umfasst die Garantie der Menschenwürde insbesondere die Wahrung personaler Individuali­ tät, Identität und Integrität. Damit ist ein sozialer Wert- und Achtungsanspruch verbunden, der es verbietet, den Menschen zum ‚bloßen Objekt‘ staatlichen Handelns zu machen oder ihn einer Behandlung auszusetzen, die seine Subjektqualität prinzipiell in Frage stellt.99

Die Objektformel erinnert an die „Mensch-Zweck-Formel“ des kategorischen Impe­ rativs und streicht im juristischen Kontext insbesondere den grundlegenden Status des Menschen als Rechtssubjekt heraus. Gleichzeitig bündelt die Objektformel in ­ihrer Ausprägung durch das Bundesverfassungsgericht mehrere der oben am Bei­ spiel des Völkerrechts herausgearbeiteten Schutzgüter der Menschenwürde: Als ihre Grundlegung werden Freiheit und Selbstbestimmung des Menschen genannt, jedoch verweist der Bezug auf „Identität und Integrität“ auch auf Merkmale, die von Selbst­ bestimmung im Sinne eigenverantwortlichen Handelns unabhängig sind. Die Men­ 93 

BVerfG, Urt. v. 17.8. 1956 – 1 BvB 2/51 –, BVerfGE 5, 85–393, Rn.  501. Vgl. zu dieser Lesart Dreier, in: ders. (Hg.), GG, Art.  1 I Rn.  121–123. 95  St. Rspr., vgl. nur BVerfG, Urt. v. 9.2. 2010 – 1 BvL 1/09 –, BVerfGE 125, 175–260, Rn.  134. 96  Bumke/Vosskuhle, Casebook Verfassungsrecht, Rn.  277. 97  Dreier, in: ders. (Hg.), GG, Art.  1 I Rn.  53. 98  S. z. B. BVerfG, Urt. v. 3.3. 2004 – 1 BvR 2378/98 –, BVerfGE 109, 279–391, Rn.  120/121. 99  BVerfG, Urt. v. 26.2. 2020 – 2 BvR 2347/15 –, Rn.  206. 94 

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schenwürdegarantie gilt insofern für alle Menschen unabhängig von ihren individu­ ellen Eigenschaften oder Kompetenzen.100 Auch nach dem Grundgesetz begründet die Menschenwürdegarantie eine elementare Gleichheit aller Menschen. b. Instrumentalisierungsverbot Kern der Objektformel ist ein Verbot, den einzelnen Menschen für andere Zwecke zu instrumentalisieren („zum Objekt zu machen“). Mit dieser Begründung verbieten sich die Folter sowie grausame und unmenschliche Bestrafung. Die Strafhaft ist nicht nur dann unmenschlich, wenn die Haftbedingungen unwürdig sind,101 sondern auch dann, wenn sich der inhaftierten Person keine Perspektiven mehr auf ein Leben in Freiheit eröffnen. In seiner Entscheidung zur lebenslangen Freiheitsstrafe aus dem Jahr 1977 betont das Bundesverfassungsgericht, dass auch in der Strafhaft „die grundlegenden Voraussetzungen individueller und sozialer Existenz des Menschen […] erhalten bleiben“ müssen.102 Darum muss auch die lebenslange Freiheitsstrafe eine Chance bieten, die Freiheit unter bestimmten Umständen wiederzuerlangen. Mit der Objektformel begründete das BVerfG auch den Verstoß gegen die Men­ schenwürde im Fall des Luftsicherheitsgesetzes.103 §  14 Abs.  3 Luftsicherheitsgesetz hatte der Bundeswehr die Befugnis eingeräumt, auf Beschluss der Bundesregierung ein gekapertes Passagierflugzeug abzuschießen, um zu verhindern, dass dieses als Waffe gegen eine große Zahl von Menschen eingesetzt werden kann. Das BVerfG stellte die Verfassungswidrigkeit des Gesetzes fest, weil die unschuldigen Menschen an Bord des Flugzeuges zu bloßen Objekten einer Rettungsaktion zum Schutz ande­ rer würden104 Man könne die Tötung weniger auch nicht mit der Rettung vieler rechtfertigen, da jedes menschliche Leben gleich viel Respekt genieße, und dies un­ abhängig davon, wie lange es noch dauern wird.105

100  Siehe exemplarisch BVerfG, Beschl. v. 20.6.2012 – 2 BvR 1048/11 – BVerfGE 131, 268 (287): „Menschenwürde in diesem Sinne ist auch dem eigen, der aufgrund seines körperlichen oder geisti­ gen Zustands nicht sinnhaft handeln kann. Selbst durch ‚unwürdiges‘ Verhalten geht sie nicht ver­ loren. Sie kann keinem Menschen genommen werden.“ 101  Vgl. z. B. BVerfG, Beschl. v. 16.3.1993 – 2 BvR 202/93, und zuletzt BVerfG, Beschl. v. 8.12.2020 – 1 BvR 117/16 und 1 BvR 149/16; zur Relativität der Maßstäbe für menschenwürdige Haftbedingun­ gen vgl. Bumke/Vosskuhle, Casebook Verfassungsrecht, Rn.  287. 102  BVerfG, Urt. v. 21.6.1977 – 1 BvL 14/76 –, BVerfGE 45, 187–271, Rn.  146. 103  BVerfG, Urt. v. 15.6.2006 – 1 BvR 357/05 – BVerfGE 115, 118 (152). 104  BVerfG, Urt. v. 15.6.2006 – 1 BvR 357/05 – BVerfGE 115, 118 (154): „Sie werden dadurch, dass ihre Tötung als Mittel zur Rettung anderer benutzt wird, verdinglicht und zugleich entrechtlicht; indem über ihr Leben von Staats wegen einseitig verfügt wird, wird den als Opfern selbst schutz­ bedürftigen Flugzeuginsassen der Wert abgesprochen, der dem Menschen um seiner selbst willen zukommt.“ 105  BVerfG, Urt. v. 15.6.2006 – 1 BvR 357/05 – BVerfGE 115, 118 (152).

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c. Unantastbarkeit, Unabwägbarkeit Aus der im internationalen Vergleich außergewöhnlichen Bezeichnung der Men­ schenwürde als „unantastbar“ in Art.  1 Abs.  1 GG wird in der deutschen Rechtswis­ senschaft ein absoluter Schutz gefolgert. Eingriffe in die Menschenwürde sind dem­ nach nicht zu rechtfertigen. Dies entspricht der ständigen Rechtsprechung des Bun­ desverfassungsgerichts106 und ist allenfalls dann umstritten, wenn auf der anderen Seite ebenfalls existenzielle Güter auf dem Spiel stehen. Zum Streitpunkt wurde die Nichtabwägbarkeit der Menschenwürde im Fall Jakob von Metzler, einem Jungen, der von seinem Entführer an einem unbekannten Ort festgehalten wurde. Der Leiter der zuständigen Polizeidirektion in Frankfurt drohte daraufhin dem Entführer an, ihm gezielt (und unter der Aufsicht eines Arztes) Schmerzen zuzufügen, wenn er den Auf­ enthaltsort des Kindes nicht preisgebe. Zum Einsatz dieser angedrohten Mittel kam es nicht, weil der Entführer den Aufenthaltsort schon auf die Androhung hin verriet; der entführte Junge war zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr am Leben. Ange­ sichts dieser Fallkonstellation plädierten einige Autoren für die Zulässigkeit der so­ genannten „Rettungsfolter“ und damit für eine Ausnahme von der absoluten Gel­ tung der Menschenwürdegarantie. Kollidiere der absolute Achtungsanspruch eines Menschen mit einem gleichwertigen Schutzanspruch eines anderen – hier dem Le­ bensrecht des entführten Kindes, das in Art.  2 Abs.  2 GG geschützt ist –, so die Be­ gründung, könne im Einzelfall der Würdeschutz zurücktreten.107 Dieser Lesart wur­ de insbesondere mit Blick auf die völkerrechtlichen Standards vehement widerspro­ chen.108 Auch das Landgericht Frankfurt, das über den Fall Metzler zu entscheiden hatte, und der ebenfalls mit der Sache befasste EGMR betonten die absolute Geltung des Folterverbots.109 d. Recht auf Existenzminimum Anders als in Art.  22, 23 AEMR findet sich im deutschen Grundgesetz kein Bezug auf ein vom Staat zu garantierendes „menschenwürdiges Dasein“ (s. o.). In seiner Recht­ sprechung zum sozialen Existenzminimum aber leitet das Bundesverfassungsgericht einen Anspruch auf existenzsichernde Leistungen im Falle der Bedürftigkeit aus der Menschenwürde des Art.  1 Abs.  1 in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip aus Art.  20 Abs.  1 GG ab. Dazu stehen „jedem Hilfebedürftigen diejenigen materiellen 106  Siehe nur BVerfG, Beschl. v. 3.6.1987 – 1 BvR 313/85 – BVerfGE 75, 369 (380); BVerfG, Beschl. v. 10.10.1995 – 1 BvR 1476, 1980/91 und 102, 221/92 – BVerfGE 93, 266 (293). Zum Meinungsstand im Schrifttum siehe Dreier, in: ders. (Hg.), GG, Art.  1 I Rn.  43; zur Kritik an der Absolutheitsthese siehe Baldus, Menschenwürdegarantie. 107  Brugger, Vom unbedingten Verbot der Folter zum unbedingten Recht auf Folter, 166, 172; Wittreck, Menschenwürde und Folterverbot, 879. 108  Vgl. für einen Überblick Poscher, Die Würde des Menschen, 756; Gebauer, Zur Grundlage des absoluten Folterverbots. 109  LG Frankfurt a. M., Urt. v. 20.12.2004 – 5/27 KLs 7570 Js 203814/03 (4/04), 5-27 KLs 7570 Js 203814/03 (4/04) –, NJW 2005, 692; EGMR, Urt. v. 30.06.2008, Rs.  22978/05 – G./Deutschland.

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Voraussetzungen zu, die für die physische Existenz und für ein Mindestmaß an Teil­ habe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben unerlässlich sind.“110 Mit dieser Rechtsprechung schließt das BVerfG an völkerrechtliche Standards an und betont im Einklang mit diesen die Begrenzung der Menschenwürdegarantie auf die Sicherung dessen, was für ein Leben in Würde unabdingbar ist. Die konkrete Ausgestaltung bleibt dem Gesetzgeber vorbehalten, der existenzsichernde Leistun­ gen u. a. von einer Bedürfnisprüfung und Mitwirkungsbereitschaft abhängig ma­ chen darf.111 In seiner Rechtsprechung zum sozialen Existenzminimum betont das Bundesverfassungsgericht die Voraussetzungslosigkeit der Menschenwürdegarantie, die jedem Menschen unabhängig von seinen Eigenschaften und Lebensumständen zukommt – ihm also in einem völkerrechtlichen Sinne „innewohnt“: […] die Menschenwürde ist ohne Rücksicht auf Eigenschaften und sozialen Status, wie auch ohne Rücksicht auf Leistungen garantiert. Sie muss nicht erarbeitet werden, sondern steht je­ dem Menschen aus sich heraus zu. Die eigenständige Existenzsicherung des Menschen ist nicht Bedingung dafür, dass ihm Menschenwürde zukommt.112

e. Menschenwürdeschutz am Beginn und Ende des Lebens Nur angedeutet werden können hier die Debatten, die im deutschen Verfassungs­ recht zur Bedeutung der Menschenwürde am Beginn und Ende des Lebens geführt werden. Hinsichtlich des menschlichen Embryos hat sich das Bundesverfassungsge­ richt in seinen beiden Entscheidungen zum Schwangerschaftsabbruch klar darauf festgelegt, den Würdeschutz auf den Zeitpunkt ab der Nidation, also der Einnistung in die Gebärmutter zu erstrecken. Jedenfalls ab diesem Moment beginnt nach dieser Lesart menschliches Leben, und, so das Bundesverfassungsgericht, „Wo mensch­ liches Leben existiert, kommt ihm Menschenwürde zu“.113 Begründet wird der vor­ geburtliche Menschenwürdeschutz mit dem Potenzial des Embryos, zu einem Men­ schen mit den „im menschlichen Sein angelegten potenziellen Fähigkeiten“ heranzu­ wachsen,114 sowie mit der Kontinuität der menschlichen Entwicklung jedenfalls nach der Nidation.115 Ob dieses Diktum auch für den im Labor erzeugten Embryo 110 

BVerfG, Urt. v. 9.2. 2010 – 1 BvL 1/09 –, BVerfGE 125, 175–260 – 1. Leitsatz. BVerfG, Urt. v. 5.11.2019 – 1 BvL 7/16 –, Tenor 2b. 112  BVerfG, Urt. v. 5.11. 2019 – 1 BvL 7/16 –, Rn.  123. Grundlegend Heinig, Menschenwürde und Sozialstaat. 113  BVerfG, Urt. v. 25.2.1975 – 1 BvF 1, 2, 3, 4, 5, 6/74 – BVerfGE 39, 1 (41); wortgleich in BVerfG, Urt. v. 28.5.1993 – 2 BvF 2/90 und 4, 5/92 – BVerfGE 88, 203 (251); krit. Dreier, in: ders. (Hg.), GG, Art.  1 I Rn.  68. 114  BVerfG, Urt. v. 25.2.1975 – 1 BvF 1, 2, 3, 4, 5, 6/74 – BVerfGE 39, 1 (41). Die Menschenwürde des Embryos entfaltet in beiden Entscheidungen zum Schwangerschaftsabbruch letztlich keine tra­ gende Bedeutung, weil der Schwangerschaftsabbruch nicht als Verletzung dieser Würde, sondern des Lebens gedeutet wird. Das Gericht wägt daher im Weiteren das Lebensrecht des Embryos gegen das (ebenfalls aus der Menschenwürde abgeleitete) Selbstbestimmungsrecht der Schwangeren ab, vgl. BVerfG, Urt. v. 25.2.1975 – 1 BvF 1, 2, 3, 4, 5, 6/74 – BVerfGE 39, 1 (48–50). Zur Kritik an dieser Rechtsprechung siehe Wapler, Reproduktive Autonomie, 185, 206. 115  BVerfG, Urt. v. 28.5.1993 – 2 BvF 2/90 und 4, 5/92 – BVerfGE 88, 203 (251 f.). 111 

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gilt, der nicht oder noch nicht in eine Gebärmutter eingesetzt wurde, stellt sich als Frage in der Reproduktionsmedizin sowie der biomedizinischen Forschung mit an­ haltender Schärfe, ist jedoch bislang nicht Gegenstand der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung geworden.116 Deutlich hat das Bundesverfassungsgericht hingegen in jüngerer Zeit Stellung zu der grundrechtlichen Verankerung und Reichweite des Würdeschutzes am Lebens­ ende genommen. In dem Verfahren ging es um die Verfassungsmäßigkeit einer Strafnorm, die die „geschäftsmäßige Förderung der Selbsttötung“ verbot (§  217 StGB). Hiergegen hatten mehrere Menschen Verfassungsbeschwerde erhoben, die mit Hilfe eines todbringenden Medikaments ihrem Leben ein Ende setzen wollten. Erstmals formuliert das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung aus dem Jahr 2020 ein „Recht auf ein selbstbestimmtes Sterben“ als Teil des Allgemeinen Persönlich­ keitsrechts des Menschen. Die „unverlierbare Würde“ des Menschen verleiht ihm nach der Entscheidungsbegründung einen „sozialen Wert- und Achtungsanspruch“, der u. a. darin besteht, „dass er stets als selbstverantwortliche Persönlichkeit aner­ kannt bleibt.“117 Mit dem Suizid gibt der Mensch nach Auffassung des Bundesverfas­ sungsgerichts seine Würde nicht auf, sondern im Gegenteil kann der Freitod ein, „wenngleich letzter, Ausdruck von Würde“ sein. Die freiverantwortliche Entschei­ dung, das eigene Leben zu beenden, hat der Staat nach dieser Rechtsprechung auch dann zu akzeptieren, wenn sie nicht mit objektivierbaren Umständen wie einer schwerwiegenden Krankheit begründet werden kann. Es muss dem Individuum zu­ dem möglich sein, Dritte für dieses Vorhaben um Hilfe zu bitten, ohne dass diese sich strafbar machen.118 f. Zwischenfazit Vergleicht man die Auslegung der Menschenwürdegarantie im Grundgesetz mit den oben herausgearbeiteten völkerrechtlichen Standards, dann finden sich Gemeinsam­ keiten vor allem bei der Bestimmung der inhaltlichen Garantien, die mit der Men­ schenwürde verbunden werden. Ergänzend wäre zu erwähnen, dass wichtige men­ schenwürderelevante Belange des Menschen – neben dem erwähnten Recht auf ein selbstbestimmtes Sterben auch der Schutz der Privat- und Intimsphäre einschließlich des Umgangs mit personenbezogenen Daten – in der deutschen Rechtswissenschaft und der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung nicht unmittelbar aus der Men­ schenwürde, sondern aus dem Allgemeinen Persönlichkeitsrecht abgeleitet werden. Dieses wiederum wird als ein Grundrecht verstanden, das sich aus Art.  2 Abs.  1 GG in Verbindung mit der Menschenwürdegarantie ergibt.119 Das „Stammgrundrecht“ 116 

