Masse, Macht und Medium: Elias Canetti gelesen mit Marshall McLuhan 9783839436738

How does Elias Canetti's theory of crowds and power relate to the analysis of the media? A new interpretation of Ca

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German Pages 236 Year 2017

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Inhalt
Einleitung
1. Die Blendung am Rande der Gutenberg-Galaxis
2. Akustische Problematik – Canettis Ohr und Stimmen
3. Masse und Macht – Körper und Medien
Literatur
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Masse, Macht und Medium: Elias Canetti gelesen mit Marshall McLuhan
 9783839436738

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Shinichi Furuya Masse, Macht und Medium

Lettre

Shinichi Furuya promovierte an der Ruhr-Universität Bochum. Er lehrt und forscht als Senior Assistant Professor an der Tokyo University of Agriculture and Technology. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören moderne Literatur, Medientheorie und Massentheorie.

Shinichi Furuya

Masse, Macht und Medium Elias Canetti gelesen mit Marshall McLuhan

Zugl.: Bochum, Univ., Diss., 2014

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2017 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Printed in Germany Print-ISBN 978-3-8376-3673-4 PDF-ISBN 978-3-8394-3673-8 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Einleitung | 7

4.

Masse und Macht in der Medientheorie | 7 Canetti und McLuhan – Die englischen Jahre | 9 Zum Problem der Medien bei Canetti und zur aktuellen Forschungslage | 10 Körper, Medien und Anthropologie | 13

1. 2. 3.

1.

Die Blendung am Rande der Gutenberg-Galaxis | 17

1.1 1.2 1.3 1.4 1.5

Büchermensch, Blindheit und Bibliotheksbrand | 17 Masse und Bibliothek | 31 Der Gelehrte als Kommandant – The Battle of the Books | 39 Prothesen und Bücher | 44 Eine (paranoische) Männerphantasie in der Bibliothek | 54

2.

Akustische Problematik – Canettis Ohr und Stimmen | 65

2.1 2.2 2.3 2.4

Akustisches bei Canetti | 65 Karl Kraus und Massenerlebnisse in Wien | 72 »Der akustische Raum« – Die Stimmen von Marrakesch | 83 Canettis Medienstrategie – Sein Hörwerk und das Radio als Massenmedium | 91

3. Masse und Macht – Körper und Medien | 101 3.1 Zum Verhältnis von Massen und Medien in Masse und Macht | 102 3.2 Simultaneität der Massen im elektronischen Zeitalter | 117 3.3 Homogene und heterogene Koexistenz der Massen im globalen Dorf | 123 3.4 Zeitung – Hetzmasse | 127 3.5 Fernsehen – Mosaik und Tastsinn | 131 3.6 Überleben, Medien und Betroffenheit – von Masse und Macht zu Die gerettete Zunge | 138 3.7 Exkurs: Methodischer Vergleich – Anti-Spezialistentum bei Canetti und McLuhan | 149 3.8 »Medium« bei Canetti | 153

3.9 Ausweitungen des Körpers oder die zwei Körper des Machthabers | 163 3.10 Ausweitungen des Körpers oder die Hand-Geburt der Technik | 174 3.11 Von Hand zu Hand: Canetti und McLuhan – »Medien als Übersetzer« | 183 3.12 Hand, Zahl und Masse | 200 3.13 Masse und Macht in der digitalen »Kontrollgesellschaft« | 208 3.14 Fazit | 212 Literatur | 215

Einleitung

1. M ASSE

UND

M ACHT

IN DER

M EDIENTHEORIE

Die moderne Massengesellschaft setzt (elektronische) Medien voraus, um zerstreute Massen zu verbinden und sichtbar zu machen. Medien gehören auch zu den politischen und institutionellen Machttechniken, welche Massen verwalten und kontrollieren. Deswegen ist die Analyse der Medien unverzichtbar, wenn man die Verhältnisse zwischen Masse und Macht in der modernen Gesellschaft zum Gegenstand der Untersuchung machen will. Wie kann man in diesem Zusammenhang Elias Canettis Lebenswerk Masse und Macht von 1960 neu lesen? Ausgangspunkt seines Werkes ist das Problem der Berührung in der Masse, die man körperlich erlebt. Dagegen werden die durch Medien wie Zeitung, Rundfunk und Fernsehen verbundenen Massen von der Gegenwärtigkeit bzw. dem Erscheinen des Körpers völlig befreit. In diesen dispersen Publikumsmassen fühlt man keine physische Nähe und Dichte zwischen den vereinzelten Einzelnen, da man zur Verbindung nur Medien und Kanäle braucht. Während die dichte Masse, an die Canetti in erster Linie denkt, als körperlich, räumlich und sichtbar bestimmt erscheint, erweist sich die Masse der Medien als körperlos, verstreut und unsichtbar. Im Allgemeinen gilt die Behauptung, dass zumindest in hochindustrialisierten Ländern die Massen der Medien mehr Einfluss auf die Gesellschaft haben als vergleichsweise akute Menschenansammlungen, weil ohne Medien der Bestand der modernen Gesellschaft unmöglich wäre. Es ist demzufolge notwendig und darüber hinaus sehr aufschlussreich, die akute Menschenmenge und die zerstreute Masse der Medien im Zusammenhang zu betrachten.

8 | M ASSE, M ACHT UND M EDIUM

Hier stellen sich die leitenden Fragen der vorliegenden Untersuchung: Wie hängt Canettis Massen- und Machttheorie mit der Analyse der Massengesellschaft und der Massenkultur zusammen? Wie kann Canettis Massen-Begriff im Hinblick auf die Massenmedien aktualisiert werden? Mit anderen Worten: Welchen Stellenwert nehmen nun in Canettis Werken Medien ein? Die vorliegende Arbeit befasst sich mit der Interpretation von Elias Canettis Werken in medientheoretischer Hinsicht. Dabei handelt es sich vor allem um den Rekurs auf den kanadischen Medientheoretiker Marshall McLuhan, der sich in seinem populärsten Werk Understanding Media. The Extensions of Man von 1964 ausführlich mit Canettis Masse und Macht auseinandergesetzt und Canettis Einsichten produktiv weiterentwickelt hat. In Masse und Macht behandelt Canetti zwar nicht explizit das Problem der elektronischen Massenmedien und Massenkommunikation; seine Schrift hat gleichwohl einen nicht unbedeutenden Einfluss auf den großen Medientheoretiker des 20. Jahrhunderts ausgeübt. Mit wenigen Ausnahmen ist dieser Einfluss Canettis auf McLuhan als einen Begründer der modernen Medientheorie weitgehend ignoriert worden. Auch jenseits von Masse und Macht ist das Medium von großer Bedeutung in Canettis Gesamtwerk, auch wenn er selbst sich zu diesem Thema nicht so häufig und direkt äußert wie über das Phänomen von Masse und Macht. Der Protagonist von Canettis einzigem Roman Die Blendung von 1935 stellt einen Büchermenschen dar, der zweifellos zu den Menschentypen der Gutenberg-Galaxis nach McLuhan gehört. Der Reisebericht Die Stimmen von Marrakesch von 1968 beschreibt dagegen die Welt der Oralkultur, die mit McLuhans Idee des akustischen Raums interpretiert werden kann. Meine Untersuchung geht davon aus, dass für das Verständnis und die neue Interpretation von Canettis Texten gerade die Thematisierung des Medialen unverzichtbar ist. Es gibt bis jetzt keine Analyse, die das Problem des Medialen bei Canetti zentral fokussiert und umfassend behandelt hätte. Die vorliegende Arbeit soll diesen Mangel der Canetti-Forschung aufheben und die erste systematische Erforschung des Themas Medium bei Canetti werden. Anhand der Canetti-Rezeption bei McLuhan und seiner Medientheorie soll nun der verborgene Zusammenhang zwischen Masse, Macht und Medium in Canettis Werken gründlich analysiert werden.

E INLEITUNG | 9

2. C ANETTI

UND

M C L UHAN – D IE

ENGLISCHEN

J AHRE

Canettis Masse und Macht erschien 1960 und ist zwei Jahre später ins Englische übersetzt worden.1 Man kann die erste, weitgehende Rezeption von Masse und Macht in McLuhans Hauptwerk Understanding Media finden, das im Jahr 1964 veröffentlicht wurde. Es ist nicht leicht zu ermitteln, wie und wann genau McLuhan auf Canettis Masse und Macht gestoßen ist. Es ist aber nicht zufällig, dass Canetti, der lange in London lebte, zuerst im englischsprachigen Raum rezipiert wurde. Vermutlich kannte McLuhan Canettis Werk durch den Literaturkritiker George Steiner, der in seinen Texten mehrfach Canettis Werke genannt und auch über McLuhan geschrieben hat.2 Da sich Canetti fast gewohnheitsmäßig von seinen zeitgenössischen Denkern distanzierte, kann nicht überraschen, dass er in den veröffentlichten Texten McLuhan und dessen Arbeit gar nicht erwähnt. Canetti muss jedoch mindestens sein Hauptwerk Understanding Media gekannt haben. In der Canetti-Bibliothek, die in der Zentralbibliothek Zürich als Nachlass aufbewahrt wird, sind fünf Bücher von McLuhan registriert.3 Darunter findet sich auch die Erstaufgabe 1964 von Understanding Media, die vermutlich der Verlag Canetti dedizierte. Der jüdische Dichter und Nobelpreisträger 1981 Canetti war sechs Jahre älter als McLuhan, der 1911 in Kanada geboren wurde und später Medienwissenschaft an der Universität Toronto lehrte. Beide schienen sich persönlich nicht gekannt zu haben, auch nachdem sie weltweit berühmt ge-

1

Vgl. Canetti, Elias: Crowds and Power. Translated from the German by Carol

2

Vgl. Steiner, George: »On Reading Marshall McLuhan«, in: ders.: Language

Stewart. New York: Farrar, Straus and Giroux 1984 (1962). and Silence. Essays 1958-1966, London: Faber and Faber 1967. Dieser Artikel über McLuhan erschien 1963 und erwähnt auch Canettis Roman Die Blendung. Vgl. das erste Kapitel der vorliegenden Arbeit. 3

Vgl. Zentralbibliothek Zürich – Nachlass Elias Canetti (1905-1994). Katalog der Londoner Bibliothek. Erstellt 2004 im Auftrag der Handschriften-Abteilung, überarbeitet 2012 von Alexa Renglli, S. 229. Dieser Katalog kann auf der Homepage der Zentralbibliothek Zürich heruntergeladen werden. (http://www. zb.uzh.ch/spezialsammlungen/handschriftenabteilung/nachlaesse/einzeln-nach laesse/003210/index.html.de) (Zugriff: 19.10.2016)

10 | M ASSE, M ACHT UND M EDIUM

worden waren. Aber in den 1930er Jahren waren beide zeitweilig in England tätig. Nach dem Anschluss Österreichs an das Dritte Reich 1938 emigrierten Elias und seine Frau Veza Canetti von Wien über Paris nach London, wo sie sich niederließen und auch nach dem Zweiten Weltkrieg weiter wohnten. In seinem postum veröffentlichten Werk Party im Blitz. Die englischen Jahre hat Canetti sein Leben und seine Freundschaften in London skizziert. Er hatte zahlreiche Bekanntschaften mit englischen Schriftstellern, Intellektuellen und Künstlern. Von 1934 bis 1936 studierte McLuhan Anglistik in Cambridge, wo er auch später seine Dissertation über mittelalterliche Literatur einreichte. Er war damals von der literaturtheoretischen Strömung des New Criticism beeinflusst, die vor allem I. A. Richards und sein Schüler William Empson in Cambridge vertraten. 4 Empson war ein renommierter Literaturwissenschaftler, den auch Canetti kurz nach der Emigration in London kennenlernte und dessen Arbeit er hochschätzte.5 Die englischen Jahre sind also ein gemeinsamer Hintergrund von Canetti und McLuhan.

3. Z UM P ROBLEM

DER M EDIEN BEI C ANETTI UND ZUR AKTUELLEN F ORSCHUNGSLAGE

Es gibt einzelne Studien, die bereits Medien in Masse und Macht – allerdings ohne Bezug auf McLuhan – thematisieren. Die elektronische Masse

4

Vgl. Marchand, Philip: Marshall McLuhan. Botschafter der Medien. Biographie. Mit einem Vorwort von Neil Postman. Übersetzt von Martin Baltes/Fritz Böhler/Rainer Höltschl/Jürgen Reuß, Stuttgart: DVA 1999, S. 61-75.

5

»Er hatte einen scharfen, immer aktiven, auf vielerlei übergreifenden literarischen Geist, an den Metaphysical Poets des frühen 17. Jahrhunderts geschult, aber auch in einer Cambridger Schule von Sprachsoziologen (I. A. Richards).« Canetti, Elias: Party im Blitz. Die englischen Jahre. Aus dem Nachlaß herausgegeben von Kristian Wachinger. Mit einem Nachwort von Jeremy Adler, Frankfurt a.M.: Fischer 2005, S. 17. Vor allem Empsons Aufenthalt in Japan und China interessierte Canetti. Vgl. ebd., S. 19. James Joyce ist auch eine Schlüsselfigur, die Canetti und McLuhan verbindet. McLuhan beschäftigte sich als Anglist immer mit den Werken von Joyce. Canettis Grab in Zürich liegt neben dem von Joyce.

E INLEITUNG | 11

von Eduardo Subirats und Unsichtbare Massen von Susanne Lüdemann haben den Zusammenhang zwischen Massen und Medien in Masse und Macht problematisiert.6 Subirats ist zum ersten Mal den Publikumsmassen der elektronischen Medien mittels einiger Begriffe von Masse und Macht nachgegangen. Aber er hat die klassischen Medien der Zeitung und Zeitschrift, die Canetti selber unter der Kategorie der »Hetzmasse« beiläufig behandelt, ganz übersehen. Es ist Lüdemann gelungen, die Unsichtbarkeit der Massen unter Berücksichtigung der Medien zu erhellen: »Die Sichtbarkeit von Massen ist stets an Medien gebunden, d.h. an die Produktion von Imagines.«7 Ein kleiner Essay Masse, Medium und Macht von Robert Menasse befragt auch die Beobachtbarkeit der Massen und die Medienproblematik in Masse und Macht.8 Der Titel und der Ausgangspunkt seines Essays haben mit unserer Analyse viel zu tun, aber in seinem Versuch fehlen leider medientheoretische Überlegungen. Was die Problematik der Massen und Medien in Masse und Macht betrifft, hat die Gesellschaft für Masse und Macht-Forschung in Wien 1998 ein internationales Symposium über das Thema Masse und Macht im globalen Dorf veranstaltet und die Ergebnisse als Sammelband veröffentlicht. Bemerkenswert ist, dass Eric McLuhan, der Sohn McLuhans, in seinem Beitrag die »elektrische Masse« aufgrund von Einsichten in Masse und

6

Subirats, Eduardo: »Die elektronische Masse« (Übersetzt von Curt MeyerClason/Rudolf von Bitter), in: Michael Krüger (Hg.), Einladung zur Verwandlung. Essays zu Elias Canettis Masse und Macht, München/Wien: Carl Hanser 1995, S. 496-511; Lüdemann, Susanne: »Unsichtbare Massen«, in: Inge MünzKoenen/Wolfgang Schäffner (Hg.), Masse und Medium. Verschiebungen in der Ordnung des Wissens und der Ort der Literatur 1800/2000, Berlin: Akademie Verlag 2002, S. 81-91.

7

Ebd., S. 86.

8

Menasse, Robert: Masse, Medium und Macht, in: ders.: Erklär mir Österreich. Essays zur österreichischen Geschichte. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2000, S. 6279.

