Mauricio Kagels Buenos Aires (1946-1957): Kulturpolitik - Künstlernetzwerk - Kompositionen
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Christina Richter-Ibáñez Mauricio Kagels Buenos Aires (1946-1957)

Musik und Klangkultur

Für Walter

Christina Richter-Ibáñez ist Musikwissenschaftlerin und forscht in Tübingen und Stuttgart zum 20. Jahrhundert, zeitgenössischer sowie lateinamerikanischer Musik.

Christina Richter-Ibáñez

Mauricio Kagels Buenos Aires (1946-1957) Kulturpolitik – Künstlernetzwerk – Kompositionen

Gedruckt mit Unterstützung des Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der VG WORT.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2014 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Sameer Makarius, Gran Rex in der Av. Corrientes, erschienen in Buenos Aires y su gente (1960), Abbildung 82, © Karim Makarius. Korrektorat & Satz: Christina Richter-Ibáñez Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-2662-9 PDF-ISBN 978-3-8394-2662-3 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Abkürzungen | 9 Vorwort | 11 Aufbruch … | 15

… aus der Peripherie? | 19 Netzwerke | 22 Quellen und Aufbau der Arbeit | 25 »Jeder Satz ist eine Spur« | 29 Peronismus und kultureller Wandel | 33

Medienpolitik | 36 Bildungspolitik | 38 Alternative Bildungsstätte: Das Colegio Libre de Estudios Superiores | 42 Kulturpolitik | 44 Verlagswesen und Literatur | 46 Bildende Kunst und Ausstellungsräume | 50 Filmindustrie | 57 Zusammenfassung: Intellektuelle im Peronismus | 61 Musikleben | 64 Staatliche Institutionen | 66 Unabhängige Konzertvereinigungen | 70 Publizistik und Verlage | 80 Politisches Engagement und Ausgrenzung: Juan José Castro und Alberto Ginastera | 81 Staatliche Einflussnahme auf Musikprogramme | 86 Propagandaveranstaltungen und populäre Musik | 89 Moment I: Juli 1950. Die Compagnie Renaud-Barrault mit Pierre Boulez in Buenos Aires | 93

Mauricio Kagels Werdegang: Neue Musik und visuelle Künste | 99

Agrupación Nueva Música (ANM) | 101 1951-1953 | 113 Bruch und Nachhall in Europa | 128 Bildende Kunst, Architektur, Fotografie | 135 Film | 140 Moment II: Juli 1954. Zweites Zusammentreffen mit Pierre Boulez in Buenos Aires | 155 Mauricio Kagels Werdegang: Chor- / Orchesterleitung und Literatur | 163

Interpret und Organisator in verschiedenen musikalischen Kontexten | 163 Sociedad Hebraica Argentina | 165 Collegium Musicum | 169 Pro-Música | 170 Kammeroper | 173 Teatro Colón | 178 Jeunesses Musicales, musikalischer Berater an der Universität und Dirigent im Radio | 180 Literatur | 182 Jorge Luis Borges | 184 Daniel Devoto | 192 Julio Cortázar | 195 Witold Gombrowicz | 207 Netze, Bezüge, weitere Schriftsteller | 217 Nachklänge im Schaffen Kagels | 221

Komponieren in Buenos Aires | 231

Juan Carlos Paz | 231 Michael Gielen | 238 Francisco Kröpfl | 243 Mauricio Kagel | 248 Variaciones para cuarteto mixto (1951 / 52, rev. 1991) | 260 Sexteto (de cuerdas) (1953, rev. 1957) | 268 Cuatro piezas para piano (1954) | 272 Cinco canciones del Génesis (1954) | 277 »Klangstudien« und »Aphorismen« | 284 »Hin und zurück« | 290 Perspektiven | 297 Anhang | 303

E-Mails | 303 Jorge Milchberg | 303 Alejandro Rússovich | 305 Alejandro Saderman | 305 Briefe | 307 Mauricio Kagel an Francisco Curt Lange | 307 Francisco Curt Lange an Mauricio Kagel | 312 Mauricio Kagel an Witold Gombrowicz | 313 Fotos | 314 Quellenverzeichnis | 317

Literatur | 317 Internetressourcen | 332 Periodika | 333 Daten- und Tonträger | 334 Musikalien | 335 Manuskripte | 336 Register | 337

Abkürzungen von Institutionen, Quellen, Fachbegriffen

ACL

Acervo Curt Lange / Universidade Federal de Minas Gerais Belo Horizonte

ANM

Agrupación Nueva Música

BAM

Buenos Aires Musical

CLES

Colegio Libre de Estudios Superiores

DAAD

Deutscher Akademischer Austauschdienst

DMEH

Diccionario de la Música española e hispanoamericana, hrsg. von Emilio Casares Rodicio, 10 Bände, Madrid 1999-2002

EAM

Editorial Argentina de Música

FUA

Federación Universitaria Argentina

IAI

Bibliothek des Ibero-Amerikanischen Instituts Berlin

IAM

Instituto de Arte Moderno

IGNM

Internationale Gesellschaft für Neue Musik

KdG

Komponisten der Gegenwart (Lexikon)

MGG2

Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Allgemeine Enzyklopädie der Musik, 2., neu bearbeitete Ausgabe, hrsg. von Ludwig Finscher, 26 Bände in zwei Teilen, Kassel / Stuttgart, 1994-2008

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NGroveD2 The New Grove Dictionary of Music and Musicians, 2. Auflage, hrsg. von Stanley Sadie, 29 Bände, London 2001 NZfM

Neue Zeitschrift für Musik

oam

Organización de Arquitectura Moderna

pc set

Pitch-class set

PSS

Paul Sacher Stiftung Basel

PWJ

P. Walter Jacob-Archiv der Walter-A.-Berendsohn-Forschungsstelle für deutsche Exilliteratur der Universität Hamburg

SADE

Sociedad Argentina de Escritores

SHA

Sociedad Hebraica Argentina

SIDE

Sociedad Impresora de Discos Electrofónicos

SMK

Sammlung Mauricio Kagel

SODRE

Servicio Oficial de Difusión, Radiotelevisión y Espectáculos: 1929 in Montevideo gegründete uruguayische Rundfunkgesellschaft / Veranstaltungsort

UA

Uraufführung

UBA

Universidad de Buenos Aires

UCA

Pontificia Universidad Católica Argentina

ULB

Universitäts- und Landesbibliothek Bonn

Vorwort

Das Cine Gran Rex in der Avenida Corrientes von Buenos Aires war Kino- und Konzertsaal zugleich, hier fanden und finden bis heute Sinfoniekonzerte und Gastspiele international herausragender und / oder populärer Interpreten1 statt. In den vierziger und fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts befand sich in einer oberen Etage auch ein Café, in dem Schach gespielt wurde, das Witold Gombrowicz frequentierte und in dem Mauricio Kagel diesen polnischen Schriftsteller kennen gelernt haben soll. Auf dem Foto von Sameer Makarius, welches das vorliegende Buch ziert, ist am Eingang des Cine Gran Rex der Schriftzug El pirata Hidalgo zu lesen, der den Film The Crimson Pirate mit Burt Lancaster von 1952 bewirbt. Damit ist das Foto wohl in den Jahren entstanden, in denen Kagel seine berufliche Karriere in Buenos Aires begann und die im Fokus dieser Arbeit stehen. Im Bild des Gran Rex versammeln sich die Aspekte Musikleben, Film und Literatur, die für Kagels Formation als Künstler von grundlegender Bedeutung sind. Der vorliegende Text ist – wie beinahe jede menschliche Aktivität – nicht nur ein Produkt meiner Recherchen, sondern verdankt sich dem Einsatz vieler Personen. Er entstand vor allem mit kontinuierlicher Förderung des Dissertationsvorhabens durch meinen Doktorvater Andreas Meyer und war eingebettet in meine Tätigkeit als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Staatlichen Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Stuttgart. Die Teilnehmer des dortigen Forschungskolloquiums Musikwissenschaft diskutierten Aspekte dieser Untersuchung und gaben mir zahlreiche Anregungen. Nils Grosch danke ich für die Übernahme des Zweitgutachtens und anregende Gespräche zur lateinamerikanischen Musikforschung. Nach der Disputation wurden für die Drucklegung der Dissertation geringfügige Änderungen am Manuskript vorgenommen.

1

Das generische Maskulinum wird hier zugunsten einer leichteren Lesbarkeit benutzt; es schließt immer weibliche und männliche Personen ein.

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Die Materialien der Sammlung Mauricio Kagel in der Paul Sacher Stiftung in Basel, betreut von Matthias Kassel und Michèle Noirjean-Linder, waren Ausgangspunkt meiner Forschung. Sie wurden zunächst ergänzt von Dokumenten aus dem P. Walter Jacob-Archiv der Walter-A.-Berendsohn-Forschungsstelle für deutsche Exilliteratur der Universität Hamburg. Auskünfte und Zugang zu ausgewählten Quellen ermöglichten in Europa das Bauhaus-Archiv Berlin, das Historische Archiv des WDR in Köln, die Universal Edition Wien und die Akademie der Künste Berlin sowie in Buenos Aires das Instituto de Investigación Musicológica »Carlos Vega« UCA, das Centro de Documentación e Investigación de la Cultura de Izquierdas (CeDinCi) und die Bibliothek der Sociedad Hebraica Argentina. Mein besonderer Dank gilt zudem öffentlichen Bibliotheken, in denen Teilnachlässe Kagels verwahrt werden, namentlich Peter Altekrüger und Ulrike Mühlschlegel im Ibero-Amerikanischen Institut Berlin sowie Doris Grüter an der Universitäts- und Landesbibliothek Bonn. Pierre Boulez, Odile Baron Supervielle, Victor Chab, Rosl Eisler, Giora Feidman, Carlos Feller und Marta Felberbaum, Jorge Fontenla, Michael Gielen, Tomás Maldonado, Jorge Milchberg, María Adela Palcos, Felisa Pinto, Alejandro Rússovich, Alejandro Saderman, Leon Spierer sowie Andrés Spiller teilten mit mir ihre Erinnerungen und gaben mir Hinweise in Gesprächen oder E-Mails. Francisco Kröpfl stellte mir darüber hinaus Manuskripte seiner Jugendwerke zur Verfügung. Lucía Maranca ermöglichte mir in ihrem Haus den Zugang zu Dokumenten aus dem Nachlass von Juan Carlos Paz, die erst 2011 in die Biblioteca Nacional in Buenos Aires überführt wurden und dort nun erstmalig inventarisiert werden. Bei Eduardo Valenti Ferro erhielt ich Einblick in die umfangreichste Ausgabensammlung der Zeitschrift Buenos Aires Musical aus dem Nachlass seines Vaters. Der Forschungsaufenthalt in Buenos Aires im Jahr 2010 wurde durch ein Stipendium des DAAD ermöglicht. Pamela Kagel danke ich für die Zusendung von Materialien und Informationen ihre Eltern betreffend sowie ihr Einverständnis, Briefe ihres Vaters an Francisco Curt Lange und Witold Gombrowicz hier erstmals veröffentlichen zu dürfen. Gedankt sei ebenfalls Rita Gombrowicz, die mich über die Existenz eines Briefes von Mauricio Kagel an Witold Gombrowicz informierte und ihn mir zur Verfügung stellte. Ohne den regelmäßigen Austausch mit Omar Corrado wäre diese Arbeit zum Kulturleben in Buenos Aires niemals möglich geworden. Durch ihn gelangte ich an schwer zugängliche Literatur und Kontakte mit Institutionen und Zeitzeugen. Dankbar für den fachlichen Austausch und für einzelne Hinweise zu Details und Materialien dieser Arbeit bin ich ferner Walter Bruno Berg, Marina Cañardo, María Amalia García, Silvia Glocer, Björn Heile, Susanne Klengel, Werner

V ORWORT

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Klüppelholz, Malena Kuss, Othmar Müller, Matthias Pasdzierny, Wieland Reich, Dieter Schnebel, Pia Steigerwald und Pola Suárez Urtubey. Besonders fruchtbar war in der Endphase dieser Arbeit der Austausch mit Daniela Fugellie, die in ihrem Dissertationsvorhaben die Rezeption der Wiener Schule in Lateinamerika insgesamt untersucht. Die aufmerksame Durchsicht des Manuskripts in verschiedenen Stadien übernahmen Christine Baro, Anna Bredenbach, Daniela Fugellie und Daniela Mangold. Für Begleitung und Kinderhüten danke ich Walter, meinen Eltern sowie allen Freunden, die den Entstehungsprozess dieser Arbeit über Jahre mittrugen. Reutlingen, im Januar 2014

Christina Richter-Ibáñez

Aufbruch …

Mauricio Kagel, geboren 1931 in Buenos Aires, reiste im September 1957 frisch vermählt mit Ursula Burghardt auf dem argentinischen Schiff Yapeyú nach Deutschland.1 Ein DAAD-Stipendium führte sie nach Köln, wo sie fortan lebten und Kagel als Komponist arbeitete. Geplant war das nicht, wie sich Otto Tomek erinnert: »Du erzähltest mir, daß Köln eigentlich nur als Zwischenstation nach Baden-Baden gedacht war, wo Du bei Hans Rosbaud Deine Dirigierstudien abrunden wolltest.«2 Doch Kagel blieb in Köln, und Jürg Stenzl fragte vor einigen Jahren provokativ: »Ist es denn ›einfach selbstverständlich‹, dass er nicht nach Argentinien zurückgekehrt ist, und wieso ist er in Deutschland, in einer zerstörten Stadt geblieben […]?«3 Antworten findet er in den »politischen, ökonomischen und – vor allem – ideologischen Entwicklungen«4 im Argentinien der vierziger und fünfziger Jahre. In dieser Zeit verließen viele talentierte, in Buenos Aires ausgebildete Musiker das Land, um in Europa oder Israel ihre Karrieren erfolgreich fortzusetzen, darunter die Pianistin Martha Argerich, die Geiger Alberto Lysy und León Spierer, der Klarinettist Giora Feidman und der Sänger Carlos Feller. Auch der junge Michael Gielen, der mit seinen Eltern seit 1940 Zuflucht in Argentinien gefunden hatte, verfolgte seine Dirigentenlaufbahn ab 1950 wieder in Europa. Viele von ihnen kehrten regelmäßig zu Gastspielen an den Rio de la Plata zurück, Kagel aber pflegte aus der Ferne wenig Kontakt in

1

Vgl. Mauricio Kagel im Gespräch mit Wolfgang Sandner, in: Hans-Klaus Jungheinrich

2

Otto Tomek, »Ein Brief«, in: Werner Klüppelholz (Hg.), Kagel .... / 1991, Köln 1991,

(Hg.), Aufgehobene Erschöpfung: der Komponist Mauricio Kagel, Mainz 2009, S. 190. S. 84-90, hier S. 84. 3

Jürg Stenzl, »Woher – wohin? Mauricio Kagel zwischen ›Palimpsestos‹ in Buenos Aires und ›Anagrama‹ in Köln (1950-1957)«, in: Jungheinrich, Aufgehobene Erschöpfung, S. 19-38, hier S. 20.

4

Ebd., S. 22.

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Form von Konzerten oder Kursen mit seiner Heimatstadt. Seit seiner Abreise 1957 kehrte er äußerst selten – bis 2002 offenbar nur zweimal5 – nach Buenos Aires zurück: in der ersten Dekade nach seiner Abreise einmal »für einen strikt familiären Besuch«6 im Mai 1961, ein zweites Mal 1974 mit dem Kölner Ensemble für Neue Musik, das gefördert vom Goethe-Institut und der Asociación Amigos de la Música im Teatro Coliseo am 17. und 18. September zwei Vorstellungen gab.7 Umfassende Würdigung als Komponist erfuhr er erst bei seinem Besuch im Jahr 2006, bei dem einige Werke im Teatro Colón aufgeführt wurden. Mit dem Ensemble süden studierte er unter anderem 10 Märsche, um den Sieg zu verfehlen und …den 24.12.1931 verstümmelte Nachrichten ein; der Dokumentarfilm süden, der zu diesem Anlass entstand, zeigt, wie tief bewegt Kagel von der großen Aufmerksamkeit und dem Interesse der jungen Musiker war.8 Kagels Verhältnis zu Argentinien scheint zunächst kritisch distanziert gewesen zu sein; es veränderte sich aber mit der Zeit, denn seine Urteile über dortige Politik und Kultur fielen mit zunehmendem Alter milder aus. Während er 1967 in »Denke ich an Argentinien in der Nacht« sein Geburtsland in kein gutes Licht rückte, fasste er 2001 zusammen: »Aus Südamerika habe ich ein kulturelles Magma mitgenommen, das meine innere Welt entscheidend bereichert hat.«9 Welcher Art war dieses Magma und – nochmals mit Jürg Stenzl gefragt – wie war »die Metropole Buenos Aires beschaffen, in der Kagel aufgewachsen ist?«10 Kagel beschrieb sie 1999 in einer Laudatio auf Michael Gielen folgendermaßen: »Buenos Aires war damals, gemessen an anderen Kulturhauptstädten des Exils, mit New York oder London vergleichbar. Die Vielfalt der Programme und die beachtliche Qualität

5

Wie er Björn Heile mitteilte: vgl. Björn Heile, The Music of Mauricio Kagel, Aldershot 2006, S. 12 und S. 175 Anm. 8.

6

Mauricio Kagel, »Denke ich an Argentinien in der Nacht« [1967], in: ders., Tamtam. Dialoge und Monologe zur Musik, hg. von Felix Schmidt, München / Zürich 1975, S. 11-13, hier S. 11, zur Datierung des Besuchs vgl. Kagels Brief an Witold Gombrowicz, unten S. 215 f. und 313.

7

Gespielt wurden u. a. Con voce, Sur scène, Tactil für drei und Repertoire. Vgl. Enzo Valenti Ferro, 100 años de música en Buenos Aires, Buenos Aires 1992, S. 457 f. Konzertankündigungen in La Nación 17. und 18.9.1974, S. 14, abwertende Kritiken von Susana Espinosa in BAM 29 (1974), H. 471, S. 2 und 3.

8

Vgl. Sequenz zu Beginn des Films süden. Gastón Solnicki on Mauricio Kagel, Kairos 2011, 0013172KAI.

9

Mauricio Kagel, Dialoge, Monologe, hg. von Werner Klüppelholz, Köln 2001, S. 288.

10 Stenzl, »Woher – wohin?«, S. 19.

A UFBRUCH …

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der Aufführungen sicherten ein glänzendes Musikleben, das paradoxerweise so europäisch war, wie ich es selbst in Europa nur an wenigen Orten erlebt habe […].«11

Das »damals« bezieht sich hier auf die Zeit, in der Michael Gielen mit seiner Familie im argentinischen Exil lebte, also auf die vierziger Jahre. Während das Musikleben in den Kriegsjahren in Europa stark eingeschränkt wurde und teils vollständig zum Erliegen kam, blühte es in Nord- und Südamerika und wurde erheblich von Exilanten aus Europa geprägt.12 Als Interpreten fanden sie wie Vater und Sohn Gielen oft Anstellung am Teatro Colón; als Pädagogen gaben sie Privatunterricht: Winzige Musikschulen wie die von Vincenzo Scaramuzza oder Ljerko Spiller bildeten große Talente wie Argerich, Lysy und Spierer aus und wurden so eine Alternative zu den staatlichen Konservatorien. Diese »Qualität der Aufführungen« und ausgezeichnete Lehrer sorgten für die Förderung junger Interpreten; doch ermöglichten sie neben der Reproduktion auch neue schöpferische Wege? »Als Dirigent oder Interpret hätte ich eine Karriere machen können, nicht aber als Komponist«,13 behauptete Kagel und wies damit auf die großen Probleme kreativer Köpfe in Lateinamerika hin. Dabei erhielt er neben seiner musikalischen Ausbildung doch in seiner Jugend umfassende Anregungen: Michael Gielen hat darauf hingewiesen, dass Kagel im Gegensatz zu ihm, der ausschließlich unter europäischen, meist deutschsprachigen Exilanten aufgewachsen war, »einen völlig anderen Bildungsweg«14 hatte: »entweder war seine Neugier größer, oder er hat andere Kontakte gehabt«. So habe sich Kagel »von Anfang an innerhalb einer Sphäre von schöpferischen Außenseitern« bewegt, von denen Gielen exemplarisch Witold Gombrowicz nannte. Eingehender daraufhin be-

11 Kagel, Dialoge, Monologe, S. 293 (Laudatio für Michael Gielen am 2.3.1999 in Frankfurt). 12 Vgl. z. B. Hanns-Werner Heister / Claudia Maurer-Zenck / Peter Petersen (Hg.), Musik im Exil: Folgen des Nazismus für die internationale Musikkultur, Frankfurt a. M. 1993, mit Beiträgen zu Fritz Busch, Hermann Geiger-Torel und Lateinamerika im Überblick sowie die Artikel in Claus-Dieter Krohn u. a. (Hg.), Kulturelle Räume und ästhetische Universalität. Musik und Musiker im Exil (Exilforschung 26), München 2008. Zum österreichischen Musikerexil in Argentinien vgl. Primavera Driessen Gruber, »Tango desperado. Musik-Exil in Argentinien«, in: Zwischenwelt 28 (2011), H. 3, S. 40-44. 13 Kagel im Gespräch mit Armin Köhler, »ich weiß, dass ich ein klassiker bin«, in: NZfM 169 (2008), H. 6, S. 10-14, hier S. 10. 14 Michael Gielen / Werner Klüppelholz, »Aus Deutschland, Argentinien. Ein Gespräch«, in: Klüppelholz, Kagel .... / 1991, S. 54-60, hier S. 54, folgende Zitate ebd.

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fragt, beschrieb Kagel nicht nur seine Kontakte zu den grundverschiedenen Schriftstellern Gombrowicz und Jorge Luis Borges, sondern auch Cafés, Buchhandlungen, Orchester und Konzertvereinigungen in Buenos Aires.15 Er kam, wie Helga de la Motte-Haber formulierte, »aus einem lebendigen kulturellen Kontext […], der die Verbindung beider Amerika einschloss, europäischen Emigranten einen Platz geboten hatte und wie in Europa vor den 1930er Jahren von der Spannung von Konservativismus und progressiver Haltung geprägt war.«16 Dass Kagel diesen kulturellen Reichtum der argentinischen Hauptstadt erst seit den neunziger Jahren öffentlich würdigte, sollte nicht nur der »Altersmilde« zugeschrieben werden. Vielmehr ist nach persönlichen Erfahrungen auch vor politischen Hintergründen zu fragen. Kagel nahm 1980 die deutsche Staatsbürgerschaft an – zu einer Zeit, in der mit Blick auf die herrschende, brutale Militärregierung Jorge Rafael Videlas in Argentinien auf keinen Fall an Rückkehr zu denken war. 1982 las man im Kontext seines Film- und Hörspielschaffens von der »Militärdiktatur« Peróns und dem Verbot seines ersten Films.17 Hatte also auch Kagel in seiner Jugend mit Einschränkungen zu leben und Gewalt erlebt, wurde seine Ausbildung oder künstlerische Arbeit durch Regierende behindert? Der Komponist gab dazu keine detaillierten Auskünfte. Juan Domingo Peróns erste Präsidentschaft begann 1946 – Kagel war erst 14 Jahre alt und an der Wahl nicht beteiligt –, und bestand nach der Wiederwahl 1951 bis zum Sturz im September 1955. Unverkennbar ist, dass Kagel erst zwei Jahre nach dem Sturz Peróns und freiwillig zu Studienzwecken nach Deutschland reiste, also nicht vor dieser »Diktatur« flüchtete. Rückblickend äußerte er sich über Perón aber ausschließlich negativ, bezeichnete ihn als »Wüterich«, der gemeinsam mit seinen Anhängern in »Tiraden«18 gegen Kulturträger wie Borges vorgegangen sei. Damit ergriff er unmissverständlich Partei gegen den Präsidenten und seine Politik. Diesem Eindruck eines Kahlschlags stehen jedoch die Aussagen zum facettenreichen Kulturleben in Buenos Aires gegenüber,19 das Kagel vielseitige Erfahrungen ermöglichte und

15 Kagel, Dialoge, Monologe, passim. 16 Helga de la Motte-Haber, »Nah und fern der Gattungstraditionen«, in: Ulrich Tadday (Hg.), Mauricio Kagel (Musik-Konzepte Neue Folge 124), München 2004, S. 71-82, hier S. 76. 17 Vgl. Mauricio Kagel, Das Buch der Hörspiele, hg. von Klaus Schöning, Frankfurt a. M. 1982, S. 316. 18 Beide Worte in Kagel, Dialoge, Monologe, S. 268. Dies widerlegt die Aussage von Stenzl, »Woher – wohin?«, S. 23, Kagel hätte den Namen Peróns nie erwähnt. 19 Vgl. u. a. Kagel, Dialoge, Monologe, S. 228, 253, 288 und 293 f.

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sein Schaffen ein Leben lang inspirierte. Wie passt dies zusammen? Welchen Einfluss hatte die Regierung Perón auf das kulturelle Leben und speziell auf musikalische Institutionen? In welchen Gruppen bewegte sich Kagel? Welche Themen und künstlerischen Probleme beschäftigten ihn? … aus der Peripherie? Seit der Eroberung Amerikas durch Europäer befanden sich die neuen Kolonien in Abhängigkeit zu den Zentren, bildeten die wirtschaftlich und politisch unterworfene »Peripherie«. Europäische Einflüsse prägten jahrhundertelang auch die kulturelle Produktion, die besonders in Buenos Aires von Übersetzungen und Kopien europäischer Vorbilder lebte. Erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts verstärkte sich der Kulturtransfer in die Gegenrichtung, und besonders in den zwanziger Jahren wurden Buenos Aires, Lima, Mexico, Santiago de Chile und Rio de Janeiro zu kulturellen Hochburgen, in denen eigene Originalität angestrebt wurde. Dennoch war der Dialog mit europäischen Künstlern und Wissenschaftlern zunächst weithin asymmetrisch und fand höchstens in Akademikerkreisen oder anderen Spezialisten-Bereichen in beide Richtungen statt. Nach dem Zweiten Weltkrieg trat zum ersten Mal eine neue Situation ein: Genährt von den Immigranten der Vor- und Kriegsjahre und – trotz einiger Materialversorgungsengpässe zum Beispiel in der Filmindustrie – durchgängigem Kulturbetrieb gelangte Lateinamerika auf Augenhöhe mit Europa. Kagels Aussage, das Musikleben seiner Geburtsstadt sei »so europäisch« gewesen, wie er es »in Europa nur an wenigen Orten erlebt habe«,20 gibt Zeugnis von einer beinahe vollständigen Umkehrung des Zentrum-Peripherie-Verhältnisses. So zeigen autobiografische Aussagen vieler reisender Intellektueller in den Nachkriegsjahren, dass sie das traditionelle Ungleichgewicht zwischen kulturellen Zentren und marginalen Regionen in Zweifel zogen.21 Gleichzeitig gab es eine wichtige Veränderung in der europäischen Wahrnehmung der lateinamerikanischen Künstler: Mit dem Literaturnobelpreis für Gabriela Mistral 1945 wurde die weltweite Anerkennung der lateinamerikanischen Autoren eröffnet. Europäische Exilanten wie Roger Cail-

20 Kagel, Dialoge, Monologe, S. 293, vgl. vollständiges Zitat oben S. 16 f. 21 Vgl. Susanne Klengel, »Relaciones familiares, sentimientos dispares. Consideraciones autobiográficas de intelectuales latinoamericanos acerca de la Francia de la segunda posguerra«, in: Hugo Cancino Troncoso / Carmen de Sierra (Hg.), Ideas, cultura e historia en la creación intelectual latinoamericana. Siglos XIX y XX, Quito 1998, S. 341-361 sowie dies., Die Rückeroberung der Kultur. Lateinamerikanische Intellektuelle und das Europa der Nachkriegsjahre, Würzburg 2011.

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lois (1939-44 in Argentinien) hatten ihre Gastländer intensiv kennen und schätzen gelernt und brachten ihre Entdeckungen in das Europa der Nachkriegsjahre mit. Caillois eröffnete 1951 die Reihe La Croix du Sud beim Verlag Gallimard in Paris mit Jorge Luis Borges’ Ficciones in französischer Übersetzung, womit dessen europäischer Erfolg begann. Viele argentinische Autoren empfanden jedoch weiterhin schon die geografische Lage des Landes als abgelegen; so schrieb der Historiker Félix Luna: »nuestro periférico país tiende a percibir en sordina el fragor de los cataclismos mundiales«.22 Die Auswirkungen des Kalten Kriegs sowie besonders die innenpolitisch nationalistische und sich nach außen abschottende Ideologie unter Perón führten zudem dazu, dass Argentinien aus der viel versprechenden Nachkriegssituation keinen Nutzen zog und sich mit einer restriktiven Kulturpolitik wieder in die Peripherie beförderte: Anfang der fünfziger Jahre wurden der internationale künstlerische Austausch nicht begünstigt, die neuesten ästhetischen Diskurse verspätet rezipiert23 und die heute prominentesten Vertreter im eigenen Land alles andere als gefördert: Borges schrieb vor allem Erzählungen für Freunde und in unabhängigen Zeitschriften wie Sur; er verarbeitete darin auch ironisch die Haltung, Angst und Erstarrung der Intellektuellen gegenüber den politischen Veränderungen. Anders als der jüngere Julio Cortázar, der 1951 das Land verließ, nach Paris reiste und dort blieb, führte Borges sein zurückgezogenes Leben in Buenos Aires fort; seine beginnende internationale Reputation brachte ihm, dem für argentinische Demagogen gerade nicht »typisch argentinischen« Schriftsteller, weitere Kritik im eigenen Land ein. Hier waren die jungen Poeten zudem auf der Suche nach einer neuen literarischen Sprache und der Integration ihrer gesellschaftlichen Erfahrungen. Ein Vorbild der noch später folgenden Schriftstellergeneration wurde der Exilpole Witold Gombrowicz, der von 1939 bis 1963 in Argentinien lebte, dessen Werke dort aber bis in die sechziger Jahre hinein ebenfalls nur von seinem Freundeskreis wahrgenommen wurden. Gombrowicz stand als eigenwillige Persönlichkeit zusätzlich abseits derjenigen, die in Sur und anderen Zeitschriften publizierten. Diese fünfziger Jahre waren von den Reisen (junger) Intellektueller nach Europa geprägt, die häufig dauerhaft übersiedelten: Neben den schon erwähnten Interpreten und Cortázar seien noch der Musiker, Poet und Wissenschaftler Daniel

22 Felix Luna, Perón y su tiempo. II. La comunidad organizada, Buenos Aires 1986, S. 75 im Kontext des Korea-Kriegs: »unser peripheres Land tendiert dazu, das Getöse der Katastrophen in der Welt gedämpft wahrzunehmen«. Wenn nicht anders angegeben sind alle Übersetzungen von d. Verf. 23 Vgl. ebd., S. 337.

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Devoto sowie der bildende Künstler Tomás Maldonado genannt. Viele reisten wie Kagel mit Hilfe von Stipendien, andere traten wie Maldonado an der Hochschule für Gestaltung in Ulm gleich eine Stelle an. Ihnen gelang das, was für (lateinamerikanische) Künstler stets die größte Aufgabe darstellt: originell zu sein, ohne die Entwicklung der europäischen Avantgarde zu ignorieren – mehr noch, gerade mit diesen Vorbildern Neues zu kreieren. Maldonado beschrieb die Situation des Lateinamerikaners noch 2010 folgendermaßen: »The demand to establish our own cultural contribution was implicit – that is, to underline our autonomy. In fact, this meant questioning any form, overtly declared or unspoken, of subalternity. In sum: not to admit the dichotomy between center and periphery in the cultural field. Of course, it would be absurd, and overly politically incorrect, to deny that such a dichotomy has existed, and that it still exists, but it’s clear that today, in the age of the internet, it’s losing many of its most traditionally hateful features. On the other hand, in the field of art, the relationship between center and periphery has never been univocal, but is rather biunivocal.«24

Obwohl die Entwicklung in den Künsten also von wechselseitigen Einflüssen lebte, blieben europäisches Zentrum und lateinamerikanische Peripherie als Gegensätze erhalten. Die politischen Entwicklungen in ganz Lateinamerika und auch in Argentinien bestärkten zudem den (musikalischen) Nationalismus, der bis in die fünfziger Jahre dominierte und nur in seinem Schatten avantgardistische Strömungen gedeihen ließ. Für die musikalischen Institutionen symptomatisch ist beispielsweise, dass im Präsidium der Internationalen Gesellschaft für Neue Musik erst seit 1985 ein Lateinamerikaner sitzt.25 Hinzu kommt das räumliche und strukturelle Problem auf dem Kontinent – die Wege zwischen musikalischen Leuchttürmen sind weit, die Aufführungsorte weniger zahlreich als in Europa und speziell in Deutschland – mit Folgen für Kagels Karriere: »Ich wusste, dass ich als Komponist in Argentinien nicht überleben konnte. […] Dort liegen die Städte sehr weit auseinander.«26 Sie waren und sind zudem infrastrukturell weniger gut vernetzt. Dagegen sei die »Dichte der autonomen Kulturzentren« in Europa gerade für Komponisten »außerordentlich günstig«. Da er als

24 [Tomás Maldonado / María Amalia García], Tomás Maldonado in Conversation with María Amalia García, Introductory Essay by Alejandro Crispiani, New York 2010, S. 42. 25 Vgl. Monika Fürst-Heidtmann, »Nueva Música de Arte. Neue Musik in Lateinamerika«, in: NZfM 158 (1997), H. 6, S. 9-15, hier S. 15. 26 Kagel / Köhler, »ich weiß, dass ich ein klassiker bin«, S. 10, die folgenden Zitate ebd.

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Dirigent und Interpret nicht nur neue, sondern auch alte Musik und das »klassische« Konzertrepertoire aus dem 19. Jahrhundert aufführen konnte, boten sich ihm Arbeitsmöglichkeiten in Argentinien, die er sich – wie gezeigt werden wird – zwischen 1952 und 1957 konsequent erarbeitete. Dass Kagel, wie eingangs erwähnt, auch mit dem Ziel nach Europa kam, seine Dirigierstudien bei Hans Rosbaud, den er möglicherweise einige Jahre zuvor bei dessen Gastspiel in Buenos Aires erlebt hatte, zu erweitern, ist daher gut vorstellbar. Dagegen steht jedoch Kagels Erinnerung, nach der er mit dem Wunsch nach Deutschland gekommen sei, »ohne weitere Verpflichtungen komponieren zu können.«27 Netzwerke Obwohl musikalische Werke oft am Schreibtisch oder am Instrument in individueller Arbeit entstehen, sind ihre Produktion und Verbreitung wie jedes Kunstwerk das Ergebnis der Interaktion von Menschen und damit vom sozialen Umfeld abhängig.28 Lehrer und aktuelle Ästhetik an Ausbildungsstätten, deren Antipoden und freie Kritiker sowie die zur Verfügung stehenden Aufführungsmöglichkeiten haben besonderen Einfluss auf junge Komponisten. Für Kagels erste Kompositionen ist die Bedeutung des Kontakts mit der Agrupación Nueva Música (ANM) offenbar: Viele von ihnen entstanden für Besetzungen, die in der ANM möglich und üblich waren. In dieser Gruppe um den Komponisten Juan Carlos Paz sammelten sich junge Tonsetzer wie Michael Gielen, Francisco Kröpfl und Mauricio Kagel sowie andere Künstler, Journalisten und Architekten, die sich für die neuesten musikalischen Strömungen interessierten. Die ANM existierte abseits der etablierten musikalischen Institutionen und kann mit Künstlergruppen verglichen werden, für deren Bildung Niklas Luhmann eine Theorie anbietet: »[…] erst wenn weder die Tradition noch ein Patron noch der Markt und nicht einmal die Kunstakademien dem einzelnen Künstler genügend Hinweise für seine Arbeit geben, bilden sich innerhalb des Kunstsystems neuartige Gruppierungen, in denen Gleichgesinnte sich zusammenfinden und fehlenden Außenhalt durch Selbstbestätigung in der Gruppe ersetzen. Man denke an die Prä-Raphaeliten, an den Blauen Reiter, an das Bauhaus, an die Gruppe 47, an die Gruppe language art und zahllose ähnliche Formationen. Es handelt sich nicht um formale Organisationen, aber auch nicht nur um verdichtete Interaktionen

27 Mauricio Kagel in MusikTriennale Köln / Franz Xaver Ohnesorg (Hg.), Erinnerungen. Neue Musik in Köln 1945-1971. Materialien zur Ausstellung, Köln 1994, S. 22. 28 Vgl. Howard S. Becker, Art Worlds, Berkeley u. a. 1982, passim.

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wie häufige Zusammenkünfte. Gerade die Lockerheit der Gruppierung erleichtert es dem Einzelnen, sich dazuzurechnen und sich vorzubehalten, wie stark und wie lange er sich dadurch gebunden fühlt.«29

Die Künstler erhalten Anregung und Selbstbestätigung in der Gruppe, die ihnen das Kulturleben im Umfeld verwehrt. Tatsächlich hatte die ANM seit ihrer Gründung 1944 keine formale Organisation und existierte abseits von Markt und Konservatorien um ihren Initiator Juan Carlos Paz, der zudem in Zeitschriften gegen das ihn umgebende Musikleben polemisierte. Viele Gruppenmitglieder erhielten zeitweise Unterricht von Paz, sie trafen sich zum Essen und Musikhören. Die regelmäßigen Konzerte und Treffen verdichteten sich besonders während Kagels Mitwirkung 1952 / 53; die ANM bekam eine Struktur mit Mitgliedsbeiträgen und Sekretariat, so dass aus der lockeren Gruppe ein Verein wurde. Zudem war die ANM in ein Intellektuellennetzwerk mit bildenden Künstlern, Architekten und Literaten eingebunden. Kagels Berichte über seine Bekanntschaft mit Borges und Gombrowicz passen in vielerlei Hinsicht zu den Aktivitäten der ANM und dem Aktionsradius ihres Leiters Paz. Viele dieser Vorbilder und Weggefährten Kagels in Buenos Aires hatten bewusst oder unfreiwillig eine politische oder ästhetische Außenseiterrolle eingenommen und bewegten sich vornehmlich in kleineren, untereinander aber durchaus verbundenen Freundeskreisen. Auf sie trifft oft Jürgen Freses Theorie zu, in der die Marginalisierung »häufige, aber nicht notwendige« Grundlage, »Begleitprozeß oder […] Resultat von Gruppierungs-Prozessen« ist: »[I]m Verlauf institutionalisierter Ausleseprozesse [werden] regelmäßig einzelne Intellektuelle aus den (definierenden, qualifizierenden und normalisierenden) Biographie- (und Karriere-)Mustern der (hegemonialen) Institutionen (Kirchen, Universitäten, Staatsparteien) von diesen (explizit) ins sozial Unbestimmte entlassen. Das trifft wie jede Selektion meist unfreiwillig, wird aber oft auch (durchaus in Kenntnis der erwartbaren Folgen) durch ›eigene‹ Akte der von Ausgliederung Betroffenen provoziert.«30

Der Komponist Juan Carlos Paz wurde laut Michael Gielen »in Argentinien wegen seiner strengen Zwölf-Ton-Observanz als Sektierer angesehen und hatte sich

29 Niklas Luhmann, Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt 1995, S. 270 f. 30 Jürgen Frese, »Intellektuellen-Assoziationen«, in: Richard Faber / Christine Holste (Hg.), Kreise – Gruppen – Bünde. Zur Soziologie moderner Intellektuellenassoziationen, Würzburg 2000, S. 441-462, hier S. 451.

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deshalb mit der ›Nueva Música‹ eine Plattform geschaffen«.31 Gielen selbst berichtete von Ausgrenzung in seiner Schulzeit;32 als Exilant und Jude sowie politisch aktiver Student um 1945 war er einerseits in Buenos Aires unangepasst, andererseits schon in den späten vierziger Jahren durchaus mit seiner Arbeit als Korrepetitor am Teatro Colón anerkannt. Von Mauricio Kagel ist bekannt, dass er an der Aufnahmeprüfung für das Konservatorium scheiterte.33 Derlei Ausgrenzungsprozesse einzelner Personen sind laut Frese zwar in hochkulturellen Gesellschaften immer vorhanden, führten aber nur unter besonderen zeitlichen und räumlichen Bedingungen zur Gruppenbildung der Stigmatisierten. Dabei gäbe es auffällige lokale Verdichtungen »in schnell wachsenden Metropolen und in Universitätsstädten – das heißt, in Orten mit ohnehin starken Zu- und Abwanderungsbewegungen und abgeschwächter sozialer, politischer und religiöser Kontrolle«.34 Die politischen Ereignisse vor und nach der Wahl Peróns zum Präsidenten 1946 und die damit einhergehende Ausgrenzung von Intellektuellen aus öffentlichen Ämtern können als zeitliche Verdichtung angesehen werden. Unter den Schriftstellern war Borges 1946 aus politischen Gründen von seinem Posten in der Bibliothek entlassen und zum Geflügelinspektor »befördert« worden. Er wurde erst nach Peróns Sturz 1955 rehabilitiert. Wie er verloren zahlreiche Intellektuelle, die der Regierung Perón kritisch gegenüberstanden, öffentliche Posten in Hochschulen, Museen usw. und suchten sich alternative Arbeitsfelder in privaten Initiativen wie dem Colegio Libre de Estudios Superiores (CLES). Gombrowicz, als polnischer Exilant in diesem Milieu ohnehin nur langsam Fuß fassend, marginalisierte sich nach dem ausbleibenden Erfolg seiner ersten spanischen Übersetzungen ab 1948 in wachsendem Maße, indem er seine argentinischen Kollegen schockierte oder sie mied;35 stattdessen sammelte sich um ihn eine junge Anhängerschar. Die Marginalisierten bildeten immer neue (interdisziplinäre) Gruppen – meist nur von kurzer Dauer – um Zeitschriften (Borges, Devoto, Cortázar, Paz und Kagel publizierten z. B. in Buenos Aires Literaria), Verlage (z. B. nueva visión) oder andere Treffpunkte wie bestimmte Cafés (z. B. Gombrowicz-Kreis) und alternative Aufführungs- oder Bildungsstätten. Diese

31 Michael Gielen, Unbedingt Musik, Frankfurt a. M. / Leipzig 2005, S. 61. 32 Vgl. ebd., S. 45. 33 Vgl. Kagel, Dialoge, Monologe, S. 252 f. sowie Collage (1964), H. 3 / 4, S. 42. Kagel gibt kein Jahr an, vgl. unten S. 103, zieht aber den Vergleich zur Biografie Verdis. 34 Vgl. Frese, »Intellektuellen-Assoziationen«, S. 452 f. 35 Vgl. Juan Allende-Blin, »Mauricio Kagel und ›Anagrama‹«, in: Klüppelholz, Kagel .... / 1991, S. 61-72, hier S. 61.

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»Konjunktur von Gruppen«36 weist auf den Charakter dieser bewegten Jahre hin – einer Umbruchzeit von damals noch nicht zu erahnenden Ausmaßen, die auch im Musikleben ihren Niederschlag fanden: Die Neugründung staatlicher und privater Orchester und Vereinigungen führte in den späten vierziger Jahren zu einer Ausdifferenzierung im kulturellen Leben und somit zu einem vielseitigen Angebot in Theatern, Kinosälen, Bildungseinrichtungen usw. Zwischen bestimmten Institutionen gab es personelle Überschneidungen; dass Gielen in den vierziger Jahren und Kagel in den fünfziger Jahren neben der ANM gleichzeitig in der hebräischen Gemeinschaft und im Collegium Musicum, nicht aber im Konservatorium auftraten, ist dafür typisch. Kagel eignete sich zwar schon in Buenos Aires durch vielfältige Kontakte ein umfangreiches Wissen an, als Musiker blieb er jedoch eine Randerscheinung: bis zum Ende des Peronismus nur mit Auftrittsmöglichkeiten in kleinen privaten Organisationen, danach zwar auch in Teatro Colón, Radio und Universität, aber kaum in großen Produktionen und nicht als Komponist. Die Reise nach Köln stellte für Kagel daher einen biografischen Glücksfall dar: Zum besten Zeitpunkt verließ er seine Position in der doppelten – geografischen und institutionellen – Peripherie, gelangte in Köln im Umfeld des WDR in das aktuelle Zentrum der zeitgenössischen Musik, damit an alle technischen Möglichkeiten zur Umsetzung seiner Ideen und nach der Begegnung mit John Cage 1958 zu seiner eigenen Sprache im Instrumentalen Theater.37 Quellen und Aufbau der Arbeit Im Mittelpunkt dieser Arbeit stehen Kagels Werdegang in Buenos Aires als Interpret, Autor und Komponist sowie seine Kontakte zu Musikern, bildenden Künstlern, Architekten, Filmschaffenden und Literaten. Ausgewertet werden konnten dazu von ihm gesammelte und nun in der Paul Sacher Stiftung Basel (PSS) aufbewahrte Dokumente seines öffentlichen Auftretens wie Konzertprogramme und -kritiken, Tonaufnahmen sowie Kompositionen in Form von Skizzen, Partiturentwürfen und -abschriften. Andere Materialien, wie Teile seiner großen Bibliothek, wurden nach Kagels Tod nicht nur dorthin übergeben,

36 Wolfgang Eßbach, Die Junghegelianer. Soziologie einer Intellektuellengruppe, München 1988, S. 43. Dort und in den Anmerkungen auch weitere Hinweise zur Gruppensoziologie. 37 Dies hat Matthias Rebstock, Komposition zwischen Musik und Theater. Das instrumentale Theater von Mauricio Kagel zwischen 1959 und 1965 (sinefonia 6), Hofheim 2007, S. 94 ff. ausführlich dargestellt.

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sondern auch der Bibliothek des Ibero-Amerikanischen Instituts in Berlin (IAI) und der Universitäts- und Landesbibliothek Bonn (ULB) geschenkt; diese Bestände konnten eingesehen werden. Darüber hinaus wurden in Buenos Aires Nachlässe von Juan Carlos Paz, Guillermo (Wilhelm) Graetzer und Ljerko Spiller mit Programmheften und Manuskripten sowie bei Paz auch Korrespondenz und Tagebuchaufzeichnungen in Auszügen gesichtet. Eine Bekräftigung der daraus gezogenen Erkenntnisse gerade im Hinblick auf Kagels musikalische Betätigungen und ein revidiertes Verzeichnis der Jugendwerke gelang durch den im Anhang reproduzierten Brief an den deutschstämmigen, damals in Mendoza / Argentinien lebenden Musikwissenschaftler Francisco Curt Lange vom 3. September 1956.38 Kagel hat sein Leben und sein Komponieren unzählige Male in Werkkommentaren und Interviews gedeutet. Über seine Kindheit und Jugend in Buenos Aires berichtete er verstärkt seit 1991 in Gesprächen mit Werner Klüppelholz, am ausführlichsten im 2001 erschienenen Band Dialoge, Monologe, sowie in der Folge in zahlreichen Interviews zum Beispiel mit Armin Köhler.39 Die meist deutschsprachigen Kagel-Forscher vertrauten den Aussagen des Komponisten bisher weitgehend blind: Seine Angaben zu den kulturellen und politischen Rahmenbedingungen besonders in Argentinien wurden regelmäßig reproduziert, ohne sie historisch zu überprüfen und die Problematik dieser Erinnerungen mit großem zeitlichen Abstand überhaupt zu thematisieren. Seit einiger Zeit wird aber gefordert, die Herkunft von Kagels autobiografischen Aussagen und »das ganze Konglomerat aus Musik, Literatur, Architektur, Film, Fotografie beim jungen Kagel in Buenos Aires«40 genauer zu untersuchen. Grundlage dessen muss zweifellos das Wissen um die politischen und künstlerischen Diskurse sein, die vor Ort geführt wurden. Das erste Kapitel fasst darum die Grundzüge des Pe-

38 Daniela Fugellie stieß bei ihrem Forschungsaufenthalt in Belo Horizonte auf diesen Brief, über den sie mich informierte. Ihr sowie dem Acervo Curt Lange und Pamela Kagel danke ich für die Erlaubnis, den Brief zu lesen und zu reproduzieren. 39 Vgl. Interview mit Mauricio Kagel, ».... / 1991«, in: Klüppelholz, Kagel .... / 1991, S. 11-53; Kagel, Dialoge, Monologe, passim; Kagel im Gespräch mit Armin Köhler, »›Der Fleischwolf Gottes‹ oder: Von der Moral beim Komponieren«, in: DVD Erlebte Geschichte. Aufbrüche, rückblicke, zeitläufte. Sendungen + Texte, Baden-Baden / Mainz 2009, NZ 5019, o. S. 40 Werner Klüppelholz in »Statt eines Vorworts. Stefan Fricke und Werner Klüppelholz im Chatroom«, in: Werner Klüppelholz, Über Mauricio Kagel, Saarbrücken 2003, S. 7-18, hier S. 17. Vgl. auch die Schlussdiskussion in: Jungheinrich, Aufgehobene Erschöpfung, S. 205-209, besonders S. 206 f.

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ronismus und der staatlichen Kulturpolitik sowie deren Auswirkungen auf die Kreise der Intellektuellen, auf Verlagswesen und Literatur, bildende Kunst und Filmproduktion zusammen. Es folgt der Versuch, das Musikleben der Nachkriegsjahre am Rio de la Plata an einigen Beispielen zu beschreiben – gerade weil und obwohl die musikwissenschaftliche Forschung bisher nur wenige Beiträge dazu geliefert hat – und Kagel darin bis zu seiner Reise nach Europa 1957 zu verorten: Neben den großen staatlichen Institutionen wie dem Teatro Colón und diversen Orchestern wird auf Musik im Dienst der Propaganda und die Quotengesetzgebung für Konzerte eingegangen. Besondere Aufmerksamkeit verdienen jedoch die privaten Initiativen wie die Asociación Amigos de la Música und das Collegium Musicum sowie kleinere Verlage und Konzertveranstalter, mit denen Kagel verbunden war. Kagels Mitwirkung in der ANM von 1950 bis 1954 steht im Mittelpunkt des zweiten Abschnitts: Kagel interpretierte dort als Pianist und Dirigent Kammermusik, beteiligte sich an der Organisation der Konzertreihe und erlebte 1952 die Uraufführung seiner Variaciones para cuarteto mixto. Sein größtes Engagement fiel 1953 mit der intensiven Webern-Rezeption in Buenos Aires – zeitgleich zu Europa – zusammen. Die Vernetzung der ANM mit bildenden Künstlern und Architekten förderte zweifellos Kagels interdisziplinäre Interessen, denen ebenso nachgegangen wird. Auch seine Beschäftigung mit Filmmusik erreichte ihren Höhepunkt um das Jahr 1953 und ist den Filmliebhabervereinigungen sowie einem frankophilen Ambiente eingeschrieben. Als bedeutenden Ereignissen im Kulturleben von Buenos Aires und – zufällige? – Klammer um Kagels Zeit in der ANM sind den beiden Besuchen der Compagnie Madeleine Renaud und Jean-Louis Barrault mit ihrem musikalischen Leiter Pierre Boulez im Juli 1950 bzw. 1954 eigene Kapitel gewidmet. Kagel hat darauf hingewiesen, dass er in den Produktionen als Statist mitwirkte; auf Boulez’ Rat im Jahr 1954 hin habe er sogar erst das DAAD-Stipendium beantragt, das ihn drei Jahre später nach Deutschland führte.41 Während dieses zweite Datum und Boulez’ Wirkung als musikalischer »Wegweiser« 1954 – nicht nur für Kagel, sondern für die Musikwelt allgemein – unbestritten ist, war Boulez 1950 noch weitgehend unbekannt; das erste Gastspiel der Compagnie fand aber vor allem wegen der Aufführung von Le Procès nach Franz Kafka große Aufmerksamkeit.

41 Vgl. Kagel, Dialoge, Monologe, S. 38 ff. sowie Gespräch mit Wulf Herzogenrath und Gabriele Lueg, »Was ist an diesem Handwerk noch wert, in Frage gestellt zu werden?« [1986], in: Mauricio Kagel, Worte über Musik. Gespräche – Aufsätze – Reden – Hörspiele, München 1991, S. 70-84, hier S. 70.

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Nach einem Bruch mit der ANM, der ihm auch das vorerst einzige Podium zur Aufführung seiner weiteren zwölftönigen Werke nahm, setzte Kagel auf eine Tätigkeit als Dirigent und musikalischer Berater in anderen Organisationen: In der hebräischen Gemeinschaft SHA übernahm er die Leitung des Chors von dem seit 1937 in Argentinien lebenden deutschen Exilanten Teodoro (Theodor) Fuchs, 1954 gründete Kagel das Kammerorchester Pro-Música, ab 1956 korrepetierte und dirigierte er in der Kammeroper und im Teatro Colón. Gerade sein Engagement am größten Opernhaus aber fiel in die Zeiten eines Orchesterstreiks, so dass er nur wenige Dirigiererfahrungen im großen Haus sammeln konnte. Gezeigt werden kann, wie sehr Kagel von Engagements der jüdischen Gemeinschaft profitierte und dass er nach dem Sturz Peróns auch in staatliche Positionen gelangte. Im Hinblick auf Freundschaften mit Schriftstellern können sowohl die bestehenden Verbindungen über die ANM als auch familiäre Verknüpfungen betrachtet werden. Konkrete Datierungen sind für Buenos Aires nicht immer möglich, darum werden die Netzwerke und persönlichen Freundschaften schlechthin untersucht und für Kagel die »Nachwirkungen« in Europa zusätzlich ins Auge gefasst: Vor allem die Kontakte seiner großen Schwester Guida sind von Interesse; sie traf Cortázar wiederholt – auch noch in Europa – und suchte sogar Gombrowicz 1963 in Berlin auf, bevor Mauricio ihm kurz darauf schrieb. Sein Brief an Gombrowicz, die frühere Zusammenarbeit mit Borges, die Bekanntschaften mit Devoto, Cortázar und anderen stehen im Fokus des Literatur-Kapitels. Eigentlich habe er in Argentinien »nur sporadisch komponiert«, mit seinen Tätigkeiten in »Cinémathèque und Kammeroper genügend Ventile« für seine »visuellen und theatralischen Neigungen« gehabt und erst in Deutschland begonnen »hauptamtlich Musik zu schreiben«.42 Über die »sporadischen« Kompositionen, die in Argentinien entstanden, berichtete Kagel vor allem selbst. Die Werkkataloge stützten sich lange Zeit auf diese Aussagen, ohne dass – mit Ausnahme der in Europa revidierten und publizierten Variaciones para cuarteto mixto (1951 / 52, rev. 1991) und des Sexteto de cuerdas (1953, rev. 1957) – ein Blick in Partituren oder gar Skizzen möglich war. Selbst Dieter Schnebel, der 1970 zum ersten Mal einen Überblick über Kagels Schaffen gab, stützte sich auf Gespräche mit dem Komponistenkollegen;43 Manuskripte der frühen Werke konnte auch er damals nicht einsehen. Diese Situation änderte sich, als Kagels

42 Alle Zitate von Mauricio Kagel im Gespräch mit Hansjörg Pauli, Für wen komponieren Sie eigentlich?, Frankfurt a. M. 1971, S. 83-105, hier S. 88. 43 So die Aussage von Dieter Schnebel in einer E-Mail an d. Verf. am 1.11.2010, vgl. Dieter Schnebel, Mauricio Kagel. Musik – Theater – Film, Köln 1970.

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umfangreicher Nachlass ab 2009 in der Paul Sacher Stiftung aus den Kisten gepackt wurde: Zutage traten Skizzen, Manuskripte, teilweise mit Eintragungen, die auf Aufführungen weisen, und Programmzettel, die ausgewertet und mit dem bereits Bekannten verglichen werden konnten und so zu einem aktualisierten chronologischen Werkverzeichnis führten. Die Cuatro piezas para piano sowie deren Fassung für Streichorchester, die Cinco canciones del Génesis, Klarinettenminiaturen und das Preludio No. 1 für Bandoneon sind inzwischen bei der Edition Peters verlegt und in Europa ur- bzw. erstaufgeführt worden. Die Materialien zu einem Chorstück nach einem Gedicht von Lorca sowie zur Música para una torre, einer Beleuchtungs- und Beschallungskonzeption für einen Turm, sind dagegen lückenhaft und können auch hier nur in Ansätzen ausgewertet werden. Im Vergleich mit zeitnah in Buenos Aires entstandenen und aufgeführten Werken von Paz, Gielen und Kröpfl wagt das Kapitel zum Komponieren in Buenos Aires die Darstellung einiger Entwicklungslinien, Kagels grundlegender Interessen (Zwölftontechnik sowie Spiegelung und Variation anderer Parameter als der Tonhöhe: Dauern, Beleuchtungsfolgen, Klangfarben; Vokalkompositionen; Klangstudien) sowie seiner späteren Haltung dazu. »Jeder Satz ist eine Spur«44 Wer oft nach seinem Leben und seinem Blick auf die (Musik-)Geschichte befragt wird, übt sein Gedächtnis45 und sortiert die Erinnerungen, erzählt die gleichen Episoden – manchmal jedoch mit minimalen Abweichungen im Detail. Die zeitliche Distanz, spätere Erfahrungen und aktuelle Bezugnahmen verstärken dabei oft die faktische Ungenauigkeit der ohnehin subjektiven Wahrnehmung des ursprünglichen Geschehens. Auffällig ist beispielsweise an Kagels Äußerungen über die Regierung Peróns, dass er 1982, als in Argentinien die Militärregierung Videlas seit Jahren ihr Unwesen trieb, auch die peronistische Regierung als eine »Militärdiktatur«46 bezeichnete. Mehr als zwanzig Jahre später wählte er jedoch den Begriff »Demokratur«47 als Mischung aus Diktatur und Demokratie und einem zwar vorhandenen, aber bevormundeten Parlament. Es lohnt sich daher, Kagels Aussagen über die Jahre hinweg zu vergleichen und bestimmte Erzähl-

44 Werner Klüppelholz im Vorwort zu Kagel, Dialoge, Monologe, S. 7-10, hier S. 8. 45 Wie der Proband in Lothar Steinbach, »Lebenslauf, Sozialisation und ›erinnerte Geschichte‹«, in: Lutz Niethammer (Hg.), Lebenserfahrung und kollektives Gedächtnis. Die Praxis der »Oral History«, Frankfurt a. M. 1980, S. 291-322, hier S. 292. 46 Kagel, Das Buch der Hörspiele, S. 316. 47 Kagel / Köhler, »›Der Fleischwolf Gottes‹«, o. S.

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stränge zu analysieren, die immer wiederkehren. Neben Kagels Erinnerungen werden die publizierten – und ebenso »geübten« – von Zeitgenossen wie Juan Allende-Blin und Michael Gielen zum Vergleich herangezogen. Für diese Studie geführte Gespräche und Korrespondenz mit Odile Baron Supervielle, Pierre Boulez, Victor Chab, Giora Feidman, Carlos Feller, Michael Gielen, Francisco Kröpfl, Tomás Maldonado, Lucía Maranca, María Adela Palcos, Felisa Pinto und León Spierer dienten vor allem der Suche nach Dokumenten und Hintergrundinformationen. Auf eine vollständige Transkription wurde aufgrund ihrer Heterogenität und des großen Umfangs der Materialien verzichtet,48 vereinzelt wird jedoch auf die Herkunft von Informationen aus diesen Interviews, die anderweitig nicht belegt werden konnten, für weitere Recherchen verwiesen. Kürzere, für bildende Kunst, Film und den Gombrowicz-Kreis besonders relevante E-Mails von Jorge Milchberg, Alejandro Rússovich und Alejandro Saderman, die zuvor noch nicht öffentlich zu Kagel Auskunft gaben, sind im Anhang in Auszügen wiedergegeben. Den vielen ästhetischen und kulturpolitischen Aussagen in Interviews steht Kagels Verschwiegenheit zum Privatleben gegenüber, wie Hans-Peter Jahn in einem Nachruf formulierte: »Über die Privatbefindlichkeiten von Mauricio Kagel war Zeit seines Lebens nicht viel herauszubekommen. Ein beredter Schweiger, der allen verriet, wie er dachte, der nur nicht laut dachte, wie es um ihn persönlich stand.«49 So erfahren wir wenig Konkretes über seine Kindheit und Familie: Sein Vater, dessen Namen und Geschäft er jedoch verschweigt, sei Buchdrucker und passionierter Leser gewesen.50 Die Mutter sorgte – offenbar außerordentlich – für die musikalische Ausbildung: »Man hört häufig köstliche Witze über jüdische Mütter. Ich hatte eine solche. Da sie selbst Harfe und Klavier spie-

48 Die Verschriftlichung wäre zudem in vielfacher Hinsicht unzureichend, vgl. Matthias Tischer, »Erfragte Geschichte. Praktisches zu einer Theorie der Oral History«, in: Nina Noeske / Matthias Tischer (Hg.), Musikwissenschaft und Kalter Krieg. Das Beispiel DDR (Klangzeiten. Musik, Politik und Gesellschaft 7), Köln u. a. 2010, S. 179-192, hier S. 185 f. Die Analyse und Veröffentlichung der vorhandenen Audio-Daten im Sinne einer Oral History würden den Rahmen der vorliegenden Arbeit sprengen und zu weit von Kagel weg führen. Sie wären mit Blick auf das Musikleben in Buenos Aires am besten mit argentinischen Partnern zu realisieren. 49 Hans-Peter Jahn, »Seine Domäne war die Vieldeutigkeit. Nachrede auf Mauricio Kagel«, in: NZfM 169 (2008), H. 6, S. 15. 50 Vgl. Kagel / Klüppelholz, ».... / 1991«, S. 39 f. Vgl. zum Vater unten S. 183 Anm. 77.

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len wollte, wurden mir beide Instrumente schon früh angeboten.«51 Der vier Jahre ältere Bruder und die acht Jahre ältere Schwester werden zwar mit ihren Berufen erwähnt, aber wir erfahren keine Namen.52 An ihren Betätigungen zeigte der kleine Bruder jedoch früh lebhaftes Interesse: Als seine zwölfjährige Schwester Klavierunterricht bekam, hörte der vierjährige Mauricio zu.53 Von ihr berichtet er zudem, sie sei während ihres Studiums an der Universität in der Studentenbewegung aktiv gewesen und darum im Peronismus verhaftet worden.54 Dass ihre Tätigkeit als Psychologin in Paris, in Genf bei Jean Piaget und bei der Weiterentwicklung des Rorschach-Tests den jüngsten Bruder anregte, ist seinen Schilderungen zu entnehmen. Vom älteren Bruder berichtete Kagel nur, er sei Informatiker gewesen und habe in den USA gelebt; Briefkontakte mit ihm über technische Inhalte sind aus Kagels früher Zeit in Deutschland auch dokumentiert.55 Das Privatleben blieb immer geschützt: Seine spätere Frau Ursula Burghardt habe er schon als Kind in einem Sommerlager bei Córdoba kennen gelernt,56 wann sie sich als Partner fanden und wer gemeinsame Freunde waren, ist jedoch nicht überliefert. Die Überfahrt nach Europa stellte offenbar eine Hochzeitsreise dar, nachdem die beiden am 14. Juli 195757 getraut worden waren. Von den Fei-

51 Kagel / Köhler, »›Der Fleischwolf Gottes‹«, o. S. Er nannte den Namen seiner Mutter nicht; Matthias Kassel teilte d. Verf. mit, ihr Name sei Ana Roitman gewesen. 52 Vgl. Kagel, Dialoge, Monologe, S. 227. 53 Vgl. ebd., S. 231. 54 Vgl. Kagel / Köhler, »›Der Fleischwolf Gottes‹«, o. S. 55 Vgl. Björn Heile / Martin Iddon (Hg.), Mauricio Kagel bei den internationalen Ferienkursen für Neue Musik in Darmstadt, Hofheim 2009, S. 13. Ein Brief von Isaac »Iyi« Kagel aus Pasadena vom 20.6.1958 mit dem Hinweis »carta No. 2« findet sich bei den Manuskripten in PSS SMK. 56 Vgl. Kagel, Dialoge, Monologe, S. 25. 57 Vgl. die Eintragung in Mauricio Kagel, Hochzeitstagebuch für Ursula, Hofheim 2008, o. S.: »para mi amor y el 14 de julio Mauro« – »für meinen Schatz und den 14. Juli Mauro«. Anders als der Titel des Buchs vemuten lässt, enthält es keine schriftlichen Zeugnisse, sondern ausschließlich Zeichnungen aus Mauricio Kagels Hand. Zum Jahr der Hochzeit existieren auch abweichende Angaben wie 1956 im Nachruf auf Ursula Burghardt in MusikTexte 120 (2009), S. 75, oder 1955 auf: http://www.konferenzkultur.de/veranstaltung.php?id=1399 (5.10.2010). Alejandro Saderman, Jorge Milchberg und Victor Chab berichteten d. Verf., sie seien bei der Feier zugegen gewesen. Diese Angaben sowie Jahr und Ort der Trauung (Montevideo oder Vicente López) konnten nicht überprüft werden.

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erlichkeiten sind einige Fotos des Brautpaars erhalten, eines davon mit Mauricios Schwester Guida (vgl. Anhang S. 314). Wie von seinen Geschwistern sprach Kagel im Rückblick auch meist namenlos von argentinischen Freunden oder Bekannten, mit denen er zusammenarbeitete. Einige werden in der vorliegenden Arbeit beim Namen genannt; die vielen weiteren biografischen Lücken füllen zu wollen ist bei der aktuellen Quellenlage jedoch ein aussichtsloses Unterfangen: Kagels gesamter Nachlass ist zwar nach seinem Tod in die Paul Sacher Stiftung überführt worden, die darin befindliche Korrespondenz und private Dokumente sind jedoch bis 2033 für die Nutzung gesperrt. Kagel äußerte in den siebziger Jahren in der Auseinandersetzung mit der Musikkritik seine Ansprüche an die Forschung: »Das mindeste, was ich von einem Musikwissenschaftler erwarte, ist die Durchführung genauer Recherchen.«58 Nun hat er einerseits durch den Verschluss seiner Korrespondenz eine wichtige Zugangsmöglichkeit der Forschung verhindert, andererseits aber dadurch die Suche nach anderen, abgelegenen Quellen herausgefordert. Immer heißt es, Kagels Angaben als Näherungswerte zu nehmen und im Umfeld zu forschen, um Fakten zu prüfen und zu fundieren und dabei seinem Hinweis zu folgen: »Zeitungsarchive sind nicht umsonst da, sondern um das kollektive Gedächtnis zu stützen. Dort kann man alles über damals nachlesen.«59 Bewusst verfolgt die vorliegende Arbeit den Ansatz, die aufgefundenen Dokumente ausführlich zu zitieren und in eine chronologische Ordnung zu bringen, um den bisherigen eklatanten Mangel an zeitnahen schriftlichen Quellen zur frühen Biografie auszugleichen.

58 Mauricio Kagel, »J’accuse II« [1973], in: ders., Tamtam. Monologe und Dialoge zur Musik, hg. von Felix Schmidt, München / Zürich 1975, S. 14-40, hier S. 35. 59 Kagel / Köhler, »›Der Fleischwolf Gottes‹«, o. S.

Peronismus und kultureller Wandel

Kagel verlebte einen großen Teil seiner Jugend in der Gründungsphase des Peronismus und seinem ersten Scheitern – einer Zeit, die mit ihren Mythen bis heute die Realität des Landes prägt. Die meisten Untersuchungen des Phänomens beginnen bereits im Jahr 1943, in dem Juan Domingo Perón nach einem Militärputsch in wichtige politische Ämter gelangte. Präsident wurde er jedoch erst nach demokratischen Wahlen im Februar 1946, in denen er gegen das Parteienbündnis der Unión Democrática – gebildet aus der traditionellen radikalen Partei, den Liberalen, Sozialisten und Kommunisten – gewann. Schnell setzte Perón daraufhin eine Politik des wirtschaftlichen Protektionismus und staatlicher Lenkung in allen Bereichen um, die zunächst breiten Bevölkerungsschichten Prosperität einbrachte, allerdings nicht lange anhielt. Der Schriftsteller und Historiker Félix Luna teilte die Dekade in drei Phasen mit aussagekräftigen Titeln:1 Die Zeit des »großen Fests« umfasst 1946-49 – hier besuchte Kagel wohl noch die Schule –; 1950-52 dominierte die »organisierte Gesellschaft« – Kagel suchte seinen Weg als junger Pianist und Komponist –; die Jahre der Krise des »erschöpften Regimes« 1953-55 führten zum Sturz Peróns – Kagel trat als Dirigent, Komponist und Autor häufiger als zuvor ans Licht der Öffentlichkeit. Nachdem der Präsident die offene Konfrontation mit der katholischen Kirche heraufbeschworen hatte, wurde er von kirchennahen Militärs im September 1955 gestürzt und ging ins Exil – erst danach gelangte Kagel in öffentliche Positionen

1

Vgl. die drei Bände von Félix Luna unter dem Titel Perón y su tiempo: I. La Argentina era una fiesta, II. La comunidad organizada und III. El régimen exhausto, Buenos Aires 1986. Ihnen sind auch die historischen Daten der politischen Entwicklung für die vorliegende Untersuchung entnommen. Luna war nicht nur Historiker, sondern auch Jurist, Politiker der radikalen Partei – also kein Peronist – und Lyriker, dessen Texte von Ariel Ramírez vertont wurden und heute zu den bekanntesten Folklore-Kompositionen Argentiniens zählen.

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als Organisator und Dirigent. In den folgenden Monaten stand Argentinien unter der Leitung der Generäle Eduardo Lonardi und Pedro Eugenio Aramburu, bevor es 1958 zu erneuten demokratischen Wahlen kam. Peróns Sieg in den Wahlen 1946 wurde mit der breiten Unterstützung in Gewerkschaften, Militär und Kirche möglich. Schon als Vizepräsident und Sekretär für Arbeit hatte er die Lebensbedingungen der unteren Einkommensschichten mit Maßnahmen verbessert, die ihm bereits 1945 den Slogan »Perón erfüllt [was er verspricht]«2 als Ausdruck für seine Glaubwürdigkeit bei den eigenen Anhängern einbrachten. Sein Aufstieg zum General und die lange aufrecht erhaltene neutrale Haltung der argentinischen Militärregierung während des Zweiten Weltkriegs, die als Sympathie für die Achsenmächte interpretiert wurde, führten allerdings in der Wahlkampagne im Dezember 1945 dazu, dass die Unión Democrática mit dem Wahlspruch »Für die Freiheit gegen den Nationalsozialismus«3 gegen Perón auftrat und ihn mit dem Faschismus und dem Nationalsozialismus assoziierte. Diese Einschätzung blieb nicht ohne Folgen für die wissenschaftliche Diskussion des Phänomens, so dass Seymour Martin Lipset 1960 in seiner Darstellung des Peronismus als »›Fascism‹ of the Lower Class« ausführte: »Peronism, much like Marxist parties, has been oriented toward the poorer classes, primarily urban workers but also the more impoverished rural population. Peronism has a strong-state ideology quite similar to that advocated by Mussolini. It also has a strong antiparliamentary populist content, stressing that the power of the party and the leader is derived directly from the people, and that parliamentarianism results in government by incompetent and corrupt politicians. It shares with right-wing and centrist authoritarianism a strong nationalist bent, blaming many of the difficulties faced by the country on outsiders – international financiers and so forth. And […] it glorifies the position of the armed forces.«4

2

Vgl. Daniel James, »Perón and the People«, in: Gabriela Nouzeilles / Graciela Montaldo (Hg.), The Argentina Reader. History, Culture, Politics, Durham / London 2002, S. 273-295, hier S. 290: »Perón cumple«. Kurze spanische Zitate innerhalb des deutschen Haupttextes werden wie hier zur besseren Lesbarkeit übersetzt und in den Anmerkungen im Original wiedergegeben.

3

Slogan der Wahlplakate vom 8.12.1945 in Juan Carlos Torre, »Introducción a los años peronistas«, in: ders. (Hg.), Los años peronistas (1943-1955) (Nueva Historia Argentina 8), Buenos Aires 2002, S. 11-77, hier S. 35: »Por la libertad contra el nazismo«.

4

Seymour Martin Lipset, Political Man. The Social Bases of Politics, Garden City / NY 1960, S. 170 f.

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Der wichtigste Unterschied zu den europäischen Formen des Faschismus – die konsequente Unterstützung der Arbeiter und der Gewerkschaften – äußerte sich in der Einführung von Sozialleistungen, Lohnerhöhungen und mehr Rechten für Lohnarbeiter sowie der Abschaffung der extremen Abhängigkeit der Landarbeiter von den Großgrundbesitzern durch Gesetze und Grundstücksreformen. Diese Maßnahmen brachten die Oligarchie gegen Perón auf. Mögliche sozialistisch eingestellte Sympathisanten in der Mittelklasse und unter Intellektuellen stieß dagegen der extreme Nationalismus, die populistische Demagogie und doktrinäre Ideologie ab. Lipsets abschließende Definition des Peronismus als »anticapitalist populist nationalism which appeals to the lower strata in alignment with the army«5 trifft den Kern dieser nationalpopulistischen Bewegung, die sich in Lateinamerika im Laufe des 20. Jahrhunderts in ähnlicher Form mehrfach findet und für Argentinien von Gino Germani 1962 beschrieben wurde: In seiner Analyse des Peronismus wies er auf Bezüge zum europäischen Faschismus und dem sowjetischen Regime hin, sprach sich aber gegen einen direkten Vergleich aus. Strukturell – und mit Blick auf Kagels Herkunft beachtenswert – hob er besonders hervor, dass die Mittelklasse anders als in Deutschland oder Italien, wo sie die faschistischen Regimes unterstützte, in Argentinien größtenteils politisch der radikalen Partei nahe und der peronistischen Massenbewegung damit distanziert gegenüber stand.6 Verglichen wurde der Peronismus auch mit dem von Karl Marx beschriebenen Führungsstil Napoleons: Konkret bezeichnete der argentinische marxistische Wissenschaftler Silvio Frondizi schon 1956 den Peronismus als bonapartistisch.7 Zwar weist die wissenschaftliche Diskussion Möglichkeiten und Grenzen jeder dieser Erklärungsmodelle auf, die Übertragung europäischer oder historischer Modelle auf Lateinamerika ist jedoch problematisch. Peter Waldmann kam schon 1974 zu dem Schluss, der Peronismus sei kein totalitäres System, sondern am ehesten eine autoritäre Entwicklungsdiktatur gewesen, in der zwar eine starke Machtkontrolle ausgeübt wurde, aber kein systematischer Terror herrschte.8 Peróns Kenntnis der faschistischen Vorbilder, die er während seines Aufenthaltes in Italien 1939-41 kennen lernen konnte, ist dennoch evident. Häufig analy-

5

Lipset, Political Man, S. 172.

6

Vgl. Germani, Política y sociedad en una época de transición, Buenos Aires 1962, S. 231, S. 240 Anm. 4 und S. 241.

7

Silvio Frondizi, »El dilema político-social argentino«, in: Revolución 1 (Mai 1956), H. 4, wieder abgedruckt in ders., Doce años de política argentina, Buenos Aires 1958, S. 85-92, vgl. besonders S. 87.

8

Vgl. Peter Waldmann, Der Peronismus 1943-1955, Hamburg 1974, S. 269 ff.

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sierte Parallelen der Herrschaft Peróns mit der Mussolinis sind mit Blick auf das kulturelle Klima besonders im Umgang mit den Massenkommunikationsmedien und der Durchsetzung der nationalen Ideologie im Bildungssystem und der Kulturpolitik von Interesse. Die Bemühungen um eine staatliche zentralisierte Lenkung der Kultur ist wiederum ein sowohl den Faschismus und Bonapartismus9 wie auch den Nationalpopulismus und autoritäre Diktaturen verbindendes Merkmal. Sie sollen hier eingehender beschrieben werden, um Grundlagen für die Untersuchung des Kulturlebens anhand zeitgenössischer Publizistik sowie für Kagels Aktionsradius darin zu legen.

M EDIENPOLITIK Bereits in den ersten Regierungsjahren Peróns erfolgte eine drastische Vereinnahmung der Medien, die an Maßnahmen anknüpfte, die die Militärregierung vorgenommen hatte.10 Seine Frau Eva Duarte, im Volksmund »Evita« genannt, kaufte 1947 die Zeitung Democracia, es folgten die staatlichen Übernahmen der Blätter des Editorial Haynes El Mundo, El Hogar, Mundo Argentino sowie bis 1949 die Nachmittagszeitungen Crítica, La Razón, Noticias Gráficas und La Época. Das entstandene Imperium umfasste 13 Verlage, 17 Zeitungen, zehn Zeitschriften und vier Nachrichtenagenturen, die die immer gleichen Nachrichten und Fotos in ähnlichem Stil verbreiteten. Da kritische Blätter wie La Vanguardia, Provincias unidas, Qué sucedió en 7 Días, Argentina Libre, Tribuna Democrática oder El hombre libre 1947 aus teils grotesken Gründen (z. B. störenden Druckereigeräuschen) geschlossen werden mussten, verarmte das Panorama der Presse dramatisch. Es fehlten Wettbewerb und Innovation – Journalisten taten meist nur noch, was erlaubt und gewünscht war. Die verbleibenden unabhängigen Periodika wurden durch die Zuteilung des Materials eingeschränkt: Zeitungspapier wurde in Argentinien nicht hergestellt, sondern importiert und zentral verteilt. Mit der Verringerung der Zuteilungsmenge war es möglich, konservative, traditionell der Landwirtschaftsoligarchie verbundene und dadurch nun oppositionelle Zeitungen wie La Nación und La Prensa in ihrer Auflage, die bald die Nachfrage nicht mehr decken konnte, und

9

Vgl. ebd., S. 290.

10 Vgl. Silvia Sigal, »Intelectuales y peronismo«, in: Torre (Hg.), Los años peronistas (1943-1955), S. 481-522, hier S. 516, und zu den folgenden Angaben Luna, Perón y su tiempo. I. La Argentina era una fiesta, S. 121 ff. sowie Luna, Perón y su tiempo. II. La comunidad organizada, S. 24-32.

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ihrem Umfang zu begrenzen: 1948 konnten sie nur noch 16 Seiten drucken, 1949 nur zwölf und Ende 1951 umfasste La Nación gar lediglich sechs Seiten. Da sie offizielle Regierungsmitteilungen drucken mussten, fehlte trotz extrem verkleinerter Schrift der Platz bei den eigenen Rubriken, Kommentaren oder Anzeigen. Die Zeitungen überhaupt zu lesen wurde durch die niedrige Auflage und die Weigerung der Post, sie an Abonnenten auszuliefern, immer schwieriger. In der Folge verloren beide Blätter ihre Wirkung auf die Massen, und ihre Lektüre erlangte in antiperonistischen Kreisen Symbolcharakter, indem die Ausgaben von Hand zu Hand weitergegeben wurden. Kritik wurde von den Redakteuren in eine umschreibende Sprache verpackt, die aber auch La Prensa nicht vor der peronistischen Intervention und Übernahme bewahren konnte: Das Blatt wurde Ende Januar 1951 zunächst am Erscheinen gehindert, in den folgenden Monaten enteignet und der staatlichen Gewerkschaft CGT zur Verwaltung übergeben, die es Ende des Jahres peronistisch erneuert herausgab. La Nación blieb daraufhin die einzige unabhängige Tageszeitung, ergänzt lediglich von internen Informationsblättern der Oppositionsparteien. Eine ähnliche Monopolbildung geschah im Rundfunk: Perón kaufte 1947 alle Radiosender. In den folgenden Jahren übertrugen sie alle zu bestimmten Anlässen gleichzeitig die Ansprachen des Präsidenten und wurden offensiv für die Regierungspropaganda genutzt. Auch der erste Fernsehkanal »7«, der seit 1951 sendete und zu Radio Belgrano gehörte, war Teil dieses Imperiums und übertrug peronistische Massenveranstaltungen.11 Der zweite Fünfjahresplan von 1952 sah den Ausbau des Rundfunknetzes, des Fernsehens wie auch anderer Kommunikationssysteme vor, wobei diese dazu dienen sollten, das Bildungsniveau der Bevölkerung zu heben, die ökonomische Entwicklung voranzutreiben und für innere Sicherheit und nationale Verteidigung zu sorgen.12 Er ließ zwar auch Raum für Privatsender, doch wurden diese vom Staat finanziell und technisch unterstützt, was nicht auf ihre Unabhängigkeit schließen lässt. Zensur und Kontrolle im Radio hatten schon nach dem Militärputsch von 1943 begonnen, sie wurden unter Perón vor allem präzisiert und ab März 1949 offensiver: Unter dem neuen Staatssekretär für Presse und Informationen Raúl Alejandro Apold, der Filmindustrie und Medien aus seinen früheren Positionen

11 Vgl. Luna, Perón y su tiempo. II. La comunidad organizada, S. 207 und Ernesto Goldar, Buenos Aires: vida cotidiana en la década del 50, Buenos Aires 1980, S. 153: Fernsehübertragung vom 17.10.1951 mit einer gesundheitlich geschwächten Evita. 12 Vgl. Kapitel »XXVI. Comunicaciones« des »2.° plan quinquenal de la nación (Ley 14.184)«, in: Argentina / Presidente, 2° plan quinquenal de la nación Argentina, Buenos Aires 1954, S. 592 ff.

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(als Leiter der Nachrichtenschau Noticiario Panamericano von Argentina Sono Film, die in Kinos gezeigt wurde, Chef der Tageszeitung Democracia [1948-49] und Mitarbeiter der Zeitungen El Mundo, La Época, El Hogar, Mundo Argentino und Caras y Caretas13) perfekt kannte, verstärkte sich die Propaganda; das Regime zeigte sich autoritärer, demagogischer und repressiver.14 Apold war ein enger Vertrauter von Eva Duarte und für die Intervention in La Prensa 1951 verantwortlich.

B ILDUNGSPOLITIK Die Regierung formulierte schon im ersten Fünfjahresplan von 1946 das Ziel, das gesamte Volk und dabei besonders die ärmeren Schichten gleichberechtigt am Bildungssystem zu beteiligen:15 Allen Kindern und Jugendlichen sollte eine verpflichtende, kostenfreie Primarschulbildung vom fünften bis zum 14. Lebensjahr ermöglicht werden, das Studium an staatlichen Universitäten sollte frei zugänglich sein und mit Stipendien für mittellose Studierende gefördert werden. Nur staatliche Sekundarschulen waren weiterhin bis 1952 kostenpflichtig, bedürftige Schüler sollten jedoch ebenfalls von den Gebühren befreit oder durch Stipendien beim Schulbesuch unterstützt werden. Im Zuge der Ausweitung des ministerialen Apparats wurden 1948 aus dem bisherigen gemeinsamen Ministerium für Justiz und Bildung zwei separate Instanzen gebildet. Von 1948 bis 1950 war Oscar Ivanissevich als erster Minister für Bildung und Kultur zuständig, gefolgt von Armando Méndez San Martín und Francisco Marcos Anglada. Die Bildungsausgaben stiegen von nun an radikal an und flossen zunächst in den strukturellen Ausbau der Grundschulen. Diese Demokratisierung in der Erreichbarkeit von Bildung schlug – von einem Großteil der Bevölkerung allerdings unbemerkt – bald in Indoktrinierung um. Besonders mit Méndez San Martín, einem engen Vertrauten von Evita, setzte eine radikale Peronisierung und Ideologisierung des Unterrichts ein, die in den ab 1952 neu erscheinenden Schulbüchern für die Primarstufe verfolgt werden kann: Die Leh-

13 Angaben aus Clara Kriger, Cine y peronismo. El estado en escena, Buenos Aires 2009, S. 58 sowie S. 260 Anm. 48. 14 Vgl. Noemí M. Girbal-Blacha, »Historia y cultura en la construcción del discurso político peronista (1946-1955)«, in: Troncoso / Sierra (Hg.), Ideas, cultura e historia en la creación intelectual latinoamericana, S. 235-256, hier S. 241. 15 Vgl. Argentina / Presidente, Plan de gobierno, 1947-1951. 1, Buenos Aires 1946, S. 124 ff.

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rer konnten zwar aus verschiedenen, jedoch durchweg vom Ministerium autorisierten Lehrbüchern auswählen, die den Peronismus und das Präsidentenpaar glorifizierten. Ab demselben Jahr war zudem Eva Peróns Autobiografie La razón de mi vida Pflichtlehrbuch für alle Schüler ab der vierten Klasse. Ähnliche Tendenzen zeigten sich im Sekundarschulbereich, allerdings führte die Ministerialabteilung für die Oberstufe weniger neue Schulbücher ein. Dafür wurde 1953 die Jugendvereinigung Unión de Estudiantes Secundarios gegründet, der der Präsident ausgesprochen nahe stand, die besonders sportlich ausgerichtet war und der zahlreiche Sekundarschüler angehörten.16 Größere Aufmerksamkeit kam demgegenüber der Hochschulbildung zu: Die Universitäten waren bereits seit dem Militärputsch 1943 immer wieder durch staatliche Eingriffe in ihrer Autonomie gestört worden, wogegen ein Großteil der Studentenschaft, organisiert in der Federación Universitaria Argentina (FUA), und der Dozenten heftig protestierte. Bereits damals kam es zu Entlassungen von Lehrpersonal. Waren die Studenten besonders 1945 sehr aktiv gegen die Militärregierung, so nahm ihre Militanz im Peronismus recht schnell ab: Streiks gab es lediglich bis 1947 gegen die ersten Maßnahmen Peróns, danach waren die Universitäten weitgehend »peronisiert« und entpolitisiert, die Studierenden widmeten sich vor allem ihren Studien und wurden erst 1954 wieder politisch aktiver. Die Beruhigung der Hochschulen hatte Perón am 30. April 1946 – noch vor seinem offiziellen Amtsantritt – mit der Anordnung eines Eingreifens an den Universitäten eingeleitet. An der Universität von Buenos Aires (UBA) wurden dazu zunächst der spätere Bildungsminister Oscar Ivanissevich und in seiner Nachfolge Fernando Bustos als Interimsrektoren eingesetzt. Professoren und Dozenten, die nicht mit dem Peronismus sympathisierten, wurden suspendiert, und zahlreiche Kollegen kündigten ihre Posten in Solidarität. Ähnliches geschah an allen anderen staatlichen Universitäten, so dass im Verlauf des Jahres 1946 mindestens ein Drittel des akademischen Personals an den staatlichen Hochschulen durch Regierungsanhänger mit zweifelhaften akademischen Qualifikationen ersetzt wurde. Das neue Universitätsgesetz von 1947, dessen Grundzüge bereits im ersten Fünfjahresplan Ende 1946 dargelegt wurden,17 verbot Studierenden und Lehrenden jegliche politische Betätigung; die Rektoren mussten von nun an direkt von der Regierung eingesetzt werden, studentische Mitverwaltung und Stimmrecht in den Fakultäten wurden abgeschafft. Mit diesem Gesetz hatten die Hochschulen ihre Selbstverwaltung und Autonomie vollständig verloren.

16 Vgl. Mónica Esti Rein, Politics and Education in Argentina 1946-1962, Armonk / NY 1998, S. 45, 51 und 62. 17 Vgl. Argentina / Presidente, Plan de gobierno, 1947-1951. 1, S. 134 ff.

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Wie in den Primarschulen wurde in den ersten Jahren der Prosperität auch an den Universitäten strukturell ausgebaut; es entstanden neue Gebäude der Juristischen Fakultät und für den Studiengang Architektur in Buenos Aires. Bereits mit dem Rückgang der Staatsfinanzen ab 1949 kamen diese Maßnahmen jedoch zum Stillstand. Die Studentenzahlen stiegen dennoch von 1947 bis 1955 um das Dreifache an: Die Abschaffung der Studiengebühren Anfang der fünfziger Jahre ermöglichte mehr Bewerbern den Zugang zum Studium, wenngleich sich die Zahl der Absolventen aufgrund schlechter Studienbedingungen nicht erhöhte;18 statt der finanziellen Mittel wurde nun aber ein polizeiliches Führungszeugnis notwendig, das politisch aktive Personen ausschloss, und bis 1953 regulierten zusätzlich Aufnahmeprüfungen den Zugang. Die Indoktrinierung an den Hochschulen wurde gar in der neuen Verfassung von 1949 festgeschrieben: »Las universidades establecerán cursos obligatorios y comunes destinados a los estudiantes de todas las facultades para su formación política, con el propósito de que cada alumno conozca la esencia de lo argentino, la realidad espiritual, económica, social y política de su país, la evolución y la misión histórica de la República Argentina, y para que adquiera conciencia de la responsabilidad que debe asumir en la empresa de lograr y afianzar los fines reconocidos y fijados en esta Constitución.«19

Der Fünfjahresplan von 1952 benannte in gleichem Stil die Grundlagen der universitären Ausbildung als kostenlos, praxisnah und spezialisiert für Menschen, die sich ihrer sozialen Verantwortung bewusst sein sollten und dem Volk dienen

18 Vgl. Noemí M. Girbal-Blacha, »Intelectualidad y política. Los intelectuales vistos a través del discurso peronista (1946-1955)«, in: dies. u. a. (Hg.), Perfiles históricos de la Argentina peronista (1946-1955). Intelectuales, política y discurso, Buenos Aires 2005, S. 21-49, hier S. 37. Die Autorin legt dar, dass die Demokratisierung der Universität nicht gelang und die peronistischen Lenkungsversuche vor allem zu Widerstand bei der Studentenschaft führte. 19 Constitución Argentina vom 11.3.1949, Art. 37 IV. 4: »Die Universitäten werden verpflichtende und gemeinsame Kurse für Politische Bildung für die Studenten aller Fakultäten einrichten, die das Ziel verfolgen, dass jeder Schüler die Grundlagen des Argentinischen, die spirituelle, ökonomische, soziale und politische Realität seines Landes, die Entwicklung und historische Mission der argentinischen Republik kennen lernt, und dass er Bewusstsein um die Verantwortung erlangt, die er für die Umsetzung und Sicherung der anerkannten und in dieser Verfassung festgeschriebenen Ziele übernehmen sollte.«

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würden.20 Die Pflichtkurse zu politischer Kultur und nationaler Doktrin wurden zudem nochmals per Gesetz festgeschrieben. Obwohl sich die Studierenden diesen Maßnahmen nicht entziehen konnten, führten sie nicht wirklich zum Ziel: Zumindest die 1950 in Konkurrenz zur FUA gegründete und staatlich geförderte Confederación General Universitaria konnte nur wenige Mitglieder gewinnen; die Mehrzahl der Studentenschaft blieb den nichtkonformen Studentenvereinigungen verbunden, auch wenn diese bis Ende 1954 kaum öffentlich aktiv wurden.21 Kleine Foren des Widerspruchs existierten zum Beispiel an der geisteswissenschaftlichen Fakultät der UBA, wo das »centro de estudiantes de filosofía y letras« die Zeitschriften Verbum (bis 1948) und Centro (ab 1951) herausgab, in denen die Situation an der Universität in ihrer Mittelmäßigkeit kritisiert wurde: Die Ausgabe von Centro im Mai 1953 bemängelte die Ausbildung als defizitär und Lehrstuhlinhaber als intellektuell und ethisch unfähig, zudem werde der freie Meinungsaustausch blockiert.22 Dagegen organisierten die Studenten selbst zusätzliche Vorträge und Kurse, zu denen sie Dozenten luden, die zwar aus der Universität ausgeschlossen waren, aber von der jungen Generation geschätzt wurden.23 Während der Umbrüche im Jahr 1955 wurde die FUA wieder ausschlaggebend für die Entwicklung an den Universitäten: Die Studenten nahmen mit Vorschlagslisten Einfluss auf die erneute Einsetzung der Interimsrektoren an den Hochschulen. Übergangspräsident Lonardi hatte sofort nach Amtsantritt im September 1955 Maßnahmen zur Wiederherstellung der universitären Autonomie angeordnet: Die 1943 bis 1946 entlassenen Dozenten wurden symbolisch auf ihre Positionen zurückgeholt, das akademische Personal dann jedoch komplett entlassen und in Bewerbungsverfahren neu besetzt. In der Folge sollten Fakultätsräte und Rektoren gewählt, die studentische Mitverwaltung wieder eingeführt und neue Hochschulordnungen ohne politische Pflichtkurse entworfen werden. Erst im Dezember 1956 fand jedoch die feierliche Einsetzung der ersten Professoren statt und die vollständige universitäre Selbstverwaltung war nicht vor 1958

20 Vgl. Kapitel »IV. Educación. G. 8. Universidades« des »2.° plan quinquenal de la nación (Ley 14.184)«, in: Argentina / Presidente, 2° plan quinquenal de la nación Argentina, S. 490. 21 Vgl. Rein, Politics and Education in Argentina 1946-1962, S. 102 ff. 22 Vgl. Oscar Terán, Historia de las ideas en la Argentina. Diez lecciones iniciales, 1810-1980, Buenos Aires 2008, S. 264. 23 Vgl. Carlos Mangone / Jorge A. Warley, Universidad y peronismo (1946-1955), Buenos Aires 1984, S. 45.

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erreicht.24 Die Militärregierung versuchte in dieser Übergangszeit mit nicht gerade demokratischen Mitteln, den Campus ruhig zu halten und zu überwachen, Demonstrationen und jegliche Militanz zu unterbinden. Im Vergleich zum Peronismus trat dennoch eine spürbare Lockerung ein: So konnte La Revista de la Universidad de Buenos Aires, die zunächst von dem konservativen Geistlichen und Vertrauten Evitas Hernán Benítez geleitet und Ende 1953 ganz eingestellt worden war, ab Januar 1956 quartalsweise und reformiert wieder erscheinen; gleich in den ersten Heften waren kritische Auseinandersetzungen mit der Hochschulbildung der nahen Vergangenheit aber auch Berichte über das universitäre Kulturprogramm zu lesen. Alternative Bildungsstätte: Das Colegio Libre de Estudios Superiores Unter den 1250 Lehrenden, die allein 1946 die Universität Buenos Aires verließen – ein Drittel davon wurde abgesetzt, zwei Drittel gaben solidarisch selbst ihren Posten ab25 – waren Intellektuelle, die Perón öffentlich mit dem Faschismus in Zusammenhang gebracht und Mitte 1945 Erklärungen gegen den Nationalsozialismus und für die Demokratie unterzeichnet hatten.26 Ab 1947 wurden an argentinischen Universitäten zudem Restriktionen für ausländische Professoren eingeführt, so dass auch zahlreiche Immigranten ihre Posten verloren. Junge Immigranten der Zwischenkriegszeit hatten zwar Ausbildung und Karriere in Argentinien gemacht, konnten nun aber – sofern sie die argentinische Staatsbürgerschaft nicht annahmen – nicht in offiziellen Positionen arbeiten. Ihnen blieben die Freiberuflichkeit, zum Beispiel eine redaktionelle Tätigkeit in einem der oppositionellen Verlage, das Ausland oder freie Ausbildungsstätten wie das Colegio Libre de Estudios Superiores (CLES). Diese Institution war 1930 mit engen Verbindungen zur Universität gegründet worden und erlebte Anfang der vierziger Jahre ihre Blüte; hier konnten die Probleme des Landes diskutiert und Aufgaben der Zukunft definiert werden. Das Direktorium selbst verglich das CLES mit dem Collège de France oder der New School for Social Research in

24 Vgl. Rein, Politics and Education in Argentina 1946-1962, S. 174 f. 25 Vgl. Luna, Perón y su tiempo. I. La Argentina era una fiesta, S. 388, Federico Neiburg, Los intelectuales y la invención del peronismo, Buenos Aires 1998, S. 166, zum Folgenden ebd., passim. 26 Für Beispiele dieser in Zeitungen gedruckten Manifeste vgl. Félix Luna, El 45, Buenos Aires 1982, S. 87 ff. sowie Sigal, »Intelectuales y peronismo«, S. 493.

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New York, zu denen auch Kontakte bestanden.27 Ihre Hauptdisziplinen waren Literatur und Geschichte, doch wurden weitere Lehrstühle geschaffen, darunter 1941 ein künstlerischer Zweig, der von Leopoldo Hurtado, Erwin Leuchter, Julio E. Payró, Jorge Romero Brest und Attilio Rossi koordiniert wurde und in dem zum Beispiel der Pianist und Musikpädagoge Ernesto Epstein Kurse in Musik gab.28 Seit 1943 stellte sich das CLES klar auf die Seite der Alliierten und innenpolitisch gegen die Militärregierung und Perón. 1945 unterzeichnete die Mehrzahl der Mitglieder demokratische Manifeste und nahm an den Auseinandersetzungen in der Universität sowie an den politischen Kämpfen für die Unión Democrática teil; daraufhin verlor fast das gesamte Leitungsgremium seine universitären Posten, und die Ausrichtung der Institution veränderte sich: Das CLES bot seinen Mitgliedern und Freunden nun eine Arbeitsalternative und wirkte als Kommunikationsforum der Opposition. In seiner Zeitschrift Cursos y Conferencias erschienen ab 1947 verstärkt Informationen über andere private Kulturvereinigungen und Ausbildungsstätten. Gleichzeitig hatte das CLES aber kein eigenes Lehrgebäude: Von 1947 an nutzte es den großen Saal des Instituto Francés de Estudios Superiores in der Straße Florida 659 und Seminarräume in der Sociedad Científica Argentina in der Avenida Santa Fé.29 In seiner Eröffnungsrede zum Kursjahr 1947 gab der Geschäftsführer Luis Reissig fehlende materielle Mittel als Grund dafür an, dass die Institution kein eigenes Gebäude hatte. Dafür maß er der Tatsache, dass das CLES nun die zentrale Einkaufsstraße Florida erreicht hatte, symbolische Bedeutung zu.30 Ab dem 17. Juli 1952 sah sich die Einrichtung bürokratischen Hürden ausgesetzt: Es konnten keine Veranstaltungen mehr durchgeführt werden, da die Polizei die Erlaubnis für Zusammenkünfte wie Vorträge oder Unterricht nicht ausstellte. Allerdings scheinen auch innerhalb der Leitung Divergenzen bezüglich der Schwerpunkte und Ziele

27 Vgl. Neiburg, Los intelectuales y la invención del peronismo, S. 148. Den Vergleich mit beiden Institutionen führt auch Kagel, Dialoge, Monologe, S. 264, an. 28 Vgl. dessen Erinnerungen an das CLES in Ernesto Epstein, Memorias musicales, Buenos Aires 1995, S. 219. Epstein war neben Leuchter und Guillermo Graetzer an der Gründung des Collegium Musicum 1946 beteiligt, vgl. unten S. 73 ff. 29 Vgl. den Abschnitt »Memoria«, unterschrieben von der gesamten Leitung des CLES, in Cursos y Conferencias 17 (1948), H. 199-200, S. 89-91, hier S. 89. Neiburg, Los intelectuales y la invención del peronismo, S. 148, gibt dagegen an, das CLES sei 1947 bis 1953 in der Straße Florida beheimatet gewesen und erst danach in der Avenida Santa Fé. 30 Vgl. Luis Reissig, »Colegio libre, 1947«, in: Cursos y Conferencias 16 (1947), H. 184, S. 347-351.

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der Institution in dem sich wandelnden Umfeld existiert zu haben.31 Die Zeitschrift Cursos y Conferencias erschien zwar weiterhin, die Aktivitäten des CLES verlagerten sich aber auf die Außenstellen in den Städten Rosario und Bahía Blanca, einige Dozenten publizierten zudem fortan in der Zeitschrift Imago Mundi (1953-56). Einen Monat nach dem Sturz Peróns 1955 wurde das CLES in Buenos Aires wiedereröffnet und nahm seinen Kursbetrieb erneut auf. Da jedoch zwei Drittel der bisherigen Dozenten Positionen an der staatlichen Universität oder in der Regierung erhielten, verlor die Institution bis 1958 an Bedeutung.

K ULTURPOLITIK Besonders in Radio, Kino und Theater wurden Werke argentinischer Künstler mit Hilfe von Dekreten und Quotenregelungen gefördert und ihr Platz in den Programmen erzwungen. Regierungserklärungen definierten darüber hinaus, welche künstlerischen Äußerungen Priorität erfahren sollten: Das vierte Kapitel im ersten Fünfjahresplan32 nannte als kulturelles, traditionelles Erbe neben Sprache und Religion auch folkloristische Musik und Tänze, die der Staat zu schützen habe und zu deren Erhalt entsprechende Institutionen gebildet sowie die bestehenden verbessert werden müssten. Der Staat sah es zwar als seine Aufgabe an, vorhandene Schulen, Konservatorien und Kunsthochschulen zu erhalten, beklagte aber eine fehlende gemeinsame Vision und Organisation der kulturellen Einrichtungen und deren mangelnde nationale Orientierung. Der zweite Fünfjahresplan formulierte 1952 noch klarer, welche Art von Kultur vom Staat unterstützt und eingefordert wurde: »En materia cultural el objetivo fundamental de la Nación será conformar la cultura nacional, de contenido popular, humanista y cristiano, inspirada en las expresiones universales de las culturas clásicas y modernas y de la cultura tradicional argentina, en cuanto concuerden con los principios de la doctrina nacional.«33

31 Vgl. die Informationen in Cursos y Conferencias 21 (1952), H. 244-246, S. 241 ff. sowie die Begründung für den Rücktritt einiger Beiratsmitglieder in Cursos y Conferencias 21 (1953), H. 250-252, S. 545-551. 32 Vgl. Argentina / Presidente, Plan de gobierno, 1947-1951. 1, S. 165-168. 33 Kapitel »V. Cultura« des »2.° plan quinquenal de la nación (Ley 14.184)«, in: Argentina / Presidente, 2° plan quinquenal de la nación Argentina, S. 494-497, hier S. 494: »Auf dem Gebiet der Kultur ist es das hauptsächliche Ziel der Nation eine nationale Kultur zu errichten, die volksverbunden, humanistisch und christlichen Inhalts sowie

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Kultur wurde also nur gefördert, wenn sie der nationalen, peronistischen Doktrin – das heißt, den Zielen soziale Gerechtigkeit, wirtschaftliche Unabhängigkeit und politische Souveränität – diente und populär, humanistisch und christlich ausgerichtet war. Um das kulturelle Bewusstsein in dieser Hinsicht zu formen, sollten dem Volk Zugänge zur Wissenschaft, Literatur und Kunst frei ermöglicht, in den Gewerkschaften Kulturgruppen gebildet und die Arbeiter zu eigener kultureller Aktivität animiert werden. Der Staat koordinierte künstlerische Einrichtungen und förderte nationale Künstlervereinigungen. Im Plan ausdrücklich vorgesehen waren Ziele für die Literatur (Gründung der Academia Nacional de la Lengua, Förderung günstiger Editionen, Förderung der argentinischen Literatur im Ausland, Publikation ausgezeichneter Werke von Argentiniern), die traditionelle Folklore (Sammlung und Verbreitung, Betonung in Festivals) und die populäre Kunst (Ausstellungsorganisation, Erreichbarkeit für das Volk, Regelungen für deren Präsenz in Kino, Theater, Radio, Presse, Fernsehen usw.), die allerdings von den Maßnahmen im Bereich des Sports weit übertroffen wurden. Fand Musik 1947 immerhin im Plan Erwähnung, wurde sie 1952 gar nicht konkret behandelt. Im Mittelpunkt dieser Politik stand eine volksnahe Kultur für breite Bevölkerungsschichten, so dass zunächst besonderes Augenmerk auf die Massenkommunikationsmedien und die Filmindustrie gelegt wurde. Aspekte argentinischer Musik und Sprache nutzte Perón in seinen Reden, er zitierte das Nationalepos Martín Fierro und verwendete lunfardo-Worte aus der Umgangssprache der Unterschichten. Dabei kennzeichnete die Ideologie ein tiefer Anti-Intellektualismus:34 Systematisch nahm Perón Räume ein, die zuvor der Elite vorbehalten waren, zum Beispiel wurden Massenversammlungen im Stadtkern von Buenos Aires – bisher Ort der Hochkultur und des gebildeten Bürgertums – zu öffentlichen Ritualen, die in Verbindung mit anderen Symbolen und Mythen die Basis für eine nationale Volkskultur schufen. Die bisherige kulturelle Elite blieb antiperonistisch in dem Gefühl, ihre Hegemonie verloren zu haben.35 Der Staat nahm zum ersten Mal kulturelle Aufgaben in seine Hand – ein Bereich, der zuvor ausschließlich privaten, finanzstarken Kreisen vorbehalten war – und förderte die Gründung von Institutionen sowie gezielt einzelne Künstler. Im ganzen

von den universellen Strömungen der klassischen und modernen Kulturen und der traditionellen argentinischen Kultur inspiriert ist und mit den Prinzipien der nationalen Doktrin übereinstimmt.« 34 Vgl. James, »Perón and the People«, S. 288. 35 Vgl. Gabriela Nouzeilles / Graciela Montaldo, »Populism and New Nationalism«, in: dies. (Hg.), The Argentina Reader, S. 269-272, hier S. 271 f.

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Land wurden Kulturzentren geschaffen, die vor allem die Arbeiter kulturell bilden sollten, und Arbeiterbibliotheken sowie -theater bei der staatlichen Gewerkschaft CGT eingerichtet. Ein »Kulturzug« fuhr durch das Land, spezielle Sendungen im nun staatlichen Radio informierten über argentinische Bräuche, Kunst, Musik, Tanz, Theater, Filme und Literatur.36 Kagel fasste das politische Vorgehen im Rückblick drastisch zusammen, indem er sich klar positionierte: »Wenn man von Peronistischer Kulturpolitik – richtiger: Politik der Unkultur – spricht, dann war Populismus das Leitwort. Politiker jeglicher Couleur haben oft einen untrüglichen Sinn für schlechte Qualität. Leidenschaftlich verteidigen sie unzeitgemäße Manifestationen, die sie selbst zu verstehen glauben, stets auf den anonymen Wähler schielend.«37

Dennoch war es den privaten Initiativen in Argentinien möglich, der offiziell geförderten Kunst eigene Qualitäten entgegenzusetzen. Um ein differenzierteres Bild der staatlichen Lenkung in den Künsten zu erhalten, die sich vor allem durch eine finanzielle und institutionelle Förderung manifestierte, sollen im Folgenden für die wissenschaftlich erschlossenen Bereiche des Verlagswesens in Verbindung mit der Literatur, der bildenden Kunst und der Filmindustrie Entwicklungslinien und Nischen aufgezeigt werden. Verlagswesen und Literatur Zwar gehörte die Mehrzahl der über einhundert Verlage in Buenos Aires wie Losada, Emecé, Sudamericana und El Ateneo Oppositionellen und konnte daher auch während des Peronismus bestehen, doch wirtschaftete ihre Konkurrenz mit Hilfe generöser Kredite der Staatsbank um einiges leichter: Zumindest während des »großen Fests« in den späten vierziger Jahren flossen Millionen in regimeunkritische Firmen und das peronistische Verlagsimperium.38 Die große Zahl der populären peronistischen Tageszeitungen und Illustrierten wurde freilich nur durch eine einzige Zeitschrift mit halbwegs intellektueller Orientierung ergänzt: Sexto Continente publizierte seit der Gründung 1949 eine inkohärente Mischung nationalistischer und katholisch konservativer Artikel sowie Lobreden auf das Regime. Diejenigen Intellektuellen, die wie Leopoldo Marechal39 mit dem Pero-

36 Vgl. Girbal-Blacha, »Historia y cultura«, S. 246 f. 37 Kagel, Dialoge, Monologe, S. 269. 38 Vgl. Girbal-Blacha, »Intelectualidad y política«, S. 44. 39 Weitere peronistische Intellektuelle werden in Sigal, »Intelectuales y peronismo«, S. 497 f. sowie Terán, Historia de las ideas en la Argentina, S. 261 besprochen.

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nismus sympathisierten, blieben jedoch in der Unterzahl. Besonders ein Großteil der Schriftsteller hatte sich öffentlich für die Unión Democrática ausgesprochen und die Vergehen der Militärregierung bis 1946 angeprangert.40 Oppositionelle Literaten, die wie Jorge Luis Borges zuvor auch für bekannte populäre und ab 1947 peronisierte Zeitschriften wie El Hogar geschrieben hatten, zogen sich in ihre Kreise zurück und brachten in regelmäßigen Abständen eine Menge eigener Periodika mit geringerer Auflage und wenigen Monaten oder Jahren Erscheinungsdauer heraus, genannt seien Cabalgata (1946-48), Los Anales de Buenos Aires (1946-48), Realidad (1947-49) und Buenos Aires Literaria (1952-54). Die an diesen Zeitschriften Beteiligten gehörten zum Umfeld von Sur, der bekanntesten liberalen Kultur- und Literaturzeitschrift von Buenos Aires und dem gleichnamigen Verlag: Gegründet 1931 von Victoria Ocampo, reflektierte Sur monatlich die philosophischen und literarischen Strömungen Europas und vor allem Frankreichs und wurde lokal besonders durch die Mitarbeit von Borges, Adolfo Bioy Casares und dessen Frau Silvina Ocampo geprägt. In enger Symbiose mit den Feuilletons der oberschichtgeprägten Tageszeitungen La Prensa und La Nación wurde Sur schnell zum Meinungsmacher, der zu einer »Monopolisierung des Werturteils« und einer gewissen »kulturellen Öde«41 in den durch politische Krisen geschüttelten dreißiger und vierziger Jahren beitrug. Bereits Anfang der vierziger Jahre schrieben Borges und Bioy Casares (teilweise gemeinsam unter dem Pseudonym Honorio Bustos Domecq) gegen Nationalismus und literarischen Realismus an;42 gegen Ende des Zweiten Weltkriegs und mit Blick auf die politischen Entwicklungen in Argentinien attackierte das Redaktionsteam von Sur 1945 und 1946 sowohl faschistische wie marxistischkommunistische Diktaturen und Massenbewegungen, die man mit der Militärregierung bzw. mit der Regierung Peróns assoziierte. Versteckt in Beiträgen über die Umwelt und die Geräusche im 20. Jahrhundert beklagte Victoria Ocampo Ende der vierziger Jahre störenden Radiolärm durch unangenehme Musik und Propaganda sowie die neue hässliche Architektur, was eine Kritik der peronistischen Kulturpolitik implizierte.43 Zwar vermieden Schriftsteller und Journalisten

40 Vgl. den Aufruf »Los escritores en favor de la Unión Democrática« in La Prensa 1.2.1946, abgedruckt in Sigal, »Intelectuales y peronismo«, S. 503. 41 Dieter Reichardt, »Gombrowicz vs. Borges«, in: Andreas Lawaty / Marek Zybura (Hg.), Gombrowicz in Europa. Deutsch-polnische Versuche einer kulturellen Verortung, Wiesbaden 2006, S. 17-28, hier S. 20. 42 Vgl. John King, Sur. A Study of the Argentine Literary Journal and its Role in the Development of a Culture 1931-1970, Cambridge 1986, S. 113 ff. 43 Vgl. die Ausführungen ebd., S. 148.

