Max Weber als Rechtssoziologe [1 ed.]
 9783428462957, 9783428062959

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Schriftenreihe zur Rechtssoziologie und Rechtstatsachenforschung

Band 63

Max Weber als Rechtssoziologe Herausgegeben von

Manfred Rehbinder und Klaus-Peter Tieck

Duncker & Humblot · Berlin

Max Weber als Rechtssoziologe

Schriftenreihe zur Rechtssoziologie und Rechtstatsachenforschung Begründet von Prof. Dr. Dr. h. c. Ernst E. Hirsch Herausgegeben von Prof. Dr. Manfred Rehbinder

Band 63

Max Weber als Rechtssoziologe

Herausgegeben von

Manfred Rehbinder und Klaus-Peter Tieck

DUNCKER & HUMBLOT/BERLIN

CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Max Weber als Rechtssoziologe / hrsg. von Manfred Rehbinder u. Klaus-Peter Tieck. Berlin: Duncker u. Humblot, 1987. (Schriften reihe zur Rechtssoziologie und Rechtstatsachenforschung; Bd. 63) ISBN 3-428-06295-7 NE: Rehbinder, Manfred [Hrsg.]; GT

Alle Rechte vorbehalten © 1987 Duncker & Humblot GmbH, Berlin 41 Satz: Werksatz Marschall, Berlin 45 Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin 61 Printed in Germany ISBN 3-428-06295-7

INHALT Vorwort der Herausgeber .............................................. 7 Julien Freund: Die Rationalisierung des Rechts nach Max Weber

...................... 9

Pietro Rossi: Die Rationalisierung des Rechts und ihre Beziehung zur Wirtschaft ....... 37 Alberto Febbrajo: Kapitalismus, moderner Staat und rational-formales Recht

.............. 55

Klaus-Peter Tieck: Persönlichkeit, Ordnungen, Interessen. Die Rechtssoziologie im Werk Max Webers ...................................................... 79 Norberto Bobbio: Max Weber und Hans Kelsen ...................................... 109 Manfred Rehbinder: Max Weber und die Rechtswissenschaft ............................. 127 Pierangelo Schiera: Max Weber und die deutsche Rechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts .. 151 Fritz Loos: Max Webers Wissenschaftslehre und die Rechtswissenschaft ........... 169 Anhang: Sekundärliteratur zu Max Webers Rechtssoziologie

................... 185

VORWORT DER HERAUSGEBER

Die weltweit zu beobachtende Zunahme der Beschäftigung mit dem Werk Max Webers hat in jüngster Zeit auch die Rechtssoziologie ergriffen, jenen Teil seines Werkes, der bisher am meisten vernachlässigt wurde. Während dabei der Dialog zwischen dem deutschsprachigen Raum und Amerika recht gut vonstatten geht (siehe den Sammelband St. Breuer/H. Treiber: Zur Rechtssoziologie Max Webers, 1984), ist er - wohl aus sprachlichen Gründen - mit dem übrigen Europa kaum versucht worden. Insbesondere die italienischen Arbeiten über Webers Rechtssoziologie, die Anfang der 80er Jahre als Ergebnisse eines Kongresses in Castelgandolfo veröffentlicht wurden, haben daher den Weg in den deutschen Sprachbereich noch nicht gefunden. Das wurde während eines zweisprachigen Symposiums über "Max Weber und die Sozialwissenschaften seiner Zeit" deutlich, das die sozialwissenschaftliche Fakultät der Universität Trient im WS 1985/86 veranstaltete, die sich den deutsch-italienischen Dialog zur besonderen Aufgabe gemacht hat. Während dieses Symposiums, das eine Fortsetzung in der Weber-Tagung der Deutschen Gesellschaft für Soziologie im Juni 1986 in Kassel fand, faßten die Herausgeber den Entschluß, die italienischen Arbeiten zur Rechtssoziologie Max Webers mit deutschen Arbeiten in einem deutschsprachigen Sammelband zu konfrontieren. Im Verlaufe der Arbeiten an diesem Band waren sie allerdings selbst davon überrascht, wie wenig sich die jeweiligen Studien überschneiden. Fast jeder der Beitragsverfasser hält etwas anderes an der Rechtssoziologie Webers für interessant und wichtig. Den Anfang des Bandes macht eine Arbeit von Julien Freund (Straßburg) aus dem Jahre 1978 (Archives de philosophie du droit), die das für die meisten der hier vertretenen Autoren zentrale Thema der Rationalisierung des Rechts erstmals umfassend behandelte. Für die Hilfe bei deren Übersetzung danken wir Frau Karin Krieg vom italienisch-deutschen historischen Institut in Trient. Die Arbeiten von Pietro Rossi (Turin), Alberto Febbrajo (Macerata), Norberto Bobbio (Turin) und Pierangelo Schiera (Trient) stammen aus der Tagung in Castelgandolfo und wurden in Sociologia dei diritto VIII (1981), ferner gesondert als Sammelband von Renato Treves veröffentlicht. Die Übersetzung des Beitrages von Rossi ist für einen Sammelband über Weber erstellt worden, den Wolfgang Schluchter im Verlag Suhrkamp herausgibt. A. Febbrajo hat seinen Beitrag stark überarbeitet, und die neue Fassung wurde von Peter Litturi (Bozen) übersetzt. Die deutsche Fassung der Beiträge von P. Schiera und N. Bobbio stammen von

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Vorwort der Herausgeber

den Herausgebern. Während der Beitrag von Klaus-Peter Tieck (Trient) speziell für diesen Band geschrieben wurde, wurde eine frühere Fassung des Beitrages von M. Rehbinder (Zürich/Freiburg i. Br.) bereits in der Gedächtnisschrift für Ernst E. Hirsch (Prof. Dr. Ernst E. Hirsch'in Hatirasina Armag an, Ankara 1986, S. 409-438) veröffentlicht. Die Arbeit von Fritz Loos (Göttingen) schließlich ist - als Einführung in Webers Wert- und Rechtslehre gedacht - schon in JuS 1982, S. 87-93 erschienen. Die zeitliche Reihenfolge der Arbeiten mag wegen der Priorität gewisser Gedankengänge von Bedeutung sein, doch wird aus der Zusammenfügung dieser Autoren in einem Bande wohl auch deutlich, daß viele der hier geäußerten Ansichten geradezu in der Luft liegen. Am Ende des Bandes haben wir eine Liste mit weiterer Literatur zu Webers Rechtssoziologie beigefügt. Zürich/Trient, im März 1987 Manfred Rehbinder und Klaus-Peter Tieck

DIE RATIONALISIERUNG DES RECHTS NACH MAX WEBER Von Julien Freund I.

Bevor ich zum eigentlichen Thema komme, halte ich es für notwendig, den allgemeinen Begriff der Rationalisierung im Werke Webers genauer zu definieren. Es handelt sich dabei um ein Thema, das im Mittelpunkt seiner gesamten Soziologie steht und auf das er in seiner Religionssoziologie ausführlicher eingegangen ist. 1. Obgleich sie durch das Aufkommen der experimentellen und mathematischen Wissenschaften unmittelbar nach der Renaissance ein beträchtliches Ausmaß annahm, ist die Rationalisierung nicht als eine nur der Neuzeit eigentümliche Erscheinung zu betrachten. Die Rationalisierung ist eng mit der Gesamtentwicklung der Kulturvölker verbunden und schritt mit ihrer zunehmenden Fähigkeit einher, die Technik oder gewisse technische Verfahren zu handhaben oder besser zu beherrschen. Ein typisches Beispiel hierfür ist die Magie, die im allgemeinen als irrationales Verfahren betrachtet wird. Weber bemerkt dazu: "Man hat z. B. die Magie ebenso systematisch ,rationalisiert' wie die Physik. Die erste ihrer eigenen Absicht nach ,rationelle' Therapie bedeutet fast überall ein Verschmähen des Kurierens der empirischen Symptome mit rein empirisch erprobten Kräutern und Tränken zugunsten der Austreibung der (vermeintlich) ,eigentlichen' (magischen, dämonischen) ,Ursache' der Erkrankung. Sie hatte also formal ganz die gleiche rationale Struktur wie manche der wichtigsten Fortschritte der modernen Therapie"!. Dieser Text bedarf einiger Erklärung, da er paradox erscheinen mag. Vor allem möchte Weber damit sagen, daß die Magie eine rationellere Technik als verschiedene vorhergehende Verfahren gewesen war: sie war das Ergebnis einer Reflexion, die versuchte, abstrakt kohärenter als jene vorher blindlings und zusammenhanglos an gewandten Rezepte zu sein. Die Magie gehorcht einem Prinzip, das umfassender ist, weil es gegenüber der tastenden Erprobung der Kräuter abstrakt ist. Mit anderen Worten ergibt sich eine fortschreitende Rationalisierung jedes Mal, wenn der Mensch Verfahren 1 M. Weber; Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, 4. Aufl., Tübingen 1973.

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anwendet, für die er ein größeres methodisches Vorgehen benötigt. Rationalisierung bezeichnet also nicht einen endlich entdeckten Zustand der Rationalität, sondern einen endlosen Prozeß der Anwendung von Verfahren, die systematischer und adäquater sind als die bisher erprobten. Die Magie hat sich im übrigen dank der Wirkung, die man zum Beispiel den Sakramenten zuschreibt, bis auf den heutigen Tag erhalten. Dies führt zu einem zweiten. Die Unterscheidung Webers zwischen zweckrationaler Handlung (die zur Erreichung eines Zieles die geeigneten Mittel anwendet) und wertrationaler Handlung (die im Namen einer Überzeugung vollzogen wird) ist uns bekannt. Weber bemerkt, daß ein an magischen Vorstellungen orientiertes Handeln oft zweckrationaleren Charakter haben kann als ein nicht magisches, sogenanntes positives Sichverhalten 2• Das wird zum Beispiel an der Tatsache deutlich, daß "der Wilde von den ökonomischen und sozialen Bedingungen seiner eigenen Existenz unendlich viel mehr weiß, als der im üblichen Sinn ,Zivilisierte'''3. Wer kennt z. B. heute den komplizierten Mechanismus des Justizapparates? Der Wilde hingegen wußte, wie man entschied und wer letztlich innerhalb des Rechtswesens die Entscheidung traf. 2. Obgleich man bei fast allen Kulturen elementare Rationalisierungsprozesse antrifft, zeichnet sich die abendländische Kultur durch die Tatsache aus, daß sie den technischen Rationalisierungsprozessen Vorrang einräumt und diese Verfahrensweise in allen Sphären, sowohl in der Wirtschaft als auch im sittlichen Bereich, in der Kunst und in der Wissenschaft, gleichzeitig betrieb. Es handelt sich um das, was Weber als wachsende Rationalisierung unseres Lebens bezeichnet, die sogar zu einer Überrationalisierung und Intellektualisierung unserer Existenz führt. Ein Beispiel, das nicht von Weber stammt, aber seiner Denkart sehr verwandt ist, kann uns vielleicht besser verdeutlichen, was er unter intellektueller Rationalisierung versteht: die Ökologie ist eine intellektuelle Spielart des Naturverständnisses und des Naturschutzes. Diese Disziplin hat jedoch nur in einer überrationalisierten, von der Natur abgeschnittenen und sich nach ihr sehnenden Welt, wie es die unsere ist, überhaupt Sinn. Die Ökologie ist die Konsequenz einer Rationalisierung, die sich intellektuell gegen sich selbst wendet. Es handelt sich dabei um eine für die abendländische Welt typische Rationalisierung, und darin besteht eben ihre Originalität; denn keine andere Kultur hat die Rationalisierung bis zu dieser äußersten Grenze getrieben, es sei denn im Bemühen, Europa nachzuahmen. Europa hat den modernen rationalen Staat mit seiner Bürokratie, die rationale Wirtschaft des liberalen oder sozialistischen Kapitalismus, das rationale Recht, die rationale Wissenschaft oder die rationale Musik hervorgebracht. Es sei bereits jetzt erwähnt, daß die Rationalisierung des Rechts in Europa im Rahmen einer fortschreitenden Rationalisierung aller Sphären des menschlichen Handeins stattfand. 2

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Ebd., S. 433. Ebdr, S. 473.

Die Rationalisierung des Rechts nach Max Weber

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3. Weber weigert sich, ein endgültiges ideologisches oder sittliches Werturteil über diese wachsende Rationalisierung zu fällen. Er gibt zu, daß man sie aus denselben guten Gründen, die man zu ihrer Verherrlichung vorbringen mag, ablehnen kann. Er gibt zu, daß man zum Beispiel das romantische, aber harte Leben, das die Indianer einst in der Gegend des Salt Lake führten, allen rationellen und technischen Neuerungen, die die Mormonen dort seit dem letzten Jahrhundert eingeführt haben, vorziehen mag. Jeder kann, seinem Geschmack und seinen Zielen gemäß, auf seine Weise die fortschrei tende Rationalisierung des modernen Lebens verdammen oder preisen. Was ihn als Soziologen interessierte, war zum einen die positive Analyse der wachsenden Rationalisierung, die alle Sphären des menschlichen Handeins erfaßt, wobei das Gewicht besonders auf die Zusammenhänge zwischen den einzelnen Tätigkeiten gelegt wurde, und zum anderen das Verständnis der Wirkungen und Folgen dieser allgemeinen Rationalisierung im Verhalten der Menschen. Diese Entwicklung hat ihren Preis gefordert, denn eine der Folgen, die Weber ganz besonders hervorgehoben hat, ist die allgemeine Entzauberung, die heute die abendländische Welt kennzeichnet. Die Rationalisierung hat einen traditionellen Lebensstil zerstört, der meistens auf der religiösen Einheit gründete, die die gemeinsamen Werte einer Kollektivität definierte. Die wachsende Rationalisierung hat den Antagonismus der Werte heraufbeschworen, der die modernen Menschen zeitweilig zu verbissenen Verteidigern entgegengesetzter oder sogar widersprüchlicher Werte macht. Letzten Endes kommt es sogar soweit, daß sie an überhaupt keine Werte mehr glauben. Aus ihren Seelen ist aller Zauber und alle Schönheit, die ihnen einst innewohnten, verschwunden. Die besondere Theorie Webers hinsichtlich der Rationalisierung des Rechts ist daher im Lichte dieser allgemeinen Betrachtungen über die Rationalisierung zu verstehen. Gemäß seiner Methode, die er auch auf andere Bereiche anwandte, wie z. B. die kapitalistische Wirtschaft, die er sowohl unter dem Gesichtspunkt ihrer inneren Dynamik (Kapitalanhäufung, Trennung von Haushalts- und Betriebsbudget) als auch der äußeren Einflüsse (Puritanismus oder Erfindung der doppelten Buchführung) untersuchte, werden wir seine Auffassung von der Rationalisierung des Rechts darstellen, wobei wir aus rein methodologischen Gründen den inneren vom äußeren Aspekt dieser Entwicklung trennen werden. Damit werden die Ansichten Webers keineswegs eigenwillig wiedergegeben, vielmehr wird die Vorstellung nachvollzogen, die er sich selbst über die Rationalisierung des Rechts macht. Es erscheint mir unumgänglich, eine Bemerkung, die die Texte Webers selbst betrifft, voranzustellen. Im Jahre 1960 promovierte Jacques Grosclaude unter der Leitung von Michel Viley mit einer Dissertation über die "Rechtssoziologie Max Webers". Diese Arbeit bestand aus einer inhaltsrei-

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chen Einführung und einer Übersetzung der Rechtssoziologie, wie man sie in der laufenden Auflage von Wirtschaft und Gesellschaft findet, eine, wie man weiß, unvollendete Arbeit, die aus dem Nachlaß herausgegeben wurde. Im gleichen Jahr, also 1960, erschien der endgültige, bisher unveröffentlichte Text dieser Rechtssoziologie, den Weber einem seiner Schüler anvertraut hatte 4 • Zwischen diesem Text und dem, der im Rahmen von Wirtschaft und Gesellschaft erschien, gab es einige bemerkenswerte Unterschiede, die jedoch das allgemeine Gedankengut nicht verändern. Bei meiner Trennung des äußeren vom inneren Aspekt der Rationalisierung des Rechts beziehe ich mich auf den 1960 veröffentlichten Text, insbesondere auf einen in Wirtschaft und Gesellschaft nicht vorkommenden Absatz, den Grosclaude zu jener Zeit nicht kennen konnte. Ich selbst habe ihn erst einige Monate nach seiner Promotion entdeckt. Nachstehend gebe ich den Text der neuen Ausgabe wieder, den ich meiner Studie voranstelle: "Uns gehen hier speziell die Wege und Schicksale der Rationalisierung des Rechts, der Entwicklung seiner heutigen spezifisch ,juristischen' Qualitäten also, an. Wir werden sehen, daß ein Recht in verschiedener Art, und keineswegs notwendig in der Richtung der Entfaltung seiner ,juristischen' Qualitäten, rationalisiert werden kann. Die Richtung, in welcher diese formalen Qualitäten sich entwickeln, ist aber bedingt direkt durch sozusagen ,innerjuristische' Verhältnisse: die Eigenart der Personenkreise, welche auf die Art der Rechtsgestaltung berufsmäßig Einfluß zu nehmen in der Lage sind, und erst indirekt durch die allgemeinen ökonomischen und sozialen Bedingungen S", d. h. durch die äußeren Bedingungen.

11. Die innere Rationalisierung des Rechts war im Großen und Ganzen das Werk von Berufsjuristen, vornehmlich seit der Rezeption des römischen Rechts in England, wo der Juristenstand der Verbreitung des römischen Rechts leider Hindernisse in den Weg setzte. Diese Rationalisierungsarbeit wurde teils im Einvernehmen, teils im Widerstreit zur jeweiligen politischen, geistlichen oder weltlichen Macht durchgeführt. Weber hat seinen Gedanken über diesen Punkt in folgendem Abschnitt seines Werkes Politik als Beruf zusammengefaßt: .Das hat nur die Übernahme der antik römischen Jurisprudenz, des Produkts eines aus dem Stadtstaat zur Weltherrschaft aufsteigenden politischen Gebildes ganz einzigartigen Charakters, durch die M. Weber, Rechtssoziologie, Neuwied 1960. Rechtssoziologie, S. 196. Es ist offenkundig, daß die Arbeit von GroscJaude nichts von ihrem Wert eingebüßt hat, geht man davon aus, daß der Text der Rechtssoziologie damals nur einigen Eingeweihten bekannt war, zu denen ich auch nicht gehörte. 4

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italienischen Juristen zuwege gebracht: der ,Usus modernus' der spätmittelalterlichen Pandektisten und Kanonisten, und die aus juristischem und christlichem Denken geborenen und später säkularisierten Naturrechtstheorien. Im italienischen Podestat, in den französischen Königsjuristen, welche die formellen Mittel zur Untergrabung der Herrschaft der Seigneurs durch die Königsrnacht schufen, in den Kanonisten und naturrechtlich denkenden Theologen des Konziliarismus, in den Hof juristen und gelehrten Richtern der kontinentalen Fürsten, in den niederländischen Naturrechtslehrern und den Monarchomachen, in den englischen Kron- und den Parlamentsjuristen, in der Noblesse de Robe der französischen Parlamente, endlich in den Advokaten der Revolutionszeit hat dieser juristische Rationalismus seine großen Repräsentanten gehabt. Ohne ihn ist das Entstehen des absoluten Staates so wenig denkbar wie die Revolution"6. Es wäre zu langwierig, die Beiträge dieser verschiedenen Institutionen, Schulen und Theorien nacheinander zu untersuchen. Es erscheint mir angebrachter, die ursprünglichen Hauptkapitel dieses Rationalisierungswerkes zu erörtern. Fest steht, daß die Rationalisierung des Rechts Ergebnis eines eher diskontinuierlichen Prozesses war, der mit Unterbrechungen, Verzögerungen und Rückschlägen in den verschiedenen Bereichen des Rechtsdenkens fortschritt. Selbst für seine Befürworter stellt das Rechtsdenken nicht immer ein durchgehend bewußtes Unternehmen dar, bei dem die Rationalisierung als ein nahes oder fernes Ziel angestrebt wurde. Diese ziemlich unterschiedlichen Bestrebungen, dem Recht mehr innere Kohärenz und Logik zu verleihen, war ein gemeinsames Werk aufeinanderfolgender Generationen von Berufsjuristen. Mit anderen Worten: die Kohärenz und die rationale Logik waren nicht das Ergebnis eines zusammenhängenden oder ordnungsgemäß durchgeführten Projekts. Die Rationalisierung hat je nach Land und Epoche eine verschiedene Entwicklung durchlaufen, so daß man nicht von einem beständig und gleichmäßig fortschreitenden Prozeß sprechen kann.

1. Die Rationalisierung des Rechts als das Werk von Rechtspraktikern und Rechtstheoretikern Laut Weber kann man zu den Praktikern die italienischen Notare zählen, aber wir wollen hier auf eine Aufzählung verzichten und anhand der Beispiele des römischen Rechtskonsulenten und des englischen Anwalts die 6 Weber: Politik als Beruf, in Gesammelte politische Schriften, hg. von Winckelmann, 3. Auf!. Tübingen 1971, S. 523. Es versteht sich von selbst, daß folgende Darstellung alle Texte und Schriften Webers heranzieht, die mittelbar oder unmittelbar die Rationalisierung des Rechts betreffen. Sie beschränkt sich nicht allein auf die Hinweise in der Rechtssoziologie.

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unterschiedliche Entwicklung der Rationalisierung in der Rechtspraxis untersuchen. Es soll hier keineswegs, nicht einmal in kurzen Zügen, die Geschichte der römischen Rechtsinstitutionen dargestellt werden. Weber weist auf zwei wesentliche Umstände hin. Der erste besteht in der Notwendigkeit, eine Klage durch korrekte juristische Begriffe und nicht durch die Worte der Alltagssprache zu definieren. Falls eine der Parteien eine juristisch falsche oder ungeschickte Formel gebrauchte, kam es vor, daß sie den Prozeß verlor. Daraufhin entwickelte sich eine präzise juristische Sprache mit weitgehendst strenger Abgrenzung und Fixierung der Begriffe, wobei, wie Jhering bemerkte, der analytische Charakter des römischen Rechts betont wurde. Der zweite Umstand ergibt sich aus dem ersten. Er betrifft das Auftreten von Rechtsspezialisten, die diese Rechtssprache beherrschen. Es handelt sich um die Rechtskonsulenten, die weder Richter noch Anwälte, sondern Rechtsexperten sind und zu deren Konsultierung man gemäß dem Edikt von Augustus, das die obligatorischen lesponsa einführte, verpflichtet war. Im Gegensatz zur Rechtsentwicklung in anderen Ländern entzog sich das römische Recht bald dem Einfluß der Religion. Es entstand eine Kategorie berufsmäßiger Juristen, deren Schüler (auditores) sich mehr in der Rechtssprache als in der Rechtspraxis übten. Es gab auch Schulen, in denen Kontroversen simuliert oder fiktive Prozesse durchgeführt wurden. Wir stehen hier vor einer Rationalisierung des Rechts durch Formalisierung von Rechtsbegriffen und Ausarbeitung abstrakter theoretischer, die Rechtspraxis beherrschender Kenntnisse. Wichtig war, verschiedene konkrete Sachverhalte in einem einzigen Begriff zusammenfassen zu können. In der Folge verstärkte sich die Rationalisierung dank der Institutionen des Gaius und später dank jener Arbeiten, die zu den Digesten und den Pandekten führten. Es vollzog sich eine Art Systematisierung des Rechts durch Aufstellungen, Kompendien und Sammlungen, die durch die Entwicklung der byzantinischen Bürokratie noch zusätzlich beschleunigt wurde. In England, wo die systematische Rationalisierung des Rechts durch die Bürokratie verzögert wurde, war das Problem anders gelagert7. Es muß betont werden, daß sich in diesem Land ebenfalls Kategorien von berufsmäßigen und spezialisierten Juristen bildeten, die sich sogar zu Korporationen, den Inns 01 COUlt, zusammenschlossen, in denen Anwärter auf diese Laufbahn eine praktische Ausbildung in eigens dafür geschaffenen Schulen absolvieren konnten. Im Gegensatz zum römischen Rechtskonsulenten hielt sich der englische Jurist nicht an durch Subsumtion und Abstraktion gebildete Begriffe, sondern an das Vorgehen einer empirischen Kasuistik, die Fall um Fall und demzufolge Lösung um Lösung und dabei jedes Wort auf alle seine möglichen Bedeutungen hin untersucht. Ihr Ziel ist die Aufstellung 7

Rechtssoziologie, S. 215.

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praktischer Regeln, ohne dabei eine logische Systematik des Ganzen anzustreben. Die Rationalisierung scheint daher im englischen Recht eher ein gleitendes Phänomen darzustellen, sie ist jedoch nicht vollständig aus ihm wegzuleugnen. Einer der Aspekte der Rationalisierung des Rechts betrifft die Umwandlung der juristischen Tätigkeit in eine spezifische und spezialisierte Tätigkeit, die sich nicht nur von der kirchlichen Hegemonie befreit, sondern auch auf den alten Brauch des Fürsprechers verzichtet. Ein weiterer Aspekt besteht in der Entwicklung einer Tradition dieser spezifischen Tätigkeit, die zur Stabilisierung des Rechtsdenkens beiträgt. Was diese beiden Punkte betrifft, war das Werk der englischen Juristen ausschlaggebend. Dazu kommt noch, daß sie weitgehend zur Ausbildung des Prozeßverfahrens beigetragen haben, manchmal aufgrund von Neuerungen wie der "Änderung" (amendement), d. h. der Möglichkeit, im Verlaufe eines Prozesses begangene Fehler zu berichtigen. Im Großen und Ganzen gesehen trifft es zu, daß die englischen Rechtspraktiker durch die Rationalisierung des Rechts keineswegs die Schaffung von logisch kohärenten und festen Rechtsbegriffen einleiteten. Andererseits übten sie jedoch einen nachhaltigen Einfluß auf alle Zusammenhänge des Prozeßverfahrens aus. Sie erstrebten weniger eine Systematik des Rechtsdenkens als die Schaffung von "praktisch brauchbaren, an typisch wiederkehrenden Einzelbedürfnissen der Rechtsinteressenten orientierten Schemata von Kontrakten und Klagen"8. In zweiter Linie war es der Einfluß der Rechtstheoretiker, insbesondere der Universitätsjuristen, die seit dem Ausgang des Mittelalters mehr als andere zur Rationalisierung des Rechts im Sinne einer logischen inneren Ordnung beigetragen haben. Da Weber ausführlich auf die Rolle der Universitätslehrer als Theoretiker verweist, wollen wir hier kurz auf ihr Werk eingehen. Dabei soll vorausgeschickt werden, daß das Interesse Webers gleichfalls dem Einfluß der Universitätsprofessoren in anderen Bereichen, wie der Physik oder der Wirtschaft, galt, so daß seiner Meinung nach die Universitätsjuristen sich in das Gesamtbild der Rationalisierung der menschlichen Handlungsbereiche einfügen. Heutzutage haben die Universitätslehrer praktisch das Ausbildungsmonopol für die zukünftigen Juristen übernommen, oft zum Schaden der Kautelarjurisprudenz. Sie bemühten sich sowohl um die Rationalisierung der Rechtsbegriffe wie auch um die Rechtsverfahren und sie schufen systematische Kategorien, die manchmal der Realität der Institutionen keine Rechnung tragen. Sie haben das Recht formalisiert, manchmal aus reiner Lust am Formalisieren. Man wirft ihnen auch vor, daß der Charakter ihrer logischen Rationalisierung des Rechts von den Alltagsbedürfnissen weit entfernt sei9 • Die Rationalisierung wird somit zum Selbstzweck, eine Gefangene ihrer eigenen Logik und bezieht sich nicht mehr auf 8

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Ebd., S. 199. Ebd., S. 258.

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Sachverhalte, zu deren Regelung das Recht prinzipiell berufen ist. Mit anderen Worten, die Universitätslehrer verbeißen sich in die Ausarbeitung einer logischen Kohärenz der Gesetzesinterpretation und lassen dabei die materielle Komplexität der Rechtspraxis außer Acht. Auf diese Weise entstand das Juristenrecht, das eher ein Objekt von Spekulationen literarischen und intellektuellen Charakters und unabhängig von den alltäglichen Bedürfnissen ist. Diese sich selbst genügende Rationalisierung des Rechts ist jedoch insofern von Bedeutung, als sie den Juristen zwingt, sich auf sein Objekt zu konzentrieren und verwickelte Rechtsfragen so verständlich wie möglich darzustellen.

2. Der Übergang von der mündlichen Ausdrucksform des "Rechtsprechers zur Verbreitung der Schrift H

Auf den ersten Blick könnte man meinen, daß Weber dieses Kapitel nur flüchtig gestreift hat, obwohl er in ihm einen der wesentlichen Faktoren der Rationalisierung sah. Man muß in diesem Zusammenhang jedoch die langen Betrachtungen dazu in seiner Religionssoziologie mit heranziehen. Es handelt sich also um ein Problem, das er im Rahmen seines Gesamtwerkes und nicht nur in seiner Rechtssoziologie ausgiebig behandelt hat. Zu allererst weist Weber darauf hin, daß die Schriftlichkeit der charismatischen und irrationalen Rechtsauslegung jede Lücke verstellt hat. .Rechtspropheten" hatten nämlich ihre Lösung für ein .Orakel" ausgegeben, ohne dabei im allgemeinen die Präzedenzfälle zu beachten. Die schriftliche Abfassung hat es hingegen ermöglicht, die Präzedenzfälle festzuhalten und zur Geltung zu bringen, Protokolle zu erstellen und vor allem den Beweis mittels Zeugenaussage heranzuziehen. Weber nimmt zugleich einen weiteren Aspekt etwas genauer unter die Lupe, der für die langsame und umständliche Rationalisierung von wesentlicher Bedeutung war: die Zusammenstellung von Kodifikationen. Kodifikationen stehen als Sammlungen unmittelbar am Ursprung der Rechtssystematisierung. Sie haben jedoch auch zu Kommentaren und manchmal zur Schaffung neuer Rechtsformen wie des französischen Code civil Anlaß gegeben. Die Kodifikation ist ein sehr altes Phänomen, wenn man das Gesetz Hammurabis und gewisse Hinduregister, aber auch die Zehn Gebote, das Zwölf-Tafel-Gesetz und später die Pandekten als solche anspricht. Diese Kodifikationen sind entweder eine stimmige Neuordnung einer vorangegangenen Gesetzgebung - worin religiöse Elemente sich oft mit rein juristischen vermischen -, oder sie sind im Gefolge gesellschaftlicher Konflikte erstellt worden. Sie versuchten dann auf der Grundlage eines Konsenses, den sie aushandelten und festschrieben, anderen Konflikten vorzubeugen. Sie legten mit anderen Worten einen Kompromiß zwischen den Lagern oder den gesellschaftlichen Klassen fest, um die

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innere gesellschaftliche Einheit des Verbandes zu bewahren. Auf diese Weise hat das Recht politisch als Vereinheitlichungsfaktor und als rationales Instrument kollektiver Sicherheit gewirkt. Im allgemeinen hatten die Kodifikationen sakralen Charakter und konnten demnach kaum abgeändert werden, es sei denn, es wurden Kommentare, Glossen oder Exegesen hinzugesetzt, die geeignet waren, einige Interpretationslücken zu schließen oder der geschichtlichen Entwicklung der Gesellschaft Rechnung zu tragen. Die Rationalisierung des Rechts ist mithin nicht immer kraft rechts immanenter Dynamik erfolgt, sie ist auch eine Folge der Notwendigkeit, politischen Schwierigkeiten oder auch neuen wirtschaftlichen Interessen wirkungsvoller zu begegnen. Weber hebt die Bedeutung des napoleonischen Code civil hervor, den er neben das römische Juristenrecht und das angelsächsische Praxisrecht als dritte große Quelle der Rechtsrationalisierung stellt 10. Es handelt sich um den reinsten Typus einer Kodifikation, die sogar im Laufe ihrer Erarbeitung neue Rechtssätze und tatsächliche rechtliche Neuerungen eingeführt hat. Die Kodifikation kann demnach rechtschöpfend sein. Die formalen und rationalen Qualitäten des napoleonischen Code haben dazu geführt, daß er zum Vorbild für die Mehrzahl der Kodifikationen in anderen Ländern wurde. Die rationale Eigenschaft des französischen Code civil besteht darin, daß er Rechtssätze aus dem Gewohnheitsrecht wiederaufnimmt und sie kraft seiner eigenen Logik gänzlich verneint, daß er axiomatisch oder epigrammatisch vorgeht, daß er schließlich als eine von jeglicher historischer Vorbedingung freie universale Einheit erscheint. Auf diese Weise kann er vorgeben, all jene Regelungen als illegitim zurückzuweisen, die im Widerspruch zu seinen Postulaten stehen. Der französische Code civil ist tatsächlich der Triumph des geschriebenen Rechts. Als kenntnisreicher Rechtshistoriker fügt Weber zwei bemerkenswerte Kapitel hinzu. Zuerst stellt er klar, daß das Prestige des geschriebenen Rechts städtischen und nicht ländlichen Ursprungs ist. Die städtischen Kaufleute, um eindeutig abgefaßte Verträge bemüht, waren in erster Linie an der systematischen Kodifikation interessiert. Die Gutsherren hatten das Problem zwar nicht vernachlässigt, es aber biegsamer behandelt, wie die Coutumes du Beauvaisis von Beaumanoir zeigen. Festzuhalten ist, daß der Bürger mehr an zügigen Verfahren interessiert war, die mit rechtstechnischen Unterscheidungen arbeiteten, als der Bauer, der eher einem Recht nahestand, das Diskussionen und langwierigen Debatten großen Raum einräumte. Auf der einen Seite war eine kurze, präzise und stereotype Abwicklung gefragt, auf der anderen die Kautelarfreiheit. Das ist der Unterschied zwischen dem Handelstauseh, der sich unter Anonymen vollzieht, und der Vereinbarung zwischen Einzelnen, die sich persönlich kennen. 10

Ebd., S. 263.

2 Max Weber

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Unter diesen Umständen ist es zu verstehen, daß die Rationalisierung des Rechts soziologisch eine Grundforderung der Stadtbewohner war. Zum zweiten ist die Kodifikation für die Fürsten und Patrimonialherren ein Mittel zur Sicherung ihrer Herrschaft gewesen, indem sie sich auf das geschriebene Recht der Beamten und Legisten gegen das charismatische Recht ihrer Widersacher oder Gegner beriefen. Weber behandelt diesen Punkt sehr ausführlich, wir werden uns auf seine wesentlichen Aspekte beschränken. Die Rechtskodifikation hat nach allgemeiner Auffassung den königlichen Fürsten die Möglichkeit gegeben, die Sonderrechte oder Privilegien jener Gewalten zu bekämpfen, die ihnen untergeordnet waren. Diese Entwicklung konnte nur vonstatten gehen, weil die Fürsten ihren Lehensmännern und Würdenträgern eine Art vollstreckende Gewalt einräumten, die zu dem im Widerspruch stand, was damals als allgemeines Recht galt. Weber sieht übrigens in der Opposition dieser vollstreckenden Beamtengewalt - damit beschäftigt, die Erlasse zu interpretieren und ausführen zu lassen - eine der Wurzeln der Bürokratie, die an der Rationalisierung des Rechts einen großen Anteil gehabt hat. Die Beamten haben beständig die Forderungen der unteren Klassen (denen sie großteils entstammten) gegen die Ansprüche der Lehensherren ausgespielt. Im Namen der Rechtsgleichheit konnte der Fürst das allgemeine "Reglement", das für alle gültig ist, den "Sonderprivilegien" entgegensetzen, d. h. die Bedürfnisse und Notwendigkeiten einer folgerichtigen Verwaltung gegen den Dilettantismus des Lehenswesens durchsetzenlI,

3, Die Auseinandersetzung zwischen positivem Recht und Naturrecht Keiner bestreitet den entscheidenden Beitrag des positiven Rechts zur Rationalisierung des Rechts. Weber war weit davon entfernt, ihm diesen Vorzug abzuerkennen, qber gleichzeitig erkannte er den unermeßlichen Anteil des Naturrechts, sei es innerhalb seines religiösen Zusammenhangs mit dem kanonischen Recht, sei es in seinem Zusammenhang mit dem säkularisierten und profanen Recht. Er wies als nicht-soziologisch jene einseitige Auffassung zurück, die dem positiven Recht allein das exklusive Verdienst zuerkennen will, die Rationalisierung des Rechts betrieben zu haben. Da der Stellenwert des positiven Rechts allgemein anerkannt ist, werden wir uns Webers Lehre von der Wichtigkeit der naturrechtlichen Theorien vor Augen führen, Webers Auffassung vom Naturrecht stellt ein Problem dar, weil ~r darin ein revolutionäres Recht erblickt. Es scheint mir deshalb notwendig zu sein, kurz diesen Aspekt seiner Rechtssoziologie zu beleuchten, da er das übrige bedingt. 11

Ebd., S. 249.

Die Rationalisierung des Rechts nach Max Weber

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Ohne Zweifel ist das Naturrecht nicht seinem Wesen nach revolutionär, denn es kann genauso die Theorie einer gegebenen Ordnung sein oder sogar den Vorrang der Sitte und der Tradition verkünden, wie das zum Beispiel die historischen Rechtstheorien zu Anfang des 19. Jahrhunderts in Deutschland taten. Es wird revolutionär, wenn es sich kraft seiner Prinzipien auf eine andere Gerechtigkeit beruft als auf jene der etablierten Ordnung und gerechtere Normen jenen entgegensetzt, die tatsächlich Anwendung finden l2 . Anders gesagt, es ist in dem Maße revolutionär, wie es gegen die positive Legalität den Einspruch einer adäquateren oder gerechteren Legitimität des menschlichen Schicksals erhebt. Daher fragt sich: Wieso hat das Naturrecht die Rationalisierung des Rechts genauso bestimmend gefördert wie das positive Recht? Diese Frage ist komplex, denn es gilt, das eigentliche, vom Naturrecht durchsetzte kanonische Recht sowie das profane Naturrecht der Juristen zu unterscheiden, wie es vom 16. und vor allem vom 17. Jahrhundert an entwickelt worden ist. Weber macht vier Aufhebens von der rationalisierenden Macht des kanonischen Rechts, da es ein sakrales Recht ist, das sich von den anderen sakralen Rechten beträchtlich unterscheidet. Der Katholizismus steht am Anfang der Universitätsgründungen, auch wenn die Universitäten im Laufe der Zeit in andere Hände übergingen. Von Anfang an spielte dabei die Lehre des Rechts eine Rolle. Aber das ist für Weber nur eine Nebensächlichkeit, da das kanonische Recht auf andere Titel pochen kann. Er hebt zum Beispiel die gregorianische Epoche hervor, die mit dem Lehenswesen brach und neue Perspektiven eröffnete. Unter dem Deckmantel des Gregorianismus begab sich die Kirche auf die Bahn eines Rationalismus, der später den Bestrebungen der Reformation den Weg ebnen konnte. Ohne Zweifel blieb die Kirche dabei, verschiedene theokratische Riten zu schützen. Gleichzeitig aber vollzog sie kraft der Trennung von geistlicher und weltlicher Gewalt (bekräftigt seit der Zusammenkunft von Canossa) eine Öffnung, die die Feinde der Kirche sich gegen sie zunutze machen sollten. Auf jeden Fall hat kein religiöser Verband mit ebenso großer Entschlossenheit den Weg der Rationalisierung des Rechts beschritten wie die Kirche des Okzidents. Sie war die einzige kirchliche Gemeinschaft, selbst wenn man die Reformation mit berücksichtigt, die bewußt den Weg der Rationalisierung eingeschlagen hat, und das zumeist zu ihrem Nachteil. Man kann sogar sagen, daß sie sich aufgrund ihrer institutionellen Rationalisierung gegenüber dem Irrationalismus geschwächt hat, der oftmals den Prophetismus der Schismatiker, der Ketzer und anderer Widersacher speiste, die deshalb heute im historischen Licht der Fortschrittlichkeit erscheinen. Tatsächlich haben sie nichts anderes getan, als die EntWicklung der Kirche zu hemmen. Man sieht, Weber ist nicht weit von der Auffassung entfernt, daß jene, die 12

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Ebd., S. 265.

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heute als Revolutionäre angesprochen werden, wie zum Beispiel Münzer, im Gegenteil aufgrund der religiösen Konflikte, die sie heraufbeschworen haben, die Entwicklung der Kirche hin zu einer größeren Rationalität gebremst haben. Seine Argumentation geht sogar soweit, die in den Prozessen der Inquisition angelegte Rationalität aufzuzeigen, wo die Inquisition doch im allgemeinen als eine verruchte Einrichtung gilt. In der Tat hat die Inquisition die Frage nach dem Wert amtlicher Beweisführung aufgeworfen, denn jenseits der rein formellen Feststellung der Häresie suchte sie nach dem materiellen Beweis des Irrglaubens. Sicherlich waren die Prozesse der Inquisition fürchterlich, aber kraft dessen, was Weber das Paradoxon der Folgen nennt, welches das Böse dazu befähigen will, Gutes hervorzubringen, haben sie der Vorstellung von einem rational geführten Verhör zum Durchbruch verholfen. Die Kirche des Orients, mehr mystisch aufgerichtet, hat fast keinen Einfluß auf die Rechtsdurchsetzung gehabt und hat dort kaum rechtliche Veränderungen vorgenommen. Wie dem auch sei: indem sie Beweise verlangte - was damals neu war - steht die Inquisition am Anfang des heutigen Strafprozeßrechts l3 . Kommen wir auf die allgemeinere Auseinandersetzung über das Naturrecht zurück. Die Rationalisierung mit Hilfe des Naturrechts war weit davon entfernt, gleichmäßig zu verlaufen. Man kann mit Weber mindestens drei Abläufe unterscheiden, wenn man einmal davon ausgeht, daß das Naturrecht ein Rationalisierungsfaktor gewesen ist. a) Das Naturrecht innerhalb des kanonischen Rechts hat zur Rezeption des römischen Rechts in Westeuropa beigetragen. Diese Rezeption war -soziologisch gesehen - ein entscheidender Faktor bei der allgemeinen Rationalisierung des Rechts. Aber das kanonische Recht hat gleichermaßen aus ihm eigentümlichen Gründen die Rationalisierung beeinflußt, da es im Unterschied zu anderen sakralen Rechtsformen ein strikt religiöses Recht und keine "zweideutige" Form war, die der Religion profane Elemente beimischte. Diese Trennung zwischen rein religiösem Recht und profanem Recht war wesentlich, da zum einen das profane Recht sich gemäß seiner eigenen Rationalität entwickeln konnte, ohne dauernd auf die religiöse Autorität Rücksicht nehmen zu müssen, zum anderen das kanonische Recht sich seinerseits nach seiner eigenen Logik rationalisieren konnte, ohne auf den Willen der Fürsten zu achten. In der Tat war das kanonische Recht eine der ersten Rechtsformen, die sich rationalisierten, weil es das Produkt einer Institution war, die sich vor allen anderen zentralisiert und bürokratisiert hatte, nämlich der Kurie. Aber auf diese Weise nahm das kanonische Recht wieder die dann entscheidende Auffassung der Stoiker vom Naturrecht auf. Daraus ergab sich eine klarere Auffassung vom Naturrecht, die Weber folgendermaßen definierte: ",Naturrecht' ist der Inbegriff der unabhängig 13

Ebd., S. 239.

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von allem positiven Recht und ihm gegenüber präeminent geltenden Normen, welche ihre Dignität nicht von willkürlicher Satzung zu Lehen tragen, sondern umgekehrt deren Verpflichtungsgewalt erst legitimieren. Normen also, welche nicht kraft ihres Ursprungs von einem legitimen Gesetzgeber, sondern kraft rein immanenter Qualitäten legitim sind: die spezifische und einzig konsequente Form der Legitimität eines Rechts, welche übrigbleiben kann, wenn religiöse Offenbarungen und autoritäre Heiligkeit der Tradition und ihrer Träger fortfallen" 14. Anders gesagt, hat das so aufgefaßte Naturrecht zur Rationalisierung des Rechts beigetragen, indem es die Reflexion auf die inwendigen Qualitäten des Rechts als solche richtete. Auf diese Weise ist es eine der Wurzeln der Formalisierung des Rechts gewesen. b) Die zweite Version des Naturrechts ist in der Epoche der Renaissance geboren worden, als die Wissenschaft gleich den anderen Tätigkeiten es sich zum Ziel setzte, sich soweit als möglich dem anzupassen, was man für den Willen der Natur hielt. Die Idee der Natur war damals zentral. Daraus ergab sich zuerst in England die Vorstellung von der Gegebenheit angeborener, unantastbarer Rechte (birthright), dann jene von den natürlichen Rechten des Menschen, die selbst Gott nicht abändern könne. Es handelte sich da um eine der Wurzeln des modernen Individualismus. Das Jahrhundert der Aufklärung beschleunigte die Bewegung noch zusätzlich, indem es Natur und Vernunft in eins setzte. Das Naturrecht wurde noch dazu das vernünftige Recht und nicht nur das rational legitime. Der Individualismus führte zum Modell des Gesellschaftsvertrags, verstanden als "rationales Abkommen" zwischen den Menschen. Weber zeigt nicht nur, daß die Theorie des Vertrages für die Rationalisierung des Rechts von Bedeutung war, sondern auch daß sie, aus dem Naturrecht hervorgegangen, als Zusammenschluß von Natur und Vernunft eine der Wurzeln der modernen Auffassung von der Freiheit und der wirtschaftlichen Konkurrenz wird. c) Die dritte Version des Naturrechts, die den Rationalismus beschleunigte, betrifft den Utilitarismus. In den Theorien, die dem Naturrecht vorangingen, folgte das Vernünftige "aus der ewigen Ordnung der Natur und der Logik". Folglich kann, was zu absurden Folgen führt, weder von der Natur noch von der Vernunft gewollt sein. Vernünftig ist deshalb, was nützlich ist, was dem Menschen frommt oder seine Existenz begünstigt. Auch arbeitet man eine Theorie des Naturrechts aus, die eine soziale Gesetzgebung verlangt, die dem entspricht, was vernünftigerweise nützlich ist. Von da an hat das Naturrecht das sozialistische Denken des 19. Jahrhunderts geprägt, wie das zum Beispiel in der Forderung nach einem Recht auf Arbeit oder nach dem Existenzminimum zum Ausdruck kam. Aus Webers Untersuchung des Naturrechts ergibt sich, daß es nicht nur materiell auf die moderne Gesetzgebung eingewirkt, sondern auch eine 14

Ebd., S. 265. In der Übersetzung Grosclaudes, S. 391 f.

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Reflexion im Sinne einer Analyse der dem Recht innewohnenden Logik bewirkt hat. Es hat sogar die Vorstellung von vernünftigen Forderungen entwickelt, die sich aus dieser Logik ergeben. Auch begann man mit unserer heute verbreiteten Gewohnheit eine Gesetzgebung als wertlos zu verwerfen, die den Gerechtigkeitsvorstellungen der Betroffenen widerspricht. Daraus hat sich ein neuer Konflikt ergeben, weil die Juristen nun vor die Alternative gestellt sind, die Radbruch folgendermaßen formulierte: Ist das Gesetz ein Reglement oder eine Quelle des Rechts?

4. Der Gegensatz zwischen dem formalen Recht und dem materialen Recht

Klären wir zuerst die Begriffe. Weber versteht unter formalem Recht die Gesamtheit aller Rechtsnormen, die sich lediglich auf die Voraussetzungen oder die Postulate eines gegebenen Rechtssystems bezieht. Das Bemühen um Formalisierung besteht in diesem Falle darin, unter dem Gesichtspunkt der Logik die Begriffe zu klären, damit eine Rechtstheorie ausgearbeitet werden kann, innerhalb derer die Normen lediglich der Folgerichtigkeit der abstrakten Rechtsordnung gehorchen und sich wechselseitig voneinander ableiten lassen würden, und zwar unabhängig von äußeren Eingriffen oder Argumenten ethischen, politischen, religiösen oder ökonomischen Charakters. Das formale Recht führt somit aus rein juristischen Gründen zu einer Rationalisierung des Rechts. Das materiale Recht trägt im Gegensatz dazu den nicht- oder außerjuristischen Elementen in dem Maße Rechnung, wie das Recht nicht im Dienste seiner eigenen abstrakten Logik und seiner idealen Folgerichtigkeit steht, sondern im Dienste der Bedürfnisse der konkreten geschichtlichen Gesellschaft, deren Ordnung es regelt. Das formale Recht erkennt als legitim an, was gemäß dem für sich betrachteten Rechtssystem juristisch korrekt ist, während das materiale Recht als legitim nur das anerkennt, was unter den Bedingungen der empirischen Situationen gerecht ist. Diese beiden Begriffe stellen Idealtypen im Weberschen Sinne dar. Es kann nämlich kein rein formales Rechtssystem geben, das gegenüber dem Druck von außen ungerührt bleiben könnte, genausowenig wie es ein rein materiales Recht gibt, das den wechselnden Situationen ausgeliefert wäre. Eine solche Haltung würde nämlich zur Aufhebung allen Rechtes führen. Wir sehen uns zwei Tendenzen des Rechtsdenkens und, recht besehen, der Vorstellung gegenüber, die man sich von der Gerechtigkeit macht. Zwischen diesen beiden Orientierungen besteht für Weber ein unumgänglicher Gegensatz, nämlich der zwischen der Begriffsjurisprudenz und der Interessenjurisprudenz (Jurisprudenz, die sich lediglich auf die Rechtsbegriffe bezieht,

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und Jurisprudenz, die die materialen Interessen des Menschen mitberücksichtigt). Dieser Gegensatz hat übrigens im Laufe der Geschichte zu Auseinandersetzungen Anlaß gegeben, so zum Beispiel zur Feindschaft der Patrimonialherren gegenüber den formalrechtlich ausgerichteten Juristen, die sich auf die Unverrückbarkeit der Texte beriefen und damit die Politik ersterer behinderten. Es ist müßig, länger bei dieser Unterscheidung zu verweilen, da es in erster Linie darum geht, festzustellen, daß für Weber die eine wie die andere Rechtsausformung zur Rationalisierung des Rechts beigetragen haben. Es ist nicht notwendig, einmal mehr auf das formale Recht zurückzukommen, da das, was wir bis hierher dargelegt haben, auf einen inneren Rationalisierungsprozeß des Rechts vermittels Formalisierung der Rechtssätze hinausläuft. Die Frage der Rationalisierung in ihrer Spielart des materialen Rechts gilt es nunmehr zu klären, um auf die oben gemachte Unterscheidung zwischen innerer und äußerer Rationalisierung des Rechts einzugehen. Das wird der Gegenstand des folgenden Abschnitts sein.

III.

Wenn Weber eine Rechtssoziologie geschrieben hat, so deshalb, weil er als Soziologe an den Beziehungen zwischen den verschiedenen Bereichen menschlichen Handeins sowie an den Konflikten und Formen der Zusammenarbeit interessiert war, die sie untereinander unterhalten können. Kelsen hat sich zum Beispiel vorgenommen, eine reine Rechtstheorie zu begründen, und konnte daher der Soziologie nur eine gewisse Geringschätzung entgegenbringen. Er war lediglich ein Parteigänger des formalen Rechts im Weberschen Sinne. Es sei noch einmal hervorgehoben, daß Webers Rechtssoziologie ein Kapitel des Monumentalwerks Wirtschaft und Gesellschaft darstellt, dessen Absicht es ist, die Bedeutung der Wirtschaft in der Gesellschaft und folglich ihre Beziehungen zu anderen Bereichen des Handeins wie der Politik, der Religion oder dem Recht zu erklären. Im Grunde also ist Webers Rechtssoziologie nur ein Fragment. Ein Fragment jedoch, dessen Eigenständigkeit sich neben den anderen Rechtssoziologien wohl zu behaupten vermag, denn es gibt wenige, die über derart vollständige Kenntnisse über die Rechtssysteme anderer Zivilisationen und über die Möglichkeiten der Soziologie verfügen. Vergessen wir nicht, daß Weber seine ersten Vorlesungen an der Universität Berlin über das Recht hielt. Er hat die Rationalisierung des Rechts durch Beeinflussung äußerer Bedingungen von zwei Blickwinkeln aus ins Auge gefaßt, die" er selber nicht immer klar voneinander unterschieden hat. Sie drängen· sich indessen bei der Lektüre seines Werkes auf. Zorn. einen wurde das Recht gezwungen, sich

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immer mehr zu rationalisieren aufgrund der rechtlichen Probleme, die die anderen Bereiche des Handeins den Juristen immerfort stellten. Dabei ging es darum, diese Bereiche des Handeins zu entwickeln und zu ordnen. Auf der anderen Seite kam das Recht dieser äußeren Probleme wegen dazu, seinerseits den anderen Bereichen des Handeins neue Probleme zu stellen. Dies führte zur Erkenntnis seiner Wichtigkeit für das gesellschaftliche Leben und der Notwendigkeit, seine Kompetenz auszudehnen.