12 | M ASSE, M ACHT UND M EDIUM

Macht untersucht.9 Sein Versuch ist sehr aufschlussreich, auch wenn er auf die Canetti-Rezeption bei seinem Vater nicht direkt eingegangen ist. Peter Friedrichs Dissertation Die Rebellion der Masse im Textsystem. Die Sprache der Gegenwissenschaft in Elias Canettis ›Masse und Macht‹, die die prekäre Beziehung zwischen Schreibverfahren und Themenkomplexen in Masse und Macht mit Foucaults Begriff der Gegenwissenschaft charakterisiert, spielt nicht nur in der neueren Canetti-Forschung eine führende Rolle,10 Friedrichs umfassende Arbeit ist auch für die vorliegende Untersuchung von großer Bedeutung. Sie ist fast die einzige Forschungsliteratur, die Canettis Einfluss auf McLuhan konkret berücksichtigt. 11 Er bedenkt auch die Möglichkeit, dass Canettis Schreibweise und Denkmethode moderne Medientheoretiker wie McLuhan beeinflusst haben könnte.12 Es gibt noch einen außergewöhnlichen Literaturwissenschaftler und Soziologen, der die große Tragweite von Masse und Macht sehr früh erkannt hat: Klaus Theweleit bezieht sich in seiner Studie Männerphantasien von 1977/78 über die faschistische Mentalität explizit auf Canettis Massen- und Machttheorie. In einem neueren Artikel über Canetti stellt er ferner die Gültigkeit des Massen-Begriffs in Frage und beruft sich auf McLuhan, Deleuze und Guattari, die ebenfalls Masse und Macht mehrmals erwähnt haben.13 Theweleit hat nicht nur über Canettis Masse und Macht geschrieben, son-

9

McLuhan, Eric: »Die Anatomie der elektrischen Masse« (Übersetzt von Liesl Körbler), in: John Pattillo-Hess/Mario R. Smole (Hg.), Masse und Macht im globalen Dorf, Wien: Löcker 1999, S. 9-18.

10 Vgl. Lüdemann, Susanne: Vorwort, in: dies. (Hg.), Der Überlebende und sein Doppel. Kulturwissenschaftliche Analysen zum Werk Elias Canettis. Freiburg i. Br., u. a.: Rombach 2008, S. 13f. 11 Ausführlich dazu vgl. das dritte Kapitel der vorliegenden Arbeit. 12 Vgl. Friedrich, Peter: Die Rebellion der Masse im Textsystem. Die Sprache der Gegenwissenschaft in Elias Canettis Masse und Macht, München: Wilhelm Fink 1999, S. 206-216. Über einen methodischen Vergleich bei Canetti und McLuhan vgl. 3.7 der vorliegenden Arbeit. 13 Theweleit, Klaus: Canettis Masse-Begriff: Verschwinden der Masse? Masse & Serie, in: ders.: Ghosts. Drei leicht inkorrekte Vorträge, Frankfurt a.M.: Stroemfeld/Roter Stern 1998, S. 161-245. Vgl. auch das erste Kapitel der vorliegenden Arbeit.

E INLEITUNG | 13

dern Canettis Einsichten kritisch aufgenommen und mit Masse und Macht seine eigenen Gedanken entwickelt. In meiner Arbeit soll dementsprechend die Rezeptionsgeschichte von Masse und Macht beachtet werden. Während die oben genannten Forschungen sich auf Masse und Macht konzentrierten, werden in der vorliegenden Untersuchung auch Canettis literarische Werke wie der Roman Die Blendung und der Reisebericht Die Stimmen von Marrakesch unter Berücksichtigung von seinen anderen Essays und Aufzeichnungen mit McLuhans Medientheorie analysiert. Hier sollen auch biographische Informationen umfassend herangezogen werden, um Canettis Einstellung und Verhältnis zu Medien zu beleuchten. Im Jahr 2005, also zu Canettis 100. Geburtsjahr, erschien die umfangreiche Biographie von Sven Hanuschek, die zum ersten Mal Canettis literarische Nachlässe in Zürich systematisch und gründlich auswertete. Diese Biographie hat auch viele Hinweise dazu geliefert, wie Canetti in seinem literarischen und privaten Leben mit neueren Medien wie Radio, Kino, Fernsehen und Computer umgegangen ist. Zudem hat Canetti zeitgenössische Ereignisse wie den Vietnamkrieg in den Medien aufmerksam verfolgt und in seinen letzten Jahren auch Interesse für die Computer-Technologie gezeigt.14 Im literarischen Bereich hat er das Medium des Radios für seine Autorenlesungen genutzt und im Jahr 1968 sogar eine Fernsehsendung über sich zugelassen.15

4. K ÖRPER , M EDIEN

UND

ANTHROPOLOGIE

Die vorliegende Untersuchung besteht aus drei Hauptteilen. Im ersten Kapitel wird Canettis erster und einziger Roman Die Blendung im Kontext der Gutenberg-Galaxis von McLuhan interpretiert. In diesem Kapitel handelt es sich darum zu zeigen, wie der »Büchermensch« und seine Bibliothek mit dem Phänomen Masse und Macht zusammenhängen. Der Romanheld Peter Kien, der Büchermensch, gewinnt seine Macht durch seine Bibliothek als Büchermasse. Die Blendung kann als ein Roman gelesen werden, der ein

14 Hanuschek, Sven: Elias Canetti. Biographie, München/Wien: Carl Hanser 2005, S. 674. 15 Ebd., S. 517.

14 | M ASSE, M ACHT UND M EDIUM

Schicksal des typographisch geprägten Augenmenschen thematisiert, der mit der Erfindung der Drucktechnologie von Gutenberg zu tun hat. Das zweite Kapitel setzt sich mit der akustischen Problematik bei Canetti auseinander. Dabei wird vor allem sein Reisebericht Die Stimmen von Marrakesch analysiert, in dem das akustische Erlebnis von fremden Stimmen im Zentrum steht. Canettis Aufzeichnungen nach einer Reise, die den Aufenthalt in Marrakesch anhand akustischer Eindrücke memorieren, können als eine literarische Wiedergabe des »akustischen Raumes« (McLuhan) gedeutet werden. In diesem Kapitel wird nicht nur das Werk Die Stimmen von Marrakesch im Hinblick auf die Medientheorie McLuhans analysiert, sondern auch die Beziehung zwischen Canetti und Karl Kraus untersucht. Für Canetti war Kraus ein Machthaber, der seine Publikumsmasse mit seinen Vorlesungen faszinieren konnte, zugleich aber ein Vorbild, indem er verstand, durch Stimmen die Hörerschaft zu bezaubern. Anders als Kraus hat Canetti vielfach audiovisuelle Medien benutzt, um sein Werk und seine Stimmen auf Kassette oder CD aufzunehmen. Außerdem wurden die meisten Werke im Radio als Massenmedium gesendet. Canettis Werk bleibt somit auch in der Repräsentation durch Canettis eigene Stimme erhalten. Das zweite Kapitel geht schließlich auf die Bedeutung von Massenmedien wie die des Radios für Canetti ein. Die Hauptaufgabe des dritten Kapitels besteht darin, die CanettiRezeption bei McLuhan in Bezug auf die Ausweitungen des Körpers durch Medientechnik nachzuvollziehen und Canettis Masse und Macht mit McLuhans Medientheorie umfassend zu vergleichen.16 Masse und Macht ist eine wichtige Quelle für McLuhans Medientheorie, in der bestimmte Medientechniken, die auch menschliche Tätigkeiten im Zusammenhang mit der

16 Was die McLuhan-Forschung angeht, beruht die vorliegende Untersuchung hauptsächlich auf Diskussionen und Ergebnissen der Medienwissenschaften im deutschsprachigen Raum. Zur neueren McLuhan-Forschung gehören: Derrick de Kerckhove/Martina Leeker/Kerstin Schmidt (Hg.), McLuhan neu lesen. Kritische Analysen zu Medien und Kultur im 21. Jahrhundert. Bielefeld: transcript 2008; Bohrer, Clemens: Babel oder Pfingsten? Elektronische Medien in der Perspektive von Marshall McLuhan, Stuttgart: Schwabenverlag 2009; Grampp, Sven: Marshall McLuhan. Eine Einführung, Konstanz/München: UVK 2011. Diese Forschungen sind für meine Analyse nützlich, auch wenn in ihnen sich keine Erwähnung Canettis findet.

E INLEITUNG | 15

Ausweitung von menschlichen Körper- und Sinnesorganen betreffen, behandelt werden. Das impliziert die Möglichkeit, Masse und Macht auch als Analyse der Medientechnik zu lesen. Von den menschlichen Organen beziehen sich vor allem die Hände auf die Herstellung und die Operation der Technik. In diesem Kapitel geht es darum, Masse und Macht an den medientechnologischen Diskurs anzuschließen und die Beziehungen zwischen Körper und Medien in Bezug auf Canettis Analyse zu erläutern. Nicht selten wird Canetti dafür kritisiert, dass er in Masse und Macht das Problem der (elektronischen) Massenmedien vernachlässigt habe. In diesem Kapitel geht es auch darum, inwieweit Canettis Einsichten in Masse und Macht für die Analyse der (elektronischen) Massenmedien, vor allem die des Fernsehens, fruchtbar gemacht werden können.17 McLuhan stellt die Bedeutung des Tastsinns für die Nutzung und die Wahrnehmung der elektronischen Medien in den Vordergrund. Dabei geht es gerade um die Kontinuität zwischen Massentheorie und Medientheorie, die die taktile Dimension aufzeigt. Hier schließt sich auch eine Auseinandersetzung mit medientheoretischen Überlegungen von Walter Benjamin, Horkheimer/Adorno, Günter Anders, Villém Flusser, Peter Sloterdijk u.a. an, um das Problem der Massengesellschaft und der Medienkritik bei Canetti und McLuhan aus weiterer Perspektive zu betrachten. McLuhans Medientheorie ist zuerst als anthropologisch motivierte Wahrnehmungstheorie konzipiert worden. Er behauptet, dass die Medientechnik die menschliche Wahrnehmung und die körperliche Fähigkeit vergrößert, ergänzt und umformt. Nach dem Umriss der Mediengeschichte von

17 Als neuere Forschung zur Diskursgeschichte der Massen und Medien sollen vor allem folgende Untersuchungen berücksichtigt werden: Gamper, Michael: Masse lesen, Masse schreiben. Eine Diskurs- und Imaginationsgeschichte der Menschenmenge 1765-1930, München: Wilhelm Fink 2007; Bartz, Christina: MassenMedium Fernsehen. Die Semantik der Masse in der Medienbeschreibung, Bielefeld: transcript 2007; Susanne Lüdemann/Uwe Hebekus (Hg.): Massenfassungen. Beiträge zur Diskurs- und Mediengeschichte der Menschenmenge, München: Wilhelm Fink 2010; Borch, Christian: The Politics of Crowds. An Alternative History of Sociology, Cambridge: Cambridge University Press 2013. In der vorliegenden Arbeit werden ausschließlich klassische Massenmedien wie Zeitung, Radio und Fernsehen aufgegriffen, die McLuhan selber in seinen Werken zu Lebzeiten behandeln konnte.

16 | M ASSE, M ACHT UND M EDIUM

McLuhan wurde die Oralkultur, die vor allem auf dem Gehörsinn basierte, von der alphabetischen Schrift- und Buchkultur abgelöst, welche dem Gesichtssinn Priorität zuerkennt. McLuhan skizziert weiterhin, dass der Gesichtssinn in der Buchkultur seinen privilegierten Status durch den Auftritt der elektronischen Medien verloren habe, die den anderen Sinnen, vor allem dem Tastsinn, eine neue Bedeutung und Funktion verleihen. So überkreuzen sich Canettis und McLuhans Positionen bezüglich des anthropologischen Interesses an der Wahrnehmung und den Sinnesorganen in einigen wesentlichen Punkten. In meiner Arbeit werden hauptsächlich der Gesichtssinn (Auge) in Die Blendung, der Gehörsinn (Ohr) in Die Stimmen von Marrakesch und der Tastsinn (Hand und Haut) in Masse und Macht unter Berücksichtigung der Medientheorie McLuhans behandelt. Die Beziehungen zwischen Körper und Medien bei Canetti stehen also im Zentrum der Untersuchung.

1. Die Blendung am Rande der Gutenberg-Galaxis

Der Titel der Blendung zeigt die Negation des Gesichtssinns auf, der einen besonderen Stellenwert in der modernen Buchdruckkultur einnimmt. In diesem Roman, in dem ein Büchermensch als Protagonist gewählt wird, spielt das Auge eine emblematische Rolle. Der Gutenberg-Galaxis von McLuhan, in der die alphabetische Schrift- und Buchkultur und deren Beziehung mit dem Gesichtssinn analysiert worden sind, noch ein Kapitel über Die Blendung zuzufügen, ist die Aufgabe dieses Kapitels.

1.1 B ÜCHERMENSCH , B LINDHEIT UND B IBLIOTHEKSBRAND Wenn man die Frage des Medialen bei Canetti thematisieren will, ist zunächst vom Roman Die Blendung auszugehen. Canettis erster und einziger Roman kreist bereits um ein Medienproblem: die Auswirkung der Buchdruck-Technik auf die menschliche Wahrnehmung, die McLuhan später als Gutenberg-Frage theoretisieren sollte. In der Blendung hat Canetti den Untergang eines Bibliomanen in grotesken Übertreibungen zum Ausdruck gebracht. Oder, anders formuliert, Die Blendung kann als ein Roman gelesen werden, der den Ausgang des typographischen Menschentyps problematisiert, den die europäische Moderne mit der Erfindung der Drucktechnologie von Gutenberg hervorgebracht und entwickelt hat. Dieses Kapitel stellt einen Versuch dar, Die Blendung in der Gutenberg-Konstellation zu situieren und zu erörtern.

18 | M ASSE, M ACHT UND M EDIUM

In seinem Essay Das erste Buch: Die Blendung und im zweiten Teil seiner Autobiographie Die Fackel im Ohr hat der Autor selbst über die Entstehungsgeschichte seines weit ausladenden Erstlingsromans einen ausführlichen Bericht gegeben. Von 1930 bis 1931 schrieb Canetti in Wien den Roman, der erst im Jahr 1935 veröffentlicht wurde. Die Blendung sollte zum Zyklus einer »Comédie Humaine an Irren« (VI, 331)1 gehören, in der grotesk entstellte und von einer fixen Idee besessene Individuen als Helden je eines Romans geplant waren. Für den Zyklus wurden acht extreme Figuren »am Rande des Irrsinns« (ebd.) konzipiert. Bekanntlich realisierte sich schließlich nur »ein[] rein[er] Büchermensch[]« (ebd.), den Canetti als Protagonisten für Die Blendung entworfen hatte. In Canettis eigenem Kommentar findet sich die Bezeichnung »Büchermensch«, die im Roman selbst nicht auftaucht: »Die Hauptfigur dieses Buches, heute als Kien bekannt, war in den ersten Entwürfen mit B. bezeichnet, was kurz für »Büchermensch« stand. […] Daß er aus Büchern bestand, war damals seine einzige Eigenschaft, er hatte vorläufig keine anderen. […] Während ich im einzelnen überhaupt noch nicht wußte, wie der Roman sich entwickeln würde, war eins zu Beginn schon sicher: Er würde sich mitsamt seinen Büchern anzünden und in diesem selbstgeschaffenen Feuer mit seiner Bibliothek zusammen verbrennen.« (VI, 323)

Die Einzelheiten zu den biographischen und geschichtlichen Hintergründen des Romans sollen hier nicht wiederholt werden, da Canetti selber in den oben genannten Schriften darauf näher eingegangen ist und auch seine Biographen cum grano salis diesen Darlegungen gefolgt sind. Es muss aber hervorgehoben werden, dass das Bild des »Feuers« auf Canettis Erlebnis des Justizpalastbrandes am 15. Juli 1927 in Wien zurückgeht. Dass dieser Wiener Justizpalastbrand durch die gegen ein ungerechtes Urteil protestierende Arbeiterschaft sowohl für Canetti als auch für andere Schriftsteller in Österreich ein einflussreiches, öffentliches Massenereignis darstellte, dar-

1

Die Zitate und die Zusammenfassung beziehen sich auf die Ausgabe: Canetti, Elias: Werke in zehn Bänden. München/Wien: Carl Hanser 1992-2005 und werden mit Band- und Seitenzahl im Text nachgewiesen. Die genaue Angabe des einzelnen Bandes findet sich im Literarturverzeichnis.