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in den folgenden Jahren allzu ausdrückliche Kritik am Präsidentenpaar und der Regierung, subversiv propagierte gerade Sur jedoch 1950, im von der Regierung ausgerufenen »Jahr des Befreiers San Martín«, Menschenrechte und geistige Freiheit, kritisierte künstlerische Mittelmäßigkeit sowie kulturellen Massenkonsum zum Beispiel im Kino, der Folklore-Musik und kostenlosen Veranstaltungen im Teatro Colón.44 Neben den internationalen Beiträgen erschienen Texte von Borges, Daniel Devoto, Julio Cortázar, Ernesto Sábato (vgl. unten S. 184 ff.) und anderen, die seit der Präsidentschaft Peróns ihre öffentlichen Posten verloren hatten. Juan und Eva Perón wurden dagegen in Sur niemals erwähnt und der um sie aufgebaute Kult konsequent abgelehnt: Der Pflicht zur Kondolenz nach Evitas Tod am 26. Juli 1952 folgte Sur in der Nummer 213 / 214 nur mit einem dünnen schwarzen Streifen am oberen und unteren Einband. Nachdem Journalisten und Schriftsteller besonders ab 1951 verstärkt unter Druck gesetzt wurden, berichtete Victoria Ocampo in einem Brief aus Paris am 18. September 1951 an die in Italien weilende Kollegin und Freundin Gabriela Mistral, was in Argentinien nicht öffentlich benannt werden durfte:45 Das Leben sei unangenehm geworden; zur Erlangung eines polizeilichen Führungszeugnisses für einen aktuellen Reisepass habe sie sich stundenlangen Verhören aussetzen müssen; die Redaktion von Sur und ihr eigenes Haus seien durchsucht, ihre Korrespondenz geöffnet und das Telefon abgehört, Teile eines privaten Briefes an einen Freund in einer peronistischen Zeitung als Propaganda gegen sie veröffentlicht worden. Hinzu kamen ökonomische Zwänge – der schlechte Wert des Peso, eingefrorene Mieten und geringere Einnahmen für Vermieter etc. –, die ausgedehntere Reisen nach Europa oder Nordamerika erschwerten. Aufgrund der finanziellen Engpässe war auch der Unterhalt der Zeitschrift Sur mit Opfern verbunden: Ab 1951 erschien sie nur alle zwei Monate und in einem kleineren Format. Nach einem Bombenanschlag auf Perón am 15. April 1953 wurde Ocampo wie viele andere Regimegegner ohne weitere Erklärungen festgenommen und ohne Prozess 26 Tage inhaftiert. Frei kam sie durch internationalen Druck und direkte Intervention von Mistral. Ihren Pass und damit ihre Reisefreiheit erhielt sie allerdings nicht zurück, wodurch sie bis 1955 gezwungen war, im Land zu bleiben. Über die Tage im Gefängnis, die Solidarität und Humanität unter den Mitgefangenen berichtete sie in weiteren Briefen an Mistral46 sowie rück-

44 Vgl. Sigal, »Intelectuales y peronismo«, S. 517. 45 Vgl. Gabriela Mistral / Victoria Ocampo, Esta América nuestra. Correspondencia 1926-1956, Buenos Aires 2007, S. 177 ff. 46 Vgl. z. B. den Brief vom 17.6.1953 ebd., S. 218-223.

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blickend Ende 1955 in Sur: Die Zeitschrift feierte den Sturz Peróns mit einer besonderen Ausgabe unter dem Titel »Por la reconstrucción nacional«, in dem Ocampo ihre Erfahrungen veröffentlichte47 und zahlreiche Autoren eine erneute Reform des Bildungswesens und die Wiederherstellung des alten liberalen politischen Systems forderten. Die Werke der argentinischen Schriftsteller können einerseits mit Blick auf ihr Verhältnis zum Peronismus gelesen werden, andererseits zeigten sich in den fünfziger Jahren auch ideologische Brüche, die zu einem Generationenkonflikt und zur Gründung neuer Zeitschriften führten:48 Aus den studentischen Redakteuren von Centro bildete sich bald der Kreis der Contorno-Autoren (1953-59). Einige dieser jungen Schriftsteller hatten zwar die Möglichkeit erhalten, in Sur erste Buchbesprechungen und teilweise auch Artikel zu veröffentlichen, sie entfernten sich aber ästhetisch bald von dem engen und zunehmend konservativen Kreis um Ocampo und Borges, der der Innovation in veränderten gesellschaftlichen Bedingungen wenig Raum ließ. Die bestehenden großen sozialen Gegensätze zwischen dem Volk und den Eliten, die der Peronismus keineswegs auflösen konnte, spiegelten sich in der kulturellen Produktion, in Genres wie dem Comic und in den Beobachtungen eines Exilanten wie Witold Gombrowicz, dessen Tagebuch (entstanden ab 1953) freilich erst Jahre später in Argentinien wahrgenommen wurde.49 Während der fünfziger Jahre bemerkte nur ein kleiner Kreis junger Künstler, zu denen Kagel gehörte, die Prägnanz und Tragweite von Gombrowicz’ Beobachtungen. Ebenfalls ein Nischendasein führten die Verfechter des Surrealismus, allen voran Aldo Pellegrini. Er hatte seit den zwanziger Jahren dessen Ideen und Werke in Buenos Aires verbreitet und war in vielen Kreisen aktiv: Durch sein Engagement waren surrealistische Filme vorgeführt worden (vgl. unten S. 143); er war an den surrealistischen Zeitschriften Ciclo (herausgegeben von ihm, Elías Piterbarg und Enrique Pichón-Rivière, erschienen in zwei Nummern 1948-49), A partir de cero (1952; 1956) sowie Letra y Línea (als Herausgeber 1953-54) beteiligt und gab noch 1961 ein Buch über französische Poeten des Surrealismus heraus.50 Im CLES hielt er im Juli und August

47 Vgl. Victoria Ocampo, »La Hora de la Verdad«, in: Sur (1955), H. 237, S. 2-8. Abgedruckt ebenfalls in Victoria Ocampo, Testimonios. Quinta serie (1950-1957), Buenos Aires 1957, S. 231-237. 48 Vgl. die Ausführungen von King, Sur, S. 150. 49 Vgl. Nouzeilles / Montaldo, »Populism and New Nationalism«, S. 271 f. 50 Vgl. Aldo Pellegrini, Antología de la poesía surrealista de lengua francesa, Buenos Aires 1961. Julio Cortázar verfasste 1949 den Text »Un cadáver viviente«, in dem er

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1950 einen gut besuchten Kurs über die surrealistische Bewegung, von dem einige Vorlesungen in Cursos y Conferencias abgedruckt wurden und der mit der Filmvorführung Le Sang d’un poète von Jean Cocteau schloss.51 Pellegrini hatte nicht nur starken Einfluss auf die von Raúl Gustavo Aguirre ab 1950 herausgegebene Zeitschrift Poesía Buenos Aires und die jungen Schriftsteller in ihrem Umkreis,52 sondern engagierte sich auch für bildende Künstler. Bildende Kunst und Ausstellungsräume Wie Andrea Giunta53 dargestellt hat, entwickelte sich der nationale Kunstsalon Argentiniens im Peronismus schrittweise zu einer einseitigen Volkskunstausstellung, die Künstler der Avantgarde ausschloss: Die meisten von ihnen hatten im spannungsreichen Jahr 1945 ihre Werke aus dem Salón nacional zurückgezogen und im Salón independiente ausgestellt, der am 17. September eröffnet und in seiner politischen Bedeutung von dem (figürlichen) Maler Antonio Berni mit der zwei Tage danach stattfindenden Großdemonstration der Opposition »Marcha de la Constitución y de la Libertad«54 assoziiert wurde. Nach dem Amtsantritt Peróns kehrten im September 1946 dennoch viele in die staatliche Schau zurück, die mannigfaltig und durch bedeutende Künstler wie Emilio Pettoruti auch mit abstrakten Werken ausgestattet war. In den folgenden Jahren aber führten die Ausschreibung von thematischen Auszeichnungen, die von einzelnen Ministerien vergeben und immer zahlreicher wurden, sowie die Auswahl der Jury zu einer Einseitigkeit im Salon. So wie die spanische »zeitgenössische« Kunstausstel-

prophezeite, dass der Surrealismus nicht tot sei, sondern neu belebt werde; vgl. Julio Cortázar, Obras completas VI. Obra crítica, Barcelona 2006, S. 222 f. 51 Vgl. Kursübersicht in Cursos y Conferencias 19 (1950), H. 220, S. 226 und H. 221, S. 286 sowie z. B. einzelne Vorlesungen in H. 222 und H. 226-228. Mit 156 Zuhörern war es einer der meistbesuchten Kurse des CLES 1950, vgl. Cursos y Conferencias 19 (1950), H. 223-225, S. 556. 52 Vgl. Terán, Historia de las ideas en la Argentina, S. 263. 53 Andrea Giunta, »Nacionales y populares: los salones del peronismo«, in: Marta Penhos / Diana Wechsler (Hg.), Tras los pasos de la norma, Buenos Aires 1999, S. 153-190, verkürzt dies., »Las batallas de la vanguardia entre el peronismo y el desarrollismo«, in: José Emilio Burucúa (Hg.), Nueva Historia Argentina. Arte, sociedad y política, Bd. 2, Buenos Aires 1999, S. 57-118. Vgl. auch dies., Vanguardia, internacionalismo y política. Arte argentino en los años sesenta, Buenos Aires 2001, S. 46 ff. und 64 ff. 54 Vgl. Luna, El 45, S. 99 ff.

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lung, die im Oktober 1947 in Buenos Aires gastierte, keine Werke von Picasso oder Miró enthielt, sparte der argentinische staatliche Kunstsalon zunehmend abstrakte Künstler aus. Er entwickelte sich zu einer gut subventionierten Veranstaltung der nationalen Volkskunst, die im Jahr 1951 in der ikonisierten Darstellung von Eva Duarte gipfelte, um weitere Salons für Zeichnungen und Drucke oder für junge Künstler erweitert wurde und – wie die Ministerien und Bürokratie jener Jahre – ausuferte, ohne qualitative Entwicklung zu zeitigen. Besonderen Einfluss darauf hatte von 1948 bis 1950 der Bildungsminister Ivanissevich, der als Verantwortlicher seine Haltung zur Aufgabe der Kunst öffentlich vertrat: Sie solle dem Konzept der Schönheit dienen und damit dem Hässlichen und Pathologischen entgegenstehen; damit lehnte er Strömungen wie den Kubismus oder den Futurismus ab. Seine Argumente zeigten Reminiszenzen an die nationalsozialistische Hetzkampagne zur »entarteten Kunst«, sie führten aber nicht zu ähnlich ächtenden Ausstellungen, Verboten oder der Verfolgung der Künstler. Die von ihm abgelehnte Kunst konnte in privaten Ausstellungsräumen weiterleben und war selbst im öffentlichen Raum vertreten, wenn auch von den Haltungen einzelner Funktionäre abhängig: Während Ivanissevich sie attackierte, setzte sich Ignacio Pirovano als Leiter des Museums für dekorative Kunst für sie ein und sammelte sie.55 Die aus dem Salón nacional ausgeschlossenen Künstler zogen sich wie die aus der Universität abgedankten Intellektuellen mehrheitlich in private Netzwerke oder Institutionen zurück. 1946 unterrichteten zum Beispiel an der freien Kunstschule Altamira neben Pettoruti auch andere Maler und der Kunsthistoriker Jorge Romero Brest. Letzterer begann nach seiner Entlassung aus der Universität La Plata im März 1947 eine internationale Vortragstätigkeit, organisierte in Buenos Aires Privatkurse, war bei der Gründung des Verlags Argos beteiligt und gab ab 1948 die Kunstzeitschrift Ver y Estimar heraus.56 Seine Arbeit als Kritiker und der Einsatz für moderne und abstrakte Werke im Peronismus sowie danach ab 1956 in seiner Position als Leiter des Nationalmuseums der Schönen Künste legten die Basis für die Internationalisierung der argentinischen bildenden Kunst in den sechziger Jahren. In den Kriegsjahren war eine junge Künstlergeneration gereift, die mit der Zeitschrift Arturo 1944 zum ersten Mal die Ablehnung der naturalistischen Ab-

55 Vgl. Giunta, »Nacionales y populares: los salones del peronismo«, S. 165 f. und dies., Vanguardia, internacionalismo y política, S. 66 f. 56 Vgl. zu Brest ausführlich Giunta, »Las batallas de la vanguardia entre el peronismo y el desarrollismo«, S. 66 ff. und dies., Vanguardia, internacionalismo y política, S. 39 und 59-63.

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bildung, die Hinwendung zur abstrakt-geometrischen Kunst und zur »invención«, der Erfindung, artikulierte, unter ihnen Tomás Maldonado, seine Partnerin Lydi Prati und sein älterer Bruder, der Poet Edgar Bayley sowie Carmelo Arden Quin, Gyula Kosice und Rhod Rothfuss. Schriften von László Moholy-Nagy, Friedrich Vordemberge-Gildewart, Max Bill und Theo van Doesburg, die im Gepäck zahlreicher Immigranten in den dreißiger und vierziger Jahren nach Buenos Aires gekommen waren, bildeten die Grundlage des Wissens und der Visionen dieser Künstler, die sich fortan der »konkreten Kunst« – im Terminus von van Doesburg – verschrieben.57 Kosice wies rückblickend darauf hin, dass er und andere Mitwirkende von Arturo sich schon 1944 mit Witold Gombrowicz und Juan Carlos Paz in den Cafés Rubi und La Fragata trafen: Deren Denken habe der Gruppe entscheidende Impulse gegeben und ihr die Notwendigkeit ständiger Erneuerung eingeimpft.58 Mit ihren Werken zeigten die Maler und Bildhauer, dass Argentinien den weltweiten künstlerischen Entwicklungen nicht nur nachlief, sondern selbst an vorderster Front kreativ wirkte. 59 Die Bewegung splittete sich schnell in verschiedene Zweige, die sich durch Manifeste und getrennte Ausstellungen voneinander abgrenzten: Die bis heute bekanntere Gruppierung Madí mit Kosice, Quin und Rothfuss veranstaltete 1945 private Events in den Häusern von Enrique Pichón-Rivière und der Fotografin Grete Stern, an denen auch Musiker wie Esteban (Stefan) Eitler oder Daniel Devoto sowie die Tänzerin Renate Schottelius beteiligt waren.60 1946 folgten öffentliche Ausstellungen im Instituto Francés de Estudios Superiores in der Straße Florida 659, und von 1947 bis 1954 erschien in acht Nummern die Zeitschrift Arte Madí, in der auch regelmäßig Partituren von Eitler und Hans-Joachim Koellreutter gedruckt wurden. Beide brachten sich zudem in Konzerten sowie mit Essays ein und präsentierten die musikalische Avantgarde: So sind auf dem

57 Vgl. Gabriela Siracusano, »Las artes plásticas en las décadas del ’40 y el ’50«, in: Burucúa (Hg.), Nueva Historia Argentina, S. 13-56, hier S. 19. Die Schriften der europäischen Vorbilder wurden in den fünfziger Jahren von den argentinischen Anhängern übersetzt und in lokalen Verlagen herausgegeben, vgl. ebd., S. 23. 58 Vgl. Gyula Kosice, »A partir de la revista Arturo«, in: La Nación 1.10.1989, 4ª sección, S. 6. 59 Vgl. John King, El Di Tella y el desarrollo cultural argentino en la década del sesenta, Buenos Aires 1985, S. 27 f. 60 Vgl. die Gruppenfotos und Programmzettel in Gyula Kosice, Arte Madí, Buenos Aires 1982, S. 20 ff. Auch Juan Carlos Paz war an einigen dieser Veranstaltungen beteiligt, vgl. Omar Corrado, Vanguardias al Sur. La música de Juan Carlos Paz, La Habana 2008, S. 319 f.

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Foto einer Madí-Veranstaltung mit Konzert vom 2. August 1948 im Teatro del Pueblo, bei dem Werke von Bartók und Hába gespielt wurden, die Buchstaben »ANM« der Agrupación Nueva Música auf Eitlers Notenständer zu lesen.61 Besondere Beachtung gilt zudem Koellreutters Aufsatz »Un nuevo mundo sonoro« in der Zeitschrift Arte Madí, in dem er 1952 die neuesten Entwicklungen der elektronischen Musik beschrieb und den Fortschritt als Notwendigkeit pries (vgl. unten S. 127 f.). Tomás Maldonado62 wurde dagegen zum Kopf der Asociación Arte Concreto-Invención, in der sich neben Lidy Prati und Edgar Bayley die Künstler Alfredo Hlito, Ennio Iommi, und Raúl Lozza sammelten.63 Mit ihrer ersten Ausstellung im März 1946 im Salón Peuser proklamierten sie ihr Manifiesto Invencionista, das im August gleichen Jahres in der Zeitschrift Arte Concreto-Invención veröffentlicht wurde. Die Künstler verbanden wissenschaftliche Erkenntnisse aus Psychologie und Geometrie mit ihren künstlerischen Prämissen und wandten sie – besonders nach Maldonados Europa-Reise 1948, bei der er mit Max Bill und Georges Vantongerloo Bekanntschaft schloss – in Bauhaus-Tradition auf Architektur und Design an, so dass sie dem argentinischen Grafikdesign wichtige Impulse und eine fundierte Theorie zukommen ließen. Die monumentale, neoklassizistische Ästhetik peronistischer Neubauten wie der rechtswissenschaftlichen Fakultät von 1949 lehnten sie konsequenterweise ab. Verbreitet wurden die Werke der Gruppe sowie Artikel von László Moholy-Nagy, Max Bill und Piet Mondrian 1948 / 49 durch Aldo Pellegrinis Zeitschrift Ciclo, deren erste Ausgabe sich in Kagels »Liste wichtiger Bücher« findet.64 Von 1951 an gab Maldonado die Zeitschrift nueva visión (1951-57) heraus, in der Architekten, Maler, Stadtplaner und Bildhauer für die Erfindung neuer Formen plädierten, die künstlerischen und gesellschaftlichen Ansprüchen gleichermaßen genügen sollten. Dabei distanzierten sie sich ausdrücklich von den Vorgaben der kommunistischen Partei, mit der einige Mitglieder der Gruppe zuvor sympathisiert hatten,

61 Arte Madí (1948), H. 2, o. S. 62 Vgl. zur Biografie Maldonados Andrea Giunta, »A Life Liable to Adopt Any Form«, in: Vincenza Russo (Hg.), Tomás Maldonado. Un itinerario, Milano 2007, S. 12-31 sowie [Maldonado / García], Tomás Maldonado in Conversation, passim. 63 Lozza ging allerdings schon 1947 mit seinen Brüdern den separaten Weg des »Perceptismo« und grenzte sich von Arte Concreto-Invención ab. 64 Vgl. Joseph A. Kruse (Hg.), Lese-Welten. Mauricio Kagel und die Literatur. Eine Ausstellung des Heinrich-Heine-Instituts der Landeshauptstadt Düsseldorf im Rahmen der Jüdischen Kulturtage, konzipiert und realisiert von Werner Klüppelholz, Saarbrücken 2002, S. 26.

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sowie dem peronistischen Populismus; sie gingen aber auch nicht in eine offene Opposition zur Regierung.65 nueva visión experimentierte mit neuen Schrifttypen, die Maldonado aus Europa mitgebracht hatte, und der konsequenten Verwendung von Kleinbuchstaben.66 Zu den Autoren der Zeitschrift gehörte auch Jorge Romero Brest mit grundlegenden Artikeln über bildende Kunst, zum Beispiel zu Wassily Kandinsky oder zum Kubismus; Kagel war 1953 im Redaktionsteam. Maldonado gründete zudem das Studio für Grafikdesign und visuelle Kommunikation axis67 sowie die Organización de Arquitectura Moderna (oam), zu der Horacio Baliero, Juan Manuel Borthagaray, Francisco Bullrich, Alicia Cazzaniga, Alberto Casares Ocampo, Gerardo Clusellas, Carmen Córdova, Jorge Goldemberg, Jorge Grisetti und Eduardo Polledo gehörten.68 Diese Architekten führten die Zeitschrift nueva visión auch nach dem Weggang Maldonados an die Hochschule für Gestaltung in Ulm 1954 fort. Grisetti war gleichzeitig Geschäftsführer des Verlags nueva visión, in dem 1955 sowohl Maldonados Monografie über Max Bill als auch Juan Carlos Paz’ Standardwerk zur zeitgenössischen Musik Introducción a la música de nuestro tiempo erschien. Treffpunkt aller war die Adresse Cerrito 1371, direkt neben der damaligen französischen Botschaft. In den späten vierziger und frühen fünfziger Jahren wurden immer wieder ästhetische und polemische Kontroversen zwischen Madí, Arte ConcretoInvención und weiteren Splittergruppen geführt. Dennoch kam es zu gemeinsamen Ausstellungen, so zum Beispiel 1948 in der Galerie Van Riel unter dem Titel »Arte abstracto – concreto – no figurativo«, einer Schau, die jene Werke vereinigte, die im gleichen Jahr auch im Pariser Salon des réalités nouvelles zu

65 Vgl. María Amalia García, »La ilusión concreta: un recorrido a través de nueva visión. revista de cultura visual, 1951-1957«, in: Inés Saavedra / Patricia M. Artundo (Hg.), Leer las artes, Buenos Aires 2002, S. 171-191, hier S. 177. 66 Vgl. Carlos A. Méndez Mosquera / María Amalia García, »Notes on nueva visión Magazine and the Roads It Travelled«, in: Russo (Hg.), Tomás Maldonado, S. 178189, hier S. 179. 67 axis entwarf das Grafikdesign der Möbelfirma Casa Comte, die dem einflussreichen Peronisten Ignacio Pirovano gehörte, vgl. Méndez Mosquera / García, »Notes on nueva visión Magazine«, S. 185. 68 Diese Mitglieder der oam werden in Méndez Mosquera / García, »Notes on nueva visión Magazine«, S. 183 f. sowie Wustavo Quiroga (Hg.), Feria de América: vanguardia invisible, Mendoza 2012, online: http://www.museoenconstruccion.org.ar/ feriadeamerica/feriadeamericaMZA.pdf (25.2.2013), S. 44 genannt.

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sehen waren.69 Im Gebäude der Galerie – Adresse: Florida 659 – wurde im Juli 1949, finanziert und organisiert in Privatinitiative von Marcelo de Ridder, das Instituto de Arte Moderno (IAM) mit der französischen, vom belgischen Kunstkritiker Léon Degand kuratierten Ausstellung »Del arte figurativo al arte abstracto« eingeweiht.70 Hinter »Florida 659« verbargen sich in jenen Jahren mehrere Institutionen: die Galerie Van Riel, das Instituto Francés de Estudios Superiores, das CLES und nun das IAM,71 das sich besonders der abstrakten Kunst widmete. Passend dazu fanden im Saal des Gebäudes unzählige Konzerte französischer, moderner und avantgardistischer Musik sowie Theaterproduktionen statt. Damit wurde hier unter wechselnden Dachorganisationen die Arbeit fortgesetzt, die 1924 mit der Gründung der Gesellschaft Amigos del Arte begann: Sie hatte bis 1942 und teilweise am gleichen Ort Kunstausstellungen, Lesungen und vielfältige Kammermusikaktivitäten gefördert; in ihr – einem »Laboratorium der Moderne«72 – engagierte sich Jane Bathori in den zwanziger und dreißiger Jahren, hier wurden die ersten Zwölftonwerke in den dreißiger Jahren aufgeführt und hier gaben verschiedene argentinische Komponistenvereinigungen ihre Konzerte. Dutzende kleinere Galerien luden Ende der vierziger und in den fünfziger Jahren zu Einzelausstellungen europäischer, amerikanischer und lokaler Künstler, genannt seien zu den bereits erwähnten Peuser und Van Riel beispielsweise

69 Nelly Perazzo, El arte concreto en la Argentina en la década del 40, Buenos Aires 1983, S. 94, weist allerdings darauf hin, dass die Pariser Presse immer nur von Madí sprach, obwohl Arte Concreto-Invención durch Maldonado, Hlito, Iommi und Prati ebenfalls vertreten war. 70 Vgl. Giunta, Vanguardia, internacionalismo y política, S. 68 ff. Die Ausstellung hatte im März 1949 das Museum der modernen Kunst in São Paulo eröffnet, vgl. María Amalia García, »La abstracción en viajes de ida y vuelta. Contactos institucionales entre Argentina y Brasil a principios de los ’50«, auf: http://lasa.international.pitt.edu/ members/congress-papers/lasa2004/files/GarciaMariaAmalia_xCD.pdf (6.11.2012). 71 Das Instituto Francés de Estudios Superiores ist Ende der vierziger Jahre umgezogen und findet sich spätestens im Juli 1950 in der Straße Maipú 1220, vgl. Ankündigung »J. L. Barrault departirá con los dirigentes del movimiento vocacional«, in: La Nación 26.7.1950, S. 7. Die Galerie Van Riel besteht seit 1924 und ist heute in der Straße Juncal 790 zu finden, vgl. http://www.vanriel.com.ar (3.11.2009). Zum IAM als Veranstaltungsort vgl. Valenti Ferro, 100 años de música en Buenos Aires, S. 297. Das Gebäude in Florida 659 wich später einem Einkaufszentrum. 72 Terminus nach Omar Corrado, Música y modernidad en Buenos Aires (1920-1940), Buenos Aires 2010, S. 114.

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Bonino, Witcomb, Krayd, Müller oder Velázquez. In der Galerie Viau stellten 1952 unabhängige Künstler gemeinsam mit Hlito, Iommi, Maldonado und Prati aus, die als Artistas Modernos de la Argentina von Aldo Pellegrini zusammengeführt worden waren und eine allmähliche Lösung von der strengen Geometrie präsentierten. Der Ausstellung folgten 1953 ähnliche in São Paulo und Amsterdam. Maldonado, den Pellegrini 1946 mit der europäischen Gestalt-Theorie der zwanziger Jahre bekannt gemacht hatte,73 reflektierte um 1953 besonders den Surrealismus in eigenen Werken und in einem Aufsatz über Francis Picabia in Pellegrinis Zeitschrift Letra y Línea; Pellegrini veröffentlichte wiederum in der vierten Ausgabe von nueva visión 1953 einen Beitrag über surrealistische und konkrete Kunst.74 Die Feindseligkeiten des Kultusministeriums gegenüber der abstrakten Kunst verringerten sich zu Beginn der fünfziger Jahre. Der zweite Fünfjahresplan leitete aus ökonomisch-taktischen Gründen eine Öffnung zu ausländischen Märkten und dem Kunstbetrieb ein, der ein pluralistisches Nebeneinander verschiedener Richtungen ermöglichte: Eine dem 20. Jahrhundert gewidmete Kunstausstellung im Nationalmuseum der Schönen Künste vereinte so von Oktober 1952 bis März 1953 insgesamt 519 Werke von 271 argentinischen Künstlern aller Richtungen, unter ihnen zahlreiche abstrakte Maler und Bildhauer.75 Ende 1953 wurden durch das Außenministerium zudem Werke von Maldonado, Hlito, Kosice, Lozza, Prati, Iommi und anderen zur zweiten Biennale nach São Paulo geschickt. Die verbesserte Lage der abstrakten Kunst resultierte einerseits aus dem unermüdlichen Einsatz einzelner für sie, die wie Romero Brest in seiner Zeitschrift Ver y Estimar für eine reine Kunst sowie Internationalität eintraten. Andererseits halfen 1953 die politischen Umstände: Anfang des Jahres war es nach dem Bombenanschlag auf Perón zu Maßnahmen der Polizei und aufgebrachter Regierungsanhänger gegen den Umkreis von Sur und die Oligarchie gekommen, bei dem auch das Gebäude des Jockey Club am 15. April in Flammen aufging. Argentinien bemühte sich nach diesem im Ausland kritisch beobachteten Vorgehen um die Wiederherstellung der außenpolitischen Beziehungen besonders zu den USA. Mit der Aufnahme abstrakter Werke in die staatliche Auswahl für die Bi-

73 Vgl. William S. Huff, »Albers, Bill, and Maldonado: The Basic Course of the Ulm School of Design (HfG)«, in: Russo (Hg.), Tomás Maldonado, S. 104-121, hier S. 110. 74 Vgl. Tomás Maldonado, »Picabia, gran acreedor«, in: Letra y Línea (1953 / 54), H. 3, S. 1-3 und Aldo Pellegrini, »Arte surrealista y arte concreto«, in: nueva visión (1953), H. 4, S. 9-11. 75 Vgl. Giunta, »Las batallas de la vanguardia entre el peronismo y el desarrollismo«, S. 61 und dies., Vanguardia, internacionalismo y política, S. 74 f.

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ennale São Paulo und der Darstellung der argentinischen Kunst als radikal erhoffte sich das Außenministerium vor allem politische und wirtschaftsstärkende Vorteile im Ausland.76 Die wichtigste Neuerung für die bildende Kunst nach dem Sturz Peróns war 1956 die Gründung des Museo de Arte Moderno de Buenos Aires. Das Nationalmuseum der schönen Künste öffnete nach umfangreichen Renovierungen dagegen erst im Juni 1957 wieder, vergrößerte in den folgenden Jahren unter der Leitung von Romero Brest aber die Anzahl und Internationalität der Ausstellungen um ein Vielfaches. Auf den Peronismus rückblickend dominierten im Bereich der bildenden Kunst sprachliche Wendungen, die die Periode aburteilten und dem Stil der Essays von Sur im November 1955 entsprachen: »dictadura, tiranía, atentados contra la libertad, aislamiento internacional, demagogia, populismo, carencia de valores estéticos«.77 Hatten die Künstler unter einem repressiven Regime das Gefühl, mit der Orientierung an ausländischen Vorbildern und abstrakten Werken auf dem richtigen, fortschrittlichen, provokanten Weg gegen herrschende nationale Geschmäcker zu sein, mussten sie sich nun neu definieren: Mit der Öffnung zur Welt galt es stärker als zuvor, eine eigene künstlerische Sprache zu finden. Filmindustrie Der argentinische Film genoss als Massenmedium unter Perón besondere Protektion und unterlag im Vergleich zu Literatur und bildender Kunst wirklicher Zensur, allerdings kam es nicht wie bei Presse und Rundfunk zu staatlichen Übernahmen.78 Das Mittel der Wahl war hier noch stärker als in anderen Bereichen Marktsteuerung durch Quotenregelung und finanzielle Förderung: Umfangreiche Subventionen flossen in verschiedene Produktionsgesellschaften, aber nur in Filme, deren Drehbücher der nationalen Doktrin entsprachen. Dies führte dazu,

76 Vgl. Giunta, »Nacionales y populares: los salones del peronismo«, S. 176, dies., »Las batallas de la vanguardia entre el peronismo y el desarrollismo«, S. 65 und dies., Vanguardia, internacionalismo y política, S. 75 f. An der ersten Biennale in São Paulo 1951 hatte Argentinien nicht teilgenommen; auch bei der dritten 1955 war das Land nicht vertreten. Romero Brest wirkte als Mitglied der Jury bei den ersten beiden Biennalen. Vgl. Leonor Amarante, As Bienais de São Paulo / 1951 a 1987, São Paulo 1989. 77 Giunta, Vanguardia, internacionalismo y política, S. 88: »Diktatur, Tyrannei, Angriffe auf die Freiheit, internationale Isolierung, Demagogie, Populismus, fehlende ästhetische Werte«. 78 Vgl. Kriger, Cine y peronismo, S. 70.

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dass peronistische Ideale und Arbeitersujets verstärkt verfilmt wurden und die Anzahl argentinischer Filme in den Kinos stieg; doch das Publikum blieb in der Folge dem Kino häufiger desinteressiert fern. Während die Firmen überlebten, die sich an staatliche Vorgaben hielten, schlossen zwischen 1950 und 1953 jene Studios, die in den vorherigen beiden Dekaden am aktivsten waren.79 Die Lenkung der Filmindustrie wurde bereits von der Militärregierung im Dezember 1943 mit der Einrichtung der Dirección General de Espectáculos Públicos (Ministerialabteilung für öffentliche Veranstaltungen), die dem Staatssekretär für Nachrichten und Presse unterstellt war, und mit verschiedenen Dekreten eingeleitet.80 Ziel dieser Bemühungen war die Stärkung der einheimischen Filmindustrie, die seit Beginn des Zweiten Weltkriegs stark unter AzetonMangel litt: Die Hauptlieferanten Deutschland, Japan und Belgien entfielen, die nordamerikanischen Hersteller durften den argentinischen Bedarf an Zelluloid jedoch nur teilweise decken, da die bis März 1945 aufrecht erhaltene Neutralität Argentiniens im Krieg ein Handelsembargo der USA nach sich zog.81 Die ersten Dekrete von 1944 verpflichteten die Filmvorführer darum, argentinische Filme anzubieten und den Aufführungen regelmäßig Nachrichtenblocks vorzuschalten, um den lokalen Studios die Einkommen zu sichern. Juan Perón und besonders Eva Duarte, die bis 1945 selbst als Filmdarstellerin wirkte, waren mit einigen Produzenten eng verbunden und wurden von ihnen gebeten, die Filmindustrie zum nationalen Interesse zu erklären, was mit dem Filmgesetz von 1947 auch geschah: Die Kinos waren nun verpflichtet, einen höheren Prozentsatz einheimischer Streifen über mehrere Wochen zu zeigen, die die Themen und Kultur des Landes reflektierten. In den folgenden Jahren wirkte zudem ein Programm der Industriekreditbank stabilisierend, das den Firmen nach Vorlage und Prüfung von Drehbuch und Produktionsplan besonders günstige Vorschüsse gewährte.82 Viele dieser Kredite wurden allerdings niemals zurückgezahlt, da die Zahl un-

79 Vgl. Claudio España / Ricardo Manetti, »El cine argentino, una estética especular: del origen a los esquemas«, in: Burucúa (Hg.), Nueva Historia Argentina, S. 235-278, hier S. 270. 80 Vgl. für alle folgenden Angaben Kriger, Cine y peronismo, S. 32 ff. 81 Zur Vermischung von wirtschaftlichen und politischen Interessen in der Filmpolitik der USA in Argentinien während des Kriegs vgl. Ursula Prutsch, »Die Filmpolitik des Office of Inter-American Affairs und des State Department in Argentinien während des Zweiten Weltkrieges«, in: Holger M. Meding / Georg Ismar (Hg.), Argentinien und das Dritte Reich. Mediale und reale Präsenz, Ideologietransfer, Folgewirkungen (Deutsch-Lateinamerikanische Forschungen 4), Berlin 2008, S. 179-197. 82 Vgl. für Beispiele Girbal-Blacha, »Intelectualidad y política«, S. 44-46.

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vollendeter Filme rapide anstieg. Zudem war es für junge Darsteller und Regisseure schwierig, überhaupt in den Genuss der Förderung zu gelangen, die auf bekannte Namen mit Qualitätsgarantie Wert legte und so den Zirkel der Filmschaffenden geschlossen hielt.83 Der staatlichen Förderung entgegen stand zunächst eine doppelte Zensur, die der Industrie ökonomische und ideologische Grenzen setzte: Die Ministerialabteilung führte eine Aufsicht in Anlehnung an die moralischen Richtlinien des in den USA angewandten »Hays Code« durch, während städtische Einrichtungen zusätzlich Filme verbieten oder Schnitte anordnen konnten, auch wenn diese bereits die staatliche Kontrolle bestanden hatten.84 Die städtischen Kontrollinstanzen waren dabei besonders stark von der katholischen Kirche beeinflusst und wachten über eine klare Trennung von Gut und Böse sowie den Respekt vor der Familie, dem Staat, der Kirche, dem Militär und dem Gesetz, die nicht verspottet werden durften. Weitere Dekrete, die die Branche bis zur Höhe der Kinoeintrittspreise regelten, ergänzten das Gesetz in den folgenden Jahren. Unter der autoritären Rigide des Staatssekretärs Raúl A. Apold wurde das Kinogesetz ab 1949 zugunsten der Regierung verschärft: Ihr selbst oblag von nun an die Entscheidung darüber, welche Filme finanziell gefördert werden sollten, so dass sie zentralistisch und autoritär lenken konnte. Produktionen, die eine besondere staatliche Stütze erhalten hatten, konnten von den städtischen Institutionen nicht mehr nachträglich zensiert werden. Die Zuteilung der Förderprämien unterlag keinen klaren Kriterien, allerdings sollten die Drehbücher die Bräuche des Landes und die Ideologie des Volkes wiederspiegeln und dem kulturellen Niveau des Landes entsprechen. Ausgeschlossen blieben daher alle Filme, die soziale Probleme thematisierten oder Aussagen machten, die das Selbstverständnis Argentiniens angriffen. 1951 wurde die doppelte Zensur abgeschafft: Eine nationale Kommission wachte nun zentralistisch über die Produktionen im ganzen Land, gab sie nach Fertigstellung zur Vorführung frei und entschied über ihre massenhafte oder eingeschränkte Verbreitung. Zahlreiche Produzenten unterwarfen sich fortan einer eigenen vorausschauenden Zensur, um besonders während der Wirtschaftskrise zu Beginn der fünfziger Jahre in den Genuss der Subventionen zu kommen und die Rentabilität der abgeschlossenen Filme nicht zu gefährden. Nachteile der Lenkung erfuhren besonders Darsteller und Produzenten, die persönliche Konflikte mit dem Präsidentenpaar Perón oder dem Staatssekretär

83 Vgl. José Agustin Mahieu, Historia del cortometraje argentino, Santa Fe 1961, S. 10 f. 84 Vgl. die Einschätzung von Kriger, Cine y peronismo, S. 51, zum Folgenden ebd., S. 62, 70 f. und 102.

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Apold hatten. Die Schauspielerin und Sängerin Libertad Lamarque, die beispielweise 1944 bei den Dreharbeiten zu La cabalgata del circo Auseinandersetzungen mit Eva Duarte führte, verließ vorausschauend schon nach den Entwicklungen von 1945 das Land und setzte ihre Karriere in Mexiko fort.85 Ihr folgten andere wie der Drehbuchautor Ulyses Petit de Murat, der von Mexiko aus weiter erfolgreiche Plots für die argentinische Szene verfasste. Nach seinem Skript drehte León Klimovsky, gleichzeitig auch einer der wichtigsten Förderer von Avantgarde- und Kurzfilmen, 1950 den Film Suburbio, der allerdings erst ein Jahr später in den Kinos gezeigt werden konnte, nachdem die Produktionsfirma Emelco ihn in fremder Regie teilweise neu gedreht und ihm ein Happyend hinzugefügt hatte: Die ursprüngliche Version von Petit de Murat und Klimovsky enthielt für die Zensoren zu wenig positive Aussagen über das Leben in einem Vorort und zu viel Armut, Prostitution und Ungerechtigkeit, die der Realität wenig schmeichelte. Auch peronistische Regisseure und Schauspieler wie Hugo del Carril, dem Apold aus persönlichen Gründen feindlich gesonnen war, mussten Kompromisse eingehen: In Las aguas bajan turbias, basierend auf Alfredo Varelas Roman El río oscuro, durfte der Schriftsteller, der zur kommunistischen Partei gehörte und darum im Gefängnis saß, nicht in den Credits genannt werden.86 Die Zensur griff selbstverständlich auch für Filme aus dem Ausland: Der bekannteste Fall ist Charlie Chaplins Der große Diktator, der in Argentinien nur gezeigt werden konnte, wenn der antiautoritäre Diskurs am Ende des Films geschnitten wurde.87 Die Lenkung der Filmindustrie führte zwar während wirtschaftlich schwieriger Jahre zu einer künstlichen Aufrechterhaltung der Branche mit konstantem Output, doch blieb die Qualität der Produktionen lange schlecht und international nicht konkurrenzfähig: Technik, Ästhetik und Thematik entwickelten sich kaum, zu häufig wurden klassische Plots nur vor regionalem Hintergrund adaptiert und waren für ausländische Abnehmer uninteressant. Filmenthusiasten im Umfeld der unabhängigen Zeitschrift Gente de Cine kritisierten 1953 / 54, die argentinischen Regisseure imitierten nur Formen der internationalen Vorbilder,

85 Angaben dazu sowie zu den folgenden Personen und Filmen nach der CD-Rom El cine argentino 1997, hg. von Fundación Cinemateca Argentina, Buenos Aires 1997. 86 Vgl. analytisch – allerdings auch pro-peronistisch – zu Suburbio und Las aguas bajan turbias Kriger, Cine y peronismo, S. 187 ff. 87 Vgl. Terán, Historia de las ideas en la Argentina, S. 263. Der Film wurde allerdings schon direkt nach seinem Erscheinen Ende 1940 zum ersten Mal in Argentinien verboten – nach deutscher und italienischer diplomatischer Intervention. Vgl. Prutsch, »Die Filmpolitik des Office of Inter-American Affairs«, S. 187.

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ohne eine eigene Sprache und Handschrift zu entwickeln.88 In den alternativen Kinoclubs wie Gente de Cine und der 1949 gegründeten Cinemateca Argentina versammelten sich oppositionelle Filmexperten, Amateurfilmer und Interessierte, die sich nicht nur für die Erhaltung und Vorführung von Filmklassikern einsetzten und selbst besonders mit Kurzfilmen experimentierten, sondern vor dem Hintergrund der internationalen Entwicklungen darüber diskutierten, welche Charakteristika den argentinischen Film prägen sollten. Hier, fern von den professionellen Institutionen, bildeten auch die jungen Filmschaffenden, die nicht an der staatlichen Förderung Anteil hatten, ihre Fertigkeiten aus, so dass sie in den sechziger Jahren dem argentinischen Kino frische Impulse geben konnten.89 Der zu Beginn der fünfziger Jahre langsam einsetzende Wandel der Regierung in der Außenpolitik und gegenüber ausländischen Investoren wurde auch in der Filmindustrie spürbar, die sich zusehends dem Ausland – vor allem den USA – öffnete, Koproduktionen in Erwägung zog und exilierte Künstler (meist vergeblich) zur Rückkehr ermunterte. Das internationale Filmfestival 1954 in La Plata, an dem auch Perón teilnahm, war dabei nicht nur populäres Spektakel mit neuesten technischen Entwicklungen wie dem dreidimensionalen Film, sondern diente der Präsentation der Regierung gegenüber dem Ausland. Diese Öffnung half dem argentinischen Film jedoch kaum: Nach der Ära Perón besaß er bis 1957 weder öffentliche Glaubwürdigkeit noch staatlichen Schutz oder finanzielle Ressourcen, so dass die Branche eine schwere Krise bestehen musste und viele Studios ihre Aktivitäten vollkommen einstellten. Zum Zuge kamen in der Folge vermehrt Regisseure, die wie Leopoldo Torre Nilsson und Beatriz Guido erneut die intellektuelle Tradition des argentinischen Films und den Einfluss des Bürgertums darin stärkten.90 Es begann – nach den Tangomelodramen der dreißiger und vierziger Jahre sowie Produktionen mit klassischer, opernhafter oder folkloristischer Musik im Peronismus – die Zeit experimentellerer Filmmusik: Allein Juan Carlos Paz komponierte von 1957 bis 1960 Musik zu sechs Spielfilmen, darunter vier von Leopoldo Torre Nilsson. Zusammenfassung: Intellektuelle im Peronismus Die Politik konzentrierte sich auf die Beeinflussung der Massenmedien und der Bildungspolitik, verhielt sich äußerlich autoritär und ließ doch Dissens in Ni-

88 Vgl. Kriger, Cine y peronismo, S. 75 f. 89 Vgl. Mahieu, Historia del cortometraje argentino, S. 11; zu Kinoclubs und Cinemateca Argentina vgl. unten S. 143 f. 90 Vgl. España / Manetti, »El cine argentino«, S. 273 f.

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schen zu, solange er nicht massenwirksam publik wurde. So konnte beispielsweise das unabhängige, meist nicht professionelle Theater (»independiente« bzw. »vocacional«) relativ frei bestehen und entwickelte sich entscheidend weiter: Den in den dreißiger Jahren gegründeten Institutionen Teatro del Pueblo (Leitung: Leónidas Barletta) und La Máscara gesellten sich Ende der vierziger das Nuevo Teatro sowie ab 1950 das IAM, Fray Mocho und das Teatro Los Independientes hinzu. Sie bildeten ein Netz, das das Schauspiel förderte und erforschte, moderne europäische und nordamerikanische Stücke im Basisrepertoire führte, argentinische Dramatiker zur Produktion neuer Stücke ermunterte und neben überwiegend naturalistisch-realistischen Darstellungen auch Groteskes spielte. Diese Theater konnten auf ein treues Publikum zählen, das sie als Nischen des Widerstands gegen den Peronismus nutzte. Perón nahm diese indirekte Opposition zwar wahr, setzte aber keine strenge Zensur ein.91 Die freien Theater gehörten wie die Kinoclubs und Künstler um die Zeitschriften Arturo oder Poesía Buenos Aires zu dem kulturellen System, das sich bewusst apolitisch verhielt und ohne spektakuläre Aktionen einen rein künstlerischen Weg verfolgte. Dagegen waren der Sur- wie auch der Contorno-Kreis eher europäisch-universalistisch geprägt, und beide setzten Kunst für politische Absichten ein.92 Das rigide Vorgehen der Regierung an der Universität führte zur Abdrängung zahlreicher Wissenschaftler und in der Folge zu herrschender Mittelmäßigkeit in den staatlichen Ausbildungsstätten, es gelang aber dadurch nicht, die Haltung der Intellektuellen wesentlich zu ändern: Die Mehrheit der Schriftsteller, Künstler und Gelehrten war und blieb antiperonistisch, abgestoßen von der staatlichen Autorität und der populären Massenbewegung und nicht bereit, dem Peronismus positive Aspekte zuzuerkennen. Sie ignorierten den Versuch des Regimes, sie in der 1948 gegründeten Junta Nacional de Intelectuales zu organisieren. Auch die neue staatliche Asociación Argentina de Escritores versammelte nur mittelmäßige Autoren unter ihrem Dach, während alle Schriftsteller von Rang der Sociedad Argentina de Escritores (SADE) verbunden blieben. Vehement wehrten sie sich wie Borges, Perón auch nur die Hand zu reichen: Ihm war von Ernesto Palacios, der 1946 / 47 die nationale Kulturkommission recht moderat leitete, vorgeschlagen worden, den Präsidenten kennen zu lernen, was der Autor kompromisslos ablehnte.93

91 Vgl. Sigal, »Intelectuales y peronismo«, S. 520 f. und King, El Di Tella, S. 29 f. 92 Vgl. Luna, Perón y su tiempo. II. La comunidad organizada, S. 331. Luna referiert Ignacio Zuleta ohne Quellenangabe. 93 Vgl. Sigal, »Intelectuales y peronismo«, S. 513 ff. und Jorge Luis Borges (con Norman Thomas di Giovanni), Autobiografía 1899-1970, Buenos Aires 1999, S. 123.

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Den organisatorischen Bemühungen des Peronismus fehlte eine kohärente, inhaltliche Kulturgesetzgebung oder auch nur ein umfassendes Programm. Währenddessen verstärkte und diversifizierte sich das intellektuelle Leben außerhalb der staatlichen Institutionen, manchmal innerhalb schon bestehender Organisationen wie des CLES oder Sur, aber auch mit unzähligen Neugründungen, so dass ein großes Netzwerk entstand, in dem Intellektuelle Raum für ihre Tätigkeiten fanden. Die gleichen Schlüsselpersonen traten dabei in verschiedenen Einrichtungen und Publikationen in Erscheinung94 – ein Phänomen, das uns bei der folgenden Betrachtung der musikalischen Institutionen wieder begegnen wird. Dabei hatten sie durchaus mit polizeilichen Interventionen aber auch mit persönlichen Konflikten zu kämpfen, und manche Einrichtung wurde nach kurzer Zeit wieder geschlossen: Die freie Kunstschule Altamira von Lucio Fontana, an der Juan Carlos Paz für die Musik zuständig war, existierte nur 1946; die Kunsttheoriekurse in der Librería Fray Mocho wurden nach wenigen Monaten 1948 verboten;95 nach der Einstellung der Kurse im CLES Buenos Aires erfüllte die Zeitschrift Imago Mundi ab 1953 die Aufgaben einer so genannten »Schattenuniversität«. Auch wenn die Universität in Buenos Aires zahlreiche Oppositionelle ausgeschlossen hatte, war zumindest die geisteswissenschaftliche Fakultät durch ihr traditionelles Gebäude im kulturellen und intellektuellen Zentrum der Stadt verankert und am Puls der Zeit: An der Kreuzung der Straßen Florida und Viamonte befanden sich in unmittelbarer Nähe die Redaktion von Sur, der Jockey Club als Symbol und Treffpunkt der gebildeten Elite sowie IAM und CLES. Dieses »Intellektuellenghetto«96 wurde gleichzeitig zum Zentrum der jungen Denkergeneration: In der Bar Florida diskutierten Studenten den Existentialismus; Buchhandlungen wie Verbum, Letras oder Galatea – die Letztere von einem Franzosen geleitet, der mit den europäischen Surrealisten verkehrt hatte; hier konnte man Les temps modernes immer pünktlich kaufen – boten die entsprechende Literatur dazu an.97 Zur Mitte der fünfziger Jahre fand sich in diesem Viertel die neue, kulturell vielfältig interessierte Mittelklasse:

94 Vgl. Sigal, »Intelectuales y peronismo«, S. 519 und Giunta, Vanguardia, internacionalismo y política, S. 78 Anm. 90. 95 Vgl. Giunta, Vanguardia, internacionalismo y política, S. 63. 96 King, El Di Tella, S. 25, bezeichnet in Anlehnung an Juan José Sebreli (ohne Quellenangabe) das Gebiet um die damalige geisteswissenschaftliche Fakultät als »verdadero ghetto«, »wirkliches Ghetto« der Intellektuellen. 97 Vgl. Luna, Perón y su tiempo. II. La comunidad organizada, S. 328 und Goldar, Buenos Aires: vida cotidiana en la década del 50, S. 104 f.

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»Así encontramos pequeños grupos intelectuales cuyo ›background‹ es la calle Viamonte, sus librerías y bares […] cerca de la Facultad de Filosofía y Letras, donde muchos de ellos estudian […] y cuyo fetichismo culturalista los lleva a constituir el público ferviente de las mesas redondas, de las revistas literarias – en las que muchos de ellos son también redactores –, de los teatros independientes – en los que muchos de ellos son también actores –, de los ›clubes‹, donde toca Astor Piazzola, o de los ciclos Bergman y ›nouvelle vague‹ del Lorraine.«98

Diese Gruppen wurden zwar zum Beispiel mit den französischen Existentialisten oder den amerikanischen Beatniks verglichen, sie entbehrten jedoch jeglicher Dramatik, Alkohol-, Drogen-, Gewalt- oder Sexexzesse und kleideten sich auch nicht extravagant. Es handelte sich schlicht um die erste Generation von argentinischen Intellektuellen, die sich von der herrschenden liberalen Tradition löste und an den bisherigen reaktionären Haltungen Kritik übte – wenn auch zunächst vage und konfus. Mauricio Kagel passt mit seinem Aktionsradius zur Beschreibung dieser jungen Intellektuellen: Er war neben seinen musikalischen Engagements an literarischen Zeitschriften beteiligt, frequentierte alternative KinoReihen und interessierte sich für Theaterproduktionen, wie an seiner Mitwirkung beim Gastspiel der Compagnie Renaud-Barrault 1950 ersichtlich wird (vgl. unten S. 98).

M USIKLEBEN Buenos Aires konnte im 20. Jahrhundert für sich beanspruchen, die musikalische Hauptstadt Lateinamerikas zu sein, in der die zeitgenössische Musik ein kleines, aber beständiges Element der musikalischen Infrastruktur war.99 Anders als die bildende Kunst, Film und Literatur wurde das Musikleben im Peronismus bisher

98 Juan José Sebreli, Buenos Aires. Vida cotidiana y alienación, Buenos Aires

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1967,

S. 109: »So treffen wir auf kleine Intellektuellengruppen, deren ›Background‹ die Straße Viamonte mit ihren Buchhandlungen und Bars […] in der Nähe der geisteswissenschaftlichen Fakultät ist, wo viele von ihnen studieren […], und deren kulturalistischer Fetischismus sie dazu bringt, das eifrige Publikum der runden Tische, literarischen Zeitschriften – in denen viele von ihnen auch Redakteure sind –, der unabhängigen Theater – in denen viele von ihnen auch Schauspieler sind –, der ›Clubs‹, in denen Astor Piazzola spielt, oder der Bergman- und ›nouvelle vague‹-Reihen im Lorraine zu bilden.« Mit »Lorraine« ist ein Kino mit besonderen Veranstaltungen gemeint. 99 Vgl. King, El Di Tella, S. 32.

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nicht eingehend wissenschaftlich untersucht, nur vereinzelt deuten Anmerkungen in Darstellungen zu einzelnen Komponisten oder Institutionen Veränderungen oder Konflikte an: So seien die künstlerischen Ideale der Regierung zwar diffus und widersprüchlich gewesen, dabei aber so nationalistisch und populistisch, dass die Avantgarde ausgeschlossen blieb.100 Erst in jüngster Zeit widmen sich Autoren ausgewählten Aspekten des Musiklebens ab 1945 aus gesellschaftspolitischer Perspektive.101 Zuvor wurde diese Zeit in Lebensläufen oder Überblicksdarstellungen einfach ausgespart: Da hieß es zum Beispiel, dass zur Mitte des 20. Jahrhunderts eine Zeit wechselnder politischer, sozialer und ökonomischer Situationen begann, die zwar negative Auswirkungen hatte, das Musikleben aber komplexer werden ließ.102 Der Komponist und Kritiker Rodolfo Arizaga hob in einer subjektiven Rückschau auf seine bisherige musikalische Karriere 1963 hervor, dass die politische Realität seit zwanzig Jahren auf das Musikleben abfärbe und es grundlegend gewandelt habe. So ist einerseits die Ausdifferenzierung der musikalischen Institutionen ab 1946 bemerkenswert – während das Teatro Colón an Prestige verlor, bildeten sich mehrere öffentliche Sinfonieorchester und private Konzertgesellschaften neu –, andererseits führte die ständige Unterfinanzierung derselben sowie ein »lächerlicher Protektionismus«103 zum Beispiel in Form von Quotengesetzen nur zu einer Breitenförderung mittelmäßiger einheimischer Komponisten ohne internationale Auswirkung.

100 Vgl. Corrado, Vanguardias al Sur, S. 180. 101 Vgl. z. B. zum Jahr 1945: Omar Corrado, »La música en la práctica política del Partido Comunista Argentino entre el fin de la Segunda Guerra y los comienzos del peronismo«, in: Boletín Música (2011), H. 30, S. 28-44, online: http://www.casa. cult.cu/publicaciones/boletinmusica/30/tematicos.pdf (16.8.2012), sowie Romina Dezillio, »Between Nation and Emancipation: Women’s Musical Work in Buenos Aires, Argentina, During the Political Conflicts of 1945«, Vortrag beim IMSKongress Rom 2012, unveröffentlicht; zum Jahr 1950: Omar Corrado, »Honrar al General: música, lenguaje y política en el Año Sanmartiniano (Argentina, 1950)«, in: Maria Alice Volpe (Hg.), Teoria, crítica e música na atualidade, Rio de Janeiro 2012, S. 91-115. 102 Vgl. z. B. Melanie Plesch / Gerardo V. Huseby, »La música argentina en el siglo XX«, in: Burucúa (Hg.), Nueva Historia Argentina, S. 175-234, hier S. 195. 103 Rodolfo Arizaga, »Mis primeros veinte años musicales«, in: Lyra (1963), H. 189191, o. S: »ridículo proteccionismo«.

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Staatliche Institutionen Das Teatro Colón, in den Worten Kagels »ständig mit Freunden von Freunden falsch besetzt«,104 hatte von 1946 bis 1957 acht verschiedene Leitungen.105 Mehr noch als die nach Kagels Meinung »falsche« Besetzung bereitete dem Haus die fehlende Kontinuität seit der Revolution von 1943 Probleme. Seit 1944 war die Leitung des Hauses vollständig dem Kulturreferat der Stadt unterstellt und von politischen Umbrüchen oder Neubesetzungen direkt und häufig betroffen. Auf den falsch verstandenen Nationalismus, extreme politische Vereinnahmung, Auflagen und Diskriminierungen, die Einsetzung ungeeigneter Intendanten sowie die Inflation seit 1949 und die gesamte ökonomische Krise führt Roberto Caamaño in seiner Zusammenfassung für die Jahre 1944 bis 1960 die materielle und künstlerische Stagnation des Theaters zurück: Es verblieb auf dem Stand von 1943, während im europäischen Musiktheater der Nachkriegszeit immense ästhetische Entwicklungen geschahen.106 In jenen Jahren seien am Colón weder langfristige Planungen möglich gewesen noch habe es sich technisch oder in den Inszenierungen kontinuierlich weiterentwickelt. Zwar waren nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs die Reisen bedeutender Dirigenten und Solisten nach Argentinien wieder erleichtert, so dass in den »fiesta«-Jahren 1947 bis 1949 mit wichtigen Erstaufführungen und qualitativ hochwertigen Inszenierungen nochmals der wiedererstandene Glanz der Vorkriegszeit erstrahlte. Doch schlossen sich schon bald für regierungskritische Künstler wie den Dirigenten Juan José Castro die Türen des Theaters; andere wie die Exilanten Josef und Michael Gielen entschieden sich für zukunftsträchtigere künstlerische Positionen in Europa. Ab der Spielzeit 1950 sank das Niveau der festen Ensembles und Aufführungen beständig; nur wenige Erstaufführungen wie Bergs Wozzeck 1952, Bartóks Herzog Blaubarts Burg 1953 und Dallapiccolas Il Prigioniero 1954 setzten dabei Maßstäbe. Besonders stark waren die Auswirkungen der Politik 1954 und 1955 in der unausgewogenen Besetzung zu spüren: Das Repertoire konnte nicht mehr gehalten werden und verlor an Wert. Dagegen hat sich das Gastspiel der Compagnie Madeleine Renaud und Jean-Louis Barrault 1954 mit Milhauds Christophe Colomb offenbar machtvoll abgehoben.107 Stattdessen wurde das Haus von 1948 bis

104 Kagel, Dialoge, Monologe, S. 228. 105 Vgl. Pola Suárez Urtubey, »Regimen de gobierno y autoridades del Teatro Colón (1908-1968)«, in: Roberto Caamaño, La historia del Teatro Colón 1908-1968, Buenos Aires 1969, Bd. 3, S. 73-92. 106 Vgl. Caamaño, La historia del Teatro Colón, Bd. 2, S. 489. 107 Vgl. Caamaño, La historia del Teatro Colón, Bd. 2, S. 494.

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1955 für Feierlichkeiten und Versammlungen der Regierungspartei, Volksfeste und Schülerveranstaltungen genutzt, die primär repräsentativen Zwecken dienten. Im Jahr 1952 pausierte das Theater zudem für mehrere Tage aufgrund der Staatstrauer nach Evitas Tod am 26. Juli. Der Verfall eskalierte nach dem Sturz Peróns im September 1955, als sich das Colón einer notwendigen Neuorganisation ausgesetzt sah: Die Leitungen wechselten weiterhin häufig, ohne jedoch das Haus schnell auf eine solide Basis stellen zu können. Unter dem am 20. Juli 1956 übergangsweise beauftragten Intendanten Jorge D’Urbano wurde die Überprüfung der bisherigen Arbeitsweise und der Qualifikation der Angestellten mit dem Ziel eingeleitet, die Effizienz der festen Ensembles zu steigern. Doch das Gegenteil trat ein und führte zum Eklat: Eine Kommission stellte die technischen Fähigkeiten von sieben Orchestermusikern in Frage. Nachdem sich diese einer individuellen Prüfung verweigerten, wurden sie vom Dienst suspendiert. Die Musikergewerkschaft reklamierte den Vorgang als illegal, legte in der Folge das Orquesta Estable des Colón wie auch das Orquesta Sinfónica de la Ciudad de Buenos Aires lahm und erreichte damit, dass die Opernsaison 1957 nicht beginnen konnte.108 Erst nach dem Ende von D’Urbanos Amtszeit konnte im Juli 1957 der normale Spielbetrieb wieder aufgenommen werden. Als Ziel proklamierte das aus mehreren Personen bestehende neue Leitungsgremium, das Teatro Colón von jeglicher politscher Einflussnahme zu befreien, um langfristig vorbereitete künstlerische Projekte nicht durch Regierungskrisen und -wechsel zu gefährden.109 Mit dem Jahr 1958 begann eine Periode neuen Glanzes, die etwa 15 Jahre andauerte. Das Orquesta Estable am Colón war bis in die vierziger Jahre das einzige aus öffentlichen Geldern finanzierte Sinfonieorchester der Stadt und genoss internationalen Ruf. Nach dem Amtsantritt Peróns kam es zu mehreren Orchesterneugründungen auf städtischer und nationaler Ebene: Am 21. Dezember 1946 wurde das Orquesta Sinfónica Municipal mit dem Ziel gegründet, in der Stadt Buenos Aires neben dem ständigen Orchester des Colón ein stabiles Sinfonieorchester zu etablieren, das seinen Sitz im städtischen Teatro Nuevo hatte. 1948 wurde es in Orquesta Sinfónica de la Ciudad de Buenos Aires umbenannt und bereits 1950 zog es in das Teatro Colón um, wo es parallel zum Colón-Orchester fortan eigene Konzertzyklen darbot.110 Spätestens ab 1953 bestritt das Orquesta

108 Vgl. die Schilderung der Vorgänge in Alberto Emilio Gimenez, »El Teatro Colón«, in: Polifonía 12 (1957), H. 108-109, S. 11 f. und 51, besonders S. 12, und Suárez Urtubey, »Regimen de gobierno y autoridades del Teatro Colón«, S. 90. 109 Vgl. Suárez Urtubey, »Regimen de gobierno y autoridades del Teatro Colón«, S. 91. 110 Vgl. Valenti Ferro, 100 años de música en Buenos Aires, S. 255 ff.

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Sinfónica den Großteil der Sinfoniekonzerte am Colón, während das Hausorchester eher für die Musiktheaterproduktionen verantwortlich zeichnete. Dennoch wurde das Sinfonieorchester nur selten von internationalen Größen und stattdessen hauptsächlich von einheimischen Dirigenten geleitet. Bemerkenswert ist, dass es Teodoro Fuchs 1954 gelang, ein Programm mit der Uraufführung von Juan Carlos Paz’ Ritmica ostinata zu realisieren.111 Ende der fünfziger Jahre wurde es in Orquesta Filarmónica de Buenos Aires umbenannt und vollständig dem Teatro Colón zugeordnet. Auf nationaler Ebene kam es im November 1948 zur Gründung des Orquesta Sinfónica del Estado, das der Verbreitung klassischer und argentinischer Musik im ganzen Land dienen und den nationalen Interpreten und Komponisten ein Podium geben sollte. Es war dem Kulturstaatssekretär unterstellt und bot kostenlose Konzerte in der Hauptstadt und den Provinzen, die allen Teilen der Bevölkerung offen standen. Das Eröffnungskonzert am 30. November 1949 sowie zwei Konzerte unter Sergio Celibidache und Carlos Chávez im Oktober 1950 fanden im Teatro Colón statt. Obwohl in dem Klangkörper die besten Musiker des Landes vereint waren und es unter international renommierten Dirigenten spielte, konnte es nicht alle Orchesterleiter empfangen, die es sich wünschte.112 1955 in Sinfónica Nacional umbenannt und von nun an regelmäßig im Teatro Colón spielend, entwickelte es erst nach dem Sturz Peróns unter der Leitung Juan José Castros von 1956 bis zum Anfang der sechziger Jahre seine Brillanz. Das seit 1937 bestehende Radio del Estado gründete 1948 ein sinfonisches Orchester für Studioaufnahmen, welches als Orquesta Sinfónica de Radio del Estado am 5. Oktober 1950 das erste öffentliche Konzert im großen Hörsaal der juristischen Fakultät gab.113 Die Programme der kostenlosen Veranstaltungen enthielten immer Stücke argentinischer Autoren – Auftragswerke sowie Preisträger des eigenen Kompositionswettbewerbs –, so dass das Orchester zu einem wichtigen Podium für junge Künstler wurde:114 Obwohl die Aula Magna akustische Defizite aufwies, erreichten die Konzerte ein junges Publikum vor Ort und unzählige Zuhörer an den Rundfunkempfängern.115 Ende der fünfziger Jahre wurde es analog zum Sender in Orquesta Sinfónica de Radio Nacional umbenannt. Der Sender organisierte ab 1950 zudem einen Kammermusikzyklus, der im Hörsaal

111 Vgl. das Konzertprogramm in Caamaño, La historia del Teatro Colón, Bd. 2, S. 424. 112 Vgl. Beispiele in Valenti Ferro, 100 años de música en Buenos Aires, S. 269 ff. 113 Vgl. ebd., S. 291. 114 Vgl. Rodolfo Arizaga / Pompeyo Camps, Historia de la música en la Argentina, Buenos Aires 1990, S. 79. 115 Vgl. Plesch / Huseby, »La música argentina en el siglo XX«, S. 208.

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der medizinischen Fakultät stattfand und in dem viele bekannte argentinische Interpreten auftraten.116 Des Weiteren existierte ein staatlicher Kammermusik-Zyklus, der 1951 auch die Wiener Schule einbezog: Orestes Castronuovo, der in der Agrupación Nueva Música öfter als Pianist auftrat, interpretierte Klavierwerke von Arnold Schönberg, Ernst KĜenek, Alban Berg und Paz; zudem erklang Schönbergs Bläserquintett op. 26 zum ersten Mal, erntete aber nur Unverständnis. Ein Kritiker sah in ihm »einen erhöhten musikalischen Fieberkrampf«117 und erkannte die Komposition lediglich als verwegenes Hör-Experiment an, das Publikum dagegen habe den Saal noch vor Ende des Stücks verlassen. 1953 fand nochmals ein Konzert mit Schönbergs op. 26, der Kammersymphonie op. 9 und Liedern aus op. 15 statt, das Teodoro Fuchs leitete. Dass das Bläserquintett mehr Experiment als Musik sei, vermerkte ein anderer Rezensent auch diesmal, darüber hinaus sei es »ewig lang«.118 Die Musikausbildung fand zunächst häufig bei Privatlehrern und dann an den örtlichen französisch und italienisch geprägten Konservatorien statt. Das Conservatorio Nacional de Música y Arte Escénico war 1924 von Carlos López Buchardo gegründet und nach seinem Tod 1948 nach ihm benannt worden. Die Leitung hatten danach Antonio Cunill Cabanellas (1948 / 49), Luis V. Ochoa (1949-51) und Juan Francisco Giaccobbe (1951-54) inne, bevor eine Umstrukturierung erfolgte, die von Jorge Rey Cazes durchgeführt wurde.119 Auch hier kam es also innerhalb weniger Jahre zu häufigen Wechseln, deren Hintergründe bisher nicht untersucht wurden. Luis Gianneo leitete die Einrichtung im Anschluss von 1955 bis 1960. Das städtische Conservatorio Municipal war 1893 von Alberto Williams gegründet und später nach Manuel de Falla, der 1946 in Argentinien gestorben war, benannt worden. Symptomatisch ist, dass die meisten jungen Talente, die später international renommierte Interpreten wurden, nicht am Konservatorium, sondern bei immigrierten Privatlehrern wie dem seit 1907 in Argentinien lebenden italienischen Pianisten Vincenzo Scaramuzza oder dem 1935 vor

116 Vgl. ebd., S. 211. 117 Polifonía 6 (1951), H. 55, S. 26: »un sostenido desvarío musical«. Die Kritik ist mit E.V.V. signiert. 118 Polifonía 8 (1953), H. 72, S. 30: »larguísimo«. Die Kritik ist mit F.V.B. signiert. 119 Angaben aus Julio César García Cánepa, »Anales de la educación musical. La enseñanza musical en Argentina: El conservatorio nacional de música ›Carlos López Buchardo‹«, in: Conservatorianos 1 (2000), H. 6, S. 53-57, online: http://www.conservatorianos.com.mx/web/Conservatorianos%206%20para%20web/ canepa6.pdf (8.10.2012).

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dem Nationalsozialismus in Europa geflohenen Geiger Ljerko Spiller sowie an alternativen Musikausbildungsstätten wie dem Collegium Musicum unterrichtet wurden. Kinder eingewanderter Eltern hatten offenbar häufig privaten Unterricht bei Emigranten, die an den staatlichen Einrichtungen keine Stellung innehatten. Ob sie eigentlich ans Konservatorium wollten oder nicht, wäre ein eigener Forschungsgegenstand. Aus Michael Gielens rückblickender Äußerung über das Konservatorium, er »glaube auch nicht, dass man dort etwas lernen konnte«,120 spricht zumindest ein gewisser Vorbehalt, der allerdings nicht verrät, ob Gielen diesen Schluss aus eigenen negativen Erfahrungen oder aus Vorurteilen anderer zog. Offenbar erhielten nach dem Ende des Peronismus auch Lehrer Zugang zu den Konservatorien, die zuvor nur privat oder an alternativen Ausbildungsstätten unterrichtet hatten. Ernesto Epstein wurde 1956 zum Beispiel von Juan Carlos Paz für das städtische Konservatorium empfohlen und gelangte dann auch an das Conservatorio Nacional.121 Bis zu diesem Zeitpunkt hatten er und viele andere allerdings in privaten Konzertgesellschaften und Schulen unermüdlich das Musikleben bereichert. Unabhängige Konzertvereinigungen Parallel zu den neuen staatlichen musikalischen Institutionen und den länger bestehenden privaten Konzertgesellschaften, wie der seit 1912 tätigen Asociación Wagneriana und der seit den zwanziger Jahren aktiven Asociación del Profesorado Orquestal, begannen in der zweiten Hälfte der vierziger Jahre private Gesellschaften ihre kulturelle Arbeit: Schon 1946 gründete sich auf Initiative einer Gruppe um den Architekten Martin Eisler, die sich regelmäßig zu Kammermusikabenden traf, die Asociación Amigos de la Música. Vorbild könnte die Wiener Gesellschaft der Musikfreunde gewesen sein; als Präsidentin fungierte Leonor Hirsch, die als Vertreterin der Oberschicht auch für die finanzielle Sicherheit des Vereins bürgen konnte. Erste Konzerte fanden im August und September 1947 mit dem neu gegründeten Kammerorchester des Geigers Ljerko Spiller im Teatro Odeón statt.122 Bereits 1948 realisierte die Asociación auch

120 Im Gespräch mit Reinhard Kapp auf der CD zum Buch Maren Köster / Dörte Schmidt (Hg.), »Man kehrt nie zurück, man geht immer nur fort«. Remigration und Musikkultur, München 2005, Track 6. 121 Vgl. Epstein, Memorias musicales, S. 220. 122 Vgl. Valenti Ferro, 100 años de música en Buenos Aires, S. 257 und 278, zu Spillers Kammerorchester ebd., S. 264 f. Zu den Kammermusikabenden bei Eisler: Gielen, Unbedingt Musik, S. 56.

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Kammeropern: Am 18. August wurden Le Pauvre Matelot von Darius Milhaud und Angélique von Jacques Ibert unter der Leitung des Letzteren aufgeführt.123 Jedoch überwog von Beginn an der Wunsch, führende internationale Dirigenten zu verpflichten. Mit Spillers Kammerorchester, das ab 1949 als Orquesta de Cámara de la Asociación Amigos de la Música offiziell zu der Gesellschaft gehörte, brachte man viele Werke des 20. Jahrhunderts zu Gehör, die teilweise erstmals in Argentinien erklangen: Hermann Scherchen präsentierte 1948 Ottorino Respighis Concerto a cinque unter anderen mit Michael Gielen und Spiller als Solisten;124 im folgenden Jahr gab er mehrere Konzerte und einen vierwöchigen, internationalen Dirigierkurs.125 Ebenfalls 1949 studierte Erich Kleiber drei Sätze aus Bergs Lyrischer Suite ein.126 Weitere Dirigenten waren in den folgenden Jahren Otto Klemperer, Hans Rosbaud, Igor Markevitch sowie Paul Hindemith. Rosbaud brachte 1952 Arnold Schönbergs 1. Kammersinfonie op. 9 und Ernst KĜeneks Symphonische Elegie für Streichorchester op. 105 mit. Sein Engagement für die Musik des 20. Jahrhunderts und besonders die jüngste Generation spiegelt sich in einem Interview, das er während seines Aufenthalts in Buenos Aires für Polifonía gab: Darin nannte er als für das europäische Musikleben wichtige Komponisten Boris Blacher, Wolfgang Fortner, Gottfried von Einem, Hans Werner Henze, Karl-Amadeus Hartmann, Luigi Dallapiccola, Goffredo Petrassi, Mario Peragallo, Olivier Messiaen und besonders Pierre Boulez, von dem er kürzlich die Polyphonie X in Donaueschingen aufgeführt hatte und den er als Talent und große Persönlichkeit pries.127 Markevitch präsentierte 1953 Dallapiccolas Canti di prigionia, zu denen Kagel im Juli eine Kritik in Buenos Aires Literaria verfasste;128 Hindemith führte 1954 vor allem eigene Werke auf. In

123 Vgl. R. A., »›Le Pauvre Matelot‹, de Milhaud y ›Angelique‹, de Ibert Representáronse en Buenos Aires«, in: BAM 3 (1948), H. 45, S. 1 f. 124 Vgl. Kritik in Polifonía 3 (1948), H. 19, S. 4. Im gleichen Konzert erklang auch Arnold Schönbergs Verklärte Nacht op. 4. 125 Vgl. Ankündigungen in Polifonía 4 (1949), H. 30, S. 3 und BAM 4 (1949), H. 58, S. 1. Im Scherchen-Nachlass der Akademie der Künste Berlin findet sich eine Karte des Dirigierkurses (7.7.-6.8.1949 im Musikzentrum des Consejo britanico von Buenos Aires), auf dem Scherchen Gedanken »Über Tempo, Gesamtauffassung und Aufbau eines Werkes […]« notierte (Archivnummer 1173). 126 Vgl. Kritik in Polifonía 4 (1949), H. 33, S. 4. Erinnerungen in Gielen, Unbedingt Musik, S. 66. 127 F. V., »Breve Entrevista con Hans Rosbaud«, in: Polifonía 7 (1952), H. 61 / 62, S. 32. 128 Mauricio Kagel, »Luigi Dallapiccola y los ›Canti di Prigionia‹«, in: Buenos Aires Literaria (1953), H. 10, S. 60-64. Vgl. unten S. 190. Rezension zu dem Konzert auch

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Buenos Aires lebende Dirigenten leiteten das Orchester kaum; neben Spiller war lediglich Kagels Lehrer Teodoro Fuchs von Beginn an mit den Amigos verbunden: Dieser schrieb in den ersten Jahren öfter Programmhefttexte für die Konzerte;129 am 18. Mai 1954 und 23. August 1955 dirigierte er auch selbst. Die Konzerte fanden anfangs im kleinen Teatro Odeón, später in den größeren, für Kino, Konzert und / oder Theater genutzten Sälen Broadway, Metropolitan oder Ópera statt. Nur ein Sonderkonzert veranstaltete die Gesellschaft am 2. September 1955 im Teatro Colón: Unter Leitung von Günther Ramin und mit Beteiligung des Leipziger Thomanerchors erklang Bachs Johannespassion.130 Die Arbeit der Asociación Amigos de la Música wurde auch von den Musikkritikern in Buenos Aires schnell anerkannt: Der Ende 1950 gegründete Círculo de Críticos Musicales zeichnete den Musikverein bereits 1951 wegen der Qualität der Programme und seines Engagements als besten der Stadt aus.131 Im gleichen Jahr schrieb die Vereinigung auch erstmals einen Kompositionswettbewerb aus, um in Argentinien lebende oder junge ausländische Komponisten zu fördern. Zu den Preisträgern gehörten 1953 Guillermo (Wilhelm) Graetzer mit einem Concerto da camera und 1954 / 55 Michael Gielen mit Música 1954.132 Gielen, der in den vierziger Jahren erste Erfahrungen als Pianist bei den Amigos de la Música gesammelt hatte und 1950 nach Wien gegangen war, kehrte – mittlerweile als Kapellmeister in Europa erfolgreich, dessen Ruhm schnell auch in Buenos Aires bekannt wurde133 – 1956 als Dirigent für zwei Konzerte zurück und leitete die Uraufführung seines Werks am 12. September selbst.134 Zudem beauftragten die Amigos de la Música lokale Komponisten direkt, für das Orchester Werke zu

von Enzo Valenti Ferro, »Estrenos en Amigos de la música«, in: BAM 8 (1953), H. 123, S. 3. 129 So z. B. für Konzerte im Juni 1948, Juli 1950 und August 1951: Programmhefte in den Nachlässen von Ljerko Spiller und Guillermo Graetzer / UCA. 130 Vgl. das Konzertprogramm in Caamaño, La historia del Teatro Colón, Bd. 2, S. 433. 131 Vgl. die Informationen im Programmheft vom 25.9.1951 im Nachlass Spiller / UCA. 132 Vgl. zu den Intentionen des Wettbewerbs das Interview mit Leonor Hirsch de Caraballo in Polifonía 7 (1952), H. 56, S. 13 sowie die erste Ausschreibung in BAM 6 (1951), H. 92, S. 1. Zum Preisträger Graetzer BAM 8 (1953), H. 123, S. 2, Argentinisches Tageblatt 30.5.1953, S. 4; sein Kammerkonzert wurde im 6. AbonnementsKonzert der Amigos de la Música am 11.8.1953 aufgeführt. Zur Preisvergabe an Gielen: BAM 10 (1955), H. 153, S. 5. 133 Vgl. Kurzbericht »Miguel Gielen en Europa«, in: BAM 8 (1953), H. 133, S. 8. 134 Vgl. Ankündigung in Anzeige in Polifonía 11 (1956), H. 103-104, S. 2. Programmheft im Nachlass Spiller / UCA.

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schreiben: Hervorzuheben sind darunter die 1953 entstandenen und aufgeführten Variaciones concertantes von Alberto Ginastera135 sowie Paz’ transformaciones canónicas, die am 27. Juni 1956 uraufgeführt wurden.136 Beide Kompositionen waren in der Folge auch in Europa unter Markevitch bzw. Boulez zu hören.137 Ebenfalls im Jahr 1946 gründete sich das Collegium Musicum, von dem Kagel berichtet: »Es gab auch einen Hort der deutschen Emigranten, typischerweise ›collegium musicum‹ genannt. Dort führte man alte Chor- und Instrumentalmusik auf, die man woanders nicht hören konnte, und Kurse über viele verschiedene Themen wurden abgehalten. Diese pädagogische Arbeit war wichtig, weil sie interessierte Menschen erreichte, die sonst keine Möglichkeiten hatten, Musiktheorie und -geschichte ordentlich zu lernen. Ich würde es als Mischung von Volks- und Hochschule bezeichnen. All das lag in den Händen von Deutschen und Österreichern, Juden oder auch Nichtjuden, die mit Jüdinnen verheiratet waren und deshalb emigrieren mußten.«138

Die Gründer des Collegium Musicum waren die deutschsprachigen Emigranten Guillermo (Wilhelm) Graetzer,139 Erwin Leuchter und Ernesto Epstein, die ihre Arbeit mit einem Zyklus zur Verbreitung des bachschen Orgelwerks und anderer alter Meister in Buenos Aires begannen. Motor des Unternehmens war Graetzer,

135 Uraufführung am 2.6.1953 unter Igor Markevitch: vgl. Kritik von Enzo Valenti Ferro, »›Estrenos en Amigos de la música‹«, in: BAM (1953), H. 123, S. 3. 136 Vgl. Ankündigung in Anzeige in Polifonía 11 (1956), H. 101-102, S. 8, Kritiken von Alberto Emilio Gimenez, »Crónica de Conciertos Sinfonicos«, in: Polifonía 11 (1956), H. 103-104, S. 18 und Carlos Coldaroli, »Acerca de las ›Transformaciones canonicas‹ de Juan Carlos Paz«, in: BAM 11 (1956), H. 175, S. 2. 137 Boulez ist auch Widmungsträger der transformaciones canónicas und dirigierte sie am 1.3.1958 in einem Konzert des Domaine Musical Paris. Im gleichen Konzert erklangen Boulez’ Dritte Klaviersonate und Octandre sowie Intégrales von Edgard Varèse. Vgl. Corrado, Vanguardias al Sur, S. 208 f. 138 Kagel, Dialoge, Monologe, S. 228 f. 139 Vgl. zur Emigration von Guillermo Graetzer nach Argentinien Silvia Glocer, »Guillermo Graetzer. Judaísmo y exilio: las palabras ausentes«, in: Latin American Music Review 33 (2012), H. 1, S. 65-101. Die detaillierte, frühe Geschichte des Collegium Musicum beschreibt Dina Poch de Graetzer, El Collegium Musicum de Buenos Aires: Sus inicios, su acercamiento a la educación musical infantil y su vinculación con el sistema general de educación primaria en la ciudad de Buenos Aires 19461959, unveröffentlichte Masterarbeit, Buenos Aires 2009, S. 12 ff.

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der als Schüler von Paul Pisk und Paul Hindemith letzterem nicht nur kompositorisch folgte,140 sondern mit seiner neuen Institution auch an Hindemiths Ideal der Volkshochschule anknüpfte. Den Namen Collegium Musicum hatte Leuchter vorgeschlagen:141 Die neue Einrichtung sollte nicht nur Konzerte veranstalten, wie es einige Organisationen in Buenos Aires taten, sondern – wie Kagel treffend beschreibt – den Musikliebhabern durch Kurse und Ensembles eine aktive Beschäftigung mit Musik ermöglichen: Zur Chorgründung fanden sich 1946 bereits fünfzig Personen ein, die unter Leitung von Graetzer und seinem Stellvertreter Michael Gielen vor allem alte Musik probten und bald doppelte Chorstärke erreichten. Die ersten musikwissenschaftlichen Kurse und Vorträge sowie Gesprächskonzerte bestritten Epstein und Leuchter selbst sowie angesehene lokale Theoretiker.142 Der musikwissenschaftliche Zweig unter Epsteins Leitung stellte bald eine Novität dar, da es zu diesem Zeitpunkt noch keine musikwissenschaftliche universitäre Ausbildung in Buenos Aires gab. Bald richtete das Collegium Musicum regelmäßig einen »Runden Tisch« – eine Art Podiumsdiskussion – zu verschiedenen musikalischen Themen aus, bei der am 15. Juni 1948 zum Beispiel Alberto Ginastera und Luis Gianneo neben Graetzer, Epstein und Gielen teilnahmen. Diskussionsreihen und Runder Tisch wurden in der Folge auch auf andere Künste mit dem Ziel ausgeweitet, ein ganzheitliches Verständnis zu fördern: Im August 1954 hielt zum Beispiel der Schriftsteller Ernesto Sábato zwei Vorträge in einer Reihe über Kunst und Gesellschaft.143 Mit der Gründung eines Kinderchors begann 1948 die pädagogische Arbeit der Organisation, welche bald systematisch am Orff-Schulwerk ausgerichtet wurde. Dem Erziehungsaspekt entsprechend wurden didaktisch durchdachte Kinderkonzerte – häufig am Sonntagvormittag – veranstaltet, in denen auch ein Erzähler bzw. Moderator auftrat. Ende der fünfziger Jahre war die Institution mit

140 Kagels abfällige Bemerkung über einen Hindemith-Schüler, der in Argentinien lebte, bezieht sich vermutlich auf Graetzer: »Er beendete seine Stücke mit den immer gleichen plagalen Kadenzen und hätte sie auch mit Paul Hindemith unterschreiben können.« Kagel im Gespräch mit Sandner in Jungheinrich, Aufgehobene Erschöpfung, S. 192. 141 Vgl. Epstein, Memorias musicales, S. 173 und Poch de Graetzer, El Collegium Musicum, S. 13. 142 Vgl. Poch de Graetzer, El Collegium Musicum, S. 23 ff. Zum Folgenden ebd. 143 Vgl. Programme des Collegium Musicum mit Ankündigungen der Reihe »El arte y la sociedad contemporánea«, die Kagel aufbewahrte: PSS SMK Box Programmhefte Argentinien. Aus einem Programmüberblick für 1953 ist zu schließen, dass Ernesto Sábato schon zuvor Vorträge im Collegium Musicum hielt.

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ihrem Konzept musikalischer Bildung so anerkannt, dass Graetzer und seine Mitarbeiter beauftragt wurden, die Neugestaltung des Musikunterrichts in staatlichen Schulen mit zu konzipieren. Dem Collegium Musicum für Kinder folgten ab 1951 bzw. 1953 spezielle Kurse für Jugendliche und das »Collegium Musicum de los Jóvenes«.144 Das Collegium Musicum hatte eine Vereinsstruktur: Man konnte ihm als Mitglied beitreten. Interessanterweise war es von Beginn an mit der Asociación Amigos de la Música eng verbunden; so werden für das Jahr 1947 unter anderen Leonor Hirsch sowie Martin Eisler und Frau als Freunde, Mitglieder bzw. Unterstützer des Collegium Musicum genannt. Graetzer wiederum schrieb 1947 Programmhefttexte für die ersten Konzerte der Amigos de la Música; beinahe jährlich spielten diese auch Graetzers Kompositionen und prämierten wie erwähnt 1953 gar ein Werk von ihm im Kompositionswettbewerb. Besonders der große Chor des Collegium Musicum sowie eine kleinere Besetzung unter dem Namen »Madrigalistas« wurde unter Graetzers Leitung zum festen Partner der Amigos de la Música: Bereits 1947 führten sie gemeinsam Bachkantaten auf; in den fünfziger Jahren gestalteten sie in den Abonnementskonzerten der Asociación zum Beispiel Darius Milhauds Les amours de Ronsard, Paul Hindemiths Hérodiade, Dallapiccolas Canti di prigionia sowie barocke und klassische Vokalwerke mit.145 Allerdings wirkte der Chor auch an anderer Stelle: So trat er im Juli 1947 mit der Asociación Filarmónica unter Juan José Castro in einer Hommage an Manuel de Falla auf. Der Dirigent war Graetzer offenbar eng verbunden, denn er leitete am 10. August 1948 das Kammerorchester des Collegium Musicum im Teatro Odeón mit der Erstaufführung von Bachs Kunst der Fuge in der Einrichtung für Orchester von Graetzer sowie am 14. Mai 1949 ein eigenes Werk des Komponisten in Montevideo. Auch nachdem Castro jahrelang als Dirigent auf verschiedenen Kontinenten gearbeitet hatte, führte er nach seiner Rückkehr nach Buenos Aires Graetzers Werke auf, so am 28. Mai 1956 mit dem Orquesta Sinfónica Nacional im Teatro Colón.146 Zahlreiche im Collegium Musicum aktive Personen und Interpreten hatten Verbindungen zur jüdischen Gemeinschaft und zur Agrupación Nueva Música (ANM), in denen sich Kagel in den fünfziger Jahren engagierte. Seit 1937 veranstaltete Juan Carlos Paz die Kammerkonzertreihe Conciertos de la Nueva Músi-

144 Vgl. Poch de Graetzer, El Collegium Musicum, S. 2 f. und 32. 145 Vgl. Programmhefte von 1951-1953 im Nachlass Spiller / UCA. 146 Vgl. Poch de Graetzer, El Collegium Musicum, S. 27 f., Carlos Manso, Juan José Castro, Buenos Aires 2008, S. 251, 261 f. und 343 sowie Dokumente im Nachlass Graetzer / UCA.

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ca,147 die ab 1944 als Konzerte der ANM betitelt wurden. Zu den Gründungsmitgliedern dieser Gruppe gehörten außer Paz Daniel Devoto sowie die Immigranten Esteban (Stefan) Eitler,148 Julio Perceval149 und Richard Engelbrecht150 (die beiden Letztgenannten gestalteten jedoch nur kurzzeitig mit), deren Kompositionen hier zur (Ur-)Aufführung kamen. Devoto, nicht nur Komponist, sondern auch Autor, Literatur- und Musikwissenschaftler, referierte schon 1946 im Collegium Musicum, sang 1947 wie Michael Gielen bei den »Madrigalistas« und gestaltete im Juli 1951 gemeinsam mit Juan Carlos Paz, Teodoro Fuchs und Leopoldo Hurtado, der vor der peronistischen Übernahme der Tageszeitung La Prensa 1951 deren Musikkritiker war, eine Vortragsreihe über die Musik von 1900 bis 1950.151 Die Geiger Ljerko Spiller und sein Schüler León Spierer, die Bratschistin Hilde Heinitz und ihr Mann, der Cellist Hermann (Germán) Weil,

147 Zu deren Ursprüngen und Programmen vgl. Corrado, Vanguardias al Sur, S. 122 ff. 148 Esteban (Stefan) Eitler (1913-1960), Komponist und Flötist, der seine instrumentale Ausbildung in Budapest erhielt, lebte seit 1936 in Argentinien, Chile und Brasilien. Er arbeitete dort als Lehrer, Instrumentalist, Organisator, Verleger sowie Komponist. Vgl. Melikof Karaian, »Stefan Eitler (1913-1960). Ein österreichischer Komponist in Lateinamerika«, in: Österreichische Musikzeitschrift 37 (1982), H. 2, S. 101 f. 149 Julio Perceval (1903-1963), in Brüssel geborener Organist und Komponist, lebte seit 1926 in Argentinien, wo er u. a. in Kinos und im Teatro Colón als Organist tätig wurde. 1930 nahm er z. B. Filmmusik und Tangos an der Wurlitzer-Orgel im großen Kino Florida auf: vgl. Jorge Finkielman, The Film Industry in Argentina, Jefferson u. a. 2004, S. 155. Seit 1940 leitete er die Musikabteilung der Universität Cuyo in Mendoza. Seine Kompositionen enthielten zunehmend folkloristische Elemente, und 1950 komponierte er Auftragswerke für peronistische Großveranstaltungen, vgl. Corrado, »Honrar al General«, S. 100. 150 Daniel Devoto (»La Agrupación Nueva Música« [1945], in: Las hojas (1940-1949), Buenos Aires 1950, S. 49-51) nannte zwar Engelbrecht als Mitglied der ANM, allerdings leitete dieser damals das Philharmonie-Orchester der Stadt Rosario und war nicht regelmäßig in Buenos Aires. Devoto wusste von ihm nur durch Briefe an Paz. Engelbrecht kehrte 1946 nach Deutschland zurück und weilte zunächst in Augsburg. Vgl. zu Engelbrechts Biografie Matthias Pasdzierny, Wiederaufnahme? Rückkehr aus dem Exil und das westdeutsche Musikleben nach 1945 (Kontinuitäten und Brüche im Musikleben der Nachkriegszeit 1), München 2014, im Druck. 151 Vgl. Poch de Graetzer, El Collegium Musicum, S. 25, Konzertprogramm »La Música Sacra y profana del Renacimiento y barroco« vom 22.6.1947 sowie Boletín Mensual de Actividades del Collegium Musicum de Buenos Aires (Juli 1951), o. S. im Nachlass Graetzer / UCA.

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die Sängerin Hilde Mattauch, der Pianist Leo Schwarz und Teodoro Fuchs als Dirigent und Pianist traten wie Gielen sowohl im Collegium Musicum und in der Asociación Amigos de la Música als auch in der ANM und der Sociedad Hebraica Argentina (SHA) auf. Die Verbindung mit der zuletzt genannten hebräischen Gemeinschaft überrascht aufgrund der jüdischen Wurzeln vieler dieser Musiker, die in den dreißiger Jahren aus Deutschland und Österreich flüchteten, kaum.152 Zum gemischten Chor des Collegium Musicum, der am 9. Juni 1953 gemeinsam mit der Asociación Amigos de la Música Dallapiccolas Canti di prigionia aufführte, gehörten neben Gielens Schwester Carola, die mit Ljerko Spiller verheiratet und somit besonders eng mit dieser Konzertvereinigung verbunden war, die Sängerin Dora Berdichevsky, die 1945-46 mit Devoto in der ANM aufgetreten war, Miguel und Nina Weil (Kinder des Streicherpaares Heinitz / Weil) sowie Kagels damalige Freundin María Adela Palcos.153 Die auf zeitgenössischen Tanz spezialisierte Renate Schottelius, mit der Kagel 1956 zusammenarbeiten wird, trat schon 1946 bei Open-Air-Veranstaltungen des Collegium Musicum auf.154 Trotz der offenbaren jüdischen Verbindungen versuchte Graetzer, die Institution frei von religiösen und sonstigen Färbungen zu halten. Er nahm für den Chor keine Einladungen zu politischen Kundgebungen an und wehrte sich gegen jegliche öffentliche Vereinnahmung seiner Ensembles, die nicht künstlerischen Zwecken diente. So konnte sich die Organisation in den Jahren des Peronismus bis 1955 ungehindert entwickeln und ihre Unabhängigkeit erhalten.155 Sie bot ein Bildungs- und Betätigungsfeld für Menschen, die vom staatlichen Kulturbetrieb nicht profitieren konnten, und war Teil eines informellen Netzwerks von Musikern und anderen Künstlern. Collegium Musicum und Amigos de la Música stellten eine Ergänzung zu den staatlichen Institutionen dar: Das eine offerierte eine elementare Musikausbildung, die anderen entwickelten sich mit den Programmen zu einer Konkurrenz für die staatlich subventionierten Orchester und bereicherten die Konzertlandschaft von Buenos Aires. Musikalische Bildung fand auch am CLES statt, und die dortigen Dozenten sind uns vom Collegium Musicum nun bekannt. Erwin Leuchter hatte im CLES

152 Vgl. die Einträge zu Heinitz, Weil und vielen weiteren auf: http://www.lexm.unihamburg.de (18.1.2013). Silvia Glocer hat die Biografien vieler jüdischer Musikerinnen und Musiker in Buenos Aires jüngst im Rahmen einer Dissertation erforscht, Publikation in Vorbereitung. 153 Vgl. Programmheft vom 9.6.1953 im Nachlass Spiller / UCA. 154 Vgl. Poch de Graetzer, El Collegium Musicum, S. 25. Vgl. zu Schottelius auch die Angaben in Valenti Ferro, 100 años de música en Buenos Aires, S. 264. 155 Vgl. Poch de Graetzer, El Collegium Musicum, S. 30.

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1941 den künstlerischen Lehrstuhl mitbegründet und unterrichtete neben Leopoldo Hurtado oder Ernesto Epstein häufiger, zum Beispiel auch im Rahmen der Reihe »Bach und seine Zeit« im Juli 1950.156 Zu den ausländischen Gästen, die in dieser Institution referierten, gehörte 1949 Erich Kleiber, der über Die Frau ohne Schatten sprach.157 Auffallend viele Vorträge von Daniel Devoto (französische Musik), Teodoro Fuchs (Neoromantizismus, Folklore und Nationalismus), Guillermo Graetzer (deutsche Musik der Nachkriegsjahre), Leopoldo Hurtado (Musik um 1900) und Juan Carlos Paz (Expressionismus, Zwölftontechnik nach Schönberg, Athematik und Mikrotonalität, Musik in den USA) wurden im Rahmen eines Kurses »Ein halbes Jahrhundert Musik« 1951 angeboten. Für 1952 geplant, aber durch die fehlende polizeiliche Veranstaltungserlaubnis nicht mehr durchführbar, war ein weiterer Kurs von Paz über Schönberg.158 Einige Kurse wurden mit Konzerten kombiniert: Beispielsweise trat im August 1950 der Bandoneon-Virtuose Alejandro Barletta auf;159 Daniel Devoto war an Konzerten mit französischer Musik 1948 bis 1951 sowie besonders an zwei Satie-Abenden im September 1950 beteiligt, bei denen unter anderen Jacqueline Ibels und Dora Berdichevsky mitwirkten und an die sich Kagel noch vierzig Jahre später erinnerte (vgl. unten S. 193). Ebenfalls im September 1950 spielten Michael Gielen und León Spierer mit Epsteins Frau Helga Lancy alte und moderne Musik in dieser Institution.160 Kleinere Kammerkonzerte und -reihen wurden zudem von zahlreichen Ländervertretungen, Kulturinstituten und Vereinigungen wie der 1947 von Julián Bautista, Juan José und José María Castro, Jacobo Ficher, Roberto García Morillo, Luis Gianneo, Alberto Ginastera, Guillermo Graetzer und Pía Sebastiani gegründeten Liga de Compositores de la Argentina veranstaltet, die als argentinische Sektion der IGNM fungieren sollte, allerdings nicht lange Bestand hatte.161 Sehr häufig wurde auch für diese Art von Konzerten in den vierziger Jahren der Saal in der Straße Florida 659 genutzt (vgl. oben S. 55). Spezialisierte sich das 1952 von Johannes Franze, Jorge D’Urbano, Carlos Suffern, Carlos Pessina und

156 Vgl. Cursos y Conferencias 19 (1950), H. 220, S. 225 f. Epstein gab zudem Kurse über den musikalischen Stilwandel, vgl. Kursübersicht in Cursos y Conferencias 18 (1949), H. 208-210, S. 332. 157 Vgl. ebd., S. 333. 158 Vgl. Cursos y Conferencias 20 (1951), H. 232-234, S. 289 f. sowie 21 (1952), H. 244-246, S. 243. 159 Vgl. Cursos y Conferencias 19 (1950), H. 221, S. 285. 160 Vgl. ebd., H. 222, S. 365 sowie im Jahresrückblick H. 223-225, S. 561 f. 161 Vgl. Valenti Ferro, 100 años de música en Buenos Aires, S. 266.

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Erwin Leuchter gegründete Mozarteum Argentino auf Programme mit Werken des Wiener Klassikers,162 dienten die Konzerte von Verlagshäusern wie Ricordi häufig der Promotion der von ihnen verlegten Komponisten. Eine Besonderheit stellte die 1952 von der Verlagsleiterin Cecilia Benedit de Debenedetti, Clara Goreloff, Rodolfo Arizaga und Adalberto Tortorella ins Leben gerufene Sociedad de Conciertos de Cámara163 dar: Der Zyklus widmete sich dem gesamten Spektrum der Kammermusik und brachte auch bisher Ungehörtes nach Buenos Aires. Im Eröffnungskonzert am 24. April 1953 erklang im Teatro Ateneo erstmals Arnold Schönbergs Pierrot Lunaire, interpretiert von María Kallay unter der Leitung von Teodoro Fuchs. Kagel, der das Konzert für Buenos Aires Literaria im Mai rezensierte, begann seine Kritik dementsprechend spöttisch: »Debemos considerarnos felices. Apenas han transcurrido cuarenta años desde la creación de esta obra hasta su primera audición en Buenos Aires. Algunas óperas de Mozart han esperado el doble.«164 Diese südamerikanische Erstaufführung sei aber »mit größter Sorgfalt«, »Inbrunst« und »Verständnis« für den Expressionismus dargeboten worden – und traf bei Kagel auf Begeisterung für »dieses Wunder von Arnold Schönberg«. Er war zu diesem Zeitpunkt enger Mitarbeiter von Fuchs bei der SHA, deren Chor sie leiteten (vgl. unten S. 165 ff.). Gut vorstellbar, dass Kagel im Rahmen der Proben zu diesem Konzert auch selbst den Pierrot Lunaire einstudierte – gerade in Deutschland Fuß fassend, hob er gegenüber Wolfgang Steinecke jedenfalls hervor, dass er dieses Schlüsselwerk der Moderne schon dirigiert habe.165

162 Vgl. ebd., S. 307 f. 163 Vgl. ebd., S. 305. 164 Mauricio Kagel, »Pierrot Lunaire, op. 21«, in: Buenos Aires Literaria (1953), H. 8, S. 61-64, hier S. 61, dt. in: Kruse, Lese-Welten, S. 64: »Wir sollten uns glücklich schätzen. Gerade sind vierzig Jahre seit der Schöpfung dieses Werkes bis zu seiner Uraufführung in Buenos Aires vergangen. Einige Opern von Mozart mussten doppelt so lange warten.« Die folgenden Zitate ebd., S. 64 ff. Weitere Kritik zu dem Konzert von Fernando Vidal Buzzi in Polifonía 8 (1953), H. 69, S. 7 f. Er nennt wie Kagel María Kania als Interpretin, die d. Verf. unbekannt ist, während in der Kritik von Jorge D’Urbano in Música en Buenos Aires, Buenos Aires 1966, S. 66-69 der Name María Kallay erscheint, die als Sängerin und Pädagogin einen Namen hat. Hier konnte nicht geprüft werden, welche Angabe korrekt ist. 165 Vgl. den Brief vom 24.1.1958 an Wolfgang Steinecke, in: Heile / Iddon, Mauricio Kagel bei den internationalen Ferienkursen, S. 29.

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Publizistik und Verlage Zu den Kulturzeitschriften und Tageszeitungen, die regelmäßig Artikel zur Musik und Kritiken zu Veranstaltungen veröffentlichten, kamen in den vierziger Jahren mehrere neu gegründete Musikzeitschriften: Polifonía erschien seit 1944 monatlich und widmete sich vor allem der Orchesterkonzert- und Opernkritik. Ab 1946 erschien zudem Buenos Aires Musical im Zeitungsformat, geleitet von Enzo Valenti Ferro, mit ca. 18 Nummern jährlich geradezu das vielseitigste Organ des Musiklebens in der Stadt. Die Konzertkritik war sehr lebendig und ab 1950 im Círculo de Críticos organisiert. In der Provinz Mendoza gab der aus Deutschland stammende Francisco Curt Lange von 1949 bis 1954 die Revista de Estudios Musicales heraus. Alle drei Organe waren wie die Publikationen des Verlags Ricordi Americana Noticiario Ricordi (bis 1950) und Ricordiana (ab 1951) international tätig: Korrespondenten berichteten aus anderen Ländern und die Ausgaben waren in Lateinamerika sowie weltweit erhältlich.166 Umgekehrt waren besonders in der Vertretung von Ricordi Americana internationale Musikzeitschriften und Musikbücher käuflich zu erwerben: In Kagels Nachlass finden sich unter anderem Ausgaben von Contrepoints (H. 1-5 und 7), die Bücher Schönberg et son école (1947), Introduction a la musique de douze sons (1949), L’artiste et sa conscience (1950) und L’Évolution de la musique (1951) von René Leibowitz und Schönbergs Style and Idea (1951) mit dem Aufkleber »Ricordi Americana«.167 Zudem gab es das von Kagel erwähnte Amerikahaus – Casa América –, ein argentinisches Unternehmen und von 1893 bis 1990 das größte Musikgeschäft der Stadt in der Avenida de Mayo, in dem er zum Beispiel die New Music-Edition erhalten konnte.168 Cecilia Benedit de Debenedetti setzte sich als wichtige Mäzenin für argentinische Komponisten ein: Sie gründete 1945 den Musikverlag Editorial Argentina de Música (EAM),169 in dem sie vor allem mit José María Castro, Jacobo Ficher

166 Vgl. den Aufsatz aus Peru von Rodolfo Holzmann, »Panorama de Revistas Musicales«, in: Polifonía 5 (1950), H. 40, S. 10-17. Der aus Breslau stammende Holzmann lebte seit 1938 in Peru und prägte das dortige Musikleben. 167 PSS SMK. Ein neuer Verkaufsraum von Ricordi wurde 1947 eröffnet, vgl. R. B. A., »Concierto de Música Contemporánea«, in: BAM 2 (1947), H. 23, S. 1. 168 Kagel spricht im Interview davon, dass er dort auch Partituren leihen konnte: vgl. Rebstock, Komposition zwischen Musik und Theater, S. 353 sowie Kagel / Köhler, »›Der Fleischwolf Gottes‹«, o. S. 169 Vgl. Valenti Ferro, 100 años de música en Buenos Aires, S. 250. Ginastera bezeichnete die Verlagsgründung als das wichtigste Ereignis des Jahres 1945 aus Kompo-

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und Luis Gianneo zusammenarbeitete, der in den sechziger Jahren aber auch Werke von Juan Carlos Paz verlegte. Die Verlegerin selbst war künstlerisch vielseitig interessiert: Sie stand auch der bildenden Kunst nahe und wurde zu einer engen Freundin und Förderin des Schriftstellers Witold Gombrowicz, den sie 1941 im Haus des Malers Antonio Berni kennen gelernt hatte.170 Esteban Eitler gründete 1945 kurzerhand seinen Eigenverlag Ediciones Musicales Politonía, in dem bis 1948 Werke von ihm, Daniel Devoto, Hans-Joachim Koellreutter und anderen erschienen. Die dort im Jahr 1946 veröffentlichten 10 piezas sobre una serie en 12 tonos für Klavier (1936) von Juan Carlos Paz bewahrte auch Kagel auf. Der Verlag veranstaltete zudem Konzerte, zum Beispiel im Mai und September 1948 im Teatro del Pueblo.171 Politisches Engagement und Ausgrenzung: Juan José Castro und Alberto Ginastera Wie einige Künstler aus Literatur und Film hatten Musiker, die während der Kriegsjahre explizit für die Alliierten und gegen die Außenpolitik der argentinischen Militärregierung aufgetreten waren bzw. sich in den Jahren 1945 / 46 politisch gegen Perón engagierten, mit Vergeltungsmaßnahmen zu kämpfen. Prominentestes Beispiel ist der Komponist und Dirigent Juan José Castro. Nachdem er im April 1943 ein prosowjetisches Konzert mit Dimitri Schostakowitschs Siebter Sinfonie dirigiert und im Oktober ein demokratisches Manifest unterschrieben hatte, verlor er seine Posten als Dirigent im Teatro Colón und Dozent am Conservatorio Nacional. Als ihm seine Lehrtätigkeit im Mai 1945 wieder angeboten wurde, lehnte er diese ab und wandte sich im Dezember des gleichen Jahres in einem offenen Brief an Perón, in dem er dessen Umgang mit dem Volk kritisierte.172 Bis 1948 dirigierte er in der Stadt noch Orchester, zum Beispiel das der Asociación Filarmónica de Buenos Aires und das des Collegium Musicum, bevor er aufgrund des ständigen Drucks auf ihn und die Musiker, die unter ihm

nistensicht: Alberto Ginastera, »Inter-American Review. Political Shadow on Argentine Music«, in: Modern Music 23 (1946), H. 1, S. 64-65, hier S. 64. EAM veranstaltete auch Konzertreihen, vgl. zum Jahr 1949 Polifonía 4 (1949), H. 34, S. 18. 170 Vgl. Witold Gombrowicz, Diario argentino, Buenos Aires 1968, S. 32 und ders., Tagebuch 1953-1969 (Gesammelte Werke 6-8), aus dem Polnischen von Olaf Kühl, München 1988, S. 220. 171 Vgl. Programmzettel vom 17.5. und 20.9.1948 im Paul-Walter-Jacob-Archiv der Walter-A.-Berendsohn-Forschungsstelle für deutsche Exilliteratur Hamburg (PWJ). 172 Vgl. Manso, Juan José Castro, S. 179 f., 201 und 215 f.

