Menschenwürde und Strafvollzug: Erweiterte Fassung eines Vortrages gehalten vor der Juristischen Gesellschaft zu Berlin am 20. Oktober 1993 [Reprint 2012 ed.] 9783110921373, 9783110143485


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German Pages 36 [52] Year 1994

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Menschenwürde und Strafvollzug: Erweiterte Fassung eines Vortrages gehalten vor der Juristischen Gesellschaft zu Berlin am 20. Oktober 1993 [Reprint 2012 ed.]
 9783110921373, 9783110143485

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Heinz Müller-Dietz Menschenwürde und Strafvollzug

Schriftenreihe der Juristischen Gesellschaft zu Berlin Heft 136

w DE

_G 1994

Walter de Gruyter · Berlin · New York

Menschenwürde und Strafvollzug

Von Heinz Müller-Dietz

Erweiterte Fassung eines Vortrages gehalten vor der Juristischen Gesellschaft zu Berlin am 20. Oktober 1993

w DE

G

1994

Walter de Gruyter · Berlin · New York

Dr.

iur. D r .

h . c . Heinz

Miiller-Dietz,

Professor für Strafrecht, Strafvollzug und an der Universität

©

Deutsche

Miiller-Dietz,

Kriminologie des

Saarlandes

G e d r u c k t auf säurefreiem

das die U S - A N S I - N o r m

Die

Strafprozeßrecht,

Bibliothek

Papier,

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CIP-Einheitsaufnahme

Heinz:

M e n s c h e n w ü r d e und Strafvollzug : erweiterte Fassung

eines

Vortrages gehalten vor der Juristischen Gesellschaft zu

Berlin

a m 20. O k t o b e r 1993 / H e i n z Müller-Dietz. York

: de Gruyter,

— Berlin ;

New

1994

(Schriftenreihe der J u r i s t i s c h e n G e s e l l s c h a f t z u Berlin ; H . 136) I S B N 3-11-014348-8 N E : Juristische Gesellschaft (Berlin, W e s t ) : Schriftenreihe der J u r i s t i s c h e n G e s e l l s c h a f t e. V . B e r l i n

© Copyright 1994 by Walter de Gruyter & C o . , D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. D a s gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Satz und Druck: Saladruck, Berlin Buchbinderische Verarbeitung: Dieter Mikolai, Berlin

I Als Einführung in das Thema mögen zwei Episoden dienen, die auf eigene Erfahrungen im Strafvollzug der sechziger Jahre zurückgehen 1 und zugleich andeuten, in welchem Maße jener Aufgaben- und Tätigkeitsbereich öffentlicher Verwaltung pädagogisch-psychologisch „überformt" und geprägt ist (oder doch sein sollte): Ein Gefangener, der eine mehrjährige Freiheitsstrafe verbüßt, erhält Besuch von seiner Ehefrau, die er sehr liebt. Beim Abschied kommt es zu einer engen, gefühlsbetonten Umarmung. Mitten in dieser Umarmung reißt der aufsichtsführende Beamte - wohl aus einer Art Situationsverkennung heraus - die beiden auseinander, um vermeintliche Durchstechereien zu verhindern. Die Klärung des Vorgangs im Wege der Anhörung des - verstörten Gefangenen und des Bediensteten, der sich im Recht glaubt, bestätigt, was sich von vornherein vermuten ließ: Beide haben das Geschehen aufgrund ihrer gänzlich verschiedenen sozialen Rollen auch ganz unterschiedlich erlebt und interpretiert. Doch bringt die Klärung des Vorgangs keine Lösung der Spannungen und Konflikte, die er heraufbeschworen hat: Der Bedienstete ist verärgert, weil er zur Rede gestellt wird, obwohl er davon überzeugt ist, sich besonders aufmerksam und pflichtgetreu verhalten zu haben. Dramatischer aber noch sind die Auswirkungen auf den Gefangenen: Er ist für den Rest seiner Strafzeit nicht mehr ansprechbar, weil er im Tiefsten seiner Gefühle verletzt ist, an einem Punkt seiner persönlichen Empfindungen getroffen wurde, über den es für ihn - Besuchsüberwachung hin oder her - keine Diskussion mehr geben kann. Eine zweite Episode betrifft die Durchführung von Reparaturarbeiten in einer Dienstwohnung durch einen Gefangenen unter Aufsicht eines Werkbeamten. Der Gefangene ist angesichts des zweijährigen, spielenden Kindes ganz begeistert und bemerkt, auch er habe eine so liebe, kleine Tochter zu Hause. Dies löst den abrupten Kommentar des Beamten aus: „Und der Vater sitzt im Gefängnis!" Hierauf verstummt der Gefangene und setzt das Gespräch während der weiteren Reparaturarbeiten nicht mehr fort. Natürlich kann, ja muß man sich fragen, was diese beiden Episoden mit unserem Thema zu tun haben. Man kann sie in den Bereich alltägli-

1 Zur eigenen früheren Tätigkeit im Strafvollzug Muller-Dietz, Albert Krebs - Annäherungen an Leben und Werk, in: Zeitschrift für Strafvollzug und Straffälligenhilfe 42 (1993), S. 69 ff.

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cher, wenngleich mißlungener Kommunikation verweisen und sich auf die Warnung des Verfassungsrechtlers Dürig berufen, das Prinzip der Menschenwürde als oder wie eine kleine Münze zu behandeln2. Vor falschen Reaktionen - wessen auch immer - ist der Strafvollzug so wenig wie andere Lebensbereiche und Institutionen gefeit. Weshalb sollte man dann gleich die Verfassung bemühen - und obendrein gar noch ihre zentrale Norm, Art. 1 Abs. 1 ? Es gibt inzwischen - im Gefolge jener Warnung Dürigs - eine ganze Reihe von Stimmen, die den Mißbrauch der Fundamentalnorm des Grundgesetzes für beliebige Zwecke und Interessen, ihren Verschleiß als Abwehrinstrument gegen alltägliche, banale Belästigungen oder Beeinträchtigungen kritisieren. Vor nicht allzu langer Zeit hat etwa Graf Vitzthum seinem Unbehagen angesichts der „inflationäre(n) Verwendung des Würdearguments" Ausdruck gegeben3. „Zu ungesichert ist noch der empirische Befund, zu undeutlich das dogmatische Gefüge des Art. 1 GG, zu unklar sein Verhältnis zu den ,nachfolgenden Grundrechten' (Art. 1 III GG), zu groß ganz allgemein die Gefahr, daß dem Zwang zu tragfähiger, nachvollziehbarer Auslegung und Begründung ausgewichen wird zugunsten von ,Naturrechtlichem', ideologischem', ,Wertsystematischem'. Setzt nicht ein deflationärer Trend ein, wird die Würdegarantie zur ,Wanderdüne ohne Halt'." 4 Auch Altenhain hat vor dem Mißbrauch dieses hohen Rechtswerts warnen zu müssen geglaubt. „Die Menschenwürde wird in Anspruch genommen vom Rechtsanwalt, der seine Robe nicht mehr anlegen will, vom Bürger, dem eine Peep-Show mißfällt, vom Strafgefangenen, der nicht möchte, daß seine Zellentür ohne vorheriges Anklopfen geöffnet wird."5 Altenhain hält deshalb dagegen: „Bei der menschlichen Würde im Sinne des Artikel 1 GG geht es nicht um den Schutz von übertriebenen Empfindlichkeiten oder Stilfragen." Aus dem Umstand, daß diese „Fundamentalnorm" jeglicher verfassungsändernder Gewalt entzogen ist, schließt er auf eine solche politische Bedeutung, daß Art. 1 Abs. 1 „sich 2 Dürig, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, Grundgesetz, Kommentar, 1991, Art. 1 Abs. 1 Rdn. 16, 29. 3 Graf Vitzthum, Gentechnologie und Menschenwürdeargument, in: Zeitschrift für Rechtspolitik 20 (1987), S. 33 f£. (33). 4 Graf Vitzthum (Fn. 3), aaO. Das Zitat selbst („Wanderdüne ohne Halt") stammt von Starck (Juristenzeitung 1981, S.457). 5 Altenhain, Das Grundrecht der Menschenwürde und sein Schutz im Strafvollzug, in: Zeitschrift für Strafvollzug und Straffälligenhilfe 37 (1988), S. 156 ff. (157). Es steht aber außer Frage, daß das Betreten von Hafträumen ohne vorheriges Anklopfen die Intimsphäre des Gefangenen tangiert ( O L G Celle, Strafverteidiger 1993, 488), die keinesfalls zur Disposition der Vollzugsbehörde steht (vgl. auch O L G Saarbrücken, Neue Zeitschrift für Strafrecht 1993, 207).

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nur auf Unbezweifelbares, auf Evidentes, auf die ,eiserne Ration' unserer Verfassung beziehen kann" 6 . In der Tat: Ist die Bezugnahme auf die Menschenwürde nicht viel eher dort am Platze, wo staatliche Eingriffe in wirklich vitale Rechte oder substantielle Interessen des einzelnen stattgefunden haben oder zumindest drohen? Die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung hat ja bekanntlich in letzter Zeit zur Genüge solche Beispiele geliefert: das Bundesverfassungsgericht in Entscheidungen über die Zulässigkeit, Dauer und Ausgestaltung lebenslanger Freiheitsstrafen7; der Berliner Verfassungsgerichtshof in seinem - umstrittenen8 - Beschluß, der die Fortdauer der Untersuchungshaft in bezug auf den ehemaligen Staatsratsvorsitzenden Honecker angesichts der Schwere seiner Erkrankung mit der Menschenwürde für unvereinbar erklärt hat9. In diesem Falle - wie auch in solchen vom Bundesverfassungsgericht entschiedenen10 - ist es, wenn man den öffentlich verlautbarten medizinischen Diagnosen und Prognosen trauen darf, buchstäblich um Leben und Tod gegangen. Hier jedenfalls drängt sich dementsprechend der Gedanke auf, daß - neben dem verfassungsrechtlich garantierten Schutz von Leben und körperlicher Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 1 Satz 1 GG) - zugleich die Respektierung der Menschenwürde staatlichem Handeln eine unübersteigbare Schranke ziehen, staatliche Eingriffe in die Sphäre des einzelnen begrenzen kann. II

Art. 1 Abs. 1 Satz 1 des Grundgesetzes lautet: „Die Würde des Menschen ist unantastbar." Nimmt man die Formulierung dieses ebenso stolzen wie anspruchsvollen Satzes für sich allein, könnte man angesichts der Welt, in der wir leben, ins Grübeln geraten. Verkörpert der Satz nicht eine Zustandsbeschreibung, welche der Realität Hohn spricht? Ist eine solche Feststellung des Grundgesetzes, jedenfalls bezogen auf die Lebenssituation ausgegrenzter, am Rande des Existenzminimums, unter miserablen Wohnverhältnissen lebender Menschen in unserer Gesellschaft, überhaupt ernst zu nehmen11? Altenhain (Fn. 5), aaO. BVerfGE 45, 187; 72, 105. 8 Nachw. b. Koppernock/Staecbelin, Zur Debatte um Landesverfassungsbeschwerden gegen strafrichterliche Entscheidungen, in: Strafverteidiger 13 (1993), S. 433 ff. 9 BerlVerfGH, Neue Juristische Wochenschrift 1993, 515. 10 Z . B . BVerfGE 72, 105. 11 Jeder hat solche Personengruppen - manchmal im wahrsten Sinne des Wortes - vor Augen: Obdachlose, Alte, die von einer kargen Rente leben müssen, u. a. m. Vgl. etwa Leisering, Armut hat viele Gesichter. Zum Nutzen dynamischer 6

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8

Nun weiß natürlich jeder - auch ohne genauere Kenntnis des Verfassungstextes - , daß damit keine empirische Feststellung, keine Wirklichkeitsbeschreibung geliefert, sondern vielmehr ein normatives Gebot ausgesprochen wird, das den Staat in allen seinen Erscheinungsformen und Handlungen verpflichtet. Das stellt denn auch der folgende, zweite Satz des Art. 1 Abs. 1 des Grundgesetzes unmißverständlich klar. Dekretiert er doch als „Verpflichtung aller staatlichen Gewalt", die Würde des Menschen „zu achten und zu schützen". Daß hier ein Gebot formuliert und nicht eine Feststellung getroffen wird, versteht sich nicht nur deshalb gleichsam von selbst, weil Art. 1 an der Spitze eines Kataloges von Normen steht, die als Grundrechtsverbürgungen den Staat in die Pflicht nehmen. Es wäre schlicht lebensfremd anzunehmen, daß Menschenrechtsverletzungen in unserem Gemeinwesen undenkbar sind, gar nicht vorkommen. Auch ein freiheitlicher Rechtsstaat ist davor nicht gefeit. Deshalb garantiert unsere Verfassung ja auch umfassenden gerichtlichen Rechtsschutz (Art. 19 Abs. 4 GG), der nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts in effizienter Weise gewährleistet werden muß 12 . Und es existiert bekanntlich noch eine weitere, „vierte Gewalt" in unserem Staat, die Presse oder vielmehr die Massenmedien13, die - zu Recht oder zu Unrecht - für sich den Verfassungsauftrag öffentlicher Kontrolle, eine Art Wächteramt, in Anspruch nehmen14. Freilich ist insoweit - wieder einmal - die Frage virulent geworden, wer denn eigentlich die Kontrolleure überwache15. Das haben etwa die 26. Mainzer Tage der Fernsehkritik im Mai 1993 gezeigt, als der Jurist und Journalist Stephan Piltz an die verfassungsrechtliche Anerkennung der MenschenArmutsforschung, in: Nachrichtendienst des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge 73 (1993), S. 297 ff. 12 Vgl. etwa BVerfGE 41, 23 (26); 44, 302 (305); 54, 277 (291); 57, 9 (22). Zum Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz Heyde, Die Rechtsprechung, in: Handbuch des Verfassungsrechts. Hrsg. von BendaiMaihofer/Vogel, 1983, S. 1199 ff. (1220 ff.); Kunig, Das Rechtsstaatsprinzip. Überlegungen zu seiner Bedeutung für das Verfassungsrecht der Bundesrepublik Deutschland, 1986, S. 441 ff.; Haag, „Effektiver Rechtsschutz" - ein grundrechtlicher Anspruch oder Leerformel? 1985. Speziell zum Rechtsschutz auf strafvollzugsrechtlichem Gebiet Kamann, Gerichtlicher Rechtsschutz im Strafvollzug. Grenzen und Möglichkeiten der Kontrolle vollzuglicher Maßnahmen am Beispiel der Strafvollstreckungskammer beim Landgericht Arnsberg, 1991, S. 1 ff. 13 H off mann-Riem, Massenmedien, in: Handbuch des Verfassungsrechts (Fn. 12), S. 389ff. 14 Z.B. Löffler, Der Verfassungsauftrag der Presse. Modellfall SPIEGEL, 1963. 15 Dazu schon Löffler, aàO, S. 8 f. Aufschlußreich auch Medien ohne Moral. Variationen über Journalismus und Ethik, hrsg. von Erbring u.a., 1988.