Zu diesem Problemfeld vgl. Büchler, Reproduktive Autonomie, 45–47. BVerfG, Urt. v. 26.2.2020 – 2 BvR 2347/15 – BVerfGE 153, 182, Rn.  206. 118  BVerfG, Urt. v. 26.2.2020 – 2 BvR 2347/15 – BVerfGE 153, 182, Rn.  212 ff. 119  Exemplarisch BVerfG, Urt. v. 26.2.2020 – 2 BvR 2347/15 – BVerfGE 153, 182 (Recht auf selbst­ bestimmtes Sterben); BVerfG, Urt. v. 15.12.1983 – 1 BvR 209/83 –, BVerfGE 65, 1 (Volkszählung); BVerfG, Beschl. v. 14.9.1989 – 2 BvR 1062/87–, BVerfGE 80, 367 (Tagebücher). 117 

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der freien Entfaltung der Persönlichkeit darf im Hinblick auf die Rechte anderer und die verfassungsmäßige Ordnung eingeschränkt werden, ist also abwägbar. Die Ver­ bindung mit der Menschenwürdegarantie stellt die Abwägbarkeit nicht in Frage, ver­ leiht den persönlichkeits- und identitätsnahen Bereichen der menschlichen Existenz aber in der Abwägung mit anderen Belangen dennoch ein besonderes Gewicht. Da­ mit ist auch schon der wesentliche strukturelle Unterschied zwischen den völker­ rechtlichen Menschenwürdeklauseln und der Grundrechtsnorm genannt: Die Kenn­ zeichnung der Menschenwürde als „unantastbar“ hat nicht – wie es in den 1950er Jahren durchaus noch denkbar gewesen wäre – zu einer Unterscheidung zwischen Menschenwürdegarantie und Grundrechten geführt, sondern verleiht der Men­ schenwürde den Charakter eines besonders stark geschützten Grundrechts. Dem­ gegenüber kommt den Menschenwürdeklauseln des Völkerrechts eine deutlich un­ bestimmtere Aufgabe zu, was nicht zuletzt auf ihre fast völlig fehlende Justiziabilität zurückzuführen ist.

IV. Die Menschenwürdegarantie im Recht der Europäischen Union Zu guter Letzt sei noch ein kurzer Blick in das Recht der Europäischen Union gewor­ fen. Hier ist zunächst die programmatische Norm des Art.  2 des Vertrags über die Europäische Union (EUV) zu nennen, in dem die Würde des Menschen zu den „Grundwerten“ gerechnet wird, auf die die Europäische Union sich stützt. In diesem Zusammenhang kommt der Menschenwürde eher der Charakter zu, den sie in den völkerrechtlichen Präambeln annimmt, als Verweis auf die Grundlagen der zwi­ schenstaatlichen Zusammenarbeit sowie der Grundsätze und Ziele, denen man sich verpflichtet hat.120 Anders aber ist die Garantie der Menschenwürde in der 2009 in Kraft getretenen Grundrechtecharta der Europäischen Union (GrCh) zu beurteilen. Diese Charta gilt für die Organe und Einrichtungen der Union und für die Mitgliedstaaten ausschließ­ lich bei der Durchführung des Rechts der Union, Art.  51 Abs.  1 S.  1 GrCh. Im Wort­ laut ähnelt ihr Art.  1 stark dem Art.  1 Abs.  1 GG:121 „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie ist zu achten und zu schützen.“ Bei den Verhandlungen hatte die britische Delegation die Menschenwürde zu­ nächst nicht als ein eigenständiges, einklagbares Grundrecht formulieren wollen, da sie die Erwähnung in der Präambel und damit das Konzept der Menschenwürde als „Grundwert“ als ausreichend empfand. Andere Delegierte (insb. der Vorsitzende der Kommission, der ehemalige Bundesverfassungsrichter Roman Herzog) setzten sich jedoch mit ihrem grundrechtlichen Verständnis durch.122 Der breite Konsens für die 120 

Calliess, in: Calliess/Ruffert (Hg.), EUV/AEUV, Art.  2 AEUV Rn.  17 m.N. Entstehungsgeschichte vgl. Schwarzburg, Menschenwürde, 37–39; Borowsky, in: Meyer/Hölscheidt (Hg.), GRCh, Art.  1 Rn.  7–9. 122  Calliess, in: Calliess/Ruffert (Hg.), EUV/AEUV, Art.  1 GRC Rn.  4. 121 Zur

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Notwendigkeit einer eigenen Menschenwürdeklausel folgte hierbei nicht nur aus der historischen Erfahrung, sondern auch aus den aktuellen Gefährdungen durch die biowissenschaftliche Entwicklung.123 Da die Menschenwürde gleichzeitig auch das Fundament der nachfolgenden Grundrechte bilden soll, kommt ihr im System der Grundrechtecharta ähnlich wie im deutschen Verfassungsrecht eine „normative Doppelbedeutung“124 zu. Auch wenn man sich auf diesen Grundkonsens einigte, sind aufgrund der verschiedenen Verfassungstraditionen der Mitgliedsstaaten unter­ schiedliche Vorstellungen bei tiefergehenden Definitionen zu erwarten.125 Zum Schutz des menschenwürdigen Existenzminimums bedarf es bei der GrCh jedenfalls – anders als beim deutschen Grundgesetz – keines Rückgriffs auf den zen­ tralen Art.  1.126 Vielmehr ist in Art.  34 GrCh im Sinne eines modernen Grundrechte­ katalogs ein Recht auf soziale Sicherheit und soziale Unterstützung ausdrücklich normiert. Nach Inkrafttreten der Grundrechtecharta war zunächst umstritten, ob die Men­ schenwürdegarantie wie alle anderen Grundrechte auch gem. Art.  52 Abs.  1 GrCh einschränkbar – und damit abwägbar – sei. Im ersten Zugriff gibt der Wortlaut kei­ nen Anlass, daran zu zweifeln, weil sich Art.  52 Abs.  1 GrCh auf alle Rechte der Char­ ta bezieht.127 Jedoch zeigen die Entstehungsgeschichte und die im Amtsblatt der EU veröffentlichten Erläuterungen zur Charta, dass mit der Bezeichnung der Menschen­ würde als „unantastbar“ eine absolute Geltung als einklagbares Grundrecht und da­ mit die Unabwägbarkeit intendiert war.128 Inzwischen hat sich der Europäische Ge­ richtshof dieser Lesart angeschlossen.129 Inhaltlich hat sich im ersten Jahrzehnt der Geltung der Grundrechtecharta ein mit den völkerrechtlichen Schutzdimensionen vergleichbares Verständnis entwickelt.130 Dabei ist die Interpretation der noch jun­ gen Charta jedoch noch „transitorisch und unabgeschlossen“.131

123  Voet von Vomizeele, in: Schwarze/Becker/Hatje/Schoo (Hg.), EU-Kommentar, Art.  1 GRC Rn.  3. 124  Augsberg, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje (Hg.), Europäisches Unionsrecht, Art.   1 GRC Rn.  3. 125  Rixen, Würde des Menschen als Fundament der Grundrechte, Rn.  1. 126  Augsberg, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje (Hg.), Europäisches Unionsrecht, Art.  1 GRC Rn.  7. 127  Art.  52 Abs.  1 hat den folgenden Wortlaut: „Jede Einschränkung der Ausübung der in dieser Charta anerkannten Rechte und Freiheiten muss gesetzlich vorgesehen sein und den Wesensgehalt dieser Rechte und Freiheiten achten. Unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit dür­ fen Einschränkungen nur vorgenommen werden, wenn sie erforderlich sind und den von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer tatsächlich entsprechen.“ 128  Erl. z. Art.  1 GrCh, ABl. EU C 303 v. 14.12.2007, 17 f.; Schwarzburg, Menschenwürde, 367; Wallau, Menschenwürde, 97. 129  EuGH, Urt. v. 12.6.2003, Rs. C-112/00 – Schmidtberger –, ECLI:EU:C:2003:333, Rn. 80. 130 Ausf. Borowsky, in: Meyer-Hölscheidt (Hg.), GRCh, Art.  1 Rn.  45–47; Schwarzburg, Men­ schenwürde, 79–81; Wallau, Menschenwürde, 79–81. 131  Rixen, Würde des Menschen als Fundament der Grundrechte, Rn.  5.

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V. Fazit Vergleicht man die völkerrechtlichen, grundrechtlichen und unionsrechtlichen Ver­ ständnisse der Menschenwürde, so kristallisiert sich schnell eine Vielfalt inhaltlicher Konkretisierungen heraus. Die Menschenwürde wird als Rechtsbegriff verwendet, um eine elementare Gleichheit und einen unbedingten Achtungsanspruch jedes ein­ zelnen Menschen zu formulieren und um Formen staatlichen Handelns entgegenzu­ wirken, die zu einer Instrumentalisierung, Entrechtung, Erniedrigung oder Verelen­ dung von Menschen führen. Die Achtung der Menschenwürde gilt als wesentliche Grundlage des internationalen Menschenrechtssystems wie auch menschenrechtlich fundierter nationaler Rechtsordnungen. In ihrem Rechtscharakter changieren Men­ schenwürdeklauseln zwischen symbolhaftem Programmsatz und einklagbarem Grundrecht; hier haben sich, wie gezeigt werden konnte, unterschiedliche Tradi­ tions­linien entwickelt. Der Menschenwürdebegriff zeigt sich im Recht zudem offen für neue gesellschaftliche und technische Entwicklungen; hierfür stehen exempla­ risch die Aktualisierungen in den Bereichen der Biotechnologie und des Datenschut­ zes. Durchweg wird sie als eine dem Menschen voraussetzungslos „innewohnende“ Eigenschaft verstanden, die man nicht erst im Laufe seines Lebens erwirbt und weder durch eigenes noch durch fremdes Handeln verlieren kann. Gleichzeitig benennt die Menschenwürde einen in hohem Maße verletzlichen Kern der menschlichen Exis­ tenz, der gerade deswegen des besonderen Schutzes bedarf.

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Strafe und Demütigung Über Menschenwürde, Kontingenz und reflexives Recht Benno Zabel In die Debatte um Begriff und Funktion der Menschenwürde kommt seit einiger Zeit wieder Bewegung. Vor allem in der politischen und Rechtsphilosophie, der normati­ ven und angewandten Ethik kristallisieren sich zwei konträre Standpunkte heraus: Auf der einen Seite haben wir es mit einer Position zu tun, die an einer kategorialen kontextunabhängigen Bestimmung der unantastbaren Menschenwürde festhalten möchte. „Mein Vorschlag ist es“, so Christoph Horn, den Ausdruck ‚Menschenwürde‘ als die Grundlage alles dessen zu interpretieren, worauf man ein moralisches Recht hat. Man kann moralische Rechte verletzen, nicht aber die Menschen­ würde im für die Philosophie entscheidenden Sinn: dem der Unantastbarkeit. Alltagssprach­ lich wirkt dies zwar künstlich; philosophisch scheint mir dies aber vorziehenswert zu sein.1

Auf der anderen Seite haben wir es mit einem Standpunkt zu tun, der nicht nur der alltagsprachlichen Semantik gerecht werden, sondern auch die konkreten Kontin­ genz- und Verletzungserfahrungen der Menschen betonen will. Insofern, so schreibt Ralf Stoecker, sei es aber irreführend, eine Unterscheidung von Menschenwürde und kontingenter Würde einzuführen. Vielmehr haben Menschen nur eine kontingente Würde, die eng mit der Identität jedes Menschen verbunden ist. Diese Identität ist das Produkt sowohl seiner eigenen Vorstellungen davon, wer er ist und wie sein Leben aussehen sollte, wie auch dessen, wie ihn die anderen Menschen sehen und welchen Platz, welche Rolle, er in seinem sozialen Umfeld einnimmt. Seine kontingente Würde wird verletzt, wenn er selbst auf eine Weise handelt oder auf eine Weise behandelt wird, die dieser Identität abträglich ist, kurz: ihn entwürdigt, erniedrigt, demütigt.2

Wenn man die Konfliktlinien markieren will: universaler und unabwägbarer An­ spruch hier, kontextspezifische Selbstachtungskonzepte dort. Mir geht es hier nicht darum, diese Kontroverse fortzuschreiben. Vielmehr möchte ich an einem konkre­ ten rechtsphilosophischen Problem, und zwar an der Deutung des Strafens in libera­ len Gesellschaften diskutieren, welches Gewicht beiden Standpunkten in diesem Kontext zukommt und welche theoretischen und praktischen Konsequenzen sich 1  2 

Horn, Die verletzbare und die unverletzbare Würde des Menschen – eine Klärung, 30–41. Stoecker, In Würde altern, 338–360, hier: 346.