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spielten, freiwillig ins Exil nach Uruguay ging, für einige Jahre Leiter des Orchesters des SODRE in Montevideo wurde und eine weltweite Karriere als Dirigent (Kuba, Australien, Europa) anschloss. Obwohl Castro häufig Werke der Wiener Schule dirigierte, blieb er in seinen eigenen Kompositionen französischen Vorbildern verhaftet und widmete sich von 1943 bis 1953 vor allem spanischen Themen:173 Geprägt vom Aufenthalt Federico García Lorcas in Buenos Aires in den dreißiger Jahren komponierte Castro 1945 die Elegía a la muerte de García Lorca; mit Manuel de Falla, der seit 1939 in Argentinien lebte, verband ihn bis zu dessen Tod 1946 eine enge Freundschaft und ein reger (Brief-)Kontakt.174 Kompositionen wie die Sonatina española (1953) sowie die Opern La zapatera prodigiosa (1943) und Bodas de Sangre (1952) reflektieren den spanischen Einfluss. Die größte Anerkennung als Komponist erhielt er 1952 in Mailand mit dem Verdi-Preis für seine Oper Proserpina y el extranjero. Nach dem Sturz Peróns feierte er eine triumphale Rückkehr nach Argentinien, dirigierte am 11. November 1955 das Orquesta Sinfónica Nacional175 und wurde für die folgenden Jahre dessen ständiger Leiter. Weniger eindeutig stellt sich die Lage seines Protegés Alberto Ginastera dar, den Castro in den frühen vierziger Jahren sehr förderte.176 Besonders berühmt wurde die Auseinandersetzung zwischen Castro und Paz, die bis 1942 eng befreundet waren, sich dann aber am »Fall Ginastera« zerstritten und ihre Argumente für bzw. gegen den jungen Komponisten in der Öffentlichkeit austrugen.177 Die Folgen konnten noch die Schüler aller drei Komponisten spüren,178

173 Vgl. Plesch / Huseby, »La música argentina en el siglo XX«, S. 188. 174 Vgl. Manso, Juan José Castro, passim. 175 Vgl. Ankündigung in Polifonía 10 (1955), H. 95-96, S. 27. Konzertprogramm mit Werken von Brahms, Hindemith und Debussy in Manso, Juan José Castro, S. 337. 176 Vgl. zum Verhältnis von Castro und Ginastera und Parallelen in ihrer kompositorischen Arbeit: Deborah Schwartz-Kates, »Alberto Ginastera, Argentine Cultural Construction, and the Gauchesco Tradition«, in: The Musical Quarterly 86 (2002), S. 248-281, besonders S. 271 ff. 177 Vgl. Manso, Juan José Castro, S. 145 ff. 178 Die Spannung zwischen Paz und Ginastera wirkte bis in die sechziger Jahre fort und wurde zum Mythos stilisiert. Gerardo Gandini berichtete im Interview mit King, El Di Tella, S. 32 und 293 davon, dass u. a. Francisco Kröpfl und er als Schüler von Paz bzw. Ginastera diesen Konflikt überwanden. Paz und Ginastera werden jedoch weiterhin in der Musikgeschichtsschreibung als Antipoden der Avantgardebewegung in Buenos Aires gesehen, vgl. Esteban Buch, »L’avant-garde musicale a Buenos Aires:

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Ginastera schadete der Konflikt allerdings kaum: Seit 1941 / 42 war er am Liceo Militar General San Martín und am Conservatorio Nacional angestellt – in Letzterem unterrichtete er bis 1958 Harmonielehre.179 Seine Werke wurden auch während des Peronismus regelmäßig aufgeführt und sein Ballett Estancia erlebte im August 1952 sogar eine Inszenierung im Colón.180 Interessanterweise gehen die meisten Biografen kaum auf Ginasteras Leben im Argentinien Peróns ein,181 so dass sich nur ein fragmentarisches Bild ergibt. Vermutlich hatte er 1945 eine Erklärung für die Demokratie unterschrieben, die ihn im August seinen Posten im Liceo Militar kostete.182 Daraufhin verließ Ginastera Argentinien, um sein Guggenheim-Stipendium in den USA anzutreten, wo er bis 1947 blieb. Die Ereignisse des Jahres 1945 fasste er in Modern Music zusammen: Dem Protest der Intellektuellen gegen die Diktatur hätten sich die meisten Musiker angeschlossen, wodurch das kulturelle Leben weitgehend zum Erliegen gekommen sei und man nun auf bessere Zeiten hoffe.183 Nach seiner Rückkehr gelang es ihm, das Musikkonservatorium an der Universität von La Plata aufzubauen, dessen Leiter er wurde. Diesen Posten musste er jedoch 1952 aus politischen Gründen verlassen und erhielt ihn erst 1956 zurück.184 Finanziell überleben konnte er durch (ausländische) Aufträge – dass die Amigos de la Música ihm gerade 1953 einen Kompositionsauftrag antrugen, erscheint kaum zufällig – und Filmmusik. Wie

Paz contra Ginastera«, in: Circuit: musiques contemporaines 17 (2007), H. 2, S. 1133, online: http://id.erudit.org/iderudit/016836ar (16.8.2012). 179 Und zwar offenbar durchgängig. Graciela Albino, »La música argentina y el discurso periodístico de Buenos Aires Musical en 1952«, in: Actas de la Quinta Semana de la Música y la Musicología, hg. vom Instituto de Investigación Musicológica »Carlos Vega« UCA, Buenos Aires 2008, S. 25-32, hier S. 28, nennt Ginastera auch 1952 noch als Dozenten des Conservatorio Nacional. 180 Vgl. Valenti Ferro, 100 años de música en Buenos Aires, S. 316; Caamaño, La historia del Teatro Colón, Bd. 2, S. 395. 181 So z. B. Malena Kuss, »Ginastera, Alberto«, in: MGG2, Personenteil 7, Kassel / Stuttgart 2002, Sp. 974-982. 182 Vgl. Deborah Schwartz-Kates, »Ginastera, Alberto (Evaristo)«, in: NGroveD2, Bd. 9, London 2001, S. 875-879, hier S. 875, und Manso, Juan José Castro, S. 210 f. Beide konkretisieren nicht, um welches Manifest es sich handelte. Ginasteras Name ist z. B. genannt in einem Manifest vom Juli 1945 in Luna, El 45, S. 128. 183 Vgl. Ginastera, »Inter-american Review«, S. 64 f. 184 Bereits 1957 fasste Gilbert Chase, »Alberto Ginastera: Argentine Composer«, in: Musical Quarterly 43 (1957), S. 439-460, hier S. 442, diese Eckdaten allgemein zusammen, ohne Hintergründe auszuführen.

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Aaron Copland, der 1941 Buenos Aires besuchte und sich in der Folge sehr für Ginastera in Nordamerika einsetzte, sah er Filmmusik als wichtiges Kommunikationsmittel an. Im Februar 1945 veröffentlichte Ginastera in Sur einen Artikel über Filmmusik,185 in dem er ihre Herkunft von der Schauspielmusik voraussetzte: Die Musik als Klangkunst sei auch im Film in der Lage, verschiedenste Szenen miteinander zu verknüpfen. Sie wirke dabei auf zwei Arten – in Form einer Symphonischen Dichtung, wenn sie die Handlung kommentiere, sowie in untergeordneter Rolle und sparsam eingesetzt zur Untermalung der Dialoge – und werde meist im Nachhinein komponiert. Nur im Falle von Liedern und Tänzen entstehe die Musik schon vor dem Dreh. Ginastera meinte hier vor allem den Tonfilm, in dem die Musik zur wichtigsten Komponente geworden sei, und nannte Komponisten im In- und Ausland, die seiner Meinung nach viel zu wenig als Filmmusikkomponisten gewürdigt wurden. Aus seiner Hand entstanden von 1942 bis 1958 neben einigen Schauspiel- konsequenterweise elf Filmmusiken: Waren die ersten beiden Produktionen Malambo (1942) und Rosa de América (1945) Kunstfilme, die musikalisch innovative Wege abseits des dominierenden Hollywood-Stils gingen, wandte sich Ginastera ab 1949 historischen und patriotischen Dramen sowie einem argentinischen Literaturklassiker zu, bevor er 1954 bis 1958 Komödien und Melodramen mit Musik versah. Schon seine erste Komposition zu Malambo erhielt eine Auszeichnung der Academia de Artes y Ciencias Cinematográficas de la Argentina; die gleiche Ehre wurde ihm für die Partitur zu Nace la libertad (1949) und Facundo, el tigre de los llanos (1952) zuteil. Die Musik zu Caballito criollo (1953) stellt wohl eine der wichtigsten Partituren der argentinischen Filmindustrie dar und erhielt wie die beiden zuvor genannten eine Auszeichnung durch die Asociación de Cronistas Cinematográficos de la Argentina.186 Wie Deborah Schwartz-Kates gezeigt hat, schöpfen diese Filmmusiken intensiv und offensichtlich aus argentinischer Folklore: In Malambo lässt bereits der Filmtitel den Bezug erkennen, da er auf den Tanz gleichen Namens verweist, der auch in Caballito criollo wesentlich wird.187 Ihre Forschung hinterfragt gleichzeitig die Aussagen früherer Ginastera-Biografen, die seine Kompositionen für die Filmindustrie lediglich als wirtschaftliche Notwendigkeit

185 Vgl. »La música cinematográfica«, in: Sur 15 (1945), H. 124, S. 92-94. 186 Vgl. CD-Rom El cine argentino 1997. 187 Vgl. Deborah Schwartz-Kates, »The Film Music of Alberto Ginastera: An Introduction to the Sources and Their Significance«, in: Latin American Music Review 27 (2006), H. 2, S. 171-195 sowie kürzer dies., »The Film Music of Alberto Ginastera: A Preliminary Review of the Sources«, in: Mitteilungen der Paul Sacher Stiftung 19 (2006), S. 22-27.

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nach dem Verlust seiner Lehrtätigkeiten durch Konflikte im Peronismus interpretierten.188 Sein Interesse am Genre ging aber offensichtlich der Zeit der politischen Macht Peróns voraus und dauerte danach an. In Anbetracht der politischen Lage und der selbst erlittenen Repressalien im Jahr 1945 könnte man fragen, was Ginastera 1947 bewog, aus den USA nach Argentinien zurückzukehren. Zweifellos fühlte er sich seiner Nation stark verbunden, was sich nicht zuletzt im Kompositionsstil äußerte: Er selbst bezeichnete die Phase vom Ende der vierziger Jahre bis 1957 als »subjektiven Nationalismus«. In dieser Zeit entstanden das Erste Streichquartett (1948), die Erste Klaviersonate (1952) und die Variaciones concertantes (1953), die durch den »Ginastera-Akkord«, bestehend aus den sechs Tönen der leeren Gitarrensaiten, eine im Vergleich zur vorherigen Phase des »objektiven Nationalismus« subtilere Anspielung auf Volksmusik und eine langsame Entfernung von der Tonalität gekennzeichnet sind.189 Diese Kompositionen fanden durch nordamerikanische Auftraggeber, einflussreiche Interpreten wie Igor Markevitch und Ginasteras Kontakte zur IGNM schnell ihren Weg nach Europa: 1951 wurde das Streichquartett beim 25. IGNM-Festival in Frankfurt aufgeführt, 1953 erklang die Klaviersonate beim Fest in Oslo in Anwesenheit des Komponisten, 1954 machte Markevitch die Variaciones concertantes zum Inhalt seines Dirigierkurses in Salzburg. Die Europa-Reisen verband Ginastera mit Besuchen beim UNESCOMusik-Komitee, als dessen Mitglied er berufen wurde. Ob und inwieweit rein musikalische Aspekte, seine politische Einstellung oder die beginnende weltweite Reputation dazu führten, dass Ginasteras Werke in Argentinien als internationalistisch und zu wenig national kritisiert wurden,190 verdiente eine separate Untersuchung. Zwar beklagte er sich in einem Artikel in der Zeitschrift Sur schon 1948 über einseitige Konzertprogramme in Buenos Aires, die immer die gleichen schon bekannten Werke von Bach, Chopin und Debussy brächten, und setzte sich für die Aufführung neuer Kompositionen internationaler Größen wie Strawinsky, Bartók, Hindemith, Prokofjew und Schönberg ein.191 Doch vertrat er

188 Vgl. Schwartz-Kates, »The Film Music of Alberto Ginastera: An Introduction«, S. 171 f. 189 Plesch / Huseby, »La música argentina en el siglo XX«, S. 186 f. 190 Vgl. Stenzl, »Woher – wohin?«, S. 24. Er vertritt diese Ansicht ohne Angabe von Gründen / Quellen. 191 Vgl. Alberto Ginastera, »Los conciertos en Buenos Aires«, in: Sur (1948), H. 167, S. 83-89, hier S. 83. Ginastera besprach nach einem allgemeinen Einleitungsteil Konzerte der Asociación Filarmónica de Buenos Aires unter der Leitung von Castro, den er ausführlich lobte, sowie Konzerte der Asociación Amigos de la Música.

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auch klar die Interessen der einheimischen Komponisten, die in den Konzerten in Buenos Aires seiner Ansicht nach unterrepräsentiert waren: »Los compositores argentinos trabajan en un ambiente de frialdad e indiferencia intolerable, sin el aliciente de poder escuchar la música que escriben. […] En la Argentina nadie parece observar la actitud de artistas que vienen periódicamente a Buenos Aires y no ejecutan jamás una obra argentina. Pienso que los empresarios y los críticos deberían llamar la atención de estos ejecutantes para que modificaran esta actitud poco simpática hacia el arte de un país que los recibe con entusiasmo.«192

Er verweist dabei auf Europa, die Vereinigten Staaten und Brasilien, wo entweder die Kritiker oder gar der Gesetzgeber auf eine gewisse Quote einheimischer Werke in den Konzerten achteten. Staatliche Einflussnahme auf Musikprogramme Die Repräsentation der inländischen Komponisten im lokalen Konzertleben war einige Jahre später auch in der Zeitschrift Buenos Aires Musical Thema: Die Ausgabe vom 2. Mai 1952 vereinte Aufsätze zahlreicher Funktionsträger im Musikleben, Kritiker und Komponisten zum Thema »Argentinische Musik«. Diskutiert wurden neben ästhetischen Aspekten der Einbeziehung von Folklore in eine nationale Musiksprache vor allem Fragen der Produktion und Verbreitung neuer Werke. Verschiedene Autoren forderten dabei mehr Aufführungsmöglichkeiten, wandten sich aber gegen zu starre Gesetze.

192 Ebd., S. 84: »Die argentinischen Komponisten arbeiten in einer unerträglichen Umgebung der Kälte und Teilnahmslosigkeit ohne das Reizmittel, die Musik hören zu können, die sie schreiben. […] In Argentinien scheint niemand das Handeln der Künstler zu beobachten, die regelmäßig nach Buenos Aires kommen und niemals ein argentinisches Werk aufführen. Ich denke, die Konzertveranstalter und Kritiker sollten die Aufmerksamkeit dieser Interpreten so lenken, dass sie diese unsympathische Haltung gegenüber der Kunst eines Landes verändern, das sie mit Enthusiasmus begrüßt.« Hatte Ginastera mit dieser Forderung nach mehr Protektion als Mitglied der nationalen Kulturkommission wohl Einfluss auf das im Folgenden erwähnte Dekret vom Dezember 1952? Albino, »La música argentina y el discurso periodístico de Buenos Aires Musical en 1952«, S. 27 gibt an, Ginastera sei 1952 Mitglied der »Comisión Nacional de Cultura para la adjudicación de premios y becas« gewesen, was sie aber nicht nachweist.

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Nachdem ab 1949 schon Radioprogramme eine bestimmte Quote argentinischer Musik bringen und alle Lokale, in denen musikalisch unterhalten wurde, mindestens zur Hälfte einheimische Kompositionen heranziehen mussten,193 nahm die peronistische Regierung ab der Saison 1953 nochmals Einfluss auf die Gestaltung von Konzerten, der den inländischen Komponisten zu Gute kommen sollte: Ein Regierungsdekret vom 29. Dezember 1952 besagte, dass jedes in Argentinien stattfindende Sinfonie-, Kammer- oder Chorkonzert in der Öffentlichkeit, im Radio oder Fernsehen ein vollständiges Werk eines zeitgenössischen argentinischen Komponisten enthalten musste. Es sollte an herausragender Stelle platziert sein und in der Dauer den anderen Stücken des Programms entsprechen. Auch Solorecitals mussten mindestens ein Werk eines argentinischen Autors enthalten. Von der Vorschrift ausgenommen waren nur Konzerte, die entweder einem integralen Werk, zum Beispiel einer Messe, oder als Hommage einem Komponisten gewidmet waren. Die Umsetzung dieser Anordnung wurde vom Staatssekretär für Informationen kontrolliert und die Nichteinhaltung mit zunächst temporärem, bei der dritten Übertretung jedoch vollständigem Veranstaltungs- bzw. Arbeitsverbot für die Institution bestraft.194 Die Gefahr dieses Dekrets wurde in den Musikzeitschriften schnell erkannt und diskutiert: Man sah voraus, dass Werke ohne musikalischen Gehalt – aber von Komponisten mit starken nationalistischen Ambitionen – vermehrt in die Konzertprogramme gelangen und die Qualität derselben senken würden. Es bedurfte daher einer guten und kompetenten Auswahl der Stücke.195 Organisationen, die wenig von der Bevormundung hielten, umgingen das Gesetz, indem sie ihre Programme wie die Asociación Amigos de la Música ab 1953 verstärkt mit Hommagen, Messen usw. ausstatteten. Die Amigos vergaben nun regelmäßig Kompositionsaufträge an ausgewählte Argentinier, um der Forderung mit qualitativem Anspruch nachzukommen. Aber es scheint auch ganz plakativen Protest gegeben zu haben: Rodolfo Arizaga berichtete von einem Konzert Claudio Arraus, in dem der Pianist das geforderte argentinische Stück prima vista spielte und das Aufstellen der Noten, das Aufsetzen der Brille und der studierende Blick der Komposition provokativ inszeniert wurden.196

193 Vgl. Rein, Politics and Education in Argentina 1946-1962, S. 44 und Corrado, »Honrar al General«, S. 111 Anm. 76. 194 Der gesamte Gesetzestext findet sich in Polifonía 8 (1953), H. 65-66, S. 12 und 28. 195 Vgl. Alberto Emilio Giménez, »Música Argentina en los Conciertos«, in: Polifonía 8 (1953), H. 67-68, S. 5. 196 Vgl. Arizaga, »Mis primeros veinte años musicales«, o. S.

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Die staatlichen Bemühungen um die argentinischen Komponisten zeigten sich auch in den eigenen Reihen. Im Nachlass von Juan Carlos Paz findet sich ein Konzertprogramm vom 13. September 1955: Drei Tage vor dem Sturz Peróns fand das sechste Konzert der vierten Reihe »Música argentina de cámara« im Teatro Nacional Cervantes statt. Es wurde als Teil des zweiten Fünfjahresplans von der Kulturdirektion im Bildungsministerium getragen. Neben Kompositionen von Antonio Tauriello, Adolfo Mindlin, Anita Ferrero, Antonio Machado und Carlos Tuxen Bang erklang Paz’ Concierto für Klavier und Bläser von den Interpreten, die es zwei Jahre zuvor in der ANM aufgeführt hatten (vgl. unten S. 123). Paz, seit Jahren als polemischer Streiter für die ständige Erneuerung der kompositorischen Technik und gegen national orientierte Tonmalerei bekannt, hatte es nicht nur in diesen offiziellen Konzertzyklus geschafft. Er war spätestens seit 1952 mit Ignacio Pirovano, dem damaligen Präsidenten der Comisión Nacional de Cultura, in Kontakt, wurde 1953 zum Mitglied der Unterabteilung für Musik in der Kommission ernannt und erhielt Geld dafür.197 Ob er diesen Posten lediglich der Freundschaft mit Pirovano verdankte und welche Aufgaben er in der Kommission übernahm, ist bisher nicht bekannt. Paz hatte sich politisch weitgehend bedeckt gehalten und keine Manifeste unterschrieben. Obwohl er in den Kreisen der Intellektuellen und besonders der bildenden Künstler verkehrte, in denen Mitte der vierziger Jahre die internationale Debatte über den Kommunismus und die Abstraktion umging, sind von ihm weder Reflexionen über die soziale Funktion der Kunst noch deutliche Kritik an der Kulturpolitik überliefert. Sein Tadel traf ausschließlich die kompositorische Technik der Kollegen, deren außermusikalischen Bezügen er die vernunftgeleitete Konstruktion und Komplexität seiner und aller zwölftönig organisierten Werke entgegensetzte.198 Dass das klassische Musikleben in Buenos Aires vielfältig war, wurde übrigens auch in Deutschland wahrgenommen. Vom Jahr 1955 berichtet die Neue Zeitschrift für Musik von acht verschiedenen Sinfonieorchestern, die insgesamt 120 Konzerte (1954 waren es 127) gestalteten und Werke von 146 Komponisten aufführten. Dass davon fast ein Drittel Argentinier waren, spiegelt die Wirkung des 1952 erlassenen Dekrets. Der am meisten gespielte Komponist war aller-

197 Er traf Pirovano z. B. am 2.12.1952: vgl. Notizzettel im Nachlass Paz, unten Abb. 1, S. 116. Noch 1967 verfassten beide gemeinsam einen Aufsatz: Ignacio Pirovano / Juan Carlos Paz, »Buenos Aires 1929«, in: Argentina en el Arte 1 (1967), H. 14, S. 210-238. Ein Brief von Ignacio Pirovano / Comisión Nacional de Cultura vom 12.8.1953 nennt die Summe 12.000 $. Ein Notizzettel im Nachlass Paz zieht ein Resümee des Jahres 1953 mit der Zeile: »C.N.C. = 9.000 $«. 198 Vgl. Corrado, Vanguardias al Sur, S. 181.

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dings »wie immer und wohl wie überall«199 Beethoven, dahinter mit Abstand Brahms, Tschaikowsky, Mozart und Bach. Noch nach Maurice Ravel ist in dieser Statistik Luis Gianneo der erste Zeitgenosse und gleichzeitig Einheimische, dem Ginastera folgt. Von deutschem Blickwinkel aus seien vor allem die »unkonventionellen Programme«200 faszinierend. Propagandaveranstaltungen und populäre Musik Neben diesen Versuchen, das Konzertleben insgesamt zu steuern, widmete sich die Politik vor allem der musikalischen Gestaltung propagandistischer Veranstaltungen. Das Jahr 1950 stand beispielsweise im Zeichen des »Befreiers« San Martín, dem zu Ehren Konzerte und Kompositionswettbewerbe von einer speziell eingerichteten Kommission organisiert wurden; alle Konzertprogramme und sonstige Veröffentlichungen des Jahres mussten den Schriftzug »1950. Año del Libertador General San Martín« tragen. Neu komponierte und alte Hymnen und Märsche – so zum Beispiel der »Marsch der Arbeit«, vom Bildungsminister Ivanissevich höchstpersönlich 1948 gedichtet und vom peronistischen Tangomusiker Cátulo Castillo vertont201 – bildeten das Standardrepertoire für die Feierlichkeiten. Zur großen Abschlussveranstaltung des Jahres reisten Musiker des Teatro Colón in die Provinzhauptstadt Mendoza, um gemeinsam mit dem dortigen Universitätsorchester und Chören aus allen Landesteilen ein fulminantes Spektakel aufzuführen: 170 Instrumentalisten, 700 Sänger und eine Lichtinstallation gestalteten die Geschichte San Martíns in einer Komposition Julio Percevals, deren Text der peronistische Dichter Leopoldo Marechal verfasst hatte. Perceval war zwar 1944 Gründungsmitglied der ANM in Buenos Aires, leitete aber seit 1940 das Konservatorium der Universität Cuyo in Mendoza. In dieser Funktion erhielt er den Kompositionsauftrag und leitete selbst die Uraufführung seines Canto de San Martín. Das Werk schreibt in großer Besetzung auch Folkloreinstrumente (spezielle Trommeln) und Militärfanfaren vor, trägt heroisch-militärische, religiöse und durch die Einbeziehung von bekannten Volksliedern und Rhythmen auch populäre Züge. Wahre stilistische Heterogenität wird durch Verfahren der neoklassizistischen Moderne (Polymetrik und Polytonalität) und eine Art der

199 W., »Musikleben in Buenos Aires: 120 Sinfoniekonzerte in einer Saison«, in: NZfM 117 (1956), H. 6, S. 322-323, hier S. 322. 200 Ebd., S. 323. 201 Vgl. Corrado, »Honrar al General«, S. 93. Corrado zufolge gehörte 1950 auch Ginastera einer Jury für einen Hymnen-Kompositionswettbewerb an, vgl. ebd., S. 92.

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Montage erreicht, die der filmischen entspricht und auf Percevals Erfahrungen als Stummfilmbegleiter und Improvisator verweist.202 Im Bereich der populären Musik gelten die Jahre 1940 bis 1955 auch als goldene Zeit des Tangos:203 Er erfreute sich großer sozialer Akzeptanz und war in Cafés, in den Massenmedien und im Kino präsent. Bandoneons, Geigen, Klavier, Bass, eventuell Cello, Bratsche, Klarinette und manchmal ein bis zwei Sänger bildeten das typische Tangoorchester, dessen Musiker häufig klassisch ausgebildet und im Konzertleben verankert waren. Nicht überraschend ist daher, dass derjenige, der bald populäre mit akademischer Musiksprache im Tango nuevo verband – Astor Piazzolla – seit 1941 bei Ginastera Unterricht hatte. Gleichzeitig spielte er im bekannten Tangoorchester von Aníbal Troilo, unterhielt von 1946 bis 1949 sein eigenes Orchester, arrangierte Tangomelodien und schrieb eigene Titel wie »Prepárense«, die zu Beginn der fünfziger Jahre in und über Argentinien hinaus populär wurden. In der Folge komponierte Piazzolla auch Filmmusik und erlebte Uraufführungen seiner sinfonischen Werke zum Beispiel bei den Amigos de la Música,204 bevor er 1954 sein Studium bei Nadia Boulanger in Paris aufnahm. Gesungene Tangos waren aufgrund moralischer Bedenken dem Text gegenüber stärkerer Beobachtung und vereinzelt Einschränkungen ausgesetzt. Im Fall des bis heute populären Tangos »Cafetín de Buenos Aires« (1948) wurden einige Verse als unmoralisch angesehen und seine Verbreitung unterbunden205 – was verwunderlich ist angesichts der Tatsache, dass sein Dichter Enrique Santos Discépolo einer der bekanntesten Befürworter Peróns war, der auch noch 1951 mit Ansprachen im Radio für ihn Partei ergriff.206 Da der gesungene Tango soziale Missstände nicht mehr thematisieren durfte – es gab sie im Peronismus offiziell nicht! – verlor er seine sprachliche Macht, den lokalen Alltag zu kommentieren, wurde nostalgisch und verlor Mitte der fünfziger Jahre an Popu-

202 Vgl. ebd., S. 98 ff. 203 Vgl. z. B. Plesch / Huseby, »La música argentina en el siglo XX«, S. 218. 204 Vgl. Programmheft der Asociación Amigos de la Música vom 27.7.1954 mit Piazzollas Sinfonietta für Kammerorchester (Dirigent: Jean Martinon) im Nachlass Spiller / UCA. Offenbar besuchte Piazzolla auch Hermann Scherchens Dirigierkurs bei den Amigos de la Música 1949: vgl. Natalio Gorin, Astor Piazzolla. Erinnerungen, Berlin 2001, S. 110. 205 Vgl. Girbal-Blacha, »Historia y cultura«, S. 250 sowie Comisión nacional de Cultura, Guía quincenal de la actividad intelectual y artística argentina, 3 (1949), H. 38-39, S. 74 f. 206 Vgl. Alberto Ciria, Política y cultura popular: la Argentina peronista 1946-1955, Buenos Aires 1983, S. 254 ff.

P ERONISMUS UND KULTURELLER W ANDEL

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larität. Die Zuschreibung, der Tango sei Teil der nationalen Identität, wird erst in der Tangoliteratur der sechziger Jahre und vor allem von Peronisten propagiert.207 Kagel war ebenso wie seine Zeitgenossen vom Tango umgeben. Er berichtete, er habe mit Mitschülern die Schule geschwänzt und sei dafür in ein Lokal der Straße Corrientes gegangen, in dem schon morgens um elf Uhr Tangoorchester spielten. Diese Erfahrung habe ihn stark geprägt; er bezeichnete den Tango in einem seiner letzten Interviews gar als »die wertvollste kultivierte Musik, die in Argentinien produziert wurde«208 und viel interessanter als die Konzertmusik der argentinischen Komponisten der Zeit. Niemals habe er – schließlich sei er Schüler von Jorge Luis Borges gewesen – darum Vorurteile gegenüber dem Tango gehabt, sondern er sog seine Charakteristika wie die anderer Folklore in sich auf: »Sicher war ein großer Teil meiner musikalischen Erlebnisse in Buenos Aires, als Hörer, Interpret oder Komponist, europäisch zentriert. Aber die südamerikanische Umgebung kam ebenfalls hinzu. Man durfte auf einer Insel leben, sich nur in einem europäischen Milieu aufhalten, aber Tangos, Milongas und Chacareras schwirrten ständig in der Luft.«209

Durch die starke Land-Stadt-Wanderung und die nationalistische, auf Volksmusik fokussierte Ästhetik des Peronismus begann man in den vierziger und fünfziger Jahren in Buenos Aires verstärkt Musiker der Provinzen zu hören. Die Tanzmusik, zum Beispiel Chacareras, der verschiedenen ländlichen Regionen war bis dahin jedoch keineswegs unbekannt, da zum Beispiel Filme wie La cabalgata del circo (1945) verschiedenste Melodien und Rhythmen einem breiten Publikum präsentierten. Interessanterweise blieben populäre Künstler wie Ata-

207 Vgl. Goldar, Buenos Aires: vida cotidiana en la década del 50, S. 139 f. Donald S. Castro, The Argentine Tango as Social History 1880-1955. The Soul of the People (Latin American Studies 3), Lewiston u. a. 1991, S. 205 ff. und Franco Barrionuevo Anzaldi, »Der peronistische Nationaldiskurs in der Tangoschreibung der 1960er Jahre«, in: Gabriele Klein (Hg.), Tango in Translation: Tanz zwischen Medien, Kulturen, Kunst und Politik, Bielefeld 2009, S. 209-242. 208 Kagel im Gespräch mit Esteban Buch am 4.3.2008, Transkription von Camila Juárez in Esteban Buch (Hg.), Tangos cultos. Kagel, J.J. Castro, Mastropiero y otros cruces musicales, Buenos Aires 2012, S. 203-205, hier S. 203: »la música culta más valiosa que se produjo en la Argentina«. 209 Kagel, Dialoge, Monologe, S. 253. Dass Kagel auch später noch Tangoplatten besaß, ist darum nicht überraschend: PSS SMK z. B. Piazzollas Octeto Buenos Aires. Tango moderno, DJ 15001 von 1957.

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hualpa Yupanqui oder der Tanguero Osvaldo Pugliese jedoch in Opposition zum Peronismus und setzten sich für die kommunistische Partei sowie die Minderheiten des Landes ein.210 Der Musikwissenschaftler Carlos Vega, der schon seit 1931 im Naturkundemuseum von Buenos Aires eine Abteilung für indigene Musik leitete, hatte bereits in den dreißiger Jahren Forschungsreisen ins Landesinnere unternommen und 1944 seine Aufnahmen und Transkriptionen von Volksmusik als Panorama de la música popular argentina publiziert. Im selben Jahr wurde er Leiter des zunächst weiterhin an das Naturkundemuseum angegliederten Instituto de Musicología Nativa, aus dem 1948 das staatliche, dem Kultusministerium unterstellte musikwissenschaftliche Institut hervorging, das heute Vegas Namen trägt.211 Wie bei den Konzertprogrammen der Asociación Amigos de la Música schon angedeutet, bereicherten ausländische Gäste das Kulturleben der Stadt regelmäßig. Hervorzuheben sind unter den Gastspielen jene der Theatergruppe um Jean-Louis Barrault, die mit einer Förderung des französischen Staats im Juli 1950 und 1954 nach Buenos Aires gelangte und mit der Kagel direkten Kontakt hatte.

210 Vgl. Corrado, »La música en la práctica política del Partido Comunista Argentino«. Von Atahualpa Yupanqui ist in PSS SMK die LP Camino del indio, Odeon LDS186, Vol. 2 von 1955 erhalten. 211 Vgl. http://www.inmuvega.gov.ar/inmuvega/historia.htm (16.8.2012).

Moment I: Juli 1950. Die Compagnie Renaud-Barrault mit Pierre Boulez in Buenos Aires

Die Compagnie Madeleine Renaud und Jean-Louis Barrault gründete sich 1946 in Paris. Schon für ihre erste Produktion von William Shakespeares Hamlet in einer Übersetzung André Gides und mit Bühnenmusik von Arthur Honegger arbeitete die Schauspielgruppe mit Pierre Boulez zusammen. Er war von Honegger selbst empfohlen worden, da er die für die Bühnenmusik unter anderem vorgesehenen Ondes Martenot spielen konnte. In der Folge war Boulez bis 1956 als musikalischer Leiter der Compagnie tätig: Er arrangierte und dirigierte vor allem Bühnenmusik von George Auric, Francis Poulenc, Darius Milhaud, Honegger und Henri Sauguet – Komponisten, die das Pariser Musikleben nach dem Krieg dominierten. Obwohl Boulez diese Komponisten ästhetisch ablehnte, arbeitete er professionell und dirigierte »with extreme vigor and authority«.1 Schon ab 1947 unternahm die Compagnie Tourneen ins Ausland;2 die erste große Reise über den Atlantik führte 1950 nach Südamerika. Boulez erwartete sie mit Vorfreude und berichtete in einem Brief an John Cage: »I dream over

1

So habe sich Barrault erinnert: vgl. Joan Peyser, Boulez. Composer, Conductor, Enigma, London 1976, S. 52.

2

Dazu existieren unterschiedliche Angaben: André Frank, Jean-Louis Barrault (Théâtre de tous les temps 15), Paris 1971, S. 131 gibt für 1947 eine Tournee nach Belgien, Luxemburg und Holland an und führt S. 172 ff. für jedes Folgejahr ausländische Spielorte auf. Theo Hirsbrunner, Pierre Boulez und sein Werk, Laaber 1985, S. 219 nennt für 1947 Boulez’ »[e]rste Reisen mit der Truppe Renaud-Barrault: Belgien […], Schweiz, Holland«. Dem gegenüber steht bei Peyser, Boulez, S. 63 die Aussage, die Südamerika-Tour sei Boulez’ erste Auslandsreise überhaupt gewesen.

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that; I would like very much a long travel«.3 Doch es wurde kein Urlaub: Aus Boulez’ Briefen der Reise liest sich Ernüchterung und besonders nach der zweiten Reise 1954 auch Ermüdung nach harter Arbeit. Welche Bedeutung die Gastspiele der Compagnie für das lokale Kulturleben und speziell seine Anwesenheit für junge Musiker wie Kagel hatte, konnte Boulez wohl kaum ermessen. 1950 standen allerdings zunächst die Produktionen der Compagnie im Fokus der Besprechungen. Nach Aufenthalten in Rio de Janeiro, São Paulo und Montevideo kam die Truppe am 28. Juni4 1950 erstmals in Buenos Aires an. Sie wohnte im Hotel Lafayette5 und präsentierte als erste Aufführung am 1. Juli Molières Les fourberies de Scapin sowie La seconde surprise de l’amour von Marivaux im kleinen Teatro Odeón. Es folgten am gleichen Ort zentrale Stücke ihres Repertoires: am 4. Juli Shakespeares Hamlet, am 6. Juli Occupe-toi d’Amélie von Georges Feydeau, am 11. Juli Paul Claudels Partage de midi, am 13. Juli die Pantomimen Les fausses confidences von Marivaux sowie Baptiste von Jacques Prévert, am 18. Juli Franz Kafkas Le Procès in einer Bühnenfassung von André Gide und am 20. Juli Malborough s’en va-t-en guerre von Marcel Achard sowie On purge Bébé von Feydeau. Am 25. Juli fand eine abschließende Vorstellung unter dem Titel »Les Adieux« statt, in der Ausschnitte aus weiteren Produktionen der

3

Brief von Boulez an Cage im November 1949: Pierre Boulez / John Cage, Correspondance et documents, hg. von Jean-Jacques Nattiez, Winterthur 1990, S. 59. In zahlreichen Kagel-Veröffentlichungen existieren fehlerhafte Jahresangaben dieses ersten Gastspiels in Buenos Aires. So erinnert sich Kagel selbst an das Jahr 1952: vgl. Kagel, Dialoge, Monologe, S. 38 und das Interview mit Rebstock, Komposition zwischen Musik und Theater, S. 352. Björn Heile weist in seiner Monografie zwar darauf hin, dass diese Jahresangabe nicht korrekt ist, korrigiert sie jedoch fälschlich auf 1953: Heile, The Music of Mauricio Kagel, S. 14 und 176. Allein anhand der Memoiren von JeanLouis Barrault, Souvenirs pour demain, Paris 1972, S. 247 ff. sowie besonders des Briefwechsels von Boulez und Cage lässt sich 1950 jedoch belegen.

4

Boulez schreibt im Juni 1950 an Cage, er sei »après le 28 juin« postalisch im Teatro Odeón in Buenos Aires zu erreichen, vgl. Boulez / Cage, Correspondance et documents, S. 102. In der deutschen Übersetzung wurde fälschlicherweise der 28.7. angegeben: Pierre Boulez / John Cage, »Dear Pierre« – »Cher John«. Der Briefwechsel, hg. von Jean-Jacques Nattiez, Hamburg 1997, S. 69.

5

Vgl. Brief von Boulez an Cage Ende Juni / Anfang Juli 1950 in Boulez / Cage, Correspondance et documents, S. 109.

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Compagnie, die nicht Teil des Gastspielprogramms waren, gezeigt wurden.6 Bereits die erste Vorstellung wurde in La Nación als »neue Geburt Frankreichs«7 gefeiert, da sie mit ihren Innovationen keinem vorherigen französischen Gastspiel gleiche. In den folgenden Wochen wurden alle Premieren der Compagnie in Buenos Aires in dieser Tageszeitung sowie in La Prensa an prominenter Stelle besprochen. Hervorgehoben wurde in den Kritiken nicht nur immer wieder die Person Barraults, dessen virtuose, rhythmische Bewegungen oft zum Ballett führten und die Verknüpfung von Theater, Musik und Tanz anzeigten, sondern auch die Leistung des gesamten Ensembles, des Bühnenbildners sowie die dramaturgische Verknüpfung von Theater, Pantomime und von Sequenzen, die an Film oder Zirkus erinnerten. Nur selten gehen die Besprechungen hingegen auf die Bühnenmusik ein: Im Fall von Hamlet wird lediglich »das nostalgische Echo der entfernten Musik Honeggers«8 als »musikalischer Hintergrund, der die Szenen verbindet, andere unterstreicht, und nicht unpassend ist, der Handlung Bewegung verleiht«,9 erwähnt; an die Musik Kosmas für Baptiste wird nur erinnert, da das Thema bereits als Filmmusik aus Les enfants du paradis bekannt war. Neben der Vorbereitung und Aufführung von elf Produktionen in drei Wochen standen auch Ausflüge – Barrault erinnerte sich an eine Bootsfahrt und die Pampa –, öffentliche Vorträge, Treffen mit jungen Theatergruppen10 und kleinere Vorstellungen von Madeleine Renaud und Jean-Louis Barrault zum Beispiel für die Amigos del Libro11 auf dem Programm. Barrault fasste die Eindrücke zusammen: »L’activité artistique est intense. Certes, le gouvernement Perón ne facilite pas les rapports.«12 Er betonte gleichzeitig, dass die politische Situation nicht unproblematisch war und die Compagnie Unannehmlichkeiten hatte: »Eva Perón ne viendra pas. Des paniers entiers de costumes furent lacérés par … je ne

6

Kritiken zu den Aufführungen erschienen in La Nación und La Prensa am 2., 5., 7., 12., 14., 19., 21. und 26.7.1950. Die Musik zu Les fourberies de Scapin schrieb Henri Sauguet, die zu Baptiste stammte von Joseph Kosma, die zu Malborough s’en va-t-en guerre komponierte Georges Auric, vgl. Frank, Jean-Louis Barrault, S. 144 und 146 f.

7

La Nación 2.7.1950, S. 9: »nuevo renacimiento de Francia«.

8

La Nación 5.7.1950, S. 8: »el eco nostálgico de la lejana música de Honegger«.

9

La Prensa 5.7.1950, S. 10: »fondo musical que une las escenas, subraya otras, y no desentona, presta agilidad a la acción«.

10 Vgl. Barrault, Souvenirs pour demain, S. 252. 11 Ein Verein Bibliophiler: Ankündigung der Veranstaltung im Lokal der Straße Florida 681 in La Nación 14.7.1950, S. 7 und La Prensa 12.7.1950, S. 9. 12 Barrault, Souvenirs pour demain, S. 252.

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sais qui!«13 Was Barrault hier kurz erwähnte, bedürfte weiterer Erklärungen. Auffällig ist jedoch, dass er zu Brasilien und Uruguay keine politischen Aussagen machte, sie für Buenos Aires aber zumindest andeutete. An anderer Stelle berichtete er in Erinnerungen und Korrespondenz vom allgemeinen Erfolg der Tournee und den Besonderheiten in Buenos Aires: An Paul Claudel schrieb er, Partage de midi sei besonders in Rio und Buenos Aires wunderbar gelungen.14 Zudem wurden in Argentinien Passagen einzelner Stücke vom Publikum auf Perón bezogen verstanden und erreichten dadurch eigene Aktualität: »Pour Occupe-toi d’Amélie, il nous est recommandé de couper certaines répliques. Nous refusons. Et quand le prince de Palestrie présente son ›général‹: ›Je ne sais ce qu’il ferait à la guerre, mais dans un cortège ...‹ le public rit sous cape.«15 Besondere Bedeutung hatte die Aufführung von Franz Kafkas Prozess in der französischen Bühnenfassung von André Gide: »A Paris, on m’avait ›conseillé‹ de ne pas présenter le Procès de Kafka. Je me suis obstiné. C’est Kafka qui remporte la palme.«16 Mit dieser Produktion traf die Compagnie sowieso den Nerv der Zeit, denn für eine ganze Generation von Intellektuellen war Kafka zum wichtigsten Autor jener Jahre geworden, wie Kagel erzählt: »Ich habe den Rausch seiner Wiederentdeckung nach dem Krieg erlebt. Er ist einer der wenigen Schriftsteller, die unsere Interpretation der Geschehnisse durch einen Begriff beeinflußt haben, den man nicht mehr ignorieren kann. ›Kafkaesk‹ hat als Summe von ungelösten Situationen, als Synthese einer undefinierbaren Malaise dieselbe Kraft wie manche Bilder der zeitgenössischen Malerei, die unsere Sicht der Dinge nachträglich geformt haben.«17

Markant ist, dass unter den Vorstellungen Barraults nur Le Procès in der Zeitschrift Sur besprochen wurde.18 Allerdings hinterfragt der Kritiker hier grundsätzlich, ob Kafkas Roman überhaupt für die Bühne adaptiert werden könne. Der

13 Ebd. Die Erinnerungen sind erst 1972 entstanden und müssen wegen der zeitlichen Distanz mit Vorsicht gelesen werden. 14 Barrault im Brief an Claudel im August 1950: vgl. Paul Claudel / Jean-Louis Barrault, Correspondance Paul Claudel – Jean-Louis Barrault, introd. et notes de Michel Lioure, Paris 1974, S. 215. 15 Barrault, Souvenirs pour demain, S. 253. 16 Ebd., S. 252. 17 Kagel / Klüppelholz, ».... / 1991«, S. 44. 18 Vgl. Mario A. Lancelotti, »A propósito de El Proceso en la versión de André Gide y J. L. Barrault«, in: Sur 20 (1950), H. 192-194, S. 324-329.

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Fassung von Gide und Barrault wirft er im Besonderen eine rigorose Kürzung und Umstellung der Szenen, die die zeitliche Projektion Kafkas verletze, sowie ein grundsätzliches Missverständnis der Intentionen Kafkas vor. Der große Fehler bestehe darin, dass Le Procès zur Unterhaltung adaptiert worden und das Spiel Barraults oft zu parodistisch für das Sujet sei. Im Gegensatz dazu lobten die Tageszeitungen die Inszenierung gerade für ihre Modernität und die simultane Darstellung mehrerer Szenen, die den Kern des Romans nicht verfälsche und dabei zu vibrierendem, dynamischem Theater werde19 – »magnífica de emoción, de auténtico dolor, de movimientos, de palabras, de arranques, de rebeldías, junto a momentos de desolada sumisión, y es también, además de la más original, la más cinematográfica de cuantas le hemos conocido«20. Dazu trugen neben Barrault in der Hauptrolle und den anderen Akteuren offensichtlich das Bühnenbild und die Einbeziehung filmischer Passagen bei, die mit gleichgültigen, grauen und bleiernen Farben eine quälende Atmosphäre – »el clima y la luz de almas en pena«21 – schufen. Es ist anzunehmen, dass die meisten progressiven Künstler jener Jahre in Buenos Aires diese Inszenierung erlebten. Von Witold Gombrowicz wird berichtet, dass es das einzige Theaterstück war, das er in der Zeit überhaupt besuchte. Gombrowicz ist demnach mit Alejandro Rússovich zum Ehrenempfang für Barrault in der SADE gegangen, hat mit ihm gesprochen und eine Eintrittskarte erbeten. Nach der Aufführung wurde im Café Rex noch viele Stunden lang über die Inszenierung diskutiert und von einer Realisierung von Gombrowicz’ Trauung durch Barrault geträumt.22 Barrault berichtet an anderer Stelle, auch Jorge Lavelli, der in den sechziger und siebziger Jahren als Regisseur die Bühnenwerke von Gombrowicz in Europa bekannt machte, habe seine theatralische Berufung erkannt, als er Le Procès in Buenos Aires sah: »Au cours de toutes nos tournées, nous avons suscité des vocations théâtrales, alors que nous ne nous en rendions pas compte du tout. Nous semons sur notre passage, jusqu’en Amérique du Sud. Lavelli dit qu’il a eu la vocation théâtrale en voyant Le Procès à Buenos

19 Vgl. La Prensa 19.7.1950, S. 9. 20 La Nación 19.7.1950, S. 7: »ausgezeichnet durch Emotion, durch authentischen Schmerz, durch Bewegungen, durch Worte, durch heftige Aufwallungen, durch Widerstände neben Momenten verzweifelter Unterwürfigkeit, und es ist auch eine der originellsten und filmischsten, die wir je gesehen haben«. 21 Ebd.: »die Stimmung und das Licht von trauernden Seelen«. 22 Vgl. Alejandro Rússovich in Rita Gombrowicz, Gombrowicz en Argentine. témoignages et documents 1939-1963, Paris 1984, S. 134 f.

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Aires quand il était étudiant.«23 Kagel erinnert sich besonders an diese »großartige Inszenierung; stimmungsvolle Schwarzweiß-Bilder und Kostüme in Anlehnung an das Prager Ghetto«.24 Er war dabei nicht nur Zuschauer wie bei fast allen anderen Barrault-Aufführungen, sondern wirkte als Statist mit.25 So kam er in direkten Kontakt mit Barrault, der ihm als Erinnerung sein Buch Une troupe et ses auteurs mit der Widmung »Pour Mauricio Kagel avec ma vive sympathie et avec mes remerciements pour le Procès J. Barrault Juillet 50«26 schenkte, sowie mit dessen musikalischem Leiter. Kagel erinnert sich: »Barrault brauchte Statisten, und ich wurde zweimal engagiert: als Rabbi in Kafkas Prozess in der Theaterfassung von André Gide – es gibt noch Fotos davon; weiter trug ich Barrault in Hamlet als Soldat am Ende des Stückes. Und so lernte ich auch seinen einzigen Musiker kennen. Der spielte Klavier, Celesta, ließ Tonbänder laufen, dirigierte – und das war Boulez. Seinen Namen kannte ich schon, und wir haben uns befreundet.«27

Möglich ist, dass Kagel Boulez’ erste Aufsätze in Contrepoints oder Polyphonie gelesen hatte oder aus The Musical Quarterly vom »most eccentric, i. e., the least pretentious, of young French composers«28 erfahren hatte. Seine Anwesenheit scheint aber in Buenos Aires nicht von einem größeren Kreis wahrgenommen worden zu sein.29 Es ist daher davon auszugehen, dass Kagel einer der wenigen war, die bereits im Juli 1950 mit Boulez ins Gespräch kamen. Kurz danach, im September 1950, begannen Kagels öffentliche Auftritte als Pianist in der Agrupación Nueva Música (ANM).

23 Jean-Louis Barrault, Saisir le présent, Paris 1984, S. 147. 24 Kagel, Dialoge, Monologe, S. 40. 25 Neben Kagel traten auch Mitglieder des Teatro Universitario Franco-Argentino als Statisten in Le Procès auf, vgl. »J. L. Barrault departirá con los dirigentes del movimiento vocacional«, in: La Nación 26.7.1950, S. 7. Es ist nicht klar, ob Kagel zu dieser studentischen Theatergruppe gehörte. Auf Initiative dieser Gruppe wurden aber am 26.7. ein Zusammentreffen von Barrault mit den Leitern der unabhängigen Theatergruppen und Gespräche über die dramatische Kunst organisiert, vgl. ebd. 26 ULB: Jean-Louis Barrault, Une troupe et ses auteurs, Paris 1950. 27 Kagel im Interview: Rebstock, Komposition zwischen Musik und Theater, S. 353. Die erwähnten Fotos konnten ihm Rahmen dieser Arbeit nicht aufgefunden werden. 28 Frederick Goldbeck im Bericht über Aktuelles in Frankreich: The Musical Quarterly 36 (1950), H. 2, S. 292. 29 D. Verf. ist keine Pressestimme zu Boulez’ Anwesenheit in Buenos Aires 1950 bekannt. Auch die befragten Zeitzeugen konnten sich daran nicht erinnern.

Mauricio Kagels Werdegang: Neue Musik und visuelle Künste

Kagel skizzierte seinen musikalischen Werdegang verschiedentlich: Vom italienischen Pianisten Vincenzo Scaramuzza berichtete er ausführlich, seinen Cellolehrer Schiuma nannte er1 und versah ihn – bewusst oder nicht – mit einem falschen Vornamen: Alfredo war Geiger, Dirigent und Komponist, dessen jüngerer Bruder Alberto dagegen der Cellist und Lehrer, um den es sich tatsächlich handelte. Musiktheorie hörte Kagel bei Erwin Leuchter, dessen öffentliche Kurse er als Gasthörer besuchte,2 und Teodoro Fuchs führte ihn zur Chorleitung.3 Dagegen erwähnte er die Komponisten, bei denen er Unterricht hatte, nur zögerlich: Von Juan Carlos Paz berichteten zunächst Juan Allende-Blin und Michael Gielen,4 Kagel selbst erst auf Nachfragen hin. Den offenbar vorausgehenden Unterricht bei Alberto Ginastera thematisierte er nie.5 Das war in seiner Jugendzeit in Buenos Aires anders, denn Kagel datierte seine Lehrjahre in einem Brief an Francisco Curt Lange vom 3. September 1956 recht genau: »Estudios realizados: Piano con los maestros Jorge Fanelli (1942-1944) y Vicente Scaramuzza (1944-1949). Iniciación en Armonía con Alberto Ginastera (1947-1948) y luego Contrapunto con Juan Carlos Paz, con interrupciones entre 1948 y 1951. Me considero un autodidacta en el estudio de la Composicion ya que ninguno de los maestros antes citados

1

Vgl. Kagel, Dialoge, Monologe, S. 241.

2

Vgl. Kagel, Dialoge, Monologe, S. 250 und 294.

3

Vgl. Kagel / Klüppelholz, ».... / 1991«, S. 41.

4

Vgl. Gielen / Klüppelholz, »Aus Deutschland, Argentinien« sowie Allende-Blin,

5

Davon ist aber auf der offiziellen Kagel-Homepage http://www.mauricio-kagel.com/

»Mauricio Kagel und ›Anagrama‹«. (8.10.2012) zu lesen. Im Rahmen dieser Arbeit wurden dazu keine Belege gefunden.

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me introdujo a un estudio sistemático y coherente de las formas musicales y de la creacion propiamente dicha. El análisis es la mejor escuela de composición y la constante lectura de partituras y de libros me ha formado de manera mas eficiente que las enseñanzas sectarias. Direccion Orquestal con el maestro Teodoro Fuchs (1952-1954), con quien realizé ademas Instrumentacion, Orquestacion y estudio de repertorio de óperas. Violoncello con Alberto Schiuma (1954-1955). Inicié mi actuacion como pianista en las audiciones privadas organizadas por el maestro Jorge Fanelli […] (1942-44). Immediatamente me dediqué a la difusion de la musica contemporanea, integrando el ciclo de audiciones radiales organizadas por el Instituto de Arte Moderno en 1950. En ese mismo año, asi como en el anterior, comenzé a colaborar en los conciertos de la Agrupacion Nueva Musica, a veces como solista o como acompañante de cantantes. Alli he estrenado en primera audicion obras de Schönberg, Anton Webern, Alois Haba, Ben Weber, Luigi Dallapiccola, Juan Carlos Paz, H. Apostel y muchos otros. Actué en el Instituto de Arte Moderno, en Amigos del Libro, en Radio del Estado y luego ofreci recitales en ciudades del interior del pais: Rosario, Cordoba y Mendoza. He actuado como pianista solista hasta 1954. Considero esa etapa cumplida, pues no respondió nada mas que a la necesidad de difusión de la musica de nuestro tiempo.«6

6

Brief von Kagel (Buenos Aires, Adresse im Stadtviertel Caballito) an Lange in Mendoza vom 3.9.1956, S. 1 f. (ACL / vgl. Anhang S. 307 f.); die originale Orthografie wurde beibehalten, Kagel setzte die Akzente nur teilweise: »Absolvierter Unterricht: Klavier bei den Lehrern Jorge Fanelli (1942-1944) und Vincenzo Scaramuzza (19441949). Einführung in Harmonielehre bei Alberto Ginastera (1947-1948) und danach Kontrapunkt bei Juan Carlos Paz, mit Unterbrechungen zwischen 1948 und 1951. Ich halte mich für einen Autodidakten in Komposition, da keiner der zuvor genannten Lehrer mich in ein systematisches und zusammenhängendes Studium der musikalischen Formen und der eigentlichen Schöpfung einführte. Die Analyse ist die beste Kompositionsschule und das ständige Lesen von Partituren und Büchern hat mich effizienter gebildet als sektiererischer Unterricht. Orchesterleitung bei Theodor Fuchs (1952-1954), bei dem ich auch Instrumentation, Orchestrierung und das OpernRepertoire studierte. Violoncello bei Alberto Schiuma (1954-1955). Ich begann mein Auftreten als Pianist in den von Jorge Fanelli organisierten privaten Konzerten (194244). Sogleich widmete ich mich der Verbreitung zeitgenössischer Musik und spielte in einer Reihe von Radiokonzerten, die das Instituto de Arte Moderno 1950 organisierte. In diesem Jahr und im vorhergehenden begann ich in den Konzerten der Agrupacion Nueva Musica mitzuarbeiten, manchmal als Solist oder Liedbegleiter. Dort habe ich Werke von Schönberg, Anton Webern, Alois Haba, Ben Weber, Luigi Dallapiccola, Juan Carlos Paz, H. Apostel und vielen anderen erstaufgeführt. Aufgetreten bin ich im Instituto de Arte Moderno, bei den Amigos del Libro, im Radio del Estado und dann

N EUE M USIK UND VISUELLE K ÜNSTE

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Während Kagel von seinem ersten Klavierlehrer Fanelli in Deutschland nur wenig berichtete, erzählte er zwei Begebenheiten mit Vincenzo Scaramuzza wiederholt in seinen letzten Lebensjahren.7 Erstens fand bei ihm wohl 1945 / 46 die Begegnung mit Schönbergs Kammersymphonie statt – hier gibt es zwei Versionen: Gab ihm Scaramuzza die Partitur oder fand sie Kagel selbst beim Stöbern in der Bibliothek seines Lehrers? – und zweitens schockierte ihn während eines Billardspiels das Urteil, Kagel würde nie Pianist werden, da er zu viel frage. 8 Dagegen ist fast nichts über den Unterricht an sich bekannt: Außer Kagels Aussagen über das dort gespielte Repertoire existiert nur ein Heft mit der Eintragung »Conservatorio Scaramuzza, Lavalle 1982« und Kagels Namen, leider alles ohne Jahresangabe.9 Auch von Ginasteras Harmonielehre- und Paz’ KontrapunktUnterricht sind keine eindeutigen Dokumente in Kagels Nachlass erhalten; seine ersten wirklich professionellen Schritte in der Agrupación Nueva Música können allerdings anhand von Programmen sehr genau nachvollzogen werden.

AGRUPACIÓN N UEVA M ÚSICA (ANM) »Kagel received a thorough grounding in musicianship and composition. Of decisive importance in this respect was his involvement with the Agrupación Nueva Música from 1947, which was often conducted by his teacher Theodor Fuchs, and for whom he later worked as pianist and artistic adviser […]. The group also performed some of Kagel’s early works. The Agrupación’s founder was Juan Carlos Paz, a charismatic composer whose

gab ich Konzerte in Städten des Landes: Rosario, Cordoba und Mendoza. Als Solopianist habe ich bis 1954 gewirkt. Ich halte diese Etappe für beendet, weil sie lediglich dazu diente, Musik unserer Zeit bekannt zu machen.« 7

Vgl. Kagel, Dialoge, Monologe, S. 240, Interviews in Jungheinrich, Aufgehobene Erschöpfung, S. 193 f., Pia Steigerwald, »An Tasten«. Studien zur Klaviermusik von Mauricio Kagel (sinefonia 15), Hofheim 2011, S. 262 f. und Kagel / Köhler, »›Der Fleischwolf Gottes‹«, o. S.

8

Kagel verarbeitete die Wirkung von Scaramuzzas hartem, aber wahrem Urteil im 1985-87 entstandenen Ballet d’action Tantz-Schul (nach musikalischen und bildlichen Vorlagen aus Gregorio Lambranzi, Neue und Curieuse Theatralische Tantz-Schul, Nürnberg 1716): Die neunte Szene »Scaramuzza … e Donna« ist mit einem Text von Kagel versehen, in dem eine Sopranistin – eine Seele? – in Begleitung einer Gitarre ihr Leid nach einer verbalen Verletzung durch Scaramuzza klagt. Vgl. CD-Booklet Mauricio Kagel. Tantz-Schul, Winter&Winter 2003, 910 099-2.

9

PSS SMK Mappe Frühe Studien und Skizzen 2. Dossier lose.

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influence on Kagel can hardly be overestimated, although a rupture between the two meant that Kagel never credited Paz after his departure from Argentina.«10

Auch wenn für Mauricio Kagel das Engagement bei der Agrupación Nueva Música von entscheidender Bedeutung war und er dort tatsächlich seine ersten Auftritte als Pianist, Komponist und Dirigent hatte, wurde bisher wie in diesem Zitat von Björn Heile meist leicht übertrieben: Tatsächlich ist, wie im Folgenden dargestellt wird, seine Mitwirkung bei der Gruppe erst ab 1950 nachweisbar, Teodoro Fuchs dirigierte nur einmal bei einem größeren Konzert 1952 und einzig Kagels Variaciones para cuarteto mixto wurden im gleichen Jahr dort aufgeführt. Von den Treffen und Gesprächen mit Juan Carlos Paz, der in Argentinien am konsequentesten die zeitgenössischen Kompositionstechniken und -stile wahrnahm und förderte und dessen ästhetische Überzeugungen Kagels kompositorische Entwicklung maßgeblich beeinflussten, hat er zweifellos profitiert. Ohne darum die Bedeutung der Gruppe für den Komponisten in Abrede stellen zu wollen, ist doch beim Vergleich der Aussagen über Kagels Engagement bei der ANM auffällig, dass sich Daten und Autoren widersprechen und sehr ungenau bleiben. Die Geschichte der Agrupación Nueva Música harrt einer umfassenden wissenschaftlichen Aufarbeitung; hier soll lediglich anhand von vorhandenen Programmzetteln, Zeitungskritiken, den Aussagen der Zeitzeugen zur Agrupación und der Korrespondenz beteiligter Personen das Bild der ANM um 1950 skizziert und Kagels Teilnahme konkreter belegt werden. Heile nennt das Jahr 1947 als Eintrittsdatum Kagels. Hierin folgt er Rodolfo Arizaga, während Dieter Schnebel das Jahr 1949 angibt.11 Dass er spätestens 1947 bei der ANM begann, suggeriert ein Satz Kagels, den er 1958 an Wolfgang Steinecke schrieb: »In Buenos Aires, Argentinien, meinem Geburtsort, war ich während zehn Jahren in der künstlerischen Leitung der ›Agrupación Nueva Música‹ (Gesellschaft für Neue Musik), dessen Ziel die Verbreitung zeitgenössischer Kammermusik ist.«12 Später betonte er, dass er schon als »13-, 14jähriger

10 Heile, The Music of Mauricio Kagel, S. 8. Die ANM als wichtigster »Veranstalter im Bereich der zeitgenössischen Musik, dessen Konzerte Kagel maßgeblich mitgestaltete«, nennt auch Rebstock, Komposition zwischen Musik und Theater, S. 45. Die Angaben beider Autoren zur ANM und das Engagement Kagels darin beruhen vor allem auf dessen Selbstaussagen. 11 Vgl. Rodolfo Arizaga, Enciclopedia de la música argentina, Buenos Aires 1971, S. 187 und Schnebel, Mauricio Kagel, S. 310. 12 Brief vom 24.1.1958 an Wolfgang Steinecke, in: Heile / Iddon, Mauricio Kagel bei den internationalen Ferienkursen, S. 29.

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[…] in Kontakt mit viel Kammermusik, unter anderem von Schönberg, Webern, Strawinsky«13 kam und »sehr früh« in der ANM mitarbeitete. Einen frühen Einstieg legen auch die Erinnerungen von Michael Gielen nahe, der schrieb: »In der ›Nueva Música‹ lernte ich schon 1947 den Argentinier Mauricio Kagel kennen, der damals sechzehn Jahre alt war […].«14 In der Paz-Biografie von Jacobo Romano ist zu lesen, Kagel sei um 1948 auf die Liste der Schüler von Paz gelangt, was den Erinnerungen von Francisco Kröpfl entspricht: Dieser begann wohl 1947 seinen Unterricht bei Paz, Kagel kurz darauf.15 Da Kagel selbst gegenüber Curt Lange von 1948 als dem ersten Unterrichtsjahr bei Paz und von 1949 als dem ersten ANM-Jahr spricht, erscheint dies glaubhaft. In der Sammlung der Paul Sacher Stiftung finden sich Programmzettel der ANM erst ab dem 29. September 1950. Hier firmiert Kagel neben Michael Gielen als Pianist im Konzert Nr. 69. In andernorts auffindbaren Programmzetteln von 1946 bis 194916 ist Kagel niemals als Interpret, Komponist oder irgendwie Beteiligter genannt. Wenn also Matthias Rebstock es als gegeben ansieht, dass Kagel »bereits als 15-Jähriger zum Kreis von Paz gestoßen war«, sich dessen Ästhetik anschloss und er aufgrund dessen den »konservativen Professoren an der Musikhochschule suspekt«17 war, was zum Nichtbestehen der Aufnahmeprüfung geführt habe, so ist dies wohl Spekulation. Vorausgesetzt, Kagels Aufnahmeprüfung fand – wie er selbst aussagte – 1948 oder 194918 statt, könnte genauso angenommen werden, er habe in der ANM einen Raum zur Entwicklung gefunden, der ihm im offiziellen Ausbildungsbetrieb versagt blieb. Den musikalischen Spuren Kagels in der ANM ist aufgrund der vorliegenden Daten jedenfalls erst ab 1950 mit Sicherheit zu folgen. Es lohnt sich, die institutionelle Entwicklung und ästhetische Orientierung der Gruppe vor und nach seinem Eintreten zu untersuchen, da Ka-

13 »Wer von uns allen wird darüber berichten können? Gespräch mit Dieter Rexroth« [1989], in: Kagel, Worte über Musik, S. 85-98, hier S. 85. 14 Gielen, Unbedingt Musik, S. 77. 15 Vgl. Jacobo Romano, Vidas de Paz, Buenos Aires 1976, S. 59 und Interview mit Francisco Kröpfl in King, El Di Tella, S. 284-288, hier S. 284. 16 PWJ, Mappe 5 im Karton »Materialien zur Agrupación Nueva Música« sowie (unsortierter) Nachlass Paz in Buenos Aires. Es fehlt das Konzert Nr. 63 von 1948, das aber anhand eines Beitrags in Buenos Aires Musical rekonstruiert werden kann. 17 Rebstock, Komposition zwischen Musik und Theater, S. 47. 18 Im Interview mit Rebstock am 9.3.2004. Dieser Teil des Interviews wurde allerdings nicht veröffentlicht, vgl. Rebstock, Komposition zwischen Musik und Theater, S. 351 ff. und Verweis S. 47. Ich danke Matthias Rebstock für diese Information.

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gels frühes Komponieren in engem Zusammenhang mit deren Aufführungsmöglichkeiten, Förderern und öffentlicher Wahrnehmung steht. Die ANM-Konzerte fanden bis 1946 an wechselnden Orten, überwiegend jedoch im Teatro del Pueblo19 um 21.30 oder 21.45 Uhr statt. Esteban Eitler wirkte in fast allen Konzerten als Flötist neben vielen weiteren europäischen Immigranten. Die Konzertprogramme der Jahre 1945 und 1946 weisen neben zahlreichen Werken der Mitglieder der ANM (vor allem Eitler, Paz, Devoto, aber vereinzelt auch Perceval und Engelbrecht) hauptsächlich Kompositionen von in Brasilien lebenden Kollegen wie Hans-Joachim Koellreutter, César Guerra Peixe und Claudio Santoro, den Nordamerikanern Wallingford Riegger und Aaron Copland sowie überdurchschnittlich häufig von Paul Hindemith und Darius Milhaud auf. In diesen beiden Jahren kamen von Arnold Schönberg vermutlich nur op. 19, von Alban Berg op. 1 und von Anton Webern gar kein Stück zur Aufführung. An europäischen Komponisten waren zudem Alois Hába, Karl Wiener und Ernst Toch mit einzelnen Werken wiederholt vertreten. Es ist angesichts dessen wohl nicht angebracht, von einem »Schwerpunkt der Programme […] auf Schönberg, Berg und Webern«20 zu sprechen, wie dies häufig pauschal getan wird. Die Konzertaktivitäten der ANM zeigen vielmehr über die Jahre hinweg deutlich verschiedene Schwerpunkte und ebenso unterschiedliche Intensitäten. Nach einer hohen Konzertdichte in den Jahren 1945 / 46 und von Eitler dominierten Programmen findet 1947 kein offizielles Konzert der ANM statt. Allerdings gibt es am 21. November 1947 um 18.30 Uhr ein Konzert im Saal des Instituto Francés de Estudios superiores in der Straße Florida 659 unter dem Titel: »9 Artes. 1ª. Audición de Música Contemporánea«.21 Das Konzertprogramm ähnelt mit Werken von Hindemith, Paz, Koellreutter, Santoro, Eitler und anderen

19 Leónidas Barletta leitete das linksgerichtete Teatro del Pueblo, das seit Ende der 30er Jahre neben den bestehenden Galerien auch Kunstausstellungen realisierte und Platz für Konzerte u. a. der ANM bot; vgl. Raul Larra, Leónidas Barletta. El hombre de la campana, Buenos Aires 1978, S. 99 f. Seit 1943 hatte Barletta den Keller eines Gebäudes in der Diagonal Norte 943 gemietet und ihn als Theater hergerichtet (das auch heute noch besteht), nachdem ihm die Stadt das Nutzungsrecht der alten Spielstätte in der Avenida Corrientes 1530 entzogen hatte, vgl. ebd., S. 102 f. 20 Rebstock, Komposition zwischen Musik und Theater, S. 48. Vgl. auch Heile, The Music of Mauricio Kagel, S. 9. Zumindest für die Jahre 1945 und 1946 ist diese Aussage nicht nachvollziehbar. 21 »9 Künste. 1. Konzert zeitgenössischer Musik«. Vgl. auch Ankündigung in 9 Artes (1947), H. 1, S. 4 und in La Nación 21.11.1947, S. 11 sowie die Kritik in La Prensa 22.11.1947, S. 13.

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den bisherigen Schwerpunkten. Zu den Interpreten gehörte neben Eitler und Devoto auch Francisco Kröpfl. Für die unter dem Namen der ANM veranstaltete Reihe ist aber ein Bruch zu konstatieren, denn an das Konzert Nr. 61 vom November 1946 schließt sich Nr. 62 am 30. Juni 1948 an. Neue Interpreten treten in Erscheinung: Michael Gielen, der zuvor nur einmal am 5. April 1946 als Interpret (Schönberg op. 19, Berg op. 1) auftrat, wird ab 1948 alle Konzerte bis 1950 maßgeblich als Pianist mitgestalten.22 Neben ihm spielten León Spierer (Violine), Noemí Saslavsky und Francisco Kröpfl (beide Klavier) sowie Efraín Guigui (Klarinette) häufig. Die Konzerte fanden fortan regelmäßig um 18.00 oder 18.30 Uhr in der Straße Florida 659 statt, wo sich das Instituto Francés de Estudios superiores, die Galerie Van Riel23 bzw. später das IAM befand. Der neue feste Ort und die frühere Uhrzeit ermöglichten es dem Publikum, gleich nach der Arbeit zum Konzert zu kommen, so dass vermutlich »100-300 Menschen«24 zum Publikum zählten. Interessant ist, dass im Jahr 1948 die Konzerte der ANM ebenfalls den Titel »9 Artes« trugen und so deutlich Bezug zu dem oben genannten Konzert am gleichen Ort 1947 nahmen. An der Gründung der Gruppe 9 Artes waren Ende 1947 unter anderen auch Paz, Devoto, der Schriftsteller Adolfo de Obieta und der bildende Künstler Emilio Pettoruti beteiligt. Sie gaben von 1947 bis 1949 gemeinsam die Zeitschrift 9 Artes in vier Nummern heraus, in der Paz und Devoto für die Musikbeiträge verantwortlich zeichneten. Paz hatte schon immer enge Kontakte zu innovativen Schöpfern aller Sparten, wobei er Mitte der vier-

22 Gielen gehörte nicht zu den Gründungsmitgliedern der ANM, wie Zulueta und Rebstock fälschlicherweise behaupten: Jorge Zulueta, La obra para piano de Juan Carlos Paz. Análisis y manuscritos, Buenos Aires 1976, S. 49 und Rebstock, Komposition zwischen Musik und Theater, S. 48. Gielen gibt in einem Brief an Thomas Schäfer vom 18.6.1992 (PWJ, Mappe 1 im Karton »Materialien zur Agrupación Nueva Música«) genau an, wann er in der Agrupación mitgewirkt hat: »Ich habe viel dort gespielt von 1946-50.« Diese Aussage stimmt mit den Angaben in den Programmzetteln genau überein. 23 Die Anbindung der Konzertreihe an die Galerie ist nicht neu: Bereits die Gründung der Konzerte Neuer Musik 1937 war von der Gesellschaft Amigos del Arte unterstützt worden, welche ihren Treffpunkt bei der gleichen Adresse wie die Galerie Van Riel hatte. Vgl. Corrado, Vanguardias al Sur, S. 122 f. und Romano, Vidas de Paz, S. 47 sowie zu Amigos del Arte Pirovano / Paz, »Buenos Aires 1929«. 24 Brief von Gielen an Schäfer vom 18.6.1992 in: PWJ, Mappe 1 im Karton »Materialien zur Agrupación Nueva Música«.

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ziger Jahre sogar Impulsgeber für die konkrete Kunst war;25 1947 wurde das gemeinsame Auftreten verschiedener Disziplinen jedoch explizites Programm. Bis 1950 blieben Ort und Uhrzeit sowie die Interpreten und die Programme der ANM relativ konstant, das Design der Programmzettel variierte jedoch. Pro Jahr fanden drei Konzerte statt, die nun tatsächlich Kompositionen von Schönberg, Berg und Webern fokussierten. Im Vergleich zu den Programmen bis 1947 fällt auf, dass in den Konzerten nur sehr wenige Werke von in Argentinien lebenden Komponisten zu hören waren: Vertreten sind lediglich Paz und Gielen. Kröpfl und später auch Kagel erscheinen zwar als Interpreten, jedoch noch nicht als Komponisten. Auffällig ist, dass Eitler weder als Komponist noch als Interpret in den Konzerten dieser drei Jahre auftritt. Möglicherweise gab es eine Verstimmung mit Paz: In einem Brief vom Juli 1948 fragte Eitler nach der Begründung dafür, dass Paz nichts mehr von sich hören lasse und dafür in der Stadt Gerüchte über eine Auflösung der ANM kursierten. Er bittet Paz darum, dies doch aufzuklären und – wenn der Grund für die Trennung in »unterschiedlichen Konzepten«26 läge – doch wenigstens in Frieden auseinander zu gehen. Offensichtlich ging Paz darauf ein: Ein Brief vom 13. November desselben Jahres zeigt, dass beide weiterhin freundschaftlich in Kontakt standen.27 Erinnert sei daran, dass Eitler wie auch Koellreutter bis in die fünfziger Jahre mit den Künstlern der Gruppe Madí zusammenarbeiteten (vgl. oben S. 52 f.), während Paz mit den Mitgliedern von Arte Concreto-Invención um Tomás Maldonado verkehrte. Ob damit verschiedene ästhetische Positionen verbunden waren, müsste noch erforscht werden. Kagel spielte bei seinem ersten Auftreten als Pianist im September 1950 (vgl. Tabelle 1) Werke von Ben Weber, Hans-Joachim Koellreutter und Alois Hába »in beharrlicher Art«.28 Koellreutters Variationen für Klavier von 1947 behielt Kagel in einer Reinschrift ein Leben lang, die Toccata von Hába hatte er von Paz geliehen und musste sie ihm zurückgeben.29

25 Vgl. oben S. 52 sowie María Esther Vázquez im Gespräch mit Eduardo González Lanuza und Gyula Kosice, »El arte en nuestra época«, in: La Nación 9.9.1973, 3ª sección, S. 2-6, hier S. 2. 26 Brief aus Buenos Aires von Eitler an Paz vom 27.7.1948 im Nachlass Paz: »diferentes conceptos«. 27 Vgl. Brief aus São Paulo von Eitler an Paz vom 13.11.1948 im Nachlass Paz. 28 La Nación 1.10.1950, S. 8: »en forma empeñosa«. 29 Vgl. PSS SMK Manuskripte anderer Komponisten sowie Notizzettel von Paz, unten Abb. 1. Paz hatte Hábas Stück schon 1939 selbst in Buenos Aires erstaufgeführt, vgl. Corrado, Vanguardias al Sur, S. 114.

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Tabelle 1: ANM-Konzerte 1948-1950 ANM Wochentag

Programm

Interpreten

Kon-

Datum

(wenn möglich ge-

zert

ggf. Uhrzeit

nau zugeordnet)

Nr.

Ort / Veranstalter

62

Mittwoch 30.6.194830 18.30 Uhr Florida 659 9 Artes

Berg: op. 1 Chávez: Sonatina Schönberg: op. 23 Bártok: Contrastes

Gielen Spierer, Saslavsky Gielen Spierer, Frogioni, Gielen

63

Mittwoch 25.8.194831 Galeria Kraft veranstaltet mit Amigos del Libro

Hindemith: Ludus tonalis Milhaud: Le bœuf sur le toît (Fassung für vier Hände) Schönberg: op. 23 Bártok: Contrastes

Kröpfl Ibels und Devoto

Donnerstag 21.10.194832 18.30 Uhr Florida 659 9 Artes

Hindemith: Sonate (1936) Weber: Three pieces for piano op. 23 (1945) Berg: op. 5 Schönberg: op. 33a Webern: op. 27 KĜenek: 3 Lieder aus op. 62 (»Motiv«, »Wetter«, »Friedhof im Gebirgsdorf«) Milhaud: Sonatina

Martucci, Kröpfl Gielen

64

Gielen Spierer, Frogioni, Gielen

Gielen, Guigui Gielen Gielen Saslavsky (Gesang und Klavier) Liberman, Kröpfl

30 Vgl. Kritiken in La Nación 1.7.1948, S. 11, in La Prensa 1.7.1948, S. 19, in Polifonía 3 (1948), H. 18, S. 7 sowie in BAM 3 (1948), H. 42, S. 3. 31 Vgl. Kritiken in La Nación 26.8.1948, S. 16, in La Prensa 26.8.1948, S. 17 und in BAM 3 (1948), H. 45, S. 2. 32 Vgl. Kritiken in La Nación 22.10.1948, S. 8 und in La Prensa 22.10.1948, S. 11. In der Programmvorschau wurde Gielens Música para clarinete, viola y fagot angekündigt, in den Konzertkritiken wird sie aber nicht erwähnt. Aufgeführt wurde sie vermutlich erst am 18.11.1948 in der SHA.

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Montag 26.9.194933 18.00 Uhr Florida 659

Homenaje a Arnold Schönberg (zum 75. Geburtstag) Op. 11, 19, 23, 33a / b, 25

Paz – Einführung

Montag 24.10.194934 18.30 Uhr Florida 659

Weber: Fantasia (Variations) for piano solo op. 25 (1946) Paz: Música 1946 Bártok: 2. Sonate

Gielen

67

Montag 14.11.194935 18.15 Uhr Florida 659

Comentarios de Juan Carlos Paz Berg: op. 5 Webern: op. 27 Paz: Música 1946 Schönberg: op. 25 + 33a / b

Paz – Einführung Gielen, Guigui Gielen Gielen Gielen

68

Montag 7.8.195036 18.15 Uhr Florida 659

¿Qué es nueva música? Hindemith: Sonate 1939 Paz: 3. Composición en los 12 tonos Schönberg: 2 Lieder op. 14 Berg: op. 5 Gielen: Variaciones para cuarteto de cuerda UA

Paz – Einführung Spiller, Gielen Guigui, Gielen

65

66

Gielen

Gielen Gielen, Spierer

Naidich, Gielen Guigui, Gielen Spiller, Blech, Vancaillie, Kertesz

33 Vgl. Ankündigung in La Nación 26.9.1949, S. 8, Kritiken in La Nación 27.9.1949, S. 7, in La Prensa 27.9.1949, S. 9 sowie BAM 4 (1949), H. 64, S. 3. 34 Vgl. Ankündigung in La Nación 24.10.1949, S. 8, Kritiken in La Prensa 25.10.1949, S. 9 und von Daniel Devoto in BAM 4 (1949), H. 66, S. 1. 35 Vgl. Kritik in La Nación 15.11.1949, S. 7. In der Kritik werden Weberns Variationen op. 27 als »una de las más originales y logradas concepciones del sistema de los doce tonos« bezeichnet – »eine der originellsten und gelungensten Konzeptionen im System der zwölf Töne«. Kritik in La Prensa 15.11.1949, S. 9. 36 Vgl. Kritiken in La Nación 8.8.1950, S. 7, in La Prensa 8.8.1950, S. 10 und BAM 5 (1950), H. 78, S. 2 – mit Erwähnung der UA von Gielens Quartett.

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70

Freitag 29.9.195037 Florida 659

Montag 30.10.195038 18.15 Uhr Florida 659

Pisk: Moreska Figuren Weber: Piano Suite op. 27 (1948) Koellreutter: Variaçoñes 1947 Hába: Toccata, quasi fantasia, op. 38 Schönberg: op. 15 Dodekaphoner Musik gewidmet Guerra Peixe: Música para piano Santoro: 6 piezas Webern: op. 27 Gielen: Variaciones para cuarteto de cuerda Paz: 3. Composición en los 12 tonos Schönberg: op. 25

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Lysy, Guigui, Kagel / Gielen (?) Kagel Kagel Kagel Horakowa, Gielen Paz – Einführung Gielen / Kagel – Klavier Spiller, Blech, Vancoillié, Kertesz Guigui, Gielen (?) Gielen (?)

Welche Kompositionen Kagel im Oktober interpretierte, ist den Programmzetteln und Kritiken nicht genau zu entnehmen. Aus der Aufstellung ist jedoch ersichtlich, dass Gielen hauptsächlich für die Aufführungen der Klavierwerke der Wiener Schule Ende der vierziger Jahre in Buenos Aires verantwortlich zeichnete. Dabei führte er Schönbergs Fünf Klavierstücke op. 23 und die Suite op. 25 als erster in Argentinien auf. Die anderen Klavierkompositionen Schönbergs konnten bereits in den dreißiger und frühen vierziger Jahren unter anderem in der Interpretation von Juan Carlos Paz gehört werden.39 Sogar Weberns Variationen op. 27 erklangen durch Paz zum ersten Mal 1938 – also nur ein Jahr nach

37 Vgl. Kritiken in La Nación 1.10.1950, S. 8, La Prensa 30.9.1950, S. 8 und BAM 5 (1950), H. 82, S. 1. 38 Vgl. Kritiken in La Nación 31.10.1950, S. 7 und La Prensa 31.10.1950, S. 10. 39 Vgl. Corrado, Música y modernidad, S. 257. Corrado bringt die Aufführung von Werken der Wiener Schule in Buenos Aires ab 1936 explizit mit der Ankunft von Rita Kurzmann-Leuchter, Erwin Leuchter und anderen österreichischen Exilanten in Zusammenhang, vgl. ebd., S. 274 f. Daniela Fugellie konnte im Rahmen ihrer Forschung zeigen, dass Paz 1937 durch Vermittlung von Paul Pisk von der Universal Edition 17 Partituren zugeschickt bekam, vgl. Vortrag vom 13.3.2013 bei der Österreichischen Gesellschaft für Exilforschung, Druck in Vorbereitung.

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Uraufführung und Drucklegung in Europa –, ohne jedoch öffentliche Resonanz gefunden zu haben.40 Interessant erscheint die Frage, warum die ANM 1948 bis 1950 die Klavierwerke Schönbergs und Weberns wiederholt aufführte – simultan bzw. sogar etwas früher beginnend mit Helmut Roloffs und Peter Stadlens Konzert bei den Darmstädter Ferienkursen am 31. Juli 1948. Dies mag an der Verfügbarkeit, dem Interesse und der Mitwirkung Gielens gelegen haben: Sein Onkel war Eduard Steuermann, Pianist der Wiener Schule und Widmungsträger von Weberns op. 27, der als Emigrant in den USA lebte. Beide standen miteinander in Briefkontakt: Einem Brief von Steuermann aus dem Jahr 1942 ist zu entnehmen, dass Gielen ihn nach Metronomangaben und anderen Details zu Schönbergs Sechs kleinen Klavierstücken op. 19 gefragt hatte und sein Onkel ihm ausführlich Antwort gab.41 Durch die Empfehlung Steuermanns lernte Familie Gielen in Buenos Aires auch das Ehepaar Leuchter kennen: Michael Gielen erhielt zunächst bei Rita Kurzmann-Leuchter Klavier- und nach deren Tod 1942 bei Erwin Leuchter Theorieunterricht. Beide Lehrer hatten in Wien direkten Kontakt mit Webern: Leuchter war bis 1934 Assistent bei den Arbeitersinfoniekonzerten; im Hause Kurzmann hatte Webern Mitte der dreißiger Jahre seine Vortragsreihen gehalten. Beide waren 1936 nach Buenos Aires gekommen. Obwohl weder im Klaviernoch im Theorieunterricht neue Musik vorgekommen sei, habe Gielen Leuchter selbst erarbeitete Stücke vorgespielt und von ihm Rat erhalten.42

40 Vgl. ebd., S. 263. 41 Vgl. Eduard Steuermann, The Not Quite Innocent Bystander. Writings of Eduard Steuermann, hg. von Clara Steuermann, Lincoln u. a. 1989, S. 103-106. Seine Verwandtschaft mit Steuermann hätten ihn »zwingend zum Schönberg-Kreis geführt«: »Kein Wunder, daß ich mir bereits als Elfjähriger Schönbergs Kleine Stücke opus 19 auf dem Klavier zurechtsuchte.« Michael Gielen in Paul Fiebig (Hg.), Michael Gielen. Dirigent, Komponist, Zeitgenosse, Stuttgart u. a. 1997, S. 97. 42 Vgl. Fiebig, Michael Gielen, S. 100 und Gielen, Unbedingt Musik, S. 48; speziell zu Rita Kurzmann die Einleitung in Anton Webern, Über musikalische Formen. Aus den Vortragsmitschriften von Ludwig Zenk, Siegfried Oehlgiesser, Rudolf Schopf und Erna Apostel (Veröffentlichungen der Paul Sacher Stiftung 8), hg. von Neil Boynton, Mainz u. a. 2002, S. 47 f. sowie zu Weberns Vorträgen im Hause Kurzmann: Hans und Rosaleen Moldenhauer, Anton von Webern. Chronik seines Lebens und Werkes, Zürich 1980, S. 339 und passim. Informationen zum Leben von Kurzmann und Leuchter in Buenos Aires hat Herbert Henck, »Rita Kurzmann-Leuchter. Eine österreichische Emigrantin aus dem Kreis der Zweiten Wiener Schule«, auf: http://www.herberthenck.de/Internettexte/Kurzmann_II/kurzmann_ii.html (11.9.2013) zusammengestellt.

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Gielen berichtete ebenfalls verschiedentlich, er habe seinem Onkel Steuermann seine ersten Kompositionen geschickt, die dieser daraufhin René Leibowitz zeigte und mit ihm besprach, wenn jener in Amerika war.43 Leibowitz wurde als Promoter der Wiener Schule durch seine Schriften auch in Buenos Aires bekannt: Seine Aufsätze in Les temps modernes oder Publikationen wie Schönberg et son école und Introduction a la musique de douze sons erreichten in kurzer Zeit die Musikgeschäfte und wurden rezipiert.44 Höhepunkt der Fokussierung auf Klavierwerke der Wiener Schule war die Aufführung des gesamten Klavierwerks von Schönberg aus Anlass seines 75. Geburtstags am 26. September 1949.45 Sechs Tage zuvor, am 20. September um 17.30 Uhr, gab es bereits einen öffentlichen Vortrag bei Ricordi, Straße Florida 677, in dem Paz unter dem Titel »Arnold Schönberg oder das Ende der tonalen Ära«46 referierte und der durch Michael Gielen mit Musikbeispielen (op. 11 Nr. 3, op. 19, op. 23 Nr. 3 und op. 33a) illustriert wurde. In den darauf folgenden Jahren wurden die Klavierkompositionen Schönbergs sowie Weberns op. 27 immer wieder von verschiedenen Interpreten in der ANM gespielt. Auffallend ist besonders in diesen drei Jahren, dass die Werke bei der ANM sehr oft wiederholt wurden und nur ein geringer Teil des Œuvres von Schönberg, Berg und Webern erklang – möglicherweise bedingt durch eine begrenzte Anzahl von Interpreten oder vorliegenden Partituren. Die Konzertprogramme zeigen jedoch, dass eine oft wiederholte Aussage von Gerard Béhague – »the Agrupación Nueva Música went further in the direction of the avant-garde, feeling particular affinity for the serial composers Schoenberg and Webern and for experimentalists such as Varèse, Cowell, and, by the late 1940s, Cage and Messiaen«47 – nur eingeschränkt gültig ist. Letztere vier wurden Ende der vierziger

43 Vgl. Fiebig, Michael Gielen, S. 102, Gielen, Unbedingt Musik, S. 64 und im Gespräch mit Reinhard Kapp auf der CD zu Köster / Schmidt, »Man kehrt nie zurück«, Track 6. 44 Vgl. die schon erwähnten Leibowitz-Bücher in Kagels Nachlass in PSS (oben S. 80), besonders René Leibowitz, Schönberg et son école, Paris 1947, mit zerrissenem Aufkleber »Ricordi Americana« und Lesezeichen bei S. 228 (Webern op. 27 und 28) sowie z. B. Les temps modernes 4 (Oktober 1947), H. 25, mit Leibowitz’ Aufsatz »Béla Bartók ou la possibilité du compromis dans la musique contemporaine«, S. 705-734. 45 Vgl. auch Gielens Erinnerungen daran: Fiebig, Michael Gielen, S. 101 und Gielen, Unbedingt Musik, S. 77. 46 Vgl. Programmzettel »Arnold Schönberg o el fin de la era tonal« im Nachlass Paz und Kurzbericht in BAM 4 (1949), H. 64, S. 4. 47 Gerard Béhague, Music in Latin America: An Introduction, Englewood Cliffs / NJ 1979, S. 272. Ganz ähnlich formuliert Heile, The Music of Mauricio Kagel, S. 9. Cor-

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Jahre in den Konzerten der ANM noch nicht gespielt und erklangen tatsächlich dort erst in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre. Was die in Amerika lebenden Komponisten betrifft, so waren diese jedoch bereits bekannt: 1948 schrieb Paz in der monatlich erscheinenden Kulturzeitschrift Cabalgata im Februar und im Juli Beiträge, die der Musik in den USA gewidmet waren. Dabei hob er im ersten den »in Edgard Varèse verkörperten absolut experimentellen Fall«48 hervor, erwähnte Cowell als den Komponisten, der nicht bei europäischen Lehrern ausgebildet wurde, und sagte abschließend aus: »John Cage parece pronunciar la última palabra […] con su ›piano acondicionado‹ y sus instrumentos eléctricos.«49 Im zweiten Beitrag über die »Forum Group« in New York berichtete Paz ausführlicher über die Art des präparierten Klaviers, bezeichnete Cage als Ausnahmeerscheinung, da er in neue Regionen des Klangs vordränge, und nannte unter den Kompositionen bereits die »Sonatas e Intermezzi«50 sowie die Einbeziehung der Stimme in The Wonderful Widow of 18 Springs. Des Weiteren führte Paz mehrere Schlagzeugkompositionen mit Titel an und verwies auch auf die theatralischen Stücke in Cages Œuvre. Im Juli-Beitrag ging er zudem auf Kompositionen von Ben Weber und George Perle sehr ausführlich ein, die in der ANM auch gespielt wurden bzw. in den Folgejahren häufig erklangen. An drei Stellen seines Textes verwies Paz in Fußnoten explizit auf die New Music-Edition, in der einige der von ihm genannten Kompositionen erschienen waren:51 Ben Webers Five Bagatelles finden sich im New Music Quarterly vom Juli 1940, Cages Amores ebenda im Juli 1943, Merton Browns Cantabile for String Orchestra im Januar 1946 sowie dessen Chorale for Strings in einer Spezialausgabe von 1948. Kagel berichtete, dass er Conlon Nancarrow auch über die New Music-Edition

rado, Vanguardias al Sur, S. 191 f. gibt an, dass Paz mindestens bis 1946 Messiaen nicht kannte, dessen Partituren aber ab den fünfziger Jahren zirkulierten und aufgeführt wurden. 48 Juan Carlos Paz, »Música estadounidense de vanguardia«, in: Cabalgata 3 (1948), H. 16, S. 1 und 10, hier S. 1: »caso experimental absoluto encarnado en Edgar Varese«. 49 Ebd., S. 10: »John Cage scheint mit seinem präparierten Klavier und seinen elektronischen Instrumenten das letzte Wort zu haben.« 50 Juan Carlos Paz, »El Forum Group de Nueva York«, in: Cabalgata 3 (1948), H. 21, S. 1, 3 und 10, hier S. 10. Gemeint sind die Sonatas and Interludes, die im selben Jahr erst beendet wurden. 51 Vgl. die Angaben zu den Ausgaben des New Music Quarterly in Rita Mead, Henry Cowell’s New Music 1925-1936. The Society, the Music Editions, and the Recordings (Studies in Musicology 40), New York 1978, S. 588 f. und 595.

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ca. 1952 kennen lernte.52 Warum blieb in Anbetracht dieses umfangreichen Wissens das Konzertrepertoire der ANM doch relativ beschränkt und erklang nordamerikanische Musik zwischen 1948 und 1950 kaum? Umso erstaunlicher ist dies in Anbetracht der Tatsache, dass Paz seit Anfang der vierziger Jahre persönlichen Briefkontakt mit Ernst KĜenek, Henry Cowell, George Perle und anderen pflegte.53 Der einzige, dessen Musik in diesen Jahren regelmäßig erklang, war Ben Weber, mit dem sich Paz ebenfalls schriftlich austauschte.54 1951-1953 Nach dem Weggang Gielens Ende 1950 nach Europa schien sich die ANM wiederum neu zu strukturieren: »Desde 1950, bajo la presidencia de Odile Baron Supervielle, ingresaron a la actualmente denominada ›Agrupación Nueva Música‹, Mauricio Kagel, Carlos Rausch, Nelly Moreto, Susana Baron Supervielle, Mario Davidowsky, Francisco Kropfl, Edgardo Canton y Eduardo Tejeda.«55 Doch diese Personen kamen und gingen schrittweise. Im Jahr 1951 gab es zunächst nur ein Konzert der ANM in Buenos Aires: Nr. 71 fand am 11. Oktober 1951 im Teatro Ariel, Straße Montevideo 361, um 18.15 Uhr statt. 56 Eitler, der offensichtlich wieder in Buenos Aires war, spielte neben Jorge Grisetti, Kröpfl und anderen Werke von Berg, Riegger, Guerra Peixe, Paz, Hindemith und Eitler, womit das Konzert inhaltlich wieder an die Reihe bis 1947 anschloss. Die Mitwirkung Eitlers blieb aber 1951 nur ein Gastspiel.57 Mit dem Pianisten und

52 Vgl. Kagel im Interview: Rebstock, Komposition zwischen Musik und Theater, S. 353. 53 Diese Briefwechsel sind in Auszügen publiziert in Lucía Maranca (Hg.), Cartas a Paz, Buenos Aires 1987, S. 25 ff. sowie Lucía Maranca (Hg.), Cartas de Paz, Buenos Aires 1989, S. 70 ff. 54 Im Nachlass Paz existieren zahlreiche, bisher unveröffentlichte Briefe des engen Kontakts 1941-48, der sich weniger intensiv mindestens bis 1955 fortsetzte. 55 Zulueta, La obra para piano de Juan Carlos Paz, S. 49: »Seit 1950 und unter dem Präsidium von Odile Baron Supervielle traten der nun so genannten ›Agrupación Nueva Música‹ Mauricio Kagel, Carlos Rausch, Nelly Moretto, Susana Baron Supervielle, Mario Davidowsky, Francisco Kröpfl, Edgardo Cantón und Eduardo Tejeda bei.« Fehlende Akzente / Umlaute / Buchstaben im Original. 56 Vgl. Kritik in La Nación 12.10.1951, S. 6. In einer Aufstellung der Kammerkonzerte des Jahres 1951 erwähnt BAM 7 (1952), H. 102, S. 1 ein der Dodekaphonie gewidmetes Konzert der ANM. 57 Offenbar hatte Eitler, der der kommunistischen Partei nahe stand, um 1951 / 52 Probleme mit der peronistischen Regierung und verließ darum Argentinien, vgl. Yvonne

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Architekten Grisetti erschien dafür ein Künstler im Bund der ANM, der auf die Verbindungen zu nueva visión und bildende Künstler hinweist: Der Programmzettel trug ein neues Logo in Kleinbuchstaben – »anm« –, entworfen von Tomás Maldonado, das die ANM bis in die neunziger Jahre beibehalten sollte. In der ersten Nummer von Maldonados Zeitschrift nueva visión verfasste Paz im Dezember 1951 einen Artikel über neue Musik.58 Zwar erschien Kagel nicht als Interpret in genanntem Oktober-Konzert der ANM, innerhalb der Gruppe wirkte er aber als Pianist bei anderen Veranstaltungen des Jahres 1951: Bereits für den 10. August war – wiederum in der Straße Florida 659 und diesmal in einer Reihe von vier Veranstaltungen des IAM über Aspekte der modernen Kunst – ein der Dodekaphonie gewidmetes Konzert geplant, in dem in der Interpretation von Kagel, Eitler, Spiller und anderen neben Werken von Schönberg, Riegger, Hans Erich Apostel, Guerra Peixe, Weber, Webern und Eitler auch Paz’ 2. Quartett auf dem Programm stand. Die Uraufführung des Letzteren hielt Paz sodann in einer Skizze über das Jahr 1951 fest, in der es weiter heißt: »gemeinsame Organisation der ANM«,59 und folgende Namen genannt werden: »Ricardo Pinto, Mauricio Kröpfl, Franz Kágel, Enrique Maldonado, Juan de Poj, Lidy Becher, Felisa Lagos Olivari, Eduardo Prat Moneto.« Paz trieb hier offensichtlich mit den Namen der Beteiligten seinen Spaß und vertauschte bzw. veränderte sie systematisch. Sie lauten korrekt und ausführlich Ricardo Becher, Mauricio Kagel, Francisco Kröpfl, Enrique Poj, Juan de Prat Gay, Lidy Prati de Maldonado, Felisa Pinto (Cousine von Juan de Prat Gay), Eduardo Polledo sowie Sara Lagos Olivari und sind auf den ausführlichen Programmübersichten der ANM in den Folgejahren zu finden. Ein weiteres Konzert mit ähnlichen Interpreten wie am 10. August fand bereits am 16. Mai 1951 im Teatro Ariel statt. Es war der jugoslawischen Musik gewidmet und wurde vom Instituto Argentino-Yugoslavo de cultura gefördert.60

Zehner, »Esteban (Stefan) Eitler zwischen Europa und Lateinamerika«, in: Jürg Stenzl (Hg.), Mozart und Südamerika. A Global View of Mozart, Tagungsdokumentation, Salzburg 2003, S. 87-94, hier S. 91 f. 58 Juan Carlos Paz, »¿Qué es nueva música?«, in: nueva visión (Dezember 1951), H. 1, S. 10-11. Vgl. zur Zeitschrift oben S. 53 f. und eingehender zu den Verbindungen Maldonado-Paz unten S. 136. 59 Vgl. handschriftliche Notizen im Nachlass Paz: »Organización colectiva d [sic] A.N.M.« Zu dem Konzert am 10.8.1951 konnte keine Kritik aufgefunden werden. 60 Vgl. Programmzettel in PSS SMK Box Programmhefte Argentinien und im Nachlass Paz. Kritiken von Fernando Vidal Buzzi, »Música Contemporánea Yugoslava«, in: Polifonía 6 (1951), H. 51, S. 14 sowie in La Nación 17.5.1951, S. 6.

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Kagel spielte in dem Konzert als einziger Pianist solistische Werke von Boris Papandópulo, Slavko Osterc, Lucijan Marija Škerjanc und Paz. Zudem bestritt er ein Recital allein mit Klavierwerken von Scriabin, Schönberg, Apostel, Paz und Bartók in der Stadt Córdoba im Landesinneren am 25. August, das zu den ANMKonzerten gezählt wurde. Die Tageszeitung Córdobas kündigte den »großen Pianisten Mauricio Kagel«61 an – zu einem Zeitpunkt, an dem Kagel erst begonnen hatte, öffentlich aufzutreten. 1952 und 1953 zeigte die ANM große Aktivität und eine gute Organisation. Sie gab ein jährliches Übersichtsprogramm für ihre Saison mit sechs Konzerten von Mai bis Oktober bzw. November heraus, für das sich freilich im Laufe des Jahres zahlreiche Änderungen und Ergänzungen ergaben, die jeweils in der Presse angekündigt und mit einzelnen kleinen Konzertprogrammen korrigiert wurden.62 Die Eintrittspreise waren im Vergleich zu 1950 um das drei- bis fünffache (1950 $ 3, 1952 $ 9 bzw. 1953 $ 16) gestiegen und spiegeln so die gewaltige Inflation dieser Jahre. Aus den einzelnen Konzertprogrammkärtchen geht hervor, dass die Konzerte in der Straße Florida 659 immer im Saal 128 stattfanden, der 200 Plätze bot. Der Jahresübersicht für 1952 war zudem zu entnehmen, dass man für $ 12 aktives Mitglied der ANM werden konnte (1953: $ 16). Deren Präsidentin war Sara Robirosa, Vizepräsidentin Odile Baron Supervielle, Sekretärin Lidy Prati de Maldonado und Schatzmeister Jorge Grisetti – eine interdisziplinär besetzte Vereinsleitung also, unter anderem mit einer Journalistin, einer bildenden Künstlerin sowie einem Architekten, Verlagsleiter und Pianisten in Personalunion. Zur künstlerischen Leitung gehörten neben Paz 1952 die Pianistin Noemí Saslavsky, Daniel Devoto, Mauricio Kagel und Juan de Prat Gay, 1953 nur noch Kagel und de Prat Gay. Auch unter den weiteren Mitgliedern finden sich neben den Musikern Francisco Kröpfl, Nelly Moretto, César Franchisena, Ricardo Becher und Adriana Fontana zum Beispiel Architekten wie Eduardo Polledo. Kontakt zur ANM konnte über eine Adresse und Telefonnummer im Zentrum von Buenos Aires aufgenommen werden. Die Mitglieder der Agrupación hatten im Jahr 1952 die Möglichkeit, an zwei Abenden im Monat gemeinsam Aufnahmen von Werken der Komponisten Schönberg, Berg und Webern, Bartók, Ives, Strawinsky, Honegger, Scriabin, Wischnegradsky, Carillo (Preludio a Cristóbal Colón), Varèse (Octandre), Albert Roussel und Paz auf Schallplatte oder Band zu hören, die in den Konzerten

61 Vgl. Diario Cordoba vom 24.8.1951: »gran pianista Mauricio Kagel«; PSS SMK Box Programmhefte Argentinien, Zeitungsausschnitt ohne Autor und Seitenangabe. 62 Die Übersichten und ein Teil der Einzelprogramme finden sich in PSS SMK Box Programmhefte Argentinien sowie im Nachlass von Juan Carlos Paz.

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Abbildung 1: Loser Notizzettel von Juan Carlos Paz 22.11.-4.12.1952

Nachlass Juan Carlos Paz.

Übersetzung: Heute Samstag 22. Nov. 52. / Unterricht mit Paco. Æ kopieren: »canon perpetuo« (DEDALUS) / Unterricht mit Fuentes. Æ Treffen mit Carrol etc. / lesen: »Surrealismus« Æ Treffen mit Aguirre etc. / Mittwoch 26. Nov. 52. / 77. Konzert der ANM / – Premiere von Kagel als Komponist / – Treffen in FLORIDA, mit Mónica, Cazzaniga, Kagel, Grisetti, Polledo, Bullrich. – / danach: Treffen mit Mónica, im JOCKEY CLUB – / danach: Treffen mit Rausch und Carrol. – / es müssen mir zurückgeben: / ĺ Paco: Sinf. op. 9 (Schönberg) ___ / Kágel: muss mir zurückgeben / A. Haba – Toccata. ĸ1. / Schönberg – op. 14 und 15 ĸ 2.3. / Ch. Ives – 2 Hefte Lieder / 29. Nov_52. / Unterricht mit Paco – / Unterricht mit Fuentes – / Mittagessen mit Paco, Kröpfl, Daniel – / Treffen mit Poeten Kröpfl, Daniel und Paco / lesen: Rien que la terre […] / 30. Nov_52 / »RITMICA« überarbeiten / Unterricht mit POJ / Treffen mit Poeten / Abendessen bei Chipy / Herrliche Zeit mit Chipy verbracht / lesen: PROUST. / 1.°Dezember_52. / Saison 53 planen / überarbeiten: RITMICA OSTINATA. / Unterricht mit Odile_ / Chipita besuchen. / ANMTreffen (Grisetti) / lesen: ° …/ braunen Anzug zum ersten Mal tragen / 2. Dezember_52 / Unterricht mit Colautti / Gespräch mit Pirovano / in FLORIDA bummeln / Gespräch mit Kágel / Chipy besuchen! / Abendessen mit Colautti / zeitig schlafen gehen / lesen: »Rien que la terre« / 3. Dezember 52. / Unterricht mit Becher / lesen: PASSACAGLIA / Besuch von ? / lesen: Der Roman in den USA nach dem Krieg / lesen: »Rien que la terre« / 4. Dezember_52_ / Chipy besuchen.

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nicht zur Aufführung kamen. Sie wurden ebenso wie Kompositionen, die in den bevorstehenden Konzerten erklingen sollten, kommentiert. Hinter der dafür auf dem Jahresprogramm angegebenen Location Cerrito 1371 verbarg sich die Adresse des Verlags nueva visión, des Studio axis und der Gruppe oam. Wie sich die Kontakte der ANM abseits der Konzerte gestalteten, lässt sich anhand von Paz’ Tagebuchskizzen Ende 1952 erahnen (vgl. Abb. 1). Daraus geht hervor, dass Paz einzelnen Mitgliedern der ANM wie Juan de Prat Gay (alias Paco) oder Odile Baron Supervielle Unterricht erteilte, sich mit anderen informell traf, gemeinsam aß etc. Kagel und Kröpfl erhielten zwar keinen Unterricht mehr, trafen sich jedoch regelmäßig mit ihm. Bei dem Treffen mit Kagel am 26. November – offenbar nach dem Konzert mit der Uraufführung seiner Variaciones para cuarteto mixto – waren bezeichnenderweise auch vier Mitglieder der oam zugegen: Francisco Bullrich, Alicia Cazzaniga, Jorge Grisetti und Eduardo Polledo. Paz notierte sich auch, dass Kagel ihm noch die Rückgabe einiger Partituren schuldete: Schönbergs Lieder op. 14 und 15, zwei Hefte mit Liedern von Ives, aus denen in dem Konzert wohl drei von Hilde Mattauch und einem nicht genannten Pianisten – Kagel? – interpretiert worden waren,63 sowie die Toccata von Hába, die er schon im September 1950 in der ANM gespielt hatte. Bei den Versammlungen mit Kröpfl waren Juan de Prat Gay, Zoltan Daniel sowie Poeten anwesend. Paz traf sich in diesen wenigen Tagen zudem mit Raúl Gustavo Aguirre, dem Herausgeber der Zeitschrift Poesía Buenos Aires und mit Ignacio Pirovano, dem damaligen Präsidenten der Comisión Nacional de Cultura. Die Treffpunkte (Bar?) Florida und Jockey Club zeigen deutlich, dass sich der ANM-Kreis im Intellektuellenghetto rund um die Kreuzung der Straßen Viamonte und Florida bewegte, wo sich der Jockey Club, die geisteswissenschaftliche Fakultät der Universität, die Büros von Sur sowie unzählige Buchhandlungen und Bars befanden (vgl. oben S. 63). In einer anderen Notiz verbuchte Paz das Jahr 1952 mit sieben Konzerten der ANM als sehr erfolgreich. Kröpfl wirkte in diesem wie auch im folgenden Jahr nicht mehr als Interpret der Gruppe mit. Er hatte gemeinsam mit Zoltan Daniel und Raúl Gustavo Aguirre die Galerie Krayd64 für nicht-figurative Kunst ins Le-

63 Möglicherweise handelte es sich um die Ausgaben des New Music Quarterly vom Oktober 1933 und Oktober 1935: Thirty-Four Songs bzw. Nineteen Songs, in denen die drei Lieder »Tolerance«, »A farewell to land« und »From Paracelsus«, die bei der ANM am 26.11.1952 erklangen, gedruckt erschienen waren. 64 »Kr« für Kröpfl, »a« für Aguirre, »y« für und, »d« für Daniel. Aguirre stieg offenbar noch vor der Galerieöffnung wieder aus dem Projekt aus: vgl. Cristina Rossi, »Vanguardia concreta rioplatense: Acerca del arte concreto y la música«, auf:

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ben gerufen, die seine Betätigung als Musiker einschränkte. Er hielt allerdings weiterhin Kontakt mit der ANM und komponierte. Die Galerie annoncierte in verschiedenen Kunstzeitschriften wie nueva visión und verkaufte Bücher und internationale Zeitschriften zu Kunst, Literatur und Musik in mehreren Sprachen. Paz besuchte sie regelmäßig; auch ein Teil der Aktivitäten der ANM verlagerte sich schon 1953 in die Galerie: So fanden die Vorträge mit Schallplatten- und Tonbandaufnahmen 1953 in ihren Räumen statt; für Juni wurden an drei und für September an fünf Abenden Kurse von Paz über zeitgenössische Musik mit den Themenschwerpunkten: »Zu einem neuen Stil«, Schönberg (op. 23, op. 45), Berg und Webern (u. a. Webern op. 24), neue Objektivität, Ives und Varèse angekündigt.65 Am gleichen Ort referierte Boulez ein Jahr später. An den in den öffentlichen Konzerten realisierten Programmen, deren Spektrum sich in der Besetzung und den vertretenen Komponisten entschieden erweiterte, lässt sich zweierlei ablesen: Erstens konnte die ANM finanziell mehr leisten, was ab dem politisch-ökonomischen Krisenjahr 1952 erstaunlich und möglicherweise der Sponsorensuche durch die Bankierstochter Odile Baron Supervielle zu verdanken ist; und zweitens kamen Weberns Spätwerke op. 22 bis 24 nun genauso zu Gehör wie das erste Werk von Kagel. In der Übersicht (vgl. Tabelle 2) sind, soweit bekannt, die tatsächlich realisierten Programme mit den beteiligten Interpreten aufgeführt. Kagel war in diesen zwei Jahren in der ANM außerordentlich aktiv. Seine Mitwirkung als Pianist wurde nun durch Chor- und Ensembleleitung ergänzt, er trat auch als Komponist und sogar als Kritiker zum ersten Mal namentlich in Erscheinung. Hervorzuheben sind folgende Konzerte: 1. Mit dem Homenaje-Konzert für Schönberg am 13. Oktober 1952 feierte die ANM auch ihr 15-jähriges Bestehen. Dieses Konzert stellte einen Sonderfall dar, weil es im größeren Teatro Odeón stattfand und breitere Publikumsschichten anzog. Das Programmheft war aufwändig mit einem mehrfarbigen Umschlag gestaltet und enthielt neben umfangreichen Ausführungen zum Programm (in der Reihenfolge Webern, Schönberg, Paz) unter anderem zahlreiche Anzeigen von Firmen, die mit der ANM durch ihre Mitglieder verbunden waren, wie die Bank Supervielle, das Möbelhaus comte von Igancio Pirovano, der mit Paz befreundet war, Maldonados Studio axis oder die Galerie Krayd. Teodoro Fuchs trat als Dirigent einer großen Besetzung in Erscheinung, die sonst für die ANM eher untypisch war. Diese war aber nötig, um Weberns Konzert für neun Instrumente

http://icaadocs.mfah.org/icaadocs/Portals/0/WorkingPapers/No1/Cristina%20Rossi.pd f (16.8.2012), S. 13. 65 Vgl. Ankündigung auf Jahresprogramm ANM 1953 und Handzettel »5 temas de música contemporánea« im Nachlass Paz sowie Corrado, Vanguardias al Sur, S. 190.