1. Die Probleme, die dem Recht durch andere Bereiche des HandeIns gestellt werden Ein Recht, daß seine Wirksamkeit um seiner selbst willen entfaltete, aus reiner Liebe zum Recht, wäre zum Scheitern verurteilt, da Recht dazu bestimmt ist, angewandt zu werden. Sein Fehler würde darin bestehen, seine Aufgabe allein in der Lösung von rein juristischen Problemen zu sehen. Seiner Bestimmung nach ist das Recht ein Mittel zur Lösung von Problemen, die auf den ersten Blick nichts Rechtliches an sich haben, die aber einer Lösung zugeführt werden können, wenn man sie unter rechtlichen Kategorien begreift. Demnach ist das Rechtswesen, wenn es um einen spezifischen Bereich des Handeins geht, nicht unabhängig in dem Sinne, daß das Recht in voller Autonomie, aus reiner Spekulation heraus wirken könnte. Es steht im Dienst der anderen Bereiche des HandeIns. Wenn es den Problemen, die diese ihm stellen, nicht zu begegnen wüßte, verlöre es sich in die reine Grundlosigkeit. Eines der Grundthemen in Webers Soziologie ist es, zu zeigen, daß es im Okzident eine zunehmende Rationalisierung des Rechts gegeben hat, die unterschiedliche Zeitabläufe einhielt und alle Bereiche des HandeIns erfaßte, weil diese von einem gewissen Augenblick an gezwungen waren, sich auf das Recht abzustützen. Diese anderen Bereiche des HandeIns können nicht einfach am Recht vorbeigehen, genausowenig wie das Recht an ihnen vorbeigehen kann, wenn es nicht zu einer leerlaufenden Regelung werden will. Anders gewendet hat sich das Recht in einen allgemeinen Rationalisierungsprozeß eingefügt, der alle anderen Bereiche des HandeIns miterfaßt hat. Es hat sich nicht in der Abgeschiedenheit seiner inneren Logik rationalisiert. Da feststeht, daß jeder Bereich des HandeIns mehr oder weniger Auswirkungen auf die anderen Bereiche hat, wäre es erstaunlich gewesen, hätte das Recht sich seiner Umgebung entziehen können. Indem es nichtrechtliche Situationen verrechtlichte, um sie zu rationalisieren, ist das Recht selbst rationalisiert worden. Es war integrierender Bestandteil einer allgemeinen Bewegung, die vielleicht unbewußt die politischen Gemeinwesen des Okzidents bestimmt hat. Es gab demnach eine wechselseitige Abhän-

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gigkeit zwischen den verschiedenen Bereichen menschlichen Handeins, wenn diese auch nirgends gleichmäßig oder homogen war. Webers Darstellung dieser Frage, besonders im Hinblick auf die Beziehungen zwischen Recht und Wirtschaft, findet sich in einem Werk, das in Frankreich wenig bekannt ist und Wirtschaftsgeschichte heißt. Darin zeigt er, daß sogar der aufstrebende Kapitalismus sich nur entwickeln konnte, indem er den Betrieb in einen rechtlichen und nicht nur wirtschaftlichen Rahmen einpaßte, und zwar auf der Grundlage eines berechenbaren Rechts . •Der kapitalistische Wirtschaftsbetrieb", schreibt er, .muß sich, wenn er rational wirtschaften soll, darauf verlassen können, daß berechenbar judiziert und verwaltet wird"15. Das Recht trägt zur Chance der Berechenbarkeit bei. Da der Kapitalismus auf Investitionen gründete, somit auf der planenden Voraussicht, benötigte er eine Rechtsordnung, die imstande war, diese Investitionen zu garantieren und den vorhersehbaren Handel, der das Wachstum des Betriebes bestimmte, zu schützen. Ohne das Recht liefe der Betrieb Gefahr, sich blindlings in ein Abenteuer zu stürzen. Er benötigte Rechtstitel schon deshalb, um sich der Feindschaft der vorangegangenen Wirtschaftsformen zu erwehren, die wesentlich körperschaftlich waren und auf dem Wucher beruhten. Diese Wirtschaftsform trug eine anerkannte rechtliche Rüstung, so daß andere, aber rationalere Rechtsformeln gefunden werden mußten, um sich dem Druck einer untergehenden Wirtschaftsform widersetzen zu können. Die Rationalisierung des Rechts ereignete sich demnach inmitten eines Kampfes gegen ein anderes Recht oder eine andere Rechtsauffassung. Weber weist nun darauf hin, daß zur Zeit des entstehenden Kapitalismus nur das Privatrecht rational, sogar im Einklang mit den gegebenen Situationen entwickelt wurde. Der entstehende Kapitalismus war ein Zeitgenosse des Überseehandels, den das mittelalterliche Recht natürlich nicht berücksichtigte. Es ging deshalb darum, ein neues, aber öffentlicheres Recht zu schaffen, um den neuen Bedingungen Rechnung zu tragen. Allein diese Tatsache hat wesentlich zur Rationalisierung des Rechts beigetragen, das damals in voller Entwicklung begriffen war, wie die Werke der Juristen jener Epoche bezeugen. Es galt ganz einfach, neue Formen rechtlich geschützter Beziehungen zu schaffen, so zum Beispiel das Schuld anerkenntnis, die Hypothek und vor allem später das Phänomen der Aktie als Teil eines Handels- oder Industrieunternehmens. Es finden sich sicherlich dafür primitive Vorläufer in der vorausgegangenen Gesetzgebung, aber diese befanden sich nicht mehr im Einklang mit der neuen Wirtschaftsentwicklung. Unter diesen Bedingungen wird klar, warum die Unternehmer sehr rasch dazu übergingen, sich Juristen zu suchen, die fähig waren, die neuen Probleme mit anderen Mitteln denn mit den irrationalen wie Beleidigung und Pathos anzugehen. Das Vermögensrecht sowie das Recht der Arbeit und der 15 M. Weber; Wirtschaftsgeschichte, Berlin 1958, S. 240.

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Werkstätten waren neu zu überdenken. Eine Liste all jener Probleme, die der Kapitalismus dem Recht neu gestellt hat, wäre lang, vor allem wenn man jene gesellschaftlichen Probleme hinzunimmt, die die Juristen gezwungen haben, ihre Begriffe und ihre Verfahren der neuen Situation anzupassen. Das Recht selbst konnte nicht etwa aufgrund der damals gängigen Systemlogik diese neuen Situationen bewältigen. Es konnte nur einer Bewegung folgen, die sich außerhalb seiner entwickelte und die eine stärkere Rationalisierung sowohl in der Lebensführung der Menschen als auch in der Anwendung neuer Mittel erforderte. Es mußte selbst zum Instrument der Vorhersage werden, um die Sicherheit der kapitalistischen Transaktionen gewährleisten zu können. "Was der Kapitalismus braucht" ,schreibt Weber, "ist ein Recht, das sich ähnlich berechnen läßt wie eine Maschine" 16. Nichts ist in dieser Hinsicht bezeichnender als die Diskussion über den Begriff des "richtigen Preises". Sie hört nicht auf, die Wirtschaftler und mit noch größerer Berechtigung: die Juristen zu beschäftigen. Man verlangt am Ende von den Juristen, eine Schwierigkeit zu lösen, vor der die Wirtschaftler versagen, weil es hier um eine Frage umfassender Rationalisierung geht. Zur gleichen Zeit wie die rationale Wirtschaft des Kapitalismus ist der moderne, zentralisierte Staat aufgetaucht, der sich immer mehr bürokratisierte und, in Verbindung damit, das Gesetzgebungssystem und die Anzahl der Gesetze beträchtlich erweiterte. Gleichzeitig zieht die öffentliche Verwaltung immer mehr Juristen an und, im Einklang mit der Entwicklung der Bürokratie, auch mehr und mehr spezialisierte Juristen. Für Weber bewegt sich die wachsende Bürokratisierung genau mit der wachsenden Arbeitsteilung im Gleichschritt. Er war sich im übrigen über den Mißbrauch im klaren, den diese Wechselbeziehung zeitigen konnte. Er wies zum Beispiel darauf hin, daß diese Zusammenarbeit zwischen den Politikern und den Juristen zu einer größeren Anpassung letzterer gegenüber ersteren führen könne, und zwar einfach aufgrund des Glaubens an die Legalität, die als Inbegriff der legitimen Gewaltausübung angesehen wird 11. Er weist darüber hinaus darauf hin, daß die Juristen aus dem Wesen ihrer Beschäftigung heraus dazu neigen, zu konservativen Elementen der Gesellschaft zu werden. Das ist um so leichter der Fall, als sie, dem Legalismus des positiven Rechts verhaftet, sich von der Reflexion über die Implikationen des Naturrechts abwenden. Offensichtlich neigt der moderne Staat, weil er die Rationalisierung seiner Tätigkeiten vorantreibt, dazu, seine Rechtsprechung und damit das Recht zu rationalisieren, um leichter den Forderungen der Gruppen und Interessen zu begegnen und um seine eigene rationale Ethik der Irrationalität der Lager oder sich bekämpfenden Klassen entgegenzusetzen. Folglich ist er dar an interessiert, das Recht zu rationalisieren, weil die Rationalität 16 17

Ebd., S. 293. Rechtssoziologie, S. 273.

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- vielleicht irrtümlicherweise - als ethischer Wert gilt. Auf alle Fälle haben sich die Intellektuellen an einer solchen ethischen Rationalität ausgerichtet. Im Grunde findet eine Verschwörung der Politik, der Wirtschaft, des Rechts und sogar der Moral statt, um das Universum des Alltäglichen in dem Maße zu rationalisieren, als die Rationalisierung es gestattet, sich wirkungsvoller der Verwirrung und der Inkohärenz entgegenzustellen, die die Forderungen der untergeordneten Gruppen kennzeichnen. Vor allem die Rationalisierung des Rechts steht in dem Ruf löblicher Strenge, da sie Argumente zu finden hilft gegenüber der ungeordneten Vielfalt der Anforderungen und Beschwerden, die man an die Adresse des Staates und der Wirtschaft richtet. So kann der Staat zum Beispiel gegenüber der Forderung der verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen eine Idee der Gleichheit auf der Grundlage der Rationalität geltend machen. In der Tat bleiben Begriffe wie Volksrecht oder Sozialrecht unklar, wenn man sie mit der vielleicht nur scheinbaren Klarheit vergleicht, die die Staatsverwaltung ihnen im Namen des Rechts entgegensetzen kann. Man könnte im Lichte von Webers Schriften analoge Bemerkungen zu anderen Bereichen des HandeIns als der Politik oder der Wirtschaft machen, da er in gleicher Weise die Rationalisierung der Religion und vor allem der Technik in ihren Beziehungen zur Rationalisierung des Rechts untersucht hat. Die Absicht dieser Studie ist es nicht, eine erschöpfende Darstellung zu geben. Es ist indessen notwendig, noch einen Punkt hervorzuheben: Die allgemeine Rationalisierung, die auf allen Gebieten des menschlichen Lebens am Werke ist, hat das Recht dazu gezwungen, nicht nur seine Begriffe, sondern auch seine Mittel, seine Instrumente und seine Techniken zu rationalisieren. Das Recht ist hier der Technisierung der modernen Welt gefolgt. Das führte es manchmal dahin, die Wirkungen seiner eigenen Rationalisierung im Namen jener Gerechtigkeit zu verneinen, der es zu dienen vorgibt. Allerdings handelt es sich hierbei um eine weitmaschige und großzügige Interpretation von Webers Denken, da er diese Art von Problemen nicht klar dargelegt hat. Er hat von Zeit zu Zeit Hinweise gegeben, ohne jene Frage zu vertiefen, die er doch intuitiverfaßt hat. Ohne seinem Denken Gewalt anzutun, ist eines jedoch sicher: Die Bürokratie war für ihn eine besonders wirkungsvolle Technik der Rationalisierung des Rechts. Sie hat aus dem Recht eine tatsächliche Macht gestaltet, aber eben nicht im Sinne von Montesquieus Rechtsgewalt. Man kann somit die Rationalisierung des Rechts unter gewissen Umständen als eine Befreiung des Menschen ansehen, unter anderen Umständen jedoch als seine Versklavung. Das alles ergibt sich aus seiner Untersuchung der Technik, die zusammen mit ihrem Korollarium, der Arbeitsteilung, zum wesentlichen Werkzeug der Rationalisierung des Lebens allgemein geworden ist. Das Recht hat sich

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diesem Gesetz gebeugt. Es rationalisiert sich seinerseits, indem es sich vertechnisiert und in Teilgebiete zerfällt, die je für sich andere Techniken anwenden. Um die Vorstellung Webers zu verdeutlichen, kann man die aktuelle Bedeutung des Computers anführen, der die Wirtschaft und die Politik oder die Verwaltung, aber auch das Notariat und die Gerichte erobert. Das ist ein Grund mehr, um die Rationalisierung des Rechts nicht für sich, unabhängig von der allgemeinen Rationalisierung aller Bereiche des menschlichen Handeins zu betrachten.

2. Die Rationalisierung des Rechts durch Rückwirkung Wir werden diesen Punkt sehr kurz behandeln, weil Weber ihn nur andeutungsweise angesprochen hat, obwohl es sich meiner Meinung nach um ein Grundproblem der Rationalisierungsdialektik handelt. Ich möchte es vermeiden, die Texte Webers zu bemühen. Kommen wir zuerst auf den oben zitierten Absatz zurück, in dem Weber erklärt, man könne den königlichen Absolutismus oder die französische Revolution nicht verstehen, ohne den Rechtsrationalismus zu berücksichtigen. Man muß dabei wissen, daß die Juristen noch in der Zeit der Patrimonialherrschaft die Grundlagen für ein neues Regime gelegt haben. Das Recht erzeugt nicht nur Rechtsregeln, es hat auch Auswirkungen auf die anderen Bereiche des Handeins: Es kann zur Schaffung einer neuen Gesellschaftsordnung beitragen. Die Religionskriege haben unter der Einwirkung der ,Politiker', aber auch jener neuen Ideen geendet, die Juristen wie Bodin, Loisel und andere hervorgebracht hatten. Es wäre ein Fehler, zu glauben, Bodin hätte keine Vorgänger gehabt, denn die Arbeit jener Juristen, die ihm vorangingen, haben es ihm ermöglicht, den modernen Staat zu entwerfen - vielleicht sogar trotz seines Werkes. Er ist Erbe eines Denkens und sogar einer Tradition der Rationalisierung, die seine "Six Livres de la Republique" inspiriert haben. In Wirklichkeit hat sich die Neuerung, die die Juristen jener Epoche vollbrachten, gegen sie gekehrt, denn nachdem sie die Konzeption des königlichen Absolutismus entwickelt hatten, wurden sie gezwungen, das Recht material zu rationalisieren, um es den neuen Bedingungen anzupassen, deren Wegbereiter sie gewesen sind. Anders gesagt: sie sind gezwungen worden, den Prozeß der Rationalisierung des Rechts zu beschleunigen, weil sie im Wege des Rechts die Rationalisierung des Staates beschleunigt hatten. Dasselbe Phänomen ereignete sich in der Epoche der französischen Revolution. Die Juristen, im wesentlichen jene des Pariser Parlaments, hatten eine neue Form der Rationalisierung des Rechts entwickelt, das dann der Revolution und mehr noch dem Code civil Napoleons zugute kommen sollte. Sicherlich sollte die rechtliche Rationalisierung, die während des ganzen 18. Jahrhunderts am Werk gewesen war, im Code civil ihren historischen Abschluß finden. Dabei wurden jedoch die

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Juristen gezwungen, ihre gesamte Problematik neu zu überdenken, denn sie waren innerhalb ihres Bereichs durch die Rationalisierung, die sie in der Politik vorangetrieben hatten, überholt worden. Diese beiden Beispiele genügen, obgleich man Webers Überlegungen auch auf die Trennung von Kirche und Staat anwenden könnte. Es erscheint mir angezeigter, zwei Bemerkungen hinzuzufügen. Die erste ist, daß für Weber - und das muß unterstrichen werden, um gewissen Interpretationen zu widersprechen - die Rationalisierung des Rechts sich in einer Wechselbeziehung mit anderen Bereichen des menschlichen Handeins vollzogen hat, d. h. sie ist nicht eigenständig, sondern gemeinschaftlich vonstatten gegangen. Die zweite betrifft Webers Position gegenüber dem Marxismus, der aus dem Recht einen Überbau der Wirtschaft macht. Weber lehnt die marxistische These ab, zum einen, weil es ein unabhängiges Rechtshandeln gibt, das dieselbe Berechtigung hat wie das wirtschaftliche oder politische Handeln - er weist den Emanatismus zurück, der die verschiedenen Bereiche des Handeins auf das Prinzip eines einzigen zurückführt -, zum anderen, weil es eine formale Rationalisierung gibt, die zur materialen Rationalisierung im Gegensatz steht. Dieser Gegensatz ist seiner Meinung nach unaufhebbar. Wenn das Recht lediglich ein Reflex der Wirtschaft wäre, dann wäre nur die materiale Rationalisierung möglich. Und dennoch könnte niemand bestreiten, daß es eine formale Rationalisierung gegeben hat, die bei der Entwicklung des Rechtsdenkens am Werk war. Weber wirft dem Marxismus vor, die Geschichte im Namen einer Theorie zu verfälschen, die allein Marx vertreten hat, so als ob die anderen Denker, Autoren und Theoretiker nichts anderes getan hätten, als der marxistischen Wahrheit den Weg zu bereiten. Er ist nicht weit von der Auffassung entfernt, daß Marx von der formalen Rationalisierung nichts verstanden hat. Weber hat bei mehreren Gelegenheiten seine Ansicht dargelegt, zum Beispiel als er über die Notablenjustiz in England, die sich mit jener des aufstrebenden Bürgertums kaum vertrug, schrieb, daß dieses Land "nicht durch, sondern zum Teil auch trotz der Struktur seines Rechts den kapitalistischen Primat gewann"18. Er präzisiert später seinen Gedanken, indem er feststellt: "Jedenfalls handelt es sich, auch soweit ökonomische Determinanten mitspielen, um sehr stark intern, durch Verhältnisse und Existenzbedingungen des Juristenstandes, bestimmte Umstände und daneben um Gründe, die in der Verschiedenheit der politischen Entwicklung liegen. Als Resultat dieser Verschiedenheit der geschichtlichen Konstellationen aber - das geht uns hier an - steht die Tatsache vor uns, daß der moderne Kapitalismus gleichmäßig gedeiht und auch ökonomisch wesensgleiche Züge aufweist nicht nur unter Rechtsordnungen, welche, juristisch angesehen, untereinan18

Ebd., S. 222.

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der höchst ungleichartige Normen und Rechtsinstitute besitzen: - schon ein vermutlich so fundamentaler Begriff wie ,Eigentum' nach Art des kontinentalen Instituts dieses Namens fehlt dem angelsächsischen Recht noch heute -, sondern welche auch in ihren letzten formalen Strukturprinzipien soweit als möglich auseinandergehen"19. Von den Ländern mit gleichartiger Rechtsstruktur sind demnach einige sehr früh in der Geschichte kapitalistisch geworden, andere haben dieser neuen Wirtschaftsform widerstanden, umgekehrt hat der Kapitalismus in Ländern seine Blüte erlebt, deren Rechtsstrukturen nicht dafür geschaffen schienen. Will der Marxismus unter diesen Umständen das Recht auf Besitz umstoßen, so propagiert er damit eher eine juristische, denn eine wirtschaftliche Revolution. Für Weber bleibt die Geschichte eine Quelle von Überraschungen. Sie gehorcht niemals der Logik eines Denksystems, sei es auch das rationalste. Es ist auf jeden Fall bedeutungslos, ob ein System einiges im Dunklen läßt. Nie wird ein System alles vollständig erklären können. In diesem Sinne war Weber Anti-Hegelianer. Weder Recht noch Politik sind letzte Erklärungen. Die Wirtschaft ist es auch nicht, und sogar die Wissenschaft ist es nicht. Umso weniger wird man dem Recht oder der Politik mit Erscheinungen gerecht werden können, die weder rechtliche noch politische, sondern einfach ökonomische Erscheinungen sind. Das Recht besitzt seine Eigenständigkeit, es ist kein Reflex eines anderen, fremden Bereichs des Handeins. Nur durch einen denkerischen Willkür akt kann man die Wirtschaft zu einer Wissenschaft erheben, die in letzter Analyse alles, auch das, was nicht ökonomisch ist, deuten würde. Im Gegenteil, sogar ein Wirtschaftssystem wie der Kapitalismus kann nicht allein aus der Wirtschaft heraus erklärt werden. Das ist die Lehre von Webers "Die Protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus." Länder mit ähnlichen Rechtssystemen können unterschiedliche Wirtschaftsformen haben und es können Länder umgekehrt ein ähnliches Wirtschaftssystem entwickeln, obwohl ihre Rechtsstruktur verschieden ist. Alles, was man soziologisch daraus ersehen kann, ist, daß jeder Bereich menschlichen Handeins sich teils kraft seiner ihm eigenen Dynamik, teils unter dem Druck anderer Bereiche des H c;:: Cl) ....

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und religiöser Ideologien festgelegtes Recht, d. h. also aufgrund der Rechtsordnung gegenüber äußerlichen Kriterien, gerade wegen der allgemeinen Erkennbarkeit solcher Kriterien einen auch hohen Grad von Vorhersehbarkeit haben kann. Ein niedriger Grad von Vorhersehbarkeit und ein Entscheidungskritrium, das außerhalb der Rechtsordnung liegt, kennzeichnen ein Recht, das von konkreten ethischen und gefühlsmäßigen Wertungen abgeleitet ist, während das rationalformale Recht imstande ist, einen hohen Grad von Vorhersehbarkeit und Berechenbarkeit der Entscheidungen mit der Rechtsordnung streng internen Entscheidungskriterien zu vereinigen 14 .

3. Einige begriffliche Parallelen

Folgt man wenigstens in großen Zügen Webers Rekonstruktion des nicht monolinearen Prozesses, der historisch zur Formalisierung des Rechts geführt hat, so merkt man, daß die typischen Phasen, die für Weber die Entwicklungsrichtung der Rechtskultur bezeichnen, ziemlich klar auf die drei berühmten Typen legitimer Herrschaft verweisen. Weber behauptet nämlich: "Die allgemeine Entwicklung des Rechts und des Rechtsganges führt, in theoretische ,Entwicklungsstufen' gegliedert, von der charismatischen Rechtsoffenbarung durch ,Rechtspropheten' zur empirischen Rechtsschöpfung und Rechtsfindung durch Rechtshonoratioren (Kautel ar- und Präjudizienrechtsschöpfung), weiter zur Rechtsoktroyierung durch weltliches Imperium und theokratische Gewalten und endlich zur systematischen Rechtssatzung und zur fachmäßigen, aufgrund literarischer und formallogischer Schulung sich vollziehenden ,Rechtspflege' durch Rechtsgebildete (Fachjuristen)" . Die drei hier genannten Typen von Juristen sind jeweils mit den drei reinen Typen legitimer Herrschaft verbunden, der rationalen, traditionalen und charismatischen, und natürlich mit den entsprechenden Phasen der 14 Es erstaunt also nicht, daß Weber das höchste Beispiel rational-formalen Rechts in den Pandektisten seiner Zeit sieht, die sich an die Prinzipien der Geschlossenheit und Lückenlosigkeit haltend davon ausgehen, .daß jede konkrete Rechtsentscheidung ,Anwendung' eines abstrakten Rechtssatzes auf einen konkreten ,Tatbestand' sei" und .daß für jeden konkreten Tatbestand mit den Mitteln der Rechtslogik eine Entscheidung aus den geltenden abstrakten Rechtssätzen zu gewinnen sein müsse" (WuG, S. 508). Dazu sei jedoch darauf verwiesen, daß die Tatsache, daß in. Wirtschaft und Gesellschaft" - nicht hinsichtlich der dogmatischen Rechtskonstruktion, sondern hinsichtlich einer soziologischen Beobachtung des Rechts - eine ausdrückliche Diskussion jener Rolle fehlt, welche die Rechtskategorien als Instrumente eines Vorverständnisses und einer Vorbegrenzung des Gegenstands einer soziologischen Untersuchung übernehmen, und daß das die hauptsächliche Kritik darstellt, die Kelsen gegen Weber richtet (Kelsen: Der soziologische und der juristische Staatsbegriff, Tübingen, 2. Aufl. 1928).

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Alberto Febbrajo

Rechtsentwicklung: "Die formalen Qualitäten des Rechts entwickeln sich dabei aus einer Kombination von magisch bedingtem Formalismus und offenbarungsmäßig bedingter Irrationalität im primitiven Rechtsgang, eventuell über den Umweg theokratisch und patrimonial bedingter materialer und unformaler Zweckrationalität, zu zunehmend fachmäßig juristischer, also logischer Rationalität und Systematik und damit - zunächst rein äußerlich betrachtet - zu einer zunehmend logischen Sublimierung und deduktiven Strenge des Rechts und einer zunehmend rationalen Technik des Rechtsgangs"15. Problematischer erscheint hingegen eine weitere mögliche Verbindung zu sein: nämlich diejenige zwischen der Dichotomie formal/material und der Dichotomie Zweck/Wert, die bekanntlich einen der Angelpunkte der Vierteilung der Formen sozialen Handeins darstellt. Schon aus dem vorher Gesagten ergibt sich mit hinreichender Klarheit, daß sich die formale Rationalität weder mit der Zweckrationalität noch mit der Wertrationalität vermengt, da sie nicht ausschließlich auf Elementen begründet ist, die durch die Perspektive des Beteiligten (wie die Werte und die verfolgten Zwecke) bestimmbar sind, sondern auch auf Elementen, die aufgrund innerer Erfordernisse des besonderen Systems bestimmbar sind, auf 9as sich das soziale Handeln des Subjekts bezieht (in den vorher gegebenen Beispielen: auf das Rechtssystem) 16. Das dient natürlich auch zur klaren Unterscheidung des rational-formalen Handeins, sei es vom affektiven Handeln, das entscheidend von der inneren Situation des Beteiligten beeinflußt wird, sei es auch vom traditionellen Handeln, das entscheidend von den vom Beteiligten unabhängigen Regelmäßigkeiten beeinflußt wird. Diese beiden Handlungstypen stellen sich ziemlich klar in das weite Feld der Irrationalität, da sie entweder einer intersubjektiven Überprüfbarkeit entbehren (affektives Handeln) oder diese Überprüfbarkeit auf eine dem Beteiligten nicht notwendigerweise bewußte Ebene verlegen (traditionelles Handeln). 15 WuG, S. 160 ff., 645 ff. Zum Zusammenhang zwischen Typen des Rechtsdenkens und Herrschaftstypen vgl. Alan Hunt: The Sociological Movement in Law, London 1978, S. 119. Es soll nur nebenbei daran erinnert werden, daß in der Rechtssoziologie. analog zu dem, was für andere Typologien behauptet wurde, die" theoretisch konstruierbaren Rationalitätsstufen in der historischen Realität weder überall gerade in der Reihenfolge des Rationalitätsgrades aufeinander gefolgt, noch auch nur überall, selbst im Okzident, alle vorhanden gewesen sind oder auch nur heute sind" (WuG, S.6451.). 16 Die Heterogenität der Dichotomie Zweck/Wert im Vergleich zur Dichotomie formal/rational wird in. Wirtschaft und Gesellschaft" bei der Behandlung des Naturrechts bestätigt, weIches einerseits als "der reinste Typus der wertrationalen Geltung" (S. 27) betrachtet wird und andrerseits für fähig gehalten wird, die Legitimität des positiven Rechts .entweder mehr an formale Bedingungen oder mehr an materiale" (S.637) zu knüpfen. Dagegen P. Rossi (Fn. 1).

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Will man dennoch eine Parallele zwischen formaler Rationalität des Rechts und irgendeiner Rationalitätsform des HandeIns aufstellen, so müßte man eine weitere Rationalitätsform in Betracht ziehen, die man als konditional bezeichnen könnte, da sie auf einem wenn - dann - Schema fußt, die also bei der Rechtsanwendung auf die Erschließung von Rechtsfolgen, die bei der Sicherung bestimmter konkreter Tatbestände eintreten, ausgerichtet wäre und die bei der Rechtsschöpfung auf die Einhaltung bestimmter Verfahrensbedingungen der Geltung, d. h. auf Normen über die Produktion von Normen ausgerichtet wäre. Ohne diese Problematik weiter zu vertiefen ist es an diesem Punkte dennoch zweckmäßig, darauf zu verweisen, daß die formale Rationalität ihrerseits durch einen externen Beobachter, wie der Soziologe es ist, selbst zum Gegenstand von Rationalitätsbewertungen im Hinblick auf "Zweck" und "Wert" werden kann, die vollständig von den tatsächlichen Bewertungen der einzelnen Beteiligten absehen. Das tut auch Weber selbst in "Wirtschaft und Gesellschaft", wenn er - wie wir später sehen werden - bemerkt, daß die als Berechenbarkeit der Entscheidungen und als Besonderheit der angewandten Kriterien verstandene "formale" Rationalität außerhalb des Rechtsbereichs und innerhalb der kapitalistischen Organisation in der Tat widersprüchliche Folgen und ideologische Konflikte verursacht, vor allem zwischen den Werten "Sicherheit" und "Freiheit".

III. Rational-formales Recht und moderner Kapitalismus Die Beziehungen zwischen Recht und modernem Kapitalismus, die von Weber an verschiedenen Stellen seiner früheren Werke häufig implizit behandelt wurden, werden in "Wirtschaft und Gesellschaft" Gegenstand einer wenn auch nicht gerade systematischen Behandlung, die sich auf verschiedenen und komplementären Abstraktionsebenen vollzieht. In erster Annäherung kann gesagt werden, daß er sich nicht darauf beschränkt, eine Übersicht über die Beziehungen zwischen Recht und Wirtschaft zu geben, er versucht vielmehr auch, einige Rechtsinstitute zu ermitteln, die für die genauere Bestimmung der Beziehungen zwischen Recht und kapitalistischer Wirtschaft bedeutsam sind!7. Sich auf die erste Stufe stellend versucht Weber vor allem, die Gegenseitigkeit der Beziehungen zwischen Recht und Wirtschaft zu unterstreichen, die einseitig weder im Sinne eines rechtlichen Determinismus der Wirtschaft noch eines wirtschaftlichen Determinismus 17 In diesen wie auch in anderen Fällen hat das von Weber benützte historische Material eher die Aufgabe, die allgemeine These zu erläutern, um sie einsichtig zu machen, als die Aufgabe, diese auf streng empirische Weise zu begründen.

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des Rechts rekonstruierbar sind 18 . Er zeigt so einige unter sich eng verbundene, allgemeine Prinzipien auf. Indem er ein Prinzip behandelt, das als Prinzip "relativer Autonomie" bezeichnet werden könnte, bemerkt er als erstes, daß das Recht "... keineswegs nur ökonomische, sondern die allerverschiedensten Interessen, von den normalerweise elementarsten ... (garantiert): Schutz rein persönlicher Sicherheit bis zu rein ideellen Gütern wie der eigenen Ehre und derjenigen göttlicher Mächte". Diesen Punkt bekräftigend fügt er hinzu, daß das Recht "... vor allem auch politische, kirchliche, familiäre und andere Autoritätsstellungen und überhaupt soziale Vorzugslagen aller Art ... (garantiert), welche zwar in den mannigfachsten Beziehungen ökonomisch bedingt und relevant sein mögen, aber selbst nichts Ökonomisches und auch nichts notwendig oder vorwiegend aus ökonomischen Gründen Begehrtes sind"19. Indem er ein Prinzip behandelt, das als Prinzip "gegenseitiger Indifferenz" bezeichnet werden könnte, bemerkt Weber als zweites, daß .eine Rechtsordnung ... unter Umständen unverändert bestehen bleiben (kann), obwohl die Wirtschaftsbeziehungen sich radikal ändern", während andererseits" die rechtliche Ordnung eines Tatbestandes ... vom Standpunkt der juristischen Denkkategorien aus betrachtet fundamental verschieden sein (kann), ohne daß die Wirtschaftsbeziehungen dadurch in irgend erheblichem Maße be18 Diese Interdependenz stellt bekanntlich eines der wiederkehrenden Motive in Webers Denken dar. So behauptet er in der berühmten Vorbemerkung zu den gesammelten Aufsätzen zur Religionssoziologie zuerst: "Der moderne rationale Betriebskapitalismus bedarf, wie der berechenbaren technischen Arbeitsmittel, so auch des berechenbaren Rechts und der Verwaltung nach formalen Regeln, ohne welche zwar Abenteurer - und spekulativer Handelskapitalismus und alle möglichen Arten von politisch bedingtem Kapitalismus, aber kein rationaler privatwirtschaftlicher Betrieb mit stehendem Kapital und sicherer Kalkulation möglich ist". Er beeilt sich aber sofort zu präzisieren: .Es haben, neben anderen Umständen, auch kapitalistische Interessen ihrerseits unzweifelhaft der Herrschaft des an rationalem Recht fachgeschulten Juristenstandes in Rechtspflege und Verwaltung die Wege geebnet, wie jede Untersuchung zeigt. Aber keineswegs nur oder vornehmlich sie. Und nicht sie haben jenes Recht aus sich heraus geschaffen. Sondern noch ganz andere Mächte waren bei dieser Entwicklung tätig". Zu dieser Thematik und mit Bezug auf das Werk von Voigt vgl. auch M. Weber, Gesammelte Aufsätze zur Soziologie und Sozialpolitik, Tübingen 1924, S. 471 ff. 19 WuG, S. 252. Nur am Rande soll auf die Eindringlichkeit verwiesen werden, mit der Weber neben den wirtschaftlichen und andersartigen Faktoren die Rolle der innerjuristischen Faktoren im Formalisierungsprozeß des Rechts herausstellt. So bemerkt er: .Die steigenden Ansprüche an Erfahrung und Fachkenntnis der Rechtspraktiker und damit der Anstoß zur Rationalisierung des Rechts im allgemeinen gehen fast immer aus von steigender Bedeutung des Güterverkehrs und derjenigen Rechtsinteressenten, welche an ihm beteiligt sind." Dann fährt er fort: "Ein formell irgendwie entwickeltes ,Recht', als Komplex bewußter Entscheidungsmaximen, hat es ohne die maßgebende Mitwirkung geschulter Rechtskundiger nie und nirgends gegeben" (WuG, S. 582 f.).

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rührt werden, wenn nämlich nur in den ökonomisch der Regel nach relevanten Punkten der praktische Effekt für die Interessenten der gleiche ist."2o Die relative Autonomie und die gegenseitige Indifferenz, die in den fortgeschrittenen westlichen Gesellschaften zwischen Recht und Wirtschaft erreicht wurden, schließen für Weber nicht aus, daß zwischen diesen bei den Bereichen Beziehungen gegenseitiger Beeinflussung bestehen und daß man also neben einer wirtschaftlichen Beeinflussung des Rechts auch von einer rechtlichen Beeinflussung der Wirtschaft sprechen kann: "Für die Gütermarktinteressen bedeutet die Rationalisierung und Systematisierung des Rechts, allgemein und unter dem Vorbehalt späterer Einschränkung gesprochen: zunehmende Berechenbarkeit des Funktionierens der Rechtspflege - eine der wichtigsten Vorbedingungen für ökonomische Dauerbetriebe, speziell solche kapitalistischer Art, welche ja der juristischen ,Verkehrssicherheit' bedürfen".21 Das bedeutet aber nicht, daß zwischen Recht und Wirtschaft irgend ein notwendiger Verursachungszusammenhang auffindbar ist, sondern einzig, daß das rational-formale Recht der Entwicklung der kapitalistischen Wirtschaft eine Unterstützungsmöglichkeit anbietet. An vielen Stellen von "Wirtschaft und Gesellschaft" werden diese Interrelationen zwischen Recht und Wirtschaft im Lichte besonderer Rechtseinrichtungen verdeutlicht. Von der Voraussetzung ausgehend, daß "ökonomische Situationen ... Rechtsformen nicht einfach automatisch aus sich (gebähren), sondern (daß sie) nur eine Chance dafür (enthalten), daß eine rechtstechnische Erfindung, wenn sie gemacht wird, auch Verbreitung finde"22, konzentriert Weber seine Analyse auf einige Produkte rechts technischer Ausarbeitung, die wie der Begriff der juristischen Person eine Sonderung der Rechtssphäre des einzelnen von derjenigen der Gesamtheit erlauben und deshalb auch eine angemessene Lösung des Problems der Verteilung ermöglichen sowie des Problems der Erhöhung tragbarer wirtschaftlicher Risiken, die mit zunehmender Betriebsgröße für den einzelnen immer unerträglicher geworden wären"23. Ein weiteres Beispiel formaler Rationalisierung des Rechts, welche die Entwicklung kapitalistischer Wirtschaft erleichtert, liegt für Weber in der 20 z. B. "... ganz besonders unzugänglich sind erfahrungsgemäß dem Einfluß des Rechts die direkt aus den letzten Quellen ökonomischen Handels fließenden Wirkungen: die ökonomischen Güterwertschätzungen und damit die Preisbildung" (WuG, S.253). 21 WuG, S. 646. 22 WuG, S. 526. 23 WuG, S. 542 f. Hier wird ausdrücklich auf Rechtsinstitute Bezug genommen wie z. B. die "societas maris' oder die "commenda", die von Weber in einer gemeinhin als seine Dissertation bezeichneten Arbeit ausführlich untersucht worden sind (Zur Geschichte der Handelsgesellschaften im Mittelalter, in Gesammelte Aufsätze zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Tübingen 1924, S.312-443).

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Umwandlung der Vertragstypen. "Die heutige Bedeutung des Kontrakts ist in erster Linie Produkt der intensiven Steigerung der Marktvergesellschaftung und der Geldverwendung. Nicht nur stellt der Aufstieg der Bedeutung des privatrechtlichen Kontrakts im allgemeinen die juristische Seite der Marktgemeinschaft dar, sondern der durch die Marktgemeinschaft propagierte Kontrakt ist auch von innerlich anderem Wesen als jener urwüchsige Kontrakt, der auf dem Gebiet des öffentlichen und des Familienrechts früher eine so viel größere Rolle spielte als heute."24 Die bisherigen Überlegungen zeigen, daß im allgemeinen für Weber die Beziehungen zwischen rational-formalem Recht und kapitalistischer Wirtschaft nicht so sehr über ein vereinfachtes Ursache - Wirkung - Verhältnis rekonstruierbar sind, sondern über ein komplexeres Verhältnis zwischen strukturellen Affinitäten und funktionalen Ergänzungen (Komplementarietät), das geeignet ist, die Tatsache hervorzuheben, daß eine rational-formale Rechtsordnung, die - wie wir gesehen haben - weder notwendig noch hauptsächlich durch wirtschaftliche Faktoren hervorgerufen wird, einerseits die Entstehung gleicherweise an Kriterien formaler Rationalität ausgerichteter kapitalistischer Betriebe fördern kann und daß andererseits eine solche Rechtsordnung, dank der Unterstützung der aufkommenden kapitalistischen Klassen, über ein Art von feed back gefestigt und stärker verbreitet werden kann. Die Bestimmung dieser Korrelation des rational-formalen Rechts mit dem Kapitalismus bedeutet aber nicht, daß Weber als Apologet des Kapitalismus auftritt. Er betont im Gegenteil häufig die implizit diskriminierenden Wirkungen, die der Kapitalismus und die ihn unterstützenden Rechtsinstitute hinter ihrer scheinbaren Neutralität letztlich ausüben. Im Zuge dieser Untersuchung Webers taucht erneut die Dialektik zwischen Rationalität des Systems - im Sinne einer Angemessenheit und Elastizität der Strukturen des Systems im Hinblick auf Probleme der Umgebung - und Rationalität des Individuums auf - im Sinne einer Verwirklichung eines Höchstmaßes an persönlicher Freiheit innerhalb der wirtschaftlich-rechtlichen Strukturen. So offenbart unter diesem doppelten Gesichtspunkt z. B. selbst das in den fortgeschrittenen Rechtsordnungen weitgehend durchgesetzte Prinzip der sogenannten .Vertragsfreiheit" einen zweideutigen Sinn. Nachdem Weber behauptet hat, "die Möglichkeit, in Kontraktbeziehungen mit anderen zu 24 Weber führt hier eine wichtige Unterscheidung ein: "Dieser tiefgreifenden Wandlung des allgemeinen Charakters der freien Vereinbarung entsprechend wollen wir jene urwüchsigen Kontrakttypen als ,Status'-Kontrakte, dagegen die dem Güterverkehr, also der Marktgemeinschaft, spezifisch als ,Zweck' -Kontrakte bezeichnen" (WuG, S. 513). Äußerst nützlich ist zu dieser Frage die Arbeit von M. Rehbinder: Wandlungen der Rechtsstruktur im Sozialstaat, in E. E. Hirsch - M. Rehbinder (Hg.), Studien und Materialien zur Rechtssoziologie, Sonderheft 11 der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Köln 1967, S. 162 ff.

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treten, deren Inhalt durchaus individuell vereinbart wird, und ebenso die Möglichkeit, von einer wachsenden großen Anzahl von Schemata nach Belieben Gebrauch zu machen, welche das Recht für die Vergesellschaftung im weitesten Sinne des Wortes zur Verfügung stellt, ist im modernen Recht wenigstens auf dem Gebiete des Sachgüterverkehrs und der persönlichen Arbeits- und Dienstleistungen ganz außerordentlich gegenüber der Vergangenheit erweitert", warnt er vor der Leichtsinnigkeit, allein aus der Entwicklung der Rechtsformen abzulesen, "inwieweit nun auch im praktischen Ergebnis eine Zunahme der individuellen Freiheit in der Bestimmung der Bedingungen der eigenen Lebensführung dargeboten worden oder inwieweit trotzdem, und zum Teil vielleicht in Verbindung damit, eine Zunahme der zwangsmäßigen Schematisierung der Lebensführung eingetreten ist." An derselben Stelle verdeutlicht Weber genauer seine eigene Abneigung gegenüber Versuchen, abstrakte Rechtsprinzipien kritiklos in die gesellschaftliche Wirklichkeit zu übertragen, indem er Licht auf eine latente wichtige Funktion des Prinzips der Vertragsfreiheit wirft. Die entsprechende TextsteIle Webers ist von äußerster Klarheit: "Das formale Recht eines Arbeiters, einen Arbeitsvertrag jeden beliebigen Inhalts mit jedem beliebigen Unternehmer einzugehen, bedeutet für den Arbeitssuchenden praktisch nicht die mindeste Freiheit in der eigenen Gestaltung der Arbeitsbedingungen und garantiert ihm an sich auch keinerlei Einfluß darauf. Sondern mindestens zunächst folgt daraus lediglich die Möglichkeit für den auf dem Markt Mächtigeren, in diesem Falle normalerweise den Unternehmer, diese Bedingungen nach seinem Ermessen festzusetzen, sie dem Arbeitsuchenden zur Annahme oder Ablehnung anzubieten und - bei der durchschnittlich stärkeren ökonomischen Dringlichkeit seines Arbeitsangebotes für den Arbeitsuchenden - diesem zu oktroyieren. Das Resultat der Vertragsfreiheit ist also in erster Linie: die Eröffnung der Chance, durch kluge Verwendung von Güterbesitz auf dem Markt diesen unbehindert durch Rechtsschranken als Mittel der Erlangung von Macht über andere zu nutzen. Die Marktrnachtinteressenten sind die Interessenten einer solchen Rechtsordnung. In ihrem Interesse vornehmlich liegt insbesondere die Schaffung von ,Ermächtigungsrechtssätzen', welche Schemata von gültigen Vereinbarungen schaffen, die bei formaler Freiheit der Benutzung durch alle doch tatsächlich nur den Besitzenden zugänglich sind und also im Erfolge deren und nur deren Autonomie und Machtstellung stützen."25 Es muß noch hinzugefügt werden, daß das okzidentale Recht, wenngleich es überwiegend auf eine zunehmende Rationalisierung ausgerichtet ist, Bereiche von nicht zu vernachlässigender Wichtigkeit aufweist, in denen sich in Verbindung mit den Interessen von Klasse und Stand verschiedene Rationalitätstypen durchsetzen. $0 das Handelsrecht: "streng formalistisch 25

WuG, S. 561.

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und am Sinnfälligen haftend, soweit die geschäftliche Verkehrssicherheit es verlangt, ist es im Interesse der geschäftlichen Verkehrs loyalität unformal, soweit die logische Sinn interpretation des Parteiwillens oder die in der Richtung eines ,ethischen Minimums' gedeutete gute ,Verkehrssitte' es bedingen." Darüber hinaus: "Es wird in antiformale Bahnen gedrängt durch alle diejenigen Gewalten, welche an die Rechtspraxis den Anspruch stellen, etwas anderes als ein Mittel befriedeten Interessenkampfes zu sein."26 Aber noch weiter. Im Stand der Rechtspraktiker wird ger.ade mit Universalisierung des kodifizierten formalen Gesetzesrechts "die Situation des an die bloße Interpetation von Paragraphen und Kontrakten gebundenen Rechtsautomaten, in welchen man oben den Tatbestand nebst den Kosten einwirft, auf daß er unten das Urteil nebst den Gründen ausspeie"27, immer peinlicher empfunden. Und was dazu entsprechend die Strafrechtspflege betrifft: "direkt irrationale ,Kadijustiz' wird heute in weitem Umfang von der ,populären' Rechtspflege der Geschworenen geübt."28

IV. Rational-formales Recht und moderner Staat Bei der Behandlung der Beziehungen zwischen rational-formalem Recht und Staat ist Weber gezwungen, die Grenzen einer Soziologie des Privat-und Prozeßrechts zu überschreiten und den Bereich einer Soziologie des öffentlichen Rechts zu betreten, die gemäß der Gliederung von "Wirtschaft und Gesellschaft" zum Großteil in der "Herrschaftssoziologie" enthalten ist. Zwar hat eine klare Trennung zwischen Rechtssoziologie und politischer Soziologie im weitesten Sinn~ ihre guten historischen Gründe, wie die vorwiegend privatrechtliche Ausbildung der bedeutenden Rechtssoziologen und die in rechtssoziologischen Untersuchungen verbreitete Hervorhebung des Urteilsmoments zum Nachteil der anderen, eher für die politische Soziologie bedeutsamen Umstände wie die Legitimierung der Rechtsstrukturen. Eine erhebliche, einsichtige Grundlage hat diese Trennung aber nicht. Die Rechtssoziologie kann nicht klar von der politischen Soziologie abgetrennt werden, sie verweist vielmehr ständig darauf und findet in ihr eine Ergänzung. In "Wirtschaft und Gesellschaft" werden der Rechts- und Herrschaftssoziologie Untersuchungsgegenstände zugewiesen, die deutlich in einen einzigen gesellschaftlichen Prozeß einmünden. Während sich die Herrschaftssoziologie mit Prozessen beschäftigt, die über die institutionalisierten Kanäle 26 WuG, S. 655. 27 WuG, S. 649. 28 WuG, S. 654.

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der Parteien und über die unformalen Kanäle jener Gruppen, die heute als "pressure groups" bezeichnet würden, vom Bürger zu den Inhabern politischer Macht und besonders zum Gesetzgeber führen und so analysiert, wie die politischen Strukturen im allgemeinen und die Rechtsstrukturen im besonderen tatsächlich von unten her kontrolliert und legitimiert werden, beschäftigt sich die Rechtssoziologie mit Prozessen, die in umgekehrter Richtung über die institutionalisierten Kanäle des Zwangsapparates und der juridischen Subkultur und über die unformalen Kanäle der "pressure groups" vom Gesetzgeber zu dem in seiner Rolle als Adressat der Rechtsnorm gesehenen Bürger führt. Um die Streifzüge in diesen komplexen Bereich auf ein Mindestmaß zu beschränken, werde ich nur einige der vielen in "Wirtschaft und Gesellschaft" auffindbaren Verbindungsstellen zwischen Rechts- und Herrschaftssoziologie darstellen. Im einzelnen werde ich a) auf Webers Definition des Begriffs "moderner Staat" eingehen und werde b) versuchen zu zeigen, wie auch in diesem Falle der Zusammenhang zwischen "Rationalität des Subjekts" und "Rationalität des Systems", wodurch die "formale Rationalität" gekennzeichnet sein sollte, mit besonderer Deutlichkeit erscheint. a) Nach Weber soll moderner Staat "ein Anstaltsbetrieb heißen, wenn und insoweit sein Verwaltungsstab erfolgreich das Monopol legitimen physischen Zwanges für die Durchführung der Ordnungen in Anspruch nimmt2 9 ." Da nun das Recht in einer vorher untersuchten Definition Webers eine durch einen Zwangsapparat geschützte legitime Ordnung ist, ergibt sich schon bei der Begriffsbestimmung eine Interdependenz zwischen Recht und modernem Staat in dem Sinne, daß der vom Recht benötigte Zwang nur von Staatsorganen ausgeübt werden darf, d. h. von der einzigen Organisation, die imstande ist, in der politischen Gemeinschaft einen legitimen physischen Zwang auszuüben. Diese von Weber auf begrifflicher Ebene unterstrichene Interdependenz hat auch auf theoretischer Ebene wichtige Implikationen, so daß der den 29 WuG, S. 39. Damit steht Weber offensichtlich in offenem Widerspruch zum Rechtspluralismus Ehrlichscher Prägung: "Denn das der Gegenwart Spezifische ist, daß man allen anderen Verbänden oder Einzelpersonen das Recht zur physischen Gewaltsamkeit nur soweit zuschreibt, als der Staat sie von ihrer Seite zuläßt: er gilt als die alleinige Quelle des ,Rechts' auf Gewaltsamkeit" (Gesammelte politische Schriften, Tübingen, 2. Aufl. 1958, S. 494). Dadurch ist er gezwungen, den Kodifikationen eine größere Rolle bei der Rechtserneuerung zuzuerkennen. Nur am Rande sei jedoch vermerkt, daß die Kodifikationen selbst mit einer Abschwächung, die für Webers Vorgehensweise typisch ist, später dargestellt werden als "das Produkt einer universellen bewußten Neuorientierung des Rechtslebens, ... wie sie infolge äußerer politischer Neuschöpfungen oder von Standes - oder Klassenkompromissen, welche die innere soziale Einigung eines politischen Verbandes bezwecken, unter Umständen auch beider zugleich, notwendig wird" (WuG, S. 625).

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modernen Staat begleitende und ihn unterstützende Legalisierungsprozeß als eine kohärente Ausdehnung jener in der Rechtssoziologie herausgearbeiteten Hypothese der formalen Rationalisierung der Rechtsstrukturen auf die politische Soziologie erscheint. Einerseits beschränkt sich nämlich der Monopolisierungsprozeß der Gewalt, in dem der Staat seinen Ursprung hat, nicht darauf, die Zentralisierung und Eindeutigkeit der den physischen Zwang betreffenden Entscheidungen zu gewährleisten, er garantiert vielmehr im Bereich der politischen Gemeinschaft auch jene Kombination von Berechenbarkeit und funktionaler Beso"nderheit, die - wie wir gesehen haben - dem Begriff des "rational-formalen" Rechts eigen ist. Wenn andrerseits der Staat dem Recht "Voraussetzung" ist, so ist es nicht minder wahr, daß das Recht dem Staat Voraussetzung ist - und insbesondere das rational-formale Recht - als ein unabdingbares regulatives Instrument seiner Herrschaftsausübung. Der moderne Staat ist nämlich nach Weber als Organisation "ihrem Wesen nach: eine anstaltsmäßige Vergesellschaftung der nach bestimmten Regeln ausgelesenen Träger bestimmter, ebenfalls durch allgemeine Regeln der Gewaltenteilung nach außen gegeneinander abgegrenzter imperia, welche zugleich auch sämtlich durch gesatzte Gewaltbegrenzung innere Schranken der Legitimität ihrer Befehlsgewalt haben"30. b) Das alles erklärt, warum moderner Staat und rationales Recht sich letztlich auf dieselbe Legitimitätsquelle berufen, nämlich auf den "Legalitätsglauben: die Fügsamkeit gegenüber formal korrekt und in der üblichen Form zustandegekommenen Satzungen"3!. Die "legale Herrschaft", auf der sich moderner Staat und modernes Recht gründen, kann verschiedene Organisationsformen benützen, unter denen auf idealtypischer Ebene der bürokratischen Organisation, die als die "formal rationalste Form der Herrschaftsausübung"32 bezeichnet wird, ein besonderer Platz zugewiesen ist. Wegen seiner unzähligen Vorteile, wie Weber bemerkt, hat dieser Organisations typ nicht nur in der inneren Verwaltung des Staates rasche Verbreitung gefunden, sondern auch in der Gesetzgebung und Rechtsprechung sowie in kapitalistischen Wirtschaftsunternehmen und darüber hinaus in den verschiedensten Bereichen der okzidentalen Kultur. Hier geht es nicht so sehr darum, Webers berühmte Darstellung der Bürokratie zu analysieren, es soll vielmehr hervorgehoben werden, daß darin ausdrücklich auf die beiden im vorgenannten Sinne verstandenen Vorbedingungen .Rationalität" und "Formalität" Bezug genommen wird. Explizit bezieht sich Weber auf die Vorbedingung der als Besonderheit und Autonomie der Entscheidungskriterien verstandenen "Formalität", wenn er behauptet: 30

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WuG, S. 503. WuG, S. 27. WuG, S. 164.

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"Vor allem bietet die Bürokratisierung das Optimum an Möglichkeit für die Durchführung des Prinzips der Arbeitszerlegung in der Verwaltung nach rein sachlichen Gesichtspunkten, unter Verteilung der einzelnen Arbeiten auf spezifisch abgerichtete und in fortwährender Übung immer sich weiter einschulende Funktionäre"33. Das erklärt auch, warum "die Gesamtheit des Verwaltungsstabes ... im reinsten Typus aus Einzelbeamten (besteht), welche ihr Amt als einzigen oder Haupt-Beruf behandeln, in völliger Trennung von den Verwaltungsmitteln und ohne Appropriation der Amtsstelle arbeiten, und einer strengen einheitlichen Amtsdisziplin und Kontrolle unterliegen"34. Die daraus folgende Professionalisierung des Amtes "äußert sich zunächst in dem Erfordernis eines fest vorgeschriebenen, meist die ganze Arbeitskraft längere Zeit hindurch in Anspruch nehmenden Bildungsganges und in generell vorgeschriebenen Fachprüfungen als Vorbedingungen der Ans teilung" 35. Die Vorbedingung der als intersubjektive Überprüfbarkeit der Entscheidungsverfahren verstandenen Rationalität wird von Weber erfaßt, wenn er behauptet: "Präzision, Schnelligkeit, straffe Unterordnung, Ersparnisse an Reibungen, sachliche und persönliche Kosten sind bei streng bürokratischer, speziell monokratischer Verwaltung durch geschulte Einzelbeamte gegenüber allen kollegialen oder ehren- und nebenamtlichen Formen auf das Optimum gesteigert." Das, weil in diesem Fall die Erledigung in erster Linie nach "berechenbaren Regeln" stattfindet 36 . Es ist also kein Zufall, daß Weber, wenn er an dieser oder an anderen Stellen über bürokratische Organisation spricht, auf einer Analogie mit der Maschine besteht. Gleich einer Maschine produziert nämlich die Bürokratie vorhersehbare (und deshalb rationale) outputs, und zwar mittels Verfahren, die ihr spezifisch und dem Bürger fremd und häufig unbekannt (also formal) sind 37 . Man muß jedoch hinzufügen, daß der moderne Staat in seinem konkreten Funktionieren, trotz oder vielleicht gerade weil er gemäß der heterogenen und deshalb schwer vereinbaren Prinzipien der Rationalität und der Formalität aufgebaut ist, dem Einbruch irrationaler und materialer Momente breiten Raum läßt. Weber unterstreicht diese Tatsache so: "mit dem Erwachen moderner Klassenprobleme (entstehen) materiale Anforderungen an das Recht von seiten eines Teils der Rechtsinteressenten (namentlich der ArbeiWuG, S. 717. WuG, S. 162 f. 35 WuG, S. 705. 36 WuG, S. 717. 37 "Der entscheidende Grund für das Vordringen der bürokratischen Organisationen war von jeher ihre technische Überlegenheit über jede andere Form. Ein voll entwickelter bürokratischer Mechanismus verhält sich zu diesem genau wie eine Maschine zu den nicht mechanischen Arten der Gütererzeugungen" (WuG, S. 716). 33 34

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terschaft) einerseits, der Rechtsideologen andrerseits", die sich gerade gegen "die Geschäftssittlichkeit, welche sich an dem durchschnittlich zu Erwartenden orientiert, stellen und ein soziales Recht auf der Grundlage pathetischer, sittlicher Postulate (Gerechtigkeit, Menschenwürde) verlangen"38. Unabhängig von jeder Formalisierung der Beziehungen zwischen Recht und Staat bleibt also die Bedürfniskonstellation (ideal oder material) maßgebend: in jedem autoritären Pflichtverhältnis ist faktisch "ein gewisses Minimum von eigenem Interesse des Gehorchenden daran, !laß er gehorcht, normalerweise eine unentbehrliche Triebfeder des Gehorsams"39. Nicht auf der Ebene des Herrschers, sondern auf jener des Rechtsunterworfenen erscheint der Einbruch irrationaler Momente mit besonderer Deutlichkeit bei der Behandlung der Rolle, die im modernen Staat der "Dämagoge" spielt, d. h. derjenige, der unabhängig von immer möglichen cäsaristischen oder charismatischen Entwicklungen imstande ist, die durch den Demokratisierungsprozeß politisch aktivierten Massen mit zuweilen skrupellosen Mitteln für sich einzunehmen. Gegenstand dieser "Personalisierung" und "Emotionalisierung" des politischen Lebens können Staatsvorstellungen sein, die von der des Rechtsstaates verschieden sind und langfristig geeignet, über die Vorstellung einer "Machtpolitik" oder eines nur an sein Schicksal gebundenen "Nationalstaates" die im Rechtsstaat erreichte persönliche Freiheit zu bedrohen 40 .