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würde erinnerte und meinte, allein diese Grundgesetzgarantie reiche aus, „dem wildgewordenen Meinungsmarkt Grenzen zu setzen und zu verhindern, daß die darin zu Markte getragenen Menschen zu Objekten gemacht werden. Eine Würde, auf die auch der Fernsehkonsument selbst ein Recht hat mit seinem legitimen Anspruch auf Wahrhaftigkeit, Vollständigkeit und Authentizität der Berichterstattung."16 Bekanntlich ist gerade die Instrumentalisierung des Menschen und seiner Lebensgeschichte für Zwecke der Massenmedien ein Thema des Strafvollzugs, wie etwa das sog. Lebach-Urteil des BVerfG zeigt17. Schon das läßt erkennen: Die Menschenwürde des einzelnen kann natürlich nicht nur durch hoheitliches Handeln beeinträchtigt werden. Ohne hier näher auf das Problem der Drittwirkung von Grundrechten eingehen zu wollen, läßt sich feststellen: Auch durch Handeln im privaten und gesellschaftlichen Raum kann die Menschenwürde verletzt werden. Dazu zählen nicht zuletzt Straftaten, die von Menschenverachtung zeugen, die angeborene Würde des einzelnen - welcher Abstammung, Herkunft auch immer - im buchstäblichen wie im übertragenen Sinne mit Füßen treten. Die Blutspur solcher Opfer zieht sich in unübersehbarer Weise durch die Geschichte, namentlich die Zeitgeschichte18. Die Ambivalenz, ja Dialektik menschlichen Denkens und Handelns will es, daß gerade unter dem Vorzeichen politischer, weltanschaulicher oder religiöser Idealvorstellungen - oder vielmehr Wahnideen - die Würde einzelner Menschen, ja ganzer gesellschaftlicher Gruppen verletzt und zerstört wird 19 . Das Strafrecht selbst will solchen Verhaltensweisen massenmörderischen Treibens, also dem, was Jäger so anschaulich „Makrokriminalität" genannt hat20, bereits im publizistischen Vorfeld begegnen, wenn es öffentliche Gewaltdarstellungen oder Aufstachelungen zum Rassenhaß, 16 Zschau, Information und Desinformation: Die 26. Mainzer Tage der Fernsehkritik, in: Badische Zeitung Nr. 121 vom 2 8 . 5 . 1 9 9 3 , S. 6. 17 BVerfGE 35, 202. Dazu Medienwirkung und Medienverantwortung. Überlegungen und Dokumente zum Lebach-Urteil des Bundesverfassungsgerichts. Hrsg. von Kubier, 1975. Vgl. auch von Becker, Straftäter und Tatverdächtige in den Massenmedien. Die Frage der Rechtmäßigkeit identifizierender Kriminalberichte, 1979. 18 Z.B. Farin/Seidel-Pielen, „Ohne Gewalt läuft nichts!" Jugend und Gewalt in Deutschland, 1993; Willems/Würtz/Eckert, Fremdenfeindliche Gewalt: Eine Analyse von Täterstrukturen und Eskalationsprozessen, 1993; Bergmann/Leggewie, Die Täter sind unter uns. Beobachtungen aus der Mitte Deutschlands, in: Deutsche Jugend. Kursbuch H. 113 (1993), S. 7 ff. 19 Vgl. etwa Lifton!Markusen, Die Psychologie des Völkermords. Atomkrieg und Holocaust, 1992. 20

1989.

y^ger, Makrokriminalität. Studien zur Kriminologie kollektiver

Gewalt,

10

die durch die Art ihrer Präsentation die Menschenwürde verletzen, pönalisiert (§131 Abs. 1 StGB) 21 . Wir haben die Beispiele von Stalin über Hitler bis hin zu Pol Pot alle vor Augen22. Die Ereignisse, die sich im ehemaligen Jugoslawien, in Somalia und anderen Brennpunkten der Welt unter politischen, ethnischen und religiösen Vorzeichen vollziehen, führen uns den Abstand, den internationale Deklarationen von der Rechtswirklichkeit, in der Recht längst unwirklich geworden ist, trennen, in beklemmender Weise vor Augen23. An wie vielen Orten, in wie vielen Ländern der Erde ist die Anerkennung der Menschenwürde bloße Fiktion, sind einschlägige Erklärungen von Regierungen das Papier nicht wert, auf dem sie geschrieben stehen; und da mag man es schon als einen gesellschaftlichen Fortschritt ansehen, wenn Staaten ungeachtet ihrer faktischen Macht nicht mehr den Zynismus aufbringen, die Respektierung der Menschenwürde offiziell aufzukündigen (wie es ja früher zeitweilig - etwa zu Beginn des Dritten Reiches im Frühjahr 1933 - durchaus geschehen ist24). Denn heute ist wohl nicht mehr so sehr die erklärte Absage an die Menschenwürde das Problem als vielmehr die mangelnde tatsächliche Anerkennung der Menschenwürde und deren notfalls zwangsweise Durchsetzung25. Dem freilich vielfach folgenlosen moralischen Entsetzen angesichts der Greueltaten im ehemaligen Jugoslawien entspricht keine annähernd vergleichbare internationale Macht, Kraft oder Bereitschaft,

21 Die präventive Bedeutung und Wirkung dieser Norm ist freilich umstritten. Vgl. nur Lackner, Strafgesetzbuch mit Erläuterungen, 20. Aufl. 1993, §131 Rdn. 1; Dreher/Tröndle, Strafgesetzbuch. Kurzkommentar, 46. Aufl. 1993, §131 Rdn. 1; Schänke/Schröder/Lenckner, Strafgesetzbuch. Kommentar, 24. Aufl. 1991, §131 Rdn. 2; Rudolphi, in: Systematischer Kommentar zum StGB, Bd. 2, 4. Aufl. 1990, §131 Rdn. 2. 22 Vgl. Düng, in: Maunz/Düng/Herzog/Scholz (Fn. 2), Art. 1 Abs. 1 Rdn. 30. 23 Dazu z.B. Schiller, Datenbank des Schreckens. Ein Institut in Chicago sammelt Material gegen jugoslawische Kriegsverbrecher, in: Die Zeit Nr. 31 vom 30. 7.1993, S. 7; Kahlweit, Das verdrängte Verbrechen. Planmäßige Vergewaltigungen im ehemaligen Jugoslawien: Wer zieht die Täter zur Rechenschaft? In: Süddeutsche Zeitung Nr. 204 vom 4./5.9.1993, S. II. 24 Dokumentiert von Karl Kraus, Dritte Walpurgisnacht (Kraus, Schriften. Hrsg. von Wagenknecht, Bd. 12), 1989. Dazu Müller-Dietz, Recht, Nationalsozialismus und Karl Kraus - Eine notwendige Erinnerung, in: Strafgerechtigkeit. Festschr. f. Arthur Kaufmann zum 70. Geburtstag, 1993, S. 769 ff. (787 ff.). 25 Deshalb das Plädoyer Jägers für eine Pönalisierung eklatanter Menschenrechtsverletzungen: Strafrechtsschutz für Menschenrechte? Zur Durchsetzbarkeit des Folterverbots, in: Mittelweg 36. Ztschr. des Hamburger Instituts für Sozialforschung H. 3/1992, S. 70ff.; Zur Kriminalisierung von Politik durch ein Völkerkriminalrecht, in: Mittelweg 36, H. 1/1993, S.66ff.

11

dem mörderischen Treiben, den zahllosen Verletzungen der Menschenwürde Einhalt zu gebieten 26 .

III Der Umstand, daß Verletzungen der Menschenrechte in manchen Teilen der Welt geradezu an der Tagesordnung sind, läßt leicht die vielfältigen Bemühungen,

der Menschenwürde

Rechnung

zu

tragen,

zurücktreten oder wirft zumindest tiefe Schatten auf sie. Dabei ist nicht zu übersehen, daß gerade in der letzten Zeit die Anstrengungen intensiviert wurden, der Menschenwürde in rechtlicher Regelung wie praktischer Handhabung zum Durchbruch zu verhelfen. Die einschlägige verfassungsrechtliche Diskussion hat in der Bundesrepublik freilich schon wesentlich früher eingesetzt 27 . Auch erste Arbeiten zur Bedeutung der Menschenwürde für Strafrecht und Strafrechtspflege liegen schon längere Zeit zurück 2 8 . Nunmehr wird aber die Relevanz der Menschenrechte für Strafrechtspflege und Strafvollzug international wie national in verstärktem Maße erörtert. Anstöße dazu sind im nationalen Bereich namentlich von der verfassungsrechtlichen Diskussion über die Relevanz der Grundrechte für Strafrecht, Strafverfahren und Strafvollzug 29 sowie von der einschlägigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts 30 ausgegangen. Der verfassungsrechtliche Kontext wurde auch zunehmend aus strafvollzugsrechtlicher Sicht im Zuge der Auseinandersetzung mit Reformfragen in den späten 26 Ob und inwieweit ein internationaler Strafgerichtshof zur Durchsetzung von Menschenrechten beitragen kann, ist durchaus offen. Vgl. Rüther, Kriegsverbrechertribunal für das frühere Jugoslawien: Ein teures Unterfangen mit ungewissem Erfolg, in: Badische Zeitung Nr. 120 vom 27. 5.1993, S. 4; Jäger, Menschheitsverbrechen und die Grenzen des Kriminalitätskonzeptes. Theoret. Aspekte der Einsetzung eines UN-Kriegsverbrechertribunals, in: Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft 1993, S. 259 ff. Vgl. auch Fn.25. 27 Ζ. B. Nipperdey, Die Würde des Menschen, in: Die Grundrechte. Hrsg. von Neumann/Nipperdey/Scheuner, Bd. I (1954), S. 1 ff.; Diirig, Der Grundrechtssatz von der Menschenwürde, Archiv f. öffentl. Recht 81 (1956), S. 117ff.; Wertenbruch, Grundgesetz und Menschenwürde. Ein kritischer Beitrag zur Verfassungswirklichkeit, 1958. Aus rechtsphilosophischer Sicht vgl. etwa Bloch, Naturrecht und menschliche Würde, 1961; Maihofer, Rechtsstaat und menschliche Würde, 1968. 28 Bohne, Menschenwürde und Strafrecht, 1949; Würtenberger sen., Menschenwürde und Menschenbild (1948/1965), in: Würtenberger sen., Kriminalpolitik im sozialen Rechtsstaat. Ausgewählte Aufsätze und Vorträge (1948-1969), 1970. 29 v. Münch, Die Grundrechte des Strafgefangenen, in: Juristenzeitung 13 (1958), S. 73 ff.; Tiedemann, Die Rechtsstellung des Strafgefangenen nach französischem und deutschem Verfassungsrecht, 1963, S. 113 ff. 30 BVerfGE 33, 1; 35, 202; 40, 276. Vgl. auch Müller-Dietz, Grundrechtsbeschränkungen im Strafvollzug - BVerfG, NJW 1976, 37, in: JuS 16 (1976), S. 88 ff.

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60er wie beginnenden 70er Jahren thematisiert31. Freilich hat er erst in neuerer Zeit im Zuge stärkerer theoretischer Durchdringung der Materie und Verfeinerung der Diskussion allmählich Konturen angenommen32. Bezeichnenderweise liegen zur strafvollzugsrechtlichen Bedeutung der Menschenwürde nur wenige spezielle Arbeiten vor. Sie stammen überdies, nicht zuletzt angestoßen durch konkrete Vorkommnisse in Vollzugsanstalten, aus der Feder von Vollzugspraktikern. 1968 ist etwa Rotthaus anhand der Uberbelegungsproblematik der Frage nachgegangen, in welchen Fällen und Situationen in besonderem Maße Verletzungen der Menschenwürde von Gefangenen drohen 33 . Und 1988 hat Altenhain in seinem bereits erwähnten Beitrag namentlich unter Heranziehung der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung den Versuch unternommen, Art. 1 Abs. 1 G G für den Strafvollzug fruchtbar zu machen34. Es versteht sich aber von selbst, daß in der wachsenden verfassungsrechtlichen Literatur zum Strafvollzug Inhalt und Schranken jener „Fundamentalnorm" inzwischen einen festen Platz einnehmen. Schon die frühen Schriften zur Strafvollzugsreform haben - soweit sie sich mit dem Rechtsstatus des Strafgefangenen beschäftigt haben - mit Beispielsfällen aufgewartet, an denen die strafvollzugsrechtliche Bedeutung der Menschenwürde demonstriert wurde. Nunmehr existiert eine mehr oder minder reichhaltige Kasuistik solcher Fallgestaltungen, auf die später noch einzugehen ist.