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Tabelle 2: ANM-Konzerte 1952 / 53 72

Freitag 30.5.1952 18.15 Uhr66 Florida 659

Strawinsky: Duo concertante Schönberg: op. 25 KĜenek: 12 piezas para piano Paz: Composición en trio Hindemith: op. 24

Lysy, Rautenstrauch Castronuovo Castronuovo Conjunto de instrumentos de viento Buenos Aires

73

Freitag 27.6.195267 18.15 Uhr Florida 659

Hindemith: op. 37 Wellesz: op. 34 Perle: Sonata Paz: 2. Streichquartett

Kagel Grisetti, Guigui Spierer Spiller, Spierer, Heinitz, Weil Guigui, Kagel / Grisetti (?) Levy, Perona, Guigui, Chiambaretta

Berg: 4 Stücke op. 5 Riegger: Three Canons

74

Freitag 25.7.195268 18.15 Uhr Florida 659

Santoro: Cuarteto de cuerdas Hindemith: Sonata Perle: Quartet No. 3, op. 21 Strang: Divertimento

Lysy, Blech, Sternic, Kertesz Chiambaretta, Kagel Levy, Perona, Guigui, Chiambaretta

66 Vgl. Kritik von F. K. in BAM 7 (1952), H. 107, S. 3. 67 Vgl. Kritik in La Nación 28.6.1952, S. 5 und in La Prensa 28.6.1952, S. 6. 68 Im Konzertprogramm war zudem die Uraufführung von Francisco Kröpfls Komposition Música para flauta y clarinete angegeben, die von Hand in allen Einzelprogrammen wieder durchgestrichen wurde. Dennoch berichtet eine nachträgliche Kurznotiz in BAM 7 (1952), H. 110, S. 5 von dem ursprünglich geplanten Programm. Hatte kein Kritiker das Konzert besucht und von der Programmänderung Notiz genommen? Auch in La Nación 25.7.1952, S. 4 und in La Prensa 25.7.1952, S. 6 wird das Konzert angekündigt, es folgt aber keine Kritik. Das Fehlen von »echten« Besprechungen in der Presse könnte einerseits auf den Ausfall des Konzerts hinweisen, andererseits aber auch mit Eva Duartes Krankheit und Tod am 26.7.1952 begründet werden, dem mehrere Tage Staatstrauer folgten.

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Freitag 3.10.195269 18.15 Uhr Florida 659

Freitag 19.9.195270 18.15 Uhr Florida 659

Weber: Piano Suite op. 8 (1940-41) Schönberg: op. 33 Kröpfl: Música para flauta y clarinete Schönberg: op. 15 (5 Lieder) Dallapiccola: Rencesvals

Kagel

Berg: op. 1 Wellesz: Dos piezas op. 34 Schönberg: op. 25 Webern: op. 27 Berg: op. 5

Castronuovo / Grisetti (?)

Levy, Guigui Mattauch, Castronuovo

Guigui

69 Dieses Konzert war ursprünglich für den 22.8.1952 geplant, wurde aber mehrmals verschoben und hat wahrscheinlich erst nach dem Konzert Nr. 76 stattgefunden. Eine Kurznotiz in BAM 7 (1952), H. 112, S. 2 berichtete vom geplanten Programm, das erneut Kröpfls Música para flauta y clarinete enthielt. La Nación kündigte das Konzert am 29.8.1952 an und verkündete am 30.8.1952, dass es aufgrund technischer Probleme verschoben wurde (vgl. jeweils S. 4). Auch La Prensa 29.8.1952, S. 6 vermeldete das Konzert, allerdings mit einem anderen Programm, das noch Werke von Strawinsky und Crawford enthielt. La Prensa 3.10.1952, S. 6 kündigte das Konzert erneut mit Werken von Weber, Schönberg, Dallapiccola, Kröpfl und Crawford an. Der Kritiker Enzo Valenti Ferro von BAM 7 (1952), H. 115, S. 2 schrieb zu Kröpfls Komposition: »Música para flauta y clarinete, de Francisco Kröpfl, que se ofrecía en calidad de estreno y que no escuchamos.« – »Música für Flöte und Klarinette von Francisco Kröpfl, die sich als Erstaufführung ankündigte und die wir nicht gehört haben.« Ist der Rezensent zu spät gekommen oder früher gegangen? Dass das Stück erklungen ist, legt jedenfalls die Besprechung in La Nación 4.10.1952, S. 4 nahe, die ihm eine »interesante realización técnica« (»interessante technische Umsetzung«) attestierte. Zudem ist ihr zu entnehmen, dass das Streichquartett von Ruth Crawford aufgrund einer Erkrankung von Alberto Lysy entfallen musste. 70 Ursprünglich war für diesen Termin das Konzert Hommage à Schönberg geplant, das im Oktober als großes Sonderkonzert im Teatro Odeón stattfand. Dass am 19.9.1952 dennoch ein Konzert im Rahmen der ANM-Reihe stattfand und das Programm die hier genannten Werke aufwies, geht aus folgenden Quellen hervor: Programmzettel, der im Umschlag des Buchs Heinrich Heine, Florentinische Nächte, Basel 1948 (aus Kagels Bibliothek in PSS SMK) steckte; Kritik in La Nación 20.9.1952, S. 4.

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Sonderkonzert 13.10.195271 21.30 Uhr Teatro Odeón

Homenaje à Schönberg Paz: Dédalus 1950 Schönberg: Ode to Napoleon Buonaparte (2x) Webern: op. 24

Levy, Guigui, Castronuovo, Cherry, Spiller, Spierer, Heinitz, Weil, Pinto, Perona, Mazzitelli, Fugiurele, Faure, Leitung: Fuchs

Freitag 26.11.195272 18.15 Uhr Florida 659

Wildberger: Suite Webern: op. 7 (2x) Ives: Lieder (»Tolerance«, »A farewell to land«, »From Paracelsus«) Weber: Lieder (»Pour me this libations«, »From my sacred solitude«, »Do you know«) Kagel: Variaciones para cuarteto mixto Bartók: 2. Sonate

Rautenstrauch / Grisetti / Kagel, Spierer Mattauch, Kagel (?)

Perle: 4. String Quartet

Spierer, Blech, Sternic, Kertesz Levy, Barrios (oder Guigui?), Perona Spierer (oder Blech?) wie Perle s. o.

Freitag 8.5.195373 18.15 Uhr Florida 659

Riegger: Duos for Three Woodwinds op. 35 Wellesz: Sonata op. 36 Paz: 1. Cuarteto

Levy, Guigui, Spierer, Kertesz Spierer, Grisetti (?)

71 Vgl. Romano, Vidas de Paz, S. 61. Kritiken in La Nación 14.10.1952, S. 4 und BAM 7 (1952), H. 116, S. 1. Der Live-Mitschnitt des ersten Konzertteils ist unter dem Titel Raras partituras 8: Juan Carlos Paz von der Biblioteca nacional in Buenos Aires 2011 herausgegeben worden (epsa music 1358-02). 72 Vgl. Kritik in La Nación 27.11.1952, S. 6. 73 Ursprünglich war das Konzert erst für den 15.5.1953 und mit einem Streichquartett von Ruth Crawford geplant (Vorschau der ANM für die Saison 1953). Kurzankündigungen dann in La Nación 8.5.1953, S. 4 und La Prensa 8.5.1953, S. 6 sowie etwas ausführlicher in BAM 8 (1953), H. 120, S. 3 mit dem Quartett von Perle, das auch auf einem einzelnen Programmzettel im Nachlass Paz genannt wird. Es existieren keine Konzertkritiken – möglicherweise aufgrund der politischen Ereignisse im April 1953 (vgl. oben S. 48) – dafür aber Mitschnitte auf Pyral-Platten: PSS MK LPS 10 und 11 (Wellesz und Paz), vgl. MK CD 328, Track 1-4.

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Freitag 5.6.195374 18.15 Uhr Florida 659

Weber: Second string quartet op. 35 KĜenek: 3. Sonate op. 92, Nr. 4 Webern: op. 22 Franchisena: Cuarteto de cuerdas

Spierer, Blech, Sternic, Kertesz Fontana Spierer / Blech, Guigui, Rausch, Fontana wie Weber s. o.

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Freitag 3.7.195375 18.15 Uhr Florida 659

Webern: op. 23 Dallapiccola: Due liriche di Anacreonte Kagel: Variaciones para cuarteto Wildberger: Quartetto per Flauto, Clarinetto, Violino e Violoncello (1952) Paz: 1. Cuarteto

Mattauch, Kagel Mattauch, Guigui, Barrios, Sternic, Kagel Levy, Guigui, Spierer / Blech, Kertesz Levy, Guigui, Spierer / Blech, Kertesz Spierer, Blech, Sternic, Kertesz

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Freitag 7.8.195376 18.15 Uhr Florida 659

Cebrón: Trio de aire Piston: Three pieces for flute, clarinet and bassoon Webern: op. 12 Hindemith: op. 18 , Nr. 1, 3, 6 Becher: Extensión I–V Schönberg: Fantasie op. 47

Levy, Guigui, Chiambaretta Mattauch, Kagel / Grisetti? Grisetti Spierer, Kagel / Grisetti?

74 Vgl. Kritiken in La Nación 6.6.1953, S. 4 und in La Prensa 6.6.1953, S. 6. Mitschnitt auf Pyral-Platte: PSS MK LPS 12 und 13 (u. a. KĜenek und Webern), vgl. MK CD 328, Track 5-8. 75 Vgl. Kritiken in BAM 8 (1953), H. 125, S. 2 und in La Nación 4.7.1953, S. 4. Mitschnitt auf Pyral-Platte: PSS MK LPS 14 (Webern, Dallapiccola), 15 (Wildberger) und 16 (Kagel), vgl. MK CD 324, Track 3 / 4 und MK CD 329, Track 1-4. 76 Vgl. Ankündigungen in La Nación 7.8.1953, S. 4 und in La Prensa 7.8.1953, S. 6, allerdings mit Werken von Cebrón, Leibowitz, Rausch, Webern und Schönberg wie auf Saisonübersicht 1953. Das hier angegebene Programm folgt den Angaben auf einem Einzelprogramm im Nachlass Kagels. Es konnten keine Besprechungen aufgefunden werden, aber Mitschnitte auf Pyral-Platte in PSS (MK LPS 8 und 9) lassen sicher auf

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Freitag 11.9.195377 18.15 Uhr Florida 659

Bartók: Contrastes

Freitag 16.10.195378 18.15 Uhr Florida 659

Strawinsky: Sonata para piano Käfer: 2 piezas Apostel: Quartett op. 14

Rausch: Construcción I Hindemith: Sonate für zwei Klaviere Weber: Ninth Sonnet Strang: Three Whitman Excerpts Osterc: Magnificat

Paz: Concierto Nr. 2

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Rautenstrauch, Guigui, Spierer Rausch Klavierduo: Tila und John Montés Kagel dirigiert Chor der ANM + Grisetti, Milchberg

Castronuovo Fontana, Guigui Levy, Guigui, Faure, Chiambaretta Castronuovo, Perona, Furgiele, Faure, Parrondo, Chiambaretta Leitung: Kagel

op. 24 sowie Schönbergs Ode to Napoleon Buonaparte op. 41 zu Gehör zu bringen. Zudem wurde Paz’ Dédalus 1950 für Amerika erstaufgeführt. Kagel schrieb zu diesem Konzert eine Kritik in Buenos Aires Literaria, die in der Ausgabe vom Februar 1953 erschien und aus der seine Bewunderung für Schönberg und seine Verehrung für Paz spricht.79 Webern bezeichnete er zwar als »Höhepunkt der langsamen Veränderung der westlichen Musik auf der Suche nach einem größeren diskursiven Abstraktionsgrad«,80 seine Musik sei allerdings bei der ersten Begegnung schwer zu erfassen. Sie fordere damit eine Neubeachtung der Kunst des Hörens. Dabei unterstrich Kagel jedoch, dass es noch mehr Kraft kos-

Piston, Schönberg sowie Hindemith op. 18, Nr. 1, 3 und 6 schließen, vgl. MK CD 325, Track 5-8 sowie CD 327, Track 9-10. 77 Vgl. Kritik in La Nación 12.9.1953, S. 4. 78 Vgl. Kritiken in La Nación 18.10.1953, S. 4 und BAM 8 (1953), H. 132, S. 1. 79 Auf diese Kritik ist bereits Jürg Stenzl, »Woher – wohin?«, S. 24 f. eingegangen. 80 Mauricio Kágel, »Homenaje a Schönberg en la Agrupación Nueva Música«, in: Buenos Aires Literaria (1953), H. 5, S. 59-64, hier S. 62: »punto culminante de la lenta metamorfosis que cumple la música occidental, en busca de una mayor abstracción discursiva«.

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te, sie zu verstehen und zu genießen, solange die Aufführungsmöglichkeiten so prekär seien wie bisher. Und er forderte: »No esperemos que las próximas generaciones ›descubran‹ su genio, aparentemente secreto en nuestros días.«81 2. Kagels öffentliches Auftreten als Komponist begann am 26. November 1952 mit der Uraufführung seiner Variaciones para cuarteto mixto in der Interpretation von Gerardo Levy (Flöte), Efraín Guigui (Klarinette), León Spierer (Violine) und Tiberio Kertesz (Violoncello). Das Ereignis notierte auch Paz in seinen Tagebuchnotizen: »Miércoles 26 Nov. 52. audición 77. de la A.N.M. – Estreno de Kágel como compositor« (vgl. Abb. 1). Das Konzert wurde zwar in La Nación besprochen, der Kritiker ging aber nicht besonders auf Kagels Komposition ein. Das Stück wurde in gleicher Besetzung im Juli 1953 nochmals wiederholt und erhielt auch dann keine aussagekräftigen Kritiken. Allerdings wurde es diesmal aufgenommen und liegt als Plattenmitschnitt in Kagels Nachlass vor.82 3. Ein einmaliges Ereignis stellte das Konzert am 11. September 1953 dar, in dem Kagel den »Chor der ANM« dirigierte. Ein Kritiker von La Nación attestierte dem Chor unter Kagels Leitung einige Qualitäten: »En la última parte del detalle intervino el conjunto coral de la entidad, que bajo la hábil dirección de Mauricio Kagel puso de manifiesto buenas calidades de equilibrio y cohesión; hizo escuchar con éxito números de Ben Weber y Gerald Strang, asi como el ›Magnificat‹, de Slavko Osterc.«83

Vollkommen unklar ist, woher dieser Chor kam und wer darin mitsang. Gegenüber Curt Lange gab Kagel 1956 an, dass er 1953 mit der Gründung und Leitung

81 Ebd., S. 63: »Warten wir nicht, dass die folgenden Generationen sein Genie entdecken, das heute offensichtlich verborgen ist.« 82 PSS MK LPS 16, vgl. MK CD 329, Track 3-4. 83 Kritik in La Nación 12.9.1953, S. 4: »Im letzten Teil des Abends trat der Chor der Gesellschaft auf, der unter der geschickten Leitung von Mauricio Kagel seine guten Qualitäten in Balance und Zusammenklang bekundete; er ließ erfolgreich Werke von Ben Weber und Gerald Strang sowie das ›Magnificat‹ von Slavko Osterc erklingen.« Gerald Strangs Three Whitman Excerpts sind in fotokopierter Partitur mit Eintragungen in Kagels Nachlass erhalten, Ben Webers Ninth Sonnet von 1949 findet sich in einer handschriftlichen Abschrift: PSS SMK Manuskripte anderer Komponisten. Osterc’ neoklassizistisches Magnificat wurde schon im Jahr 1939 in den Konzerten Neuer Musik aufgeführt, vgl. Corrado, Vanguardias al Sur, S. 115.

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des ANM-Chors beauftragt worden war.84 Vielleicht rekrutierte er Sängerinnen und Sänger aus dem Chor der Sociedad Hebraica Argentina, mit dem er zu diesem Zeitpunkt bereits arbeitete, und / oder er gewann über seine damalige Freundin María Adela Palcos, die im Chor des Collegium Musicum sang, die Stimmen. Interessant ist die Teilnahme von Jorge Milchberg als Pianist bei Osterc’ Magnificat für Chor und zwei Klaviere: Milchberg war auch Kagels Partner bei der im gleichen Jahr stattfindenden Einstudierung der Filmmusik zu entr’acte. Zudem fertigte er nicht-kommerzielle Mitschnitte einiger Konzerte der ANM und anderer Konzertgesellschaften an.85 Von diesem 82. Konzert existiert zudem ein separater gelber Werbe- bzw. Programmzettel, auf dem in einer Fußnote zu lesen ist: »Carlos Rausch […] forma parte del grupo argentino de compositores dodecafonistas, integrado además, por Nelly Moreto, Juan Carlos Paz, Mauricio Kagel, César Franchisena y Ricardo Becher.«86 Die Konstitution dieser Gruppe erfolgte bezeichnenderweise Mitte des Jahres 1953 zeitgleich zur verstärkten Webern-Rezeption in Europa.87 4. Zu den Planungen für das Konzert am 16. Oktober 1953 ist Folgendes festzuhalten: In der Programmübersicht für 1953 wird neben drei [sic] rhythmischen Studien von Messiaen und dem 3. Streichquartett von Schönberg ein Sextett für gemischte Besetzung – Flöte, Klarinette, Trompete, Violine, Viola, Violoncello – von Kagel angekündigt, die später alle durch andere Stücke ersetzt wurden. Warum Kagels Sextett nicht zur Aufführung kam, ist unbekannt, denn das erste erhaltene Manuskript, aus dem später Kagels Streichsextett geworden ist, war bis September 1953 komponiert worden (vgl. unten S. 268 f.). Vielleicht gab es Schwierigkeiten mit der Besetzung, denn im tatsächlich stattfindenden Konzert erklangen nur Bläser und Klavier in Werken von Strawinsky, Johannes Käfer, Apostel und Paz, wobei Kagel das kleine Ensemble dirigierte. Er wurde zwar in dieser leitenden Funktion in den Konzertkritiken genannt, aber nicht besonders hervorgehoben. Verwunderlich ist die Programmänderung auch im Hin-

84 Vgl. Brief von Kagel an Lange vom 3.9.1956, S. 3 (ACL / vgl. Anhang S. 309). 85 Vgl. E-Mail von Jorge Milchberg an d. Verf. vom 17. und 18.1.2011 (vgl. Anhang S. 304). Die Mitschnitte auf Pyral-Platten von Konzerten der ANM 1953 im Nachlass Kagels wurden also möglicherweise von Milchberg produziert. 86 PSS SMK Box Programmhefte Argentinien: »Carlos Rausch […] ist Teil der argentinischen Gruppe von Zwölftonkomponisten, zu der außerdem Nelly Moretto, Juan Carlos Paz, Mauricio Kagel, César Franchisena und Ricardo Becher gehören.« 87 Vgl. Gianmario Borio / Hermann Danuser (Hg.), Im Zenit der Moderne. Die internationalen Ferienkurse für Neue Musik Darmstadt 1946-1966, Freiburg i. Br. 1997, Bd. 1, S. 213 ff. und »Junge Komponisten bekennen sich zu Webern«: ebd., Bd. 3, S. 58-65.

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blick auf eine Selbstdarstellung der ANM in der ersten Ausgabe der Zeitschrift Letra y Línea noch vom Oktober 1953:88 Nach dem Bericht über die vergangene Saison 1952, in der die ANM aufgrund interner Neustrukturierung ihre Aktivitäten habe ausweiten können, folgte die Präsentation der argentinischen ZwölftonGruppe mit den gleichen Mitgliedern wie auf dem oben erwähnten Programmzettel des 82. Konzerts, nur ohne Paz, sowie die Ankündigung der kommenden Konzerte. Eines werde nur diesen neuen Komponisten gewidmet sein, die anderen würden unter anderem die Suite op. 29 von Schönberg, die Symphonie op. 21 von Webern, Messiaens rhythmische Studien und Kagels Sextett bringen. Diese Vorhaben wurden jedoch vorerst nicht Realität, teilweise um Jahre verschoben oder nie in der ANM aufgeführt. Die Programme der Jahre 1952 / 53 spiegeln grundsätzlich erneut die Ergebnisse, die Paz’ Briefwechsel mit Ben Weber, Ernst KĜenek, Henry Cowell, Hermann Scherchen, Luigi Dallapiccola, René Leibowitz oder Jacques Wildberger zeitigte. Besonders enge Kontakte durch Briefe und Treffen bestanden zudem mit Koellreutter:89 Dieser hatte unter anderem bei Hermann Scherchen studiert, lebte seit 1937 in Brasilien und hatte dort die Gruppe Música viva ins Leben gerufen.90 Kompositionen von ihm und seinen Schülern wurden in den vierziger Jahren immer wieder in der ANM gespielt. Koellreutter erlebte die Entwicklungen in Europa direkter mit als seine südamerikanischen Kollegen und informierte sie regelmäßig: 1949 reiste er nach Europa und war bei den Ferienkursen in Darmstadt; bei seinem Besuch in Buenos Aires 1950 berichtete er sogar vom Zwölftonkongress 1949 in Mailand.91 Im folgenden Jahr referierte er selbst in Darmstadt über die Musik in Lateinamerika. In seinem Vortrag bezeichnete er Paz’ Música 1946 und Dédalus 1950 als »wichtige Beiträge zur Entwicklung der Zwölftontechnik«. Leider waren »beide Werke, die längst in Buenos Aires per Luftpost abgesandt wurden, noch nicht eingetroffen«.92 Koellreutter hat auf die-

88 Vgl. ohne Autor, »Agrupación Nueva Música«, in: Letra y Línea (1953), H. 1, S. 5. Da aber auch auf Werke hingewiesen wurde, die im September-Konzert der ANM erklangen, war der Beitrag sicher viel früher entstanden. 89 Viele bisher unveröffentlichte Briefe von Paz an Koellreutter zitiert Corrado, Vanguardias al Sur, passim. 90 Carlos Kater, Música viva e H. J. Koellreutter, movimentos em direção à modernidade, São Paulo 2001, besonders S. 42 ff. und Chronologie S. 178 ff. 91 Vgl. ohne Autor, »H. J. Koellreutter ha estado en Buenos Aires«, in: BAM 5 (1950), H. 73, S. 2. 92 Hans Joachim Koellreutter, »Neue Musik in Südamerika« [1951], in: Borio / Danuser, Im Zenit der Moderne, Bd. 3, S. 171-177, hier S. 175 f. Noch 1951 gelang Koellreutter

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ser Reise offensichtlich Komponisten den Kontakt mit Paz empfohlen, so dass sich zum Beispiel Wildberger schon im Oktober 1951 schriftlich an Paz wandte93 und ihm Stücke für Klavier schickte, die 1952 in der ANM aufgeführt wurden. Koellreutter berichtete über seine europäischen Erfahrungen auch öffentlich in Lateinamerika; so schrieb er in Arte Madí 1952 über die neuesten Entwicklungen in ungetrübtem Fortschrittsglauben: Kunst müsse immer etwas Neues präsentieren, einen individuellen Zug und Stil haben, durch den sie sich von Vorangegangenem unterscheide. Sie dürfe in der Entwicklung nicht stehen bleiben, was er in der brasilianischen Musik nach Heitor Villa-Lobos jedoch beobachte. Analog zur Befreiung der bildenden Kunst vom Naturalismus emanzipiere sich die Musik vom Thema, den vorgefertigten Formen, der Kadenz, dem Programm und jeglichem Ausdruck, um reine Musik zu sein: »Música esencial. Música sin contrapunto y armonía. Anton Webern indicó el camino. Pierre Boulez, John Cage, Christian Wolff, Morton Feldman, Olivier Messiaen, Henry [sic] Schaeffer, Pierre Henry, George Duhamel, Elizabeth Lutyens, Luigi Nono, E. Th. Martinet, de la más nueva generación de compositores europeos, lo están siguiendo. Para todos ellos la música es estructura, movimiento de tiempo y espacio sonoro. Movimiento significa variación. Variación de la altura y el sonido, en la construcción de intervalos lineares, determina el movimiento ›melódico‹. Variación de la masa sonora en la construcción de intervalos verticales, determina el movimiento ›armónico‹. Variación de la duración del sonido en la construcción de intervalos métricos determina el movimiento ›rítmico‹. Los principios de contrapunto y armonía son sustituídos por principios de proporción y relación numérica.«94

offenbar die Uraufführung von Dédalus 1950 in der Schweiz, vgl. Corrado, Vanguardias al Sur, S. 176, allerdings ohne präzise Angabe von Datum und Ort. 93 Brief von Wildberger an Paz vom 11.10.1951 im Nachlass Paz. 94 Arte Madí (1952), H. 6, o. S.: »Reine Musik. Musik ohne Kontrapunkt und Harmonie. Anton Webern wies den Weg. Pierre Boulez, John Cage, Christian Wolff, Morton Feldman, Olivier Messiaen, [Pierre] Schaeffer, Pierre Henry, George Duhamel, Elizabeth Lutyens, Luigi Nono, E. Th. Martinet [?], aus der jüngsten europäischen Komponistengeneration, folgen ihm. Für sie alle ist Musik Struktur, Bewegung in der Zeit und klanglicher Raum. Bewegung bedeutet Variation. Variation der Tonhöhe und des Klangs, in der Konstruktion linearer Intervalle, bestimmt die ›melodische Bewegung‹. Variation in der klanglichen Masse in der Konstruktion vertikaler Intervalle bestimmt die ›harmonische‹ Bewegung. Variation der Tondauern in der Konstruktion von metrischen Intervallen bestimmt die ›rhythmische‹ Bewegung. Die Prinzipien von Kon-

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Im Anschluss erwähnte Koellreutter die Schritte auf dem Weg zur Elektronischen Musik mit Pierre Schaeffers Manipulation aufgenommener Klänge in Paris und Werner Meyer-Epplers elektronischen Instrumenten in Bonn. Dabei hatte Koellreutter den Eindruck, dass sich in der kleinen Geburtsstadt Beethovens und damaligen Bundeshauptstadt durch die Entwicklung der Technik die größte Veränderung der musikalischen Grundlagen abspielte. Er kam zu dem Schluss, dass sich die Musik wie die bildende Kunst der Funktionalität öffnen und zu einer zukünftigen sozialen Kunst gehören würde, wie er es – besonders in der Schweiz – in der urbanen Architektur, der Grafik oder dem Industriedesign beobachtete. Damit würde sie auch den Anforderungen der großen populären Künste – Rundfunk und Film – entsprechen. Bisherige soziale Formen wie bürgerliche Konzertkultur und Oper seien dagegen bereits dem Tod geweiht, es bringe nichts, sie zu erhalten und zu verteidigen. In diesem Credo Koellreutters erscheinen alle Facetten, die Kagels kompositorische Arbeit der Jahre 1953 und 1954 kennzeichnen: Beschäftigung mit Filmmusik, Aufnahme von Klängen und deren Kombination für Música para una torre, Tonhöhen-, Klang- und Tondauerngestaltung nach den Prinzipien der Variation und in Webern-Nachfolge. Nach der Aufführung seiner Variaciones para cuarteto mixto in der ANM im November 1952 arbeitete Kagel an weiteren Kompositionen: Die bis 1954 entstandenen und in seinem Nachlass aufbewahrten Werke Sexteto, Cinco canciones del Génesis sowie Cuatro piezas para piano wurden in der ANM jedoch nicht mehr aufgeführt. Bruch und Nachhall in Europa Ob und inwiefern Kagel in der Saison 1954 noch in der ANM aktiv war, bleibt ungeklärt. Zwar gab er 1992 rückblickend an, er sei »zwischen 1951 und 56 dort als Pianist und Komponist«95 öfter aufgetreten, aber schon in der Programmübersicht für das Jahr 1954, in der das erste Konzert für den 24. Juni angekündigt wurde, taucht er nicht mehr auf, weder als Mitglied, noch als Interpret oder Komponist. Dagegen spricht eine Ankündigung in Letra y Línea vom Juli 1954 noch davon, dass in der aktuellen Konzertsaison der ANM neben argentinischen Erstaufführungen wie den Streichquartetten op. 37 von Schönberg und op. 28 von Webern, Boulez’ Zweiter Sonate und Roman Haubenstock-Ramatis Ricer-

trapunkt und Harmonie werden durch Prinzipien der Proportion und numerische Beziehungen ersetzt.« 95 Brief von Kagel an Thomas Schäfer vom 8.6.1992 in: PWJ, Mappe 1 im Karton »Materialien zur Agrupación Nueva Música«.

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cari »Werke der argentinischen Zwölftöner Nelly Moretto, Carlos Rausch, Ricardo Becher, Mauricio Kagel, César M. Franchisena und Juan Carlos Paz«96 uraufgeführt würden. So wie Kagel fehlen auch Schönbergs und Weberns Streichquartette sowie Haubenstock-Ramati im erwähnten Jahresprogramm der ANM; immerhin bemerkenswert ist, dass sie zumindest bekannt und geplant waren. Laut Aussagen Kröpfls97 war Kagel während des Aufenthaltes von Pierre Boulez in Buenos Aires im Juli 1954 bei den Zusammentreffen des Franzosen mit der ANM zugegen, aber nicht mehr fester Bestandteil der Gruppe. Es sei zwischen Paz und Kagel zu Unstimmigkeiten gekommen, die mit der Konzertorganisation, die Kagel zum großen Teil übernommen hatte, zusammenhingen. Als Paz sich nicht mehr genug informiert fühlte und dies kritisierte, habe sich Kagel jäh aus der ANM zurückgezogen. Ob auch ästhetische Kontroversen ausschlaggebend waren, inwieweit beide Komponisten danach überhaupt noch miteinander kommunizierten und wie stark der Grad der Auseinandersetzung war, ist nicht belegt. Erkennbar ist aber, dass Paz sowohl Kagel als auch Kröpfl, die sich von der ANM entfernten, in seinem Buch Introducción a la música de nuestro tiempo, das er 1954 beendete und das 1955 im Verlag nueva visión erschien, kaum Beachtung schenkte. Während er Werken von Nelly Moretto, Carlos Rausch und von ihm selbst Raum für analytische Ausführungen gab sowie Gielen für seine Kompositionen großer expressiver Dichte wortreich lobte, wurde Kagel nur einmal gemeinsam mit Kröpfl und der Feststellung erwähnt, dass beide »innerhalb der dodekaphonischen Disziplinen«98 arbeiteten. Kröpfls vorübergehende Distanz zur ANM war seinem Engagement als Galerist geschuldet und offenbar weniger gravierend als Kagels Ausstieg; so fand Kröpfl in Paz’ Buch noch an anderer Stelle Eingang: erstens mit seinem Interesse an rhythmischen Konzepten, und zweitens als derjenige, der in Argentinien Cages präpariertes Klavier in eigenen Kompositionen adaptierte.99 Letzteres ist laut Kröpfl nicht korrekt, denn

96 Letra y Línea (1954), H. 4, S. 16: »obras de los dodecafonistas argentinos Nelly Moretto, Carlos Rausch, Ricardo Becher, Mauricio Kagel, César M. Franchisena y Juan Carlos Paz«. Wie schon der Beitrag in der Ausgabe vom Oktober 1953 (vgl. S. 126 Anm. 88) scheint auch diese Ankündigung früher als Juli 1954 verfasst worden zu sein. 97 Vgl. Rebstock, Komposition zwischen Musik und Theater, S. 50 Anm. 74. 98 Juan Carlos Paz, Introducción a la música de nuestro tiempo, Buenos Aires 1955, S. 179: »dentro de disciplinas dodecafónicas«; zu Gielen, Moretto, Rausch und Paz ebd., S. 178-182. 99 Ebd., S. 181 bzw. S. 339.

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es existiert von ihm keine Komposition mit präpariertem Klavier; die Angabe von Paz wirkte aber bis in die Werkverzeichnisse aktueller Lexika fort.100 Kröpfl und Kagel blieben über die ANM hinaus in Kontakt: Im November 1955 organisierten sie gemeinsam im kleinen Vortragssaal des Warenhauses Gath & Chavez in der Straße Florida zwei »Audiciones fonoeléctricas con comentarios«, Vorträge mit Hörbeispielen von Band bzw. Schallplatte, über Aspekte der zeitgenössischen argentinischen Musik. Dabei kommentierte Kröpfl am 9. November Kompositionen von Paz und Carlos Rausch sowie Kagels Cinco canciones del Génesis. Fünf Tage später kommentierte Kagel Werke von Osias Wilenski (Fünf Klavierstücke op. 8), César Franchisena (Streichquartett), Nelly Moretto sowie Kröpfls Variationen für Klavier (vgl. Abb. 2). Laut den Erinnerungen Kröpfls101 ging Kagel in seinem Vortrag auch auf Paz’ einige Monate zuvor erschienenes Buch ein und kritisierte es unter anderem aufgrund der falschen Angabe zu Kröpfls angeblichen Kompositionen für präpariertes Klavier. Pikant ist vor diesem mündlich überlieferten Hintergrund der Artikel, den Paz in der Illustrierten El Hogar kurz danach am 25. November veröffentlichte: Er verkündete eine neue kreative Etappe in der Musik Argentiniens auf der Grundlage der Dodekaphonie und der ihr verbundenen Komponisten, die jüngst in Konzerten der ANM und in Gath & Chavez zu hören waren. Die Aufzählung der Werke von Wilenski, Franchisena, Moretto, Rausch und Paz schließt mit folgendem Nebensatz: »a lo que cabe agregar sendas composiciones de Mauricio Kágel y Francisco Kröpfl, quienes apoyan el movimiento, si bien desde un ángulo visual de tipo amateur.«102 Die Wirkung dieser Bemerkung auf zwei junge Komponisten, die gerade an ihrer professionellen Verankerung im Kulturbetrieb arbeiteten, ist leicht zu erahnen. Umso erstaunlicher, dass Kröpfl trotz dieser Enttäuschung schon 1956 – nach der Aufgabe der Galerie Krayd – wieder bei der ANM mitarbeitete. Kagel jedoch distanzierte sich offensichtlich

100 Susana Salgado, »Kroepfl, Francisco«, in: NGroveD2, Bd. 13, London 2001, S. 919 gibt im Werkverzeichnis für 1953 zwei Stücke für präpariertes Klavier an. Im Werkverzeichnis von Maria del Carmen Aguilar, »Kröpfl, Francisco«, in: DMEH, Bd. 6, Madrid 2000, S. 671-672, hier S. 672, sind sie nicht enthalten; in Deborah Schwartz-Kates, »Kröpfl, Francisco«, in: MGG2, Personenteil 10, Kassel / Stuttgart 2003, Sp. 757 f. (kein vollständiges Werkverzeichnis) werden sie nicht genannt. 101 Im Gespräch mit d. Verf. am 11.8.2010. 102 Juan Carlos Paz, »Una nueva etapa creadora en la Música de la Argentina«, in: El Hogar 52 (1955), H. 2401, S. 154-155, hier S. 154: »zu denen alle Kompositionen von Mauricio Kagel und Francisco Kröpfl hinzugefügt werden können, da sie die Bewegung unterstützen, wenn auch von einer eher amateurhaften Perspektive aus.«

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Abbildung 2: Programmzettel »Aspectos de la música argentina actual«

Sammlung Mauricio Kagel, Paul Sacher Stiftung, Basel, Box Programmhefte Argentinien: Zwei Hörvorträge von Francisco Kröpfl und Mauricio Kagel im Warenhaus Gath & Chavez im November 1955 mit Kagels Cinco canciones del Génesis – hier »cantos« genannt.

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vollkommen und ließ später Paz und die ANM lange in Interviews und Publikationen unerwähnt. Auf Nachfragen hin äußerte er erst 1992, er habe selbstverständlich »die Agrupación Nueva Música und den gesamten Kreis um ihre Aktivitäten«103 gekannt, und berichtete besonders 2004 im Interview mit Matthias Rebstock differenzierter von der Gruppe. Anders herum wird aber Kagel genauso wie Gielen im Zusammenhang mit der ANM von argentinischer Seite oft gar nicht erwähnt.104 Dennoch ist vermutlich auf Initiative von Jorge Rotter zum dreißigjährigen Bestehen der ANM am 29. August 1967 im Museum der Schönen Künste Kagels Heterophonie (1961) von Band erklungen.105 Dass Paz auch im Rückblick nicht besonders positiv auf Kagel zu sprechen war, zeigt eine Passage in der Paz-Biografie von Jacobo Romano aus dem Jahr 1976, in der der Autor dem Komponisten folgende Aussagen über Kagel in den Mund legt: »¡qué tipo osado ....! nunca nos entendimos. Me resistía a trabajar con él. Pretendía saberlo todo, métodos y técnicas que en mi opinión no había aún digerido. Se plegó a Nueva Música en un período brillante. Teníamos más de 180 socios. El dinero casi se podía decir que sobraba.«106 Diese Erinnerungen scheinen bewusst ein negatives Licht auf Kagel werfen zu wollen und erwähnen dessen aktive Mitarbeit nicht. Um zu unterstreichen, dass Paz nicht mit Kagel zusammenarbeiten wollte, ergänzte Romano in einer Fußnote einen Brief von Kagel, der offenbar umsonst zu Paz gekommen war, um die Partitur von Dédalus 1950 abzuholen, und eine Nachricht hinterließ. Voller Ironie und Humor gepaart mit musikalischer Erfindung zeigt sich der Kagel dieser Notiz – wenig orthodox, umso mehr verspielt und erfindungsreich – uns so, wie er sich in seinen Werken später ausdrücken wird: »Estimado Paz: He venido a su casa; ¡oh, infructuosamente! en busca de la partitura del Dédalus. – La necesito para los ejemplos del Musical Quarterly –. Telefonéeme mañana

103 Brief von Kagel an Schäfer vom 8.6.1992 in: PWJ, Mappe 1 im Karton »Materialien zur Agrupación Nueva Música«. 104 So werden z. B. in Arizaga, Enciclopedia de la música argentina, S. 36 alle Mitglieder wie bei Zulueta, La obra para piano de Juan Carlos Paz, S. 49 genannt, nur Kagel fehlt. 105 Vgl. Programmzettel vom 29.8.1967 in Nachlass Paz. 106 Romano, Vidas de Paz, S. 59 f.: »Was für ein verwegener Typ! Wir haben uns nie verstanden. Ich habe es nicht ausgehalten, mit ihm zu arbeiten. Er tat so, als wüsste er alles, Methoden und Techniken, die er meiner Meinung nach noch nicht verdaut hatte. Er hat sich der ANM in einer glänzenden Zeit angeschlossen. Wir hatten mehr als 180 Mitglieder. Man kann fast sagen, das Geld war im Überfluss vorhanden.«

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para ponernos de acuerdo. Estoy en casa a las hs. 13-13.30. Es urgente. He ensayado las más variadas melodías en su timbre monódico sin obtener respuesta. ¿Llegará alguna vez la reexposición telefónica? Mauricio Kagel«107

Die ANM setzte ihre Arbeit ab 1954 also ohne Kagel fort, als künstlerischer Leiter erschien Paz in den folgenden Jahren allein, während weiterhin Odile Baron Supervielle, Lidy Prati, Felisa Pinto und Jorge Grisetti die verwaltenden Aufgaben übernahmen. Kontakt mit der Gruppe konnte über Paz’ Privatadresse (Rincón 210) und den Verlag nueva visión (Cerrito 1371) aufgenommen werden. Die Saison begann am 24. Juni 1954, diesmal im Saal von Los Independientes in der Straße San Martín 766, einem der freien Theater der Stadt. 1955 kehrte die ANM nochmals in das IAM zurück und fand ab 1956 im Auditorium Birabén eine neue Konzertstätte. Über den öffentlichen Erfolg, die Zuhörer- und Mitgliederzahlen der ANM existieren keine Aufzeichnungen, vermutlich gab es jedoch einige Konzerte mit gerade einer Hand voll Besuchern.108 Der Kreis der Interpreten blieb zunächst konstant: Das zeitgenössische Streichquartett mit León Spierer, Simón Blech, Lázaro Sternic und Tiberio Kertesz war weiterhin genauso vertreten wie das Bläserensemble Buenos Aires mit Efraín Guigui, Pedro Chiambaretta, Gerardo Levy, Alfredo Perona und Enrique Faure. Bemerkenswerte Ergänzungen waren im Mai und Oktober 1955 der Bassklarinettist Gerardo (heute: Giora) Feidman sowie wechselnde Pianisten: Adriana Fontana, Carlos Rausch und Osias Wilenski traten neben Orestes Castronuovo und Jorge Grisetti auf. Im August dieses Jahres erklang Messiaens Modes de valeurs et d’intensités zum ersten Mal in Buenos Aires und wurde bis zum Ende der fünfziger Jahre wie Schönbergs Klavierwerke immer wieder in der ANM aufgeführt. Nach dem Jahr 1956, in dem Juan Carlos Paz länger erkrankt war und die ANM

107 Romano, Vidas de Paz, S. 60, Hervorhebung original: »Verehrter Paz. Ich bin zu Ihnen nach Hause gekommen – oh, vergeblich –, um die Partitur von Dédalus zu holen. Ich benötige sie für die Beispiele in Musical Quarterly. Rufen Sie mich morgen an, damit wir uns verabreden können. Ich bin von 13 bis 13.30 Uhr zu Hause. Es eilt! Ich habe die verschiedensten Melodien mit ihrer eintönigen Klingel ausprobiert ohne Antwort zu erhalten. Wird irgendwann die telefonische Reprise erfolgen? Mauricio Kagel«. Ernst KĜenek wartete offenbar schon auf die Partitur von Dédalus 1950, vgl. Brief vom 2.3.(1953?) in Maranca, Cartas a Paz, S. 34. Sollten Beispiele daraus in KĜeneks Aufsatz »Is the twelve-tone technique on the decline?«, in: The Musical Quarterly 39 (1953), H. 4, S. 513-527 erscheinen? 108 Gerardo Gandini sprach im Interview mit King, El Di Tella, S. 289-293, hier S. 291, nur von wenigen – drei bis sieben – Besuchern.

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gemeinschaftlich organisiert wurde, zeigt sich ab 1957 ein stark verändertes Bild der Konzerte: Viele langjährige Interpreten, die ihre Karriere nun im Ausland fortsetzten, wurden durch neue ersetzt. Kagel hatte mit einigen Mitgliedern der ANM auch nach seinem Ausscheiden Kontakt oder würdigte ihr kompositorisches Schaffen: Edgardo Cantón, der mit dem Kammerorchester des Club Sudamericano am 30. September 1956 Kagels Cuatro piezas breves für Streichorchester im Teatro Los Independientes uraufführte (vgl. unten S. 277), war seit diesem Jahr auch Mitglied in der ANM.109 Drei der Komponisten, deren Werke Kagel im November 1955 in Gath & Chavez besprach – Wilenski, Franchisena und Kröpfl –, erwähnte er Ende der fünfziger Jahre auch in seinem Vortrag »Musik in der jungen argentinischen Generation und ihre Beziehung zu Europa«, der 1961 von der argentinischen Botschaft in Deutschland publiziert wurde.110 Vermutlich hatte Kagel die Aufnahmen, die er 1955 in Buenos Aires für sein Referat verwendete, mit nach Europa gebracht, denn hier besprach er von Franchisena und Wilenski exakt die gleichen Kompositionen wie zuvor in Gath & Chavez. Kröpfls Klavier-Variationen würdigte er nun in der Umarbeitung für kleines Ensemble.111 Mit Wilenski verband ihn zudem eine interpretatorische Zusammenarbeit: Er war 1956 Pianist für eine Aufführung im Teatro Colón, die Kagel dirigierte (vgl. unten S. 179). Von Deutschland aus schrieb Kagel 1958 seinen ersten Bericht für Buenos Aires Musical. Darin ist über die Darmstädter Ferienkurse und den Einfluss von John Cage auf die zeitgenössische Musikszene zu lesen: »Ha contribuído así,

109 Von Edgardo Cantóns Trio »ecúrdico« für Klarinette, Oboe und Fagott besaß Kagel eine Reinschrift der Stimmen und eine Aufnahme: vgl. PSS SMK Manuskripte anderer Komponisten und MK LPS 4A / MK CD 326, Track 4. Eine Aufführung des Stücks war für den 1.10.1956 in der ANM geplant, vgl. Jahresprogramm der ANM für 1956 im Nachlass Paz. 110 Vgl. Mauricio Kagel, Musik in der jungen argentinischen Generation und ihre Beziehung zu Europa: ein Vortrag (Argentinische Botschaft / Kulturabteilung 8 [10]), Bonn 1961. Offenbar ging der Schriftfassung ein mündlicher Vortrag in Bonn und schon am 9.10.1958 eine französische Fassung in Brüssel voraus, vgl. Matthias Kassel (Hg.), Mauricio Kagel. Zwei-Mann-Orchester. Essays und Dokumente, Basel 2011, S. 73. 111 Vgl. die Aufnahmen von Kröpfl (PSS MK Band 166 / MK TS 1000, digitalisiert: MK CD 170, Track 2, bzw. PSS MK LPS 3A / CD 326, Track 2) in Kagels Nachlass. Außerdem sind das Trio von Rausch (PSS MK LPS 3B / MK CD 326, Track 3) und ein Quintett von Franchisena (PSS MK LPS 4B / MK CD 326, Track 7) in Form von Aufnahmen und Notenmanuskripten erhalten.

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con un sentido casi ›aperspectivo‹, al desmoronamiento de los modernos mitos seriales instituídos por los académicos del dodecafonismo, y los espíritus innoblemente serios de la publicidad.«112 Während dieser Text dem europäischen Fachpublikum der Zeit kaum bekannt geworden sein dürfte, wurde er sicher von der ANM und Juan Carlos Paz wahrgenommen. Man könnte ihn als spöttischen Gruß an sie interpretieren.

B ILDENDE K UNST , ARCHITEKTUR , F OTOGRAFIE Die Verbindungen der Agrupación Nueva Música mit bildenden Künstlern und Architekten wurden bereits angesprochen. Für Kagel relevant ist dabei besonders die enge Anbindung der ANM an den Verlag und die Zeitschrift nueva visión um Tomás Maldonado und Jorge Grisetti. In der ersten Nummer dieser Zeitschrift für visuelle Kunst erschienen 1951 auch Aufsätze von César Jannello über Malerei, Skulptur und Architektur, von Edgar Bayley über Poesie und von Juan Carlos Paz über neue Musik sowie ein Bericht über den zweiten internationalen Sommerkurs zu moderner Kunst und Musik von Hans-Joachim Koellreutter in Teresópolis bei Rio de Janeiro. Maldonado selbst hatte an diesem als Dozent teilgenommen und blieb ihm auch in den folgenden Jahren treu.113 Die engen Verknüpfungen zwischen bildender und klingender Kunst in Deutschland, Brasilien und Argentinien sind offensichtlich: Koellreutter hat die brasilianischen Sommerkurse nach Darmstädter Vorbild 1950 ins Leben gerufen, sie aber mit dem Titel »Curso Internacional de Férias Pró-Arte« nicht nur der Musik vorbehalten.114

112 Mauricio Kagel, »John Cage en Darmstadt 1958«, in: BAM 13 (1958), H. 214, S. 3, auch wiedergegeben in Borio / Danuser, Im Zenit der Moderne, Bd. 3, S. 483 f. Dt. u. a. in: Ulrich Mosch, »Boulez und Cage: Musik in der Sackgasse?«, in: Sabine Ehrmann-Herfort (Hg.), Europäische Musikgeschichte, Kassel / Stuttgart 2002, Bd. 2, S. 1253-1316, hier S. 1307: »Er hat so, mit seinem gewissermaßen ›aperspektivischen‹ Verstand zum Sturz der modernen seriellen Mythen beigetragen, die errichtet wurden von den Akademikern des Dodekaphonismus und denjenigen Geistern der Öffentlichkeit, die sich selbst zu ernst nehmen.« 113 Vgl. Méndez Mosquera / García, »Notes on nueva visión Magazine«, S. 183. 114 Vgl. Kater, Música viva e H. J. Koellreutter, besonders S. 77, 164 und 191. Cristina Rossi untersucht die Verknüpfungen von konkreter Kunst und Musik am Rio de la Plata in einem aktuellen Forschungsprojekt, vgl. »Vanguardia concreta rioplatense:

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Ebenso war die Zeitschrift nueva visión von 1951 bis 1954 interdisziplinär aufgestellt: Im Doppelheft 2-3 vom Januar 1953 fand Musik in Form einer Werbeanzeige für The Musical Quarterly neben Paz’ Artikel über Athematik und Mikrotonalität Platz.115 Die kompositorischen Techniken, die Paz in seinen Aufsätzen diskutierte und seit den vierziger Jahren bereits mehrfach beschrieben hatte, wurden nicht nur für junge Musiker ein Orientierungspunkt: Ana Pozzi-Harris nimmt an, dass sich Maldonado von den Überlegungen zu Athematik, Mikrotonalität und Vermeidung der Wiederholung in der Musik zu seinem Bild Desarrollo de 14 temas (1951-52) inspirieren ließ und diese Prinzipien auf die Malerei übertrug.116 Maldonado beschreibt die Entstehung des Bildes auch als »a lengthy process, with many partial preliminary studies. The initial task was simultaneously simple and complex, as it had to do with creating a unique system articulated on two levels: on one level, a series of regular figures in very subdued colors; on the other, a series of equally subdued lines and points. Of course, the organization on two levels didn’t imply that the elements present on one or the other were isolated, with no communication among them. The two levels, though they have distinct and relatively autonomous purposes, had to be available for reciprocal aid.«117

Die aufwändige Vorordnung des Materials auf zwei zunächst unabhängigen Ebenen, die dann kombiniert werden, lässt unweigerlich an Kagels spätere Arbeitsweise zum Beispiel im Falle von Match118 denken und trägt serielle Züge. Noch während Maldonados Anwesenheit in Buenos Aires gehörte Kagel in der vierten Ausgabe von nueva visión 1953 neben Juan M. Borthagaray, Francisco Bullrich, Jorge Goldemberg und anderen zum Redaktionskomitee; er zeichnete jedoch nicht namentlich für Artikel verantwortlich und war schon im fünften Heft 1954 nicht mehr dabei. Offenbar verband ihn 1953 eine enge Freundschaft mit diesen Mitarbeitern der Zeitschrift, die gleichzeitig der oam angehörten. Fast nebenbei berichtete er dazu in seinen Erinnerungen: »Ich kam ebenfalls in Kon-

Acerca del arte concreto y la música«, auf: http://icaadocs.mfah.org/icaadocs/ Portals/0/WorkingPapers/No1/Cristina%20Rossi.pdf (16.8.2012). 115 Juan Carlos Paz, »Música atemática y música microtonal«, in: nueva visión (Januar 1953), H. 2-3, S. 28-30. Zur Zeitschrift allgemein vgl. oben S. 53 f. 116 Vgl. Ana Pozzi-Harris, »Tomás Maldonado, Desarrollo de 14 temas, 1951-1952«, in: Gabriel Pérez-Barreiro (Hg.), The Geometry of Hope. Latin American Abstract Art from the Patricia Phelps de Cisneros Collection, Austin 2007, S. 120-123. 117 [Maldonado / García], Tomás Maldonado in Conversation, S. 37. 118 Vgl. Rebstock, Komposition zwischen Musik und Theater, S. 335.

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takt mit einer Gruppe von Architekten, die sich schon von Berufs wegen mit Fotographie beschäftigten.«119 Jorge Grisetti und Eduardo Polledo stellten als Mitglieder beider Gruppen die direkte Verbindung zwischen oam und ANM dar. Sicher kannte Kagel die Architekten Gerardo Clusellas und César Jannello120 ebenfalls aus diesem Kontext. Jannello war von 1947 bis 1955 Professor an der Kunsthochschule der Universität Cuyo in Mendoza, verbreitete dort die Ideale der Bewegung Arte Concreto-Invención und stand mit Maldonado in regem Austausch. Ihm wurde gemeinsam mit Gerardo Clusellas die architektonische Planung der Ausstellung Feria de América in Mendoza 1953 / 54 übertragen. Nach der Zurückweisung konkreter Kunst in den ersten Regierungsjahren Peróns steht diese Ausstellung für die Bemühungen der Regierung, in der Förderung avantgardistischer Kunst dem brasilianischen Vorbild zu folgen, denn dort war 1951 die Biennale São Paulo begründet worden. Die Feria de América war also auch eine Propaganda-Veranstaltung, deren emblematischer Turm, die »Torre de América«, für Innovation stand: Maldonado schuf mit zwei sich an der Spitze mit dem größten Winkel berührenden Dreiecken das Grunddesign für die Ausstellung, auf das sich auch Jannellos und Clusellas Turm mit zehn beleuchtbaren Pyramiden bezog. Kagel wurde mit der Konzeption der Beleuchtung und Beschallung beauftragt (vgl. unten S. 252): Weißes und rotes Licht sollte in verschiedenen Intensitäten erstrahlen und mit Musik kombiniert werden.121 Es erstaunt jedoch, dass nueva visión 1955 über die Ausstellung und die »Torre Alegórica« berichtete, Kagels Musik aber mit keinem Wort erwähnte.122 Jannello und Kagel korrespondierten in der Folge über ein interdisziplinäres Projekt mit dem Titel »analogías«: Ein Brief von Jannello vom 11. November 1954 enthält Überlegungen zur szenischen Umsetzung eines »microespectáculo«, für das Musiker, Licht, Schauspieler und Objekte sowie ein Sprecher auf der Bühne positioniert werden sollten – Elemente, die wir in Kagels Sur Scène (UA 1962) wiederfinden. Am 6. Februar 1955 schrieb Jannello über Analogien in der Poesie (Schlegel, Rimbaud), und auf einem undatierten Skizzenblatt finden sich die

119 Kagel, Dialoge, Monologe, S. 25 f. 120 Clusellas wird als Mitglied der oam regelmäßig genannt, während nur Siracusano, »Las artes plásticas en las décadas del ’40 y el ’50«, S. 30 angibt, auch Jannello sei dort Mitglied gewesen. 121 Vgl. zu César Jannello, der Feria de América und dem Turm Gustavo Quiroga (Hg.), C / temp: arte contemporáneo mendocino, Mendoza 2008, S. 37-39 sowie Roxana Jorajuria, »Tensiones y choques. 1950-1983«, ebd., S. 7 ff. 122 Vgl. nueva visión (1955), H. 6, S. 30-34.

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Worte »analogías Eduardo Jonquières«,123 die auf den Maler und Freund Julio Cortázars verweisen (vgl. unten S. 197 ff.). Außer auf die Architekten, die sich mit Fotografie beschäftigten, wies Kagel auf die Freundschaft mit der Bauhaus-Künstlerin Grete Stern hin, die Anfang der fünfziger Jahre auch sein erstes Porträt anfertigte (vgl. Anhang S. 315).124 Grete Stern zu begegnen, war in jenen Jahren nicht ungewöhnlich, war sie doch in Künstlerkreisen angesehen und hatte die Entwicklungen der konkreten Kunst in Buenos Aires von Beginn an stimuliert: Schon 1945 stellte die Gruppe Madí in ihrem Haus aus. Zahlreiche Intellektuelle, besonders Schriftsteller und Maler aber auch Musiker, ließen sich von ihr fotografieren und die Ästhetik dieser Porträts setzte neue Maßstäbe:125 Im September 1952 berichtete Sur von einer Ausstellung der »nackten Gesichter« in der SADE unter anderem mit Bildnissen von Borges und Paz.126 Neben seinem eigenen von Stern fotografierten Abbild finden sich in Kagels Nachlass auch Abzüge der Porträts von Borges sowie von María Adela Palcos, seiner damaligen Freundin, keines jedoch von Paz. Neben dem starken Einfluss des Bauhauses auf die Künstler von nueva visión ist um 1953 auch das Wirken Aldo Pellegrinis, dem wichtigsten Befürworter des Surrealismus in Buenos Aires, zu beachten. In die Zeit fiel zudem die Gründung der Galerie Krayd, in der nicht-figurative Kunst von Pettoruti, den

123 PSS SMK Mappe Música para una torre (Beleuchtungspartitur + Jannello). Ob Jonquières ein Bild mit dem Titel »analogías« geschaffen hat, ist d. Verf. unbekannt. Kagels Antwortbriefe an Jannello sind in seinem Nachlass nicht enthalten und müssten in Mendoza / Argentinien recherchiert werden. Ein weiterer Architekt, der sich besonders der Innenarchitektur, dem Design und der Bühnenbildnerei widmete und mit dem Kagel ab 1955 zusammenarbeitete (vgl. unten S. 174), war Martin Eisler als Initiator und Regisseur der Kammeroper. Seine Rolle bei der Gründung der Asociación Amigos de la Música wurde oben S. 70 erwähnt, über seine Beziehungen zu anderen bildenden Künstlern ist dagegen nichts bekannt. 124 Vgl. Kagel, Dialoge, Monologe, S. 178 f. und Rebstock, Komposition zwischen Musik und Theater, S. 356 f. Das im Bauhaus-Archiv erhaltene Porträt Kagels ist auf 1952 datiert, in PSS SMK ist das Jahr 1954 notiert. 125 Vgl. Sara Facio (Hg.), Grete Stern: fotografía en la Argentina 1937-1981, Buenos Aires 1988, Luis Priamo (Hg.), Grete Stern. Obra fotográfica en la Argentina [Ausstellungskatalog], Buenos Aires 1995 sowie Juan Manuel Bonet / Inka Graeve Ingelmann / Georges Sebbag (Hg.), Grete Stern: Berlin – Buenos Aires [Ausstellungskatalog Musée des Beaux-Arts et Archéologie de Besançon], Besançon 2008. 126 Maria Elena Walsh, »Los desnudos faciales de Grete Stern«, in: Sur (1952), H. 215 / 216, S. 146.

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Gruppen Madí, Arte Concreto-Invención und Artistas Modernos de la Argentina bis zu unabhängigen jungen Künstlern ausgestellt wurde. Die Galerie-Initiatoren teilten zwar das Interesse an der bildenden Kunst, kamen professionell aber aus anderen Bereichen: Francisco Kröpfl war Musiker, Zoltan Daniel Ingenieur und Geiger, Raúl Gustavo Aguirre Poet. Letzterer war seit 1950 Herausgeber der Zeitschrift Poesía Buenos Aires, die ebenfalls stark von Pellegrini beeinflusst war. Zu den Freunden der Galeristen gehörte zum Beispiel auch der junge Fotograf Ricardo Aronovitch, der als Kameramann und Beleuchter Ende der fünfziger Jahre erfolgreich avantgardistische Kurzfilme mit innovativer Ästhetik drehte, die teilweise international prämiert wurden.127 Die Galerie Krayd befand sich in der Straße Tucumán 553 in direkter Nachbarschaft zum Jockey Club. Als dieser im April 1953 abbrannte, wurde auch die Galerie beschädigt. In der Folge wurde sie aber schnell ein wichtiger Treffpunkt des avantgardistischen Netzwerks: Dass Boulez 1954 ausgerechnet in der Galerie über seine aktuelle Komposition zu Texten von René Char – dem späteren Le Marteau sans maître – referierte (vgl. unten S. 159 f.), lag nicht nur an der unmittelbaren Nachbarschaft zu seinem Hotel Claridge, sondern passte vollkommen zu den Interessen der Galeristen und Freunde, unter denen sich auch Kagel befand. Durch die GalerieKontakte von Kröpfl waren im November 1955 offenbar auch die musikalischen Vorträge im Ausstellungsraum des Warenhauses Gath & Chavez zustande gekommen, bei denen Kröpfl und Kagel gegenseitig ihre Musik und diejenige ihrer Kollegen kommentierten. Krayd fand sogar über den Kontinent hinaus ein Echo in Europa: Im November 1955 berichtete Sigwart Blum in der Zeitschrift Gebrauchsgraphik über die Galerie und ihre Werbekarten128 – 24 Jahre nachdem im gleichen Magazin Grete Sterns Werbearbeiten zum ersten Mal besprochen wurden.129 Vor dem Hintergrund der frühen engen Verbindungen zu bildenden Künstlern der Gruppe um Tomás Maldonado, die sich vermehrt dem Design verschrieben, erscheint Kagels Beitrag in der Zeitschrift der Hochschule für Gestaltung Ulm im Januar 1963 als Konsequenz: Maldonado war zu diesem Zeitpunkt Prorektor der Hochschule, verantwortlicher Redakteur von ulm und verfasste selbst in der Ausgabe Kommentare zum Neo-Dadaismus und Industrie-Design. Kagel illustrierte seine Ausführungen über die Neuerungen in der musikalischen

127 Vgl. Mahieu, Historia del cortometraje argentino, S. 28, 35 f., 39 und 41. 128 Sigwart Blum, »Eine argentinische Kunstgalerie lädt zum Besuch ein«, in: Gebrauchsgraphik 26 (1955), H. 11, S. 14-17. 129 Vgl. Traugott Schalcher, »Fotostudien«, in: Gebrauchsgraphik 8 (1931), H. 2, S. 3339 zu den Arbeiten von ringl + pit (Ellen Rosenberg, Grete Stern).

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Grafik mit Partiturausschnitten von Transición II für Klavier, Schlagzeug und zwei Tonbänder von 1958 / 59. Er wies darauf hin, dass neue Notationsweisen weder ökonomische Gründe hätten noch von der zeitgenössischen Malerei beeinflusst seien: »Die schon bis zum Überdruß aufgestellten Parallelen zwischen visueller Kunst, die mit musikähnlichen Gebilden fraternisiert, und musikalischer Notation, die an gewisse Bruchstücke der neuesten Malerei erinnert, ergeben nur ein Zerrbild der vielleicht unter ganz anderen Voraussetzungen zu suchenden Kontakte.«130

Er führt diese »anderen Voraussetzungen« nicht aus, verweist aber auf die technischen Entwicklungen des musikalischen Materials, denen das neue Zeichenbild geschuldet sei. Es diene ausschließlich der Darstellung von Strukturprozessen und Formprinzipien, welche durch die Interpretation wieder in Klang verwandelt werden müssten. Kagels Überlegungen werden an keiner Stelle transparent oder konkret, sie verzichten auf wirkliche Erläuterungen seiner Notation und nehmen so einzig die Form eines Postulats an: Musikalische Grafik ist keine Kunst, sondern Hilfsmittel für die Interpretation der Musik. Maldonado selbst ließ in seinem Unterricht an der Ulmer Hochschule 1962 / 63 Studenten der Visuellen Kommunikation auch Schallplattenhüllen zu Kompositionen von Kagel (Transición I, Transición II, Antithese), Stockhausen (Zyklus) und Franco Evangelisti (Incontri di fasce sonore) entwerfen und einige Resultate abdrucken.131

F ILM Kagel berichtete, er sei in der Straße Campichuelo aufgewachsen, in der sich gegenüber seiner Wohnung ein Filmstudio befunden habe, in dem er auch als Komparse eigene Filmerfahrungen in Melodramen, Heimatfilmen und Romanverfilmungen sammelte.132 Tatsächlich befand sich in der Straße etwa auf der

130 Mauricio Kagel, »Zur neuen musikalischen Graphik«, in: ulm. Zeitschrift der Hochschule für Gestaltung (1963), H. 7, S. 33-35, hier S. 34. 131 Vgl. ulm. Zeitschrift der Hochschule für Gestaltung (1963), H. 8-9, S. 38-41. Die Kontakte Kagels zu bildenden Künstlern könnten noch im Hinblick auf andere Kreise und Personen untersucht werden, z. B. existiert in PSS SMK ein Foto, auf dem u. a. der Maler Victor Chab, der Psychoanalytiker Carlos Iraldi und der Maler Walter Jakobowicz ca. 1953 bei einer Ausstellung in der Galerie Van Riel zu sehen sind. 132 Vgl. Kagel, Dialoge, Monologe, S. 168 und S. 171.

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Höhe der Hausnummer 500 seit den dreißiger Jahren die Sociedad Impresora de Discos Electrofónicos, abgekürzt SIDE,133 von Alfredo Murúa, die – ursprünglich aus einem Tonstudio hervorgegangen – auf dem Gebiet des Tonfilms mit den ersten Synchronisierungen und einem eigenen Tonsystem Pionierarbeit im Land leistete.134 Nachdem Argentina Sono Film und andere Firmen in dem Studio gedreht hatten,135 produzierte SIDE ab 1936 eigene Streifen: Die größten Erfolge feierte es in den goldenen argentinischen Filmjahren mit drei TangoMelodramen mit der Schauspielerin und Sängerin Libertad Lamarque in der Regie von José Agustín Ferreyra, der sich stark für ein eigenständiges argentinisches Kino einsetzte: Ayúdame a vivir (1936), der in Argentinien nur begrenzt erfolgreich war, dafür aber in Zentralamerika sehr beliebt wurde,136 Besos brujos (1937) und La ley que olvidaron (1938). Anfang der vierziger Jahre verkaufte Murúa seine Studios an Miguel Machinandiarena von Estudios San Miguel, der den Produktionsort in der Straße Campichuelo noch bis 1945 nutzte. Die von Kagel erwähnte Verfilmung von Miguel Canés Buch Juvenilia137 war eine Produktion von Manuel Peña Rodríguez für die Estudios San Miguel in der Regie von Augusto César Vatteone,138 die im Mai 1943 veröffentlicht wurde. Estudios San Miguel drehte in jenen Jahren auch mit Eva Duarte Filme und nutzte dazu die Studios in der Straße Campichuelo neben anderen Drehorten. Kagel erinnerte sich, dass die Schauspielerin von Juan Perón abgeholt wurde.139 Dies kann nur in den Jahren 1944 und 1945 geschehen sein, denn das spätere Präsidentenpaar hatte sich erst im Januar 1944 kennen gelernt. Evita, die bis dahin nur Nebenrollen verkörpert hatte, spielte jetzt erst ihre zwei größeren filmischen Parts:140 In La

133 Vgl. Domingo di Nubila, La época de oro (Historia del cine argentino 1), Buenos Aires 1998, S. 56. Die von Kagel, Dialoge, Monologe, S. 168 und andernorts genannte Abkürzung SADE bezeichnet kein Filmstudio, sondern steht für die Sociedad Argentina de Escritores – die argentinische Schriftstellervereinigung, dessen Vorsitzender 1950 bis 1953 Jorge Luis Borges war. 134 Vgl. Finkielman, The Film Industry in Argentina, S. 139 ff. 135 Vgl. für Beispiele ebd., S. 200 f. 136 Vgl. Finkielman, The Film Industry in Argentina, S. 208 f. und 216 f. 137 Vgl. Kagel, Dialoge, Monologe, S. 171. 138 Vgl. España / Manetti, »El cine argentino«, S. 265. Manuel Peña Rodríguez produzierte auch den Film Esperanza (1949), der im Peronismus einem Aufführungsverbot zum Opfer fiel und erst 1956 wieder gezeigt werden durfte, vgl. Kriger, Cine y peronismo, S. 63 und CD-Rom El cine argentino 1997. 139 Vgl. Kagel, Dialoge, Monologe, S. 171. 140 Vgl. Luna, Perón y su tiempo. I. La Argentina era una fiesta, S. 436 f.

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cabalgata del circo (Dreharbeiten 1944, Kinostart 30. Mai 1945) trat sie neben und in Konkurrenz zu Libertad Lamarque auf; in La pródiga spielte sie ihre einzige Hauptrolle – die Dreharbeiten dazu fanden im politisch bewegten August und September 1945 statt, der Film wurde jedoch zu ihren Lebzeiten nicht gezeigt.141 Während La pródiga kaum künstlerische Relevanz hatte, könnte La cabalgata del circo für Kagel auch vom Sujet her sowie technisch interessant gewesen sein: Erzählt wird die Geschichte einer Zirkusgruppe und Familie im 19. Jahrhundert, die beginnt, literarische Stoffe zunächst pantomimisch, dann theatralisch und später musikalisch darzubieten, wobei die Akteure ihre Libretti selbst erfanden, populäre Musik (Lieder und Tänze) einbezogen und damit Erfolge auf dem Land, in Buenos Aires und dann weltweit errangen. Am Ende wird ein direkter Bezug zur Gegenwart dadurch hergestellt, dass die Kinder der Protagonistin ebenfalls Schauspieler im nunmehr beliebtesten Unterhaltungsformat geworden sind: Die Familiengeschichte wird verfilmt; dabei sind Szenen aus dem bereits gesehenen Plot wiederzuerkennen – selbstreferentieller Fingerzeig: Film im Film –, es gibt Hinweise auf die Fiktionalität des Mediums, das die Geschichte nicht realiter abbildet, sondern mit weiterer Spannung anreichert und neu formt. Zwar zeugt der Abspann von La cabalgata del circo davon, dass er dem Andenken all jener Zirkusgruppen gewidmet ist, die früher die Menschen auf dem Land unterhielten. Ihren Platz hat als Unterhaltungsgenre jedoch nun der Film eingenommen. Diese Thematik aus La cabalgata del circo findet sich in Kagels späterem Schaffen; erinnert sei besonders an die Assoziationen mit dem Zirkus in Quatre Degrés (UA 1977). Dass der Film nicht nur den Zirkus ersetzte, sondern auch die Oper verdränge, formulierte Horacio Coppola im November 1953 in der Zeitschrift Gente de Cine; Kagels Aussage von 1971, der Film sei »die einzig mögliche Fortsetzung der Oper«,142 erscheint beinahe als Folge dieser Ansicht.

141 Angaben zu Filmen und Produktionsorten nach der CD-Rom El cine argentino 1997. Kagels Erinnerungen an die Filme bleiben verschwommen, so nannte er beispielsweise Juvenilia, Eva Duarte de Perón und seine Rolle als Schüler oder Student in einem Atemzug. Vgl. Kagel im Gespräch mit Klaus Schöning, »Die Filmkompositionen« [1995], in: DVD ars acustica – ars intermedia. Klaus Schöning im Gespräch mit Komponisten, Autoren und Klangkünstlern, hg. von Rolf W. Stoll, Mainz 2011, NZ 5025. 142 Kagel im Gespräch mit Pauli, Für wen komponieren Sie eigentlich?, S. 83-105, hier S. 89. Vgl. Sonderausgabe von Gente de Cine zu René Clair im November 1953, Cuaderno No. 1, S. 2. Horacio Coppola war u. a. Fotograf und hatte in den dreißiger Jahren Grete Stern geheiratet. Sie trennten sich in den vierziger Jahren.

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Filmkultur als »leidenschaftlicher Volkssport«,143 wie Kagel sie bezeichnete, hatte in Buenos Aires einige Jahre Tradition. Neben den kommerziellen Kinos gab es schon früh Kinoclubs, die sich auch für Avantgarde-Filme interessierten: So zeigten der Cine Club der Amigos del Arte seit 1929 und der Cine Club Buenos Aires unter Leitung von Aldo Pellegrini seit 1931 Kunst- und surrealistische Filme.144 Anfang der vierziger Jahre gründeten sich erneut FilmliebhaberVereinigungen wie Cine Arte von León Klimovsky und Elías Lapzeson, die – in einer Zeit des Azeton-Mangels und weniger neuer Filme – bereits vergessenes Material sammelten und private Filmarchive anlegten. Andrés José Rolando Fustiñana, genannt Roland, gründete 1942 den Club Gente de Cine, der sich ebenfalls alten Filmen und ihrer Wiederaufführung in besonderen Vorstellungen widmete.145 Allerdings waren in Argentinien zahlreiche Originale durch Recycling zur Azetongewinnung – wie Kagel auch berichtet146 – oder durch Feuer zerstört; es fehlten Klassiker. Roland begegnete im Jahr 1949 in Cannes Henri Langlois, dem Direktor der Cinémathèque Française, der ihn auf die Idee brachte, in Zusammenarbeit mit der französischen eine argentinische Kinemathek zu gründen. Am 28. Oktober 1949 entstand darum die Cinemateca Argentina, als deren Urheber Elías Lapzeson mit Cine Arte und Roland als Director von Gente de Cine firmierten.147 Diese Kinemathek führte die Arbeit einzelner Privatpersonen und der Clubs systematisch fort, bekam Filme der französischen Partner geschenkt, tauschte ihre Bestände mit anderen Ländern und wurde so zum wichtigsten Filmarchiv Argentiniens, dem erst 2010 die Gründung einer staatlichen

143 Kagel, Dialoge, Monologe, S. 174. 144 Vgl. Mahieu, Historia del cortometraje argentino, S. 21, Salvador Sammaritano, »20 años de cineclubismo«, in: Lyra (1963), H. 189-191, o. S. Gregorio Anchou, »El cine amateur y los cineclubes«, in: Claudio España (Hg.), Cine Argentino. Industria y clasicismo 1933 / 1956, Bd. 2, Buenos Aires 2000, S. 558-561, hier S. 560, und Corrado, Música y modernidad, S. 101. 145 Vgl. zur Geschichte des Filmclubs Gente de Cine auch César Maranghello, »El cineclub Gente de Cine«, in: Claudio España (Hg.), Cine Argentino. Industria y clasicismo 1933 / 1956, Bd. 2, Buenos Aires 2000, S. 552-553. 146 Vgl. Mauricio Kagel im Gespräch mit Lothar Prox, »Abläufe, Schnittpunkte – montierte Zeit«, in: Dieter Rexroth (Hg.), Grenzgänge, Grenzspiele, Programmbuch der Frankfurter Feste, Frankfurt a. M. 1982, S. 115-122, hier S. 115 f., und Rebstock, Komposition zwischen Musik und Theater, S. 355. 147 Vgl. Gründungsurkunde der Cinemateca Argentina vom 28.10.1949 (escritura no. 1646 aus dem Jahr 1949) im Archiv der Kinemathek.

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Institution folgte.148 Die Aktivitäten der Cinemateca wie auch von Gente de Cine wurden auf dem Höhepunkt ihrer Tätigkeiten von 1951 bis 1957 in 44 laufenden Nummern sowie Sonderausgaben der Zeitschrift Gente de Cine publiziert, die sich auch den Themen Kurzfilm, Avantgarde-Film, Produzenten, Entwicklungen in anderen Ländern usw. widmete. Natürlich wurden auch Fragen des argentinischen Films kritisch diskutiert, doch bot die Zeitschrift inhaltlich ein umfassendes Spektrum der Filmentwicklung weltweit. Die erste Ausgabe im März 1951 prägten bezeichnenderweise Beiträge über Luis Buñuel, dessen Drehbuch von Un chien andalou abgedruckt wurde.149 Aus den monatlichen Ankündigungen geht auch hervor, welche Filme in den Sondervorstellungen der Cinemateca oder von Gente de Cine an Freitag- und Dienstagabenden bzw. samstags zu Mitternacht gezeigt wurden: Dazu gehörten beispielsweise im Dezember 1951 Les enfants du paradis von Marcel Carné mit Jean-Louis Barrault als Darsteller, entr’acte und Le voyage imaginaire von René Clair, Poil de carotte von Julien Duvivier, Prix de beauté von Augusto Genina und Un chien andalou von Buñuel. Leider existiert nach Aussage der Kinemathek kein Archiv der Mitglieder, so dass die Teilnahme Kagels in den frühen Jahren von Gente de Cine oder Cine Arte nicht nachgewiesen werden kann, auch wenn er selbst davon berichtete, schon in den Kriegsjahren an der Rettung von Filmen beteiligt gewesen zu sein.150 Er zählte jedenfalls nicht zu den urkundlich erwähnten Gründern der Cinemateca 1949. Das früheste erhaltene Programm in seinem Nachlass stammt vom 18. Oktober 1950 und verweist auf eine Vorführung des Films Zuiderzee von Joris Jvens im Teatro Lasalle. Interessanterweise findet es sich eingelegt im gleichnamigen Buch aus der Mailänder Reihe Biblioteca Cinematografica,151 von der Kagel bereits 1948 mehrere Bände erwarb.152 Die umfangreiche franzö-

148 Vgl. La Nación 5.9.2010, S. 8. 149 Vgl. Gente de Cine (1951), H. 1, S. 3. 150 Vgl. Kagel / Prox, »Abläufe, Schnittpunkte – montierte Zeit«, S. 115 f. Signifikant ist, dass Kagel in Collage (1964), H. 3 / 4, S. 42 nur als »aktiver Mitarbeiter der argentinischen Cinematèque« bezeichnet wurde. Erst später gab er an, bei der Gründung geholfen zu haben, vgl. z. B. »Wer von uns allen wird darüber berichten können? Gespräch mit Dieter Rexroth« [1989], in: Kagel, Worte über Musik, S. 85-98, hier S. 86. 151 ULB: Joris Jvens, Zuiderzee (Biblioteca Cinematografica Seconda Serie 2), Milano 1945. 152 Folgende Bände in der ULB sind mit »Mauricio Kagel Bs As 1948« signiert: Baldo Bandini e Glauco Viazzi, ragionamenti sulla scenografia (Biblioteca Cinemato-

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sisch- und italienischsprachige Filmliteratur, die er Ende der vierziger und Anfang der fünfziger Jahre erwarb, belegt sein Interesse an Filmproduktion und -musik und ein systematisches Selbststudium: So befanden sich ebenfalls mehrere, 1945 erschienene Ausgaben der Mailänder Reihe Cineteca domus in volumi, zahlreiche Bücher zu René Clair sowie Jean Cocteau153 in seinem Besitz. Sie verweisen auf Kagels eigene Beschäftigungen mit dem Film und die Tätigkeiten für die Kinemathek, von denen er 1982 rückblickend berichtete: »Ich brachte am Schneidetisch schwer beschädigte Kopien russischer Revolutionsfilme, die man in jenen Jahren im Kilo kaufen konnte, in vorführreife Fassung; ich synchronisierte 1953 als erster René Clairs Stummfilm ›Entr’acte‹ mit dem dafür bestimmten Klavierstück von Eric Satie (in der vierhändigen Fassung von Darius Milhaud) […].«154

Die Aufführung von entr’acte erfolgte im Kontext einer Ausstellung über das Filmschaffen René Clairs, die am 26. Oktober 1953 in der frankophilen Buchhandlung Galatea mitten im »Intellektuellenghetto« eröffnet wurde. Dort sei zum Film die Musik von Satie auf zwei Klavieren live von Mauricio Kagel und Jorge Milchberg vorgetragen worden.155 Milchberg erinnert sich gar an eine gemeinsame Aufnahme, die möglicherweise für die Vorführung des Films am 15. Dezember 1953 um 20 und 22.30 Uhr im Teatro colonial La Máscara entstand.156 Dem ging eine lange Auseinandersetzung mit der Filmkunst und dem Denken von Clair voraus: Bereits 1948 / 49 hatte Kagel Bücher erworben, denen er die Grundzüge von dessen Ästhetik sowie Aufbau und Technik besonders von entr’acte entnahm.157 Die gewonnenen Erkenntnisse flossen nicht nur praktisch

grafica Prima Serie 2), Milano 1945 und René Clair, entr’acte (Biblioteca Cinematografica Seconda Serie 1), a cura di Glauco Viazzi, Milano 1945. 153 ULB: u. a. Jean Cocteau, Entretiens autour du Cinématographe, recueillis par André Fraigneau, Paris 1951, mit zahlreichen Anmerkungen, Jean Cocteau, Orphée. Film, Photographies de Roger Corbeau, Paris 1951. 154 Kagel, Das Buch der Hörspiele, S. 316. 155 Vgl. Bericht vom November in Gente de Cine (1953), H. 27, S. 16. 156 Vgl. Milchberg in einer E-Mail an d. Verf. vom 24.12.2010 (vgl. Anhang S. 303). Aus der Programmvorschau der Cinemateca Argentina 1953 in PSS SMK Box Programmhefte Argentinien geht nicht klar hervor, ob die Musik live gespielt wurde oder als Aufnahme mit dem Film synchronisiert war. 157 ULB: u. a. Marcel L’Herbier, Intelligence du Cinématographe, Paris 1946 (signiert »MK 1949 BsAs«, Markierungen in den Kapiteln von René Clair »Et demain?«, S. 138-140 sowie »Rythme«, S. 291-293); Glauco Viazzi, René Clair (Biblioteca Ci-

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in die neue Filmmusikfassung ein, sondern prägten auch den Artikel »Música y ritmo en René Clair«, der im November 1953 in der Zeitschrift Gente de Cine erschien.158 Ausgehend vom grundsätzlichen Verhältnis zwischen Musik und Film untersuchte und zitierte Kagel hier zunächst Clairs theoretische Aussagen über Rhythmus von 1925159 und legte dann die Einflüsse aus dem Pariser BallettHype und dem Vaudeville auf das Schaffen Clairs dar. Den ausführlichen Mittelteil seines Aufsatzes widmete er entr’acte: Er verwies auf die historischen Entstehungsumstände und die Zusammenarbeit mit Francis Picabia und Erik Satie, dessen Porträt aus der Hand Picassos den Artikel großformatig illustriert. Dass die Musik zu dem Stummfilm als Partitur vorläge, sei dabei überraschend, einmalig und wohl der Tatsache geschuldet, dass Film und Musik das Zwischenspiel für das zweiaktige Ballett Relâche bildeten. Kagel analysierte das Zusammenspiel von Ton und Bild anhand der Partitur-Reduktion für Klavier zu vier Händen von Darius Milhaud und dem darin skizzierten filmischen Verlauf. Dennoch sei es schwer, genaue Aussagen zum Zusammenspiel zu machen, da keine originale Ton-Bild-Spur existiere und die Partitur weder den genauen zeitlichen Verlauf des Films noch ein präzises Tempo angebe. Doch sei die Musik von Satie so flexibel gehalten, dass sie vermutlich in den Szenen so oft wiederholt wurde, dass Tempo und Dauer die Bilder ohne Unterbrechung optimal begleiteten. Im folgenden Abschnitt wies Kagel auf die besondere Rolle der Musik in den Künsten hin, da sie auch mit surrealistischen und dadaistischen Verfahren des automatischen Schreibens nicht von der ordnenden Hand des Komponisten befreit werden könne. Es gelte darum, für den Film neue Formen der musikalischen Organisation zu schaffen und dabei zu beachten, dass die Musik den inne-

nematografica Prima Serie 4), Milano 1946 (mit Anmerkungen und Notizen im gesamten Buch, Programmzettel von Gente de Cine von 1951 sowie handschriftlichen Notizen auf 25 Blättern); René Clair, entr’acte (Biblioteca Cinematografica Seconda Serie 1), a cura di Glauco Viazzi, Milano 1945 (signiert »Mauricio Kagel Bs As 1948«, mit wenigen Anmerkungen); Jacques Bourgeois, René Clair avec 12 illustrations en hors-texte, Genève 1949. 158 Mauricio Kagel, »Música y ritmo en René Clair«, in: Gente de Cine (1953), H. 27, S. 4, nochmals abgedruckt in der im gleichen Monat erschienenen Sondernummer zu René Clair Cuaderno No. 1, S. 11. 159 Er gibt als Quelle »Les Cahiers du Mois. Número especial dedicado al cine (1925)« an. Clairs Artikel »Rythme« wurde wiederabgedruckt in Marcel L’Herbier, Intelligence du Cinématographe, Paris 1946, S. 291-293. Dieses Buch ist in Kagels Nachlass an der ULB vorhanden, auf S. 292 f. sind die Stellen markiert, die Kagel in Gente de Cine zitierte.

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ren Rhythmus eines Streifens bestimme, während die Handlung die Atmosphäre schaffe. Den folgenden Betrachtungen zu Clairs Filmen aus den dreißiger Jahren schließt Kagel folgendes Statement an: »Al componer música para cine, el compositor aporta una música sin desarrollo, sujeta a la acción dramática. La música se asocia a la imagen con un mecanismo provocado por los impulsos del libreto y no se desenvuelve con un planteo específicamente musical. En la obra de René Clair la música se manifiesta algunas veces en formas que escapan a la audición directa, pero que proyectan a la narración un ritmo espacial y dinámico. El montaje clairiano tiene en cuenta la duración de la música: ›Entr’acte‹ es la consecuencia de la obra de Satie, y esta experiencia sirve de antecedente para las creaciones posteriores de Clair.«160

Diese Überlegungen sind richtungsweisend für Kagels eigene Kompositionen nicht nur im Bereich von Film und Filmmusik, sondern auch zum Beispiel für das Instrumentale Theater: Musik schafft Rhythmus und Raum, nicht nur die Atmosphäre; sie ist somit nicht ausschließlich Hilfsmittel und wird nicht immer erst nach den Bildern komponiert, wie Ginastera noch 1945 in seinem SurArtikel behauptete (vgl. oben S. 84), sondern sie kann auch die Abfolge derselben bestimmen. Nach dem René Clair-Aufsatz gehörte Kagel offensichtlich zum Mitarbeiterstamm der Zeitschrift Gente de Cine. Laut der Januar / Februar-Ausgabe 1954 erhielt er zunächst den Auftrag, zum brasilianischen Filmfestival nach São Paulo zu fahren und davon zu berichten: »Mauricio Kágel, incorporado al cuerpo de redacción de Gente de Cine, acudirá al Festival Internacional de Cine a realizarse en San Pablo (Brasil) en febrero próximo, llevando la representación de esta publicación para reflejar en sus páginas los aspectos más interesantes del mis-

160 Mauricio Kagel, »Música y ritmo en René Clair«, in: Gente de Cine (November 1953), H. 27, S. 4: »Beim Komponieren von Filmmusik steuert der Komponist eine Musik ohne Entwicklung bei, die der dramatischen Handlung unterworfen ist. Die Musik verbindet sich mit dem Bild mechanisch durch die Vorgaben des Librettos und es entwickelt sich kein spezielles musikalisches Vorhaben. Im Werk von René Clair zeigt sich die Musik manchmal in Formen, die der direkten auditiven Wahrnehmung entfliehen, aber die einen räumlichen und dynamischen Rhythmus auf die Erzählung projizieren. Die Montage Clairs beachtet die Dauer der Musik: ›Entr’acte‹ ist die Konsequenz aus dem Werk Saties, und diese Erfahrung dient als Vorläufer für die späteren Kreationen Clairs.«

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mo.«161 Bis zum September / Oktober-Heft wurde er dann als Redaktionsmitglied geführt, allerdings erschienen in der Folge weder ein Festivalbericht noch andere von ihm namentlich gekennzeichnete Beiträge in der Publikation. Kagel beschäftigte sich in jenen Jahren nicht nur rezeptiv mit Filmmusik, sondern arbeitete auch an einem eigenen Projekt, von dem er später berichtete: »1954 schrieb ich die Musik zu ›Muertes de Buenos Aires‹ – ein Film, der fast dokumentarisch dem Gedicht von Jorge Luis Borges folgte, in den Abfallbergen und Schutthalden unter den ärmsten ihrer Einwohner am Rande der Stadt spielte und von der Regierung Perón sofort nach seinem Erscheinen verboten wurde: in Militärdiktaturen ist offensichtliches Elend – weil es potentielle Bedrohung bedeutet – nicht gestattet.«162

Zur Autorschaft von Muertes de Buenos Aires gibt es widersprüchliche Angaben. Während Kagel hier nur von der Filmmusik aus seiner Hand erzählte, findet man andernorts Aussagen wie: »Ich habe einen Film nach einem Gedicht von Jorge Luis Borges gedreht. ›Muertes de Buenos Aires‹ hieß er. Er wurde auf einem Friedhof namens Chacarita in der Nähe einer Mülldeponie gedreht.«163 Oder: »Ich war mit wirklich vielen Filmemachern liiert, und ein sehr junger Filmemacher machte daraus einen Film und er bat, dass ich die Musik schreibe.«164 2001 erklärte er: »Den 16-mm-Film habe ich mit einem Freund gedreht«.165 Für das Werkverzeichnis von Wieland Reich gab Kagel endlich als Regisseur Alejandro Saderman an, fügte dem Namen aber fälschlicherweise einen weiteren Buchstaben »n« hinzu.166 Saderman arbeitete ebenfalls bei Gente de Cine mit; er

161 Gente de Cine (1954), H. 29, S. 10: »Mauricio Kágel wird als Mitglied der Redaktion von Gente de Cine zum Internationalen Filmfestival in São Paulo (Brasilien) im kommenden Februar fahren, um unsere Zeitschrift dort zu repräsentieren und auf ihren Seiten über die interessantesten Aspekte des Festivals zu berichten.« 162 Kagel, Das Buch der Hörspiele, S. 316. 163 Mauricio Kagel im Interview: 25.7.1994 in Christiane Hillebrand, Film als totale Komposition. Analyse und Vergleich der Filme Mauricio Kagels, Frankfurt a. M. 1996, S. 232. Dass er den Film selbst realisierte, äußerte Kagel auch im Gespräch mit Prox, »Abläufe, Schnittpunkte – montierte Zeit«, S. 116. 164 Kagel / Schöning, »Die Filmkompositionen«, in: DVD ars acustica – ars intermedia. 165 Kagel, Dialoge, Monologe, S. 179. 166 Ich danke Wieland Reich für die Auskunft zur Entstehung der Informationen in seinem Werkverzeichnis (Wieland Reich, »Mauricio Kagel«, in: Komponisten der Gegenwart, 37. Nlfg. 2008, S. E f.), die auf einem Brief von Kagel vom 5.12.2000 basieren. Kagel blieb in vielem ungenau und versah zahlreiche Angaben mit Fragezei-

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und Kagel hatten sich in den fünfziger Jahren im Filmclub in den Samstagnachtvorstellungen kennen gelernt und wurden Freunde, »weil sie einen ähnlichen Geschmack hatten«.167 Die Erinnerungen beider an das Ergebnis der Produktion des Films widersprechen sich: Während Kagel angab, dass eine Kopie im Museum of Modern Art in New York vorhanden sei, blieb er laut Saderman unvollendet und ist heute verschollen.168 Kagel revidierte seine Aussage über die Zensur des Films: Sprach er zunächst von dem Verbot »nach seinem Erscheinen«,169 liest sich aus dem Gespräch mit Werner Klüppelholz, dass bereits das Drehbuch auf Grundlage des Borges-Gedichts die Zensur für die finanzielle Filmförderung nicht passierte, jedoch dann ohne staatliche Subvention produziert wurde.170 Dabei bleibt offen, ob er fertiggestellt und aufgeführt wurde. Einheitlicher sind die Berichte von Kagel und Saderman über die Inhalte des Streifens: Borges’ Gedicht »Muertes de Buenos Aires« aus dem Cuaderno San Martín von 1929 beschreibt die beiden Friedhöfe La Chacarita und Recoleta; war Letzterer den Reichen vorbehalten, so wurde dagegen Elend und Not in und um Chacarita offenbar. Das Gedicht enthält einige Zeilen, die laut Borges ursprünglich aus einem »Milonga de Arnold« genannten Lied stammten und von einem Gefangenen in Tierra del Fuego (Feuerland) komponiert wurden. Borges habe sie einmal in Chacarita beim Betreten eines »comité« gehört und rezitierte sie ein Leben lang: »La muerte es vida vivida, la vida es muerte que viene; la vida no es otra cosa que muerte que anda luciendo.«171 Fasziniert habe ihn neben

chen. Saderman zufolge (E-Mail an d. Verf. vom 30.6.2011, vgl. Anhang S. 306) haben zum Filmteam auch Aldo Persano und Nicolás »Pipo« Mancera gehört; beide waren aktive und später prominente Mitglieder von Gente de Cine. 167 Saderman in einer E-Mail an d. Verf. vom 22.1.2011 (vgl. Anhang S. 306): »por afinidad de gustos«. 168 Vgl. E-Mail von Saderman an d. Verf. vom 17.1.2011 (vgl. Anhang S. 305). Die angebliche Kopie des Films im Museum of Modern Art in New York konnte im Rahmen dieser Forschungen nicht aufgefunden werden. 169 Kagel, Das Buch der Hörspiele, S. 316. 170 Vgl. Kagel, Dialoge, Monologe, S. 179 f. 171 »Der Tod ist gelebtes Leben, das Leben ist kommender Tod; niemals ist das Leben andres als Tod, der leuchtend einherkommt«: Text und Übersetzung in Jorge Luis Borges, Buenos Aires mit Inbrunst. Mond gegenüber. Notizheft San Martin. Borges und ich (Gesammelte Werke 7), dt. von Gisbert Haefs und Karl August Horst, München / Wien 2006, S. 147. Vgl. die Angaben über den Vers in Jorge Luis Borges, »La poesía gauchesca«, in: Norte 6 (1965), H. 4, S. 83-93, hier S. 91, ders., »Poetas de Buenos Aires« [1966], in: Textos recobrados (1956-1986), Buenos Aires 2003,

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der Einfachheit der Worte bei der Benennung der ewigen Dinge die Tatsache, dass der inhaftierte Autor dieser Zeilen den gleichen Namen trug wie der englische Lyriker und Kulturkritiker Matthew Arnold.172 Vermutlich handelt es sich bei der Milonga um »Entre la vida y la muerte« von Enrique Vicente Arnol [sic] – auch bekannt unter dem Titel »De profundis«. Wortgleiche Passagen lassen sich bei Arnol und Borges nicht finden, so dass zu schließen ist, dass letzterer nicht zitierte, sondern nur die Thematik aufgriff und Schlüsselworte für seine eigene Neuschöpfung nutzte.173 Die Regie folgte Borges’ Gedicht insofern, dass sie Bilder der beiden Friedhöfe aufzeichnete und so die sozialen Milieus verglich: Saderman erinnert sich einerseits an einen großen, barocken, von Pferden gezogenen Leichenwagen in Recoleta, und andererseits an eine Szene in der Nähe von Chacarita, in der Müll verbrannt wurde und eine Frau mit Kind den Abfall nach Verwendbarem durchsuchte.174 Kagel erwähnte nur die Sequenz auf der Mülldeponie, die besonders regimekritisch intendiert war. Eine maschinenschriftliche Aufzählung von Szenen im Nachlass Kagels gibt einen Eindruck des geplanten Films und lässt vermuten, dass die Autoren dem Gedicht und zu Beginn sogar dem Bericht von Borges’ Besuch in einem Komitee von Chacarita eng verbunden blieben. Zunächst wird Chacarita beschrieben, werden Borges Worte in Bilder gesetzt, danach folgen die Sequenzen zu Recoleta: »1) pies, 2) vereda, 3) comite, 4) hilera de nichos, 5) descampado, 6) muro negro, 7) panorama tierra y arbol, 8) nichos en movimiento (tres vite), 9) pato, 10) ropa tendida, 11) panoramica con ropa tendida, 12) carrito, 13) caballos, 14) panoramica con laguna y caballos, 15) panoramica con laguna y humo, 16) cirujas con humo, 17) chimeneas solas, 18) chimeneas con carros, 19) carro en ralenti, 20) mujer con chico, 21) escupidera y panoramica de basura, 22) carros en ralenti, 23) carruaje cortejo funebre en ralenti, 24) sobreimpresion: humo de chimenea patas de caballos, 25) cruces: panorama, contraluces, 26) iglesia. interiores, 27) porton de rejas, 28) cupulas Recoleta, 29) lobo, 30) vieja con

S. 112-125, hier S. 122, nochmals 1974 im Gespräch mit Ernesto Sábato in Orlando Barone (Hg.), Diálogos de Borges y Sábato, Barcelona 2002, S. 64. Vgl. auch das Gespräch mit Alfredo de la Fuente, El payador en la cultura nacional, Buenos Aires 1986, S. 112. 172 Vgl. Jorge Luis Borges, The Spanish Language in South America – A Literary Problem. El Gaucho Martín Fierro, London 1964, S. 35. 173 »Entre la vida y la muerte« von Enrique V. Arnol wird in José Gobello, Nueva antología lunfarda, Buenos Aires 1972, S. 12 erwähnt. 174 Vgl. E-Mail von Saderman an d. Verf. vom 30.6.2011 (vgl. Anhang S. 306).

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paredon, 31) paredon Recoleta, 32) porton Recoleta r.q.i.p., 33) cruces de Recoleta, 34) tumba final«175

Die verschiedenen Zeitlupen – Wagen, Trauerzug – erinnern an entr’acte, andere Bilder – Füße, Wege, aufgehängte Wäsche, alte Menschen – trug Kagel offenbar weiter und sie finden sich Jahre später zum Beispiel in Ludwig van. Die an der Seite und zwischen der Szenenfolge angegebene Dauer der Einstellungen und Übergänge lassen auf eine Gesamtlänge des Films von etwa 12 oder 13 Minuten schließen. Über die Musik zu Muertes de Buenos Aires wissen wir aus dem Werkverzeichnis, dass sie für Gesangsduo (Tenor, Bariton), zwei spanische Gitarren und rhythmisierte Geräuschmontage konzipiert gewesen sei.176 Kagel berichtete rückblickend, er habe einen »Soundtrack hergestellt, der in seiner Art gar keiner war, weil ich mich aus Prinzip weigerte, Bilder zu illustrieren oder zu vertonen«.177 Er habe daher eine »Asynchronität zwischen Musikern« gezeigt: »Sie spielten etwas, das man nicht hörte. Das, was gespielt wurde, war grundsätzlich asynchron.«178 Die erhaltene Drehbuchskizze enthält zwar keine Szene, in der Musiker genannt sind, und auch keinen Hinweis auf eine ärmliche, ländliche Kneipe mit einem Gitarrenspieler, von dem Kagel erzählte: »Dieser Gitarrist singt die Verse von Borges.«179 Möglicherweise handelt es sich jedoch um die dritte Szene »Comite«, die mit einer Minute und 38 Sekunden gewichtigeren

175 PSS SMK, Mappe Muertes de Buenos Aires, maschinenschriftliche Szenenfolge, Hervorhebungen original: »1) Füße, 2) Weg, 3) Komitee, 4) Reihe Grabnischen, 5) offenes Feld, 6) schwarze Wand, 7) Landschaft und Baum, 8) Grabnischen in Bewegung (sehr schnell), 9) Ente, 10) aufgehängte Wäsche, 11) Gesamtaufnahme mit aufgehängter Wäsche, 12) kleiner Wagen, 13) Pferde, 14) Gesamtaufnahme mit Teich und Pferden, 15) Gesamtaufnahme mit Teich und Rauch, 16) Müllsucher im Rauch, 17) Schornsteine allein, 18) Schornsteine mit Wagen, 19) Wagen in Zeitlupe, 20) Frau mit Kind, 21) Spucknapf und Gesamtaufnahme des Mülls, 22) Wagen in Zeitlupe, 23) Kutsche Leichenzug in Zeitlupe, 24) Überblendung: Rauch aus Schornstein Pferdehufe, 25) Kreuze: Panorama, Gegenlicht, 26) Kirche. Innenraum, 27) Gittertor, 28) Kuppeln von Recoleta, 29) Wolf, 30) Alte mit Mauer, 31) Mauer von Recoleta, 32) Tor zu Recoleta r.q.i.p. 33) Kreuze von Recoleta, 34) endgültiges Grab«. 176 Vgl. Reich, »Mauricio Kagel«, S. E f. 177 Kagel, Dialoge, Monologe, S. 179. 178 Kagel im Interview: 25.7.1994 in Hillebrand, Film als totale Komposition, S. 232. 179 Kagel / Schöning, »Die Filmkompositionen«, in: DVD ars acustica – ars intermedia.

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Umfang hatte und dem Setting entspricht, in dem Borges einen Vorstädter die Milonga-Verse von Arnol zur Gitarre singen lässt. Durch eine Versetzung von Bild und Ton sei Kagel zufolge an dieser Stelle ein schmerzhafter Ausdruck entstanden, der dem Hörer das vermittelte, was der Text enthielt: »Das, was er sagte, war überhaupt nicht lustig.«180 Da Tonaufnahmen, Partitur und Filmmaterial nicht vorliegen, bleibt die Rekonstruktion dieses Zusammenspiels unserer eigenen Vorstellung überlassen. Im Widerspruch zu all dem steht noch, was Kagel 1956 an Francisco Curt Lange in seinem Werkverzeichnis schrieb: Er datierte hier die Filmmusik auf das Jahr 1952 und gab an, sie sei für Kammerorchester entstanden.181 Dafür weisen die Erinnerungen von Jorge Milchberg auf Kagels Arbeit mit geräuschhaften, aufgenommenen Instrumentalklängen: Milchberg berichtet, er sei in den fünfziger Jahren im Aufnahmestudio »Ion« tätig gewesen, das heute noch existiert und in dem seither unter anderen Alberto Lysy mit seiner Camerata Bariloche, Astor Piazzolla oder das Colón-Orchester Aufnahmen produzierten. Der Name des Studios sei eine Wortschöpfung Kagels gewesen, der dort auch selbst Musik aufgezeichnet habe: »Mauro grabò ahi (con mi ayuda) una musica para un cuento de Borges.... era una especie de Musica Concreta golpeando directamente en las cuerdas de un piano abierto...«182 Es ist anzunehmen, dass es sich hierbei um die Musik zu Muertes de Buenos Aires handelte. Die Behandlung des Klaviers lässt an Einflüsse von Cowell und Cage denken,

180 Ebd. 181 Vgl. Brief von Kagel an Lange vom 3.9.1956, S. 4 (ACL / vgl. Anhang S. 310). 182 Milchberg in einer E-Mail an d. Verf. vom 24.12.2010, Orthografie wie im Original (vgl. Anhang S. 303): »Mauro nahm dort (mit meiner Hilfe) eine Musik zu einem Gedicht von Borges auf … es war eine Art Musique concrète, bei der direkt auf die Saiten eines offenen Klaviers geschlagen wurde…«. Die Stadt Buenos Aires führt die Gründung des Studios Ion auf das Jahr 1956 und den Musiker Tiberio Kertesz zurück und gibt als erste Adresse die Straßenkreuzung Díaz Vélez und Medrano an, vgl. http://www.buenosaires.gob.ar/areas/cultura/cpphc/sitios/detalle.php?id=108 (1.2.2013). In Kagels frühem Skizzenmaterial findet sich Papier mit der Aufschrift »Estudio Audioson Grabación de discos. Díaz Vélez 3891«, möglicherweise dem Vorgänger von Ion am gleichen Ort: PSS SMK Mappe Frühe Studien und Entwürfe 1. Dossier lose [3 / 5]. Dass Kagels erste Studien sowie die Aufnahmen für die Turmmusik in Ion stattfanden, gab auch Hugh Davies, International Electronic Music Catalog, Cambridge / Mass. 1968, S. 2 an.

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deren perkussive Kompositionen für Klavier zumindest passiv bekannt waren, auch wenn sie in den Konzerten der ANM noch nicht erklangen.183 Das zweite Filmprojekt, das Kagel offenbar in Buenos Aires verfolgte und in dem er leere Gebäude mit Klang kombinierte, hinterließ noch weniger Spuren. Seine eigenen Aussagen dazu widersprechen sich ebenfalls: Einerseits erwähnte er die Arbeit mit Plattenspielern, Nachhallzeiten und einer wandernden Kamera,184 andererseits sprach er nur von einer Filmstudie, für die leere Gebäude abfotografiert worden waren und die mit einem Musikstück unterlegt wurde.185 Den Freund, mit dem er diesmal zusammenarbeitete, benannte er nicht; eine Partitur des zugehörigen Musikstücks ist im Nachlass nicht zu identifizieren. Es bleibt mit Kagel festzuhalten, dass sein Interesse am Film und seine ersten eigenen Experimente keine öffentliche Wirkung zeigten – wohl vor allem, weil die technischen Möglichkeiten viel zu eingeschränkt waren: »In Buenos Aires stand für die gesamte Alternativszene nur ein einziger Montagetisch zur Verfügung. Der wurde 25 Stunden am Tag besetzt.«186 Das Interesse an Film und Filmmusik ist dagegen kaum überraschend, verband es doch in der Zeit die verschiedensten Komponisten in Buenos Aires: Ginastera verdiente in den vierziger und fünfziger Jahren sein Geld mit Musik zu mehreren Filmen (vgl. oben S. 84); Juan José Castro bemühte sich für Manuel de Falla noch 1945 um die Produktion eines seiner Werke durch Estudios San Miguel;187 selbst Juan Carlos Paz war ein passionierter Kinogänger, hatte als Jugendlicher Stummfilme begleitet und schrieb später – und zwar von 1957 bis 1960 ausschließlich – Filmmusik. 188 Seinem Vorbild folgten Francisco Kröpfl, der 1960 die erste elektronische Musik zu Kurzfilmen erstellte, und Edgardo Cantón, ebenfalls Mitglied der ANM, der noch 1969 für die Musik in Invasión über ein Drehbuch von Borges und mit Paz als einem der Hauptdarsteller verantwortlich zeichnete.

183 Vgl. Juan Carlos Paz, La música en los Estados Unidos, México 1952, S. 176 f., wo das präparierte Klavier von Cage erwähnt wird, sowie zuvor Paz’ Aufsätze in Cabalgata (1948), H. 16 und 21, vgl. oben S. 112. In Kagels Nachlass existiert eine unbeschriftete Pyral-Platte, die neben Duos für Flöte und Klavier auch Aufnahmen für Klavier mit perkussiven Elementen enthält und das Resultat der Arbeit mit Milchberg sein könnte: PSS MK LPS 6, vgl. MK CD 327, Track 3-6. 184 Vgl. Kagel in Hillebrand, Film als totale Komposition, S. 232. 185 Vgl. Kagel, Dialoge, Monologe, S. 180. 186 Kagel im Interview: 25.7.1994 in Hillebrand, Film als totale Komposition, S. 232. 187 Vgl. Manso, Juan José Castro, S. 182 ff. 188 Vgl. Corrado, Vanguardias al Sur, S. 25 f. und 217 ff.

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Vor diesem Hintergrund der intensiven Beschäftigung mit Filmmusik um das Jahr 1953 erscheinen Details im Skizzenmaterial zur Klaviermusik MM 51. Ein Stück Filmmusik für Klavier (UA 1977) in neuem Licht. Auf dem erhaltenen Bleistiftmanuskript vermerkte Kagel: »(Idee 21. März 1975) MM 53 für Metronom + Klavier Auftragswerk vom Süddeutschen Rundfunk«189. Diese erste Titelgebung ist natürlich – rückwärts gelesen – einerseits Referenz an das Filmformat 35mm. Andererseits könnte es bewusst auf das Jahr 1953 anspielen, in dem wie beschrieben Kagel Saties Musik zu entr’acte in Buenos Aires aufführte und sein Engagement im Cine Club offensichtlich einen Höhepunkt verzeichnete. Zur letztendlichen Titelfindung schrieb Kagel dann MM 51, MM 52, MM 53 usw. bis MM 59 untereinander und entschied sich abschließend für MM 51.190 Interessant erscheint die Beschränkung auf die Zahlen 51-59: Verbirgt sich dahinter Kagels bewusste Entscheidung für das Tempo oder doch ein autobiografischer Fingerzeig? Möglicherweise hatte sein Besuch in Buenos Aires im September 1974 (vgl. oben S. 16) Erinnerungen und Impulse seiner Jugendzeit neu ins Bewusstsein gerufen, die in den folgenden Jahren in Werke wie MM 51, Quatre Degrés, Tango Alemán (UA 1978) oder Der Tribun (Erstsendung 1979) erkennbar einflossen. Mit Blick auf Kagels Ausführungen zum Zusammenhang von Musik, Rhythmus und Handlung anhand der Filme von René Clair ist MM 51 auch originell: Das gleichmäßig schlagende Metronom, das das Tempo zunächst vorgibt, wird durch eine Handlung des Interpreten aus dem Takt gebracht; die Musik setzt sich jedoch emanzipiert und eigenständig fort, ohne aus dem Metrum zu geraten. Erst aus der Asynchronität von Handlung und Musik ergibt sich überhaupt der Gesamteindruck und Witz.

189 PSS SMK Mappe MM 51: Bleistiftmanuskript in Folie, 1. Seite. Abgedruckt in Steigerwald, »An Tasten«, S. 184. 190 PSS SMK Mappe MM 51: Blaue Mappe. Vgl. auch Steigerwald, »An Tasten«, S. 182.

Moment II: Juli 1954. Zweites Zusammentreffen mit Pierre Boulez in Buenos Aires

»Nous fîmes trois voyages en Amérique du Sud. Au deuxième, en 1954, l’Argentine sentait la guerre civile.«1 Von einem Bürgerkrieg in Argentinien konnte freilich im Juli 1954 nicht gesprochen werden; so ist Barraults Aussage nicht präzise, doch scheint sie auf schwelende Konflikte im Jahr vor dem Sturz Peróns hinzuweisen. Pierre Bertin, Schauspieler und Mitglied der Truppe, weilte nun bereits zum dritten Mal in Buenos Aires und schrieb über diese Reise ein ganzes Buch, in dem er seine Erinnerungen zusammenfasste.2 Darin berichtete er über Ausflüge und Vorträge im Landesinneren, bei denen er einerseits die verarmten Vorstädte, die ihn schockierten, andererseits aber auch Sozialprojekte der Regierung sehen konnte. Zudem besuchte Bertin Victoria Ocampo und traf Freunde, die er von den vorherigen Gastspielen kannte und unter denen er besonders folgende erwähnte: »Léonor Hirsch qui, avec quelques personnes, soutient l’effort de ›Amigo della Musica‹ [sic], société qui fait de si bon travail«.3 Wiederum gastierte die Compagnie im Teatro Odeón: am 1. Juli mit André Gides Œdipe und Molières Amphitryon, vom 5. bis 7. Juli mit Jean Giraudouxs Pour Lucrèce und vom 8. bis 10. Juli mit Tschechows La Cerisaie. Zudem wurden Molières Le Misanthrope, Jean Anouilhs La répétition ou l’amour puni und Fernand Crommelyncks Le cocu magnifique dort gegeben, allerdings fiel das Presseecho zu diesen Veranstaltungen im Vergleich zu 1950 bedeutend geringer

1

Barrault, Souvenirs pour demain, S. 254.