V. Abschließende Bemerkungen Wie Bobbio betonte, ist eines der Hauptmerkmale von Webers Werk die überraschende "Offenheit" gegenüber unterschiedlichen Interpretationen 4 \. In Webers Werk wird dieses allen "Klassikern" gemeinsame Kennzeichen durch eine Vielfalt konkurrierender Faktoren noch deutlicher: die charakteristische Argumentationsweise, die mehr darauf abzielt, die Komplexität der WuG, S. 648. WuG, S. 694. 40 Gesammelte Politische Schriften, Tübingen, 2. Aufl. 1958, S. 494. Hinsichtlich der Rolle dieser ideologisch-politischen Komponenten im Werk Webers bleibt das Buch von W. Mommsen: Max Weber und die deutsche Politik (1890-1920), Tübingen, 2. Auf!. 1974, trotz der hervorgerufenen Kritik und der Richtigstellungen des Autors unersetzlich. Zu dieser Frage vg!. auch David Beetharn: Max Weber and the Theory of Modern Politics, London 1974; zu einem sorgfältigen Vergleich des politischen Denkens Webers mit jenem von Meinecke und Troeltsch siehe Gustav Schmidt: Deutscher Historismus und der Übergang zur parlamentarischen Demokratie, Lübeck/Hamburg 1964. 4\ Zu diesem Urteil siehe Norberto Bobbio: Weber e i classici, Referat auf der Tagung "Max Weber sessant' anni dopo", Rom, 26-28 Juni 1980. 38 39

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Probleme darzustellen, anstatt eindeutige Lösungen zu bietenj die frühe Unterbrechung der Forschungsarbeit gerade zu einem Zeitpunkt größter auf Systematisierung gerichteter Anstrengungj das jahrzehntelange Fehlen einer zuverlässigen kritischen Ausgabej die Weite der behandelten Themen, die aufgrund des vom Interpreten jeweils gewählten Ausgangspunkte (methodologisch, philosophisch, politologisch usw.) verschiedenartige Wege öffnen und grundsätzlich verschiedene Interpretationen ermöglichen. Im Laufe der vorangegangenen Untersuchungen wurde versucht, deutlich zu machen, daß ein weiterer und nicht nebensächlicher Grund für die "Offenheit" von Webers Werk sein komplexer und zweideutiger Begriffsapparat ist, wie er im Bereiche der Soziologie des rational-formalen Rechts deutlich wird. Das rational-formale Recht wurde als äußerst instabiler Gleichgewichtspunkt zwischen zwei idealtypischen Alternativen dargestellt: einer intersubjektiven (rational/irrational) und einer systemischen Alternative (formal/material). Die daraus folgende Mehrdimensionalität der Analyse erlaubt es, wie wir gesehen haben, mit einem raschen Wechsel von Position und Gegenposition den Brennpunkt der Untersuchung vom Beteiligten auf die Institutionen, von den Entscheidungsprozessen des Einzelnen auf jene der großen rechtlichen, wirtschaftlichen und politischen Organisationen der westlichen Gesellschaft zu verschieben, mit dem Hinweis nämlich, daß das, was für den Beteiligten rational ist, es für das System nicht sein muß und umgekehrt. Dadurch wird verständlicher, warum es besser ist, gegenüber Webers Werk starre Stellungnahmen zugunsten einer nur .rationalistischen" oder nur "irrationalistischen" Interpretation zu unterlassen, und warum die von Weber erreichten Ergebnisse sich nicht leicht in Sätze allgemeinen und bedingungslosen Inhalts zusammenfassen lassen, was übrigens seiner gegen Vereinfachungen und intuitives Vorgehen gerichteten Denkweise völlig fremd wäre. Nun wurde auch eingehender festgestellt, daß wenn es kein Recht gibt, das einzig von der (rationalen) Logik des Marktes beherrscht wird, es auch kein nur von der (formalen)Logik beherrschtes Recht gibt. Gerade diese ungewohnte Flexibilität der Ergebnisse, - von der die Interpreten 42 häufig desorientiert werden, auch weil Weber es vorzieht, das als System oder als eine Gesamtheit individueller Handlungen verstandene Recht nicht (wie man es gewohnt ist) von außen her zu beobachten, sondern vom internen Stand42 Eine Sammlung verschiedener Interpretationen der Rechtssoziologie Max Webers findet man in S. Breuer/H. Treiber (Hg.): Zur Rechtssoziologie Max Webers. Interpretation, Kritik, Weiterentwicklung, Opladen 1984. Unter den wenigen italienischen Autoren, welche die Aktualität von Webers Werk erfaßt haben und sich nicht auf eine Textanalyse beschränkt, sondern versucht haben, besondere theoretische Probleme mit dessen Hilfe zu lösen, nenne ich Bruno Leoni: Scritti di scienza politica e teoria dei diritto, Milano 1980, sowie ders.: Freedom and the Law, Princeton, J. J. 1961.

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punkt der Schöpfungs- und Anwendungsstile der Normen - erlaubt es jedoch, Webers Werk als einen wichtigen Kreuzungspunkt zu betrachten, in dem verschiedene, zuweilen widersprüchliche Richtungen soziologischer und juridischer Reflexion zusammentreffen, insbesondere von Überlegungen, die nicht so sehr das Recht als law in the books oder als law in action betreffen, sondern die Rechtskultur, die beide bedingt. Das ist in jedem der vorher behandelten Punkte ersichtlich. So ist hinsichtlich des Formalisierungsprozesses des Rechts zu bemerken, daß Weber nicht nur die von den Gelehrten vor ihm benützten einfachen bipolaren Typologien überwindet, sondern im Unterschied z. B. zur historischen Schule es auch vermeidet, sich ständig auf kollektive, empirisch schwer nachprüfbare Entitäten (wie z. B. den Volks geist) zu beziehen, und sich auf die spezifische juridische Subkultur konzentriert, wobei er eher eine "kritische" als eine pragmatische Rechtssoziologie vorwegnimmt, die sich ihrerseits nicht so sehr zum Ziel setzt, den Rechtspraktikern bedeutsame Daten zu vermitteln, sondern versucht, die inspiratorischen Kriterien, die Einflußfaktoren und die gesellschaftlichen Aufgaben ihrer Entscheidungsprozesse zu ermitteln 43 . Was den methodologischen Ansatz der Analyse der Beziehungen zwischen rational-formalem Recht und modernem Kapitalismus betrifft, ist anzumerken, daß Weber derart bemüht ist, monokausale Lösungen zu überwinden, daß er soweit geht, einen Ansatz zu wählen, der bei genauerem Hinsehen nicht einmal mehr kausal genannt werden kann. In seinem Ansatz nimmt er beinahe das ganze Register der Instrumente vorweg, durch die neuere Varianten des funktionalistischen Ansatzes gekennzeichnet sind. Im Zuge seiner Kapitalismusanalyse spricht Weber mehr oder weniger ausdrücklich von "latenten Funktionen" (man denke an die Feststellung der verzerrenden Wirkungen des kapitalistischen Einsatzes der "Vertragsfreiheit" gegenüber dem Rechtegalitarismus), von ..funktionalen Vorbedingungen" (man denke an die Feststellung der Abhängigkeit des Kapitalismus vom Entstehen bestimmter technischer Innovationen und allgemeiner: von einem rational-formalen Recht) oder auch von "funktionalen Alternativen" des Kapitalismus, die natürlich ihrerseits wiederum einer analytischen Untersuchung der jeweiligen latenten Funktionen und funktionalen Vorbedingungen unterzogen werden (man denke an die sehr berühmte Sozialismusdiskussion)44. 43 Bekanntlich stammt die Gegenüberstellung von Kritischer Soziologie und Weberscher Soziologie von Marcuse und Habermas, die sie auf dem XV. Deutschen Soziologentag vertreten haben, der dem Thema .Max Weber und die Soziologie heute" gewidmet war. Bei dieser Gelegenheit erhoben sich jedoch wichtige Gegenstimmen (vgl. z. B. den Beitrag von G. Friedmann). Siehe Max Weber und die Soziologie heute, Verhandlungen des 15. Dt. Soziologen tages, Tübingen 1965. 44 Siehe: Der Sozialismus, in Gesammelte Aufsätze zur Soziologie und Sozialpolitik, Tübingen 1924, S. 492-518.

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Was schließlich die Anlage der Beziehungen zwischen rationalformalem Recht und modernem Staat betrifft, so ist anzumerken, daß Weber schematische Gegenüberstellungen von "Staat" und "Individuum" vermeidet und dabei zu einem Ansatz gelangt, der einerseits auf dem "gemeinten Sinn" des individuellen Handeins gründet, aber andrerseits den Sinn erfaßt, den die individuellen Handlungen - unabhängig von der Bewußtheit der Beteiligten - für kollektive Aggregate wie die Rechtsinstitutionen des modernen Staates annehmen. Weber versucht also, die dem Individuum durch die bürokratische Organisation des Staates (aber nicht nur des Staates) entstehenden Vorteile und Gefahren zu erfassen, und das führt ihn - trotz leicht möglicher Entgegensetzungen - in die Nähe einiger zeitgenössischer soziologischer Strömungen, die eine realistische und entzauberte Analyse der Bürokratie in den Mittelpunkt ihrer Interpretation der komplexen Gesellschaft stellen 45 • Darüber hinaus ist es Weber möglich, über die instabile Kombination der beiden Aspekte Rationalität und Formalität Erscheinungen in der Struktur und Funktionsweise der Rechtsordnungen eindringlich darzustellen, die wir heute noch als problematisch empfinden. Im Falle des Staates und der bürokratischen Verwaltung, wie auch in jenem des Kapitalismus und des rational-formalen Rechts, wird es besonders offenkundig, daß die interpersonale Überprüfbarkeit der Entscheidungen (Rationalität) an und für sich letztlich zur Unpersönlichkeit der Entscheidungen (der Verwaltung, der Wirtschaft, des Rechts) führt, mit einem zumindest tendenziellen Ausschluß der Personenbezogenheit46 . Dazu zeigt uns die Erfahrung ständig, daß die Gesetzgebungsfülle durch Formalisierung erleichtert wird, weil dadurch nicht nur Privilegien, sondern Dazu sei vermerkt, daß die Beziehung, die nach Weber zwischen rational-formalem Recht und modernem Staat besteht, nicht nur funktionalistisch interpretierbar ist, sondern auch strukturell mit dem erst seit kurzem in die allgemeine Rechtstheorie eingeführten Begriffe der "Konstitutivität" analysiert werden kann. Die bürokratischen Organe des Staates berücksichtigen in ihrer Tätigkeit nicht nur Rechtsnormen (regulative Regeln), sondern haben auch andere Normen (konstitutive Regeln) zur Voraussetzung, die ihren Aufgabenbereich und ihr gegenseitiges Verhältnis von Unter- und Überordnung bestimmen und sie als solche erst ins Leben rufen. Das Recht beschränkt sich nämlich nicht darauf, die Tätigkeiten des Staates zu regeln, es bildet vielmehr dessen Struktur. Zu dieser Frage, die über anderweitige kulturelle Einflüsse seit kurzem die Aufmerksamkeit italienischer Rechtsphilosophen auf sich gezogen hat, siehe G. Carcaterra: La forza costitutiva delle norme, Roma 1979; A. G. Conte: Konstitutive Regeln und Deontik, in E. Marscher/R. Stranzinger (Hg.); Ethik. Akten des 5. Internationalen Wittgenstein-Symposium, Wien 1981, S. 14-18. 45 Dazu Wolfgang Schluchter: Aspekte bürokratischer Herrschaft, München 1972. 46 "Ohne Ansehen der Person" ist für Weber die Parole nicht nur der bürokratischen Organisation und ihres formalisierten Rechts, sondern .auch des Marktes" und "aller nackt ökonomischen Interessenverfolgung überhaupt" (WuG, S. 717).

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auch ethische und traditionelle Hindernisse für die Rechtserneuerung beseitigt werden; das führt zu einer beachtlichen Zunahme der Normen und ihres technischen Niveaus und dies führt seinerseits zu einer Abnahme ihrer Verständlichkeit und ihrer intersubjektiven Überprüfbarkeit. Problematisch wird dadurch schließlich die Verwirklichung der "Berechenbarkeit" und der Vorhersehbarkeit der Entscheidungen, die im Begriff der formalen "Rationalität" enthalten sind. Es findet also nicht nur eine grundlegende Trennbewegung zwischen einer "materialen" Rationalität statt, die voIf!. Standpunkt des Beteiligten aus als Anpassung des outputs des Rechtssystems an die jeweiligen individuellen Bedürfnisse verstanden wird, und einer "formalen" Rationalität, die von einem dem Rechtssystem internen Standpunkt aus als Effizienz und Technizismus der Verfahren zur Normenbildung verstanden wird; im modernen Recht besteht auch noch eine dem Paar rational/formal innewohnende Schwäche, da über bestimmte Grenzen hinaus die Formalität dazu neigt, die Rationalität zu verleugnen. Diese selbstzerstörerische Fähigkeit der formalen Rationalität, die nur dann erfaßt werden kann, wenn man, wie Weber, zwei verschiedene Kategorieebenen (die systemische und die intersubjektive) unterscheidet, hilft auch weitere Fälle zu verstehen, bei denen aufgrund der Erfordernisse systemischer Subjektivität die Erfordernisse intersubjektiver Verständlichkeit geopfert werden (z. B. in "Entfremdungs" -situationen des Arbeiters im Betrieb oder bei "Apathien" des Bürgers gegenüber den zu komplexen und zu professionalisierten politischen Organisationen). Der mehrdimensionale Charakter von Webers Analyse erlaubt es also, das mögliche Auseinanderklaffen einer Rechtskultur, die man heute als "extern" bezeichnen würde, und einer "internen" Rechtskultur (L. M. Friedman) zu erfassen, wobei Weber als Kosten des rational-formalen Rechts "die unvermeidlich zunehmende Unkenntnis des an technischem Gehalt stetig anschwellendem Rechts auf seiten der Laien"47 anführt. Und das ist eine Thematik, mit der sich eine Rechtssoziologie unbedingt auseinandersetzen muß, die Webers theoretisches Niveau bewahren will und die sich nicht nur der funktionalen Erfordernisse des Rechtssystems und seiner Rechtspraktiker bewußt ist, sondern auch der metajuridischen Bedürfnisse der Rechtsadressaten.

47 Diese im Entwicklungsprozeß unausweichliche Gegenüberstellung von Formalität und Rationalität wird von Weber bedeutungsvoll mit .Schicksal" bezeichnet. Das stellt die Grenzen des sog. Individualismus Webers heraus sowie die Notwendigkeit, diesen den Erfordernissen des Systems zu unterwerfen. Zum Begriff des .Schicksals" und zu dessen ideologischen Folgen siehe E. Baumgarten: Max Weber. Werk und Person, S. 658 ff.; H. Marcuse, Industrialisierung und Kapitalismus, in Max Weber und die Soziologie heute (Fn. 43), S. 161 H.

PERSÖNLICHKEIT, ORDNUNGEN, INTERESSEN Die Rechtssoziologie im Werk Max Webers

Von Klaus-Peter Tieck Als Beitrag zu einer soziologischen Grundlegung des Rechts ist Webers "Rechtssoziologie" für Soziologen und erst recht für Juristen eine Verlegenheit geblieben. So hat Manfred Rehbinder, vom Standpunkt der soziologischen Jurisprudenz aus, jüngst festgestellt, Weber habe, obwohl Jurist, "Recht und Rechtswissenschaft seiner Zeit gründlich verkannt"!. Aber gerade auch für die Deutung des Gesamtwerks ist dieser wichtige Teil selten herangezogen worden, obwohl seine Ausarbeitung womöglich zeitlich mit dem ersten Versuch zusammenfällt, das universalgeschichtliche Konzept der religionssoziologischen Arbeiten, wie es dann später in der berühmten "Vorbemerkung" als deren Fazit vorliegen sollte 2 , erstmals zu formulieren 3• Durch Friedrich H. Tenbrucks Neuansatz ist nunmehr die Frage, was unter universalgeschichtlicher Untersuchung zu verstehen sei, entscheidend mit der Bedeutung der kulturgeschichtlichen Grundannahme Webers, des universalen Rationalisierungsprozesses, in Zusammenhang gebracht worden 4 • I. Zum Rationalisierungskonzept

Augenscheinlich wollte Weber seinen methodologischen Ansatz nicht ins Metatheoretische entrückt wissen, sondern sah ihn in den Rationalisierungsprozeß selbst als dessen Folge miteinbezogen. Erst dem innerlich sich aus der Welt herausnehmenden, aller "natürlichen" Bindungen sich entschlagenden Menschen, der nach einem letzten, geglaubten Wertmaßstab seine gesamte Lebensführung aus sich selbst heraus neu zu gestalten und ! M. Rehbinder: Max Weber und die Rechtswissenschaft, Vortrag gehalten am 12.6.1985 an der soziologischen Fakultät der Universität Trient, im vorliegenden Band S. 127 ff. 2 M. Weber: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, 6. Auf!. Tübingen 1972, S. 1. 3 W. Schluchter: Die Entwicklung des okzidentalen Rationalismus, Tübingen 1979, S. 1-14. 4 F. H. Tenbruck: Das Werk Max Webers, in KZfSS 27 (1975), S.663-702.

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somit zu rationalisieren unternimmt, kann diese ihm "innerlich" fremd gewordene Welt als Ganzheit, "universal" entgegentreten. Die Erkenntnis, das eigene Leben selber "führen" zu können, macht die natürlichen Gegebenheiten zu totem, entzaubertem Material, das nunmehr seinen "Eigengesetzlichkeiten", d. h. dem frei gestaltenden Willen des Schöpfers anheimgestellt ist. Diese Erkenntnis öffnet aber auch die Augen für andere Lebensordnungen, die an dem entscheidenden ethischen und methodologischen Maßstab gemessen werden können, ob und inwieweit sie bewußt, nach letzten Überzeugungen durchrationalisiert werden. Der in Webers Sprachgebrauch so zentrale Begriff der "Lebensführung" lebt aus der ethisch motivierten Erkenntnis, daß alles "Streben zur Einheit von innen heraus, das wir mit dem Begriff ,Persönlichkeit' verbinden"5, auf ein "Hinausgreifen über die Welt", ein "Eigengewicht ihr gegenüber" abzielt 6 . Eben durch diese ethische Festlegung waren auch methodologisch die Vorentscheidungen gefallen. Die auf eine radikale innere Stellungnahme, auf ein "inneres Gesetz" hin durchrationalisierte Lebensführung konstituiert die ganze Welt und begreift die äußeren materiellen Lebenszusammenhänge nach deren "Eigengesetzlichkeiten", die natürlich erst durch sie in die Welt kommen. Das ist für Weber der erste Schritt zur Verselbständigung der Bereiche kulturellen Handeins. Tenbrucks berühmte These, wonach "das, was wir kurzerhand Rationalität nennen, unter dem Vorbehalt religiöser Rationalisierung" sich entwickele, beschreibt doch im Grunde die mehr und mehr bewußt vollzogene Selbstaufhebung der Religiosität, die den umfassenden Deutungsanspruch gegenüber der Welt preisgibt und diese immer stärker als einen Gegensatz vor sich aufrichtet. Indem sie sich aus der Welt zurückzieht und sie damit entzaubert, begibt sich die Religiosität auch des Rechts, allgemeinverbindlich festzulegen, was als Welt zu gelten habe. Sie begründet durch ihre Scheidung von innerer und äußerer Lebensführung die Verselbständigung der Bereiche des Wissens und des Handeins, die nunmehr je für sich ihr Konzept von Welt entwerfen, es dabei jedoch sorgsam jeglicher Eigengeltung entkleiden und den eigenen Erkenntnis- oder Zweckinteressen unterwerfen. Religionssoziologie (N 2), S. 521. Die Begriffe "Lebensführung" und "Persönlichkeit" hat W. Hennis zur Grundlage einer Neubewertung des Gesamtwerks gemacht: Max Webers Thema. Die Persönlichkeit und die Lebensordnungen, in Zeitschrift für Politik 31 (1984), S. 11-51. Die Ansicht, daß Webers Untersuchungen letztlich immer aus einer letzten mithin ethischen Stellungnahme heraus leben, wird hier ausdrücklich geteilt. Freilich aber ist der persönliche .innere" Standpunkt nicht der .Kern" des Werkes, sondern vielmehr dessen metholologisch notwendige Voraussetzung. Der "innere" Anspruch deckt nur die eine Seite des Persönlichkeits begriffs. Er wird ergänzt und steht im Zusammenhang mit der .äußeren" faktischen Fähigkeit, durch die Regelmäßigkeit persönlicher Lebensführung "Lebensordnungen" neu zu begründen. 7 Tenbruck (N 4), S. 683. 5 6

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Die religiöse Rationalisierung macht zwar mit der Entzauberung der Welt den Anfang, stellt dieser aber das ethische Postulat voran, "daß die Welt ein gottgeordneter, also irgendwie ethisch sinnvoll orientierter Kosmos sei"s. Gerade dieser Frage nach dem "Sinn" innerweltlichen Geschehens verweigert sich jegliche empirische, vollends die mathematische Weltbetrachtung. Daraus zieht Weber die Schlußfolgerung: "Mit jeder Zunahme des Rationalismus der empirischen Wissenschaft wird dadurch die Religion zunehmend aus dem Reich des Rationalen ins Irrationale verdrängt und nun erst: die irrationale oder antirationale überpersönliche Macht schlechthin"9. Auch die empirischen Wissenschaften liefern miteinander konkurrierende Weltdeutungen, und zwar gerade deshalb, weil sie stillschweigend das religiöse Bild einer entzauberten Welt übernehmen, es aus seiner transzendenten Verankerung lösen und als gleichsam nebenläufige Folge ihrer praktischen Arbeit ausgeben. Die Erheblichkeit eines jeden ethisch motivierten Ordnungsentwurfs wird geleugnet; dessen theoretische Folge aber, die Vorstellung einer lediglich ihren Eigengesetzlichkeiten gehorchenden, frei beherrschbaren Welt, als grundlegende, jegliche empirische Fragestellung erst ermöglichende methodologische Grundannahme übernommen. Webers kulturgeschichtliche und methodologische Grundüberzeugung betrifft somit das - notwendig auf dem Boden des Okzidents auftauchende - problematische Verhältnis von interessenbedingter Teilbetrachtung der Welt, mithin der sie ausmachenden sozialen Erscheinungen, und ethisch beseeltem Anspruch, diese in eine der jeweiligen Wertentscheidung entsprechende umfassende Ordnung zu bringen. Dieses Verhältnis verdeutlicht sich in dem Begriff "Persönlichkeit". Er ist für Weber die Grundlage einer "universal" forschenden Soziologie, die stets von der Auffassung auszugehen hat, daß die letzten Beweggründe des Handeins nicht in einem irgendwie empirisch feststellbaren "gesellschaftlichen" Zusammenhang aufgehen. Zur "Gesellschaft" konstituieren sich für Weber gerade solche Individuen, die in keine "Gemeinschaft" mehr eingebunden sind, die die Bedeutung von Handeln und Erleben vorbestimmt. Die gesellschaftlichen Interessen sind auch der soziologischen Betrachtung nur so lange offenkundig, wie auch die letzten, inneren Gesetze im Blick bleiben, an denen sich die Handelnden als Persönlichkeiten ausrichten. Unter den verselbständigten Bereichen kulturellen Handelns darf das Recht als das genaue säkulare Gegenbild zur Religiosität gelten. Da der rechtlich erfaßte empirische Tatbestand auf einen Sinnzusammenhang bezogen wird, der den Anspruch erhebt, allgemeingültig zu sein, hat das Recht sich auch als letzter Erkenntnisbereich aus seiner religiösen Verankerung gelöst und sich zur Wissenschaft konstituiert. Wenn nun aber das Handeln nicht mehr aufgrund göttlicher Weisung normiert werden kann, wo sind dann inmitten der unterschiedlichen Interessen die GrundlaBReIigionssoziologie (N 2), S. 564. 9

Ebd.

6 Max Weber

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gen für eine allgemein anerkannte, tatsächlich wirksame Ordnung zu finden? Da jeder einzelne gerade in dem Maße Interessenträger ist, als er für sich seine "Ordnung" der Welt entwirft, kann eine "sachliche" Ordnung auch nur durch die letztlich auf der unbedingten inneren Einstellung "zur Sache" beruhende Tätigkeit eines Stabes "verpflichteter" Einzelner sichergestellt werden. Damit beschreibt der Begriff Persönlichkeit auch den Übergang von der kulturellen Gemeinschaft, die auf Zusammengehörigkeitsgefühl beruht, zum politischen Verband, der sein Handeln aufgrund eines letzten Standpunktes seiner Träger formal-technisch zu rationalisieren vermag. Die allmählich dem einzelnen bewußt werdende Stellung in der Welt leistet einer Rationalisierung der Rechtspflege Vorschub, die den Übergang von der Gemeinschaft zur Gesellschaft, von der kulturellen Lebensordnung zum politischen Verband im "Mittel" der Rechtsordnung vollzieht. Wie eng Webers Rationalisierungskonzept mit dem Problem verknüpft ist, den Untersuchungsgegenstand der Rechtssoziologie abzugrenzen,zeigt sich an der Begriffspyramide der "Soziologischen Grundbegriffe". Zunächst hängt die Möglichkeit soziologischer Betrachtung von der "tatsächlich bestehenden Chance einer Regelmäßigkeit der Einstellung sozialen Handeins" ab, deren Übung durch Brauch oder Sitte eingelebt oder aber durch Interessenlage verursacht sein kann. Jedoch bildet das interessenbedingte Handeln, wie es Weber vor allem auf dem "freien Markt" wirksam sieht, in seiner "Bewußtheit und inneren Ungebundenheit den polaren Gegensatz gegen jede Art innerer Bindung durch Einfügung in bloße eingelebte ,Sitte"'1o. Auch hier, bei der Beschreibung des scheinbar rein äußerlich bestimmten wirtschaftlichen Verhaltens, greift Weber auf ein Begriffspaar zurück, das ethisch fundiert ist. Zwischen "innere Ungebundenheit" und "innere Bindung" schiebt er aber jene Rationalisierung des Handeins ein, die den "Ersatz der inneren Einfügung in eingelebte Sitte durch die planmäßige Anpassung an Interessenlagen" leistet. Jedoch fragt sich: Was muß rationalisiert werden, und gegebenenfalls durch wen? Die Regelmäßigkeiten sozialen Handelns, die vor allem das "Wirtschaften" bestimmen, bilden nicht einfach einen fließenden wechselseitigen Übergang zwischen "eingelebtern" und bewußt geplantem Handeln; denn das "Wissen" um die eigene Interessenlage erwächst notwendig aus der Vorstellung vom Bestehen einer legitimen Ordnung. Eine solche Ordnung, die nicht nur "innerlich" für geltend erachtet, sondern auch noch äußerlich durch einen Zwangsstab garantiert ist, heißt Weber nun Recht.

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M. Weber: Wirtschaft und Gesellschaft (WuGl, 5. Auf!. Tübingen 1980, S. 15.

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H. Innere und äußere Rechtsgarantie Den Schlüssel zu Webers typengeschichtlich vorgehender Rechtssoziologie bildet das Verhältnis zwischen formaler und materialer Rationalisierung der Rechtspflege. In einer berühmten Arbeit seines Heidelberger Freundes Georg Jellinek findet sich folgender Satz: "Die Willensmacht ist das formale, das Gut oder Interesse das materiale Element im subjektiven Rechte"ll. Weber, der selber erklärte, er verdanke der Beschäftigung mit Jellineks "System der subjektiven öffentlichen Rechte" die Unterscheidung zwischen naturalistischem und dogmatischem Denken l2 , sah die Rechtsentwicklung auf der Doppelspur von Rechtschöpfung und Rechtsanwendung, von formaler Festsetzung der Rechtsverhältnisse und freier materialer, letztlich nicht vorhersehbarer Ausformung der Lebensordnungen. Auch dies untersucht Weber wieder mit einer die Untersuchung vorentscheidenden ethischen Wertung. Als Urform allen Rechts sieht er nämlich die Idee des Kontraktes. In dem Maße, wie Personen die Möglichkeit haben, miteinander in Beziehung zu treten und Rechtsgeschäfte abzuschließen, mithin ihre Güterinteressen zu zwangsrechtlich garantierten Ansprüchen zu erheben, genießen sie Freiheit. ",Freiheit' heißt im Rechtssinn: Rechte haben, aktuelle und potentielle, die aber in einer machtlosen Gemeinschaft naturgemäß vorwiegend nicht auf ,Rechtsgeschäften', welche der Einzelne abschließt, sondern eben direkt auf gebietenden und verbietenden Sätzen des Rechts beruhen"13. Der "freie Markt" steht demnach nicht nur für die "Chance" ungehinderten W arenaustauschs, sondern eröffnet vor allem jedem einzelnen eine Sphäre, in der er sich als Träger ganz besonderer "Interessen" sehen kann, die ihm ein unverwechselbares Persönlichkeitsbild aufprägen. Gemeinschaften, die keinen freien Markt aufweisen, erkennen auch den einzelnen nicht als Rechtspersönlichkeit an, sondern sprechen vielmehr die Eigenschaft, "Person" zu sein, dem Verband selbst zu. "Alle jene urwüchsigen Kontrakte, durch welche z. B. politische oder andere persönliche Verbände, dauernde oder zeitweilige, oder Familienbeziehungen geschaffen wurden, hatten zum Inhalt eine Veränderung der rechtlichen Gesamtqualität, der universellen Stellung und des sozialen Habitus von Personen ... "14. 11 G. JeIlinek: System der subjektiven öffentlichen Rechte, 2. Auf!. Tübingen 1919, S.45. 12 M. Weber: Gedenkrede auf Georg JeIlinek bei der Hochzeit von dessen Tochter Frau Dr. Dora Busch am 21.3.1911, in Max Weber zum Gedächtnis. Materialien und Dokumente zur Bewertung von Werk und Persönlichkeit, hg. von R. König und J. Winckelmann, KZfSS Sonderheft 7 (1963). !3 WuG I (N tO), S. 399. 14 Ebd. S. 401.

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Am Anfang aller Dinge ist für Weber nicht nur der Vertrag, sondern vor allem die noch gänzlich in die Welt und ihre natürlichen Beziehungen eingebundene Persönlichkeit, deren rechtliche Stellung gänzlich mit einer sozialen Identität verschmilzt, die ihr "von außen" aufgedrückt wird. Die äußere Stellung vor der Welt schiebt sich über die innere vor sich selbst und weitet die Persönlichkeit zu einer "universalen" Einheit, worin die natürlichen Lebensbedingungen, wie Familien- oder Sippenzugehörigkeit, und der dadurch erwachsende soziale "Habitus", das "eingelebte". Handeln, als gleichsam überkommene, ererbte Bestandteile eingehen. In Rechtsdingen tritt ein derart geformter Einzelner nicht für eine gewählte Überzeugung oder Interessenlage ein. Vielmehr repräsentiert er mit seinem Handeln die gesamte Lebensordnung, die er in sich aufgenommen hat und nach außen hin wiedergibt. Die Mehrzahl der Kontrakte, mit denen der Einzelne stets sich selbst als Ganzes verpfändet, sind "Verbrüderungsverträge". "Sich derart ,Verbrüdern' aber heißt nicht: daß man sich gegenseitig für konkrete Zwecke nutzbare bestimmte Leistungen gewährt oder in Aussicht stellt, auch nicht nur, wie wir es ausdrücken würden: daß man fortan ein neues, in bestimmter Art sinnhaft qualifiziertes Gesamtverhalten zueinander in Aussicht stellt, sondern: daß man etwas qualitativ anderes ,wird' als bisher"15. Hier setzt nun der Rationalisierungsprozeß ein. Er bricht nicht etwa unversehens von außen über das wirtschaftliche Gemeinschaftsleben herein, sondern er erfaßt von innen das handelnde Individuum. Indem der Einzelne sich auf ein "inneres" unbedingtes Gesetz festlegt, tritt ihm die Welt als eine fremde gegenüber und zerfällt in einzelne, nach ihren Eigengesetzlichkeiten nunmehr unabhängig sich ordnende Sphären des Handeins. Erst ein sich als eigenmächtige Persönlichkeit sehender Einzelner kann Zweckerwägungen anstellen, welche eine ihm erkennbare Interessenlage von der allumspannenden Ordnung seines Verbandes unterscheiden. Die Wurzel des modernen Konzepts von Vertragsfreiheit liegt demnach in einer materialen, ethisch die Einstellung zur Welt als solcher umwälzenden Rationalisierung des Kulturmenschen, die ihn zu einer "formal" frei sich an den eigenen Interessenlagen selbst orientierenden Persönlichkeit macht, die unabhängige Rechtsverträge eingehen kann. Um soziales Handeln zum Rechtsgeschäft zu machen, bedarf es einer Zwangsgewalt, die das Maß der Vertragsfreiheit festlegt und den Vertragsinhalt als gültig anerkennt. Die Geltung einer Rechtsordnung beruht nach Weber einzig auf der Bereitschaft eines Zwangsstabes, diese zu gewährleisten, "ohne Rücksicht darauf, ob bloße Zweckmäßigkeitsgründe dafür sprechen, und auch nicht nach freiem Belieben, aus Gnade oder Willkür" 16. Der Zwangsstab, der aus einer inneren Einstellung zur Pflichterfüllung seine Tätigkeit versieht und jede Erwägung IS 16

Ebd. Ebd. S. 75.

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der eigenen _. zweifellos doch vorhandenen - Interessenlage von sich weist, trifft souverän die Entscheidung, wann eine Norm verletzt und ihre Geltung wiederherzustellen ist. Jede rechtlich geschützte Freiheit, die sich aus der neugewonnenen Unabhängigkeit des Handeins gegenüber der im Verband als bindende Sitte festgelegten Ordnung ergibt, bedarf gerade aufgrund ihrer Bindungslosigkeit des Schutzes einer Zwangsgewalt, die formal festgelegte Rechtsnormen garantiert. Gerade das aus dem Schutze seiner "natürlichen" Gemeinschaft heraustretende Individuum, das von nun an sein Handeln an der "Welt" selbst und ihren Eigengesetzlichkeiten orientiert und damit seine Stellung an der jeweiligen Interessenlage bestimmt, ist auf eine Rechtsordnung angewiesen, deren Bestand ein Zwangsstab garantiert, dessen Mitglieder aus reiner Hingabe "an die Sache selbst", aus dem Glauben an die Legitimität der von ihnen verteidigten Ordnung handeln. Dies ist für die soziologische Betrachtung des Rechts, wie sie Weber vornimmt, ein erster entscheidender Schritt. Das "formal" rein zweckrational ausgerichtete Interessenhandeln setzt ethisch und methodisch eine starke "materiale" Selbstverantwortlichkeit, die "innere Bindung" an einen letzten geglaubten Wert voraus. Auf der anderen Seite kann ein auf materialer Interessenabwägung gründendes Wirtschaften nur erfolgreich sein, wenn es auf eine "Ordnung" bezogen ist, deren Verbindlichkeit von ihren Garanten um ihrer selbst willen, demnach aus einem letzten Standpunkt heraus durchgesetzt wird. Weber geht es im Grund nicht darum, die zunehmende Formalisierung der Rechtsbeziehungen mit dem Aufkommen rein ökonomischer Interessen in Beziehung zu setzen. Zwar äußert sich "die Einschmelzung aller anderen Verbände, welche Träger einer ,Rechtsbildung' waren, in die eine staatliche Zwangsanstalt, welche nun für sich in Anspruch nimmt, Quelle jeglichen ,legitimen' Rechts zu sein, ... charakteristisch in der formellen Art, wie das Recht in den Dienst der Interessen der Rechtsinteressenten, speziell auch der ökonomischen Interessen, tritt"!7. Das heißt aber gerade nicht, das formalisierte Recht könne leichter von den ökonomischen Interessen für ihre Zwecke mißbraucht werden. Der auf einer letzten Stellungnahme - ganz gleich, ob diese nun in einer ethischen oder rein machtpolitischen Entscheidung gegründet ist - beruhende Anspruch eines Verbandes, Quelle allen legitimen Rechts zu sein, ermöglicht erst die formale Neutralität, mit der die Rechtsordnung als Zwangsordnung die Belange der verschiedenen Interessen schützt. Die Interessenten wiederum können sich des Schutzes ihrer Interessen nur sicher sein, wenn sie diesen als innerlich eigenmächtige "Persönlichkeiten" und äußerlich anerkannte .Rechtssubjekte" selbst gestalten können!8. 17

Ebd. S. 397.

R. Bendix: M. Weber. An Intellectual Portrait, Berkeley/Los Angeles 1977, hat gesehen, wie schon zur Zeit der Landarbeiterenquete Webers Individualismus nicht 18

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Der soziologische Gesichtspunkt, den Weber für seine Untersuchungen wählt, zielt auf jene "Regelmäßigkeiten" des Handeins, d. h. innerlich motivierte "Ordnungen" des Verhaltens ab, die eine soziale Erscheinung erst als "Typ" ausmachen. "Im Gegensatz zur Geschichte als der kausalen Zurechnung wichtiger, d. h. schicksalhafter, Einzelzusammenhänge ... befaßt sich die Soziologie mit diesen Typen des Ablaufs von Handeln"19. Damit ist nicht nur der methodologische Anwendungsbereich der neuen Wissenschaft abgegrenzt, sondern auch eine Wertentscheidung zugunsten jener Kulturerscheinungen getroffen, die dauerhaft Regelmäßigkeiten in ihrer Lebensführung aufweisen und darauf politische Ordnungen gründen. Auch die soziologische Betrachtung des einzelnen ist darauf gerichtet, empirisch regelmäßige Abläufe des Handeins aufzuweisen, die auf einen inneren "gemeinten Sinn" hindeuten, der sich auf das Verhalten anderer bezieht. Eine Gemeinschaft, die ihr Handeln an der Vorstellung einer legitimen Ordnung orientiert, konstituiert sich als ein Verband. Nur dieser kann die Anpassung an die ihm zugrunde liegende Lebensordnung zur Rechtspflicht erheben. "In aller Regel ist Fügsamkeit in Ordnungen außer durch Interessenlagen der allerverschiedensten Art durch eine Mischung von Traditionsgebundenheit und Legalitätsvorstellung bedingt. Die Soziologie hat dann die typische Art der Geltung zu ermitteln"2o. Die Geltung des Rechts muß somit innerlich garantiert sein, bevor sie äußerlich erzwungen werden kann. Das ist der Gesichtspunkt, von dem her Weber in die juristische Diskussion seiner Zeit eingriff.

IH. Die Rechtspersönlichkeit und der soziologische Verfassungsbegriff In der stets verdeckt geführten Auseinandersetzung mit Hans Kelsen 21 hat Weber nicht nur die Unterschiedlichkeit des juristischen und des soziologischen Standpunktes bei der Erörterung von Rechtsphänomenen herausgearbeitet. Denn es ging ihm ja auch nur vordergründig um die gegenseitige in der Darstellung empirischer Interessenlagen, sondern wesentlich in der Erhellung persönlicher Lebensverhältnisse besteht. Den Ideen persönlicher Lebensführung haben sich aber materielle und ideelle Interessen zu verbinden, die zur Bildung sozialer "organizations" (ein irreführender Begriff: Weber hätte doch wohl "Lebensordnungen" gesagt) führen. "Thus Weber emphasized both the importance of ideas for an understanding of economic behaviour and the social foundation of such ideas if thus were to have an effect upon man's conduct" (S. 43). 19 WuG (N 10), S. 14. 20 Ebd. S. 20. 21 Sehr gut rekonstruiert bei N. Bobbio: Max Weber und Hans Kelsen, im vorliegenden Band S. 109-126.

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methodische Abgrenzung zweier Wissenschaften voneinander, an deren verschiedenen Erkenntnisrichtungen ernstlich nicht zu zweifeln war. Wogegen sich die Vertreter der normativen Rechtswissenschaft sperrten, war die spektakulär durch die "Zweiseiten-Theorie" von Georg Jellinek vollzogene Anerkennung eines nicht-juristischen Standpunktes, von dem aus juristische Phänomene gedeutet werden konnten. Gerade "rein" juristische Probleme gedachte nun Weber aber unter einer besonderen Perspektive zu behandeln, die nicht nur die Grundlegung einer neuen Fachwissenschaft ins Auge fassen, sondern weit darüber hinaus den Durchblick auf grundlegend neugestellte staatspolitische Erfordernisse auftun sollte. Zunächst fällt auf, daß es Weber bei der Scheidung von öffentlichem und privatem Recht nicht um eindeutige begriffliche Trennungen geht, sondern um das soziologisch wichtige Phänomen, das der juristischen Diskussion -oft genug unbeachtet - zugrunde liegt. Die zweite der als Diskussionsgrundlage angeführten Theorien läßt Webers Anliegen erkennen: "Man könnte ,öffentliches' Recht identifizieren mit der Gesamtheit der ,Reglements', also: der ihrem richtigen juristischen Sinn nach nur Anweisungen an die Staatsorgane enthaltenden, nicht aber erworbene subjektive Rechte einzelner begründenden Normen, im Gegensatz zu den ,Anspruchsnormierungen', welche solche subjektiven Rechte begründen"22. Um die subjektiven Rechte einzelner geht es mithin, ein Thema, das Georg Jellinek, bei dem Weber in rechtstheoretischen Fragen stets Anlehnung sucht, mit definitionsartig zupackenden Sätzen angegangen war. Es lohnt sich immer noch, ungekürzt zu zitieren: "Jedes subjektive Recht setzt voraus das Dasein einer Rechtsordnung, durch die es geschaffen sowie anerkannt und in größerem oder geringerem Maße geschützt wird". Und weiter: "Teilt man der Einzelpersönlichkeit öffentliches Recht zu, dann wird auch sie zum Subjekt des öffentlichen Rechtes ... Alles Recht ist Beziehung von Rechtssubjekten. Ein isoliert gedachter Rechtsträger ist eine unvollziehbare Vorstellung. Auch der Staat kann nur Rechte haben, wenn ihm Persönlichkeiten gegenüberstehen"23. Recht ist Verhältnis zwischen "Persönlichkeiten", Individuen also, die in der Lage sind, aus innerer, an einem letzten Wertmaßstab sich aufrichtender Haltung, eine äußere systematische, zur "Ordnung" eingelebte Einheit des Handeins zu bewirken. Aber nur insofern ihnen von Rechts wegen die Chance eingeräumt wird, ihr Handeln auf eine innere Einstellung zu gründen, sind sie in ihrer äußeren Stellung als freie Persönlichkeiten gesichert. Der rechtsgarantierende Staat - soziologisch lediglich durch das ihm eigentümliche formale Mittel, das Zwangsmonopol, gekennzeichnet - will stets nur die eigene innere Geschlossenheit und ist somit "um seiner selbst willen" 22 23

WuG (N 10), S. 14. G. Jellinek (N 11), S. 8-10.

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da. Die absolute Einheitlichkeit des Willens, die in sich selbst ihren letzten Rückhalt findet, macht den Staat zur handlungsfähigen "Persönlichkeit". Sie beruht nicht auf gefühlsmäßigem Zusammengehörigkeitsgefühl einer als Grundlage des Staates angenommenen Volksgemeinschaft, sondern wesentlich auf der rational-ethischen Einstellung des Herrschaftsstabes zur "Sache selbst" . Was aber für Weber am allerwichtigsten ist: Gibt es solche "inneren Lagen" der letzten Überzeugung nicht mehr, entfällt die Chance freier Lebensführung für den einzelnen, verliert andererseits der Staat die Fähigkeit, über sein eigenes inneres Gefüge die letzte Entscheidung zu fällen, dann geht auch das Recht unter. Es wäre jedoch irrig zu behaupten, der Begriff "Persönlichkeit", wie ihn Weber so oft und noch dazu an so entscheidenden Stellen verwendet, verdanke das ihm eigene Pathos oder auch nur seine innere Folgerichtigkeit dem entsprechenden Begriff des Rechts. Die krassen Unterschiede der beiden treten jedoch erst auf dem Hintergrund geheimer Wahlverwandtschaften zutage. Die deutsche Staatslehre verdankt den Schlüsselbegriff "Persönlichkeit" dem StaatsrechtIer Albrecht, einem aus dem berühmten Kreise der "Göttinger Sieben", der ihn in einer 1837 erschienenen Schrift zum ersten Mal verwendet. Lorenz von Stein entlehnte ihn der HegeIschen Rechtsphilosophie und errichtete auf dieser Grundlage den Bau eines Staates, der -selber Persönlichkeit - die Aufgabe hat, das ihm gegenüberstehende Individuum bei der Herausbildung seiner inneren und äußeren Selbständigkeit zu unterstützen 24 . Für die Jurisprudenz des positiven Staatsrechts hingegen war er, gemäß einer bekannten Deutung, "nur der erste sichere Schritt, um den Monarchen zu depossedieren und ihm die Möglichkeit abzusprechen, seine Person mit dem Staat zu identifizieren"25. Es war aber beileibe nicht die Absicht der deutschen Staatsrechtler, den Begriff seines Inhalts zu entleeren, vielmehr wollten sie sich nur von jeder Versuchung einer rechtstheoretischen Grundlegung konkreter politischer Machtverhältnisse fernhalten. Die Rechtswissenschaft geriet unter dem Einfluß Labands zu einer rein erkenntnistheoretisch vorgehenden Disziplin, die ihren Erkenntnisgegenstand, ein wider die Zeitströmung über der Gesellschaft sich haltender Obrigkeitsstaat, in immer verschwommenere Ferne rückte. "Das theoretische Interesse am Staat wanderte ab, zu den Nationalökonomen und den Sozialpolitikern, zu 24 L. Stein: Der Begriff der Gesellschaft, Leipzig 1855. Die "Verfassung" ist für ihn

das Organ der politischen Mitbestimmung jener Elemente der Gesellschaft, die aufgrund ihres Besitzes dazu in der Lage sind. Die Rechtsgleichheit, die der Begriff Persönlichkeit umschließt, kann nicht allein kraft einer Erklärung der Bürgerrechte hergestellt werden, sondern hat die soziale Befähigung zu persönlichem, mithin selbstverantwortlichem gesellschaftlichen Handeln zu berücksichtigen. Hat Stein als Urvater der Soziologie Weber diese Grundeinsicht in das Wesen der "Gesellschaftsordnung" vererbt? 25 earl Schmitt: Hugo Preuss. Sein Staatsbegriff und seine Stellung in der deutschen Staatslehre, Tübingen 1930, S. 8.

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Historikern und den damals wenig beachteten Soziologen"26. Aus dieser Lage heraus wird Webers beißende Polemik gegen die beiden Typen des "Bürokraten" und des "Literaten" verständlich. Die deutsche bürgerliche Bildung "war auf der einen Seite eine unpolitische, technische Beamtenbildung, auf der anderen eine ebenso unpolitische, auf privaten, hauptsächlich ästhetischen Konsum gestellte, schattenhafte Literatenbildung geworden"27. Der berühmte Verfassungskonflikt der sechzig er Jahre zwischen Parlament und Monarch war längst zugunsten des letzteren entschieden worden. Die staatsrechtlichen Formen, aus denen der Geist politischen Engagements gewichen war, wurden zu handlichen Hülsen methodologischer, "innerer" Denkbedürfnisse des gänzlich verbeamteten Juristen. Inwieweit Weber den Verfall dieser großen Tradition, die doch auch die seine war, bedauert hat, ist im nachhinein eine Frage rein werkbiographischen Interesses. Seine Kehrtwendung zugunsten der Nationalökonomie spricht Bände2s . In einer Rede vor dem evangelisch-sozialen Kongreß über die ländliche Arbeitsverfassung in den ostelbischen Gebieten setzt er seiner Wissenschaft folgendes Ziel: "Wir wollen, soweit es in unserer Macht steht, die äußeren Verhältnisse so gestalten, nicht: daß die Menschen sich wohl fühlen, sondern daß unter der Not des unvermeidlichen Existenzkampfes das beste in ihnen, die Eigenschaften - physische und seelische -, welche wir der Nation erhalten möchten, bewahrt bleiben"29. An dieser Zielsetzung hält er auch in der viel zitierten Freiburger Antrittsrede fest, die, obwohl sie für den späten Weber sicher nicht mehr im Ganzen aussagekräftig ist, letzte Stellungnahmen enthält, die für gewöhnlich auch ein Fünfzigjähriger mit dem Dreißigjährigen noch zu teilen vermag. Daß die Nationalökonomie für ihn politische Wissenschaft ist, geht aus dem folgenden unmißverständlich hervor: "Allzunahe liegt. .. für uns ohnehin die Versuchung, das Gefolge des Siegers im ökonomischen Machtkampf zu bilden und dabei zu vergessen, daß ökonomische Macht und Beruf zur politischen Leitung der Nation nicht immer zusammenfallen ... Und es ist andererseits auch eine der Täuschungen, welche auf der modernen Überschätzung des ,Ökonomischen' ... beruhen, wenn man meint, daß die politischen Gemeingefühle eine Belastungsprobe durch abweichende ökonomische Tagesinteressen nicht vertrügen, womöglichst selbst nur eine Widerspiegelung des ökonomischen Unterbaues jener wandelbaren Interessenlagen seien"3o. 26 27

Ebd. S. 16. Ebd.

28 Zu Webers rechtswissenschaftlicher Ausbildung und den daraus erwachsenen Gründen seines Wechsels zur Nationalökonomie vgl. vor allem P. Schiera in diesem Bande. 29 Bericht über die Verhandlungen des 5. evangelisch-sozialen Kongresses, Berlin

1894, S. 80. 30

M. Weber: Politische Schriften, 4. Auf). Tübingen 1980, S. 18.

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Damit ist aber auch ein wesentlicher Ausgangspunkt der in "universaler" Blickrichtung forschenden Soziologie Webers bezeichnet: die Unabhängigkeit des politischen Moments bei der Ordnungsbestimmung sozialer Verbände. Nicht von ungefähr steht an der Spitze der in den "soziologischen Grundbegriffen" aufgetürmten Begriffspyramide als klarste Ausprägung typenhaften Gemeinschaftshandelns der politische Verband. Die Frage, wie dieser als solcher weiterbestehen kann, stellt Weber jeder Wissenschaft von der Gesellschaft voran. Das wissenschaftliche Programm, die anthropologischen Eigenschaften des wirtschaftenden Einzelnen zu ermitteln, erhält von der ethischen Überzeugung her, daß der einzelne diese Eigenschaften durch selbständige Arbeit an seinen alltäglichen Lebensbedingungen unter gewissen Umständen selber entwickeln könne, seinen eigentlichen methodologischen Sinn. Die Schaffung dieser Umstände wird zum Ziel, das die Wissenschaft dem politischen Handeln zu setzen versucht. War jeder ökonomische Gesichtspunkt streng der Erwägung des politischen Gesamtzustandes der Nation unterzuordnen, mußte sich in der Tat die Frage unabweisbar in den Vordergrund schieben, was denn nun eigentlich als ein politischer Gesamtzustand zu gelten habe und wer gegebenenfalls dazu befugt sei, ihn festzustellen. Eine Ordnung, in der ein eigens darauf eingestellter Stab von Menschen letztlich darüber entscheidet, was Geltung besitzen soll, heißt bei Weber Recht. Es liegt nahe, daraus die Folgerung abzuleiten, Weber habe dem Recht nur die "formalen" Eigenschaften einer Zwangsordnung zugestanden, die gänzlich inhaltsneutral in den Dienst ökonomischer Interessen trete, welche die eigentlichen Schöpfer der konkreten "materialen" Rechtsverhältnisse seien. Tatsächlich ist das soziologische Verhältnis zwischen Privatrecht, das ökonomische Interessenlagen ordnet, und öffentlichem Recht, das die Bedingungen und Voraussetzungen politischer Herrschaftsausübung regelt, unklar. Die in den "soziologischen Grundbegriffen" durchgeführte Unterscheidung zwischen Verwaltungsordnung, "welche Verbandshandeln regelt" und Regulierungsordnung, "welche anderes soziales Handeln regelt und die durch diese Regelung eröffneten Chancen den Handelnden garantiert"31, arbeitet das Problem sehr deutlich heraus, ohne es jedoch zu lösen. Die gängige Interpretation hÜft sich über diese Verlegenheit zumeist hinweg, indem sie die .Herrschaftssoziologie" als staatsrechtliches Gegenstück zu der privatrechtliche Verhältnisse behandelnden .Rechtssoziologie" annimmt 32 . Die "Herrschaftssoziologie" behandelt aber ausdrück31 WuG (N 10), S. 27.