IV Nicht minder ausgeprägt ist die einschlägige Diskussion auf der internationalen, namentlich europäischen Ebene. Dazu haben vor allem interna31 Würtenberger sen. (Fn.28), S. 191 ff. (200), 216 ff. (225 f.); Schüler-Springorum, Strafvollzug im Ubergang. Studien zum Stand der Vollzugsrechtslehre, 1969; Müller-Dietz, Mit welchem Hauptinhalt empfiehlt es sich, ein Strafvollzugsgesetz zu erlassen?, 1970, S. C 11 ff.; ders., Strafvollzugsgesetzgebung und Strafvollzugsreform, 1970, S. 86 ff. 32 Diese Feststellung gilt unbeschadet der Verdienste Schüler-Springorums (Fn. 31) um die Klärung der verfassungsrechtlichen Stellung des Strafgefangenen. Zur neueren Entwicklung Hoffmeyer, Grundrechte im Strafvollzug. Verfassungsrecht als kriminalpolitischer Beitrag zur Reform des Strafvollzugs, 1979; Altenhain (Fn. 5); Morlok, Strafvollzug und Grundrechte, in: Bemmann/Manoledakis (Hrsg.), Probleme des staatlichen Strafens unter besonderer Berücksichtigung des Strafvollzugs, 1989, S. 45 ff.; Chevalier, Die Einschränkbarkeit von Folgegrundrechten. Aspekte der Geltung vorbehaltloser Grundrechte im Strafvollzug, Diss. jur. Trier 1992. Vgl. auch V. Neumann, Menschenwürde und psychische Krankheit, in: Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgbung und Rechtswissenschaft 1993, 276 ff. 33 Rotthaus, Menschenwürde und Strafvollzug, in: Monatsschrift für Deutsches Recht 22 (1968), S. 102 f. 34 Altenhain (Fn. 5).

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tionale Abkommen und Vereinbarungen, entsprechende Initiativen des Europarates, die wissenschaftlichen Bemühungen um die inhaltliche Präzisierung und Konturierung der Menschenrechte sowie die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Straßburg 3 5 beigetragen. An erster Stelle ist hier die Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten ( E M R K ) von 1950 zu nennen, deren Art. 3 das Verbot der Folter sowie unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung regelt 36 . Die E M R K , deren Weiterentwicklung seit einiger Zeit auf der Tagesordnung des Europarates steht, bildet bekanntlich die normative Grundlage für die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, der sich im Laufe seiner forensischen Praxis in einer ganzen Reihe von Fällen mit Fragen der Vollzugsgestaltung und Behandlung der Gefangenen zu befassen hatte 3 7 . Dabei ist der Gerichtshof ersichtlich um eine die Menschenrechte effektivierende und aktivierende Auslegung der E M R K bemüht. Dies gilt ungeachtet des Umstandes, daß die gerichtliche Kontrolle ihrer N a t u r nach einzelfallbezogen und überdies recht zeitraubend ist, kann doch die Europäische Kommission für Menschenrechte erst nach Erschöpfung des innerstaatlichen Rechtsweges angerufen werden. Immerhin weist jedoch der Grundsatz der „dynamischen Auslegung", wie er von den Organen gehandhabt wird, auf eine Weiterentwick-

35 Vgl. Weidmann, Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte auf dem Weg zu einem europäischen Verfassungsgericht, 1985; Trechsel, Aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, in: Strafverteidiger 12 (1992), S. 187 ff., 13 (1993), S. 98 ff. 36 Zur EMRK Frowein/Peukert, Eurpopäische Menschenrechtskonvention, 1985; Gusy, Wirkungen der Europäischen Menschenrechtskonvention und der europäischen Rechtsprechung in einzelnen Vertragsstaaten, in: Ztschr. f. Rechtsvergleichung 30 (1989), S. 1 ff.; Bernhardt, Grundrechtsschutz unter der Europäischen Menschenrechts-Konvention, in: Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft 1990, S. 99 ff. 37 Ganter, Die Spruchpraxis der Europäischen Kommission für Menschenrechte auf dem Gebiet des Strafvollzuges. Zugleich eine Untersuchung zum Verhältnis des kommenden deutschen Strafvollzugsgesetzes zu dem europäischen Mindeststandard, 1974, S. 98 ff.; Kaiser, Human rights in the enforcement of sanctions involving deprivation of liberty, Annales internationales de criminologie 28 (1990), No. 1/2, S. 15 ff. Aus der Judikatur des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte: Briefkontrolle im Strafvollzug (Europäische Grundrechte-Zeitschrift 1984, 147); Zugang zu juristischer Beratung und Verkehr mit Rechtsanwälten (Europäische Grundrechte-Zeitschrift 1985, 534). Aus der Spruchpraxis der Europäischen Kommission für Menschenrechte: Haftbedingungen („Isolier-" oder „Isolations"haft) (Europäische Grundrechte-Zeitschrift 1974, 107; 1976, 22; 1978, 314); Arrest im Strafvollzug (Europäische Grundrechte-Zeitschrift 1977, 366); Behandlung in Strafhaft (Europäische Grundrechte-Zeitschrift 1990, 66).

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lung der in der EMRK geregelten Grundsätze und Vereinbarungen hin 38 . Dies kommt etwa darin zum Ausdruck, daß der Europäische Gerichtshof die EMRK nicht nur nach dem Grundsatz „in dubio pro libertate" interpretiert, sondern auch als „living instrument" im Sinne der aktuellen Verhältnisse begreift 39 . Eine weitere Station auf dem Weg zum Ausbau von Individualrechten stellt der Internationale Pakt der Vereinten Nationen (UN) über bürgerliche und politische Rechte von 1966 dar 40 . Er erweitert den Menschenrechtskatalog der EMRK um zusätzliche, freilich nicht strafvollzugsspezifische Verfahrensrechte. Der Schutz vor menschenunwürdiger Strafe oder Behandlung hat 1987 durch das Europäische Abkommen zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung eine weitere Absicherung erfahren 41 . Dieses Abkommen hat ein Besuchssystem eingefühlt, das die regelmäßige Kontrolle von Vollzugsanstalten der Vertragsstaaten durch einen entsprechenden europäischen Ausschuß, über dessen bisherige Tätigkeit bereits erste Erfahrungen vorliegen, ermöglicht 42 . Damit ist neben dem Gerichtshof in Straßburg ein weiteres internationales Instrument geschaffen worden, das auf Schaffung und Gewährleistung menschenwürdiger Verhältnisse im Strafvollzug hinwirken soll. In diese Richtung zielen auch die Europäischen Strafvollzugsgrundsätze (European Prison Rules) von 1987, welche die Europäischen Min38 Zur Argumentations- und Begründungspraxis des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte Bengoetxeaf Jung, Towards a European criminal jurisprudence? The justification of criminal law by the Strasbourg court, in: Legal Studies 11 (1991), S.239ff. (267ff.). Zur parallelen Problematik beim Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften Bengoetxea, The justification of decisions by the European Court of Justice, 1990. 39 Petzold, Die Rolle der Europäischen Menschenrechtskonvention für den europäischen Einigungsprozeß, 1989, S. 41. 40 Holoubek, Der Schutz der persönlichen Freiheit im UN-Pakt über bürgerliche und politische Rechte, in: Osterr. Ztschr. f. öffentl. Recht und Völkerrecht 39 (1989), S. 89ff.; Nowak, CCPR-Kommentar. Kommentar zum UNO-Pakt über bürgerliche und politische Rechte und zum Fakultativprotokoll, 1989. 41 Lüthke, Die Europäische Konvention über den Schutz inhaftierter Personen vor Folter, in: Zeitschr. f. Rechtspolitik 21 (1988), S. 52 ff.; Nowak, Die Europäische Konvention zur Verhütung der Folter. Regelmäßige Besuche von Haftanstalten durch Europäisches Komitee zur Verhütung der Folter ab 1989, in: Europäische Grundrechte-Zeitschrift 15 (1988), S. 537ff.; Puhl, Europäisches Anti-Folter-Abkommen, in: Neue Juristische Wochenschrift 43 (1990), S. 3057 f.; Matscher (Hrsg.), Folterverbot sowie Religions- und Gewissensfreiheit im Rechtsvergleich, 1990; Machacek, Für die Menschenwürde-eine Welt ohne Folter, in: Festschr.f. Klecatsky, 1990,S. 143 ff.; Kaiser, Die Europäische Antifolterkonvention als Bestandteil internationalen Strafverfahrens- und Strafvollzugsrechts, in: Schweizerische Ztschr. f. Strafrecht 108 (1991), S. 213 ff. 42 Zu diesem Ausschuß etwa Nowak (Fn. 41); Labarthe, Kontrollbesuche bei inhaftierten Personen, in: Europäische Grundrechte-Zeitschrift 16 (1989), S. 477 ff.

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destgrundsätze für die Behandlung der Gefangenen von 1973 abgelöst haben43. Sie haben erklärtermaßen zum Ziel, „Mindestgrundsätze für alle Bereiche des Strafvollzugs aufzustellen, die für menschenwürdige Bedingungen und eine förderliche Behandlung in zeitgemäßen, fortschrittlichen Systemen wesentlich sind"44. Nach Nr. 1 der Grundsätze hat der Strafvollzug „unter materiellen und sittlichen Bedingungen zu erfolgen, welche die Achtung der Menschenwürde gewährleisten" sowie mit den im einzelnen näher dargelegten Regeln im Einklang stehen45. 1989 haben sich die Teilnehmerstaaten des Wiener KSZE-Folgetreffens in ihrem Abschlußabkommen dazu verpflichtet, eine menschliche und menschenwürdige Behandlung der Gefangenen zu gewährleisten. Damit sind die Staaten die Verpflichtung eingegangen, den Verhaltenskodex der Vereinten Nationen für Vollzugsbeamte einzuhalten, der Folter und andere Arten grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung verbietet. Hiernach sind die Vertragsstaaten gehalten, wirksame gesetzliche, administrative, gerichtliche und sonstige Maßnahmen zu ergreifen, um solche Praktiken zu verhindern und zu ahnden. Ferner „versichern die Teilnehmerstaaten, den einzelnen vor allen psychiatrischen oder anderen medizinischen Praktiken zu schützen, die eine Verletzung der Menschenwürde und Grundfreiheiten darstellen, und wirksame Maßnahmen zur Verhinderung und Bestrafung solcher Praktiken zu treffen"46. Anläßlich des 7. Internationalen Kolloquiums über die EMRK von 1990 wurde im Hinblick auf eine stärkere Durchsetzung der Menschenrechte die Einführung weiterer Rechtsgarantien zugunsten Strafgefangener - etwa in Form eines Zusatzprotokolls zur EMRK diskutiert. In diesem Sinne hat Trechsel in seinem einschlägigen Bericht auf der Grundlage einer Analyse der bisherigen Rechtslage und der aktuellen Situation Inhaftierter Ergänzungen der Rechte Gefangener und der Regeln für die Gestaltung des Strafvollzuges vorgeschlagen47. In der internationalen Diskussion48 haben die Menschenrechte im Laufe der Zeit einen Rangwert erhalten, der schwerlich zu überschätzen 43 Europäische Strafvollzugsgrundsätze. Uberarbeitete europäische Fassung der Mindestgrundsätze für die Behandlung der Gefangenen, 1988. 44 Europäische Strafvollzugsgrundsätze (Fn.43), S. 19. 45 Europäische Strafvollzugsgrundsätze (Fn.43), S.23. 46 Kaiser, Menschenrechte im Straf- und Maßnahmenvollzug, in: Festschr. f. R.Schmitt, 1992, S . 3 5 9 f f . (363f.). 47 Trechsel, Report on "Human rights of persons deprived of their liberty", 1990. 48 Z.B. Reynaud, Human rights in prison, 1986; Cohen, The Law of Prisoners' Rights: A n Overview, in: Criminal Law Bulletin 24 (1988), S. 321 ff.; Kooijmans, Question of the human rights of all persons subjected to any form of detention or imprisonment: Torture and other cruel, inhuman and degrading

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ist. Das zeigen nicht nur Beiträge im Gefolge der EMRK und auf der Ebene des Europarates, sondern auch in verschiedenen Mitgliedsstaaten, namentlich in der Bundesrepublik selbst49, in Osterreich 50 und in der Schweiz 51 . Dem steht nicht entgegen, daß gerade in den letztgenannten Ländern Besonderheiten der verfassungsrechtlichen Lage zu einer gewichtigen Aufwertung internationaler Abkommen, insbesondere der EMRK selbst, geführt haben. In Osterreich beispielsweise haben die Erörterungen über die Anerkennung und Geltung der Menschenrechte bereits 1969, dem Jahr begonnen, in dem das dortige Strafvollzugsgesetz verabschiedet worden ist 52 . Sie werden bis heute in Weiterentwicklung von Vollzugsrecht und -praxis fortgeführt, wie etwa die Verhandlungen des österreichischen Juristentages von Linz 1991 gezeigt haben 53 . Rechte Gefangener und Vollzugsgestaltung waren auch das Thema eines internationalen Kolloquiums, das 1991 unter dem Titel „Imprisonment Today and Tomorrow" (von Dirk van Zyl Smit und Frieder Dünkel) dokumentiert wurde 54 . 1992 hat dann Jung die einschlägige Fragestellung, wie sie sich - unter Einbeziehung des Freiheitsstrafenvollzugs - aus internationaler Perspektive präsentiert, auf das kriminalrechtliche Sanktionensystem im ganzen ausgedehnt55.