2

Vgl. Pierre Bertin, Carnet de voyage. Brésil – Uruguay – Argentine – Chili, Paris

3

Ebd., S. 84. Vgl. zur Gesellschaft Amigos de la Música oben S. 70 ff.

1954, zu Buenos Aires S. 83-95.

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aus.4 Die wichtigste Produktion fand freilich diesmal im Teatro Colón statt, weil die Bühne im Odeón zu klein gewesen wäre: Christophe Colomb von Paul Claudel mit Musik von Darius Milhaud in einer speziellen Fassung für die Compagnie war auch die musikalisch aufwändigste Produktion der Tournee 1954. Pierre Boulez erarbeitete an jedem Spielort (Rio de Janeiro, São Paulo, Montevideo, Buenos Aires und Santiago de Chile) mit (Laien-)Chören5 und Orchestern innerhalb kürzester Zeit die Partitur und kam am Ende zu dem Schluss: »Découvrir l’Amérique n’est pas de tout repos.«6 Anekdotisch erinnert sich auch Barrault an die anstrengende Arbeit und erwähnt besonders Boulez’ Dirigieren: »Buenos Aires, 14 Juillet. Christophe Colomb au Grand Théâtre Colón. […] Le travail fut dur. J’entends encore Boulez battre la mesure en hurlant en cadence: ›Et merde, et merde, et mille fois merde!‹«7 In Buenos Aires sollte die erste Aufführung eigentlich am 11. Juli stattfinden, wurde aber aufgrund der komplexen Inszenierung um einen Tag verschoben:8 Das Zusammenspiel von Barraults Darstellern, den Musikern aus Chor und Orchester des Colón sowie filmischen Sequenzen erforderten besondere Koordination und Probenzeit. Die Vorstellungen in den folgenden Tagen fanden dann ein geteiltes Presseecho: Meist wurde die Produktion von Barrault mit der ein Jahr zuvor am Colón präsentierten Inszenierung der gleichnamigen Oper verglichen. Die Neufassung mit der reduzierten Bühnenmusik Milhauds schnitt dabei in der Musikkritik vernichtend ab: »Síntesis del juicio: cincuenta minutos de música frustrada, sin nervio, sin impulso, sin calidad.«9 Andererseits wurde die szenische Konzeption in ihrer aussagekräftigen Nüchternheit auf der Basis einfacher Mittel als die beste von Barraults Inszenie-

4

Vgl. Kritiken in La Prensa 2.7.1954, S. 8, La Nación 6.7.1954, S. 4 und La Prensa 6.7.1954, S. 8 sowie die Erwähnung des gesamten Gastspiel-Programms, allerdings ohne genaue Daten in La Prensa 11.7.1954, S. 5. Ein Großteil des Programms hatte keine besonders ausgewiesene Bühnenmusik; nur die zu Amphitryon komponierte Francis Poulenc, vgl. Frank, Jean-Louis Barrault, S. 145.

5

Mit denen Boulez zunächst sängerische Grundlagen und dann besonders die französische Aussprache proben musste. Vgl. Boulez im Brief an Cage im Juli 1954: Boulez / Cage, Correspondance et documents, S. 219.

6

Brief Ende Juli / Anfang August 1954 an Cage: Boulez / Cage, Correspondance et do-

7

Barrault, Souvenirs pour demain, S. 254.

8

Vgl. Informationen in La Nación 11.7.1954, S. 4.

9

Enzo Valenti Ferro, »›Cristobal Colón‹, de Claudel – Milhaud – Barrault«, in: BAM 9

cuments, S. 222.

(1954), H. 142, S. 1 und 4, hier S. 4: »Zusammenfassendes Urteil: Fünfzig Minuten frustrierte Musik, ohne Energie, ohne Impuls, ohne Qualität.«

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rungen gelobt.10 Den Kritiken ist außerdem zu entnehmen, dass Boulez mit dem Orquesta Sinfónica de Buenos Aires bzw. einem Teil davon arbeitete – also einem professionellen Orchester, das zu der Zeit am Colón angesiedelt war –, eine Wertung des Ergebnisses ist jedoch nicht zu finden. Geplant waren nach der Premiere am 12. Juli jeweils zwei Vorstellungen am 13. und 14. Juli. Die Veranstaltung am Nachmittag des französischen Nationalfeiertags sollte eingeladenen Gästen vorbehalten bleiben, diejenige am Abend der französischen Gemeinschaft.11 Allerdings kam es offenbar zu einer Auseinandersetzung mit regierenden Politikern über die eingeladenen Studenten am Nachmittag. Barrault erinnert sich rückblickend: »La veille, je suis convoqué par l’intendant de la ville: – Il paraît que vous avez invité des étudiants communistes. – Nous avons invité tous les étudiants. – Il y a parmi eux des étudiants communistes. Il va y avoir des manifestations. Vous ne voulez pas qu’on crie: Barrault-Communiste! – A propos d’une œuvre de Paul Claudel, cela me paraîtrait un peu déplacé! Combien sont-ils donc, ces étudiants? – On en a relevé une douzaine. – Cela me paraît peu pour un régime aussi fort que le vôtre. – Nous ne vous ordonnons pas de supprimer la représentation, mais, à votre place, j’y renoncerais. S’il y a des bagarres, nous ne pouvons répondre de rien. – Monsieur l’intendant, sachant ce que sont les agents provocateurs, je crois en effet qu’il vaut mieux renoncer à la matinée. Un grand nombre d’étudiants s’étaient déplacés, les uns venant même de Cordoba et de Tucumán. Massés autour du théâtre, déçus, ils recevaient ›subrepticement‹ des tickets pour la soirée. C’est nous qui les distribuions. Le soir, devant une salle débordante de monde, nous jouâmes Christophe Colomb.«12

Dass die Veranstaltung am Nachmittag tatsächlich abgesagt wurde, berichtete La Nación:13 Allerdings habe das Bildungsministerium extra mitteilen lassen, dass es, obwohl als Förderer des Gastspiels auftretend, nichts mit den Einladungen und der Verteilung der Eintrittskarten zu tun hatte, sondern dass die gesamte organisatorische Verantwortung bei der französischen Botschaft lag.

10 Vgl. La Nación 13.7.1954, S. 4 und La Prensa 13.7.1954, S. 8. 11 So die Ankündigungen in La Nación 11.7.1954, S. 4. 12 Barrault, Souvenirs pour demain, S. 254. 13 Vgl. La Nación 15.7.1954, S. 4.

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Während die Compagnie im Vergleich zu 1950 weniger enthusiastisch und umfassend besprochen wurde, erhielt Boulez 1954 – nach seinem Auftreten in Darmstadt und Aufsätzen wie »Schoenberg est mort« nun bekannter14 – auch in der argentinischen Kultur- und besonders der Musikwelt größere Aufmerksamkeit. So publizierte Buenos Aires Musical am 15. Juli 1954 auf der ersten Seite ein Interview mit ihm unter dem Titel »Pierre Boulez, el músico más moderno de Francia, habla para ›Buenos Aires Musical‹«.15 Boulez hob darin hervor, dass sich junge Komponisten heute für bzw. gegen bestimmte Traditionen und für eine Ästhetik entscheiden und hart daran arbeiten müssten. Durch öffentliche Aufführungen zeige sich dann, welches Talent in einem jungen Komponisten stecke; seine Ausdrucksmittel könnten sich durch die Erfahrungen der Aufführungen und den Diskurs in der Öffentlichkeit verbessern. Weiter verwies er auf die Erfolge jüngster Aufführungen webernscher Werke in Paris und ging auf die Fortentwicklung der Dodekaphonie hin zum Serialismus ein. Auf die Nachfrage des Journalisten hin erklärte er die Emanzipation von Leibowitz, den er als Akademiker bezeichnete: Er sei wie eine Treppe, die helfen würde, ein Flugzeug zu besteigen. Wenn das Flugzeug abhebe, habe die Treppe den Dienst getan und bliebe auf der Erde. Ebenso ging er auf die Entwicklung der elektronischen Musik im Unterschied zur Musique concrète ein und hob die wichtigsten Macher in Köln hervor: Herbert Eimert habe Techniker und Wissenschaftler erster Klasse unter einem Dach vereint; Karlheinz Stockhausen habe die fortschrittlichsten Kompositionen realisiert, von denen zwei in Kürze als kommerzielle Schallplatten erscheinen würden. Zu den lebenden Komponisten, die ihn zudem interessierten, zählte er Messiaen (nur eingeschränkt: interessant wegen der rhythmischen Konzeptionen), Cage (im Hinblick auf die neuen Klangdimensionen im präparierten Klavier), Michel Fanó und Luigi Nono. Abschließend äußerte er sich kritisch zu Hindemith sowie zu Strawinskys Hinwendung zur Zwölftontechnik. Dem Interview ist so zu entnehmen, welche aktuellen Informationen Boulez in Buenos Aires während seiner Anwesenheit verbreitete.

14 Vgl. Borio / Danuser, Im Zenit der Moderne, Bd. 3, S. 552 ff. Pierre Boulez, »Schoenberg est mort«, in: The Score (1952), erneut gedruckt in: ders., Relevés d’apprenti, Paris 1966, S. 265-271, dt. von Josef Häusler in: ders., Anhaltspunkte, Stuttgart u. a. 1975, S. 288-296. 15 BAM 9 (1954), H. 141, S. 1: »Pierre Boulez, der modernste Komponist Frankreichs, spricht für ›Buenos Aires Musical‹«. Der Gesprächspartner (und vermutlich auch Übersetzer des Interviews) wird namentlich nicht genannt, er sei aber Sekretär der Redaktion gewesen. Es könnte sich um Jorge Aráoz Badí handeln, der spätestens 1956 diese Stelle innehatte.

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Er war diesmal im Hotel Claridge untergebracht,16 woran sich Kagel noch im Jahr 2001 erinnerte: »Übrigens: Boulez lief in jeder freien Minute auf sein Zimmer im Hotel Claridge, um an den letzten Nummern von ›Marteau sans Maître‹ zu arbeiten. Er war noch nicht fertig mit der Partitur, aber Hans Rosbaud probte bereits in Baden-Baden für das Festival von Donaueschingen.«17 Dennoch war es Boulez diesmal möglich, sich mit Komponisten zu treffen, und er hatte mit einigen Mitgliedern der ANM engeren Kontakt: So existiert ein gemeinsames Foto von ihm und Odile Baron Supervielle, mit der er nach dem Gastspiel 1954 auch für einige Zeit Briefkontakt pflegte.18 Kagel traf sich offenbar separat mit Boulez und zeigte ihm seine Kompositionen; er erinnerte sich grob daran, dass Boulez »die fertige Partitur des ›Quarteto mixto‹«19 sowie »das abgeschlossene ›Streichsextett‹ und einige Nummern von ›Música para la torre‹«20 las. Darüber hinaus hielt Boulez einen Vortrag in der Galerie Krayd, die sich damals direkt neben dem Hotel Claridge in der Straße Tucumán befand. Der Einladung an die Mitglieder der ANM vom 2. Juli ist zu entnehmen, dass der Vortrag für den 7. Juli um 18.30 Uhr geplant war und die Vorgeschichte der aktuellen Musik sowie deren neueste Entwicklungen darstellen sollte.21 Angekündigt wurde darin auch, dass Boulez seine Ausführungen mit Tonaufnahmen aus dem Théâtre Marigny illustrieren werde. Kagel berichtete von diesem Vortrag, Boulez habe auf Französisch »über Köln und die neuesten Entwicklungen der elektronischen Musik«22 gesprochen. Juan de Prat Gay, Mitglied der ANM, schrieb Ende des Jahres in einem Artikel für die Zeitschrift Sur über die Aktualität und Beispielhaftigkeit von Boulez: Der Ausspruch Barraults, Boulez sei

16 Vgl. Angabe im Brief von Boulez Juli 1954 an Cage: Boulez / Cage, Correspondance et documents, S. 221. 17 Kagel, Dialoge, Monologe, S. 40. Kagel erzählte diese Passage direkt im Anschluss an seine Schilderung der Prozess-Aufführung und vermischte die Gastspiele 1950 und 1954 dadurch. Le Marteau sans Maître wurde am 18.6.1955 in Baden-Baden unter Hans Rosbaud uraufgeführt. 18 Fotos und Briefe im Besitz von Odile Baron Supervielle. 19 Kagel, Dialoge, Monologe, S. 38. Dies sei beim ersten Besuch gewesen (Kagel spricht allerdings fälschlicherweise von 1952), ist für 1950 aber unwahrscheinlich. 20 Ebd., S. 39. Hier muss das Sextett in der ursprünglichen Version für gemischtes Ensemble von 1953 gemeint sein. 21 Vgl. Einladungsblatt im Nachlass Paz: »antecedentes de la música actual y sus aspectos más recientes«. 22 Rebstock, Komposition zwischen Musik und Theater, S. 353.

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»[h]érissé et charmant comme un jeune chat«23 fehlte darin ebenso wenig wie die Aufzählung der diversen polemischen Äußerungen von Boulez zum Neoklassizismus, der Nutzlosigkeit von Komponisten, die die Dodekaphonie noch nicht als Notwendigkeit erkannt hätten, und gegenüber dem akademischen Dodekaphonismus. Dem Bericht ist zu entnehmen, dass Boulez bei seinem Vortrag in Krayd vor allem über neue rhythmische Konzeptionen sprach. Eine Gruppe junger Komponisten weihte er darüber hinaus genauer in seine aktuelle Arbeit an »L’Artisan [sic] furieux«24 ein: »Nosotros, que hemos seguido de muy cerca a Boulez durante su estadía en Buenos Aires, asistimos en cierta manera a la génesis de su obra y luego a su análisis, efectuado por él mismo en una de las dos clases que dictó a un grupo de jóvenes argentinos, con generosidad y entusiasmo apostólicos.«25

Möglicherweise war Kagel Teil dieser »Gruppe junger Argentinier«; dass Boulez ihm 1954 den Weg nach Europa und konkret nach Köln wies, kann aus Kagels Erinnerungen gelesen werden: »Als Pierre Boulez 1954 in Buenos Aires meine Partituren sah, riet er mir, nach Europa zu gehen; er erzählte auch vom ›Elektronischen Studio‹ des WDR in Köln. Also bemühte ich mich um ein Stipendium, das ich schließlich auch vom Deutschen Akademischen Austauschdienst erhielt, um in Köln elektronische Musik zu komponieren«.26

23 Juan de Prat Gay, »Actualidad y ejemplo de Boulez«, in: Sur (1954), H. 231, S. 116121, hier S. 119. Vgl. Jean-Louis Barrault, »Pierre Boulez« [1953], in: La musique et ses problèmes contemporains 1953-1963 (Cahiers de la compagnie Madeleine Renaud – Jean-Louis Barrault), Reprint: Amsterdam 1969, S. 3-6, hier S. 3. 24 Ebd., S. 121. Im Aufsatz wurde tatsächlich speziell von der Vertonung des Textes von René Char für Altstimme und Flöte gesprochen, der später als »L’Artisanat furieux« zu einem Teil von Le Marteau sans maître wurde. Allerdings erwähnte de Prat Gay auch das kleine Ensemble besonderer Besetzung und besonderen Klangs (u. a. mit Gitarre und einem Instrument, das der Komponist erfunden habe – gemeint ist die Xylorimba), die das Duo kommentiere. 25 Ebd. in einer Fußnote: »Wir, die wir Boulez während seines Aufenthaltes in Buenos Aires auf Schritt und Tritt folgten, assistierten quasi der Entstehung des Werks und dann seiner Analyse, die er selbst in zwei Unterrichtsstunden für eine Gruppe junger Argentinier mit apostolischer Großzügigkeit und Enthusiasmus ausführte.« 26 Kagel, Worte über Musik, S. 70. Bisher sind keine Bewerbungsunterlagen Kagels für das DAAD Stipendium zugänglich / bekannt.

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Dem erwähnten Interview in Buenos Aires Musical, aber auch einem Brief von Boulez an Cage oder Kagels Erinnerungen27 ist zudem zu entnehmen, dass Boulez direkt vor der Reise nach Südamerika in Köln gewesen war, enthusiastisch von den Arbeitsbedingungen im WDR-Studio berichtete – Paris und Pierre Schaeffer dagegen verschwieg – und damit in Buenos Aires wichtige Impulse gab. Von der Arbeit der ANM war Boulez offenbar ebenfalls angetan, denn er erwähnte die Gruppe und Paz beispielhaft neben den Darmstädter Ferienkursen, der Münchner Musica Viva Reihe, seinem eigenen Domaine Musical und anderen 1955 in den Cahiers de la Compagnie Madeleine Renaud – Jean-Louis Barrault.28 Mit Paz und Kröpfl korrespondierte er weiterhin: Paz’ serielle, für die Asociación Amigos de la Música als Kompositionsauftrag entstandenen und 1956 in Buenos Aires uraufgeführten transformaciones canónicas spielte Boulez 1958 in seinem Domaine Musical und sandte sie auch an Hermann Scherchen weiter.29 Kröpfl, inspiriert von den europäischen Entwicklungen, gründete 1958 in Buenos Aires das erste elektronische Studio, das zunächst an der Architekturfakultät der Universität untergebracht war.

27 Vgl. Brief vom Juli 1954 in Boulez / Cage, Correspondance et documents, S. 220 und Kagel, Dialoge, Monologe, S. 39. 28 Vgl. Pierre Boulez, »Premiére et seconde audition«, in: Cahiers de la Compagnie Madeleine Renaud – Jean-Louis Barrault 3 (1955), H. 3, S. 122 f. 29 Vgl. Brief von Boulez an Paz vom 14.2.1959, teilweise transkribiert in Maranca, Cartas a J. C. Paz, S. 44.

Mauricio Kagels Werdegang: Chor- / Orchesterleitung und Literatur

I NTERPRET UND O RGANISATOR IN VERSCHIEDENEN MUSIKALISCHEN K ONTEXTEN Wie bereits dargestellt, trat Kagel bei den ANM-Konzerten 1953 als Chor- und Orchesterleiter auf. Dass er Dirigieren und Partiturspiel bei Teodoro Fuchs lernte und bei ihm als Chorleiter assistierte, ist seinen Erinnerungen zu entnehmen.1 Auch die Kammeroper und das Teatro Colón als Stationen seines Werdegangs als Interpret erwähnte er in Europa, andere verschwieg er jedoch konsequent. Noch in Argentinien beschrieb Kagel dagegen detailliert im Brief an Francisco Curt Lange vom 3. September 1956, in welchen Gruppen er sich engagierte: »En 1952 fuí nombrado director ayudante del Coro Estable de la Sociedad Hebraica Argentina, tarea que desempeñé hasta 1954, año en que se me designó Director Titular del mismo conjunto, ademas de iniciar la formacion de un conjunto coral para niños. He ampliado el repertorio de este coro con las obras de los siglos XV, XVI y XVII de las escuelas italiana, francesa y española, habiendo dedicado conciertos a la musica del Renacimiento y del Medioevo en especial. La antigua musica judia del Renacimiento Italiano, y en especial la de Salomone Rossi, de Mantua y colaborador de Monteverdi recibio mi preferente atención. Comenzé a ejecutar sus obras corales, motetes y madrigales en especial, asi como las obras de la antigua liturgia judia de Europa oriental. Tambien con el coro antes citado estrené composiciones de autores argentinos. A principios de 1956, renuncié a la direccion de este coro. […] También en 1953 el Collegium Musicum me invitó a dirigir la orquesta del Festival de Verano de ese año. Anteriormente habia dirigido conjuntos de camara por Radio del Estado y en la Agrupación Nueva Música. En 1954 la Sociedad

1

Vgl. Kagel / Klüppelholz, ».... / 1991«, S. 41.

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Hebraica Argentina auspició la creacion de una Orquesta de Cámara para su actuación regula en esa sociedad, encomendándome la dirección del conjunto. En el transcurso del mismo año, fundé con el concurso de un grupo de jovenes ejecutantes, la Orquesta de Camara Pro-Música. Para dedicarla en especial al conocimiento y difusion de la literatura musical de las obras de los siglos XVII y XVIII. Dirijo actualmente esta orquesta, cuyo ejemplo a originado la creacion de un coro de características y propósitos similares. En Marzo de 1956 el Teatro de Opera de Camara de Buenos Aires me llamó para colaborar en su Temporada de Presentación, proponiéndome luego el cargo de Director de Estudios, que desempeño actualmente. En Junio de 1956 gané por concurso el puesto de Maestro de Estudios en el Teatro Colon de Buenos Aires, cargo que desempeño actualmente.«2

2

Brief von Kagel an Lange vom 3.9.1956, S. 2 f. (ACL / vgl. Anhang S. 308), Orthografie wie im Original: »1952 wurde ich zum Aushilfsdirigenten des Ständigen Chors der Argentinischen Hebräischen Gemeinschaft ernannt, eine Aufgabe, die ich bis zum Jahr 1954 erfüllte, in dem ich zum eigentlichen Leiter dieses Ensembles bestimmt wurde und außerdem mit der Bildung eines Kinderchors begann. Ich habe das Repertoire dieses Chors mit Werken des 15., 16. und 17. Jahrhunderts aus italienischen, französischen und spanischen Schulen erweitert und der Musik der Renaissance und des Mittelalters spezielle Konzerte gewidmet. Die alte, jüdische Musik der italienischen Renaissance und besonders die von Salomone Rossi aus Mantua, der Mitarbeiter von Monteverdi war, erhielt meine vorrangige Aufmerksamkeit. Ich begann seine Vokalwerke, besonders Motetten und Madrigale aufzuführen, ebenso die Werke der alten jüdischen Liturgie aus Osteuropa. Mit dem gleichen Chor führte ich auch Kompositionen argentinischer Autoren auf. Anfang 1956 kündigte ich die Leitung dieses Chors auf. […] Auch 1953 lud mich das Collegium Musicum ein, das Orchester im Sommerfestival des Jahres zu dirigieren. Zuvor hatte ich Kammerensembles im Radio del Estado und der Agrupación Nueva Música dirigiert. 1954 förderte die Sociedad Hebraica Argentina die Schaffung eines Kammerorchesters für regelmäßige Auftritte in der Gemeinschaft und übertrug mir die Leitung. Im Verlauf desselben Jahres gründete ich mit Unterstützung einer Gruppe junger Interpreten das Kammerorchester ProMúsica, das sich besonders dem Kennenlernen und der Verbreitung der musikalischen Werke des 17. und 18. Jahrhunderts widmet. Ich dirigiere momentan dieses Orchester, dessen Beispiel die Gründung eines Chors mit gleichen Charakteristiken und Zielen hervorgebracht hat. Im März 1956 rief mich die Kammeroper von Buenos Aires zur Mitarbeit in ihrer Saison auf und bot mir dann den Posten eines Studiendirektors an, den ich im Moment innehabe. Im Juni 1956 gewann ich in einem Wettbewerb den Posten des Studienleiters im Teatro Colon von Buenos Aires, den ich im Moment ausfülle.«

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Die Angaben Kagels sollen im Folgenden chronologisch geprüft und präzisiert werden. Besonders die Aktivitäten nach dem Bruch mit der ANM 1954 geben darüber Auskunft, wie sich Kagel seine musikalische Karriere weiter erarbeitete. Doch zunächst sind die Lehrjahre bei Teodoro Fuchs 1952-54 von Interesse, die genau mit Kagels Hilfsdirigententätigkeit bei der hebräischen Gemeinschaft zusammenfallen. Sociedad Hebraica Argentina Im Jahr 1952 gründete sich in der Sociedad Hebraica Argentina (SHA) ein Chor mit dem Titel »Coro Estable S.H.A.«. Unter der Leitung von Teodoro Fuchs3 wurden hier zunächst polyphone Werke des 15. und 16. Jahrhunderts sowie traditionelle hebräische Lieder in neuen Arrangements einstudiert. In zahlreichen Ausgaben der gemeinschaftsinternen Zeitschrift S.H.A. wurde der Chor beworben. Direkt unter der Anzeige für den Chor erschien im August 1952 auch eine Information über einen Theorie-Kurs, den Mauricio Kagel in der jüdischen Vereinigung gab.4 Daraus ist zu schließen, dass er sowohl direkt mit den Choraktivitäten verbunden, als auch Dozent in der SHA war, die ihren Mitgliedern ein breites Kulturprogramm bot: Von Literatur und hebräischer Sprache über bildende Kunst und Kinematografie bis hin zu klassischer, aber auch traditioneller europäischer, lateinamerikanischer und israelischer Musik für Kinder, Jugendliche und Erwachsene reichte das Kursangebot und wurde mit zahlreichen Ausstellungen, Lesungen und Konzerten gewürzt. Im Jahresrückblick für 1952 wurden Teodoro Fuchs als Chorleiter sowie Mauricio Kagel als »Helfer«5 genannt. Fuchs leitete den Chor auch beim ersten öffentlichen Auftritt am 11. Dezember 1952, allerdings erwähnte der Berichterstatter wiederum die Beteiligung Kagels »in der Funktion als Aushilfsdirigent«6. Fuchs blieb im Jahr 1953 noch offizieller Dirigent des Chors und trat Mitte des Jahres mit ihm öffentlich mit Darius Milhauds Service sacré pour le samedi matin op. 279 (1947) auf, wobei Kagel am Klavier begleitete.7 Im glei-

3

Vgl. Interview mit Teodoro Fuchs in S.H.A. Órgano de la Sociedad Hebraica

4

Ebd., S. 19.

5

S.H.A. (1952), H. 356, S. 24: »Ayudante«.

Argentina (1952), H. 352, S. 9.

6

S.H.A. (1953), H. 358 / 9, S. 8: »actuando como Director ayudante«.

7

Vgl. Programmzettel in PSS SMK Box Programmhefte Argentinien mit Datum 27.8.1953. Im August erschien in S.H.A. (1953), H. 365, S. 10 ein Bericht ohne Nennung des Datums, eventuell fand das Konzert also schon früher statt.

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chen Jahr hielt außerdem Juan Carlos Paz innerhalb eines so genannten »Festival Schönberg« einen Vortrag, der von Teodoro Fuchs, Mauricio Kagel und Hilde Mattauch musikalisch illustriert wurde.8 Der August-Ausgabe des Jahres 1954 von S.H.A. ist zu entnehmen, dass sich zusätzlich zum ständigen Chor ein Kinderchor gebildet hatte, den Kagel leitete: »Con gran éxito han comenzado las clases de coro, que bajo la dirección de Mauricio Kagel, se vienen desarrollando todos los martes y viernes, a las 19.30. Los componentes están consolidando un extraordinario ambiente de camaradería, pilar para que la juventud vea en esta actividad una necesidad para el espíritu. Esperamos que los menores responderán con voluntad y entusiasmo a esta feliz iniciativa.«9

Auch für diesen Chor wurde in der S.H.A. aktiv geworben: Im Oktober erschien auf der Kinderseite die Ankündigung eines Israelischen Festivals mit Tänzen und Liedern und der Aufruf zur Mitwirkung im Kinderchor, der unter Kagels Leitung das Festival mitgestalten sollte.10 Dass Letzteres ein großer Erfolg wurde, ist in der Dezember-Ausgabe nachzulesen, in der wiederum Kagel als Chorleiter erwähnt wurde.11 In den folgenden Jahren wurde zwar über die Aktivitäten des Kinderchors nichts berichtet, doch erschien noch im März 1956 die Aufforderung an die Kinder der Gemeinschaft, sich für den Chor unter Kagels Leitung anzumelden.12 Im November 1954 wurde über die Erfolge der Chöre berichtet und Kagel als Verantwortlicher genannt.13 Der Coro Estable konnte demnach seine Stimmenzahl deutlich erhöhen und trat mindestens zweimal in internen Veranstaltungen der SHA auf: in der so genannten Revista Oral und in der Velada Sabática. Über die Revista Oral am 28. August wurde sogar eingehender informiert: Nachdem Mitglieder aus dem Chorleben berichtet und Fragen eines Moderators

8

Vermutlich am 6.5.1953, vgl. Bericht in S.H.A. (1953), H. 362, S. 6.

9

S.H.A. (1954), H. 376, S. 16: »Mit großem Erfolg haben die Chorstunden begonnen, die unter der Leitung von Mauricio Kagel jeden Dienstag und Freitag um 19.30 Uhr stattfinden. Die Mitsänger schaffen ein außergewöhnliches Kameradschaftsklima, das die Grundlage dafür bietet, dass die Jugend in dieser Aktivität eine Notwendigkeit für den Geist sieht. Hoffen wir, dass die Kinder auf diese glückliche Initiative mit Wille und Enthusiasmus antworten.«

10 Vgl. S.H.A. (1954), H. 378, S. 15. 11 Vgl. S.H.A. (1954), H. 381, S. 16. 12 Vgl. S.H.A. (1956), H. 395, S. 12. 13 Vgl. S.H.A. (1954), H. 380, S. 13 und 21.

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mit viel Humor beantwortet hatten, habe der Chor in einem speziell für den Abend vorbereiteten Programm mit Stücken argentinischer Komponisten eine effiziente Interpretation unter dem brillanten Dirigat Kagels gezeigt.14 Außerhalb der SHA wurden diese Konzerte jedoch kaum wahrgenommen. Für den 27. Oktober 1954 kündigte La Nación zwar ein Konzert des Chors und Streichorchesters der SHA unter Kagels Leitung an, eine Kritik erschien jedoch nicht; auch S.H.A. berichtete im Jahresrückblick 1955 lediglich,15 dass dieses Konzert stattgefunden habe. Kagel hat den Programmzettel aufbewahrt,16 dem zu entnehmen ist, dass das Streichorchester unter seiner Leitung Werke von Henry Purcell, Antonio Vivaldi, Domenico Zipoli, Girolamo Frescobaldi und Benedetto Marcello spielte und der Chor spanische Lieder sowie ein Werk von Jakob Arcadelt sang. Das Datum 27. Oktober 1954 findet sich auch auf einem Foto des Chors, auf dessen Rückseite die Mitglieder unterschrieben (vgl. Anhang S. 315). Über die Arbeit des Chors im Jahr 1955 war in S.H.A. in der März / AprilAusgabe zu lesen: »Bajo la dirección de Mauricio Kágel, se han iniciado con todo éxito los ensayos del Coro Estable S. H. A. Estos ensayos se realizan los martes y viernes a las 20.30, en el Salón Blanco cumpliéndose el programa especialmente confeccionado. En este año se ha introducido la novedad de la preparación de números que requieren la presentación de un reducido grupo de socios, o sea los números llamados madrigalistas, con el propósito de su actuación en las diversas actividades culturales de nuestra Institución.«17

In der Juni-Ausgabe war ein Foto des Chors mit folgender Bildunterschrift abgebildet: »El Coro S.H.A. y su director Mauricio Kágel entonando los himnos nacionales argentino e israelí.«18 Die Aktivitäten dieses Jahres waren auf ein so genanntes »Festival« im Oktober ausgerichtet, in dem Werke des jüdischen Re-

14 Vgl. S.H.A. (1954), H. 378, S. 6. 15 Vgl. La Nación 27.10.1954, S. 4 und S.H.A. (1955), H. 391, S. 16. 16 Vgl. PSS SMK Box Programmhefte Argentinien. 17 S.H.A. (1955), H. 383, S. 8: »Unter der Leitung von Mauricio Kagel haben die Proben des Chors mit vollem Erfolg begonnen. Diese Proben finden dienstags und freitags um 20.30 Uhr im Weißen Salon statt und laufen nach einem speziell entworfenen Programm ab. In diesem Jahr werden zum ersten Mal Stücke einstudiert, die eine kleinere Gruppe von Mitgliedern, die so genannten Madrigalisten, erfordern, um bei verschiedenen Aktivitäten unserer Institution auftreten zu können.« 18 S.H.A. (1955), H. 385, S. 14: »Der SHA-Chor und sein Leiter Mauricio Kagel stimmen die Nationalhymnen Argentiniens und Israels an.«

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naissance-Komponisten Salomone Rossi erklingen sollten, und für das in S.H.A. regelmäßig geworben wurde.19 Zum Konzert am 25. Oktober 1955 gehörte zunächst ein einführender Vortrag von Teodoro Fuchs, dem die musikalische Darbietung folgte: »Luego nuestro Coro Estable S.H.A., bajo la dirección del maestro Mauricio Kágel, interpretó con gran justeza y profunda expresividad seis interesantes composiciones de Salomone Rossi, que se ofrecían en primera audición en Sudamérica. Como solista actuó la joven cantante Celia Kneler.«20 Dieses Konzert ging in der Lokalpresse vollkommen unter, lediglich S.H.A. hob die exzellente Interpretation der Lieder durch den Chor hervor und berichtete, das Publikum habe den Chor zur Wiederholung einiger Stücke herausgefordert. Mit der Sängerin Celia Kneler nahm Kagel zu dieser Zeit zudem seine Cinco canciones del Génesis auf, denn sie wurden bei Kröpfls Vortrag in Gath & Chavez am 9. November 1955 vom Band gespielt.21 Kagel und Kneler gestalteten zusammen auch einen Kammermusikabend in der israelischen Botschaft am 6. Dezember 1955.22 Im Jahr 1955 referierte und konzertierte Kagel innerhalb der jüdischen Gemeinschaft offensichtlich häufiger. So findet sich in seinem Nachlass ein Beleg für einen Vortrag am 16. Juli 1955 über »Jüdische Musik und Musik aus Israel«23 im Instituto Cultural Argentino-Israelí. S.H.A. berichtete zudem von einer Velada Sabática am Freitag, dem 14. Oktober 1955 mit einem Vortrag Kagels: »El maestro Mauricio Kágel ha ofrecido una documentada e interesante disertación sobre la ›Evolución de la Música sinagogal‹ que fué ilustrada por el coro de la Congregación Israelita de la Argentina, con la excelente dirección del maestro Walter Rosenberg.«24 Im Jahresrückblick 1955 der S.H.A. war zu lesen,

19 So in der Juli- und in der August-Ausgabe von S.H.A., jeweils S. 10. 20 S.H.A. (1955), H. 392, S. 12: »Danach interpretierte unser ständiger Chor unter der Leitung von Mauricio Kagel mit großer Genauigkeit und tiefem Ausdruck sechs interessante Kompositionen von Salomone Rossi in südamerikanischer Erstaufführung. Als Solistin trat die junge Sängerin Celia Kneler auf.« 21 Der Programmzettel in PSS SMK Box Programmhefte Argentinien nennt Kneler als Sängerin und Kagel als Pianisten, vgl. Abb. 2, oben S. 131. 22 Vgl. Programmzettel in PSS SMK Box Programmhefte Argentinien. 23 Programmzettel »Música judía y música de Israel« in PSS SMK Box Programmhefte Argentinien. 24 S.H.A. (1955), H. 390, S. 14: »Der Dirigent Mauricio Kagel hielt einen fundierten und interessanten Vortrag über die Entwicklung der Musik in der Synagoge, der vom Chor der Israelischen Kongregation Argentiniens unter der exzellenten Leitung von Walter Rosenberg illustriert wurde.«

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dass über eine Umstrukturierung des Chors nachgedacht worden sei,25 von deren Ergebnissen 1956 aber nicht mehr berichtet wurde. Aus dem Brief an Curt Lange vom September 1956 wissen wir, dass Kagel seinen Chorleiterposten zu Beginn des Jahres 1956 aufgab (vgl. oben S. 163 und Anhang S. 309). Collegium Musicum Die engen Beziehungen zwischen jüdischer Gemeinschaft und Collegium Musicum wurden bereits benannt (vgl. oben S. 75 ff.). Während Kagel aber nie über die SHA sprach, erwähnte er das Collegium Musicum immerhin in Gesprächen mit Werner Klüppelholz, ohne allerdings seine eigenen Verbindungen dahin auszuführen.26 Offenbar wirkte er auch nur sporadisch in dortigen Programmen mit, wie einige Dokumente, die er aufgehoben hat, nahelegen: Ein Jahresüberblick der Organisation für 1953 nannte Kagel neben Ljerko Spiller als Orchesterleiter, denn er hatte bei einer Open-Air-Veranstaltung am 5. Dezember 1953 als Dirigent eines kleinen Orchesters gewirkt; es spielte Tänze von Lully und Rameau, die unter der künstlerischen Leitung von Guillermo Graetzer in Szene gesetzt worden waren.27 Von 1954 hob Kagel ebenfalls einige Programme auf, wirkte aber vermutlich erst wieder am Sonntag, dem 12. Juni 1955, vormittags in einem Kinderkonzert als Pianist mit.28 Das Collegium Musicum von Buenos Aires führt Kagel heute unter den Personen, die als Mitarbeiter oder ehemalige Schüler die Institution passierten.29 Allerdings gibt es keine Nachweise dafür, dass er reguläres Mitglied wurde, dort Unterricht erhielt oder fest in einem Ensemble mitwirkte. Symptomatisch erscheint auch, dass Ernesto Epstein, einer der Gründer der Organisation, Kagel entweder nicht wahrnahm oder ihn absichtlich ignorierte: In seinen Memoiren ging er zwar auf zahlreiche zeitgenössische Komponisten wie György Ligeti, Luigi Nono und György Kurtág ein, erwähnte Kagel aber nicht.30

25 Vgl. die Sonderausgabe »Memoria y Balance« von S.H.A. (1955), H. 391, S. 11. 26 Vgl. Kagel, Dialoge, Monologe, S. 228 f. 27 Vgl. PSS SMK Box Programmhefte Argentinien: »Collegium Musicum de Buenos Aires, en su novena temporada […] Actividades 1954« und »Collegium Musicum en Pacheco«, o. S. 28 Dazu existiert auch eine kleine Ankündigung in La Nación 12.6.1955, S. 4. 29 Vgl. http://www.collegiummusicum.org.ar/botonera/1_collegium/5_quienes.php (8.4.2011). 30 Vgl. Epstein, Memorias musicales, S. 213.

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Private Kontakte zum Collegium Musicum bestanden auf vielfältige Weise: Der Unterricht bei Teodoro Fuchs oder Kurse bei Erwin Leuchter schlagen die kürzeste Brücke zu der Institution. Kagel war zudem zwischen 1950 und 1955 mit María Adela Palcos befreundet, die wie Sigrid Burghardt, die Schwester seiner späteren Frau Ursula, seit Beginn der fünfziger Jahre im Chor des Collegium Musicum mitsang. Palcos wirkte auch in dem gemischten Chor mit, der am 9. Juni 1953 mit dem Orchester der Asociación Amigos de la Música unter Igor Markevitch Luigi Dallapiccolas Canti di prigionia aufführte – ein Konzert, das Kagel in Buenos Aires Literaria besprach.31 Pro-Música Kagels Aktivitäten als Dirigent nahmen ab dem Jahr 1954 auffällig stark zu. Wenn es in der ersten Jahreshälfte zum Bruch mit Paz und der ANM gekommen war, liegt die Vermutung nah, dass sich Kagel nun um den Aufbau neuer öffentlicher Betätigungsfelder bemühte. Jedenfalls widmete er sich zunächst nicht mehr primär dem Komponieren, sondern arbeitete an der Erweiterung seiner dirigentischen Fähigkeiten. Positive Beispiele für den Erfolg komponierender Dirigenten bzw. dirigierender Komponisten waren nicht nur mit betagten Persönlichkeiten wie Hindemith präsent: Schon im Dezember 1953 war in Buenos Aires Musical von den ersten großen Dirigiererfolgen Michael Gielens in Wien zu lesen.32 Hinzu kam als Vorbild sicher Pierre Boulez, dessen Arbeit als Musiktheaterdirigent Kagel bei dessen Gastspielen 1950 und 1954 direkt erlebt hatte. Vom Chorleiter entwickelte sich nun auch Kagel bis 1957 über die Orchesterleitung hin zum Musiktheater. 1954 gründete sich das Kammerorchester mit dem Titel »Pro-Música«, das Kagel dirigierte. Am 3. Dezember fand das erste Konzert im Club Francés mit Werken von Evaristo Dall’Abaco, Arthur Honegger, Henri Rabaud und José María Castro statt. Hilde Mattauch, mit der Kagel schon 1953 bei der SHA und der ANM konzertierte und die als Sängerin beim Collegium Musicum und den Amigos de la Música regelmäßig auftrat, war die Solistin der Trois Chansons von Honegger. Dieses Konzert erreichte einige Resonanz und wurde sogar in der Illustrierten El Hogar besprochen und gelobt: »Este nuevo conjunto, integrado por jóvenes instrumentistas, impresionó favorablemente, demostrando su direc-

31 Vgl. Kagel, »Luigi Dallapiccola y los ›Canti di Prigionia‹« und die Chorbesetzung im Programmheft zum dritten Konzert der siebten Saison der Asociación Amigos de la Música im Nachlass Spiller / UCA. 32 Vgl. BAM 8 (1953), H. 133, S. 8.

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tor, Mauricio Kagel, especiales condiciones para el género. La concurrencia aplaudió con entusiasmo el desempeño de todos.«33 Der Kritiker der im gleichen Verlagshaus erscheinenden Tageszeitung El Mundo war etwas kritischer, trotz positiver Gesinnung: »Se trata de un conjunto integrado por jóvenes ejecutantes, algunos de no muy lejana iniciación en las filas profesionales. El mismo maestro Kagel es un elemento joven. […] Las canciones de Honegger muy bien dichas por la citada cantante y el resto del programa dirigido con encomiable entusiasmo y muy loable resultado en el aspecto musical por el maestro Mauricio Kagel, contó asimismo con una grata comprensión estilística. En estos casos, en que elementos jóvenes demuestran su cariño por la buena música, sólo cabe el elogio como estímulo pasando por alto pequeños errores que ya serán corregidos.«34

Mit dem Kammerorchester fand unter Kagels Leitung am 1. Juni 1955 unterstützt von der Unione toscana im Teatro Ateneo, Paraguay 918, ein weiteres Konzert statt, in dem auch die italienische Pianistin Lucía Maranca – später Mitglied der ANM, zeitweise deren Präsidentin und Gattin von Francisco Kröpfl – ihr öffentliches Debüt mit Klaviersolowerken von Alberto Ginastera und Alfredo Casella gab.35 Auf dem Programm standen für das Orchester vor allem barocke Werke. Das Programmheft zeigte Kagel und Maranca in Portraits und gab umfangreiche Informationen zu den Beteiligten:

33 Brigida Frias de Lopez Buchardo, »Expresiones de nuestra cultura musical«, in: El Hogar 50 (1954), H. 2354, S. 62: »Dieses neue Ensemble, das aus jungen Instrumentalisten besteht, hat positiv beeindruckt, wobei sein Leiter Mauricio Kagel spezielle Fähigkeiten für die Gattung gezeigt hat. Die Zuhörer applaudierten allen Ausführenden enthusiastisch.« 34 R. Y., »Orquesta de Cámara en el Club Francès«, in: El Mundo 5.12.1954, S. 6: »Es handelt sich hier um ein Ensemble junger Interpreten, von denen einige noch am Beginn ihrer professionellen Laufbahn stehen. Auch ihr Leiter Kagel ist jung. […] Die Lieder von Honegger, die von der genannten Sängerin sehr gut dargeboten wurden, und der Rest des Programms dirigiert von Mauricio Kagel mit lobenswertem Enthusiasmus und sehr anerkennenswertem musikalischen Resultat, zeigte ebenfalls ausreichendes stilistisches Verständnis. In diesen Fällen, in denen junge Leute ihre Liebe zu guter Musik zeigen, passt das Lob als Ansporn und sieht über kleine Fehler hinweg, die sicher bald korrigiert werden.« 35 Vgl. Miniankündigung in La Nación 1.6.1955, S. 4, Programmzettel in PSS SMK Box Programmhefte Argentinien und mündliche Auskünfte von Lucía Maranca.

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»Esta orquesta, fué constituída en el año 1954 por jóvenes ejecutantes, algunos de no muy lejana iniciación en las filas profesionales. Con la formación de este conjunto, sus integrantes desean difundir en especial las obras de los siglos XVII y XVIII. […] Mauricio Kágel, director de la Orquesta de Cámara Pro-Música, es además director titular del coro estable de la Sociedad Hebraica Argentina. Estudió con el maestro Teodoro Fuchs, habiendo consagrado su labor al conocimiento de la literatura musical contemporánea y preclásica de escasa ejecución. Como compositor ha escrito diversas obras de cámara en la técnica dodecafónica, estrenadas en las últimas temporadas. Su actividad como crítico y ensayista es publicada en distintos órganos locales y extranjeros.«36

Auffällig an diesen Angaben sind einige Details: Die Mitglieder des Orchesters waren jung und standen erst am Beginn ihrer beruflichen Laufbahn. Sie widmeten sich besonders der Musik des 17. und 18. Jahrhunderts, die in Buenos Aires sonst vom Collegium Musicum und vereinzelt der Asociación Amigos de la Música aufgeführt wurde. Der Leiter des Orchesters selbst – Kagel – hatte sich der zeitgenössischen und vorklassischen Musik verschrieben und damit wenig beackertes Terrain betreten. Besonders markant erscheint in den biografischen Angaben, dass er auf seine kompositorischen, kammermusikalischen Arbeiten verwies, die ANM jedoch mit keinem Wort erwähnte. Dass Kagel, wie hier angegeben, bereits in ausländischen »Organen« publiziert hatte, müsste noch nachgewiesen werden – bisher konnten keine Texte aufgefunden werden. Im folgenden Jahr war das Kammerorchester Pro-Música am ersten Festival jüdischer Musik beteiligt. Für den 23. und 30. Juli 1956 wurden jeweils um 21 Uhr im Teatro Astral der Avenida Corrientes 1639 von der Congregación Israelita de la República Argentina organisierte Konzerte angekündigt.37 Im ersten

36 Programmheft unpaginiert in PSS SMK Box Programmhefte Argentinien: »Dieses Orchester wurde 1954 von jungen Interpreten – einige noch am Beginn ihrer professionellen Laufbahn – gegründet. Mit der Formierung dieses Ensembles wollen die Mitglieder besonders Werke des 17. und 18. Jahrhunderts verbreiten. […] Mauricio Kagel, Leiter des Kammerorchesters Pro-Música, ist außerdem ernannter Leiter des ständigen Chors der Sociedad Hebraica Argentina. Er studierte bei Theodor Fuchs und hat sich in seiner Arbeit dem Bekanntwerden selten aufgeführter zeitgenössischer und vorklassischer musikalischer Werke verschrieben. Als Komponist hat er diverse Kammermusikwerke in Zwölftontechnik geschrieben, die in vergangenen Spielzeiten uraufgeführt wurden. Seine Aktivität als Kritiker und Essayist wurde in diversen lokalen und ausländischen Organen publiziert.« 37 In Kagels Nachlass PSS SMK Box Programmhefte Argentinien ist nur ein Programmzettel des ersten Konzerts am 23.7.1956 erhalten. Kurze Ankündigungen mit Interpre-

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Konzert musizierten die Solisten Abram Blechorowicz und Sofía Goldenchtein sowie der aus der ANM bekannte Bratscher Lázaro Sternic mit dem Orquesta de Cámara Pro-Música, dem Chor der israelischen Vereinigung sowie dem Organisten Walter Rosenberg unter der Leitung Kagels; im zweiten traten Abram Blechorowicz, Hilde Mattauch, Dora Berdichevsky, Carlos Feller und Sofía Goldenchtein in den solistischen Vokalpartien auf, gespielt wurden Werke von »Rossi, Jacobi, Rappaport, Rosenblüth, Milhaud, Alter, Lewandowski und Starominsky«.38 Möglicherweise entstanden drei in Kagels Nachlass erhaltene Fotos, auf denen der Bassist Carlos Feller zu erkennen ist, im Zusammenhang mit diesem Konzert (vgl. eines davon im Anhang S. 316). Gegen Ende des Jahres, am 23. November 1956, war ein sommerliches Nachtkonzert in der Quinta Gramajo von San Isidro bei Buenos Aires mit alter Musik (Schütz, Gastoldi, Monteverdi und Palestrina), Schuberts Der Hirt auf dem Felsen sowie Werken von Hindemith und Strawinsky geplant:39 Kagel hatte die Gesamtleitung inne, der Kammerchor Pro-Música wurde von José Antonio Gallo dirigiert, als Solisten fungierten wiederum Lázaro Sternic sowie die Klarinettisten Mariano Frogioli und Julio Rizzo. Kammeroper Zu diesem Zeitpunkt – im Jahr 1956 – hatte Kagels Laufbahn als Dirigent schon größere Dimensionen angenommen. Rückblickend berichtete er Klüppelholz, er habe auch am Teatro Colón gearbeitet: »Aber schon vorher hatte ich dort free lance korrepetiert und an der Kammeroper dirigiert. Mein erstes Stück war ›Let’s make an Opera‹ von Britten. Wir haben neben anderen auch die ›Opéras minutes‹ und ›Les Malheurs d’Orpheé‹ von Darius Milhaud produziert, die zu seinen schönsten Werken gehören, auch Hindemiths ›Hin und Zurück‹. Für ihn habe ich eine Aufführung vorbereitet, die in einem Kanon mit Publikumsmitwirkung endete – auf Spanisch!«40

ten und Komponisten in La Nación 23. und 30.7.1956, S. 12. Rückblickend berichtet auch BAM 11 (1956), H. 177, S. 4 kurz, dass das Festival stattgefunden habe. 38 Ankündigung in La Nación 30.7.1956, S. 12: »Rossi, Jacobi, Rappaport, Rosenblüth, Milhaud, Alter, Lewandowski y Starominsky«. 39 Programmzettel »Divertimento nocturno organizado por el camping musical de Bariloche« in PSS SMK Box Programmhefte Argentinien. 40 Kagel, Dialoge, Monologe, S. 289.

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Die Suche nach ausführlicheren Informationen über die Kammeroper in Buenos Aires ist schwierig: Meist wird sie nur am Rande erwähnt; ihre Geschichte ist lediglich von Enzo Valenti Ferro kurz zusammengefasst worden.41 Rebstock befragte Kagel darum vor einigen Jahren zu dieser Kammeroper, woraufhin der Komponist etwas präzisierte: »Es waren lauter Leute, die am Colón gearbeitet haben und sich zusammengetan haben, um die Kammeroper von Buenos Aires zu gründen. Die Probendisposition wurde somit sehr vereinfacht. Der Leiter hieß Esteban Eisler und war ein österreichischer Architekt, der das Bühnenbild entwarf und auch Regie führte.«42

Federführend war bei der Gründung tatsächlich Martin – nicht Esteban – Eisler, der auch schon an der Gründung der Asociación Amigos de la Música 1947 beteiligt war. Das Herz des österreichischen Architekten, der bei Oskar Strnad in Wien gelernt hatte und nun seinen Lebensunterhalt in Argentinien mit dem Design von Möbeln verdiente,43 schlug für die Musik, die Bühnenbildnerei und die Regie. Bei den Amigos de la Música wurden in den ersten Jahren zwar auch Kammeropern in Angriff genommen (vgl. oben S. 71), in den folgenden Jahren standen aber die Sinfoniekonzerte unter der Leitung großer Dirigenten im Mittelpunkt. Eisler suchte dennoch weiterhin nach einer Möglichkeit, seine musiktheatralischen Ambitionen zu verwirklichen. Schon im August 1955 war in Buenos Aires Musical zu lesen, dass eine neue Kammeroper gegründet worden sei: »Un grupo de distinguidas figuras de la actividad musical de esta ciudad – los cantantes Olga Chelavine, Carlos Feller, Angel Mattiello y Eugenio Valori; el director de orquesta Enrique Sivieri y el director técnico y escenógrafo Martin Eisler –, acaban de dejar constituído el Teatro de Cámara de Buenos Aires, con lo cual se proponen llenar uno de los más sensibles claros de las manifestaciones artístico-musicales porteñas.«44

41 Vgl. Enzo Valenti Ferro, La ópera de cámara en Buenos Aires, Buenos Aires 2002. 42 Rebstock, Komposition zwischen Musik und Theater, S. 352. 43 Vgl. zu Martin Eisler Alisa Douer / Ursula Seeber (Hg.), Wie weit ist Wien. Lateinamerika als Exil für österreichische Schriftsteller und Künstler, Wien 1995, S. 34 und Julia Hahn, »Argentinien als Exilland für österreichische Architekten«, in: Zwischenwelt 28 (2011), H. 4, S. 40-45, hier S. 42. 44 BAM 10 (1955), H. 159, S. 5: »Eine Gruppe angesehener Figuren der städtischen Musikszene – die Sänger Olga Chelavine, Carlos Feller, Angel Mattiello und Eugenio Valori; der Dirigent Enrique Sivieri und der technische Leiter und Bühnenbildner Martin Eisler –, hat die Kammeroper von Buenos Aires gegründet, mit der sie einen

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Noch für dieses Jahr seien drei Aufführungen von vier Kammeropern verschiedenen Stils im Teatro Odeón geplant, für die das Ensemble mit weiteren Darstellern aufgestockt werden sollte. Zudem wurde avisiert, dass sich das Publikum in Kürze als Förderer der Kammeroper akkreditieren könne, um die Organisation und Planung zu sichern. In einer Oktober-Ausgabe von Buenos Aires Musical wurden für den 7. November die Aufführung von Niccolo Jommellis L’Uccellatrice und Milhauds Les Malheurs d’Orphée sowie für den 14. November Telemanns Pimpinone und den 21. November Brittens Let’s make an opera angekündigt.45 Auch der Beitritt zum Förderkreis war nun möglich, doch wurde keine Kontaktadresse angegeben. Doch am 15. November musste vermeldet werden, dass die Kammeroper ihre Eröffnungssaison aufgrund in letzter Minute aufgetretener diverser Hindernisse auf das folgende Jahr verschieben müsse.46 Tatsächlich stattgefunden haben die Aufführungen im Teatro Odeón dann am 2., 9. und 16. April 1956.47 Im Nachlass von Kagel finden sich die Programmhefte, aus denen Folgendes hervorgeht: Zu der Veranstaltung am 9. April mit Jommellis L’Uccellatrice und Milhauds Les Malheurs d’Orphée schrieb Kagel die Programmhefttexte, am 16. April bei Brittens Let’s make an opera op. 45 war er »Pianist im Graben«.48 Die Kritik zu allen drei Veranstaltungen von Jorge D’Urbano in Buenos Aires Musical war differenziert und aufschlussreich: Er hob hervor, dass das Kammeropernrepertoire sehr heterogen sei und vor allem Werke des 18. und 20. Jahrhunderts umfasse, da die Romantik das Genre nicht kultiviert habe. Es sei zudem nicht nur auf die Musik fokussiert und spräche ein breites Publikum an. Die Besucher der Veranstaltungen im Teatro Odeón seien daher nicht explizit Musikliebhaber, sondern vielseitig interessierte Intellektuelle gewesen. Mit Blick auf die Produktionen lobte er Milhauds Les Malheurs d’Orphée als besonders gelungen; auch Brittens Kammeroper für junge Leute habe das Publikum extrem unterhaltsam gefunden. Nur an einer Stelle, gerade dort, wo die Zuschauer zum Mittun angeregt worden seien, verstummten sie offenbar gänzlich:

der sichtbarsten weißen Flecken der künstlerisch-musikalischen Äußerungen der Stadt füllen will.« Von Carlos Feller und Angel Mattiello ist bekannt, dass sie an der von Erich Engel und dessen Frau Editha Fleischer geleiteten Opernschule des Teatro Colón ausgebildet wurden und enge Kontakte zu europäischen Emigranten hatten, vgl. Gielen, Unbedingt Musik, S. 39 und 67. 45 Vgl. BAM 10 (1955), H. 163, S. 2. 46 Vgl. BAM 10 (1955), H. 166, S. 5. 47 Vgl. Kritiken in La Nación 3. und 10.4.1956, S. 9 und 17.4.1956, S. 10. 48 PSS SMK Box Programmhefte Argentinien: »pianista en el foso«.

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»El único momento de la noche en que se mantuvo serio fue cuando en verdad debió adoptar una franca actitud de alegría, esto es, cuando tenía que participar en la obra como coro. En ese preciso instante se detuvo el entretenimiento y cada cual mantuvo una compostura casi cómica. Excepción hecha de algunos valientes (espontáneos o preparados), el resto permaneció en un digno silencio.«49

Diese Einbeziehung des Publikums lässt an Kagels oben zitierte Erinnerungen an die Kammeroper denken. Da für Hindemiths später aufgeführten »Sketch mit Musik« Hin und zurück op. 45a Ähnliches nicht überliefert ist, bei Britten aber die Publikumsmitwirkung zum Konzept der Oper gehört und auch der Kritiker in La Nación davon berichtete, dass die Zuhörer leichte Lieder und Stücke mitsingen konnten, scheint Kagel die beiden Aufführungen verwechselt zu haben; dass er in der Rezension auch als Pianist erwähnt wurde, bestätigt seine Mitarbeit.50 Die zweite Spielzeit der Kammeroper fand im Oktober 1956 im Teatro Presidente Alvear statt. In den Konzertprogrammen erschien Martin Eisler weiterhin als technischer Leiter und Bühnenverantwortlicher. Gespielt wurden am 8. Oktober Baldassarre Galuppis Il filosofo di campagna51 und am 15. Oktober Mozarts L’oca del Cairo sowie Hindemiths Hin und zurück.52 Kagel wird für beide Veranstaltungen als »director de estudios« – Studienleiter – genannt und schrieb zudem für den zweiten Abend die Programmhefttexte. Den Saisonabschluss bildeten am 22. Oktober de Fallas El retablo de Maese Pedro in einer Version für Figuren und echte Darsteller (Regie: Martin Eisler) sowie eine tänzerische Inszenierung von Igor Strawinskys Renard und Ragtime. Wenn Kagel 1958 – schon in Deutschland – in seinem Präsentationsschreiben an Wolfgang

49 Jorge D’Urbano, »Ópera de cámara en Buenos Aires«, in: BAM 11 (1956), H. 170, S. 2: »Der einzige Moment des Abends, an dem es [das Publikum] sich ernst verhielt, war, als es sich wirklich freudig verhalten sollte, das heißt, als es als Chor in dem Stück mitspielen sollte. Genau da war die Unterhaltung vorbei und alle behielten einen fast komischen Anstand. Mit Ausnahme einiger Mutiger (spontan oder vorbereitet), verblieb der Rest in würdiger Stille.« 50 Vgl. ohne Autor, »Un Estreno de Britten en la Sala del Odeón«, in: La Nación 17.4.1956, S. 10. 51 Vgl. Kritiken von Carlos Coldaroli, »La Ópera de Cámara de Buenos Aires«, in: BAM 11 (1956), H. 181, S. 3 sowie ohne Autor, »Una Ópera de B. Galuppi en el P. Alvear«, in: La Nación 10.10.1956, S. 10. 52 Vgl. Kritiken von Claudio Zorini, »Mozart y Hindemith«, in: BAM 11 (1956), H. 182, S. 3 sowie ohne Autor, »Un Espectáculo Lírico Hubo en el Pte. Alvear«, in: La Nación 17.10.1956, S. 10.

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Steinecke, den Leiter der Darmstädter Ferienkurse, betonte, dass er »die Uraufführung […] des ›Renard‹ von Strawinsky«53 in Buenos Aires dirigierte, blickte er vermutlich auf diesen Abend zurück. Für die Choreografie zeichnete dabei Renate Schottelius verantwortlich, die heftige Kritik von Enzo Valenti Ferro in Buenos Aires Musical erntete: ihre langweilige Umsetzung müsse ihr Tanzensemble doch unterfordert haben.54 Kagel, der beide Strawinsky-Stücke leitete, wurde gemeinsam mit dem Dirigenten des ersten Teils des Abends dagegen ernsthafte Arbeit und großer Enthusiasmus im Dirigat zugesprochen, das klangliche Ergebnis habe aber noch Verbesserungspotenzial. Der Kritiker in La Nación äußerte sich weniger präzise: Er empfand die Choreografie durchaus als interessant und lebhaft und bezeichnete Kagels Dirigat als »fleißig«.55 Im Programmheft für diese Veranstaltung der Kammeroper wurden Kagels und Eislers Porträts neben anderen abgebildet. Die junge Kammeroper und ihre Mitwirkenden erfuhren bereits im Jahr 1956 großes öffentliches Interesse und wurden in verschiedenen Periodika besprochen. Der Kritiker der Zeitung El Mundo empfand jedoch die erste Saison im April als hochwertiger im Vergleich zur zweiten im Oktober und hob dabei – so wie Kagel in den Erinnerungen – Milhauds Les Malheurs d’Orpheé als besonders gelungen hervor.56 Die Programmvorschau für die erste Saison 1957 im Teatro Alvear bestätigte Kagels weiteres Engagement als Studienleiter, ebenso berichtete Buenos Aires Musical noch im März 1957 und ergänzte die Information, dass die Kammeroper im April eine Tournee durch Brasilien plane.57 Die Programmhefte der Gastspiele in São Paulo nannten für den 9. bis 12. April noch Kagels Namen. Bei den Veranstaltungen der Kammeroper in Buenos Aires am 1. Juli und 26. August wirkte er allerdings nicht mehr mit. In den folgenden Jahren gab die Kammeroper unter Sivieris und Eislers Leitung Gastspiele in Lateinamerika, London, Paris und bei der Weltausstellung in Brüssel 1958, bevor sie verstummte und Ende der sechziger Jahre tatsächlich als Kammeroper des Teatro Colón und durch das Engagement von Enzo Valenti Ferro neu erstand.58 Der Aufenthalt in Brüssel wurde auch für den Bassisten Carlos Feller, der zu den Gründern der

53 Brief vom 24.1.1958 an Wolfgang Steinecke, in: Heile / Iddon, Mauricio Kagel bei den internationalen Ferienkursen, S. 29. 54 Vgl. Enzo Valenti Ferro, »De Falla y Stravinsky«, in: BAM 11 (1956), H. 182, S. 3. 55 La Nación 24.10.1956, S. 13: »de manera empeñosa«. 56 Vgl. ohne Autor, »La Ópera de Cámara«, in: El Mundo 25.10.1956, S. 13. 57 Vgl. BAM 11 (1957), H. 185, S. 2 bzw. 3. 58 Vgl. Valenti Ferro, La ópera de cámara en Buenos Aires, S. 14.

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Kammeroper zählte und schon seit 1946 am Teatro Colón engagiert war, das Sprungbrett nach Europa und für seine Opernkarriere speziell in Deutschland.59 Wie Kagel hatte Feller viele Jahre seinen Wohnsitz in Köln; beide hatten sporadischen Kontakt, arbeiteten jedoch nur einmal für die Liederabend-Szene in Ludwig van zusammen. Teatro Colón In Dialoge, Monologe gab Kagel an, seine Arbeit am Teatro Colón habe 1954 begonnen.60 Tatsächlich war er aber nur 1956 / 57 für einige Monate dort beschäftigt, wie er Curt Lange 1956 schrieb und auch noch in einer der frühesten deutschen Kurzbiografien61 nachzulesen ist. Programmhefte weisen nach, dass er Pianist und Celesta-Spieler in Gian Carlo Menottis The Medium (1956) war62 sowie bei der Einstudierung und Begleitung von Donizettis Lucrezia Borgia im Juni bzw. als Begleiter in Verdis Luisa Miller im Juli 1957 mitwirkte.63 Möglicherweise war er schon vorher auch im Rahmen der Vorbereitungen für Kammeroper-Inszenierungen im Colón tätig, da die Beteiligten teilweise dort beschäftigt waren. In der Chronik des Colón wird Kagel aber offiziell erst 1956 als Dirigent und »Maestro interno« genannt.64 Sein Dirigat am 6. Oktober hing wieder mit einer Produktion von Renate Schottelius zusammen und zeigt damit gewisse Bezüge zur eben besprochenen Kammeroper-Veranstaltung 16 Tage spä-

59 Vgl. zur Biografie von Carlos Feller (geboren am 12.7.1922 als Carlos Felberbaum) http://hosting.operissimo.com/triboni/exec?method=com.operissimo.artist.webDisplay &xsl=webDisplay&id=ffcyoieagxaaaaaboexm&searchStr (9.3.2012). 60 Vgl. Kagel, Dialoge, Monologe, S. 289. 61 Vgl. Programm zum Konzert »Musik der Zeit« beim WDR am 19.9.1958 (Historisches Archiv des WDR, Signatur 11617). 62 Vgl. Programmheft des Teatro Colón 9.6.1956 in PSS SMK Box Programmhefte Argentinien. 63 Vgl. unpaginierte Programmhefte vom Teatro Colón in PSS SMK Box Programmhefte Argentinien: Gaetano Donizetti, Lucrezia Borgia, 26.6.1957 und Giuseppe Verdi, Luisa Miller, 3.7.1957, jeweils 21.30 Uhr. In Caamaño, La historia del Teatro Colón, Bd. 2, S. 444-452, über die Saison 1957 sind Kagel als Pianist sowie Lucrezia Borgia und Luisa Miller in der Rubrik »Ciclo de fragmentos vocales de obras maestras poco conocidas« auf S. 451 zu finden. Da dies die Zeit ist, in der das Colón und seine Orchester vom Streit lahmgelegt worden waren (vgl. oben S. 67), handelte es sich hier um konzertante, ausschnitthafte Vorstellungen mit Klavierbegleitung. 64 Caamaño, La historia del Teatro Colón, Bd. 2, S. 435 und Bd. 3, S. 309.

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ter: Ein zeitgenössischer Tanzabend ihrer Compagnie fand im Rahmen des 8. Abonnementkonzerts im Colón statt, und Kagel dirigierte ein nicht genau benanntes Kammerorchester, den Pianisten Osias Wilenski und den Organisten Walter Rosenberg mit Werken von Johann Sebastian Bach, Strawinsky – darunter ein Ragtime, wie am folgenden 22. Oktober –, Adolfo Mindlin und SpiritualArrangements.65 Die Kritiken waren größtenteils begeistert von der Innovation der Choreografien und der Zusammenarbeit aller Beteiligten; Kagels Dirigat wurde als geschickt empfunden.66 Die Biografie Kagels, die zu diesem Konzert im Programmheft erschien, entspricht in weiten Teilen den Angaben aus dem Brief an Francisco Curt Lange vom September 1956: »Estudió piano con Vicente Scaramuzza, armonía y contrapunto con Alberto Ginastera y Juan Carlos Paz, completando sus estudios de composición como autodidacta. Con el maestro Teodoro Fuchs realizó, además, un curso de dirección de orquesta. Integró la dirección artística de la Agrupación Nueva Música en la que colaboró como pianista y director en múltiples conciertos dedicados a la difusion de la música contemporánea. En los años 1954-55 ejerció la dirección del Coro Estable de la Sociedad Hebraica Argentina. En 1954 creó, con el concurso de jóvenes instrumentistas, la Orquesta de Cámara ProMúsica, dedicada en especial al repertorio de las Obras de los períodos barroco y clásico. En el presente año ganó por concurso el cargo de Maestro Sustituto en el Teatro Colón, desempeñándose, asimismo, como Director de Estudios del Teatro de Ópera de Cámara de Buenos Aires y Asesor Musical de la Universidad de Buenos Aires en el Departamento de Relaciones Culturales. Como compositor ha escrito diversas obras para conjuntos de cámara y orquesta de cuerdas estrenadas en esta capital. Su actividad como crítico y ensayista ha sido publicada por órganos argentinos y extranjeros.«67

65 Vgl. ohne Autor, »Sesión de Danzas en la Sala del T. Colón«, in: El Mundo 7.10.1956, S. 10. 66 Vgl. ohne Autor, »En el Colón se Realizó una Sesión Coreográfica«, in: La Nación 7.10.1956, S. 12. Valenti Ferro erwähnt in 100 años de música en Buenos Aires, S. 264, extra diese Aufführung und Kagels Mitwirkung. 67 Unpaginiertes Programmheft des Teatro Colón vom 6.10.1956 in PSS SMK Box Programmhefte Argentinien: »Er lernte Klavier bei Vincenzo Scaramuzza, Harmonie und Kontrapunkt bei Alberto Ginastera und Juan Carlos Paz und vervollständigte seine kompositorische Ausbildung autodidaktisch. Beim Dirigenten Theodor Fuchs absolvierte er zudem einen Kurs in Orchesterleitung. Er gehörte zur künstlerischen Leitung der Agrupación Nueva Música, in der er auch als Pianist und Dirigent vieler Konzerte mitwirkte, die der Verbreitung zeitgenössischer Musik gewidmet waren. 1954-55 war er Chorleiter des ständigen Chors der Sociedad Hebraica Argentina. 1954 gründete er

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Bezeichnend ist wie im Brief an Lange die Aussage, dass er erst im laufenden Jahr 1956 und durch einen Wettbewerb den Posten des stellvertretenden Dirigenten am Teatro Colón erhielt. Sicher erhoffte sich Kagel eine weitere Anstellung am wichtigsten Opernhaus Lateinamerikas. Doch stand die Institution gerade jetzt nach vielen Wechseln in der Leitung vor großen Aufgaben, die der im Juli 1956 beauftragte vorübergehende Intendant Jorge D’Urbano zu lösen suchte, was mit der Evaluation des Orchesters einherging und mit der totalen Lähmung des Spielbetriebs endete (vgl. oben S. 67). In der Broschüre El conflicto en el Teatro Colón von 1957 stellte D’Urbano die Umstrukturierungen dar, die nach Jahren der Vernachlässigung bestimmter Bereiche notwendig seien. Seiner Meinung nach müsse der Spielbetrieb auf hohem Niveau als Aushängeschild und Stolz der Argentinier bald wieder hergestellt werden, so wie in Deutschland nach dem Krieg wieder Opernhäuser als Zeichen für den Grad der lebendigen wirtschaftlichen, politischen, sozialen und kulturellen Erholung eröffnet worden seien.68 D’Urbano gelang dies in Buenos Aires nicht, doch bezeichnenderweise hat Kagel diese Broschüre aufgehoben und mit nach Deutschland genommen, wo er sich als Komponist – und nur sekundär als Dirigent – mit seinem Verständnis von Musiktheater exponieren sollte. Jeunesses Musicales, musikalischer Berater an der Universität und Dirigent im Radio Neben den organisatorischen Erfahrungen in der Leitung der ANM 1952 / 53 war Kagel dem Brief an Lange (vgl. Anhang S. 309) zufolge auch in der SHA von 1952 bis 1956 im künstlerischen Direktorium vertreten. Nach dem Ende des Peronismus im September 1955 gelangte Kagel zunehmend auch in öffentliche beratende bzw. organisatorische Funktionen. Ende des Jahres 1955 berichtete die

unter Mitwirkung junger Instrumentalisten das Orchester Pro-Música, das sich speziell dem Repertoire barocker und klassischer Werke widmet. In diesem Jahr gewann er im Wettbewerb den Posten des stellvertretenen Dirigenten im Teatro Colón, ist aber gleichzeitig als Studiendirektor der Kammeroper Buenos Aires und musikalischer Berater der Universität Buenos Aires in der Kulturabteilung tätig. Als Komponist hat er verschiedene Werke für Kammerensemble und Streichorchester geschrieben, die in dieser Stadt uraufgeführt wurden. Seine Arbeiten als Kritiker und Essayist wurden in argentinischen und ausländischen Medien publiziert.« 68 Vgl. PSS SMK Box Programmhefte Argentinien: Jorge D’Urbano, El conflicto en el Teatro Colón, o. O. 1957, S. 14.

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Musikzeitschrift Polifonía über die Gründung der argentinischen Sektion von Jeunesses Musicales – Juventudes Musicales de la Argentina –, in dessen leitendem Gremium, dem Consejo Ejecutivo, Kagel neben dem Geiger Alberto Lysy, dem Kritiker Fernando Vidal Buzzi und anderen genannt wurde. Der Artikel hob hervor, dass in der Ära Perón an die Gründung einer argentinischen Sektion von Jeunesses Musicales nicht zu denken war, das Land nach dessen Sturz nun aber endlich in dieser weltweit tätigen Organisation vertreten sei. Als Vertreter des Jeunesses-Musicales-Gründers Marcel Cuvelier fungierte Alberto Ginastera.69 Zudem wurde Kagel musikalischer Berater an der Universität. Unter dem Titel »Música en la Universidad« veranstaltete die Kulturabteilung der Universität Buenos Aires meistens donnerstags Konzerte in verschiedenen Fakultäten, die sich besonders an die Studenten richteten. Die Zeitschrift der Universität berichtete Mitte des Jahres 1956 von Chor- und Kammerkonzerten, die meist mitgeschnitten und von Radio del Estado übertragen wurden.70 Offenbar ab April hat Kagel einige Monate als »Asesor musical« diese Konzerte mitgestaltet und, wie er sich erinnert, »Kulturarbeit für 25 000 Studenten gemacht«: Mit Musikprogrammen und Vorträgen versuchte er, »Auseinandersetzungen durch umfassende Information auszulösen« und nicht »einseitige Vorstellungen von ›Kultur‹«71 zu verbreiten. Am 25. Oktober 1956 fand zum Beispiel in der großen Aula der philosophischen und philologischen Fakultät in der Straße Viamonte 430 – also mitten im intellektuellen Zentrum der fünfziger Jahre – ein Konzert mit Werken junger argentinischer Komponisten statt, zu dem Kagel einen Einführungsvortrag hielt.72 Interessanterweise enthielt das Konzert mit Kompositionen von Carlos Tuxen Bang, Edgardo Cantón, Valdo Sciamarella und Adolfo Mindlin keine von ihm selbst. Die Konzertreihe bot zudem einen ganzen Zyklus über die neue amerikanische Komponistengeneration, Vokalmusik des 16. Jahrhunderts oder die Beteiligung von Ensembles, mit denen Kagel seit Jahren in Kontakt stand – beispielsweise das Collegium Musicum unter der Leitung

69 Vgl. Polifonía (1955), H. 97-98, S. 24. Dem widerspricht die Aussage von Carmen García Muñoz, »Sociedades, II. Argentina«, in: DMEH, Bd. 9, Madrid 2002, S. 1077, Juventudes Musicales de la Argentina seien erst 1958 gegründet worden. 70 Vgl. Revista de la Universidad de Buenos Aires, 5. Epoche, 1 (1956), H. 2, S. 259 f. und H. 3, S. 454. 71 Zitate aus einem Gespräch mit Klaus Vetter [1973], in: Kagel, Tamtam, S. 128. Hervorhebungen original. 72 PSS SMK Box Programmhefte Argentinien: »Breve noticia sobre la creación musical de la joven generación argentina«, vgl. auch Kurzankündigung in La Nación 25.10.1956, S. 10.

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von Erwin Leuchter am 18. Oktober 1956.73 Ob die Übertragung eines Konzerts unter Kagels Leitung im Radio del Estado am 31. März 1957 um 12.30 Uhr mit der Konzertreihe der Universität zusammenhing, bleibt unklar, ist jedoch möglich: Dem Radioprogramm ist zu entnehmen, dass Kagel das Kammerorchester des Radio del Estado leitete und unter dem Prädikat »zeitgenössische Musik« Werke von José María Castro, Alexandre Tansman, Odeon Partos, Ives und Strawinsky brachte. Die Kontakte zum Radio del Estado, später umbenannt in Radio Nacional behielt Kagel noch bei, als er schon in Europa weilte: Im Programm des Radio Nacional für Juni 1958 fand sich samstags um 23.05 Uhr eine Sendereihe Kagels über moderne deutsche Musik.74 Offensichtlich hatte Kagel von den politischen Umbrüchen für seine Karriere in Buenos Aires profitiert. Nicht so Curt Lange, der am 17. September 1956 noch auf Kagels Brief antwortete und ihm berichtete, dass seine Professur und die gesamte Musikwissenschaft an der Universidad Nacional de Cuyo in Mendoza »im Namen der Demokratie« eliminiert worden sei. Trotz der Möglichkeiten, an anderen argentinischen Instituten unterzukommen, werde er das Land nun tief verletzt verlassen, da er ihm nicht mehr vertraue, und sich Forschungen in Brasilien widmen. Kagel riet er, sein Möglichstes zu tun und zumindest ein Jahr nach Deutschland zum Studium der elektronischen Musik zu gehen: »Allá están ya bastante adelantados en esta clase de especulaciones.«75 Falls Kagel nach dem Treffen mit Boulez diesen Schritt noch nicht geplant hatte, tat er es sicher nach diesen klaren Worten.

L ITERATUR Dass Mauricio Kagel als Komponist in besonders intensiver Weise in, aus oder von der Literatur lebte, hat Werner Klüppelholz wiederholt hervorgehoben.76

73 Vgl. Kurzankündigung in La Nación 18.10.1956, S. 12: Beteiligung des Chors des Collegium Musicum unter der Leitung von Erwin Leuchter sowie des MelosStreichquartetts – Werke von Wolfgang Amadeus Mozart und Robert Schumann. Weitere Konzertprogramme in PSS SMK Box Programmhefte Argentinien. 74 Vgl. Radioprogramme des Radio del Estado für März 1957 und Juni 1958 in PSS SMK Box Programmhefte Argentinien, unpaginiert. 75 Brief von Lange an Kagel vom 17.9.1956 (ACL / vgl. Anhang S. 312): »Dort sind sie schon weiter in dieser Art Wagnis.« 76 Vgl. Klüppelholz in Kruse, Lese-Welten, S. 17; Teile daraus nochmals publiziert als Werner Klüppelholz, »Mauricio Kagel und die Literatur«, in: ders., Über Mauricio

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Sein Vater sei demnach im ersten Beruf Buchdrucker gewesen; in seiner Werkstatt habe er unter anderem aber auch Druckerschwärze und marmoriertes Papier hergestellt. Im Nachlass weisen Papiere mit der Firmenadresse konkret auf eine Buchbinderei hin,77 von der Mauricio berichtete: »Ich bin in einem Milieu von Handwerkern, Druckern und Bibliophilen aufgewachsen, die die Werkstatt meines Vaters besuchten.«78 Des Vaters »biblische Verehrung für das Buch als solches«79 wirkte auf die ganze Familie, in der »europäische Klassiker wie Goethe oder Hugo«80 genauso wie Proust gelesen und für die »umfangreiche Bibliothek […] andauernd neue Bücher angeschafft«81 wurden. Mauricio war der jüngste Sohn und »eifriger Leser«, den »Kafka, Faulkner, Joyce oder die Surrealisten weit mehr als nur interessiert«, sondern in »Ansichten und Empfindungen damals entscheidend geprägt« haben.82 Die Faszination für Gedrucktes und Literaten teilte er mit seiner Schwester Guida, die – acht Jahre älter als er – bereits in den vierziger Jahren Philosophie und Literatur an der Universität studierte, bevor sie zur Psychologie wechselte und Anfang der fünfziger Jahre nach Paris und Genf ging.83 Sie hatte Kontakt mit Kommilitonen und Schriftstellern, die gleichzeitig oder später Freunde ihres jüngsten Bruders waren und auf die in diesem Kapitel detailliert eingegangen werden soll. Wer durch wen Bekanntschaft

Kagel, S. 92-116, hier S. 92; Werner Klüppelholz, »Ein Leben ohne Bücher ist genauso armselig wie ohne Musik«, Sendung vom 5.12.2011, 22.05 Uhr, SWR2: http://www.swr.de/swr2/programm/sendungen/essay/-/id=659852/nid=659852/did =8808882/56huxa/index.html (11.12.2011). 77 PSS SMK Mappe Frühe Studien und Skizzen 2. Kladde [2 / 5]: Papier mit Briefkopf »J.G. Kágel Importador fundada en el año 1920. 73 Uruguay U.T. 38 Mayo 5579. Desde 1920 se especializa en artículos en general para encuadernación.« Die Initialen weisen auf Jacobo Gregorio Kagel. Ein Telefonbuch von 1950 führte unter dem Eintrag »Kagel, Jacobo G« die hier genannte Straße Uruguay 73 mit Telefonnummer, unter dem Eintrag »Kagel, Jacobo Gregorio« die Adresse »M de Andes 222«, unter der Mauricio Kagel noch 1956 erreichbar war (vgl. Brief von Lange an Kagel vom 17.9.1956, Anhang S. 312), sowie die Telefonnummer 43-2138: vgl. http://www. jewishgenealogy.com.ar/guia1950/ancestors-phone-324.html (11.9.2013). 78 Kagel / Klüppelholz, ».... / 1991«, S. 40. 79 Ebd. 80 Klüppelholz, Über Mauricio Kagel, S. 92. 81 Kagel / Köhler, »›Der Fleischwolf Gottes‹«, o. S. 82 Alle Zitate aus »Wer von uns allen wird darüber berichten können? Gespräch mit Dieter Rexroth«, in: Kagel, Worte über Musik, S. 85-98, hier S. 86. 83 Vgl. Kagel, Dialoge, Monologe, S. 227.

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schloss, ist dabei meist nicht zu eruieren; dass der Jüngere aber vom Vorbild der Älteren profitierte, wird hier angenommen. Die literarische Begeisterung hatten beide nicht nur vom Vater geerbt, auch ihre Mutter war nach Mauricios Einschätzung »unfähig, Gedrucktes wegzuwerfen«. Und er ergänzte in Anspielung auf sich selbst: »Wenn man überzeugt ist, daß Eigenschaften vererbt werden können, dann ist dies ein unwiderlegbarer Beweis.«84 Kagels Nachlass, speziell die Teile seiner Bibliothek, die in Basel und als Schenkung in Berlin bzw. Bonn aufbewahrt werden, legen Zeugnis von dieser Sammelpassion ab und geben dem Versuch, sein literarisches Universum in Buenos Aires und darüber hinaus zu beschreiben, eine Grundlage. Schwieriger zu fassen sind die informellen Kontakte mit Schriftstellern in Cafés, von denen Kagel berichtete. Seine Erinnerungen werden hier zusammengefasst, diskutiert, mit dem Leben der Personen in Relation gesetzt und sofern möglich mit anderen Zeitzeugenberichten, Werken und Dokumenten verglichen. Die Quellenlage ist im Vergleich zu Kagels musikalischen Aktivitäten unzureichend, doch lassen sich einige Verbindungen und Parallelen selbst in später entstandenen Werken zeigen. Jorge Luis Borges Dem Gewicht folgend, das Kagel selbst Jorge Luis Borges gab, dem er »zu großer Dankbarkeit verpflichtet«85 gewesen sei, ist der Einfluss dieses Schriftstellers vor allen anderen auf Kagels kompositorisches Denken besonders hervorgehoben worden.86 Was die Details anbelangt, bleiben wir gezwungen, den Aussagen Kagels zu folgen, da von Borges selbst keine Statements erhalten sind und die befragten Zeitgenossen von der Freundschaft zwischen dem jungen Komponis-

84 Kagel, Dialoge, Monologe, S. 267. 85 Vgl. Kagel / Klüppelholz, ».... / 1991«, S. 44. 86 Parallelen im Werk von Kagel zu einzelnen Erzählungen von Borges zeigte Wieland Reich, »Der Hörer als Komponist – über kompositionstechnische und didaktische Aspekte in neueren Werken Mauricio Kagels«, in: Reinhard Schneider u. a. (Hg.), Musikpädagogische Impulse. Bericht über das Symposion »Gegenwärtige Musikkultur und Musikpädagogik« vom 23. bis 25. Oktober 1992 in Dresden, Kassel 1994, S. 2433, auf. Klüppelholz befragte den Komponisten eingehender zu Borges, worauf dieser 2001 in Dialoge, Monologe, S. 264 ff. über den Schriftsteller und seine Lage im Peronismus berichtete. Reichs Bezüge zu Borges griff auch Björn Heile, »Kopien ohne Vorbild: Kagel und die Ästhetik des Apokryphen«, in: NZfM 162 (2001), H. 6, S. 1115 auf und erweiterte sie. Vgl. auch Klüppelholz, Über Mauricio Kagel, S. 92 ff.

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ten und dem mehr als doppelt so alten Schriftsteller nichts berichten konnten. Borges ist als einer der bekanntesten argentinischen Intellektuellen, Mitwirkenden in Sur und Gegner Peróns bekannt. Bereits während der Jahre des Zweiten Weltkriegs schrieb er gegen den argentinischen Nationalismus an, wobei John King einräumte: »To be anti-national at this moment was to be mainly anti-fascist. Borges would not, however, be able to distinguish later between fascism and socialism, both of them ignoble collective sentiments. Nationalist writers, for Borges, could only write dull realist fiction. […] For Borges […] the world seemed to be going mad, with the events in Europe and in Argentina. His political statements condemn this process; his short stories strive for extreme ›askesis‹ in the lucid and self-contained pleasures of art.«87

Seine ironischen Kommentare zu jeder Form von Totalitarismus äußerte Borges in Bezug auf Europa zuerst in der Illustrierten El Hogar, in der er von 1936 bis 1939 für eine Seite mit ausländischen Buchbesprechungen zuständig war.88 Bereits damals attackierte er den Nationalsozialismus wie den Kommunismus; er wandte sich aber besonders gegen die katastrophalen Folgen des Antisemitismus und der Propaganda Hitlers für die deutsche Kultur. Wie viele Intellektuelle sah Borges faschistoide Tendenzen in der Politik der Militärdiktatur und vor allem im Führungsstil Peróns, den er für einen Nazi hielt: Er äußerte sich gar zu den Gefahren dieser Bewegung in der Öffentlichkeit, wenngleich ohne konkrete Namen zu nennen.89 1945 unterzeichnete er verschiedene Manifeste gegen die Achsenmächte und für die Demokratie, die unter anderem in der Zeitschrift Antinazi erschienen.90 Dies hatte Folgen nach dem Regierungsantritt Peróns: Im August 1946 erreichte ihn die Nachricht, er sei von seinem Posten als Schreiber der städtischen Bibliothek Miguel Cané in Almagro, in der er seit 1937 tätig gewesen war, zum Inspektor für Geflügel berufen worden – eine entwürdigende »Beförderung«, die er natürlich ablehnte und in deren Folge er seinen städtischen Posten selbst kündigte.91 Der Schriftsteller brachte diese Vorkommnisse mit seiner Haltung während des Zweiten Weltkriegs in Verbindung, in dem er für die

87 King, Sur, S. 116. 88 Vgl. Emir Rodriguez Monegal, Jorge Luis Borges. A Literary Biography, New York 1988, S. 286 ff. und 342. 89 Vgl. ebd., S. 391. 90 Vgl. als Beispiel »Manifiesto de escritores y artistas« vom 22.3.1945 in Jorge Luis Borges, Textos recobrados 1931-1955, Barcelona 2001, S. 355-357. 91 Vgl. Rodriguez Monegal, Jorge Luis Borges, S. 392.

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Alliierten gewesen sei,92 nicht jedoch mit einer explizit antiperonistischen Haltung. Borges wandte sich zwar nicht namentlich gegen Perón – auch später vermied er dessen Namen sofern möglich93 –, aber er schrieb 1946 in Sur explizit gegen einen patriotischen Nationalismus an,94 woraus die Kritik am Präsidenten klang. In den folgenden Jahren verfasste er unzählige Geschichten, die mit den Verhältnissen im Land ironisch umgingen, manchmal nur für seinen Freundeskreis bestimmt waren und teilweise erst nach dem Sturz Peróns an die Öffentlichkeit gelangten. Extremstes Beispiel dafür ist die mit Adolfo Bioy Casares gemeinsam verfasste Erzählung »La fiesta del monstruo« – »Das Fest des Ungeheuers« – vom November 1947, die zunächst nur in Manuskripten unter den engsten Vertrauten existierte, nach dem Sturz Peróns 1955 jedoch in der uruguayischen Zeitung Marcha und 1977 in den Nuevos Cuentos de Bustos Domecq veröffentlicht wurde.95 Die Autoren trieben die regionale Färbung des Spanischen, die in Buenos Aires besonders von den unteren Schichten gesprochen und als lunfardo bezeichnet, von Perón allerdings bewusst in Ansprachen eingesetzt wurde, zu gekünstelter Übertreibung und kreierten eine einzigartige, nahezu unübersetzbare Groteske. Die Schaffung sprachlicher, explizit argentinischer Charaktere kennzeichnete bereits zuvor Borges’ Zusammenarbeit mit Bioy Casares: Unter dem Pseudonym Bustos Domecq hatten sie die Krimis Seis problemas para don Isidro Parodi veröffentlicht, die Erzählformen und Sprache parodierten und in Julio Cortázars Romanen Los Premios und Rayuela eine Fortsetzung fanden. Für Un modelo para la muerte, das Bioy Casares und Borges unter dem Decknamen B. Suárez Lynch veröffentlichten, erfanden sie sogar einen Verlag: in Anspielung auf spanische Weine Oportet & Haereses benannt.96 Borges betätigte sich ab 1946 außerhalb jeglicher staatlicher Institutionen, begann seine Vortragstätigkeiten in Argentinien und Uruguay, unterrichtete am CLES, nutzte verschiedene Systeme der kulturellen Produktion und publizierte in verschiedensten Medien und Verlagen, was ihm eine große Unabhängigkeit verschaffte:97 Dazu gehörten vor allem Aufsätze in La Prensa, La Nación und

92 Vgl. Borges, Autobiografía, S. 112 und Barone, Diálogos de Borges y Sábato, S. 36. 93 Vgl. Borges, Autobiografía, S. 112 und 123. 94 Vgl. »Nuestro pobre individualismo«, in: Sur 16 (1946), H. 141, S. 82-84. 95 Vgl. Rodriguez Monegal, Jorge Luis Borges, S. 405 f. Vgl. dt. in: Jorge Luis Borges, Chroniken von Bustos Domecq. Neue Chroniken von Bustos Domecq (Gesammelte Werke 12), dt. von Gisbert Haefs, München / Wien 2009, S. 135-150. 96 Vgl. Rodriguez Monegal, Jorge Luis Borges, S. 370. 97 Vgl. Annick Louis, Borges ante el fascismo (Hispanic Studies: Culture and Ideas 7), Bern 2007, S. 19.

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Sur sowie in der von ihm mit herausgegebenen Monatsschrift Los Anales de Buenos Aires. Auch in Realidad, Buenos Aires Literaria oder Comentario erschienen vereinzelt Beiträge von ihm; klare soziale oder politische Statements vermied er darin jedoch. Die Zeitschrift Los Anales de Buenos Aires wurde seit Januar 1946 von einer Institution herausgegeben, die international bekannte Intellektuelle zu Vorträgen einlud und deren Referate teilweise abdruckte. Borges gehörte ab der dritten Ausgabe zum Redaktionsteam und brachte Artikel unter eigenem Namen sowie gemeinsam mit Bioy Casares unter dem Pseudonym B. Lynch Davis.98 Im Rückblick bezeichnete er sich als »Sekretär einer mehr oder minder geheimen Literaturzeitschrift«.99 Über Musik schrieben hier öfter Roberto García Morillo und Juan Carlos Paz; hervorzuheben sind zudem die Publikation der ersten Erzählung »Casa tomada« von Julio Cortázar im November 1946, der weitere Kurzgeschichten, Rezensionen und vor allem »Los Reyes«100 aus seiner Hand folgten, Gedichte von Carlos Coldaroli, der mit der ANM in Kontakt stand und ebenso wie Virgilio Piñera, von dem ebenfalls Beiträge erschienen, zum Kreis um Gombrowicz gehörte. 1950 wurde Borges zum Präsidenten der Schriftstellervereinigung SADE gewählt. Seinen Aussagen zufolge war sie eine der offensivsten Einrichtungen gegen die Regierung – so offenkundig, dass einige Autoren während Peróns Präsidentschaft nicht wagten, ihren Fuß in das Gebäude zu setzen.101 Ansonsten bewegte sich Borges in dieser Zeit meist in kleinen, ihm vertrauten Gruppen, wo er diskutierte, und vermied einen regelmäßigen öffentlichen Treffpunkt.102 Wo Ka-

98 99

Vgl. Rodriguez Monegal, Jorge Luis Borges, S. 398 f. Jorge Luis Borges, Biblioteca personal (prólogos), Madrid 1988, S. 9: »secretario de redacción de una revista literaria, más o menos secreta«; dt.: »Persönliche Bibliothek« [1988], in: ders., Borges, mündlich. Sieben Nächte. Neun danteske Essays . Persönliche Bibliothek (Gesammelte Werke 4), dt. von Gisbert Haefs, München / Wien 2004, S. 253-364, hier S. 255. Wie Borges’ »Persönliche Bibliothek« enthält übrigens auch Kagels Liste wichtiger Bücher in Kruse, Lese-Welten, S. 26-28 nicht unbedingt berühmte Texte, sondern spiegelt in ihrer Mehrsprachigkeit und Vielfältigkeit Kagels »ungestillte Neugier«: Ausdruck nach Borges, Borges, mündlich, S. 253, vgl. Borges, Biblioteca personal (prólogos), S. iii, »no saciada curiosidad«.

100 Cortázars Los Reyes erschien als Buch 1949 im Verlag Gulab y Aldabahor (s. u.), zuvor jedoch als Beitrag in Los Anales de Buenos Aires 2 (1947), H. 20-22, S. 34-48. 101 Vgl. Borges, Autobiografía, S. 122. 102 Vgl. Rodriguez Monegal, Jorge Luis Borges, S. 348.

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gel ihn kennen lernte, seit wann und wie lange beide engen Kontakt pflegten, wird an keiner Stelle transparent. Auf dem elterlichen Dachboden las er irgendwann von seiner Mutter gesammelte Ausgaben von El Hogar aus den dreißiger Jahren, in denen er Borges’ Literaturseiten studierte; dann wissen wir vom Komponisten, dass er Borges’ Seminare am CLES besuchte, dieser sein Lehrer für englische Literatur war und beide gemeinsam ins Kino gingen.103 Borges begann seine Lehrtätigkeit erst in den späten vierziger Jahren. Unter seinen Kursen, die er dann am CLES gab, fanden sich 1949 neben denen über Klassiker der nordamerikanischen Literatur oder englische Schriftsteller auch Seminare über große mystische Denker und die ersten griechischen Philosophen.104 Durchschnittlich 100 Zuhörer folgten Borges’ Ausführungen, darüber hinaus wurde öffentlich, zum Beispiel in der Zeitschrift El Hogar, darüber berichtet.105 Überliefert sind diese Vorlesungen nur vereinzelt, wie jene über den Schriftsteller Nathaniel Hawthorne vom März 1949, in der Borges die Nähe der Literatur zum Traum und die Aufgabe des Schriftstellers zu träumen hervorhob.106 1950 gab Borges eine Einführung in das Studium des Buddhismus, Kurse über alte germanische Literaturen, Oscar Wilde sowie die Geschichte der Kriminalliteratur und einen Vortrag über die deutsche Literatur in der Zeit Johann Sebastian Bachs, der im Kontext einer ganzen Reihe zum Bach-Jubiläumsjahr stand.107 Nach Kursen zu Herman Melville, Franz Kafka, James Joyce und Bernhard Shaw in den ersten Monaten des Jahres 1951 widmete sich Borges am 19. Dezember der eigenen Positionierung in seinem Vortrag »Der argentinische Schriftsteller und die Tradition«,108 der noch vor dem Sturz Peróns in Cursos y Conferencias sowie in

103 Vgl. u. a. Kagel, Dialoge, Monologe, S. 264 und 267 und Kagel / Schöning, »Die Filmkompositionen«, in: DVD ars acustica – ars intermedia. 104 Vgl. Kursübersichten in Cursos y Conferencias 17 (1949), H. 203-204, S. 245, Cursos y Conferencias 18 (1949), H. 208-210, S. 332 sowie H. 211-213, S. 470 f. 105 Ein Bericht von Benigno Herrero Almada in El Hogar wurde in Auszügen wieder abgedruckt in Cursos y Conferencias 18 (1949), H. 211-213, S. 472. 106 Jorge Luis Borges, »Nathaniel Hawthorne« [1949], in: ders., Otras inquisiciones (Obras completas 8), Buenos Aires 1960, S. 71-95, dt. in: ders., Inquisitionen. Vorworte (Gesammelte Werke 3), dt. von Karl August Horst und Gisbert Haefs, München / Wien 2003, S. 56-79. 107 Vgl. Kursübersichten in Cursos y Conferencias 19 (1950), H. 217-218, S. 56, H. 220, S. 225 und H. 221, S. 285. 108 Jorge Luis Borges, »El escritor argentino y la tradición«, in: Cursos y Conferencias 21 (1953), H. 250-252, S. 515-525; ebenfalls in: Sur (1955), H. 232, S. 1-8 und in: Jorge Luis Borges, Discusión (Obras completas 6), Buenos Aires 1957, S. 151-162.

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Sur erschien und den Borges 1957 der Neuausgabe von Discusión neben anderen Essays hinzufügte. Kagel referierte die wichtigsten Aussagen dieses Vortrags 2001 in Dialoge, Monologe, zitierte Borges gar wörtlich, dass nämlich »die Tradition der argentinischen Literatur ›die gesamte abendländische Kultur‹ sei«,109 und interpretierte sie im Hinblick auf die Musik. Am 28. März 1952 hielt Borges den Eröffnungsvortrag zum Studienjahresbeginn des CLES über Probleme der Sprache, der gleichzeitig die erste Vorlesung seiner sechsteiligen Reihe unter dem Titel »Der Schriftsteller und unsere Zeit« war.110 Bis zur polizeilich angeordneten Veranstaltungseinschränkung des CLES im Juli gab Borges zudem einen Kurs über Flaubert; derjenige über Maupassant fand schon nicht mehr statt. Erst nach dem Ende der Vorlesungen im CLES erschien die erste Ausgabe der Zeitschrift Buenos Aires Literaria, in der Kagel 1953 in kurzer Folge drei Konzertkritiken veröffentlichte. Er berichtete rückblickend darüber: »Ich wusste zwar, daß ich Musiker werden wollte, aber als Borges eine literarische Zeitschrift aus der Taufe hob, wurde ich eingeladen, dort Film- und Musikrezensionen zu schreiben. Schließlich war diese Kunst meine zweite Leidenschaft.«111 Von ihm namentlich unterzeichnete Filmrezensionen finden sich – entgegen dieser Aussage – nicht. Es ist zudem festzuhalten, dass die drei Konzerte, die Kagel besprach, in engem Bezug zu seinem musikalischen und privaten Umfeld standen. Sie führten ihn nicht auf Neuland, sondern ermöglichten ihm Besprechungen von Werken, für die er sich intensiv interessierte und die er vermutlich anhand der Partituren und im Probenprozess studieren konnte: Die Februar-Ausgabe 1953 brachte einen Bericht über das ANM-Konzert im Gedenken an Schönberg vom Oktober 1952,112 und die Mai-Ausgabe über das Eröffnungskonzert der von Cecilia Benedit de Debenedetti und Rodolfo Arizaga mitgegründeten Sociedad de Conciertos de Cámara mit Schönbergs Pierrot Lu-

109 Kagel, Dialoge, Monologe, S. 266, allerdings ohne einen Nachweis des Zitats aus Borges’ Text bzw. die dt. Übersetzung in Jorge Luis Borges, »Der argentinische Schriftsteller und die Tradition«, in: ders., Evaristo Carriego. Diskussionen (Gesammelte Werke 1), dt. von Karl August Horst u. a., München / Wien 1999, S. 256266, hier S. 264. Klüppelholz, Über Mauricio Kagel, S. 93, hat aber bereits auf den Zusammenhang hingewiesen. 110 Vgl. Cursos y Conferencias 21 (1952), H. 241-243, S. 99 und H. 250-252, S. 541. 111 Kagel, Dialoge, Monologe, S. 177. Im Gespräch mit Schöning, »Die Filmkompositionen«, in: DVD ars acustica – ars intermedia sagte Kagel, er habe sogar »über Film und Fotografie geschrieben«. 112 Kágel, »Homenaje a Schönberg en la Agrupación Nueva Música«, vgl. oben S. 123.

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naire im April113 – beide dirigiert von Teodoro Fuchs, mit dem er zu diesem Zeitpunkt bei der Sociedad Hebraica Argentina eng zusammenarbeitete. In der Juli-Ausgabe 1953 rezensierte er das Konzert der Asociación Amigos de la Música, die in Kooperation mit dem Chor des Collegium Musicum am 9. Juni unter anderem Dallapiccolas Canti di prigionia aufgeführt hatten. Kagels damalige Freundin María Adela Palcos gehörte dem Chor des Collegium Musicum an und sang das Werk auch mit.114 Zweifellos beschäftigte sich Kagel nachhaltig und analytisch mit den von ihm besprochenen Kompositionen. Vor diesem Hintergrund ist nachvollziehbar, was er meinte, wenn er über den Lernprozess beim Schreiben der Rezensionen berichtete: »Als ich für die Zeitschrift ›Buenos Aires Literaria‹ […] Musikbeiträge schrieb, habe ich von Borges gelernt, was Systematik im Unsystematischen bedeutet. Aber ich habe auch von ihm erfahren, daß Rezensionen mit überflüssigem Rankwerk, die die Ignoranz des Berichterstatters verdecken helfen, eine niederträchtige Sache sind. Hat man sich kaum die Mühe gemacht, sich gründlich vorzubereiten – Partitur oder Buch nicht quer, sondern genau zu lesen –, dann ist Schweigen wertvoller; Kulturkritik mit Fiktion zu verwechseln bleibt sträflich.«115

Die drei umfangreichen, anspruchsvollen Kritiken sind strukturell ähnlich aufgebaut: Kagel nannte zunächst Konzertanlass und -inhalt, ordnete die Komponisten sodann biografisch und regional ein, um in der Folge die Werke detailliert zu analysieren. Besprach er im Fall des ANM-Konzerts alle erklingenden Kompositionen, wählte er aus den anderen beiden Konzerten jeweils nur ein Stück für seine Kritik aus und erwähnte die anderen nicht einmal. Die Analyse widmete sich jeweils zunächst der Form – bei Vokalwerken unter besonderer Beachtung der Textvorlage –, dann der Behandlung von Stimme bzw. Instrumenten, Rhythmus und Tonhöhenanordnung. Dabei finden sich Exkurse zum Sprechgesang,116 zur halbszenischen Konzeption des Pierrot lunaire117 oder der Geschichte der Schlagzeugkomposition mit besonderer Erwähnung von Edgard Va-

113 Kágel, »Pierrot Lunaire, op. 21«, vgl. oben S. 79. Kagel besprach nur Schönbergs Komposition, obwohl im gleichen Konzert auch Kompositionen von Rodolfo Arizaga und Manuel de Falla aufgeführt wurden; vgl. Kritik von D’Urbano, Música en Buenos Aires, S. 66-69. 114 Vgl. Chorbesetzung im Programmheft vom 9.6.1953 im Nachlass Spiller / UCA. 115 Kagel / Klüppelholz, ».... / 1991«, S. 44 f. 116 Vgl. Kágel, »Homenaje a Schönberg en la Agrupación Nueva Música«, S. 63. 117 Vgl. Kágel, »Pierrot Lunaire, op. 21«, S. 63.

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rèses Ionization.118 Besonders auffällig sind die umfassende Analyse von Juan Carlos Paz’ Dédalus 1950, die sich stark an die Ausführungen im Programmheft des Konzerts anlehnte,119 sowie die zusammenfassenden Aussagen zu Weberns Spätstil: Er stelle sich unter anderem ständig rhythmischen Problemen und schaffe mit den Pausen ein großes Ausdruckselement.120 Kagel schloss alle drei Rezensionen mit der Nennung der Interpreten und der klaren Wertung der Aufführungen: So habe im Fall der Canti di prigionia der von Guillermo Graetzer gut vorbereitete Chor zu wenig mit dem Orchester geprobt, die Interpretation habe daher an Unausgeglichenheit und fehlendem Zusammenspiel gelitten. Mit solch einem Tadel und vor allem im Umfang der analytischen Ausführungen unterschieden sich Kagels Rezensionen deutlich von denen, die zum Beispiel der Musikwissenschaftler Jorge D’Urbano über die gleichen Konzerte verfasste: D’Urbano äußerte sich immer – wenngleich häufig nur mit wenigen Worten – über alle in den Konzerten erklungenen Werke und blieb notgedrungen oberflächlich. Seine Einordnung von Komponisten und Musik in Kategorien wie »emotional« oder »intellektuell« entbehrt einer konkreten Analyse und verwendet lediglich Schlagworte und Phrasen. Trotz mancher Sympathie für die neueste Musik erwecken D’Urbanos Rezensionen den Eindruck einer Unkenntnis, gespickt mit dem von Kagel abgelehnten »überflüssigen Rankwerk«.121 Erstaunlich im Blick auf die Zeitschrift Buenos Aires Literaria ist, dass Borges weder als Herausgeber noch als Redakteur im Impressum genannt wurde. Borges-Biografien führen sie bis heute nicht als eine von ihm gegründete oder geleitete Zeitschrift122 und selbst Beiträge von ihm erschienen darin nur sporadisch. Im Hinblick auf den gesamten Autorenkreis bleibt zu fragen, ob es Borges war, der Kagel einlud, dort Rezensionen zu schreiben, oder ob ihn Personen aus der ANM empfahlen. Bevor Kagel zum Zuge kam, erschien im Dezember 1952 ein großer Aufsatz von Paz über den Zustand der argentinischen Musik;123 er

118 Vgl. Kágel, »Luigi Dallapiccola y los ›Canti di Prigionia‹«, S. 63. 119 Vgl. PSS SMK Box Programmhefte Argentinien. 120 Vgl. Kágel, »Homenaje a Schönberg en la Agrupación Nueva Música«, S. 62 f. Auf diese Rezension sowie diejenige zu Dallapiccola ist bereits Stenzl, »Woher – wohin?«, S. 24 f. eingegangen. 121 Die Kritiken zu den drei Konzert finden sich in D’Urbano, Música en Buenos Aires, S. 49-51 (10.6.1953), 56-57 (14.10.1952) und 66-69 (25.4.1953), leider ohne Angabe des ursprünglichen Periodikums. 122 Vgl. z. B. Rodriguez Monegal, Jorge Luis Borges. 123 Juan Carlos Paz, »Música argentina, 1952«, in: Buenos Aires Literaria (1952), H. 3, S. 7-14.

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könnte Kagel weiterempfohlen haben. Zum Redaktionsteam gehörten außerdem seit der ersten Ausgabe im Oktober 1952 Julio Cortázar, der zu dem Zeitpunkt schon in Paris lebte, und Daniel Devoto, der kurze Zeit später ebenfalls nach Frankreich reiste. Cortázar, der Buenos Aires Literaria zunächst nicht sonderlich innovativ fand, schrieb die Zeitschrift wiederholt nur Daniel Devoto zu.124 Von Paris aus trugen beide weiterhin Artikel über Musik und Literatur bei – und trafen sich dort mit Kagels Schwester Guida. Daniel Devoto Daniel Devoto ist im Vergleich zu Borges und Cortázar als Schriftsteller eher unbekannt geblieben, als Literatur- und Musikwissenschaftler, Pianist und Essayist in unserem Zusammenhang jedoch von ausschlaggebender Bedeutung. Er war mit Juan Carlos Paz eng befreundet und Gründungsmitglied der ANM. Zwar komponierte er selbst auch – einige Werke erklangen in den Jahren 1945 / 46 in der ANM und wurden im Verlag Politonía verlegt125 –, doch trat er häufiger als Klavierbegleiter der Sängerin Dora Berdichevsky und speziell mit Liedern französischer Komponisten des 20. Jahrhunderts auf. In Zusammenarbeit mit ihr entstand auch eine Überarbeitung der spanischen Übersetzung von Curt Sachs’ The History of Musical Instruments, die 1947 erschien und die Kagel besaß.126 Es ist zu vermuten, dass es sich bei Devoto und Berdichevsky um enge Bekannte Kagels handelte, denn er berichtete über sein Studium der Werke von Curt Sachs: »Schließlich erschien die erste Übersetzung des Reallexikons auf spanisch [sic] in Buenos Aires, sie wurde von zwei Freunden meiner Familie besorgt.«127 Kagel täuschte sich im Titel – nicht Sachs’ Real-Lexikon der Musikinstrumente von 1913, sondern die 1940 in New York erstmals publizierte History of Musical Instruments wurde auf Spanisch herausgegeben.

124 Vgl. Brief von Cortázar an Eduardo Jonquières vom 31.10.1952 in Julio Cortázar, Cartas a los Jonquières, Madrid 2010, S. 120 und vom 19.12.1952 ebd., S. 134. 125 Vgl. z. B. Daniel Devoto, Diferencias del primer tono, (Politonía) Buenos Aires 1946, gespielt u. a. im 51. Konzert der ANM am 24.9.1945. Im 54. Konzert am 5.4.1946 interpretierte er mit Dora Berdichevsky sein Lied »Solange« nach Eduardo Keller, das er der Sängerin widmete und das im Libro de cantos, (Politonía) Buenos Aires 1947, erschien. 126 PSS SMK Bibliothek: Curt Sachs, Historia universal de los instrumentos musicales, Buenos Aires 1947 – ursprüngliche Übersetzung von Maria Luisa Roth, überarbeitet und teilweise neu übersetzt von Dora Berdichevsky und Daniel Devoto. 127 Kagel / Klüppelholz, ».... / 1991«, S. 41.