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daraus ergeben. Meine These lautet, dass beide Würdekonzepte in der Strafe recht­ lich und funktional verklammert werden. Diese Vorgehensweise verändert aber ins­ besondere den Umgang mit der Straftat als vorwerfbare Rechtsverletzung. Das heißt, Rechtsverletzung und Verantwortung, Tadel und Strafschmerz sind in direkter Ab­ hängigkeit von den Interessen aller Beteiligten zu bestimmen. Der Grund hierfür liegt in einer radikalen Vergesellschaftung der Strafkultur. Diese Neuverortung ver­ langt zweierlei: Sie verlangt zum einen, dass nicht nur die Rechtsperson, sondern auch das Bedürfnissubjekt, ja sogar das natürliche Individuum (oder wie das Gesetz zuweilen sagt: die natürliche Person) in die Konfliktverarbeitung einbezogen wer­ den. Die Sprache der Bedürfnisse und der Erfahrungen artikuliert die empirisch-kon­ tingente Seite des Rechts und verweist damit auch auf das Vulnerabilitätsbewusstsein der Gesellschaftssubjekte. Diese Neubestimmung rechtlicher Normativität scheint es andererseits erforderlich zu machen, auch im Strafrecht das starke Personenwürde­ konzept zugunsten von „sozial sensiblen“ Dispositionen oder Haltungen (Eva Weber-­ Guskar3) aufzulockern; Dispositionen, die die Vorstellungen von einer sich wandeln­ den Lebensform ebenso umfassen können, wie erworbene Integrität und Anerken­ nung, Selbstbilder und Selbstkontrolle (eine Position, der vor allem Avishai Margalit mit seinen Leitlinien für eine Politik der Würde zum Durchbruch verholfen hat4). Täter, Opfer oder sonstigen Konfliktbeteiligten kommt danach Würde genau in dem Maße zu, in dem ihre Rechte – als Menschenrechte, Grundrechte, Verfahrensrechte – Berücksichtigung finden. Dieser Verklammerung beider Würdekonzepte in den Begriffen des Tadels und des Strafschmerzes, in den Konzepten von Täter und Opfer wird aber nur dann angemessen Rechnung getragen, wenn sie im Rahmen eines inklusiven Rechts rekonstruiert wird. Ich werde diese These in zwei Schritten erläutern. In einem ersten Schritt möchte ich das den modernen Strafpraktiken zugrunde liegende Freiheitsverständnis libera­ ler Gemeinwesen beleuchten. Klar ist hierbei: Liberale Freiheit soll die Selbstverwirk­ lichung der Individuen ermöglichen, d. h. die konkreten Interessen zur Geltung brin­ gen. Die Form dieser Freiheitsverwirklichung ist die Form der Rechte. Und es ist diese Verbindung von Freiheit und Rechten, die zu einer Ausdifferenzierung und insbesondere zu einer Graduierung der Würdesemantik beiträgt. Im zweiten Schritt geht es mir darum, dieses Würdekonzept in der Strafbegründung und den Strafprak­ tiken zu rekonstruieren. In das Zentrum rückt hier der Begriff der tadelnden Kommunikation. Eine heute übliche Deutung lautet, dass jede Strafe gegenüber dem Täter einen Tadel aussprechen und damit symbolisch die Freiheitsgarantie der Strafnorm bestätigen muss, ohne selbst entwürdigend zu sein. Gleichzeitig sollen mit der Strafe auch die Demütigungserfahrungen des Opfers einbezogen werden.5 In der Strafe bündeln sich insofern starke unabwägbare Statusforderungen mit kontextbezogenen 3 

Weber-Guskar, Würde als Haltung. Margalit, Politik der Würde. 5  Vgl. etwa Hörnle, Straftheorien, 32 ff. und dies., Warum sich das Würdekonzept Margalits zur Präzisierung von „Menschenwürde als geschütztes Rechtsgut‘ eignet, 91–108. 4 

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Rollenzumutungen. Die Vergesellschaftung des Strafrechts begründet insofern nicht nur eine Chance für die individuelle Freiheit, sie ist auch eine Bürde. Ein kurzer letz­ ter Teil wird vor diesem Hintergrund nach alternativen Deutungen menschenwürdi­ gen Strafens in der liberalen Rechtskultur fragen.

I. Die Menschenwürde der liberalen Gesellschaft 1. Recht, Freiheit und Kontingenz Das Freiheitsverständnis liberaler Gemeinwesen wird wesentlich vom Recht, von der Rechtsform her bestimmt. Durch das Recht und durch die Rechte soll die Gestal­ tungsmacht des Subjekts gesichert und soziale Orientierung ermöglicht werden. Recht und Rechte gelten vor allem als Vermittler zwischen administrativem System und Lebenswelt. Das Recht, so Jürgen Habermas, bezeichnet einen integrativen Fak­ tor, es gehört als reflexiv gewordene Ordnung zur Gesellschaftskomponente der Lebenswelt. Wie diese sich nur in eins mit Kultur und Persönlichkeitsstrukturen durch den Strom kommunikativen Han­ delns hindurch reproduziert, so bilden auch Rechtshandlungen das Medium, durch das sich Rechtsinstitutionen gleichzeitig mit den intersubjektiv geteilten Rechtsüberlieferungen und den subjektiven Fähigkeiten der Interpretation und Beachtung von Rechtsregeln reproduzieren.6

Aber diese von Habermas hervorgehobene Vermittlungsleistung und Integrations­ funktion des Rechts ist gleichzeitig mit einer Vielzahl von Selbstverwirklichungsin­ teressen der Individuen oder ganzer Gesellschaften konfrontiert, mit Machtstruktu­ ren, sozialen Kämpfen, mit lebensweltlichen Erfahrungen, Bedürfnissen und Erwar­ tungen, die keine Rechts- und Gesellschaftstheorie außer Betracht lassen kann. Das betrifft die Daseinssorge im Allgemeinen, den Umgang mit Ängsten und Verletzun­ gen, es betrifft den Umgang mit den sozioökonomischen Verhältnissen und das, was wir den großen Bereich der Biopolitik nennen können.7 Das Recht kann also nur dann auf Anerkennung in der Gesellschaft hoffen, wenn es auch die Selbstverwirkli­ chungsinteressen umfassend kommuniziert und d. h. für wertstiftende Kohärenz sorgt. In diesem Sinne wirkt es reflexiv. Dennoch sollten wir eines nicht übersehen: In dem Maße, in dem das Recht als ein Medium begriffen wird, das die Selbstver­ wirklichung von Individuen und Gesellschaften zu garantieren hat (und spätestens im Verlaufe des 19.  Jahrhunderts wird das die dominierende Sichtweise8), in dem Maße wird die normative Orientierungsleistung von den konkreten Lebensumstän­ den abhängig, ja sogar von diesen Lebensumständen aus definiert. Wir können das die anthropologische Wende des Rechts nennen. 6 

Habermas, Faktizität und Geltung, 108. Foucault, Geschichte der Gouvernementalität II. Geburt der Biopolitik, 99 ff. und öfter. 8  Vgl. etwa von Jhering, Der Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. 7 

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Diese anthropologische Wende des Rechts wird für das Legitimitätsverständnis der Moderne zentral. Und zwar nicht deshalb, weil die konkreten Lebensumstände in das Blickfeld geraten (das als solches ist kein Novum). Ausschlaggebend ist viel eher die freiheitskonstitutive Verbindung von Norm und Natur, die die Deutung des Subjekts und seiner Rechte bestimmt. Die Freiheit des Einzelnen begründet damit eine gegebene und strategisch einsetzbare Rechtsmacht. Wir können auch sagen, es ist die Pointe jener modernen Umstellung von Gemeinschaft auf Gesellschaft, von Homogenität auf Pluralität, dass der Einzelne zum Träger von Rechten, von Ansprü­ chen und Kompetenzen avanciert, die nicht mehr genetisch aus der politischen Ord­ nung heraus begründet werden, sondern dieser vorausgesetzt sind.9 Gerade weil diese Rechte als konkrete natürliche Eigenschaften des Menschen aufgefasst werden (sie gehören, wie Locke formuliert, zum Wesen des Menschen, insofern er Herr sei­ ner selbst ist10), mobilisieren sie Kräfte und Interessen, die die Ordnungen in Bewe­ gung setzen, ja sogar gegen diese in Stellung gebracht werden können.11 An den seit den bürgerlichen Revolutionen etablierten Eigentums-, Gleichheits-, Teilhaberech­ ten lässt sich das Strukturprinzip gut ablesen.12 Ablesen lässt sich daran aber auch die Legitimationsformel der Moderne: Rechte haben einen intrinsischen Eigenwert, d. h. Rechte sind nicht der Reflex einer Pflicht, sondern Pflichten der Reflex eines Rechts. Deshalb ist rechtliches und politisches Handeln nur dann gerechtfertigt, wenn es diesen Eigenwert und die sich daraus ergebenden Interessen und Ansprüche der Subjekte berücksichtigt.13 Gleichzeitig schreibt sich in diese Legitimationsformel eine notorische Ambiva­ lenz ein, die für liberale Rechtskulturen geradezu charakteristisch ist, nämlich die Zerrissenheit des Individuums als Vernunft- und Bedürfniswesen. Das Gesell­ schaftssubjekt gerät in eine paradoxe Situation: Auf der einen Seite wird es durch die Anerkennung von Freiheitsrechten in seiner normativen Position deutlich gestärkt. Auf der anderen Seite wird es durch den Verlust metaphysischer Sinnkonzepte in eine neue Fragilität hineingetrieben. Georg Lukács hat das sehr treffend als „transzen­ dentale Obdachlosigkeit“ bezeichnet.14 Diese Obdachlosigkeit des Subjekts hat zur Folge, dass die Möglichkeiten individueller und kollektiver Freiheitsverwirklichung immer offensiver an die Realbedingungen, an die Kontingenzerfahrungen der Ak­ teure gekoppelt werden.15 Nicht das ewige Leben, vielmehr das endliche und diessei­ tige Leben beherrscht den subjektiven Erwartungshorizont. Auch deshalb ist die Freiheit nicht mehr (nur) eine Frage der Transzendenz oder einer wie auch immer verstandenen Gottesebenbildlichkeit, sondern vor allem der Immanenz erlebter Ver9  Luhmann, Subjektive Rechte. Zum Umbau des Rechtsbewußtseins für die moderne Gesell­ schaft, 45–104. 10  Locke, Zwei Abhandlungen über die Regierung, 227 ff. 11  Jellinek, Das System subjektiver öffentlicher Rechte, 41 ff. 12  Kritische Analyse bereits bei Marx, Zur Judenfrage, 347–377. 13  von der Pfordten, Rechtsethik, 244 ff. und öfter. 14  Lukács, Die Theorie des Romans, 32, 52. 15  Luhmann, Kontingenz als Eigenwert der modernen Gesellschaft, 93–128.

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letzlichkeit und Schutzbedürftigkeit.16 Es ist diese Freiheit in der Kontingenz und Immanenz alltäglicher Lebensführung, die bei den Akteuren zu einem Bewusstsein der Entfremdung und Verunsicherung gegenüber einer Welt geführt hat, die keine Versöhnung, sondern allenfalls noch Kontingenzbeherrschung bieten kann. Dennoch: Die Gesellschaftssubjekte haben „gelernt“, ihre Lebensformen in ein kontingenzerprobtes Sinn- und Rationalitätskonzept zu überführen (wir können da­ her von einer sozial erworbenen Ambiguitätstoleranz sprechen). In der gängigen so­ ziologischen Deutung wird diese Selbstorganisation durch ein Netzwerk von Rollen stabilisiert.17 Aber die Selbstorganisation der Subjekte über Rollen bleibt schon aus Gründen der Dynamik gesellschaftlicher Wertpräferenzen außerordentlich fragil. Wir haben es also mit einem Problem zu tun, das eine andere Rekonstruktion und Verarbeitung notwendig macht: So ist es bereits eine politische Einsicht aus zwei Weltkriegen und einer durch den Nationalsozialismus ins Werk gesetzten Men­ schen- und Menschenrechtsvernichtungsideologie, dass Rechte und Güter, Status und Lebensformen wegen ihrer gesellschaftlichen Verankerung eines zusätzlichen normativen Bezugspunktes bedürfen. Zudem hat sich auch in der politischen Philo­ sophie die Überzeugung durchgesetzt, dass die individuelle Verfügungsmacht über Rechte und die damit einhergehenden Kompetenzen eine zusätzliche Reflexionsform erfordern. Genau das soll die Würdesemantik ermöglichen.18 Betont werden kann damit gleichzeitig, dass die Rede von einem Vernunft-, Erfahrungs- oder Bedürfnis­ wesen Perspektiven auf den Menschen als Individuum, Subjekt und Person sind. Die Würdesemantik, so die Überzeugung, widerspricht einer Willkür der Rechtezu­ schreibung zugunsten einer am gemeinsamen Anerkennungswillen ausgerichteten Verbindung von gleicher Achtung und individuellem Anspruch. Nun kann diese Verbindung von Achtung und Anspruch zwar jede Willkür einer Rechtezuschreibung zurückweisen. Bestehen bleibt allerdings der Legitimationsdis­ sens, der sich gerade darin äußert, dass keine Einigkeit darüber hergestellt werden kann, welche Rolle oder welche Funktion die Menschenwürde in der Freiheitskultur moderner Gemeinwesen einnehmen sollte. Den Unterschied in der Funktion des Be­ griffs, so Eva Weber-Guskar, könne man durch folgende Abgrenzung verdeutlichen: Es heißt nun nicht mehr: ‚Weil Menschen Würde haben, gelten die Menschenrechte.‘ Sondern: ‚Damit Menschen in Würde leben können, müssen die Menschenrechte berücksichtigt wer­ den‘.19

Mit anderen Worten, auch wenn die Menschenwürde grundsätzlich als Kohärenz­ formel der Freiheits- und Verfassungskultur begriffen wird, so ist doch der begrün­ dungstheoretische Ansatz ein konträrer. In der klassischen, vor allem an Kant orien­ 16  Nussbaum, Gerechtigkeit oder das gute Leben. Vgl. aber auch die begriffliche Bestimmung von Vulnerabilität bei Judith Butler, dies., Kritik der ethischen Gewalt und dies., Gefährdetes Le­ ben. 17  Popitz, Der Begriff der sozialen Rolle als Element der soziologischen Theorie. 18  Lohmann, Menschenrechte zwischen Verfassung und Völkerrecht, 1175–1188. 19  Weber-Guskar, Menschenwürde, 206–233, hier: 212.

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tierten Semantik ist die Menschenwürde Ausdruck einer freien Subjektivität und so zugleich eine grundlegende Voraussetzung jeder Rechte- und Pflichtenzuschrei­ bung.20 Dagegen favorisiert die kontingenzbasierte Konzeption im Anschluss an Margalit eine Deutung, die davon ausgeht, dass Menschen Würde haben, insofern sie in der Lage sind, ihr Leben in expressiver Selbstachtung, ohne Demütigung und Er­ niedrigung zu gestalten. Menschenwürde ist danach das Ziel praktischen Verhaltens, dessen Gebotensein mit anderen normativen Ressourcen begründet werden müs­ se.21 Damit ist zunächst nur das kontroverse Deutungsfeld skizziert. Einer Antwort auf das liberale Strafbegründungsproblem kommen wir aber nur näher, wenn wir die Stoßrichtung und die Auswirkungen dieser Debatte genauer betrachten. 2. Menschenwürde, Selbstachtung und geschütztes Interesse Wie wir gesehen haben, ist die Menschenwürdeidee nicht in ihrem Ob, sondern in der Art und Weise der Begründung umstritten. Die unbedingte Anerkennung als Mensch, soziale Sichtbarkeit und Teilhabe, Freiheit und rechtliche Gleichheit sind konsentierte Ziele. Gerade aber weil aber das Verhältnis von Begründung und Zielen divergent rekonstruiert wird, ergeben sich auch unterschiedliche Konsequenzen für die moralische und rechtliche Bewertung sozialer Praktiken und Konflikte. Beide Positionen (die jeweils noch unterschiedliche Standpunkte vereinen) können mit re­ lativ klaren Aussagen identifiziert werden. Für die Position des kategorial-absoluten Menschenwürdeschutzes ist nach wie vor die Kantische Begriffsvariante maßgeb­ lich. Im Zweiten Abschnitt der Grundlegungsschrift entwickelt er die heute bekannte und immer wieder zitierte Formulierung: Was sich auf die allgemeinen menschlichen Neigungen und Bedürfnisse bezieht, hat einen Marktpreis; das, was auch ohne ein Bedürfniß vorauszusetzen, einem gewissen Geschmacke, d. i. einem Wohlgefallen am bloßen zwecklosen Spiel unserer Gemüthskräfte, gemäß ist, einen Affektionspreis, das aber, was die Bedingung ausmacht, unter der allein etwas Zweck an sich selbst sein kann, hat nicht bloß einen relativen Werth, d. i. einen Preis einen innern Werth, d. i. Würde.22

Kant verortet sein Würdekonzept also immer schon in einem sehr komplexen Ge­ flecht normativer Adressierungen, um den Status der damit verbundenen Rechte und Pflichten zu verdeutlichen, aber ebenso, um die Freiheitsspielräume zu kennzeich­ nen, die sich aus dieser (transzendental begründeten) Denkform des Willens erge­ ben. Freilich muss man auch hier genauer hinschauen. Dass Kants Rede von der menschlichen Würde in dem starken Sinne einer dignitas absoluta reformuliert wird, leuchtet zwar mit Blick auf die Verknüpfung von Würde und Selbstgesetzgebung ein. Dennoch sollten wir nicht übersehen und Oliver Sensen hat jüngst darauf hingewie­ 20 

Statt vieler Horn, Die verletzbare und die unverletzbare Würde, 30–41. Weber-Guskar, Menschenwürde, 212. 22  Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, 434 f. 21 