1. D IE B LENDUNG

AM

R ANDE DER G UTENBERG -G ALAXIS | 19

über ist in der Forschung mehrfach diskutiert worden. 2 Wie Canetti im Rückblick dargestellt hat, determinierte dieses Massenerlebnis nicht nur seine Studie über die Masse, sondern auch das Urkonzept seines Romans. Bei diesem Aufruhr begegnete der Autor einem Justizbeamten, der von der Menschenmasse abseitsstand und wiederholt »›Die Akten verbrennen! Die ganzen Akten!‹« (VI, 326) ausrief. Nach Canetti ist dieser Beamte, der sich nur um die Schriftstücke im Archiv der Justiz kümmerte und kein Interesse für die menschlichen Opfer der Zwischenfälle zeigte, ohne Absicht in die Gestalt des Büchermenschen eingeflossen. Dieser »Akten-Mensch[]« (VIII, 342), den Canetti für einen Archivbeamten gehalten und der die Figurengestaltung im Roman nicht wenig beeinflusst hat, gehört wohl zum Menschentyp, den der Bürokratismus hervorgebracht hat. »(Der Beamte auf eine Formel gebracht)«, so Canettis Notiz in den zwanziger Jahren, »Dokumente sind wichtiger als die Menschen, die sie betreffen«.3 Folgt man Canettis Selbsterklärung, so wurden das Urbild des Büchermenschen und sein antizipierter Untergang durch das selbstgeschaffene Feuer bestimmt. Der Name dieses Bibliomanen wurde von Brand über Kant schließlich zu Kien, und dem endgültigen Titel Die Blendung ging der frühere Kant fängt Feuer voraus (vgl. VI, 323, 326).4 Die Entzündbarkeit wird jedoch noch in dem Namen »Kien« gezeigt, der auf Brennmaterial und damit zugleich als Nachklang auf Karl Kraus’ Zeitschrift Die Fackel verweist.

2

Zum Überblick über den Forschungstand vgl. S. Hanuschek: Elias Canetti, S. 138ff. Canettis Massenerlebnis am 15. Juli 1927 wird auch im nächsten Kapitel im Hinblick auf das Akustische noch behandelt.

3

Elias Canetti: Notizblöcke Wien 1925-1930, September 1929, Block 22, ZB2,

4

In der Autobiographie Die Fackel im Ohr führt Canetti diesen Vorgang aus: »Im

zitiert nach S. Hanuschek: Elias Canetti, S. 144. Herbst 1931 legte Kant Feuer an seine Bibliothek und verbrannte mit seinen Büchern. Sein Untergang ging mir so nahe, wie wenn er mir selber geschehen wäre. Mit diesem Werk beginnt meine eigene Einsicht und Erfahrung. Während einiger Jahre trug das Manuskript, das unangetastet bei mir lag, den Titel ›Kant fängt Feuer‹. Der Schmerz dieses Titels war schwer zu ertragen. Als ich mich widerstrebend zur Änderung entschloß, vermochte ich mich nicht ganz vom Feuer zu trennen. Aus Kant wurde Kien, die Entzündbarkeit der Welt, deren Bedrohung ich fühlte, blieb im Namen der Hauptfigur erhalten. Der Schmerz aber steigerte sich zum Titel ›Die Blendung‹.« (VIII, 344f.)

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Wie oben erwähnt, wurden zu Beginn für den Zyklus einer »Comédie Humaine an Irren« neben dem Büchermenschen noch sieben andere extreme, verrückte Protagonisten entworfen, zu denen Canetti zufolge noch ein religiöser Fanatiker, ein technischer Phantast, ein Sammler, ein von der Wahrheit Besessener, ein Verschwender, ein Feind des Todes und ein in rasch wechselnden Verwandlungen lebender Schauspieler gehörten (vgl. VI, 331, VIII, 299f.). Sie waren sozusagen für den Büchermenschen literarische, früh gestorbene Brüder, denen jeweils ebenfalls eine einzige Eigenschaft zugewiesen worden war. Es ist aber wohl nicht zufällig, dass nur ein reiner Büchermensch im geplanten Romanzyklus überlebt hat. Dass gerade die Figur, die mit dem Buch zu tun hat, als Protagonist in seinem einzigen Roman ausgewählt wurde, darin kann man eine gewisse Priorität von Canettis konsequentem Problembewusstsein für das Medium Buch und die Buchkultur sehen. Wie sieht dieser Büchermensch nun aus? Wenn man Canettis Aussage, dass »er aus Büchern bestand«, wörtlich nimmt, erinnert die Bezeichnung des Büchermenschen uns an die allegorische Gestalt des berühmten Bibliothekars, die der manieristische Maler Giuseppe Archimboldo um 1556 geschaffen hat. Dieses Bild des Bibliothekars, dessen Oberkörper vom Kopf und vom Haar bis zu den Armen allein aus der Büchermasse selbst besteht, passt wohl zu Canettis Büchermenschen. Im Roman wird das Aussehen des Protagonisten, des Sinologen Peter Kien, der sich nicht nur als Gelehrter, sondern auch als Bibliothekar ausgibt (vgl. I, 207, 342), als »ein langer, hagerer Mensch« (I, 8) beschrieben. Er besitzt eine großartige, umfangreiche Privatbibliothek, die fünfundzwanzigtausend Bände umfasst, welche von niemandem außer Kien zu benutzen sind. Die Bücher, die in der »geordneten und nach allen Seiten hin abgeschlossenen Bibliothek« (I, 21) nebeneinander, über- und untereinander aufgestellt sind, sehen wie ein gewaltiges Bollwerk des Wissens aus, in dem Kien zurückgezogen lebt und sich auf die philologische Arbeit konzentriert. Dieser Büchermensch erscheint mit dem typographischen Menschen identisch, den McLuhan in seiner bahnbrechenden Untersuchung über den Wandel und die Konsequenzen der alphabetischen Schrift- und Buchkultur, Die Gutenberg-Galaxis von 1962, analysiert hat. Der englische Original-

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Untertitel der Gutenberg-Galaxis heißt The Making of Typographic Man.5 Wie lässt sich nun dieser typographische Mensch charakterisieren? Auch wenn McLuhan keine genaue, einheitliche Definition dafür gegeben hat, können die Eigenschaften des typographischen Menschen im Folgenden zusammenfassend formuliert werden: Er gilt zuerst als visueller Mensch, der Wert auf die Fähigkeiten und Leistungen des Gesichtssinnes legt und im visuellen Raum handelt, in dem das Prinzip von Homogenität, Uniformität, Linearität und Wiederholbarkeit herrscht, das die BuchdruckTechnik in Verbindung mit dem phonetischen Alphabet hervorgebracht und verbreitet hat.6 Der typographische Mensch überträgt und reduziert alle Erfahrungen auf den Bereich des einzigen Sinnes, d.h. des Gesichtssinnes,7 den vor allem die stille Lektüre in Anspruch nimmt. Man kann Peter Kien, Canettis Sinologen und Büchermenschen, der »aus Büchern bestand«, die wohl in alphabetischen wie asiatischen Schriftzeichen geschrieben und gedruckt zu denken sind, als einen extremen Fall oder eine Abart dieses typografischen Menschen betrachten. Von Peter Kien heißt es: »Sich in Reden zu verlieren, ist die größte Gefahr, die einen Gelehrten bedroht. Kien drückte sich lieber schriftlich als mündlich aus. […] In Zitaten dachte er, in wohlüberlegten Absätzen schrieb er.« (I, 15f.)

Kien widmet sich den beiden elementaren Kulturtechniken des Lesens und Schreibens, für die der Gesichtssinn den privilegierten Sinn darstellt. Er versucht auch sein Alltagsleben mit der mit ihm schließlich verheirateten Haushälterin Therese durch einen schriftlichen Vertrag möglichst zu kontrollieren. Die orale Kommunikation ist für ihn sekundär. Er träumt komi-

5

Vgl. McLuhan, Marshall: The Gutenberg Galaxy. The Making of Typographic

6

Vgl. McLuhan, Marshall: Die Gutenberg-Galaxis. Die Entstehung des typogra-

Man, Toronto/Buffalo/London: University of Toronto Press 2010. phischen Menschen. Übersetzt von Max Nänny. Mit einem Vorwort von Richard Cavell, Hamburg: Ginkgo Press 2011, S. 35, 77f., 164, 228. 7

Vgl. ebd., S. 164. In der englischen Originalausgabe (1962) der GutenbergGalaxis steht auf dem Umschlag das Bild des Auges sozusagen als Emblem der abendländischen Buchkultur. Vgl. M. McLuhan: The Gutenberg Galaxy.

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scherweise von »Ohrlidern« (I, 115), um nach Belieben die Ohren schließen und sich so vor Lärm schützen zu können. Wie der Titel Die Blendung schon andeutet,8 ist Kien ständig in Unruhe wegen einer möglichen Erblindung, was sich zu einer Zwangsvorstellung steigert. »Jedes Papier, das er zurücklegte, kostete ein Stück Sehkraft.« (I, 30) Er ist fest entschlossen, Selbstmord zu begehen, sollte ihn Blindheit bedrohen. Nur der Gesichtssinn ist für diesen Büchermenschen bedeutend, und er ignoriert und unterdrückt alle anderen Sinne und Körperfunktionen.9 Man kann Kien buchstäblich als Augenmenschen bezeichnen, der dem Auge bzw. dem Gesichtssinn die Priorität zuerkennt und die Welt nur mit dem Gesichtssinn wahrnehmen und steuern will. In dieser Hinsicht demonstriert Canettis Büchermensch einen entscheidenden Aspekt des typografischen Menschentyps. Kiens Wahnsinn hängt mit dem Gesichtssinn eng zusammen. Aber bei ihm verbindet sich das Sehen auf paradoxe Weise mit der Blindheit. »Die paradoxe Verschränkung von Sehen und Blindheit«10 gehört zum Hauptmotiv des Romans. »Das Übersehen liegt einem Gelehrten im Blut. Wissenschaft ist die Kunst des Übersehens.« (I, 423) Hier geht es nicht um die wissenschaftliche Übersicht, sondern wortspielerisch und ironisch um das Übersehen als Nicht-Sehen. Das Übersehen bzw. Nicht-Sehen stellt für Kien eine Art von Sehen dar. Das Sehen schlägt bei ihm leicht in Blindheit um, die er strategisch als »eine Waffe« benutzt, um »alle störenden Elemente in seinem Leben« (I, 73) auszublenden. Unter Berufung auf die berühmte Formel »esse est percipi« des irischen Philosophen der Aufklä-

8

Wie Canetti in Die Fackel im Ohr bestätigt hat, fällt dieser Titel auch mit dem Rembrandtbild Die Blendung Simsons zusammen, das Canetti tief beeindruckt hat (vgl. VIII, 113, 345).

9

Kien unterschätzt nicht nur das Sprechen und Hören, sondern auch das Essen: »Gewöhnlich hätte er nicht zu sagen gewußt, was er gerade im Mund hatte. […] Kauen und Verdauen versteht sich von selbst.« (I, 27)

10 Neumann, Gerhard: »Bibliothek und Psychiatrie. Wissensordnung und Autodafé in Canettis Roman Die Blendung«, in: Münz-Koenen/Schäffner, Masse und Medium: Verschiebungen in der Ordnung des Wissens und der Ort der Literatur 1800/2000 (2002), S. 101 (Anm.).

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rungszeit George Berkeley11 erklärt Kien sein Motto: »›Esse percipi‹, Sein ist Wahrgenommenwerden, was ich nicht wahrnehme, existiert nicht.« (Ebd.) Dieses Motto hat Kien als Credo des Gelehrten radikalisiert: »Die Stärke eines Gelehrten besteht in der Einschränkung aller Zweifel auf sein Spezialgebiet.« (I, 69) Außerhalb des »Spezialgebietes« bzw. im Alltagsleben herrscht deshalb die Blindheit, die ihn nicht stört. Als typographischer Mensch sieht Kien die Welt unter einem starren »Gesichtspunkt« 12 , der notwendigerweise zum »Übersehen« anderer Dinge führt und blinde Flecke mit sich bringt. Der Terminus »Gesichtspunkt« und »Perspektive« hängt laut McLuhan mit der visuellen Buchdruckkultur zusammen, die den Raum unter linearen Reihen ordnet.13 Hier geht das übertriebene Spezialistentum, das nach McLuhan auch zu den Folgen der Buchkultur gehört,14 mit dem Solipsismus einher, und schließlich geht Kien an seiner »Welt im Kopf« zugrunde. So heißt der dritte und letzte Teil des Romans. Dieser »Bücherheld[]« (VIII, 342), der auf der Reinheit der Schrift besteht, ist ein Antiheld im Medienzeitalter, in dem verschiedene Medien koexistieren. Bekanntlich haben etwa Béla Balázs und Walter Benjamin15 bereits in den 1920er und 30er Jahren die Analyse und die Bewertung der neuen Massenmedien wie Fotografie und Film vorangetrieben, die die Wahrnehmungsart und die Rezeption der Kunst drastisch verändert haben. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts hat die Schrift- und Buchkultur als monopolistisches Massenmedium ihr Sonderrecht durch den Auftritt der neuen technischen Medien verloren, auf die auch schon die zeitgenössischen Künstler oftmals zurückgriffen.16 Im Jahr 1928, d.h. unmittelbar vor dem

11 Berkeley gehört eigentlich zu den wenigen Philosophen, mit denen sich Canetti sehr gern auseinandergesetzt hat. In seinem Nachlass gibt es eine positive Eintragung über diesen Philosophen. Vgl. S. Hanuschek: Elias Canetti, S. 450. 12 Vgl. M. McLuhan: Die Gutenberg-Galaxis, S. 9, 330. 13 Vgl. ebd., S. 164. 14 Vgl. McLuhan, Marshall: Die magischen Kanäle. Understanding Media. 2. erweiterte Auflage. Übersetzt von Meinrad Amann, Dresden/Basel: Verlag der Kunst 1995, S. 46. 15 Die Überlegungen zu Massenmedien durch Balázs und Benjamin werden im Kapitel zu Masse und Macht diskutiert. 16 In seinen Untersuchungen zu Benjamin hat Josef Fürnkäs einen Überblick über den Medienwandel im Hinblick auf die Foto- und Filmmontagetechnik in den