32 Vor allem W. Schluchter (N 3), S. 127, der anempfiehlt, die Herrschaftssoziologie in Verbindung mit der Rechtssoziologie zu lesen: "Denn das Recht ist die ,herrschaftliche' Verkörperung jener kulturellen Überlieferungen, die in den Weltbildstrukturen einerseits, in den Kompetenzstrukturen sprach- und handlungsfähiger

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lich nur die äußeren Garantien und inneren Einstellungen, die die Aufrechterhaltung einer Ordnung ermöglichen. Gegenstand der Untersuchung sind hierbei äußeres Gefüge und innere Bindung des Herrschaftsapparates, dessen Strukturformen durch das Maß der Trennung zwischen Verwaltungsstab und Verwaltunggütern bestimmt werden. Die "Beherrschten" sind als natürliche Voraussetzung und Gegenstand des Stabshandelns an den äußersten Rand des Untersuchungsbildes gerückt. Offen bleibt gerade die Frage, wann soziologisch zur Deutung von garantierten Regelmäßigkeiten sozialer Handlungsabläufe die "formale" Zusammensetzung eines Herrschaftsapparates herangezogen werden muß und wann hingegen die aus den "natürlichen" Lebensordnungen des Wirtschaftens herausgewachsenen persönlichen Rechtsbeziehungen dafür ergiebiger sirid. Sie ist auch hier wiederum eng verknüpft mit dem großen Anliegen Webers, die "äußeren" Lebensbedingungen und "inneren" Überzeugungen auszuloten, die eine der eigenen Persönlichkeit verpflichtete Lebensführung voraussetzt. Wir hatten gesehen, daß für Weber der inneren Ungebundenheit die äußere Anerkennung einer Sphäre freien Handeins, dem ethischen Persönlichkeitsanspruch die rechtliche Garantie entsprechen muß, Rechtspersönlichkeit zu sein. Aber jede rechtliche Garantie setzt eine durch Zwang garantierte Rechtsordnung, somit doch: einen diesen Zwang gewährleistenden politischen Verband voraus. Das aber ist gerade das Dilemma: Inwieweit hat Weber Rechtsordnung mit politischer Ordnung gleichgesetzt? Glaubte er, die eine baue auf der anderen auf, so ist zu fragen, unter welchen Bedingungen die politische Gewalt die Rechtsordnung außer Kraft setzen kann. Ein Absatz aus dem Kapitel "Rechtsordnung, Konvention und Sitte" gibt Aufschluß darüber, daß Weber das Problem durchaus im Blick hatte. "Die rechtliche Geordnetheit eines Sachverhalts, d. h. immer: das Vorhanden sein einer menschlichen Instanz, wie immer geartet sie sei, welche im Fall des Eintritts der betreffenden Tatsache als (prinzipiell) in der Lage befindlich gilt, nach irgendwelchen Normvorstellungen anzugeben: was nun ,von Rechts wegen' zu geschehen habe, ist aber überhaupt nirgends bis in die letzten Konsequenzen durchgeführt." Dabei geht es ihm nicht um den Tatbestand, "daß die Entwicklung des Gemeinschafts- und Einverständnishandelns fortwährend einzelne ganz neue Sachlagen entstehen läßt, welche mit den als geltend anerkannten Normen und den üblichen logischen Mitteln der Jurisprudenz gar nicht oder nur scheinbar und gewaltsam zu entscheiden sind (These der ,freirechtlich'en' Bewegung). Sondern ... , daß oft Subjekte andererseits verankert sind" ... Aus dem Zusammenspiel von Weltbildstrukturen und Kompetenzstrukturen ergeben sich aber doch übernommene oder selbstgeprägte Persönlichkeitsbilder. Diese bieten die innere Garantie, auf der die äußere als "notwendige Bedingung der Existenz des Rechts" gründet. Ebenso neuerdings Febbrajo, in diesem Bande S. 70 ff.

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gerade ,grundlegende' Fragen einer sonst sehr stark durchrationalisierten Rechtsordnung rechtlich überhaupt gar nicht geregelt zu sein pflegen"33. Bezeichnend indes ist das Beispiel, daß Weber an diese Bemerkung anschließt. Das rechtlich nicht geregelte Verhältnis zwischen dem Monarchen und seinen Ministern legt den neuralgischen Punkt einer jeden konstitutionellen Verfassungsordnung offen. Die Frage, ob und unter welchen Bedingungen ein Monarch auch ohne einen vom Parlament verabschiedeten Haushalt regieren könne, hatte nicht nur im Mittelpunkt des preußischen Verfassungskonfliktes von 1862 gestanden. An ihr mußten sich auch die Überzeugungen von der letztlich maßgebenden "legitimen" Rechtsgrundlage scheiden. Ob nun ein Gesetz deshalb geltend sei, weil ein frei gewähltes Parlament es verabschiedet oder weil ein legitim herrschender Monarch es unterzeichnet hatte, war schon deshalb eine juristisch unbotmäßige Frage, weil ihre einseitige Beantwortung den prekären Machtkompromiß zwischen der im Parlament vertretenen bürgerlichen Gesellschaft und dem monarchischen Obrigkeitsstaat einer schweren Belastung ausgesetzt hätte. Selbst der Entwurf einer konstitutionellen Verfassung konnte nur der Ausdruck einer beständigen Vertagung des entscheidenden politischen Konfliktes sein. Nun fällt für Weber aber die konstitutionelle Verfassung nicht mit der Verfassung schlechthin zusammen, für die es dem soziologischen Sinn nach, "d. h. für die Art der faktischen, die Möglichkeit, das Gemeinschaftshandeln durch Anordnungen zu beeinflussen, bestimmenden Machtverteilung in einem Gemeinwesen charakteristisch ist, wo und welcher Art derartige, gerade die Grundfragen betreffenden, ,Lücken' seine ,Verfassung' im juristischen Sinne des Wortes aufweist". Das sei ein natürlicher Vorgang, "weil der (oder die) im Einzelfall bei der Schaffung der Verfassung ausschlaggebende(n) Interessent(en) die Erwartung hegen, daß gegebenenfalls er (oder sie) dasjenige Maß von Macht besitzen werdern), um das, rechtlich angesehen, alsdann der gesatzten ,Ordnung' entbehrende, dennoch aber weiter ablaufende Gemeinschaftshandeln nach ihrem Willen zu lenken"34. Die Verfassung kann für Weber nicht mehr den Weg bezeichnen, auf dem die Gesellschaft zum Staat gelangt. Die außerordentliche Vielfalt der sozialen Interessenlagen, die oftmals nicht einmal mehr klare Parteigrenzen einhalten und vorübergehende Parteiungen schaffen, drängt ihn zu einem neuen Verfassungsbegriff, den ein verfemter, aber scharf hinsehender Schüler den absoluten genannt hat: Verfassung ist dann "der konkrete Gesamtzustand politischer Einheit und sozialer Ordnung, irgendwelche Prinzipien der Einheit und Ordnung, irgendeine im kritischen Falle bei Interessen- und Machtkonflikten maßgebende Entscheidungsinstanz"35. 33

WuG (N 10), S. 193 f.

34

Ebd.

35

earl Schmitt: Verfassungslehre, 5. Auf!. Berlin 1970, S. 4.

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Vergleicht man diese These mit den oben zitierten Kernaussagen der Freiburger Antrittsrede, wird deutlich, worin jene "empirische Verfassung" 36 bestand, die Weber von der im juristischen Sinne "geschriebenen" Verfassung unterschieden wissen wollte. Sie bezeichnet ihm gerade nicht das unentwirrbare Geflecht alltäglichen Verbandshandelns und dessen Auswirkungen auf das übrige soziale Handeln, das daran sich orientiert, sondern gibt auf die außeralltägliche Frage Antwort: "Wann, für welche Gegenstände und innerhalb welcher Grenzen ... fügen sich dem Leiter die Verbandsbeteiligten und steht ihm der Verwaltungsstab und das Verbandshandeln zu Gebote, wann er ,Anordnungen trifft', insbesondere Ordnungen oktroyiert"37. Die Verfassung im soziologischen Sinne stellt sich dem Konflikt, dem die juristisch verfaßte ängstlich auszuweichen sucht. Als soziologische Kategorie ermittelt sie jene grundlegende "Ordnung" des Verbandshandeins, die stark genug ist, um faktisch einem eigens darauf innerlich eingestellten Stab von Menschen die Chance zu eröffnen, gerade dieses Verbandshandeln in neue Bahnen zu lenken. Die Grundlagen der soziologischen Verfassung werden mithin gerade dann offengelegt, wenn die juristische und mit ihr die gesamte zwangsgarantierte Rechtsordnung aufgehoben wird. Der im Beispiel angedeutete Ausnahmezustand verweist auf eine absolute, politische Einheit und soziale Ordnung umspannende Verfassung. Es ist ein Gemeinplatz geworden, Weber habe die Verfassung stets nur als einen formaltechnischen Satz von "Spielregeln" aufgefaßt und keine wirklichen verfassungspolitischen Überzeugungen vertreten 38 . Das konnte er sich aber gerade deshalb leisten, weil er auf die politische Fähigkeit zur Einheit vertraute und daran schicksalhaft die Behauptung der Nation als Staat und Kulturordnung knüpfte. Die letzte politische Entscheidung betrifft aber die freie Verfügung über die eigene kulturelle Eigenart. Unter den Bedingungen des kapitalistischen Zeitalters sich selbst zum Problem geworden, kann diese nur als Gegenstand eines unbedingten persönlichen Wollens fortbestehen. Wenn das kulturell geprägte Persönlichkeits bild des einzelnen zu 36 Der Ausdruck findet sich bei F. Loos: Zur Wert- und Rechtslehre Max Webers, Tübingen 1970, S. 105. 37 WuG (N 10), S. 27. 38 Diese Interpretation ist durch das Standardwerk von Wolfgang J. Mommsen: Max Weber und die deutsche Politik. 1890-1920, 2. Auf!. Tübingen 1974, nahezu klassisch geworden. Vgl. insbesondere das letzte Kapitel, S. 416 H. In der Tat konnte die für den neuen deutschen, nunmehr republikanischen Staat entworfene Verfassung schwerlich beanspruchen, über die formale Einteilung der staatlichen Vollzugsorgane hinaus, die .materiale", konkret bestehende politische Einheit der Nation zu verkörpern. Webers große soziologische Leistung besteht denn ja auch in der Erkenntnis, daß politische Verbände nicht mehr aus einem allen Mitgliedern unmittelbar einsichtigen Grund kultureller Überlieferung herauswachsen, sondern auseinanderstrebende Interessenlagen zu umklammern haben, die je für sich kulturelles Gut aussondern und daraus ihre Vorstellung von politischer Ordnung entwerfen.

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einem verteidigungsbedürftigen und verteidigungswürdigen Gut gerät, entsteht auch der ethische Anspruch an den politischen Verband, es bewahren zu helfen. Der ethische Wille des einzelnen zu seiner kulturellen Eigenart wird Maßstab und Bedingung für die politische Fähigkeit des Verbandes, als Einheit zu handeln. Die Frage, welchen Handlungsspielraum der Verbandsleiter besitzt, sobald er Anordnungen trifft und vorallem "Ordnungen" oktroyiert, d. h. Maßnahmen trifft, die die Möglichkeit freien HandeIns innerhalb des Verbandes selbst betreffen, beantwortet sich nicht allein existentiell aus der gerade gegebenen Situation. Die "soziologische Verfassung" bringt als Erkenntniskategorie auch ans Licht, ob eigenständige, selbstbewußte Lebensordnungen vorhanden sind, an denen die situationsmächtige politische Entscheidung ihre Grenzen findet. Was zum politischen Verband werden will,das muß bereits als kulturelle Gemeinschaft bestehen. Aber dieses eben nur als Vorstellung gegebene kulturelle Zusammengehörigkeitsgefühl kann im modernen Interessenverband nur durch die persönliche Lebensführung herrschender oder die Herrschaft anstrebender Kreise entstehen, die sich ihrerseits an der Vorstellung einer sachlichen Ordnung orientieren. Nur der auf sachlicher, demnach unpersönlicher Verwaltungstätigkeit und Zwangsausübung aufbauende Verband kann eine Rechtsordnung sichern, die nicht etwa ob ihres besonderen Inhaltes, sondern um ihrer selbst willen garantiert wird und somit den Einzelnen nicht um seiner persönlichen Eigenschaften einer Glaubens- oder Volkszugehörigkeit, sondern um seiner selbst willen als Rechtssubjekt anerkennen kann. Der Verband konstituiert sich als technisch-funktionale Ordnung über der Kulturgemeinschaft, insofern sein Handeln sich aus materialer Überzeugung an die Geltung einer formal gesatzten Rechtsordnung hält. Die Formalität der einzelnen Rechtssätze gewährleistet gerade die oberste, "materiale" politische Errungenschaft der Moderne: die Gleichheit vor dem Gesetz. Erst durch die Gestaltung einer einheitlichen Rechtsordnung wird die Kulturgemeinschaft zu einer unverwechselbaren "Ordnung", die eingelebte Überlieferungen der selbstverantwortlichen Ausgestaltung durch den Einzelnen überlassen kann. Die Rechtsordnung vermittelt die kulturellen Werte dem Interessenbewußtsein der unterschiedlichen gesellschaftlichen Verbände, die daraus ihr politisches Ordnungsbild gestalten. Da kulturell verwurzelte Ordnungsvorstellungen sich letztlich an materialen Interessen zu bewähren haben, die dem Einzelnen an sich selbst klar werden, geraten sie zu verinnerlichten Vorgaben für ein Persönlichkeitsbild, das nur mehr der formalen Anerkennung bedarf. Hier treffen der ethische und der juristische Kern des für Weber so bedeutsamen Begriffes der Persönlichkeit zusammen. Der Einzelne kann nur dann von innen heraus sein Leben führen, wenn ihm äußerlich die Chance eingeräumt wird, sich dafür in der rechtlich freien

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Gestaltung seines Verhältnisses zu anderen jene Freiheitssphäre zu schaffen, die ihn nicht nur dem Anspruch, sondern auch der Anerkennung nach als Persönlichkeit, nämlich als Rechtspersönlichkeit ausweist. Eine solche Rechtsordnung, deren Formalität in der Anerkennung der Freiheit jedes Einzelnen besteht, sich seine materialen Lebensinhalte selbst zu gestalten, kann aber ihrerseits nur Bestand haben, wenn der Verwaltungsstab ihre formale Durchsetzung zum Gegenstand seiner letzten, unaufhebbaren Stellungnahme als Persönlichkeit macht. Diese Autonomie des Politischen enthebt den Herrschaftsstab jeglicher eigenen Interessenlage und jeder sachlich festgelegten Konfliktebene, setzt aber damit der äußeren Verantwortung nur die inneren Grenzen eines letzten Standpunktes, der von den Beherrschten nicht weiter hinterfragt werden kann. Wenn das Politische nurmehr die rein technische Sicherung der Herrschaft zum Inhalt hat, entweicht es in den Raum absoluter, äußerlich unbestimmbarer Wertentscheidungen. Verbandshandeln durfte für Weber jedoch nicht lediglich in einer rechtlich geregelten Verwaltungsordnung aufgehen, "an der sich in anderen Dingen das Handeln der Verbandsbeteiligten orientieren soll (z. B. im Staatsverband das ,privatwirtschaftliche', nicht der Erzwingung der Geltung der Verbandsordnung, sondern Einzelinteressen dienende Handeln am ,bürgerlichen Recht')"39. Wie eine auf kulturellem Zusammengehörigkeitsgefühl beruhende Gemeinschaft einen handlungsfähigen, sachlich den verschiedenen Interessenlagen genügenden Staatsverband hervorbringen könne, war eine Frage, die das Verhältnis von kulturellem Bewußtsein und politischem Denken überhaupt betraf. Wenngleich Weber darauf zeitlebens keine Antwort gefunden hat, erwartete er sie mit Sicherheit nicht von 'irgendeiner Form von massenhaft zusammengeballter Volksgemeinschaft. Eher mochte er an eine den Einzelnen in seiner täglichen Lebensführung verpflichtende Gesinnung der "Brüderlichkeit" denken. Sein tief empfundener Schmerz, im Krieg nicht "seine Pflicht tun" zu können, beruhte wohl letztlich nicht auf nationalistischer Begeisterung, sondern auf einer Ethik der Brüderlichkeit, die das Schicksal der Nation im Leiden des anderen verkörpert sah. Im Gegensatz zur Ökonomik galt ihm die Politik als die einzige rationalisierte Sphäre des Handeins, die sich zur religiösen Ethik in Konkurrenz zu setzen vermochte: "Der Krieg... schafft, gerade in den modernen politischen Gemeinschaften, ein Pathos und ein Gemeinschaftsgefühl und löst dabei eine Hingabe und bedingungslose Opfergemeinschaft der Kämpfenden und überdies eine Arbeit des Erbarmens und der alle Schranken der naturgebenden Verbände sprengenden Liebe zum Bedürftigen als Massenerscheinung aus, welcher die Religionen im allgemeinen nur in Heroenge39

WuG (N 10), S. 26.

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meinschaften der Brüderlichkeitsethik ähnliches zur Seite zu stellen haben"40. Dabei verfiel er keineswegs der romantischen Neigung, der rationalen Sachlichkeit das "Gefühl" entgegensetzen zu wollen. Die Prüfung der äußeren Lage und inneren Beweggründe individuellen Handeins war ihm die notwendige Voraussetzung einer rationalen, mithin ethischen und methodischen Erfordernissen des "Berufs" entsprechenden Verwaltungs- und Gerichtstätigkeit. Nur aus dieser seiner Grundüberzeugung heraus können wir die Stellung in der Welt ermessen, die er dem Juristen zuweist.

IV. Der Stand der Juristen

Die allgemeine Entwicklung des Rechts und des Rechtsgangs breitet Weber auf theoretischen Entwicklungsstufen aus, für die je stellvertretend ein historischer Typus von rechtschöpfender oder echtschaffender Persönlichkeit steht. Das beruht nur zum Teil auf jenem idealtypischen Verfahren, das innerlich verankerte Regelmäßigkeiten im Handlungsablauf, der einer sozialen Erscheinung zugrunde liegt, auszumachen sucht und auf diesem Wege stets auf "Vorstellungen" geltender Ordnungen stößt, die letztlich doch auf "persönlichen" Stellungnahmen "zur Sache selbst" beruhen. Gerade an der Gestalt des Juristen wollte er wohl jenes Verhältnis von innerem und äußerem Streben nach Einheit der Lebensführung herausarbeiten, auf das er an den verschiedensten Stellen seines Werkes immer wieder zu sprechen kommt. Auch hier geht es um die Frage: In welche "Ordnungen" des äußeren Gemeinschaftshandelns und der inneren Vorstellungen muß der Rechtskundige eingewiesen sein, um in sich stimmige Entscheidungen zu fällen, die auch die Anerkennung der Rechtsinteressenten finden? Dabei befindet sich der Jurist in einer für ihn eigentümlichen DoppelsteIlung. Auf der einen Seite hat er als Rechtspraktiker dafür einzustehen, daß der alltägliche Verkehr zwischen den ökonomischen Interessen einer formal korrekten Rechtspflege unterliegt, auf der anderen vertritt er, zumal bei der Entscheidung des konkreten Streitfalls, die außeralltäglich vergegen'wärtigte souveräne politische Gewalt. Je genossenschaftlicher diese auftritt, um so geringer ist die faktische Entscheidungsbefugnis des mit der Rechtsfindung Beauftragten, um so erheblicher die Trennung von Rechtsfindung und Rechtszwang. Die formale Ermittlung des rechtlichen Tatbestandes ist von der materialen Entscheidung getrennt, die sich vor allem an die Bedeutung des "Umstandes· knüpft, "d. h. der Teilnahme der nicht zu den Rechtshonoratioren gehörigen Rechtsgenossen an der Rechtsfindung in der Form, daß die Ratifikation des von den Urteilern gefundenen Rechtsspruchs durch ihre 40

Religionssoziologie (N 2), S. 548.

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Akklamation als unentbehrlich galt und daß prinzipiell das Recht zur Urteilsschelte einem jeden Rechtsgenossen zustand"4!. Der Rechtshonoratiore wird aufgrund der Ehre und des Ansehens, die seiner Person zukommen, mit dem Streitfall betraut. Er hat lediglich die formalen "Umstände" einer Prozeßentscheidung zu schaffen, die der genossenschaftlichen Rechtsgemeinschaft die Möglichkeit eröffnet, eine einmalige, unbedingt verbindliche Entscheidung zu treffen. "Seine Aufgabe war erschöpft, wenn er die Parteien dazu gebracht hatte, die Sühne der Rache, den gerichtlichen Frieden der Selbsthilfe vorzuziehen und diejenigen Formalitäten vorzunehmen, welche sie zur Innehaltung des Prozeßvertrages verbindlich machten"42. Die Stellung des als Person erhöhten Rechtskundigen beruht demnach auf dem unmittelbaren Interesse, das die Gemeinschaft an der Rechtsfindung nimmt. Die autoritäre Macht, "welche in den Formalismus und Irrationalismus der alten dinggenossenschaftlichen Justiz eingreift, ist das imperium (Banngewalt, Amtsgewalt) der Fürsten, Magistrate und Beamten"43:An dem Versuch der Vereinheitlichung, der Kodifikation des Rechts sieht Weber aber gerade nicht nur die neu entstandene politische Zentralgewalt beteiligt: "Der Fürst will ,Ordnung'. Und er will ,Einheit' und Geschlossenheit seines Reiches. Und zwar auch aus einem Grunde, der sowohl technischen Bedürfnissen der Verwaltung wie persönlichen Interessen seiner Beamten entspringt: Die unterschiedslose Einsetzbarkeit seiner Beamten im ganzen Gebiet seiner Herrschaft wird durch Rechtseinheit ermöglicht und ergibt erweiterte Karrierechancen für die Beamten, die nun nicht mehr an den Bezirk ihrer Herkunft dadurch gebunden sind, daß sie dessen Recht allein kennen"44. Vertrat der Rechtskundige vormals durch die Würde seiner Person die genossenschaftlich anerkannte Ordnung, gerät er nunmehr zu einem Beamten, einem Individuum, das sich von seiner "Herkunft" losgesagt und eine ihm allein gemäße Interessenlage entdeckt hat. Sie befähigt ihn zu einer Rechtspflege, die auf der formalen Anerkennung des Amtes beruht, sonst aber den Rechtsinteressenten unpersönlich gegenübersteht. Dem immer weiter sich ausdehnenden ökonomischen Verkehr gewährleistet diese Praxis die größtmögliche Rechtssicherheit. Das ist aber für Weber nur die eine Seite, die der "äußeren" Entwicklung der Entscheidungsabläufe zugewandt ist. Die aufkommenden ökonomischen Interessen und der moderne Warenverkehr führen nämlich materiale Inhalte in den juristischen Prozeß logischer Sinndeutung ein. Denn: "Große Teile des Güterverkehrs sind durchweg, bei primitivem ebenso wie bei technisch differenziertem Verkehr, nur aufgrund weitgehenden persönlichen Vertrauens auf die mate41 42

43 44

WuG (N 10), S. 452. Ebd. S. 451. Ebd. S. 482. Ebd. S. 488.

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riale Loyalität des Verhaltens anderer möglich ... Mithin kommt diese gesinnungsethische Rationalisierung durch die Rechtspraxis mächtigen Interessen entgegen"45. Der an formal festgestellten Vertragsbedingungen orientierte wirtschaftliche Interessenverkehr ist entscheidend an ein "ethisches Minimum", ein Mindestmaß an Geschäftsmoral gebunden, ohne welches betriebliches Handeln eben gerade seiner rationalen Grundlage verlustig geht und raubkapitalistischen Erscheinungen den Weg zu räumen hat. Der ökonomische Geschäftsformalismus setzt den tatsächlichen, auf Überzeugung beruhenden Willen der Beteiligten voraus, durch rationale Gewinnrechnung allein, die die formale Anerkennung der Geschäftsverträge einschließt, den Erfolg zu suchen. Nur für solche Personen, die bestrebt sind, durch die rationale Systematisierung ihrer wirtschaftlichen Lebensführung ihre äußeren Lebensbedingungen zu gestalten, kann es überhaupt Sinn haben, Verträge abzuschließen, die auf der stillschweigenden Voraussetzung gründen, daß der andere ebenso "eingestellt" sei. Die Fähigkeit, Rechtsgeschäfte eingehen zu können, zeigt sich der Justiz gerade an der Regelmäßigkeit, mit der der Rechtsinteressent seinen Verpflichtungen nachkommt. Um so mehr wird von einer Rechtspraxis, die die Reibungslosigkeit des Geschäftsverkehrs garantieren will, die Feststellung des inneren "guten Willens" erwartet, der einen Vertragsabschluß erst sinnvoll macht. Unter dem Druck der Rechtsinteressenten, die auf eine Präjudizienrechtsprechung drängen, wie sie die Rechtshonoratioren vornahmen, und dem Streben der Obrigkeit nach formaler Vereinheitlichung der Rechtspraxis erhebt sich für den Juristen die bange Frage nach dem letzten Rückhalt seiner Stellung. Betrachtet er sich als reines Vollzugsorgan der souveränen richterlichen Gewalt, leistet er einer material irrationalen, an den Belangen des Wirtschaftsverkehrs vorbeigehenden Rechtsprechung Vorschub, die allzu leicht in den Verdacht geraten kann, eine die machtvoll aufkommenden ökonomischen Interessen zurückdrängende fürstliche Ordnung befördern zu wollen. Die Bindung at:t den fürstlichen Verwaltungsstab eröffnet ihm jedoch gerade die Chance, in das formale Verfahren einen materialen, sich an seine formale, persönliche Stellung anlehnenden Wertmaßstab einzuführen. Ob nämlich der fürstliche Richter den sittlichen Maßstab einer formalen Vertragsschließung anerkennt, ob er sich überhaupt irgendeine Art "innerer" Stellungnahme erlauben kann, wird im Ernstfall nicht durch seinen ethischen, sondern allein durch seinen obrigkeitlich gewährleisteten Persönlichkeitswert entschieden. Jeder eigenmächtige Versuch, aus der eigenen Stellung heraus den sittlichen Voraussetzungen einer formalen Rechtspraxis gerecht zu werden, läuft auf eine revolutionäre Infragestellung der durch die fürstliche Gewalt garan45

Ebd. S. 506.

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tierten Rechtsordnung hinaus. Das kann der Jurist nur wagen, wenn ihm ein System letzter, ob ihrer inhaltlichen Würde anerkannter Rechtsmaximen zur Verfügung steht; ein System, das als eine Art "Recht des Rechts" den Anwendungsbereich gesatzter Normen im voraus bestimmt. Das Naturrecht ist ein solches System. Den reinsten Typus des Naturrechts erkennt Weber bezeichnenderweise in der Vertragsfreiheit: "Der freiwillige rationale Kontrakt entweder als wirklicher historischer Grund aller Vergesellschaftungen einschließlich des Staats oder doch als regulativer Maßstab der Bewertung wurde eines der universellen Formalprinzipien naturrechtlicher Konstruktionen"46. Dabei erschöpft der ideologische Gebrauch, den die aufstrebenden ökonomischen Interessen von den Naturrechtsdogmen gegen die fürstliche Patrimonialgewalt zu machen vermochten, nicht ihre volle Bedeutung. Sie "haben die ökonomischen Bedingungen ihrer Entstehung teilweise beträchtlich überdauert und bildeten eine selbständige Komponente der Rechtsentwicklung. Formal steigerten sie zunächst die Neigung zum logisch abstrakten Recht, überhaupt die Macht der Logik im Rechtsdenken"47. Die "Macht der Logik" eröffnet dem Juristen die Möglichkeit, sich bei der Gestaltung der Rechtspraxis auf die innere Konsequenz der gesatzten Normen zu berufen, und verhilft damit letztlich der revolutionären Einsicht zum Durchbruch, daß es ein Recht gibt, das, einmal vom Gesetzgeber erlassen, eine von diesem unabhängige Geltung erlangt. Der Gedanke vom "objektiven Recht" ist geboren, und zur subjektiven Rechtspersönlichkeit fehlt nur noch ein Schritt. Das Interesse an der eigenen Stellung innerhalb einer zwangsgarantierten "Ordnung" bedingt somit, in Webers Darstellung, die "inneren Denkbedürfnisse" des Juristenstandes, die stets um die Ermittlung eines letzten sittlichen Maßstabes kreisen, der das Wirtschaftshandeln der Rechtsinteressenten bestimmt und allein dazu angetan ist, eine formal schlüssige und material sachgerechte Entscheidung herbeizuführen. Das Naturrecht befördert einerseits die Ausbreitung des kapitalistischen Produktions- und Verkehrssystems, indem es den Einzelnen als Menschen zu einer Rechtspersönlichkeit erhebt, ihm mithin eine rechtlich garantierte Freiheitssphäre sichert, innerhalb derer er seine Lebensbedingungen eigenverantwortlich gestalten kann. Es befördert andererseits die formale Rationalisierung des Rechts, indem es den Juristen zur unabhängigen "Persönlichkeit" erklärt, die kraft letzter, geglaubter Gesetze die "innere" Voraussetzung formaler Rechtsgeschäfte, nämlich den Willen zur Rechtlichkeit (die Bereitschaft, Rechtspersönlichkeit zu sein) festzustellen sucht. "Das Schwinden der alten Naturrechtsvorstellungen hat die Möglichkeit, das Recht als solches kraft seiner immanenten Qualitäten mit einer neuen überempirischen Würde auszustatten, prinzipiell vernichtet: es ist heute 46

47

7'

Ebd. S. 498. Ebd. S. 501.

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allzu greifbar in der großen Mehrzahl und gerade in vielen prinzipiell besonders wichtigen seiner Bestimmungen als Produkt und technisches Mittel eines Interessenkompromisses enthüllt. Aber eben dieses Absterben seiner metajuristischen Verankerung gehörte zu denjenigen ideologischen Entwicklungen, welche zwar die Skepsis gegenüber der Würde der einzelnen Sätze der konkreten Rechtsordnung steigerten, eben dadurch aber die faktische Fügsamkeit in die nunmehr nur noch utilitarisch gewertete Gewalt der jeweils sich als legitim gebärdenden Mächte im ganzen außerordentlich förderten"48. Indem Weber das verfassungspolitische Bild seiner Zeit heraufbeschwört, stellt er gleichzeitig die beklemmende Frage nach der Überlebenschance eines unabhängigen Juristenstandes überhaupt. Die souveräne politische Gewalt, die ihn zur prinzipiell unanfechtbaren Entscheidungsinstanz über die gesellschaftlichen Interessen erhoben hatte, war im Zerfall begriffen. Parteien und Massenverbände aller Art drängten auf die Bühne des Staates, um sich dort als legitime Mächte zu gebärden. Das Gesetzgebungsverfahren geriet zum formalen Kompromißfeld der im Parlament vertretenen politischen Gruppierungen. Die äußere Legalität des Rechtssatzes konnte nun auch Inhalte umschließen, die den Grundprinzipien der Rechtsordnung selbst zuwiderliefen 49 . Der lange Zeit auf dem Boden einer konstitutionellen Verfassung vertagte Konflikt zwischen einer auf dem allgemeinen Wahlrecht beruhenden demokratischen Grundordnung und dem Souveranitätsanspruch, den der monarchische Staat um so entschlossener erhebt, als er sich das Ziel der "Wohlfahrt" seiner Bürger steckt, bricht nun unter den Füßen des Juristen auf. Den gegenläufigen Einflüssen durch die sozialen Forderungen der Demokratie und durch die monarchische W ohlfahrtsbürokratie ausgesetzt, sucht der Jurist die äußere Eigenständigkeit seiner "schöpEbd. S. 502. Vg!. Carl Schmitt: Legalität und Legitimität, 2. Auf!. Berlin 1968. Daß Schmitts verfassungstheoretische Untersuchungen Webers Gedanken über die legale Herrschaftsform verpflichtet sind, wie W. Mommsen (N 38), S. 407 ff. mutmaßt, ist zweifelhaft. Weber geht letztlich bei der Erörterung der Herrschaftsformen immer von der Frage aus, inwieweit für einen eigens innerlich darauf eingestellten Stab von Menschen die faktische Chance besteht, die monopolartige Verwaltung der Herrschaftsgüter zu betreiben. Für den Juristen Schmitt ging es hingegen darum, die politische Vorbedingung eines eindeutigen juristischen Verfassungsbegriffs, eine souverän entscheidende Gewalt, zum Ausgangspunkt seiner staatstheoretischen Erörterung zu machen. Dabei steht er eindeutiger in der Tradition der liberalen deutschen Staatslehre, als gemeinhin angenommen wird. Seine Souveränitätslehre ist nicht etwa Weber abgewonnen, wie Mommsen ebd. S. 408, Anm. ISS, meint, sondern findet sich wortwörtlich bei Lorenz von Stein (N 24), S.330, der die für Schmitt klassische Situation des Verfassungskonflikts vorwegnimmt: "Wer soll ... entscheiden, wenn das Königtum eine Maßregel für seine Existenz notwendig findet, während die Kammer der Überzeugung ist, daß dieselbe Maßregel für das Prinzip der staatsbürgerlichen Gesellschaft eine Gefahr ist?" 48

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ferischen", somit: Persönlichkeit beanspruchenden Tätigkeit durch den Anspruch auf logische "Geschlossenheit", mithin auf die von "innen heraus" gestaltete Einheit des Rechtssystems abzustützen. Damit beschwört er aber gerade "die Situation des an die bloße Interpretation von Paragraphen und Kontrakten gebundenen Rechtsautomaten, in welchen man oben den Tatbestand nebst den Kosten einwirft, auf daß er unten das Urteil nebst den Gründen ausspeie"5o. Vor der Durchsetzung des Naturrechts, als das Recht sich noch nicht als "objektives" gegenüber dem Willen des souveränen Gesetzgebers verselbständigt hatte, war der Rechtspraktiker mit der methodischen und sachlichen Notwendigkeit konfrontiert, den Rechtsgeschäften der ökonomischen Interessenten einen sittlichen Wertmaßstab zugrunde zu legen. Je .souveräner" eine Rechtsordnung über der gesellschaftlichen Lebensordnung steht, um so schwerer wird es ihr, überhaupt selbständige Rechtsinteressenten anzuerkennen, die durch ihr eigenständiges Handeln die Schöpfung neuer Rechtssätze, welche nicht mehr aus den ursprünglichen Verwaltungsprinzipien abzuleiten sind, erforderlich machen. Die lediglich auf "innere Bedürfnisse" bedachte Rechtspraxis regelt nämlich die konkreten Fälle nur reflexartig, überläßt also jene Bereiche, die von keiner Norm gedeckt werden, gleichgültig der Entscheidungsfreiheit der jeweiligen Interessenten. Eine derartige Rechtsordnung spricht Recht, indem sie beständig sich selbst Recht gibt, und regelt die Bereiche gesellschaftlichen Zweckhandelns dadurch, daß sie sie nicht regelt. Diesen Mechanismus hatte das Naturrecht durchschlagen, indem es dem Rechtspraktiker letzte innere Maßstäbe der Entscheidung an die Hand gab, die es ihm ermöglichten, von "innen heraus" die Einheit seiner Rechtsprechung zu erreichen, somit Persönlichkeit zu werden. Allein der zur Persönlichkeit aufgestiegene Jurist kann den Rechtsgeschäften ökonomischer Interessenten, die vormals in der Rechtspraxis nur zufällig in den Bann formaler Rechtssätze gerieten, den Rang bewußt gestalteter Beziehungen zwischen .Persönlichkeiten" zusprechen, die frei ihre Lebensbedingungen zu gestalten beabsichtigen: "Nun aber entstehen mit dem Erwachen moderner Klassenprobleme materiale Anforderungen an das Recht von seiten eines Teils der Rechtsinteressenten (namentlich der Arbeiterschaft) einerseits, der Rechtsideologen andererseits, welche sich gerade gegen diese Alleingeltung solcher nur geschäftssittlichen Maßstäbe richten und ein soziales Recht auf der Grundlage pathetischer sittlicher Postulate (,Gerechtigkeit', ,Menschenwürde') verlangen"51. Gegenüber dieser Art von nicht-juristischen Postulaten, die materiale Gerechtigkeit statt formaler Legalität beanspruchen, sucht so

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SI

Ebd.

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die Justiz jenes Mindestmaß an immanenter Formalität zu bewahren, das es ihr erst erlaubt, Rechtliches von Nicht-Rechtlichem zu scheiden. Webers verbissen geführte Polemik gegen die Freirechtler52 , die neben die Doktrin von der unvermeidlichen Lückenhaftigkeit des Rechts und den Protest gegen die Fiktion seiner systematischen Geschlossenheit die Behauptung stellten, die konkrete richterliche Entscheidung begründe erst den Rechtssatz, den sie zur Anwendung bringe, ist aus der Sorge um das Schicksal der Rechtswissenschaft und der Stellung des Juristen in der modernen Massengesellschaft heraus zu verstehen. Entschieden wandte er sich gegen die Auffassung, die Gesetzesregeln spielten bei der Rechtsentscheidung "gegenüber den im prozeßlosen Alltag faktisch ,geltenden' Regeln" nur noch eine geringe Rolle. Vollends das daraus abgeleitete Postulat einer "soziologischen" Fundierung der Jurisprudenz 5J , die den gesetzgeberischen Willen zum bloßen "Symptom" der Geltung des Rechtssatzes herabwürdige, lehnte er nicht nur aufgrund seiner politischen Vorstellungen ab, die dem Parlament die staatstragende Funktion der "Führerauslese" zumaßen. Er befürchtete darüber hinaus eine gefährliche Herabminderung der Präzision juristischen Arbeitens, wohl ein verschlüsselter Ausdruck für die Angstvision einer parteilichen Justiz. Er befürchtete die Herrschaft rechtlicher Ideologien, weil die sittlichen Mindestmaßstäbe ökonomischen Interessenhandelns mehr und mehr entfielen und die Naturrechtsaxiome dahinschwanden, welche die Vorstellung einer "objektiven" Rechtsordnung getragen hatten, in der sich der Jurist und der Interessent als durch das Recht gesicherte "Persönlichkeiten" gegenüberstanden. Hier spiegelte sich freilich nur der Zerfall der staatlichen Souveränität wider, an dem das Naturrecht selber mitgewirkt hatte. Nun wurde offenbar, daß auch eine objektive Rechtsordnung, die dem Einzelnen "subjektive öffentliche Rechte" einräumte, vom faktischen Bestand einer konkreten politischen Ordnung abhing, die ihrerseits als "Persönlichkeit" handeln und die Rechtsordnung "um ihrer selbst willen" garantieren konnte. In dem Maße, wie die politische Gewalt zum Kompromißgegenstand sich befehden der gesellschaftlicher Gruppierungen wurde, verlor auch die Rechtsordnung ihre Eindeutigkeit und öffnete sich ideologischen Einflüssen aus der Tagespolitik. Die als Gegenreaktion betriebene formale Rationalisierung der Rechtspflege war zwar ein innerjuristisches Phänomen, beschrieb aber lediglich die Kehrseite eines Prozesses, in dem der immer unpersönlichere "öko52 Vgl. hierzu den Beitrag von M. Rehbinder in diesem Bande. Die Freirechtsbewegung steht Weber aber wohl mehr für den Rückschlag gegen den Juristen als "Persönlichkeit", der bereits aufgrund eines innere Grundsätze aufgebenden Rationalismus zum Fachmenschen erstarrt ist. Insofern sind für Weber Freirechtsbewegung und Rationalismus die Janushäupter ein und derselben Gefahr. 53 WuG (N 10), S. 507.

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nomisch rationale, eben deshalb aber ethisch irrationale Charakter rein geschäftlicher Beziehungen als solcher"54 mit einer immer größeren "Disziplinierung" der Arbeitswelt einherging. Die Rationalisierung der Rechtspflege hatte Weber nicht zuletzt auf den inneren Drang nach Verselbständigung der beamteten Juristen zurückgeführt. Dieser hatte dem Bedürfnis nach unabhängiger Gestaltung des Wirtschaftsverkehrs durch die ökonomischen Interessenten entsprochen. In dem Maße jedoch, in dem die Einzelnen im Zeitalter eines durch rationale Disziplin 55 geschulten Massenhandelns die soziale Fähigkeit zu innerlich ungebundener und äußerlich freier Lebensführung einbüßen und ihre persönlichen Interessen gar nicht mehr von denen der gesellschaftlichen Gruppen zu unterscheiden vermögen, in die sie eingewiesen sind, zerbricht jener "innere Maßstab" des guten Willens, an dem die "Regelmäßigkeit" formaler Verträge geprüft werden konnte. Die Justiz macht im Zeitalter ideologischer Massendisziplinierungen die bittere Erfahrung, daß nur eigenverantwortliches Einzelhandeln rechtlich erfaßbar, eine Rechtsordnung nur als Beziehung zwischen Rechtspersönlichkeiten denkbar ist. Nur ein Recht, das "innere" Rückhalte "äußerer" Regelmäßigkeiten des HandeIns aufweist, ist überhaupt in der Lage, juristisch präzis zu arbeiten, mithin die Grenzen rechtlicher Relevanz zu ziehen, die dem Rechtssubjekt einen rechtlich ungeregelten Raum zur freien Gestaltung überläßt. Nur solche Interessen werden dem Recht zu Rechtspersönlichkeiten, die auf innerlich verankerter Lebensführung beruhen. Den durch Disziplin abgerichteten "Organisationen" kann Recht, sobald es diese als "kollektive" Persönlichkeiten anerkennt, nur mehr mit ideologischen Wertungen begegnen. Dem "Arbeiter" soll "Gerechtigkeit" verschafft werden, sofern er einer ökonomisch benachteiligten "Klasse" angehört, nicht etwa, weil seine rechtlich geschützte Persönlichkeit, d. h. seine Fähigkeit zur freien Lebensführung innerhalb vertraglicher Grenzen, geschädigt wurde. Nun war Webers sozialpolitischer Scharfblick zu ausgeprägt, als daß er nicht erkannt hätte, welch unzulänglichen Rechtsschutz das Prinzip der "Vertragsfreiheit" jenen Arbeitern zu gewähren vermochte, die einer oft absichtlich unter der Rechtsschwelle sich haltenden betrieblichen Herrschaftsausübung überantwortet waren .• Die relative Zurückdrängung des durch Gebots- und Verbotsnormen angedrohten Zwanges durch steigende Bedeutung der ,Vertragsfreiheit', speziell der Ermächtigungssätze, welche alles der ,freien' Vereinbarung Ebd. S. 353. Daß die Idee der "Disziplin" nicht nur eines der wichtigsten Begriffscharniere in Webers Gesamtwerk darstellt, sondern auch tiefe Spuren in der Verfassungsgeschichte der Neuzeit hinterlassen hat, belegt P. Schiera: Lo stato moderno e iI rapporti disciplinamento/legittimazione, in: Problemi dei Socialismo Bd. 5, Milano 54 55

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überlassen, ist formell gewiß eine Verminderung des Zwangs. Aber offenbar lediglich zugunsten derjenigen, welche von jenen Ermächtigungen Gebrauch zu machen ökonomisch in der Lage sind"56. Eine soziologische Fundierung hätte das juristische Denken gerade für solche ideologischen Erwägungen anfällig gemacht. Die Rechtsordnung als Beziehung zwischen Rechtspersönlichkeiten war für Weber die letzte mögliche Gewähr der individuellen Freiheit überhaupt. Gerade ihrem immanenten Formalismus galt es die Aufgabe zuzuweisen, die formal und material notwendige Voraussetzung einer jeden Rechtsentscheidung, die faktische Fähigkeit der Beteiligten sicherzustellen, Rechtspersönlichkeitzu sein, mithin rechtlich erhebliche Handlungen eigenverantwortlich vollziehen zu können. Nur wer ein Rechtsgeschäft aus freiem Entschlusse, und nicht etwa unter dem Druck ökonomischer Umstände, vollzieht und für dessen Folgen persönlich einzustehen sozial in der Lage ist, kann als Rechtspersönlichkeit gelten. Ein "freier Arbeitsvertrag" mußte Weber gerade unter juristischem Gesichtspunkt als ein Widerspruch in sich erscheinen. Dieser konnte auch nur juristisch gelöst werden. Die Stellung des Juristen war unweigerlich dem Schicksal der individuellen Freiheit im spätindustriellen Zeitalter verbunden. An ihr war abzulesen, wie es um den einzelnen Menschen selbst und die Chancen seiner persönlichen Lebensführung bestellt war. Für den Soziologen blieb nichts weiter zu tun, als der Rechtswissenschaft ihre Abhängigkeit von sozialen Regelmäßigkeiten, die auf persönlicher Lebensführung beruhen, wieder ins Gedächtnis zu rufen 57 .

v. Schlußbemerkungen Weber war weit davon entfernt, die Soziologie als Nachfolgerin der Rechtswissenschaft einzusetzen und ihr die nunmehr rein juristisch unlösbar erscheinende Aufgabe anzuvertrauen, die gesellschaftlichen Beziehungen zu ordnen. Auch eine Hilfswissenschaft von der Gesellschaft, die der Jurisprudenz die Maßstäbe ihrer Entscheidung vorformen könne, war für ihn eine überlebte Vorstellung. Im Gegensatz zur Mehrheit der älteren GeneraWuG (N 10), S. 206. Auf den theoriegeschichtlichen Hintergrund von Webers Grundlegung seiner verstehenden Soziologie hat jüngst F. H. Tenbruck: Das Werk Max Webers: Methodologie und Sozialwissenschaften, KZfSS 38 (1986), S. 1, wieder aufmerksam gemacht. Dabei hebt er die gegenüber Positivismus und Historismus gleichermaßen eigenständige Position Webers hervor. Den ersten habe er abgelehnt, dem zweiten ins Gedächtnis gerufen, .daß alle gültige kausale Zurechnung konkreter Erscheinungen zu konkreten Ursachen die Kenntnis erwartbarer Regelmäßigkeiten voraussetze .. ." (S. 20). 56 57

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tion deutscher Volkswirtschaftler um Gustav Schmoller traute Weber einer mit der Regierung und der höheren Beamtenschaft verbündeten "politischen Intelligenz", als welche sich die staatswissenschaftlieh und historisch gebildeten Gelehrten der Wilhelminischen Zeit gerne bezeichneten, nicht mehr zu, die soziale Einigung der Nation durch Reformen herbeizuführen SB. Die aufstrebende Schicht der Arbeiterschaft konnte seiner Meinung nach nicht einfach in einen Nationalstaat integriert werden, der auf der veralteten Verfassungsvorstellung vom Dualismus zwischen Staat und Gesellschaft beruhte. Der Zusammenschluß der Arbeiter zu kampfentschlossenen Gewerkschaften war Ausdruck für das Selbstbewußtsein einer Schicht, die auf der Grundlage einer ganz neuen Form gesellschaftlicher Herrschaft sozial benachteiligt wurde. Ihre sozialen Ansprüche waren nicht etwa lediglich unter dem Gesichtspunkt materialer Gerechtigkeitspostulate legitim. Die Arbeiterschichten vertraten vielmehr das neue, alle Bereiche sozialen Handelns als solche von Grund auf revolutionierende Phänomen des Kapitalismus gegen die alte, mit dem monarchischen Obrigkeitsstaat verklammerte bürgerliche Gesellschaftsordnung. Diese vermochte es lange Zeit, sich dieser sozialen Revolution zu entziehen, indem sie sich auf den Boden der bestehenden Rechtsordnung stellte. Damit konnten unter Hinweis auf die Rechtshoheit des Staates betriebliche Herrschaftsverhältnisse zu privatrechtlichen Beziehungen erklärt werden. Die überkommene Gewerbeordnung gestattete es zudem, die auf nationaler Ebene durchweg ähnliche soziale Beziehungen schaffende Herrschaft des Kapitals über die Arbeit zu leugnen. Auch die staatswissenschaftlichen Disziplinen sträubten sich lange, den Kapitalismus als gesamtgesellschaftliches Phänomen zum bestimmenden Erklärungsmodell ihrer Forschung zu machen. An der Vorstellung, der Staat würde vermittels einer sozialwissenschaftlich erziehbaren Beamtenschaft die gesellschaftlichen Gegensätze lösen, hing nämlich ihr Anspruch auf wissenschaftliche Objektivität, der sich bei der Untersuchung individualisierter sozialer Phänomene geltend machte 59 . Erst der jungen Generation deutscher Nationalökonomen um Max Weber wird der Kapitalismus zur 58 Wie stark der Kampf der Wissenschaft um die Durchsetzung ihres politischen Anspruchs sich auch an inner akademischen Interessenkonstellationen orientierte, die gleichzeitig in den Kontroversen über die Entwicklungschancen des preußisch-deutschen Verfassungssystems deutlich wurden, zeigt R. vom Bruch: Wissenschaft, Politik und öffentliche Meinung. Gelehrtenpolitik im Wilhelminischen Deutschland (1890-1914), Husum 1980, S. 190-205. 59 Über den Generationskonflikt innerhalb der historischen Schule der deutschen Nationalökonomie im allgemeinen und über die Anknüpfung der .jüngeren" Generation an Marxsche Fragestellungen im besonderen ist grundlegend D. Lindenlaub: Richtungskämpfe im Verein für Sozialpolitik. Wissenschaft und Sozialpolitik im Kaiserreich vornehmlich vom Beginn des .Neuen Kurses" bis zum Ausbruch des ersten Weltkrieges (1890-1914), Wiesbaden 1967.

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schicksalhaften, alle Sphären des Handeins und damit alle Schichten der Gesellschaft bestimmenden Macht, die durch den äußeren und inneren Zwang, den sie ausübt, persönliche Glaubens- und Wertvorstellungen gefährdet. Die Probleme der Zeit weiten sich zu Kulturproblemen aus, weil sie gleichzeitig die ethische Stellung zu ihnen verunsichern. War der Nationalstaat nicht mehr oberster, ideologieneutraler Bezugsrahmen aller Gesellschaftswissenschaft, konnten lediglich persönlich vertretene Werturteile dem Forscher Gegenstand und praktisches Ziel seiner Arbeit weisen. Weber widmete denn auch einen großen Teil seiner Lebensarbeit der theoretischen Absicherung dieses Ausweges. Da der Kapitalismus jede' Bindung an eine vorgeformte Lebensordnung auflöste und überkommene Bildungsinhalte in die Sphäre privater, sozial unverbindlicher Wertschätzungen abdrängte, geriet die Gefährdung eigenverantwortlichen Handeins zu einer Problematik, die gleichzeitig die Frage nach der Freiheit intellektueller Lebensführung neu stellte 60 . Nicht zufällig legte Weber sich gegen Ende seines Lebens noch einmal die Frage vor: Wer hat "Persönlichkeit" auf wissenschaftlichem Gebiet? Dabei verstand er unter dem Begriff "Persönlichkeit" nicht etwa die Fertigkeit, durch die eigene Person wirken zu können. Erbarmungslosen Spott gießt er über denjenigen aus, der sich in der Wissenschaft als Persönlichkeit ausweisen will, indem er "als Impresario der Sache, der er sich hingeben sollte, mit auf die Bühne tritt, sich durch ,Erleben' legitimieren möchte und fragt: Wie beweise ich, daß ich etwas anderes bin als nur ein ,Fachmann'?"61. Der Wissenschaftler solle jeder Form von Kathederprophetenturn entsagen und sich streng der fachlichen Arbeit opfern, deren unweigerliche Begrenztheit und Vorläufigkeit sein Los sei. Unter den Bedingungen des Kapitalismus kann der einzelne die Unabhängigkeit seiner Lebensführung nur bewahren, indem er sie zum Gegenstand eines ethischen Wollens macht. Der Arbeiter 60 Wie unterschiedlich, jeweils der persönlichen Veranlagung entsprechend die Reaktion der jüngeren Sozialwissenschaftler auf den Verlust eines eindeutigen politischen Bezugssystems ausfallen konnte, zeigt das zu Weber gegenläufige Beispiel Werner Sombarts. Seine berühmte Wende von einem marxistisch-klassenpolitischen Materialismus hin zu einem aristokratischen Ästhetizismus, die alle Politik fortan für "schmutzig" befindet, ist Ausdruck der Verzweiflung an der eigenen intellektuellen Lebensführung, wie sie in der krampfhaften Polarisierung von "Geist" und "Masse" zum Ausdruck kommt. Auf den Fall Sombart hin bemerkte Friedrich Naumann: "Während ... bei jetziger Sachlage der Bauer, der Handwerker, der Großindustrielle, der Arbeiter sozusagen von selbst wissen, wohin sie politisch gehören, fängt der Gebildete an, vor lauter Skrupel und Unsicherheit nicht mehr zu wissen, an welcher Stelle er sich einzugliedern hat. Ihm fehlt in der Politik der materiellen Interessen der natürliche Standpunkt". Zitat und weiterer Zusammenhang bei vom Bruch (N 58), S. 282-283. 61 M. Weber: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, 4. Aufl. Tübingen 1973, S. 592.

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handelt nach dieser Einsicht im Rahmen politisch engagierter Gewerkschaften, der Wissenschaftler durch den Dienst an "der Sache selbst". In seiner eingangs erörterten Definition von Soziologie löst Weber die neue Disziplin ausdrücklich aus dem historistischen Bezugsrahmen der Staatswissenschaften heraus. Nicht mit schicksalhaften Einzelzusammenhängen, sondern mit Typen von Handeln habe es der Soziologe zu tun. Im Kapitalismus, der dem inneren Rückhalt an der Geschichte keinerlei Wirkungsmöglichkeit nach außen, auf die sozialen Beziehungen beläßt, kann "Persönlichkeit" nur durch die selbstverantwortlich gestaltete Lebensführung, die sich ihre alltägliche Ordnung schafft, als Typus weiterbestehen.