treatment of punishment. Report of the Special Rapporteur, 1991; Prowse/Weber/ Wilson, Rights and prisons in Germany, in: International Journal of the Sociology of Law 20 (1992), S. I l l ff. 49 Vgl. vor allem die Arbeiten von Kaiser (Fn. 37, 41 und 46). 50 Machacek, Sind Strafgefangene Grundrechtsträger? In: Strafrecht, Strafprozeßrecht und Kriminologie. Festschr. f. Pallin zum 80. Geburtstag, 1989, S. 21 Iff. 51 Spühler, Die Europäische Menschenrechtskonvention, die EMRK in der Rechtsprechung des schweizerischen Bundesgerichtes zum Straf- und Strafprozeßrecht, in: Kriminalistik 45 (1991), S. 135 ff.; Villiger, Die Europäische Menschenrechtskonvention und die schweizerische Rechtsordnung, in: Europäische Grundrechte-Zeitschrift 18 (1991), S. 81 ff. 52 Ermacora, Strafvollzugsgesetz und Menschenrechte, in: Österr. JuristenZeitung 24 (1969), S. 654ff.; Melichar, Grundrechte und Strafvollzug in der Rechtsprechung des Osterreichischen Verfassungsgerichtshofes, in: Menschenwürde und freiheitliche Rechtsordnung. Festschr. f. Geiger z. 65. Geburtstag, 1974, S. 157 ff. Vgl. auch Nowakowski, Die Grund- und Menschenrechte in Relation zur strafrichterlichen Gewalt, in: Österr. Juristen-Zeitung 20 (1965), S.281 ff. 53 Müller-Dietz, Grundrechte und Zielkonflikte im Strafvollzug. Gutachten für den österr. Juristentag 1991 (Ms. 1991). 54 van Zyl Smit / Dünkel (Eds.) Imprisonment Today and Tomorrow. International Perspectives on Prisoners' Rights and Prison Conditions, 1991. Dazu Müller-Dietz, Strafvollzug heute und morgen, in: Ztschr. f. Strafvollzug und Straffälligenhilfe 40 (1991), S. 202 ff. 55 Jung> Sanktionensysteme und Menschenrechte, 1992. Dazu Roitham, in: Ztschr. f. Strafvollzug und Straffälligenhilfe 42 (1993), S. 296 ff.

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V All dies verrät eine wachsende Sensibilität für Menschenrechte, insbesondere für die Menschenwürde des einzelnen. In seinem einschlägigen Beitrag stellte denn auch Hofmann kürzlich in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung" fest: „Das Wort Menschenwürde hat Konjunktur." 56 Die universale, ungeteilte Geltung des Gebots, die menschliche Würde zu respektieren, ist dementsprechend längst Gemeingut57. In diesem Sinne hat etwa Graf Vitzthum angemerkt, daß sich der Staat „auch dem übelsten Missetäter gegenüber nie menschenunwürdig verhalten" dürfe. „Weder dem staatlichen Amtsträger noch dem einzelnen Bürger ist es gestattet, sich auf das Niveau des Übeltäters zu begeben. Auch der Massenmörder ist nicht ,Kreatur', sondern Mensch." 58 Man könnte hier auch auf Radbruch verweisen, der in einer Studie über den Uberzeugungsverbrecher 1924 ausgeführt hat: „Besserung wie Vergeltung setzen eine sittliche Überlegenheit des strafberechtigten Staates über den Straffälligen, den Besserungsbedürftigen oder Vergeltungswürdigen, voraus" 59 . Die moralische Überlegenheit des strafenden Staates - wenn es sie denn gibt - zeigt sich gerade darin, daß er sich nicht gleicher Praktiken wie der Straftäter bedient. Noch nie also haben die Menschenrechte einen so hohen Kurswert in der Theorie, ja selbst in der - internationalen - Judikatur (etwa des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte) gehabt - und noch nie sind sie, gemessen an diesem Standard und Anspruch - so sehr mit Füßen getreten worden wie heute. Wir fühlen uns in unserer Menschenwürde gekränkt und herabgesetzt, wenn uns ein Polizeibeamter anraunzt oder ein Bahnbeamter - im wahrsten Sinne des Wortes - abfertigt - so als seien wir deren Untertanen und nicht vielmehr sie Dienstleistende im Interesse des Bürgers; zur gleichen Zeit aber werden im gleichen Land Menschen um vermeintlich höherer Ziele willen aus Fremden- oder Ausländerhaß

56 Hofmann, Das Versprechen gegenseitiger Achtung. Über das Gebot der Menschenwürde, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 84 vom 10.4.1993. 57 Vgl. ζ. B. Bielefeldt, Die Menschenrechte als „das Erbe der gesamten Menschheit", Dicke, Die der Person innewohnende Würde und die Frage der Universalität der Menschenrechte, beide in: Würde und Recht des Menschen. Festschr. f. Schwartländer zum 70. Geburtstag, 1992, S. 143 ff., 161 ff. Vgl. auch Denninger, Menschenrechte zwischen Universalitätsanspruch und staatlicher Souveränität, in: Kritik und Vertrauen. Festschr. f. P.Schneider z. 70.Geburtstag, 1990, S. 45 ff. 58 Graf Vitzthum, Die Menschenwürde als Verfassungsbegriff, in: Juristenzeitung 40 (1985), S. 201 ff. (204). 59 Radbruch, Der Uberzeugungsverbrecher, in: Ztschr. f.d. gesamte Strafrechtswissenschaft 44 (1924), S. 34 ff. (36).

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heraus verprügelt, vertrieben, ja verbrannt - so als sei die Menschenwürde keinen Pfifferling mehr wert, wenn es gilt, faktische Macht angesichts intellektueller O h n m a c h t zu demonstrieren 6 0 .

VI V o r der Frage, was die Anerkennung der Menschenwürde für die Ausgestaltung des Strafvollzugs und die Behandlung der Gefangenen bedeutet, steht die primäre Frage, was ihren Inhalt ausmacht, wie sie begrifflich zu verstehen ist. D e m soll hier nun nicht im Sinne einer lexikalischen oder kommentierenden Erläuterung nachgegangen werden; gibt es doch eine ganze Fülle verfassungsrechtlicher Analysen des Art. 1 Abs. 1 G G 6 1 . Vielmehr soll versucht werden, einige Aspekte des ebenso vieldeutigen wie interpretationsbedürftigen Begriffs der Menschenwürde an H a n d der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und der neueren Literatur nachzuzeichnen. Dabei werden -

jenseits wertphilosophischer

und

naturrechtlicher

Bezugnahmen und Differenzierungen nach christlichen,

humanistisch

aufklärischen und anderen Würdekonzepten 6 2 - vor allem zwei Möglichkeiten definitorischer und inhaltlicher Bestimmung des Begriffs der M e n schenwürde deutlich. Man kann ihn gleichsam negativ von denkbaren Verletzungen oder Gefährdungen her zu fixieren suchen. M a n kann sich aber auch um eine positive Festlegung seines Gehalts bemühen. D i e letztere Vorgehensweise ist offensichtlich die schwierigere, wenn nicht gar problematischere. D e n n sie läuft letztlich Gefahr, inhaltlich festzuschreiben, was angesichts der Wechselfälle des Lebens und gesellVgl. Fn. 18. Aus der neueren Literatur vgl. etwa Starck, Menschenwürde als Verfassungsgarantie im modernen Staat, in: Juristenzeitung 36 (1981), S. 457 ff; Stern, Menschenwürde als Wurzel der Menschen- und Grundrechte, in: Recht und Staat im sozialen Wandel. Festschr. f. Scupin zum 80. Geburtstag, 1983, S. 627ff.; Benda, Die Menschenwürde, in: Handbuch des Verfassungsrechts (Fn. 12), S. 107ff.; ders., „Die Würde des Menschen ist unantastbar", in: Lampe (Hrsg.), Beiträge zur Rechtsanthropologie, 1985, S. 23 ff.; Graf Vitzthum (Fn. 58, 3); Haberle, Die Menschenwürde als Grundlage der staatlichen Gemeinschaft, in: 1sensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. I, 1987, S. 815 ff. (§20); Niebier, Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum obersten Rechtswert der Menschenwürde, in: Bayer. Verwaltungsblätter 1989, S.737ff.; Hofmann (Fn. 56). Aus strafprozessualer Perspektive vgl. z.B. Wolter, Menschenwürde und Freiheit im Strafprozeß, in: Gedächtnisschr. f. Karlheinz Meyer, 1990, S. 493 ff.; Lammer, Verdeckte Ermittlungen im Strafprozeß. Zugleich eine Studie zum Menschenwürdegehalt der Grundrechte, 1992. 62 Starck, in: v. Mangoldt!Klein, Das Bonner Grundgesetz, 3. Aufl. 1985, Art. 1 Abs. 1 Rdn.2; Haberle aaO (Fn.61), §20 Rdn.37. 60 61

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schaftlicher Veränderungen nicht nur einem vielfältigen, kaum überschaubaren, sondern auch einem ständig im Wandel und im Flusse befindlichen Bedrohungs- und Gefährdungspotential ausgesetzt ist. Das ist wohl auch der entscheidende Grund dafür, weshalb manche Autoren es für unmöglich halten, die Würde des Menschen abstrakt zu definieren, und deshalb folgerichtig darauf verzichten, sie „in eine Formel zu bannen"63. Graf Vitzthum rechtfertigt diese Sichtweise denn auch mit der Erwägung: „Die Auslegung vom Verletzungstatbestand her vermeidet die Gefahr einer statischen, die wechselnden Bedrohungen der Menschenwürde verfehlenden Definition. Ausgrenzende Begriffsbestimmungen, im wesentlichen dem kritischen Rationalismus entsprechend, sind auch im Verfassungsrecht legitim. Sie erschweren eine Petrifizierung oder Uberideologisierung des Rechts."64

VII Das Bundesverfassungsgericht selbst verfährt zumindest partiell in diesem Sinne. Es definiert die Menschenwürde - unter Rekurs auf die Dürigsehe Objektformel - „vom Verletzungsvorgang her"65. Danach widerspricht es der Würde des Menschen, „ihn einer Behandlung auszusetzen, die seine Subjektqualität prinzipiell in Frage stellt"66. Im Urteil zur Verfassungsmäßigkeit der lebenslangen Freiheitsstrafe hat das Gericht einmal mehr diese Position bekräftigt, zugleich aber auch Ansätze einer positiven inhaltlichen Umschreibung jenes Begriffs erkennen lassen: „Es widerspricht . . . der menschlichen Würde, den Menschen zum bloßen Objekt im Staate zu machen (vgl. BVerfGE 27, 1 [6] m. w. N.). Der Satz ,der Mensch muß immer Zweck an sich selbst bleiben' gilt uneingeschränkt für alle Rechtsgebiete; denn die unverlierbare Würde des Menschen als Person besteht gerade darin, daß er als selbstverantwortliche Persönlichkeit anerkannt bleibt." „Der Täter darf nicht zum bloßen Objekt der Verbrechensbekämpfung unter Verletzung seines verfassungsrechtlich geschützten sozialen Wertund Achtungsanspruchs gemacht werden. Die grundlegenden Voraussetzungen individueller und sozialer Existenz des Menschen müssen erhalten bleiben. Aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip ist daher - und das gilt insbesondere für den Strafvollzug - die Verpflichtung des Staates herzuleiten, jenes Existenzminimum zu gewähren, das ein menschenwürdiges Dasein überhaupt erst ausmacht. Mit einer so verstan63 64 65 66

Starck aaO (Fn.62), Art. 1 Abs. 1 Rdn. 13. Graf Vitzthum aaO (Fn. 58), S. 202. Graf Vitzthum aaO (Fn.58), S.203. BVerfGE 27, 1 (16); 30, 1 (26); 50, 166 (175); vgl. auch BVerfGE 64, 274.