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Entwurf des Romanzyklus, hat Canetti sich mit führenden Vertretern der dadaistischen Avantgardebewegung in der bildenden Kunst wie John Heartfield und George Grosz in Berlin angefreundet, was er in Die Fackel im Ohr eingehend beschreibt. Heartfield und Grosz arbeiteten gemeinsam etwa für die Erste Internationale Dada-Messe 1920 in Berlin und produzierten einige Fotomontagen dafür. 17 Oft werden die grotesken Figuren in der Blendung mit solchen in Zeichnungen von Grosz verglichen,18 aber Canetti selber war sich »de[s] Abstand[s] zu einem anderen Medium« (VIII, 263)19 sehr bewusst. Canettis Berlin-Aufenthalt, den die Einladung von Wieland Herzfelde, dem Gründer des Malik-Verlages und dem jüngeren Bruder von John Heartfield ermöglichte, war neben dem Massenerlebnis des Wiener Justizpalastbrandes 1927 »das nächste entscheidende Ereignis« (VI, 328) für die Vorbereitung und Entstehung seines Romans. Für den Malik-

1920er Jahren gegeben: »Die neuen, auf die anonyme Großstadtmasse und ein akzeleriertes Rezeptionstempo ausgerichteten Medien Reklame, Film und illustrierte Tages- bzw. Wochenpresse haben die im 19. Jahrhundert konkurrenzlose Herrschaft der Bücher und Bibliotheken unumkehrbar unterminiert.« Fürnkäs, Josef: Surrealismus als Erkenntnis. Walter Benjamin – Weimarer Einbahnstraße und Pariser Passagen, Stuttgart: Metzler 1988, S. 231. 17 Vgl. Siepmann, Eckhard: Montage: John Heartfield. Vom Club Dada zur Arbeiter-Illustrierten Zeitung. Dokumente – Analysen – Berichte. Montiert von Jürgen Holtfreter. Elefanten Presse (Hg.), Berlin: Elefanten Press Verlag 1992, S. 68-72. Bekanntlich war die Technik der Fotomontage bereits in der kommerziellen Werbung verwendet worden. McLuhan hat sich nach der Kriegszeit in seinem ersten Buch Die mechanische Braut von 1951 mit dem »kollektive[n] öffentliche[n] Denken« in der Massenkultur anhand der Werbung in den USA auseinandergesetzt. Vgl. McLuhan, Marshall: Die mechanische Braut. Volkskultur des industriellen Menschen. Übersetzt von Rainer Höltschl/Jürgen Reuß/Fritz Böhler/Martin Baltes, Amsterdam: Verlag der Kunst 1996, S. 7. 18 Vgl. Sontag, Susan: »Geist als Leidenschaft« (Übersetzt von Jörg Trobitius), in: Hüter der Verwandlung. Beiträge zum Werk von Elias Canetti, Frankfurt a.M.: Fischer 1988, S. 94. 19 Canetti schreibt über Grosz: »Sein Können war für mich unerreichbar: er sprach in einer anderen Sprache, die ich zwar verstand, doch würde es mir immer versagt sein, sie zu eigenem Gebrauch zu erlernen. Das bedeutete, daß er mir nie ein Vorbild wurde […].« (VIII, 263)

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Verlag, der avantgardistische und linksorientierte Schriften publizierte, beschäftigte sich Canetti mit der (teilweise neuen) Übersetzung des amerikanischen, sozialkritischen Autors Upton Sinclair, dessen Werke damals weltweit rezipiert wurden.20 Unter den deutschen Titeln Das Geld schreibt. Eine Studie über die amerikanische Literatur (1930), Leidweg der Liebe. Roman (1930) und Alkohol. Roman (1932) erschienen drei von Canetti übersetze Werke von Sinclair. Auf deren Schutzumschläge hat John Heartfield, der »den Buchdeckel zum politischen Instrument gemacht hat«21, typische Fotomontagen wie bei anderen Büchern des Malik-Verlages arrangiert. In gewissem Sinne waren diese Sinclair-Übersetzungen für Canetti eine einmalige Zusammenarbeit mit dem Fotomontagekünstler Heartfield, der auf die Wirkung durch die Massenrezeption der Fotobuchumschläge als Agitationsmittel abzielte.22 Canettis reiner Büchermensch, der Protagonist Peter Kien, der keine einzige Fotografie von sich besitzt (vgl. I, 18), hat dagegen keinen Zugang zu den »Technobildern«23 von Fotografie und Film. Es muss historisch berücksichtigt werden, dass Die Blendung gerade in der Zeit und im Milieu dieser Medienumbrüche konzipiert und geschrieben wurde. Wie ist nun Die Blendung in die Gutenberg-Konstellation der abendländischen Schrift- und Buchkultur einzuordnen? Welchen Kultur- und Medienwandel und welche Beziehung zur Buchdruckkultur beschreibt dieser Roman? Als »gewaltige Mythen der Gutenberg-Transformation einer

20 Im Jahr 1928 veröffentlichte Canetti ein kurzes Essay über Sinclair, das überhaupt zu den frühesten Schriften Canettis gehört (vgl. X, 7-8). 21 Benjamin, Walter: »Der Autor als Produzent«, in: Gesammelte Schriften. II.2. Unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno und Gershom Scholem. Rolf Tiedemann/Hermann Schweppenhäuser (Hg.), Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2015, S. 693. 22 Vgl. E. Siepmann: Montage: John Heartfield, S. 100-106. »Der Einsatz der Fotographie für die Gestaltung von Buchumschlägen ist um 1920 etwas Neues. […] Heartfield ist einer der ersten, wenn nicht der erste, der Fotobuchumschläge macht.« (Ebd., S. 100) 23 Vgl. Flusser, Vilém: Kommunikologie. Stefan Bollmann/Edith Flusser (Hg.), Frankfurt a.M.: Fischer 2007, S. 171-208. Was das Foto betrifft, hat Canetti in seinem Drama Komödie der Eitelkeit eine anti-utopische Gesellschaft thematisiert, in der alle Spiegel und Fotographien verboten sind.

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Gesellschaft«24 hat McLuhan vier klassische, europäische Werke angeführt und kommentiert: Gargantua von Rabelais, Don Quichotte von Cervantes, The Dunciad von Pope und Finnegans Wake von Joyce25. Darunter steht vor allem Don Quichotte von Cervantes auch mit Canettis Blendung in enger Beziehung. Bekanntlich gilt der wahnsinnige Held Don Quichotte als ein Urtyp des Büchermenschen, dessen illusionäre Wirklichkeit aus mittelalterlichen Ritterromanen bestand. Für Canetti war und blieb Don Quichotte »nicht nur der erste, sondern noch immer der größte Roman« (IX, 39). Außerdem soll er auch die Absicht gehabt haben, Peter Kien diesem Vorläufer des Büchermenschen Don Quichotte in der Weltliteratur zugleich physisch anzunähern.26 McLuhan hält Don Quichotte für einen der ersten typographischen Menschen, der mit der neuen »Wirklichkeit« der Buchdruckkultur konfrontierte. »Indem er die großen Folios mittelalterlicher Abenteuerromane als seine Wirklichkeit wählt, schafft Cervantes eine höchst sinnvolle Ambivalenz. Der Buchdruck war nämlich die neue Wirklichkeit, und der Buchdruck war es, der die alte Wirklichkeit des Mittelalters zum ersten Mal dem Volk zugänglich machte.«27

Nach McLuhan beschrieb Cervantes in Don Quichotte den feudalen Menschen, »der sich einer vor kurzem visuell quantifizierten und homogenisierten Welt gegenübersieht«28, die eine auftretende Buchdruckkultur mit sich

24 M. McLuhan: Die Gutenberg-Galaxis, S. 192. 25 James Joyce, den die Blindheit wegen einer Augenkrankheit in seinen späteren Lebensjahren bedrohte, war als Zuhörer bei Canettis Lesung seines Dramas Komödie der Eitelkeit 1935 in Zürich, wovon Letzterer im dritten Band der Autobiographie Das Augenspiel berichtet (vgl. IX, 164-170). 26 Vgl. S. Hanuschek: Elias Canetti, S. 241. Auf die weitgehende Korrespondenz zwischen Don Quichotte und Die Blendung ist in der Canetti-Forschung öfters hingewiesen worden. Zur neuen Forschungslage in diesem Zusammenhang vgl. Kirsch, Konrad: Die Masse der Bücher. Eine hypertextuelle Lektüre von Elias Canettis Poetik und seines Romans Die Blendung, Sulzbach: Konrad Kirsch 2006, S. 23f. Auch in seinen Aufzeichnungen geht Canetti oft auf Cervantes ein (vgl. IV, 114, V, 93, 173f.). 27 M. McLuhan: Die Gutenberg-Galaxis, S. 279. 28 Ebd., S. 278.

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brachte. Die Parallele zwischen Don Quichotte und Die Blendung macht einen Medienwandel in der Gutenberg-Konstellation deutlich. Wie Don Quichotte vor dem Hintergrund des Anfangsstadiums der Buchdruckkultur geschrieben wurde, ist Die Blendung in der Endphase des Buchzeitalters entstanden, wobei der Status des Buches als Leitmedium von den neuen audiovisuellen und dann elektronischen Medien abgelöst wurde. In einem kurzen, aber wesentlichen Essay über McLuhan von 1963 hat der Kritiker Georg Steiner bereits versucht, Canettis Die Blendung in den Kontext der oben genannten Gutenberg-Konstellation einzuordnen, obwohl McLuhan selbst in seinen Schriften Canettis Roman nie genannt hat. »He [McLuhan] describes Gargantua, Don Quixote, the Dunciad and Finnegans Wake as the ›four massive myths of the Gutenberg transformation of society‹. Looked at closely, the idea seems beautifully right. Might one add Swift’s Tale of a Tub and, as myth of the combat between ideogram and letter, Canetti’s Auto-dafé?«29

Nach Ansicht Steiners bezieht sich Kiens Wahnsinn auf den Konflikt zwischen dem Ideogramm, wie es im Chinesischen gebraucht wird, und dem phonetischen Alphabet. Sowie Die Blendung an der Schwelle der Medienumbrüche steht, hat der Sinologe Kien mit den beiden Schriftenarten zu tun: dem östlich-asiatischen Ideogramm und dem westlichen Alphabet.30 Als »erste[r] Sinologe[] seiner Zeit« (I, 16) beherrscht Kien neben einigen europäischen Sprachen »über ein Dutzend östliche Sprachen« (I, 15). 31

29 G. Steiner: »On Reading Marshall McLuhan«, in: ders.: Language and Silence. Essays 1958-1966 (1967), S. 286. Die englische Übersetzung der Blendung erschien im Jahr 1946 unter dem Titel Auto-da-fé, der den Bibliotheksbrand am Ende des Romans andeutet. 30 Zum Unterschied zwischen dem Ideogramm und der alphabetischen Schrift in der Literaturtheorie vgl. Foucault, Michel: »Die Sprache, unendlich«, in: ders.: Schriften zur Literatur. Übersetzt von Michael Bischoff/Hans-Dieter Gondek/Hermann Kocyba, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2012, S. 88. 31 Zum Ostasien-Motiv in der Blendung vgl. Wu, Ning: Canetti und China. Quellen, Materialien, Darstellung und Interpretation, Stuttgart: Verlag Hans-Dieter Heinz 2000, S. 24-87; Verf.: »Elias Canetti und Japan«, in: 1. Deutsch-

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Aber die Tatsache, dass Kien als Sinologe entworfen wird, ist nicht unvereinbar damit, dass er auch zum alphabetischen typographischen Menschentyp im Abendland gehört. Der Konflikt zwischen dem Ideogramm und dem phonetischen Alphabet bei Kien ist nur scheinbar, denn er selber stammt aus der europäischen Schrift- und Buchkultur, und Die Blendung ist ein Ergebnis der alphabetischen Gutenberg-Galaxis. In der Blendung taucht in der Tat kein asiatisches Ideogramm auf. Kien prägt vielmehr die aggressive Wissensgier, die nach allerlei Bücher und Schriften in der Welt strebt. Kiens Bibliothek enthält sowohl kostbare Handschriften als auch die Bücher der wichtigsten Denker der Welt und aller Zeiten: »Keine menschliche Literatur war ihm fremd.« (Ebd.) »[I]n der Bibliothek des Sinologen war alles enthalten, was für die Welt von Bedeutung war«, so bestätigt Canetti selber im dritten Band seiner Autobiographie Das Augenspiel, »die Bücher aller Religionen, die aller Denker, die der östlichen Literaturen insgesamt, die der westlichen, soweit sie auch nur das geringste ihres Lebens bewahrt hatten« (IX, 9). Als Herrscher aller Bücher in der Welt erscheint Kien als extremer Fall des typographischen Menschen, dessen Wirklichkeit schließlich aus den Bücherkenntnissen entspringt. Auf jeden Fall ist hier bemerkenswert, dass Steiner Die Blendung bereits in der Gutenberg-Galaxis situiert, auch wenn diese Auffassung mit wenigen Ausnahmen in der Forschung keine Beachtung gefunden hat. Es besteht kein Zweifel darüber, dass Die Blendung einen modernen Mythos der kulturellen und gesellschaftlichen Umwandlung der Medien im Abendland darstellt. Im literarischen Nachlass von Canetti finden sich Notizen über Die Blendung, von denen die Biographie von Sven Hanuschek eine prägnante vorstellt: »Die Tragik meines Kant beruht letzten Endes auf dem Zusammenfallen seiner Ziele. Masse, Liebe und Macht kreisen bei ihm um einen Punkt: um die Bibliothek.«32 In der Tat scheint die Bibliothek einen privilegierten Ort im Roman einzunehmen.33 Die Funktion und die Metapher der

japanisch-koreanisches Stipendiatenseminar. Veröffentlichungen des JapanischDeutschen Zentrums Berlin. Band 57 (2008), S. 131ff. 32 Elias Canetti: Nachlaßnotiz vom September 1931, Zentralbibliothek Zürich, Schachtel ZB3, zitiert nach S. Hanuschek: Elias Canetti, S. 239. 33 Über Die Blendung hinaus hat Susanna Engelmann festgestellt, dass Lesen, Buch und Bibliothek zu einem zentralen Themenkomplex in den Aufzeichnungen Canettis gehören. Vgl. Engelmann, Susanna: Babel – Bibel – Bibliothek.

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Bibliothek in Die Blendung sind in der Forschung bereits speziell thematisiert worden. Der 2008 erschienene Sammelband Der Überlebende und sein Doppel, der Canettis Werke aus kulturwissenschaftlicher Perspektive untersucht, widmet anhand der Blendung gerade der Analyse der »Bibliotheksphantasien« ein ganzes Kapitel. Alexander Honolds Beitrag erörtert das Bücher-Autodafé des Romans im Kontext des geschichtlichen und fiktionalen Bücher- und Bibliotheksbrandes. 34 »Die brennende Bibliothek, Sinnbild bedrohten Geistes, ist ein Topos.«35 Zudem hat Mona Körtes Arbeit, die »de[n] uneigentliche[n] Gebrauch der Bücher«36 in Canettis Werk thematisiert, zu Recht darauf hingewiesen, dass »Buchattacken« in der Moderne vor allem mit der »Ablösung des kulturellen Leitobjekts Buch durch andere Medien«37 zu tun haben.