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sen, dass Kants Würde in verschiedenen Kontexten auftaucht und verschiedene Funktionen annehmen kann,23 was vor allem an seinen Ausführungen in der Tu­ gendlehre, in der zweiten Kritik, aber auch in der Religionsschrift erkennbar wird.24 Bemerkenswert ist zudem, dass die Würde weder in der Rechtsphilosophie noch in der politischen Philosophie eine (größere) Rolle spielt. Insbesondere sieht Kant kei­ nen Grund, einzelne Menschenrechte oder gar einen ganzen Menschenrechtskatalog zu mobilisieren, hier unterscheidet er sich erheblich von den Kodifikationsbemü­ hungen des 20.  Jahrhunderts.25 Letztlich ist es aber der Rückbezug auf den Kategori­ schen Imperativ, der eine nicht-kontingente Würde, d. h. einen angeborenen (d. h. unveräußerlichen) Freiheits- und Achtungsanspruch garantieren soll. Die Idee einer kontingenten Würde und die umfassende Rezeption von Margalits Position ist deshalb interessant, weil damit auch die Anerkennung eines skeptischen Ansatzes verbunden ist. Der skeptischen Begründung gehe es gerade darum, „daß wir die Frage nach einem allgemeingültigen Merkmal, aufgrund dessen alle Men­ schen Achtung verdienen, gänzlich ad acta legen und durch die Frage ersetzen, war­ um es falsch ist, Menschen zu demütigen“.26 Unter Demütigung sollen wiederum Verhaltensformen und Verhältnisse verstanden werden, die einer Person einen rationalen Grund geben, sich in ihrer Selbstachtung verletzt zu sehen. So verstanden stellt Demütigung weniger eine psychologische als vielmehr eine normative Kategorie dar […]. Als Grund für das Gefühl der Demütigung – und das ist hier das Entschei­ dende – ist alles anzusehen, was Folge des Verhaltens anderer Menschen uns gegenüber ist. Gefühle haben nicht nur Anlässe, sondern auch Gründe.27

Ungeachtet der verschiedentlich geäußerten Kritik (die wir hier nicht näher diskutie­ ren können), scheint die Attraktivität von Margalits Ansatz auf zwei Aspekten zu beruhen: auf dem positiven Aspekt einer identitätsbezogenen Selbstachtung und dem negativen der konkreten Verletzungsmöglichkeit. Die Rede von einer identitätsbezo­ genen Selbstachtung will betonen, dass Würde nicht das Ergebnis einer transzenden­ talen Freiheitsbegründung, sondern vor allem Produkt verschiedener subjektkonsti­ tutiver Perspektiven ist, der individuellen Lebensplanungen, der erworbenen sozia­ len Kompetenzen und der Anerkennung durch das gesellschaftliche Umfeld. Die starke Kontextgebundenheit, die empirische Sättigung und die bis zu einem gewissen Grade sozialbehavioristische Deutung der Menschenwürde führt auf der anderen Seite dazu, dass die normative Annahme einer Besitzpersistenz in ein Verletzungsar­ gument umgemünzt werden kann; und zwar dann, wenn ein Mensch auf eine Weise handelt oder behandelt wird, die seine Identität beeinträchtigt, d. h. ihn entwürdigt, 23 

Sensen, Kant on Human Dignity, 141 ff. Kant, Metaphysik der Sitten, 420, 463; ders., Kritik der praktischen Vernunft, 34 ff., 62 f.; ders., Die Religion in den Grenzen der bloßen Vernunft, 4. 25  Menke, Von der Würde des Menschen zur Menschenwürde. Das Subjekt der Menschenrechte, 3–21. 26  Margalit, Politik der Würde, 67. 27  A. a. O., 21. 24 

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erniedrigt, demütigt.28 Die skeptische Position vertraut damit eher den subjektiven Kontingenzerfahrungen, der situativen Zuschreibung von Dispositionen und Wert­ haltungen als dem Universalismus eines Freiheitsbegriffs, der sich immer schon auf eine allgemein begründete Praxis- und Urteilsform bezieht. Dass in der Konzeption einer kontingenten Würde die individuellen Lebensver­ hältnisse und die „natürlichen Grundlagen“ der Rechte- und Subjektkonstitution eine zentrale Rolle spielen, dürfte kaum verwunderlich sein. Diese Naturalisierung der Freiheit beruht indes nicht, wie man vermuten könnte, auf einem theoretischen Reduktionismus. Denn die Berücksichtigung natürlich gegebener Eigenschaften be­ hauptet keinen Ableitungszusammenhang normativer Annahmen aus faktischen Voraussetzungen (des Sollens aus einem Sein). Richtig verstanden geht es in erster Linie um den Aufbau von Moral und Recht unter Beachtung der natürlichen Gege­ benheiten. Andererseits wird die moralphilosophische Polarisierung zwischen uni­ versalem und kontingentem Würdeverständnis den verfassungspolitischen Ent­ scheidungen und den liberalen Rechtspraktiken nur bedingt gerecht. Will man die Deutungsroutinen und das Legitimationsinteresse des Rechts besser verstehen, dann bietet es sich mit Kurt Seelmann an, auf die rechtlich relevanten Bedeutungsverschie­ bungen zwischen Personenwürde, Subjektwürde und der Würde des konkreten Indi­ viduums aufmerksam zu machen.29 Die Verbindung zur moralphilosophischen Autonomie- und Unverletzbarkeitsse­ mantik stellt bekanntermaßen die von Günther Dürig entwickelte sog. Objektformel dar.30 Demnach sei der Mensch kraft seines Geistes Mensch, „der ihn abhebt von der unpersönlichen Natur und ihn aus eigener Entscheidung dazu befähigt, seiner selbst bewusst zu werden, sich selbst zu bestimmen und sich und die Umwelt zu gestal­ ten“.31 Gerade weil der Mensch als freie und gleiche Person angesehen werde, sei seine Würde betroffenen, „wenn der konkrete Mensch zum Objekt, zum bloßen Mit­ tel, zur vertretbaren Größe herabgewürdigt wird“.32 Dürigs Formel ist juristisch ge­ sehen eine Art Konsensformel, mit ihr kann an den gängigen Aufklärungsnarrativen angeknüpft werden. Insofern verbindet sie die Kantische Freiheitssemantik mit der juristischen Entscheidungstechnik. Die im moralphilosophischen Diskurs hervorge­ hobene axiologische Absolutheit und Besitzpersistenz verdichtet sich in der Aussage dieser Formel zu einem Basisargument: Instrumentalisierungsverbot einer jeden Rechtsperson durch hoheitliche Gewalt. In dieser Deutung wird sie dann auch in Wissenschaft und Rechtsprechung rezipiert.33 Die Menschenwürde garantiert, so das Bundesverfassungsgericht, einen effektiven Schutz vor „Erniedrigung, Brand­

28 

A. a. O., 121 ff., 135 ff. Seelmann, Menschenwürde zwischen Person und Individuum, 301–316. 30  Dürig, Der Grundrechtssatz von der Menschenwürde, 117–157. 31  A. a. O., 125. 32  A. a. O., 127. 33  Zur Debatte Gröschner/Lembcke, Das Dogma der Unantastbarkeit. 29 

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markung, Verfolgung, Ächtung“; sie soll aber auch verhindern, dass jemandem sein „Lebensrecht als Bürger in der staatlichen Gemeinschaft bestritten wird“34 . Auf theoretischer Ebene wird die Menschenwürde in Anlehnung an Hannah Arendt als Recht auf Rechte rekonstruiert. Insofern bezeichnet sie dann auch die Ei­ genwertigkeit der Rechtsperson und bestimmt den Menschen als Träger von Rechten und Pflichten.35 Gleichzeitig lässt sich beobachten, dass die rechtliche Bezugnahme auf die Würde der freien und gleichen Person durch die Berücksichtigung der subjek­ tiven Lebensverhältnisse jedenfalls partiell neu ausgerichtet wird, man denke nur an die Frage des Existenzminimums oder an die Würderelevanz der sozioökonomi­ schen Verhältnisse.36 Die hier bereits sichtbare Anerkennung individueller Selbstverwirklichungsinter­ essen ist inzwischen aus dem juristischen Menschenwürdediskurs nicht mehr weg­ zudenken. Der Menschenwürdeschutz im Sinne von Art.  1 GG umfasst demnach, wie sich der Mensch in seiner Individualität begreift und seiner selbst bewusst wird.37 Er umfasst die gewachsene und wachsende „Biographie des Verhältnisses Staat-Bürger“.38 Der Schutz ermöglicht „die Wahrung personaler Identität“ bzw. „seelischer, intellektueller Integrität“39. Und mit der Individualisierung des Ach­ tungsanspruchs kommt schließlich die Körperlichkeit selbst in den Blick, insofern nichts getan werden darf, „was es den entstehenden Individuen unmöglich macht, sich als Gattungswesen Mensch zu verstehen, und nichts, was sie hindert, die Kontin­ genz ihrer Körperlichkeit als Moment ihrer Individualität zu kultivieren“.40 Seelmann weist zutreffend darauf hin, dass die Sensibilität für Fragen der Selbst­ verwirklichung und Kontingenz in dem Maße zunimmt, in dem auf die Vulnerabilität des Individuums als Rechtsproblem und auf den Schutz der Selbstachtung als Rechtsanspruch abgestellt wird. Formen der Identitätsbildung, der individuellen Biographie, der Integrität und der Macht über das eigene Selbst werden daher grund­ sätzlich als Rechtsfragen gedacht und auch praktiziert. Rechtsverhältnis und Wür­ desemantik bilden durchaus eine Einheit oder ein Kraftfeld. Aber dieses Kraftfeld bezieht sich nicht mehr auf einen metaphysischen Personen- und Subjektbegriff. Viel eher geht es nun um eine Ausmittlung von Interessen, d. h. um ein Aggregations­ modell der Würde. Was das heißt, können wir an Eric Hilgendorfs Ensembletheorie ablesen: „Eine tragfähige Alternative könnte es sein“, so schreibt Hilgendorf, ausgehend von der Vorstellung eines einzigartigen Eigenwertes des (individuellen) Menschen die Menschenwürde zu definieren als ein Ensemble von grundlegenden subjektiven Rechten, 34 

Siehe BVerfGE 1, 97, 104. Stern, Idee der Menschenrechte und Positivität der Grundrechte, §  108 Rn.  3 ff. 36  Dazu jüngst die Entscheidung BVerfGE 125, 175 (Existenzminimum). 37  BVerfGE 45, 187, 286 (lebenslange Freiheitsstrafe). 38  Häberle, Die Menschenwürde als Grundlage der staatlichen Gemeinschaft, §  20 Rn.  52. 39  Höfling in: Sachs (Hg.), GG, Art.  1 Rn.  37 ff. 40  Hofmann, Biotechnik, Gentherapie, Genmanipulation – Wissenschaft im rechtsfreien Raum?, 253–260; vertiefend Seelmann, Menschenwürde zwischen Person und Individuum, 301–316. 35 

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die seine Autonomie bzw. Autonomiefähigkeit zu schützen bestimmt sind. Eine Menschen­ würdeverletzung wäre dann die Verletzung von (mindestens) einem dieser Rechte […].“ In Betracht kommen: „Recht auf materielles Existenzminimum, Recht auf autonome Selbstent­ faltung, d. h. minimale Freiheitsrechte, Recht auf Freiheit von extremen Schmerzen, Recht auf Wahrung der Privatsphäre, Recht auf geistig-seelische Integrität, Recht auf grundsätzliche Rechtsgleichheit und Recht auf minimale Achtung.41

Der Anknüpfungspunkt bleibt offensichtlich die Axiologie und der Universalitäts­ anspruch der Verfassung, das zeigen die Betonung des „einzigartigen Eigenwertes des Menschen“ und der Rückgriff auf die „Autonomie bzw. Autonomiefähigkeit“. Andererseits sind die Überschneidungen mit dem Konzept der kontingenten Würde nicht zu übersehen. Das betrifft den Vorrang subjektiver Rechte, die Einbettung der Würdesemantik in die konkrete Biographie, die individuellen Lebensverhältnisse und die Hervorhebung der Selbstachtung.42 Nimmt man das ernst, so kann man auch von einer Vergesellschaftung der Würde sprechen. Die rechtliche Bedeutung der Würde ergibt sich damit aus einem relationalen Geflecht: Ausgangspunkt ist die wechselseitige Zuschreibung von Rechtsstatus bei gleichzeitiger Berücksichtigung der den subjektiven Rechten zugrunde liegenden (geschützten) Interessen. Als allge­ meiner rechtstheoretischer Ansatz, so heißt es daran anknüpfend bei Tatjana Hörnle, sei die Ableitung von Rechten aus fundamental wichtigen Interessen von Menschen gut begründbar. Denn Begründungen für Normen sind lebensnäher und plausibler, wenn sie nicht auf objektive Werte oder stark abstrahierend-idea­ listische Menschenbilder bauen, sondern auf anthropologische Grundannahmen und Erfah­ rungen mit der Bedürftigkeit und Verletzbarkeit des Menschen verweisen.43

Spätestens hier können wir sehen, wie sich das rechtliche Würdekonzept für die (fak­ tische) Erfahrungsdimension sozialen Handelns und Urteilens öffnet. Diese Erfah­ rungsdimension hat einen beachtlichen Effekt. Denn mit ihrer Berücksichtigung gewinnt auf individueller, aber auch auf gesellschaftlicher Ebene der Gedanke der Erlebens und der kommunikativen Verarbeitung von Vulnerabilität, Bedürfnissen und Gefühlen normative Bedeutung. Für das Recht und konkret für das Strafrecht sind damit eine Reihe von Fragen und Konsequenzen verbunden, die hier nicht nä­ her diskutiert werden können. Wir werden die Problemanalyse auf den Bereich der Strafrechtstheorie begrenzen und hier beleuchten, wie sich die soeben rekonstruierte Würdekonzeption in den Deutungen von Strafe und Demütigung niederschlägt.

41  Hilgendorf, Instrumentalisierungsverbot und Ensembletheorie der Menschenwürde, 1653–­ 1671, hier: 1665 f. 42  Auf bioethische Sonderprobleme (PID, Stammzellforschung, Klonen usw.) gehe ich hier nicht näher ein. 43  Hörnle, Warum sich das Würdekonzept Margalits zur Präzisierung von „Menschenwürde als geschütztes Rechtsgut“ eignet, 91–108, hier: 100 f.