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denen Menschenwürde wäre es unvereinbar, wenn der Staat für sich in Anspruch nehmen würde, den Menschen zwangsweise seiner Freiheit zu entkleiden, ohne daß zumindest die Chance für ihn besteht, je wieder der Freiheit teilhaftig werden zu können. Bei alledem darf nicht aus den Augen verloren werden: Die Würde des Menschen ist etwas Unverfügbares." 6 7 Diese Auslegung des Art. 1 Abs. 1 G G des Grundgesetzes hat das Bundesverfassungsgericht denn auch dazu veranlaßt, mögliche Konsequenzen, die aus § 57 a Abs. 1 N r . 2 S t G B im Hinblick auf die Vollstreckungsdauer in Fällen lebenslanger Freiheitsstrafen gezogen werden könnten, in ihre verfassungsrechtlichen Schranken zurückzuweisen. Danach wäre eine Handhabung jener Strafnorm verfassungswidrig, „die davon ausginge oder doch darauf hinausliefe, eine Entlassung in die Freiheit könne bei besonderer Schuldschwere trotz günstiger Prognose und weit über 15 Jahre hinausreichender Strafverbüßung erst dann in Betracht gezogen werden, wenn körperliche oder geistige Gebrechlichkeit eingetreten oder der T o d nahe sei. E s wäre mit der Würde des Menschen unvereinbar, die vom Bundesverfassungsgericht geforderte und grundsätzlich auch realisierbare Chance, der Freiheit wieder teilhaftig zu werden ( B V e r f G E 45, 187 [245]; 64, 261 [281]), auf einen von Siechtum und Todesnähe gekennzeichneten Lebensrest zu reduzieren." 6 8 A n diese Position des Bundesverfassungsgerichts hat auch der Berliner Verfassungsgerichtshof erklärtermaßen in seinem sog. HoneckerBeschluß angeknüpft 6 9 . Hier kann und soll dessen Verfahrens- und materiellrechtliche Problematik im einzelnen nicht diskutiert werden 7 0 . Vielmehr soll lediglich auf jenen Leitsatz Bezug genommen werden, der aus dem Person- und Subjektstatus des Menschen Konsequenzen für die Begrenzung der staatlichen Strafgewalt zieht. Er lautet: „Der Mensch wird zum bloßen Objekt staatlicher Maßnahmen insbesondere dann, wenn sein T o d derart nahe ist, daß die Durchführung eines Strafverfahrens ihren Sinn verloren hat. Der Berliner Verfassungsgerichtshof folgt der Auffassung des B V e r f G , daß es mit dem Gebot der Achtung der Würde des Menschen unvereinbar ist, einen Menschen, der von schwerer und unheilbarer Krankheit und von Todesnähe gekennzeichnet ist, weiter in H a f t zu halten (vgl. B V e r f G E 72, 105 [116] = N J W 1986, 2241). Ein solcher Zustand begründet einen absoluten Aufhebungsgrund für die

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BVerfGE 45, 187 (228 f.). BVerfGE 72, 105 (116 f.). BerlVerfGH NJW 1993, 515. Vgl. Fn. 8.

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Untersuchungshaft" 71 . Das entspricht der Sache nach auch der Auffassung, wie sie etwa Trechsel in seinem Bericht von 1990 über die Menschenrechte Inhaftierter vertreten hat72. Indessen hat sich das Bundesverfassungsgericht, wie bereits angedeutet, keineswegs nur auf Aussagen beschränkt, die den Gehalt der Menschenwürde gleichsam von ihrer Negierung her zu fassen suchen. Die immer wiederkehrende Feststellung, „daß die menschliche Würde unmenschliches, erniedrigendes Strafen verbietet, und daß der Täter nicht unter Verletzung seines verfassungsrechtlich geschützten Wert- und Achtungsanspruchs zum bloßen Objekt der Vollstreckung herabgewürdigt werden darf" 73 , hat es gleichsam ergänzt durch die im sog. Lebach-Urteil ausgesprochene staatliche Verpflichtung, nach Kräften auf die soziale Integration Straffälliger hinzuwirken. Die entscheidende Passage lautet dort: „Nicht nur der Straffällige muß auf die Rückkehr in die freie menschliche Gesellschaft vorbereitet werden; diese muß ihrerseits bereit sein, ihn wieder aufzunehmen. Verfassungsrechtlich entspricht diese Forderung dem Selbstverständnis einer Gemeinschaft, die die Menschenwürde in den Mittelpunkt ihrer Wertordnung stellt und dem Sozialstaatsprinzip verpflichtet ist. Als Träger der aus der Menschenwürde folgenden und ihren Schutz gewährleistenden Grundrechte muß der verurteilte Straftäter die Chance erhalten, sich nach Verbüßung seiner Strafe wieder in die Gemeinschaft einzuordnen."74 Insofern strahlt das Würdekonzept des BVerfG nach beiden Richtungen, der negativen wie der positiven, hin aus; es sucht sie gleichsam wie zwei Seiten einer Medaille miteinander zu vereinigen. Damit kann es sich auf jene mehr oder minder integrativen Ansätze in der Literatur stützen, die den staatlichen Auftrag, den einzelnen vor Verletzungen oder Beeinträchtigungen seiner Personwürde zu schützen, im Kontext und im Zusammenhang mit der zugleich sozialstaatlichen Verpflichtung sehen, die Bedingungen menschenwürdiger Existenz zu gewährleisten75.

VIII Freilich darf bei alledem ein grundsätzlicher Aspekt nicht übersehen werden, der sich wie ein roter Faden durch die justitiellen und literarischen Auseinandersetzungen mit dem Begriff der Menschenwürde zieht. BerlVerfGH aaO (Fn. 69). Trechsel aaO (Fn. 47), S. 3. 73 BVerfGE 72, 116; vgl. auch BVerfGE 45, 228. 74 BVerfGE 35, 235 f. 75 Vgl. etwa Graf Vitzthum aaO (Fn.58), S.204f.; Haberle aaO (Fn.61), § 2 0 Rdn. 56 ff., 72 ff.; Hofmann aaO (Fn.56). 71

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Es gilt nicht nur die Metamorphosen, die das Verständnis des Art. 1 Abs. 1 G G seit Anbeginn durchlaufen hat und nunmehr in die Unterscheidung von Menschenwürde „als Wert" und „als Leistung" gemündet haben 76 , zur Kenntnis zu nehmen. Vielmehr spiegelt sich in je aktuellen und konkreten Aussagen darüber, was Menschenwürde inhaltlich ausmacht und bedeutet, wohl ein Stück Geschichtlichkeit des Rechts. Selbst - und vielleicht gerade - Fundamentalnormen sind, was ihre Konkretisierung im einzelnen anlangt, nicht vor dem historischen und gesellschaftlichen Wandel des Rechtsverständnisses gefeit. In diesem Sinne hat das BVerfG zur Bestimmung von Inhalt und Grenzen der Menschenwürde anmerken zu müssen geglaubt: „Die Erkenntnis dessen, was das Gebot, sie zu achten, erfordert, ist jedoch nicht von der historischen Entwicklung zu trennen." „Das Urteil darüber, was der Würde des Menschen entspricht, kann daher nur auf dem jetzigen Stande der Erkenntnis beruhen und keinen Anspruch auf zeitlose Gültigkeit erheben." 77 Damit hat das BVerfG in der Sache an einen Topos und Diskussionsstand angeknüpft, wie er in Rechtsprechung und Literatur immer wieder anzutreffen ist. So hat das Oberverwaltungsgericht Berlin 1980 etwa hinsichtlich der Festlegung der Anforderungen an eine menschenwürdige Obdachlosenunterkunft auf „das inzwischen erreichte zivilisatorische Niveau im allgemeinen" verwiesen und die Wandlungsfähigkeit des Begriffs der Menschenwürde reklamiert 78 : „Verbessern sich die gesellschaftlichen Verhältnisse, so beeinflußt dies in aller Regel auch das Urteil darüber, was als menschenwürdige oder menschenunwürdige Unterkunft anzusehen ist." Das Gericht hat freilich auch die negativen Konsequenzen für die Konkretisierung des Art. 1 Abs. 1 G G zu bedenken gegeben, die sich aus einem Absinken des zivilisatorischen Niveaus ergeben könnten 79 . Es ist keine Frage, daß eine solche Anbindung des Normgehalts an die jeweiligen ökonomischen Rahmenbedingungen zu einer gefährlichen, die Substanz des Menschenwürdebegriffs beeinträchtigenden Relativierung führen kann 80 . Daß dem nicht allein mit dem Rekurs auf den überzeitlichen Geltungsanspruch der Menschenwürde begegnet werden kann, liegt auf der Hand. Demgegenüber könnte schon eher für eine inhaltliche Bestimmung dessen, was hic et nunc als menschenwürdig angesehen werden kann, das dialogische Prinzip fruchtbar gemacht werden, das eine

Haberle aaO (Fn.61), § 2 0 Rdn.39. BVerfGE 45, 229. 78 OVG Berlin, Neue Juristische Wochenschrift 1980, 2484 (2485). 79 OVG Berlin aaO (Fn. 78). 80 Gegen eine solche Ableitung des Inhalts der Menschenwürde wurden in der Diskussion, die auf den Vortrag folgte, mit Recht Bedenken erhoben. 76

77

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Verständigung über den je aktuellen Gehalt der Menschenwürde erlaubte 81 . Gleichwohl hat der Aspekt des zivilisatorischen Niveaus, der allgemeinen wirtschaftlichen Verhältnisse und der Finanzausstattung des Staates von jeher - jenseits der Diskussion über Begriff und Gehalt der Menschenwürde - hinsichtlich der Ausstattung von Untersuchungshaftund Strafanstalten eine nicht unerhebliche Rolle gespielt. Bezeichnenderweise hat sie aber zu verschiedenen Zeiten unter ganz unterschiedlichen Vorzeichen gestanden. 1963 hat das Bundesverfassungsgericht dem Untersuchungshaftvollzug ins Stammbuch schreiben zu müssen geglaubt: „Grundrechte bestehen nicht nur nach Maßgabe dessen, was an Verwaltungseinrichtungen üblicherweise vorhanden oder an Verwaltungsbrauch ,vorgegeben' ist." 82 1992 dagegen hat sich das Oberlandesgericht Koblenz in einem Beschluß, der die Zulässigkeit der Besuchsüberwachung im Strafvollzug zum Gegenstand hatte, veranlaßt gesehen, die Strafvollstreckungskammer darauf hinzuweisen, „daß von den baulichen und personellen Möglichkeiten der Haftanstalt auszugehen ist und nicht einfach bauliche Maßnahmen oder der Einsatz zusätzlicher Bediensteter verordnet werden können. Bei der außerordentlichen Beanspruchung der öffentlichen Haushalte wird man, wenn es nicht gerade um Fragen der Menschenwürde geht, auch in wünschenswerten Dingen Zurückhaltung üben und die Entscheidungen dem Haushaltsgesetzgeber überlassen müssen. Bei der Beurteilung dessen, was zu leisten ist, kann auch nicht unberücksichtigt bleiben, daß in den neuen Bundesländern überhaupt erst einmal die Minimalvoraussetzungen eines rechtsstaatlichen, die Menschenwürde achtenden Strafvollzugs geschaffen werden müssen." 83 Dieser Umstand ist übrigens ein maßgebender Grund dafür, daß sich bisher - ungeachtet zahlreicher internationaler Deklarationen und Vereinbarungen - gemeineuropäische Standards hinsichtlich menschenwürdiger Gestaltung des Strafvollzugs nicht durchsetzen konnten. Zu groß ist das zivilisatorische Gefälle im Verhältnis verschiedener Mitgliedsstaaten des Europarates zueinander, als daß insoweit auch nur von gemeinsamen Wertmaßstäben oder zumindest Akzeptanzen gesprochen werden könnte. Praktische Auswirkungen zeigen sich etwa in Gestalt von „Umrechnungskursen", die deutsche Gerichte bei der Anrechnung aus81 Damit greife ich einen Gedanken auf, den Detlef Krauß in der anschließenden Diskussion entwickelt hat. Freilich bedürfte er noch theoretischer Ausarbeitung; Tragfähigkeit und Reichweite erscheinen klärungsbedürftig. 82 BVerfGE 15, 288 = Neue Juristische Wochenschrift 1963, 755 (756). 83 OLG Koblenz, Zeitschrift für Strafvollzug und Straffälligenhilfe 1993, 244.

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ländischen Freiheitsentzuges nach §51 StGB entwickelt haben 84 . Wenn beispielsweise ein Hafttag in Spanien oder einem anderen europäischen Land zwei Hafttagen in Deutschland gleichgestellt wird, dann demonstriert dies mehr als alles andere, welche Unterschiede in der Gestaltung des Vollzuges und der Behandlung der Gefangenen innerhalb Europas nach wie vor bestehen. Dieser geschichtlich-gesellschaftliche Aspekt relativiert gewiß den grundsätzlichen Geltungsanspruch des Art. 1 Abs. 1 GG nicht; er läßt sich aber bei der jeweiligen Bestimmung des Normgehalts nicht schlechthin ausklammern. Das ist auch der Literatur seit langem geläufig. In diesem Sinne hat etwa Kunig die „Wandelbarkeit" des Würdebegriffs als „besonders offenkundig" bezeichnet 85 , hat Haberle von kulturspezifischen Prägungen, von „Kulturabhängigkeit" der personalen Identität, die als Kern des Würdekonzepts begriffen wird, gesprochen 86 , hat Llompart kürzlich darauf verwiesen, daß „Unantastbarkeit" oder „Unverfügbarkeit" der Menschenwürde nicht mit „Unveränderlichkeit" gleichzusetzen sei87. Indessen geht es im Kontext unseres Themas nicht allein darum, ob und inwieweit die Auswirkungen des zivilisatorischen Niveaus, die wirtschaftlichen und sozialen Rahmenbedingungen einer Gesellschaft bei der Bestimmung dessen, was einer qua Menschenwürde fordern oder was ihm - vielleicht eben noch - zugemutet werden kann, eine Rolle spielen dürfen. Vielmehr schließt jener geschichtlich-gesellschaftliche Aspekt wenigstens zwei weitere bedeutsame Konsequenzen ein: Zum einen ist die banale Erfahrung in Rechnung zu stellen, daß sich mit dem raschen Wandel der gesellschaftlichen Verhältnisse das spezifische Risiko- und Gefährdungspotential im Hinblick auf den Achtungsanspruch des Men-

84 Spanien 1 : 2 (BGH, N e u e Ztschr. f. Strafrecht 1985, 497; LG Stuttgart, Neue Ztschr. f. Strafrecht 1986, 362; LG Zweibrücken, Neue Ztschr. f. Strafrecht 1988, 71), nach LG Bremen, Strafverteidiger 1992, 326 sogar 1 : 3 ; Portugal 1 : 2 (LG Bochum, Strafverteidiger 1993, 33f.); Italien 1 : 2 (OLG Frankfurt, Strafverteidiger 1988, 20). Hinsichtlich Frankreichs existiert eine differenzierte Rechtsprechung (OLG Koblenz, Goltdammer's Archiv für Strafrecht 1989, 310: 1 : 2 nicht gerechtfertigt; LG Essen, Strafverteidiger 1991, 170: 1 : 1 , 5 angemessen) - ebenso in bezug auf Marokko (OLG Zweibrücken, Goltdammer's Archiv für Strafrecht 1993, 126: 1 : 2 ; A G Bremen, Strafverteidiger 1992, 429: 1:3). 85 Kunig aaO (Fn. 12), S.336. 86 Haberle aaO (Fn.61), §20 Rdn.49. 87 Llompart, Die praktische Vernunft praktisch betrachtet: Die Argumentation mit der Menschenwürde, in: Alexy u. Dreier (Hrsg.), Rechtssystem und praktische Vernunft, 1993, S. 166 ff. (167).