Canettis Aphorismen zur Sprache, Würzburg: Königshausen & Neumann 1997, S. 216-234. 34 In der Blendung werden einige historische Beispiele wie der Bibliotheksbrand in Alexandria bzw. die große Bücherverbrennung im alten China genannt, und Kien beherrscht eine Furcht vor Feuer. Sein Autodafé wird vor allem deshalb kontrovers diskutiert, weil der Bibliotheksbrand im Roman allzu andeutungsvoll mit der Bücherverbrennung des Nationalsozialismus vom Mai 1933 zusammenfällt. Dazu auch vgl. Rohrwasser, Michael: »Der Prophet Elias. Canettis Selbstinszenierung als Autor der Blendung«, in: Lüdemann, Der Überlebende und sein Doppel (2008), S. 19-37, besonders S. 26-29. 35 Honold, Alexander: »Canettis Blendung und die brennende Bibliothek. Zur Literaturgeschichte des Autodafés«, in: Lüdemann, Der Überlebende und sein Doppel (2008), S. 77f. 36 Körte, Mona: »Von Buchstabenessern und Bücherstürmern. Der uneigentliche Gebrauch der Bücher bei Elias Canetti«, in: Lüdemann, Der Überlebende und sein Doppel (2008), S. 109-124: »Canettis Buchstabenwelt bevölkern Figuren, die den Umgang mit Büchern jenseits ihrer Lektüre erproben, sie zu Waffen, Tötungsinstrumenten, Brennmaterial, Straf-, Liebes- und Leitobjekten erklären.« (Ebd.) Auch vgl. Körte, Mona: Essbare Lettern, brennendes Buch. Schriftvernichtung in der Literatur der Neuzeit, München: Wilhelm Fink 2012. 37 Körte, Mona: »Von Buchstabenessern und Bücherstürmern. Der uneigentliche Gebrauch der Bücher bei Elias Canetti«, in: Lüdemann, Der Überlebende und sein Doppel (2008), S. 116f.

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Es hat bisher nicht an Arbeiten gefehlt, Die Blendung mit Werken anderer Autoren im Hinblick auf das Motiv der Bibliothek bzw. des Bibliomanen zu vergleichen oder Die Blendung in der historischen und theoretischen Diskussion der Bibliotheksmetaphorik zu erwähnen.38 Was die Buch- und Bibliotheksmetapher in der Literatur des 20. Jahrhunderts anbelangt, ist Günter Stockers Forschung systematisch und umfangreich.39 Stocker ist es gelungen, die Bibliothek als Ort, an dem der Medienwandel hinsichtlich des Begriffs von Schrift, Wissen und Gedächtnis reflektiert werden kann, an Beispielen der modernen Literatur anschaulich zu erklären. Im Abschnitt über Die Blendung hat Stocker Kiens Bibliothek als Inbegriff der Ordnung der Schrift und Kien als einen »Gutenberg-Mensch[en]«40 bestimmt, der die akustische Dimension verachtet und unter dem Missverhältnis zwischen

38 Als vergleichende Studie zu diesem Thema unter Berücksichtigung der Blendung vgl. Castillo, Debra A.: The Translated World. A Postmodern Tour of Libraries in Literature, Florida: Florida State University Press 1984, S. 143-195; Fürnkäs, Josef: »Die Bibliothek als Ort fiktiver Identitäten«, in: Cornelia Klinger/Ruthard Stäblein (Hg.), Identitätskrise und Surrogatidentitäten. Zur Wiederkehr einer romantischen Konstellation, Frankfurt und New York: Campus Verlag 1989, S. 307-338, besonders S. 328f.; Fauser, Markus: »Eremiten in der Bibliothek. Canettis Büchermensch im Hinblick auf seine Verwandten bei Unamuno und Nabokov«, in: Euphorion. Zeitschrift für Literaturgeschichte. 88. Band (1994), S. 184-209; Stocker, Günther: Schrift, Wissen und Gedächtnis. Das Motiv der Bibliothek als Spiegel des Medienwandels im 20. Jahrhundert, Würzburg: Königshausen & Neumann 1997, S. 124-153; Ders.: Eine andere Welt – Die Bibliothek in Canettis Blendung, in: Peter Vodosek/Graham Jefcoate (Hg.), Bibliotheken in der literarischen Darstellung, Wiesbaden: Harrassowitz 1999, S. 65-88 (Eine überarbeitete Version der Abschnitte über Die Blendung in Schrift, Wissen und Gedächtnis). 39 Neben einem Theorieteil bietet Stockers Arbeit Analysen von Einzeltexten, deren wichtige Szenen in einer Bibliothek lokalisiert sind oder in denen die Bibliothek als Motiv zu beobachten ist; die Auswahl reicht von Musil, Canetti, Sartre, Borges, Arno Schmidt bis zu Umberto Eco, Ingomar von Kieseritzky, Gerhard Roth, Antonia Byatt und Ermanno Cavazzoni. 40 G. Stocker: Schrift, Wissen und Gedächtnis, S. 140.

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den Sinnen leidet.41 »Kiens Erfahrungsraum ist die Bibliothek. Damit zeigt er sich als ein wahrer Vertreter der neuzeitlichen Schriftkultur.«42 In diesem Kapitel sollen die oben genannten medientheoretisch orientierten Aspekte anhand der Rezeption Canettis in McLuhans Medientheorie geprüft und konsequent vertieft werden. Meine Untersuchung konzentriert sich darauf, wie der Büchermensch und die Bibliothek als Medium mit dem Phänomen Masse und Macht im Roman zusammenhängen. Dabei soll die Medientheorie von McLuhan, der speziell in seinem zweiten Hauptwerk, Understanding Media. The Extensions of Man, Canettis Masse und Macht zum ersten Mal umfassend aufgenommen hat, berücksichtigt werden. Die Analyse der vorliegenden Arbeit zielt daher nicht auf eine übergreifende Interpretation des ganzen Romans und aller Figuren, sondern fokussiert vor allem die Eigenschaften des typographischen Büchermenschen Peter Kien und den Konflikt mit seiner »Gegenfigur« (VI, 323), der Haushälterin Therese, der hauptsächlich die Handlung des ersten Teils im Roman bestimmt und der zugleich die Bibliothek zum Schauplatz hat. Die Figur »Büchermensch« kann ein interessantes Beispiel für die Diskussion der GutenbergGalaxis liefern. Im Folgenden wird untersucht, wie die Bibliothek in der Blendung repräsentiert wird und wie die »Gutenberg-Transformation einer Gesellschaft«, die Kien in sich verkörpert, im Roman reflektiert wird.

1.2 M ASSE

UND

B IBLIOTHEK

Die Welt der Blendung wird man inhaltlich in hauptsächlich zwei Bereiche gliedern können: Die eine ist Kiens Bibliothek, die andere ist die Großstadtstraße bzw. die Massenwelt. Dem Romanaufbau nach besteht Die Blendung aus drei Teilen: »Ein Kopf ohne Welt«, »Kopflose Welt«, »Welt im Kopf«. Die Handlung des Romans wird prägnant und sachlich im Wandel des Zusammenhangs zwischen »Kopf« und »Welt« gezeigt. Die Hauptszenen des ersten Teils »Ein Kopf ohne Welt« sind in Kiens Bibliothek lo-

41 Nach McLuhan hat die Erfindung des phonetischen Alphabets und des Buchdrucks von Gutenberg die Aufspaltung der Sinne zur Folge gehabt. Vgl. den Abschnitt zum »gedruckten Wort« in Understanding Media. M. McLuhan: Die magischen Kanäle, S. 261-274. 42 G. Stocker: Schrift, Wissen und Gedächtnis, S. 139.

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kalisiert. Den Ort der Bibliothek veranschaulicht die Metapher des Kopfes. Die Massenwelt außerhalb von Kiens Privatbibliothek ist für ihn daher nichts anders als die »Kopflose Welt«, die den zweiten Teil des Romans ausmacht. Kien zieht sich in seine Privatbibliothek zurück und vertieft sich dort in seine philologische Arbeit, bis er von seiner Haushälterin und formellen Ehefrau Therese Krumbholz aus der abgeschlossenen Bücherwelt in die Massenwelt vertrieben wird. Nach seiner Vertreibung aus der Bibliothek bleibt ihm jedoch »eine zweite Bibliothek im Kopf« (I, 18) als groteske Zuspitzung der Bibliotheksmetapher, obwohl die eigentliche Bibliothek ihre materielle Verfügbarkeit ganz verloren hat. Sogar auf den Straßen ist er auf Erwerb zum Ausbau der »Kopfbibliothek« versessen. Sein größtes Interesse und sein Wahn bestehen darin, die in der Massenwelt misshandelten Bücher zu retten und sich zum Heiland in der Bücherwelt aufzuschwingen. Nachdem Kien mit grotesken, verrückten Figuren durch die Massenwelt gewandert ist, wird er schließlich völlig wahnsinnig. Nach der Heimkehr in seine Privatbibliothek zündet er diese an und löst sich, lauthals lachend, selbst in den brennenden Büchern auf. Sichtbar ist Die Blendung zugleich im Massenzeitalter geschrieben worden, in dem »Masse des Wissens und Masse einer Menschenansammlung«43 gleichzeitig und sprunghaft zunehmen. Man kann zunächst annehmen, dass Kien die Welt der Bibliothek verkörpert, während die Haushälterin Therese die Massenwelt der Menschenmenge darstellt. Aber die Bibliothek, »der eine so großartige wissenschaftliche Leistung entsprang« (I, 345), wird nicht nur einfach dualistisch der Massenwelt gegenübergestellt. Die Bücher in Die Blendung stellen selber eine anonyme, wachsende Masse dar. Es handelt sich bei Kien immer um die Bücher als Masse, welche als Terminus sich über Menschenansammlungen hinaus schließlich auf den Begriff Zahl überhaupt bezieht. Die Zahl gilt als universeller Code in verschiedensten Bereichen. 44 In Masse und Macht hat Canetti das »Wachs-

43 Lämmert, Eberhard: Was verbindet Medium und Masse? Geleitwort, in: MünzKoenen/Schäffner, Masse und Medium: Verschiebungen in der Ordnung des Wissens und der Ort der Literatur 1800/2000 (2002), S. XI. 44 In Masse und Macht wird die »Wollust der springenden Zahl« (III, 216) untersucht, die etwa für Hitlers Reden charakteristisch ist. Im Anschluss an diese Analyse betrachtet McLuhan die Beziehung zwischen Wachstum und Zahl in

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tum« als erste Eigenschaft der Masse genannt: »Die Masse will immer wachsen.« (III, 30) Über die Imagination, dass die Zahl der Bücher immer zu wachsen haben, gibt es eine interessante, exemplarische Aufzeichnung aus den 1950er Jahren, in der Canetti seine eigene Privatbibliothek beschreibt: »Meine Bibliothek, die aus Tausenden von Bänden besteht, die ich mir zu lesen vorgenommen habe, wächst zehnmal so rasch, als ich lesen kann. Ich habe versucht, sie zu einer Art von Universum zu erweitern, in dem ich alles finde. Aber dieses Universum wächst in schwindelerregendem Maße. Es will sich nie beruhigen, und ich fühle sein Wachstum am eigenen Leib. Jeder Band, den ich neu einführe, löst eine kleine Weltkatastrophe aus, und eine Beruhigung tritt erst ein, wenn er sich scheinbar einreihen läßt und vorläufig verschwindet.« (V, 127)45

Hier zeigt sich deutlich, dass sich die Eigenschaft des Wachstums auf die Büchermasse überträgt. Noch interessanter ist es, dass Canetti das Wachstum der Bibliothek an seinem »eigenen Leib« fühlt. Es findet sich eine ähnliche Äußerung in einer Aufzeichnung von 1956: »Eigentlich ist mir jedes Buch auf eine physische Weise, die ich schwer erklären kann, das Wichtigste.« (IV, 214) Das Buch ist zunächst für Canetti etwas, womit man körperlich umgeht. Wie später behandelt wird, korrespondiert auch Peter Kien mit seiner Bibliothek als »Universum« auf verschiedene Weise. Seine Bibliothek wird mit seinem erweiterten Körper gleichgesetzt. Dazu kommt die Anonymität als Merkmal der (Bücher-)Masse in Die Blendung, obwohl in Masse und Macht das Inkognito der Masse nicht explizit behandelt wird. Kiens Leidenschaft, Bücher zu sammeln und zu besitzen, richtet sich nicht auf das seltene, konkrete Buch. Nicht zufällig wird von Canetti kaum ein konkreter, einzelner Buchtitel in Kiens Bibliothek genannt, auch wenn viele Autorennamen wie die der Denker und Schrift-

seinem Buch Understanding Media. Die Zahl als Medium wird im Kapitel zu Masse und Macht behandelt. 45 Nach der Emigration nach London konnte Canetti neben seiner Privatbibliothek auch über die Warburg Library verfügen. Vgl. E. Canetti: Party im Blitz, S. 15.

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steller Buddha, Konfuzius, Kant und Schiller im Roman Erwähnung finden.46 Kien besitzt die Bibliothek als Universum auch in seinem Kopf. Er hat außer seiner materiellen Bibliothek eine so genannte »Kopfbibliothek«. Es ist »sein wahrhaft phänomenales Gedächtnis« (I, 18), das ihm diese aus den unsichtbaren, massenhaften Wissensdaten bestehende »Kopfbibliothek« ermöglicht.47 Kiens größte Leidenschaft besteht darin, sich sowohl körperlich auch als seelisch vollkommen mit seiner Bibliothek als Büchermasse zu vereinigen und sie sich einzuverleiben.48 Seine Wahrnehmung zeigt sich vom Wissen des Buches, der Druckschrift stark gesteuert. Für ihn entstammt alle Kenntnis aus Büchern. Er internalisiert die Wahrnehmungs- und Verhaltensnormen aus dem Geschriebenen. Die objektive Wirklichkeit der Welt ist nur von zweitrangiger Bedeutung.49 Mit dem Wissen aus Büchern nimmt er zum Beispiel die Umwelt wahr. In einer oft zitierten Passage heißt es:

46 Eine Ausnahme bildet ein Roman aus dem 19. Jahrhundert Die Hosen des Herrn von Bredow von Willibald Alexis, der von Therese ausgeliehen wird. 47 Aber der Gegenstandsbereich seines Gedächtnisses wird nur auf sein »Spezialgebiet« beschränkt: »[S]ein Gedächtnis funktioniert nur vor Büchern.« (I, 349) 48 Susan Sontag weist darauf hin: »Diese Art, sich eine Bibliothek aufzubauen, hat nichts mit dem Sammeln von Büchern zu tun, wie es Benjamin so denkwürdig beschrieben hat, wo es sich um eine Leidenschaft für Bücher als materielle Objekte (seltene Bücher, Erstausgaben) handelt. Es ist eher die Materialisierung einer Obsession, deren Ideal es ist, die Bücher in den Kopf zu nehmen; die wahre Bibliothek ist nur ein mnemotechnisches System.« S. Sontag: »Geist als Leidenschaft«, in: Hüter der Verwandlung. Beiträge zum Werk von Elias Canetti (1988), S. 95. Zur Bibliothek als Gedächtnis-Metapher vgl. Assmann, Aleida: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München: C. H. Beck 1999, S. 158. 49 Dies berührt auch das Erzählproblem der Blendung. Es ist oft in Frage gestellt worden, ob es überhaupt eine objektive Realität im Roman gibt, weil die Erzählperspektive nicht konsequent ist und die Realität aus den Phantasien jeder Figur konstruiert wird. Kiens umgekehrte Wahrnehmung der Welt ist typisch für den Erzählstil im Roman. Vgl. Zur »Wirklichkeitskonstitution« in der Blendung z.B. Knoll, Heike: Das System Canetti. Zur Rekonstruktion eines Wirklichkeitsentwurfes, Stuttgart: Verlag für Wissenschaft und Forschung 1993: »So viele Fi-

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»Tauben schnäbelten sich und gurrten, am Dreck war keine Schuld. Seit zwanzig Jahren hatte er diese Laute nicht gehört, bei seinem Spaziergang kam er täglich hier vorüber. Doch war ihm das Gurren aus Büchern wohlvertraut. ›Stimmt!‹ sagte er leise und nickte, wie immer, wenn eine Wirklichkeit ihrem Urbild im Druck entsprach.« (I, 129)

Die Wahrnehmungsart hat sich in Kien völlig umgekehrt: Das »Urbild« entspringt durchaus nicht der Wirklichkeit. Platons Ideenhimmel hat für Kien in der Bücherhöhle Zuflucht gefunden.50 Die »Laute« werden ihm erst über die Bücher übermittelt und daran geprüft. Ein anderes Beispiel lautet: »Er nahm die Rosen aus Fischerles Hand, entsann sich ihres Wohlgeruches, den er aus persischen Liebesgedichten kannte, und näherte sie seinen Augen, richtig, sie rochen. Das besänftigte ihn vollends.« (I, 269)

Der »Wohlgeruch« der Rosen wird unmittelbar auf persische Liebesgedichte, die er kannte, zurückgeführt. Er glaubt nicht seinem eigenem Gehörund Geruchssinn, und er zieht die Kenntnisse aus Büchern denen der Erfahrung der Welt vor.51 In Bezug auf die Denkmethode nähert sich Peter Kien auch dem Senatspräsident Daniel Paul Schreber an, der in Masse und Macht als paranoischer Machthaber untersucht wird. Der Paranoiker fürchtet sich vor dem Unbekannten und Fremden: »Jedes Unbekannte wird auf ein Bekanntes zurückgeführt. Das Fremdartige, das an einen herantritt, wird

guren es gibt, so viele Welten scheinen möglich zu sein: Die Verbindlichkeit des Wirklichen verliert sich in der Pluralität der Wahrnehmung. Die Realität ergibt sich aus der Fortsetzung der jeweiligen Vorstellung; die Grenze zwischen Wahn und Wirklichkeit verschwimmt mit der Absolutheit subjektiver Einzelwelten.« (Ebd., S. 29) 50 Zum Stellenwert von Platon in der Blendung vgl. K. Kirsch: Die Masse der Bücher, S. 138-140. 51 »[F]ür ihn existiert die Welt nur, weil das Buch existiert, das die Welt beschreibt.« M. Körte: »Von Buchstabenessern und Bücherstürmern. Der uneigentliche Gebrauch der Bücher bei Elias Canetti«, in: Lüdemann, Der Überlebende und sein Doppel (2008), S. 112. Hierzu auch vgl. G. Stocker: Schrift, Wissen und Gedächtnis, S. 139f, 293.