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Besonders einige Konzerte, die Devoto unabhängig von der ANM im CLES organisierte, zeigen, wie sehr auf ihn folgende Aussage Kagels zutrifft: »Die Nabelschnur der argentinischen Intellektuellen, besonders in den Domänen Literatur, Musik, Malerei und Architektur, führte nach Frankreich.«128 Im Jahr 1948 erklang französische Klaviermusik für vier Hände in einem Zyklus. Das dritte Konzert am 28. Oktober enthielt unter anderem Werke von Saint-Saëns, Ravel, Satie sowie Milhauds Le bœuf sur le toit in der Reduktion des Komponisten, die Jacqueline Ibels und Daniel Devoto interpretierten. Das Programm und Devotos Werkkommentare inklusive einer umfassenden und hochaktuellen Bibliografie wurden in der Zeitschrift Cursos y Conferencias publiziert.129 Ibels und Devoto traten im November 1950 wieder gemeinsam mit vierhändigen Klavierwerken verschiedener Epochen und Komponisten auf,130 zuvor widmeten sie jedoch mit den Sängerinnen Dora Berdichevsky und Martha Maillie Erik Satie eine viel beachtete Hommage zum 25. Todestag: Devoto, von dem Zeitgenossen meinten, 131 seine Physiognomie ähnelte dem französischen Komponisten, spielte nicht nur Klavier, er führte auch »mit einer Unanständigkeit und fehlendem Zug, die Satie als die beste Hommage zu seinem Gedenken angesehen hätte«,132 durch die Konzerte am 20. und 27. September 1950.133 Kagel erinnerte sich auch mit großer Distanz noch an diese Veranstaltungen und die Pianistin Ibels: Angeblich fiel ihm der Programmzettel irgendwann in Deutschland wieder in die Hände, als er das Satie-Buch von Pierre-Daniel Templier in seiner Bibliothek aus dem Regal nahm.134 Auch 1951 gestalteten diese Interpreten Konzerte mit Musik von Milhaud und anderen französischen Komponisten der ersten Jahrhunderthälfte, und im Mai 1952 gab Devoto einen literaturwissenschaftlichen Kurs am CLES.135

128 Kagel, Dialoge, Monologe, S. 264. 129 Vgl. Cursos y Conferencias 17 (1948), H. 199-200, S. 79-86. 130 Vgl. Cursos y Conferencias 19 (1950), H. 223-225, S. 555. 131 Vgl. Romano, Vidas de Paz, S. 49. 132 Ursprüngliche Kritik »Conspiración de silencio« von Jorge D’Urbano vom 21.9.1950, Periodikum unbekannt; zitiert nach D’Urbano, Música en Buenos Aires, S. 32: »con una informalidad y falta de estiramiento, que Satie hubiera tomado como el mejor homenaje a su memoria«. 133 Datum entnommen: Cursos y Conferencias 19 (1950), H. 222, S. 365. 134 Vgl. Kagel / Klüppelholz, ».... / 1991«, S. 47. Das Buch (Pierre-Daniel Templier, Erik Satie, Paris 1932) mit dem Programmzettel findet sich im Nachlass (PSS SMK) und trägt die handschriftliche Eintragung »M. KAGEL Bs.As. Octubre 1947«. 135 Vgl. Cursos y Conferencias 20 (1951), H. 229-231, S. 123 und 21 (1952), H. 241243, S. 99.

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Ein mit Ibels und Berdichevsky für dasselbe Jahr geplantes Konzert mit Debussys Pélleas et Melisande in vierhändiger Klavierfassung konnte aufgrund des im Juli von außen erzwungenen Veranstaltungsendes am CLES nicht mehr stattfinden136 und kam stattdessen im Club Oriental – sogar um andere Debussy-Werke zu drei Abenden erweitert – zur Aufführung.137 Devoto war wie Paz als Musikkritiker tätig und schrieb häufig über die Konzerte der ANM. Daneben rezensierte er Bücher für die Zeitschriften 9 Artes, Cabalgata, Realidad, Los Anales de Buenos Aires, Sur und andere. Für Buenos Aires Literaria trug er in den beiden ersten Ausgaben Rezensionen über ein Buch von Borges (Otras inquisiciones von 1952) und einen Artikel über Bergs Wozzeck bei. Seine Konzertbesprechungen und vor allem Polemiken rund um das Thema »Argentinische Musik« finden sich primär in Buenos Aires Musical, zu dessen ständigen Mitarbeitern er bis zu seiner Reise nach Europa gehörte: Im Laufe des Jahres 1952 hatte sich Devoto um ein französisches Stipendium beworben, mit dem er am 10. November den Weg nach Paris antrat, wie Buenos Aires Literaria und Buenos Aires Musical vermeldeten.138 Von dort aus verfasste er noch einige Zeit Beiträge für argentinische Zeitschriften, unter denen besonders die als »Notizbuch aus Paris« bezeichneten in Buenos Aires Literaria 1953139 aufschlussreich sind: In der April-Ausgabe las man über eine Unterrichtsstunde am Pariser Konservatorium bei Olivier Messiaen (an einem Mittwoch um 16.30 Uhr), in der griechische und indische Rhythmen studiert wurden, sowie von einem Besuch mit der Sängerin und Pianistin Jane Bathori im Studio von Pierre Henry, der ihnen Musique concrète, darunter die Symphonie pour un homme seul, vorspielte. Im September fasste er unter anderem seine Erfahrungen von einem Gastspiel eines balinesischen Gamelan-Ensembles zusammen und gab seiner Verehrung für Bathori Ausdruck, deren Bekanntschaft auf die langjährigen Aufenthalte der Interpretin in Buenos Aires zurückging.140 Später ver-

136 Vgl. Cursos y Conferencias 21 (1952), H. 244-246, S. 245 und H. 250-252, S. 544. 137 Vgl. Buenos Aires Literaria (1952), H. 2, Anhang »La Tarasca« S. 6 f. und Kritik in BAM 7 (1952), H. 116, S. 2. 138 Vgl. Buenos Aires Literaria (1952), H. 3, Anhang »La Tarasca« S. 2; BAM 7 (1952), H. 116, S. 5. 139 Daniel Devoto, »Carnet de París«, in: Buenos Aires Literaria (1953), H. 7, S. 48-54 und H. 12, S. 49-54. 140 Jane Bathori hielt sich von 1926-1933 und 1941-1946 in Buenos Aires auf, vgl. Corrado, Música y modernidad, S. 97 f. Devoto widmete ihr La bonne cuisine (Scènes lyriques pour chant et piano sur le thème ci-dessus) von 1942-44, erschienen in

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folgte Devoto vor allem seine literaturwissenschaftliche Laufbahn und kehrte nicht mehr dauerhaft nach Südamerika zurück. Mauricio Kagel besaß mehrere Bände aus Devotos Verlag (Gulab y) Aldabahor; der Verleger und Autor versah seine eigenen Bücher auch mit Widmungen. In Devotos Canciones despeinadas von 1947 lesen wir: »para Mauro Kagel, su colega Devoto«.141 Und von der Aufsatzsammlung Las hojas (1940-1949), die 1950 erschien, finden sich zwei Exemplare, von denen eines folgende undatierte Widmung trägt: »Para Mauro Kagel, / su amigo(I) / Devoto / (I) ja, hélas, (et par ma faute) no su colega«.142 Was das Spiel mit den Worten »Freund« und »Kumpel« oder »Kollege« genau bedeuten soll, bleibt fraglich: Sind Kagel und Devoto durch einen Fehler Devotos keine Kollegen, aber noch Freunde, oder keine Kumpel mehr, die durch Dick und Dünn gehen, aber noch Freunde im Sinne von Bekannten? Seit wann war Devoto ein Freund der Familie Kagel? Führte er möglicherweise den Teenager überhaupt zur ANM und brachte ihn in Kontakt mit Paz? All dies ist uns unbekannt; spätestens in den fünfziger Jahren hatten beide im Rahmen der ANM und der Zeitschrift Buenos Aires Literaria professionellen Kontakt miteinander. Devoto verband außerdem mit Kagels Schwester Guida eine enge Freundschaft in Paris, von der einige Dokumente zeugen: Besonders eindrücklich ist die Widmung des Gedichts »A una rama cortada, en un vaso« von Devoto an Guida, das im März 1953 in Paris entstand und im August desselben Jahres in Buenos Aires Literaria abgedruckt wurde.143 Zu diesem Zeitpunkt weilte Guida Kagel wie Devoto in Paris, und dort trafen sie sich auch mit Julio Cortázar und Aurora Bernárdez. Julio Cortázar Julio Cortázar war mit Daniel Devoto befreundet und wurde dessen Protegé: Ihre Bekanntschaft geht möglicherweise auf Cortázars Teilnahme an den einführenden Veranstaltungen zum Literaturstudium an der Universität zurück, die er nach seiner Volksschullehrerausbildung und vor Antritt der ersten Stelle 1937 besuch-

Daniel Devoto, Libro de cantos (Politonía) Buenos Aires 1947, S. 25-33, und vertonte die Widmung »À la très Chèr Madam’ Bathori«. 141 Daniel Devoto, Canciones despeinadas: con un dibujo de Juan A. Otano, Buenos Aires 1947; dem IAI geschenkt (Signatur A 10 / 11498): »für Mauro Kagel, sein Kollege Devoto«. 142 Devoto, Las hojas (1940-1949), dem IAI geschenkt (Signatur A 10 / 2016): »für Mauro Kagel, sein Freund(I) Devoto (I) ja, hélas, (et par ma faute) nicht sein Kollege«. 143 Vgl. Buenos Aires Literaria (1953), H. 11, S. 29-31.

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te.144 Den 1941 entstandenen Vortrag »El Jazz y la Música«, in dem Devoto musikwissenschaftliche Positionen zum Einfluss des Jazz auf die europäische Musik der zwanziger Jahre referierte, den er dann zunächst im Radio hielt und 1948 in der Zeitschrift Verbum veröffentlichte, widmete er dem jungen Autor.145 Ihre Freundschaft ging also Cortázars eigentlicher Schriftstellerkarriere weit voraus. Zwar hatte er seinen Erstling Presencia 1938 – unter dem Pseudonym Julio Denis – herausgebracht, doch schrieb er in der Folge kaum selbst, war vorerst in der Provinz als Lehrer beschäftigt und unterrichtete ab 1944 französische Literatur an der geisteswissenschaftlichen Fakultät der Universität von Mendoza. Die Teilnahme an antiperonistischen Demonstrationen, die Unterstützung von Studenten-Protesten und die Besetzung des Fakultätsgeländes trugen Cortázar 1945 eine Verhaftung ein146 und machten seine Lehrtätigkeit unter dem Präsidenten Perón in der Folge unmöglich: Im Juni 1946 kündigte er selbst seinen Posten – in Cortázars späterer Einschätzung: »bevor Perón mich entlassen hätte«147 – und kehrte nach Buenos Aires zurück. Dort führte er bis 1951 ein eher zurückgezogenes bürgerliches Leben, arbeitete in der Cámara Argentina del Libro in der Straße Sarmiento, absolvierte eine Ausbildung zum Übersetzer für Englisch und Französisch und leitete dann ein Übersetzerbüro.148 Eigenen Aussagen zufolge war er von 1946 bis 1951 ein Einzelgänger, ins Kino Verliebter, Vielleser und ein Bürger, der außerhalb der Ästhetik kaum etwas wahrnahm.149 Als Schriftsteller noch unbekannt, legte Cortázar Borges seine handgeschriebene Erzählung »Casa tomada« vor, die dieser 1946 umgehend in Los Anales de Buenos Aires druckte. Es folgten unter seinem Namen weitere Kurzgeschichten – einige davon 1950 in dem Band Bestiario zusammengefasst –, kleinere Artikel und vor allem unzählige Rezensionen in dieser Zeitschrift sowie in Cabalgata, Realidad und

144 Vgl. Walter Bruno Berg, Grenz-Zeichen Cortázar. Leben und Werk eines argentinischen Schriftstellers der Gegenwart, Frankfurt a. M. 1991, S. 69. Berg gibt keine Quelle für diese Aussage an. Daneben steht Cortázars Angabe, er habe Devoto in Mendoza getroffen: vgl. Brief vom 27.11.1954 in Cortázar, Cartas a los Jonquières, S. 282. 145 Vgl. den Wiederabdruck in Devoto, Las hojas, S. 14-20, hier S. 14, sowie S. 205 die Anmerkungen dazu. Auch ein Gedicht in Devoto, Canciones despeinadas, S. 14 f. ist Cortázar gewidmet. 146 Vgl. Berg, Grenz-Zeichen Cortázar, S. 74. 147 Brief an Graciela de Sola vom 4.11.1963 in Julio Cortázar, Cartas 1937-1963, Buenos Aires 2000, S. 633: »antes de que Perón me dejara cesante«. 148 Vgl. Berg, Grenz-Zeichen Cortázar, S. 389. 149 Vgl. Miguel Herráez, Julio Cortázar. El otro lado de las cosas, Valéncia 2001, S. 88.

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Sur. 1949 war Los Reyes das erste Buch, mit dem er an die Öffentlichkeit trat. Es erschien in Devotos Verlag (Gulab y) Aldabahor – was den Herausgeber jedoch nicht hinderte, selbst eine Besprechung dazu in Realidad zu veröffentlichen150 – und erreichte nur einen kleinen Leserkreis, der die implizite Denunzierung von Machtmissbrauch durch Regierende zweifellos dechiffrieren konnte.151 Zwar entstanden in jenen Jahren das Buch Imagen de John Keats sowie die Romane Divertimento und El examen, sie blieben jedoch vorerst unveröffentlicht.152 Cortázar verließ Argentinien mit Hilfe eines französischen Stipendiums im Oktober 1951 aus freien Stücken und, wie er Jahre später aussagte, nicht aus dringenden politischen oder ideologischen Gründen.153 Allerdings waren die Monate vor seiner Abreise offenbar nicht besonders glücklich, wie er seinem Freund Eduardo Jonquières noch 1953 in einem Brief anvertraute.154 So ist Felix Lunas Interpretation von Cortázars Weg nach Paris als Flucht möglicherweise schlüssig: »La huida de Julio Cortázar a Europa en 1952 [sic], no porque lo persiguieran sino porque le aburría mortalmente la cultura oficializada en la Argentina, es una decisión paradigmática que muchos cumplieron sin moverse, como una afirmación espiritual de protesta.«155 Bald erfuhr er davon, dass sich auch Devoto für ein französisches Stipendium beworben hatte und hoffte aus ganzem Herzen, dass er es gewänne.156 Ende 1952 berichtete er von dessen Ankunft in Paris und den ersten Tagen in der Stadt, wo sie sich fortan regelmäßig trafen: Devoto hatte ihm »tonnenweise Matetee«157 mitgebracht, gemeinsam erkundeten sie Paris zu Fuß und auf Cortázars Vespa. In St. Germain-des-Près

150 Vgl. Realidad 6 (1949), H. 17-18, S. 319-321. 151 Vgl. zur politischen Interpretation von Los Reyes: Jaime Alazraki, Hacia Cortázar: aproximaciones a su obra, Barcelona 1994, S. 51 ff. 152 Vgl. zu Divertimento und El examen Walter Bruno Berg, »Apocalipsis y divertimento: Escritura vanguardista en la primera novelística de Cortázar«, in: Harald Wentzlaff-Eggebert (Hg.), Europäische Avantgarde im lateinamerikanischen Kontext. Akten des internationalen Berliner Kolloquiums, Frankfurt a. M. 1989, S. 229-240. 153 Vgl. Julio Cortázar, Argentina: Años de alambradas culturales, Barcelona 1984, S. 17. 154 Vgl. Brief vom 9.12.1953 in Cortázar, Cartas a los Jonquières, S. 201. 155 Luna, Perón y su tiempo. II. La comunidad organizada, S. 335: »Die Flucht Julio Cortázars nach Europa 1952, nicht weil er verfolgt worden wäre, sondern weil ihn die amtlich bestätigte Kultur in Argentinien tödlich langweilte, ist eine beispielhafte Entscheidung, die viele fällten ohne sich physisch zu bewegen: als geistige Protestbekundung.« 156 Vgl. Brief vom 14.6.1952 in Cortázar, Cartas a los Jonquières, S. 72. 157 Brief vom 19.12.1952 ebd., S. 127: »toneladas de yerba«.

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hielt Devoto schon bald einen ersten Vortrag mit Gedichten.158 Er führte ein Leben zwischen Nationalbibliothek, Buchläden, gutem Essen und Treffen mit Cortázar, dessen Freundin Aurora Bernárdez, die ebenfalls seit Dezember 1952 in Paris weilte und die der Schriftsteller 1953 heiratete, sowie Jane Bathori, mit der er auch am 7. Juni 1953 Werke von Satie für Klavier zu vier Händen musizierte.159 Devoto und Cortázar tauschten sich intensiv bis Ende der fünfziger Jahre aus, danach entfernten sich ihre Interessen voneinander.160 Die Sängerin Dora Berdichevsky, die wie beschrieben eine enge Zusammenarbeit mit Devoto verband, gehörte ebenfalls zum Freundeskreis Cortázars. Der Schriftsteller bezeichnete sie 1952 als »wunderbare und sehr geliebte Dicke«. 161 Den Kontakt hielten sie über die Entfernung aufrecht, und im September 1955 waren Dora und ihr Mann Celestino Arias in Paris, wo sie an einem Gesangswettbewerb teilnahm. Mit Cortázar gemeinsam reisten sie nach London.162 Auch mit Jorge D’Urbano, einem weiteren Kenner der Musikwelt, war Cortázar seit frühesten Jugendtagen befreundet;163 Cortázar hatte schon 1942 über ihn geschrieben: »[…] es un fino espíritu, dado de lleno a la música – como oyente y crítico – y de una austeridad intelectual que llama la atención en estos tiempos profanos.«164 In manchen Zeiten erschien die Kommunikation der Freunde zwar wie gelähmt und bestimmte Themen konnten nicht besprochen werden,165 doch dauerte die Freundschaft an, auch nachdem Cortázar nach Europa gegangen war.166 In dem im Oktober 1957 bei einem Besuch in Buenos Aires entstandenen Text »Der seltsame Kriminalfall der Straße Ocampo«167 verweist

158 Vgl. Brief vom 18.1.1953 ebd., S. 139. 159 Vgl. Cortázars Brief vom 8.6.1953 ebd., S. 163. 160 Vgl. Cortázars Briefe vom 7.8.1957 und 5.8.1958 ebd., S. 379 und 396. 161 Brief vom 30.7.1952 ebd., S. 94: »gorda maravillosa y querida«. 162 Vgl. Brief vom 15.10.1955 ebd., S. 333 f. 163 Vgl. Mignon Domínguez, Cartas desconocidas de Julio Cortázar 1939-1945, Buenos Aires 1992, S. 201. 164 Brief an Luis Gagliardi vom 2.6.1942 in Cortázar, Cartas 1937-1963, S. 135: »[…] ist ein feiner Geist, als Hörer und Kritiker vollkommen der Musik hingegeben und von einer intellektuellen Strenge, die in diesen profanen Zeiten auffällt.« 165 Vgl. z. B. Brief an Fredi Guthmann von 1949 ebd., S. 247. 166 In Briefen an andere Freunde erwähnte der Schriftsteller mehrfach, er habe von Jorge Post bekommen. Wenn diese Briefe erhalten sind, könnten sie interessante Informationen über das Musikleben in Buenos Aires geben. 167 Vgl. Julio Cortázar, »El extraño caso criminal de la calle Ocampo«, in: ders., Papeles inesperados, Madrid 2009, S. 349-364, hier S. 363.

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Cortázar auf seinen andauernden regen Austausch mit D’Urbano, und noch für die 1966 erschienene Aufsatzsammlung des Musikkritikers übersetzte er das Vorwort von Virgil Thomson ins Spanische.168 Darüber hinaus war der Schriftsteller einem weiteren Gründungsmitglied der ANM freundschaftlich verbunden: dem Organisten Julio Perceval, den er während seiner Lehrtätigkeit in der Provinz Cuyo kennen lernte.169 Bei so vielen engen Verbindungen und Cortázars Interesse für Musik liegt die Annahme nahe, dass er auch die Konzerte der ANM in Buenos Aires besuchte: Angeblich wohnte er zum Beispiel 1949 der ersten Aufführung von Juan Carlos Paz’ Música 170 1946 bei. Der Schriftsteller erinnerte sich in den sechziger Jahren voller Herzlichkeit an den Komponisten und »einige Schlucke, die wir in anderen Zeiten nach Ende der Konzerte tranken«.171 Paz wie Cortázar schrieben in jenen Jahren für Los Anales de Buenos Aires, Cabalgata, Sur und Buenos Aires Literaria. Noch in Paris äußerte sich Cortázar zu Paz’ Aufsatz über argentinische Musik, der im Dezember 1952 in Buenos Aires Literaria erschienen war: »Me divirtió […] la divertida nota de Paz sobre los músicos vernáculos.«172 1960 setzte er ihm ein ebenso heiteres Denkmal in seinem ersten großen Roman Los Premios: Gewinner einer Reiselotterie verbringen gemeinsame Stunden auf einer Kreuzfahrt, bei der die Protagonisten sich schnell verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen zugehörig fühlen. Zwei Männer treffen am ersten Abend mit folgendem Dialog aufeinander und entdecken einen gemeinsamen Horizont: »¿Ya descubrió el bar? –dijo Medrano–. Está aquí arriba, al lado del comedor. Por desgracia he visto un piano en una salita, pero siempre queda el recurso de cortarle las cuerdas uno de estos días. –O desafinarlo para que cualquier cosa que toquen suene a música de Krének [sic]. –Hombre, hombre –dijo Medrano–. Se ganaría usted las iras de mi amigo Juan Carlos Paz.

168 Vgl. D’Urbano, Música en Buenos Aires. 169 Vgl. Herráez, Julio Cortázar. El otro lado de las cosas, S. 83. 170 Vgl. Romano, Vidas de Paz, S. 54. 171 Brief an Francisco Porrúa (Paco) vom 18.11.1966 in Julio Cortázar, Cartas 19641968, Buenos Aires 2000, S. 1086: »algunos tragos que en otros tiempos nos tomamos a la salida de los conciertos«. 172 Vgl. Brief vom 19.12.1952 in Cortázar, Cartas a los Jonquières, S. 134: »Mich erheiterte […] die lustige Notiz von Paz über die einheimischen Musiker.« Vgl. Juan Carlos Paz, »Música argentina, 1952«, in: Buenos Aires Literaria (1952), H. 3, S. 7-14.

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–Nos reconciliaríamos –dijo Raúl– gracias a mi modesta discoteca de música dodecafónica. Medrano lo miró. –Bueno –dijo–, esto va a estar mejor de lo que creía. Casi nunca se puede iniciar una relación de viaje en estos términos.«173

Gut möglich also, dass sich Mauricio Kagel und Julio Cortázar bei Konzerten oder im Umkreis der ANM um 1950 begegneten. Die Verbindung beider ist bisher nur angedeutet worden – und zwar im Zusammenhang mit Kagels Schwester: Werner Klüppelholz gab an, Mauricio habe Cortázar bereits als Kind kennen gelernt, als dieser Guida Nachhilfeunterricht in Griechisch erteilte.174 Diese Kontakte in Buenos Aires können nur während Cortázars Aufenthalt dort zwischen 1946 und 1951 stattgefunden haben. Zeitnahe Berichte von Cortázar persönlich finden sich aber erst über die Treffen mit Guida Kagel und Daniel Devoto im Paris des Jahres 1953: Cortázar berichtete in Briefen an seinen Freund Eduardo Jonquières von gemeinsamen Essen im »Restaurant diététique«175 und den Besuchen von Guida bei ihm und Aurora daheim. Ein Foto der vier auf dem Boulevard Saint Michel in Paris könnte in diesen Monaten entstanden sein (vgl. Anhang S. 316). Im Dezember 1953 trafen sie sich sogar in Rom, bevor Guida zu einem Weihnachtsurlaub nach Buenos Aires aufbrach. Guida Kagel spielt auch in dem Text »El extraño caso criminal de la calle Ocampo« Cortázars eine Rolle, der am 20. Oktober 1957 in Buenos Aires be-

173 Julio Cortázar, Obras completas II. Teatro, novelas I, Barcelona 2004, S. 636 (15. Kapitel), dt. von Christa Wegen in Julio Cortázar, Die Gewinner, Frankfurt a. M. 1988, S. 74 f.: »›Schon die Bar entdeckt?‹ fragte Medrano. ›Dort oben ist sie, neben dem Speisesaal. Unglücklicherweise habe ich in einer Ecke ein Klavier gesehen, aber es bleibt ja immer noch die Möglichkeit, an einem dieser Tage die Saiten durchzuschneiden.‹ ›Oder es so zu verstimmen, daß alles darauf wie Musik von KrČnek [sic] klingt.‹ ›Um Gottes willen!‹ sagte Medrano. ›Sie würden sich den Zorn meines Freundes Juan Carlos Paz zuziehen.‹ ›Wir würden uns sofort wieder versöhnen‹, sagte Raúl, ›dank meiner bescheidenen Plattensammlung mit Zwölftonmusik.‹ Medrano sah ihn an. ›Nun, diese Reise läßt sich besser an, als ich erwartet hatte‹, sagte er. ›So gut wie nie fängt eine Reisebekanntschaft mit einer solchen Unterhaltung an.‹« 174 Vgl. Klüppelholz, Über Mauricio Kagel, S. 94 sowie Klüppelholz, »Ein Leben ohne Bücher ist genauso armselig wie ohne Musik«, S. 20. 175 Vgl. Brief vom 16.3.1953 in Cortázar, Cartas a los Jonquières, S. 145 f. Die folgenden Angaben in Briefen vom 2.4.1953 und 9.12.1953 ebd., S. 152 bzw. 200.

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gann, nur für seine Freunde bestimmt war und erst posthum vor wenigen Jahren erschien.176 Es handelte sich um einen Scherz, den Cortázar seinen Freunden zunächst spielte und dann mit der Lesung dieses Textes beendete. Offenbar hielten sich alle Protagonisten, unter ihnen Cortázar und seine Frau, Guida Kagel, Eduardo Jonquières und dessen Frau sowie Dora Berdichevsky und ihr Gatte Celestino, zu diesem Zeitpunkt in Buenos Aires auf. Cortázar versandte im Verlauf einer Woche apokryphe Briefe, den ersten angeblich von Guida Kagel, und schloss mit einer fiktiven Detektivstory, die gegen Ende Anspielungen auf Opern von Giancarlo Menotti, auf La Bohème und Turandot enthielt. Eine direkte Erwähnung Mauros findet sich darin, im bisher veröffentlichten Briefwechsel Cortázars oder dessen literarischen Werken nicht. Jedoch existieren einige Widmungsexemplare im Nachlass von Kagel: Die 1956 in Mexico erschienene Ausgabe von Final del juego trägt den Schriftzug »Para Ursula y Mauricio, con el afecto de Julio Paris, 1959«.177 1964 signierte Cortázar die in Buenos Aires erschienenen Bücher Historias de cronopios y de famas mit »A Ursula y Mauricio, cronopios irrefutables, con el afecto de Julio«,178 sowie Rayuela: »A Ursula y Mauricio, esta tentativa de acabar con un montón de podredumbres. Fraternalmente Julio Paris 64«.179 Cortázars hauptsächliche Begeisterung galt in den vierziger und fünfziger Jahren vor allem dem Jazz, der Spuren in seinen Werken hinterließ – erwähnt seien »Louis enormísimo cronopio« als weniger objektive, viel mehr poetische Kritik nach einem Konzert von Louis Armstrong in Paris im November 1952180 sowie die Erzählung »El perseguidor« (»Der Verfolger«) als Hommage an Charlie Parker, die 1959 in Las armas secretas erschien. Doch liest man in seinen Kurzgeschichten und Romanen auch von Tango, klassischen Konzerten und ver-

176 Vgl. Cortázar, Papeles inesperados, S. 349-364. 177 Julio Cortázar, Final del juego, Mexico 1956, dem IAI geschenkt (Signatur A 10 / 1840): »Für Ursula und Mauricio, mit Zuneigung von Julio Paris, 1959«. 178 Julio Cortázar, Historias de cronopios y de famas, Buenos Aires 1962, dem IAI geschenkt (Signatur A 10 / 1837): »Für Ursula und Mauricio, unwiderlegbare Cronopien, mit Zuneigung von Julio«. Cortázars Wortschöpfung »cronopio« steht für (Lebens-)Künstler und Menschen, die sich nicht anpassen. 179 Julio Cortázar, Rayuela, Buenos Aires 1963, dem IAI geschenkt (Signatur Arg xu 2586 [8]°): »Für Ursula und Mauricio, dieser Versuch mit einer Menge Faulendem abzuschließen. Brüderlich Julio Paris 64«. 180 Vgl. Julio Cortázar, »Louis enormísimo cronopio«, in: Buenos Aires Literaria (1953), H. 6, S. 32-37. Der Titel ist in etwa mit »riesiges Cronopium Louis« zu übersetzen.

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schiedensten Kompositionen und Interpreten des 20. Jahrhunderts. Musik dient dabei nicht allein zur (hintergründigen) Beschreibung von Situationen und Personen, vielmehr werden ihre gesellschaftliche Akzeptanz und verschiedene Hörsituationen thematisiert. Es lohnte, Cortázars Werke auf die Musik hin zu untersuchen, was bisher vorwiegend in Bezug auf Jazz und Tango geschehen ist,181 während Klassik und Avantgarde weniger Beachtung fanden. Einer seiner ersten erhaltenen Texte ist der Programmheftkommentar zu einem Konzert am 5. November 1938 in der Stadt Bolívar mit Robert Schumanns Kinderszenen op. 15, aus dem der Liebhaber und Kenner spricht.182 Die zweite Erwähnung Schumanns in der »Unterweisung im Singen«, die 1962 in Historias de cronopios y de famas erschien, scheint vor dem Missbrauch seiner Lieder zu warnen: »Empiece por romper los espejos de su casa, deje caer los brazos, mire vagamente la pared, olvídese. Cante una sola nota, escuche por dentro. Si oye (pero esto ocurrirá mucho después) algo como paisaje sumido en el miedo, con hogueras entre las piedras, con siluetas semidesnudas en cuclillas, creo que estará bien encaminado, y lo mismo si oye un río por donde bajan barcas pintadas de amarillo y negro, si oye un sabor de pan, un tacto de dedos, una sombra de caballo. Después compre solfeos y un frac, y por favor no cante por la nariz y deje en paz a Schumann.«183

181 Vgl. z. B. Walter Bruno Berg, »Julio Cortázar y el tango (›Rayuela‹ y ›Trottoirs de Buenos Aires‹)«, in: Michael Rössner (Hg.), »¡Bailá! ¡Vení! ¡Volá!« El fenómeno tanguero y la literatura, Madrid / Frankfurt a. M. 2000, S. 233-249 und Viviana Alvarez-Schüller, Der Tango im Werk Julio Cortázars, Hamburg 2008. 182 Julio Cortázar, »Para las Kinderszenen de Roberto Schumann«, in: ders., Papeles inesperados, S. 159-161. 183 Julio Cortázar, Historias de cronopios y de famas, Buenos Aires 51976, S. 12, dt. von Wolfgang Promies in Julio Cortázar, Geschichten der Cronopien und Famen, Neuwied / Berlin 1965, S. 11: »Beginnen Sie damit, daß Sie die Spiegel in Ihrem Haus zerschlagen, lassen Sie die Arme sinken, blicken Sie vage zur Wand, vergessen Sie sich. Singen Sie eine einzige Note, lauschen Sie nach innen. Wenn Sie (aber das wird erst lange danach geschehen) etwas wie eine in Furcht getauchte Landschaft hören, mit Scheiterhaufen zwischen den Steinen, mit halbentblößten kauernden Schemen, glaube ich, daß Sie auf dem rechten Wege sind; desgleichen, wenn Sie einen Fluß hören, den gelb und schwarz bemalte Barken hinabfahren, wenn Sie den Geschmack nach Brot, die Berührung von Fingern, den Schatten eines Pferdes vernehmen. Kaufen Sie danach Tonleiterübungen und Frack und singen Sie bitte nicht durch die Nase und – lassen Sie Schumann in Frieden.«

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Cortázar war kein musikalischer Fachmann, wie er 1948 in einem offenen Brief an Devoto eingestand: »¿Qué sé yo de las sucesiones de séptima dominante o de los acordes de novena […]? […] Aspiro a tocar el saxo tenor, como tú sabes, y con tres dedos de cada mano me animo en el piano a tímidas variaciones sobre Honeysuckle Rose.«184 Dennoch enthält der Text, dem dieses Zitat entnommen ist, eine scharfe Kritik an Devotos Aufsatz »El Jazz y la Música«: Der Fan Cortázar bezog Position gegen die ästhetische Abwertung der »schwarzen« Musik durch Musikwissenschaftler, die deren poetischen Gehalt und das revolutionäre Potenzial verkannten oder gar fürchteten. Die Improvisation im Jazz erinnere ihn an das automatische Schreiben und vom Traum geleitete Zeichnen, die die frühe Phase des Surrealismus prägten. Jazzmusiker seien frei und schöpferisch tätig, keine Dienstboten einer Überlieferung und fremden musikalischen Ästhetik wie die Interpreten klassischer Musik, die Cortázar geradezu demütigte: »Ya se sabe que la música es la más turbia de las actividades ›artísticas‹, puesto que a un puñado de creadores se adhieren millones de ›intérpretes‹, raros seres con un pie en la música y otro quién sabe dónde, ›artistas‹, cantantes, directores de orquesta, bandoneonistas, etcétera. Tipos O.K., pero que practican una especie de goce creador vicario, gozando con el goce ajeno, ¿verdad?, palideciendo cuando tocan la Patética con una palidez que Beethoven les fía desde su ya conocido dolor. Tipos excelentes, pero que si no tuviesen proveedores de emociones deberían dedicarse a otros oficios manuales o insuflatorios. Vampiros, si quieres, que viven de sangre ajena. Muy simpáticos, por lo demás.«185

184 Julio Cortázar, »Elogio del jazz: carta enguantada a Daniel Devoto« [1948 zuerst erschienen in 9 Artes], in: ders., Obras completas VI., S. 204-216, hier S. 205: »Was weiß ich von den Folgen des Dominantsept- oder der Nonenakkorde […]? […] Ich trachte danach, Tenorsaxofon zu spielen, wie du weißt, und mit drei Fingern jeder Hand getraue ich mir am Klavier schüchterne Variationen über Honeysuckle Rose.« 185 Cortázar, »Elogio del jazz«, S. 214 f.: »Man weiß schon, dass die Musik die verworrenste aller ›künstlerischen‹ Aktivitäten ist, da sich einer Handvoll Schöpfer Millionen von ›Interpreten‹ anschließen, seltsame Geschöpfe mit einem Fuß in der Musik und einem wer weiß wo, ›Künstler‹, Sänger, Orchesterleiter, Bandoneonspieler, usw. Leute, die O.K. sind, die aber eine Art stellvertretenden schöpferischen Genuss ausüben und sich dabei am fremden Genuss erfreuen, nicht wahr? Sie erblassen, wenn sie die Pathétique mit einer Blässe spielen, die Beethoven ihnen seit seinem bereits bekannten Schmerz anvertraut. Exzellente Leute, die sich aber – hätten sie keine Gefühlslieferanten – anderen manuellen oder blasenden Berufen widmen müssten. Vampire, wenn du so willst, die von fremdem Blut leben. Ansonsten sehr sympathisch.«

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Devotos Replik setzte die Polemik mit zwinkerndem Auge fort und warf weitere Fragen der Autorschaft mit Blick auf die Musikgeschichte auf: »Pero el ataque al pobre intérprete (hélas! mon semblable, mon frère…) ¿invalida la posición del creador?«186 Er wies darauf hin, dass Improvisation schon immer Charakteristikum der Volksmusik gewesen sei und auch von klassisch-romantischen Komponisten praktiziert wurde. Dass der Jazz wie die Folklore für Komponisten um 1920 interessant gewesen seien, liege darum auf der Hand. Vielmehr stelle sich die Frage, warum der Jazz nun keine Anziehungskraft mehr auf die Kunstmusik ausübe. Devoto fragte und schloss: »¿O es que esta música culta va más allá y requiere otras reglas de juego (¡y vaya si las requiere!)? Aquí empezaría la verdadera polémica, pero creo que ya basta de lata.«187 Cortázars polemischer Blick auf professionelle wie laienhafte Interpreten, auf Komponisten und Werke der »ernsten« Musik lässt sich auch in seinen ersten veröffentlichten Romanen verfolgen: In Los Premios verausgaben sich einige Kreuzfahrtteilnehmer an einem bunten Abend am Klavier mehr schlecht als recht mit Werken von Czerny und Clementi, die unverhältnismäßig beweihräuchert werden.188 Doch auch namhafte Komponisten werden nicht verschont, wenn Paula zum Beispiel Variationsformen kritisiert: »ese bodrio de Hindemith sobre un tema de Weber que escuchamos en una hora aciaga«.189 Zudem ordnet er die Passagiere zwei durch Musikpräferenzen unterschiedenen Gruppen zu: »en una de las cuales brillaría el pelirrojo de los tangos mientras la otra tendría patronos al estilo de Krének«.190 In Cortázars bekanntestem Roman Rayuela von

186 Daniel Devoto, »Contracarta a uña limpia, a la ›Carta enguantada a Daniel Devoto‹ de Julio Cortázar« [1948], in: ders., Las hojas, S. 189-191, hier S. 190: »Aber die Attacke gegen den armen Interpreten (hélas! mon semblable, mon frère…) – macht sie die Stellung des Schöpfers ungültig?« 187 Ebd., S. 191: »Oder geht die kultivierte Musik weiter als das und beansprucht andere Regeln des Spiels (und ja was für welche sie beansprucht!)? Hier begänne die wahrhaftige Polemik, aber ich glaube, es reicht schon.« 188 Vgl. 38. Kapitel: Cortázar, Obras completas II, S. 868, dt. in: ders., Die Gewinner, S. 327 f. 189 31. Kapitel: Cortázar, Obras completas II, S. 784, dt. in: ders., Die Gewinner, S. 235: »dieser Brei von Hindemith über ein Motiv von Weber, den wir uns in einer unseligen Stunde angehört haben«. 190 15. Kapitel: Cortázar, Obras completas II, S. 637, dt. in: ders., Die Gewinner, S. 76. Die Übersetzung spricht von »Grüppchen«: »eines, in welchem der rothaarige Tango-Jüngling brillieren würde, während sich das andere unter das Patronat von KrČnek [sic] und Konsorten stellen würde«.

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1963 konterkariert das Konzert mit zeitgenössischer Musik im 23. Kapitel bitterböse die Attitüden einer Pianistin, die einführenden Worte eines Konzertmoderators, das Verhalten des Publikums und verschiedene Kompositionsverfahren: Das erste Stück beginnt, indem »die Hände, wie zwei zerknautschte Lederhandschuhe, von c zu h griffen«.191 Der erste Satz bringt dann 32 Akkorde mit Pausen dazwischen im »webernschen Gebrauch«, der dazugehörige zweite »bestand nur aus vier Takten, und jeder Takt aus drei gleichwertigen Noten« usw. Während des zweiten Programmpunkts – »Mischung aus Liszt und Rachmaninow«, in dem drei Themen (»eines davon war unverändert dem Don Juan von Strauss entnommen«) ständig wiederholt und variiert wurden – verließ ein Großteil des Publikums den Saal. Das letzte Werk, eine Synthèse Délibes-Saint-Saëns komponiert von der Interpretin selbst als »schicksalhafter Synkretismus« (Cortázar scheint hier aleatorische Verfahren und plattes Zitieren zu persiflieren), vernahmen nur noch vier Personen, die sukzessive ebenfalls die Flucht ergriffen – der vorletzte Zuhörer verließ nach »ein paar zusammengezogene[n] Noten à la (überraschenderweise) Pierre Boulez« eilig den Saal. Auf die Zuhörer und den Rummel des klassischen Konzertbetriebs hob die Erzählung »Las Ménades« ab, die 1956 als Teil von Final del juego erschien: Im Mittelpunkt steht der Besuch eines Symphoniekonzerts in einem provinziellen Theater namens Corona. Ein bekannter Dirigent hat für ein durchschnittliches Publikum auf dessen Wünsche hin für ein Jubiläumskonzert Meisterwerke zusammengestellt, die nur mit dem Titel genannt werden: Ein Sommernachtstraum, Don Juan, La Mer und die Fünfte Sinfonie. Cortázar setzte offenbar voraus, dass jeder Leser diese Werke und die dazugehörigen Komponisten kannte. Während die anwesenden Zuhörer in größte Verzückung für Musik und Musiker geraten, steht der Erzähler abseits und entfremdet und stellt sich den anderen Konzertbesuchern gegenüber als musikalisch unwissend dar. Dabei hatte er gleich zu Beginn der Erzählung fundierte Kenntnisse zur Akustik des Saals offenbart und Kritik am Konzertprogramm geäußert:

191 Julio Cortázar, Obras completas III. Novelas II, Barcelona 2004, S. 155: »las manos se posaban del do al si como dos bolsitas de gamuza ajada«, dt. von Fritz Rudolf Fries in Julio Cortázar, Rayuela, Frankfurt a. M. 1981, S. 128. Alle folgenden Zitate ebd. und folgende Seiten: »uso weberniano«; »duraba solamente cuatro compases, cada uno de ellos con tres notas de igual valor«; »Mezcla de Liszt y Rachmaninov«; »uno de los cuales salía clavado del Don Juan de Strauss«; »sincretismo fatídico«; »varias notas juntas a lo (sorprendentemente) Pierre Boulez«.

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»Conozco bien el teatro Corona y sé que tiene caprichos de mujer histérica. A mis amigos les aconsejo que no acepten jamás fila trece, porque hay una especie de pozo de aire donde no entra la música; ni tampoco el lado izquierdo de las tertulias, porque al igual que en el Teatro Comunale de Florencia, algunos instrumentos dan la impresión de apartarse de la orquesta, flotar en el aire, y es así como una flauta puede ponerse a sonar a tres metros de uno mientras el resto continúa correctamente en la escena, lo cual será pintoresco pero muy poco agradable. Le eché una mirada al programa. […] No pude menos de reírme al pensar en el Maestro. Una vez más el viejo zorro había ordenado su programa de concierto con esa insolente arbitrariedad estética que encubría un profundo olfato psicológico, rasgo común en los régisseurs de music hall, los virtuosos de piano y los matchmakers de lucha libre. Sólo yo de puro aburrido podía meterme en un concierto donde después de Strauss, Debussy, y sobre el pucho Beethoven contra todos los mandatos humanos y divinos. Pero el Maestro conocía a su público, armaba conciertos para los habitués del teatro Corona, es decir gente tranquila y bien dispuesta que prefiere lo malo conocido a lo bueno por conocer, y que exige ante todo profundo respeto por su digestión y su tranquilidad.«192

192 Julio Cortázar, Obras completas I. Cuentos, Barcelona 2003, S. 422 f. Dt. von Wolfgang Promies in Julio Cortázar, Ende des Spiels, Frankfurt a. M. 1977, S. 47: »Ich kenne das Theater Corona gut und weiß, es hat die Launen einer hysterischen Frau. Meinen Freunden rate ich, niemals die Reihe 13 zu nehmen, denn es gibt dort eine Art Luftloch, in das keine Musik dringt; auch nicht die linke Seite auf der Galerie, weil man hier, ähnlich wie im Teatro Communale in Florenz, von einigen Instrumenten den Eindruck hat, sie entfernten sich vom Orchester, schwebten in der Luft, und so kann eine Flöte drei Meter von einem entfernt zu tönen beginnen, während die anderen Instrumente auf der Bühne fortfahren, was zwar pittoresk, aber wenig angenehm ist. Ich warf einen Blick aufs Programm. […] Ich konnte, wenn ich an den Maestro dachte, mich des Lachens nicht erwehren. Wieder einmal hatte der alte Fuchs sein Konzertprogramm mit dieser kecken ästhetischen Willkür zusammengestellt, die einen tiefen psychologischen Spürsinn verriet, der den Regisseur der Music-Halls nicht weniger auszeichnet als den Klaviervirtuosen und den Veranstalter von Freistilringkämpfen. Nur aus purer Langeweile konnte ich mich in ein Konzert setzen, in dem auf Strauss Debussy und – damit nicht genug – wider sämtliche menschliche und göttliche Gebote – Beethoven folgte. Aber der Maestro kannte sein Publikum, veranstaltete Konzerte für die Habitués des Corona-Theaters, das heißt ruhige und wohlwollende Leute, die das ihnen bekannte Schlechte dem vorziehen, was zu kennen gut wäre, und die vor allem wünschen, daß man ihre Verdauung und Ruhe respektiert.«

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Nach der Pause beginnt die Fünfte Sinfonie, in den Worten einer Zuhörerin die »Extase der Tragödie«:193 Wie Mänaden aus der griechischen Mythologie stürmt das Publikum während der letzten Sätze in rasender Verzückung das Podium, nähert sich den Musikern zudringlich und zerstört die Instrumente. Verletzt und zerschlissen, aber zufrieden verlässt es schließlich das Theater. Cortázar gab 1973 eine Erklärung für die ursprüngliche Idee dieser Erzählung: Während seines Lebens in Buenos Aires sei er beinahe täglich in Konzerte gegangen und habe sich von der oft mächtigen Begeisterung des Publikums für die Interpreten bedroht gefühlt. Er dagegen habe sich immer mehr für die Komponisten als für die Interpreten interessiert – wie im schon zitierten Text »Elogio del jazz« begründet – und versucht, möglichst schnell dem schreienden Publikum zu entkommen. Direkt nach einem Konzert sei darum diese Kurzgeschichte entstanden. Das Ende von »Las Ménades« habe mit seinen kannibalischen, sadistischen Zügen gleich nach dem Erscheinen von Final del juego Luis Buñuel veranlasst, eine Verfilmung von Cortázars Geschichte ins Auge zu fassen, die jedoch nicht realisiert wurde.194 Ähnliche, wenngleich weniger radikale Bedingungen der Musikaufführung, die Vereinnahmung Beethovens und musikalische Parameter überhaupt fanden auch Eingang in das Werk des Schriftstellers Witold Gombrowicz, der als polnischer Exilant seit den Kriegsjahren in Buenos Aires lebte und von dem Kagel selbst ausführlich berichtete. Witold Gombrowicz Während Cortázars Werke unter Musikwissenschaftlern bisher wenig Beachtung fanden, wurde der Einfluss von Witold Gombrowicz auf Kagel wie im Folgenden von Björn Heile schon öfter kühn zusammengefasst: »Kagel’s scepticism towards lofty ideas and bourgeois high culture, his contempt for concert hall ri-

193 Cortázar, Obras completas I, S. 429: »éxtasis de la tragedia«, dt. in: ders., Ende des Spiels, S. 54. 194 Vgl. Brief von Cortázar an Antonio Planella vom 14.5.1973, abgedruckt in: Antonio Planella, »Narración y música en ›Las ménades‹ de Julio Cortázar«, in: Cahiers du monde hispanique et luso-brésilien 25 (1975), S. 31-37, hier S. 37. Darin gab Cortázar an, besonders beim Gastspiel Arturo Toscaninis im Teatro Colón sei die Publikumsbegeisterung an eine Grenze gekommen, die ihm wahrhaft Angst machte. Toscanini gab 1940 acht Konzerte, in denen die vier erwähnten Werke gespielt wurden, allerdings nicht gemeinsam in einem Konzert, vgl. Valenti Ferro, 100 años de música en Buenos Aires, S. 225 f.

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tuals, his sarcasm and surreal wit as well as his capacity for scandal owe a great deal to the Polish polemicist.«195 Doch alles, was über ihren Kontakt in Buenos Aires bisher bekannt war, basierte auf den Erinnerungen Kagels und einiger Zeitgenossen. Juan Allende-Blin benannte 1991 Gombrowicz neben Borges als Kagels ungewollten »Meister«.196 Dass sich beide kannten, erwähnte damals gleichfalls Michael Gielen197 und ergänzte später in seinen Memoiren: »Er verkehrte schon als Teenager mit dem Polen Witold Gombrowicz.«198 Mit dem Wort »Teenager« könnte ein besonders frühreifer Junge assoziiert werden, tatsächlich war Kagel aber wohl schon 18 Jahre alt, denn er berichtete, er habe Gombrowicz »»durch Schach […] etwa 1950 kennengelernt«.199 Dies sei im Schach-Café im ersten Stock über einem Kinosaal – dem Cine Rex – in der Avenida Corrientes gewesen, wo Gombrowicz sich mit seinem Freundeskreis regelmäßig traf. Obwohl sehr oft darüber berichtet wird, dass Gombrowicz seit seiner Ankunft in Buenos Aires im Jahr 1939 erfolglos und isoliert lebte, war er in Künstlerkreisen sehr wohl bekannt. Besonders zu Personen, die auch Kagel prägten, finden sich einige Hinweise auf persönliche Bekanntschaft und Freundschaft sowie Wahrnehmung seiner Schriften. So bezeichnete Juan Carlos Paz in seinen Memoiren das so genannte »Argentinische Tagebuch« von Witold Gombrowicz, das 1968 unter dem Titel Diario argentino in Buenos Aires erschien und nur die Auszüge des gesamten Tagebuchs enthielt, die sich ausdrücklich auf Argentinien bezogen, als exzellentes Beispiel für »eine letzte Bekenntniskategorie: die eines hohen Prozentsatzes an Auslassungen verdächtig ist«.200 Und er ergänzte ebenfalls in den sechziger Jahren an anderer Stelle:201 Nach dem umwerfenden Erfolg von Gombrowicz’ Büchern in Frankreich, Polen und den USA in den sechziger Jahren sowie 100 Vorstellungen der Trauung in Paris würden in Argentinien noch immer sehr wenige Personen die Schriften lesen. Während seines zwanzigjährigen Aufenthaltes in Argentinien sei Gombrowicz von den Akademien, den professionellen und offiziellen Amtsträgern sowieso ignoriert worden. Sei er in

195 Heile, The Music of Mauricio Kagel, S. 12. 196 Allende-Blin, »Mauricio Kagel und ›Anagrama‹«, S. 63. 197 Gielen / Klüppelholz, »Aus Deutschland, Argentinien«, S. 54. 198 Gielen, Unbedingt Musik, S. 77. 199 Kagel, Dialoge, Monologe, S. 277. 200 Juan Carlos Paz, Alturas, tensiones, ataques, intensidades (Memorias I), Buenos Aires 1972, S. 70: »una postrera categoría confesional: la sospechosa de un alto porcentaje de omisiones«. 201 Vgl. ebd., S. 160 f.

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irgendeinem Kommentar erwähnt worden, dann nur sporadisch und so zufällig, dass man es gleich vergessen habe. Paz gehörte dagegen zu den Personen, die Gombrowicz bereits in den vierziger Jahren wahrnahmen. Einerseits hielten beide Vorträge im Teatro del Pueblo,202 wo in jenen Jahren auch die Konzerte Neuer Musik stattfanden und Paz enge Kontakte pflegte. Gombrowicz berichtete rückblickend im Tagebuch über seinen nicht besonders gelungenen Auftritt dort, der unter den Exilpolen Entrüstung hervorrief.203 Andererseits erschienen in der dritten Ausgabe der von Adolfo und Jorge de Obieta (Söhne des argentinischen, innovativen und besonders Borges beeinflussenden Schriftstellers Macedonio Fernández) herausgegebenen Zeitschrift Papeles de Buenos Aires im April 1944 gleichzeitig die Artikel »Ensayo II sobre Música« von Paz sowie »Filidor forrado de niño« von Gombrowicz. Aus diesem Anlass wurde Gombrowicz als junger Autor Polens, der gerade in Buenos Aires lebte, vorgestellt, dessen Buch Ferdydurke von 1938 auf fantastisch-humoristische Weise die moderne Kultur und die reifen Formen kritisiere und dagegen eine Theorie der Unreife entwerfe. Trotz des Erfolgs in Polen sei das Buch aufgrund des Kriegsbeginns nicht ins Englische oder Französische übersetzt worden. Mit dem Kapitel »Philidor mit Kind durchsetzt« erschien nun ein zentraler Teil des Romans auf Spanisch – jener Abschnitt von Ferdydurke, der in Kagels Erinnerung eine »Schlüsselszene, aus der ein junger Komponist viel lernen kann«,204 enthielt: Das Duell des Synthetik-Professors mit dem Analytiker und ihren Partnerinnen sei ein Lehrstück über den »Imperativ der Symmetrie von Aktion und Reaktion« und »schöne Parabel über das Verhältnis von Form und Inhalt«.205 Dem einen Kapitel folgte 1946 die Übersetzung des gesamten Romans aus dem Polnischen ins Spanische. Gombrowicz bat seine wichtigste Förderin und enge Freundin Cecilia Benedit de Debenedetti – gleichzeitig Leiterin des Musikverlags EAM –, die Übersetzung innerhalb von sechs Monaten zu finanzieren. Gombrowicz berichtete, er habe allein begonnen und dann im Café Rex mit seinen Freunden Phrase um Phrase überarbeitet. Dabei sei Ferdydurke erneut le-

202 Vgl. Larra, Leónidas Barletta, S. 250, leider ohne genaue Datumsangaben. Der Vortrag von Gombrowicz fand am 28.8.1940 statt, vgl. Gombrowicz, Gombrowicz en Argentine, S. 14. 203 Vgl. Gombrowicz, Diario argentino, S. 102 f. und ders., Tagebuch, S. 555 f. 204 Kagel, Dialoge, Monologe, S. 286. 205 Ebd. Vgl. die Szene in Witold Gombrowicz, Ferdydurke (Gesammelte Werke 1), aus dem Polnischen von Walter Tiel, München 1983, S. 115 f. Kagel erzählte allerdings frei und nicht korrekt nach.

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bendig geworden und die Arbeit an der Übersetzung habe viele neue Leute angezogen.206 Unter anderen lernte auch Alejandro Rússovich Gombrowicz im April 1946 kennen und nahm an den abschließenden Diskussionen im Café Rex teil:207 Er war ein Mitstudent von Guida Kagel, die damals Literatur und Philosophie studierte – vermutlich jener Kommilitone, den Kagel 2001 rückblickend erwähnte208 –, und er sollte zu einem der wichtigsten Freunde von Gombrowicz werden. Kagel, der wie zitiert erst um 1950 zu dem Kreis stieß, gehörte nicht zu den Übersetzern; Gombrowicz nannte ihn im Vorwort der spanischen Fassung von Ferdydurke, die im April 1947 im Verlag Argos erschien, auch nicht als Mitwirkenden. Nach der Veröffentlichung hielt Gombrowicz am 28. August 1947 in der Buchhandlung Fray Mocho einen Vortrag »Contra los Poetas«, über den wiederum Paz anekdotisch berichtete: »Gombrowicz, argumentos en ristre, y dominando el tema plenamente, demuele el sentir y el decir poéticos hasta el límite de la posibilidad. Indignación de poetas, sensación en los no-poetas, pero gran interés general.«209 Obwohl es um Poesie gehen sollte, habe sich Gombrowicz’ Vortrag eher der Antipoesie gewidmet und damit einen Skandal ausgelöst. Aus Paz’ Äußerungen liest sich Anerkennung und Lob für den polnischen Autor, der die mittelklassige Künstlerschar der Metropole hinterfragte und erregte. In der Folge erschienen in der Zeitschrift 9 artes 1949 »Cuatro respuestas de W. G.«.210 An der Herausgabe dieser Zeitschrift, die in vier Nummern von November 1947 bis April 1949 erschien, war Paz neben dem bildenden Künstler Emilio Pettoruti sowie den Autoren Alberto Morera, Daniel Devoto und Adolfo de Obieta beteiligt.211 Paz verkehrte freundschaftlich mit dem Kreis um Adolfo

206 Vgl. Gombrowicz, Diario argentino, S. 44 f. und ders., Tagebuch, S. 233 f. 207 So Alejandro Rússovich in Gombrowicz, Gombrowicz en Argentine, S. 129 f. 208 Vgl. Kagel, Dialoge, Monologe, S. 287. 209 Paz, Memorias I, S. 197: »Gombrowicz zerstört das poetische Fühlen und Sprechen bis zur Grenze des Möglichen, indem er mit Argumenten in Kampfbereitschaft das Thema vollkommen beherrscht. Entrüstung unter den Poeten, Aufsehen unter den Nicht-Poeten, aber großes allgemeines Interesse.« Die Aufzeichnungen sind undatiert, im Text schrieb Paz aber von dem Vortrag »heute«, so dass davon auszugehen ist, dass die Gedanken direkt nach der Veranstaltung 1947 entstanden sind. Der Text »Gegen die Dichter« wurde 1951 veröffentlicht, vgl. dt. von Rolf Fieguth: Witold Gombrowicz, Trans-Atlantik (Gesammelte Werke 2), München 1987, S. 231-245. 210 »Vier Antworten von W. G.«: So die Angabe in Pablo Gasparini, El exilio procaz: Gombrowicz por la Argentina, Rosario 2006, S. 329. 211 Vgl. zu Titel und Genese der Zeitschrift Paz, Memorias I, S. 176.

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de Obieta, der in den vierziger Jahren ebenfalls ein enger Freund von Gombrowicz war, ihn schon durch die Publikation in Papeles de Buenos Aires gefördert hatte, sich an der Übersetzung im Rex beteiligte212 und nach dem Erscheinen von Ferdydurke das Buch auch an anderer Stelle besprach. Ein weiterer Rezensent des Romans war Carlos Coldaroli, der ebenfalls als jüngster Teilnehmer zum Übersetzerkreis gehörte und bei Papeles de Buenos Aires mitgearbeitet hatte; er war zudem ein Schüler von Paz und wurde in den fünfziger Jahren unter anderem als Musikkritiker in Buenos Aires Musical tätig.213 Mit der Veröffentlichung von Ferdydurke 1947 hatte sich Gombrowicz einen Durchbruch im Gastland erhofft und kontrollierte, in welchen Buchläden das Werk angeboten wurde, verfolgte die Rezensionen genau und war dann enttäuscht über dessen weitgehend lautloses Verklingen.214 Die von ihm allein verfasste und im September 1947 einmalig veröffentlichte Zeitschrift Aurora kann als eine »Revanche für die Missachtung seitens des Establishments« und »avantgardistische Manifestation, die den gesamten Kulturbetrieb und nicht einen Stil oder eine aktuelle ästhetische Strömung zu demolieren versucht«,215 gelesen werden. Über die Rezeption dieser provokanten Schrift in Musikerkreisen ist nichts bekannt. Interessant ist jedoch der Umstand, dass Gombrowicz’ nächste und zunächst letzte Veröffentlichung auf Spanisch im Jahr 1948, El Casamiento – Die Trauung –, im Musikverlag EAM von Cecilia Debenedetti erschien. EAM war auf Musikalien spezialisiert und verlegte insgesamt nur zwei literarische Werke, von denen El Casamiento noch nicht einmal einen klaren Bezug zu Musik oder einem Komponisten aufwies. Die Herausgabe geschah nur aus Gefälligkeit und Freundschaft der Mäzenin mit Gombrowicz. Fehlende Distributionsmöglichkeiten und Marketingstrategien auf dem Buchmarkt wurden für die Verbreitung des Dramas ein Nachteil: Obwohl die Freunde von Gombrowicz Exemplare persönlich in Buchläden verteilten und an Kritiker schickten, er-

212 Gombrowicz erwähnte de Obieta explizit in Gombrowicz, Tagebuch, S. 234. An der entsprechenden Stelle des Diario argentino, S. 45 wird er jedoch nicht genannt. Vgl. auch de Obietas Erinnerungen in Gombrowicz, Gombrowicz en Argentine, S. 91 f. 213 Vgl. die Angaben in Gombrowicz, Gombrowicz en Argentine, S. 94. Kritiken von Coldaroli z. B. zu einem Konzert der Amigos de la Música in BAM 9 (1954), H. 142, S. 2, zum Klavierwerk Arnold Schönbergs und einem Konzert der ANM in BAM 9 (1954), H. 149, S. 2 sowie zu der Komposition transformaciones canónicas von Paz in BAM 11 (1956), H. 175, S. 2. 214 Vgl. Reichardt, »Gombrowicz vs. Borges«, S. 23. 215 Ebd., S. 24.

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schien nicht eine einzige Rezension.216 Es lässt sich im Gegenzug allerdings vermuten, dass Musiker und Komponisten, die wie Paz bei EAM verlegt wurden oder sich für die Veröffentlichungen des Verlags interessierten, das Stück zumindest wahrnahmen. Kagel hatte, wie in vergangenen Kapiteln dargestellt, sicher seit 1949 Kontakt mit Paz, möglicherweise war Gombrowicz bald Thema der Gespräche. Vielleicht hatte er schon zuvor über seine Schwester von dem Kreis um Gombrowicz im Café Rex erfahren,217 das von einer besonderen Atmosphäre geprägt war: »Sobald man die schmale Treppe emporstieg, war der Kopf von einer dichten Qualmwolke umhüllt […]. Die fortlaufende Schallkulisse wurde durch das hastige, unrhythmische Schlagen Dutzender Hände auf die Schachuhren besorgt. […] Rundherum ein Sprachgemisch wie in Babel nach der apokryphen Fassung überliefert: Russisch, Polnisch und Tschechisch, viel Deutsch, ein wenig Spanisch – wegen der Bedienung –, Ungarisch, Holländisch / Flämisch, Serbisch und Jiddisch. Kurzum, ein Spektrum der versammelten Emigration.«218

So beschrieb Kagel rückblickend die Atmosphäre im Café Rex, dazu Gombrowicz’ besondere Art zu rauchen, zu lachen und Spanisch zu sprechen. Man traf sich dort abends, wie Alejandro Rússovich berichtete: »Nous arrivions vers dix heures et nous prenions presque toujours la même table près des grandes fenêtres vitrées d’où on pouvoit voir l’Avenida Corrientes jusqu’à l’Obélisque. C’était très animé. L’ambiance du Rex était très agréable. Nous n’étions pas obligés de jouer aux échecs. Quand Witold voulait faire une partie, le garçon lui apportait une table et un jeu. Sinon, nous restions à discuter.«219

Rússovich erwähnte auch explizit, dass Kagel zu der Gruppe der Jungen gehörte, die sich um Gombrowicz gebildet hatte und ernste Themen provokativ, mit Humor und Ironie diskutierte:

216 So berichtet Alejandro Rússovich in Gombrowicz, Gombrowicz en Argentine, S. 133. 217 Rússovich gab in der E-Mail an d. Verf. vom 28.9.2009 (vgl. Anhang S. 305) an, er habe Kagel irgendwann im Rex kennen gelernt und dann erst erfahren, dass er der Bruder von Guida Kagel war. Er wusste jedoch nicht, wer Kagel ins Café Rex mitgebracht hatte. 218 Kagel, Dialoge, Monologe, S. 278. 219 Rússovich in Gombrowicz, Gombrowicz en Argentine, S. 143.

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»Un groupe de jeunes s’était formé. Il y avait Nicolás Espiro (›Tito‹), Francisco Oddone (›Pancho‹), Mauricio Kagel et d’autres. […] Dommage que nous n’ayons pas eu de magnétophone à l’epoque! Nous parlions de choses sérieuses mais avec humour, provocation, ironie. C’était comme les dialogues de Platon. Il y avait le personnage principal, Witold, et les autres: les jeunes.«220

Häufig ist Philosophie und Kunst allgemein thematisiert worden; seltener gab es kulturelle Ereignisse, die wie die Aufführung von Le Procès in der Fassung von Gide-Barrault 1950 für lange Diskussionen sorgten.221 Wir wissen nicht, ob Kagel schon zu diesem Zeitpunkt zum Gombrowicz-Kreis gehörte und seine Freunde wussten, dass er als Statist in der Inszenierung mitwirkte. In Gombrowicz’ Musikalität ist begründet, dass in den abendlichen Diskussionen selbstverständlich über Musik gesprochen wurde: Seine Prosa ist überaus musikalisch, und 1954 schrieb er im Tagebuch über Die Trauung als Musiktheater.222 Zudem kannte er sich besonders mit Beethovens Musik aus, liebte dessen späte Quartette und bewunderte ihre Form,223 hörte Platten mit ritueller Andacht oder bewegte sich dabei. Allerdings polemisierte er gerade gegen beethovensche Musik, wenn ein anderer zu stark für sie eintrat, sie im Konzert ritualisiert oder in anderen Zusammenhängen instrumentalisiert wurde.224 So hob Gombrowicz oft den beiläufigen Charakter, die Umstände der Aufführung und die Wirkung von Musik hervor. Diese Gedanken erinnern klar an den Verfasser von A la recherche du temps perdu, was Gombrowicz nicht verbarg und den er sogar – trotz einiger Differenzen – als seinen »Bruder«225 bezeichnete: »Ich meinte also unter den Helden Prousts zu sein, als man nicht ins Konzert ging, um zuzuhören, sondern allein, um ihm mit seiner Anwesenheit Glanz zu verleihen«.226

220 Ebd. 221 Vgl. oben S. 97 sowie Rússovich in Gombrowicz, Gombrowicz en Argentine, S. 135. 222 Vgl. Gombrowicz, Tagebuch, S. 107 ff. besonders S. 110 f. Rússovich beschrieb, wie Gombrowicz zum Text der Trauung tanzte, vgl. Gombrowicz, Gombrowicz en Argentine, S. 131. Die Sprache von Trans-Atlantik ist besonders rhythmisch und »leitmotivisch«, wie der Übersetzer im Nachwort zur dt. Ausgabe anmerkte: Gombrowicz, Trans-Atlantik, S. 286 f. 223 Vgl. seine Äußerungen von 1960 in Gombrowicz, Tagebuch, S. 577 f. und S. 616 ff. 224 Vgl. z. B. Gombrowicz, Tagebuch, S. 466 oder die Erinnerungen von Carlos Coldaroli in Gombrowicz, Gombrowicz en Argentine, S. 95. 225 Gombrowicz, Tagebuch, S. 459 und erneut auf den folgenden Seiten. 226 Gombrowicz, Tagebuch, S. 58.

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Juan Carlos Gómez berichtete, Kagel sei so etwas wie der »Hohepriester der Musik« bei den Treffen im Café Rex gewesen: »En el templo sagrado que Gombrowicz levanta para la música Mauricio Kagel, uno de los contertulio del café Rex, oficiaba de nuestro sumo sacerdote.«227 Da Gomez erst ab 1956 zum engsten Freund von Gombrowicz wurde und Kagel gar nicht mehr regelmäßig traf, stützt sich seine Aussage vermutlich auf Bemerkungen, die er von Gombrowicz über Kagel hörte. Wie viel der Schriftsteller aber von Musik verstand und wie sehr er den jungen Komponisten schätzte, geht auch aus den Erinnerungen von Cecilia Benedit de Debenedetti hervor: »Witold jurait qu’il ne connaissait rien à la musique. Mais moi, je crois au contraire qu’il comprenait tout. Il faisait seulement semblant de comprendre à moitié! Savez-vous qui il estimait beaucoup ici? Mauricio Kagel. Il me disait: ›Cecilia, c’est le meilleur musicien argentin.‹«228 Die Aussage stammt aus dem Jahr 1979 und lässt im Unklaren, wann Gombrowicz dies äußerte und worauf seine Meinung basierte, ob er Kagel überhaupt als Musiker zum Beispiel in Konzerten erlebte oder dessen Kompositionen kannte. Möglicherweise hatte diese Wertschätzung Einfluss darauf, dass die Uraufführung kagelscher Lieder in einer Konzertvorschau der Asociación de Conciertos de Cámara, die von Debenedetti mitgegründet worden war, für Juli 1956 angekündigt wurde (vgl. unten S. 281). Der junge Musiker war der Verlegerin spätestens nun bekannt, wenngleich es innerhalb der Konzertreihe doch nicht zur Interpretation eines seiner Werke kam. Dass Kagel mit Gombrowicz auch außerhalb des Café Rex unterwegs war, legt eine Erinnerung von Jorge Milchberg nahe: So habe Kagel Gombrowicz eines Tages mit zu Milchberg gebracht, wo sie heftig über Beethoven stritten.229 Witold Gombrowicz verließ am 8. April 1963 Buenos Aires und lebte, nach kurzem Aufenthalt in Paris, von Mai 1963 bis April 1964 mit einem Stipendium der Ford Foundation in Berlin. Seine europäische Rezeption beschleunigte sich stürmisch, während die nachlassende Gesundheit den Schriftsteller stark einschränkte. Dennoch setzte er in Berlin fort, was sein Leben in Polen wie in Argentinien geprägt hatte: die Treffen und Diskussionen mit anderen im Café. In Berlin formierte sich ein Kreis mit Literaten und Intellektuellen im Café Zuntz,

227 Juan Carlos Gomez, »Witold Gombrowicz & Mauricio Kagel«, auf: http://revista literariaazularte.blogspot.com/2009/01/juan-carlos-gomez-witold-gombrowicz_20. html (22.09.2009), Orthografie wie im Original: »Im heiligen Tempel, den Gombrowicz für die Musik errichtete, fungierte Mauricio Kagel, einer der Stammtischkameraden des Café Rex, als unser Hohepriester.« 228 Cecilia Benedit de Debenedetti in Gombrowicz, Gombrowicz en Argentine, S. 56. 229 Vgl. Jorge Milchberg in einer E-Mail an d. Verf. am 17.1.2011 (vgl. Anhang S. 304).

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über das er im Brief an Juan Carlos Gómez schrieb, es sei dem Rex oder dem Café Tortoni in Buenos Aires ähnlich, nur ohne Musik.230 Am 12. August 1963 berichtete er von folgendem Besuch in diesem Café: »Hoy al Zuntz vino Guida Kagel, que es hermana de Mauro que es director de orquesta en Colonia. Es tortillera notoria.«231 Gombrowicz mochte Mauros Schwester offenbar nicht, doch muss es zwischen beiden ein Gespräch gegeben haben, von dem Guida dann Mauricio unterrichtete. Dieser schrieb nämlich am 8. Dezember 1963 aus Köln einen Brief an Gombrowicz, indem er auf eine Aussage Guidas Bezug nahm: »Querido Witoldo, lieber Witold, / hace ya tiempo que quería escribirte; en realidad desde el momento que leí en algún diario que tu estabas en Berlín. Que alegría saber de tus triunfos, y sobre todo saber que al fin pudiste abandonar el ›huit-clos‹ argentino! / Recién ahora puedo decirte que apenas vine a Alemania traté de interesar a algunos editores por tus obras. Pero a quién le interesaba saber de un escritor polaco que vivía hace quince anos en la Argentina? Cuando estuve de visita en Buenos Aires – en Mayo de 1961 – traté también de comunicarme contigo, pero el teléfono que yo tenía de aquella habitación cerca de Plaza Mayo donde tu vivías hace tantos años, no debía ser ya válido. Poco despues, me enteré de tu trabajo por algunos de mis amigos compositores polacos, los cuales sin excepción conocían tus libros. Después compré el ›Tagebuch des W. G.‹ y así pude leer – leer es un término bien pálido para lo que fué esa lectura; devorar sería mas adecuado – esa mezcla de confesión y baedeker espiritual que es tu Diario. / Demás esta decirte que tanto yo como Ursula teníamos todo el tiempo la impresión de ese Tagebuch nos pertenecía un poco: al fin y al cabo, esa increíble realidad argentina fué tambien nuetra realidad durante tanto tiempo. Y yo pude por fin conocerte mejor y volver a vivir un poco con el Witold que me fuera tan cercano, el Witold – y quizás esto no lo has sabido nunca – que me fuera tan importante en mi adolescencia. Yo aprendí muchísimo de tí. A tu lado tuve por vez primera en mi vida una noción de lo que era Forma, justamente por tu rechazo de la Forma. Y tambien tu me diste – sobre todo a traves de ›Ferdydurke‹ – los elementos para acercarme a ciertos aspectos de la música que me fueran hasta entonces totalmente incógnitos. En fin, tu amistad ›ajedrecistica‹ no sirvió para que yo aprendies el ajedrez,

230 Vgl. Brief aus Berlin vom 12.8.1963 in Witold Gombrowicz, Cartas a un amigo argentino, Buenos Aires 1999, S. 53 bzw. die französische gekürzte Fassung in Gombrowicz, Gombrowicz en Argentine, S. 229. 231 Zitiert nach http://witoldo.blogspot.com/2005/11/cartas-inditas-de-witold-gombro wicz.html (22.9.2009): »Heute kam Guida Kagel ins Zunzt, die die Schwester von Mauro ist, der in Köln als Orchesterleiter arbeitet. Sie ist eine offenkundige Lesbe.« In Gombrowicz, Cartas a un amigo argentino, S. 55 ist das Zitat auch zu finden, allerdings ist dort der Name Guida falsch geschrieben.

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pero fué para mí un balsamo en el buenos aires ›intelectual‹. / Sería muy feliz si pudiera verte pronto. Acabo de recibir una invitación para ir a Berlin a montar una obra de teatro musical mía; pero eso sera recién en Noviembre 1964. Para ese entonces creo que tu ya habras dejado Berlin para ir a instalarte a España, como le dijeras a Guida. […]«232

232 Orthografie wie im Original beibehalten (vgl. Anhang S. 313): »Lieber Witold, seit langem wollte ich dir schon schreiben, eigentlich seit dem Moment, da ich in irgendeiner Zeitung las, dass du in Berlin bist. Welche Freude, von deinen Erfolgen zu erfahren und vor allem, dass du endlich die argentinische ›huit-clos‹ verlassen konntest! Erst jetzt kann ich dir sagen, dass ich, gleich nachdem ich nach Deutschland kam, versuchte, einige Verlage für deine Werke zu interessieren. Aber wen interessierte es, etwas von einem polnischen Autor zu erfahren, der seit 15 Jahren in Argentinien lebte? Als ich zu Besuch in Buenos Aires war – im Mai 1961 – versuchte ich auch, dich anzurufen, aber die Telefonnummer, die ich von deinem Zimmer in der Nähe der Plaza Mayo, wo du seit so vielen Jahren lebtest, hatte, galt wohl nicht mehr. Etwas später erfuhr ich von deiner Arbeit über meine polnischen Komponistenfreunde, die ohne Ausnahme deine Bücher kannten. Dann kaufte ich das ›Tagebuch des W. G.‹ und so konnte ich diese Mischung aus Bekenntnis und spirituellem Baedeker, was dein Tagebuch ist, lesen – lesen ist ein sehr blasser Begriff für das, was diese Lektüre darstellte, verschlingen passt da eher. Außerdem muss man sagen, dass Ursula genauso wie ich die ganze Zeit den Eindruck hatte, dieses Tagebuch gehöre uns ein wenig: Letztendlich war diese unglaubliche argentinische Realität auch für so lange Zeit unsere Realität. Und ich konnte dich nun auch besser kennen lernen und nochmals ein wenig mit dem Witold leben, der mir so nahe war, der Witold – und das hast du vielleicht nie gewusst –, der mir in meiner Jugend so wichtig war. Ich habe sehr viel von dir gelernt. An deiner Seite bekam ich zum ersten Mal eine Vorstellung davon, was Form ist, gerade weil du die Form abgelehnt hast. Und du hast mir auch – vor allem durch ›Ferdydurke‹ – die Grundkenntnisse gegeben, um mich einigen Aspekten der Musik zu nähern, die mir bis dahin total unbekannt waren. Kurz und gut, deine Schach-Freundschaft diente nicht dazu, dass ich Schach lernte, aber sie war für mich ein Balsam im intellektuellen Buenos Aires. Ich wäre sehr froh, wenn ich dich bald treffen könnte. Gerade erhielt ich eine Einladung nach Berlin, um eines meiner Musiktheaterwerke zu inszenieren, aber das wird erst im November 1964 sein. Bis dahin, glaube ich, wirst du Berlin schon verlassen haben, um dich in Spanien niederzulassen, wie du Guida sagtest. […]« Der originale Brief befindet sich im Nachlass von Witold Gombrowicz im Archiv seiner Frau. Ich danke Rita Gombrowicz und Pamela Kagel für die Erlaubnis, diesen Brief zu lesen und zu veröffentlichen.

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Dieser Brief bestätigt, was Kagel auch mehr als drei Jahrzehnte später erzählte: Er war vor allem von Ferdydurke »außerordentlich stark«233 beeindruckt. Besonders Gombrowicz’ Äußerungen über Form und Formen trugen entscheidend dazu bei, dass auch Kagel begann, musikalische Formen ganz anders zu empfinden. Dabei spielte Ferdydurke mit dem Hauptthema der Unreife und der Formung des Menschen bereits in Argentinien eine große Rolle, während er das Tagebuch erst nach dem Erscheinen in Deutschland kennen lernte. Der Brief zeugt von der menschlichen Nähe – die Verwendung des »du«, die Kenntnis der Telefonnummer und Wohnung in Buenos Aires – und der Schachfreundschaft, die beide verband. Zudem betont Kagel hier eindeutig, wie wichtig ihm die Nähe und Freundschaft mit dem Schriftsteller war: »ein Balsam im intellektuellen Buenos Aires«. Sowohl Kagel als auch seine Frau Ursula erkannten in Gombrowicz’ Tagebuch ihr Leben in Buenos Aires wieder, erinnerten sich an Situationen, Personen, Orte etc. Bemerkenswert ist im ersten Absatz auch Kagels Verwendung eines französischen Terminus, der – sieht man über den Schreibfehler hinweg – die argentinische Gesellschaft als »Huis-clos« definierte und dabei auf Jean-Paul Sartres gleichnamiges Drama von 1944 zurückgehen könnte. Nahm Kagel in Analogie zu dem Theaterstück das intellektuelle Buenos Aires als »geschlossene Gesellschaft« wahr, in der sich die Menschen selbst das Leben zur Hölle machten und aus der nur schwer zu entkommen war? Leider blieb dieser Brief unbeantwortet, was auf die Lebensumstände des Adressaten zurückzuführen ist: Gombrowicz wurde zu dieser Zeit krank und verbrachte Monate im Krankenhaus, während derer er seine Post nicht mehr beantwortete. Wir erfahren daher auch hier nicht von Gombrowicz persönlich, in welcher Art und Weise er mit Kagel kommunizierte. Netze, Bezüge, weitere Schriftsteller Gombrowicz wurde in Buenos Aires von den Schriftstellern im Umfeld von Sur kaum anerkannt und konnte oder wollte zum Beispiel mit Borges keinen engeren Kontakt haben. In den Worten Kagels: »Gombrowicz und Borges haben sich schlecht verstanden. Für den polnischen Schriftsteller war Borges der Inbegriff eines bürgerlichen Kulturliteraten, was aber, mit diesem negativen Unterton gemeint, gar nicht stimmte. Schließlich verfaßte auch Gombrowicz kaum anderes als Bücher […]. Borges war sein Antipode, nicht sein Feind.«234

233 Kagel, Dialoge, Monologe, S. 284. 234 Kagel, Dialoge, Monologe, S. 276.

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Zudem sei Borges durch den Vorteil des ständigen Heimspiels doch leichter zu Ehren gekommen – spätestens nach dem Ende des Peronismus gelangte er in die leitende Position der Nationalbibliothek. Anfang der vierziger Jahre waren sich beide im Haus des Schriftstellerpaares Silvina Ocampo und Adolfo Bioy Casares begegnet, in das Gombrowicz einmal eingeladen wurde. Es entstand jedoch kein Gespräch: Im Rückblick beklagten sich beide über die schlechte (Aus-)Sprache des anderen,235 so dass sie sich tatsächlich – wie Kagel formulierte – offenbar »schlecht verstanden«. Auch wenn Borges und Gombrowicz sich kaum gegenseitig wahrnahmen oder gar schätzten, existierte eine Verbindungslinie zwischen beiden: Borges war mit dem Schriftsteller Macedonio Fernández befreundet, der von 1947 bis zu seinem Tod 1952 im Hause seines Sohnes Adolfo de Obieta lebte. De Obieta war, wie bereits beschrieben, mit dem Polen befreundet und Mitherausgeber der Papeles de Buenos Aires, in denen 1944 Gombrowicz’ erster Auszug aus Ferdydurke, »Filidor forrado de niño«, erschien. In den vierziger Jahren frequentierte de Obieta auch die Freitagnachmittage der offenen Tür bei Silvina Ocampo und Adolfo Bioy Casares, bei denen neben Borges viele andere Künstler und jüngere Autoren des Sur-Umkreises wie Ernesto Sábato anwesend waren.236 Sábato war eigentlich Physiker und Mathematiker, der mit einem argentinischen Stipendium in den dreißiger Jahren am Laboratoire Joliot-Curie in Paris arbeitete und dort auch Verbindungen zu den Surrealisten hatte.237 Ab den vierziger Jahren widmete er sich neben seiner naturwissenschaftlichen Lehrtätigkeit vermehrt dem Schreiben und wurde Mitarbeiter von Sur. Wie Borges unterschrieb er demokratische Manifeste und wurde als Dozent schon im August 1945 entlassen.238 In der Folge entwickelte er Kreuzworträtsel für eine Wochenzeitschrift und gab Kurse am CLES.239 Als Schriftsteller bekannt wurde er 1948 mit seinem ersten Roman El túnel. Schon zuvor – 1944 – war er von Gombrowicz’ »Filidor forrado de niño« beeindruckt und kam mit dem Autor durch de

235 Vgl. Reichardt, »Gombrowicz vs. Borges«, S. 24. 236 Vgl. Rodriguez Monegal, Jorge Luis Borges, S. 347. 237 Wenn nicht anders gekennzeichnet, sind die biografischen Daten zu Sábato entnommen aus dem Themenheft »Raíces y alas. Neue Literatur aus Spanien und Lateinamerika« der Zeitschrift Delta 4 (1991), H. 10, S. 3. 238 Vgl. Sigal, »Intelectuales y peronismo«, S. 491 und z. B. das »Manifiesto de escritores y artistas« vom 22.3.1945 in Borges, Textos recobrados 1931-1955, S. 355-357. 239 Vgl. Luna, Perón y su tiempo. II. La comunidad organizada, S. 335 und Kursübersicht in Cursos y Conferencias 18 (1949), H. 208-210, S. 334 sowie 19 (1950), H. 223-225, S. 563.

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Obieta »möglicherweise in irgendeiner Bar«240 zusammen. In der Folge sahen sie sich regelmäßig, ohne dass eine Freundschaft entstand, offenbar diskutierten sie aber erregt und oft stur miteinander. Gombrowicz erwähnte ebenfalls ein Treffen mit Sábato in der Helvetico-Bar im Jahr 1954, bei dem dieser ihm über seine Methode des Philosophieunterrichts berichtete.241 Später bezog er sich im Tagebuch mehrmals auf ihn. Ihre Freundschaft intensivierte sich bis in die sechziger Jahre, doch erst als Gombrowicz 1963 in Berlin weilte, begannen sie sich in der Korrespondenz zu duzen.242 Für die Neuauflage von Ferdydurke und das Buch Cartas a un amigo argentino verfasste Sábato später Vorworte. Trotz dieser Verbindungen wurde Gombrowicz von Sur nicht in der Weise anerkannt, wie er es gern gesehen hätte: Ferdydurke und Die Trauung wurden nicht rezensiert. Dass Gombrowicz in den Kreis der »Kultur-Mafia« um Sur, die sich »über Jahrzehnte hinweg immer wechselseitig öffentlich gepriesen und gelobt hat«, keinen Eingang fand, führte Dieter Reichardt auf persönliche Animositäten zurück: Der Pole sei zu einer »Freundschaft, die dem anderen intellektuelle Anerkennung zollt, kaum in der Lage gewesen.«243 Andererseits bestanden wohl auch keine Kontakte mit den Peronismus-freundlichen Antipoden von Sur wie Leopoldo Marechal oder den politisch und revolutionär auftretenden Schreibern der fünfziger Jahre um die Zeitschrift Contorno.244 Dagegen hatte Gombrowicz unter den Poeten, bildenden Künstlern und Musikern der Gruppe ConcretoInvención – darunter Paz und Mitglieder von nueva visión –, offenbar Freunde, von denen er auch sprachlich beeinflusst wurde.245 Allerdings berichtete er gleichwohl ironisch von den Treffen der Poeten der Gruppe in einem Café, bei dem man sich kaum verständigen konnte.246 Die Jungen in seinem engen Freundeskreis, die Gombrowicz zweifellos inspirierten und die ihrerseits von seinen ästhetischen und philosophischen Haltungen geprägt wurden, stellten eine internationale Versammlung von oft polyglotten Studenten und Künstlern dar, die selbst nicht primär schriftstellerisch tätig waren, sich jedoch mit dem Kulturleben in und außerhalb des Establishments sowie den gesellschaftlichen Bedingungen kritisch auseinandersetzten. Kagel

240 Erinnerungen von Sábato an Gombrowicz in: Akzente 43 (1996), H. 2, S. 113-116, hier S. 113. 241 Vgl. Gombrowicz, Tagebuch, S. 167 f. 242 Vgl. Sábatos Vorwort in Gombrowicz, Cartas a un amigo argentino, S. 12. 243 Alle Zitate Reichardt, »Gombrowicz vs. Borges«, S. 24. 244 Vgl. ebd., S. 17. 245 Vgl. eine Erwähnung dieser »Freunde« 1957 in Gombrowicz, Tagebuch, S. 386 f. 246 Im Jahr 1954, vgl. ebd., S. 167.

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könnte im Kreis um Gombrowicz auch Sábato begegnet sein. Eine weitere Verbindungslinie führt über das Collegium Musicum, wo Sábato Vorträge hielt. Kagel hob beispielsweise einen Programmzettel von 1954 auf, in dem Sábatos Vortrag »Die Kunst und die Gesellschaft« am 4. und 11. August angekündigt wurde.247 Ernesto Epstein vom Collegium Musicum erinnerte sich daran, Sábato 1950 vorgestellt worden zu sein. Neben dessen profunden Kenntnissen in Wissenschaft, Literatur und Kunst sei er von seinem Interesse an Musik beeindruckt gewesen. Sábato habe sich von Epstein später den Text von Schuberts Winterreise übersetzen lassen. Ihm berichtete er auch, dass er früher, als Musik von Brahms jenseits von Ungarischen Tänzen und Wiegenlied in Buenos Aires noch gänzlich unbekannt war, gemeinsam mit Silvina Ocampo und anderen dessen Musik auf alten Platten anhörte.248 Julio Cortázar war einer derjenigen Schriftsteller, die zwar im Sur-Umfeld schreiben konnten und dessen demokratische Orientierung teilten, aber er würdigte in einer Rezension für die Zeitschrift Realidad auch den Gehalt eines Buchs wie Adán Buenosayres (1948) von Leopoldo Marechal – trotz der properonistischen Haltung des Autors.249 Cortázar orientierte sich also vielseitig, ob er auch Gombrowicz persönlich kannte, ist bisher nicht bekannt. Im 145. Kapitel von Rayuela zitierte er 1963 jedoch explizit aus Ferdydurke – und zwar aus dem Kapitel »Vorwort zu Philidor mit Kind durchsetzt«: »Ésas, pues, son las fundamentales, capitales y filosóficas razones que me indujeron a edificar la obra sobre la base de partes sueltas –conceptuando la obra como una partícula de la obra– y tratando al hombre como una fusión de partes de cuerpo y partes de alma – mientras a la Humanidad entera la trato como a un mezclado de partes.«250

247 Vgl. Programmzettel mit Sábatos Vortrag »El arte y la sociedad« in PSS SMK Box Programmhefte Argentinien. 248 Vgl. Epstein, Memorias musicales, S. 223. 249 Vgl. Julio Cortázar, »Un Adán en Buenos Aires«, in: Realidad 5 (1949), H. 14, S. 232-238. 250 Cortázar, Obras completas III, S. 609 und ders., Rayuela, S. 615: »Dies also sind die fundamentalen, kapitalen und philosophischen Gründe, die mich dazu bewegt haben, mein Werk auf dem Fundament von einzelnen Teilen aufzubauen – das Werk als ein Teilchen des Werkes und den Menschen als eine Zusammenfassung von Teilen des Körpers und der Seele betrachtend –, während ich die gesamte Menschheit als ein Gemisch von Teilen und Stücken auffasse.« Vgl. auch Gombrowicz, Ferdydurke, S. 89. Zur Bedeutung dieses Zitats und zu den Rückschlüssen auf die Form von Rayuela vgl. Carmen Ruiz Barrionuevo, »Rayuela en el juego de ›Filidor forrado de

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Anklänge an diese Thematik aus Ferdydurke lesen sich auch aus einer Szene in Cortázars Los Premios von 1960, da Medrano im Traum Bettinas Gesicht erscheint, das immer größer wird und in dem sich einzelne Teile abheben.251 In den sechziger Jahren drückte Cortázar dann seine große Achtung vor Gombrowicz in Briefen aus: Er sei ein »revolutionary artist, a great creator«252 und verdiene, ausgezeichnet zu werden. Nachklänge im Schaffen Kagels Kagels musikalisches Denken mit Gombrowicz’ Schriften klar in Beziehung zu setzen, wie es Juan Allende-Blin tat,253 ist vor dem Hintergrund ihrer Bekanntschaft realistisch und gerade im Hinblick auf Ferdydurke und das Tagebuch naheliegend. An Letzterem faszinierte Kagel besonders die ständige Beschäftigung des Autors mit seinem Ich, die ihm genau wie das Gefühl des immer währenden Fremdseins eigen war.254 Der Pole legte dabei großen Wert auf die Darstellung seiner eigenen Person und theoretische Aussagen zu seinen Werken – diese Neigung reichte so weit, dass er zahlreiche Autokommentare verfasste und gar einen ganzen Interviewband fingierte.255 Letzteres tat Kagel zwar nicht, doch geben Werkkommentare und theoretische Überlegungen sowie die unzähligen Gespräche, deren Transkriptionen Kagel akribisch überarbeitete, bevor sie zur Veröffentlichung kamen, auch Zeugnis von seiner Konstruktion der eigenen Künstlerpersönlichkeit. Spätestens mit dem Erscheinen der weiteren deutschen Übersetzungen in den sechziger Jahren hatte Kagel sicher die meisten Werke des Polen gelesen, wie seine erklärte Faszination für Gombrowicz’ Auseinandersetzung mit der Form, der Deformation von Macht und der Degradierung von Normalität

niño‹«, in: Rio de la Plata: culturas (1992), H. 13 / 14, S. 349-357. Dieser Teil von Ferdydurke hatte sich gegenüber der ersten polnischen Fassung 1938 verändert. Cortázar hat das Zitat wohl der französischen Übersetzung von 1956 entnommen. 251 Vgl. 38. Kapitel: Cortázar, Obras completas II, S. 856, ders., Die Gewinner, S. 314 f. 252 Vgl. Brief an Sara und Paul Blackburn vom 17.5.1965 in Cortázar, Cartas 1964-1968, S. 876. Vgl. auch den Brief vom 11.5.1967 an die gleichen Adressaten, ebd. S. 1144. 253 Vgl. bezüglich Match in Allende-Blin, »Mauricio Kagel und ›Anagrama‹«, S. 61 ff. 254 Vgl. Kagel, Dialoge, Monologe, S. 288. 255 Die Gespräche mit Dominique de Roux in Witold Gombrowicz, Eine Art Testament (Gesammelte Werke 13), aus dem Polnischen und Französischen von Rolf Fieguth, München 1996, S. 7-154 wurden komplett von Gombrowicz selbst verfasst, vgl. Lawaty / Zybura, »Einleitung«, in: dies. (Hg.), Gombrowicz in Europa, S. 7-14, hier S. 7.

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zum Beispiel in den Dramen Die Trauung, Yvonne und Operette bezeugt.256 Angriffslust, Groteske, Satire sowie stetiger Zweifel sind die Aspekte, die Kagel an Gombrowicz faszinierten – nicht nur in den Werken, sondern auch im direkten Kontakt: »Gombrowicz besaß, auch im Gespräch, einen ungeheuren Sarkasmus, der Borges völlig fehlte. Dieser konnte Details mit einer feinen Ironie beschreiben, aber bissigen Humor hatte er nicht und wußte, daß man sich dies nicht aneignen kann. Wie viele polnische Schriftsteller liebte Gombrowicz hingegen Witz, Schärfe und insbesondere die Provokation.«257

Aggressiv zeigten sich nicht nur einige Protagonisten in Gombrowicz’ Romanen, sondern laut Kagel auch der Schriftsteller selbst, wenn er zum Beispiel Schach spielte. Literaturwissenschaftler behaupteten, Gombrowicz’ »literarisch-ästhetische Besonderheit« definiere »zugleich den Postmodernismus: der Agnostizismus und die im bösen Glauben verwendete sakrale Symbolik, die Mischung von Tragik und Farce, die […] Allgegenwart der Parodie […] und die wichtige Funktion des autobiografischen Faktors«.258 Viele dieser Merkmale können auch in Kagels Kompositionen entdeckt werden; sie jedoch allein auf Gombrowicz zurückzuführen oder sie ausschließlich als postmodern zu deklarieren, greift zu kurz. Tabubrüche, Parodie, Groteske und Sakrileg finden sich ebenso stark im Surrealismus, zum Beispiel in den Filmen Luis Buñuels, die um 1950 in Buenos Aires wie dargestellt intensiv rezipiert wurden. Was mit Blick auf Buñuel von Volker Roloff festgestellt wurde, lässt sich auf Gombrowicz sowie Cortázar, Kagel usw. übertragen: Buñuels Kreativität und die anderer Spanier wie Federico García Lorca und Salvador Dalí erwuchs aus teilweise traumatischen Erfahrungen mit der spanischen Tradition, in einem katholischen Land mit lange aufrecht gehaltenen religiösen Tabus, die provozierten.259 Ähnliche Bedingungen erlebte Gombrowicz in Polen und herrschten in Argentinien, wo politische Macht ohne die katholische Kirche nicht zu erreichen war. Schon Kagels erste in Deutschland aufgeführte Kompositionen wie das Streichsextett, Transición II und Anagrama enthalten Brüche und absurde Sequenzen, aber auch improvisierte Formen und Spielcharaktere. Björn Heile zeigte auf, dass das Spiel in Kagels Werken des Instrumentalen Theaters die Alterna-

256 Vgl. Kagel, Dialoge, Monologe, S. 285. 257 Kagel, Dialoge, Monologe, S. 277. 258 Lawaty / Zybura, »Einleitung«, in: dies. (Hg.), Gombrowicz in Europa, S. 11 f. 259 Vgl. Volker Roloff, »Buñuels mexikanische Filme«, in: Wentzlaff-Eggebert (Hg.), Europäische Avantgarde im lateinamerikanischen Kontext, S. 547-570, hier S. 551 f.

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tive zum traditionellen organischen Formmodell wurde und »als Beispiel für selbstbestimmtes Handeln«260 erscheint. Dessen Hervortreten in den sechziger und siebziger Jahren assoziierte er mit dem Aufkommen der neuen Linken. Kaum erkannt wurden bisher jedoch die Parallelen, die Kagels Schaffen in dieser Beziehung mit den Texten von Gombrowicz und besonders Cortázar in den fünfziger und frühen sechziger Jahren aufweist. In Ferdydurke hat die bereits erwähnte Duell-Szene in ihrem Aktion-Reaktion-Schema ebenso Spielcharakter wie Abschnitte im zweiten, um 1950 entstandenen Roman Trans-Atlantik;261 im Tagebuch verglich Gombrowicz 1954 den Spaß am Schreiben als Grundlage des künstlerischen Schaffens mit dem Vergnügen am Spiel, das jedem Tennismatch und jeder Diskussion zugrunde läge.262 Dass er Freude am Schreiben hatte, beweist schon Trans-Atlantik mit einer Fülle von Alliterationen, Wort- und Satzwiederholungen, Hispanismen (im Polnischen) und frei erfundenen Worten. Bei Cortázar findet sich »[d]er ernsthafte Unernst des Spiels«263 leicht in Sujets und Titeln: 1956 erschien ein Band mit Erzählungen, der Final del juego – Ende des Spiels – hieß und dessen letzte Geschichte unter dem gleichen Titel ein mehrdeutiges Verkleidungsspiel Pubertierender zum Inhalt hat. In Los Premios ist es eine Lotterie, welche die Gewinner auf dem Kreuzfahrtschiff zusammenführt. Im Titel Rayuela – bzw. dem deutschen Untertitel »Himmel und Hölle« – wird deutlich auf das Hüpfspiel von Kindern verwiesen. Schach ist die Grundlage von Cortázars Theaterstück Nada a Pehuajó, das zwar schon in den fünfziger Jahren als »eine Mischung aus Albtraum und Schachpartie«264 entstand, aber erst Jahre später veröffentlicht wurde: Hier soll die Bühne selbst als Schachbrett gestaltet sein, und ein im hinteren Bereich sitzender Mann in Weiß begleitet die Handlungen mit imaginären Schachzügen auf seinem Tisch.265 Das Sprachspiel unter dem Titel »Cementerio« – »Friedhof« –, das die Hauptpersonen in Rayuela mit dem »toten« Wörterbuch spielen und dabei Sätze aus lauter Worten mit den glei-

260 Björn Heile, »Homo Ludens? Spiel und Spielen im Werk von Mauricio Kagel«, in: Werner Klüppelholz (Hg.), Vom instrumentalen zum imaginären Theater: musikästhetische Wandlungen im Werk von Mauricio Kagel, Hofheim 2008, S. 109-127, hier S. 125. 261 Vgl. oben S. 209, Gombrowicz, Ferdydurke, S. 115 f. sowie ders., Trans-Atlantik, S. 143 u. a. 262 Vgl. Gombrowicz, Tagebuch, S. 121 f. 263 Vgl. Berg, Grenz-Zeichen Cortázar, S. 40, Hervorhebung im Original. 264 Brief an Damián Bayón vom 15.1.1955 in Cortázar, Cartas 1937-1963, S. 320: »una mezcla de pesadilla y partida de ajedrez«. 265 Vgl. weitere Beispiele in Alazraki, Hacia Cortázar: aproximaciones a su obra, S. 91 f.

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chen Anlauten bilden, lässt auch an Kagels Kompositionen denken: Am Ende der Badezimmersequenz und als Übergang zum Wohnzimmer in Ludwig van werden Worte aneinandergereiht, die sinnvoll oder nicht mit B wie Beethoven beginnen. Die spanischen, englischen oder französischen Untertitel des Films zeigen, dass hier nicht nur Nonsens gesprochen wird, sondern Kagel viele BWorte – mehrheitlich auf Deutsch, aber teils in anderen Sprachen – auswählte: »Brahms, Besetzt, Brot […], Beuys van Butter, Benebel [engl. Befogged], Basel […], Blei, Braun, Bitter […], Bärlapp, Brosmarin, Btrappe [engl. Bustard], Btoastbrot, Bratwurst, Käsebrot [span. Bocadillo de queso], Käsebrot van Bratwurst [span. Bocadillo de queso van Salchicha], Gute Nacht [span. Buenas noches]«.266

Enzyklopädisches Denken und die Kombination von im (musikalischen) Wörterbuch benachbarten Begriffen tritt zudem in Kagels Kompositionen Rrrrr… mehr als deutlich zu Tage. An anderer Stelle in Cortázars Rayuela verfasst die Hauptperson ein Nonsensgedicht inspiriert von »den Namen der Mitglieder einer Konferenz in Burma«267 – hier interessiert den Autor der reine Klang der Worte, dem auch Kagels Textauswahl in Schwarzes Madrigal nahe steht.268 Dass bei Kagel und Cortázar das Spiel solch eine wichtige Rolle einnimmt, erscheint kaum überraschend. Einerseits hatten sie sicher von Roger Caillois gehört oder kannten ihn persönlich: Er lebte von 1939 bis 1944 in Buenos Aires im Exil und gab währenddessen mit Unterstützung von Victoria Ocampo und dem Sur-Kreis die Zeitschrift Lettres françaises als Sprachorgan des freien Frankreichs heraus. Nach seiner Rückkehr nach Frankreich ließ er zunächst Borges und dann viele weitere lateinamerikanische Schriftsteller übersetzen und bei Gallimard publizieren. Caillois veröffentlichte 1958 ein Buch zur Spieltheorie.269 Andererseits studierte Guida Kagel Psychologie und wurde Mitarbeiterin von

266 Untertitel von Ludwig van in: The Mauricio Kagel Edition, Winter & Winter 2006, 910128-2, DVD. 267 Cortázar, Obras completas III, S. 296 (Kapitel 41): »los nombres de los integrantes de cierto Consejo de Birmania«, dt. in: ders., Rayuela, S. 281. 268 Vgl. Kagel, Dialoge, Monologe, S. 326-329. 269 Im Nachlass Kagels ist Roger Caillois’ Buch Les jeux et les hommes: le masque et le vertige, Paris 1958 nicht erhalten. Caillois’ im gleichen Jahr ebenda erschienene und auch auf Spieltheorien verweisende Art poétique. Commentaires. Préface aux poésies. L'énigme et l'image signierte Kagel mit »M.K. Paris 1959« und markierte sich diverse Passagen, vgl. IAI Signatur A 09 / 16510.

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Jean Piaget in Genf,270 der ebenfalls das Spiel – mit Blick auf die persönlichkeitsbildenden Aspekte – erforschte. Dass Cortázar und Kagel speziell mit Worten aus Wörterbüchern bzw. Enzyklopädien spielten, könnte noch konkreter auf frühere Eindrücke zurückgehen: 1951 wurde der 200. Geburtstag der großen französischen Encyclopédie von Diderot und d’Alembert bedacht und zum Beispiel in der Zeitschrift Cursos y Conferencias des CLES Mitte 1951 in Aufsätzen ausgiebig gefeiert und diskutiert.271 Cortázars Beschreibung von Musik in seinem Roman Rayuela von 1963 wäre eine eigene Untersuchung wert, herausgegriffen werden hier einige Passagen, die in besonderer Weise an Kompositionen Kagels gemahnen. Es geht dabei um Parallelen der Ästhetik und der kompositorischen Verfahrensweisen beider Künstler. Bereits im ersten Kapitel schreibt Cortázar davon, »den Pfiff einer Lokomotive genau in dem Moment und im richtigen Ton zu hören, daß er sich ex officio in den Satz einer Sinfonie von Ludwig van einfügte«.272 Natürlich ist hier Cortázars Benennung des Komponisten als »Ludwig van« auffällig und lässt sofort an Kagels gleichlautenden Filmtitel denken. Ob die Formulierung genuin von Cortázar stammte oder in den sechziger Jahren (unter Künstlern) umgangssprachlich üblich war, sei dahingestellt.273 Dass Cortázar einen berühmten Komponisten nur mit dem Vornamen nennt und davon ausgeht, dass jeder weiß, wer gemeint ist, ist kein Einzelfall und findet sich beispielsweise auch schon 1948, wenn er von »Igor« spricht.274 Das Montageprinzip liegt Kagels Kompositionen seit der Revision des Streichsextetts 1957 zugrunde (vgl. unten S. 271 f.), und auch in seinem Musiktheater, den Hörspielen und Filmen fügen sich fremde Klänge häufig perfekt in einen musikalischen Ablauf ein. Das, was Cortázar anhand des Pfeifens einer

270 Vgl. Kagel, Dialoge, Monologe, S. 227. 271 Vgl. Cursos y Conferencias 20 (1951), H. 232-234. 272 Cortázar, Obras completas III, S. 56 (Kapitel 1): »oír el silbato de una locomotora exactamente en el momento y el tono necesarios para incorporarse ex oficio a un pasaje de una sinfonía de Ludwig van«, dt. in: ders., Rayuela, S. 21. 273 Auch in Anthony Burgess’ Roman A Clockwork Orange von 1962 nannte der Protagonist Alex seinen Lieblingskomponisten »Ludwig van«. Der Roman wurde erst 1972 ins Deutsche übersetzt, Kagel hatte aber mit dem Regisseur Stanley Kubrick, der A Clockwork Orange 1970 verfilmte, bereits in den sechziger Jahren Kontakt. Die Titelgebung von Kagels Ludwig van bezog sich nicht auf den Burgess-Roman, wie der Komponist auf Nachfrage mitteilte: vgl. Christian Brix, »Ludwig van« – Zu Mauricio Kagels Beethoven-Film, Norderstedt 2004, S. 33 ff. 274 Vgl. Cortázar, »Elogio del jazz«, S. 206.

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Lokomotive in einer Symphonie beschrieb, ist Grundlage von Kagels Komponieren im Sinne von »Zusammensetzen«. Im Film Halleluja hört zum Beispiel der Organist Gerd Zacher während des eiligen Frühstücks Radio, wobei sich an die Ansage des Nachrichtensprechers eine Sequenz der Vokalkomposition Halleluja sowie das Klingeln eines Weckers simultan anschließen und zeitgleich Aktionen auf dem Tisch zu sehen sind, die Verbindungen vortäuschen.275 Die Montage zweier Welten, die sich verschränken, findet sich bei Cortázar auch im 34. Kapitel von Rayuela, in dem sich je eine Zeile eines realistischen Romans des spanischen Schriftstellers Benito Pérez Galdós mit einer Cortázars, der diese kritisiert, abwechselt. Ähnliches geschieht zum Beispiel in Kagels Bühnenwerk Sur Scène und im Hörspiel Soundtrack durch die Gleichzeitigkeit und den gegenseitigen Bezug mehrerer Handlungsstränge. Hier könnte in Zukunft erforscht werden, ob im argentinischen radioteatro (Hörspielserien im Radio) der dreißiger und vierziger Jahre, das Kagel und Cortázar liebten, ähnliche Mittel angelegt waren.276 Konkrete Erfahrungen könnten auch andere Werkabschnitte generiert haben: Bei der Beschreibung eines zeitgenössischen Konzerts mit der Pianistin Berthe Trépat im 23. Kapitel von Rayuela hatte Cortázar den Namen seiner Interpretin natürlich mit dem französischen »trépas« für »Tod« assoziiert – im Sinne eines falschen Dahinscheidens.277 Wer mag da nicht an Kagels bitterböse Elly-NeyParodie in Ludwig van denken? Die 1968 verstorbene Pianistin und Sympathisantin des Nationalsozialismus wird im Film von einem Mann dargestellt und wiederbelebt, sie vollzieht wie Trépat ritualisierte Begrüßungen und Bewegungen auf der Bühne, bevor sie zu spielen beginnt und dann nicht mehr aufhört. Mit Cortázars Figur Oliveira könnte man auch über Elly Ney denken: »Oben

275 Halleluja (1968 / 69, s / w), auf: http://www.ubu.com/film/kagel_hallelujah.html (25.2.2013), 10’35’’ ff. 276 Vgl. Mario Goloboff, Julio Cortázar. La biografía, Buenos Aires 1998, S. 68 f. und »Zauberer und Souverän. Mauricio Kagel als Hörspielmacher im Gespräch mit Jochen Meißner und Frank Kaspar«, in: Musiktexte 120 (2009), S. 43-46, hier S. 44. Das radioteatro gehörte zur populären Kultur besonders der vierziger Jahre und entwickelte sich von einzelnen Gaucho-Erzählungen hin zu Radio-Seifenopern mit mehreren Folgen. Seine Geschichte ist kaum erforscht, die Erinnerungen daran bei vielen Zeitzeugen jedoch lebendig – vermutlich aufgrund der Tatsache, dass der Zuhörer nicht passiv blieb, sondern seine Imagination besonders angesprochen wurde; vgl. Norman Briski u. a., La cultura popular del peronismo, o. O. 1973, S. 48-53. 277 Vgl. Brief an Francisco Porrúa (Paco) vom 13.9.1963 in Cortázar, Cartas 19371963, S. 618 f.