MAX WEBER UND HANS KELSEN Von Norberto Bobbio Ich schicke voraus, daß diese meine Überlegungen das Verhältnis zwischen Weber und Kelsen betreffen, wie es sich gegenüber dem Problem der Rechtssoziologie oder genauer: gegenüber dem Problem des Verhältnisses zwischen Rechtssoziologie und Rechtslehre darstellt. Diese Einschränkung ist notwendig, da das Verhältnis zwischen Weber und Kelsen auch unter anderen Gesichtspunkten, beispielsweise unter dem Gesichtspunkt des Problems der Demokratie oder dem des Parlamentarismus, betrachtet werden kann!. Zunächst ist festzustellen, daß zwischen Weber und Kelsen kein Wechselverhältnis besteht. Obwohl Weber seine Rechtssoziologie (und damit bezeichnet man jenes Werk, das später als Kapitel VII mit der Überschrift "Wirtschaft und Recht" in "Wirtschaft und Gesellschaft" Aufnahme finden wird) in den Jahren zwischen 1911 und 19132 schreibt, als Kelsen bereits sein erstes großes Werk, die "Hauptprobleme der Staatsrechtslehre", 1911 bei Mohr in Tübingen (der auch Webers Verleger ist) veröffentlicht hat, scheint er es nicht gekannt zu haben. Kelsen zitiert Weber im Vorwort vom Februar 1911 (aber er wird ihn nicht mehr in dem langen Vorwort zur zweiten Auflage von 1923 zitieren)3. Er zitiert ihn im Vorwort, aber nicht innerhalb des Werkes 1 Dazu R. Racinaro: Hans Kelsen e il dibattito su democrazia e parlamentarismo negli anni Venti-Trenta, Einleitung zur italienischen Ausgabe von H. Kelsen: Socialismo e stato. Una ricerca sulla teoria politica dei marxismo, Bari 1978. 2 Die erste Ausgabe des großen Werkes Webers erschien im Verlag Mohr (Tübingen) 1922, als Weber bereits tot war. Es folgten die Ausgaben von 1925, 1947 und 1956. Die Rechtssoziologie ist das erste Mal aus dem glücklich wiedergefundenen Manuskript als Buch für sich herausgegeben worden von Johannes Winckelmann: M. Weber, Rechtssoziologie, Luchterhand (Neuwied) 1960. Die letzte Ausgabe von "Wirtschaft und Gesellschaft", aus der im folgenden zitiert wird, ist 1976 erschienen, und zwar in drei Bänden, wovon einer die Anmerkungen enthält, gleichfalls von Winckelmann im Verlag Mohr (Tübingen). Hier nimmt die "Rechtssoziologie" die S. 387 -513 ein. 3 H. Kelsen: Hauptproblerne der Staatsrechtslehre, entwickelt aus der Lehre vom Rechtssatz, Tübingen 1911, S. IX. Die Bedeutung dieses Zitates ist schon von G. Calabro unterstrichen worden in dem Aufsatz: La giurisprudenza come "scienza dello spirito" secondo Hans Kelsen, vorangestellt der italienischen Übersetzung von H. Kelsen: Uber Grenzen zwischen juristischer und soziologischer Methode, 1911 (Tra

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selbst. Dieses einzige Zitat ist ein wichtiger Hinweis darauf, wie sehr der junge und bereits bekannte Jurist aus der Schule Jellineks augenscheinlich mit dem Autor jener methodologischen Aufsätze der Sozialwissenschaften rechnete, die in Deutschland schon breitesten Anklang gefunden hatten. Nach der Feststellung, das vorgelegte Werk habe weitgehend methodologisehen Charakter, weil es beabsichtige, den Aufbau der Rechtsbegriffe von soziologischen und psychologischen Elementen freizuhalten, betont er, daß seine Untersuchungen unter dem Zeichen zweier großer Antithesen stehen, jener zwischen "Sein" und "Sollen" und jener zwischen Förm und Inhalt. Bezüglich der zweiten zitiert er Webers Aufsatz über die Objektivität der Sozialwissenschaften (1904) und schreibt dazu: "Wenn ich ... meinen Standpunkt mit den Worten Max Webers verdeutlichen darf, die Eigenschaft des Erkenntniszweckes meiner Arbeit besteht darin, daß sie über eine rein formale Behandlung der Rechtsnormen nicht hinausgehen will, weil meiner Meinung nach in dieser Beschränkung die Wesentlichkeit der formal-normativen Behandlung der Rechtswissenschaft liegt" 4. Ob der Bezug auf Weber ganz einwandfrei ist, sei dahingestellt. Einwandfrei ist sicherlich die Schuld, die Kelsen gegenüber den methodologischen Thesen Webers hat oder zu haben vorgibt derart, daß er einen Ausspruch Webers zum grundlegenden Kern seiner eigenen Theorie hinzufügt. Als 1921 "Wirtschaft und Gesellschaft" herauskommt und Webers Rechtssoziologie enthält, die bis dahin unveröffentlicht geblieben war, unterzieht sie Kelsen sofort einer vertieften kritischen Untersuchung in seinem Beitrag "Der Staatsbegriff der ,verstehenden Soziologie' ", der in der Zeitschrift für Volkswirtschaft und Soziologie von 1921 erscheint und ein Kapitel seines Buches "Der soziologische und der juristische Staatsbegriff" von 1922 wird, das eine entscheidende Zwischenstufe im Übergang von den "Hauptproblemen" zur "Allgemeinen Staatslehre" von 1925 darstelltS . Für metodo giuridico e sociologico, Napoli 1974, S. 11). Der Großteil der Zitate aus Weber verschwindet auch im Übergang von der ersten Auflage von: Vom Wesen und Wert der Demokra tie (1920) zur zweiten (1929), wie Racinaro in der angeführten Einleitung hervorgehoben hat. 4 Kelsen zitiert, ohne ihn anzuführen, einen Absatz aus Webers Aufsatz "Die Objektivität sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis", Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik IX (1904), S. 45. Es handelt sich um folgenden Text: "Es gibt keine schlechthin ,objektive' wissenschaftliche Analyse des Kulturlebens oder ... der ,sozialen Erscheinungen' unabhängig von speziellen und ,einseitigen' Gesichtspunkten, nach denen sie . . . als Forschungsobjekt ausgewählt, analysiert und darstellend gegliedert werden. Der Grund liegt in der Eigenart des Erkenntniszieles einer jeden sozialwissenschaftlichen Arbeit, die über eine rein formale Betrachtung der Normen - rechtlichen oder konventionellen - des sozialen Beieinanderseins hinausgehen wiIl". 5 In der Zeitschrift befindet sich der Beitrag auf den S. 104-119. Im Buch befindet sich das entsprechende Kapitel auf den S. 156-170.

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das Verständnis des Verhältnisses zwischen Kelsen und Weber im Hinblick auf das Problem der Rechtssoziologie und ihrer Stellung zur Rechtslehre, so wie Kelsen sie auffaßt, ist dieser Beitrag grundlegend. Als er in der "General Theory of Law and State" von 1945, wenngleich in kürzerer Form, auf Webers Rechtssoziologie zurückkommt, greift er mehr oder weniger zu denselben Worten. Das Werk Webers wird als das bedeutungsvollste nach der Soziologie Simmels vorgestellt. Man darf nicht vergessen, daß in den Jahren, in denen Kelsen die "Hauptprobleme" veröffentlichte und Weber seine Rechtssoziologie schrieb, das Problem der Rechtssoziologie und natürlich deren Beziehungen zur Rechtswissenschaft an der Tagesordnung war. Im Jahre 1910 hatte Hermann Kantorowicz seinen berühmten Vortrag über "Rechtswissenschaft und Soziologie" gehalten, und 1913 veröffentlichte Eugen Ehrlich sein Hauptwerk "Grundlegung der Soziologie des Rechts", das über die Zeit hinweg einer der wichtigsten und faszinierendsten Beiträge zur Entwicklung dieser Disziplin geblieben ist. In dem Vierteljahrhundert, in dem Kelsen seine feste theoretische Burg zusammenfügte, zwischen 1910 und 1934 (Veröffentlichungsjahr der "Reinen Rechtslehre" in ihrer ersten zusammenfassenden Auflage), hatte er eine erstaunliche Fähigkeit, in die kritische Diskussion mit den vorherrschenden Strömungen und Lehren der Zeit einzugreifen. Seine Kritik der sozialistischen und kommunistischen Rechtslehren ist seit längerem bekannt, obwohl sie in den letzten Jahren wiederentdeckt und für ernster genommen worden ist, als das zur Zeit der Bannsprüche geschehen war. Erst kürzlich ist man darauf aufmerksam geworden, daß dieser "reine" Rechtstheoretiker (wobei "rein" häufig im abwertenden Sinne von "leer" verwandt wird) sich als erster Jurist mit der Psychoanalyse beschäftigt hat. Kurzum, es entgingen ihm weder der Aufsatz von Kantorowicz noch das Buch von Ehrlich. Dem ersten widmete er Teile eines 1912 erschienenen Beitrages 6 , letzterem 1915 einen langen Aufsa tz 7• Da die Beziehungen zwischen unseren 6 Die Kritik an Kantorowicz befindet sich in der Anmerkung "Zur Soziologie des Rechts. Kritische Bemerkungen", Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik XXXIV (1912), S. 601-614, worin Kelsen zu Kantorowicz Stellung nimmt (S. 601-607), ferner zum Buch Kornfelds: Soziale Machtverhältnisse, 1911 (S.607-614). 7 "Eine Grundlegung der Rechtssoziologie", Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik XXXIX (1915), S. 839-876. Diese Kritik rief eine befremdete Reaktion Ehrlichs hervor, der mit einer "Entgegnung" erwiderte (ebd. XLI 1916, S. 844-849), gefolgt von einer "Replik" Kelsens (S. 850-853). Die Polemik setzte sich das Jahr darauf mit einer "Replik" Ehrlichs fort (ebd. XLII, 1916-17, S. 609-610) sowie mit einem" Schlußwort" Kelsens (S. 611). Die Kritik Kelsens an sämtlichen von Ehrlich vertretenen Thesen ist empfindlich, beharrend und streng: Man kann nicht von der Rechtssoziologie als einer Rechtswissenschaft sprechen, weil Rechtswissenschaft einzig nur die normative Rechtswissenschaft ist. Die Rechtssoziologie ist kein autonomes Fach, da sie lediglich eine Abteilung einer erklärenden Wissenschaft des gesellschaftlichen Lebens darstellt. Ihre Abgrenzung kann nur auf Grund einer

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beiden Autoren nicht nur unmittelbar, sondern auch mittelbar verlaufen, hat man sich auch jene Schriftsteller zu vergegenwärtigen, auf die sich der eine und der andere bezieht oder die sie zumindest beachtet haben, weil sie sie als bedeutsam für ihre Zwecke hielten. Obgleich es sich nicht um eine leichte Untersuchung handelt, da weder Weber noch Kelsen häufig zitieren (Weber noch weniger als Kelsen), gilt es wenigstens hinsichtlich unseres Themas daran zu erinnern, daß auch Weber die Ausführungen von Kantorowicz kritisierte 8 und offenkundig die Soziologie Ehrlichs kennt, die er zitiert, wenngleich er ihr vorwirft, den soziologischen mit dem juristischen Gesichtspunkt vermengt zu haben (dieser Vorwurf deckt sich mit demjenigen Kelsens)9. Es ist hier nicht der Ort, sich auf die Suche nach den gemeinsamen Quellen unserer beiden Autoren zu begeben. Jedoch kann man im Zusammenhang mit dem Verhältnis zwischen Recht und Gesellschaft nicht umhin, zwei Werke zu zitieren, die einige Jahre zuvor erschienen und oftmals von dem einen wie vom anderen kritisiert werden: "Wirtschaft und Recht nach der materialistischen Geschichtsauffassung" von Rudolf Stammler (1896) und die "Allgemeine Staatslehre" von Georg Jellinek (1900). Gegenüber Kantorowicz und Ehrlich standen Weber und Kelsen in derselben Front. Die beiden Soziologen neigten dazu, die Rechtswissenschaft auf ein soziologisches Fach zu beschränken und die Unterscheidung zwischen idealer Geltung und realer Geltung nicht anzuerkennen, eine These, die Weber und Kelsen für eine Quelle von Verwirrung hielten. Darüber hinaus hatten beide, der eine ein kämpferischer Verfechter des Freirechts, der andere ein ebenso kriegerischer Kritiker der formalistischen und etatistischen Rechtswissenschaft im Namen des "lebenden Rechts", ihre Schriften auch als Waffen in der rechtspolitischen Auseinandersetzung angelegt, während Weber und Kelsen, treu dem Ideal einer wertfreien Wissenschaft, der Unterscheidung zwischen der Sphäre der Erkenntnis und der Sphäre des HandeIns, das Grundproblem des Verhältnisses zwischen Gesellschaft und Recht oder vielmehr zwischen der Aufgabe der Soziologie und der Aufgabe der Rechtswissenschaft gegenüber dem Phänomen Recht wesentlich als ein methodologisches Problem behandelten, als ein Problem, das mit der AusRechtsdefinition erfolgen, deren Bestimmung der normative Rechtsbegriff leistet. Kelsen richtet im wesentlichen an Ehrlich dieselbe Kritik, die er dann an Weber richten wird: Die Rechtssoziologie ist nicht imstande festzulegen, was Recht ist, und muß deshalb den von der normativen Rechtswissenschaft entwickelten Rechtsbegriff voraussetzen. 8 In einer "Diskussionsrede" auf dem ersten deutschen Soziologentag im Oktober 1910 in Frankfurt, wo Kantorowicz seinen Vortrag über Rechtswissenschaft und Soziologie hielt. Die Wortmeldung Webers wurde veröffentlicht in den "Schriften der deutschen Gesellschaft für Soziologie", Tübingen 1911, S. 323-330, dann in "Gesammelte Aufsätze zur Soziologie und Sozialpolitik", Tübingen 1924, S. 471-476. 9 M. Weber: Wirtschaft und Gesellschaft, 5. Auf). Tübingen 1976, S. 441.

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einandersetzung zwischen Natur- und Geisteswissenschaften und insbesondere, nach der bekannten Unterscheidung Kelsens, zwischen erklärenden und normativen Wissenschaften zusammenhängt. Sehr viel komplexer und auch methodologisch interessanter bietet sich das kritische Verhältnis Webers und Kelsens zu Stammler dar, interessant auch deshalb, weil die Kritiken zum großen Teil gleichlautend sind und einige bemerkenswerte Verwandtschaften im Ansatz, sowohl nach der Methode als auch nach dem Inhalt, aufweisen. In seinem breit angelegten Werk über Recht und Wirtschaft unter dem Gesichtspunkt des historischen Materialismus, das bei seinem Erscheinen schon von Croce der Kritik unterzogen worden war, hatte Stammler vor allem zwei Thesen vertreten: die Unterscheidung zwischen kausalen Naturwissenschaften und den teleologischen Wissenschaften der Gesellschaft (als methodologische These) und die Unterscheidung zwischen Recht als Form und der Wirtschaft als Inhalt (der Versuch einer umfassenden begrifflichen Neuschöpfung des Gesellschaftssystems ). Beide Thesen sind Gegenstand der Kri tik von We ber 10 und Kelsen: die Kritik Kelsens unterscheidet sich nicht wesentlich von derjenigen Webbers. Stark an Weber angelehnt ist die Kritik, die Kelsen gegen die erste Unterscheidung in den "Hauptproblernen" richtet, wenngleich er die Autorität Sigwarts anruft, der in seiner Logik klar gemacht hat, daß die Beziehung Ursache/Wirkung und die Beziehung Mittel/Zweck nichts anderes sind als dieselbe Beziehung, aus zwei verschiedenen Blickwinkeln gesehen, und deshalb keine allgemeinen Kategorien zur Unterscheidung zweier Typen von Wissenschaft begründen können. Auch Wundt hat die Ansicht vertreten, daß die beiden Prinzipien sich nicht gegenseitig ausschließen, da im Gegenteil die Anwendung des Zweckprinzips die gleichzeitige Geltung des Kausalprinzips voraussetzt. Für Kelsen kann die Unterscheidung zwischen zwei Typen von Wissenschaft nicht durch die Unterscheidung zwischen dem Kausalen und dem Teleologischen erfolgen, sondern zwischen dem Kausalen und dem Teleologischen auf der einen Seite, die Sphäre der Tatsachen betreffend, und dem Normativen auf der anderen Seite, die Sphäre des Sein-Sollens betreffend. Bezüglich der zweiten These, der Unterscheidung zwischen Recht/Form und Wirtschaft/Inhalt, kritisiert Weber Stammler nicht nur, weil dieser es versäumt habe, die empirische von der normativen Geltung zu unterscheiden (auf dieses Thema werde ich später zurückkommen), sondern auch, weil er sich nicht klar gemacht habe, daß das soziale Handeln sich nicht nur an Ordnungen orientiert und daß deshalb, selbst davon ausgehend, daß man eine Ordnung als Form des sozialen HandeIns 10 Vor allem in der Schrift: Überwindung der materialistischen Geschichtsauffassung (1907), in: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, 3. Auf). Tübingen 1968, S. 291-359. Seine stets sehr polemisch gehaltenen Hinweise auf die Theorien Stammlers sind auch in "Wirtschaft und Gesellschaft" von der ersten Seite an sehr häufig, wo das "stark irreführende Buch" R. Stammlers zitiert wird.

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definieren könne (was Weber nicht zugibt), "die normative Regelung eine wichtige, aber nur eine kausale Komponente des Einverständnishandelns ist, nicht aber - wie Stammler möchte - dessen universelle Form"!!. Man könnte denken, daß Kelsen, Vertreter einer formalen Rechtslehre und im Guten wie im Schlechten als Formalist angesehen, hinsichtlich der Auffassung des Rechts als Form Stammler näher steht als Weber. In Wahrheit ist dem nicht so. Die große Dichotomie Kelsens, die dazu dient, die beiden Erkenntnissphären zu unterscheiden, ist nicht Form/Inhalt, sondern Sein/ Sollen. Es ist ein Unterschied, ob man das Recht als Form der Gesellschaft anspricht oder aber, wie Kelsen es tut, die Aufgabe der reinen Rechtslehre, d. h. einer Lehre, die Wissenschaftlichkeit für sich beansprucht, in der Untersuchung des Rechts in seiner formalen Struktur sieht. Kelsen hat in seinem ersten großen Gesamtwerk - wie oben zitiert - nicht die Absicht, das Recht als Form oder gar als die Form der Gesellschaft vorzustellen. Denn er will "nicht über eine rein formale Behandlung der Rechtsnormen hinausgehen". Dieser Satz gibt im übrigen zu erkennen, daß es eine nicht formale Behandlung des Rechts geben kann, wie das bei der Rechtssoziologie der Fall ist. In den Jahren unmittelbar vor der Entstehung der Rechtssoziologie Webers und den ersten Schriften Kelsens hatte eine fruchtbare Begegnung zwischen Soziologen und Juristen stattgefunden. Man verzeichnet nicht so sehr die Geburt der Rechtssoziologie als eines autonomen Faches (das geschieht später), sondern auf der einen Seite die Anerkennung der Bedeutung der Rechtsstrukturen für die Gesellschaft durch einige große Soziologen wie Durkheim, auf der anderen die Anerkennung der Bedeutung der Soziologie für das Verständnis des Phänomens Recht durch einige große Juristen wie Hauriou!2. Diese Begegnung zwischen Soziologen und Juristen konnte nicht anders, als das Problem der Abgrenzung der jeweiligen Fächer aufwerfen. Aber es handelte sich nicht um denselben "Methodenstreit", an dem Max Weber intensiv teilgenommen hat, um die Unterscheidung zwischen Natur- und Geisteswissenschaften, zwischen generalisierenden und individualisierenden Wissenschaften usw., weil die Rechtswissenschaft weder eine Sozialwissenschaft war, die man den Naturwissenschaften gegenüberstellen, noch eine idiographische Wissenschaft war, die man von den nomothetischen Wissenschaften abgrenzen konnte, und deshalb in keine der Wissenschaften Eingang fand, deren erkenntnistheoretischer Status Gegenstand der Auseinandersetzung gewesen war. Soziologen und Juristen, die das Recht unter dem Gesichtspunkt der Gesellschaft betrachteten, waren WuG (N9), S. 194. Bezüglich dieser und anderer Bemerkungen über die Geschichte der Rechtssoziologie berufe ich mich auf R. Treves: Introduzione aHa sociologia dei diritto, 2. Aun. Torino 1980. 11

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versucht, die Schwierigkeiten dadurch zu lösen, daß man der Jurisprudenz den Status der Wissenschaft aberkannte und sie gleich der Theologie als eine Dogmatik, d. h. als einen Regelsatz zur Interpretation von Texten (heute würde man von einer Hermeneutik sprechen) betrachtete und die Rechtssoziologie nunmehr, nachdem die Sozialwissenschaften im Universum der Wissenschaft ihren Platz gefunden hatten, zur einzigen juristischen oder auf das Recht bezogenen Disziplin erklärte, die den Status der Wissenschaft für sich beanspruchen könne. Aber es gab auch solche, die sich bemühten, zwischen der Rechtssoziologie, die mit vollem Recht ihren Platz unter den Sozialwissenschaften einnahm, und der Rechtswissenschaft zu unterscheiden. Das Unterscheidungskriterium konnte sich natürlich nicht mit demjenigen decken, das die Unterscheidung zwischen Natur- und Geisteswissenschaften ermöglicht hatte. Gleichwohl hätte es den Weg zur Aufnahme der Rechtswissenschaft in den Stand der Wissenschaft freigemacht. Man kann nicht genug darauf hinweisen, daß Jellinek in seinem Werk einem der Denkmäler des öffentlichen Rechtes - die Auseinandersetzung zwischen Soziologen und Juristen salomonisch durch Scheidung der Staatslehre in zwei Teile gelöst hat, die er jeweils "soziologische" und "juristische" Staatslehre nannte: eine Lösung, die Kelsen berühmt machen sollte, indem er sie unter der Bezeichnung "Zweiseitentheorie" kritisierte (aber auch darüber später). Diese Teilung der Staatslehre begründete Jellinek mit einer Typologie der Wissenschaften, die mit der am häufigsten diskutierten nicht übereinstimmte. Sie unterschied die Wissenschaft der Ursachen von der Wissenschaft der Normen, indem sie die kausale Erkenntnis, die sich der Naturgesetze bedient, und die normative Erkenntnis, die mit Verhaltensregeln zu tun hat, auseinanderhielt. Was die Unterscheidung zwischen Naturgesetzen und Normen betraf, zog Jellinek ein Kriterium heran, das gerade durch das Werk Kelsens unvorhersehbaren Erfolg ernten sollte: die Unterscheidung zwischen jenen Regeln, die ausdrücken, was ist, und jenen Regeln, die ausdrücken, was sein soll. Diese Unterscheidung erlaubte es ihm, die Rechtswissenschaft als Normenwissenschaft zu definieren, d. h. nicht als "eine Wissenschaft der Gesetze dessen, was ist, sondern der Normen", und sie als solche gegen die Rechtssoziologie abzugrenzen, die eine Wissenschaft der Ursachen ist. Dank dieser Unterscheidung war es möglich, die soziale Staatslehre, "die die objektive, geschichtliche oder ... natürliche Existenz des Staates zum Inhalt hat", von der Rechtslehre zu trennen, welche die "Rechtsnormen, die sich in jener realen Existenz offenbaren müssen" und die "sicherlich nichts Reales" sind, sondern "etwas, das durch eine .ununterbrochene menschliche Tätigkeit verwirklicht werden kann", zum Inhalt hat, und schließlich "ein für alle Mal die Verwirrung zwischen den beiden Teilen der Staatslehre zu verhindern"13. 13

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G. lellinek: La dottrina generale dello stato, Milano 1921, Bd. I, S. 73.

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Ich möchte die Unterscheidung Jellineks nicht überbewerten, die sich bei genauer Betrachtung unscharf erweist, oder nahelegen, das sie Weber gegenwärtig war l 4, der Jellinek, wenn auch in anderen Zusammenhängen, und Kelsen zitiert. Dennoch darf nicht vergessen werden, daß Kelsen am Schluß des Vorworts zur ersten Auflage der "Hauptproblerne" seinem Lehrer dankt, der gestorben sei, während das Buch in der Veröffentlichung begriffen gewesen sei, und weiter schreibt, das Buch würde den großen Einfluß, den Jellinek auf die Entwicklung der Staatslehre ausgeübt habe, zutage treten lassen. Jedenfalls ist es eine Tatsache, daß Jellinek den Wandel des öffentlichen Rechts zu einer immer strengeren und der Abgrenzung gegenüber der Rechtssoziologie immer bedürftigeren juristischen Fachdisziplin klar erfaßt und problematisiert hat. In dem Augenblick, als er daran geht, eine Rechtssoziologie zu entwerfen, beschäftigt sich auch Weber mit der "actio finium regundorum" zwischen soziologischem und juristischem Gesichtspunkt. Das Thema wird zu Anfang von Kap. I des 11. Teiles von "Wirtschaft und Gesellschaft" mit folgenden Worten behandelt: "Wenn von ,Recht', ,Rechtsordnung', ,Rechtssatz' die Rede ist, so muß besonders streng auf die Unterscheidung juristischer und soziologischer Betrachtungsweise geachtet werden"15. Die Verschiedenheit führt Weber auf die Unterscheidung zwischen idealer und empirischer Geltung einer Norm oder Ordnung zurück: eine Unterscheidung zwischen der Ebene des Sein-Sollens, auf dem sich die Rechtswissenschaft ansiedelt, und der Ebene des Seins, die der Rechtssoziologie eigen ist. Nimmt man den Gesichtspunkt der idealen Geltung ein, so stellt man sich laut Weber die Frage, weIcher "normative Sinn" einem Satz, der sich als Rechtsnorm ausweist, beizulegen sei, eine Aufgabe, die dem Juristen oder dem Richter obliegt, der den "logisch korrekten" Sinn einer Norm herauszulesen und diesen auf ein logische Widersprüche ausschließendes System zurückzuführen sucht. Nimmt man hingegen den Gesichtspunkt der empirischen Gel14 Für das Verhältnis zwischen Weber und Jellinek ist die "Gedenkrede auf Georg Jellinek" wichtig, die Weber am 21. März 1911 bei der Hochzeit von Jellineks Tochter, die kurz nach dem Tod des Vaters erfolgte, hielt, veröffentlicht im Band "Max Weber zum Gedächtnis", hg. von R. König und J. Winckelmann (Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheit 7,1963). S. 13-17. Weber zählt auf, was er Jellinek schuldet: die Unterscheidung von naturalistischem und dogmatischem Denken im "System der subjektiven Rechte" hinsichtlich des methodologischen Problems; die Bildung des Begriffs der Soziallehre des Staates, hinsichtlich der Klärung der Aufgaben der Soziologie; den Beweis des religiösen Ursprungs der Menschenrechte hinsichtlich der Bedeutung der Religion auf Gebieten, wo man sie für gewöhnlich nicht sucht (S. 15). 15 WuG (N9), S. 181. Für die Diskussion um den Rechtsbegriff und die Unterscheidung zwischen dem Recht der Juristen und dem Recht der Soziologen bei Weber muß man wenigstens auf die schon zitierte Schrift über Stammler zurückgreifen: Überwindung der materialistischen Geschichtsauffassung (Nl0), S. 323 ff.

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tung ein, stellt man sich die Frage, was tatsächlich innerhalb einer Gemeinschaft geschieht, in der die Individuen eine bestimmte Ordnung für geltend erachten und ihr Verhalten an dieser Ordnung ausrichten. Den zwei Gesichtspunkten entsprechen zwei verschiedene Bedeutungen von "Ordnung". "Ordnung" ist zum einen ein Satz geltender Regeln, deren Sinn zum Zwecke der Anwendung auf diesen oder jenen Fall ermittelt werden muß. "Ordnung" ist zum anderen eine Gesamtheit tatsächlicher Motive menschlichen HandeIns, woraus das Verständnis abzuleiten wäre, warum ein Individuum innerhalb eines bestimmten gesellschaftlichen Zusammenhanges auf eine bestimmte Weise handelt. Es darf nicht übersehen werden, daß die Aufgabe der Soziologie für Weber darin besteht, das soziale Handeln zu verstehen, und daß er mit Handeln ein Verhalten meint, dem das handelnde Individuum einen subjektiven Sinn beimißt. Das erklärt, warum der soziologische Gesichtspunkt, unter dem das Recht betrachtet wird, darin bestehen sollte, jene Handlungen zu untersuchen, die von der Gegenwart einer Rechtsordnung bestimmt sind oder, mit anderen Worten, jene Handlungen, deren Motiv, und folglich deren subjektiver Sinn, die Vergegenwärtigung der Existenz einer Ordnung ist, die eben deshalb, d. h. aufgrund der Tatsache, daß sie einen Orientierungspunkt des gesellschaftlichen HandeIns darstellt, als (empirisch) geltende Ordnung zu betrachten ist. Es ist unnötig, die Frage aufzuwerfen, ob das, was Weber Rechtssoziologie genannt hat, dieser Absicht entspricht. Es erschiene mir schwer, darauf eine positive Antwort zu geben. Einige Themen, wie die Unterscheidung zwischen Recht und Konvention, worauf er mehrmals zurückkommt, oder die Definition einer Rechtordnung, sind traditionelle Themen der Rechtsphilosophie. Ein Großteil des zitierten Kap. VII betrifft die Rechtsgeschichte, wenngleich eine Geschichte, die auf die Zusammenhänge zwischen Rechtsbildung und Wirtschaftsordnung, zwischen Rechtsveränderung und den verschiedenen Formen politischer Herrschaft besonderen Wert legt l6 . Hier ist die scharfe Unterschei16 Ob das Kap. VII von WuG tatsächlich eine Rechtssoziologie ist und in welchem Sinne von "Rechtssoziologie" es dies sei, wird noch immer diskutiert und ist nicht leicht zu entscheiden, da es sich letztlich um eine Definitionsfrage handelt. Auf jeden Fall kann man über Webers Rechtssoziologie, außer dem Kap. V der Introduzione alle sociologica dei diritto von Treves (NI2, S. 85-98), mit Gewinn sowohl die Einleitung M. Rheinsteins zur amerikanischen Ausgabe: Law in Economy and Society, Harvard University Press 1954, S. XXV -LXII heranziehen, als auch die Einleitung J. Winckelmanns zur deutschen Ausgabe (N2, S. 15-49). Darüber hinaus: M. Rehbinder: Max Webers Rechtssoziologie, in: Max Weber zum Gedächtnis (NI4, S. 470-488) und K. Engisch: Max Weber als Rechtsphilosoph und Rechtssoziologe, in: Max Weber. Gedächtnisschrift der Ludwig-Maximilian-Universität zur 100. Wiederkehr seines Geburtstags, Berlin 1966, S. 67-88; J. Freund: La rationalisation du droit selon Max Weber, Archives de philosophie du droit 1978, S. 69-92. In Italien M. A. Toscano: Evoluzione e crisi dei mondo normativo, Durkheim e Weber, Bari 1975, und A. Febbrajo: Per una rilettura della sociologia dei diritto weberiana, Sociologia dei diritto III (1976), S. 1-28.

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dung hervorzuheben, die Weber zwischen idealer und empirischer Geltung einführt. Daher sei betont, daß Weber, nachdem er einmal diese Unterscheidung eingeführt hat, als Soziologe darauf beharrt, den Begriff empirische Geltung zu klären, da diese, und nicht die ideale Geltung, die Rechtssoziologie angeht. Zu dieser Klärung tragen vor allem zwei Feststellungen bei: 1. Die empirische Geltung einer Ordnung schließt nicht die Notwendigkeit ein, daß alle oder auch nur die Mehrheit derjenigen, die ihr Verhalten an jener Ordnung orientieren, sich deshalb so verhalten, weil dieses Verhalten von den Normen der Ordnung vorgeschrieben ist. Viele können sich auf diese Weise aus reiner Gewohnheit verhalten oder aus Angst vor der Mißbilligung der anderen, nicht aber aus einem als Rechtspflicht empfundenen Gehorsam. 2. Es ist auch nicht notwendig, daß die Ordnung tatsächlich befolgt wird, da nicht die Befolgung, sondern das an ihr orientierte Handeln die empirische Geltung einer Ordnung ausmacht, und es kann kein Zweifel darüber bestehen, daß auch derjenige, der sie übertritt, sein Handeln an jener Norm orientiert, deren Gegebenheit er beachten muß, wenn er sie umgehen will. Beide Feststellungen zeigen, daß die empirische Geltung einer Ordnung nicht mit dem Gehorsam der Teilnehmer gegenüber den Normen übereinstimmt, weil dazu solche gehören, die sich ihr anpassen, ohne ihr eigentlich zu gehorchen (weil sie sich an jene Normen gebunden fühlen), aber auch solche, die ihr nicht gehorchen (sie aber dennoch beachten). Webers Untersuchung der empirischen Geltung wird hier hervorgehoben, weil sie ein Punkt der Begegnung und Auseinandersetzung mit Kelsen darstellt. Begegnung deshalb, weil Kelsen in der "General Theory of Law and State", in einem gegenüber der "Reinen Rechtslehre" zum Großteil neuen Kapitel, das Problem des Verhältnisses zwischen normativer und soziologischer Rechtswissenschaft behandelt und dabei äußert, daß "der bislang gelungenste Versuch, den Gegenstand der Rechtssoziologie zu definieren, von Max Weber unternommen worden ist"I? Auseinandersetzung deshalb, weil das Problem, worum es Kelsen als Vertreter der reinen Rechtslehre geht, nicht die empirische, sondern die ideale Geltung, die Geltung an für sich, ist. In der reinen Rechtslehre fällt der Begriff "Geltung" mit Webers "idealer Geltung" zusammen. Die Ausführungen Webers über die empirische Geltung entsprechen in der reinen Rechtslehre dem Problem der Wirksamkeit der Rechtsordnung, dem Kelsen sich zwar nicht groß widmet, dem er aber weder die Bedeutung noch die Legitimität abspricht. Bei aller Verschiedenheit des Untersuchungsgegenstandes des Soziologen Weber und des Juristen Kelsen und bei allem Unterschied in der Terminologie stimmen Weber und Kelsen jedoch in einem sehr wichtigen Punkt überein: der Unterscheidung zweier Gesichtspunkte, des Soziologen und des Juristen, und der beiden jeweiligen Sphären, der Sphäre des Seins und der des 17

H. Kelsen: Teoria generale dei diri tto e dello sta to, Milano 1952, S. 178.

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Sein-Sollens, innerhalb deren die beiden Wissenschaften kreisen, einer Unterscheidung, die von den bedeutendsten Vertretern der soziologischen Rechtswissenschaft bestritten oder nicht erkannt wird. Mit diesem anfänglichen Lob an die Adresse Webers, das vorhin zitiert worden ist, schließt Kelsen die Kritik an den soziologisierenden Juristen ab, die aufgrund der Vorhersehungstheorie (nach der eine rechtliche Verpflichtung besteht, wenn man mit großer Wahrscheinlichkeit vorhersehen kann, daß eine bestimmte Handlung eine bestimmte Folge haben wird) glauben, die ideale Geltung gänzlich in der empirischen aufgelöst zu haben, und deshalb die Legitimität einer normativen Rechtswissenschaft jenseits der soziologischen nicht zugestehen. Im Gefolge Webers hält Kelsen hingegen die Unterscheidung für notwendig und das von Weber vorgeschlagene Unterscheidungskriterium für das richtige, wenngleich Weber dann demselben Fehler wie Austin anheimfällt, indem er eine soziologische Definition des subjektiven Rechtes gibt, eine Definition mit anderen Worten, die auf die Chance (Vorhersehbarkeit) eines bestimmten Geschehens abstellt l8 • Aber die Übereinstimmung endet hier. Kelsen bleibt nicht bei Weber stehen. Er geht über ihn hinaus. Er beschränkt sich nicht darauf, die Gegebenheit von zwei Gesichtspunkten gegenüber den Soziologen zu behaupten, die sie bestreiten, er kehrt vielmehr gegenüber den Soziologen, im Unterschied zu Weber, das Verhältnis zwischen den bei den Gesichtpunkten vollständig um und verteidigt den Vorrang oder die Priorität des juristischen gegenüber dem soziologischen Standpunkt. Und diese These verteidigt er gerade in unmittelbarer Polemik mit Weber (wenngleich sie sich natürlich nicht nur gegen Weber, sondern gegen alle Rechtssoziologen richtet, die glauben, die Rechtslehre, so wie sie von der normativen Theorie neubegründet worden ist, entbehren zu können). Das Hauptargument Kelsens ist folgendes: Kein Rechtssoziologe ist in der Lage, die juristischen Verhaltensweisen einer gegebenen Gesellschaft zu untersuchen, wenn er nicht über ein Kriterium verfügt, das es ihm ermöglicht, ein juristisches von einem nicht juristischen Verhalten zu unterscheiden. Nur die Rechtslehre liefert ihm dieses Kriterium. "Nur indem sie das menschliche Verhalten auf das Recht als ein System geltender Normen bezieht, das heißt auf das Recht, wie es von der normativen Rechtswissenschaft definiert ist, kann die soziologische Rechtslehre ihren spezifischen Gegenstand gegenüber jenem der allgemeinen Soziologie abgrenzen"19. Als Beispiel legt Kelsen folgende drei Fälle dar: a) die Forderung, bei Strafandrohung eine Steuer zu zahlen; b) die Forderung 16 Kelsen bezieht sich auf den Absatz, worin Weber das subjektive Recht wie folgt kennzeichnet: "Daß jemand kraft staatlicher Rechtsordnung ein (subjektives) ,Recht' hat, bedeutet ... für die soziologische Betrachtung: er hat ... die faktisch garantierte Chance, für bestimmte (ideelle oder materielle) Interessen die Hilfe eines dafür bereitstehenden ,Zwangsapparates' zu erlangen" (WuG, N9, S. 184). 19 H. Kelsen (NI7), S. 179.

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derselben Summe, erhoben von einem Banditen, mit ungefähr derselben Drohung; cl die Forderung derselben Summe seitens eines Freundes für seinen Unterhalt. Unter welchem Aspekt, fragt sich Kelsen, unterscheidet sich die Steuerordnung von der Ordnung des Banditen und beide von der Bitte des Freundes? Es ist offenkundig, daß das sinnhafte soziale Handeln, um die Terminologie Webers zu gebrauchen, wenn das Individuum, den drei Forderungen gegenübergestellt, diese erfüllt, unter soziologischem Gesichtspunkt dasselbe ist. Aber dennoch ist nur eine der drei Handlungen ein Rechtsverhalten und als solches Gegenstand der Rechtssoziologie. Die Rechtssoziologie kann den Unterschied zwischen den drei Fällen nicht beschreiben, ohne auf das Recht als eine Gesamtheit geltender Normen, als ein normatives System, wie es von der Rechtslehre beschrieben wird, Bezug zu nehmen. Nicht daß Weber nicht versucht hätte, das Rechtsverhalten zu definieren, um den Gegenstand der Rechtssoziologie zu bestimmen. Aber wenn er diesen Gegenstand als menschliches Ver hai ten definiert, das sich an einer Ordnung orientiert, die es für geltend hält, so ist diese Definition für Kelsen unbefriedigend, weil zu einschränkend. Das Beispiel, das Kelsen in diesem Zusammenhang anführt, ist dasjenige des begangenen Vergehens, ohne daß der Schuldige sich der Gegebenheit einer juristischen Norm, die ihn bestraft, bewußt ist. In diesem Fall hat man es mit einem Verhalten zu tun, das nicht an einer Ordnung orientiert ist, welches zum Gegenstand ihrer Untersuchungen zu machen, die Rechtssoziologie jedoch nicht verzichten kann. Die Schlußfolgerung ist noch einmal die notwendige Abhängigkeit der Rechtssoziologie von der normativen Theorie. Mit Kelsens eigenen Worten: "Die soziologische Rechtslehre setzt den juristischen Rechtsbegriff voraus, das heißt den Rechtsbegriff, wie er von der normativen Rechtswissenschaft definiert ist" 20. Der Vergleich zwischen Weber und Kelsen, so wie er bis jetzt angestellt worden ist, betrifft das Problem der Methode. Hier kann die Behauptung Max Rheinsteins am Schluß der Einleitung zur amerikanischen Ausgabe von Webers Rechtssoziologie wiederholt werden, da die Vermischung der beiden Methoden, der juristischen und der soziologischen, nichts als Verwirrung stiften könne, hätten die Werke Webers und Kelsens auf den jeweiligen Gebieten als Gegenstücke zu gelten 21 • Weiter lohnt sich ein Vergleich im Hinblick auf eine wichtige Inhaltsfrage. Es ist das für jede Rechtslehre wirklich zentrale Problem des Verhältnisses von Recht und Staat. Kelsens Art, sich mit Webers Begriffen von Recht und Staat und ihrem Verhältnis auseinanderzusetzen, deckt sich mit jener, die er in der Methodenfrage anwendet. Wenn er das Problem des Verhältnisses zwischen Recht und Staat bei Weber behandelt, verläuft seine Hauptargumentation ungefähr so: 20 21

Ebd. S. 182. M. Weber: Law in Economy and Society (NI6), S. LXXI.

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Weber hat gegenüber der Tradition einen Schritt nach vorne gemacht, aber er ist zu früh stehengeblieben. Innerhalb der Tradition sind Recht und Staat immer als zwei unterschiedliche, wenngleich miteinander verbundene Begriffe angesehen worden: unterschiedlich in dem Sinne, daß der Staat immer als eine Herrschaftsform gegolten hat (die Souveränität ist "summa potestas"), das Recht hingegen als eine Normenform oder als eine Verhaltensregel (woher denn auch die klassischen Probleme der verschiedenen Herrschaftstypen in der Staatslehre, der verschiedenen Normengattungen in der Rechtslehre sich herleiten); miteinander verbunden in dem Sinne, daß die Staatsgewalt Recht schafft, wenngleich nicht alle Rechtsnormen staatlichen Ursprungs sind, und daß das Recht auch die Staatsgewalt regelt, obschon nicht die gesamte Staatsgewalt, jedenfalls traditionsgemäß, vom Recht geregelt werden kann. Mit dem Vormarsch des Rechtspositivismus, der immer starrere Grenzen zwischen Recht und Moral sowie Recht und Politik gezogen und einen Prozeß immer größerer Technisierung des öffentlichen Rechts in Gang gesetzt hat, verstärkte sich allmählich die Tendenz, den Staat unter dem Gesichtspunkt des Rechts zu behandeln oder: den Staat zu "verrechtlichen". Diese Tendenz ist für Kelsen in Weber offenkundig. Im "Soziologischen und juristischen Staatsbegriff" unterscheidet Kelsen die Lehren, die den Staat als Voraussetzung des Rechts betrachten, von denjenigen, die das Recht als Voraussetzung des Staats betrachten. Weber wird (zusammen mit Stammler und anderen) in die zweite Kategorie eingeordnet. Kelsen erkennt Weber sogar das Verdienst zu, den Staat als Rechtsordnung behandelt und sich somit radikal den soziologischen Staatslehren entgegengestellt zu haben, die ihn als "soziale Wirklichkeit" betrachten. Sicherlich sind die Begriffe Recht und Staat bei Weber aufeinander bezogen, obschon sie nicht zusammenfallen. Gemeinsam ist beiden Begriffen der Zwang, ein Begriff, der auch in der Lehre Kelsens einen zentralen Platz einnimmt. Der Begriff des Zwanges hat einen wichtigen, wesentlichen Anteil sowohl an der Definition von Recht, insofern er dazu dient, das Recht von der Konvention zu unterscheiden, als auch an der Definition von Staat, insofern er dazu dient, den Staat als politischen Verband zum Beispiel von der Kirche als eines hierokratischen Verbandes abzuheben. Es gilt jedoch sofort hinzuzufügen, daß das Recht und der Staat nicht lediglich durch den Zwang gekennzeichnet werden. Für die Definition des Rechts ist auch der Begriff des Stabes in dem Sinne wesentlich, als man laut Weber dann Recht hat, "wenn seine Geltung äußerlich garantiert ist durch die Chance des (physischen oder psychischen) Zwanges durch ein auf Erzwingung der Innehaltung oder Ahndung der Verletzung gerichtetes Handeln eines eigens darauf eingestellten Stabes von Menschen"22. Für die Definition des Staates ist der Begriff des Gewaltmonopols (und deshalb der Chance des Zwanges) wesentlich, da 22

WuG (N9), S. 17.

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der Staat für Weber nur durch sein spezifisches Mittel, eben das Monopol des physischen Zwanges, nicht durch den Zweck definiert werden kann, da die Zwecke der geschichtlichen Staaten unterschiedlich gewesen sind und sein können. Da für das Recht der Stab wesentlich ist, scheint ein Staat, der nicht auch eine Rechtsordnung ist, undenkbar, während hingegen in Webers Begriffssystem, in dem der Staat lediglich durch die Organisation des Zwangsmonopols definiert worden ist, eine Rechtsordnung denkbar ist, die keinen Staat vorstellt. "Bei weitem nicht jedes garantierte (objektive) Recht ist durch ,Gewalt' (Inaussichtstehen von physischem Zwang) garantiert. Die Frage, ob dann ein garantiertes ,Recht' vorliegt, entscheidet sich für die Soziologie darnach, ob der Zwangsapparat für diese nicht gewaltsame Ausübung von Rechtszwang geordnet ist und ob er faktisch ein solches Gewicht besitzt, daß durchschnittlich eine Chance: die geltende Norm werde infolge jenes Rechtszwanges Nachachtung finden, in praktisch relevantem Maße besteht". Die Ineinssetzung des Staates mit dem Recht auf einem bestimmten Territorium ist eine dem modernen Staat eigentümliche Erscheinung, d. h. eine geschichtliche Tatsache. Dies ist so, weil "heute der gewaltsame Rechtszwang Monopol der Staatsanstalt ist", aber es bleibt unbestritten, daß man von "staatlichem Recht", das bedeutet "staatlich garantiertem Recht" insoweit sprechen kann, "als die Garantie dafür: der Rechtszwang, durch die spezifischen, im Normalfall also: direkt physischen Zwangsmittel der politischen Gemeinschaft ausgeübt wird"23. Jeder, der mit dem Denken Kelsens hinlänglich vertraut ist, kann ohne Schwierigkeit die enge Verbindung sehen, die zwischen Webers und Kelsens Lehre von Staat und Recht bezüglich des allgemeinen Ansatzes, der zentralen Stellung des Zwangbegriffes, der rein instrumentalen Definition des Rechts und des Staats, der Auffassung vom Gewaltmonopol des Staates sowie Zurückweisung jeglicher Kenntnisnahme der Zwecke besteht, obgleich für Kelsen das Recht, und nicht der Staat, ateleologisch (als "speZifische soziale Technik") definiert werden soll. Es wäre zu einfach, diese Ähnlichkeit mit dem Rechtspositivismus zu erklären, durch den der Prozeß der Verrechtlichung des Staates und der Verstaatlichung des Rechts vor sich ging und durch den das Recht immer mehr mit der Gesamtheit von Normen zusammenfällt, die unmittelbar oder mittelbar auf einen Zwangsapparat verweisen (dessen vollendetste Form eben gerade der Staat ist). Denn während Kelsen ein erklärter Positivist ist und eine regelrechte Theorie des Rechtspositivismus ausarbeitet, kann Weber als Positivist nur insofern gelten, als er im Entstehungsprozeß des modernen Staates einen Prozeß fortschreitender Positivierung des Rechts und somit fortschreitender Ausscheidung jeglicher Rechtsform sieht, die nicht vom Staat gesetzt ist, d. h. der drei in anderen Epochen geltenden 23

Ebd. S. 183.

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Rechtsformen, darunter das Naturrecht, dessen Geltung vor allem in revolutionären Epochen vorherrschte (wenn die anderen Rechtsformen - neben dem gesatzten Recht das geoffenbarte und das traditionelle Recht - in eine Krise geraten). Die Unterscheidung zwischen positivem Recht und Naturrecht beruht in der reinen Rechtslehre auf wesentlichen Unterschieden, vor allem der Unterscheidung zwischen der dem positiven Recht eigenen forma1en Geltung und der dem Naturrecht eigenen materialen Geltung sowie der Unterscheidung zwischen dynamischem System einer Rechtsordnung und statischem System der ethischen Ordnungen. Daher kann das Naturrecht nicht in demselben Maße als ,Recht' bezeichnet werden wie das positive Recht. Zieht man aus den Überlegungen Kelsens die letzten Schlußfolgerungen, so ist das Naturrecht kein Recht, weshalb die reine Rechtslehre sich mit voller Berechtigung als Lehre des positiven Rechts darstellt. Für Weber hingegen ist die Positivierung des Rechts eine geschichtliche Erscheinung, ein dem modernen Staat, d. h. dem legal-rationalen Staat eigentümlicher Vorgang, in dem das von der souveränen Gewalt gesetzte Recht alle anderen traditionalen Rechtsformen verdrängt, darunter auch das Naturrecht, welches überdies die den revolutionär entstandenen Ordnungen spezifische Legitimitätsform bleibt. Mit anderen Worten, mit dem Aufkommen des modernen Staates beginnt das Zeitalter des Vorranges, wenn nicht sogar der Ausschließlichkeit des gesatzten Rechts, eines vom Gesetzgeber erlassenen Rechts, gegenüber den archaischeren Rechtsformen, nämlich dem geoffenbarten und dem traditionalen Recht, und auch gegenüber dem Naturrecht, das definiert wird als lIder reinste Typus der wertrationalen Geltung"24, weIches überdies "immer wieder die Form gewesen ist, in weIcher Klassen, die sich gegen die bestehende Ordnung auflehnten, ihrem Verlangen nach Rechtschöpfung Legitimität verliehen, sofern sie sich nicht auf positive religiöse Normen und Offenbarungen stützten" 25. In weIchem Sinne kann man sagen, wie ich es getan habe, daß für Kelsen Weber zu früh stehengeblieben ist? In der kürzesten Form kann man dies so ausdrücken: Weber hat erkannt, daß der Staat eine Rechtsordnung ist. Aber er ist nicht zur Erkenntnis gelangt, daß der Staat außerhalb der Rechtsordnung nichts ist, d. h. daß der Staat, ist er einmal als Rechtsordnung definiert, als ein vom Recht verschiedenes Wesen, als Einrichtung, deren Wirklichkeit von derjenigen der Rechtsordnung sich abhebt, verschwindet. In dem vielfach erwähnten Werk, in dem Kelsen auf ein gewagtes Gleichnis zu den theologischen Disputen zurückgreift und den Disput zwischen den Theisten, die Gott und Welt als Gegensätze denken, und den Pantheisten, die Gott der Welt immanent annehmen, mit dem Disput zwischen den dualistischen Juristen vergleicht, die das Recht vom Staat unterscheiden und dem Staat 24

25

Ebd. S. 19. Ebd. S. 497.

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eine vom Recht verschiedene Wirklichkeit zuerkennen, und den monistischen Juristen, die keinerlei Transzendenz des Staates gegenüber dem Recht gelten lassen, wird Weber das Verdienst zuerkannt, wenn auch unbeabsichtigt, eine Staatslehre als Rechtsordnung begründet zu haben. Hieraus erklären sich die ersten Zeilen der "Auseinandersetzung", wonach Webers Untersuchungen bestätigen, "daß alle Bemühungen, das Wesen des Staates auf außerjuristischem, speziell soziologischem Wege zu bestimmen, immer wieder auf eine mehr oder weniger versteckte Identifikation des gesuchten Begriffes mit dem Begriff der Rechtsordnung hinauslaufen"26. Und die Schlußfolgerung am Ende der Punkt für Punkt vorgehenden Untersuchung ist, daß "die Staatssoziologie als Rechtslehre enthüllt" ist 27 • Diese Wertschätzung reicht indes nicht aus, um Webers Staatslehre mit der Staatslehre der reinen Rechtslehre ineinszusetzen. Nur die reine Rechtslehre wird sich der Tatsache voll bewußt, daß dem überlieferten Staatsbegriff, sobald einmal der Staat als Rechtsordnung definiert ist, nichts verbleibt, das der Rechtsbegriff nicht schon in sich beschlösse, genauso wie, nachdem einmal Gott in der Natur aufgegangen ist, wie es sich die Pantheisten vorstellen, der Begriff Gott nicht mehr an sich hat, als nicht schon im Begriff Natur gesetzt wäre. Mit anderen Worten: daß der Staat eine Rechtsordnung ist, bedeutet, daß alle dem Staat zuzuweisenden Akte Rechtsakte sind, insofern sie die Schöpfung oder Vollstreckung von Rechtsnormen betreffen, wobei Recht als Zwangsordnung und die Rechtsnormen als die dieser Art von Ordnung zugehörigen Normen verstanden werden. Im Begriffssystem Webers nehmen Recht und Staat zwei verschiedene Plätze ein. Im Begriffssystem Kelsens gibt es keinen Raum für einen Staatsbegriff, der sich vom Rechtsbegriff unterscheiden würde. Der Staat ist gemäß der Lehre Kelsens ein Typ von Rechtsordnung, im besonderen jener Typ von Rechtsordnung, der durch "einen gewissen Grad von Zentralisierung" gekennzeichnet ist 28 . Daraus folgt, daß, während für Weber die auf der Lehre von der Herrschaft und den verschiedenen Herrschaftsformen aufbauende Staatslehre von der Rechtslehre unterschieden ist, bei Kelsen die Staatslehre ein Teil der Rechtslehre ist. Diese Ineinssetzung von Recht und Staat wird von der Definition von Recht selbst begünstigt, zu der Kelsen Schritt für Schritt gelangt (sie wird dann eindeutig und endgültig in der ,Allgemeinen Staatslehre' von 1925 dargestellt), wonach die Gewalt kein Mittel zur Durchsetzung des Rechts, jedoch der Inhalt der Rechtsnormen ist. Somit wird das Recht als die Gesamtheit jener Normen begriffen, die die Gewaltanwendung (die im modernen Staat von der politischen Gewalt monopolisiert wird) regeln. Wo die Gewalt in Gestalt der Zwangsgewalt als Mittel zur Rechts26

27 28

H. Kelsen: Der soziologische und der juristische Staatsbegriff, S. 156. Ebd. S. 169. H. Kelsen: Lineamenti di dottrina pura dei diritto, Torino 1967, S. 134.

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durchsetzung oder, um es deutlicher zu sagen, zur Durchsetzung von Verhaltensnormen betrachtet wird, die, insofern sie durch Zwang verstärkt sind, üblicherweise Rechtsnormen genannt werden, kann der Staat als Träger der ausschließlichen Gewalt auf einem bestimmten Territorium als eine von der Gesamtheit der Rechtsnormen verschiedene und unterschiedene Einrichtung verstanden werden. Hingegen dort, wo - wie in der Lehre Kelsens, die dann auch von Ross verfochten und, unabhängig von Kelsen, von Olivecrona aufgegriffen werden wird - die Gewaltanwendung der Inhalt der Rechtsnormen ist, verschwindet der Staat als eine für sich seiende Einrichtung, und es bleibt nichts als die Rechtsordnung als Zwangsordnung. Jenseits der Textvergleiche zwischen Weber und Kelsen, bei denen ich bis jetzt verweilt habe, kann das Problem des Verhältnisses Weber/Kelsen auch unter einem allgemeineren Gesichtspunkt angegangen werden, dem ich einige Seiten eines früheren Aufsatzes gewidmet habe 29 • Für Weber ist die Entstehung des modernen Staates durch einen Prozeß formaler Rationalisierung gekennzeichnet, der jene Form legitimer Herrschaft etabliert, die Weber legal-rationale nennt. Die Eigenschaft der legal-rationalen Herrschaft besteht darin, daß es sich um eine auf allen Ebenen, von der tiefsten bis zur höchsten, durch Gesetze, d. h. von einer ad-hoc-Gewalt gesetzte allgemeine und abstrakte Normen geregelte Herrschaft handelt. Es scheint mir, daß der Stufenbau der Rechtsordnung, in dem die reine Rechtslehre gipfelt, eine treue oder angemessene Wiedergabe des legal-rationalen Staates ist. Mit anderen Worten: die Strukturtheorie Kelsens (Struktur in dem Sinne, als diese Theorie das Recht und somit den Staat von der Struktur der Ordnung her definiert) weist eine enge Verbindung zum Gefüge des modernen Staates auf, der mit Weber als legal-rationaler Staat aufgefaßt wird. Das bedeutet nicht, daß Kelsen - trotz seines Anspruchs, eine allgemeine Rechtslehre zu entwickeln, die für die Rechtssysteme aller Zeiten gültig sei - eine Lehre begründet hat, die nur für einen geschichtlichen Typ von Staat berechtigt ist. Es bedeutet, daß eine vollendete Lehre des Rechtssystems als eines komplexen Normensystems, und mit komplexem Normensystem bezeichne ich ein System, in dem auch die Recht erzeugenden Akte vom Recht geregelt sind, nur aus einem dauernden Nachdenken über die Entstehung des modernen Staates heraus geboren werden konnte, in dem die Rationalisierung oder Legalisierung der Rechtsschöpfungsprozesse die pyramidale Struktur der Ordnung klarer herausarbeitet, d. h. die Erkenntnis ermöglicht, daß die normative Ordnung, der wir den Namen Rechtsordnung geben, ein Universum vorstellt, das durch eine ihm eigentümliche Struktur geprägt ist. Unbestreitbar hebt Kelsen, wenn er die fortschreitende Verrechtlichung des modernen Staates beschreibt und sogar dahin gelangt, den 29 Bobbio: Struttura e funzione della teoria dei diritto di Kelsen, in: Dalla struttura alla funzione. Nuovi studi di teoria dei diritto, Milano, S. 208-210.