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sehen verändert, ja wächst 88 ; ein anschauliches Beispiel dafür liefert ja die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum informationellen Selbstbestimmungsrecht 89 . Zum anderen verändern sich - wohl in Wechselwirkung mit gesellschaftlichem Wandel - auch allgemeine Wertvorstellungen; nicht zufällig registrieren die Sozialwissenschaften in unserer schnellebigen Zeit einen - wie immer gearteten - „Wertewandel" 90 : Was man gestern vielleicht als noch erträglich hingenommen hat, muß heute nicht mehr unbedingt akzeptiert werden. Vor diesem Hintergrund ist wohl die zunehmende Sensibilisierung für Verletzungen oder Beeinträchtigung des personalen Achtungsanspruchs zu sehen. Und in diesem Zusammenhang ist wohl auch die Formel Jungs von der .„Entdeckung' der Menschenrechte von Gefangenen" 91 einzuordnen - der man ja seit einiger Zeit auch die „Entdeckung" der Menschenrechte des Straftatopfers konfrontieren kann 92 .

IX In der verfassungsrechtlichen Diskussion über Inhalt und Schranken der Menschenwürde nimmt nicht zuletzt die zugleich rechtsanthropologische Frage nach dem Menschenbild des Grundgesetzes eine zentrale Rolle ein93. Hier kann und soll nun diese Auseinandersetzung nicht aufgenommen werden. Nur so viel sei an dieser Stelle hervorgehoben: Wie immer man im einzelnen die Menschenwürde faßt und bestimmt - allemal geht es um Eigenwert, Autonomie und Subjektstellung der Person als „letzten End88 Benda, in: Lampe (Hrsg.), Beiträge zur Rechtsanthropologie (Fn. 61), S. 26 ff. (Die Menschenwürde im Wandel der Verhältnisse). 89 B V e r f G E 65, 1. 90 Haferkamp, Effekte des Wertewandels auf Kriminalität und Strafsanktionen, in: Ztschr. f. Soziologie 16 (1987), S. 4 1 9 ff.; KlagestFranz/Herbert, Sozialpsychologie der Wohlfahrtsgesellschaft. Zur Dynamik von Wertorientierungen, Einstellungen und Ansprüchen, 1987; Inglebart, Postmaterialismus in einer v o n Unsicherheit geprägten Umwelt, in: Olk/Otto (Hrsg.), Soziale Dienste im Wandel 1. Helfen im Sozialstaat, 1987, S . 2 5 f f . ; Klages, Wertedynamik. Ü b e r die Wandelbarkeit des Selbstverständlichen, 1988; Schiöder, Soziale W e r t e und Werthaltungen. Eine sozialpsycholog. Untersuchung des Konzepts sozialer W e r t e und des W e r t wandels, 1993. Vgl. auch Wiirtenberger jun., Zeitgeist und Recht, 2. A u f l . 1 9 9 1 , S. 128 ff., 140 ff. 91 Jung aaO (Fn. 55), S. 91 ff. 92 Z. B. Lambom, Für eine Deklaration der Vereinten Nationen über Kriminalität, Mißbrauch v o n Macht und die Rechte von Opfern, in: Janssen/Kerner (Hrsg.), Verbrechensopfer, Sozialarbeit und Justiz. Das O p f e r im Spannungsfeld der Handlungs- und Interessenkonflikte, 1985, S. 523 ff. 93 Vgl. etwa Benda, in: Lampe (Hrsg.), Beiträge zur Rechtsanthropologie (Fn. 61); Haberle aaO (Fn.61), § 2 0 R d n . 3 7 f . , 46 ff.

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zweck", hinter den nicht mehr zurückgegangen werden kann, weil auf ihm Gleichheit und Gleichbehandlung aller in Staat und Gesellschaft fußen: „Die würdebezogene Anerkennung schlechthin muß man jeder Person zuteil werden lassen, weil man sie ganz ursprünglich für sich selbst in Anspruch nimmt. Wer den anderen verachtet, verachtet sich selbst, weil er die Gattungsgemeinschaft mit dem anderen nicht leugnen kann." 94 In diesem Sinne kennzeichnet Art. 1 Abs. 1 des Grundgesetzes - nach dem Wort Hofmanns - „Das Versprechen gegenseitiger Achtung". „Das gegenseitige Versprechen, uns als in gleicher Weise würdige Mitglieder des Gemeinwesens anzuerkennen, schließt es folglich aus, irgend jemandem die Befugnis zuzugestehen, einem anderen Individuum diesen Status - aus welchen Gründen auch immer - prinzipiell abzuerkennen."95 Dem Begriff der Menschenwürde werden von Hofmann, aber auch von anderen Staatsrechtlern96 aus verfassungsrechtlicher Sicht drei Grundsätze entnommen: Zum ersten garantiert jene Norm „die prinzipielle rechtliche Gleichheit aller Menschen". Sie verbietet damit „jede Art systematischer Diskriminierung oder Demütigung". Zum zweiten gebietet sie „die Wahrung der menschlichen Subjektivität, und das heißt insbesondere Schutz der körperlichen und seelischen Identität und Integrität". „Daraus folgt nicht nur das Verbot von Folterungen, Mißhandlungen, Erniedrigungen und Körperstrafen, sondern auch das Verbot der Brechung subjektiver Identität oder deren Auflösung durch sogenannte Wahrheitsseren, Lügendetektoren und so weiter sowie das Gebot des Schutzes menschlicher Intimität." Zum dritten garantiert Art. 1 Abs. 1 des Grundgesetzes „die Sicherung menschenwürdiger Existenz für jeden, beispielsweise auch unter Haftbedingungen"97. X Die Frage, was aus dem verfassungsrechtlichen Anspruch auf Respektierung der Menschenwürde für die Gestaltung des Strafvollzugs und die Behandlung der Gefangenen folgt, ist relativ früh schon an Hand von Beispielsfällen und -katalogen erörtert worden98. Das lag insofern auf der Linie jener verfassungsrechtlichen Analyse des Art. 1 Abs. 1 GG, die in kritischer Auseinandersetzung mit der werttheoretischen und personalistischen Interpretation dieser Norm dafür eingetreten ist, „den rechtliGraf Vitzthum ( F n . 5 8 ) , S.205. Hofmann aaO (Fn. 56). 96 Graf Vitzthum ( F n . 5 8 ) , S.204: Subjektstellung, Schutz Sphäre, Mindestvoraussetzungen für menschenwürdiges Dasein. 97 Sämtliche Zitate von Hofmann aaO (Fn. 56). 98 Ζ. B. von v. Münch aaO (Fn. 29); Tiedemann (Fn. 29). 94 95

persönlicher

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chen Inhalt des Satzes von der Würde des Menschen durch eine Kasuistik klarer Verletzungstatbestände zu sichern" 9 9 . Daß manchen jener Beispielsfälle - wie sie in den 50er und 60er Jahren zur Diskussion gestellt wurden - nur mehr historische Bedeutung zukommt, wird heute niemanden überraschen 1 0 0 . U n d es trifft auch zu, daß das Inkrafttreten des Strafvollzugsgesetzes (StVollzG) sowie seine mehr oder minder konsequente Durchsetzung durch die Rechtsprechung in mancher Hinsicht für Abhilfe gesorgt haben 1 0 1 . Immerhin entbindet § 9 7 Abs. 1 StVollzG im Einklang mit dem allgemeinen Beamtenrecht Vollzugsbedienstete von der Pflicht, Anordnungen unmittelbaren Zwangs zu befolgen, wenn dadurch die Menschenwürde verletzt würde 1 0 2 . Aber es stimmt doch nachdenklich, in welchem Umfange Judikatur und Literatur auch nach Inkrafttreten des StVollzG Anlaß hatten - oder zumindest sahen - , Verletzungen der Menschenwürde festzustellen. Beispiele dafür lassen sich sowohl im Bereich der Haftbedingungen als auch des Umgangs mit Insassen finden. Das beginnt etwa mit räumlich unzureichenden Unterbringungsverhältnissen 1 0 3 - die nicht zuletzt Folge von

" Badura, Generalprävention und die Würde des Menschen, in: Juristenzeitung 19 (1964), S. 337 ff. (341). 100 v. Münch (Fn. 29), S. 74: körperliche Durchsuchung weiblicher Gefangener in Anwesenheit männlicher Beamter, öffentlicher Transport von Gefangenen in deutlich erkennbarer Häftlingskleidung, Fotografieren von Gefangenen zu nichtkriminalistischen Zwecken, Eintätowieren von Kennzeichen nach KZ-Art, Einsperren Gefangener in eine Zelle ohne Tageslicht; Tiedemann (Fn.29), S. 116ff.: ehrverletzende Anrede, Prügelstrafe, Dunkelzelle, Lattenarrest, gezielte Veränderungen des Persönlichkeitsgefüges. 101 Ältere Fälle etwa: Die Unterbringung von drei Gefangenen in einer Einmannzelle mit einer Toilette ohne Schamwand (OLG Hamm, Neue Juristische Wochenschrift 1967, 2024; vgl. auch Rotthaus [Fn. 33]); die Anrede einer über 18 Jahre alten Jugendstrafgefangenen mit „Du" ( O L G Hamm, Blätter für Strafvollzugskunde. Beilage zum Vollzugsdienst 17 [1970], Nr. 2, S. 7); das gemeinsame Duschen von 24 Gefangenen auf einer Fläche von 30 qm (OLG Hamm, Monatsschrift für Deutsches Recht 1970, 611). 102 Dazu Brühl, in: Alternativkommentar zum StVollzG, 3. Aufl. 1990, §97 Rdn. 1; Koepsel, in: Schwind/Böhm (Hrsg.), StVollzG, Kommentar, 2. Aufl. 1991, § 97 Rdn. 2 (der aaO, § 95 Rdn. 4, mit konkreten Beispielen für menschenunwürdige Formen unmittelbaren Zwangs aufwartet: ζ. B. Verwendung von Hunden und Zwangsjacken zur Durchsetzung von Vollzugs- oder Sicherungsmaßnahmen). Freilich fehlt eine vergleichbare Regelung für Gefangene (vgl. §82 Abs. 2 StVollzG). 103 Ζ. B. Belegung einer Einzelzelle mit einer Grundfläche von 7,98 qm mit zwei Gefangenen (LG Braunschweig, Neue Ztschr. f. Strafrecht 1984, 286); Unterbringung dreier Gefangener in einem Haftraum mit einer Grundfläche von l l , 5 4 q m (OLG Frankfurt, Neue Ztschr. f. Strafrecht 1985, 572, Strafverteidiger 1988, 540).

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Überbelegungen sind 104 - und setzt sich fort mit mangelnder Beteiligung Gefangener an der sie betreffenden Vollzugsplanung und -gestaltung 105 . N o c h 1993 mußte die 2. Kammer des 2. Senats des Bundesverfassungsgerichts die menschenwürdige Unterbringung eines Gefangenen anmahnen, dessen Zelle auf Grund von Defekten im Rohrleitungssystem und wiederholten Überschwemmungen „innerhalb kurzer Zeit mehrmals mit Fäkalien verunreinigt worden ist" 1 0 6 . Offen ist, wie es um die Verwirklichung des „Rechts auf eine gewisse Privatsphäre", das ja auch im Strafvollzug - Kernbereichsthese hin oder her - anerkannt werden muß, realiter bestellt ist 107 , umstritten, wenn nicht ungeklärt ist, was es angesichts einer Vielzahl verfügbarer und mehr oder minder leicht zugänglicher personenbezogener Daten mit der Realisierung des informationellen Selbstbestimmungsrechts

in Haft auf sich

hat 108 .

XI Darüber, daß eine abschreckende Ausgestaltung des Strafvollzugs oder eine ausschließlich sichernde Verwahrung Gefangener gegen die Menschenwürde verstößt, besteht weitgehend Konsens 1 0 9 . Keine vergleichbare Klarheit besteht hinsichtlich der Frage, ab wann (re-)sozialisierende Ein-

104 Zur Überbelegungsproblematik etwa Kreuzer, Gefängnisüberfüllung eine kriminalpolitische Herausforderung, in: Festschr. f. Blau zum 70. Geburtstag, 1985, S. 459ff.; Oberheim, Gefängnisüberfüllung. Ursachen, Folgen und Lösungsmöglichkeiten in der Bundesrepublik Deutschland mit einem internationalen Vergleich, 1985; Kerner, Der statistisch-quantitative Aspekt des Strafvollzugs: Überlegungen zur Überbelegungsproblematik, in: Gesellschaft für Rechtspolitik Trier (Hrsg.), Bitburger Gespräche 1986/2, 1986, S.87ff.; }. Schmidt, Überbelegung im Strafvollzug. Ein Versuch, juristische Kriterien für die zulässige Belegung von Strafanstalten bzw. Hafträumen zu entwickeln, 1986; Kuhn, Kriminalpolitik und Gefängnisüberfüllung, in: Kriminolog. Bulletin 17 (1991), S. 9 ff. 105 Calliess, Strafvollzugsrecht, 3. Aufl. 1992, S.86f.; Strafe: Tor zur Versöhnung? Eine Denkschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland zum Strafvollzug, 1990, S. 85 f.: Vollzugsplanung ohne (ausreichende) Mitwirkung des Gefangenen. 106 BVerfG 2. Kammer des 2. Senats, Strafverteidiger 1993, 487. 107 Walter, Strafvollzug, 1991, Rdn.366. 108 Zur Mitteilung des Aufenthaltsortes des Gefangenen an dessen Kontaktpersonen außerhalb der Anstalt und zur Ausforschung seiner Außenkontakte einerseits Schöch, in: Kaiser/Kerner/Schöch, Strafvollzug, 4. Aufl. 1992, § 5 Rdn. 18, andererseits O L G Hamm, Neue Ztschr. f. Strafrecht 1988, 525 = Juristische Rundschau 1989, 481 m. Anm. Müller-Dietz. 109 Vgl. Walter aaO (Fn. 107), Rdn. 52.