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als geheimes Eigentum entlarvt.« (III, 537)52 Bei Kien beziehen sich alles Fremdartige und Unbekannte auf »das Urbild im Druck«, das ihm aus Büchern vertraut ist. Die besondere Eigenschaft des Büchermenschen scheint in der Umkehrung der Wahrnehmung zu bestehen. Seine Welt setzt sich nur aus dem geschriebenen Wissen zusammen. Man kann aber zugleich verstehen, dass sein Wahn aus einer umgekehrten Erkenntnis hervorgeht. Therese und ihre Welt entspringen keineswegs aus dem »Urbild im Druck« in der Bibliothek. Sie macht ein fremdes Element aus, das Kien mit seinem Motto »Esse percipi« weder im einen noch im anderen Wortsinn »übersehen« kann und das das Klassifikationssystem der Bibliothek verwirrt. Therese ist die »Gegenfigur« zu dem frauenfeindlichen Gelehrten Kien und spricht nur von Geld und Mann. Sie trägt stets »de[n] blauen, gestärkten Rock, der bis zum Teppich reichte« (I, 23). Ihre Worte und Taten nehmen monströsen Charakter an, und ihr geringer Wortschatz stammt aus dem Massenblatt für die gemeinen Leute. Kiens »akustische Maske«53 ist

52 Friedrich Nietzsche hat den Ursprung des Begriffs »Erkenntniss« im Folgenden formuliert, was Canettis Analyse der paranoischen Denkform nahekommt: »[W]as versteht eigentlich das Volk unter Erkenntniss? was will es, wenn es ›Erkenntniss‹ will? Nichts weiter als dies: etwas Fremdes soll auf etwas B e k a n n t e s zurückgeführt werden. […] [W]ie? ist unser Bedürfniss nach Erkennen nicht eben dies Bedürfniss nach Bekanntem, der Wille, unter allem Fremden, Ungewöhnlichen, Fragwürdigen Etwas aufzudecken, das uns nicht mehr beunruhigt? Sollte es nicht der I n s t i n k t d e r F u r c h t sein, der uns erkennen heisst? Sollte das Frohlocken des Erkennenden nicht eben das Frohlocken des wieder erlangten Sicherheitsgefühls sein?« Nietzsche, Friedrich: Die fröhliche Wissenschaft, in: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden. Band 3. Giorgio Colli/Mazzino Montinari (Hg.), München: Deutscher Taschenbuch Verlag de Gruyter 1999, S. 593f. 53 Zur »akustischen Maske« bei Canetti vgl. das nächste Kapitel der vorliegenden Arbeit. Im Gespräch mit Manfred Durzak benutzt Canetti den Begriff »akustische Maske« zur Beschreibung der dramatischen Anlage des Romans. Soweit die literarischen Figuren diese unsichtbare Maske tragen, bleiben sie im ewigen Monolog. Die Sprachverwirrung stellt ein anderes, wichtiges Motiv in der Blendung dar. Vgl. Dissinger, Dieter: Vereinzelung und Massenwahn. Elias Canettis Roman Die Blendung, Bonn: Bouvier Verlag 1971, S. 99-138.

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aus Bibliothekszitaten zusammengesetzt, während Zeitungsannoncen die »akustische Maske« Thereses bestimmen. Überhaupt heiratet er sie, nicht aus Neigung und Liebe, sondern weil sie für ihn »das beste Mittel« scheint, um seine »Bibliothek in Ordnung zu halten« (I, 47), was sich später jedoch als sein größter Irrtum herausstellen wird. »Die beste Definition der Heimat ist Bibliothek. Frauen hält man am klügsten von seiner Heimat fern. Entschließt man sich doch, eine aufzunehmen, so trachte man, sie der Heimat erst völlig zu assimilieren, so wie er es getan hat.« (I, 57)

Die »Assimilation« an die Heimat ist jedoch nur in Kiens kurzsichtigen Augen gelungen. Er unterschätzt und verkennt Therese, die den Roman, den er ihr ausleiht, besser behandelt als er selbst. Therese übertrifft Kiens Verständnis und Gedächtnis: »Therese ließe sich in der Geschichte sämtlicher Kulturen und Unkulturen, soweit er mit ihnen vertraut war, nirgends unterbringen.« (I, 120) Kien nennt diesen Versuch die »historische Methode« (ebd.), mit der er stets Gegenstände versteht und sie in eine gelehrte Ordnung schriftlicher, toter Vergangenheit bringt. Kiens »historische Methode« beruht auf der Gesamtgeschichte der Menschheit, die in seiner Kopfbibliothek aufbewahrt wird. Diese Methode entspricht ebenfalls seiner oben genannten Wahrnehmungsart, die ausschließlich aus visuellen Bücherkenntnissen resultiert. Er kann aber schließlich die Existenz von Therese selbst mit Hilfe der »Geschichte sämtlicher Kulturen und Unkulturen« keineswegs gruppieren und klassifizieren. Therese ist mit einem »blauen, gestärkten Rock« gepanzert. »Der Rock gehörte zu ihr, wie die Schale zur Muschel.« (I, 54) Kien kann nicht umhin, den hinter der Schale versteckten »Schleim« (ebd.) zu imaginieren, der sich leicht mit der zähflüssigen, teigigen Masse verknüpfen mag.54 Bernd Widdig vertritt die These, dass Therese für Kien die »allegorische Figur der Masse« 55 bedeutet. In diesem Zusammenhang zwischen Masse und Frau hat Michael Gamper in einer übergreifenden Studie zur »Diskurs- und Ima-

54 Das Wort Masse bezeichnet ursprünglich den Teig. Zur gründlichen Untersuchung der Etymologie und des Bedeutungswandels der Masse vgl. P. Friedrich: Die Rebellion der Masse im Textsystem, S. 292-309. 55 Widdig, Bernd: Männerbünde und Massen. Zur Krise männlicher Identität in der Literatur der Moderne, Opladen: Westdeutscher Verlag 1992, S. 192.

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ginationsgeschichte der Menschenmenge« gezeigt, dass die Masse traditionell als »das Andere der Kultur« repräsentiert worden ist.56 Dabei wurde die Menschenmasse, der oft »feminine Eigenschaften« zugeschrieben wurden, von den Autoren der Französischen Revolution bis zum Massentheoretiker Gustave Le Bon mit der (monsterösen, tierischen) Weiblichkeit assoziiert.57 In der Charakterbeschreibung erschienen Masse, Frau und Monster manchmal austauschbar. Kien hält die Menschenmasse wie die Frauen von seiner Bibliothek fern, und er vermeidet jeden körperlichen Kontakt im Alltagsleben. Laut McLuhan gehören die »Distanzierung« und das »Unbeteiligtsein«58 auch zu den Eigenschaften des typographischen Menschen, der vor allem aufgrund der visuellen Orientierung handelt. Dieses Merkmal findet sich konsequen-

56 Vgl. M. Gamper: Masse lesen, Masse schreiben, S. 143-150. Da Gamper hauptsächlich die Literatur bis 1930 zum Gegenstand seiner Untersuchung gemacht hat, wird Die Blendung in seiner Studie nicht behandelt. Zur weiteren Forschung über die Massendarstellung und -vorstellung in der Literatur der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vgl. Graczyk, Annette: Die Masse als Erzählproblem. Unter besonderer Berücksichtigung von Carl Sternheims Europa und Franz Jungs Proletarier, Tübingen: Max Niemeyer 1993; Ebine, Takeshi: »Ekstasis. Zum Massendiskurs in der Weimarer Republik«, in: Die Japanische Gesellschaft für Germanistik (Hg.), Neue Beiträge zur Germanistik. Band 3/Heft 1 (2004), S. 164182; Hirano, Yoshihiko: »Malte – Menge – Masse. Notizen zu Intérieur, Gesicht und Zahl«, in: Die Japanische Gesellschaft für Germanistik (Hg.), Neue Beiträge zur Germanistik. Band 5/Heft 2 (2006), S. 67-81. 57 Vgl. M. Gamper: Masse lesen, Masse schreiben, S. 156. Auch zur Masse als Frau vgl. Moscovici, Serge: Das Zeitalter der Massen. Eine historische Abhandlung über die Massenpsychologie. Mit einem Nachwort von Carl Friedrich Graumann. Autorisierte Übersetzung von Michael Sommer, Frankfurt a.M.: Fischer 1986, S. 144f. Zur Assoziation zwischen Masse und Monströsem vgl. Vogl, Joseph: »Das charismatische Tier«, in: Anne von der Heiden/Joseph Vogl (Hg.), Politische Zoologie, Berlin: diaphanes 2007, S. 119-130. 58 M. McLuhan: Die magischen Kanäle, S. 265. »In einer solchen [westlichen] Gesellschaft ist die Trennung des einzelnen von der Gruppe räumlich (Privatleben), ideell (Standpunkt) und arbeitsmäßig (Spezialistentum), kulturell und technisch vom Alphabetentum und seinem ganzen illustren Gefolge von aufgegliederten industriellen und politischen Institutionen unterstützt worden.« (Ebd., S. 168)

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terweise auch bei Peter Kien, den die »Verachtung für die Masse« (I, 44) charakterisiert und der als Eremit ein einsiedlerisches, isoliertes Leben in seiner Bibliothek führt. Gerade Distanz und ihre Aufhebung bestimmen die anthropologische Ausgangsthese, die Canetti in Masse und Macht entfaltet hat. Der Beginn von Masse und Macht lautet: »Nichts fürchtet der Mensch mehr als die Berührung durch Unbekanntes. Man will sehen, was nach einem greift, man will es erkennen oder zumindest einreihen können. Überall weicht der Mensch der Berührung durch Fremdes aus.« (III, 13)

Die »Berührungsfurcht« gilt vor allem dem visuellen typographischen Menschen, der sich am Gesichtssinn orientiert und das Unbekannte und Fremde auf Abstand halten sowie dann in die lineare, systematische Ordnung »einreihen« will. 59 Für Kiens Bibliothekssystem stellt Therese das Fremde und Unbekannte dar, das assimiliert oder ausgeschlossen werden soll. Als nächstes soll verfolgt werden, wie Kien seine Bücherwelt gegen Therese, das »Fremde«, verteidigt.

1.3 D ER G ELEHRTE ALS K OMMANDANT – T HE B ATTLE OF THE B OOKS Der Konflikt zwischen Kien und Therese bildet einen Höhepunkt des ersten Teils »Ein Kopf ohne Welt«. Das Bett, das Therese gekauft hat, stört Kiens Bibliothek als »einheitlichen Organismus« (I, 69). Therese versucht die Bibliothek wohnlicher zu machen und das Zimmer mit neuen Möbeln auszustatten. Therese bemächtigt sich allmählich des Raumes in der Wohnung, wogegen sich Kien wehrt. In einem Kapitel, das »Mobilmachung« heißt, bildet er sich ein, ein Kommandant zu sein, und betrachtet die unzähligen Bücher in seiner Bibliothek als eine Heeresgruppe, die gegen Therese

59 Josef Fürnkäs erwähnt diesen anthropologischen Ausgangspunkt in Masse und Macht in Zusammenhang mit dem kulturellen, gesellschaftlichen und medialen Wandel des Sehens bzw. »Zuschauens«. Vgl. Fürnkäs, Josef: »Automation und die Metamorphosen des Zuschauers«, in: K. Ludwig Pfeiffer/Ralf Schnell (Hg.), Schwellen der Medialisierung. Medienanthropologische Perspektiven – Deutschland und Japan, Bielefeld: transcript 2008, S. 197.

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kämpft. Kien mobilisiert die Büchermasse, um einen »Heiligen Krieg« (I, 97) gegen eine »fremde[ ] Macht« (I, 93) zu führen. Er redet seine Bücher an: »Noch sind wir in der Lage, als unverletzte, geschlossene Körperschaft, einer für alle, alle für einen, zur Abwehr zu rüsten.« (I, 96f.) Seine Brandrede vor der Büchermasse setzt sich fort: »Ich erkläre: 1. Wir befinden uns im Kriegszustand. 2. Verräter verfallen der Feme. 3. Das Kommando ist zentralisiert. Ich bin oberster Kriegsherr, einziger Führer und Offizier. 4. Sämtliche Unterschiede, die sich aus Vergangenheit, Ansehen, Größe und Wert der Kriegsteilnehmer ergeben, sind aufgehoben. Die Demokratisierung des Heeres äußert sich praktisch darin, daß von heute ab jeder einzelne Band mit dem Rücken zur Wand steht. Diese Maßnahme steigert unser Zusammengehörigkeitsgefühl. […].« (I, 98f.)