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Norberto Bobbio

Staat auf das Recht zu reduzieren, denselben Prozeß hervor, den Weber an der Entstehung jener legalen Herrschaft abliest, die die Entwicklung des Staates im geschichtlichen Zeitraum begleitet. Zwischen Kelsen und Weber könnte man in diesem Zusammenhang folgendes Verhältnis aufstellen: Der Staat ist die entsprechende Rechtsordnung (Kelsen), insofern die Herrschaft sich vollkommen legalisiert hat (Weber). Was den Staat von anderen Rechtsordnungen der vorstaatlichen Gesellschaften oder von der zwischenstaatlichen Ordnung unterscheidet, ist ein gewisser Organisationsgrad, d. h. das Vorhandensein von Organen, "die nach den Regeln der Arbeitsteilung für die Schöpfung und Anwendung der Normen arbeiten, von denen er konstituiert wird."30 Wenn Kelsen betont, daß die Existenz dieser Organisation zum Zwecke der Schöpfung und Anwendung des Rechts die Folge mit sich bringt, daß das als Staatsgewalt definierte Verhältnis sich von den anderen Herrschaftsverhältnissen dadurch unterscheidet, daß es seinerseits durch Rechtsnormen geregelt ist, scheint er gar nicht so weit entfernt zu sein von der Beschreibung jener legitimen Herrschaft, die sich als legale Herrschaft ausweist und deren Haupteigenschaft die Verfügbarkeit von spezialisierten Stäben wie dem Rechts- und Verwaltungsstab ist (Kelsen würde jedoch den Gesetzgebungsstab hinzufügen), die in den Grenzen allgemeiner und abstrakter, für die Ordnung konstitutiver Regeln handeln. Wohlgemerkt befindet sich Kelsens Darstellung auf einem höheren Abstraktionsgrad als diejenige Webers. Wie ich bereits kurz vorher bemerkt habe, setzt es sich Kelsen zum Ziel, eine allgemeine Staatslehre zu entwickeln, während Weber einen Idealtyp von Staat beschreibt, der historisch herauspräpariert worden ist. Für Kelsen soll ja die reine Rechtslehre, da sie formale Lehre ist, für jede denkbare Staatsform gelten, wie er mehrmals zu wiederholen sich genötigt sieht, um sich gegen die Vorwürfe aus gegensätzlichen Lagern zu verteidigen, also sowohl für den kapitalistischen als auch für den sozialistischen Staat. Demgegenüber war Weber der Meinung, als er den legal-regionalen Staat beschrieb, dessen spezifisches Merkmal das Phänomen der Bürokratisierung ist, daß das Modell nur für die kapitalistischen Staaten gilt, aus deren Untersuchung es hervorgegangen war. Die sozialistischen Staaten der Zukunft, deren erster, großartiger und gleichzeitig tragischer Versuch während seiner letzten Lebensjahre vor seinen Augen ablief, sollten neue Formen materialer Rationalität hervorbringen.

30

H. Kelsen: La dottrina pura dei diritto, Torino 1966, S. 318.

MAX WEBER UND DIE RECHTSWISSENSCHAFT

Von Manfred Rehbinder Von seinen Zeitgenossen als "kenntnisreichster und scharfsinnigster Gelehrter seiner Zeit" I gefeiert, hat der Soziologe Max Weber - von Hause aus Jurist 2 - gleichwohl Recht und Rechtswissenschaft seiner Zeit gründlich verkannt. Will man untersuchen, wie es zu dieser Fehleinschätzung kam, so bleibt nichts anderes übrig, als erst einmal festzuhalten, was man als wesentlichen Inhalt seiner Rechtssoziologie betrachtet. Denn Max Webers großes Nachlaßwerk "Wirtschaft und Gesellschaft", in dem seine Rechtssoziologie enthalten ist 3, erfüllt in idealtypischer Weise die beiden Voraussetzungen, die in Deutschland von Hegel bis Luhmann als für wissenschaftliche Größe unabdingbar angesehen werden: Der Stil ist miserabel, und die Aussage ist dunkel. Das können auch Weber-Verehrer nicht in Abrede stellen. So spricht Hermann Kantorowicz von einem "sehr schwer zu verstehenden, aber sehr leicht mißzuverstehen den Meisterwerk"4, und Marianne Weber, seine Ehefrau und Propagandistin, spricht entschuldigend davon, "die Aneignung des I So Hermann Kantorowicz: Der Begriff des Rechts, hg. Campbell, Göttingen o. J. (1962), S. 97; vgl. auch ders.: Rechtswissenschaft und Soziologie, hg. Th. Würtenberger, Karlsruhe 1962, S. 169-172. 2 Er promovierte beim berühmten Berliner HandelsrechtIer Levin Goldschmidt mit der Arbeit "Zur Geschichte der Handelsgesellschaften im Mittelalter", Stuttgart 1889, und habilitierte sich 1892 in Berlin für römisches, deutsches und Handelsrecht mit der Arbeit "Die römische Agrargeschichte in ihrer Bedeutung für das Staats- und Privatrecht", Stuttgart 1891. 1893 erfolgte die Ernennung zum ao. Pro!., siehe näher M. Rehbinder: Max Weber zum 100. Geburtstag, JZ 1964, S. 332-334. 3 Siehe die Sonderausgabe der betreffenden Teile: Rechtssoziologie, aus dem Manuskript herausgegeben und eingeleitet von Johannes Winckelmann, Neuwied 2. Auf!. 1967, nach der im folgenden zitiert wird. 4 Kantorowicz: Rechtswissenschaft und Soziologie (N 1), S. 75. Hinter dem schlechten Stil steht hier wie meistens ein gutes Stück Arroganz gegenüber dem Leser, wie aus folgender Kommentierung seiner Ehefrau Marianne Weber deutlich wird: "Weiche Schranke des diskursiven Denkens, daß es nicht gestattet, mehrere zusammengehörige Gedankenreihen gleichzeitig auszusprechen! So muß denn vieles hastig in lange Schachtelsätze gepackt und was dort nicht Platz findet, in Fußnoten untergebracht werden. Mag sich doch der Leser ,gefälligst' ebenso damit plagen wie er selbst!" (Marianne Weber: Max Weber. Ein Lebensbild, Tübingen t 926, S.322).

128

Manfred Rehbinder

Schriftwerks (ist) schwer, denn oft sind die Sätze überfüllt mit Vorstellungsreihen, die im Leser nicht ohne weiteres anklingen, weil er das historische Wissen nicht teilt"5. In der Tat läßt Max Weber die Freude am geschichtlichen Detail auf ein und derselben Seite vom buddhistischen Recht Burmas über die taoistischen Zauberpriester Wu und Wei in China bis zum Recht des Koran wandern 6 oder das Recht der Togo-Neger mit dem der vorchristlichen Russen vergleichen? Auf diese Weise entsteht zwar eine "großartige rechtsgeschichtliche Schau"8. Diese läßt jedoch übersehen, "daß Weber die Angewohnheit besitzt, eine generelle Annahme im nächsten Satz bereits abzuschwächen"9. Als Beleg aus neuerer Zeit für unnötige wissenschaftliche Kontroversen, die durch Weber selbst verschuldet sind, sei hier nur auf das sog. Englandproblem hingewiesen. Die einen betonen, Weber sei beim Versuch der Illustrierung seiner These, daß nur formallogische Rationalität des Rechts die für den Kapitalismus notwendige Rechtssicherheit gewährleisten könne, am Beispiel England gescheitert lo . Die anderen erklären entrüstet, Weber habe eine solche These gar nicht aufgestellt, sondern im Gegenteil behauptet, daß die "Rückständigkeit" des englischen Rechts die dortige Entstehung des Kapitalismus begünstigt habelI. Es ist daher leider notwendig, die später zu analysierenden Aussagen Webers über Recht und Rechtswissenschaft kurz zusammenzufassen.

I. Max Webers Aussagen über Recht und Rechtswissenschaft

1. Die These von der zunehmenden Rationalität des Rechts Hatte Eugen Ehrlich im Vorwort zu seiner Grundlegung der Soziologie des Rechts die Aussage seines Buches in den einen Satz zusammengefaßt, daß der Schwerpunkt der Rechtsentwicklung weder in der Gesetzgebung, noch in der Jurisprudenz oder in der Rechtsprechung liege, sondern in der Gesellschaft selbst, so lautet diese Zusammenfassung bei Weber: Marianne Weber: Max Weber, in: Gründer der Soziologie, Jena 1932, S. 145. Rechtssoziologie (N 3), S. 272. 7 Ebd. S. 235. 8 So C. A. Ernge, Rezension in Zeitschrift für Politik 9 (1962), S. 58. 9 Nico Roos: Antiformale Tendenzen im modernen Recht, in Stefan Breuer/Hubert Treiber: Zur Rechtssoziologie Max Webers, Opladen 1984, S. 223 (251). 10 So David M. Trubek: Max Weber über das Recht und die Entstehung des Kapitalismus, in BreuerlTreiber (N 9), S. 152 (187 ff.), ferner die Nachweise bei H. Treiber: "Wahlverwandtschaften" zwischen Webers Religions- und Rechtssoziologie, in BreuerlTreiber S. 6 (49 ff.). 11 So Nico Roos (N 9), S. 258 H. 5

6

Max Weber und die Rechtswissenschaft

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"Die allgemeine Entwicklung des Rechts und des Rechtsgangs führt, in theoretische ,Entwicklungsstufen' gegliedert, von der charismatischen Rechtsoffenbarung durch ,Rechtspropheten' zur empirischen Rechtsschöpfung und Rechtsfindung durch Rechtshonoratioren (Kautelar- und Präjudizienrechtsschöpfung). weiter zur Rechtsoktroyierung durch weltliches imperium und theokratische Gewalten und endlich zur systematischen Rechtssatzung und zur fachmäßigen, auf Grund literarischer und formal logischer Schulung sich vollziehenden ,Rechtspflege' durch Rechtsgebildete (Fachjuristen). Die formalen Qualitäten des Rechts entwickeln sich dabei aus einer Kombination von magisch bedingtem Formalismus und offenbarungsmäßig bedingter Irrationalität im primitiven Rechtsgang, eventuell über den Umweg theokratisch oder patrimonial bedingter materialer und unformaler Zweckrationalität, zu zunehmend fachmäßig juristischer, also logischer Rationalität und Systematik und damit - zunächst rein äußerlich betrachtet - zu einer zunehmend logischen Sublimierung und deduktiven Strenge des Rechts und einer zunehmend rationalen Technik des Rechtsgangs"12. a) Die Idealtypen der Rationalität des Rechts Weber mißt also das Recht unter "Feststellung der allgemeinsten Entwicklungszüge"13 nach Art und Ausmaß seiner Rationalität. Zu diesem Zweck entwirft er bereits zum Anfang seiner eigentlichen Rechtssoziologie 14 ein am Maßstab der Rationalität ausgerichtetes Schema möglicher Rechtsstrukturen. Nach diesem Schema können die rechtstechnischen Mittel der Rechtschöpfung und Rechtsfindung (1)

irrational sein, nämlich ohne Anwendung abstrakter Regeln, und zwar einmal a) in formeller Hinsicht, wenn andere als verstandesmäßig zu kontrollierende Mittel angewandt werden (z. B. Orakel und deren Surrogate), und zum anderen b) in materieller Hinsicht, wenn konkrete ethische, gefühlsmäßige oder politische Wertungen des Einzelfalles maßgebend sind;

(2)

oder sie sind rational, da abstrakte Regeln angewandt werden, und zwar wiederum

12 13 14

Rechtssoziologie (N 3), S. 331. Ebd. S. 332. Ebd. S. 124 L; vgl. auch Winckelmann in seiner Einleitung ebd. S. 40 L

9 Max \Veber

130

Manfred Rehbinder

a)

b)

in formeller Hinsicht, wenn ausschließlich eindeutige generelle Tatbestandsmerkmale beachtet werden; diese können gewonnen werden durch sinnliche Anschaulichkeit (Unterschrift, Wahl bestimmter Worte, symbolische Handlungen) oder durch logische Generalisierung abstrakter Sinndeutungen (durch Begriffssystematisierung gewonnene Allgemeinbegriffe) oder in materieller Hinsicht, wenn inhaltlich allgemeine Gebote (ethische oder utilitaristische Postulate oder Maximen) die Formalentscheidung durchbrechen.

Um nun zu zeigen, daß das Recht entgegen den Vorstellungen des Vulgärmarxismus nicht als Überbau ausschließlich ökonomisch bedingt ist, auch nicht, wie Rudolf Stammler meinte, nur die Form für den wirtschaftlichen Inhalt, versucht Weber, die Rechtsentwicklung zur formellen Rationalitätin ihrer Abhängigkeit von der Rechtstechnik zu zeigen, wobei er betont, daß die Formen der Rechtstechnik wenn überhaupt, dann nur sehr indirekt von der wirtschaftlichen Entwicklung abhängen. Zu diesem Zweck konzentriert er sich wie Eugen Ehrlich auf das Privatrecht als das "ökonomisch relevante Recht"15 und behandelt in diesem Rahmen 5 Rechtsquellen, nämlich Sitte, Vereinbarung der Interessenten, Richterspruch, Offenbarung und oktroyierte Satzung, in historischer Reihenfolge. Dabei kommt er zu folgenden Feststellungen. b) Die Triebkräfte der Rechtsentwicklung aal Gemeinschaftshandeln Die Entstehung neuer Rechtsregeln erfolgt nur in seltenen Fällen im Wege eines unbemerkten Bedeutungswandels. In der Regel geschieht sie bewußt durch ein neuartiges Gemeinschaftshandeln. Dieses neue Handeln beruht auf der "Erfindung" einzelner und hat sich durch Nachahmung und Auslese verbreitet. Neben die (unbewußt entstehende) Sitte 16 treten daher als "primäre Quelle der Rechtsnormbildung"17 die zweckrationale Vereinbarung der Interessenten zur Abgrenzung ihrer Interessensphären, meist unter MitEbd. S. 123. Darunter versteht Weber nur die faktische Regelhaftigkeit des Verhaltens, also den Brauch, nicht die mit der Konzeption der Verbindlichkeit verknüpfte Regelmäßigkeit, siehe ebd. S. 80. Die herrschende Terminologie spricht hier nicht von Sitte, sondern von Brauch; so schon Kantorowicz: Der Begriff des Rechts (N 1), S. 106 Anm. 73. 17 Ebd. S. 217. 15

16

Max Weber und die Rechtswissenschaft

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hilfe des geschulten Anwalts, sowie als "zweite selbständige Instanz"18, welche die Ausbreitung individueller Vereinbarungen steuert, der für den Zwangsapparat stehende Richter. Der Interessentenvereinbarung, dem Vertrag, widmet Weber ein besonderes KapiteJ19. Darin schildert er die Wandlung vom Status-Kontrakt zum Zweck-Kontrakt, eine Wandlung, die nur sehr zögernd vor sich ging, da erst einmal die rationalen rechtstechnischen Verkehrsschemata erfunden werden mußten, die eine Kontraktgesellschaft im Sinne des Zweckkontraktes ermöglichen; denn "ökonomische Situationen gebären neue Rechtsformen nicht einfach automatisch aus sich, sondern enthalten nur eine Chance dafür, daß eine rechtstechnische Erfindung, wenn sie gemacht wird, auch Verbreitung finde"20. Doch schließlich wird der numerus clausus bestimmter Interessengegensatzverträge unter dem Druck nach Markterweiterung zum Grundsatz der Vertragsfreiheit erweitert, und das Sonderrecht monopolistisch abgegrenzter Personenverbände wird infolge der ökonomischen Interessen der Marktinteressenten, vor allem aber infolge des politischen Machtbedürfnisses von Herrschern und Beamten der erstarkenden politischen Staatsanstalt, zum Grundsatz der formalen Rechtsgleichheit beim Abschluß sonderrechtsbegründender Interessenvergemeinschaftungsverträge des Privatrechts eingeebnet. Daraus entsteht aber keinesfalls eine materielle Rechtsgleichheit; denn eine Kontraktgesellschaft eröffnet bei aller Freiheit des Zugangs in Wahrheit nur dem Besitzenden die Chance, seine Marktrnacht zu mehren. Dem Nichtbesitzenden werden die Vertragsbedingungen oktroyiert. Bei ihm kann von Freiheit meist nicht die Rede sein. Nur bei formeller Betrachtung ist also eine solche "Dezentralisation der Rechtsschöpfung" (Andreas Voigt) auf die einzelnen Rechtsgenossen gegenüber den sozialistischen Rechtsordnungen mit ihrer zentralen Lenkung freier. Materiell gesehen können nämlich die rein ökonomischen "Gesetze" des Marktkampfes für alle Beteiligten zu unausweichlichen Zwangslagen führen, und "je umfassender ... die kapitalistischen gewerblichen Betriebe auswachsen, desto rücksichtsloser kann unter Umständen autoritärer Zwang in ihnen geübt werden und desto kleiner wird der Kreis derjenigen, in deren Händen sich die Macht zusammenballt, Zwang dieser Art gegen andere zu üben und diese Macht sich durch Vermittlung der Rechtsordnung garantieren zu lassen"21.

18 19 20 21 9'

Ebd. Ebd. Ebd. Ebd.

S. S. S. S.

215. 127 H. (§ 2). 153. 207 f.

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bb) Oktroy Neben die primären Rechtsquellen, nämlich Interessentenvereinbarung und Richterspruch, treten zwei Rechtsquellen, durch die neue Regeln, die nicht in der Rechtsgemeinschaft selbst entstanden sind, dieser vielmehr oktroyiert werden. Das sind Offenbarung und Satzung.

(1) Offenbarung

Gegenüber der Stabilität des Rechtstraditionalismus, für den die Normen als überkommen nur richtig gefunden werden müssen, ist die Offenbarung, die bewußt neue Regeln schafft, ein revolutionierendes Element. "Der Übergang von der Interpretation der alten Tradition zur Offenbarung neuer Ordnungen ist dabei natürlich flüssig" 22. Für die Legitimierung alter und neuer Ordnungen kennt Weber in Übereinstimmung mit seinen vier Typen des sozialen Handeins, nämlich dem traditionalen, affektuellen, wertrationalen und zweckrationalen Handeln, vier verschiedene Legitimationsformen. Dies sind erstens die Tradition, das heißt der Glaube an die Geltung des immer Gewesenen; zweitens der affektuelle Glaube, in erster Linie der Glaube an das Charisma des Normenautors beim Offenbarungsrecht; drittens der wertrationale Glaube, in erster Linie der Glaube an die Vernunftmäßigkeit der Norm beim weltlichen Naturrecht, und viertens die Legalität, das heißt der Glaube an die Legitimität positiver Satzung. In Verfolgung der "Wege und Schicksale der Rationalisierung des Rechts" vertritt Weber dann die These, daß "ein Recht in verschiedener Art, und keineswegs notwendig in der Richtung der Entfaltung seiner ,juristischen' Qualitäten, rationalisiert werden kann. Die Richtung, in welcher diese formalen Qualitäten sich entwickeln, ist aber bedingt direkt durch sozusagen ,innerjuristische' Verhältnisse: die Eigenart der Personenkreise, welche auf die Art der Rechtsgestaltung berufsmäßig Einfluß zu nehmen in der Lage sind, und erst indirekt durch die allgemeinen ökonomischen und sozialen Bedingungen"23. Zum Beleg untersucht er unter der Überschrift "Die Typen des Rechtsdenkens und die Rechtshonoratioren" die Bedingungen und unterschiedlichen Auswirkungen der von ihm sogenannten empirischen und der rationalen Rechtslehre.

22

23

Ebd. S. 219. Ebd. S. 237.

Max Weber und die Rechtswissenschaft

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Empirische Rechtslehre ist für ihn die zunftmäßige Rechtslehre durch Praktiker. Sie führt zu einem formalistischen Fallrecht; denn "der rein empirische Betrieb der Rechtspraxis und Rechtslehre schließt immer nur vom einzelnen auf das einzelne und strebt nie vom einzelnen zu allgemeinen Sätzen, um dann aus diesen die Einzelentscheidung deduzieren zu können. Vielmehr ist er einerseits an das Wort gebannt, welches er nach allen Seiten wendet, deutet, dehnt, um es dem Bedürfnis anzupassen, andererseits, soweit dies nicht ausreicht, auf die ,Analogie' oder technische Fiktionen verwiesen"24. Anders ist es bei der rationalen Rechtslehre, bei der zwischen materialer und formaler Rationalisierung zu unterscheiden ist. Materialrationales Recht ist das Sakralrecht, das in den Priesterschulen gelehrt wird 25 , und formalrationales Recht ist das systematische Rechtsdenken der Universitätsschulung. Als indirekten Faktor der Rationalisierung des Rechts behandelt Weber im nächsten Kapitel die politische Herrschaftsstruktur, die zur Form der Rationalisierung in enger Beziehung stehe. Bei autoritärer Herrschaft haben die rationalen Rechte meist materialen Charakter, denn "nicht die formaljuristisch präziseste, für die Berechenbarkeit der Chancen und die rationale Systematik des Rechts und der Prozedur optimale, sondern die inhaltlich den praktisch-utilitaristischen und ethischen Anforderungen jener Autoritäten entsprechendste Ausprägung wird erstrebt; eine Sonderung von ,Ethik' und ,Recht' liegt ... gar nicht in der Absicht dieser, jeder selbstgenügsam und fachmännisch ,juristischen' Behandlung des Rechts durchaus fremd gegenüberstehenden Faktoren der Rechtsbildung"26. Das gilt nicht nur für die sakralen Rechte der Theokratien, sondern insbesondere auch für die oft mit naturrechtlichen Argumenten arbeitenden Rechte patriarchalischer oder demokratischer Herrschaftsformen. Offen bleibt allerdings, welche politische Herrschaftsform das formalrationale Recht bewirkt hat. Hier muß Weber neben dem Hinweis auf "alle ideologischen Träger solcher Bestrebungen, welche gerade die Brechung autoritärer Gebundenheit oder irrationaler Masseninstinkte zugunsten der Entfaltung der individuellen Chancen und Fähigkeiten herbeiführen möchten"27, auf wirtschaftliche Ursachen, nämlich auf die Interessen der "ökonomisch Mächtigen und daher an der freien Ausbeutung ihrer Macht Interessierten" zurückgreifen: "Und da die Honoratiorenjustiz mit ihrer unvermeidlich wesentlich empirischen Rechtspraxis, ihrem komplizierten Ebd. S. 241. Neben dem Sakralrecht ist material·rational auch das Recht des Sozialstaats und der soziologischen Jurisprudenz, die Weber später (am Ende seiner Rechtssoziologie) auf "interne Standesideologien" zurückführt, siehe im Text unter I 2. 26 Ebd. S. 262. 27 Ebd. S. 266. 24

25

Manfred Rehbinder

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Prozeßmittelsystem und ihrer Kostspieligkeit auch ihren Interessen starke Hemmnisse bereiten kann: - nicht durch, sondern zum Teil auch trotz der Struktur seines Rechts gewann England den kapitalistischen Primat -, so pflegen die bürgerlichen Schichten im allgemeinen am stärksten an rationaler Rechtspraxis und dadurch auch an einem systematisierten, eindeutigen, zweckrational geschaffenen formalen Recht interessiert zu sein, welches Traditionsgebundenheit und Willkür gleichermaßen ausschließt"28. Es zeigt sich also, daß die drei potentiellen Triebkräfte jeder Rechtsentwicklung, nämlich: Eigengesetzlichkeiten des Rechtsdenkens, politische Herrschaft und ökonomische Macht interdependent sind und in ihrer aktuellen Wirksamkeit außerordentlich schwanken.

(2) Satzung

Bei der Behandlung der Satzung als der zweiten sekundären, neue Regeln oktroyierenden Rechtsquelle zeigt Weber, daß sie einen Eingriff in die Rechtspflege aus politischen Gründen darstellt, der auf dem Imperium der politischen Gewalt beruht. Dabei schildert er die mit zunehmender Machtfülle des Imperiums eintretende Wandlung von der ständischen Rechtspflege, die es mit Privilegien zu tun hat und formal-irrationalen Charakter aufweist, zur patriarchalen Rechtspflege, die eine material rationale "Wohlfahrtspflege" ist. "Alle Schranken zwischen Recht und Sittlichkeit, Rechtszwang und väterlicher Vermahnung, legislatorischen Motiven und Zwecken und rechtstechnischen Mitteln sind niedergerissen"29. "Klassisches Denkmal" dieser Wohlfahrtspflege ist das preußische Allgemeine Landrecht. Es stellt mit seiner "minutiösen Kasuistik" den Versuch dar, "durch direkte Belehrung des Publikums von seiten des Gesetzgebers" eine "Emanzipation von der Fachjurisprudenz" zu bewirken 30 . Dieser Versuch mußte scheitern; denn die Fachjurisprudenz war die Voraussetzung für die zunehmende Formalisierung des rationalen Rechts, die seit der Rezeption einsetzte und letztere auch maßgeblich bewirkt haUe. Der Trend zur Formalisierung war das Ergebnis des Zusammenfallens von utilitaristischem Rationalismus der Beamtenverwaltung (Übersichtlichkeit des Rechts), von privatwirtschaftlichem Rationalismus der bürgerlichen Schichten (Sicherheit der Rechtsfindung) und fiskalischen und verwaltungstechnischen Interessen der Fürsten (Einheit und Geschlossenheit des Reiches)31. Daraus entstand auch der Wunsch nach Vereinheitlichung und Systematisierung des Rechts in einer Ebd. Ebd. 30 Ebd. 31 Ebd. 28

29

S. S. S. S.

267. 298. 311 f. 298 ff.

Max Weber und die Rechtswissenschaft

135

Kodifikation. Diese Kodifikation mußte allerdings die formalen Qualitäten des Rechts weiter ausbauen, und zwar nach der logischen Seite. Für diese "Logisierung des Rechts waren aber keineswegs, wie bei der Tendenz zum formalen Recht an sich, Bedürfnisse des Lebens, etwa der bürgerlichen Interessenten nach einem ,berechenbaren' Recht entscheidend beteiligt. Denn dieses Bedürfnis wird, wie alle Erfahrung zeigt, ganz ebensogut und oft besser durch ein formales empirisches, an Präjudizien gebundenes Recht gewahrt. Die Konsequenzen der rein logischen juristischen Konstruktion verhalten sich vielmehr zu den Erwartungen der Verkehrsinteressenten ungemein häufig gänzlich irrational und geradezu disparat: die vielberedete ,Lebensfremdheit' des rein logischen Rechts hat hier ihren Sitz. Sondern es waren interne Denkbedürfnisse der Rechtstheoretiker und der von ihnen geschulten Doktoren: einer typischen Aristokratie der literarischen ,Bildung' auf dem Gebiet des Rechts, von welcher jene Entwicklung getragen wurde"32. Die erste erfolgreiche Kodifizierung, die allen diesen Anforderungen gerecht wurde, war der Code Civil. Die Legitimität der von ihm neu geschaffenen Rechtssätze wurde wie bei den Kodifikationen vor und nach ihm aus dem Naturrecht (Vernunftrecht) hergeleitet, das als Maßstab allen positiven Rechts ausgegeben wurde. Diese naturrechtlichen Maßstäbe waren jedoch beherrscht von der Antinomie von formal-rationalen und materialrationalen Grundsätzen. Formal-rational war vor allem der Grundsatz der Vertragsfreiheit, material-rational vor allem die sozialistischen Theorien von der ausschließlichen Legitimität des Erwerbs durch eigene Arbeit. Dies führte zu unauflöslichen Widersprüchen, die Weber soziologisch so interpretiert: "Natürlich haben ebenso das formale rationalistische Naturrecht der Vertragsfreiheit wie das materiale Naturrecht der ausschließlichen Legitimität des Arbeitsertrages sehr starke Klassenbeziehungen. Die Vertragsfreiheit und alle Sätze über das legitime Eigentum, welche daraus abgeleitet wurden, waren selbstverständlich das Naturrecht der Marktinteressenten als der an endgültiger Appropriation der Produktionsmittel Interessierten. Daß umgekehrt das Dogma von der spezifischen Unappropriierbarkeit des Grund und Bodens, weil ihn niemand durch seine Arbeit produziert habe, also: der Protest gegen die Schließung der Bodengemeinschaft, der Klassenlage ländlicher proletarisierter Bauern entspricht, deren verengerter Nahrungsspielraum sie unter das Joch der Bodenmonopolisten zwingt, ist klar"33. Durch die Erkenntnis der "unausgleichbaren KampfsteIlung formaler und materialer Naturrechtsaxiome gegeneinander" und die "fortschreitende Zersetzung und Relativierung aller meta-juristischen Axiome überhaupt" hat das Naturrecht seine "Tragfähigkeit als Fundament eines Rechts verloren". 32 33

Ebd. S. 309 f. Ebd. S. 322.

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"Es ist heute allzu greifbar in der großen Mehrzahl und gerade in vielen prinzipiell besonders wichtigen seiner Bestimmungen als Produkt und technisches Mittel eines Interessenkompromisses enthüllt"34. Es ist daher nicht verwunderlich, daß der heutige Juristenstand, soweit er heute "überhaupt typisch ideologische Beziehungen zu den gesellschaftlichen Gewalten aufweist, ... viel stärker als je früher in die Waagschale der ,Ordnung' und das heißt praktisch: der jeweils gerade herrschenden ,legitimen' autoritären politischen Gewalten" fäJle s. AnsteJle traditioneller oder charismatischer Legitimation wird von ihm demzufolge auf die legale Herrschaft abgestellt, bei der ein (formal-logisches) rationales Recht seine eigene Legitimationsgrundlage schafft. 2. Der unaustragbare Gegensatz zwischen formalem und materialem Prinzip der Rechtspflege

Auf den letzten 18 von insgesamt etwa 280 Textseiten der Sonderausgabe von Johannes Winckelmann (2. Auf!.) wendet sich Weber dann diesem modernen Recht zu. Hier betont er zunächst, daß auch das moderne Recht noch eine FüJle von Sonderrechten aufweise. Den Grund dafür sieht er einmal in der steigenden Rücksichtnahme auf das Bedürfnis nach fachmäßig-sachkundiger Erledigung der Rechtsangelegenheiten der immer stärker differenzierten Berufszweige. Zum anderen sieht er ihn aber vor allem in dem "Wunsch, den Formalitäten der normalen Rechtsprozeduren zu entgehen im Interesse einer dem konkreten Fall angepaßteren und schleunigeren Rechtspflege. Praktisch bedeutet dies eine Abschwächung des Rechtsformalismus aus materialen Interessen heraus"36. Den hier zutage tretenden "unaustragbaren Gegensatz zwischen formalem und materialem Prinzip der Rechtspflege"37 kennzeichnet er als das charakteristische Moment des gesamten modernen Rechts. Dabei faßt er seine an der historischen Realität idealtypisch entwickelten "Rationalitätsstufen"38 der Rechtsentwicklung in die oben als Inhaltsangabe zitierten beiden Sätze zusammen, aus denen sich ergibt, daß am Ende der Entwicklung das durch Fachjuristen gehandhabte logisch-rationale und systematisch-formale Recht steht. Dieses (kontinentale) Recht ist für ihn - und damit wendet er sich gegen nicht wenige Schriftsteller seiner Zeit - nicht etwa eine Schöpfung des Kapitalismus. Das ergibt sich aus einem Vergleich mit dem ganz anders gearteten englischen Recht, unter dem der Kapitalismus gleichermaßen gediehen ist. 34 Ebd. S. 326 f. 35

Ebd. S. 328.

36 Ebd. S. 331. 37 Ebd. S. 345. 38 Ebd. S. 331.

Max Weber und die Rechtswissenschaft

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Im wesentlichen beruht das rational-formale Recht vielmehr auf logischen Eigengesetzlichkeiten des Rechtsdenkens der Fachjuristen. Sofern ökonomische Momente bei der Entwicklung des modernen Rechts beteiligt waren, so haben sie nach Weber meist zugunsten der Durchsetzung materialer Prinzipien gewirkt, so bei der Auflösung des formal gebundenen Beweisrechts etwa der Gottesurteile zugunsten der ..freien Beweiswürdigung" sowie bei der "gesinnungs-ethischen Rationalisierung"39 des Strafrechts durch Ablösung des Erfolgs- und Vergeltungsstrafrechts durch das Schuld- und Zweckstrafrecht und im Zivilrecht durch Verwendung von Generalklauseln wie "Treu und Glauben", die auf "geschäftssittliche Maßstäbe"40 verweisen. Abschließend sieht Weber den Typ des rational-formalen Rechts in der Gegenwart durch zwei Umstände bedroht, die das formale Element gänzlich zugunsten des materialen verdrängen wollen, nämlich einmal durch den Protest der Interessenten gegen das juristische Fachdenken als solches und zum anderen durch gewisse "interne Standesideologien"41. Bei dem Protest gegen das juristische Fachdenken handelt es sich um "mit dem Erwachen moderner Klassenprobleme (entstehende) materiale Anforderungen an das Recht von seiten eines Teils der Rechtsinteressenten (namentlich der Arbeiterschaft) einerseits, der Rechtsideologen andererseits, welche sich gerade gegen diese Alleingeltung solcher nur geschäftssittlicher Maßstäbe richten und ein soziales Recht auf der Grundlage pathetischer sittlicher Postulate (,Gerechtigkeit', ,Menschenwürde') verlangen. Dies stellt aber den Formalismus des Rechts grundsätzlich in Frage. Denn die Anwendung von Begriffen wie ,Ausbeutung der Notlage' (im Wuchergesetz)42 oder die Versuche, Verträge wegen Unverhältnismäßigkeit des Entgeltes als gegen die guten Sitten verstoßend und daher nichtig zu behandeln, stehen grundsätzlich auf dem Boden von, rechtlich betrachtet, antiformalen Normen, die nicht juristischen oder konventionellen oder traditionellen, sondern rein ethischen Charakter haben: materiale Gerechtigkeit statt formaler Legalität beanspruchen"43. Bei den "internen Standesideologien" handelt es sich dagegen im wesentlichen um die Freirechtsbewegung. "Je nach der Eigenart der Träger der Bewegung kommt sie in ihrem Ergebnis mehr zu Schlüssen, welche dem Prestige der ,Wissenschaft', als der Theoretiker, oder dem der Rechtspraktiker zugute kommen. Durch die stetige Zunahme des formulierten Gesetzesrechtes und namentlich der systematischen Kodifikationen fühlen sich die akademischen Juristen in ihrer Bedeutung und auch in den Chancen der Ebd. S. 334 . Ebd. S. 335 f. .1 Ebd. S. 336. • 2 Dem Vorläufer unseres heutigen Abzahlungsgesetzes . • 3 Rechtssoziologie (N 3). S. 335 f. 39

•0

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Bewegungsfreiheit des wissenschaftlichen Denkens empfindlich bedroht, und die rapide Zunahme der sowohl antilogischen wie antihistorischen Bewegungen ... ist dadurch leicht erklärlich und insofern Produkt einer historischen, intern intellektualistischen Interessenkonstellation. Alle, auch und gerade die irrationalistischen, Spielarten der Abkehr von der in der gemeinrechtlichen Wissenschaft entwickelten rein logischen Rechtssystematik sind aber andererseits auch wieder Konsequenzen der sich selbst überschlagenden wissenschaftlichen Rationalisierung und vqraussetzungslosen Selbstbesinnung des Rechtsdenkens. Denn soweit sie nicht selbst rationalistischen Charakter haben, sind sie doch, als Form der Flucht in das Irrationale, eine Folge der zunehmenden Rationalisierung der Rechtstechnik ... Vor allem anderen aber ist - was nicht übersehen werden darf - dies in dem Bestreben der zunehmend in Interessenverbänden zusammengeschlossenen modernen Rechtspraktiker nach Erhöhung des Standeswürdegefühls durch Erhöhung des Machtbewußtseins bedingt, wie in Deutschland z. B. die häufige Bezugnahme auf die ,vornehme' Stellung des englischen, nicht an ein rationales Recht gebundenen, Richters zeigt"44.

11. Max Webers Rechtssoziologie aus heutiger Sicht Die zuletzt referierten und eingehend zitierten Äußerungen Max Webers zum modernen Recht, die insgesamt nur ein Sechzehntel seiner Rechtssoziologie ausmachen, bilden gleichwohl den Schlüssel punkt für die Beurteilung des gesamten Werkes. Weber geht mit Eugen Ehrlich darin einig, daß der Schwerpunkt der Rechtsentwicklung nicht beim Staat, sondern in der Gesellschaft sei; denn primäre Rechtsquelle ist für ihn der Zweckkontrakt, der durch die Juristen lediglich gesteuert wird. Beide übersehen dabei das zu ihrer Zeit sich deutlich ankündigende Recht des Sozialstaates, bei dem der Staat die Rolle des Nachtwächters gesellschaftlicher Entwicklungen aufgibt und eine entscheidende Rolle bei der Steuerung des Soziallebens durch soziale Umverteilung übernimmt. Was die Rolle des Rechtsstabes angeht, weist Weber ganz im Gegensatz zu Ehrlich dem Fachjuristen die Rolle des Hüters einer formalen Rationalität des Rechts zu und wendet sich mit Nachdruck gegen die von Ehrlich propagierte Freirechtslehre. Aus heutiger Sicht wird Webers Rechtssoziologie daher durch zwei krasse Fehleinschätzungen des modernen Rechts gekennzeichnet, nämlich durch die Verkennung der Eigenheiten des Rechts im Sozialstaat und durch die Bekämpfung einer soziologischen Jurisprudenz.

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Ebd. S. 339 f.

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1. Webers Ausführungen zur juristischen Methodenlehre

Die offensichtliche Fehleinschätzung der Freirechtslehre hat als erster Barna Horvath in seiner Rezension der amerikanischen Ausgabe von Webers Rechtssoziologie durch Max Rheinstein beanstandet 45 . Horvath, der selbst Wesentliches zur Rechtssoziologie beigetragen hat 46 , sprach hier von dem Kuriosum, daß ein Meister der Rechtssoziologie irgendwie unglücklich über die soziologische Jurisprudenz ist. In der Tat fragt man sich, wie es zu Webers Plädoyer für eine logisch-rationale und systematisch-formale Rechtsfindung und demgemäß zur Ablehnung der Freirechtsschule kommen konnte. Denn Weber, dem die Arbeiten von Eugen Ehrlich und Hermann Kantorowicz gut bekannt waren 47 , wendet sich ja nicht etwa gegen Übertreibungen, die hier und da bei anderen Vertretern der Freirechtsbewegung zu beobachten waren 48 . Er spricht vielmehr generell davon, daß "die juristische Präzision der Arbeit, wie sie sich in den UrteilsgTÜnden ausspricht, ziemlich stark herabgesetzt werden (wird), wenn soziologische und ökonomische oder ethische Räsonnements an die Stelle juristischer Begriffe treten"49. Weiter sieht er in den verschiedenen Spielarten der Freirechtslehre ein "Produkt intellektualistischer Desillusionierung" und meint, man würde die Stellung und die Möglichkeiten des Richters überschätzen: auch "die alte Stellung des englischen Richters dürfte mit Fortschreiten der Bürokratisierung und der Rechtssatzung auf die Dauer stark erschüttert werden". Abschließend folgt dann das Urteil: "Die Bewegung ist, alles in allem, einer der charakteristischen Rückschläge gegen die Herrschaft des ,Fachmenschentums' und den Rationalismus, der freilich letztlich ihr eigener Vater ist"50. American Journal of Comparative Law 5 (1956), 153 (154). Siehe Barna Horvath: Probleme der Rechtssoziologie, Berlin 1971. 47 Als früherem HandelsrechtIer waren ihm wahrscheinlich auch die Arbeiten von Hans Wüstendörfer bekannt. Siehe die Zusammenstellung von dessen einschlägigen Arbeiten in Hans Wüstendörfer: Zur Methode soziologischer Rechtsfindung, hg. von M. Rehbinder, Berlin 1971. Allerdings bedarf es schon eines kriminalistischen Spürsinns, die wissenschaftlichen Quellen Webers aufzufinden, da er die· Angewohnheit hatte, nur in seltenen Fällen zu zitieren. Seine Eigenleistung läßt sich daher nur schwer feststellen; auch das ein (nicht nachahmenswertes) Zeichen wissenschaftlicher Größe. 48 Eine gute Schilderung der Methodenlehre der damaligen Zeit findet sich bei Karlheinz Muscheler: Relativismus und Freirecht, Heidelberg 1984, S. 85 ff. 49 Rechtssoziologie (N 3), S. 346. Ganz in diesem Sinne hieß es apodiktisch bei dem Begriffsjuristen Bernhard Windscheid: Die Aufgaben der Rechtswissenschaft (1884), in Gesammelte Reden und Abhandlungen, Leipzig 1904, S. 101: "Ethische, politische oder volkswirtschaftliche Erwägungen sind nicht Sache des Juristen als solchen." 50 Rechtssoziologie (N 3), S. 346. 45

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Dieses Urteil deutet darauf hin, daß Weber hier seinem bekanntlich mißverständlich 51 sogenannten Idealtyp selbst zum Opfer gefallen ist. Die Freirechtsbewegung ist für ihn erkennbar nur deshalb ein "Rückschlag", weil er den (Idee-)Typ des formal-rationalen Rechts als das der Gegenwart adäquate Idealrecht ansieht 52 • Die vier Rationalitätsstufen des Rechts (irrational-formales, irrational-materiales, rational-formales und rationalmateriales Recht) führen nämlich bei historischer Betrachtung für Weber unter dem Gesetz der zunehmenden Rationalität unausweichlich zum rational-formalen Recht als dem Endpunkt der Entwicklung. Dieses Recht ist 51 Weber übernahm den Idealtyp als Arbeitsmittel von Georg Jellinek (Allgemeine Staatslehre, Berlin 1900, S. 34 ff.) und verstand darunter wie dieser eine begriffliche Konstruktion, "in der bestimmte Elemente der Wirklichkeit ,gedanklich gesteigert' werden, um dadurch konkrete Erscheinungen und Vorgänge, in denen Elemente des Zusammengedachten wirksam sind, zu erkennen und zu veranschaulichen. ,Der Idealtypus ist keine Darstellung des Wirklichen, ... sondern ein Grenzbegriff, an dem die Wirklichkeit zur Verdeutlichung bestimmter bedeutsamer Bestandteile ihres Gehaltes gemessen, mit denen sie verglichen wird' " (Marianne Weber, N 4, S. 327 1.; siehe auch N 86). Ein solches Konstrukt hat natürlich nichts mit ..Ideal" zu tun. Gustav Radbruch erhellte dies mit der Bemerkung, es gäbe auch den Idealtyp der Prostitution. 52 Da "Rückschlag", wie Diskussionen in Japan ergaben, dort anscheinend nur im Sinne eines Auspendelns zwischen den Extremen verstanden wird, sei hier betont, daß dieses Wort im Deutschen einen eindeutig negativen Akzent hat. Weber "sieht in der materialen Begründung des Rechts eine Auflösung der spezifisch modernen Errungenschaft eines formallogischen, berechenbaren Gesetzes und damit eine Auflösung der durch formale Verfahren garantierten Rechtssicherheit, die zum Maßstab der Rationalität des Rechts gemacht wird. Materiale Bindung des Rechts führt - so Weber - in einen Wertrationalismus, der dieses mühsam erreichte Stück Rechtssicherheit wieder aufzulösen droht" (so richtig Klaus Eder: Zur Rationalisierungsproblematik des modernen Rechts, in Walter M. Sprondel/Constans Seyfarth: Max Weber und die Rationalisierung sozialen HandeIns, Stuttgart 1981, S. 157-167,162). Natürlich verbietet es Weber das Prinzip der Wertfreiheit, sich propagandistisch voll hinter den Typ des formal-rationalen Rechts zu stellen, und er spricht in fortschrittsskeptischer Distanz nur von einem "unaustragbaren Gegensatz zwischen formalem und materialem Prinzip der Rechtspflege". Dennoch stellt er eine zunehmende Rationalisierung des Rechts fest, gibt also eine Evolutionstheorie, und bejaht das Prinzip der Gewaltenteilung, indem er den Juristen an politische Vorentscheidungen binden will. Damit aber wird ihm das formal-rationale Recht zum idealen Recht. Allerdings teilt er nicht das liberale Credo, daß ein gesellschaftlicher Rationalisierungsprozeß aus sich selbst heraus ("die unsichtbare Hand") gerechte Zustände schaffen könne. Für die sozialen Folgen übertriebener Vertragsfreiheit hat er deutliche Worte gefunden. Daher hat auch David M. Trubek kürzlich betont, daß Webers Auffassung hier etwas Tragisches an sich habe. Zwar habe er den aus liberalistischem Gedankengut stammenden formalen Rationalismus vertreten müssen, weil nur dieser seinem erkenntnistheoretischen Postulat der Wertfreiheit entsprechen würde, er sei aber von der politischen Richtigkeit dieser Auffasstfng nicht überzeugt gewesen (Max Weber's Tragic Modernism and the Study of Law'in Society, in Law and Society Review 20, 1986, S. 573-598, 592 1.). Webers Vorstellung vom idealen Recht entspringt also in dieser Sicht einer Dennoch-Haltung.

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ein Recht der Spezialisten, die aus abstrakten Begriffen der Kodifikationen mit Hilfe der "juristischen Logik" die erforderlichen Einzelentscheidungen deduzieren, also die sog. Begriffsjurisprudenz, eine "in der gemeinrechtlichen Wissenschaft entwickelte rein logische Rechtssystematik"53, wie sie der Jurist Weber während seiner juristischen Ausbildung gegen Ende des vorigen Jahrhunderts in ihrer Blütezeit kennengelernt hatte 54 . Wenn die Freirechtsschule, die Interessenjurisprudenz und später die heute herrschende Wertungsjurisprudenz gegen begriffslogische Rechtsanwendung ("Begriffsmathematik") ankämpften und für eine Berücksichtigung metajuristischer "Räsonnements" im Rahmen der rechtlichen Begriffshülsen eintraten 55 , dann war das keinesfalls ein Kampf gegen den Fachmann oder ein Rückschlag ins Irrationale und beruhte auch nicht nur auf "Standesideologien" . Zwar sollten nach Meinung der FreirechtIer, wenn und soweit metajuristische Wertungen in die reine Rechtsdogmatik einbrechen mußten, nach Möglichkeit auch Nicht-Juristen an der Rechtsprechung und Rechtsfindung beteiligt werden; denn schließlich sollten nach demokratischen Rechtsvorstellungen die Urteile "Im Namen des Volkes" gesprochen werden, und man sah den Juristenstand weder als repräsentativ an, noch vertraute man darauf, daß die Fachjuristen dem Volk genügend "aufs Maul schauen". Bei der Siehe N 3, S. 339. Siehe das Zitat von Windscheid oben N 49. Daß Webers Idealbild der Rechtsanwendung diese Begriffsjurisprudenz ist, habe ich bereits in einer Irüheren Publikation über Max Webers Rechtssoziologie aus Anlaß seines 100. Geburtstages hervorgehoben (M. Rehbinder, Max Webers Rechtssoziologie: eine Bestandsaufnahme, in Rene König/Jühannes Winckelmann: Max Weber zum Gedächtnis. Sonderheft 7 der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 1963, S. 470, 482). Dies wurde auch in der darauffolgenden Monographie von Fritz Loos bestätigt (Zur Wert- und Rechtslehre Max Webers, Tübingen 1970, S. 106 fl.; siehe auch seinen Aufsatz: Max Webers Wissenschaltlehre und die Rechtswissenschaft, JuS 1982,87-93,88). Nunmehr möchte jedoch Nico Roos Weber lür eine Begriffsjurisprudenz reklamieren, die materielle (Zweck-)Argumente berücksichtigt, und dadurch Weber vom Vorwurf einer verfehlten Methodenlehre freisprechen (N 9, S. 237, 245). Seine Ausführungen mit Hilfe eines Vergleichs mit Jhering (ebd. S. 238 ff.) vermögen jedoch nicht zu überzeugen, da die Tatsache, daß die Freirechtslehre die Begriffsjurisprudenz olt als "Begriffsmathematik" verzerrt darstellte, noch nicht belegt, daß Weber das Anliegen einer soziologischen Jurisprudenz richtig gewürdigt hat. Auch wenn rechtswissenschaltliche Systematisierung unter Berücksichtigung materieller Gesichtspunkte erfolgte, so soll doch nach der Begrifisjurisprudenz Webers bei der Rechtsanwendung mit deduktiver Strenge, d. h. formal-logisch vorgegangen werden. Zwar kann auch soziologische Jurisprudenz nicht ohne begriffliches Denken auskommen, und insoweit ist jede Jurisprudenz eine Begriffsjurisprudenz. Aber darum geht es hier nicht. S5 Siehe als Dokumentation des damaligen Methodenstreits auch den Sammelband Günter Ellscheid/Winlried Hassemer (Hg.): Interessenjurisprudenz, Darmstadt 1974. 53 54

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Einbeziehung der Nachbarwissenschaften in die Rechtswissenschaft sollten auch die Wissenschaftler der betreffenden Fachbereiche gehört werden. Aber daneben sollten gerade auch die Juristen über die metajuristischen Feststellungen und Wertungen fachmännisch orientiert sein. Deshalb z. B. setzte sich Eugen Ehrlich schon im Jahre 1912 auf dem Deutschen Juristentag dafür ein, die rechtstechnische Ausbildung der Juristen durch eine soziologische und psychologische Ausbildung zu ergänzen 56 • Weber war im übrigen auch beim Ersten Deutschen Soziologentag im Jahre 1910 dabei, auf dem Kantorowicz neben Wüstendörfer seine Vorstellungen von der Berücksichtigung soziologischer Erkenntnisse im Rahmen der juristischen Dogmatik entwickelte und aus denen mehr als klar wurde, daß es sich bei den Lehren der Freirechtsschule nicht um ein Plädoyer für eine ..laienhafte" Rechtsfindung und für irrationale Entscheidungen handelteSt. Das "volitive Element der richterlichen Tätigkeit", von dem alle FreirechtIer sprechen, betrifft nur die richterliche Lückenfüllung, nicht dagegen den Regelfall der Rechtsanwendung. Aus der heutigen Sicht der Wertungsjurisprudenz mit ihrer teleologischen Auslegung vom sozialen Ergebnis her, der sog. Folgendiskussion 58 , ist daher Webers Vorhersage einer Entwicklung zur formalen Rationalität der Rechtsfindung, da nicht anzustreben, verfehlt 59 • Fragen wir, warum für Weber die Begriffsjurisprudenz das "Idealrecht" der Gegenwart war und warum daher für ihn die Freirechtslehre und mit ihr jede soziologische Jurisprudenz, d. h. jede angewandte Rechtssoziologie, als bedauerlicher Abstieg von den Höhen der Begriffsjurisprudenz anzusehen ist, dann stoßen wir auf den Hintergrund der Weberschen Wissenschaftslehre, nämlich den Neukantianismus mit seinem Streben nach Methodenreinheit. Weber betont immer wieder die strenge Trennung von Sein und Sollen und empfindet seine Rechtssoziologie als ein Gegenstück zum Werk Kelsens. Er war insoweit stark beeinflußt von seinem berühmten Heidelber56 Gutachten für den 31. Dt. Juristentag, in Eugen Ehrlich: Recht und Leben, hg. von M. Rehbinder, Berlin 1967, S. 61-79. 57 H. Kantorowicz: Rechtswissenschaft und Soziologie, in: Verhandlungen des Ersten Deutschen Soziologentages, 1911, S. 275 H.; abgedruckt N 4 S. 117-144. Dazu Webers Diskussionsbeitrag in M. Weber: Gesammelte Aufsätze zur Soziologie und Sozialpolitik, Tübingen 1924, S. 476-483, wo er dies jedoch zumindest als Gefahr bei einer soziologischen Jurisprudenz nach Art des Art. 1 Abs. 2 ZGB und als Wirklichkeit der Geschworenengerichtsbarkeit schildert (S. 479 f.). Siehe demgegenüber die deutliche Stellungnahme des Freirechtiers Hermann Isay gegen eine Gefühlsjurisprudenz, d. h. eine Rechtsprechung, die ausschließlich auf dem Gefühl beruht: "Eine solche Rechtsprechung wäre natürlich unerträglich" (Rechtsnorm und Entscheidung, Berlin 1929, S. 94). 58 Dazu Thomas Sambuc: Folgenerwägungen im Richterrecht, Berlin 1977; Gertrud Lübbe-Wolff: Rechtsfolgen und Realfolgen. Welche Rolle können Folgeerwägungen in der juristischen Regel- und Begriffsbildung spielen?, Freiburg i. Br. 1981. 59 Ebenso Loos (N 54) JuS 1982, S. 93.

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ger juristischen Kollegen Georg Jellinek, der in seiner "Allgemeinen Staatslehre" (1900) die Soziallehre und die Rechtslehre des Staates unterschieden hatte 60 , und verurteilte mit Kelsen jede Grenzüberschreitung von Rechtswissenschaft einerseits und Soziologie andererseits 61 . Mit der heute allseits beschworenen Einbeziehung der Sozialwissenschaften in die Rechtswissenschaft, der methodologischen Forderung nach soziologischer Jurisprudenz 62 , ist dieser Standpunkt, der eine chinesische Mauer zwischen beiden Disziplinen errichten wollte, obsolet. Der spektakuläre Streit in den Anfängen der Rechtssoziologie zwischen Ehrlich und Kelsen 63 ist zugunsten von Ehrlich entschieden. Weber hätte auf Kantorowicz hören sollen, der auf dem Ersten Deutschen Soziologentag im Jahre 1910 in Anlehnung an Kant über das Verhältnis von Rechtssoziologie und Rechtsdogmatik den Leitsatz prägte: "Dogmatik ohne Soziologie ist leer, Soziologie ohne Dogmatik ist blind"64. Weber befürchtete, man würde bei einer Abkehr vom "streng logischen" Deduzieren aus Begriffssystemen zugunsten eines antiformalen "sozialen" Rechts in eine irrationale Kadijustiz, zumindest in eine Rechtsunsicherheit verfallen, die den Erfordernissen der Gegenwartsgesellschaft, einer Marktgesellschaft, entgegensteht. Diese Befürchtung ist nicht gerechtfertigt. Wie Karl N. Uewellyn in seinem klassischen Werk The Common Law Tradition - Deciding Appeals (Boston/Toronto 1960) an umfangreichem Material nachgewiesen hat, ist eine Rechtspflege im Stile der soziologischen Jurisprudenz (the grand style) einer Rechtspflege nach Art der logischen Subsumtion (the formal style) - was die Vorhersehbarkeit angeht - sogar überlegen 65 . Die von Weber befürchtete Umwandlung der liberalistisch-formalen Rechtsordnung in ein "antiformales" soziales Recht mit zahlreichen Generalklauseln und Verweisungen auf außerrechtliche Sozialordnungen haben wir insoweit ohne Schaden überstanden. Diese Umwandlung führte entgegen Weber zu einer Erhöhung von Stellung und Möglichkeiten des Richters. Da heute weit mehr noch als früher die Verwaltung und Gesetzgebung unter richterlicher Kontrolle stehen, sind wir von dem - von der Freirechtsschule angestrebten - englischen "Richterkönigtum", was die sachliche KompeDarauf macht Loos ebd. S. 91 aufmerksam; siehe auch N 51. Darauf hat schon Rheinstein in seiner Einleitung zu: Max Weber On Law in· Economy and Society, Cambridge Mass. 1954, S. LXV, hingewiesen. Siehe ferner den Beitrag von Bobbio in diesem Band. 62 Dazu M. Rehbinder: Rechtssoziologie, Berlin 1977, S. 14-36. 63 Darüber M. Rehbinder: Die Begründung der Rechtssoziologie durch Eugen Ehrlich, 2. Auf!. Berlin 1986, S. 119 H. 64 Kantorowicz (N 57), S. 139. Bei Kant (Kritik der reinen Vernunft, Ausgabe des Verlages Felix Meiner, S. 95) heißt es: "Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind." 65 Siehe meine Einleitung zu Llewellyn: Recht, Rechtsleben und Gesellschaft, Berlin 1977, S. 15. 60 61

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tenz angeht, gar nicht so weit entfernt. Die rechtsgestaltende Rolle nicht nur des Bundesverfassungsgerichts, sondern auch der obersten Bundesgerichte, allen voran des Bundesarbeitsgerichts, ist von damals ungeahnter Bedeutung. Allerdings hat diese Entwicklung zum Richterstaat politische Folgen, die Max Weber gesehen und verurteilt hat. Während formale Rationalität von der Justiz politische Neutralität fordert und damit der Regierung das Monopol politischen HandeIns sichert, bedeutet für ihn die soziologische Jurisprudenz eine Mißachtung des Willens des Gesetzgebers: "Die moderne Rechtsquellenlehre hat sowohl den vom Historismus geschaffenen, halb mystischen Begriff des ,Gewohnheitsrechts' wie den ebenfalls historischen Begriff eines ,Willens des Gesetzgebers', der durch Studium der Entstehungsweise des Gesetzes (aus Kommissionsprotokollen und ähnlichen Quellen) zu ermitteln sei, zersetzt: mit dem ,Gesetz', nicht mit dem ,Gesetzgeber' habe es der Jurist zu tun. Das dergestalt isolierte ,Gesetz' aber wird dann zur Bearbeitung und Verwendung ihm, dem Juristen - bald mehr der ,Wissenschaft' (so sehr oft auch in den Motiven moderner Gesetzbücher). bald mehr dem Praktiker -, überantwortet. Dabei wird die Bedeutung der gesetzgeberischen Fixierung eines Rechtsgebots unter Umständen bis zur Rolle eines bloßen ,Symptoms' der Geltung oder auch nur der gewünschten - aber bis zur Stellungnahme der Rechtspraxis problematischen - Geltung eines Rechtssatzes herabgesetzt"66. Die von Weber aufgrund einer heute überholten Auffassung von der Gewaltenteilung politisch abgelehnte Entwicklung zum Richterstaat war entgegen seiner Analyse nur zum geringsten Teil eine Folge richterlicher Standesideologien und zum größten Teil eine Folge der Wandlungen des Rechts im Sozialstaat.