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wirkung auf den Gefangenen dessen Subjektstatus beeinträchtigt 110 . Zwar liegt auf der Hand, daß eine Instrumentalisierung und Funktionalisierung des Gefangenen und seiner Behandlung auch im Hinblick auf das Vollzugsziel (§ 2 Satz 1 StVollzG) mit Art. 1 Abs. 1 des Grundgesetzes unvereinbar wäre; doch ist damit über die Inpflichtnahme des Gefangenen und deren etwaige Grenzen noch nicht entschieden. Indessen läßt sich dazu wohl so viel sagen 1 1 1 : Schon das StVollzG geht von der Erkenntnis aus, daß der Prozeß sozialer Integration die tätige Mitwirkung des Gefangenen erfordert. Hieraus erklärt sich ja die Motivierungspflicht der Vollzugsbehörde (§4 Abs. 1 StVollzG). Sie entspringt der Einsicht, daß der Gefangene, der nicht schon von sich aus zur Mitarbeit bereit ist, dafür gewonnen werden muß. Dem müssen denn auch die Rahmenbedingungen, wie sie die drei Vollzugsgrundsätze des § 3 StVollzG (Angleichungs-, Gegensteuerungs- und Integrationsgrundsatz) festschreiben, entsprechen. Im Hinblick auf jenes Ziel Zwang oder Druck auszuüben, wäre nicht nur verfassungsrechtlich unzulässig, sondern auch im Blickwinkel sozialisationspraktischer Erfahrungen verfehlt. Kein Gefangener kann gegen seinen Willen (re-)sozialisiert werden 112 . Das hat namentlich Konsequenzen für den Weg, der zum (Re-)Sozialisierungsziel eingeschlagen wird. Insofern ist das Gebot, die Menschenwürde zu respektieren, nicht nur bei der Gestaltung der Lebensbedingungen in der Vollzugsanstalt zu beachten, sondern insgesamt für den Umgang mit Gefangenen maßgebend. „Der Gefangene wird als Subjekt verstanden, das aus eigener Kraft heraus in Anerkennung seiner sozialen Bindungen einschließlich der Verpflichtungen gegenüber dem Opfer - autonom handelt, eben in sozialer Verantwortung." 1 1 3 Dabei darf die zentrale Einsicht nicht außer acht gelassen werden, daß menschenunwürdige

110 Dazu etwa Volckart, Behandlung im Strafvollzug - repressive Maßnahmen mit anderen Namen? In: Bewährungshilfe 32 (1985), S . 2 4 f f . ; Schiiler-Springorum, Zur Fortentwicklung des Behandlungsgedankens im Strafvollzug, in: Schwind/Steinhilper/Böhm (Hrsg.), 10 Jahre Strafvollzugsgesetz. Resozialisierung als einziges Vollzugsziel? 1988, S. 117 ff. Vgl. auch Kunz, Soziales Lernen ohne Zwang. Ein Programm für den Strafvollzug der Zukunft, in: Ztschr. f.d. gesamte Strafrechtswissenschaft 101 (1989), S. 75 ff.; Schüler-Springorum, Kriminalpolitik für Menschen, 1991, S. 201 ff. (Vom Grundwiderspruch der Resozialisierung). 111 Vgl. zu den folgenden Überlegungen vor allem Calliess/Müller-Dietz, Strafvollzugsgesetz. Kurzkommentar, 5. Aufl. 1991, § 2 R d n . 2 0 f f . Vgl. auch Jung, Behandlung als Rechtsbegriff, Mey, Zum Begriff der Behandlung im Strafvollzugsgesetz (aus psychologisch-therapeutischer Sicht), beide in: Ztschr. f. Strafvollzug und Straffälligenhilfe 36 (1987), S. 38 ff., 42 ff. 112 Gerade für den Umgang mit Gefangenen kann das von Krauß (Fn. 81) ins Feld geführte dialogische Prinzip fruchtbar gemacht werden. 1,3 Walter aaO (Fn. 107), Rdn. 52.

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Haftbedingungen und Lebensverhältnisse nicht nur den Subjektstatus der Gefangenen verletzen, sondern auch häufig die Personwürde der Vollzugsbediensteten tangieren, weil sie ihnen zumuten, unter Voraussetzungen zu arbeiten, die ihre eigene Personqualität beeinträchtigen, wenn nicht gar negieren114. Die schon erwähnte Studie Altenhains bildet einen der wenigen strafvollzugsrechtlichen Versuche, anknüpfend an den Normgehalt des Art. 1 Abs. 1 des Grundgesetzes Inhalt und Grenzen des Menschenwürdebegriffs im Hinblick auf Strafgefangene näher zu bestimmen. In diesem Zusammenhang hat Altenhain fünf grundsätzliche Aspekte - unter Rekurs auf typische Fallgestaltungen der Vollzugspraxis - herausgearbeitet115: den Gesichtspunkt der freien und selbstverantwortlichen Existenz, der Wahrung der menschlichen Identität und Integrität, der Gleichheit aller Menschen, der körperlichen Kontingenz des Menschen sowie der Resozialisierung. Die Überlegungen zum Gehalt der Menschenwürde münden - so paradox dies angesichts des Freiheitsentzugs auch klingen mag - in die alte, namentlich von Peter Schneider apostrophierte verfassungsrechtliche Formel116, die in Gestalt des Prinzips „in dubio pro libertate" eine „Vermutung" zugunsten der Freiheit und gegen ihre Beschränkung begründet117.

XII Die Gefährdungspotentiale, denen die Menschenwürde im Strafvollzug ausgesetzt ist, sind hinreichend bekannt118. Eine ganz andere Frage ist es, ob man sie immer und überall im Griff hat. Das beginnt etwa mit der Aufnahme in die Vollzugsanstalt, den Initiationsriten und „Degradierungszeremonien" (Garfinkel), denen ein Gefangener unterworfen ist 114 Zur Einschätzung des Arbeitsplatzes Strafanstalt Dolde, Die Arbeitszufriedenheit des allgemeinen Vollzugsdienstes und Werkdienstes im Langstrafenvollzug - ein Problem für die Vollzugsorganisation, in: Zeitschrift für Strafvollzug und Straffälligenhilfe 39 (1990), S. 350 ff.

1,5

Altenhain aaO (Fn. 5), S. 158 ff.

V. Schneider, In dubio pro libertate (1960), in: Schneider, Recht und Macht, 1970, S. 238 ff.; ders., Im Zweifel für die Freiheit, in: Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft 1988, 294 ff. 116

117 118

Altenhain aaO (Fn.5), S. 161. Vgl. z.B. v. Mangoldt/Klein/Starck,

Das Grundgesetz, Bd. 1, 1985, Art. 1

Abs. 1 Rdn. 46-50; Haberle aaO (Fn.61), §20 Rdn.93ff. (Menschenwürde der Kinder beim Strafvollzug gegen Mütter); Podlech, in: Alternativkommentar zum

GG, 2. Aufl. 1989, Bd. 1 Art. 1 Abs. 1 Rdn. 37; Kunig, in: v. MünchlKunig,

Grund-

gesetzkommentar, Bd. 1, 4. Aufl. 1992, Art. 1, Stichwort Strafvollzug; Kommentar zum Bonner Grundgesetz (Stand: November 1992), Art. 1 Abs. 1 u. 2 Rdn. 58, 66; Jarass/Pieroth, Grundgesetz, 2. Aufl. 1992, Art. 1 Rdn. 23, 30.

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oder wird, wenn nicht durch geeignete Vorkehrungen gegengesteuert wird119. Das setzt sich fort in der Art der Unterbringung, der Überwachung der Außenweltkontakte bis hin zu den Sicherungs- und Disziplinarmaßnahmen. Weil der Vollzug der Freiheitsstrafe - vor allem in geschlossener Form - nach wie vor entgegen seiner Bezeichnung und sanktionsrechtlichen Intention in sämtliche Lebensbereiche des Gefangenen eingreift120, sind denn auch Beeinträchtigungen der Menschenwürde allenthalben denkbar und möglich. Eine Folge der strukturellen und institutionellen Eigentümlichkeiten der Strafanstalt, namentlich des geschlossenen Vollzugs, ist es, daß es in der jahrhundertealten Geschichte der „modernen Freiheitsstrafe" nicht gelungen ist, deren Ubelscharakter auf den zwangsweisen Entzug der Freiheit des Verurteilten zu beschränken. Der - vor allem von Wahlbergul und Freudenthal·12 entwickelte - Gedanke, den Begriff der Freiheitsstrafe beim Wort zu nehmen und das Sanktionsübel im wesentlichen auf die Freiheitsentziehung zu reduzieren, hat sich - ungeachtet aller Bemühungen und Differenzierungsversuche - bis heute weder faktisch noch rechtlich verwirklichen lassen. Tatsächlich tangiert der Vollzug zumindest in geschlossener Form - alle wesentlichen Lebensbereiche: die (zwischen- und mit-)menschliche Kommunikation, die emotionale und psychisch-seelische Entwicklung, die sexuelle Entfaltung, die Gestaltung des Arbeitslebens und Arbeitsertrags sowie der Freizeit, die Möglichkeiten der Information und Meinungsäußerung. Die Strafanstalt bildet nach Funktion, Organisation und Architektonik ein System weitgehender Reglementierung, das primär auf die Gewährleistung von Sicherheit und Ordnung sowie störungsfreier Abläufe zugeschnitten ist123. Auf der einen Seite beruhen ihre Strukturen und Interaktionsprozesse - eben aus jenen Gründen - auf der Maxime grundsätzlichen Mißtrauens. Auf der anderen Seite nimmt die Anstalt im Wege der 119 Vgl. Weis, Staatliches Strafe»: Markierungen, Degradierungen und Rituale auf einer Reise ohne Wiederkehr, in: Festschr. f. Blau zum 70. Geburtstag, 1985, S. 405 ff. (415 ff.). 120 MUller-Dietz (Fn. 53). 121 Wahlberg, Das Recht der arbeitspflichtigen Sträflinge auf einen Antheil an dem Arbeitsertrage, in: Ztschr. f. d. Privat- u. Öffentliche Recht der Gegenwart 11 (1884), S. 349 ff. Vgl. auch Wahlberg, Criminalistische und nationalökonomische Gesichtspunkte mit Rücksicht auf das deutsche Reichsstrafrecht, 1872, S. 128: „Im Lichte der Strafzwecke darf der Staat den Vollzug der Freiheitsstrafe nicht in eine Gesundheits- und Vermögensstrafe ausarten lassen." 122 Freudenthal, Die staatsrechtliche Stellung des Gefangenen, 1910. 123 Anschaulich Strafe: Tor zur Versöhnung? (Fn. 105), S.26ff. Dazu MüllerDietz, Die Denkschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland zum Strafvollzug, in: Zeitschrift für Strafvollzug und Straffälligenhilfe 40 (1991), S. 15 ff.

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Totalversorgung ihren Insassen alle wesentlichen Sorgen und Entscheidungen hinsichtlich des täglichen Lebens ab. Beides läuft, nebenbei gesagt, der verfassungsrechtlich begründeten Zielsetzung zuwider, den Vollzug und den Umgang mit dem Gefangenen in einer Weise zu gestalten, welche die Chancen sozialer Integration erhöht oder verbessert124. Aber unabhängig davon, inwieweit es dem Strafvollzug seiner Natur nach überhaupt gelingen kann, zur gesellschaftlichen Eingliederung Straffälliger beizutragen, bleibt das Phänomen zu konstatieren, daß der Begriff „Freiheitsstnie" bestenfalls eine euphemistische Umschreibung dieser Sanktion und ihrer Vollstreckungswirklichkeit darstellt. Insofern ist die Feststellung, die Tiedemann 1963 getroffen hat, „ein humaner, die Würde der Gefangenen achtender Strafvollzug" sei „dadurch gekennzeichnet, daß die Strafe allein in dem Freiheitsentzug liegt und dieser von allen zusätzlichen Leiden frei sein muß"125, ein normativ wie real uneingelöstes Postulat geblieben. Von diesem Grundsatz ist zwar auch die Begründung zum Regierungsentwurf eines Strafvollzugsgesetzes von 1973 ausgegangen, indem sie es abgelehnt hat, eine „über den Freiheitsentzug hinausgehende^) Belastung des Verurteilten" zu legitimieren126. Doch tut man wohl niemandem mit der Feststellung Unrecht, daß diese idealistische Sicht der Freiheitsstrafe und ihres Vollzuges nur wenig mit der Wirklichkeit einer Einrichtung gemein hat, die durch Mauern und Gitter, heute auch elektronische Sicherheitsvorkehrungen, sowie durch institutionalisiertes Mißtrauen charakterisiert ist127.