So wird die Büchermasse als Heer unter einem einzigen Führer gleichgeschaltet. »[D]ie Namenlosigkeit eines kriegsbereiten Heeres« (I, 99) bestimmt nun seine Bibliothek, die aus den zahlreichen, soldatischen Büchern besteht. Die Büchermasse wird hier zur Truppenabteilung als »Massenkristall«, für den die »Klarheit, Isoliertheit und Konstanz« (III, 85) charakteristisch ist, wie es Canetti später in Masse und Macht präzisiert. Kien als Kommandant, der die anonyme Büchermasse organisiert, gewinnt zugleich die Macht aus ihr,60 und seine Herrschaft drückt sich gerade in der »unverletzte[n], geschlossene[n] Körperschaft« mit seinem Bücherkorps aus. Für

60 Die enge Beziehung zwischen Macht und Bibliothek ist auch auf der historischen Ebene evident. Dazu vgl. McLuhan, Marshall: Bibliotheken: einst, jetzt und künftig, in: ders.: Wohin steuert die Welt? Massenmedien und Gesellschaftsstruktur. Übersetzt von Heinrich Jelinek, Wien/München/Zürich: Europaverlag 1978, S. 235f.: »Als Aufbewahrungsorte menschlichen Denkens und Erkennens sind Bibliotheken riesige Waffenlager und Arsenale und sind zu verschiedenen Zeiten als solche bewußt verwendet worden. Zu allen Zeiten waren Bibliotheken mit politischen und militärischen Organisationen untrennbar verbunden. Historiker haben aufgezeigt, auf welche Art und Weise Bibliotheken zur Errichtung großer religiöser und militärischer Bürokratien beigetragen haben.«

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den machthaberischen Menschentyp gibt es zwei Möglichkeiten, um die Masse zu kontrollieren: Distanzierung oder/und Assimilierung. Kien assimiliert die Büchermasse, um seinen Körper zu verstärken. In der Beziehung zwischen Kien und seiner Büchermasse zeigt sich wie beim Fall Schrebers zweifellos ein »Modell der politischen Macht, die sich von der Masse nährt und aus ihr zusammensetzt« (III, 523). Hier geht es um eine Vorwegnahme der Thematisierung der Paranoia, die Canetti in Masse und Macht als »eine Krankheit der Macht« (III, 532) bezeichnet und am Fall Schreber gründlich analysiert. Wie der Senatspräsident Schreber seinen menschlichen Körper für einen »Weltkörper« (III, 517) hält, korrespondiert Kien mit seinem Bücherkorps, das für ihn einen ausgeweiteten Körper ausmacht. Canettis Untersuchung zu »Herrschaft und Paranoia« kommentieren Deleuze und Guattari in ihrem Werk Anti-Ödipus von 1972, das überhaupt neben McLuhan sehr früh Canettis Gedanken über Massen- und Machtphänomen fruchtbar gemacht hat: »Elias Canetti hat sehr gut gezeigt, wie der Paranoiker Massen und ›Meuten‹ organisiert, wie er sie kombiniert, sie in Gegensatz stellt, sie steuert. Der Paranoiker macht Massen zu Maschinen, er ist der Künstler großer molarer Einheiten, statistischer Formationen, herdenhafter Gebilde, organisierter Massenphänomene. Er besetzt alles unter dem Zeichen großer Zahlen. […] Präsident Schreber klebt Tausende kleiner Menschen an seinen Körper.«61

In seinen Phantasien der Bücherwelt erscheint der einzige Offizier Kien als Paranoiker wie Schreber, dessen Körper zum extremen Schauplatz des Phänomens Masse und Macht wird. Das »Zeichen großer Zahlen« charakterisiert Kiens Büchermasse, die immer kollektiv erscheint und ihm gehorcht. Er dirigiert auf imaginäre Weise die domestizierte, organisierte Büchermasse, die ihm illusionäre Macht verleiht und ihn gegen die fremde Außenwelt

61 Deleuze, Gilles/Guattari, Félix: Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie I. Übersetzt von Bernd Schwibs, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2014, S. 360f. Sie verweisen hier auf S. 515 von Masse und Macht. Über die präzise Unterscheidung zwischen Masse und Meute bei Canetti durch Deleuze und Guattari vgl. Deleuze, Gilles/Guattari, Félix: Kapitalismus und Schizophrenie. Tausend Plateaus. Übersetzt von Gabriele Ricke/Ronald Voullié, Berlin: Merve Verlag 2005, S. 52f.

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verteidigen soll. Zweifellos beschäftigt sich Kien als Paranoiker mit der »Makrophysik«, »die mit großen Zahlen und Massenphänomenen rechnet«.62 Der Aspekt, dass das Buch zu den Massenphänomenen gehört, hat einen historischen Beleg. Das gedruckte Buch war laut McLuhan »nicht nur das erste Massenprodukt […], sondern auch das erste uniforme und wiederholbare ›Konsumgut‹« 63 in der westeuropäischen Geschichte, und die Buchkultur hat das Prinzip der Einheitlichkeit und Wiederholbarkeit in jedem Bereich befördert: »Die Botschaft des Drucks und der Typographie ist in erster Linie die der Wiederholbarkeit.« 64 Die Homogenisierungsmacht der abendländischen Schrift- und Buchkultur hat vor allem zum »gleichgeschalteten Militärdienst«65 effektiv beigetragen. Kien, der das Prinzip der visuellen Buchkultur verinnerlicht hat, nutzt diese Macht nach Herzenslust aus und kommandiert »die typographische Organisation der Armee«66. In seiner Bibliothek versucht er die Bücher von Buddha bis Schopenhauer in anonyme, gleichgeschaltete Soldaten zu verwandeln, in denen sich »das Uniforme und das Homogene« 67 manifestieren: »Der moderne Soldat ist das Paradebeispiel der beweglichen Drucktype, des ersetzbaren Teils, des klassischen Gutenberg-Phänomens.«68 Die Szene dieser Mobilmachung in der Bibliothek schließt sich direkt an die Tradition der Bücherschlacht in der satirischen Literatur an. Georg Steiner hat in seinem oben erwähnten Essay über die Gutenberg-Galaxis auch die satirische Schrift A Tale of a Tub von Swift angeführt; die Satire The Battle of the Books, die mit A Tale of a Tub von 1704 zusammen publi-

62 G. Deleuze/F. Guattari: Anti-Ödipus, S. 361. Im Gegenteil geht der Schizophrene den Weg der »Mikrophysik«, den der »Wellen und Korpuskeln, Ströme und Partialobjekte, die nicht mehr den großen Zahlen unterworfen sind, infinitesimale Fluchtlinien statt Perspektiven großer Einheiten« (ebd.). 63 M. McLuhan: Die Gutenberg-Galaxis, S. 163. 64 M. McLuhan: Die magischen Kanäle, S. 246. 65 Ebd., S. 119. 66 M. McLuhan: Die Gutenberg-Galaxis, S. 291. 67 Ebd., S. 287. Hier zu Kiens Bibliothek als Männerbund vgl. B. Widdig: Männerbünde und Massen, S. 188. 68 M. McLuhan: Die Gutenberg-Galaxis, S. 287. In diesem Kontext erörtert McLuhan den Einfluss des Buchdrucks auf die Entstehung des Nationalismus.

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ziert wurde, schilderte ihrerseits einen Kampf der vermenschlichten Bücher in the King’s Library.69 Es handelt sich dabei um eine andere Querelle des Anciens et des Modernes, um den Streit über den Vorrang zwischen den antiken und modernen Büchern, die schließlich als personifizierte Armeen miteinander heftig kämpfen. Beide Truppenverbände der Bücher gehen dabei zum Nahkampf in der Bibliothek über, die so zum Schlachtfeld wird. Canetti, eifriger Leser Swifts, muss auch diese Satire über die Bücherschlacht gelesen haben.70 Der große Unterschied zwischen The Battle of the Books und Die Blendung liegt aber darin, dass es bei Canetti einen einzigen Führer in der Bibliothek gibt. In The Battle of the Books fehlt ein herausragender Kommandant wie Kien, der alle Bücherparteien und Büchersekten vereinigte. In der Blendung geschieht dagegen kein Krieg zwischen den Büchern in der Bibliothek, sondern der Feind ist in der Außenwelt. Indem Kien seine Büchersoldaten mobilisiert, bereitet er sie und sich auf den Verteidigungskrieg gegen Therese vor, die nicht zur Bibliothekswelt gehört. Kiens Mobilmachung besteht darin, alle Bücher in der Bibliothek aufzuwecken und gleichzuschalten.71

69 Swift, Jonathan: A Full and True Account of the Battle fought last Friday, between the Antient and the Modern Books in St. James’s Library, in: ders.: A Tale of a Tub. With Other Early Works 1696-1707, Herbert Davis (Hg.), Oxford: Basil Blackwell 1957. Über den literarischen Topos der Bücherschlacht vgl. Hölter, Achim: Die Bücherschlacht. Ein satirisches Konzept in der europäischen Literatur, Bielefeld: Aisthesis 1995. 70 Neben Don Quichotte zählt Canetti auch Swifts Gulliver´s Travels von 1726 zu den Lieblingsbüchern seiner Kinderzeit (vgl. VII, 52f). Auch in den Aufzeichnungen finden sich die Auseinandersetzungen mit diesem irischen Schriftsteller: »Swifts zentrales Erlebnis ist die Macht. Er ist ein verhinderter Machthaber. Seine satirischen Angriffe stehen für Todesurteile. In seinem Leben waren sie ihm versagt, sie sind in seine Satire geraten.« (IV, 29) Oder »England liegt für mich zwischen Swift und Blake« (V, 77). 71 Während der Verfassung der Blendung erschien 1930 der umstrittene Aufsatz Die Totale Mobilmachung von Ernst Jünger, der den Begriff der Totalen Mobilmachung einführte und den Weltkrieg als »die Bereitschaft zur Mobilmachung« charakterisierte. Jünger, Ernst: Sämtliche Werke. Band 7. Essays I. Betrachtungen zur Zeit, Stuttgart: Klett-Cotta 1980, S. 129. Es lässt sich aber nicht beweisen, dass Canetti damals diesen Aufsatz gelesen hatte.

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1.4 P ROTHESEN UND B ÜCHER Kien bekämpft Therese nicht nur mittels der geistigen Operationen der »historischen Methode« in seiner Kopfbibliothek, sondern auch mittels der imaginären »Körperschaft« seiner soldatischen Büchermasse. Indem er seine Bücher als Armee dirigiert, versucht er den räumlichen Angriff von Therese abzuwehren. Aber diese »Körperschaft« hat für Kien auch kompensatorischen Charakter. Sie dient vor allem dazu, Kiens schwachen und schmalen Körper zu schützen und zugleich zu vergrößern. Manfred Schneiders Beitrag über Die Blendung, der das Körper-Problem der Figuren in den Mittelpunkt der Untersuchung gestellt hat, befindet, dass diese grotesken Figuren im Roman von symbiotischen Gegenständen besessen sind, die ihre körperlichen Mängel und Defekte ergänzen können und zugleich als Form der Masse erscheinen.72 »Der symbolische Leib« gehört zum Element des »Privatmythos«73, den jede Figur für sich pflegt und der sie voneinander getrennt hält. Die Bibliothek ist nichts anders als der Privatmythos von Kien, und Schneider kommentiert Kiens Beziehung mit der Bibliothek: »Der symbolische Körper Peter Kiens braucht nicht umständlich bezeichnet zu werden: Es ist die Bibliothek, die größte Privatbibliothek der Stadt, wie es heißt. Daß diese Büchermasse ein riesiger organloser Leib ist, das geht bereits daraus hervor, daß für Kien jedes Buch, ebenso die Tasche mit den Büchern, zur Ergänzung seines Körpers dient.«74

Beim morgendlichen Spaziergang trägt Kien immer eine Aktentasche voller Bücher bei sich. Die Bibliothek bzw. Büchermasse stellt für diesen hageren Gelehrten sozusagen den prothetischen Körper dar. Schneider hat auch darauf hingewiesen, dass sich der Philologe Kien, der seinen mageren Leib durch die Büchermasse ergänzt, gerade zugleich der Konjektur als Textkri-

72 Schneider, Manfred: »Die Krüppel und ihr symbolischer Leib. Über Canettis Mythos«, in: Hüter der Verwandlung. Beiträge zum Werk von Elias Canetti (1988), S. 22-41. »Die verkrüppelten Leiber sind Organisationseinheiten von Begehrungen und ungehemmten Machtwünschen.« (Ebd., S. 23) 73 Vgl. dazu Canettis Gespräch mit Friedrich Witz (X, 208). 74 M. Schneider: »Die Krüppel und ihr symbolischer Leib. Über Canettis Mythos«, in: Hüter der Verwandlung. Beiträge zum Werk von Elias Canetti (1988), S. 32f.

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tik hingibt, um schadhafte, unvollständige alte Texte zu ergänzen und zu vervollständigen.75 So laufen die körperliche Prothese und die philologische Konjektur bei Kien parallel. Während Peter Kien als Verwalter über die Büchermasse in seiner Bibliothek herrscht, beschäftigt sich sein jüngerer Bruder, Psychiater Georg Kien, mit den Geisteskranken, »achthundert Gläubige[n]« (I, 501), in seiner psychiatrischen Klinik in Paris, wo er als »absoluter Herrscher« (I, 500) handelt. Jede Figur ist besessen von irgendeiner Art »Ersatz-Masse«76, um die eigenen Machtwünsche zu erfüllen und einen symbolischen, zweiten Körper zu erzeugen. Therese besteht auf Kiens Erbschaft, die sie sich zu eigen zu machen versucht. Zudem vermehrt sie die Erbschaft, indem sie die Zahl in Kiens Testament verändert. Der Bucklige Fischerle, der für Kien die Rolle des Parasiten »als Inbegriff des Medialen«77 im zweiten Teil des Romans spielt, verlangt ebenfalls nach der Geldmasse, um nach Amerika zu gehen und dort zum Schachweltmeister zu werden. Die Personen im Roman brauchen surrogathafte Prothesen, um ihre eigene Unvollständigkeit

75 Vgl. ebd., S. 34f. Zur prothetischen Körpervorstellung in Die Blendung auch vgl. Fürnkäs, Josef: »Geschichte oder Tradition? Die Gegenwart des Vergangenen bei Elias Canetti«, in: »Ein Dichter braucht Ahnen« Elias Canetti und die europäische Tradition. Jahrbuch für Internationale Germanistik. Reihe A. Band 44 (1997), S. 75f. 76 Vgl. dazu auch Roberts, David: Kopf und Welt. Elias Canettis Roman Die Blendung. Übersetzt von Helga und Fred Wagner, München/Wien: Carl Hanser 1975, S. 145: »Das Kraftfeld von Affekten, das den Einzelnen umgibt, besteht aus den Kraftströmen der Masse. In der F o r m , die die Masse annimmt, spiegelt sich aber das Individuum, sie ist die F o r t s e t z u n g u n d S t e i g e r u n g d e s b e w u ß t e n S e l b s t . Kien findet seine Masse in seinen Büchern […]. Die Masse jedes Einzelnen ist also Selbstspiegelung und Selbstvergrößerung.« (Ebd., S. 156) 77 G. Neumann: »Bibliothek und Psychiatrie. Wissensordnung und Autodafé in Canettis Roman Die Blendung«, in: Münz-Koenen/Schäffner, Masse und Medium: Verschiebungen in der Ordnung des Wissens und der Ort der Literatur 1800/2000 (2002), S. 103. Neumann verweist hier auf die Arbeit zum Parasiten von Michel Serres. Fischerle spielt im Roman auch die Rolle eines Vermittlers zwischen Peter und Georg, indem er das Telegramm an Georg nach Paris sendet.