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muß irgendeiner sein, der die Fäden zieht«,278 und die lebende Tote bewegt, rauchen und aus einem Tetra-Pak trinken lässt. Vor dem Auftritt von Berthe Trépat beschreibt Cortázar Valentin, den Moderator des Konzerts, und karikiert die Floskeln eines Ansagers; genau diese trieb Kagel 1977 in Présentation für zwei, dem zweiten Teil von Quatre Degrés, auf die Spitze. Ferner finden sich bei Cortázar und Kagel Parodien auf Stile oder Personen; genannt seien exemplarisch in Cortázars »El Perseguidor« die Titelfigur namens Johnny Carter in Anlehnung an Charlie Parker sowie Kagels Tango Alemán und Blue’s Blues. In der schon erwähnten Geschichte »El extraño caso criminal de la calle Ocampo«279 von 1957 spielte Cortázar mit verborgenen und offenbaren Fälschungen: Er schickte seinen Freunden – unter ihnen Guida Kagel – erfundene Briefe, die die Grundlage der Handlung bildeten. Ob Kagel diese Geschichte kannte, ist nicht überliefert; seine »Vorliebe für Fälschungen und ›Unechtes‹ und seine Kritik an der bloßen Vorstellung von ›Authentizität‹«280 besonders in späteren Kompositionen wurde bisher vor allem auf den Einfluss von Borges zurückgeführt, und Björn Heile etikettierte sie mit dem Begriff der »Ästhetik des Apokryphen«. Heiles Überlegungen gehen auf Kagels Äußerungen im Vorwort zu Kantrimiusik sowie auf Skizzen zu Exotica zurück, in denen der Komponist zwischen »authentischen« – im Sinne von existierenden, aber nicht kanonisierten – und »apokryphen« – vollkommen erfundenen – Apokryphen trennte. Diese Unterscheidung könnte tatsächlich auf Borges zurückgehen, der darauf hingewiesen hat, dass »apokryph« im 20. Jahrhundert als »verfälscht oder falsch« gedeutet wurde, während »die ursprüngliche Bedeutung […] verborgen« gewesen sei.281 In seinen Schriften spielte der Schriftsteller ständig mit falschen, verborgenen, aber auch richtigen Verweisen, zitierte von ihm selbst Erfundenes und verwischte die Grenzen von realen und fiktiven Quellen: Ende der vierziger Jahre erschienen sogar Bücher von Borges und Bioy Casares in dem von ihnen vorgetäuschten Verlag Oportet & Haereses, der im Mai 1947 auch Borges’ Pamphlet »Neue Widerlegung der Zeit« veröffentlichte, das vorläufig jedoch nur unter

278 Cortázar, Obras completas III, S. 154 (Kapitel 23): »Arriba debe de haber alguien tirando de los hilos«, dt. in: ders., Rayuela, S. 128. 279 Vgl. Cortázar, Papeles inesperados, S. 349-364. 280 Heile, »Kopien ohne Vorbild«, S. 12. 281 In den Ausführungen zu den apokryphen Evangelien: Borges, »Persönliche Bibliothek« [1988], in: ders., Borges, mündlich, S. 257, vgl. span. ders., Biblioteca personal (prólogos), S. 11: »La palabra apócrifo ahora vale por falsificado o por falso; su primer sentido era oculto.«

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Freunden kursierte.282 Als es später in den Obras completas publiziert wurde, waren zwei Fassungen des Textes von 1944 bzw. 1946 zu finden, weil – wie Borges in einem Vorwort formulierte – »die Lektüre zweier analoger Texte bei einer zähen Materie wohl dem Verständnis dienen kann«.283 Dass das mehrfache Überschreiben, Wiedererzählen und besonders das Lesen eines Textes verschiedene Schichten in der Art eines Palimpsests aufzeigt, hatte Borges schon in »Pierre Menard, Autor del Quijote« von 1939, erschienen in Ficciones, artikuliert: »He reflexionado que es lícito ver en el Quijote ›final‹ una especie de palimpsesto, en el que deben traslucirse los rastros – tenues pero no indescifrables – de la ›previa‹ escritura de nuestro amigo. Desgraciadamente, sólo un segundo Pierre Menard, invirtiendo el trabajo del anterior, podría exhumar y resucitar esas Troyas …«284

Allein das Lesen eines Textes in einer anderen Zeit, mit dem Wissen um die Geschichte und aus einem persönlichen Blickwinkel heraus macht jede Lektüre einmalig. Andrea Pagni hat darauf hingewiesen, dass unter den lateinamerikanischen Schriftstellern eine lange Tradition der Reflexion über das Schreiben unter dem Einfluss vorheriger Lektüren besteht. Einer der ersten, der das Lesen als Bedingung des Schreibens thematisierte und hoch schätzte, war Macedonio Fernández. Er wünschte sich einen aktiven Leser, einen Leser, der sich nicht dem Erzählten ergibt, sondern den Prozess der Textproduktion mitvollzieht, Verknüpfungen erstellt und so selbst Bedeutung generiert. In den Texten von Borges, der mit Macedonio Fernández eng verbunden war, und Cortázar sowie der nachfol-

282 Vgl. Rodriguez Monegal, Jorge Luis Borges, S. 403. 283 Jorge Luis Borges, »Nueva Refutación del tiempo«, in: ders., Otras inquisiciones, S. 235-257, hier S. 236: »la lectura de dos textos análogos puede facilitar la comprensión de una materia indócil«, dt. als »Neue Widerlegung der Zeit«, in: ders., Inquisitionen. Vorworte, S. 180-201, hier S. 180. 284 Jorge Luis Borges, »Pierre Menard, Autor del Quijote«, in: ders., Ficciones (Obras completas 5), Buenos Aires 1956, S. 45-57, hier S. 56; dt.: »Pierre Menard, Autor des Quijote«, in: ders., Universalgeschichte der Niedertracht. Fiktionen. Das Aleph (Gesammelte Werke 5), dt. von Gisbert Haefs u. a., München / Wien 2003, S. 119129, hier S. 128: »Ich bin zu der Ansicht gekommen, daß es berechtigt ist, im ›endlichen‹ Quijote eine Art Palimpsest zu sehen, auf dem – schwach, aber nicht unentzifferbar – die Spuren der ›vorhergehenden‹ Schrift unseres Freundes durchscheinen müssen. Leider könnte nur ein zweiter Pierre Menard in Umkehrung der Arbeit des vorangehenden diese Trojas ausgraben und wiederbeleben«.

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genden argentinischen Schriftstellergeneration finden sich darum so viele Verweise, die das Lesen zu einer produktiven Tätigkeit erheben – und mit Hinweisen auf echte und fiktive Zitate den Grad zwischen Fiktion und Realität ständig verschleiern.285 Dass Borges oder Cortázar auf Nachfragen hin manchmal mögliche realistische Bezüge erwähnten, aber betonten, dass diese Deutung nicht zwingend sei, fügt sich dem Vorhaben, das Schaffen von Bedeutung dem Leser zu überlassen. Dass Kagel sich in den Reigen dieser Autoren einfügt und den Hörern seiner Kompositionen eben die Aufgabe der Sinnzuschreibung zugedacht hat, ist bekannt.286

285 Vgl. Andrea Pagni, »Macedonio Fernández o la escritura del lector«, in: WentzlaffEggebert (Hg.), Europäische Avantgarde im lateinamerikanischen Kontext, S. 201212. 286 Vgl. Reich, »Der Hörer als Komponist«, S. 32.

Komponieren in Buenos Aires

Während Kagels Verbindungen zum Film und zu Literaten vor allem in seinen Werken ab den sechziger Jahren Spuren hinterließen, sind die ersten, noch in Buenos Aires entstandenen Kompositionen eher streng der Zwölftontechnik verpflichtet. Dass er sie wie im Falle der Variaciones para cuarteto mixto und des Sexteto (de cuerdas) nur nach umfassender Revision veröffentlichte, deutet darauf hin, dass er sie teilweise als Übungen und Vorstudien zu seinem späteren Schaffen ansah. Die beendeten und noch in Buenos Aires aufgeführten kagelschen Frühwerke entstanden im Umkreis der Agrupación Nueva Música. Mit welchen kompositorischen Fragestellungen sich deren Leiter Juan Carlos Paz sowie die jüngeren Weggefährten Michael Gielen und Francisco Kröpfl in jenen Jahren auseinandersetzten und wie sich ihr Umgang mit der Zwölftontechnik gestaltete, soll zunächst umrissen werden, bevor Kagels Kompositionen bis 1957 im Fokus der Analyse und Chronologie stehen.

J UAN C ARLOS P AZ Die Jahre 1934 bis 1950 hat Paz selbst als die Epoche dargestellt, in der er mit der Zwölftontechnik komponierte, von den Werken Schönbergs besonders viel lernte und Weberns Verfahrensweisen kurzzeitig die interne Struktur seiner eigenen Stücke beeinflussten. Außerdem interessierten ihn die wachsende Autonomie des Rhythmus und die Anordnung der Töne im Raum bei Webern.1 Kennen gelernt hatte Paz die Zwölftontechnik durch die Artikel von Egon Wellesz in La Revue Musicale 1926 und die Analyse von Schönbergs Bläserquintett op. 26, dessen Partitur bei Ricordi in Buenos Aires verkauft wurde.2 Durchbrochen wur-

1

Vgl. Paz, Memorias I, S. 155.

2

Vgl. Corrado, Vanguardias al Sur, S. 119.

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de die Phase um 1940, als sich Paz mit der rhythmischen Athematik in den Werken von Alois Hába und Slavko Osterc auseinandersetzte, ihre Stücke aufführte und seine Música para flauta, saxofón y piano op. 43 von 1943 auch Hába widmete.3 Seine ästhetischen Überzeugungen vertrat er öffentlich in Zeitungsartikeln und Vorträgen – in den Kriegsjahren oft in antifaschistischen Periodika – und schrieb dabei immer gleichzeitig gegen folkloristisches Komponieren an. Omar Corrado diskutiert demzufolge die These, dass die Technik der Abstraktion und Formalisierung mit Hilfe der Zwölftontechnik auch eine Möglichkeit gewesen sei, der emotionalen, unreflektierten Manipulation des Nationalismus in den Künsten Kalkulation, intellektuelle Ordnung und reflektierte Distanz entgegenzusetzen.4 Hinzu kamen öffentlich ausgetragene, teils auf persönlichen Konflikten beruhende Kontroversen mit Kollegen wie Juan José Castro und dem jungen Alberto Ginastera, die Paz zu einer streitbaren Figur machten.5 Hans-Joachim Koellreutter, der dessen künstlerische Position teilte, beschrieb Paz 1951 in seinem Darmstädter Vortrag über die »Neue Musik in Südamerika« als unverstandenes Genie, begründete die Außenseiterrolle allerdings einzig ästhetisch: »Die stärkste Persönlichkeit Neuer Musik in Lateinamerika ist jedoch der Argentinier Juan Carlos Paz. Paz ist ein Einsamer. Sein tiefes Wissen um die Zusammenhänge und die Problematik der lateinamerikanischen Musik auf der einen Seite und seine feste ästhetische Überzeugung und absolute, honeste Ernsthaftigkeit auf der anderen verurteilten ihn zu völliger Entfremdung. Die Kunst, sagt Juan Carlos Paz, ist mental und strebt nach Ewigkeit; die Leidenschaft und das Gefühl sind des Lebens Rohstoffe, welche dem künstlerischen Schaffen einzig und allein als Elementarkräfte dienen. Mit diesen Worten charakterisiert Paz selbst seine ästhetischen Prinzipien. Mit schonungsloser Konsequenz und konzessionsloser Selbstkritik entwickelt Paz die atonale Tonsprache seiner Musik. Seine letzten Werke Klaviermusik 1950 [sic] und Dedalus 1951 [sic] stellen wichtige Beiträge zur Entwicklung der Zwölftontechnik dar.«6

Durch seine enorm zahlreichen journalistischen Beiträge in verschiedensten Periodika verschaffte sich Paz dennoch Gehör, und er sammelte seine eigene Anhängerschaft in der ANM. 1950 war er bereits über 50 Jahre alt und auch ohne gesellschaftliche Reputation eine Autorität für junge Komponisten. Seine Kla-

3

Vgl. ebd., S. 115.

4

Vgl. ebd., S. 158.

5

Vgl. ebd., S. 157 f.

6

Koellreutter, »Neue Musik in Südamerika«, S. 175 f.

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vierkomposition Música 1946 op. 45 sowie die Kammermusik Dédalus 1950 op. 46 waren in der ANM Referenzpunkte, mit denen es sich auseinander zu setzen galt. Música 1946 hatte Paz noch 1945 begonnen und erst nach einer längeren Unterbrechung durch den Tod der Mutter 1946 fertiggestellt. Gielen führte sie 1949 zweimal in den Konzerten der ANM auf. Die laut Gielen »abstrakte, sehr trockene Musik, schwer zu lernen, endete mit einem Choral von komplexen Akkorden« und erreichte »einen Achtungserfolg«7 in Buenos Aires. So urteilte im Januar 1950 die keineswegs avantgardistische Musikzeitschrift Polifonía in einem Jahresrückblick auf 1949: »Obras de diversos géneros y categoría, han sido dadas a conocer durante el año pasado. De las primeras ejecuciones escuchadas, recordamos en primer término, el ›Cuarteto No. 1‹ de Ginastera; la ›Música 1946‹ para piano, de J. C. Paz y las ›Escenas Indoamericanas‹ para orquesta de Héctor Iglesias Villoud.«8

Die Nennung von Música 1946 neben nationalistischen bzw. folkloristischen Kompositionen ist überraschend, denn ihre zwölftönige Struktur mit starken Bezügen zu Schönbergs und Weberns Klavierwerken ist evident. Es handelt sich um Paz’ bedeutendstes Klavierstück – komplexer, von größerem Umfang und instrumentalem Anspruch als alle vorangehenden. Die Großform entstand durch den Wechsel verschiedener Abschnitte: Allegro-Teile, Kanonstrukturen in ruhigerem Tempo und getragene Choräle. Im Vergleich zu den Zwölftonwerken der dreißiger Jahre, in denen die Grundreihen noch von Terzen, Quarten und Quinten dominiert waren, wies die Reihe der Música 1946 weit mehr (kleine) Sekunden und Tritoni auf.9 Paz verwendete für die gesamte Komposition ausschließ-

7

Gielen, Unbedingt Musik, S. 61 f.

8

Alberto Emilio Gimenez, »La Producción Musical«, in: Polifonía 5 (1950), H. 36, S. 1: »Werke verschiedener Genre und Kategorie konnte man im vergangenen Jahr kennen lernen. Von den gehörten Erstaufführungen erinnern wir uns vor allem an das Quartett Nr. 1 von Ginastera, an Música 1946 für Klavier von J. C. Paz und die Indoamerikanischen Szenen für Orchester von Héctor Iglesias Villoud.«

9

Vgl. die Analysen in Jacobo Romano, »Juan Carlos Paz: Un revitalizador del lenguaje musical«, in: Revista Musical Chilena 20 (1966), H. 95, S. 26-42, besonders S. 31-35, und mit gleichem Wortlaut in Zulueta, La obra para piano de Juan Carlos Paz, besonders S. 50-54; Michelle Tabor, »Juan Carlos Paz: A Latin American Supporter of the International Avant-garde«, in: Latin American Music Review 9 (1988), H. 2, S. 207-232, besonders S. 212-220, sowie Corrado, Vanguardias al Sur, S. 159 ff.

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lich die Grundreihe und deren Krebs ohne Transpositionen und gruppierte die Töne: In den choralartigen Abschnitten ordnete er die Tonhöhen in Akkorden zu zwei, drei oder mehr Tönen in jeder Hand an, so dass vier bis sechs und vereinzelt sogar mehr eng benachbarte und an Dissonanz reiche gleichzeitig erklangen. Unter anderem im Choral auf der letzten Partiturseite (vgl. Abb. 3) zeigt sich, dass je drei Töne der Reihe feste Gruppen bilden, diese Zusammenklänge werden nur durch wechselnde Oktavlagen variiert. Neuartig sind der Wegfall der Taktstriche in den Fugato- und Choral-Teilen der Música 1946 und der insgesamt unregelmäßige, unvorhersehbare rhythmische Fluss. Henry Cowell attestierte der Komposition 1952 bisher unbekannte Strukturen, die ihn an Konzeptionen von Messiaen und Joseph Schillinger erinnerten, sowie eine hervorragende instrumentale Umsetzung: Außer Charles Ives Concord-Sonate sei ihm keine ähnlich gute Großform in Amerika bekannt gewesen.10 Im Bach-Jahr 1950 begann Paz die Komposition Dédalus 1950, deren grundlegendes Konzept der Kanon ist. In der gleichen Quintett-Besetzung wie Pierrot Lunaire erscheint sie zudem als Hommage an Schönberg. Die Großform ist vielteilig; dem dreiteiligen Thema (Exposition, Choral und Ostinato als vierstimmiger Kanon) folgen zehn Variationen, in denen der Cantus firmus verziert und variiert wird, eine Art Doppelfuge sowie andere kanonische Strukturen mit horizontalen und vertikalen Spiegelachsen erscheinen. Abschnitte der Zuordnung der Tonhöhen zu festen Oktavlagen und Klangfarben wechseln sich mit freieren Partien ab. Den Abschluss bildet ein Kanon mit Permutationen in Teilen der Tonhöhen- und Rhythmusreihen. Die zehn Variationen stellen vielfältige Bezüge über lange Distanzen her, wodurch eine stabile Architektur entsteht. In der Ausarbeitung und geometrischen Strukturierung der Grundreihe und deren gestenhaftem Verlauf durch alle Stimmen in der Exposition ist die Rezeption webernscher Werke erahnbar:11 Die Reihe besteht aus vier Gruppen mit je drei Tönen und den Pitch-class sets12 3-2 (dreimal) und 3-3 (einmal), die zweite Dreiergruppe ist KU der ersten. Zudem ist die Reihe mittig in zwei Gruppen mit dem Pitch-class set

10 Vgl. Brief von Cowell an Paz vom 4.9.1952, spanisch abgedruckt in Juan Carlos Paz, Alturas, tensiones, ataques, intensidades (Memorias III), Buenos Aires 1994, S. 70. 11 Vgl. Miguel A. Baquedano, »El pensamiento estructural de Juan Carlos Paz en las Tres invenciones a dos voces y Dédalus 1950«, in: Revista del Instituto Superior de Música U.N.L. (1993), H. 3, S. 67-93, besonders S. 78 ff. sowie Corrado, Vanguardias al Sur, S. 167. Ebd., S. 320 verortet Corrado Dédalus 1950 in der Linie »BachWebern«. 12 Nach Allen Forte, The Structure of Atonal Music, New Haven / London 1973, Liste der Primformen der Pitch-class sets, S. 179 ff.

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Abbildung 3: Paz, Música 1946, Choral am Schluss (Ausschnitt)

Juan Carlos Paz, Música 1946 © (Ricordi Americana), Buenos Aires 1955, S. 20

Abbildung 4: Paz, Dédalus 1950 für Flöte, Klarinette (klingend notiert), Violine, Violoncello und Klavier, C. Ostinato (ƈ = 108), Mittelteil

Juan Carlos Paz, Dédalus 1950 © (Ediciones Culturales Argentinas), Buenos Aires 1964, S. 8

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6-1 teilbar, wie es zum Beispiel bei Weberns Variationen op. 27 der Fall ist. Der wie in Música 1946 auch hier vorhandene (Klavier-)Choral kombiniert verschiedene Zweiergruppen dieser Reihe zu changierenden Vierklängen. Die Reihe wird im Ostinato zu 4, 3, 3 und 2 Sechzehnteln gruppiert, so dass die Tonhöhenstruktur aufgebrochen wird; der Rhythmus erscheint dann gekoppelt an die Tonhöhen und im Krebsgang, wenn diese rückwärts laufen (vgl. Abb. 4). In Dédalus 1950 nutzte Paz zum ersten Mal in seinem Schaffen alle vier Reihentypen (O, U, K, KU). In der Folge wird die Reihe darüber hinaus selbst variiert: Aus ihr leitete Paz für die dritte Variation ein Derivat ab, das weiter verändert wurde. Die Uraufführung von Dédalus 1950 fand vermutlich Ende des Jahres 1951 durch Koellreutter in Zürich statt;13 die argentinische Erstaufführung leitete Teodoro Fuchs am 13. Oktober 1952, zu der Kagel die Rezension in Buenos Aires Literaria verfasste (vgl. oben S. 118 ff.). Auch wenn Paz rückblickend angab, er habe sich schon 1950 von der Zwölftontechnik verabschiedet, sprechen seine Aufsätze über die Dodekaphonie bis Mitte der fünfziger Jahre eine andere Sprache. Nur durch seinen beständigen Einsatz konnte es dazu kommen, dass sich auch die jüngeren ANM-Mitglieder explizit als Zwölftöner in den Programmen präsentierten, wie Jorge D’Urbano 1953 formulierte: »Si el atonalismo y el posterior dodecafonismo son estilos que han dejado de constituir un misterio para los círculos musicales del país, eso se debe – en primer lugar – a la constancia, el convencimiento y la autoridad que Juan Carlos Paz ha desplegado durante los últimos veinte años para hacerlos conocer. Si en la actualidad hay compositores locales que se expresan siguiendo tales líneas, es a Juan Carlos Paz que ello se debe.«14

Paz setzte noch mit den 1955-56 entstandenen transformaciones canónicas op. 49 sein dodekaphonisches Komponieren teils unter Einbeziehung serieller Verfahrensweisen fort. Sie wurden als Auftragswerk der Amigos de la Música

13 Vgl. Corrado, Vanguardias al Sur, S. 176, ohne Angabe eines genauen Datums, von Rezensionen o. Ä. 14 Kritik vom 16.5.1953, Periodikum unbekannt, zitiert nach D’Urbano, Música en Buenos Aires, S. 47: »Wenn die Atonalität und die darauf folgende Zwölftontechnik Stile sind, die für die musikalischen Kreise des Landes kein Geheimnis mehr darstellen, so ist das vor allem der Beständigkeit, der Überzeugung und der Autorität zu verdanken, die Juan Carlos Paz in den letzten zwanzig Jahren entfaltet hat, um sie uns bekannt zu machen. Wenn es heute lokale Komponisten gibt, die sich gemäß dieser Leitlinien ausdrücken, ist es Juan Carlos Paz zu verdanken.«

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1956 fertig gestellt und erlebten am 27. Juni die Uraufführung.15 Andere Kompositionsprojekte verfolgte Paz nur in Ansätzen, stattdessen veröffentlichte er die Bücher La música en los Estados Unidos (1952), Introducción a la música de nuestro tiempo (1955) und Schoenberg o el fin de la era tonal (beendet 1949, erschienen 1958). Nach der Fertigstellung der Introducción a la música de nuestro tiempo begann er mit der Komposition der transformaciones canónicas auf der Basis einer Reihe, die sich aus Varianten der ersten drei Töne mit dem Pitchclass set 3-2 ableitete und insgesamt nur aus Sekunden und Tritoni bestand. Natürlich zeigt sich hier die Kenntnis von Weberns Konzert op. 24; Paz’ Wille, das Material und seine Entwicklung vollständig zu beherrschen, setzte sich nun aber in seriellem Vorgehen fort: Er leitete daraus 16 Strukturen von Tonhöhen ab und ordnete acht Dauern, 16 Rhythmen, acht Akzente, acht Lautstärkegrade und 16 Klangfarben in Reihen an.16 Wie in Dédalus 1950 sind Symmetrien und Spiegelungen strukturbildend, einzelne Parameter werden palindromartigen Prozessen unterworfen, während andere normal weiterverlaufen. Dafür variierte er das Tempo nicht mehr, das in Música 1946 und Dédalus 1950 die verschiedenen Abschnitte charakterisierte. Die Rationalität, mit der Paz seine Kompositionen um 1950 strukturierte, ist nicht nur als dem Material immanent zu interpretieren, sie kann auch als Schutz vor politischer Vereinnahmung gesehen werden.17 Die Kompositionen waren zwar von Außermusikalischem inspiriert – allein der Titel Dédalus 1950 erinnert an James Joyce’s Stephen Dedalus und kann als musikalisches Pendant zum Roman Ulysses gedacht werden: zum Schluss wandert die Reihe durch »alle vorstellbaren Schicksalsschläge«18 –, doch vertonte Paz weder Texte noch wollte er Assoziationen durch musikalische Zitate hervorrufen.

15 Vgl. Brief der Asociación Amigos de la Música an Paz vom 3.11.1955, teilweise transkribiert in Maranca, Cartas a J. C. Paz, S. 49 f. Die Uraufführung soll skandalös gewesen sein, vgl. Corrado, Vanguardias al Sur, S. 194 f. Den dort genannten Kritiken sei folgende hinzugefügt: Alberto Emilio Gimenez, »Crónica de Conciertos Sinfónicos«, in: Polifonía 11 (1956), H. 103-104, S. 18. 16 Vgl. Corrado, Vanguardias al Sur, S. 185 und 195 ff. 17 Dies tut Corrado, Vanguardias al Sur, S. 321. 18 Paz zitiert in Pola Suárez Urtubey, »Juan Carlos Paz o el desarraigo como herencia«, in: Lyra (1977), H. 234-236, o. S.: »todas las vicisitudes imaginables«. Gewiss steht der Werktitel für kunstvolle Arbeit, denn »Daidalos« ist in der griechischen Mythologie der Name des Architekten, der das Labyrinth für den Minotaurus baute. Die Minotaurus-Sage hatte in Buenos Aires kurz zuvor Julio Cortázar in Los Reyes [1949] neu interpretiert; möglicherweise beschäftigte sie auch Paz.

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M ICHAEL G IELEN Textvertonungen und ausdrückliche Zitate finden sich dagegen in den Jugendwerken von Michael Gielen, der mit 19 Jahren zu komponieren begann. Nach der ersten Sonate für Violine und Klavier 1946 – dem Jahr, in dem er auch zum ersten Mal als Pianist in der ANM auftrat – entstand laut Werkverzeichnis die Vertonung des Psalms 121 für Sopran, gemischten Chor, Klarinette, Fagott, Horn, Viola und Kontrabass. Klavier- und Theorieunterricht führten ihn allerdings selbst bei Erwin Leuchter kaum zu innovativen kompositorischen Methoden hin; im Gegenteil, Leuchter hielt ihn angeblich sogar von den neuesten Tendenzen ab und förderte nicht das Interesse des jungen Musikers.19 Rückblickend bereute Gielen, dass er dem Lehrer so sehr vertraute und nicht seinen eigenen Weg nahm. Dennoch – oder gerade deshalb? – konnte er sich über die ersten Uraufführungen freuen: Bei einem von der SHA im Saal der Straße Florida 659 organisierten Kammerkonzert mit Werken junger Komponisten interpretierten am 18. November 1948 Carlos Feller das Doppellied für Bass und Klavier nach Nietzsche unter dem Titel Der Einsame sowie Efraín Guigui, Ernesto Blum und Pedro Chiambaretta die Musik für Klarinette, Viola und Fagott (Einleitung, Invention, Passacaglia), die beide im selben Jahr entstanden waren.20 Besonders in der abschließenden Passacaglia der Musik zeigt sich deutlich, wie Gielen zwölftönige mit tonalen Abschnitten kombinierte: Das Fagott exponiert zunächst fortissimo die Zwölftonreihe von D (T. 37, vgl. Abb. 5), die rhythmisch identisch dann von Es und E wiederholt wird, während Klarinette und Viola ebenfalls fortissimo komplementäres Material dagegenstellen. Die vierte Variation ab F und piano (T. 40, nicht mehr in der Abb.) verläuft nach den ersten vier Reihentönen verändert weiter. Es bleibt das viertönige Motiv, das daraufhin original, in Umkehrung oder (etwas abgewandeltem) Krebs in allen Instrumenten durchgeführt wird (T. 41 ff.). Die gleichzeitig einsetzende Polymetrik wird bis zum Ende beibehalten; ab Takt 45 umrahmen allerdings beide Bläser mit der Reihe bzw. dem Vierton-Motiv die Viola, die den Choral »Es ist ein Ros’ entsprungen« spielt (vgl. Abb. 6).

19 Vgl. Fiebig, Michael Gielen, S. 103 und Gielen, Unbedingt Musik, S. 62. 20 Vgl. Dokumente im Nachlass Graetzer / UCA. Die Música para clarinete, viola y fagot war schon für das ANM-Konzert am 21.10.1948 geplant worden, aber wohl nicht erklungen, vgl. S. 107 Anm. 32. Dass Carlos Feller das Nietzsche-Lied 1948 uraufführte, berichtete auch Gielen, nannte aber andere Veranstalter: vgl. Gielen, Unbedingt Musik, S. 62 und 67.

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Abbildung 5: Gielen, Musik für Klarinette, Viola und Fagott, T. 37-39, Passacaglia, Od im Fagott

Michael Gielen, Musik für Klarinette, Viola und Fagott [1948] © (Litolff / Peters 8779), Frankfurt a. M. 1995, S. 4

Abbildung 6: Gielen, Musik für Klarinette, Viola und Fagott, T. 45-47

Michael Gielen, Musik für Klarinette, Viola und Fagott [1948] © (Litolff / Peters 8779), Frankfurt a. M. 1995, S. 5

Die größte Beachtung fanden die am 7. Oktober 1949 beendeten Variationen für Streichquartett. Sie wurden am 7. August 1950 im 68. Konzert der ANM uraufgeführt und am 30. Oktober im 70. Konzert nochmals wiederholt. Die 1997 bei der Universal Edition erschienene Partitur nennt Erwin Leuchter und Veronica Kleiber als Widmungsträger. Gielen verriet, dass darin seine »Alban BergBegeisterung […] Ausdruck im integrierten Zitat des Aufschreis der Marie aus

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Abbildung 7: Gielen, Variationen für Streichquartett, voranstehendes Motto

Michael Gielen, Variationen für Streichquartett [1949] © (UE 31125), Wien 1997, o. S.

Wozzeck ›Heiland, ich möchte dir die Füße salben‹«21 fand. Die Oper wurde in Buenos Aires erst 1952 aufgeführt, als Gielen bereits wieder in Europa war, jedoch kursierte die Partitur in Musikerkreisen. Das Zitat platzierte Gielen – wie schon den Choral in der Musik von 1948 – am Ende der Komposition und markierte es ausdrücklich (T. 183 im Vc., T. 189 Va.), im Manuskript sogar mit dem ausführlichen Text. Der Partitur stehen drei Vierklänge voran (vgl. Abb. 7), die gleichzeitig die eröffnenden Akkorde und in den Registern gespiegelt (Vc. in Vl. 1, Va. in Vl. 2 und umgekehrt) die Akkorde vier bis sechs bilden. Die dann von der Viola exponierte Reihe ergibt sich aus dem sukzessiven Spiel der drei ersten Töne von Violine 1, Cello, Viola und Violine 2 bzw. den ersten sechs Tönen von Violine 1 und Viola (vgl. Abb. 8). Seiner Autobiografie zufolge wollte Michael Gielen danach ursprünglich zu seinem Onkel Eduard Steuermann nach New York, um bei ihm Komposition zu studieren. Da er allerdings in einer Studentenorganisation aktiv gewesen war und diese des Kommunismus verdächtigt wurde, erhielt er von den USA kein Visum. Stattdessen folgte er 1950 seinem Vater nach Wien, wo er seine Kapellmeisterkarriere sehr schnell voranbrachte. Buenos Aires Musical berichtete im Dezember 1953 von seinen großen Dirigiererfolgen an der Wiener Staatsoper und wies besonders darauf hin, dass er seine Aktivität nun auch in Italien begänne, und zwar mit fünf Aufführungen des Pierrot Lunaire, von denen zwei im Fernsehen übertragen würden.22 Seine kompositorische Tätigkeit trat dadurch in den Hintergrund. Nach Buenos Aires, in dessen musikalischen Kreisen man ihn weniger als Dirigent denn als Pianist und Komponist in bester Erinnerung behielt,23 kehrte Gielen 1956 sowohl als Tonsetzer als auch Interpret zurück: Seine Música 1954 über einen Text aus Paul Claudels Le soulier de Satin für Bariton, Posaune, Klavier, Streicher und Pauken war im Kompositionswettbewerb der Amigos de la

21 Gielen, Unbedingt Musik, S. 62. 22 Vgl. BAM 8 (1953), H. 133, S. 8. 23 Vgl. die Formulierungen ebd.

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Abbildung 8: Gielen, Variationen für Streichquartett, T. 1-5

Michael Gielen, Variationen für Streichquartett [1949] © (UE 31125), Wien 1997, S. 1

Música prämiert worden. Für die Uraufführung am 12. September 195624 reiste Gielen selbst an und dirigierte neben seinem Werk Musik von Thomas Stoltzer, Bergs Violinkonzert und Mozarts Sinfonie A-Dur KV 201. Ernesto Epstein widmete Música 1954 einen längeren, teilweise analytischen Abschnitt im Programmheft. Demnach folge die Komposition wie alle Werke Gielens zwar der Zwölftontechnik, orientiere sich aber stark an klassischen Normen, in die freiere Abschnitte integriert seien. Rezitative schließen eine Sonatenform ein: Dem ersten liedhaften Thema (Allegro T. 46 ff.) folgt als zweites ein Spiegelkanon (T. 156 ff.); der abschließende Epilog (Adagio T. 212 ff.) greift auf Motive der Einleitung zurück. Statt einer traditionellen Durchführung schließen sich Episoden an, in denen sich die Struktur vereinfacht: Die erste Stelle (T. 240 ff.) für Klavier und Pauken ist von rhythmischen Variationen mit zahlreichen gespiegelten Verläufen geprägt, die zweite (T. 313 ff.) vom Thema des Spiegelkanons und die dritte vom Allegro-Thema. Im dann folgenden zweiten Rezitativ singt und deklamiert der Bariton Claudels Worte, während das musikalische Material weitgehend dem ersten Rezitativ entspricht. Wie »ein Elfenbeinturm in der ihn umgebenden gequälten Welt«25 hebe sich dieser Teil von den anderen ab.

24 Vgl. Ankündigung in einer Anzeige in Polifonía 11 (1956), H. 103-104, S. 2. 25 Ernesto Epstein im Programmhefttext zum 9. Konzert der 10. Saison der Asociación Amigos de la Música im Nachlass Spiller / UCA: »una torre de marfil dentro del atormentado mundo circundante«.

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Abbildung 9: Gielen, Música 1954, T. 216-221

Michael Gielen, Música per archi, pianoforte, baritono, trombone e timpani [1954] © (UE 12518), Wien u. a. 1958, S. 24

Zur Textauswahl berichtete Gielen in seinen Memoiren, Claudels Le soulier de Satin sei von seinem Vater im Wiener Burgtheater inszeniert worden und er habe es gelesen: »Die Verse, in denen der ›Mond‹ dort am Ende des ›Zweiten Tages‹ Doña Proeza vom Schicksal ihres Geliebten, Don Rodrigos, erzählt, bezog ich

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natürlich auf mich.«26 Der Reprise mit Materialien des Allegros (T. 419 ff.) folgt ein zweiter Epilog, in dem die Posaune jene zwölftönige Melodie vorträgt (T. 518 ff.), die im ersten Adagio von den Violinen und Violen unisono im Original und Krebs erklungen war (T. 216–225, vgl. Abb. 9). Diese ist stärker strukturiert als Gielens frühere Reihen: Die Töne des bis ges aufwärts bilden den ersten Hexachord, g bis c aufwärts den zweiten. Bildet man Dreiergruppen, so sind die Töne 7 bis 9 die Umkehrung der Töne 4 bis 6 (pc set 3-2), 10 bis 12 und 1 bis 3 haben das gleiche Pitch-class set 3-3. Auch das erste Bariton-Solo im zweiten Rezitativ basiert zunächst auf dieser Reihe und erklingt dann nochmals vollständig als Oa. Eine Tritonustransposition (Oas) findet sich zu Beginn des abschließenden dritten Rezitativs (mit Vertauschung der Reihentöne 6 und 7), das dem ersten Rezitativ im Krebsgang entspricht. In Struktur und Umgang mit der Grundreihe – nicht aber im formalen Aufbau seiner Komposition – zeigt sich auch Gielens Webern-Rezeption Anfang der fünfziger Jahre in Europa, die mit den Entwicklungen nach den Darmstädter Ereignissen 1953 einherging. Anhand der Werke von Paz konnte bereits gezeigt werden, dass die Reihenkonstruktion in Buenos Aires ebenfalls zwischen 1950 und 1955 stärkere Beachtung fand; bei Francisco Kröpfl sind an den Jugendwerken die Schritte zur strengen Konstruktion noch detaillierter zu verfolgen.

F RANCISCO K RÖPFL Kröpfl, wie Kagel 1931 geboren, spielte im November 1947 zum ersten Mal als Interpret mit Mitgliedern der ANM. 27 Etwa zur gleichen Zeit begann er auch, Unterricht bei Paz zu nehmen,28 der ihn in Harmonielehre und Kontrapunkt unterrichtete. Bereits 1949 entstanden kleine Kompositionen für Klavier, die ersten aufgeführten Werke stammen aber erst aus dem Jahr 1952. Die Música para flauta y clarinete trägt die Kennzeichnung »IV.52« und ging aus Kompositionsaufgaben von Paz hervor, dem Kröpfl sein Stück auch widmete. Die drei nicht zwölftönig konzipierten Sätze wurden im ANM-Konzert am 3. Oktober 1952

26 Gielen, Unbedingt Musik, S. 65. 27 Vgl. oben S. 104 f. Kröpfl kam nicht erst 1950 zur ANM, wie Susana Salgado angibt: vgl. Salgado, »Kroepfl, Francisco«, S. 919. Er wurde 1956 auch nicht zum Leiter der ANM, wie sie schreibt, sondern vertrat Paz nur während dessen längerer Krankheit. 28 Vgl. Interview mit Kröpfl in King, El Di Tella, S. 284-288, hier S. 284. Vgl. auch Schwartz-Kates, »Kröpfl, Francisco«, Sp. 757: Der Unterricht bei Paz dauerte nur bis 1951.

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Abbildung 10: Kröpfl, Música para flauta y clarinete, 3. Satz

Manuskript Privatbesitz Francisco Kröpfl

uraufgeführt. Im ersten Satz »Espressivo« exponiert die Flöte ein Thema mit den Anfangstönen c1 es1 d1 des1 (pc set 4-1), das die Klarinette ab Takt 10 in der Umkehrung von a1 bringt und das dann variiert wird. Der zweite Satz ist ein Thema mit acht Variationen und Coda, die auch rhythmisch komplexere Züge tragen als der erste Satz. Das abschließende Allegro beginnt in der Flöte mit einem chromatischen Thema in weiter Lage, das die Klarinette sofort in enger Lage übernimmt: g1 gis1 ais1 a1 d1 cis1 usw. Auch hier begegnet uns in den ersten vier Tönen das Pitch-class set 4-1. Das »Espressivo«-Thema der Flöte kehrt zudem in Ziffer 4 neben dem Allegro-Thema der Klarinette (von f1) wieder (vgl. Abb. 10). Ebenfalls 1952 entstanden cuatro canciones de Aldo Maranca für Stimme, Flöte und Klarinette in enger Zusammenarbeit mit dem Dichter, der der ältere Bruder von Kröpfls späterer Frau und der langjährigen Präsidentin der ANM Lucía Maranca war. Der Komposition liegt eine zwölftönige Reihe bestehend aus zwei Hexachorden mit dem Pitch-class set 6-5 bzw. drei Viertongruppen mit den Pitch-class sets 4-7, 4-1 und 4-7 zugrunde – der mittlere Tetrachord entspricht der Intervall-Folge, mit der das Klarinettenthema im dritten Satz der Música para flauta y clarinete beginnt. Für das letzte Lied leitete Kröpfl durch Vertauschung der Töne eine neue Reihe ab, die er wiederum in Tetrachorde unterteilte (vgl. Abb. 11 mit den darauf angegebenen Reihen); erneut hat der mittlere das Pitch-class set 4-1. Kröpfl ordnete den entstandenen Vierergruppen die Buchstaben a, b und c zu, die dann als musikalische Bausteine der Komposition im vierten Satz dienten: Statt nach den Regeln der Dodekaphonie setzt Kröpfl

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die Töne von a in beliebiger Reihenfolge und in verschiedenen Oktavlagen und wiederholt sie über vier Takte in der Flöte, die Klarinette setzt mit Block b fort, die Stimme mit c usw.

Abbildung 11: Kröpfl, cuatro canciones de Aldo Maranca, IV

Manuskript Privatbesitz Francisco Kröpfl, Eintragungen im Original unten rechts Grundreihe, unten links Derivat der Reihe für das 4. Lied

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Die Variaciones 1953 für Klavier arbeitete Kröpfl später zu einem Quartett für Klarinette, Trompete, Viola und Klavier um, über das Kagel in seinem Text über die junge argentinische Generation in Webern-Nachfolge schrieb: »Um die Werke Weberns begreifen, verarbeiten und gar übertreffen zu können, muss ein junger Komponist Reife und Mut besitzen. In den ›Dazzling diamonds‹ – wie Strawinsky die webernschen Werke nannte – zu verbleiben, wäre fast, als könnte man der oralen Phase nicht entrinnen. Aber es wäre doch wünschenswert, dass alle jungen Komponisten ihren ersten Kontakt mit der zeitgenössischen Musik durch die Werke Weberns aufnehmen könnten. Francisco Kröpfl hat diesen Kontakt gefunden und er versucht, seine Werke zu schreiben, indem er die Musik von Webern weiterführt. In seinem ›Quartett für Klarinette, Trompete, Geige [sic!] und Klavier‹ behauptet der junge Künstler bereits eine eigene Sprache erlangt zu haben, durch die er seine Ideen über die Zusammenfassung von Rhythmus und Dynamik in einer Form auszudrücken vermag. Das Werk besteht aus 2 Teilen, die in ein Ganzes vereint sind. Kröpfl sagt: ›Die Schöpfung eines thematischen Kernes und die Betonung der Rhythmik ergeben die Zelle, die das ganze Werk erzeugt. Eine Reihe von 12 Tönen ist mit diesem Kern verbunden und die Struktur meines Quartetts ist eine Vergrösserung der veränderten Ursprungszelle‹. Kröpfl glaubt, dass die Komposition sich so eng wie möglich an die ursprüngliche Intuition anpassen muss.«29

Bereits die »Reihe von 12 Tönen« weist eine symmetrische Konstruktion auf: Sie kann in vier Dreiergruppen mit den Pitch-class sets 3-4 geteilt werden, der zweite Hexachord ist zudem Krebs des ersten, um eine kleine Terz nach unten versetzt.

Gleich in der ersten Akkolade erscheint nach der Exposition der Reihe mit einem Rhythmus deren Umkehrung Udis mit dem rhythmischen Krebs. Jedes weitere System bringt eine Variation der Reihe (Kes, Ufis, KUfis etc.) mit einem neuen Rhythmus, der ab der Mitte der Akkolade im Krebs mit einer neuen Reihe (KUdis, Oges, Kges etc.) zurückläuft (vgl. Abb. 12). Auffällig ist hier auch, dass Dynamik und Artikulation ab der Mitte rückwärts verlaufen und diese Art der Spiegelung zur Grundlage der gesamten Komposition wird.

29 Kagel, Musik in der jungen argentinischen Generation, S. 8 f. Kagel bewahrte Aufnahmen der Klavier- (PSS MK Band 166 / MK TS 1000, digitalisiert: MK CD 170 Track 2) und der Quartett-Version (PSS LPS 3 A / CD 326, Track 2) auf.

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Abbildung 12: Kröpfl, Variaciones 1953 für Klavier, erste und zweite Akkolade

Manuskript Privatbesitz Francisco Kröpfl, Eintragungen im Original

Nach dem Zusammentreffen mit Boulez 1954 wandte sich Kröpfl dem Serialismus zu, der in den interpolaciones für Klavier (1955, »a Gorge [sic] Grisetti«) analysiert werden könnte, was hier jedoch zu weit führen würde. Zudem übersetzte er im Jahr 1958 die erste Ausgabe von Die Reihe ins Spanische und wurde gleichzeitig zum Vorreiter der elektronischen Musik in Buenos Aires: Er gründete 1958 das Estudio de Fonología Musical an der Universität, das in der Architektur-Fakultät angesiedelt wurde;30 1967-71 leitete Kröpfl das Elektronische Laboratorium im Centro Latinoamericano de Altos Estudios Musicales (CLAEM), das zum Instituto Di Tella gehörte. Mit diesen technischen Möglichkeiten produzierte er 1960 auch elektronische Filmmusik zu Dimensión von Aldo L. Persano,31 einem früheren Aktivisten von Gente de Cine und Bekannten Kagels.

30 Vgl. Interview mit Kröpfl in King, El Di Tella, S. 284. 31 Vgl. Mahieu, Historia del cortometraje argentino, S. 32 f.

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Die Nähe der Werke von Paz, Gielen und Kröpfl zeigt sich zunächst oberflächlich an dem wiederkehrenden, sachlichen Werktitel »Música«. Auf kompositorischer Ebene finden sich das in der Natur der Dodekaphonie liegende Prinzip der Variation, eine zunehmende Binnenstrukturierung der zugrunde liegenden Zwölftonreihen und deren kanonische Verarbeitung unter Einbeziehung des Rhythmus. Choral- und Ostinatoformen bei Paz, die Einbeziehung von Zitaten bei Gielen und die Spiegelung anderer Parameter als Tonhöhe und Rhythmus wie bei Kröpfl begegnen uns in Kagels Werken derselben Zeit wieder. Seine Kompositionen werden im Folgenden eingehender analysiert, wozu Handschriften aus verschiedenen Arbeitsphasen (Skizzen, Aufführungsmaterialien usw.), Abschriften und gedruckte Partituren verglichen werden konnten.

M AURICIO K AGEL Kagels Werkkatalog beginnt üblicherweise mit einem Chorstück namens Palimpsestos von 1950, dem Federico García Lorcas Poeta en Nueva York und dessen verschiedene Fassungen zugrunde liegen sollen. Laut Schnebel gestaltete der 18-jährige Komponist die ausgewählten Fragmente, indem »er die Worte weit auseinanderzog. Solche deformierten Sprachverläufe ließ er in Überlagerung gleichzeitig ablaufen. Wie in Palimpsesten mehrere Schichten von Beschriftung übereinanderliegen, ohne daß auch nur eine davon so recht lesbar wäre, so ist es hier mit den Texten. Die Polyphonie selbständiger Sprachverläufe ermöglicht Mehrschichtigkeit von Sprache selbst. Die Texte stören einander, gehen aber auch unverhoffte Verbindungen ein, und das Ganze läßt einen neuen Verlauf entstehen.«32

Schnebel schloss, ähnliche Kompositionsmethoden greife der Komponist in Anagrama wieder auf. Im Nachlass ist kein Manuskript von Palimpsestos erhalten. Das Buch mit Lorcas Gedichten, das 1940 in Mexico erschien, bewahrte Kagel zwar auf, aber es gibt darin keinerlei Anhaltspunkte für seine eigene Bearbeitung.33 Zweifelhaft erscheint auch Kagels Antwort auf die Frage, warum Palimpsestos noch nie aufgeführt wurde: Er habe in den sechziger Jahren zwar

32 Schnebel, Mauricio Kagel, S. 9. 33 Federico García Lorca, Poeta en Nueva York, Mexico 1940 (dem IAI Berlin geschenkt [Signatur A 10 / 1997], mit Inschrift »Mauricio R Kagel 1947«). Von den vier originalen Zeichnungen enthält das Buch nur noch zwei, die anderen scheinen herausgeschnitten worden zu sein. Andere Markierungen o. Ä. gibt es nicht.

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mit einer Sängerin geprobt, da diese dem Spanischen jedoch nicht mächtig gewesen sei, habe er sich »ziemlich gequält«34 und eine Aufführung sei nicht zustande gekommen. Offenbar verwechselte er bei dieser Aussage das Chorwerk mit seinen Cinco canciones del Génesis. Palimpsestos bleibt nicht nur – wie Kagel 1964 in einem seiner ersten Werkkataloge angab – »Nicht aufgeführt. Unveröffentlicht.«35, sondern auch verschollen. Das einzige auf Lorca verweisende Dokument im Nachlass ist eine Skizze und begonnene Reinschrift in Tinte für vier Stimmen von 1953 über das Gedicht »Asesinato« aus Poeta en Nueva York mit den Worten: »¿Cómo fué? – Una grieta en la mejilla. ¡Eso es todo! Una uña que aprieta el tallo. Un alfiler que bucea hasta encontrar las raicillas del grito. Y el mar deja de moverse.«36 Hier bricht die Reinschrift ab, obwohl das Gedicht noch weitergeht, Kagel sich den weiteren Text auch mit Bleistift notierte und zwei weitere Takte skizzierte. Offenbar hatte er vor, die Vorlage wortgetreu und vollständig in Musik zu setzen; »Asesinato« ist eines der kürzesten Gedichte in Poeta en Nueva York und gehört nicht zu denjenigen, von denen mehrere Varianten in der Erstausgabe abgedruckt wurden. Von einem Palimpsest kann also weder bei der Vorlage noch bei der Komposition gesprochen werden. Das Fragment entspricht lediglich der Aussage Kagels, eine seiner ersten Kompositionen – aber 1953 eben nicht die erste – sei ein Gedicht von Lorca gewesen.37 In Anbetracht der Diskurse um Kagels Spiel mit dem Apokryphen darf an dieser Stelle gefragt werden, ob ein Werk namens Palimpsestos jemals existierte. Warum erscheint es weder in dem Werkverzeichnis, das er 1956 an Curt Lange sandte – dort nannte er zwei (!) Gedichte nach Lorca –, noch in einer der ersten deutschen Kurzbiografien über Kagel im September 1958?38 Der Titel des Stücks – unabhängig von der tatsächlichen musikalischen Realisation – ist mit Klüppelholz jedoch als »programmatisch für das Folgende«39 bezeichnet wor-

34 Kagel, Dialoge, Monologe, S. 34. 35 Vgl. Biografie, Werkverzeichnis usw. in Collage (1964), H. 3 / 4, S. 43. 36 Lorca, Poeta en Nueva York, S. 63, dt. von Enrique Beck in Federico García Lorca, Poeta en Nueva York – Dichter in New York, Frankfurt a. M. 1963, S. 45: »Wie ist es zugegangen? – Ein Ritz auf der Backe. Nichts weiter! Ein Dorn, der in den Stiel drückt. Eine Nadel, welche taucht, bis sie des Schreies kleine Wurzeln findet. Und das Meer hört auf, sich zu bewegen.« 37 Vgl. Kagel / Schöning, »Die Filmkompositionen«, in: DVD ars acustica – ars intermedia. 38 Vgl. Brief von Kagel an Lange vom 3.9.1956, S. 4 (ACL / vgl. Anhang S. 310) und Programm zum Konzert »Musik der Zeit« beim WDR am 19.9.1958 (Historisches Archiv des WDR, Signatur 11617). 39 Klüppelholz in Kruse, Lese-Welten, S. 92.

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den: die Überlagerung von Bedeutungsschichten, mehrdeutige Kompositionen und deren wiederholte Überarbeitung im Œuvre Kagels. Gerhard R. Koch bezeichnete Palimpsestos denn auch als »symbolisch für [Kagels] gesamtes zweidimensional labyrinthisches Denken wie Werk«.40 Palimpsestos könnte in diesem Sinne als programmatische Überschrift des Werkkatalogs beibehalten werden, die Existenz der gleichnamigen Komposition ist in Zweifel zu ziehen. Zu anderen frühen Stücken ist bei Schnebel weiter zu lesen: »1950-52 komponierte Kagel ›Dos piezas‹ para orquesta und ›Variaciones‹ para cuarteto mixto (Flöte, Klarinette, Geige und Violoncello) – sein erstes in Zwölftontechnik geschriebenes Werk. 1953 entstand die Urfassung des Sexteto de cuerdas, das eigentliche Opus 1 von Kagel, mit dessen revidierter Version er 1957 in Europa die ersten Erfolge errang. In der gleichen Zeit begann der Komponist mit elektronischen Experimenten: er arbeitete mit aufgenommenen Klängen, so daß er diese Kompositionsversuche später, als die Informationen aus Europa eintrafen, als musique concrète bezeichnen mußte.«41

Die beiden genannten Orchesterstücke sind offenbar in die Música para una torre 1953 / 54 eingegangen und stehen somit in engem Zusammenhang zu seinen Experimenten mit Tonaufnahmen. Mit Blick auf Koellreutters Ausführungen in der Zeitschrift Arte Madí 1952 (vgl. oben S. 127 f.) oder die Beiträge über Musique concrète in Buenos Aires Musical42 ist aber festzuhalten, dass Kagels elektroakustische Versuche nicht in einem »luftleeren Raum« stattfanden: Musique concrète war spätestens 1952 / 53 in Buenos Aires ein bekannter Begriff. Kagel berichtete Rebstock, dass er zunächst ein Drahtgerät und dann »etwas Wunderbares, französische Rohlinge Pyral, die man direkt aufnahm«43 besaß, mit denen er arbeitete. Die erhaltenen Pyral-Platten in Kagels Nachlass zeigen, dass im Jahr 1953 verstärkt Konzerte der ANM mitgeschnitten wurden, andernorts existieren auch vereinzelte Aufnahmen von 1952.44 Zu Kagels Lebzeiten blieben die Angaben zu den Experimenten mit Tonaufnahmen und dem audio-visuellen Projekt Música para una torre vage und differierten stark. Die erste Darstellung war 1964 in der Zeitschrift Collage zu lesen:

40 Gerhard R. Koch, »Der Kritiker und die Kritiker«, in: Jungheinrich, Aufgehobene Erschöpfung, S. 147-156, hier S. 155. 41 Schnebel, Mauricio Kagel, S. 9. 42 Vgl. BAM 7 (1953), H. 118, S. 1. 43 Interview am 9.3.2004 in Rebstock, Komposition zwischen Musik und Theater, S. 351. 44 Z. B. vom Hommage-Konzert für Schönberg im Oktober 1952, teilweise veröffentlicht als CD Raras partituras 8: Juan Carlos Paz, Buenos Aires 2011, epsa music 1358-02.

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»Die wesentlichen Resultate dieser Manipulation und sonstigen Deformationen des Klangstoffs werden in einer ›music out-of-doors‹ zusammengefasst (1954). Es wurde ein Stahlturm von 40 Metern Höhe errichtet (Feria de América, Mendoza), entworfen vom Architekten César Janello. Kagel schrieb die Regie für die Beleuchtung der 10 riesigen Tetraeder, die an dem Turm montiert waren. Der Beleuchtungsablauf erfolgte synchronasynchron mit der Musik, die durch 24 Lautsprechergruppen – in einem Kreis von 100 Metern Durchmesser – wiedergegeben wurde. Die Komposition – ›Música para la Torre‹ 1953 / 54 – entstand durch verschiedene Kombinationen von concreten Geräuschen und denaturierten Instrumentalklängen, die im Raum durch Lautstärke – und Klangbewegungen artikuliert wurden. Die Gesamtdauer des musikalischen Beleuchtungsspiels betrug etwa 4 Stunden.«45

Schnebel übernahm einen Teil dieser Formulierungen, gab andere (Anzahl der Tetraeder, Position der Lautsprecher) verändert wieder und illustrierte das Ganze mit einem Foto des Turms sowie einem Ausschnitt aus der Beleuchtungspartitur, den Kagel neu gezeichnet und mit einer deutschen Legende versehen hatte.46 In anderen Quellen ist etwas genauer von den musikalischen Kompositionen zu lesen: Rodolfo Arizaga benannte 1971 konkret vier Teile – »1) für Orchester 2) Schlagzeugstudie 3) Ostinato für Kammerensemble und 4) Studie konkreter Musik«47 –, und die in Mendoza ansässige Tageszeitung Los Andes, die über die von Januar bis April 1954 dauernde Ausstellung Feria de América regelmäßig berichtete, kündigte am 10. Februar 1954 an: »En las primeras horas de la noche de hoy será puesto en funcionamiento el sistema combinado de música y color de la torre alegórica de la Feria de América, muestra que funcionará de 19 a 1. Simultáneamente con las alternativas que presente la iluminación de los cubos se escucharán composiciones musicales compuestas especialmente para ese mecanismo. Esas composiciones han sido grabadas con la intervención de conjuntos de cuatro pianos, orquesta de instrumentos de viento y percusión y ruidos de maquinarias en actividad.«48

45 Collage (1964), H. 3 / 4, S. 42, Orthografie wie im Original. Die Angaben zu Biografie, Werkverzeichnis usw. könnten von Kagel selbst stammen, sie sind in Collage nicht von einem Autor unterzeichnet. 46 Vgl. Schnebel, Mauricio Kagel, S. 9 f. und 41, Abb. 1. 47 Arizaga, Enciclopedia de la música argentina, S. 188: »1) para orquesta 2) estudio para batería 3) ostinato para conjunto de cámara y 4) ensayo de música concreta«. 48 Los Andes 10.2.1954, S. 4: »In den ersten Abendstunden wird heute die Kombination aus Musik und Farbe des allegorischen Turms der Feria de América zum ersten Mal

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Gegenüber Lange gab Kagel 1956 an, er habe im Auftrag der Feria de América eine Komposition aus mehreren Teilen für Sinfonieorchester, Perkussionsensemble, Kammerensemble und Musique concrète geschrieben,49 was Arizagas Beschreibung sehr nahe kommt. Im Nachlass von César Jannello existiert ein ohne Datum aufgesetzter Vertrag zwischen der Feria de América und Kagel, aus dem hervorgeht, dass der Komponist mit der Schaffung und dem Dirigat von musikalischen Instrumentalkompositionen, der Aufnahme derselben auf Band und der Erstellung des Beleuchtungsplans bis zum 10. Januar 1954 beauftragt wurde. Im Gegenzug sollten ihm alle notwendigen Hilfsmittel zur Verfügung gestellt werden: Zugang zu einem Aufnahmestudio, 30 Plattenrohlinge sowie ein Tonbandaufnahmegerät. Alle sonstigen Kosten für einen Kopisten, die Miete des Studios, Musiker usw. mussten vom Ausstellungsleiter genehmigt werden und sollten in Summe 10.000 argentinische Pesos nicht übersteigen. Kagels Honorar (in dem Vertragsentwurf durchgestrichen) sollte ihm am 10. Januar 1954 gezahlt werden, zudem sollte er drei Flüge nach Mendoza erhalten.50 Materialien in Kagels Nachlass in der Paul Sacher Stiftung ist zu entnehmen, dass Kagel eine Beleuchtungspartitur und drei Kompositionen spätestens im Dezember konzipierte und ein Kopist Abschriften und Stimmenmaterial derselben erstellte. Darin finden sich alle Elemente, die in den erwähnten Beschreibungen der Turmmusik genannt wurden. Die große Beleuchtungspartitur (vgl. Abb. 13) ist eigentlich ein Verlaufsplan, in den mit grüner Tinte der zeitliche und musikalische Ablauf eingetragen und mit Bleistift Ergänzungen hinzugefügt wurden. Zu sehen sind neun verschiedene Abläufe mit jeweils fünf Zeilen und vier Spalten, als »circuitos« (= Runden, Sequenzen) bezeichnet und von eins bis neun durchnummeriert. Jeder »circuito« hat eine Dauer von ca. vier Minuten, mit den etwa einminütigen Unterbrechungen zwischen den Beleuchtungssequenzen ergibt sich eine Gesamtdauer von ca. 45 Minuten. Innerhalb eines »circuito« scheint jede Zeile die Beleuchtungsabfolge eines Kubus am Turm (bestehend aus zwei sich an der Spitze berührenden Pyramiden) darzustellen, in den Spalten

eingeschaltet und wird von 19 bis 1 Uhr laufen. Gleichzeitig mit den verschiedenen Beleuchtungsvarianten der Würfel wird man musikalische Kompositionen hören, die speziell für diesen Mechanismus komponiert wurden. Diese Kompositionen sind von Ensembles aus vier Klavieren, einem Orchester mit Blas- und Perkussionsinstrumenten und Geräuschen von laufenden Maschinen aufgenommen worden.« Zusammenfassung und teilweise Übersetzung dieser Quelle und der von Schnebel und Arizaga bei Rebstock, Komposition zwischen Musik und Theater, S. 57 ff. 49 Vgl. Brief von Kagel an Lange vom 3.9.1956, S. 4 (ACL / vgl. Anhang S. 310). 50 Vgl. den Vertrag, in Quiroga, Feria de América, S. 35.

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ergibt sich dann die gesamte Illumination des Turms pro Minute. Einzelne der neun »circuitos« korrespondieren miteinander: Die Zeilen 1, 2, 3, 4, 5 aus der ersten Runde verlaufen in der fünften in der Reihenfolge 5, 4, 3 rückwärts, 2, 1; ähnlich verhalten sich zweite und sechste Sequenz; die siebte ist ganz Krebsgang der dritten. »Circuito No. 4« ist in sich schon symmetrisch (5. Zeile ist Krebsgang der 1., 4. der 2. und die 3. ist ein Palindrom), in der achten wird er nochmals gespiegelt. Weiteren Skizzen ist zu entnehmen, dass diese korrespondierenden Sequenzen ursprünglich immer paarweise entworfen und erst am Ende neu sortiert wurden (aus 2. wurde 5., aus der 4. die 6. etc.).51 Allein die neunte bringt ganz neue Beleuchtungsabfolgen mit auffällig vielen dunklen Elementen. Jeweils drei »circuitos« ist ein »rollo« zugeordnet, der den zeitlichen Angaben zufolge ca. 15 Minuten Spielzeit fasste. Ob es sich dabei um Drahtrollen,52 Platten oder Tonbänder, wie der aufgefundene Vertragsentwurf nahelegt, als Tonträger handelte, bleibt Spekulation. Man könnte aus dieser Angabe aber schließen, dass die gesamte Musik tatsächlich zugespielt werden sollte. In der musikalischen Konzeption ist eine Zweiteilung zu erkennen: Dem ersten Teil mit Perkussion, Geräuschen und Maschinen-Musik steht der zweite mit Kammer- und Orchesterbesetzungen gegenüber. Die mittlere, fünfte Sequenz sollte mit Klavieren gestaltet werden, erweitert oder ersetzt durch Maschinengeräusche (Bleistiftnotiz). In der neunten Sequenz sah Kagel zwischen zwei Abschnitten für Flöte und Xylofon explizit eine »música para la torre« vor. Erhalten sind verschiedene Skizzen und Partituren, die der Turmmusik zugeordnet werden können. Eine mit grüner Tinte datierte fünfseitige Bleistiftskizze vom November 195053 ist das früheste Dokument, das auf die Orchesterstücke hinweist und – glaubt man der Datierung – entstand, kurz nachdem Kagel das erste Mal in der ANM aufgetreten war. Es handelt sich um ein Particell für ein gemischtes Ensemble mit Flöte, Klarinette, Fagott, Saxofon, Trompete, Posaune, Klavier, Violine und Violoncello, notiert auf zwei mit I und II nummerierten Doppelsystemen. Die erste Seite (vgl. Abb. 14) enthält zudem die Symbole für Haupt- und Nebenstimme, die Kagel hier wohl geübt hat. Die Musik findet sich wieder in Reinschriften mit der Bezeichnung »Feria No. 2«.54

51 Vgl. PSS SMK Mappe Música para una torre (Beleuchtungspartitur + Jannello). 52 Laut Schnebel, Mauricio Kagel, S. 9, hatten die Aufnahmegeräte »noch Drähte statt Bänder«. 53 PSS SMK Mappe Frühe Studien und Skizzen 2. Kladde [2 / 5]. Die Datierung in grüner Tinte findet sich nur auf der letzten der fünf Seiten Bleistiftmanuskript. 54 PSS SMK Mappe Feria No. 2 [Música para una torre / Teil 2, gemischtes Ensemble]. In PSS SMK Mappe Frühe Studien und Entwürfe 1. Dossier lose [3 / 5] existiert zu-

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Abbildung 13: Kagel, Música para una torre, Beleuchtungspartitur

Sammlung Mauricio Kagel, Paul Sacher Stiftung, Basel Mappe Música para una torre / Beleuchtungspartitur

dem eine Bleistiftpartitur, deren Flötenstimme weitgehend der Violine in Feria No. 2 entspricht. Einzelstimmen in grüner Tinte für Flöten, Trompeten und Pauken könnten mit den in der Beleuchtungspartitur angegebenen Duos im Zusammenhang stehen.

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Übersetzung der handschriftlichen Eintragungen in der Beleuchtungspartitur: Rolle 1, Sequenz 1 / Reine Perkussion (4’) / Unterbrechung 1’ Rolle 1, Sequenz 2 / Perkussion – Geräusch (4’) / Geräusch Stille [Bleistift:] Klang abschneiden und weiter laufen lassen / Unterbrechung 1’ Rolle 1, Sequenz 3 / Geräusch – Perkussion – Stille / schnelle Perkussion Rolle 2, Sequenz 4 / Schnelle Maschinen (4’22’’) / Unterbrechung 25’’ Aufpassen!! Rolle 2, Sequenz 5 / 4 Klaviere (4’) / 4 Klaviere Stille [Bleistift:] Maschinen Unterbrechung 1’ Rolle 2, Sequenz 6 / Reine Maschinen (4’30’’) nur die Musik bis zum Ende laufen lassen 15 Rolle 3, Sequenz 7 / Flöte und Trompeten (4’) / [Bleistift:] Stille – Flöte und Tromp. Unterbrechung 1’ Rolle 3, Sequenz 8 / Flöte und Trompeten (4’) / [Bleistift:] 2 Pausen / Unterbrechung 1’ Rolle 3, Sequenz 9 / Flöte und Xylophon / Musik für den Turm ohne Trompeten Flöte und Xylophon (4’30’’) bis zum Ende laufen lassen!!

Abbildung 14: Kagel, Skizze zu Feria No. 2 [Música para una torre, Teil 2, gemischtes Ensemble], 1. Seite von 5 (letzte Seite datiert 11 / 50)

Sammlung Mauricio Kagel, Paul Sacher Stiftung, Basel Mappe Frühe Studien und Skizzen 2. Kladde [2 / 5]

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Abbildung 15: Kagel, Skizze zu Música para una torre, datiert auf Juli 1951

Sammlung Mauricio Kagel, Paul Sacher Stiftung, Basel Mappe Frühe Studien und Entwürfe 1. Dossier lose [3 / 5]

Eine andere frühe Skizze ist auf Juli 1951 datiert (vgl. Abb. 15).55 In der untersten Notenzeile ist eine Reihe mit Dreiergruppen notiert, darüber das gesamte melodische und rhythmische Material, das sich später in einer Reinschrift ohne Titel wiederfindet.56 Schon in der Skizze sind zwei Stimmen im Violin- und zwei Stimmen im Bassschlüssel notiert. Außerdem ist erkenntlich, wie Kagel aus diesem Material die folgenden sieben 9 / 8-Takte der späteren Partitur generierte: Jede der vier Notenzeilen, hier als I, II, III und IV bezeichnet, besitzt eine feste Tonhöhen- / Tondauern-Zuordnung. Mit dem Zahlenquadrat in der rechten oberen Ecke legte Kagel fest, in welcher Reihenfolge diese Stimmen wiederkehren sollten. Die im mehrtaktigen vierstimmigen Manuskript (vgl. Abb. 16, T. 1-2 der Tintenabschrift) letztendlich oben notierte Stimme spielt zunächst I, dann IV, II

55 Ebd. 56 Vgl. PSS SMK Mappe [ohne Titel] [Música para una torre / Teil 3, Sextett bzw. Quartett]. Partiturreinschrift in Bleistift und Tinte, Stimmen in Tinte.

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Abbildung 16: Kagel, Música para una torre, Teil 3, Beginn der Tintenabschrift

Sammlung Mauricio Kagel, Paul Sacher Stiftung, Basel Mappe [ohne Titel] [Música para una torre / Teil 3, Sextett bzw. Quartett] Die Oktavlagen und Verläufe der Töne in Takt 2 erscheinen spiegelverkehrt zu T. 1, wenn eine waagerechte Spiegelachse zwischen beiden Akkoladen läge.

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und III, die unterste IV, I, III, II und die mittleren II, III, I, IV bzw. III, II, IV, I. Dies ergibt die Takte 1 bis 4 der Partitur, die folgenden Takte sind der Krebsgang dieser ersten: Takt 5 ist Takt 4 rückwärts, Takt 6 ist Takt 3 usw. Zu hören wäre demnach ein vierfaches Ostinato mit wechselnden Registern, das im zweiten Teil rückwärts verläuft. Es könnte das sein, was Arizaga als »3) Ostinato für Kammerensemble« bezeichnete. Da eine Bleistiftreinschrift aber auch die Angabe »Xilofón, Vib.« enthält, könnte es genauso gut als Schlagzeugstudie eingerichtet worden sein und nach Arizaga den zweiten Teil der Turmmusik bilden. Ein Spiel der vier Stimmen auf vier Klavieren ist natürlich ebenso vorstellbar und könnte auf die fünfte Sequenz der Beleuchtungspartitur verweisen. Während sich Paz in seinem Ostinato in Dédalus 1950 auf eine rhythmische Folge (4 + 3 + 3 + 2 Sechzehntel) und die damit verknüpfte Reihe sowie ihre Umkehrung beschränkte, die als vierstimmiger Kanon vorwärts und im Krebsgang durch alle Stimmen wanderten, potenzierte Kagel die Kanonstruktur: Nicht ein oder zwei, sondern vier Tonhöhen / -dauern-Zuordnungen verlaufen in wechselnden Oktavlagen und in der zweiten Hälfte komplett rückwärts. In den Skizzen ist auch eine Bleistiftpartitur für Flöte, Englischhorn, Trompete, Pauken, Becken und große Trommel sowie Xylofon vorhanden, von Kagel datiert auf 24.-28. Dezember 1953.57 Die Flötenstimme entspricht hier den Zeilen I, IV, II und III der Skizze vom Juli 1951 bzw. dem Verlauf der obersten Stimme der vierstimmigen Partitur; dem Xylofon ist das gleiche Material in anderer Lage und einen Takt versetzt zugeordnet, während Englischhorn und Trompete lediglich Haltetöne haben. Vielleicht wurden daraus einzelne Stimmen in den Sequenzen 7-9 der Turmmusik verwendet, da in der Beleuchtungspartitur Duos von Flöte und Trompete(n) bzw. Flöte und Xylofon angegeben sind. Hier hätten wir es mit einer Art kanonischem Ostinato für Kammerensemble – speziell mit Bläsern und Schlagzeug – zu tun. Eine weitere, von allen oben beschriebenen Notentexten abweichende Bleistiftpartitur mit dem Titel Música para una torre für Bläser, Schlagzeug und Kontrabässe wurde von Kagel mit den Angaben 1.-13. Dezember 1953 versehen. In Tinte kopiert wurde sie von Juan Paladino im Dezember 1953 in Mendoza.58

57 PSS SMK Mappe Frühe Studien und Entwürfe 1. Dossier lose [3 / 5]. Sie entspricht der Tintenreinschrift und den Stimmen in der Mappe Sextett 1953 (Bläser / Schlagzeug). 58 PSS SMK Mappe Música para una torre [Teil 1, Orchester]: Partitur für Piccoloflöte, zwei Flöten, zwei Oboen, Englischhorn, zwei Klarinetten in C, Bassklarinette, zwei Fagotte, Kontrafagott, vier Hörner, zwei Trompeten, zwei Posaunen, Tuba, Pauken, Militärtrommel, Becken, große Trommel, Xylofon und Kontrabass; das vorhandene Stimmenmaterial für Piccoloflöte, Oboen, Englischhorn, Klarinetten, Hörner, Trom-

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Die ausdrückliche Benennung und das vorhandene Stimmenmaterial sprechen dafür, dass es sich hierbei um das Stück handelt, das in der Mitte der neunten Sequenz gespielt werden sollte. Die kleinste rhythmische Einheit der 17 Takte sind Sechzehntel; besonders im Vergleich zum gerade beschriebenen Ostinato hat dieses Orchesterstück keine große rhythmische Komplexität. Die Skizzen enthalten auch dazu ein allerdings undatiertes Particell mit einer darüber notierten Reihe.59 Die von Kagel aufbewahrte Beleuchtungspartitur trägt mit den Bleistiftnotizen deutliche Züge einer Aufnahme- oder Verlaufspartitur und unterscheidet sich von derjenigen im Nachlass von Jannello60 in zahlreichen Details: Im Vergleich zu dieser wurden bei Kagel nicht nur Bleistifteintragungen und Achtungszeichen, sondern sogar die Música para una torre in der neunten Sequenz ergänzt. Ein Beitrag in der Zeitung La Acción vom 4. Mai 1954 – also nach der Ausstellung –, in dem die Partitur beschrieben wurde, scheint sich jedoch eher auf die bei Jannello erhaltene Fassung zu beziehen, denn darin ist von neun Kompositionen dodekaphoner Musik und klingenden Rhythmen von je vier Minuten Dauer zu lesen: die ersten vier für Perkussionsinstrumente und Maschinengeräusche, die fünfte für vier Klaviere, die sechste erneut für Maschinenklänge und die letzten drei für Blasinstrumente.61 Der ungenannte Autor las oder hörte also kein Orchesterstück, jedoch auch kein Xylofon in der neunten Sequenz. Vieles spricht dafür, dass es sich bei der Turmmusik eher um eine Beschallung des Turms von Band oder Schallplatte als um ein von Instrumentalisten live gespieltes Konzert handelte. Trotz der nun vorliegenden Partituren und Zeitungsberichte bleibt die Realisation der Turmmusik jedoch ein Rätsel. Wie wurden die drei Partiturentwürfe – Orchesterstück Música para una torre, das Kammerensemblestück ohne Schlagzeug (Feria No. 2) und das Ostinato in den verschiedenen Besetzungen (Schlagzeug oder Klavier oder gemischtes Sextett) – letztendlich aufgenommen und dem Ablauf eingepasst? Mit welchen Musikern arbeitete Kagel für die Aufnahmen? Konnte man den beschallten und beleuchteten Turm wirklich zum ersten Mal am 10. Februar 1954 hören und sehen? Lief die Installation von 45 Minuten dann mehrmals hintereinander ab, um vier oder sechs Stunden zu füllen? Und wohin gelangten die Tonträger? Kagel erzählte:

peten, Posaunen, Tuba, Pauken, Militärtrommel, Becken und große Trommel, Xylofon und zwei Kontrabässe wurde möglicherweise von einem anderen Kopisten erstellt. 59 Vgl. PSS SMK Mappe Frühe Studien und Entwürfe 1. Dossier lose [3 / 5]. 60 Vgl. Quiroga, Feria de América, S. 33 und Abb. derselben auf S. 119. 61 Vgl. ohne Autor, »Torre, Símbolo de la Feria«, in: La Acción 4.5.1954, zitiert in Quiroga, Feria de América, S. 31 Anm. 8.

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»Es gibt eine Einzelplatte, die leider nicht mehr abspielbar ist. Die Musik wurde damals direkt auf Vinyl-Rohlinge geritzt und ist heute praktisch unhörbar. Ich habe versucht eine Digital-Kopie zu machen, aber es ist mir nicht gelungen. Die damaligen Privatstudios waren gezwungen, auf das empfindliche Material sehr flache Rillen einzukerben. Daher durften die Platten nur wenige Male, mit federleichtem Tonabnehmer, abgespielt werden.«62

Diese Platte – es müsste eine von vielen sein – ist bisher ebenso verschollen wie mögliche Überspielungen auf Tonbänder, die für die Beschallung des Turms entstanden sein könnten. Folgt man Davies’ Angaben von 1968,63 so wurden die Aufnahmen im Studio »Ion, registros sonoros (estudios de grabaciones)« in Buenos Aires erstellt, in dem auch Kagels Klangexperimente zu Muertes de Buenos Aires stattgefunden haben sollen (vgl. oben S. 152). Variaciones para cuarteto mixto (1951 / 52, rev. 1991) Auch wenn die frühesten Skizzen für die erhaltenen Partituren der Turmmusik möglicherweise auf die Jahre 1950 und 1951 zurückgehen, ist sie erst Ende 1953 beendet worden. Die erste vollständig erhaltene und uraufgeführte Komposition ist daher Variaciones para cuarteto mixto, zu der in Form von Skizzen, verschiedenen Manuskripten und Aufführungsnachweisen der fünfziger Jahre sowie den Revisionsmaterialien von 1991 zahlreiche Quellen erhalten sind, die Kagels »erste Anwendung«64 der Zwölftontechnik belegen. Die ursprüngliche Besetzung mit Flöte, Klarinette, Violine und Violoncello bediente Interpreten, die in den ANM-Konzerten regelmäßig zur Verfügung standen; zudem ist ein Bezug zu Paz’ Quintett in Dédalus 1950 nicht ausgeschlossen: Ohne Klavier entspricht es Kagels gemischtem Quartett. Anlässlich der Uraufführung der revidierten Fassung in Amsterdam sagte Kagel am 6. September 1998 in einer Rede zum 60. Geburtstag von Reinbert de Leeuw, dem Leiter des Schönberg Ensembles: »[A]ls man mich bat, zu diesem Fest der Freunde eines gemeinsamen Freundes beizutragen, schlug ich spontan ein Stück vor, das Du mit Sicherheit nie gehört hast und das auch heute in Holland zum ersten Mal aufgeführt wird. Es handelt sich um meine ›Variaciones para cuarteto mixto‹, Variationen für gemischtes Quartett (Flöte, Klarinette, Violine und Violoncello) von … 1952 (!). Ein archäologischer Fund? Sicher ja, sozusagen etwas Vorgeschichtliches. Aber ich habe auch deshalb dieses Stück gewählt, weil es ein Dokument

62 Kagel / Köhler, »›Der Fleischwolf Gottes‹«, o. S. 63 Vgl. Davies, International electronic music catalog, S. 2. 64 Reich, »Mauricio Kagel«, S. 4.

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meiner Liebe zum Namensgeber Deines Ensembles ist. Nur die bewußte Akzeptanz seines Einflusses war für mich die Voraussetzung, um seine Ästhetik und die Technik der ›zwölf aufeinander bezogenen Töne‹ mit Würde zu überwinden. Schönberg lebte damals noch in mir, und ich versuchte trotzdem, mit Klangfiguren seiner Sprache etwas Neues zu schaffen. Aber mehr noch als dies. Es ging vor allem darum, mit allgegenwärtiger Empfindsamkeit sprechen zu lernen.«65

Dennoch entschloss sich der Komponist für die Drucklegung und Aufführung der Variationen in den neunziger Jahren zu einer ausführlichen Überarbeitung und aktualisierte das Stück in vielfacher Hinsicht: Was Jürg Stenzl als ungewöhnliche »dynamische und (in den Streichern) klangliche Vielfalt« 66 bereits im Thema bemerkte, wurde größtenteils erst für die Drucklegung bei der Edition Peters hinzugefügt. Beim Blick in das nun zugängliche Manuskript von 1952 findet man Flageolette nur ganz vereinzelt, Artikulation und Dynamik sind nicht einmal halb so differenziert angegeben, wie der Komponist sie fast vierzig Jahre später wünschen sollte. Erst 1991 arbeitete er zudem die Übergänge zwischen den Variationen aus, veränderte die Lagen besonders bei Doppelgriffen und formte die zweite, dritte, vierte und sechste Variation so grundlegend um, dass ihr ursprünglich transparentes dodekaphonisches Geflecht verschleiert wurde und in der gedruckten Partitur nur vereinzelt nachvollzogen werden kann. Über die ursprüngliche Fassung schrieb Kagel Ende der fünfziger Jahre: »Dieses Werk ist im Jahre 1952 entstanden und war meine erste dodekaphonische Komposition. Das Anfangsthema wird von der Geige eingeleitet und enthält alle rhythmischen Elemente, die in den nachfolgenden Variationen entwickelt werden. Die Tempi bezeichnen die Struktur, die aus 2 Teilen besteht. Das Tempi [sic] des einleitenden Themas verläuft in der ersten Variation und erscheint wieder in der 4. und 5., die im Verhältnis zueinander stehen und mit dem 1. Tempi verbunden sind. Auch die 2. und 6. Variation korrespondieren, sie sind mit dem 1. Tempi durch Addition und Substraktion verknüpft. In diesem Werk wollte ich die rhythmischen Zellen hervorheben, die fast eine thematische Zelle darstellen und ein Element bilden, das in den Veränderungen wahrnehmbar ist.«67

Das Tempo des Themas, der ersten, sowie der vierten und fünften Variation ist im ursprünglichen Manuskript Moderato (ƈ = 76), das der zweiten und sechsten

65 Kagel, Dialoge, Monologe, S. 88. 66 Stenzl, »Woher – wohin?«, S. 27. Stenzl analysierte den Reihenverlauf im Thema und der ersten Variation. Seine Erkenntnisse fließen in die folgenden Ausführungen ein. 67 Kagel, Musik in der jungen argentinischen Generation, S. 9.

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Allegro (ƈ = 80) und das der dritten bzw. siebten Adagio. Demzufolge kann man von einem ersten Teil Moderato (2x), Allegro und Adagio sprechen, der sich ab der vierten Variation in der Tempostruktur wiederholt. Diese Tempo-Konzeption erinnert an Paz’ Dédalus 1950, in dem wie in Música 1946 verschiedene Tempi die Abschnitte charakterisierten; sie geht in der Revision der Variaciones para cuarteto mixto durch die Setzung neuer Tempi verloren. Die zugrunde liegende Zwölftonreihe wird von (kleinen) Sekunden und Tritoni dominiert (vgl. Reihenübersicht S. 291). Teilt man sie in Vierergruppen, fällt auf, dass das Rahmenintervall jeweils der Tritonus ist und zwischen den Viertongruppen immer kleine Sekunden stehen. Im von Kagel erwähnten Geigenthema verbindet sich die Reihe mit folgendem Rhythmus (die Ziffern bezeichnen die Töne der Reihe Oh):

In fast identischer Tonhöhe- / -dauern-Kombination erscheint das Thema nochmals in der Flöte ab Takt 7 ff., allerdings mit verdoppelter Pausenlänge, sowie abschließend mit verdoppelten Notenwerten, aber wiederum Sechzehntel-Pausen im Cello (T. 12 ff.). Es ist im Anschluss in der ersten Variation strukturbildend und in Violine und Cello leicht zu verfolgen. Zu Beginn – im Thema und in der ersten Variation – verlaufen die originale Tonhöhen-Reihe, ihre Umkehrung und die Krebsformen linear mit nur geringen Abweichungen. Auffällig ist dabei, dass die Grundreihe gleich bei ihrem zweiten Erscheinen in Takt 4 ff., diesmal in der Klarinette, in der Reihenfolge 3 2 1 / 6 5 4 / 9 8 7 / 12 11 10 verläuft und einen weiteren, sehr differenzierten Rhythmus bringt, der noch im Verlauf des Themas als Kanon wiederkehrt (T. 11 ff. Vl. und Klar.).

Eine dritte rhythmische Folge findet sich in der Violine ab Takt 5, wiederholt in der Klarinette in Takt 9 und augmentiert ab Takt 13 in der Flöte. Sie tritt lediglich mit den Reihen Kh und Uh auf. Die erste Passage mit der Tonhöhenreihe in der Krebsumkehrung (Vl. ab T. 7, vgl. Abb. 17) weicht rhythmisch von den drei anderen Verläufen ab.

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Abbildung 17: Kagel, Variaciones para cuarteto mixto (1991 rev.), T. 7-12

Mauricio Kagel, Variationen für gemischtes Quartett / für Streichquartett [1951 / 52, rev. 1991] © (Litolff / Peters 8770a), Frankfurt a. M. 1997, S. 2; Einzeichnungen (markierte Rhythmen und Tonhöhenreihen) Christina Richter-Ibáñez

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Abbildung 18: Kagel, Variaciones para cuarteto mixto (1951 / 52), Var. II, T. 1-6

Sammlung Mauricio Kagel, Paul Sacher Stiftung, Basel Mappe Variaciones para cuarteto mixto [1 / 2], Einzeichnungen in der Violinstimme im Manuskript

Abbildung 19: Kagel, Variaciones para cuarteto mixto (1991 rev.), T. 37-42

Mauricio Kagel, Variationen für gemischtes Quartett / für Streichquartett [1951 / 52, rev. 1991] © (Litolff / Peters 8770a), Frankfurt a. M. 1997, S. 6 f.

In der revidierten Fassung beginnen ab der zweiten Variation deutliche Abweichungen von der eingeführten zwölftönigen Regelmäßigkeit – augenfällig schon mit der Cello-Stimme ab Takt 37, die keiner Reihe mehr zuzuordnen ist und die Kagel 1991 hinzugefügt hat (vgl. Abb. 18 / 19). Die Jugendfassung gibt sich transparenter: Die Grundreihe wandert hier einmal in (teilweise synkopierten) Achteln durch Flöte (Abb. 18, fehlendes Vorzeichen vor g3, vgl. mit Abb. 20), Violine und die transponiert notierte Klarinette. Danach wiederholt die Geige die Reihentöne 9 bis 12 in Sechzehnteln und bringt dann ab Takt 4 die ganze Reihe über fünf Takte linear. Währenddessen wiederholen Flöte und Klarinette »ihre«

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Teile der Reihe in verschiedenen Lagen: die Flöte die Töne h c gis d (1, 2, 5, 6 der Reihe; der letzte Ton in Abb. 18 scheint ein Übertragungsfehler zu sein, vgl. mit Abb. 20), die Klarinette fis e a b (9, 10, 11, 12). Dieser Zusammenhang verliert sich in der Revision allein dadurch, dass Kagel die Klarinettenstimme, die im Druck klingend notiert ist, nicht aus dem Manuskript, wo sie für B-Klarinette geschrieben war, transponiert hat – ein Verfahren, das er auch bei der vierten Variation anwendete. Ganz nebenbei wurden auch die Stimmen von Flöte und Geige getauscht. In den Skizzen findet sich weiterhin ein Blatt, auf dem zu Beginn der zweiten Variation den Tönen der (diesmal klingend notierten) Klarinette hebräische Worte aus dem dritten Vers des Psalms 130 (»De profundis«) in spanischer Umschrift unterlegt sind (vgl. Abb. 20). Darunter notierte Kagel das Geigenthema vom Beginn der Variationen ebenfalls in der Klarinette, umrahmt von Violine und Flöte, denen ein Teil dieser Psalmworte nun in lateinischer Übersetzung beigegeben wurden: »si iniquitates observaveris Domine«.68 Wegen der fehlenden Datierung ist die Einordnung dieser Skizze unklar; sie könnte einerseits wegen der korrekten Reihenverläufe (vgl. die Abweichungen in der Tintenabschrift Abb. 18), der noch nicht transponierten Klarinettenstimme und überhaupt fehlender Instrumentationsangaben ein frühes Stadium der Komposition dokumentieren, andererseits käme ein nachträgliches Spiel mit den Themen und die Einrichtung für Singstimmen in Frage. Gegen einen Satz für vier Stimmen stehen freilich die geforderten Umfänge, dafür die durchkreuzten Notenköpfe bei den Worten »adonai« und »observaveris«, die auf den Einsatz der Sprechstimme weisen – eine ähnliche Notation findet sich im Fragment »Asesinato« (1953) und in den Cinco canciones del Génesis (1954). Die hebräischen Worte überraschen insofern nicht, als Kagel in der jüdischen Gemeinschaft aufgewachsen und aktiv war. Was hat ihn aber zur Wahl dieses Psalmverses (»Wenn du, Herr, Sünden anrechnen willst – Herr, wer wird bestehen?«) und der lateinischen Übersetzung bewogen? Es gibt keine Hinweise von Kagel dazu, folgende Bezugspunkte bleiben lediglich Spekulation: Die Sendung und Einstudierung von Psalmvertonungen war 1952 in Buenos Aires besonders verbreitet, denn nach Eva Duarte s Tod am 26. Juli 1952 wurde im monopolisierten staatlichen Radio einen Monat lang nur geistliche Musik übertragen.69 Zur gleichen Zeit probte der SHA-Chor im August 1952 »Werke der klassischen

68 Vgl. PSS SMK Mappe Frühe Studien und Entwürfe 1. Dossier lose [3 / 5]. Ich danke Heidy Zimmermann für die Hilfe bei der Übersetzung und Zuordnung der Psalmworte. 69 Vgl. Goldar, Buenos Aires: vida cotidiana en la década del 50, S. 151.

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Abbildung 20: Kagel, Variaciones para cuarteto mixto, Skizze (Ausschnitt)

Sammlung Mauricio Kagel, Paul Sacher Stiftung, Basel Mappe Frühe Studien und Entwürfe 1. Dossier lose [3 / 5] oben Var. II mit hebräischen Worten, unten Thema mit lateinischen Worten

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Polyphonie (15. und 16. Jahrhundert)«70 – allerdings mit hebräischen Texten. Ob dort auch schon Kompositionen von Salomone Rossi einstudiert wurden, wissen wir nicht – erst 1955 widmete der Chor unter Kagels Leitung ein ganzes Konzert diesem Renaissance-Komponisten, dessen hebräische mehrstimmige Psalmvertonungen für den Gebrauch in der Synagoge bekannt sind. Oder wusste Kagel schon, dass Schönberg in einem seiner letzten Werke den 130. Psalm hebräisch vertont hatte, und war ihm dies Inspiration? Schönbergs op. 50b wurde jedoch erst 1953 bei Israeli Music Publications verlegt; in der Edition ist neben dem hebräischen Text auch die lateinische Übersetzung angegeben. Klare musikalische Bezüge zeigen sich nicht – lediglich diese Textzuschreibung könnte ein Zeugnis seiner »Liebe« zu Schönberg und der bewussten »Akzeptanz seines Einflusses« sein, von der er gegenüber Reinbert de Leeuw 1998 sprach. Der unterlegte Text könnte dann auch doppeldeutig und ironisch – nicht als Psalmvers, sondern als Anrede an Schönberg – interpretiert werden. Auf einem Skizzenblatt mit der dritten Variation notierte Kagel die originale Tonhöhenreihe und deren um eine Quint nach unten versetzte Transposition von e, wobei er die in beiden Reihen vorhandene Tonfolge c cis g gis markierte.71 Die dritte Variation exponiert Oe auch im Cello und repetiert die letzten drei Töne a, d und es dreimal in verschiedenen Lagen. Danach folgen sowohl Oh als auch Oe mit Umkehrungen und Krebsformen.72 In der ursprünglichen vierten Variation ist nur die Reihe Oh mit ihrer Umkehrung und den Krebsformen komplementär auf alle Stimmen verteilt. Die beiden Schlusstakte haben sich auch nahezu in der revidierten Partitur erhalten (T. 109 / 110), so dass man O h, Uh, KUh und Kh jeweils in Dreiergruppen erkennen kann: Das Cello spielt jeweils die ersten drei Reihentöne, die Klarinette die Töne vier bis sechs, die Violine die dritte Dreiergruppe und die Flöte die Töne zehn bis zwölf. Während in der revidierten fünften Variation noch die gespiegelten Anfangsund Schlusstakte erkennbar sind, ersetzte Kagel die sechste Variation komplett: 73

70 Teodoro Fuchs im Interview in der August-Ausgabe von S.H.A (1952), H. 352, S. 9: »obras de la polifonía clásica (siglos XV y XVI)«. 71 PSS SMK Mappe Frühe Studien und Entwürfe 1. Dossier lose [3 / 5], vgl. auch die Reihenübersicht unten S. 291. 72 Allerdings treten in der Tintenabschrift in allen Stimmen Töne auf, die die Regelmäßigkeit stören und nicht klar zuzuordnen sind. Ob sie intendiert oder auf Übertragungsfehler zurückzuführen sind, müsste ein Vergleich mit Bleistiftskizzen, die in mehreren Konvoluten vorhanden und noch nicht sortiert sind, klären. 73 Das erklärt auch Stenzls Verblüffung über die so freie Variation in der revidierten Partitur, vgl. Stenzl, »Woher – wohin?«, S. 27.

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Zu offensichtlich mag ihm in den neunziger Jahren das Spiegelverhältnis zum Thema erschienen sein. Liest man die ursprüngliche sechste Variation nämlich im Krebsgang, findet sich die komplette Geigenstimme vom Beginn (Tonhöhenreihe und Rhythmus) nun im Cello, die permutierte Reihe mit dem (allerdings leicht variierten) zweiten Rhythmus weiterhin in der Klarinette, die Flötenstimme wird von der Geige gespielt und die Flöte beginnt die Variation mit der ursprünglichen Cellostimme rückwärts. Erkennbar sind so doppelte Spiegelachsen: vertikal (Krebsgang der Tonhöhen und Rhythmen) und horizontal (Register). Die letzte Variation »Adagio, ma non troppo e molto espressivo« veränderte Kagel vor allem in den Lagen der Doppelgriffe, Artikulation und Ausdruck und fordert nach der Revision explizit »senza espressione«. Seine musikalische Auffassung hatte sich natürlich nicht erst in den neunziger Jahren gewandelt, sondern schon Ende der fünfziger Jahre stand er seinem Erstling kritisch gegenüber: »Kurz nach Beendung dieser Arbeit hat sich meine Auffassung über die Koherenz [sic] eines Musikstückes sehr verändert. Die Variationen für gemischtes Quartett sind in einer frühen Epoche entstanden mit den Vorsätzen, die zur Zeit der Komposition für mich gültig waren. Im allgemeinen jehren [sic, gemeint ist wahrscheinlich: wehren] sich die Komponisten gegen ihre ersten Werke. In diesem Falle bin ich bereit, dieses mit meinen ›Variationen‹ zu tun … ich habe mich nur noch nicht völlig dazu entschlossen.«74

Welche »Auffassung« zur Kohärenz eines Musikstücks vertrat Kagel »kurz« danach? Aus den Reihen seiner nächsten Stücke geht hervor, dass er zunächst um eine stärkere geometrische Konzeption der grundlegenden Tonhöhenfolge bemüht war und den Rhythmus originell zu organisieren suchte. Sexteto (de cuerdas) (1953, rev. 1957) Die erste Fassung dieses »Sexteto« entstand 1953. Zunächst sollte es für ein Ensemble aus Bläsern und Streichern sein, wie die Programmvorschau für das ANM-Jahr ankündigte: Das Konzert am 16. Oktober 1953 versprach neben rhythmischen Studien von Messiaen und dem 3. Streichquartett von Schönberg ein Sextett für gemischte Besetzung – Flöte, Klarinette, Trompete, Violine, Viola, Violoncello – von Kagel (vgl. oben S. 125 f.). Skizzen und Manuskripte eines gemischten Sextetts von 1953 in der Paul Sacher Stiftung dokumentieren, dass die Trompete durch eine Bassklarinette ersetzt und ein erster Entwurf offenbar bis September komponiert wurde. Dieser wurde mit einer rhythmischen Struktur

74 Kagel, Musik in der jungen argentinischen Generation, S. 9.

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auf der Basis indischer tala versehen, die sich Kagel zunächst auf weiteren Skizzenblättern in grüner Tinte notierte. Seine Angabe »Gasperini, Semiografia musicale« führt uns zur Quelle seiner Inspiration (vgl. Abb. 21).75 Kagel schrieb die Transkription der tala durch Taktstriche getrennt hintereinander und vermerkte darunter deren Namen sowie darüber die Taktart, was zu folgendem Ablauf führte: 1 / 8 | 3 / 8 | 5 / 16 | 3 / 16 | 2 / 16 | 11 / 8 | 4 / 8 | 16 / 8 | 6 / 8 | 5 / 16 | 7 / 8 | 4 / 8 | 4 / 8 | 8 / 8 | 17 / 32 | 8 / 8 | 2 / 8 | 5 / 8 | 3 / 8 | 4 / 8 | 6 / 8. Dies wurde zur Grundlage der Rhythmus- und Metrumorganisation im ersten Teil der ersten Sextett-Fassung, wobei komplizierte Taktarten wie 11 / 8, 16 /8 und 17 / 32 zu 3 / 8 + 3 / 8 + 5 / 8 , 3 / 4 + 2 / 4 + 3 / 4 sowie 2 / 8 + 3 /16 + 3 / 32 vereinfacht wurden. Wie die ersten sechs Tonhöhen der Reihe zu Beginn simultan, in der Partitur von oben nach unten auf die Instrumente verteilt erklingen und die Reihe danach »abwärts« und »aufwärts« durch alle Instrumente wandert, so verteilte der Komponist die von den tala abgeleiteten Tondauern, was er in einer separaten Rhythmuspartitur notierte (vgl. Abb. 22) und viele Jahre später mit den Worten beschrieb: »Im ›Streichsextett‹ bilden die Dauernwerte der Horizontale – sozusagen der melodische Rhythmus – die Dauernwerte der Vertikale. Das war 1951-53, damals kannte ich zwar die Zwölftontheorie, aber nicht die Serialität. Ich versuchte, ein rhythmisches Gefüge zu erfinden, das eine rationale, feste Struktur besaß. Danach habe ich diese Ideen zunächst nicht weiterentwickelt. Aufregend für mich war die Entdeckung, daß die Transposition nicht nur auf melodische oder harmonische Modelle applizierbar ist, sondern auch auf nicht-klingende Elemente.«76

Mit nicht-klingenden Elementen könnte Kagel wohl auch die Pausen gemeint haben, die sich aus den tala ergeben. Gasperinis Buch ist eine reiche Fundgrube

75 Vgl. Bleistiftskizze datiert »20.7.-20.9.1953« und begonnene grüne Tintenabschrift in PSS SMK Mappe Frühe Studien und Entwürfe 1. Dossier lose [3 / 5] sowie das Blatt mit Indischen Rhythmen in grüner Tinte der gleichen Papiermarke »Clave« No. 2112, eingelegt in Bleistift-Manuskript II (bereits Streichsextett auf Papier »Clave« 218) in PSS SMK Mappe Sextett 2 / 6. Dieses Blatt ist möglicherweise von den anderen Skizzenblättern abgetrennt und in das spätere Manuskript für das Streichsextett eingelegt worden. Ich danke Björn Heile für die Hilfe beim Auffinden des Blattes. 76 Kagel, Dialoge, Monologe, S. 37.

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Abbildung 21: tala nach Guido Gasperini

Guido Gasperini, Storia della semiografia musicale, Milano 1905, S. 36

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Abbildung 22: Kagel, Sexteto (1953), Beginn der Rhythmusskizze

Sammlung Mauricio Kagel, Paul Sacher Stiftung, Basel Mappe Sextett (Fl, Klar, BKlar, Vl, Va, Vc; 1953; verworfen; unveröffentlicht) Die von Gasperini transkribierten Notenwerte der tala Adi, Dviteya, Triteya, Chaturúshra und Panchâma verlaufen in der Oberstimme linear und sind bis acht nummeriert, jeder Takt entspricht einem tala. Auch in der Vertikale sind die Tondauern bis sieben beziffert.

zur musikalischen Notation verschiedener Völker, in der die indischen Rhythmen die weitaus komplexesten sind. Dass Kagel sie einfach aneinanderreihte, entspricht natürlich nicht indischer Praxis, und die Rationalität dieses Vorgehens ist durchaus fragwürdig. Dass er überhaupt auf die Idee kam, seiner Komposition ein heteronomes rhythmisches Korsett zu geben, das in keinem Zusammenhang zur zwölftönigen Konzeption stand, könnte von Daniel Devotos Berichten aus Paris – im April 1953 speziell von Messiaens Unterricht am Conservatoire und dem Studium griechischer und indischer Rhythmen77 – inspiriert gewesen sein. Wie hat wohl Boulez, als er im Juli 1954 in Buenos Aires war und selbst intensiv an Le marteau sans maître arbeitete, auf dieses kagelsche Rhythmusgefüge im Sexteto reagiert? Sicher erst in Deutschland notierte Kagel am 29. November 1957: »Ante todo el Sexteto será reformado para 2 Violines, 2 Violas y 2 Vcellos, en cada movimiento separaré las estructuras que estén entre silencios.«78 Bei der Revision änderte sich nicht nur die Besetzung hin zu einem Streichsextett, wurden polymetrische Abschnitte, Vortragsarten usw. ergänzt und deren Ausführung in die Verantwortung der Interpreten übertragen, sondern die zwei Sätze

77 Vgl. Daniel Devoto, »Carnet de París«, in: Buenos Aires Literaria (1953), H. 7, S. 48-54. 78 PSS SMK Anagrama Mappe 3 Skizzen und Entwürfe: »Zuerst wird das Sextett für 2 Violinen, 2 Violen und 2 VCelli umgearbeitet, in jedem Satz werde ich die Strukturen trennen, die zwischen Pausen sind.«

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der Erstfassung wurden in Teilen zusammengesetzt, so dass sie einen einzigen, formal neuartigen Satz ergaben.79 Dabei verlor sich freilich die lineare Abfolge der tala-Struktur, die im früheren Manuskript klar zu verfolgen war. Kagels Auffassung über die Kohärenz eines Musikstücks hatte sich mit den ersten Eindrücken in Deutschland nochmals grundlegend gewandelt: Sein Arbeiten – sicher inspiriert vom Studioalltag – basierte fortan auf der Montagetechnik, die er in Argentinien noch nicht anwandte. Cuatro piezas para piano (1954) Die vier Stücke für Klavier entstanden einem Vermerk im fertigen Manuskript zufolge im April und Mai 1954. Auf Skizzenblättern für die ersten Takte des zweiten der vier Stücke findet sich aber die Notiz: »1.10-2.15 de la madrugada del Domingo 3 / 1 / 54«,80 und noch am selben Abend stellte der Komponist offenbar die restlichen Takte fertig. Sie wurden also direkt im Anschluss oder parallel zur Turmmusik begonnen und sind in ihrer zwölftönigen Konzeption so stark strukturiert, dass eine Anlehnung an Weberns dichte Reihenkonzeptionen angenommen werden kann. Was sich darüber hinaus andeutet, ist die Verwendung von dissonanten Mehrklängen, die sich Clustern annähern. Möglicherweise meinte Kagel diese Aspekte, als er rückblickend über die vier Stücke sagte: »In zwei der Stücke ist der Gestus des Etüdenhaften sehr deutlich, die anderen beiden sind wie Préludes zu etwas, was kommen soll.«81 Dem zweiten, möglicherweise aber zuerst erstellten Satz liegt eine Reihe Ocis zugrunde, deren Intervalle nur kleine Sekunden und kleine Terzen bzw. deren Umkehrungen sind. Sukzessive erklingt sie im zweiten Teil (ab Viertel = 44 mosso), wobei Kagel die Dissonanzen der kleinen Sekunden / Nonen bzw. großen Septimen auskostet. Den Übergang vom Reihenende zum Anfang – c zu

79 Heile, The Music of Mauricio Kagel, S. 18-21, Stenzl, »Woher – wohin«, S. 28 ff. und Knut Holtsträter, Mauricio Kagels musikalisches Werk: der Komponist als Erzähler, Medienarrangeur und Sammler, Köln u. a. 2010, S. 178 ff. haben die Sextett-Versionen von 1953 und 1957 und die wichtigsten Aspekte der Revision bereits dargestellt. Bei Holtsträter, S. 302 ff. findet sich auch eine Beschreibung der Manuskripte. 80 PSS MK Mappe Frühe Studien und Skizzen 2. Kladde [2 /5]: »1.10-2.15 Sonntagfrüh 3 /1 /54«. 81 Kagel am 21.11.2006 im Interview in Steigerwald, »An Tasten«, S. 262. Pia Steigerwald hat die Cuatro piezas überblickshaft beschrieben und alle Satzanfänge reproduziert (ebd., S. 64 ff.), ihre Analysen bilden den Ausgangspunkt der folgenden Ausführungen und werden teilweise korrigiert.

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Abbildung 23: Kagel, Cuatro piezas para piano, II, T. 10-13

Mauricio Kagel, cuatro piezas para piano (1954) Manuskriptedition © Frankfurt a. M. u. a. o. J. [2011], S. 4

Abbildung 24: Kagel, Cuatro piezas para piano, IV, T. 4-8

Mauricio Kagel, cuatro piezas para piano (1954) Manuskriptedition © Frankfurt a. M. u. a. o. J. [2011], S. 10

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cis – fügt er in diese Gestik ein (vgl. Abb. 23). Im ersten und dritten Teil des Satzes (jeweils Viertel = 40) wandert diese Reihe mehrmals durch alle Stimmen; beide Teile werden mit einem zwölftönigen Akkord abgeschlossen, der in den ersten Skizzen noch nicht vorhanden war. Im ersten Teil wird die Reihe, die in Form von langen Haltetönen (zu Beginn auf den Zählzeiten 1 und 3) und kontrapunktischen Achtel-Akkorden durch die rechte und linke Hand läuft, durch eine Linie von elf lang gehaltenen Tönen ergänzt, die eine neue Reihe bilden und in der ursprünglichen Skizze vom 3. Januar 1954 ebenfalls noch fehlten.82 Die Tritonus-versetzte Umkehrung der Reihe, Ug, setzt Kagel besonders am Beginn des vierten Satzes ein.83 Auch der Gestus im ersten Takt des vierten Satzes erinnert an den zweiten: Halbe und kontrapunktierende Achtel. Die Reihe läuft dreimal durch alle Stimmen, in Takt 5 ff. (vgl. Abb. 24) werden rhythmische Figuren im Bass mit den Tönen f / e und cis / c (zusammen pc set 4-7) variiert und die fehlenden Töne darüber ergänzt. Ab Takt 8 erklingen über den liegenden Tönen C1 und Cis die restlichen Töne von Ug sukzessive und mit der Anweisung »come un soffio«. Ab Takt 10 (Viertel = 56) finden wir Ocis wieder vor, die den Satz auch beschließt. Der Schlussteil stellt zudem eine Synthese der vorangegangenen Sätze dar: Akkordische Strukturen wie im ersten Stück finden sich neben rhythmischen Elementen des dritten. Dem ersten und dritten Satz liegt eine andere gemeinsame Reihe Oges zugrunde, die mit derjenigen des zweiten Satzes verwandt ist, da einige Tonfolgen bestehen bleiben (cis-d, a-b-h sowie gis-g-e-es, vgl. Reihenübersicht S. 292). Im ersten Takt erklingen in der rechten und linken Hand je zwei Dreiklänge – also

82 Vgl. PSS SMK Mappe Frühe Studien und Skizzen 2. Kladde [2 / 5]. Steigerwald, »An Tasten«, S. 67, interpretiert die Töne, die von der rechten Hand in den ersten fünf Takten gespielt werden, als eigene Reihe cis c ais a dis fis f g gis d h. Schlüssiger erscheint jedoch, die zunächst auf den schweren Zählzeiten 1 und 3 einsetzenden Halben und die linke Hand als Einheit zu betrachten. Die auf 2 und 4 einsetzenden Halben erscheinen dann als große Septimen, kleine Nonen oder auf dem Klavier noch weiter entfernte Dissonanzen zu den Halben auf den starken Zählzeiten (cis-c, ais-a, dis-e, fis-f, g-gis, d-dis, h-ais, c-h, gis-g). Die letzten beiden Töne dieser Reihe d und cis fallen aus diesem Schema. Zur Vervollständigung der Reihe fehlt fis. 83 Steigerwald, »An Tasten«, S. 70, gibt eine andere Reihe für den vierten Satz an, stellt Bezüge zu Schönbergs Klavierstück op. 33a her und gibt an, Kagel verwende nur die Grundreihe und keinerlei Transposition. Ihre Analyse scheitert an dem Verfahren, die Reihentöne in den Akkorden immer vom tiefsten zum höchsten Ton zu lesen. Liest man flexibler, wird der Bezug zum zweiten Satz und die transponierte Umkehrung der Grundreihe auch ohne Kenntnis der Skizzen zwingend.

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Abbildung 25: Kagel, Cuatro piezas para piano, I, T. 8

Mauricio Kagel, cuatro piezas para piano (1954) Manuskriptedition © Frankfurt a. M. u. a. o. J. [2011], S. 3; Einzeichnungen Christina Richter-Ibáñez

vier verschiedene Akkorde, die jeweils zweimal hintereinander angeschlagen werden. Diese Akkorde ergeben zusammen das chromatische Total und sind wie die Reihe durch charakteristische Intervallbeziehungen gekennzeichnet: Erste wie zweite Reihenhälfte haben jeweils die Pitch-class sets 3-3 und 3-1. Jeweils drei Töne der Reihe (also die Gruppen I, II, III und IV) lassen sich in den Akkorden der folgenden beiden Takte verfolgen:84 Die Abfolge in Takt 2 und 3 wäre dann I–II–III–IV / II–I–IV–III–I–II. Ab Takt 4 erklingen Vierklänge, beginnend mit den Tönen 7 bis 10, 11 bis 2 und 3 bis 6 von Oges (zweimal). In Takt 54 beginnt die Reihe wieder von vorn und wird in gleicher Weise dreimal durchgeführt: Zwei Vierklängen mit dem Pitch-class set 4-7 folgt einer mit 4-1. Diese Intervallverhältnisse spiegeln die Reihe, wenn man sie vom ersten oder siebten Reihenton aus in drei Vierergruppen teilt (vgl. Reihenübersicht S. 292). In Takt 8 wird die Folge durch drei weitere Vierklänge mit dem Pitch-class set 4-1 und einem aus der Regelmäßigkeit fallenden, aber ebenfalls sehr dissonanten Akkord (T. 84 f. linke Hand, pc set 4-9, vgl. Abb. 25) abgeschlossen. Letzterer ist so gewählt, dass er die mit ihm gleichzeitig erklingenden Dreiklänge (bestehend aus 1., 2., 7. und 8. bzw. 5., 6., 11. und 12. Reihenton) in der rechten Hand mit den fehlenden Reihentönen 3, 4, 9 und 10 zum chromatischen Total vervollständigt. Innerhalb der letzten drei Viertel des Taktes erklingen alle zwölf Reihentöne also zweimal. Der letzte Takt besteht aus vier verschiedenen Fünfklängen, die sich keiner Systematik zuordnen lassen. Erkennbar ist einzig, dass die Töne, die im direkt vorausgehenden Vierklang zu hören waren, nun vermieden werden (fis und g bzw. f und gis). Im dritten Satz ist dieselbe Reihe mit einer rhythmischen Folge verknüpft: Der zweite, vorletzte und letzte Takt des Satzes bringen diese Rhythmus-Ton-

84 Einziger nicht passender Ton in Takt 2: Das gis in der rechten Hand müsste ein ais sein.

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Verknüpfung in originaler und rückwärtsgerichteter Reihenfolge bei wechselnden Lagen der Töne und Akkorde, was an das Verfahren im Ostinato der Música para una torre sowie das Verhältnis von Thema und ursprünglicher 6. Variation im gemischten Quartett erinnert (vgl. oben S. 256 ff. und 267 f.). Die beiden Anfangs- und Endtakte bilden somit eine Klammer, ab Takt 3 verläuft die Reihe vielfältig durch alle Stimmen. Auffällig ist, dass die im ersten Takt vorgestellten Zusammenklänge fis-f-a, b-h und g-e-es immer wiederkehren. Das c erscheint dagegen meist als allein stehender oder besonders betonter Ton, und mit der Folge der beiden Töne cis-d – sofern sie nicht sowieso simultan angeschlagen werden – geht Kagel flexibel um. In Takt 10 f. (ƈ = 92) setzt Kagel in den oberen beiden Notenzeilen die originale Tonhöhenreihe mit dem rückwärts verlaufenden Rhythmus zusammen; in der unteren Notenzeile läuft die ursprüngliche rhythmische Linie mit dem Krebs der Reihe ab, wodurch sich neue Gruppierungen bilden. Da in der ersten Skizze nur die ersten neun Takte (mit insgesamt 26 Vierteln) vorhanden sind, ist davon auszugehen, dass die folgenden aus dem ursprünglichen Material abgeleitet sind und Variationen davon bilden. Die Skizze zu den Takten 10 ff. auf einem neuen Blatt enthält zudem Überlegungen zur Metrik und den Hinweis, man solle das C in der rechten Hand folgendermaßen artikulieren: »golpear la tecla con el dedo buscando el sonido duro incisivo y el sonido que produce el dedo al golpear la tecla«.85 Die Cuatro piezas para piano führte Kagel selbst am 24. November 1956 in einem vom Kulturreferat der Stadt Buenos Aires unterstützten Konzert zum »Tag der Musik« im Teatro Nacional Cervantes auf. Bei der Gelegenheit erklang auch Kammermusik anderer junger argentinischer Komponisten wie Nelly Moretto, Valdo Sciamarella, Carlos Tuxen Bang und Virtú Maragno. Die Kritiker fanden in Kagels Komposition eine »feine Sensibilität und Schrift«86 und bezeichneten sie als »Werk der Synthese, das die bekannten Formen meidet«. 87 Danach blieb die Partitur neben anderen frühen Manuskripten in der Schublade und wurde erst im Nachlass wiederentdeckt. 2011 gab die Edition Peters eine Manuskriptedition heraus, seit 2012 sind die Stücke im neuen Satz erhältlich. Nach der Wiederentdeckung spielte sie Maria Grazia Bellocchio am 9. März 2011 als europäische Erstaufführung in Mailand.88

85 PSS MK Mappe Frühe Studien und Skizzen 2. Kladde [2 / 5]: »Die Taste mit dem Finger so anschlagen, dass ein harter, schneidender Ton und der Klang, den der Finger beim Anschlagen der Taste produziert, entsteht.« 86 El Mundo 26.11.1956, S. 13: »delicada sensibilidad y escritura«. 87 La Prensa 25.11.1956, S. 12: »obra de síntesis y que huye de las formas conocidas«. 88 Vgl. http://www.youtube.com/watch?v=2Kj9nK8NC74 (10.9.2012).