2. Webers IdeaJtyp des modemen Rechts Webers Fehlbeurteilung der Freirechtslehre beruht nämlich auf einer Gefahr seiner typologischen Betrachtungsweise, die er selbst gesehen hat, wenn er von der "Unvermeidlichkeit immer neuer idealtypischer Konstruktionen"67 sprach. Idealtypen werden nämlich, um sie genügend mit Wirklichkeit auszufüllen und dadurch praktikabel zu machen, an der historischen Erfahrung entwickelt. Historische Erfahrung ist aber nur sehr bedingt in der Lage, etwas über Entwicklungsprozesse der Gegenwart auszusagen. Denn es muß immer damit gerechnet werden, daß sich der zu analysierende SachverRechtsso~iologie (N 3), S. 337 f. Max Weber: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, 2. Auf!. Tübingen 1951, S. 206. Siehe auch Marianne Weber (N 4), S. 328. 66 67

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halt in einem Interferenzstadium befindet, d. h. in einem Zustand, wo ein alter, bereits bekannter Idealtyp seine Brauchbarkeit zur Beschreibung dieses Sachverhalts verliert und ein neuer Idealtyp, der die neuen Merkmale enthält, mangels historischer Erfahrung bisher noch nicht entwickelt worden ist. Versucht man jetzt, auf diesen Sachverhalt allein die bisher bekannten Idealtypen anzuwenden, so kommt man notwendigerweise zu schiefen Aussagen und Ergebnissen. Als Weber die rechtliche Situation seiner Zeit erfassen wollte, hatte die Begriffsjurisprudenz ihren Höhepunkt bereits überschritten. Sie war nicht etwa, wie Weber meint, in erster Linie eine Folge logischer Eigengesetzlichkeiten des Rechtsdenkens ("interner Denkbedürfnisse") der Fachjuristen, sondern diesen Denkbedürfnissen lag - wie Max Rheinstein hervorgehoben hat 68 - das Bemühen zugrunde, auf diesem Wege, ungeachtet der politischen Zersplitterung Deutschlands, durch die sog. Pandektenwissenschaft zur Rechtseinheit zu gelangen, und Eugen Ehrlich hat in seiner interessanten Schrift über "Die juristische Logik" - eine vorweggenommene Widerlegung der Behauptung Webers 69 - nachgewiesen, daß auch dafür wiederum gesellschaftliche, in erster Linie ökonomische Bedürfnisse entscheidend waren. Nach der kodifikatorischen Vereinheitlichung der Rechtsordnung im Bismarck-Reich fand sich daher die Begriffsjurisprudenz im Rückzugsgefecht gegen die Freirechtsbewegung und andere, von Weber nur kurz gestreifte sozialphilosophische Richtungen innerhalb der Rechtstheorie (z. B. marxistische oder sozialistische wie bei Anton Menger). Da Weber nun aber eine Typenreihe von Entwicklungsstufen der Rechtsentstehung aufgestellt hatte (nämlich: charismatische Rechtsoffenbarung, empirischkasuistisches Honoratiorenrecht, Rechtsoktroy durch weltliche oder theokratische Gewalten sowie systematische Rechtssatzung und formallogische Rechtspflege durch Fachjuristen) und diese Typenreihe dadurch einen in sich abgeschlossenen Charakter erhielt, daß er sie mit der Typenreihe der Rationalitätsstufen koppelte und von dem Gesetz der zunehmenden Rationalität ausging, konnte er die jetzt auftretende, neue Bewegung nur als einen "Rückschlag" in primitivere, weil historisch frühere oder in der Stufenfolge tieferstehende Typen begreifen. In Wirklichkeit war aber diese Bewegung der Ausdruck eines neu entstehenden Rechtstyps, der erst heute oder gar erst in Zukunft voll entwickelt ist und an dessen typologischer Erfassung noch heute gearbeitet wird, nämlich des Rechts des Sozialstaats. Das Recht des Sozialstaats hatte sich vor dem Ersten Weltkrieg schon deutlich in der Entwicklung des Arbeitsrechts und in den Schriften der N 61, S. LIX. Das Erscheinungsjahr dieser Schrift Ehrlichs (1918, Neudrucke 1925 und 1966) lag zwar nach der Entstehungszeit des Weberschen Manuskriptes (1911-1913). aber vor seinem Erscheinen im Rahmen von "Wirtschaft und Gesellschaft" (1922). 68

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Kathedersozialisten, z. B. in dem viel beachteten Buch von Anton Menger über "Das Bürgerliche Recht und die besitzlosen Volksklassen" oder in den Schriften von Franz Klein, des Vaters der österreichischen Zivilprozeßordnung 70 , und vielen anderen angekündigt, Schriften also, die nachweisbare Niederschläge im positiven Recht gefunden haben. Gustav Radbruch sprach hier später von einer "juristischen Zeitenwende von nicht geringerer Bedeutung als Rezeption und Naturrecht", nämlich dem Übergang "vom individualistischen zum sozialen Recht"7!. Während Ehrlich nach .dem Weltkrieg diese Entwicklung einzufangen suchte, indem er statt von Eingriffsnormen, die neben den Handlungsnormen und den Entscheidungsnormen stehen, nunmehr weitergehend von Verwaltungsnormen sprach 72 , ist bei Weber nur von "Rückschlag" die Rede. Hätte er das Recht des Sozialstaats in seiner Eigenständigkeit erfassen wollen, hätte er als erstes die Koppelung der Rechtsentstehungstypen mit den Rationalitätstypen aufgeben und damit den Weg für neue Entwicklungsstufen freimachen müssen 73 • Dies war es wohl, was den Rechtstheoretiker des sozialen Wandels im Recht, Wolfgang Friedmann, zu der Bemerkung veranlaßte, daß Weber, falls er länger gelebt hätte, wohl nicht mehr davon überzeugt gewesen wäre, daß das Recht sich in einem unaufhaltsamen Rationalisierungsprozeß befinde 74 . Zwar hat kürzlich Hans Albrecht Hesse die Meinung vertreten, durch das Recht des Sozialstaats sei die Prognose Webers von der formalen Rationalität des künftigen Rechts entgegen seiner Sorge nicht in Frage gestellt worden, da durch die Positivierung einer materialen Werteordnung im Grundgesetz und in der übrigen Rechtsordnung weder die Herrschaft der Fachjuristen und ihrer Dogmatik noch die Rechtssicherheit Schaden gelitten habe 75 . Doch bietet 70 Über Klein siehe Herbert Hofmeister: Franz Klein (1854-1926), in Österreichische Richterzeitung 1984, S. 200-203. 71 Gustav Radbruch: Vom individualistischen zum sozialen Recht, Hanseatische Rechts- und Gerichts-Zeitschrift 13 (1930), Sp. 458-468; ähnlich schon früher in Der Mensch im Recht, 1927. 72 Dazu Rehbinder (N 63), S. 61, 106 ff. Die Verwaltungsnorm Ehrlichs bringt auf einen Nenner, was Radbruch (ebd. Sp. 467) als "öffentlich-rechtliche Wendung" bezeichnet. 73 Auch Trubek (N 10, S. 198) weist darauf hin, daß für heutige Arbeiten bei Beibehaltung des typologischen Ansatzes veränderte Idealtypen notwendig wären. Als ein Beispiel siehe Thomas Langer: The Law and the Legitimacy of Authority, in: Contemporary Conception of Law, Wiesbaden 1982, S. 403-416. Den Weg neuer Typisierungen geht auch Helmut F. Spinner, der Grundsatzvernunft (für die Theorie des Abendlandes) und Gelegenheitsvernunft (für die Theorie der Moderne) unterscheidet (Der ganze Rationalismus einer "Welt von Gegensätzen", Beitrag zur Max Weber-Konferenz der Deutschen Gesellschaft für Soziologie im Juni 1986 in Kassel). 74 W. Friedmann: Legal Theory, 4. Aun. London 1960, S. 196. 75 H. A. Hesse: Die Relevanz der Soziologie Max Webers für die juristische Praxis und Juristenausbildung, ZVglRWiss. 82, 1983, 242-260, 2501., 253: "Max Webers Sorge, daß das Verbindlichwerden einer materialen Wertordnung den Formalismus

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das Recht des Sozialstaats materiell sowie bei der Handhabung ein deutlich anderes Bild als der Idealtyp Webers vom formal-rationalen Recht. Die Begriffsjurisprudenz alten Stils ist heute verschwunden und hat Folgeerwägungen bei der Rechtshandhabung Platz gemacht. Struktur und Funktion des Rechts haben sich gewandelt. In Anknüpfung an Maine's berühmte Entwicklungsthese "from status to contract" wollen einige im Recht des Sozialstaats mit Max Weber einen Rückschlag sehen, nämlich einen "return to status"76. Andere suchen nach neuen Wegen, den Idealtyp des Gegenwartsrechts zu kennzeichnen. Ich selbst habe vor vielen Jahren zur Kennzeichnung des rematerialisierten n Rechts im Sozialstaat auf den Rollenbegriff aufmerksam gemacht und sehe eine Entwicklung der Rechtsstruktur vom Statusrecht über das Kontraktsrecht zum Recht flexibler Rollen 78 . Die "juridifizierte Welt des Sozialstaats"79 ist eine Welt staatlich vorgeformter und abgesicherter, jedoch stets in Wandlung begriffener und offener Rollen. Gegenwärtig wird mit etwas mehr Widerhall der Typ des reflexiven Rechts diskutiert oder der Typ des soft law80 . Eines aber ist sicher~ Das Recht des Sozial staats ist nich t das formal- rationale Recht Max Webers.

des Rechts grundsätzlich in Frage stellen und das Recht unberechenbar machen müßte, ist widerlegt." 76 Siehe die Nachweise bei M. Rehbinder: Status Kontrakt - Rolle. Wandlungen der Rechtsstruktur auf dem Wege zur offenen Gesellschaft, in Berliner FS für Ernst E. Hirsch, Berlin 1968, S. 140-169, 143. 77 Von Re-Materialisierung spricht z. B. Treiber (N 10), S. 59. 78 Siehe N 76 sowie denselben Beitrag gekürzt unter dem Titel: Wandlungen der Rechtsstruktur im Sozialstaat, in Hirsch/Rehbinder: Studien und Materialien zur Rechtssoziologie. Sonder heft 11 der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 1967, S. 197-222. 79 So Fritz Werner: Wandelt sich die Funktion des Rechts im Sozialstaat? FS Leibholz Bd. 2, 1966, S. 153-166, 162. 80 Gunther Teubner: Reflexives Recht, ARSP 1982, S. 13 ff., sowie Erhard Blankenburg: The Poverty of Evolutionism: a critique of Teubner's case for "reflexive law", in Law and Society Review 18 (1984), S. 273-289, und Norbert Reich: Reflexives Recht? Bemerkungen zu einer neuen Theorie von Gunther Teubner, in FS Rudolf Wassermann, Neuwied 1985, S. 151 ff., Niklas Luhmann: Einige Probleme mit "reflexivem Recht", Zeitschrift für Rechtssoziologie 1985, S. 1-18. Nach dem Modell des soft law werden Rechtsansprüche nur als Verhandlungspositionen begriffen, die dem Staatsapparat die Chance eröffnen, mit den Rechtsadressaten Kompromisse auszuhandeln (der sog. weiche Gesetzesvollzug), siehe E. Bohne: Der informale Rechtsstaat, Berlin 1981; Jürgen Becker: Informales Verwaltungshandeln zur Steuerung wirtschaftlicher Prozesse im Zeichen der Deregulierung, DÖV 1985, S. 1003-1011; Daniel Thürer: "Soft Law" - eine neue Form von Völkerrecht? ZSR 104 I (1985), S. 429-453; W. Brohm: Gesetzesvollzug als Handelsobjekt?, -in Wolfgang Heinz (Hg.): Rechtstatsachenforschung heute, 1986, S. 103-111. 10'

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3. Die bleibende Bedeutung der Rechtssoziologie Max Webers als Vorbild für eine soziologische Rechtsgeschichte Daß wir aus heutiger Sicht die wesentlichen Aussagen von Max Webers Rechtssoziologie nicht mehr teilen können, hätte ihn selbst am wenigsten überrascht. In seiner berühmten Rede über "Wissenschaft als Beruf" betonte er nachdrücklich die Vergänglichkeit wissenschaftlicher Leistungen mit den Worten: "Jeder von uns in der Wissenschaft weiß, daß das, was er gearbeitet hat, in 10, 20, 50 Jahren veraltet ist. Das ist das Schicksal, ja: das ist der Sinn der Arbeit der Wissenschaft"81. Fragen wir aber, was uns seine Rechtssoziologie, mehr als 70 Jahre nach ihrer Niederschrift, heute noch bedeuten kann, so lautete die Antwort gleichwohl: Das Werk ist trotz seiner stilistischen und inhaltlichen Mängel heute noch lesenswert. Es ist daher bedauerlich, daß es in Kreisen der Rechtswissenschaft noch wenig Anklang gefunden hat. Als ich zum 100. Geburtstag von Max Weber im Jahre 1963 auf Veranlassung meines Lehrers Rene König eine Bestandsaufnahme vorlegte, konnte ich als Stellungnahmen von Bedeutung lediglich auf die bei den Werkeinführungen von Rheinstein und Winckelmann und auf die Rezension von Horvath hinweisen. Seither ist aber - außer der mehr wissenschafts theoretischen Monographie von Fritz Loos und den rechtssoziologischen Arbeiten von Niklas Luhmann - eine nachdrückliche Rezeption des Werkes in den USA erfolgt, wo Webers Thema des Beitrages des Rechts zur Modernisierung der Gesellschaft aufgegriffen wurde, insbesondere in den Arbeiten von David M. Trubek82 , Roberto M. Unger 83 und Anthony T. Kronman 8', und diese Rezeption hat nun wiederum im Sammelband von Stefan Breuer und Hubert Treiber 85 eine Rückwirkung nach Deutschland erfahren. Lesenswert ist Webers Rechtssoziologie heute vor allem für Rechtsgeschichtler; denn ihre Bedeutung für die Gegenwart liegt vornehmlich im Methodischen, im Arbeiten im Idealtypen. Die von Weber als Kompromiß im Streit zwischen der theoretischen und der historischen Schule in der Nationalökonomie seinerzeit entwickelten Idealtypen 86 sind Meßgrößen, mit deren Hilfe man die soziale Wirklichkeit im Wege des Vergleichs auf das Wesentliche zurückführen und damit besser analysieren kann. Sie haben also als solche keinen eigenen Aussagewert, sondern sind nur HilfsinstruM. Weber: Wissenschaft als Beruf. 4. Auf). Berlin 1959, S. 15. Max Weber on Law and the Rise of Capitalism, Wisconsin Law Review 1972, S. 720-753. 83 Law in Modern Society, New York 1976. 84 Max Weber, Stanford 1983. 85 St. Breuer / H. Treiber (Hg.): Zur Rechtssoziologie Max Webers. Interpretation, Kritik, Weiterentwicklung, Opladen 1984. 86 M. Weber: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, 4. Auf). 1973, S. 185 H., 190 1. Siehe oben N 51. 81

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mente für andere Aussagen, nämlich für die Beschreibung bestimmter Sachverhalte, aus denen sich dann erst soziale Gesetzmäßigkeiten (in der Rechtssoziologie z.B. das Gesetz der zunehmenden Rationalität des Rechts) ergeben. Sind solche Meßgrößen erst einmal entwickelt, dann bedeutet ihre Verwendung eine spürbare Erleichterung wissenschaftlicher Diskussion; denn sie dienen sozusagen als stenographische Kürzel, die die Verständigung beschleunigen. Wir haben allerdings gezeigt, daß diese Kürzel aufgrund bekannter sozialer Sachverhalte entwickelt werden und daß sie daher nur sehr begrenzt zur Erfassung der sozialen Gegenwart taugen, nämlich nur insoweit, als die Gegenwart als konsequente Weiterentwicklung bekannter historischer Abläufe erscheint und dadurch mit den einmal gefundenen Idealtypen meßbar bleibt. So liegt der Wert der Weberschen Methode im wesentlichen in ihrer Brauchbarkeit für die Schilderung geschichtlicher Zustandsbilder oder geschichtlicher Abläufe und einer Analyse von deren "Triebkräften". Man wird daher Horvath zustimmen müssen, der in dem Bemühen um die Entwicklung von Idealtypen die Suche nach den bestmöglichen Modellen für eine Geschichtsschreibung sieht. Webers Rechtssoziologie ist für ihn dementsprechend eine "empirische, nur versuchsweise systematisierte Theorie der Rechtsgeschichte"87. Die Bestandsaufnahme rechtsgeschichtlicher Forschung, die Weber in souveräner Gesamtschau bietet 88 , mag heute zwar in einzelnen Punkten überholt sein. So ist z. B. der mittelalterliche Rechtszustand seitdem durch die Arbeiten von Qtto Brunner, Heinrich Mitteis oder Werner Näf erheblich differenzierter gezeichnet worden. Die Methode hingegen, nämlich die verstehende Beschreibung mit Hilfe von Idealtypen, ist demgegenüber bis heute gültig geblieben. Sie ist eine brauchbare Methode für die Sozialgeschichte des Rechts (in Abgrenzung von einer Ideengeschichte des Rechts und einer Normengeschichte des Rechts)89. Wer Weber aufmerksam studiert hat, der wird sehen, daß im Vergleich dazu noch heute Rechtsgeschichte oft mit der Aneinanderreihung rechtlicher "Geschichten" verwechselt wird. Die bleibende Leistung der Weberschen Rechtssoziologie liegt also in ihrem Vorbild für die Rechtsgeschichte.

87 N 45 S. 153. Ähnlich sieht Fishman (Prolegomena zu einer Soziologie des Rechts, ÖZöR 9, 1959, S. 297, 299) in Webers Rechtssoziologie nur eine "geistvolle Rechtsgeschichte". Nach dem Urteil seiner Mutter Helene Weber hatte schon den jungen Rechtskandidaten Weber "von jeher die geschichtliche Entwicklung des Rechts mehr interessiert als die Anwendung" (in: Marianne Weber (N 4), S. 123). 8B Wie bei der Fülle des Materials nicht anders zu erwarten, finden sich auch einige Fehler, die Rheinstein in seiner Sonderausgabe richtiggestellt hat. 89 Dazu näher M. Rehbinder: Erkenntnistheoretisches zum Verhältnis von Rechtssoziologie und Rechtsgeschichte, in: M. Killias/M. Rehbinder: Rechtsgeschichte, Rechtssoziologie und historische Kriminologie, Berlin 1985, S. 133-146.

MAX WEBER UND DIE DEUTSCHE RECHTSWISSENSCHAFT DES 19. JAHRHUNDERTS Von Pierangelo Schiera Jeder Weber-Leser weiß aus eigener Erfahrung, wie schwierig es ist, die Beziehungen zwischen Webers umfangreicher Produktion und den verschiedenen Untersuchungsgebieten zu durchschauen, auf die der von ihm bearbeitete "soziale" Stoff verteilt werden kann. Dies beruht auf wenigstens zwei Gründen (abgesehen von dem rein quantitativen der Seitenzahl, die er zu den verschiedensten Themen liefert). Der erste betrifft Webers Stellung in einer Zeit tiefgreifenden Wandels, die das historisch-soziale Denken durchlief, in der die mit dem Siegeszug des Wissenschaftspositivismus aufgerichteten Grenzmauern jäh zu beben schienen und neue Wissenschaften ihre erkenntnistheoretische Eigenständigkeit beanspruchten sowie neue Themen ihr Recht anmeldeten, wissenschaftlich behandelt zu werden. Inwieweit das alles auch auf methodologischer Ebene Folgen gezeitigt hat, ist Weber selbst berufen, uns zu lehren. Der zweite Grund, der vielleicht vom ersten nicht ganz unabhängig ist, besteht darin, daß Weber es nicht vermochte, seine auf unterschiedliche Gebiete ausgedehnte Forschung in eine abschließende Reihenfolge zu bringen, so daß es uns (trotz bewunderungswürdiger auch philologischer Anstrengungen, die bei der Weber-Grabung nach und nach freigelegten Schichten auszuwerten und zu ordnen) wohl für immer an der reellen Möglichkeit gebricht, nicht nur einen objektiv unwiderlegbaren Gesamtüberblick über seine Produktion zu erhalten, sondern auch eine zuverlässige (und vielleicht hierarchisch abgestufte) Verbindung zwischen ihren Teilen zu entdecken und festzuhalten. Ich selbst habe, sobald es nötig war, mich zu fragen, inwiefern Weber nach methodologischem Ansatz, Interessenausrichtung und Art seiner Ergebnisse "Historiker" war, die Antwort erteilen müssen, daß Webers historischer Ansatz (der doch in jener Zeitwende eine durchgreifende und auch heute noch nicht gänzlich abgeschlossene Veränderung erfährt) sich gegenüber dem soziologischen anders ausgestaltet, wenngleich die Abläufe parallel bleibenI. Ich würde jedoch nicht zögern, eine andere Antwort zu geben, wenn ich mich fragen müßte, ob Weber enge Beziehungen zur Geschichts-

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1 P. Schiera: Max Weber e Otto Hintze: Storia e sociologia dottrina della raglOn di Stato?, in Weber: razionalita e politica, a cura di G. Duso, Venezia 1980, S. 77-90.

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schreibung unterhalten hat: Das war der Fall, er ist von ihr beeinflußt worden, noch stärker hat er sie beeinflußt. Wie sollte es anderereits auch möglich sein, die Zwangsjacke einer fachlichen Begrenzung (oder auch eines doch organischen und geordneten Bündels von Fächern) einem Mann anzupassen, der mit einer Dissertation historischer Prägung promoviert, später Lehrstühle für Recht und Wirtschaft einnimmt und die Zeit des Schweigens dazu verwendet, die brennendsten methodologischen Fragen der Gegenwart zu vertiefen und neue Anwendungsfelder der Soziologie zu erfinden 2 ? Ihnsei es nur "auch" - als Historiker oder Wirtschaftswissenschaftler oder Juristen zu definieren, würde heißen, so scheint mir, dasjenige, was bei Weber einheitlicher, wenngleich auch widersprüchlicher und unabgeschlossener Aufbau war, zu einem anachronistischen Hang zum Enzyklopädischen zu stempeln: das, was er auch im Methodologischen meinte und beabsichtigte, als nicht zum Fach gehörend und einengend abzutun. Es geht mir deshalb nicht darum, Beweise für oder gegen das Bild Webers als Juristen beizubringen. Nicht darum geht es, sondern vielmehr um die Feststellung, auf welche Weise, auf welchen Wegen das Recht bei Weber und seinem Vorhaben einer umfassenden Untersuchung des Gesellschaftlichen eine Rolle gespielt hat. Es steht fest, daß es diese Rolle gegeben hat, daß Weber die Rechtswissenschaft jedenfalls als ausgeklügelteste Form der Erkenntnis und des Verstehens des Gesellschaftlichen (nicht nur im überkommenen Sinn, sondern auch im Hinblick auf die geschichtliche und vor allem die deutsche Wirklichkeit seiner Zeit) bei seinem Vorhaben nicht außer acht lassen konnte. Es geht darum festzuhalten, welches Recht auf welchen Weber Einfluß genommen hat. 2 "Was war aber der Kern dieses derart magisch weit ausstrahlenden Menschen, der als Jurist und HandelsrechtIer begann, dann zur Nationalökonomie überging und schließlich (inmitten der Arbeit) an einem großen Werk über Soziologie starb, der in bahnbrechenden philosophisch-methodologischen Untersuchungen seine Fachwissenschaft und die Philosophie zugleich bereicherte, der von seinen großen Hauptwerken Nebenproblerne wie das Problem der Kulturbedeutung des Calvinismus in der Wirtschaftsethik der Weltreligion abspaltete und damit den Blick in neue geistige Welten öffnete, der, durch schweres Nervenleiden furchtbar gehemmt, trotzdem mehr geschaffen und angeregt hat als zehn gesunde, immer noch gescheite Leute?" Das fragt sich Ernst Troeltsch, sein großer Heidelberger Freund, im "Nachruf", den er für die Frankfurter Zeitung vom 20. Juni 1920 verfaßte, der dann mit einigen Veränderungen in E. Troeltsch: Deutscher Geist und Westeuropa, hg. von H. Baron, Tübingen 1925, veröffentlicht wurde und erneut abgedruckt ist in: Max Weber zum Gedächtnis. Materialien und Dokumente zur Bewertung von Werk und Persönlichkeit, hg. von R. König/J. Winckelmann, Köln/Opladen 1963 (K ölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft 7), S. 45. Nicht weniger vielfältig ist unter diesem Gesichtspunkt auch das Urteil Helmuth Plessners, der in einem Beitrag des oben zitierten Bandes über Weber zusammenfassend schreibt, daß er "ein Schüler Mommsens, Historiker, Jurist und Nationalökonom in einer Person war, im Verein für Sozialpolitik Kämpfe für eine wertfreie Analyse sozialer Wirklichkeit entfesselt hatte, an einer vergleichenden Wirtschaftsethik der Weltreligionen arbeitete und ein gefürchteter Polemiker war, dem Gerechtigkeit über alles ging" (S. 311.).

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Fangen wir bei diesem letzten Punkt an und greifen wir den Faden der Darlegung von vorhin über die Einheitlichkeit von Webers Leistung in ihrer Gesamtheit wieder auf. Es würde nämlich Schwierigkeiten bereiten, abstrakt festzulegen, welcher der vielen möglichen Weber vornehmlich der Rechtproblematik zuzuordnen ist, weil es nämlich überaus schwierig wäre, einen der abstrakt ausgeschiedenen Weber beiseite zu lassen. Jedenfalls nicht den Methodologen Weber, der beim Recht und den Juristen nicht nur in Sachen Kausalität und Sinn der Normen 3, sondern auch für den Kern seiner Neuerung, den Idealtyp, in der Schuld steht. Auch nicht den Weber von Wirtschaft und Kapitalismus, wenn es zutrifft, daß er noch auf juristischem Gebiet und noch durch Jellinek die Wichtigkeit der Durchsetzung der Menschenrechte (als wesentliche Voraussetzung für den modernen produktiven und rationalen Menschen) durch die ersten nach Amerika ausgewanderten protestantischen Gruppen erkannt hat 4 • Nicht den Weber der Religion, wenn die von ihm selbst bekannte Schuld gegenüber Sohm im Hinblick auf den Charisma-Begriff besteht 5• Nicht, allgemein, den Weber von "Wirtschaft und Gesellschaft", worin ständig auf das Recht Bezug genommen wird als Folge seiner spezifisch juristischen Ausbildung und des ständigen gesellschaftlichen Kontaktes, den er - vor allem im intensiven Universitätsleben in Heidelberg - mit den größten Juristen seiner Zeit unterhielt. Diese Aufzählung könnte, so scheint mir, je nach der Phantasie, mit der man Webers Werk unterteilt, fortgeführt werden. Damit würde man zur Hypothese gelangen, daß der "gesamte" Weber mit dem Recht zu tun hat, sowie zur nächsten Hypothese, daß es das Recht selber ist, welches sein Werk zusammenhält und ihm für eine Fachgrenzen übersteigende Auswertung gleichzeitig die einheitliche Grundlage gibt. Wenngleich diese an sich banale Hypothese nicht zu widerlegen sein wird (welcher Weg zur Rationalität des gesellschaftlichen HandeIns wäre geradliniger als das Recht?), weise ich sofort darauf hin, daß das Untersuchungsziel, das ich mir gestellt habe, nicht hierin besteht, und ich kehre zu dem sehr viel bescheideneren Vorhaben zurück festzustellen, ob es wenigstens auf der Ebene der Sachfragen einen kürzeren Weg gibt, um das Verhältnis zwischen Weber und der deutschen Rechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts zu umreißen. Hier wird die Auswahl, die ich zu treffen habe, notwendig eine heuristische sein müssen. Sie muß sich als nützlich erweisen, beispielhaft ein größeres Problemfeld abzudecken. 3 Treffend meines Erachtens die Beurteilung durch Salvatore Veca in seinem Beitrag auf dem Römer Weber-Symposium, jetzt unter dem Titel: 11 metodo e le condizioni dell'oggettivita, in: Max Weber e I'analisi dei mondo moderno, a cura di P. Rossi, Torino 1981. , Vgl. über die letztgenannten Aspekte die späteren Passagen des Textes. 5 M. Weber: Wirtschaft und Gesellschaft, Bd. 11, Tübingen 1980, "Die Typen der Herrschaft", S. 122 ff.

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Vielleicht kann aber auch eine angemessene Bestimmung der "deutschen Rechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts" den einen oder anderen Hinweis liefern. Auch die Definition dieses Bestandteils meines Themas hat (wie jene, "welcher" Weber gemeint ist) ihre Schwierigkeiten. Auf jeden Fall ist aber das Recht am Ende des 19. Jahrhunderts (nicht nur in Deutschland, doch vor allem dort) jene Disziplin, in der sich das Denken im Bereich des Gesellschaftlichen und des Politischen am meisten formalisiert hat 6• Dies zeigt sich auch in der für das Denken und die Praxis des Liberalismus im 19. Jahrhundert so typischen Gründung einer einheitlichen politischen oder Staatswissenschaft, die die alten Pfründen- und Wohlfahrtsideologien des preußischen Absolutismus und die primitiven naiv verworrenen theoretisch-systematischen Ansätze der Kameralistik und der Polizeiwissenschaft ersetzen sollte. Es sei schließlich nur auf die historisch bedeutsamste Eigenschaft der neuzeitlichen deutschen politischen Erfahrung hingewiesen (deren Grundlage, nicht zu vergessen, lutherisch ist). nämlich die Hervorhebung der vorsorgenden Eigenschaft des politischen Eingriffes 7, für ~lie die Rechtswissenschaft als eine eminent praktische Wissenschaft zuständig war. Vielleicht ist es gerade in dieser Richtung möglich, zu einer ersten und vorläufigen Präzisierung zu gelangen. Im liberalen Zeitalter des Staates und des Rechts konnte das planende und vollziehende Recht nur positives Recht sein, ob es nun dies schon war oder ob es darum ging, es ein solches werden zu lassen. Dadurch wird es leichter, jenen Rechtsbegriff aufzufinden, mit dem Weber in das umfangreiche und oftmals ausufernde juristische Denken eingriff, das sich seit Savigny und Jellinek eine umfassende Betrachtung des Gesellschaftlichen unter juristischem Blickwinkel zur Aufgabe gemacht hatte und dabei bedacht war, jene Bereiche genau anzugeben, wo das Recht auf die grundlegenden Bedürfnisse der Gesellschaft eingehen konnte. Jenseits aller Unterschiede, die sich innerhalb eines Denkens finden lassen, das sich fast über ein Jahrhundert erstreckte, war es sicherlich diese Richtung, von der starke Eindrücke und inhaltliche Beschränkungen auf das Werk Webers ausgingen, die ihm die Bausteine für seine Auffassung des Verhältnisses zwischen Gesellschaft und Staat lieferte. Hier sah er die Möglichkeit einer Überwindung der naturrechtlichen Lösung durch Konstituierung eines für die Schaffung des positiven Rechts notwendigen geschichtlichen Umfeldes 8 • 6 Es genügt an dieser Stelle der kurze Hinweis auf das Buch von M. Fioravanti: Giuristi e costituzione politica nell'ottocento tedesco, Milano 1979. 7 Wenngleich nunmehr lange zurückliegend, unerreicht in diesem Zusammenhang die kurzen, aber detaillierten Analysen von W. Hennis: Zum Problem der deutschen Staatsanschauung, Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 7 (1959), S. 16 ff., und H. Maier: Ältere deutsche Staatslehre und westliche politische Tradition, Tübingen 1966; darüber hinaus die alte, aber noch nicht überholte Arbeit von P. Joachimsen: Zur historischen Psychologie des deutschen Staatsgedankens, in: Die Dioskuren, Jahrbuch für Geisteswissenschaften 1922, S. 106 ff.

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Dieses Anliegen hilft auch den Einfluß verstehen, den jene Tendenz auf Weber ausübte, sowie die zu dieser Zeit sicherlich originelle Haltung, die er gegenüber dem Naturrecht einnahm, sobald einmal, historisch gesehen, nicht nur die Bedingungen geschwunden waren, die eine Distanzierung vom Naturrechtsdenken erforderlich machten, sondern neue entstanden waren, die eine gewisse Distanzierung zur legalen Herrschaft nahelegten, die immer mehr die Wurzeln der Rationalität selbst zu ersticken begann. Rechtsformalismus auf der einen, bürokratische Rechtsanwendung auf der anderen Seite hatten schließlich die Begeisterung erlöschen lassen, mit der jener von Savigny verteidigte Juristenstand (der einen guten Teil des 19. Jahrhunderts hindurch mit dem bürgerlichen Stand allgemein, d. h. mit dem aufgeklärten bürgerlichen Stand identisch gewesen war) den Traum verfolgt hatte, den Staat in seiner höchsten politischen Funktion, der Gesetzgebung, abzulösen. Es ist nicht auszuschließen, daß Weber auf diesen Traum verweisen will, wenn er nachdrücklich den revolutionären und freiheitlichen Charakter des Naturrechts gegenüber dem positiven Recht hervorhebt. Die natürliche und geschichtliche Reife eines Rechtes des Juristenstandes, wie es von Savigny vertreten wurde, hebt sich gegenüber dem positiven Recht staatlichbürokratischen Ursprungs nur unwesentlich vom Naturrecht ab, wenngleich sich die Kritik der Historischen Schule gerade gegen das Naturrecht in seiner geschichtlichen Gestalt des ausgehenden 18. Jahrhunderts (die nicht von ungefähr im Allgemeinen Landrecht kodifiziert wird) gerichtet hatte. Man könnte dieses Recht unserer Untersuchung zugrunde legen und sich damit auf das Studium des berühmten Kapitels aus "Wirtschaft und Gesellschaft" beschränken, das den "formalen Qualitäten des revolutionär geschaffenen Rechts: das Naturrecht und seine Typen" gewidmet ist 9 • Eine derartige Beschränkung wäre richtig, wenn es möglich wäre, innerhalb der Gedankenführung Webers das Recht als klar umrissenen und selbständigen Gegenstand herauszuarbeiten. Das aber ist nicht der Fall. Dies zeigt sich, wenn man von dem Paragraphen, der dem Naturrecht gewidmet ist, zum gesamten siebten Kapitel, das den Titel "Rechtssoziologie" trägt, übergeht. Zum einen erschöpft sich dieses Kapitel nicht in der Betrachtung des Rechts, zum anderen erschöpft die Untersuchung des Rechts nicht die Gesamtheit von Webers Werk. Vor allem aber erweist sich in diesem Kapitel das Interesse am Recht nur als untergeordnet gegenüber der Absicht, das soziale Handeln in seiner Gesamtheit aus seinen geschichtlich-kulturellen Koordinaten und seinen institutionellen Mitteln heraus v~rstehbar zu machen. Auch in der "Rechtssoziologie" gelingt es Weber nicht, das Phänomen Recht aus dem 8 Vgl. den Klassiker F. Wieacker: Privatrechtsgeschichte der Neuzeit unter besonderer Berücksichtigung der deutschen Entwicklung, Göttingen 1952, vor allem den IV. Teil. 9 Teil 7 des Kap. VII aus Wirtschaft und Gesellschaft, S. 496 H.

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Universum abzuheben, in dem sich menschliches Handeln vollzieht. Es ist für ihn kein besonderer Betrachtungsgegenstand, sondern bleibt vermittelter oder vermittelnder Gegenstand zu umfassenderen und komplexeren Gegenständen und Formen des Verstehens. Kelsen hat Weber dahin zitiert, daß "das menschliche Handeln Gegenstand der Rechtssoziologie ist, das der Handelnde an einer Ordnung orientiert hat, weil er diese als geltend anerkennt" 10. Er selbst ist dann gezwungen anzumerken, daß "Webers Definition des Gegenstandes der soziologischen Rechtswissenschaft, nämlich das menschliche Verhalten, das der Handelnde an einer von ihm für geltend gehaltenen Ordnung orientiert, nicht ganz befriedigend" ist. In Wahrheit betrifft das Weber-Zitat nicht die Rechtssoziologie, sondern die Soziologie im allgemeinen. Der Vergleich mit der Rechtswissenschaft fand ganz einfach auf der Ebene der normativen Logik statt, womit gezeigt werden sollte, daß die normative Forschung auf soziologischem Gebiet einer anderen Logik folgt als die Rechtswissenschaft. So verstanden glaube ich, daß Kelsens Ausgangspunkt bis heute gültig geblieben ist, wenn er erklärt, daß der Gegenstand der Rechtssoziologie mit dem der normativen Rechtswissenschaft identisch ist, so daß erstere notwendig "den juristischen Rechtsbegriff, d. h. den Rechtsbegriff, wie er von der normativen Rechtswissenschaft definiert ist", voraussetzt 11. "Dies scheint so Kelsen - die einzig befriedigende Weise zu sein, eine Unterscheidung zwischen Rechtssoziologie und allgemeiner Soziologie zu treffen". Das ist richtig, nur folgt daraus, daß die allgemeine Soziologie und nicht die Rechtssoziologie Webers Soziologie war, auch wenn die in der "Rechtssoziologie" behandelten Themen dem Recht als solchem näherstanden. Bekanntlich ist Gurvitch gegenteiliger Meinung. Er unterstreicht die "Tendenz Webers, die Rechtssoziologie der dogmatisch-konstruktiven Systematik der Jurisprudenz zu unterwerfen. In der Tat ... reduziert Weber jede juristische Soziologie auf das Studium der Wahrscheinlichkeiten oder Chancen des sozialen Verhaltens, nach einem folgerichtigen System von Regeln, das die Juristen für einen bestimmten Gesellschaftstypus ausgearbeitet haben"12. Dieser Tendenz setzt Gurvitch diejenige Ehrlichs (und Haurious) entgegen, die die institutionellen Grundlagen des Rechtslebens erforschen. Dies scheint mir unrichtig. Für Ehrlich (und erst recht für Hauriou) ist Gegenstand der Rechtssoziologie das Rechtsleben; eine einseitig von der Rechtswissenschaft definierte Gesamtheit von Verhaltensweisen. Daß er dann beabsichtigt, dessen institutionelle Grundlagen freizulegen, gehört zu der von ihm gewählten Methode und kann überaus fruchtbare Ergebnisse zeitigen, ändert aber an der Definition des Gegenstandes nichts. Der Unter10 H. Kelsen: Teoria generale deI diritto e dello stato, Milano 1959, S. 181. 11 Ebd. S. 182. 12 G. Gurvitch: Sociologia deI diritto, Milano 1957, S. 179.

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schied zu Weber liegt nur darin, daß Weber (wie gezeigt werden soll) die Methode der Rechtswissenschaft übernimmt, seinen Untersuchungsgegenstand aber unabhängig von ihr und auf jeden Fall allgemeiner definiert. Hierbei wirkt die polemische Antwort klärend, die Weber Ehrlichs Auffassung vom gesatzten Recht als "Gewohnheitsrecht" erteilt; die Existenz des gesatzten Rechts zu leugnen, sei "auf juristischem Gebiet durchaus unbegründet und bedeutet eine Vermischung juristischer und soziologischer Betrachtungsweise"\3. Ferner unterstreicht Weber, bei einer späteren Auseinandersetzung mit Ehrlich, den großen Weg, den das Recht in Richtung auf eine formale Logik zurückgelegt hat. "Die gelegentlichen glänzenden Apercus der römischen Juristen ... wurden aus dem Zusammenhang mit dem konkreten Fall gerissen, wie sie in den Pandekten ohnehin sich vorfanden, zu letzten Rechtsprinzipien gesteigert, aus denen nun deduktiv argumentiert wurde"14. Das ist genau der Bereich des modernen Rechts, nicht aber der Bereich der Rechtssoziologie Webers. Dieser reicht vielmehr meist durch Rückgriff auf rechtshistorische Forschung und Rechtsvergleichung - weit über das auf normativem Gebiet deduktiv Erfahrbare hinaus. Schon Winckelmann hat unterstrichen, daß im Werk Webers "das Recht weder als bloße ,Funktion' der wirtschaftlichen Verhältnisse, noch das Rechtsdenken lediglich als Ideologie, gar die Rechtssoziologie als bloße Ideologiekritik betrachtet" werden kann 15. Dennoch glaubt er am Ende doch, das Phänomen Recht gewinne bei Weber, obschon es sich nicht um ein aus sich selbst versteh bares Phänomen handle und deshalb der Hinweise bedürfe auf alle anderen Ebenen des sozialen Handeins (Gesellschaft, Religion, Wirtschaft, Herrschaft), eine ihm eigene Autonomie und werde Gegenstand einer gesonderten Betrachtung. Gleichwohl ist der Rechtsbegriff, den er entwickeln muß, um Webers Rechts-"Soziologie" zu begründen, so weit gefaßt, daß er seine Besonderheit verliert. Er wird damit erneut den großen Themen (oder besser vielleicht: den großen Typen) der allgemeinen Soziologie Weber überantwortet, nämlich einer empirisch als legitim geltenden Ordnung auf der einen Seite, einer äußeren Zwangsgarantie auf der anderen. Damit werden mit einem Schlag die Fragestellungen institutioneller und ideologischer Art wiedergewonnen, innerhalb derer Weber seine Makroanalyse der Gesellschaft zu betreiben pflegt. Es entfällt somit die Unterscheidung zwischen Dogmatik und Soziologie, auf die sich jede positive Begründung der Rechtssoziologie reduziert. Diese Unterscheidung ist im übrigen auf die Interessen und Bedürfnisse des Juristen (oder des Rechtssoziologen juristischer Herkunft) zugeschneidert, 13

N 5, S. 441.

Ebd. S. 492. 15 So die Einleitung zu M. Weber: Rechtssoziologie, hg. von J. Winckelmann, Neuwied 1960, S. 17 f. I~

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indem sie sich darauf beschränkt, den einen Pol einer Antithese (den juristischen eben) zu definieren und dem anderen das Herausfallende zuzuschreiben. Daß Max Weber für eine solche Unterscheidung nicht in Anspruch genommen werden kann, beweist sein ganzes Leben als Gelehrter und mehr noch seine Ausbildung, die mit dem Recht unter verschiedenen Blickwinkeln zu tun hatte, welche aber alle an der Konstruktion seines Begriffsgebäudes (oder wenn man will: seines typologischen Gebäudes) Anteil hatten. Diese Blickwinkel machen klar, daß Webers Leistung über die Konstituierung einer "Rechtssoziologie" hinausging in Richtung auf eine Soziologie "durch" das Recht, da das Recht für ihn nur eine (geschichtliche) Variable in einem größeren und allgemeineren Universum ist, das in seiner Komplexität erfaßt sein will. Eine erste indirekte Bestätigung dafür kann man auf mehr biographischer Ebene in dem Einfluß finden, den Weber von seinen juristischen Lehrern erfuhr, die sich als zahlreicher und bedeutsamer erweisen als alle anderen. Wir sind in diesem Zusammenhang Winckelmann zu Dank verpflichtet, der in einem Frankfurter Antiquariatskatalog die tatsächliche Dissertation Webers entdeckte, die er an der juristischen Fakultät der Universität Berlin im Jahre 1899 verteidigte. Es handelt sich nicht um die berühmte "Geschichte der Handelsgesellschaften im Mittelalter. Nach südeuropäischen Quellen", sondern nur um einen Teil davon, der - wir würden heute sagen: in provisorischer Ausgabe - mit Genehmigung der Fakultät unter der Überschrift "Entwicklung des Solidarhaftprinzips und des Sondervermögens der offenen Handelsgesellschaft aus den Haushalts- und Gewerbegemeinschaften in den italienischen Städten" erschien. Dieser Dissertation ist ein von Weber selbst verfaßter Lebenslauf beigefügt, dem man unmittelbar die Interessen entnehmen kann, die er in den Jahren seiner Universitätsausbildung verfolgte!6. Der Einfachheit halber werde ich mich an die Aufstellung halten, die Weber selbst entworfen hat!? Er nennt zuerst seine Professoren aus Heidelberg. 16 J. Winckelmann: Max Webers Dissertation, in: Max Weber zum Gedächtnis (N 2), S. 10 ff. (im Anhang der Lebenslauf von Webers eigener Hand). 17 Die von mir durchgeführte Untersuchung ist derzeit noch völlig oberflächlich, wenngleich das Thema vertieftere Aufmerksamkeit verdienen würde. Ich habe lediglich auf das große Handbuch R. Stintzing/E. Landsberg: Geschichte der deutschen Rechtswissenschaft, München/Berlin 1910, Neudruck 1957, zurückgegriffen, das einen Großteil der Informationen über die von Weber zitierten Autoren geliefert hat. Selbstverständlich sind ebenfalls konsultiert worden die Allgemeine Deutsche Biographie und, soweit als möglich, die Neue Allgemeine Deutsche Biographie. Auf dringendes Anraten von Herrn Prof. Lepore habe ich ausgiebigen Gebrauch von den "Jugendbriefen" Max Webers gemacht, in der Ausgabe von Marianne Weber. Ich konnte natürlich nicht alle mir wichtigen Einzelheiten hier anführen. Ich bin nämlich, wie viele andere auch, der Meinung, daß nur eine wirUich vertiefte Untersuchung der Ausbildungsjahre Webers (auch was die lange Entwicklung seines wissenschaftli-

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Ernst Immanuel Bekker war Ordinarius für römisches Recht auf jenem Lehrstuhl, den schon Vangerow und für kurze Zeit Windscheid innegehabt haUen. Bekker war praktisch der letzte der großen Pandektisten aus Heidelberg, einer der großen Bewunderer von Savignys "System". Auf geschichtlicher Grundlage publizierte er sowohl im Zivilrecht (Kredit- und Obligationenrecht) wie im Strafrecht Bedeutendes, wobei er dem Materialismus und Determinismus, wie er sich in den positivistischen Schulen durchzusetzen begann, stets ablehnend gegenüberstand. Auch OUo Karlowa war ein Jurist mit vorwiegend geschichtlicher Ausrichtung, wenngleich sein Interesse besonders den dogmatischen Aspekten des positiven Rechts galt. Hier gilt es, an sein großes Werk einer Geschichte des römischen Rechts zu erinnern, das den ersten Versuch darstellte, dieses Gebiet mit dem gebotenen Abstand wissenschaftlich zu erfassen. Mit Blick auf Weber sollte vielleicht die Absicht Kar!owas unterstrichen werden, die geschichtliche Entwicklung gemäß einer Lehre zu schildern, die Waitz und Mommsen über die Interdependenz von öffentlichem Recht und Privatrecht entwickelt hatten. Kar! Friedrich Rudolf Heinz war - von der Universität Leipzig kommend - in Heidelberg von 1873 bis 1896 auf dem Gebiet des Straf- und des Strafvollzugsrechts tätig. Hermann Johann Friedrich Schulze, der in Heidelberg von 1878 bis 1888 Staatsrecht lehrte, interessierte sich vor allem für die wirtschaftlichen Aspekte der Staatstätigkeit im Gefolge der Lehre von Gneist über die Verwaltung. In seinem kleinen Werk von 1871 taucht zum ersten Mal die dann so wichtig gewordene Unterscheidung zwischen formalem und materialem Gesetzesbegriff auf. Der Philosoph Kuno Fischer gehörte zu denjenigen, die die deutsche Philosophie durch starken Bezug auf die Philosophiegeschichte von der Vormundschaft Hegels befreiten. Mit Blick auf Weber sei daran erinnert, daß er den aufkommenden NeuKantianismus förderte. Knies war zusammen mit Roscher und Hildebrand der Hauptvertreter der Historischen Schule der Ökonomie. Über ihn schrieb Roscher, daß er "als erster die historische Methode unserer Wissenschaft auf reichhaltiger und durch treffende Beispiele abgestützter methodologischer Ebene entwickelte". Als Droysen-Schüler und ausgezeichneter Kenner Italiens (er lehrte auch in Venedig) beschäftigte sich Bernhard Erdmannsdörfer aktiv mit den Handelsbeziehungen zwischen Deutschland und Italien im Mittelalter, bevor er sich Fragen der neuzeitlichen Geschichte zuwandte und die Nachfolge Treitschkes auf dem Heidelberger Lehrstuhl antrat. Eindeutig chen "outillage" und die Ablagerungen seiner Neurosen betrifft) uns den Schlüssel für den Schrein seiner Erkenntnisschätze liefern kann. Der in keiner Weise philologische Charakter der nachstehenden Bemerkungen im Text enthebt mich der Pflicht, weitere Einzelheiten über die zitierten Autoren· beizubringen, über die ich andererseits - in Ermangelung einer unmittelbaren Nachforschung - nur Nachrichten aus zweiter Hand anführen könnte. Ich belasse es deshalb bei den hier gemachten Literaturhinweisen.

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"staatspolitisch" orientiert (sein Hauptwerk behandelt die Geschichte Preußens vom Westfälischen Frieden bis zur Thronbesteigung Friedrich des Großen), kann sein Werk mit Srbik als "staatsgebundene Kulturgeschichte" bezeichnet werden. In Straßburg waren die Begegnungsmöglichkeiten Webers vielleicht nicht so zahlreich, aber für seine Ausbildung nicht weniger bedeutsam. Von Rudolf Sohm braucht man nur seine überragende Stellung als Romanisten und Germanisten hervorzuheben, im Schnittpunkt also der beiden großen Richtungen der Historischen Schule. Im Hinblick auf Weber soll hier der lapidare Anfangssatz seines Beitrages in der "Savigny Zeitschrift" von 1880 zitiert werden ("Fränkisches und römisches Recht. Prolegomena zu einer Geschichte des deutschen Rechts"): "Für die universale Rechtsgeschichte, d. h. für die Rechtsgeschichte der abendländischen Kulturwelt, sind nur das römische Recht (mit seiner Weiterentwicklung im kanonischen und lombardischen Recht) und das fränkische Recht heranzuziehen". Sohm war auch ein großer KirchenrechtIer und vor allem Historiker des Kirchenrechts. Besonders auf diesem Weg übte er erheblichen Einfluß auf Weber aus. earl August Ludwig Hermann Baumgarten, Schüler Dunckers, Dahlmanns und vor allem von Gervinus, erscheint mir für Weber wegen zweier Dinge wichtig. Zum ersten verfaßte er eine große Geschichte Spaniens von der französischen Revolution bis in die Zeitgeschichte, die schon damals (man denke bloß an Steins Schriften über Frankreich) stark soziologische Aspekte berücksichtigen mußte. Zum zweiten war er ein politisches Temperament ersten Ranges. Er durchlebte die gesamte Bandbreite des deutschen Liberalen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, bis er in einem berühmten Buch von 1867 (Der deutsche Liberalismus: eine Selbstkritik) den doktrinären liberalismus scharf angriff und das spätere national-liberale Parteiprogramm entwickelte, wobei er jedoch seine Enttäuschung über das Los nicht verbarg, das seiner Meinung nach auf den Liberalismus wartete 18 • Natürlich begegnete Weber den berühmtesten und vielleicht auch den für seine berufliche Ausbildung entscheidendsten Lehrern in Berlin. Georg Beseler war ein großer Germanist, der auch an der politischen Bewegung des Jahres 48 teilnahm und zusammen mit Dahlmann, Waitz und Droysen Parteigänger der Mitte-Rechts-Richtung war, bei der Kasino-Bewegung und der sog. Professorenpartei mitwirkte. Seine Berufung nach Berlin im Jahre 1860 wurde als Zeichen der "Neuen Ära" gewertet. Sein großes und fortwäh18 Baumgarten war ein Onkel Max Webers (Gatte der Schwester der Mutter) und hatte auf den jungen Studenten großen direkten und indirekten Einfluß, wie aus den "Jugendbriefen" zu entnehmen ist. Zu seiner politischen Gestalt vgl. jetzt I. Cervelli: Realismo politico e liberalismo moderato in Prussia negli anni dei decollo, in: 11 Liberalismo in Italia e in Germania dalla Rivoluzione dei 48 alla Prima guerra mondiale, Bologna 1980, S. 77-290.