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II. Strafe und Demütigung 1. Die Würde des Täters und die Macht der Gesellschaft Die liberale Strafkultur und der mit ihr verknüpfte Strafschmerz stehen unter erheb­ lichen Legitimationsdruck. Das ist in den letzten Jahrzehnten nicht nur von juristi­ scher, sondern auch von philosophischer und sozialwissenschaftlicher Seite hervor­ gehoben worden.44 Nun ist es nicht so, dass die Praktiken des Strafens, aber auch der Kriminalitätsverhütung gerade in der sich ab dem 19.  Jahrhundert etablierenden Rechtsstaatsmoderne jemals unumstritten gewesen wären. Aber wir können viel­ leicht sagen, dass mit der anthropologischen Wende des Rechts und der Demokrati­ sierung der Gesellschaft erhebliche Wahrnehmungsverschiebungen einhergegangen sind. Wir haben das vor allem an der Sensibilität für Kontingenz und Metaphysikver­ lust, an dem Selbstverwirklichungs- und Vulnerabilitätsbewusstsein und an der „normativen Relevanz“ von Bedürftigkeit und Erfahrung festgemacht. Die Berufung auf das liberale Rechte- und Würdekonzept, so die These, reagiert auf die Vergesell­ schaftung von Recht und führt zu einem durchgreifenden Funktionswandel. Straf­ verfahren, Tadel und Strafschmerz sollen sozialethische Kohärenz dadurch absi­ chern, dass sie Status und Interessen der Konfliktbeteiligten im Prozess der Norman­ wendung aufeinander beziehen. Der konkrete Würde- und Achtungsanspruch von Täter und Opfer ist damit einerseits Voraussetzung, andererseits aber auch Produkt eines rechtlichen Schuld bzw. Verantwortungsdiskurses. Beginnen wir mit demjenigen, der Adressat eines Schuldvorwurfes ist. Worum es also nicht geht, sind Konstellationen, bei denen in erster Linie noch die (polizeiliche) Verhinderung einer Rechtsverletzung oder die Informationsgewinnung im Vorder­ grund steht. Angesprochen sind hier die bekannten Fälle der sogenannten „Präven­ tiv- oder Rettungsfolter“ oder des Flugzeugabschusses bei einem vermuteten Terror­ angriff.45 In einem Strafverfahren dagegen ist die geschehene Rechtsverletzung Ge­ genstand der Zurechnung und des späteren staatlichen Strafausspruches. Aufgerufen ist damit zugleich das gängige Narrativ, wenn man so will, die hegemoniale Denk­ form der liberalen Strafkultur: Dem staatlichen Strafmonopol entspricht die un­ parteiliche Verarbeitung des Normverstoßes, die Durchsetzung einer freiheitlichen Ordnung durch eine rechtesichernde Prozedur.46 Im Mittelpunkt des Interesses steht indes der Beschuldigte und Täter als Rechtssubjekt. Auf die „Binnenlogik“ dieser Prozessform wird noch zurückzukommen sein. In der klassischen Deutung ist der Beschuldigte jedenfalls Zentralgestalt des Verfahrens; und er ist auch – was noch wichtiger ist – frei verantwortliches, d. h. normativ ansprechbares Individuum. In 44  Statt vieler Duff, Punishment, Communication, and Community; Merle, Strafen aus Res­ pekt vor der Menschenwürde. 45  Schild, Folter einst und jetzt, 69–93; zur Problematik des Flugzeugabschusses BVerfGE 115, 118. 46 Siehe Günther, Die symbolisch-expressive Bedeutung der Strafe, 205–219.

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dieser Ansprechbarkeit und Verantwortlichkeit liegt die Bürde jeder strafrechtlichen „Beschuldigung“. Insofern ist der Tadel durchaus eine soziale Last. Freiheit und Bürde verweisen aber gleichzeitig auf ein ethisch-prinzipielles Argu­ ment, das in einer Strafrechtskultur immer wichtiger wird, die sich selbst als rechts­ staatlich versteht (und dadurch legitimiert), nämlich die Anerkennung des Beschul­ digten bzw. des verurteilten Täters als Gleicher. Beschuldigter und Täter sind Gleiche vor dem Gesetz und als Gleiche dem Gesetz, der strafenden Gewalt, unterworfen. Demgemäß schreibt Hegel in seiner Rechtsphilosophie: Das Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft hat das Recht im Gericht zu stehen, so wie die Pflicht, sich vor Gericht zu stellen, und sein … Recht nun von dem Gericht zu nehmen.47

Und warum das so ist, präzisiert Hegel konkret für die Person des Verbrechers. Denn dass die Strafe in der Tat des Verbrechers selbst „als sein eigenes Recht enthaltend angesehen wird, darin wird der Verbrecher als Vernünftiges geehrt. – Diese Ehre wird ihm nicht zuteil, wenn aus seiner Tat nicht der Begriff und der Maßstab seiner Strafe genommen wird“.48 Hegels Begründung von Zurechnung und Strafe mag umstritten sein. Aber es kommt hier nicht darauf an, bestimmte Argumente zu ver­ teidigen oder zu kritisieren.49 Was wir allerdings sehen können ist zweierlei: Aus­ gangspunkt für jedes Strafmaß ist eine kategorial bestimmte Schuld. Individuelle Schuld ergibt sich aus dem Gesetz, aus dem Recht der Freiheit, und aus der Autono­ mie des Täters, sich eben auch gegen das Gesetz entscheiden zu können. Gerade in dieser Autonomie erblickt Hegel und – bei allen sonstigen Differenzen – auch die ­liberale Strafphilosophie und Strafrechtswissenschaft den Ausgangspunkt für eine notwendige Bewältigung des Konflikts.50 Es geht daher auch nicht um Zynismus oder eine Herabwürdigung des Einzelnen (indem man Freiheit als Zwangsgewalt ca­ moufliert). Ganz im Gegenteil, die Rede von der Ehre des Vernünftigen soll betonen, dass Schuldspruch und Tadel, so unangenehm sie auch erlebt oder erfahren werden, vor allem von der Seite des Respekts und der Achtung her zu sehen sind. Ehre ist ein Ausdruck der Würde, die der Person immer schon zukommt und die ein faires Straf­ verfahren zur Geltung zu bringen hat.51 Gerade weil Schuldspruch und Tadel heute nur als Aktion und damit negativ wahrgenommen werden (und nicht als Reaktion), fällt es so schwer, den freiheitsgestaltenden Charakter zur Kenntnis zu nehmen. Für Hegel indes wäre das Ausbleiben von Schuld und Tadel (oder ein wie auch immer geartetes Hinwegsehen) sogar eine Demütigung, ein Ehrverlust des Verbrechers. Die Ehre oder Würde wird so schon aus einer Perspektive beachtenswert und prekär, die häufig unterschlagen wird, d. h. aus der Gesetzesanwendungs- und Zurechnungspers47 

Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, §  221. A. a. O., §  100 A. 49  Seelmann, Anerkennungsverlust und Selbstsubsumtion. 50  Siehe etwa von Hirsch, Warum soll die Strafsanktion existieren? Tadel und Prävention als Elemente einer Rechtfertigung, 43–68; Wolf, Verhütung oder Vergeltung? 51  Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, §  36. 48 

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pektive. Die zweite Perspektive betrifft nicht die sich aus der Tatzurechnung ergeben­ de Statusfrage. Es geht vielmehr um das mit dem Würdekonzept verbundene Instru­ mentalisierungsverbot, d. h. um das, was wir heute Grenzen der Zweck-Mittel-Rela­ tion und der Verbrechensprävention nennen. Wie aber steht es mit der Rechtlichkeit der Androhungsstrafe?, fragt Hegel. Drohung setzt den Menschen als nicht freien voraus, ein Zwingen durch die Vorstellung eines Urteils. Der Anblick dieses vorgestellten Übels soll also das Unterlassen des Verbrechens be­ wirken. Dieß ist moralischer Zwang, der voraussetzt, daß ich mich zwingen lasse.

Und weiter heißt es dann: Das Recht und die Gerechtigkeit müssen ihren Grund und Sitz in der Freiheit und dem Willen lassen. Bei der Drohung wendet man sich an die Freiheit nicht, sondern an die Unfreiheit, wie wenn man gegen einen Hund den Stock erhebt. Da ist also der Mensch wie ein Hund behan­ delt, nicht nach seiner Ehre, seiner Freiheit.52

Wogegen sich Hegel hier wendet, ist nicht die Prävention, die Berücksichtigung der Gefährlichkeit kriminellen Handelns per se. Wogegen er sich wendet, ist die (etwa bei Anselm Feuerbach) sichtbar werdende Prävalenz der Sinnlichkeit als konstitutives Merkmal der Person. Zu kritisieren ist also, dass sich die normative Ansprechbar­ keit aus einer psychologischen Beeinflussung des Rechtssubjekts ergeben soll. Was bleibt dann aber von der Autonomie, von der Freiheit? Hegel beschreitet einen ande­ ren Weg, indem er auf der kategorialen Bestimmung von Schuld und Tadel beharrt, zugleich jedoch die veränderlichen gesellschaftlichen Bedingungen und Erfahrun­ gen, die Erwartungen und Ängste auf der Ebene der Strafzumessung einbezieht.53 Denn indem das Verbrechen nach der Vorstellung und dem Bewusstsein von dem Gelten der Gesetze aufgefasst wird, so ist die Gefährlichkeit für die bürgerliche Gesellschaft eine Bestimmung seiner Größe, oder auch seiner quantitativen Bestimmungen. – Diese Qualität nun oder Größe ist aber nach dem Zustande der bürgerlichen Gesellschaft veränderlich […] Ein Strafkodex gehört darum vor­ nehmlich seiner Zeit und dem Zustand der bürgerlichen Gesellschaft in ihr an.54

Die Würde des Straftäters wird nur dann zur Geltung gebracht, wenn seine Autono­ mie durch Gesetz und Verfahren geachtet und das vergangene Geschehen als frei­ heitswidrig ausgewiesen wird. Davon zu unterscheiden sind aber die Konsequenzen und die kontingenten empirischen Umstände der konkreten Rechtsverletzung. Hegel möchte uns dafür sensibilisieren, dass eine Konfliktverarbeitung einerseits auf die Folgen schauen muss, die der Täter seinem Handeln selbst beilegt, andererseits da­ rauf, was dieses Handeln in der Gesellschaft bewirkt, welche Verunsicherungen es in der Öffentlichkeit hervorruft usw. Ergeben sich aus beiden Faktoren doch Anhalts­ 52 

Hegel, Vorlesungen über die Philosophie des Rechts, 855 f. Merle, Strafen aus Respekt vor der Menschenwürde, 93 ff.; Seelmann, Ebenen der Zu­ rechnung bei Hegel, 85–92; Zabel, Hegels republikanische Strafphilosophie, 515–527. 54  Hegel, Grundlinien, §  218. 53 Vgl.

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punkte für die gesellschaftliche, zeitbedingt notwendige Kriminalitätsbewältigung, aber auch für die Verhütung von Rechtsverletzungen.55 Die Verbindung von Schuld und Tadel mit der Gesellschaftsperspektive und den Präventionserwägungen verwirklicht für Hegel nicht nur Freiheit und Autonomie, sie verstößt auch nicht gegen die Ehre und d. h. gegen menschenwürdiges Strafen. Wir sehen daran, es hat nicht nur der Verbrecher einen unbedingten Anspruch auf Aner­ kennung als freies Rechtssubjekt, auch die bürgerliche Gesellschaft und sogar die Opfer haben – gegen den Verbrecher – Rechte auf Wiederherstellung des normativen Vertrauens und d. h. ein Recht auf die Integrität freiheitlichen Zusammenlebens. Das Rechtsverhältnis ist ein Gegenseitigkeitsverhältnis, insofern gibt es eine unverlier­ bare Ehre oder Würde jedes Gesellschaftsmitglieds; und es gibt offenbar eine Form sozialer Reputation. Diese soziale Reputation kann man erwerben, beibehalten und auch – etwa durch eine Strafsanktion – bis zu einem gewissen Grade wieder einbü­ ßen (was dies bei Hegel im Einzelnen heißt, ist nicht immer ganz klar, zumal er auch die Todesstrafe kennt). Diese Verbindung von Schuld und Tadel mit der Gesellschaftsperspektive und di­ versen Präventionserwägungen markiert bis heute die zentrale Stoßrichtung liberaler Strafrechtstheorien. Auf der anderen Seite hat aber die Reflexivität des Rechts die Vorstellungen vom Strafen selbst verändert. Reflexivität bedeutet hier, dass das Recht auf die Veränderungen in der individuellen Denk- und Erfahrungsumwelt reagiert und versucht, sie in den eigenen Kategorien und Prozeduren, der Straftheorie und Spruchpraxis zu verarbeiten.56 Zentrale Bezugsgröße für diese Veränderungsdyna­ miken ist der Umgang mit den Gesellschafts- und Freiheitsinteressen: Strafrecht und Gesellschaft verschmelzen im gängigen Diskurs zunehmend zu einer Strafrechts­ gesellschaft.57 Das Strafrecht wird also nicht mehr ausschließlich als staatliche Do­ mäne, als machtvoller Antipode verstanden (als der es auch immer wieder in Er­ scheinung tritt). Mindestens ebenso so sehr wird die Strafrechtspflege als Stabilisator und Kampfplatz sich stetig wandelnder Interessen wahrgenommen. Das Freiheits­ verständnis wiederum artikuliert viel stärker das Kontingenz- und Vulnerabilitäts­ bewusstsein der Konfliktbeteiligten als einen Autonomie- und Vernunftbegriff klas­ sischer Prägung. Die Konsequenzen machen sich in der Strafrechtskultur vor allem dort bemerkbar, wo die Rollen und Organisationsprinzipien relativiert oder neu kon­ struiert werden. Das sehen wir etwa an den modernen Formen der Zurechnung, an der Stellung des Beschuldigten im Verfahren oder am pragmatischen Umgang mit Tadel und Strafschmerz (einschließlich der Annahme eines Feindstrafrechts).58 Da­ neben spielen die Interessen der Opfer und diverse alternative Strategien der Kon­ 55  Zu diesen Verhütungstechniken zählt Hegel Elemente der Spezialprävention und der General­ prävention. 56  Detaillierte Analyse bei Duff, Punishment, Communication, and Community, 3 ff. und bei Garland, Culture of Control. Crime and Social Order in Contemporary Society, 27 ff. 57  Foucault, Die Strafgesellschaft. 58  Einzelheiten bei Zabel, Die Ordnung des Strafrechts, 513 ff.

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fliktbeilegung eine immer wichtigere Rolle. Aber bleiben wir zunächst noch beim Beschuldigten bzw. Täter. „Wie es um die Menschenwürde in einer Gesellschaft bestimmt ist“, schreibt ­Avishai Margalit, läßt sich nirgendwo so deutlich ablesen wie an ihrer Strafpraxis. Sie ist die Feuerprobe einer anständigen Gesellschaft […]. Eine Gesellschaft ist anständig, wenn sie Verbrecher – selbst Schwerverbrecher – bestraft, ohne sie zu demütigen. Wie alle anderen Menschen haben auch Straftäter ein Anrecht auf jene Achtung, die dem Menschen allein aufgrund seiner Mensch­ lichkeit gebührt.59

Margalit konzipiert die Würde des Verbrechers – wie die liberale Strafphilosophie und Strafrechtswissenschaft ganz generell – von der einwirkenden, Leiden verursachende Strafgewalt aus.60 Dass die andere, auch bei Hegel diskutierte Perspektive des für sich bestehenden Subjektstatus (die Ehre des Vernünftigen) nicht im Vorder­ grund steht, liegt daran, dass der Status des Straftäters selbst zum Problem geworden ist: Zugeschriebene Personalität und fragile, Leid tragende Individualität sollen bei­ derseits berücksichtigt werden und sind doch schwer miteinander in Einklang zu bringen. Diese ambivalente Sicht auf das Tätersubjekt ist insbesondere der bereits skizzierten anthropologischen Neuausrichtung des Rechts geschuldet. Sie zeigt aber auch, wie stark der Freiheitsbegriff die konkreten Gesellschaftsverhältnisse abbilden soll und deshalb maßgeblich von den Regulierungseffekten und vom Vulnerabilitäts­ bewusstsein des Rechts aus definiert wird. Diese Perspektive bestimmt nicht nur den Umgang mit Schuld, Tadel und Strafschmerz. Sie berechtigt auch dazu, von einer responsiven Vergesellschaftung der gesamten Strafkultur zu sprechen. Das erwähnte Vergesellschaftungsmotiv verknüpft die liberale Strafbegründung mit einem heute zentralen Legitimationsansatz, dem sog. Kommunikationsparadigma. Kommunikation wird danach als eine symbolische Verarbeitung der Rechtsver­ letzung verstanden. Die Rede ist dann auch von einem Sprechakt, einem Sprachspiel oder, wie bei Antony Duff, von einer Prozesskommunikation.61 Kommunikation begründet die Gewähr für ein faires Verfahren. Die Strafmacht kommt hier als de­ mokratische Institution in den Blick, die die zwei Eckpfeiler der Rechtsstaatlichkeit, Ratio und Gesetz, zur Grundlage jeder Entscheidung macht. Aber das ist nur die eine Seite der Medaille. Was häufig unterbelichtet bleibt, ist das Kraftfeld, das die Kom­ munikation antreibt und damit auch die Deutung des Konflikts maßgeblich beein­ flusst. Gemeint ist die Perspektive der Gesellschaftssubjekte und Prozessbeteiligten, das strategische Zusammenspiel von Interessen, Erwartungen und Machttechniken. Schuld, Tadel und Strafschmerz sind keine statischen juridischen Kategorien. Sie werden als geistige Konstrukte im Handeln der Beteiligten immer wieder hervor­ 59 