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Im August 1956 instrumentierte Kagel die vier Stücke für Streichorchester. Aus seiner Arbeit als Dirigent des Orchesters Pro-Música war ihm diese Besetzung nun bestens vertraut. Unter dem Titel Cuatro piezas breves para orquesta de cuerdas wurden sie offenbar schon vor den Klavierstücken am 30. September vormittags im Teatro Los Independientes vom Orquesta de Cámara del Club Sudamericano unter Edgardo Cantón uraufgeführt.89 Das erhaltene Manuskript ist offensichtlich für Einstudierungszwecke mit roten und blauen Markierungen versehen worden, die vor allem dynamische und artikulatorische Merkmale sowie vereinzelt Zählzeiten hervorheben. Durch die Instrumentierung wird schon im ersten Satz noch deutlicher, was Kagel in der Klavierversion bereits andeutete: Die in der Struktur immer gleichen Dreiklänge der Pitch-class sets 3-3 und 3-1 wandern durch die Register und werden dabei jeweils unterschiedlich artikuliert. Im Ergebnis erklingt das Gleiche dadurch in ständiger Variation und verschiedenen Farben.90 Im dritten Satz tritt die doppelte Spiegelachse in den Anfangstakten (mittig vertikal und horizontal) durch die Instrumentierung / Register ebenfalls deutlich zutage. Auch die Dynamik der einzelnen Zusammenklänge verändert sich bei jedem Erklingen, die Artikulation wird jedoch konsequent beibehalten: Die gleichzeitig erklingenden Töne f-fis-a und b-h werden immer Pizzicato gespielt, alle anderen mit dem Bogen, cis-dis-gis zudem immer legato. Am stärksten ausgearbeitet hat Kagel die Takte 8 und 9 im vierten Stück, in denen nun eine Solo-Violine die Reihe von zehn Tönen zweimal – piano »e come un soffio« – haucht, während die anderen Stimmen mit den komplementären Reihentönen c und cis – teils tremolierend – eine pianissimo-Klangfläche bilden. Cinco canciones del Génesis (1954) Die Cinco canciones del Génesis entstanden von März bis Juni 1954 teilweise parallel zu den Klavierstücken. Den Liedern liegt laut Schnebel »eine Collage von Bibelstellen, welche einer altspanischen Bibelübersetzung entnommen sind«,91 zugrunde. Genauer erläuterte Kagel in Dialoge, Monologe, wie er zu dieser Textauswahl kam:

89 Vgl. Ankündigung in La Nación 30.9.1956, S. 12 und Programmzettel im PSS SMK Box Programmhefte Argentinien: Im gleichen Konzert sollten Werke von Strawinsky, Händel und Schostakowitsch erklingen. Eine Besprechung konnte allerdings nicht aufgefunden werden. 90 Das Manuskript enthält einige Abweichungen von der Reihenlogik und der Klaviervorlage (z. B. 1. Satz T. 8 f. in Celli und Bratschen). 91 Schnebel, Mauricio Kagel, S. 10.

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»Die Texte stammen aus der ersten spanischen Bibel, die nicht wie die Vulgata aus dem Lateinischen [sic], sondern direkt aus dem Hebräisch-Aramäischen übersetzt worden ist. Sie wurde Anfang der 40er Jahre von der Universität Buenos Aires herausgegeben, auf der Grundlage eines Codex aus dem XI. Jahrhundert, der, wie ich mich zu erinnern glaube, sich in Barcelona befindet. Sie hieß: ›Biblia Medieval Romanceada‹. Das Übersetzerkollegium aus Rabbinern, katholischen Gelehrten und Dichtern versuchte damals, vor allem den Klang der hebräischen Sprache in Romance, einen Vorläufer des Spanischen, zu übertragen. Die Texte waren so eindrucksvoll, daß ich mich spontan entschloß, einige Abschnitte zu vertonen. Die leichte Verdrehung der Sprache, man konnte sie als verfremdete Syntax bezeichnen, war hier der auslösende Grund für eine zusätzliche Vertonung.«92

Tatsächlich erschien die Biblia medieval romanceada, herausgegeben von Américo Castro, Agustín Millares Carlo und Angel José Battistessa im Verlag Peuser in Buenos Aires bereits 1927. Kagel wählte für seine Lieder daraus folgende Verse der Genesis:93 I. So wurden vollendet Himmel und Erde mit ihrem ganzen Heer. Und sie wa-

ren beide nackt, der Mensch und seine Frau, und schämten sich nicht. Und es ging aus von Eden ein Strom, den Garten zu bewässern, und teilte sich von da in vier Hauptarme. (Gen 2, Verse 1, 25 und 10) II. Da wurden ihnen beiden die Augen aufgetan und sie wurden gewahr, dass sie nackt waren, und flochten Feigenblätter zusammen und machten sich Schurze. (Gen 3, 7) III. Es hatte aber alle Welt einerlei Zunge und Sprache. Wohlauf, lasst uns herniederfahren und dort ihre Sprache verwirren, dass keiner des andern Sprache verstehe! (Gen 11, 1 und 7) IV. Da nahmen Sem und Jafet ein Kleid und legten es auf ihrer beider Schultern und gingen rückwärts hinzu und deckten ihres Vaters Blöße zu; und ihr Angesicht war abgewandt, damit sie ihres Vaters Blöße nicht sähen. (Gen 9, 23) V. Da ging alles Fleisch unter, das sich auf Erden regte, an Vögeln, an Vieh, an wildem Getier und an allem, was da wimmelte auf Erden, und alle Men-

92 Kagel, Dialoge, Monologe, S. 173. 93 Deutsche Verse entnommen aus Stuttgarter Erklärungsbibel mit Apokryphen, Bibeltext in der revidierten Fassung von 1984, hg. von der Evangelischen Kirche in Deutschland, Stuttgart 2005. Mit Blick auf diese Textauswahl stellt sich die Frage, worauf sich Schnebel mit der Aussage, in den Liedern sei »mit vertauschten Rollen komponiert« worden, bezieht: Es gibt keine Stelle, an der »Abel etwa [so spricht] wie Paulus«, vgl. Schnebel, Mauricio Kagel, S. 10.

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schen. Alles, was Odem des Lebens hatte auf dem Trockenen, das starb. (Gen 7, 21-22) Die Verswahl des dritten Liedes, konkret Gen 11, 7, weist dabei weit in Kagels Werkkatalog voraus: Schon in Anagrama ist Vielsprachigkeit und Sprachverwirrung hintergründiges Thema, vor allem aber basieren auch Kagels Kompositionen für Solostimme in Der Turm zu Babel aus dem Jahr 2002 auf eben diesem Vers. Der Umgang mit der Singstimme könnte jedoch gegensätzlicher nicht sein: Im Jugendwerk setzt Kagel den Text mit Ausnahme einiger gesprochener Passagen ausschließlich syllabisch und nicht besonders »sängerfreundlich«, mit großen Sprüngen den Zwölftonreihen folgend, im Spätwerk dagegen dominieren Tonschritte und kleinere Sprünge bei zahlreichen melismatischen Abschnitten. Von den Liedern existieren außer der Partitur, die seit 2011 bei der Edition Peters erhältlich ist, mehrere Manuskripte und Skizzenmaterial. Ein Bleistiftmanuskript mit Anmerkungen in grüner Tinte trägt die Widmung »für meine Eltern, in der Entstehung«.94 Von einer Einstudierung zeugt eine Handschrift für Stimme mit Ausschnitten der Klavierbegleitung in grüner Tinte und zahlreichen roten Markierungen wie Atemzeichen, Intonationshinweisen für die Sängerin und Dynamikeintragungen. Möglicherweise entstanden diese bei der Arbeit mit Celia Kneler, die das erste und dritte Lied am 13. Juli 1956 in einem Konzert der Asociación sinfónica feminina y coral argentina sang. 95 Kneler war eine von drei Finalistinnen eines Wettbewerbs, den diese Gesellschaft ausgeschrieben hatte. Im Preisträgerkonzert wurde sie von Kagel selbst begleitet, beide brachten außerdem Lieder von Julio Perceval und anderen zu Gehör. Sie waren offenbar auch die Interpreten der Cinco canciones del Génesis auf der Aufnahme, die am 9. November 1955 beim kommentierten Vortrag von Francisco Kröpfl im Kaufhaus Gath & Chavez von Band erklang.96 Aus einem weiteren Bleistiftmanuskript geht Kagels Reihenkonzeption hervor:97 Demnach basiert jedes Lied auf einer anderen Tonhöhenfolge. Im ersten

94 PSS SMK Cinco canciones del Génesis, Mappe 1, 1. Konvolut: »a mis padres, en el genesis«. 95 Vgl. Programmzettel in PSS SMK Box Programmhefte Argentinien und Ankündigung in La Nación 13.7.1956, S. 10. 96 Vgl. Abb. 2. Bei PSS MK Band 166 / MK TS 1000, digitalisiert MK CD 170, Track 1, könnte es sich um diese Aufnahme handeln. 97 PSS SMK Cinco canciones del Génesis, Mappe Entwurf mit Skizzen. Hier ist den Reihen am besten zu folgen. Bei der Übertragung von Skizze zu Manuskript entstanden Abweichungen, z. B. 1. Lied, T. 4 im Klavier: Kontra-Dis aus Vortakt bleibt.

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Stück ist dieser durch die Stimmen gut zu folgen. Die zweite Reihe ergibt sich aus den Tönen 1, 12, 2, 11, 3, 10, 4, 9, 5, 8, 6, 7 der ersten; die dritte wird wiederum daraus abgeleitet, wie Kagel ausdrücklich in der Skizze bemerkt. Sein Umgang mit der dritten Reihe ist im Stück aufschlussreich: Im ersten Bibelvers mit dem Stichwort »dieselbe Sprache« läuft die Reihe in der Stimme linear ab (zuvor schon im Klavier relativ vollständig vorwärts und rückwärts und mit Wiederholung einiger Dreiergruppen), im zweiten Vers mit dem Thema Sprachverwirrung ist auch der Reihenverlauf unterbrochen und unregelmäßig. Im Anschluss wird zunächst der zweite Vers wiederholt, bevor der erste nochmals mit der Reihe im Krebsgang und in gleicher Lage wie zu Beginn gesungen wird. Auch im vierten Lied folgt die Singstimme der wiederum neuen Reihe, während im fünften die bisherige Klarheit verschwindet: Zwei datierte Versuche vom 21. Mai bzw. vom 21. Mai bis 8. Juni weisen zwar auf rhythmische Strukturen, Zahlenreihen und mit der am Ende gespiegelten Unterschrift von Kagel (mit Datumsangabe 4. Juni 1954) auf mögliche Spiegelachsen, ein Rekurs auf die notierten Reihen erscheint aber nicht möglich. Die Cinco canciones del Génesis sind die einzigen Werke für Stimme, die Kagel in Buenos Aires vollendete und (zumindest teilweise) aufführte. In seinen Skizzen finden sich zudem zahlreiche kurze Textvertonungen in Spanisch, Hebräisch, Italienisch und Deutsch, beginnend mit den frühesten im Skizzenbuch vom 30. Mai 1948: Verse aus Rainer Maria Rilkes »Schlussstück« aus dem Buch der Bilder setzte Kagel für Bariton (erster Abschnitt) und Sopran (letzter Satz).98 Suchte sich Kagel diesen Text selbst aus oder stellte ihm ein Lehrer diese Aufgabe? Dass Paz einen Text zur Vertonung aufgab, ist kaum vorstellbar, denn er widmete sich im eigenen Schaffen – mit Ausnahme des Liedes Abel aus seiner Jugendzeit von 1929, das bezeichnenderweise keine Opus-Nummer erhielt – ausschließlich instrumentaler Musik. Bei Kagel finden sich in der Folge im umfangreichen Skizzenmaterial zahlreiche Choralübungen und Kanons über deutsche Vorlagen, Melodieskizzen spanischer Liebeslieder, hebräische Lieder und ein hebräischer Kanon – oft ohne Datierung. Sie könnten mit Kagels Chorleitertätigkeit bei der hebräischen Gemeinschaft im Zusammenhang stehen. Auch eine »Hommage a Fuchs« betitelte Vertonung für vier Stimmen vom 23. November 1954 könnte für den SHA-Chor skizziert worden sein. Der vertonte Text spielt zunächst mit der – durchaus deutschen – Eigenart von Teodoro Fuchs, das spanische »r« wie ein »g« auszusprechen und mit »schtt« um Ruhe zu bitten. Witzig erscheinen dann die Takte 8 bis 10, in denen der Text sagt, Fuchs hätte klar Spanisch gesprochen. Gleich-

98 PSS SMK Mappe Skizzenbuch 1948.

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zeitig wird aber der Sopran in immer tiefere Lagen geführt und das Wort »Castellano« (»Kastilisch« bezeichnet die spanische Sprache in Südamerika) abgewandelt zu »castempepe«, so dass der ersten Aussage musikalisch widersprochen wird: Wahrscheinlich brubbelte Fuchs eher vor sich hin. Im nächsten Abschnitt folgen Melodien auf Tonnamen, die Solmisationsübungen gleichen und den Text bis zum Ende ausdeuten: pausenlose Wiederholungen, Seufzer, Ausrufe (vgl. Abb. 26). Fuchs hatte den Chor der SHA geleitet, bevor Kagel das Amt ca. 1954 übernahm. Möglicherweise spielt der Text auf Fuchs’ Abschied an. Dieser war aber beispielsweise im Oktober 1955 für einen einführenden Vortrag vor einem Konzert des Chors nochmals anwesend. Zu einem solchen Anlass hätte eine witzige Hommage aufgeführt werden können; ob Kagel sie jedoch jemals probte, ist unbekannt. Offenbar plante Kagel auch ein Projekt mit dem Titel »Cantos de Altazor« für Gesang und zwei Klaviere. Sie wurden im Oktober 1955 als Uraufführung für ein Konzert der Asociación de Conciertos de Cámara am 20. Juli 1956 mit der Sängerin Susana Naidich vorangekündigt.99 Das endgültige Konzert gestaltete jedoch die Sängerin Dora Berdichevsky mit einem anderen Programm, und in Kagels Werkkatalog sind die Lieder auch nicht aufgeführt.100 Der einzige klare Hinweis auf ein solches Projekt findet sich in einer sechsseitigen Klavierskizze ohne Text, jedoch überschrieben »borradores de Altazor«, vom 25. Januar 1956.101 Mit dem Titel lässt sich der chilenische Autor Vicente Huidobro assoziieren, der 1931 den avantgardistischen Text Altazor veröffentlicht hatte, bestehend aus einem Vorwort und sieben »Cantos«, unter denen besonders das sechste und siebte Lied in vornehmlich lautsprachlicher Gestaltung den eifrigen Leser Kagel fasziniert haben muss. Tatsächlich notierte sich Kagel im Umfeld der erwähnten Klavierskizze die Worte »nube Ala ola ole Aladino El ladino« und verknüpfte sie mit Tonfolgen; auf der Rückseite desselben Blattes finden sich die Worte »Cristal Nube« und eine Zuordnung von Vokalen zu bestimmten Tonwerten: A = Sechzehntel, E = Achtel, I = Viertel, O = Halbe, Konsonanten = Punkt (Vokal + Konsonant = punktierte Note). Die Worte verweisen sehr präzise auf das sechste Lied, Verse 38-41, in Huidobros Altazor.102 Die Verknüpfung der sprachlichen Parameter mit musikalischen lässt an Kagels Arbeitsweise in Anagrama denken: Hier leitete er aus den Buchstaben des zugrunde liegenden Palindroms nicht nur Tonhöhen ab, sondern er generierte aus der Zahl der Buch-

99

Vgl. die Werbeanzeigen in BAM 10 (1955), H. 164, S. 3.

100 Vgl. Ankündigung in La Nación 20.7.1956, S. 10. 101 PSS SMK Mappe Frühe Studien und Skizzen 2. Dossier lose. 102 Vgl. Vicente Huidobro, Altazor. Temblor de cielo, Madrid 51989, S. 132.

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Abbildung 26: Kagel, »Hommage a Fuchs«, 23.11.1954

Sammlung Mauricio Kagel, Paul Sacher Stiftung, Basel Mappe Frühe Studien und Skizzen 2. Kladde [2 / 5]

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Übersetzung einiger Textabschnitte: Teodogo Fuchs hieß der Dirigent und er sagte immer SCHTT und sprach deutlich das Kastimpepe – er wiederholte immer ohne müde zu werden: »f e f e f. Oh die Musik! Ich weiß nicht, was ich machen soll!« Er wusste gut, was er tat, als er eines Tages sagte: »Auf Wiedersehen!«

staben pro Wort bzw. der Häufigkeit des Auftretens jedes Phonems auch rhythmische Folgen.103 Im Gegensatz zu dieser avantgardistischen Lyrik beschäftigte sich Kagel zur gleichen Zeit mit Texten von Girolamo Savonarola, dem italienischen Dominikaner, Politiker und Poeten der Renaissance. Ein Gedicht von ihm liegt Kagels Kantate De Ruina Mundi (1955 / 56) zugrunde: Das erhaltene Bleistiftmanuskript für Stimme und Klavier folgt der Vorlage zunächst fast wortgetreu, bricht vor den letzten elf Zeilen aber unvermittelt ab.104 Wie in den meisten frühen Textvertonungen zeigt sich auch hier kaum ein experimenteller Umgang mit der Sprache: Zwar montierte Kagel in Cinco canciones del Génesis einzelne Bibelverse zusammen und forderte vereinzelt gesprochene Abschnitte, doch hielt sich der Komponist weitgehend an den linearen Verlauf der gewählten Verse. Die argentinischen Vokalkompositionen können also nur insofern »substantielle Vorläufer«105 für Anagrama sein, indem sie Kagels grundsätzliches Interesse an theolo-

103 Kagel stellte am 9.7.1960 in Darmstadt dar, wie er für den ersten Abschnitt in Anagrama die Tonhöhen aus den Buchstaben des Palindroms ableitete, vgl. Mauricio Kagel, »Behandlung von Wort und Stimme. Über ANAGRAMA für vier Sänger, Sprechchor und Kammerensemble, 1957-58 [1960]«, in: Borio / Danuser, Im Zenit der Moderne, Bd. 3, S. 354-367, besonders S. 360 f. Zu rhythmischen Aspekten und einer zugrunde liegenden elftönigen Reihe vgl. Matthias Kassel, »Das Fundament im Turm zu Babel. Ein weiterer Versuch, Anagrama zu lesen«, in: Tadday (Hg.), Mauricio Kagel, S. 5-26, hier S. 12 sowie S. 23, Abb. 1. 104 Vgl. PSS SMK Mappe De Ruina Mundi. Dem Brief von Kagel an Lange vom 3.9.1956, S. 4 (ACL / vgl. Anhang S. 310), ist zu entnehmen, dass De Ruina Mundi für Bariton und Streichensemble konzipiert war. In einem Stapel unsortierten Skizzenmaterials findet sich auch ein Musikdruck von Savonarolas Lauda del Crocifisso für Sopran, Alt und Tenor, vgl. PSS SMK Mappe Frühe Studien und Skizzen 2. Dossier lose. Darüber hinaus existiert noch eine undatierte, mit »Savonarola 88« bezeichnete Skizze für Stimme und Klavier, vgl. PSS SMK Mappe Frühe Studien und Entwürfe 1. Dossier lose [3 / 5]. 105 Vor Entdeckung der im Nachlass erhaltenen Kompositionen wurde in den frühen Werken mehr Potenzial vermutet, vgl. Matthias Kassel, »Textgespinste. Textlich-

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gischen Sujets und die Suche nach einer systematischen Buchstabe-TonVerknüpfung widerspiegeln – und ihn letztendlich dazu führten, Textvorlagen seiner Werke selbst herzustellen.106 »Klangstudien« und »Aphorismen« In den Jahren 1955 bis 1957 entstanden vor allem »Klangstudien« und »Aphorismen«,107 wie es in der Werkentstehungsskizze bei Schnebel heißt und gut trifft, was im Nachlass außerdem erhalten ist. Die acht apokryphen Motetten – Ocho motetes apócrifos108 – entstanden Anfang Februar 1955 und spiegeln wie De Ruina Mundi Kagels Beschäftigung mit alter Musik. Den Cantus firmus für die Motetten entnahm er der Historical Anthology of Music von Archibald T. Davison und Willi Apel, die 1946 zum ersten Mal in Cambridge / Mass. erschien und in deren erstem Band auf den Seiten 24 ff. verschiedene DOMINO-Klauseln der Notre-Dame-Schule dargestellt waren. Doch schon Kagels Abschrift des Cantus firmus enthält in Takt 4 / 5 Abweichungen von seiner Vorlage, auch seine Quellenangabe ist nicht eindeutig.109 Das Manuskript wirkt unabgeschlossen und etüdenhaft, ob Kagel es als Werk angesehen hat, ist zu bezweifeln, zumal die Motetten niemals im Werkkatalog erschienen.

musikalische Verflechtungen in einigen Vokalwerken Mauricio Kagels«, in: Klüppelholz (Hg.), Vom instrumentalen zum imaginären Theater, S. 39-53, hier S. 39. 106 Striche in literarischen Vorlagen seien ihm dagegen »ein Greuel«, vgl. Kagel, Dialoge, Monologe, S. 80 f. Fast alle Themen aus der Genesis, die Kagel in den Cinco canciones del Génesis vertonte, verarbeitete er in den siebziger Jahren in Die Erschöpfung der Welt (UA Stuttgart 1980): Schöpfung, Geschlechtlichkeit, Tod, Trauer, Vernichtung. Viele andere Bibelstellen wurden für diese »Szenische Illusion in einem Aufzug« umgeschrieben und sind dennoch zweifelsfrei wiederzuerkennen, so die Anfangsworte von Psalm 130 in der 10. Szene, vgl. Mauricio Kagel, Die Erschöpfung der Welt. Szenische Illusion in einem Aufzug (Stuttgarter Hefte 8 / 1), hg. von der Generalintendanz der Württembergischen Staatstheater, Stuttgart 1980, S. 139. 107 Schnebel, Mauricio Kagel, S. 312. 108 Kagel schrieb »Ocho mottetes apócrifos« auf das Manuskript, die Verlagsausgabe titelt »motettes«. Spanisch korrekt ist »motetes«. Vgl. Mauricio Kagel, Ocho motettes apocrifos (Peters), Frankfurt a. M. u. a. o. J. [2011]. 109 Archibald T. Davison / Willi Apel, Historical Anthology of Music, Cambridge / Mass. 1946 erschien in zwei Bänden. Kagel notierte nur den Titel ohne Autoren und Angabe der Auflage, die Notiz »to-2. pag 26« verweist falsch auf den Band und richtig auf die Seite der Quelle.

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Eine Klangstudie in anderem Sinne ist Preludio No. 1 für Bandoneon, das Alejandro Barletta (1925-2008) gewidmet ist. Mitte der fünfziger Jahre war Barletta schon als Solist in Argentinien und darüber hinaus bekannt. Bereits als Jugendlicher spielte er öffentlich im Jahr 1944 im Teatro del Pueblo, mit dessen Leiter Leónidas Barletta er allerdings nicht verwandt war.110 1951 trat der Interpret im Pariser Champs-Élysées-Theater auf und brachte das Bandoneon hier zum ersten Mal in ein klassisches Konzert ein. Daraufhin gelang ihm 1952 die Einrichtung eines Lehrstuhls für Bandoneon am städtischen Konservatorium in Buenos Aires. Zu klären bleibt, wie sich Kagel und Barletta kennen lernten und ob sie eine längere Freundschaft verband. Wahrscheinlich hatten sie im Rahmen der Planungen für ein Konzert am 4. Oktober 1956 in der Universität, das Kagel im Rahmen seiner Tätigkeit als musikalischer Berater organisierte, miteinander Kontakt. Vielleicht bat Barletta Kagel um eine Komposition, um das Repertoire für Bandoneon zu erweitern. Zumindest widmete der Komponist sein Preludio No. 1 vom 2. / 3. August 1956, das in seiner Kürze die chromatischen Qualitäten des Instruments erkundet,111 dem Interpreten. Über Aufführungen in Argentinien ist nichts bekannt; Barletta spielte das Stück aber am 13. Juni 1969 in Bonn bei einem Konzert im Hörsaal der Universität, das von der Argentinischen Botschaft mitgefördert wurde.112 1978 wirkte er bei der Einspielung von Tango Alemán mit113 – der Kontakt war also von längerer Dauer. Die beiden 2012 bei der Edition Peters herausgegebenen Kompositionen aphoristischer Kürze für Klarinette, Elegía vom 13. Dezember 1956 und Pieza vom 27. / 28. April 1957, sind zwölftönig konzipiert, wirken jedoch wie die erwähnten Motetten unabgeschlossen und etüdenhaft. Die Reihe der Elegía ist überwiegend aus Sekunden gebaut, im Allegro finden sich die Reihen Oe, Ue, Odis, Udis sowie die ersten beiden Töne der Reihe Od hintereinander. Diese Reihenabfolge suggeriert, dass die Komposition nach gleichem Schema fortgesetzt werden könnte. Kagels Bezifferung mit den Zahlen 1, 2, 3 und 4 über den Noten

110 Alle Angaben zu Alejandro Barletta aus Valenti Ferro, 100 años de música en Buenos Aires, S. 246 f. Sein Porträt von Grete Stern 1954 in: Sara Facio (Hg.), Grete Stern: fotografía en la Argentina 1937-1981, Buenos Aires 1988, S. 43. 111 Vgl. Vorwort von Matthias Kassel zu Mauricio Kagel, Preludio No. 1 para bandoneón (1956), Edition Peters, Frankfurt a. M. u. a., Druck in Vorbereitung. 112 Vgl. PSS SMK Dokumentation und Programmhefte nach Werken eingeordnet. Pandorasbox. 113 Bemerkenswert ist übrigens, dass alle Interpreten der Aufnahme vom Mai 1978 vom Rio de la Plata stammten, vgl. The Mauricio Kagel Edition, Winter & Winter 2006, 910128-2, CD 1.

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Abbildung 27: Kagel, Elegía für Klarinette, Manuskript, Beginn

Mauricio Kagel, Elegía & Pieza para clarinete solo (1956 & 1957), © Frankfurt a. M. u. a. 2012, o. S.

im Manuskript zeigt, dass er auch die Tondauern systematisch anordnete: Der Zahl 1 entspricht eine Sechzehntelpause bzw. eine Sechzehntelnote, der Zahl 2 eine Achtelpause oder zwei Sechzehntelnoten, der Zahl 3 eine punktierte Achtelpause bzw. drei Sechzehntelnoten, der Zahl 4 eine Viertelpause oder vier Sechzehntelnoten. Das Allegro folgt dem Zahlenschema 2 3 3 2 4 1 1 4, nach den ersten 20 Sechzehnteln verdoppeln sich die Notenwerte, während die Pausen gleich lang bleiben (= 30 Sechzehntel), beim letzten Durchgang vervierfachen sich die Notenwerte (= 50 Sechzehntel). Es folgen in der rhythmischen Disposition Fünfergruppen, die aber ebenfalls in Sechzehntel-Gruppen (Töne und Pausen) à 2 3 3 2 und 4 1 1 4 geteilt werden können (= 20 Sechzehntel). Den Abschluss bilden dann 1 + 2 + 3 + 4 = 10 Sechzehntelnoten und eine Achtelpause, die zunächst den Takt vervollständigt und die Komposition abschließt. Eine Fortsetzung wäre aber auch hier durchaus vorstellbar. Nach der Analyse erscheinen die zwei Takte des darüber stehenden Lento tatsächlich als Motto: Es stellt fünf Töne (allerdings nicht die ersten fünf Reihentöne!) in fünf verschiedenen Tondauern und mit fünf Sechzehnteln Pause vor. Die Notation der Zwölftonreihe daneben ist dagegen ein Hilfsmittel und unterstreicht den Studiencharakter des Manuskripts. Dieser Studie folgt chronologisch eine Klarinettenskizze mit dem Titel »Ejercicio No. 1« (vgl. Abb. 28) vom 18. Januar 1957,114 die in der Exposition das Bemühen Kagels zeigt, die Reihe Ofis nur aus Sekunden und Tritoni aufzubauen und dabei im Bereich der tiefsten Klarinettenlage zu bleiben. Der letzte Reihenton wird übergebunden und ist gleichzeitig Beginn der nächsten Reihe (Ug, es folgen danach Ofis, Ug, Ufis und zum Schluss eine Verschränkung von Kfis und KUg) im 5 / 4-Takt. Mit Hilfe der Tondauern komponierte Kagel ein accele-

114 PSS SMK Mappe Frühe Studien und Entwürfe 1. Dossier lose [3 / 5].

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Abbildung 28: Kagel, Klarinettenskizze »Ejercicio No. 1«, 18.1.1957

Sammlung Mauricio Kagel, Paul Sacher Stiftung, Basel Mappe Frühe Studien und Entwürfe 1. Dossier lose [3 / 5]

rando aus, indem auf eine Viertel-Zählzeit nacheinander eins, zwei, drei, vier usw. bis zehn Töne erklingen, jeweils unterbrochen von einer Viertelpause und insgesamt 15 Viertel ergebend (= 3 Takte; »Viertel = 60« notierte sich Kagel darüber, so dass 15 Viertel gleich 15 Sekunden ergeben). Im gleichen Schema folgen noch drei Takte alla breve: eins, zwei, drei, vier und fünf Töne auf eine Halbe-Zählzeit. Der abschließende einfache Taktstrich zeigt, dass die »Übung« fortgesetzt werden könnte. Nur fünf Tage später entwarf Kagel noch ein Trio für Oboe, Klarinette und Fagott mit zehn Takten und zwei Themen, die er am 6. März in Variationen weiterverarbeitete. Noch einen Tag darauf ergänzte er auf der vierten Seite des Manuskripts eine 14-taktige »homagge a Verdi« mit dem Verweis auf Rigoletto, 3. Akt, 3. Szene, und bildete mit den beiden Themen des Triobeginns im Krebsgang (Tonhöhen und Rhythmus) und in den Stimmen vertauscht die fünf Schlusstakte.115 Diese Spiegelung wird schon auf der ersten Seite (also im Ent-

115 PSS SMK Mappe [Stück] Ob, Klar, Fg 1957, letzte Seite datiert mit 7.3.1957: In den Schlusstakten Klarinettenmotiv vom 23.1. nun rückwärts im Fagott, Fagottmotiv in der Oboe, jeweils einzelne Töne beider Themen von der Klarinette gespielt.

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Abbildung 29: [Stück] Oboe, Klarinette, Fagott 1957, Ausschnitt der ersten Seite, datiert mit 23.1.1957

Sammlung Mauricio Kagel, Paul Sacher Stiftung, Basel Mappe [Stück] Oboe, Klarinette, Fagott 1957

Abbildung 30a: Kagel, Pieza für Klarinette, Manuskript, Beginn

Mauricio Kagel, Elegía & Pieza para clarinete solo (1956 & 1957), © Frankfurt a. M. u. a. 2012, o. S.

Abbildung 30b: Kagel, Pieza für Klarinette, Manuskript, T. 15-17

Mauricio Kagel, Elegía & Pieza para clarinete solo (1956 & 1957), © Frankfurt a. M. u. a. 2012, o. S. Mit forte endet die Reihe Oh, piano beginnt die Reihe Kfis (Anfangston c3); auch die letzten drei Töne der Zeile werden mit den beiden ersten in der folgenden wieder zu einer Phrase aus fünf Tönen verbunden

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wurf vom 23. Januar, vgl. Abb. 29) angekündigt, wo die erst in Takt 6 einsetzende Oboe die ersten vier Töne des Fagottmotivs (Ocis) rhythmisch identisch (Oc) und rückwärts vorstellt. Beachtenswert ist, dass Kagel mit dieser Kopplung von Tonhöhen und Rhythmus und deren Spiegelung noch immer die Verfahren verwendete, mit denen er schon die Variaciones para cuarteto mixto (Thema und 6. Variation) und einen Teil der Música para una torre erstellte. Besonders auf der dritten Seite des Manuskriptes entfernt er sich jedoch von der Strenge und exponiert eine Reihe vornehmlich aus Quarten. Wiederum eine etüdenhafte Struktur findet sich in Pieza, in der neben der Originalreihe Oa (vgl. Abb. 30a) deren Krebsgang Kas (Anfangston d) in Transpositionen variiert wird: Zwei Lento-Teile im 4 / 4-Takt umschließen drei 2 / 4und neun 5 / 8-Takte, in denen rhythmische Gruppen von meist zwei oder fünf Tönen die Reihen Oais, Kg, Oh und Kfis durchlaufen. In der Phrasengestaltung scheint wie schon in der Elegía das Spiel mit der Zahl 10 und ihren Teilern (hier 2 und 5, in der Elegía auch 2 + 3 und 4 + 1) grundlegend zu sein (vgl. Abb. 30b). Der abschließende Lento-Teil ist der rhythmische Krebs der sechs Takte vom Beginn mit den Reihen Oc und Kf.116 Dynamik, espressivo molto und Phrasierung in Pieza erinnern an die Gestaltbildung der Wiener Schule. Die plötzliche Ansammlung von Werken bzw. Skizzen für Klarinette allein und im Ensemble legt nahe, dass sich Kagel entweder selbst dem Instrument spielender Weise intensiver widmete oder / und eine spezielle Inspirationsquelle existierte. Da auch in Francisco Kröpfls Werkverzeichnis eine Música 1956 für Klarinette zu finden ist, gab es vielleicht einen Interpreten, der beide Komponisten anregte. An guten Klarinettisten mangelte es in Buenos Aires zweifellos nicht: Neben dem in der ANM in den fünfziger Jahren regelmäßig spielenden Efraín Guigui kommen auch Mariano Frogioni oder Julio Rizzo in Frage, mit denen Kagel im Oktober und November 1956 in Konzerten auftrat. Bedeutsam könnte auch sein, dass kurz vor der Entstehung der Elegía in den Konzerten am 23. und 24. November, bei denen Kagel beteiligt war, Kompositionen mit besonderen Klarinettenparts auf den Programmen standen: einerseits Franz Schuberts Der Hirt auf dem Felsen, andererseits das Trio op. 3 für Flöte, Klarinette und Bassklarinette von Carlos Rausch, entstanden 1955.117

116 Die einzigen Töne, die sich nicht in dieses Schema einpassen sind b2 und a1 kurz vor Schluss, sie müssten a und as lauten. 117 Vgl. das Konzert am 25.10.1956 in der Universität (Facultad de Filosofía y Letras), bei dem Kagel einen einführenden Vortrag hielt und Frogioni spielte, die sommerliche Veranstaltung »camping musical« am 23.11.1956 in San Isidro mit Kagel als Leiter und Frogioni sowie Rizzo als Solisten sowie das Konzert zum Tag der Musik

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Zu den Aphorismen und Rhythmusstudien kann auch die schon früher entstandene Hommage a Apollinaire118 für Klarinette und Klavier vom 11. November 1954 gezählt werden: Die Reihe verläuft hier insgesamt dreimal zunächst solistisch im Klavier, danach in der Klarinette, wobei sich alle zwei Takte das Tempo durch Taktwechsel (3 / 2, 3 / 4, 3 / 8, 3 / 16, 3 / 32, 3 / 64) verdoppelt. Erst am Ende erklingen beide Instrumente mit langen Tönen im Duo. »Hin und zurück« Mit Ausnahme der für Chorzwecke (wie »Hommage a Fuchs«) und der ausschließlich 1955 / 56 entstandenen Werke und Skizzen (Ocho motetes apócrifos, De Ruina Mundi, Preludio No. 1) basieren Kagels Kompositionen auf Zwölftonreihen. Bei deren Vergleich ist die große Zahl an Sekunden und Terzen (und deren Umkehrungen) sowie das häufige Vorkommen des Pitch-class sets 4-1 auffällig; reine Quarten spielen bei der Reihenkonstruktion dagegen eine untergeordnete Rolle und treten nur in der Música para una torre [Teil 1, Orchester] (1953) sowie im Bläsertrio von 1957 gehäuft auf. Während die Organisation der zwölf Töne in den Variaciones para cuarteto mixto nur grob strukturiert ist, steigert sich der Konstruktionsgrad in den Jahren 1953 / 54 und nimmt danach wieder ab: Im Sexteto bilden die Töne von a chromatisch aufwärts bis d den ersten Teil der Reihe und zwei sich überschneidende Dreiergruppen mit gleichen Intervallstrukturen (pc set 3-2), die zweite Dreiergruppe ist dabei die Umkehrung der ersten. Die Töne es bis as bilden den zweiten Teil der Reihe, unterteilt man diese wiederum in zwei Dreiergruppen, erhält man das gleiche Pitch-class set 3-1. Die Reihen der Cuatro piezas para piano stellen danach den Höhepunkt innerer Konsistenz dar: Diejenige des ersten und dritten Stücks – von Kagel in den

am 24.11.1956 in PSS SMK Box Programmhefte Argentinien. Am 24.11. sowie schon in den ANM-Konzerten 1955 spielten auch Gerardo (heute Giora) Feidman sowie Tito Rausch Klarinette. Feidmans Vater Leo war schon 1945 / 46 als Klarinettist in der ANM engagiert. Wichtigster Lehrer von Giora Feidman war zudem Juan Daniel Skoczdopole; mit ihm und den Brüdern José und Oswaldo Barrios spielte er im Klarinettenquartett des Teatro Colón, vgl. Giora Feidman, Du gehst, du sprichst, du singst, du tanzt. Erinnerungen, München 2011, S. 95 ff. 118 PSS SMK Mappe Frühe Studien und Entwürfe 1. Dossier lose [3 / 5]. Erwähnt werden »Aphorismen von Apollinaire« im Programm zum Konzert »Musik der Zeit« beim WDR am 19.9.1958 (Historisches Archiv des WDR, Signatur 11617). Vereinzelt finden sich auch Skizzen mit ähnlichen Überschriften und darunter stehenden Tonreihen.

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Skizzen als »Variante no. 1« bezeichnet und daher möglicherweise zuerst entstanden – besteht nur aus Terzen und Sekunden; die des zweiten und vierten sogar nur aus kleinen Terzen und kleinen Sekunden. Würde man diese Reihe in Dreiergruppen denken, ergäbe sich viermal das Pitch-class set 3-3; dies lässt sofort an Weberns Konzert op. 24 denken, welches Kagel zum Zeitpunkt der Komposition auch gut kannte. In den Skizzen notierte sich Kagel die Reihe ab cis mit der Umkehrung von g. Sieht man in Ocis über das tief oktavierte f hinweg, ist die erste Dreitongruppe tatsächlich die Zelle für das folgende; ihr Krebs der Umkehrung, Krebs und Umkehrung bilden dann die restlichen Reihentöne (vgl. Abb. 32).

Abbildung 31: Reihen einiger Skizzen und Kompositionen 1950 bis 1952 Skizze November 1950 (?) – Feria No. 2 [Música para una torre, Teil 2, gemischtes Ensemble]

Skizze Juli 1951 (?) – Sextett (Bläser / Schlagzeug: 24.-28.12.1953) – [Música para una torre, Teil 3]

Variaciones para cuarteto mixto (1952)

Transposition Oe

[= Krebs der vier Töne ]

Ue

Grafik Christina Richter-Ibáñez

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Abbildung 32: Reihen einiger Kompositionen 1953 / 54 Música para una torre [Teil 1, Orchester] (1.-13.12.1953)

Fragment »Asesinato« (1953)

Sexteto (1953)

Uc

Cuatro piezas para piano (1954) I + III

II + IV

Ug

Cinco canciones del Genesis (1954) I

II (Ableitung von I durch 1 12 2 11 3 10 usw.)

Grafik Christina Richter-Ibáñez

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Kaum zufällig erscheint, dass Kagel 1956 an der Aufführung von Hindemiths Sketch Hin und zurück beteiligt war (vgl. oben S. 173ff.), in dem die Handlung von der Mitte an phrasenweise rückwärts verläuft, wenngleich Musik und Sprache nicht Ton für Ton bzw. Wort für Wort oder Buchstabe für Buchstabe im Krebsgang geführt werden. Spätestens 1956 setzte sich Kagel in Skizzen mit der Verknüpfung von Sprache und Tondauern auseinander; eine Lösung vom linearen Sprachverlauf ist jedoch noch nicht zu diagnostizieren. Das Spiel mit der Sprache gehörte zu Kagel, dem bei der Beschäftigung mit Webern dessen Vorliebe für Palindrome oder die Begeisterung für das Sator-Quadrat begegnet sein dürfte.119 Die Übersetzung von »Palindrom« ist auf Spanisch »capicúa«, das auf Ziffern bezogen »symmetrische Zahl« bedeutet. Kagel wies auf das in Buenos Aires weit verbreitete Sammeln von Eintritts- und Fahrkarten mit »krebs- oder mittig-symmetrischen Zahlen«120 hin und räumte ein, dass er seine eigene capicúa-Sammlung für Anagrama verwendete – nicht nur dafür, könnte man zum Beispiel mit Blick auf die Elegía für Klarinette vermuten (vgl. oben S. 285 f.). Mit dem Fund des Palindroms »In girum imus nocte et consumimur igni« für Anagrama wird Kagel aber endlich die Umsetzung der Prinzipien Spiegelung und Variation bei der Sprachbehandlung – ein wirkliches »hin und zurück« – gelingen. Die spätere Montage der daraus abgeleiteten musikalischen Bausteine erfolgte – wie die neue Zusammensetzung des Streichsextetts (vgl. oben S. 271 f.) – erst nach der Ankunft in Köln. Hier müsste gefragt werden, warum Kagel die Erfahrungen am Schneidetisch, die er mit der Rettung von Filmen in Buenos Aires gesammelt hatte, nicht schon früher auf seine Kompositionen anwandte. Kagel erinnerte sich rückblickend, dass ein ausschließlicher Verbleib im webernschen Idiom ihm keine kompositorischen Perspektiven versprach. »Das Werk Anton Weberns bedeutet für mich als Komponist nicht mehr als das Œuvre anderer Großer: gute Musik. Den Kult um Webern habe ich nie gemocht, wie ich jegliche Mystifizierung auch außerhalb der Kunst ablehne. Bereits in Argentinien, als ich meine ersten vernünftigen Töne niederschrieb, führte ich lange Streitgespräche mit jungen Komponisten, die nach der Entdeckung Weberns völlig seinem Zauber erlagen. Der Instinkt sagte mir damals, daß die mühsame Synthese seiner Musik, die er nach einem ganzen Leben erreichte, nicht das Richtige für einen Siebzehnjährigen war, der ein Vorbild suchte. Und tatsächlich: nicht wenige dieser Kollegen gaben im Laufe der Jahre das Komponieren

119 Vgl. Anton Webern, Der Weg zur neuen Musik, hg. von Willi Reich, Wien 1960, S. 60 f. 120 Kagel, Dialoge, Monologe, S. 118.

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auf. Die Töne Weberns, die fast immer am Rande des Schweigens erklingen, brachten meine Freunde frühzeitig zum Verstummen.«121

Wie dargelegt wurde, vollzog Kagel wie die anderen »jungen Komponisten« in Buenos Aires – gemeint sind möglicherweise jene, die sich 1953 als Gruppe der Zwölftonkomponisten definierten (vgl. oben S. 125) – Schönbergs und Weberns Kompositionen in eigenen Studien nach. Er baute seine Werke auf durchdachten Zahlen- und Intervallreihen mit Symmetrien und vielfältigen inneren Beziehungen auf und dehnte die Reihenstruktur auf anderes Material aus. Später in Europa variierte er so vorgeformtes Material mit seriellen Verfahrensweisen und wählte aus diesem Fundus wiederum nur einige Elemente aus, die er zur Komposition zusammenfügte. Aber schon die argentinischen Stücke zeigen, dass Kagel tatsächlich weder dem explizit webernschen »Zauber« erlag, noch der Wiener Schule allein verbunden blieb: Inspirationsquelle waren für ihn auch einzelne Werke und Techniken quer durch die Musikgeschichte, wie die Verweise auf alte Musik in den Ocho motetes apócrifos oder das Verdi-Zitat aus Rigoletto im Trio-Entwurf 1957 zeigen. Letzteres überrascht aufgrund seiner Einfachheit, darum ist zu vermuten, dass Kagel weniger die musikalische Substanz als vielmehr der Symbolcharakter der wenigen Takte interessierte: In Rigoletto stehen sie vor der Beauftragung Sparafuciles zum Mord in gewitterschwerer Nacht. In dieser Bedeutung scheint es eine Verbindung zu anderen Zitaten und Texten zu geben, die Kagel in mehreren Frühwerken aufgriff: Um einen Mord ging es schon in »Asesinato« aus Federico García Lorcas Poeta en Nueva York; um Tote drehte sich Kagels erste Filmmusik auf der Grundlage von Borges’ Gedicht Muertes de Buenos Aires, das sich wiederum auf das Lied »Entre la vida y la muerte« (»Zwischen Leben und Tod«, das Lied wurde auch »De profundis« genannt) von Enrique Vicente Arnol bezog (vgl. oben S. 149 f.); auch das vierte und fünfte der Cinco canciones del Génesis verwendete biblische Verse über Zerstörung und Tod / Trauer. Hier fügt sich die Skizze mit Ausschnitten der Variaciones para cuarteto mixto und Texten aus dem 130. Psalm (»De profundis«) ein. Schon im Frühwerk sind also, mit Thomas Meyer gesprochen, »Momente mit einer gewissen Morbidezza«122 zu finden; der Tod – laut Kagel eines der »wenige[n]

121 Mauricio Kagel in »1968er Erinnerungen (Reaktionen)«, in: Heinz-Klaus Metzger / Rainer Riehn, Anton Webern II (Musik-Konzepte Sonderband), München 1984, S. 105-111, hier S. 111. 122 Mauricio Kagel / Thomas Meyer, »Gedanken sind nicht an eine musikalische Sprache gebunden. Mauricio Kagel im Gespräch«, in: MusikTexte 30 (1989), S. 47 f, hier S. 48.

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Themen, die interessant sind«123 – ist in seinem Werkkatalog bis hin zu In der Matratzengruft (2007 / 08) in vielfältiger Weise präsent. Mit Blick auf das Skizzenmaterial entsteht der Eindruck, dass Kagel nach dem Bruch mit der ANM vor allem Studien alter Musik und einzelner Instrumente betrieb, die Kompositionstechnik sich von derjenigen um 1953 / 54 aber kaum unterschied, wobei weiterhin die Suche nach rhythmischer Ordnung und das Prinzip der Spiegelung dominierten. Ob dieses Verharren den vielen Aufgaben als Interpret geschuldet war oder auf mangelnde Inspiration vor Ort zurückgeführt werden muss, sei dahingestellt. Die Strategie der Verknüpfung seiner kompositorischen Ideen in der Form der Montage setzte Kagel offensichtlich erst nach der Studio- und Schnitterfahrung in Köln in eigenen Kompositionen um und führte sie in der Folge zur Meisterschaft. Auch theatralische Konzeptionen finden sich in den frühen Skizzen nicht. Ideen zu einem mehrdimensionalen Musiktheater, wie diejenigen von César Jannello (vgl. oben S. 137 f.), schlummerten möglicherweise dennoch in Kagel, traten aber erst nach dem Zusammentreffen mit John Cage im Jahr 1958 deutlicher hervor.

123 Ebd. Laut Kagel im Gespräch mit Adelbert Reif, »Ich befinde mich immer auf Entdeckungsreise«, in: Universitas. Orientierung in der Wissenswelt 61 (2006), H. 717, S. 301-312, hier S. 312, gebe es nur vier »Topoi«, aus denen Kunst schöpfe: »Liebe, Tod, Glaube, Natur«.

Perspektiven

Das Interesse der argentinischen Musikwelt an »ihrem« Komponisten Kagel nahm zu Beginn des 21. Jahrhunderts und besonders mit Kagels Besuch in Buenos Aires im Jahr 2006 in gleichem Maße zu wie Kagels Bereitschaft, ausführlich von seiner Jugendzeit zu erzählen. Dem vor allem in Interviews gegebenen subjektiven Komponistenrückblick folgte die vorliegende Untersuchung, dabei präzisierte sie ihn aber mit einer Fülle zeitgenössischer Dokumente. Möglich waren die Auswertung der von Kagel aufbewahrten Programmzettel, Plattenmitschnitte und Kompositionen sowie deren Vergleich mit anderen Quellen und Zeitungsberichten. Besonders seine jeweils vierjährige Mitwirkung als Interpret bei der Agrupación Nueva Música (1950-1954) und in der Sociedad Hebraica Argentina (1952-1956) sowie gelegentliche Auftritte in kleineren Institutionen und selbst gegründeten Ensembles werfen neues Licht auf den jungen Musiker. Signifikant erscheint, dass Kagel erst nach dem Sturz Peróns in staatliche Positionen an der Universität und im Teatro Colón gelangte; auch die Mitarbeit bei der Kammeroper begann erst 1956. Die ANM war mit bildenden Künstlern und Architekten in der BauhausTradition eng vernetzt. Kagels lebenslanges Interesse an visuellen Künsten und Literatur wurde darüber hinaus durch den Kontakt mit Filmförderern und die Aufführung surrealistischer Filme sowie die Literaten Jorge Luis Borges, Daniel Devoto, Julio Cortázar und Witold Gombrowicz grundlegend genährt. Kagels bis 1957 in Buenos Aires entstandenen Kompositionen konnten hier zum ersten Mal annähernd vollständig und chronologisch neu geordnet vorgestellt werden. Wie bei Juan Carlos Paz, Michael Gielen und Francisco Kröpfl ist die Rezeption der Wiener Schule evident; besonders 1953 / 54 finden sich bei Kröpfl (Variaciones 1953) und Kagel (Cuatro piezas para piano) stark symmetrische, beziehungsreiche Grundreihen in der Webern-Nachfolge. Auch die Prinzipien Umkehrung und Krebsgang erscheinen in verschiedenen Parametern. Bis 1957 beschäftigten Kagel Spiegelungen von Tonhöhenreihen, Rhythmusfolgen

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und Klangfarben weiter; es finden sich zudem wie in Gielens Kompositionen (musikalische) Zitate verschiedenster Herkunft. Deren Einsatz und Bedeutung bei Kagel sowie das umfangreiche Skizzenmaterial harrt weiterem Studium und umfassender Interpretation. Nach dem Bruch mit der ANM im Jahr 1954 ging Kagels kompositorische Produktivität zurück: Zwar gelangen ihm noch einige Uraufführungen der Lieder und Klavier- / Orchesterstücke, doch hatte er als Komponist offenbar kein Aktionsfeld mehr. Deutlich ist vor allem im Jahr 1955 die Hinwendung zu alter Musik, aus der Kagel vielleicht auch Mut schöpfte: »Komponist außer der Reihe in Südamerika zu sein bedeutete zugleich, sich ernstlich zu isolieren, da das offizielle Milieu die Hand über die Aufführungsmöglichkeiten hielt. Mit einer solchen Situation konfrontiert, braucht man als blutjunger Komponist zumindest die 1

Gewißheit, daß die Tradition des Abseitigen sehr weit zurückreicht.«

Kagel war kein Wunderkind, das wie Martha Argerich oder Daniel Barenboim früh öffentlich konzertierte und Interesse erweckte; seine Aktivitäten fanden eher am Rand des »großen« Musiklebens und während des Peronismus außerhalb staatlicher Institutionen statt. Zweifellos profitierte Kagel von der Ausdifferenzierung des Kulturlebens in Buenos Aires nach dem Zweiten Weltkrieg und vor allem von privaten Musikvereinen wie den Amigos de la Música oder dem Collegium Musicum. Obgleich seine Lehrer Juan Carlos Paz und Teodoro Fuchs als Zwölftöner bzw. Exilant Außenseiter waren, arrangierten sie sich mit den Verhältnissen und wurden durch persönliche Freundschaften bzw. eine gewisse kulturpolitische Entspannung ab 1953 auch in staatlichen Reihen präsenter; erinnert sei an die erwähnten Posten von Paz in der Kulturkommission 1953 sowie Fuchs’ Dirigate im staatlichen Kammermusikzyklus und im Teatro Colón (vgl. oben S. 88 bzw. 68 f.). Ambivalenter sind die Fälle von Alberto Ginastera, der trotz seines offenen Protests gegen Perón im Jahr 1945 offenbar weiterhin durchgängig am Konservatorium unterrichtete, sowie von Julio Perceval, dem Mitgründer der ANM, der 1950 für peronistische Propaganda-Veranstaltungen in Mendoza den Canto de San Martín komponierte. Auch Kagel nahm 1953 einen Auftrag an, der mit einer staatlichen Institution, nämlich der Leistungsschau Feria de América zu tun hatte, und konzipierte die Música para una torre. Während die Skizzen und Vorbereitungen zu diesem richtungsweisenden Turmpro-

1

Kagel / Klüppelholz, ».... / 1991«, S. 50.

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jekt hier dargestellt werden konnten, bleibt die tatsächlich erfolgte Umsetzung und Kagels Verhältnis zu den beteiligten Architekten vorerst ungeklärt.2 Ein interessanter Gegenpol zu den Veranstaltungen im »Jahr des Befreiers San Martín«, das der argentinische Staat 1950 ausgerufen hatte, war das Gastspiel der französischen Compagnie Madeleine Renaud und Jean-Louis Barrault mit ihrem musikalischen Leiter Pierre Boulez. Obwohl Kagel selbst oft hervorhob, dass ihn die Aufführungen der Truppe sehr beeindruckten, war die genaue Datierung des ersten Zusammentreffens bisher ausgeblieben. Der in dieser Arbeit bewiesene frühe Zeitpunkt – noch vor Kagels Auftritten in der ANM – ist bemerkenswert und scheint für seinen künstlerischen Werdegang einflussreich gewesen zu sein. Beim zweiten Besuch der Gruppe 1954 stand Boulez als Musiker weit mehr im Rampenlicht als noch 1950; diesmal waren besonders seine Berichte zu den aktuellen Entwicklungen in Köln von Interesse. Dennoch bleibt der Versuch, Mauricio Kagels Position im Kulturleben von Buenos Aires zu beschreiben, notwendigerweise unvollendet. Die Prüfung sämtlicher Konzertdaten erfolgte in der vorliegenden Arbeit auf der Basis der Zeitungen La Nación und La Prensa, die sowohl über die ANM-Konzerte als auch über die Gastspiele der Compagnie Madeleine Renaud und Jean-Louis Barrault regelmäßig berichteten (La Prensa nur bis zur peronistischen Intervention 1951 regelmäßig, danach sporadisch). In peronistischen Zeitungen wurden Stichproben zu einzelnen Daten unternommen, die mit wenigen Ausnahmen (El Mundo, El Hogar 1954) keine Ergebnisse brachten. Eine systematische Untersuchung und der Vergleich der Darstellung des Musiklebens anhand peronistischer und oppositioneller Berichterstattung würde ein eigenes Forschungsprojekt füllen. Dieses sowie die Auswertung weiterer Korrespondenz von Michael Gielen, von Francisco Curt Lange und vielen argentinischen Komponisten könnten dazu beitragen, das Musikleben im Peronismus umfassender zu beschreiben sowie zu erfahren, welche internationalen Radioprogramme und Musikübertragungen in Buenos Aires empfangen werden konnten und das Rezeptionsspektrum bereicherten. Kagel hat selbst dafür Sorge getragen, dass Musikforscher noch einige Zeit etwas zu knobeln haben werden, indem er seine Korrespondenz in der Paul Sacher Stiftung auf 25 Jahre nach seinem Tod unter Verschluss stellte. So bleibt mit seinen Worten festzuhalten: »Musikgeschichte ist ein kompliziertes Forschungsfeld, weil wichtige Vorgaben oft lange Zeit verborgen bleiben. […] For-

2

Zu diesem Projekt existiert offenbar weitere Korrespondenz in Mendoza / Argentinien, die hier nicht ausgewertet werden konnte, vgl. Quiroga, Feria de América, S. 254.

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schung und Wissenschaft dürfen auch auf ›wackeligen Füßen‹ stehen.«3 Im Hinblick auf Kagels musikalische Ausbildung stehen sein Unterricht bei Vincenzo Scaramuzza, Alberto Ginastera und Teodoro Fuchs auf solch »wackeligen Füßen« und bedürfen weiterer Forschung. Besonders der Einfluss von Teodoro Fuchs, der 1933 aus Deutschland zunächst in die Türkei und dann 1937 nach Argentinien flüchtete, ist noch kaum erforscht.4 Fuchs lebte zunächst in der Stadt Córdoba, war ab 1947 mit der Asociación Amigos de la Música in Buenos Aires eng verbunden und dirigierte in den fünfziger Jahren immer häufiger auch große Orchester in der Hauptstadt. Neben Kagel unterrichtete er zum Beispiel Rodolfo Arizaga, Carlos Roqué Alsina und César Franchisena. Weitere Archivaufenthalte wären nötig, um Kagels Studienzeit an der Universität, über die kaum Informationen gegeben sind, zu erforschen. Viele weitere Aspekte seines frühen Musikerlebens mussten hier gleichfalls wegen fehlender Quellen ausgeklammert werden: So existieren Berichte, er habe Ende der vierziger Jahre als Tontechniker eine Expedition nach Bolivien und Peru begleitet5 oder in seiner Jugendzeit New-Orleans-Jazz gespielt.6 Danach ist der Übergang nach Europa kaum dokumentiert: Wann genau erfolgte die Bewerbung um ein französisches Stipendium, um im Club d’Essai von Radio France Musique Concrète zu studieren? Wann die Bewerbung beim DAAD? Gab es tatsächlich schon von Buenos Aires aus Kontakt mit Herbert Eimert in Köln?7 Es steht außer Frage, dass Kagels Werke bis ins hohe Alter Aspekte seines Lebens thematisierten, wie zum Beispiel der Werktitel …den 24.12.1931 verstümmelte Nachrichten mit der Verwendung seines Geburtsdatums zeigt. »Was ich mache, ist sehr persönlich […]«,8 stellte er zudem 1982 im Kontext seiner

3

Kagel / Köhler, »›Der Fleischwolf Gottes‹«, o. S.

4

Vgl. Silvia Glocer, »Acerca de los músicos judíos exiliados en la Argentina durante el nazismo«, in: Nuestra memoria 14 (2008), H. 30, S. 17–40, hier S. 26, online: http://www.museodelholocausto.org.ar/files/publicaciones/nuestra_memoria_30.pdf (11.3.2013).

5

Vgl. Kagel, Dialoge, Monologe, S. 255 und 257 sowie Kagel / Köhler, »›Der Fleisch-

6

Vgl. Peter Andraschke, »Exotica aus Deutschland«, in: Tadday (Hg.), Mauricio Ka-

7

Vgl. Kagel, Dialoge, Monologe, S. 39. Briefwechsel von Kagel mit Eimert ist im

wolf Gottes‹«, o. S. gel, S. 51-70, hier S. 59. WDR Archiv nicht erhalten. Auch unter dem Nachlassbriefwechsel von Eimert im Besitz von Helmut Kirchmeyer gäbe es keine Informationen zu Kagel, so Kirchmeyer in einer E-Mail vom 9.9.2013 an d. Verf. 8

Kagel / Prox, »Abläufe, Schnittpunkte – montierte Zeit«, S. 122.

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filmischen Arbeit fest. Einige Titel wie Tango alemán und Besetzungen wie das Bandoneon in Pandorasbox zeigen offensichtlich argentinische Kontexte; andere Werke enthalten – manchmal versteckt in ersten Skizzen und später von anderem Material überlagert oder verwischt, manchmal aber weiterhin unterschwellig spürbar – Ideen, die auf Kagels frühe, auch außermusikalische Erfahrungen in Buenos Aires zurückgehen. In Ansätzen wurde hier auf Werke verwiesen, ein ausführliches Studium der umfangreichen Materialien ab Anagrama hätte den Rahmen jedoch gesprengt und bleibt zukünftigen Forschungen überlassen. In den umfangreichen Materialien des Nachlasses in der Paul Sacher Stiftung sind jedenfalls noch weitere Verbindungen und möglicherweise auch Ausschnitte früher Kompositionen zu vermuten. So gilt für das Hören und Studieren von Kagels Kompositionen sein Diktum: »Musikhören ist zugleich Musikgeschichte hören. Beides hat den gleichen Ursprung: deuten.«9 Dabei sollte man auch vor gewagten Interpretationen nicht zurückschrecken, denn er räumte ein: »Entfernte Assoziationen und schräge Querverbindungen sind der Humus meiner Phantasie.«10 Kagels Lesehunger, aber auch die persönlichen Bekanntschaften mit Schriftstellern setzten sich auch in Köln fort, wo er wie Juan Carlos Paz (vgl. oben S. 199) namentlich in Unterhaltungsliteratur Eingang fand: Bei Elke Heidenreich las man 1995 von Nero Corleone, den »mit Kagels Kater Karl […] eine schöne Männerfreundschaft«11 verband. In der Fortsetzung Nero Corleone kehrt zurück von 2011, also nach Kagels Tod im Jahr 2008, heißt es: »Er war ja auch mit Kagels Kater Karl damals in Köln eng befreundet gewesen, und zusammen waren sie oft zu Kagels Freude über das Klavier gelaufen, und Kagel, der ein berühmter Komponist war, hatte gerufen: ›Schönberg! Schönberg!‹ Das war ein äußerst moderner Komponist gewesen. Jetzt war Kagel tot, Karl war tot, Schönberg war schon sehr 12

lange tot […].«

Was so unterhaltsam daherkommt, lässt einerseits unweigerlich an die beschriebenen Wortspiele mit gleichen Anlauten von Cortázar und Kagel, andererseits an Boulez’ Diktum »Schoenberg est mort« denken. Heidenreichs Bezug zu Kagel wäre ebenso nachzugehen wie der Diskrepanz zwischen Kagels Verschwiegen-

9

Kagel in András Varga, »Musikhören ist Geschichte hören. Ein Gespräch mit Mauricio Kagel«, in: NZfM 146 (1985), H. 6, S. 20–24, hier S. 24.

10 Kagel, Dialoge, Monologe, S. 154. 11 Elke Heidenreich, Nero Corleone. Eine Katzengeschichte, München 1995, S. 57. 12 Dies., Nero Corleone kehrt zurück. Es ist immer genug Liebe da, München 2011, S. 44.

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heit zum Privatleben und den persönlichen / privaten Aspekten in seinem Werk. Die Lücken sind zweifellos im Sinne des Komponisten; möglicherweise werden einige in zwanzig Jahren nach der Öffnung seiner Korrespondenz und privater Dokumente zu füllen sein, andere nie. So ist hier mit Kagel zu schließen: »Ich weiß, dass wir nie aufhören werden, die Vergangenheit zu deuten.«13

13 Kagel / Köhler, »›Der Fleischwolf Gottes‹«, o. S.

Anhang

E-M AILS Jorge Milchberg an die Verfasserin (Auszüge), Orthografie wie im Original 24. Dezember 2010 […] Mauro y yo grabamos en piano a 4 manos un tema que Satie compuso para el film Entreacte de René Clair....Se trata de una mùsica que repite siempre una secuencia ritmica de ocho compases (una especie de musica para hacer gimnacia...un poco ridicula...pero adaptada al humor de la pelicula.) Por supuesto, no se si alguien tiene una copia...Creo que Entreacto debe haber pasado con esa musica alguna vez en un cine club... Por el año 50...participé a un concierto en el cual toqué el piano en una obra de Slavco Osterc dirigida por Kagel....Un Magnificat...! Repetimos esa obra en la radio y fué bien recibida por Ginastera..! Yo tomaba parte en esa época del equipo de un estudio de grabacion que Mauro bautizò ION (y que existe aun...pero el dueño no tiene ni idea que Mauro grabò ahi (con mi ayuda) una musica para un cuento de Borges.... era una especie de Musica Concreta golpeando directamente en las cuerdas de un piano abierto... Por otra parte...teniamos muchos amigos comunes y alguna vez para salir de una tristeza...nos pusimos a tocar sinfonias de Haydn a 4 manos con tal alegria que Mauro terminò por bautizarme con la expresion... »El Gozador« En todo caso, nosotros nos divertimos bastante. […]

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17. Januar 2011 […] Kertesz comprò el estudio después de mi partida a Europa y el nombre ion lo puso Mauro. Yo grababa los conciertos de La Wagneriana y los de Nueva Mùsica ( sin derecho...pero para la publicidad de ION...ya que figuraba en el programa...) Yo estudié armonia en el Collegium y privadamente con Leuchter.....y dejé de estudiar con él cuando descubri que no apreciaba Ravel...... mi mùsico preferido ..( no recuerdo que Mauro haya estudiado ahi...) […] Mauro me trajo a mi casa a Gombrowicz el que me puso furioso hablando mal de Beethoven ...cuando yo estaba descubriendo sus ùltimos cuartetos y andaba loco por La Gran Fuga...(mas tarde, en Europa...conoci a la mujer de Gombrowicz...la Canadiense....quien me contò que Gombrowicz la invitò a Polonia y le enseño a hablar...para poder comunicar con sus amigos.....y tuvo la sorpresa de descubrir que el idioma que le enseñò...no era polaco !!! sino algo que el inventò para ella....(es ahi donde descubri que su burla de Beethoven era un aspecto de su personalidad....! ) […]

18. Januar 2011 […] Para mi, que tenia unos veinte años en esa época...que se insulte a Beethoven era muy grave....una ofensa...sobre todo que yo lo estaba descubriendo... […] Las grabaciones que yo hacia en la Wagneriana y en Nueva mùsica eran para las asociaciones (fué una idea mia y la aceptaron) pero aparte de tener el master...que quedò en ION yo entregaba una copia y eso es todo. La persona que retomò ION destruyò los discos (fué àntes de Kertesz). La idea de Mauro era que si alguna vez se hicieran discos con la marca ION....con la »o« en el medio...la etiqueta haria caer la »o« en el eje del disco...ademas que ion es algo asi como una energia....pero no sé decirte mas al respecto (podria haber sido »SOL« con el mismo resultado.) […]

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Alejandro Rússovich an die Verfasserin (Auszug) 28. September 2009 […] Conocí a Mauro en el Rex, y alli me enteré de que era el hermano de Guida. No sé quién lo llevó. Guida Kagel murió soltera, sin hijos. Había un hermano mayor, que yo no traté. […]

Alejandro Saderman an die Verfasserin (Auszüge) 17. Januar 2011 […] fuimos muy amigos con Mauricio (Mauro, le decíamos), a partir de nuestro común interés por el cine. […] Muertes de Buenos Aires, un corto sobre poemas de Borges, quedó inconcluso, de manera que la música que escribió Kagel quedó como proyecto. Yo me fui de Argentina y viví la mitad de mi vida en el exterior. Regresé en 2003 y traté de localizar a Aldo Persano, con quien habíamos hecho el corto (que quedó en copia muda en 16mm) para intentar terminarlo. Lamentablemente me encontré con la triste noticia de mi amigo y su mujer habían fallecido, y no hallé ningún modo de localizar a alguien que pudiera darme noticias. De manera que tanto la película como la música de Kagel han quedado en algún limbo. Me encontré una vez con Mauricio en Colonia, en un viaje que hice por Europa hace muchos años, y lo volví a ver en Buenos Aires en su última visita. […]

22. Januar 2011 […] antes que nada, para cerrar el capítulo Muertes de Buenos Aires. Fue un corto que hicimos con Aldo Persano basado en un poema de Borges del mismo nombre. En ese poema, Borges cita una estrofa muy hermosa de una vieja milonga: »La muerte es vida vivida, la vida es muerte que viene«.

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Nos conocimos con Mauro en los años 50 en el club GENTE DE CINE. Era el único cine club de Buenos Aires en esa época, y las funciones eran en una sala de cine comercial, los sábados a la medianoche. Era una especie de ritual de la intelectualidad porteña, donde se vio todo el cine clásico: los primitivos, el expresionismo alemán, el cine francés, el cine soviético. Nos hicimos amigos, por afinidad de gustos. Ya en esa época a Mauro le interesaba el cine, no sólo como expectador. Recuerdo otra circunstancia: Mauro era andinista (equivalente a alpinista) y su dilema era que practicar ese deporte ponía en riesgo sus manos, algo muy delicado para un pianista. Fui uno de los pocos ajenos a la familia invitado a su fiesta de casamiento, en su casa de la localidad de Vicente López. […]

30. Juni 2011 […] En nuestra filmación, en efecto, registramos imágenes de los cementerios de la Chacarita y de la Recoleta. comparando de alguna manera los niveles sociales que se identifican con ellos. Popular el de la Chacarita, y de la clase alta el de Recoleta. Recuerdo en particular dos imágenes impactantes. Una, la de una carroza fúnebre de las antiguas, negra, barroca, tirada por caballos empenachados también negros. Y la otra, en una quema de basura humeante y ventosa, en pleno invierno, una mujer enfundada en una especie de mono y un pañuelo en la cabeza, con una criatura de no más de tres años, revolviendo en la basura. […] Entre los amigos ajenos al grupo familiar estaba [en el casamiento] Aldo Persano, también del club Gente de Cine y cineasta, con quien hicimos el corto. El tercer miembro del equipo de filmación era Nicolás »Pipo« Mancera, posteriormente famosísimo animador de la televisión. No recuerdo a Ursula como asistente a las funciones de Gente de Cine.

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B RIEFE Mauricio Kagel an Francisco Curt Lange Buenos Aires, 3. September 1956 (5 Seiten)

Acervo Curt Lange / Universidade Federal de Minas Gerais, Belo Horizonte

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Acervo Curt Lange / Universidade Federal de Minas Gerais, Belo Horizonte

A NHANG | 309

Acervo Curt Lange / Universidade Federal de Minas Gerais, Belo Horizonte

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Acervo Curt Lange / Universidade Federal de Minas Gerais, Belo Horizonte

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Acervo Curt Lange / Universidade Federal de Minas Gerais, Belo Horizonte

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Francisco Curt Lange an Mauricio Kagel Mendoza, 17. September 1956 Nicht unterschrieben, vermutlich Zweitschrift (1 Seite)

Acervo Curt Lange / Universidade Federal de Minas Gerais, Belo Horizonte

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Mauricio Kagel an Witold Gombrowicz Köln, 8. Dezember 1963 (1 Seite)

Aus dem Nachlass von Witold Gombrowicz, mit freundlicher Genehmigung von Rita Gombrowicz

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F OTOS Abbildung 33: Eheschließung Ursula Burghardt und Mauricio Kagel

Privatbesitz Pamela Kagel, Fotograf unbekannt

Abbildung 34: Bild des Brautpaares mit Mauricios Schwester Guida

Privatbesitz Pamela Kagel, Fotograf unbekannt

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Abbildung 35: Mauricio Kagel, Foto: Grete Stern

Bauhaus-Archiv Berlin Datierung: 1952, Neuvergrößerung vor 1976, Maße: 9,3 x 7,4 cm, Technik / Material: Silbergelatinepapier, Beschriftung rückseitig mit Kugelschreiber von Grete Stern: »Mauricio Kagel / Bs. As. 1952«

Abbildung 36: Chor der Sociedad Hebraica Argentina 1954

Sammlung Mauricio Kagel, Paul Sacher Stiftung, Basel Kagel in der Mitte, Rückseite mit Unterschriften und »CORO S.H.A. 27 / 10 / 54« sowie Stempel »Foto arte Rex Warnes 713 – T.E. 559864«

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Abbildung 37: Undatiertes Foto: Streichorchester, Chor, vier Solisten (vorn rechts Carlos Feller), Kagel dirigiert

Sammlung Mauricio Kagel, Paul Sacher Stiftung, Basel Rückseite: Stempel »Enrique Frommer Fotografo, T. E. 475580 Larrea 735 – 50. p. B – Bs.As« und Zahl 4435

Abbildung 38: Daniel Devoto, Aurora Bernárdez, Julio Cortázar und Guida Kagel (v. l. n. r.) auf dem Boulevard Saint Michel in Paris, ca. 1953

Privatbesitz Pamela Kagel, Fotograf unbekannt

Quellenverzeichnis

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332 | M AURICIO K AGELS BUENOS AIRES

Troncoso, Hugo Cancino / Carmen de Sierra (Hg.): Ideas, cultura e historia en la creación intelectual latinoamericana. Siglos XIX y XX, Quito 1998 D’Urbano, Jorge: Música en Buenos Aires, Buenos Aires 1966 Valenti Ferro, Enzo: 100 años de música en Buenos Aires, Buenos Aires 1992 Valenti Ferro, Enzo: La ópera de cámara en Buenos Aires, Buenos Aires 2002 Varga, András: »Musikhören ist Geschichte hören. Ein Gespräch mit Mauricio Kagel«, in: NZfM 146 (1985), H. 6, S. 20-24 Waldmann, Peter: Der Peronismus 1943-1955, Hamburg 1974 Webern, Anton: Der Weg zur neuen Musik, hg. von Willi Reich, Wien 1960 Webern, Anton: Über musikalische Formen. Aus den Vortragsmitschriften von Ludwig Zenk, Siegfried Oehlgiesser, Rudolf Schopf und Erna Apostel (Veröffentlichungen der Paul Sacher Stiftung 8), hg. von Neil Boynton, Mainz u. a. 2002 Wentzlaff-Eggebert, Harald (Hg.): Europäische Avantgarde im lateinamerikanischen Kontext. Akten des internationalen Berliner Kolloquiums, Frankfurt a. M. 1989 Zehner, Yvonne: »Esteban (Stefan) Eitler zwischen Europa und Lateinamerika«, in: Jürg Stenzl (Hg.), Mozart und Südamerika. A Global View of Mozart, Tagungsdokumentation, Salzburg 2003, S. 87-94 Zulueta, Jorge: La obra para piano de Juan Carlos Paz. Análisis y manuscritos, Buenos Aires 1976

I NTERNETRESSOURCEN García, María Amalia: »La abstracción en viajes de ida y vuelta. Contactos institucionales entre Argentina y Brasil a principios de los ’50«, auf: http:// lasa.international.pitt.edu/members/congress-papers/lasa2004/files/Garcia MariaAmalia_xCD.pdf (6.11.2012) Gomez, Juan Carlos: »Witold Gombrowicz & Mauricio Kagel«, auf: http:// revistaliterariaazularte.blogspot.com/2009/01/juan-carlos-gomez-witold-gom browicz_20.html (22.09.2009) Henck, Herbert: »Rita Kurzmann-Leuchter. Eine österreichische Emigrantin aus dem Kreis der Zweiten Wiener Schule«, auf: http://www.herbert-henck.de/ Internettexte/Kurzmann_II/kurzmann_ii.html (11.9.2013) Klüppelholz, Werner: »Ein Leben ohne Bücher ist genauso armselig wie ohne Musik«, Sendung vom 5.12.2011, 22.05 Uhr, SWR2, auf: http://www. swr.de/swr2/programm/sendungen/essay/-/id=659852/nid=659852/did=880 8882/56huxa/index.html (11.12.2011)

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Troncoso, Hugo Cancino / Carmen de Sierra (Hg.): Ideas, cultura e historia en la creación intelectual latinoamericana. Siglos XIX y XX, Quito 1998 D’Urbano, Jorge: Música en Buenos Aires, Buenos Aires 1966 Valenti Ferro, Enzo: 100 años de música en Buenos Aires, Buenos Aires 1992 Valenti Ferro, Enzo: La ópera de cámara en Buenos Aires, Buenos Aires 2002 Varga, András: »Musikhören ist Geschichte hören. Ein Gespräch mit Mauricio Kagel«, in: NZfM 146 (1985), H. 6, S. 20-24 Waldmann, Peter: Der Peronismus 1943-1955, Hamburg 1974 Webern, Anton: Der Weg zur neuen Musik, hg. von Willi Reich, Wien 1960 Webern, Anton: Über musikalische Formen. Aus den Vortragsmitschriften von Ludwig Zenk, Siegfried Oehlgiesser, Rudolf Schopf und Erna Apostel (Veröffentlichungen der Paul Sacher Stiftung 8), hg. von Neil Boynton, Mainz u. a. 2002 Wentzlaff-Eggebert, Harald (Hg.): Europäische Avantgarde im lateinamerikanischen Kontext. Akten des internationalen Berliner Kolloquiums, Frankfurt a. M. 1989 Zehner, Yvonne: »Esteban (Stefan) Eitler zwischen Europa und Lateinamerika«, in: Jürg Stenzl (Hg.), Mozart und Südamerika. A Global View of Mozart, Tagungsdokumentation, Salzburg 2003, S. 87-94 Zulueta, Jorge: La obra para piano de Juan Carlos Paz. Análisis y manuscritos, Buenos Aires 1976

I NTERNETRESSOURCEN García, María Amalia: »La abstracción en viajes de ida y vuelta. Contactos institucionales entre Argentina y Brasil a principios de los ’50«, auf: http:// lasa.international.pitt.edu/members/congress-papers/lasa2004/files/Garcia MariaAmalia_xCD.pdf (6.11.2012) Gomez, Juan Carlos: »Witold Gombrowicz & Mauricio Kagel«, auf: http:// revistaliterariaazularte.blogspot.com/2009/01/juan-carlos-gomez-witold-gom browicz_20.html (22.09.2009) Henck, Herbert: »Rita Kurzmann-Leuchter. Eine österreichische Emigrantin aus dem Kreis der Zweiten Wiener Schule«, auf: http://www.herbert-henck.de/ Internettexte/Kurzmann_II/kurzmann_ii.html (11.9.2013) Klüppelholz, Werner: »Ein Leben ohne Bücher ist genauso armselig wie ohne Musik«, Sendung vom 5.12.2011, 22.05 Uhr, SWR2, auf: http://www. swr.de/swr2/programm/sendungen/essay/-/id=659852/nid=659852/did=880 8882/56huxa/index.html (11.12.2011)

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Rossi, Cristina: »Vanguardia concreta rioplatense: Acerca del arte concreto y la música«, auf: http://icaadocs.mfah.org/icaadocs/Portals/0/WorkingPapers/ No1/Cristina%20Rossi.pdf (16.8.2012) http://hosting.operissimo.com/triboni/exec?method=com.operissimo.artist.web Display&xsl=webDisplay&id=ffcyoieagxaaaaaboexm&searchStr (9.3.2012) http://witoldo.blogspot.com/2005/11/cartas-inditas-de-witold-gombrowicz.html (22.9.2009) http://www.buenosaires.gob.ar/areas/cultura/cpphc/sitios/detalle.php?id=108 (1.2.2013) http://www.collegiummusicum.org.ar/botonera/1_collegium/5_quienes.php (8.4.2011) http://www.fotolog.com/juliocortazar/15825466 (10.5.2011) http://www.inmuvega.gov.ar/inmuvega/historia.htm (16.8.2012) http://www.jewishgenealogy.com.ar/guia1950/ancestors-phone-324.html (11.9.2013) http://www.konferenz-kultur.de/veranstaltung.php?id=1399 (5.10.2010) http://www.lexm.uni-hamburg.de (18.1.2013) http://www.mauricio-kagel.com/ (8.10.2012) http://www.museoenconstruccion.org.ar/feriadeamerica (25.2.2013) http://www.ubu.com/film/kagel.html (25.2.2013) http://www.vanriel.com.ar (3.11.2009) http://www.youtube.com/watch?v=2Kj9nK8NC74 (10.9.2012).

P ERIODIKA Akzente Arte Madí Argentinisches Tageblatt Buenos Aires Literaria Buenos Aires Musical Cabalgata Collage Cursos y Conferencias Delta El Hogar El Mundo Gebrauchsgraphik Gente de Cine

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Rossi, Cristina: »Vanguardia concreta rioplatense: Acerca del arte concreto y la música«, auf: http://icaadocs.mfah.org/icaadocs/Portals/0/WorkingPapers/ No1/Cristina%20Rossi.pdf (16.8.2012) http://hosting.operissimo.com/triboni/exec?method=com.operissimo.artist.web Display&xsl=webDisplay&id=ffcyoieagxaaaaaboexm&searchStr (9.3.2012) http://witoldo.blogspot.com/2005/11/cartas-inditas-de-witold-gombrowicz.html (22.9.2009) http://www.buenosaires.gob.ar/areas/cultura/cpphc/sitios/detalle.php?id=108 (1.2.2013) http://www.collegiummusicum.org.ar/botonera/1_collegium/5_quienes.php (8.4.2011) http://www.fotolog.com/juliocortazar/15825466 (10.5.2011) http://www.inmuvega.gov.ar/inmuvega/historia.htm (16.8.2012) http://www.jewishgenealogy.com.ar/guia1950/ancestors-phone-324.html (11.9.2013) http://www.konferenz-kultur.de/veranstaltung.php?id=1399 (5.10.2010) http://www.lexm.uni-hamburg.de (18.1.2013) http://www.mauricio-kagel.com/ (8.10.2012) http://www.museoenconstruccion.org.ar/feriadeamerica (25.2.2013) http://www.ubu.com/film/kagel.html (25.2.2013) http://www.vanriel.com.ar (3.11.2009) http://www.youtube.com/watch?v=2Kj9nK8NC74 (10.9.2012).

P ERIODIKA Akzente Arte Madí Argentinisches Tageblatt Buenos Aires Literaria Buenos Aires Musical Cabalgata Collage Cursos y Conferencias Delta El Hogar El Mundo Gebrauchsgraphik Gente de Cine

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La Nación La Prensa Le temps modernes Letra y Línea Los Anales de Buenos Aires Los Andes Lyra MusikTexte The Musical Quarterly nueva visión Neue Zeitschrift für Musik Papeles de Buenos Aires Polifonía Realidad Revista de la Universidad de Buenos Aires S.H.A. Órgano de la Sociedad Hebraica Argentina Sur ulm. Zeitschrift der Hochschule für Gestaltung

D ATEN -

UND

T ONTRÄGER

CD Inicios de la vanguardia musical en la Argentina. Juan Carlos Paz, Fondo Nacional de las Artes 1998, FNA / V-001 CD Mauricio Kagel. Tantz-Schul, Winter&Winter 2003, 910 099-2 CD Raras partituras 8: Juan Carlos Paz, Biblioteca nacional, Buenos Aires 2011, epsa music 1358-02 CD Webern. Gielen (Artis Quartett), Sony 1992, SK 48059 DVD / CD The Mauricio Kagel Edition, Winter & Winter 2006, 910128-2 DVD Invasión [1969], special edition colección malba.cine, Buenos Aires 2008 DVD Erlebte Geschichte. Aufbrüche, rückblicke, zeitläufte. Sendungen + Texte, hg. von Armin Köhler, Baden-Baden / Mainz 2009, NZ 5019 DVD süden. Gastón Solnicki on Mauricio Kagel, Kairos 2011, 0013172KAI DVD ars acustica – ars intermedia. Klaus Schöning im Gespräch mit Komponisten, Autoren und Klangkünstlern, hg. von Rolf W. Stoll, Mainz 2011, NZ 5025 DVD Juvenilia (Kopie von Arte Video, Buenos Aires) DVD La cabalgata del circo (Kopie von Arte Video, Buenos Aires) DVD La pródiga (Kopie von Arte Video, Buenos Aires)

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La Nación La Prensa Le temps modernes Letra y Línea Los Anales de Buenos Aires Los Andes Lyra MusikTexte The Musical Quarterly nueva visión Neue Zeitschrift für Musik Papeles de Buenos Aires Polifonía Realidad Revista de la Universidad de Buenos Aires S.H.A. Órgano de la Sociedad Hebraica Argentina Sur ulm. Zeitschrift der Hochschule für Gestaltung

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CD Inicios de la vanguardia musical en la Argentina. Juan Carlos Paz, Fondo Nacional de las Artes 1998, FNA / V-001 CD Mauricio Kagel. Tantz-Schul, Winter&Winter 2003, 910 099-2 CD Raras partituras 8: Juan Carlos Paz, Biblioteca nacional, Buenos Aires 2011, epsa music 1358-02 CD Webern. Gielen (Artis Quartett), Sony 1992, SK 48059 DVD / CD The Mauricio Kagel Edition, Winter & Winter 2006, 910128-2 DVD Invasión [1969], special edition colección malba.cine, Buenos Aires 2008 DVD Erlebte Geschichte. Aufbrüche, rückblicke, zeitläufte. Sendungen + Texte, hg. von Armin Köhler, Baden-Baden / Mainz 2009, NZ 5019 DVD süden. Gastón Solnicki on Mauricio Kagel, Kairos 2011, 0013172KAI DVD ars acustica – ars intermedia. Klaus Schöning im Gespräch mit Komponisten, Autoren und Klangkünstlern, hg. von Rolf W. Stoll, Mainz 2011, NZ 5025 DVD Juvenilia (Kopie von Arte Video, Buenos Aires) DVD La cabalgata del circo (Kopie von Arte Video, Buenos Aires) DVD La pródiga (Kopie von Arte Video, Buenos Aires)

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CD-Rom El cine argentino 1997, hg. von Fundación Cinemateca Argentina, Buenos Aires 1997

M USIKALIEN Devoto, Daniel: Libro de cantos (Politonía), Buenos Aires 1947 Gielen, Michael: Música per archi, pianoforte, baritono, trombone e timpani [1954] (UE 12518), Wien u. a. 1958 Gielen, Michael: Musik für Klarinette, Viola und Fagott [1948] (Litolff / Peters 8779), Frankfurt a. M. 1995 Gielen, Michael: Variationen für Streichquartett [1949] (UE 31125), Wien 1997 Kagel, Mauricio: MM 51. Ein Stück Filmmusik für Klavier (1976) (UE 16651), London 1977 Kagel, Mauricio: Sexteto de cuerdas (1953) (Philharmonia 530), Wien / London 1992 Kagel, Mauricio: Variationen für gemischtes Quartett / für Streichquartett [1951 / 52, rev. 1991] (Litolff / Peters 8770a), Frankfurt a. M. 1997 Kagel, Mauricio: cuatro piezas para piano (1954) Manuskriptedition (Peters), Frankfurt a. M. u. a. o. J. [2011] Kagel, Mauricio: Cinco canciones del Génesis (1954) (Peters), Frankfurt a. M. u. a. o. J. [2011] Kagel, Mauricio: Cuatro piezas breves para orquesta de cuerdas [1954 / 56] (Litolff / Peters 33190), Frankfurt a. M. u. a. 2011 Kagel, Mauricio: Cuatro piezas para piano (1954) (Litolff / Peters 11387), Frankfurt a. M. u. a. 2012 Kagel, Mauricio: Elegía & Pieza para clarinete solo (1956 & 1957) (Litolff / Peters 11388), Frankfurt a. M. u. a. 2012 Kagel, Mauricio: Ocho motettes apocrifos (Peters), Frankfurt a. M. u. a. o. J. [2011] Kagel, Mauricio: Preludio No. 1 para bandoneón (1956) (Peters), Frankfurt a. M. u. a., Druck in Vorbereitung Paz, Juan Carlos: Música 1946 (Ricordi Americana), Buenos Aires 1955 Paz, Juan Carlos: Dédalus 1950 (Ediciones Culturales Argentinas), Buenos Aires 1964

Q UELLENVERZEICHNIS | 335

CD-Rom El cine argentino 1997, hg. von Fundación Cinemateca Argentina, Buenos Aires 1997

M USIKALIEN Devoto, Daniel: Libro de cantos (Politonía), Buenos Aires 1947 Gielen, Michael: Música per archi, pianoforte, baritono, trombone e timpani [1954] (UE 12518), Wien u. a. 1958 Gielen, Michael: Musik für Klarinette, Viola und Fagott [1948] (Litolff / Peters 8779), Frankfurt a. M. 1995 Gielen, Michael: Variationen für Streichquartett [1949] (UE 31125), Wien 1997 Kagel, Mauricio: MM 51. Ein Stück Filmmusik für Klavier (1976) (UE 16651), London 1977 Kagel, Mauricio: Sexteto de cuerdas (1953) (Philharmonia 530), Wien / London 1992 Kagel, Mauricio: Variationen für gemischtes Quartett / für Streichquartett [1951 / 52, rev. 1991] (Litolff / Peters 8770a), Frankfurt a. M. 1997 Kagel, Mauricio: cuatro piezas para piano (1954) Manuskriptedition (Peters), Frankfurt a. M. u. a. o. J. [2011] Kagel, Mauricio: Cinco canciones del Génesis (1954) (Peters), Frankfurt a. M. u. a. o. J. [2011] Kagel, Mauricio: Cuatro piezas breves para orquesta de cuerdas [1954 / 56] (Litolff / Peters 33190), Frankfurt a. M. u. a. 2011 Kagel, Mauricio: Cuatro piezas para piano (1954) (Litolff / Peters 11387), Frankfurt a. M. u. a. 2012 Kagel, Mauricio: Elegía & Pieza para clarinete solo (1956 & 1957) (Litolff / Peters 11388), Frankfurt a. M. u. a. 2012 Kagel, Mauricio: Ocho motettes apocrifos (Peters), Frankfurt a. M. u. a. o. J. [2011] Kagel, Mauricio: Preludio No. 1 para bandoneón (1956) (Peters), Frankfurt a. M. u. a., Druck in Vorbereitung Paz, Juan Carlos: Música 1946 (Ricordi Americana), Buenos Aires 1955 Paz, Juan Carlos: Dédalus 1950 (Ediciones Culturales Argentinas), Buenos Aires 1964

336 | M AURICIO K AGELS BUENOS AIRES

M ANUSKRIPTE Gielen, Michael: Variationen für Streichquartett (Aufführungsmanuskript des Artis-Quartetts) Kröpfl, Francisco: cuatro canciones de Aldo Maranca [1952] Kröpfl, Francisco: Música para flauta y clarinete [1952] Kröpfl, Francisco: Variaciones 1953 für Klavier Kagel, Mauricio: Manuskripte in Mappen der Sammlung Mauricio Kagel in der Paul Sacher Stiftung Basel (Kursivierung d. Verf. deutet auf Titel in Kagels Werkverzeichnis bzw. bereits erfolgte Drucklegung) Skizzenbuch 1948 Frühe Studien und Skizzen 1. Kladde Frühe Studien und Skizzen 2. Kladde [2 / 5] Frühe Studien und Entwürfe 1. Dossier lose [3 / 5] Frühe Studien und Skizzen 2. Dossier lose Variaciones para cuarteto mixto [1 / 2] Música para una torre [Teil 1, Orchester] Feria No. 2 [Música para una torre / Teil 2, gemischtes Ensemble]. [ohne Titel] [Música para una torre / Teil 3, Sextett bzw. Quartett] Música para una torre / Beleuchtungspartitur Música para una torre (Beleuchtungspartitur + Jannello) Asesinato (1953) Sextett 1953 (Bläser / Schlagzeug) Sextett (Fl, Klar, BKlar, Vl, Va, Vc; 1953; verworfen; unveröffentlicht) Muertes de Buenos Aires Cuatro piezas para piano Cinco canciones del Génesis, Entwurf mit Skizzen Cinco canciones del Génesis, Mappe 1 Ocho motetes apócrifos De Ruina Mundi Preludio No. 1 para bandoneón Cuatro piezas breves para orquesta de cuerdas Elegía para clarinete solo [Stück] Ob, Klar, Fg 1957 Pieza para clarinete solo Sextett 2 / 6 Anagrama Mappe 3: Skizzen und Entwürfe MM 51

336 | M AURICIO K AGELS BUENOS AIRES

M ANUSKRIPTE Gielen, Michael: Variationen für Streichquartett (Aufführungsmanuskript des Artis-Quartetts) Kröpfl, Francisco: cuatro canciones de Aldo Maranca [1952] Kröpfl, Francisco: Música para flauta y clarinete [1952] Kröpfl, Francisco: Variaciones 1953 für Klavier Kagel, Mauricio: Manuskripte in Mappen der Sammlung Mauricio Kagel in der Paul Sacher Stiftung Basel (Kursivierung d. Verf. deutet auf Titel in Kagels Werkverzeichnis bzw. bereits erfolgte Drucklegung) Skizzenbuch 1948 Frühe Studien und Skizzen 1. Kladde Frühe Studien und Skizzen 2. Kladde [2 / 5] Frühe Studien und Entwürfe 1. Dossier lose [3 / 5] Frühe Studien und Skizzen 2. Dossier lose Variaciones para cuarteto mixto [1 / 2] Música para una torre [Teil 1, Orchester] Feria No. 2 [Música para una torre / Teil 2, gemischtes Ensemble]. [ohne Titel] [Música para una torre / Teil 3, Sextett bzw. Quartett] Música para una torre / Beleuchtungspartitur Música para una torre (Beleuchtungspartitur + Jannello) Asesinato (1953) Sextett 1953 (Bläser / Schlagzeug) Sextett (Fl, Klar, BKlar, Vl, Va, Vc; 1953; verworfen; unveröffentlicht) Muertes de Buenos Aires Cuatro piezas para piano Cinco canciones del Génesis, Entwurf mit Skizzen Cinco canciones del Génesis, Mappe 1 Ocho motetes apócrifos De Ruina Mundi Preludio No. 1 para bandoneón Cuatro piezas breves para orquesta de cuerdas Elegía para clarinete solo [Stück] Ob, Klar, Fg 1957 Pieza para clarinete solo Sextett 2 / 6 Anagrama Mappe 3: Skizzen und Entwürfe MM 51

Register 9 Artes 104 f. 107 194 210 Aguirre, Raúl Gustavo 50 116 f. 139 ANM 22 f. 25 27 f. 53 75-77 88 f. 98 101-137 153 159 161 163 165

Berdichevsky, Dora 77 f. 173 192-194 198 201 281 Berg, Alban 66 69 71 104-108 111 113 115 118-120 194 239 241

170-173 187 189-195 199 f. 211

Bernárdez, Aurora 195 198 316

232 f. 236 238 f. 243 f. 250 253

Berni, Antonio 50 81

260 268 289 f. 295 297-299

Bill, Max 52-54

Allende-Blin, Juan 30 99 208 221

Bioy Casares, Adolfo 47 186 f. 218 227

Apold, Raúl Alejandro 37 f. 59 f.

Blech, Simon 108 f. 119 121 f. 133

Apostel, Hans Erich 100 114 f. 123 125

Borges, Jorge Luis 18 20 23 f. 28 47-

Argos 51 210

49 62 91 138 148-153 184-192

Arizaga, Rodolfo 65 79 87 102 189 f.

194 196 208 f. 217 f. 222 224 227-

251 f. 258 300 Asociación Amigos de la Música 16 27 70-73 75 77 83 87 90 92 161 170 172 174 190 236 240 f. 298 300 Barletta, Alejandro 78 285 Barletta, Leónidas 62 104 285 Baron Supervielle, Odile 12 30 113 115-118 133 159 Barrault, Jean-Louis 27 64 66 92-98 144 155-161 213 299 Bartók, Béla 53 66 85 107 108 111 115 121 123 Bathori, Jane 55 194 198 Bauhaus 22 53 138

229 294 297 303 305 Borthagaray, Juan Manuel 54 136 Boulez, Pierre 27 30 71 73 93 f. 98 118 127-129 139 155-161 170 182 205 247 271 299 301 Buenos Aires Literaria 24 47 71 79 123 170 187 189-192 194 f. 199 236 BAM 80 86 134 158 161 170 174 f. 177 194 211 240 250 Bullrich, Francisco 54 116 f. 136 Buñuel, Luis 144 207 222 Burghardt, Ursula 15 31 170 314 Cage, John 25 93 111 f. 127 129 134 152 158 161 295

Bayley, Edgar 52 f. 135

Caillois, Roger 20 224

Becher, Ricardo 114-116 122 125 129

Cantón, Edgardo 113 134 153 181 277

Benedit de Debenedetti, Cecilia 79 f. 189

Castro, Juan José 66 68 75 78 80-82

209 211 214

153 232

338 | M AURICIO K AGELS BUENOS AIRES

Castronuovo, Orestes 69 119-121 123 133

Eitler, Esteban 52 f. 76 81 104-106 113 f.

Cazzaniga, Alicia 54 116 f.

El Hogar 36 38 47 130 170 185 188

Chab, Victor 30 140

Engelbrecht, Richard 76 104

Chiambaretta, Pedro 119 122 f. 133 238

Epstein, Ernesto 43 70 73 f. 78 169

Cinemateca Argentina 61 143 f.

220 241

Clair, René 144-147 154 303

Evita Æ Perón, Eva Duarte de

Claudel, Paul 94 96 156 f. 240-242

de Falla, Manuel 69 75 83 153 176

Clusellas, Gerardo 54 137

Fanelli, Jorge 99-101

Cocteau, Jean 50 145

Feidman, Giora 15 30 133 290

CLES 24 42-44 49 55 63 77 186

Feller, Carlos 15 30 173 f. 177 f. 238

188 f. 193 f. 218 225 Collegium Musicum 25 27 70 73-77 81 125 163 169-172 181 190 220 298 Concreto-Invención 53 f. 106 137 139 219 Conservatorio Municipal 69 f. 285

316 Fontana, Adriana 115 122 f. 133 Franchisena, César 115 122 125 129 f. 134 300 Fray Mocho 62 f. 210 Fuchs, Teodoro 28 68 f. 72 76-79 99-

Conservatorio Nacional 69 f. 81 83

102 118 121 163-172 179 190 236

Copland, Aaron 84 104

280-283 290 298 300

Coppola, Horacio 142

Galatea 63 145

Córdoba 31 100 115 157 300

Gente de Cine 60 f. 142-149 247 306

Cortázar, Julio 20 24 28 48 138 186 f.

Gianneo, Luis 69 74 78 81 89

192 195-207 220-229 297 301 316 Cowell, Henry 111-113 126 152 234 Cursos y Conferencias 43 f. 50 188 193 225 Dallapiccola, Luigi 66 71 75 77 100 120 122 126 170 190 Daniel, Zoltan 117 139 Darmstadt 110 126 134 f. 158 161 177 232 243 Devoto, Daniel 21 24 28 48 52 76-78

Gide, André 93 f. 96-98 155 213 Gielen, Michael 15-17 22-25 29 f. 66 70-78 99 103 105-111 113 129 132 170 208 231 233 238-243 248 297-299 Ginastera, Alberto 73 f. 78 81-86 89 f. 99-101 147 153 171 179 181 232 f. 298 300 303 Goldemberg, Jorge 54 136 Gombrowicz, Witold 17 f. 20 23 f. 28

81 104 f. 107 115 192-198 200

30 49 52 81 97 187 207-223 297

203 f. 210 271 297 316

304 313

D’Urbano, Jorge 67 78 175 180 191 198 f. 236

Graetzer, Guillermo 26 72-78 169 191 Grisetti, Jorge 54 113-123 133-137 247

EAM 80 209 211 f.

Guerra Peixe, César 104 109 113 f.

Eimert, Herbert 158 300

Guigui, Efraín 105 107-109 119-124

Eisler, Martin 70 75 174 176 f.

133 238 289

R EGISTER

Hába, Alois 53 100 104 106 109 116 f. 232 Heinitz, Hilde 76 f. 119 121 Henry, Pierre 127 194 Hindemith, Paul 71 74 f. 85 104 107 f.

| 339

− Música para una torre 29 128 137 159 250-259 276 289-292 298 − Cuatro piezas para piano 29 128 272276 290 292 297 − Cinco canciones del Génesis 29 128

113 119 122 f. 158 170 173 176

130 f. 168 249 265 277-280 283

204 293

292 294

Hirsch, Leonor 70 75 155

− Ocho motetes apócrifos 284 290 294

Hlito, Alfredo 53 56

− De Ruina Mundi 283 f. 290

Honegger, Arthur 93 95 115 170 f.

− Preludio No. 1 29 285

Hurtado, Leopoldo 43 76 78

− Cuatro piezas breves 134 277

Ibels, Jacqueline 78 107 193 f.

− Klarinettenminiaturen 29 285-290 293

Instituto Francés de Estudios Superiores

− [Stück] 1957 287 f.

43 52 55 104 f. Imago Mundi 44 63 IAM 55 62 f. 105 114 133

− Transición I / II 140 222 − Anagrama 222 248 279 281 283 293 301

IGNM 78 85

− Sur Scène 137 226

Iommi, Ennio 53 56

− Ludwig van 151 178 224-226

Ivanissevich, Oscar 38 f. 51 89

− Tango alemán 154 227 285 301

Ives, Charles 115-118 121 182 234

− Quatre Degrés 142 154 227

Jannello, César 135 137 252 259 295

− … den 24.12.1931 verstümmelte Nach-

Jazz 196 201-204 207 300 Jockey Club 56 63 116 f. 139 Jonquières, Eduardo 138 197 200 f.

richten 16 300 − weitere Werke 16 101 136 140 154 226 f. 301

Jüdische Gemeinschaft Æ SHA

Kammeroper Æ Ópera de Cámara

Käfer, Johannes 123 125

Kertesz, Tiberio 108 f. 119-124 133 304

Kafka, Franz 27 94 96-98 183 188

Kleiber, Erich 71 78

Kagel, Guida 28 32 183 192 195 200 f.

Koellreutter, Hans-Joachim 52 f. 81 104

210 215 f. 224 227 305 314 316

106 109 126-128 135 232 236 250

Kagel, Mauricio (Werke chronologisch)

Kosice, Gyula 52 56

− Palimpsestos 248-250

Krayd 56 117 f. 130 138 f. 159 f.

− Variaciones para cuarteto mixto 27 f.

KĜenek, Ernst 69 71 107 113 119 122

102 117 121 124 128 231 250 260-268 289-291 294 − Muertes de Buenos Aires 148-152 260 294 305

126 199 204 Kröpfl, Francisco 22 29 f. 103-107 113120 129-131 134 139 153 161 168 171 231 243-248 279 289 297

− »Asesinato« 249 265 292 294

Lamarque, Libertad 60 141 f.

− Sexteto 28 125 128 159 222 224

La Nación 36 f. 47 95 124 157 167

231 250 268-272 290-293

176 f. 186 299

340 | M AURICIO K AGELS BUENOS AIRES

La Prensa 36-38 47 76 95 186 299

Ópera de Cámara 28 163 f. 173-179 297

Lange, Francisco Curt 26 80 99 103

oam 54 117 136 f.

124 152 163 169 178-182 249 252

Orquesta Sinfónica de Bs. As. 67 157

299 307-312

Orquesta Sinfónica Nacional 68 75 82

Leibowitz, René 80 111 126 158

Osterc, Slavko 115 123-125 232 303

Les temps modernes 63 111

Palcos, María Adela 30 77 125 138 170

Letra y Línea 49 56 126 128 Leuchter, Erwin 43 73 f. 77 79 99 110

190 Paz, Juan Carlos 22-26 29 52 54 61 63

170 182 238 f. 304

68-70 73 75 f. 78 81 f. 88 99-138

Levy, Gerardo 119-124 133

153 161 166 170 179 187 191-195

Lorca, Federico García 29 82 222 248 f.

199 208-212 219 231-237 243 248

294 Lozza, Raúl 53 56 Lysy, Alberto 15 17 109 119 152 181 Madí 52-54 106 127 138 f. 250 Maldonado, Tomás 21 30 52-56 106 114 f. 118 135-140 Maranca, Lucía 30 171 244

280 297 f. 301 − Música 1946 108 126 199 233-237 262 − Dédalus 1950 121 123 126 132 191 233-237 258 260 262 − transformaciones canónicas 73 161 236 f.

Marechal, Leopoldo 46 89 219 f.

Pellegrini, Aldo 49 f. 53 56 138 f. 143

Markevitch, Igor 71 73 85 170

Perceval, Julio 76 89 f. 104 199 279

Mattauch, Hilde 77 117 120-122 166 170 173 Mendoza 26 80 89 100 137 182 196 251 f. 258 298 Messiaen, Olivier 71 111 125-127 133 158 194 234 268 271 Milchberg, Jorge 30 123 125 145 152 214 303 Milhaud, Darius 66 71 75 93 104 107 145 f. 156 165 173-177 193

298 Perle, George 112 f. 119 121 Perón, Eva Duarte de 36-39 42 48 51 58 60 67 95 119 141 265 Perón, Juan Domingo 18-20 24 f. 28 f. 33-62 68 81-83 90 95 f. 137 141 148 155 181 185-188 196 297 f. Perona, Alfredo 119 121 123 133 Pettoruti, Emilio 50 f. 105 138 210 Piazzolla, Astor 90 152

Mindlin, Adolfo 88 179 181

Picabia, Francis 56 146

Mistral, Gabriela 19 48

Pichón-Rivière, Enrique 49 52

Moretto, Nelly 113 115 125 129 f. 276

Pinto, Felisa 30 114 133

Nono, Luigi 127 158 169

Pirovano, Ignacio 51 88 116-118

nueva visión 24 53-56 114 117 f. 129

Pisk, Paul 74 109

133 135-138 219

Polifonía 71 80 181 233

de Obieta, Adolfo 105 209-211 218 f.

Politonía 81 192

Ocampo, Silvina 47 218 220

Poesía Buenos Aires 50 62 117 139

Ocampo, Victoria 47-49 155 224

Polledo, Eduardo 54 114-117 137

R EGISTER

de Prat Gay, Juan 114-117 159 Prati, Lydi 52 f. 56 114 f. 133

| 341

Spiller, Ljerko 17 70-72 76 f. 108 f. 114 119 121 169

Pro-Música 28 164 170-173 179 277

Steinecke, Wolfgang 79 102 177

Radio del Estado (Radio Nacional) 25 68

Stern, Grete 52 138 f. 142 285 315

100 163 181 f. Rausch, Carlos 113 116 122 f. 125 129-131 133 289

Sternic, Lázaro 119 121 f. 133 173 Steuermann, Eduard 110 f. 240 Stockhausen, Karlheinz 140 158

Rex 97 208-215 305

Strang, Gerald 119 123 f.

Ricordi 79 f. 111 231

Strawinsky, Igor 85 103 115 119 123

Riegger, Wallingford 104 113 f. 119 121 Romano, Jacobo 103 132 Romero Brest, Jorge 43 51 54 56 f. Rosario 44 100

125 158 173 176 f. 179 182 246 Sur 20 47 f. 56 f. 62 f. 84 f. 96 117 138 147 159 185-189 194 197 199 217-220 224

Rosbaud, Hans 15 22 71 159

Tango 61 89-91 141 201 f. 204

Rosenberg, Walter 168 173 179

Teatro Colón 16 f. 24 f. 27 f. 48 65-68

Rossi, Salomone 163 168 173 267 Rússovich, Alejandro 30 97 210 212 305

72 75 81 89 134 156 163 f. 173 177-180 297 f.

Sábato, Ernesto 48 74 218-220

Teatro del Pueblo 53 62 81 104 209 285

SADE 62 97 138 141 187

Teatro Los Independientes 62 133 f. 277

Saderman, Alejandro 30 148-150 305 f.

Teatro Odeón 70 72 75 94 118 121

Santoro, Claudio 104 109 119

155 f. 175

São Paulo 56 f. 94 137 147 156 177

Tuxen Bang, Carlos 88 181 276

Saslavsky, Noemí 105 107 115

UBA 39-44 63 117 161 180-182 247

Satie, Erik 78 145-147 154 193 198 303 Scaramuzza, Vincenzo 17 69 99-101 179 300

278 285 297 300 Valenti Ferro, Enzo 80 174 177 Van Riel 54 f. 105 Varèse, Edgard 111 f. 115 118

Schaeffer, Pierre 127 f. 161

Verdi, Giuseppe 82 178 287 294

Scherchen, Hermann 71 126 161

Weber, Ben 106-109 112-114 120-124

Schönberg, Arnold 69 71 78-80 85 100-111 114-129 133 166 189 231 233 f. 260 f. 267 f. 294 301 Schottelius, Renate 52 77 177 f. SHA 28 77 79 125 163-170 172 179 f. 190 238 265 280 f. 297 315 Sociedad de Conciertos de Cámara 79 189 214 281 Spierer, León 15 17 30 76 78 105 107 f. 119 121-124 133

126 Webern, Anton 27 100 103 f. 106-111 114 f. 118 120-123 125-129 158 191 205 231 233-237 243 246 272 291 293 f. 297 Weil, Hermann 76 f. 119 121 Wellesz, Egon 119-121 231 Wildberger, Jacques 121 f. 126 f. Wilenski, Osias 130 133 f. 179

Musik und Klangkultur Sylvia Mieszkowski, Sigrid Nieberle (Hg.) Unlaute Noise/Geräusch in Kultur, Medien und Wissenschaften seit 1900 Oktober 2014, ca. 300 Seiten, kart., ca. 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2534-9

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Christian Utz Komponieren im Kontext der Globalisierung Perspektiven für eine Musikgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts Februar 2014, 438 Seiten, kart., zahlr. Abb., 39,99 €, ISBN 978-3-8376-2403-8

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