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ren des politisches Engagement beleuchtet auch seine wissenschaftliche Rolle als Gegner Savignys, denn sie kann als Leitmotiv seiner juristischen Leistung gelten. Heinrich Brunner ist lange, auch das 19. Jahrhundert hindurch, als Hauptvertreter der deutschen Rechtsgeschichte angesehen worden, vor allem dank seines meisterhaften Gebrauches der Quellen. Er wird in seiner wissenschaftlichen Bedeutung mit Sohm verglichen, von dem bereits die Rede war. Brunner hatte besondere Interessen auf dem Gebiete der Handelsrechtsgeschichte, besonders bezüglich der Wertpapiere im Mittelalter. Gneist spielte eine große Rolle bei der Entwicklung des Verwaltungsrechts und der Verwaltungsgeschichte. Aufbauend auf dem Beispiel Englands hat er den Begriff des Rechtsstaates entwickelt und die Probleme der Selbstverwaltung studiert 19 • Auch Ludwig Karl James Aegidi war Schüler und Mitarbeiter von Gervinus. Von anfänglich radikalen Positionen entwickelte er in reiferem Alter konservative Auffassungen. Von 1877 an war er Professor für Völkerrecht, Staats- und Kirchenrecht in Berlin. Heinrich Dernburg war Professor für römisches und preußisches Recht von 1873 bis 1907. Vor allem auf dem Gebiet des preußischen Rechts erlangte er Bedeutung dank seiner Methode, das Recht nicht als eine Summe toter Gerichtsentscheide, sondern als ein lebendiges und immerwährendes Spiel verschiedener Komponenten zu betrachten. Dem "Herrn Geheimen Justizrat Professor Dr. Goldschmidt" ist Webers Dissertation über die "Handelsgesellschaften im Mittelalter" gewidmet, die inhaltlich nichts anderes als das erweiterte und vertiefte Ergebnis eines Seminars ist, das Weber bei ihm besuchte. Weber macht im Vorwort darauf aufmerksam, daß er nur "veröffentlichtes Material" gebraucht habe und auch davon nur, was in den Bibliotheken Berlins erhältlich oder im Privatbesitz des Herrn Geheimrat Goldschmidt befindlich gewesen sei. Levin Goldschmidt hat als der eigentliche Begründer des Faches Handelsrecht in Deutschland zu gelten, sowohl der Dogmatik des geltenden Rechts als auch der Begründung durch historische Untersuchungen der wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen, unter denen sich das Wirtschaftsleben seit dem Mittelalter, sowohl auf deutschem Boden als auch in den Gebieten romanistischer Tradition, entwickelt hatte. Goldschmidts Fähigkeit, der Dogmatik eines neues juristischen Faches eine historische Grundlage zu geben, ist auch auf seine Herkunft als Romanist zurückzuführen. So zerstörte er die Legende, das römische Recht habe kein Handelsrecht gekannt, und betonte nachdrücklich - in Übereinstimmung mit Theodor Mommsen -, daß vor allem das Obligationenrecht sich "in besonderem Zusammenhang mit dem internationalen Handelsverkehr und 19 Die Rolle Rudolf Gneists und Lorenz v. Steins für Webers Interesse an der Verwaltung ist noch nicht ermittelt worden. Sicherlich sind dies die Jahre, in denen das Verwaltungsrecht innerhalb der Rechtswissenschaft dogmatisch selbständig wird. Auch dies sollte bei der besonderen Aufmerksamkeit, die Weber der Verwaltung und der Bürokratie widmete, beachtet werden.

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auf der Grundlage seiner Bedürfnisse" entwickelt hatte. Sodann hatte es sich nach Goldschmidt im Mittelalter "dank der genialen Schöpfungskraft des europäischen, vor allem italienischen Handelsstandes" durchsetzen und längs der Haupthandelswege nach Norddeutschland gelangen können, wo es weiterentwickelt wurde. Die Wichtigkeit der historischen Untersuchungen Goldschmidts wird von seiner letzten Arbeit unterstrichen (die übrigens über den ersten Band, erschienen 1891, nicht hinauskam): eine" Universalgeschichte des Handelsrechts". Von Viktor Anton Herbert Pernice, berühmter Romanist und großer Philologe, genügt es, seine eigene Einschätzung wiederzugeben, daß er lieber "den Zusammenhang des Ganzen als die Entwicklung jedes einzelnen Instituts zu erkennen" suche. Adolph Wagner, bei dem Weber Staatswissenschaft hörte, ist der berühmte Ökonom, bekannt als Kathedersozialist und Mitbegründer des "Vereins für Sozialpolitik". Meitzen 20 war hingegen ein Ökonom, der sich vorwiegend mit preußischen Agrarfragen beschäftigte. Aus Göttingen erinnert sich Weber schließlich an Richard Wilhelm Dove, Schüler des protestantischen Kirchenrechtlers Otto Mejer, Kar! Ludwig von Bar, Spezialist im Hypothekenrecht, und Ferdinand Frensdorff, Jurist und Historiker, ein Schüler von Waitz und wie dieser dem germanistischen Flügel der Historischen Rechtsschule zuzuordnen; darüber hinaus an Ferdinand Regelsberger, ein Zivilrechtler und ebenfalls Experte im Hypothekenrecht, sowie Richard Schröder, Handelsrechtler, aber auch Historiker, Schüler Beselers und Waitzens. Das Bild, das sich ergibt, ist weniger wirr, als es sich auf den ersten Augenblick ansehen mag. Zuerst einmal kann man nicht umhin, die einheitliche, kaum eklektische Ausrichtung in der Ausbildung Webers zu unterstreichen: Konzessionen an spekulative Fächer z. B. sind überaus selten und, wie es scheint, unbedeutend. Dagegen scheint zweitens eine Ausbildung zur dogmatischen Konstruktion auf historischer Grundlage vorzuherrschen. Unterhalb dieser Grundsatzentscheidungen ist es nicht schwer, Webers Hauptinteresse für die lebendigen, aktiven Aspekte des Rechts festzustellen: des Handelsrechts vor allem, das sich zu jener Zeit herauszubilden begann und dessen alte Geschichte zu rekonstruieren war; des Straf- und Strafvollzugsrechts 21 , das auch anhand der politischen Wirkungen unter20 Zu Meitzen gilt es, aus der Fülle der Informationen, die Paul Honigsheims Erinnerungen an Max Weber: Max Weber in Heidelberg, in: Max Weber zum Gedächtnis (N 2), S. 166 ff. enthalten, folgenden Ausspruch zu zitieren, den Honigsheim Weber unmittelbar zuschreibt und sogar in Anführungszeichen setzt: "Man macht mich immer zum Schmoller-Schüler; ich bin es doch gar nicht, meine Lehrer waren andere, zum Beispiel Meitzen." 21 Über das Interesse Webers am Strafrecht auch während seines Aufenthaltes als Dozent in Heidelberg referiert P. Honigsheim, ebd. S. 233, und unterstreicht die Bedeutung Gustav Radbruchs, dessen auch persönliche Ausstrahlung Weber beein-

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sucht wurde, die das Nebeneinander regionaler Gesetzgebungen und einer entstehenden nationalen Gesetzgebung ausübte. Was die ideologische Orientierung betrifft, scheinen ganz entschieden die liberalen Lehrer zu überwiegen, die alle mehr oder weniger die Evolution zu Positionen der Ernüchterung oder des Abstandes nachvollzogen, die der deutsche Liberalismus der zweiten Jahrhunderthälfte durchmachte, wenn nicht zu offenem Konservatismus. Aber das war vielleicht nicht unbedingt eine Entscheidung Webers, wenn es zutrifft, daß dies am Ende des 19. Jahrhunderts die für den Stand "bürgerlicher" Intellektueller übliche Haltung war, jener Gelehrten des Staates und der Gesellschaft, auf den sich der berühmte, von Savigny theoretisierte "Juristenstand" beschränkt hatte 22 • Es muß auch nicht eine Entscheidung Webers gewesen sein, bei Lehrern zu hören, die alle auf seiten der Historischen Rechtsschule standen, bei deutlicher Bevorzugung der germanistischen Richtung. Wie aus einer kürzlich vorgenommenen überzeugenden Rekonstruktion des Problems hervorgeht, fielen die Ausbildungsjahre Webers in die Zeit der weitreichendsten Verbreitung jener Methodenrichtung, aber zugleich auch in die Zeit ihrer zunehmenden Verflachung. Nach dem Höhepunkt Gerbers, der die Anliegen der Rechtsdogmatik mit den geschichtlichen Bedürfnissen einer Konstitutierung des "Öffentlichen" innerhalb der staatlichen Organisation hatte verbinden können, schuf die nachlassende Wirkungskraft der Rechtsidee (die Weber selbst, wie oben gezeigt, durch Rückgriff auf das Naturrecht als revolutionäres Recht aufdeckte), eine Situation der Unsicherheit, die sich in der technischen Unfähigkeit zeigte, das Recht in das Gegensatzpaar Staat Gesellschaft einzufügen 23 • Das Schicksal der Rechtswissenschaft als Spezialfach und seine Ersetzung durch eine umfassende Gesellschaftswissenschaft waren die beiden Hauptfragen, denen sich Ende des 19. Jahrhunderts jeder Gelehrte gegenübersah, der sich von liberalem Gedankengut beeinflussen ließ, vielleicht eine juristische Ausbildung genossen hatte und auf dieser Grundlage versuchte, das in dem Gegensatzpaar Staat - Gesellschaft zusammengefaßte Organisationssystem gedanklich zu bewältigen. druckt hat. Über den wissenschaftlichen Einfluß vgl. nochmals S. Veca: 11 metodo e le condizioni dell'oggettivita (N 3). 22 Mir scheint die Sorgfalt interessant, mit der Weber, ohne Vorbild, die Entstehung und Entwicklung des ersten Juristenstandes in Italien, der Notare, verfolgt (vgl. vor allem die kurzen Bemerkungen im Kap. VII von WuG). Dies ist um so interessanter, als das Thema der Begründung einer modernen Rechtswissenschaft, vom alten römischen Recht angefangen, von Weber mit der Wirtschafts- und "Struktur"Geschichte des Okzidents in Zusammenhang gebracht wurde: seit seiner zu Unrecht vergessenen Dissertation: Zur Geschichte der Handelsgesellschaften im Mittelalter. Nach südeuropäischen Quellen, Stuttgart 1889, Neudruck Amsterdam 1964. 23 Vgl. allgemein M. Fioravanti (N 6), dessen Grundgedanken im wesentlichen zutreffen. 11·

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Weber reagierte auf dieses Umfeld in der uns bekannten Weise. Er verließ entschlossen den Bezirk des Rechts und suchte nach neuen Grenzen auf anderen Gebieten 24 . Indem er dies tat, stieß er an eine Nahtstelle der jüngeren Geschichte der Sozialwissenschaften. Er erlebte einen jener äußerst seltenen Augenblicke, wo ohne Kontinuität auf der allgemeinen ideologischen Ebene die wissenschaftliche Verarbeitung von Ideologie durch akrobatische Übersetzungen ganzer Wissensarsenale von einem Fachbereich in den anderen aufbricht. Zur Verdeutlichung will ich anmerken, daß nach Weber (wenngleich sicherlich nicht nur durch Weber) das Schicksal des öffentlichen Rechts sich entschied durch den eindeutigen Bruch zwischen dem formalistischen, ganz inneren, normativen Ansatz Kelsens und dem substantiven, ganz äußeren, dezisionistischen Ansatz Schmitts, einen Bruch, der nur teilweise durch die Kompromißlösung des französischen und italienischen Institutionalismus gekittet wurde. Dies war jedoch eine dem Denken Webers völlig fremde Alternative. Er setzte sich andere Aufgaben, wie aus seiner Definition von "Verfassung" hervorgeht: "Der hier gebrauchte ,Verfassungs'-Begriff ist der auch von Lassalle verwendete. Mit der ,geschriebenen' Verfassung, überhaupt mit der Verfassung im juristischen Sinn, ist er nicht identisch. Die soziologische Frage ist lediglich die: wann, für welche Gegenstände und innerhalb welcher Grenzen fügen sich dem Leiter die Verbandsbeteiligten und steht ihm der Verwaltungsstab und das Verbandshandeln zu Gebote, wenn er ,Anordnungen trifft', insbesondere Ordnungen oktroyiert"25. Es geht demnach darum, die geschichtlichen Erscheinungsweisen der beiden grundlegenden Strukturen der Legitimation und der Verwaltung innerhalb jenes Dreiecks festzuhalten, das den Herrschaftsträger, seinen technischen Stab und die Bevölkerung als Empfänger der Herrschaftsausübung untereinander verbindet 26 . Ich möchte es vermeiden, daß der nunmehr eingeschlagene Weg zu der Schlußfolgerung führt, der harte Kern von Webers Soziologie sei die Thematik der Herrschaft 27 . Dennoch büßt das Recht sicherlich in seinem Span24 "Wir haben in Max Weber den Wissenschaftler bewundert, der, den Boden der Rechtswissenschaft und der Volkswirtschaftslehre verlassend, immer weiter ausholte, die Religionswissenschaft, die Ethik sich wissenschaftlich eroberte, um von hier aus die Wissenschaft von den gesellschaftlichen Daseinsbedingungen der Menschen aufzubauen": K. Rothenbücher: Gedenkworte bei Max Webers Bestattung am 17. Juni 1920, in: Max Weber zum Gedächtnis (N 2j, S. 38. 25 WuG (N 5), S. 25 ("Soziologische Grundbegriffe"j. 26 Vgl. G. RothlW. Schluchter: Max Webers Vision of History. Ethics and Methods, Berkeley /Los Angeles/London 1979, S. 129 f. 27 Vgl. jedoch Roth in R. Bendix/G. Roth: Scholarship and Partisanship: Essays on Max Weber, Berkeley 1971, S. 264, wonach Weber am Ende die Gesellschaftstheorie des Staates Jellineks in eine Herrschaftssoziologie umwandelte. Diese Behauptung

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nungsverhältnis zur Herrschaft die Eigenschaft einer reinen Technik ein und gewinnt jene Vorrangstellung, die es im Denken Webers einnimmt. Die gesamte Rechtssoziologie Webers durchzieht das Anliegen, eine deterministische Beziehung zwischen Wirtschaft und Recht zu widerlegen. Die Rechtsentwicklung wird einerseits auf interne technisch-juristische Bedürfnisse, andererseits auf Motivationen politischen Ursprungs zurückgeführt. Was kann das bedeuten? Vielleicht die bewußte Hervorhebung, daß die Untersuchung sozialen Handeins für Weber von einer Art vergleichender Verfassungstheorie ausgeht, worin verschiedene Elemente (vor allem das Recht) zusammenwirken, um die Chancen individuellen Verhaltens zu bestimmen 28 • Hierin wurzelt Webers Typologie als begriffliche Ordnung eines vielschichtigen und widersprüchlichen Stoffes, der nur auf diese Weise, jedoch andernorts, kausaler Erklärung zugänglich gemacht werden kann. Wenn dies Webers eigene Deutung der Beziehungen zwischen seiner Soziologie und der Geschichtsschreibung ist, so steht der Schlußfolgerung nichts im Wege, daß derselbe Beziehungstypus auch gegenüber anderen Fachwissenschaften gilt, zu denen die Soziologie Stellung nimmt 29 • Unter diesen befindet sich vielleicht auch die deutsche Rechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts. Ihr gegenüber stand Weber in der Tat an einem Wendepunkt, der von einer Ernüchterung gegenüber evolutionistischen Ansichten gekennzeichnet ist, die vergangene Generationen gehegt hatten. Da jedes deterministische Schema einer evolutionistischen Entwicklung (wie es mehr oder weniger allen Branchen der Historischen Schule zugrundelag) entfiel, "schien die einzige Alternative in der Erstellung von Begriffstypen oder sozio-historischen Modellen und von säkularen Theorien der geschichtlichen Langzeitveränderung zu bestehen"30. wird allerdings durch den Hinweis auf Jakob Burckhardt als mögliche wichtige Quelle von Webers Ausrichtung sofort stark abgeschwächt. 28 R. Bendix/G. Roth ebd. S. 260: "The theoretical point of departure for the political typologies of Economy and Society was comparative constitutional theory. Weber openly acknowledged his indebtness to Georg Jellinek's coinage of the concept of the ,social theory of the State', clarifying the blurred tasks of sociology" (ebenso G. Roth/M. Schluchter, N 26, S. 199). Hierzu muß man auch Weber und Hintze vergleichen (N 1), vor allem die von letzterem durchgeführten historischen und soziologischen Studien (dazu meine Einleitung zu O. Hintze: Stato e societa, Bologna 1980). 29 Diesen Aspekt betont auch R. Bendix: Max Weber Das Werk. Darstellung, Analyse, Ergebnisse, München 1964 (Übers. von Max Weber. An Intellectual Portrait, New York 1960), in der "Einleitung zur deutschen Ausgabe", wobei er den berühmten Brief Webers an Below zitiert, den letzterer dann im Anhang zum Vorwort der 2. Auflage seines Werkes "Der deutsche Staat des Mittelalters. Ein Grundriß der deutschen Verfassungsgeschichte" (Leipzig 1925) veröffentlichte. Die Worte Bendix' lauten: "Nur ist die Funktion der rationalen Bearbeitung des Materials in Webers Fall nicht die kausale Erklärung der Phänomene, die seiner Meinung nach eine Aufgabe der Geschichtswissenschaft ist, sondern eine begriffliche Ordnung und Klärung des Stolles, die dann für die kausale Erklärung das nötige Rüstzeug liefert" (So 15).

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Man müßte also Webers Typologie durchgehen und die juristischen Grundmuster ausfindig machen um festzustellen, inwieweit Webers Kehrtwende des Rechts gelungen ist oder nicht. Eine riesige Aufgabe, die den Weberforschern überlassen bleiben muß. Ich hingegen möchte mich darauf beschränken, den einen oder anderen Hinweis auf die Richtigkeit jener Spur zu geben. Es genügt, Jellinek heranzuziehen, den großen Freund Webers, einen der "drei Sterne von Heidelberg" (der dritte war Troeltsch), um auf die einfachste Weise eine Bestätigung zu erhalten 3 !. Es genüg~, Weber wörtlich zu zitieren, der beinahe bürokratisch aufzählt, was er Jellinek schuldet: "Die Unterscheidung zwischen naturalistischem und dogmatischem Denken im ,System der subjektiven öffentlichen Rechte' für die methodologischen Probleme; die Prägung des Begriffs ,Soziallehre des Staates' für die Erklärung der widersprüchlichen Aufgaben der Soziologie; den Rückgriff auf die religiösen Einflüsse auf die Genese der ,Menschenrechte' für die Untersuchung der Einwirkung des Religiösen selbst auf Gebieten, wo man es für gewöhnlich nicht sucht"32. Abgesehen von JeIlinek denke man an die von Weber selbst bekannte Schuld gegenüber Rudolf Sohms Untersuchungen zur charismatischen Herrschaft und allgemein zur Organisation der christlichen Urkirche 33 • Dies dient auch als Beleg, wie erfolgreich Weber oft religiöse Begriffe wie im Falle des Begriffs "Gemeinschaft" auf rein politisches Gebiet überführt 34 • Man denke auch an den Begriff "Betrieb", der natürlich aus dem 30 So G. RothlW. Schluchter (N 26). S. 195. In diesem Zusammenhang kann man sicherlich einem weiteren Urteil Roths (ebd. S. 121) zustimmen: für Weber "sociology in this sense was part of the ,methodology' of history, basically a comparative and typological procedure, a logical precondition for causa I analysis". Wiederum sei auf Hintze hingewiesen (P.Schiera: OUo Hintze, Napoli 1974, und die dort angeführte Literatur). Das gilt um so mehr, wenn man unterstreicht, wie Roth es tut, daß Weber sich auf die "volle Kulturerkenntnis" bezieht, die dem modernen deutschen "sozialen" Denken jener Jahre gemeinsam ist, wie aus dem (vor allem auf die Geschichtsschreibung abhebenden) Aufsatz von G. Östreich: Die Ursprünge der Sozialgeschichte in Deutschland, übersetzt im Jahrbuch des italienisch-deutschen historischen Instituts in Trient 11 (1976). S. 295-336, hervorgeht. 3! Die Bindung zwischen Weber und Jellinek stellt einen der wenigen gemeinsamen topoi der Weber-Literatur dar (am eindrücklichsten G.Roth in: R. Bendix/G. Roth, N 27, S. 260 fl.). Etwas sentimentaler, aber für Webers kulturelles Umfeld nicht weniger bedeutsam die vielen Bezüge in P. Honigsheim (N 21), S. 177 und 227 H. 32 Gedenkrede Max Webers auf Georg Jellinek bei der Hochzeit von dessen Tochter Frau Dr. Dora Busch am 21.3.1911 in: Max Weber zum Gedächtnis (N 2), S.

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33 Auch dieser Punkt wurde bereits hervorgehoben von R. Bendix (N 29), S. 410 Anm. 25, der ausdrücklich auf das "Kirchenrecht" Sohms verweist (erschienen in zwei Bänden des Systematischen Handbuchs der Deutschen Rechtswissenschaft, hg. von Kar! Binding, in dessen Reihe auch in zwei Bänden das Deutsche Verwaltungsrecht von OUo Mayer erschien, eine der möglichen Quellen für Webers Interesse am Phänomen der Verwaltung. 34 Auch hierzu bereits Roth in: G. RothlW. Schluchter (N 26), S. 130. Es ist

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Handelsrecht entlehnt war, wo er den entscheidenden Indikator, wenn nicht gar Katalysator des Gegenstandes dieses neuen Faches abgab. Der Fall kann auch als Beispiel des grundsätzlichen Unterschiedes zwischen juristischer (gebietsgebundener, technischer, geschlossener) und soziologischer Logik angeführt werden. Man denke schließlich an den Begriff des Staates, "wichtigstes konstitutives Element jedes Kulturbereichs, dessen wichtigste normative Reglementierungsform das Recht ist"35, ferner an die streng juristische Begriffsverbindung, aus der der Staat als technisch-juristische (demnach geschichtliche) Lösung hervorgeht, die es der Herrschaft ermöglicht, auf dem Hintergrund der Unterscheidung zwischen öffentlichem und privatem Recht ein institutionelles Gefüge zu erwerben. Aus dieser Unterscheidung erwächst auch jene ganz besondere Eigenschaft des Staates, die Rechtspersönlichkeit, dank derer das Zeitalter der Privilegien überwunden und das der Menschenrechte eingeleitet werden kann 36 . Der immerwährende Gegensatz, in dem Weber sich zu Quo von Gierke befand, wirft Licht auf beide Seiten des von uns behandelten Problems 3? Er zeigt Webers beständige Ablehnung der juristischen Spekulation wie auch seine Weiterverwendung derselben Kategorien, die auf juristischem Gebiet jenseits ihres streng technischen Anwendungsbereichs langsam obsolet werden. vielleicht wichtig, darauf hinzuweisen, daß die Herleitung moderner politischer Hauptbegriffe aus der Theologie im Zentrum des Denkens von earl SchmiU steht (Soziologie des Souveränitätsbegriffs und politische Theologie, in Erinnerungsgabe für Max Weber Bd. 11, 1923). 35 R. Bendix/G. Roth (N 27), die jedoch die "structural importance of the State among other organizations" hervorheben und darauf beharren, daß Weber "distinguishes this rule from the prevailing legal definition of the State, which postulated its sovereign powers, by stressing empirical variation". 36 Dies ist selbstverständlich Gegenstand der Untersuchungen Webers über den Staat. Es lohnt sich jedoch, die S. 158 ff. der "Rechtssoziologie" zu studieren, um einen Eindruck von der Kreisläufigkeit zu erhalten, mit der Weber dieses Problem außerhalb jeglichen juristischen Schematismus anzugehen verstand und sogar die verschiedenen Themen seiner allgemeineren soziologischen Untersuchung in sie einzubauen vermochte. Es fällt hier besonders die enge Verbindung zwischen der Entstehung des modernen Staates und der Durchsetzung der Menschenrechte auf. Jeder, der Jelliniks entsprechende Ausführungen kennt (G. Jellinek: Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte, Berlin 1895, aber auch La declaration des droits de l'homme et du citoyen. Reponse de M. Jellinek a M. Boutmy, in: Ausgewählte Schriften und Reden, Berlin 1911, Neudruck Aalen 1970, Bd. H, S. 64-81), versteht sofort den von Weber vollzogenen SchriU nach vorne. 37 Nach Honigsheim (N 20), S. 212, war Gierke derjenige unter den Vertretern der Historischen Schule, der am wenigsten mit der Dissertation Webers zufrieden war, und zwar aufgrund der in dieser vorgeschlagenen Verquickung von römischem Recht und Handelsrecht (anders gelagert war bekanntlich die Position Mommsens). Andererseits nahm Weber für Jellinek Partei, wenn er Althusius die hervorragende Rolle in der Geschichte des modernen Naturrechts bestritt, die ihm hingegen Gierke

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Nur eine sorgfältige und vertiefte Untersuchung aller im Werke Webers zusammenlaufenden Verbindungsfäden zwischen der herkömmlichen juristischen Behandlung von Gesellschaft und Staat und dem neuen, von ihm gewählten methodologischen Ansatz kann Antwort auf die Frage geben, inwieweit Weber bei der großen deutschen rechtswissenschaftlichen Tradition des 19. Jahrhunderts in der Schuld stand. Meines Erachtens gab es diese Schuld, und sie wog nicht leicht. Aber sie wurde durch Weber gänzlich beglichen, da er als erster das Gesellschaftliche aus dem juristischen Erdreich riß, in dem es jahrhundertelang gewurzelt hatte, und so das unserer Zeit so eigene Thema einer Autonomie des Politischen durch explizite und brauchbare Begriffe begründete 38 • Es trifft jedoch gleichermaßen zu, daß aus jener so vollständig getilgten Schuld den Erben Webers Verpflichtungen erwachsen sind. Wenn es stimmt, daß die Juristen seit geraumer Zeit das Schwinden ihrer Vormachtstellung bei der Auslegung der gesellschaftlichen und politischen Tatsachen zur Kenntnis genommen haben, wie steht es dann mit den Soziologen?

zuerkannte. Doch sei hier nochmals auf R. Bendix (N 29), S. 428 Anm. 32 hingewiesen (heute noch unerreicht dank der Genauigkeit, mit der er die "kulturellen" Bezüge Webers aufzählt), der Webers Schuld gegenüber Gierke beim Gebrauch der Begriffe "Genossenschaft" und "Herrschaft" belegt, wenngleich dieser Gebrauch bei Weber verwaltungsmäßig gefärbt ist (d. h. auf den Herrschaftsapparat, der diesen beiden "Typen" entspricht, bezogen ist) und auf der anderen Seite Gierkes "Genossenschaftstheorie" stark kritisiert wird. 38 Um zu verhindern, daß diese Bewertung als Überziehung allzu aktueller Thematiken erscheine, soll auf wenigstens zwei Zeitzeugnisse hingewiesen werden. a) S. Mark: Max Webers politisches Vermächtnis, Nachruf erschienen in: Die Neue Zeit vom 27. August 1923, übernommen in Max Weber zum Gedächtnis (N 2), S. 101, schreibt: "ln diesen Tiefen fühlte er, bei dessen Beurteilung Friedrich Meinecke mit vollem Recht der Name Machiavelli auf die Zunge kam, sich doch außerhalb der politischen Sphäre. Aber gerade darum war er imstande, das zu erkennen, was oft innerlich gerichtete, stark ethische Temperamente nicht erkennen: die Eigengesetzlichkeit des Politischen." b) H. Plessner: In Heidelberg 1913 (Max Weber zum Gedächtnis, S. 32-33) steht dem nicht nach: "Der Werturteilsstreit, vordergründig um die Sicherung der Objektivität sozialwissenschaftlicher Erkenntnis geführt und ausgelöst durch allzu kurzschlüssige Empfehlungen im Verein für Sozialpolitik, bedeutete Weber zugleich den Kampf um die Restriktion theoretischer Ansprüche auf Einengung oder gar Ausschaltung der sittlichen Entscheidungsfreiheit, das heißt der Autonomie der Politik, eine Autonomie, die zum Beispiel dem Interesse des nationalen Staates gegebenenfalls den Vorrang läßt. Ein derartiger Dezisionismus, welcher der Freiheit ihr volles Gewicht erhalten will, hat mit dem gewissenlosen Dezisionismus earl Schmitts nichts gemein."

MAX WEBERS WISSENSCHAFTSLEHRE UND DIE RECHTSWISSENSCHAFT

Von Fritz Loos I. Einleitende Bemerkungen Der Titel dieses Aufsatzes hätte sich provokanter auch so formulieren lassen: Was läßt Max Weber von der dogmatischen Rechtswissenschaft übrig? Freilich würde diese Anleihe bei der Überschrift der bekannten Bjrkmeyerschen Arbeit "Was läßt von Liszt vom Strafrecht übrig?"! insoweit in die Irre führen, als es meine Absicht gerade ist, zu zeigen, daß die Webersehe Wissenschaftslehre ein, wie mir scheint, immer noch tragfähiges Fundament für ein Nebeneinander von normativer Rechtswissenschaft und empirischen Sozialwissenschaften abgibt, ein Nebeneinander, das von Fachimperialismus ebenso frei ist wie von Berührungsangst. Freilich muß dieser letzte Satz sogleich in mehrfacher Hinsicht eingeschränkt werden. Natürlich wird nicht der Anspruch erhoben, in irgendeiner Weise etwas Abschließendes über das sicher immer wieder von neuem zur Diskussion stehende Thema "Rechtswissenschaft und Sozialwissenschaft" zu formulieren. Vielmehr beschränke ich mich darauf, Webers Standpunkte zum Verhältnis beider Wissenschaften darzustellen. Weiterhin ist folgendes klarzustellen: In Max Webers Wissenschaftslehre geht es um die Konstitution der empirischen Sozialwissenschaften; wenn Weber juristische und soziologische Begriffe wie die des subjektiven Rechts, des Staats oder des Tauschs konfrontiert, dann steht für ihn die juristische Begrifflichkeit fest, begründungsbedürftig ist für ihn die Grundbegrifflichkeit der sich erst konstituierenden neuen Wissenschaft der Soziologie 2• Daß ihm die juristische Begrifflichkeit in dieser Weise sicher zu sein scheint. weist den gelernten Juristen Weber als Erben der durch die Begriffsjurisprudenz geprägten Rechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts aus. Obwohl er im Schlußkapitel Kar! v. Birkmeyer: Was läßt v. Liszt vom Strafrecht übrig?, 1907. Vgl. z. B. Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, 4. Auf). 1973, S. 86-88, 2001.,343-358. V gl. auch Webers eigene Beschreibung seiner AufgabensteIlung ebd., S. 345 Fußn. 1. 3 Weber war "Volljurist". Dissertation und Habilitationsschrift behandelten Grenzgebiete zwischen Ökonomie und Rechtsgeschichte. I

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der Rechtssoziologie die durch marxistische Rechtskritik, vor allem aber durch die Freirechtsschule ausgelöste Krise der Rechtswissenschaft nach der Jahrhundertwende durchaus registiert und sie als "sich selbst überschlagende wissenschaftliche Rationalisierung und voraussetzungslose Selbstbesinnung des Rechtsdenkens" sowohl würdigt als auch kritisiert4, bleibt sein grundlegendes Verständnis von Rechtswissenschaft durchaus in den Bahnen der Begriffsjurisprudenz 5 • Generalisierung, Konstruktion und Systematisierung sind ihm die Verfahren, durch die sich die Ratiopalisierung des Rechtsdenkens auszeichnet, daneben wird nur noch das "praktische und anschauliche Assoziieren: die Analogie" als methodische Grundlage etwa der englischen Rechtskasuistik erwähnt; eine spezifisch fachmäßig juristische Sublimierung des Rechts sei an den formalen Charakter des Rechts gebunden 6 • Auch wer - entgegen verbreiteten Anschauungen - nicht dazu neigt, das Wort "Begriffsjurisprudenz" nur als Schimpfwort zu verwenden, wird heute zögern, juristisches Denken in dieser Weise zu reduzieren. Danach liegt die aktuelle Bedeutung Webers für die Rechtswissenschaft weniger in seinen positiven Beiträgen für eine Grundlegung der Rechtswissenschaft, als vielmehr im Aufzeigen der Grenzen sozialwissenschaftIicher Erkenntnis und damit eher mittelbar in der Begründung eines genuinen Bereichs normativen Argumentierens. Konsequenzen für die Jurisprudenz sind bei Weber höchstens angedeutet, hier geht es teilweise eher darum, zu explizieren, "was er hätte meinen müssen". Was sind nun die zentralen Themen der Webersehen Wissenschaftslehre ? Ich nenne hier zunächst schlagwortartig die Thesen und Probleme, die man mit dem Namen Webers, soweit die Wissenschaftstheorie betroffen ist, zu assoziieren pflegt: Trennung von Sein und Sollen und damit verbunden Wertrelativismus und das Postulat der Wertfreiheit der empirischen Sozialwissenschaften 7 ; Problem der Objektivität der Wissenschaften angesichts der Konstitution der Untersuchungsgegenstände durch "Wertbeziehung" oder, wie man vor und nach Rickert und wie auch teilweise Weber selbst zu 4 Wirtschaft und Gesellschaft, 5. Auf!. 1976, S. 505 ff. = Rechtssoziologie, hg. von Winckelmann, 2. Auf!. 1967, S. 333 ff.; vgl. auch WuG S. 193 f. = Rechtssoziologie, S. 94. 5 Das ist Manfred Rehbinder, in: König/WinckeJmann: Max Weber zum Gedächtnis. Materialien und Dokumente zur Bewertung von Werk und Persönlichkeit. o. J. (1964), S. 481 ff., zuzugeben, wenn auch dabei Webers in Fußn. 4 genannte Auseinandersetzung mit den rechtlichen Strömungen um die Jahrhundertwende etwas zu kurz kommt. 6 WuG S. 395 f. = Rechtssoziologie,S. 123 f.; vgl.auch WuGS.512 = Rechtssoziologie, S. 345 f. 7 Grundlegend sind hier "Die ,Objektivität' sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis", in Wissenschaftslehre (N 2), S. 146-214, sowie "Der Sinn der ,Wertfreiheit' der soziologischen und ökonomischen Wissenschaften", ebd. S. 489540.

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formulieren vorgezogen hat, durch Interessen8 ; verstehende Soziologie als handlungstheoretische Grundkonzeption - im Gegensatz zu organologischen oder systemtheoretischen Konzeptionen - der Sozialwissenschaften, damit zugleich belastet mit der Frage: "Wie ist Verstehen möglich?"9; idealtypische Begriffsbildung als immer noch umstrittenes Instrument im Dschungel der Bestimmung des Verhältnisses von Theorie, Soziologie und Geschichte!o. Wenn man sich gleichzeitig vergegenwärtigt, welche unterschiedlichen Deutungen Webers Lehren in der seit längerem kaum noch zu übersehenden Sekundärliteratur gefunden hat, wird deutlich, daß eine auch nur einigermaßen adäquate Gesamtdarstellung der Webersehen Wissenschaftslehre im Rahmen dieses Aufsatzes schlechterdings unmöglich ist. Ich werde deshalb so vorgehen, daß ich vorweg einige für die Rechtslehre besonders wichtige wissenschaftstheoretische Positionen Webers umreiße, diese dann aber näher am Lehrstück des soziologischen und juristischen Rechtsbegriffs erläutere. Die Konzentration auf die Wissenschaftslehre bedeutet eine Beschränkung auf die formalen, methodologischen Elemente der Webersehen Rechtslehre. Wichtige Stücke seiner inhaltlichen Rechtssoziologie bleiben damit ausgeklammert. Wenigstens erwähnt, weil mit dem gleich näher zu besprechenden Wertskeptizismus und dessen Folgen für die Rechtswissenschaft in engem Zusammenhang stehend, sei die These, daß die Überzeugung zunehme, das Recht sei "ein jederzeit zweckrational umzuschaffender, jeder inhaltlichen Heiligkeit entbehrender technischer Apparat" 11. Damit steht die Annahme eines Legitimitätstypus legaler Herrschaft in enger Verbindung. An diese Lehrstücke konnte Luhmann in seinen Untersuchungen über "Legitimation durch Verfahren"!2 und die Funktion der Positivität des Rechts!3 anknüpfen!4.

Grundlegung im "Objektivitätsaufsatz". Grundlegung im 1. Kapitel von WuG. 10 Grundlegung im Objektivitätsaufsatz S. 185 ff. Weber hat den Idealtypusbegriff als Versuch einer Lösung des Streits zwischen theoretischer und historischer Schule in der Nationalökonomie seiner Zeit entwickelt. Zu einer Begriffsbestimmung bei Weber vgl. Wissenschaftslehre, S. 190 f. Die heutige wissenschaftstheoretische Diskussion vergleicht den Idealtypus vor allem mit dem Modellbegriff. 11 WuG S. 513 = Rechtssoziologie, S. 346 f. 12 2. Auf!. 1975. 13 Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie 1 (1970). S. 175 ff. 14 Zur Webersehen Legitimitätstheorie in systematischer und evolutionstheoretischer Absicht siehe SchJuchter: Die Entwicklung des okzidentalen Rationalismus, 1979, S. 122 ff.; insb., S. 171 ff. 8 9

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11. Wissenschaft und Werturteile

Das Postulat der Wertfreiheit der empirischen Sozialwissenschaften ist die mit dem Namen Max Webers wohl am meisten in Verbindung gebrachte These. Wann immer diese Problematik, deren politische Dimension aus dem Positivismusstreit in der deutschen Soziologie der 60er Jahre 15 , aber auch aus dem zum Teil damit in engem Zusammenhang stehenden Kampf um die Juristenausbildung ab dem Ende der 60er Jahre unschwer zu erkennen ist16 , aufgeworfen wurde, stand immer auch das wissenschaftliche Werk Max Webers in der Diskussion. Das mag zunächst verwundern, weil Weber selbst gerade insoweit nie prätendiert hat, etwas "Neues" zu lehren 17 , ist aber nicht nur aus seiner Prominenz als einer der Gründungsväter der modernen Soziologie zu erklären. Denn immerhin hat das Wertfreiheitsdogma bei Weber eine besondere Zuspitzung erfahren, die seine Diskussion im Rahmen des Gesamtwerks auch sachlich zu rechtfertigen vermag. Die Wertfreiheit der Sozialwissenschaften wird bei Weber in zwei deutlich voneinander abzuhebenden Schritten begründet. Erstens akzeptiert Weber die seit Hume und Kant geläufige, dann vor allem vom Neukantianismus zu einem philosophischen Fundamentalsatz erhobene Scheidung von Sein und Sollen. Wie selbstverständlich Weber diese Unterscheidung erschien, ergibt sich aus der Formulierung im Wertfreiheitsaufsatz: "Ich muß abwarten, ob sich wirklich Leute finden, welche behaupten, daß die Frage: ob eine konkrete Tatsache sich so oder anders verhält?, warum der betreffende konkrete Sachverhalt so und nichts anders geworden ist?, ob auf einen gegebenen Sachverhalt nach einer Regel des faktischen Geschehens ein anderer Sachverhalt und mit weIchem Grade von Wahrscheinlichkeit zu folgen pflegt? - dem Sinn nach nicht grundverschieden seien von der Frage: was man in einer konkreten Situation praktisch tun solle?"18 Eine genauere Analyse des Unterschiedes von Sein und Sollen, Wert und Wirklichkeit findet man bei Weber nicht, aus einigen Formulierungen, in denen von einer "logischen Kluft", von einem "unterschiedlichen Sinn" die Rede ist 19 , läßt sich aber schließen, daß Weber von verschiedenen nicht weiter rückführbaren Denkkategorien ausgeht 20 • Gerade für den Juristen interessant scheint mir freilich auch die Anknüpfung an die EntscheidungsV gl. Adorno u. a.: Der Positivismusstreit in der dt. Soziologie. 1969. Nachweise bei Loos, ZRP 1974, 162 fI. 17 Vgl. Wissenschaftslehre, S. 146 Fußn. 1; vgl. dazu und auch zum im Text Folgenden die Nachweise bei Loos, Zur Wert- und Rechtslehre Max Webers, 1970, S. 36-42. 18 Wissenschaftslehre, S. 509. 19 Ebd. S. 87 L, 155, 322, 497, 509. 20 V gl. im einzelnen Loos (N 17) S. 46-49. 15

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situation des Handelnden im oben wiedergegebenen Zitat, ist doch gerade auch auf die Entscheidungssituation des Richters rekurriert worden, um gegen einen radikalen Rechtsrealismus die Eigenständigkeit normativen juristischen Argumentierens zu verdeutlichen 21 • Als Ergänzung sei festzuhalten, daß Weber auch den Schluß vom Werdenden auf das Gesollte, wie es in simpler Form von Liszt2 2 formuliert hatte, zurückweist: auch dieser ist ein unzulässiger Schluß vom Sein aufs Sollen. Weber geht diesem "Fehlschluß" in verschiedenen Spielarten des "ethischen Evolutionismus", dessen geschichtsmächtigste Ausprägung die Marxsche Lehre ist, nach; er sieht darin Nachwirkungen Hegels, dessen Metaphysik man aber nicht abstoßen könne, ohne die Plausibilität evolutionistischer normativer Argumentationen einzubüßen 23 • Mit der Scheidung von Sein und Sollen ist freilich auch nach Webers eigener Vorstellung nur der erste Begründungsschritt für das Wertfreiheitsdogma getan, wenn damit auch schon die Unterschiedlichkeit von Wirklichkeits- und Werterkenntnis dargetan ist. Immerhin: gäbe es verbindliche Werterkenntnis, wäre es nur sinnvoll, wirtschafts- und sozialwissenschaftliche Forschungsprogramme an deren Resultaten zu orientieren. Daß es solche verbindliche Werterkenntnis nicht gebe, folgt nicht allein aus der Scheidung von Sein und Sollen. Denn auch Denker wie Kant, viele Neukantianer, Sche/er und Hartrnann 24, aber auch, wenn ich richtig sehe, die meisten der gegenwärtigen Verfechter einer Rehabilitierung der praktischen Philosophie 25 akzeptieren diese Scheidung, ohne den Anspruch transmissibier normativer Erkenntnis aufzugeben. Weber hingegen ist theoretischer Wertrelativist, wenn er auch die Bezeichnung "Relativismus" für seine Ansicht immer zurückgewiesen hat, weil er darin seine praktische "Wertentschiedenheit" nicht hinreichend klargestellt fand 26 • Die Geltung von Werten zu beurteilen, ist nach Weber nicht Sache der Wissenschaft, sondern des Glaubens 27 • Die Formulierung von Radbruch 28 , daß Werte nicht der Erkenntnis, sondern nur des Bekenntnisses fähig sind, ist hier vorgeprägt. Da Weber dieses Bekenntnis für sich persönlich nicht mehr auf ein religiöses Fundament stützen kann, bleibt nur noch die Möglichkeit, die "Ideale aus der Vgl. Hart, Der Begriff des Rechts, 1973, S. 23 f. u. Anm. dazu S. 330. ZStW 26 (1906), 556. 23 Wissenschaftslehre, S. 40 ff., 145, 148, 497. 24 V gl. Nachweise dazu bei Laos (N 17), S. 48, 62-65. 25 Vgl. z. B. die bei den Bände "Materialien zur Normendiskussion", hg. von Oe/müller (1978), oder die Aufsätze von Lorenzen über Ethik und Kulturwissenschaften in: Theorie der technischen und politischen Vernunft, 1978, S. 104 ff., 119 ff., 140 ff. 26 Wissenschaftslehre, S. 508; auch ebd. S. 157. 27 Ebd. S. 149 ff., 451, 470, 540, 543. 28 Rechtsphilosophie, 8. Aufl., 1973, S. 96. 21

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eigenen Brust zu holen"29, den "Sinn des Weltgeschehens selbst zu schaffen"30, Formulierungen, die Jaspers 31 veranlaßt haben, in Weber einen Vorläufer des Existentialismus zu sehen. Freilich - und das ist für die Jurisprudenz wieder festzuhalten - bestreitet Weber nicht die Möglichkeit einer wissenschaftlichen Untersuchung von Wertideen. Die Sozialphilosophie vermag gegebene Wertideen logisch zu entfalten und am Maßstab der inneren Widerspruchsfreiheit kritisch zu beurteilen)2. Weder seinen Wertskeptizismus noch seine Qberzeugungvom rationalen und insofern wissenschaftlich analysierbaren Gehalt von Wertideen hat Weber näher begründet. Offenbar ist aber sein Wertskeptizismus - im Gegensatz zu seinem Optimismus im Hinblick auf die Möglichkeit empirischer Erkenntnis - dadurch geprägt, daß Werte nicht wie Wirklichkeit "gegeben" sind, so analysierungsbedürftig der Begriff der "Gegebenheit" auch sein mag. Und daß Wertmaterien rationaler Analyse zugänglich seien, davon hatte ihn vermutlich neben kulturphilosophischen Untersuchungen auch die Existenz theologischer und juristischer Dogmatiken überzeugt.

III. Die "Objektivität" der empirischen Sozialwissenschaften Sind Werturteile subjektiv, wie steht es demgegenüber mit der Objektivität der empirischen Sozialwissenschaften oder, wie Weber zumeist formuliert: Kulturwissenschaften? Webers Antwort, die er vor allem in dem Aufsatz "Die Objektivität sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis" ausgearbeitet hat, steht hier, wie er selbst immer wieder hervorhebt, unter dem Eindruck der neukantianischen Philosophie Heinrich Rickerts, genauer: dessen methodologischer Hauptschrift "Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung"33. Rickert 34 geht von einer, freilich Wissenschaftslehre, S. 154. Gesammelte Aufsätze zur Soziologie und Sozialpolitik, 1924, S. 420. 31 Aneignung und Polemik. Gesammelte Aufsätze zur Philosophie, hg. von Saner, 1968, S. 409 f1., 424 f1. 32 Wissenschaftslehre, S. 150 1., 510 I. 33 Vgl. nur die Hinweise auf Rickert, Wissenschaftslehre, S. 7 Fußn. 1 und S. 146 Fußn. 1. Zum Verhältnis der Weberschen \r\r'issenschaftslehre zur Rickertschen Philosophie vgl. Weiß: Max Webers Grundlegung der Soziologie, 1975, S. 20 f1., und Prewo: Max Webers Wissenschaftsprogramm, 1979, S. 26 ff. - Weber hat freilich privatim betont, daß er bei Rickert das gefunden habe, was er immer schon, wenn auch nicht logisch explizit, gedacht habe; vgl. dazu Loos (N 17), S. 37 Fußn. 18. Danach scheint mir zweifelhaft, ob man wie Prewo, S. 26 fl., 65 Fußn. 5 und passim, das tut, zwischen einer vorkritischen und einer kritischen Phase in Webers Werk unterscheiden kann. 34 Für Webers Rickert-Rezeption ist entscheidend gewesen die 1. Auflage (1902) 29

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kategorial überformten, Wirklichkeit von extensiver und intensiver Unendlichkeit aus, die in ihrer vollen Mannigfaltigkeit gar nicht wissenschaftlich erfaßt werden kann. Wissenschaft kann daher nicht abbildhaft verfahren, sondern muß auswählend die Wirklichkeit "bearbeiten". Das erste mögliche Prinzip einer solchen Auswahl ist die Erfassung in Allgemeinbegriffen, die einen gesetzlichen Zusammenhang ausdrücken. Rickert nennt diese Wissenschaften Naturwissenschaften. Klarer wäre es vielleicht gewesen, wenn er an dem WindeJbandschen Terminus "nomothetische" Wissenschaften 35 , Gesetzeswissenschaften, festgehalten hätte. Denn es gibt auch Wissenschaften vom Menschen, wie etwa Psychologie und Soziologie, deren Ziel es ist, Gesetzmäßigkeiten des Verhaltens zu erfassen. Freilich handelt es sich dann nur um "relative" Naturwissenschaften, die reine Form einer Gesetzeswissenschaft stellt für Rickert - entsprechend dem damaligen Stand der Physik - die Hertzsche Mechanik dar. Die andere Möglichkeit, die Wirklichkeit zu erfassen, besteht darin, das für uns, und d. h. letztlich den empirischen Wissenschaftler, Bedeutsame auszulesen und in individuellen Begriffen niederzulegen. Das tut die Geschichtswissenschaft, die aus der unendlichen Mannigfaltigkeit des historischen Prozesses das im Hinblick auf bestimmte Wertideen Relevante - in der Formulierung von Rickert: durch Wertbeziehung - ausliest. Nach Rickert kann die Objektivität der Geschichtswissenschaft nur dadurch demonstriert werden, daß die leitenden Wertideen selbst als objektiv gültig erwiesen werden, was Rickert vor allem in seinem Spätwerk, dem "System"36, versucht hat. Auch die "relativen" Naturwissenschaften oder "relativ" historischen Wissenschaften - die Abgrenzungen sind nach Rickert flüssig - werden jedenfalls mit durch Wertbeziehung konstituiert und sind insoweit der Absicherung durch die Wertphilosophie bedürftig. Charakteristisch ist nun, wie Weber - im Ausgangspunkt der Einteilung der Wissenschaften nicht nach dem Gegenstand, sondern nach der Methode mit Rickert durchaus einig - den Objektivitätsanspruch der Kulturwissenschaften auf eine ganz andere Basis stellt. Von seinem oben dargestellten wertskeptischen Ausgangspunkt aus ist der Versuch einer Verankerung an objektiv gültigen Werten illusorisch. Weber zieht die Konsequenz: die Auswahl der Forschungsgegenstände der absolut und relativ historischen Wissenschaften ist subjektiv, es gibt kein objektives Prinzip, das Interesse an der "Entwicklung der denkbar größten Kulturerscheinung" als "wichtiger" zu von "Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung. Eine logische Einleitung in die historischen Wissenschaften" (5. Aufl. 1929). Auf dieses Werk bezieht sich auch die im Text folgende Darstellung. 35 In: Geschichte und Naturwissenschaft (Straßburger Rektoratsrede 1894), in: Präludien Bd. 2, 9. Aufl. 1924, S. 136 ff. 36 System der Philosophie. Erster Teil, Allgemeine Grundlegung der Philosophie, 1924.

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erweisen als das Interesse an einer Familienchronik. Rein faktisch, weil die Menschen durch die gleiche Kultur geprägt sind, wird freilich das eine ein ganz anderes Interesse finden als das andere, immerhin: auch die faktischen Interessen wandeln sich historisch, und damit versinken bestimmte Fragestellungen 37 . Von Webers Ausgangspunkt wird dann auch, was nicht immer gesehen worden ist, verständlich, daß Interesse an einem Forschungsgegenstand nicht notwendig positive Bewertung bedeutet, daß Prophetie und Prostitution in vergleichbarer Weise "interessante" KuIturerscheinungen sind. Woran haftet danach die objektive Gültigkeit kulturwissenschaftIicher Erkenntnis? Webers Antwort ist: Die subjektive Konstitution der Forschungsgenstände tangiert die objektive Gültigkeit der Ergebnisse der Kausalanalyse nicht 38 • Die Geschichtswissenschaft vermag individuelle Ereignisse anderen individuellen Ereignissen in objektiv oder, wie man heute teilweise zu formulieren vorzieht, in intersubjektiv verbindlicher Weise zuzurechnen. Diese Aufgabenbestimmung der Historie steht in den frühen methodologischen Arbeiten, genannt seien insbesondere der Objektivitätsaufsatz und die "Kritischen Studien auf dem Gebiet der kuIturwissenschaftlichen Logik"39, im Vordergrund. Die zur kausalen Zurechnung notwendigen nomologischen Kenntnisse erscheinen Weber hier noch als zum größeren Teil trivial 40 . Das verschiebt sich im letzten Lebensjahrzehnt. Weber tituliert sich nun selbst als Soziologe, während der Terminus "Soziologie" in den Jahren um 1905 noch häufig eher abschätzig verwendet wird. Die Suche nach - offenbar nicht trivialen - generellen Regeln des Geschehens wird als sinnvolle Aufgabe der Soziologie verstanden, wobei diese generellen Regeln aber auch als Mittel der kausalen Zurechnung individueller Erscheinungen herausgestellt werden 41 . Daß Kausalanalyse, gehe sie nun auf individuelle oder generelle Zusammenhänge, zu intersubjektiv, wie Weber formuliert, auch für den Chinesen verbindlichen Ergebnissen führen kann 42 , ist für ihn nicht zweifelhaft. Denn die prinzipielle Gleichheit des menschlichen "Wahrnehmungs- und Denkapparates" bleibt ihm unproblematisch. Die durch die verschiedenen Konventionalismen entstandenen und die heutige Wissenschaftslehre bewegenden Probleme 43 sind bei Weber noch nicht thematisiert. 37 V gl. Wissenschaftslehre, S. 170 H., 180 ff., 212 H. Die logische und die faktische Seite werden nicht hinreichend auseinandergehalten bei Prewo (N 33). S. 67 H., insb. S. 67 Fußn. 8. 38 Wissenschaftslehre, S. 178 f., 189 f. 39 Ebd. S. 215 H. 40 Ebd., S. 112; vgl. auch ebd. S. 179 f. 41 WuG S. 9 f. 42 V gl. Wissenschaftslehre, S. 1·55 1. 43 Vgl. dazu Albert, Traktat über kritische Vernunft, 3. Auf!. 1975, S. 9 H., 29 ff.

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IV. Verstehende Soziologie Für die Webersche Rechtssoziologie ist sein Programm einer verstehenden Soziologie und in diesem Kontext das Verhältnis von Verstehen und Erklären von größerer Bedeutung. Weber gibt im einleitenden Grundbegriffskapitel von Wirtschaft und Gesellschaft die folgende Definition: "Soziologie soll heißen: eine Wissenschaft, welche soziales Handeln deutend verstehen und dadurch in seinem Ablauf und einen Wirkungen ursächlich erklären will. Handeln soll dabei menschliches Verhalten heißen, wenn und insofern als der oder die Handelnden mit ihm einen subjektiven Sinn verbinden."44 Aus diesem Zitat ergibt sich, daß die Sinndeutung, genauer das Verstehen subjektiv gemeinten Sinns, hier in den Dienst der Kausalanalyse gestellt wird. Die soziologische (und an anderen Stellen: die historische) Kausalanalyse kommt um das Verstehen nicht herum, weil Sinn - wohlgemerkt: subjektiv gemeinter Sinn - selbst ein Kausalfaktor des historischgesellschaftlichen Geschehens ist. In der Übernahme der - wie auch immer problematischen - Aufgabe des Verstehens nimmt Weber ein Stück der traditionellen Geisteswissenschaft auf 45 • Jedenfalls Teile der Wissenschaften vom Menschen unterscheiden sich danach auch dem Gegenstand nach von den (gegenständlich definierten) Naturwissenschaften insofern, als menschliches Handeln sinngeleitet und dieser Sinn anderen Menschen und auch dem Forscher prinzipiell zugänglich ist 46 . Damit ist die Voraussetzung einer zumindest in bestimmter Weise gleichen menschlichen Vernunft gemacht 47 • Diese geisteswissenschaftliche Aufgabe wird aber zugleich wieder in das - wenn man es so nennen will - positivistische Programm einer kausal analytischen Forschung eingeordnet. Verstehen steht hier also im Dienste des Erklärens 48 • Von diesem Ansatz her werden die historischgesellschaftlichen Sinnsysteme als Kausalfaktoren Thema der empirischen Gesellschaftswissenschaften, freilich nicht als - hypothetisch - gültig gedachte wie in den sozialphilosophischen Dogmatiken, wohl aber als subjektiv gemeinter Sinn, der freilich nur im Nachdenken der Dogmatiken erschlossen werden kann 49 • Daraus folgt dann auch die "hilfswissenschaftliH WuG S. 1. •s Insoweit - und nur insoweit - besteht auch eine Beziehung Webers zu Dilthey. • 6 Vgl. Wissenschaftslehre, S. 12 Fußn. I, 35 Fußn. 1.