Margalit, Politik der Würde, 252. Siehe bereits Christie, Grenzen des Leids. 61  Hamel, Strafen als Sprechakt, 64 ff.; Hörnle, Straftheorien, 31 ff. und Zürcher, Legitima­ tion von Strafe, 127 ff.; Duff, Punishment, Communication, and Community, 80. 60 

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gebracht, bestätigt und in ihrer Semantik an die konkreten Verfahrensbedingungen angepasst. Wir können daher auch von einem kommunikativ verdichteten Gewebe oder – mit Foucault – von einem Dispositiv sprechen. Damit wird aber auch klar, dass der Straftäter (der Beschuldigte) und seine Tat ein Produkt dieser Kommunika­ tion sind. Kommunikation ist nichts, was von außen in die Prozeduren und schüt­ zenden Formen eindringt, sie ist Teil der rechtlichen Identität. Mehr noch: Kommu­ nikation soll die Kohärenz der Schuld- und Strafbegründung garantieren und zu­ gleich die Kohäsionskräfte zwischen Recht und Gesellschaft mobilisieren. „Der Täter behauptet“, so Günther Jakobs, er habe das Lebensrecht des Opfers nicht zu achten. Diesem geäußerten Sinn wird durch Schuldspruch und Strafe widersprochen; auch der Strafschmerz ist Träger eines Sinns. An der Geltung des Tötungsverbots wird festgehalten! Mit dieser Deutung als ‚Rede‘ und ‚Antwort‘ sind Straftat und Strafe auf der Ebene der Gesellschaft angekommen, als Kommunikationen über die normative Struktur der Gesellschaft.62

D. h. auch die Freiheitsrechte des Verbrechers, sein Würde- und Achtungsanspruch müssen in den kommunikativen Aushandlungsprozessen zur Geltung gebracht wer­ den. Die gegenwärtige kontroverse Diskussion dreht sich letztlich darum, wie die im kommunikativen Paradigma gebündelten Interessen und die daraus abgeleiteten Rechte wechselseitig ausgemittelt werden, wie mit anderen Worten Autonomie und Autorität, Schuld und Tadel, Strafschmerz und Resozialisierung in ein angemessenes Verhältnis gebracht werden können.63 Sprechakte, Sprachspiele und Deutungspro­ zeduren sollen Rechte optimieren, damit aber auch die sich aus dem Rechtskonflikt ergebende Folgenverantwortung zur Geltung zu bringen. Der Begriff und das Ver­ ständnis der Prävention, vor allem in Gestalt der Generalprävention, zeigen sehr deutlich, wie das moderne Strafrecht versucht, die Kontingenzerfahrungen und Schutzbedürfnisse moderner Gesellschaften unmittelbar in das Strafkonzept zu inte­ grieren. In der gängigen Semantik: Normstabilität soll dadurch erreicht werden, dass deontologische und konsequentialistische Elemente im symbolischen Sprachspiel, das heißt in der Artikulation des Tadels und des Strafschmerzes verschmolzen wer­ den.64 Kurz: Strafe ist schuldbezogene Kontingenzbewältigung. Dass das nicht not­ wendig zu einer individuellen Würdemissachtung führen muss, wie gelegentlich be­ hauptet wird, liegt vor allem daran, dass die moderne Strafrechtstheorie pragmatisch argumentiert. Freiheitsrechte und Verhaltenspflichten sind Teil einer Verhältnismä­ ßigkeitsannahme, die den individuellen Rechtsstatus der Adressaten kontextabhän­ gig konkretisiert, was auch in der erwähnten Ensembletheorie Hilgendorfs zu beob­ achten ist. Allerdings bleibt das Problem, dass der Status dadurch nicht nur „dynamisch ge­ halten“ wird, sondern dass er auch in den Sog autonomiebedrohender Interessen ge­ 62 

Jakobs, System der strafrechtlichen Zurechnung, 13. Günther, Schuld und kommunikative Freiheit, 191 ff. 64  Zur aktuellen Debatte Schünemann et al., Positive Generalprävention. 63 

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raten kann. Es bedarf also immer eines Sinns für Angemessenheit (Klaus Günther) und belastbarer Eingriffsgrenzen. So ist zwar klar, dass eine Strafe, die auf dauerhaf­ te und irreversible Demütigungen zielt, dem Täter keine personale Identität und kei­ ne gelungene Resozialisierung mehr ermöglicht. Darüber hinaus ist das Feld der Un­ schärfen aber enorm. Man denke an die prekären Effekte des Ermittlungsverfahrens oder der Untersuchungshaft, an die lebenslange Freiheitsstrafe oder an Sanktionen, die mit einer öffentlichen Prangerwirkung verbunden sind. Andererseits gilt: Wenn Strafe und Strafschmerz eine expressive und symbolische Funktion haben, wenn strafrechtliche Konfliktbeilegungen vergesellschaftet werden sollen, dann ist es nicht nur folgerichtig, dass das Verbrechensopfer auf den Plan tritt. Es ist auch un­ umgänglich, die Frage nach der Würde und der Selbstachtung des Opfers im Straf­ recht zustellen. Jede in den Worten Margalits anständige Strafgesellschaft muss also erklären können, in welcher Weise das Opfer an diesem gesellschaftlichen Ausgleich partizipieren kann; und wie sich die Achtungsansprüche von Täter und Opfer zu­ einander verhalten. 2. Über Würde und Selbstachtung des Opfers im Recht Die Vergesellschaftung des liberalen Strafrechts hat die Emanzipation des Verbre­ chensopfers zur Folge (darauf werden wir gleich noch näher eingehen).65 Verbunden ist damit auf der anderen Seite eine sichtbare Dezentrierung des Delinquenten. Das hat auch mit Blick auf das moderne Würdeverständnis zwei bemerkenswerte Effekte: Zum einen verändert sich die Binnenstruktur von Schuldurteil und Strafbegrün­ dung, von Verfahren und Strafverbüßung.66 Auf der anderen Seite können wir an der Emanzipation des Opfers gut erkennen, wie das Recht – sehr funktional – die Bedeutungsgehalte von Individuum, Subjekt und Person in die Konfliktverarbeitung integriert oder ineinander fließen lässt. Was heißt das für ein opfer- und menschen­ würdiges Strafen? Wenn heute von der Emanzipation oder der Renaissance des Opfers in der libera­ len Strafkultur gesprochen wird, dann will sich diese Deutung von dem hegemonia­ len Narrativ des klassischen Strafrechts absetzen. Dieses Narrativ besagt, dass die Genugtuungsinteressen des Opfers (die sich aus der konkreten Rechtsverletzung er­ geben) im Recht stellvertretend durch den Strafanspruch des Staates geltend gemacht und daher als eigene Ansprüche des Opfers neutralisiert werden. Diese Neutralisie­ rung sei ein Resultat der gewaltmonopolisierten Rechtsdurchsetzung im modernen Staat und auch notwendig, um eine effektive und dauerhafte Befriedung sozialer Konflikte zu garantieren.67 Nun ist dieses Narrativ und diese Legitimation staatli­ chen Strafens in dem Maße einsichtig, in dem der Staat als Repräsentant der allge­ 65 

Günther, Ein Modell legitimen Scheiterns. Der Kampf um Anerkennung als Opfer, 185–247. Weigend, Die Strafe für das Opfer? Zur Renaissance des Genugtuungsgedankens im Strafund Strafprozessrecht, 39–57. 67  Pawlik, Normbestätigung und Identitätsbalance. Über die Legitimation staatlichen Strafens. 66 

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meinen Interessen angesehen wird und das Strafrecht diese Interessen durchsetzt. Denn klarer Weise werden so nicht nur private, gesellschaftliche und staatlich-poli­ tische Angelegenheiten unterschieden. Es wird auch darauf insistiert, dass nur staat­ liche Institutionen den allgemeinen Gerechtigkeitsstandards genügen können (denn den allgemeinen Gerechtigkeitsstandards sind institutionelle Reflexionsstandards eingeschrieben); weshalb nur die staatliche Strafe ihre befriedende und genugtuende Wirkung entfalten kann. Diese Strafe bündelt und kanalisiert die Interessen aller und kommuniziert diese in Form eines sozialethischen Tadels gegenüber dem Täter. Der strafende Staat kontrolliert das Genugtuungsbedürfnis und stellt so die (Selbst-) Achtung des Opfers wieder her. So weit, so bekannt. Wenn diese kohärenzstiftende Funktion der staatlich sanktionierten Strafe ihre Selbstverständlichkeit verliert oder gar bestritten wird, ändern sich auch die Spiel­ regeln. Das genau können wir im Prozess der Vergesellschaftung liberalen Strafens beobachten (der, wie wir schon bemerkt haben, mit einer Sensibilität für Kontingenz und Metaphysikverlust, für das gewandelte Selbstverwirklichungs- und Vulnerabili­ tätsbewusstsein und für die wachsende Bedeutung der individuellen Leiderfahrun­ gen einhergeht). Diese Vergesellschaftung ist nicht so zu verstehen, dass der strafende Staat einfach abdanken würde. Davon kann keine Rede sein. Was sich aber ändert, ist die Art und Weise, in der die Genugtuungsinteressen wahrgenommen, verallgemei­ nert und kommuniziert werden. Mit anderen Worten, das Opfer wird selbst Teil der symbolischen Praxis, des Tadelns und der Sanktionsinteressen. D. h. das Bedürfnis nach Wiederherstellung seines Status als Rechtsperson wird eigenständiges Legitima­ tionskriterium des Strafens.68 Aber wie wird aus der unmittelbaren Verletzungserfahrung ein allgemein zu res­ pektierendes Argument, woher kommt also das „normative Kapital“, das auch die sozialethische Missbilligung und den rechtlichen Genugtuungsanspruch trägt? Die unverkennbare Hochschätzung des Opfers ist ohne Zweifel ein Verdienst der anthro­ pologischen Wende des Rechts, mit der die Individualisierung der Verantwortungs­ zurechnung eng verbunden ist. Andererseits kann nicht darüber hinweggesehen werden, dass das unmittelbare Verletzungsbewusstsein, die körperlichen und seeli­ schen Schäden, die daraus erwachsenen Demütigungs- und Erniedrigungserfahrun­ gen, höchst individuelle Erfahrungen sind. Nur das Opfer erlebt und fühlt diese Er­ fahrungen; und in diesem Erleben und Fühlen der Verletzung kann es nicht durch Dritte und schon gar nicht durch die Gesellschaft vertreten werden. Das Gleiche gilt für sämtliche Bedürfnisse der Wiedergutmachung (bis hin zur Rache). Das Strafrecht muss daher eine Antwort darauf finden, wie das höchst Individuelle und Kontingen­ te der Gefühle, Erfahrungen und Bedürfnisse normative Wirksamkeit erlangen kann. Und nicht nur das. Für das Opfersubjekt geht es auch um einen Akt der Teil­ habe, um Selbstachtung durch Selbstermächtigung.

68 

Hörnle, Die Rolle des Opfers in der Straftheorie und im materiellen Strafrecht, 950–958.

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Klaus Günther hat deshalb mit Bezug auf Arbeiten Peter Strawsons und Joel Fein­ bergs vorgeschlagen, das Genugtuungsbedürfnis des Opfers in die verbrechensbe­ dingten „Empörungskulturen“ moderner Gesellschaften einzubetten. Denn soweit sich die Reaktion oder das Ressentiment des Opfers auf eine jeden Menschen glei­ chermaßen geschuldete Achtung bezöge, sei diese Reaktion intersubjektiv teilbar. Diese intersubjektiv geteilte, aber stellvertretend artikulierte Reaktion gründe sich auf der gleichen Erwartung gegenseitiger Achtung. Die moralische Empörung Drit­ ter über das einem anderen zugefügte Unrecht habe insofern den gleichen proposi­ tionalen Gehalt wie das Ressentiment des Opfers gegenüber dem Täter.69 Erkennbar wird damit, dass sich individuelle Erfahrung und gesellschaftliche Erwartung in spe­ zifischer Form aufeinander beziehen sollen, eben dadurch, daß sich die generalisierte Empörung von dem Ressentiment des Opfers nährt. Das Opfer bleibt in der missbilligenden, tadelnden Reaktion der Gemeinschaft anwesend. Dessen Res­ sentiment wird gleichsam in einem Akt der moralischen Solidarität und Identifikation von allen anderen geteilt.70

Das Genugtuungsbedürfnis des Opfers stellt sich also im Tadel durch einen Akt mo­ ralischer Solidarität, durch einen kollektiven Identifikationsprozess dar, mit dem der Achtungsanspruch bestätigt und auf die demütigenden Erfahrungen mit einer emphatischen Geste symbolischer Reintegration geantwortet wird. In diesem Sinne wird das Opfer als Gleicher unter Gleichen anerkannt. Darin dürfte auch der perfor­ mative Akt der Würdegarantie zu sehen sein. Günther geht aber noch einen Schritt weiter. Denn über die (abstrakte) Anerkennung des Opfers als Gleicher sei auch eine konkrete möglich und notwendig. Insofern erschöpft sich die symbolisch-expressive Reaktion nicht in der missbilligenden Reaktion. Gerade weil die Unrechtserfahrung eine Reihe verallgemeinerbarer Aspekte kennt, also auf eine Sprache verweist, die wir alle sprechen, kann – jedenfalls bis zu einem gewissen Grade – auch auf die spezifische Erfahrung des Opfers Bezug genommen werden. Für Günther lässt sich deshalb der Kern einer symbolisch-expressiven Strafpraxis folgendermaßen zusammenfas­ sen: Die öffentliche Deklaration, daß die Verletzung ein individuell zu verantwortendes Unrecht sei und daß dieses Unrecht von der Allgemeinheit nicht akzeptiert werde. Diese Deklaration ist an drei Adressen gerichtet: (1) An den Verletzten, dem mit dieser Deklaration zugleich er­ klärt wird, daß es sich bei seiner Verletzung nicht um ein Unglück oder Schicksal handelt, sondern um Unrecht, das von der Allgemeinheit nicht akzeptiert wird. Darin liegt zugleich die opferspezifische Mitteilung, daß er/ sie nicht selbst an seiner Verletzung schuld sei, sondern eine Person, der dieses Unrecht individuell zurechnet wird. (2) An den Täter, dem das Unrecht individuell zugerechnet wird, mit der Folge, daß seine Neutralisierungen der Unrechtstat (das Opfer, die Gesellschaft, die Umstände seien eigentlich schuld) nicht anerkannt werden […]. (3) 69  Günther, Die symbolisch-expressive Bedeutung der Strafe, 216 f., dort auch mit Verweisen auf die Arbeiten, Argumente und Begründungen von Strawson und Feinberg; vgl. aber auch ders., Ein Modell legitimen Scheiterns. Der Kampf um Anerkennung als Opfer, 185–247, insbes. 210 ff. 70  Günther, Die symbolisch-expressive Bedeutung der Strafe, 217.

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An die Allgemeinheit, der mitgeteilt wird, daß die Verletzung Unrecht und nicht Unglück ist, daß es nicht akzeptiert wird, und daß dieses Unrecht weder vom Opfer noch von der Allge­ meinheit zu verantworten ist.71

Die symbolisch-expressive Strafe (so, wie sie jedenfalls mehrheitlich verstanden wird) verknüpft die Verbürgung von Würde und Selbstachtung. Durch den Akt mora­ lischer Solidarisierung soll nicht nur der Status der Person behauptet werden. Er ga­ rantiert dem Opfer auch eine darüber hinaus gehende Genugtuungsleistung, indem er das konkrete Subjekt anspricht und so die Wiederaneignung oder Bestätigung des Selbstbildes, der moralischen Identität usw. unterstützt. Das kann das Recht tun und es sprechen gute Gründe dafür (etwa die Befriedungs- und Integrationsfunktion, wie sie sich auch im Täter-Opfer-Ausgleich abbildet). Dennoch sollten wir die moralische Leistungsfähigkeit des Rechts nicht überschätzen. Das gilt vor allem dann, wenn die moralische Semantik so schillert; wenn – wie es scheint – die Kohäsionskräfte des Rechts und individuelle Lebenseinstellungen gleichermaßen im Spiel sind. Was je­ denfalls nicht gefährdet werden darf, ist die Kompetenz des Rechts, auf dem gleichen Achtungsanspruch aller Personen zu bestehen.