XIII Deshalb verdienen drei Aspekte besondere Hervorhebung, weil sie 124 Zum Vollzugsziel BVerfGE 35, 235 f.; Calliess/Müller-Dietz (Fn.lll), Einl. Rdn. 30 ff. 125 Tiedemann aaO (Fn. 29), S. 120 f. An diese Feststellung schließt sich allerdings der Satz an: „Diese heute fast allgemein vertretene Formel ist allerdings insofern ungenau, als sich zumindest tatsächlich (in gewissem Umfang aber auch rechtlich) als notwendige Folge des Freiheitsentzuges eine begleitende Suspendierung oder Einengung weiterer Grundrechte ergibt." (AaO, S. 121) 126 BT-Dr. 7/918, S.45. 127 Ob nicht die Bemerkung Eb. Schmidts: „Ein steingewordener Riesenirrtum ging damit in die Geschichte der Strafrechtspflege ein" (Zuchthäuser und Gefängnisse, 1960, S.5), die bekanntlich auf das 1848 erbaute Zuchthaus Bruchsal gemünzt war, eines Tages - in veränderter Form freilich - als Charakterisierung unserer heutigen, in Beton und Elektronik gegossenen Anstaltsbauten wiederkehren wird? Der Prozeß der Modernisierung nimmt erfahrungsgemäß zunächst einmal im technischen Bereich seinen Anfang; die sehr viel schwierigere inhaltliche (institutionelle) Seite bleibt leicht auf der Strecke.

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spezifische Gefährdungen und Risiken signalisieren 128 : Es geht zum einen um die weitgehende faktische Entmündigung des Gefangenen, deren vorherrschender Ausdruck das Prinzip der Totalversorgung ist, die ihm die Sorge und Verantwortung für das tägliche Leben abnimmt. Demgegenüber folgt aus dem Subjektstatus des Gefangenen das Gebot, ihm Verhaltens- und Entscheidungsspielräume zu eröffnen, die eigenverantwortliches Handeln ermöglichen. Dies gilt unabhängig von der Verpflichtung, nach Kräften auf das (Re-)Sozialisierungsziel hinzuarbeiten, erst recht aber im Hinblick auf diese Vollzugsaufgabe. Ein zweiter Aspekt betrifft die Einordnung des Gefangenen in und seine Unterordnung unter die vielfach kriminelle Subkultur der Anstalt. Die Erfahrung, daß sich die Macht-, Herrschafts- und Verteilungskämpfe der freien Gesellschaft vor allem in großen Vollzugsanstalten unter teilweise extrem verschärften Bedingungen zwangsweisen Zusammenlebens fortsetzen, zeigt nur zu deutlich, daß es oft gerade nicht der unmittelbare staatliche Zugriff, sondern vielmehr dessen ungewollte und teilweise unkontrollierte Folgen sind, welche die Menschenwürde betroffener, namentlich schwächerer Gefangener beeinträchtigen können 129 . Gerade unter diesem verfassungsrechtlichen Vorzeichen hat daher der Vollzug sein Augenmerk auf die Kontrolle subkultureller Tendenzen zu richten ganz abgesehen davon, daß die Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe keineswegs die Pflicht in sich schließt, Körperverletzungen, Vergewaltigungen, Erpressungen, Nötigungen und andere Straftaten hinzunehmen. Lange Zeit fand schließlich die sog. „Drittwirkung des Freiheitsentzugs", von der vor allem Angehörige des Gefangenen betroffen sind, keine hinreichende Beachtung. Erst allmählich wurde die Öffentlichkeit nicht zuletzt dank der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Brief- und Besuchsverkehr (in der Untersuchungshaft 1 3 0 ) - stärker für diese Problematik sensibilisiert 131 . Freilich ist bis heute nicht eindeutig geklärt, was etwa aus der verfassungsrechtlichen Schutzgarantie zugunsten von Ehe und Familie (Art. 6 des Grundgesetzes) für die Beschrän-

128 Auch insoweit kann an verschiedene beachtliche Überlegungen der Denkschrift Strafe: Tor zur Versöhnung? (Fn. 105), S. 109ff., angeknüpft werden.

129 Zur „Subkultur der Gewalt" Schock, in: Kaiser!Kerner/Schock (Fn. 108), §6 Rdn. 155, zur „Gefängnisgesellschaft als Subkultur" Kerner in: Kaiser/Kerner/ Schock (Fn. 108), § 13 Rdn. 72 ff. 130 Z.B. BVerfGE 35, 35 (40); 42, 95 (100), 234 (236f.); BVerfG, Strafverteidiger 1991, 306. 131 Vgl. etwa Busch/Fülbier/F.-W. Meyer, Zur Situation der Frauen von Inhaftierten, 1987; Busch, Kinder inhaftierter Väter, F.-W. Meyer, Trennung durch Inhaftierung als kritisches Lebensereignis. Zur Lage der Frauen von Inhaftierten, Geisler/Jung, Ehe, Partnerschaft und Strafvollzug, alle in: Ztschr. f. Strafvollzug

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kung und Überwachung der Beziehungen zwischen Angehörigen und dem Gefangenen im einzelnen folgt. Erste Schritte in Richtung auf eine stärkere Beachtung der Grundrechte Angehöriger stellen etwa gemeinsame Eheseminare und der sog. ehe- und familienfreundliche Besuchsverkehr im Langzeitvollzug dar 132 . Doch jenseits der Schwierigkeiten, die Folgen des Freiheitsentzugs für nichtbestrafte Personen abzuschwächen, darf hier wiederum nicht übersehen werden, daß viel für die Respektierung des Subjektstatus Dritter davon abhängt, wie Anstalt und Bedienstete mit Außenstehenden umgehen - wie also Außenweltkontakte des Gefangenen (auch von den äußeren Bedingungen her) gestaltet, in welcher Weise Angehörige in die Vollzugsarbeit einbezogen werden, wie man ihrer oft bedrückenden Notlage abzuhelfen sucht. Das Gebot, die Menschenwürde zu achten, ist ein ebenso universales wie unteilbares Prinzip: Es gilt für Täter wie für Opfer; es gilt auch für Angehörige der an Straftaten Beteiligten oder von ihnen Betroffenen.

XIV Das Thema „Menschenwürde" läßt sich nicht ausschöpfen - nicht einmal für den besonderen Bereich des Strafvollzugs. Doch soll zum Schluß der Blick auf eine Fragestellung gerichtet werden, die bisher weder aus der Sicht der Verfassung noch der der Vollzugspraxis als ernsthaftes Problem begriffen wurde: Nur Verfechter abolitionistischer Vorstellungen - wie etwa der norwegische Kriminologe Thomas Mathiesen - , die aber ihrerseits vielfach nicht ernst genommen werden, konnten sich zu der grundsätzlichen Aussage verstehen, daß zwangsweiser Freiheitsentzug schon von seiner Struktur her menschenunwürdige Züge trägt 133 . Die Frage, ob und inwieweit sich die Unterbringung Straffälliger in der sog. und Straffälligenhilfe 38 (1989), S. 131 ff., 138 ff., 143 ff.; F.-W. Meyer, Zwangsgetrennt: Frauen inhaftierter Männer. Zur Lage „vergessener" Mitbetroffener, 1990. Vgl. auch Stöckle-Niklas, Das Gefängnis - eine eingeschlechtliche Institution, 1989, S. 215 ff. 132 Preusker, Erfahrungen mit der „ehe- und familienfreundlichen Besuchsregelung" in der JVA Bruchsal, in: Ztschr. f. Strafvollzug und Straffälligenhilfe 38 (1989), S. 147ff.; Stöckle-Niklas (Fn. 131), S. 231 ff. 133 Mathiesen, Gefängnislogik. Uber alte und neue Rechtfertigungsversuche, 1989, S. 7f. Vgl. ferner Mathiesen, Uberwindet die Mauern! Die skandinavische Gefangenenbewegung als Modell politischer Randgruppenarbeit (1979), 1993; ders., Die lautlose Disziplinierung, 1985. Abolitionistische Konzepte ferner bei Ortner (Hrsg.), Freiheit statt Strafe. Plädoyer für die Abschaffung der Gefängnisse, 1981; Papendorf, Gesellschaft ohne Gitter. Eine Absage an die traditionelle Kriminalpolitik, 1985; Schumann/Steinert/Voß (Hrsg.), Vom Ende des Strafvollzugs. Ein Leitfaden für Abolitionisten, 1988.

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„totalen Institution" Strafanstalt mit der Menschenwürde verträgt, ist ja längst vom Bundesverfassungsgericht - und zwar selbst für die lebenslange Freiheitsstrafe - positiv beantwortet worden. Dabei hat es freilich vorausgesetzt, daß nicht nur die N o r m e n des Grundgesetzes, sondern auch

die

Vorgaben

des

Strafvollzugsgesetzes

strikt

eingehalten

werden 1 3 4 . Hier kann und soll nun das rechtsmethodologische und rechtstheoretische Problem nicht diskutiert werden, wie groß die Diskrepanz zwischen rechtlicher Regelung und Rechtswirklichkeit sein darf und wie klein sie sein muß, um noch von einer menschenwürdigen Ausgestaltung des Vollzugs sprechen zu können 1 3 5 . D o c h beeinflußt nicht zuletzt das zivilisatorische und kulturelle Niveau und Selbstverständnis einer Gesellschaft das Verständnis dessen, was tragbar ist, hingenommen und - auch als menschenwürdig - akzeptiert wird: „Der Wandel der Strafsensibilität verschiebt O p f e r - und Belastungsgrenzen. Was im 18. J a h r hundert als vorzugswürdig gegenüber der Todesstrafe angesehen wurde, nämlich

der Freiheitsentzug,

erweist sich heute

seinerseits

als eine

archaische und überholte Strafform, deren begrenzte Fortexistenz nur noch mühsam toleriert werden kann." 1 3 6 In den „Arnoldshainer Thesen zur Abschaffung der Freiheitsstrafe", die anläßlich des Kriminalpolitischen Forums der Evangelischen Akademie Arnoldshain am 26. und 27. Mai 1989 vorgestellt worden sind, wird das abolitionistische Konzept - auch - mit Art. 1 Abs. 1 des Grundgesetzes begründet. Es heißt dort u . a . : „Die Würde des Menschen wird jedenfalls im geschlossenen Vollzug -

durch die Freiheitsstrafe tan-

giert." 1 3 7 Aus den Maßstäben, die das Bundesverfassungsgericht an die lebenslange Freiheitsstrafe angelegt hat 1 3 8 , ziehen die Thesen den allge13,1 BVerfGE 45, 187. Ungeachtet vielfältiger Bedenken in der Literatur: Laubenthal, Lebenslange Freiheitsstrafe. Vollzug und Aussetzung des Strafrestes zur Bewährung, 1987, S. 271 ff.; Weèer/Projektgruppe Fulda (Hrsg.), Lebenslang - wie lang? Argumente zur Abschaffung der lebenslangen Freiheitsstrafe, 1987; Weber/Scbeerer (Hrsg.), Leben ohne Lebenslänglich. Gegen die lebenslange Freiheitsstrafe, 1988; Pilgram, ... endet mit dem Tode. Die lebenslange Strafe in Osterreich, 1989; Komitee für Grundrechte und Demokratie (Hrsg.), Wider die lebenslange Freiheitsstrafe. Erfahrungen, Analysen, Konsequenzen aus menschenrechtlicher Sicht, 1990. 135 Allgemein für das Verfassungsrecht Hennis, Verfassung und Verfassungswirklichkeit. Ein deutsches Problem, 1968; Simon, Die Diskrepanz zwischen Verfassungsauftrag und Verfassungswirklichkeit, in: Pfeiffer (Hrsg.), Auftrag Grundgesetz. Wirklichkeit und Perspektiven, 1989, S. 64 ff. 136 Jung aaO (Fn. 55), S. 228. 137 Arnoldshainer Thesen zur Abschaffung der Freiheitsstrafe. Vorschläge der Arbeitsgruppe „Alternativen zur Freiheitsstrafe", 1989, S. 20. 138 BVerfGE 45, 187 (228).

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meinen Schluß, daß „viele Elemente des derzeitigen Vollzuges von Freiheitsentzug eine Verletzung der Menschenwürde darstellen" 1 3 9 . Diese Auffassung muß man nicht teilen, um zu einer selbstkritischen Uberprüfung überkommener Positionen zu gelangen und die Geschichtlichkeit und Wandelbarkeit unserer Vorstellungen in Rechnung zu stellen. U m nur ein Beispiel für den einschneidenden historischen Wandel, dem wir gelegentlich unterliegen, zu nennen: Niemand konnte sich vor 1989 so recht vorstellen, daß es zu unseren Lebzeiten zu einer deutschen Wiedervereinigung kommen würde. Manche haben sie sogar für einen noch längeren Zeitraum ausgeschlossen. Wir sind heute von der Notwendigkeit und Unersetzlichkeit der Freiheitsstrafe überzeugt. D e r Gedanke, daß sie eines Tages obsolet sein könnte - etwa weil sie gesellschaftlich nicht mehr akzeptiert wird übersteigt unser Vorstellungsvermögen 1 4 0 . Dabei wissen wir längst, was von unseren Zukunftsprognosen und -projektionen zu halten ist - oder sollten es auf Grund von Erfahrungen wenigstens wissen.

Arnoldshainer Thesen (Fn. 137), S.20. Darauf verweist auch S. Bernhardt in ihrem einführenden Statement zu den Arnoldshainer Thesen (Fn. 137), S. 8. 139

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