III. Menschenwürde als Inklusionsbegriff des Rechts Was wir an den Tendenzen symbolisch-expressiver Strafbegründungen sehen kön­ nen, ist der Versuch, der neuen Sensibilität für Autonomie und Autonomieerfahrung, für Kontingenz und Vulnerabilität gerecht zu werden. Die Vorstellungen von Men­ schenwürde, die hierbei mitschwingen, sind keineswegs einheitlich. Der „anthro­ pologische Horizont“ des Rechts und die Betonung subjektiver Rechte dürften aber mehrheitlich konsentiert sein. Dem zugrunde liegt die Ablehnung starker metaphy­ sischer Voraussetzungen. Die Idee der Allgemeinheit und des menschlichen Zusam­ menlebens als Grundbedingungen menschenwürdigen Strafens werden, wie sich gezeigt hat, zunehmend vergesellschaftet. Zu beobachten ist allerdings auch, dass der Gesellschaftsbegriff, namentlich das Verhältnis von Interessen, Rechten und Würde in ihrer Freiheitsbegründung häufig unterbestimmt bleiben, was gerade auch das Verhältnis zur Moral betrifft. Hier soll vorschlagen werden, Würde als rechtlichen Inklusionsbegriff zu fassen und d. h.: die anthropologische Grundausstattung des Rechtssubjekts nicht als eine natürlich gegebene Voraussetzung der demokratischen Freiheitsverfassung zu ver­ stehen. Das klingt zunächst paradox. Und nur um Missverständnissen vorzubeugen. Damit wird nicht bestritten, dass Bedürftigkeit und Verletzlichkeit moderne Gesell­ schaften prägen. Leiblichkeit, Gefühle, Leidenserfahrungen oder diverse Ängste sind Ausdrucksformen des Lebens und von sozialen Konflikten. Diese Einsicht muss je­ des soziale Medium ernst nehmen und in angemessener Form verarbeiten, auch die 71 

A. a. O., 218 f.

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Strafkultur. Verarbeiten kann dann aber nur bedeuten, dass Recht, Gesellschaft und Subjekte die kontingenten Lebensverhältnisse selbst und frei gestalten. Die Gesell­ schaftssubjekte, so die These, sind den Kontingenzen der Freiheit nicht einfach aus­ geliefert, sie müssen sich die Reichweite ihrer Rechte und Pflichten über Gründe er­ schließen. Was das heißt, können wir sehen, wenn wir bei der von Klaus Günther rekonstru­ ierten Empörungskultur moderner Gesellschaften ansetzen. Empörungen im Ange­ sicht von Straftaten und Rechtsverletzungen sind danach Ausdruck einer teilneh­ menden Einstellung der Gesellschaftssubjekte. Aber woher kommt diese teilneh­ mende Einstellung? Günther scheint wie Strawson davon auszugehen, dass eine Gesellschaft diese Einstellung durch die Praxis des Zusammenlebens erwirbt und fortschreibt. Nur ist diese Praxis des Zusammenlebens für sich gesehen kein Garant für die Kommunikation berechtigter Ansprüche, für verallgemeinerbare Wertkon­ zepte und individuelle Verpflichtungen, was sich an der jüngeren Geschichte von Recht, Staat und Strafregimen gut ablesen lässt. Eine in der Lebenswelt eingebettete teilnehmende Einstellung ist nicht irgendwie vorhanden, die Gesellschaftssubjekte stoßen nicht auf sie. Vielmehr ist sie ein Produkt der freien, gemeinschaftlich ausge­ übten Urteilskraft. D. h. freie und gemeinschaftlich ausgeübte Urteilskraft ist eine Tätigkeitsform, die in den Erfahrungsräumen der Lebenswirklichkeit für Orientie­ rung sorgen kann. Insoweit sollte Urteilskraft auch nicht als psychologisches Faktum verstanden werden. Urteilskompetenz ist nichts, das nur in der Innerlichkeit der Sub­ jekte ausgebildet wird. Gerade an den alltäglichen, aber auch an den politischen und vor allem juristischen Formen des Urteilens wird erkennbar, dass es um einen allgemein anerkannten und reflektierten Gebrauch von Begriffen, Regeln und Prinzipien geht. Gemeint ist also eine soziale und institutionell – etwa im Recht – kontrollierte, zu korrigierende und immer wieder anzupassende Anwendung der Regeln usw. Eine teilnehmende Einstellung in und durch die Gesellschaft kann daher nur über die Prozeduren gemeinsamen Urteilens erreicht werden. In diesem Sinne ist es auch möglich, von einer demokratischen Urteilsgemeinschaft zu sprechen.72 Kommen wir auf die Strafkultur zurück: Zunächst wird deutlich, dass wir Straf­ gesellschaften, die einen sozialethischen Tadel aussprechen und auf Solidarität und Empathie mit dem Opfer insistieren, als Urteilsgemeinschaften rekonstruieren soll­ ten. Täter und Opfer sind, wie der Rechtsstab auch, Teil dieser Urteilsgemeinschaft, verknüpft mit den Regularien rechtlicher Urteilspraxis. Im Tadel – der Strafe und ihrer Vollstreckung – und der Kommunikation mit dem Verbrechensopfer zeigt sich insofern zweierlei: Beide werden als normativ ansprechbare Rechtssubjekte angese­ hen, die sich der ethischen Standards liberaler Gesellschaften bewusst sind. Gleich­ zeitig weiß jede einigermaßen aufgeklärte Strafkultur, dass Täter und Opfer Indivi­ duen mit Biographien und konkreten Interessen sind, die mit Bedürftigkeiten und Verunsicherungen, Verletzlichkeiten und Ängsten einhergehen. Kommunikation 72 

Dazu auch die Analyse bei Günther, Ein Modell legitimen Scheiterns, 220 ff.

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durch Strafrecht zielt also nicht nur auf Normstabilität, sondern auch auf die Auf­ rechterhaltung oder die Wiederherstellung sozialer Inklusion. Diese Inklusionsfähigkeit des Rechts durch Kommunikation und Urteil beruht auf einer Vorstellung von Menschenwürde, die die Eigenständigkeit und die Ab­ hängigkeit der Rechtssubjekte gleichermaßen zur Geltung bringt. Eigenständigkeit bedeutet Respekt vor den Freiheitsrechten, Abhängigkeit verweist auf das soziale Netzwerk, in das alle Subjekte eingebunden sind. Deshalb scheint es angemessen, Menschenwürde als rechtlichen Inklusionsbegriff aufzufassen. Dieses Geflecht von Eigenständigkeit und Abhängigkeit im Urteilen ist keiner festgefügten Hierarchie unterworfen. Eigenständigkeit und Abhängigkeit markieren vielmehr den Hand­ lungsrahmen, innerhalb dessen das gesellschaftliche Freiheitsniveau tatbezogen rea­ lisiert werden muss. Die Prozesskommunikation mit dem Täter wirkt dann inklusiv (also nicht demütigend und autoritär), wenn sich Tadel und Strafschmerz als ein ge­ meinsames Urteil rekonstruieren lassen. D. h. die Inklusionskraft verwirklicht sich in dem Maße, in dem die Kommunikation nicht nur ein Urteil über den Täter ist, sondern sich in dem Urteil auch eine Verständigung über die individuellen Motive und Gründe, über die Verantwortung des Rechts und die zu bewahrenden Freiheits­ standards der Gesellschaft artikuliert. Darüber hinaus kann im Strafschmerz das Vulnerabilitätsbewusstsein und damit auch das (zeitbedingte) Schutzbedürfnis der Gesellschaftssubjekte namhaft gemacht werden. Dennoch bleibt die Einsicht in die Aporie der liberalen Strafkultur, insofern der Anspruch, Freiheit wiederherzustellen, neue Leiderfahrungen einschließt oder einschließen kann. Strafen kann Gerechtigkeit immer nur verwirklichen und zugleich nicht verwirklichen. Für das Verbrechensopfer wiederum gilt, dass die strafrechtliche Kommunikation keine heilende Wirkung versprechen kann (darauf hat Jan-Philipp Reemtsma mit Blick auf seine eigenen Erfahrungen als Entführungsopfer zu Recht hingewiesen73). Dennoch kann das Recht für das Opfer menschenwürdig und inklusiv wirken, wenn die in der Rechtsverletzung manifeste Demütigung durch das gemeinsame, nicht nur juristische Urteilen ausgesprochen und das Genugtuungsinteresse anerkannt wird. Zur symbolisch-expressiven Seite dieser Kommunikation hat Günther das Wesentli­ che gesagt. Die konkreten Inklusionswirkungen bestehen darin, dass einerseits der Freiheits- und Gleichheitsstatus des Opfers bestätigt und damit der rechtlich zu ga­ rantierenden Eigenständigkeit Rechnung getragen wird. Dass andererseits aber auch die Rehabilitierung des individuellen Selbstbildes und der Selbstachtung ermöglicht werden soll, was die Abhängigkeit des Gesellschaftssubjekts verdeutlicht. Nur in die­ sem Zusammenspiel kommen Status und Teilhabe des Opfers wieder zur Geltung. Diese durch den Menschenwürdebegriff begründeten Inklusionswirkungen ver­ weisen aber auf einen solidarischen Anteil des liberalen Rechts. Dieser solidarische Anteil wird dem Recht nicht von außen oktroyiert, durch Moral oder Politik. Viel­

73 

Reemtsma, Das Recht des Opfers auf die Bestrafung des Täters – als Problem.

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mehr sind es die Gesellschafts- als Rechtssubjekte, die in der Form der demokrati­ schen Urteilsgemeinschaft die solidarischen Kohäsionskräfte selbst erzeugen. Menschenwürdiges Strafen verweist darauf, und damit kommen wir zum Anfang unserer Erörterungen zurück, dass es zwischen beiden hier angesprochenen Würde­ konzepten kein Ausschließlichkeitsverhältnis geben muss. Kategoriale und kontin­ gente Aspekte der Menschenwürde lassen sich in den Praktiken des liberalen Rechts durchaus produktiv rekonstruieren. Ausschlaggebend dafür ist allerdings, dass Frei­ heit und Kontingenz, Norm und Natur nicht als natürlich gegebene Gegensätze ver­ handelt werden. Sie sind vielmehr reflexiv gewendete Verwirklichungsbedingungen dessen, was wir Urteilsgemeinschaft genannt haben. Im gemeinsamen Urteilen brin­ gen wir die Kontingenzen der Freiheit nicht zum Verschwinden, sondern machen sie uns zu Eigen. Jedes Urteil trägt insoweit die Spannungen, die Aporien und die Ziel­ konflikte des Rechtslebens aus. Die Strafe als kommunikativer, nicht notwendig ver­ letzender Akt ist indes nur dann eine für den Täter und das Opfer menschenwürdige Antwort auf eine Rechtsverletzung, wenn sie sich als reflektiertes Urteil an vulnerab­ le, aber freie Subjekte richtet.

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Autorinnen und Autoren Franz-Josef Bormann, geb. 1965 in Hildesheim, Studium der kath. Theologie und der Philo­ sophie in Frankfurt, München, Rom. Promotion 1998 in Frankfurt. Wiss. Assistent 1999– 2005 an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg i. Br. Gastwissenschaftler an der Harvard University und am Boston College 2002/3. Habilitation 2005. 2005–2008 Professor für Ethik und Moraltheologie an der Theologischen Fakultät Paderborn. Seit 2008 Professor für Moral­ theologie an der Kath.-Theol. Fakultät der Eberhard-Karls-Universität Tübingen. Seit 2011 Mitglied der Zentralen Ethikkommission bei der Bundesärztekammer (ZEKO). Seit 2016 Mit­ glied des Deutschen Ethikrates (DER). Seit 2018 Geschäftsführender Herausgeber der Zeit­ schrift für medizinische Ethik (ZfmE). Wesentliche Veröffentlichungen: Natur als Horizont sittlicher Praxis. Zur handlungstheo­ retischen Interpretation der Lehre vom natürlichen Sittengesetz bei Thomas von Aquin, Stutt­ gart 1999; Soziale Gerechtigkeit zwischen Fairness und Partizipation, Freiburg 2006; zus. mit B. Irlenborn: Religiöse Überzeugungen und öffentliche Vernunft, Freiburg 2008; zus. mit G. D. Borasio: Sterben. Dimensionen eines anthropologischen Grundphänomens, Berlin/Boston 2012; Lebensbeendende Handlungen. Ethik, Medizin und Recht zur Grenze von ‚Töten‘ und ‚Sterbenlassen‘, Berlin/Boston 2018. Thomas Buchheim, geb. 1957 in München, Studium der Philosophie, Gräzistik und Soziolo­ gie in München. Mitglied der Studienstiftung. 1984 Promotion scl. mit einer Arbeit über die griechische Sophistik. 1984–1992 wissenschaftlicher Assistent bei Robert Spaemann in Mün­ chen. 1991 Habilitation. 1992 Gastprofessor in Halle. Seit 1993 Professor für Philosophie an der Johannes Gutenberg-Universität in Mainz. Seit 2000 Ordinarius (Lehrstuhl für Metaphy­ sik und Ontologie) an der Ludwigs-Maximilians-Universität in München. Geschäftsführen­ der Herausgeber des Philosophischen Jahrbuchs der Görres-Gesellschaft. Mitherausgeber der historisch-kritischen Schellingausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. 2010– 2013 Präsident der Gesellschaft für Antike Philosophie. 2013 Gastprofessor an der Staatlichen Universität Kyoto. Bücher: Die Sophistik als Avantgarde normalen Lebens, Hamburg 1986; Eins von Allem. Die Selbstbescheidung des Idealismus in Schellings Spätphilosophie, Hamburg 1992; Die Vor­ sokratiker. Ein philosophisches Porträt, München 1994; Unser Verlangen nach Freiheit, Ham­ burg 2006; Mentale Verursachung (Jahrbuch-­Kontroversen 1), Freiburg 2014; Aristoteles – Einführung in seine Philosophie, Freiburg 2015; (Hg.) Schellings Freiheitsschrift – Methode, System, Kritik, Tübingen 2021. Edition: Gorgias von Leontinoi: Reden, Fragmente, Testimonien, Griechisch-Deutsch, PhB, Hamburg 1989; F.W.J. Schelling: Philosophische Untersuchungen über das Wesen der mensch­ lichen Freiheit und die damit zusammenhängenden Gegenstände, PhB, Hamburg 1997; Aris­ toteles: Über Werden und Vergehen. Übersetzung und Kommentar, Berliner Werkausgabe, Darmstadt 2010; Aristoteles: Über die Seele (griechisch-deutsch). Übersetzung und Kommen­ tar, WBG, Darmstadt 2016.

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Autorinnen und Autoren

Philipp Gisbertz-Astolfi, geb. 1984 in Krefeld, Studium der Rechtswissenschaften und Phi­ losophie in Berlin, Hagen und Göttingen, seit 2012 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehr­ stuhl für Rechts- und Sozialphilosophie der Georg-August-Universität Göttingen. 2015 Eras­ mus-Gastdozentur an der Strathclyde University Glasgow. 2017 Promotion in Rechtswissen­ schaften/Rechtsphilosophie. Seither Promotionsstudium in Philosophie. 2017 Auszeichnung mit dem Young Scholar Prize der Internationalen Vereinigung für Rechts- und Sozialphiloso­ phie. 2019 Forschungsaufenthalt an der University of Oxford bei Jeff McMahan. Wesentliche Veröffentlichungen: Menschenwürde in der angloamerikanischen Rechtsphi­ losophie, Baden-Baden 2018; The Concepts of «War» and «Peace» in the Context of Transnati­ onal Terrorism, Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie (ARSP), 1/2018, S.  3–15; Overco­ ming Doctrinal School Thought. A Unifying Approach to Human Dignity, Ratio Juris 2/2018, S.  196–207; Die Sackgassen des Humiliationismus in Metaphysik oder Positivismus, in: Neu­ mann/Tiedemann/Liu, Menschenwürde ohne Metaphysik, Stuttgart 2021. Stephan Kirste, geb. 1962 in Oldenburg, Studium des Jus, der Geschichte und Philosophie in Regensburg und Freiburg i. Br., Promotion zur Rechtsphilosophie sowie Habilitation 1998 in öffentlichem Recht, Rechtsphilosophie, Rechtssoziologie und Verfassungsgeschichte. Seit 2012 Univ.-Prof. für Rechts- und Sozialphilosophie an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Salzburg. 2009 Ruf an die deutschsprachige Andrássy Universität Budapest. Gast­ professor an verschiedenen Universitäten in den USA und Brasilien. Von 2010 bis 2018 Vorsit­ zender der Deutschen Sektion der Internationalen Vereinigung für Rechts- und Sozialphiloso­ phie (IVR). Chief-Editor der Encyclopedia for the Philosophy of Law and Social Philosophy (Springer). Wesentliche Veröffentlichungen: Die Zeitlichkeit des positiven Rechts und die Geschicht­ lichkeit des Rechtsbewußtseins, Berlin (Schriften zur Rechtstheorie; H. 183) 1998; Einführung in die Rechtsphilosophie, 2.  Aufl., Baden-Baden 2020; Theorie der Körperschaft des öffent­ lichen Rechts – verwaltungsgeschichtliche, organisationstheoretische und verwaltungsorga­ nisationsrechtliche Aspekte, Heidelberg 2017; Human Dignity as a Foundation of Law. Hrsg. S. Kirste; W. Brugger, Stuttgart 2013; Person und Rechtsperson. Zur Ideengeschichte der Per­ sonalität, hrsg. S. Kirste; R. Gröschner u. O. Lembcke, Tübingen 2015; Menschenwürde im 21.  Jahrhundert/Dignidade Humana no Século XXI, hrsg. Kirste, Stephan/Gonzaga de Souza, Draiton/Sarlet, Ingo, Baden-Baden 2018; Populism – Perspectives from Legal Philosophy, hrsg. Kirste, Stephan/Paulo, Norbert, Stuttgart 2021. Friederike Löbbert, geb. 1995, Studium der Rechtswissenschaften an der Johannes Guten­ berg-Universität Mainz (2014–2020), 2015/16 Teilnahme am Willem C. Vis Arbitration Moot Court, 2017 Refugees Law Clinic Beraterausbildung, 2017/18 LL.M. und Schwerpunktstudium an der University of Glasgow in International Law & International Security, 2019–21 studen­ tische Mitarbeiterin sowie seit März 2021 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl von Friederike Wapler, Johannes Gutenberg-Universität Mainz, 2020 erste juristische Prüfung, seit Mai 2020 juristisches Referendariat im Bezirk des OLG Koblenz. Georg Lohmann, geb. 1948 in Münster, gest. am 4.12.2021, Studium der Philosophie, Sozio­ logie und Politikwissenschaften in Bochum, Frankfurt/Main, München, Heidelberg und an der LSE London. Seit 2013 Prof. (a. D.) für Praktische Philosophie der Otto-von-Guericke Uni­ versität Magdeburg, seit 2003 leitendes Mitglied der dortigen Arbeitsstelle für Menschenrech­ te, 2010 Fellow am ZIF in Bielefeld, 2011–13 gewähltes Mitglied des DFG Fachausschusses Praktische Philosophie.

Autorinnen und Autoren

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Wesentliche Veröffentlichungen, Bücher: Indifferenz und Gesellschaft. Eine kritische Aus­ einandersetzung mit Marx, Frankfurt am Main 1991; Philosophie der Menschenrechte, (MitHrsg.), Frankfurt am Main 1992, 5.  Aufl. 2010; Menschenrechte. Ein interdisziplinäres Hand­ buch, (Mit-Hrsg.), Stuttgart 2012; On Human Rights (Auf Chinesisch), Shanghai 2012. Aufsät­ ze: Normative und rechtsstaatliche Kapitalismuskritiken und ihre Verdrängung bei Marx, Berlin 2018; Droht der Menschenrechtsentwicklung eine Regression? Eine Skizze, Frankfurt am Main 2020; Menschenrechte als subjektive Rechte des öffentlichen Rechts, Berlin 2021. Dietmar von der Pfordten, geb. 1964 in München, Studium der Philosophie, Rechtswis­ senschaft und Politikwissenschaft in München, Tübingen und London. Gastwissenschaftler an der Harvard University 1997. Habilitation 1998. 1999 Professor für Rechts- und Sozialphi­ losophie an der Universität Erfurt. Mitglied der Akademie der Wissenschaften zu Erfurt 2001. Seit 2002 Professor für Rechts- und Sozialphilosophie an der Universität Göttingen. Direktor der Abteilung für Rechts- und Sozialphilosophie, 2003 Gastwissenschaftler an der Columbia University und der NYU. 2003–20 Mitglied in der beratenden Kommission der Deutschen Bundesregierung im Zusammenhang mit der Rückgabe NS-verfolgungsbedingt entzogenen Kulturgutes; 2011 Gastprofessor an der Reichsuniversität Groningen und 2011/12 an der Uni­ versität Cagliari, 2020/21 Fellow am Hamburg Institute of Advanced Study. Wesentliche Veröffentlichungen: Deskription, Evaluation, Präskription, Berlin 1993; Öko­ logische Ethik, Reinbek 1996; Rechtsethik, München 2001, 2011²; Concepts in Law (hg. mit J. Hage), Heidelberg 2009; Menschenwürde, Recht und Staat bei Kant, Paderborn 2009; Nor­ mative Ethik, Berlin 2010; Suche nach Einsicht, Hamburg 2010² (russ. 2016, ital. 2020); Rechts­ philosophie. Eine Einführung, München 2013 (portug. 2018, pers. 2018); Menschenwürde, München 2016 (span. 2020; jap. i. E.). Markus Rothhaar, geb. 1968 in Dudweiler, Studium der Philosophie, Geschichte und Bio­ logie in Saarbrücken, Heidelberg und Tübingen. Promotion 2000 an der Universität Tübingen. Mitarbeiter einer MdEP für den Bereich Bioethik im Europäischen Parlament 2000–2002. Referent der SPD-Bundestagsfraktion für die Enquete-Kommissionen Recht und Ethik bzw. Ethik und Recht der modernen Medizin 2002–2005. Wiss. Mitarbeiter an der Universität Er­ langen und der Fernuniversität in Hagen 2007–2013. Fellow am Zentrum für Interdisziplinäre Forschung, Bielefeld in der Arbeitsgruppe „Herausforderungen für Menschenbild und Men­ schenwürde durch neuere Entwicklungen der Medizintechnik“ 2009/10. Habilitation 2013 an der Fernuniversität in Hagen. Stiftungsprofessur für Bioethik an der KU Eichstätt-Ingolstadt 2013–2019. Gastprofessor für Ethik und politische Philosophie an der Universidade Federal do Ceará, Brasilien 2020–2021. Wichtige Veröffentlichungen: Metaphysik und Negativität. Eine Studie zur Struktur der Hegelschen Dialektik nach der Wissenschaft der Logik, Tübingen 2000. Erweiterte und über­ arbeitete Neuauflage, Dresden 2016. Die Menschenwürde als Prinzip des Rechts, Tübingen 2015. Natürliche Zwecke und vernünftige Normen, in: Rothhaar, M./Hähnel, M. (Hg.): Nor­ mativität des Lebens – Normativität der Natur? Berlin 2015, S.  117–134. Unveräußerliche und veräußerbare Rechte bei Fichte und Hegel, in: Ferreiro, Héctor/Hoffmann, Thomas Sören (Hg.): Metaphysik – Metaphysikkritik – Neubegründung der Erkenntnis: Der Ertrag der Denk­bewegung von Kant bis Hegel, Berlin 2017, S.  55–74. Personhood and Recognition, in: Nova et vetera. English edition, Spring 2019 (Vol.  17 No.  2), S.  473–488. On Justifying Argu­ ments from Species Membership, in: Bioethics Vol.  34, No.  2, February 2020, S.  159–165. doi: 10.1111/bioe.12657.

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Autorinnen und Autoren

Angelika Siehr, Studium der Rechts- und Politikwissenschaft in Marburg, Lausanne und Kiel; Master of Laws der Yale Law School; Wiss. Mitarbeiterin an der Humboldt-Universität zu Berlin; 1999 Promotion und 2011 Habilitation an der Humboldt-Universität zu Berlin; zwi­ schenzeitlich Rechtsanwältin in Kiel; 2009–2011 Lehrstuhlvertretungen in Freiburg, Bielefeld und Konstanz; 2011 Rufe der Universitäten Konstanz (abgelehnt) und Bielefeld; seit WS 2011/ 2012 Professorin für Öffentliches Recht, Völkerrecht, Rechtsphilosophie und Bildungsrecht an der Universität Bielefeld. Wesentliche Veröffentlichungen: Die Deutschenrechte des Grundgesetzes. Bürgerrechte im Spannungsfeld von Menschenrechtsidee und Staatsmitgliedschaft, Berlin 2001; Das Recht am öffentlichen Raum. Theorie des öffentlichen Raumes und die räumliche Dimension von Frei­ heit, Tübingen 2016; Derogation Measures under Article 4 ICCPR, with Special Consideration of the „War Against International Terrorism“, in: German Yearbook of International Law Vol.  47 (2004), S.  545–593; Symbolic Legislation Under Judicial Control, in: Klaus Meßer­ schmidt/­A. Daniel Oliver-Lalana (Hrsg.), Rational Lawmaking Under Review, Cham 2016, S.  315–346; Regulierungsauftrag für den Staat im Bereich der Fortpflanzungsmedizin? in: VVDStRL 78 (2019), 393–440; §  9 – Der Staat als Personalverband: Staatsangehörigkeit, Uni­ onsbürgerschaft und Migration, in: Herdegen/Masing/Poscher/Gärditz (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts. Darstellung in transnationaler Perspektive, München 2021, S.  557–643. Walter Schweidler, geb. 1957 in Wassertrüdingen, Studium in Philosophie, Rechtswissen­ schaft, Politikwissenschaft und Katholische Theologie in Eichstätt und München. Seit 2009 Inhaber des Lehrstuhls für Philosophie an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt. Von 2000 bis 2009 Professor für Praktische Philosophie an der Ruhr-Universität Bochum. Vorher lehrte er ab 1997 an der Universität Dortmund und ab 1992 an der Pädagogischen Hochschule Weingarten. Von 1985 bis 1992 Assistent von Robert Spaemann an der Ludwig-­ Maximilians-Universität München, an der er sich 1993 habilitierte. Gastprofessuren und For­ schungsaufenthalte 1989 Minneapolis, 1994/95 Salzburg, 1995/96 Freiburg i. Br., 1997 Sydney (Macquarie), 1998 Kyoto, 2002 Berkeley (GTU), 2016–19 Sichuan University in Chengdu und 2020 University of Manoa in Honolulu sowie Loyola Marymount University in Los An­geles. Über 16 Jahre lang Vortragender am Colloquio Castelli in Rom und bei den Kongressen der International Society for the Study of Time, in deren Council er Mitglied ist. Korrespondieren­ des Mitglied der Päpstlichen Akademie für das Leben. Herausgeber der Reihen „Phänomeno­ logie“ und „Eichstätter Philosophische Studien“ (Alber) sowie „West-östliche Denk­wege“ (No­ mos). Wesentliche Veröffentlichungen: Die Überwindung der Metaphysik, Stuttgart 1987; Geis­ tesmacht und Menschenrecht. Der Universalanspruch der Menschenrechte und das Problem der Ersten Philosophie, Freiburg/München 1994; Das Unantastbare, Münster 2001; Der gute Staat. Politische Ethik von Platon bis zur Gegenwart, Stuttgart 2004; Das Uneinholbare. Bei­ träge zu einer indirekten Metaphysik, Freiburg 2008; Über Menschenwürde: Der Ursprung der Person und die Kultur des Lebens, Wiesbaden 2012; Kleine Einführung in die Angewand­ te Ethik, Wiesbaden 2017; Wiedergeburt, Freiburg 2020. Friederike Wapler, geb. 1971 in Hamburg. Studium der Rechtswissenschaft in Göttingen und Granada. Wiss. Assistentin 2003–2013 an der Georg-August-Universität Göttingen. Pro­ motion 2007, Habilitation 2013. 2013–2016 Vertretungsprofessuren an der Universität Bay­ reuth, der Goethe-Universität Frankfurt und der Humboldt Universität Berlin. Seit 2016 Pro­ fessorin für Rechtsphilosophie und Öffentliches Recht an der Johannes Gutenberg-Universität

Autorinnen und Autoren

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Mainz. Mitglied des Ethik-Forums der Universität Mainz. Seit 2014 Mitglied des Vorstands der deutschen Sektion der Internationalen Vereinigung für Rechtsphilosophie. Wesentliche Veröffentlichungen: Werte und das Recht. Individualistische und kollektivis­ tische Deutungen des Wertbegriffs im Neukantianismus, Baden-Baden 2008; Selbstbestim­ mung am Lebensende – auch für Minderjährige? in: von der Pfordten/Kähler (Hg.), Normati­ ver Individualismus in Ethik, Politik und Recht, Tübingen 2014, S.  203–230; Kinderrechte und Kindeswohl. Eine Untersuchung zum Status des Kindes im Öffentlichen Recht, Tübingen 2015; „Die Frau ist frei geboren“. Feministische Perspektiven in der Rechts- und Sozialphiloso­ phie, in: Zeitschrift für Rechtsphilosophie 2016, S.  115–132; Reproduktive Autonomie: recht­ liche und rechtsethische Überlegungen, in: Baer/Sacksofsky (Hg.), Autonomie – geschlechter­ theoretisch vermessen, Baden-Baden 2018, S.  185–214; Gleichheit angesichts von Vielfalt im philosophischen und juristischen Diskurs, in: Veröffentlichungen der Vereinigung der deut­ schen Staatsrechtslehrer 78 (2019), S.  53 ff.; Politische Gleichheit: demokratietheoretische Überlegungen, in: Jahrbuch des Öffentlichen Rechts 2019, S.  427–456. Benno Zabel, geb. 1969, Studien der Rechtswissenschaft, der Philosophie und Komparatistik in Leipzig und Berlin. Wissenschaftlicher Assistent von 1999 bis 2013. Promotion 2007, Habi­ litation 2014. Vertretungen an den Universitäten Regenburg und Freiburg i. Br. Seit 2015 Pro­ fessur für Strafrecht an der Universität Bonn, mit Schwerpunkt Grundlagen und Rechtsphilo­ sophie. 2017 Fellow am Käte Hamburger-Kolleg „Recht als Kultur“. 2018–2019 Fellow am ­A lfried Krupp-Wissenschaftskolleg Greifswald. Wesentliche Veröffentlichungen: Rechtsgewährleistung, Berlin 2012; Autonomie und Norma­tivität, Tübingen 2014 (gem. mit K. Seelmann); Die Ordnung des Strafrecht, Tübingen 2017, Strafrechtspolitik, Baden-Baden 2018; Die Idee subjektiver Rechte, Berlin 2020 (gem. mit E. Hilgendorf); Institutionen, Themenschwerpunkt Zeitschrift TRIVIUM 2021 (gemeinsam mit J.-F. Kervégan, C. Schmidt); Politik im Rechtsstaat, Baden-Baden 2021 (gemeinsam mit C. Schmidt).