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an Körper und Seele zu kompensieren und ihre imaginierte Leistungsfähigkeit zu perfektionieren. Wie sich aus der oben zitierten Aufzeichnung ergibt, hat Canetti selber seine immer wachsende Privatbibliothek als einen erweiterten, zweiten Körper gefühlt. In der ersten Lebensgeschichte Die gerettete Zunge hat sich Canetti überdies an das wissensdurstige Lernen und die eifrige Lektüre in seiner Züricher Kindheit in den 1910er Jahren auch als »physisches« Erlebnis zurückerinnert: »Jede neue Erfahrung empfand ich physisch, als Gefühl körperlicher Erweiterung.« (VII, 236, Hervorhebung von S.F.) Hier erklärt Canetti die »Erweiterung, Befreiung von Grenzen und Beschränkungen« (ebd.) eher als euphorisches, allmächtiges Gefühl, das wohl für die Kindheit typisch ist. Jedenfalls kann man ermitteln, dass der junge Canetti bereits den Wissenserwerb durch die Buchlektüre als körperliches Wachstum wahrgenommen hatte. Diese Problematik des Körpers lässt sich wohl durch die These erhellen, dass Technik und Medien auch als Prothesen funktionieren, die die körperlichen Fähigkeiten und die Sinnesorgane ergänzen, erweitern und umformen. Tim Armstrong untersucht die Körpervorstellung im Modernismus der englischen Literatur und zeigt, dass die Vervollständigung und Verstärkung des deformierten, fragmentarischen Körpers durch technische Prothesen für das Körperbild im literarischen Modernismus charakteristisch sei.78 Indem er vor allem auf die Organprojektionstheorie von Ernst Kapp und die Formulierung Freuds über den Menschen als »Prothesengott« in Das Unbehagen in der Kultur hinweist, unterscheidet Armstrong zwischen negativer und positiver Prothese, die eng miteinander zusammenhängen.79 Die negative Prothese ergänze und kompensiere im üblichen Sinne die Mängel und Defekte des Körpers, der z.B. im Krieg beschädigt worden sei, während die positive die angeborenen, körperlichen Fähigkeiten und Kapazitäten erweitere und intensiviere. Erst die elektronische Medientechnologie ermöglichte die umfassende und utopische Organ-Extension als in Arm-

78 Vgl. Armstrong, Tim: Modernism, Technology, and the Body. A Cultural Study, Cambridge: Cambridge University Press 1998, S. 77-105. Der Gegenstand seiner Untersuchung beschränkt sich hauptsächlich auf die Literatur im englischsprachigen Raum. Armstrong berücksichtigt die Medientheorie der Körperextension von McLuhan nicht. 79 Vgl. ebd., S. 77f.

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strongs Sinne positive Prothese. Beide prothetische Verfahren betreffen den Fall Kien, der einerseits seinen zum Skelett abgemagerten Leib durch die Büchermasse ergänzt und andererseits damit nach einem gigantischen Körper strebt, um seine Sicherheit zu befestigen. Aber Kiens Anachronismus besteht nun darin, dass er seinen missgestalteten Körper nicht durch neuere Medientechnik, sondern durch das alte, analoge Medium Buch direkt ergänzt und verstärkt. Mit der Frage nach Körper und Medien nähert man sich nun einem anderen Problemkreis von McLuhans Medientheorie: den Ausweitungen des Körpers. McLuhan hat gerade diese Frage nach der Ergänzung und Vergrößerung des Körpers als ein zentrales Problem seiner Medientheorie übernommen und als Extension des Menschen formuliert.80 McLuhan betrachtet Medien einschließlich der Sprache und aller Art von Werkzeugen als Ausweitungen des Menschen. Wie die Kleidung z.B. eine Erweiterung der Haut ist, lassen sich künstliche Produkte als technische Körpererweiterungen verstehen. Obwohl der symbolische Körper in der Blendung mit den Ausweitungen des Körpers in dieser Medientheorie nicht ohne weiteres gleichzusetzen ist, wäre ein Vergleich interessant, weil McLuhan gerade in Bezug auf das Körper-Problem Canettis Gedanken in Masse und Macht aufgreift. Im Abschnitt zu »The Written Word« von Understanding Media greift McLuhan den griechischen Mythos der Entstehung und Einführung der alphabetischen Schrift im Anschluss an Canettis Machtanalyse des Körpers auf. McLuhan zieht den Kadmos-Mythos in der Antike heran, nach welchem der König Kadmos die Buchstaben in Griechenland eingeführt hätte. Kadmos war bekannt vor allem als Held, der den Drachen bzw. die Schlange vernichtete. Er habe die Zähne des erschlagenen Drachen gesät, aus denen dann bewaffnete Männer entstanden seien. Mit ihnen habe er die Stadt Theben gegründet. McLuhan deutet die Implikationen dieses Mythos in Bezug auf die Ausweitungen des Körpers und die Entstehung der Buchstaben folgendermaßen: »Im Zusammenhang mit den Ausweitungen des Menschen ist das Thema der Drachenzähne in der Cadmus-Sage von größter Bedeutung. Elias Canetti weist uns in

›Masse und Macht‹ wieder darauf hin, daß die Zähne unverkennbar ein Agens der

80 Vgl. dazu das Kapitel zur Rezeption von Masse und Macht, in welchem McLuhans Medientheorie noch behandelt wird.

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Macht des Menschen und besonders auch mancher Tiere sind. Daß die Buchstaben als die zu einer aggressiven Ordnung und Präzision führenden Kräfte, als Erweiterungen der Drachenzähne dargestellt werden, ist natürlich und durchaus zutreffend. Zähne mit ihrer linearen Anordnung haben betont visuellen Charakter. Buchstaben sind nicht nur genauso wie Zähne ihrem Wesen nach visuell, sondern ihr machtvolles Zähnezeigen kommt auch bei der Schaffung von Großreichen in unserer Geschichte des Abendlandes deutlich zum Ausdruck.«81

81 M. McLuhan: Die magischen Kanäle, S. 131f. Die deutsche Übersetzung ist an dieser Stelle leider nicht vollständig. Das englische Original lautet: »In terms of the extensions of man, the theme of the dragon’s teeth in the Cadmus myth is of the utmost importance. Elias Canetti in Crowds and Power reminds us that the teeth are an obvious agent of power in man, and especially in many animals. Languages are filled with testimony to the grasping, devouring power and precision of teeth. That the power of letters as agents of aggressive order and precision should be expressed as extensions of the dragon’s teeth is natural and fitting. Teeth are emphatically visual in their lineal order. Letters are not only like teeth visually, but their power to put teeth into the business of empire-building is manifest in our Western history.« McLuhan, Marshall: Understanding Media. The Extensions of Man. With a new introduction by Lewis H. Lapham, Cambridge/Massachusetts/London: The MIT Press 1994, S. 83. An mehreren Stellen seiner Schriften hat McLuhan die Kadmos-Sage aufgegriffen. Z.B.: »Der Zusammenhang zwischen Imperium und Kommunikation durch das Buch kommt in der Tat sogar in der Kadmos-Sage zum Ausdruck: […] Es scheint, daß die Buchstaben als aggressive Waffen mit Zähnen in Verbindung gebracht wurden, da Zähne das einzige repetitive und einheitliche Merkmal des animalischen Körpers darstellen. Buchstaben ermöglichten durch das Kuriersystem die Ausweitung des Imperiums über weite Distanzen, da es durch dieses Mittel möglich wurde, eine feste Herrschaft über große Entfernungen auszuüben.« M. McLuhan: »Bibliotheken: einst, jetzt und künftig«, in: Wohin steuert die Welt? Massenmedien und Gesellschaftsstruktur (1978), S. 241. McLuhan hat auch in der Gutenberg-Galaxis die Kadmos-Sage im Hinblick auf die Einführung des Alphabets mehrmals erwähnt, wobei er aber statt auf Canetti auf die Arbeiten des kanadischen Wirtschaftswissenschaftlers Harold Innis verweist. Vgl. M. McLuhan: Die Gutenberg-Galaxis, S. 32, 64. »Harold Innis ist in Empire and Communications erstmals diesem Thema [der Alphabet-Erfahrung] nachgegangen und hat eine genaue sowie einfache Erklärung des Cadmus-Mythos gefunden.

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Die Vernichtung des Drachens durch Kadmos und die anschließende Verwandlung der Drachenzähne in Menschen sind bekanntlich auch in Ovids Metamorphosen ausführlich erzählt worden. 82 Was die Einführung der Schrift durch Kadmos in Griechenland angeht, berichtete Herodot davon in seinen Historien, obwohl es archäologisch und geschichtswissenschaftlich heute noch umstritten ist, um welche Schrift es hier eigentlich ging.83 Beide Episoden führen zwar auf Kadmos zurück, aber sie haben miteinander nicht direkt zu tun. McLuhan ist der Ansicht, dass sich der Mythos auf einen gesamten Komplex des Geschehens gleichzeitig beziehe. Nach McLuhan kondensiert der Kadmos-Mythos den Medienwandel um die Entstehung des phonetischen Alphabets, das die Verhältnisse von Macht und Wissen in der Antike verändert hat,84 auch wenn der Mythos selbst mit der historischen Bestätigung selbstverständlich nichts zu tun hat. Dabei verbindet McLuhan auf charakteristische Weise die Kadmos-Sage um die Buchstaben mit Canettis Analyse der Zähne.85 Canettis Beobachtungen in Masse und Macht

[…] Harold Innis war der erste, der darauf hinwies, daß die Formen einer bestimmten Medien-Technik den Wandlungsprozeß schon implizieren. Das vorliegende Buch ist eine erklärende Fußnote zu seinem Buch.« (Ebd., S. 64f.) Der offensichtlichere Einfluss von Innis auf McLuhan ist anders als derjenige Canettis öfters hervorgehoben worden. Vgl. z.B. Patterson, Graeme: History and Communications. Harold Innis, Marshall McLuhan, the Interpretation of History, Toronto: University of Toronto Press 1990: S. Grampp: Marshall McLuhan. Eine Einführung, S. 116-120. 82 Vgl. Publius Ovidius Naso: Metamorphosen. In deutsche Hexameter übertragen und mit dem Text herausgegeben von Erich Rösch. München/Zürich: Artemis Verlag 1983, S. 89-95. 83 Vgl. Herodot: Historien. Fünftes Buch. Griechisch/Deutsch. Übersetzt von Christine Ley-Hutton. Kai Brodersen (Hg.), Stuttgart: Reclam 2014, S. 67. Zum Forschungstand der Debatte über die Einführung der Schrift durch Kadmos vgl. Edwards, Ruth B.: Kadmos the Phoenician. A Study in Greek Legends and the Mycenaean Age, Amsterdam: Adolf M. Hakkert 1979, S. 174-179. 84 M. McLuhan: Die magischen Kanäle, S. 131f. 85 Was die Schrift überhaupt betrifft, bezieht Canetti selber die Schriftentstehung auf die Deutung der Tierspuren bei der Jagd: »Die früheste Schrift, die er [der Mensch] lesen lernte, war die der Spuren.« (III, 33) Eine ähnliche, interessante Überlegung findet sich auch bei Ginzburg, Carlo: Spurensicherung. Die Wissen-

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lassen sich im Wesentlichen auf »elementare (auch animalische) Körperlichkeit«86 zurückführen. Canetti versucht am menschlichen und tierischen Körper die verschiedenen Machterscheinungen und Machtapparate zu erklären, und so betrachtet er die Zähne als das »auffälligste Instrument der Macht« (III, 242): »Glätte und Ordnung, als manifeste Eigenschaften der Zähne, sind in das Wesen der Macht überhaupt eingegangen.« (III, 243) Hier zeigt sich deutlich die Nähe zur Theorie der Organextension, die die Technik für die Verlängerung und Verstärkung des Körpers hält. Nach Canetti war die Glätte und Härte der Zähne nicht nur als Vorbild zur Herstellung und Entwicklung technischer Waffen und Werkzeuge nützlich, sondern es spiegeln sich die Eigenschaften der Zähne auch in der künstlichen, abstrakten Ordnung und Anordnung der Gesellschaft wider: »Die Gleichheit einer ganzen Reihe von Vorderzähnen, die sauberen Abstände, in denen sie eingesetzt sind, waren vorbildlich für viele Anordnungen. Geregelte Gruppen aller Art, die uns heute selbstverständlich sind. [sic] mochten ursprünglich daraus abzuleiten sein. Die Anordnung von Truppen-Abteilungen, wie der Mensch selber sie künstlich schafft, wird von der Sage mit Zähnen in Verbindung gebracht.

schaft auf der Suche nach sich selbst. Übersetzt von Gisela Bonz/Karl F. Hauber, Berlin: Wagenbach 2002: »Tierspuren ›entziffern‹ oder ›lesen‹: das sind metaphorische Ausdrücke. Man ist aber versucht, sie wörtlich zu nehmen – als verbale Kondensation eines historischen Prozesses, der in einem sehr langen Zeitraum zur Erfindung der Schrift führte.« (Ebd., S. 19) Wie Ginzburg in Anmerkungen bemerkt hat, formulierte bereits Walter Benjamin diesen Aspekt, »daß der Mensch erst lesen und dann schreiben gelernt hat« (ebd., S. 52f.). Benjamin schreibt in Über das mimetische Vermögen: »›Was nie geschrieben wurde, lesen.‹ Dies Lesen ist das älteste: das Lesen vor aller Sprache, aus den Eingeweiden, den Sternen oder Tänzen.« W. Benjamin: »Über das mimetische Vermögen«, in: Gesammelte Schriften. II.1 (2015), S. 213. Die Dekodierung der Fußspuren der Tiere mag die erste Lektüre vom Menschen in dem Sinne sein, dass er als Jäger in der Wildnis überleben konnte, insofern er die Spuren der Tiere als Nahrung richtig zu lesen wusste, um sie zu fangen und zu essen. 86 S. Hanuschek: Elias Canetti, S. 437.

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Die Soldaten des Kadmos, die aus dem Boden sprangen, waren als Drachenzähne gesät.« (III, 244)87

McLuhan hat wohl das Wesentliche von Canettis Machtanalyse der Zähne richtig erkannt. Die Eigentümlichkeit von McLuhans Lektüre besteht darin, Canettis Betrachtung der Zähne als ein Machtorgan mit der Ordnung und Linearität der Buchstaben zu verbinden. Die Linearität der alphabetischen Schrift bestimmt McLuhan zufolge die Wahrnehmung des europäischen Menschen stark.88 Die abendländische Kultur hat »die lineare Anordnung« bzw. die »zusammenhängende[n] lineare[n] Abfolgen als universelle Form«89 in jedem gesellschaftlichen Bereich entwickelt. Hier ist anzumerken, dass sich systematische Gewalt und militärische Ordnung sowie die Anordnung der Drachenzähne auf »die Macht der Buchstaben« beziehen. Die Ordnung der Zähne ließe sich aber auch auf die visuelle Vorstellung der Bibliothek von Kien übertragen. Die geordnete Bücherreihe in Kiens »höllische[r] Bibliothek« (I, 501) kann mit der Ordnung der Zähne gleichgesetzt werden, die »als Drohung nach außen wirkt« (III, 242). In Kiens Bibliothek spiegelt sich gerade eine »aggressive Ordnung«, die militärischen Charakter annimmt. Die Reihen der Bücher fallen mit der »Anordnung von Truppen-Abteilungen« zusammen. Wie bereits erwähnt, kommandiert Kien in seinen Phantasien die gleichgeschalteten Büchersoldaten in geschlossener Formation. Man könnte sogar sagen, dass

87 Dissinger, der den Korrespondenzen und Unterschieden zwischen Die Blendung und Masse und Macht nachgegangen ist, schreibt: »Zähne als Symbol der Macht spielen im Roman keine Rolle. Was aber Kien mit einem Machthaber gemein hat, ist sein notorischer Ordnungszwang; was ihn dann zum Machthaber in dieser Welt ungeeignet erscheinen läßt, ist die Wirklichkeitsfremdheit seines Ordnungsstrebens.« D. Dissinger: Vereinzelung und Massenwahn, S. 169. In Die gerettete Zunge hat Canetti Gustav Schwabs Buch Sagen des Klassischen Altertums genannt, das ihm seine Mutter geschenkt hatte und durch das der kleine Canetti wie so viele seiner Zeitgenossen mit der griechischen Mythologie vertraut wurde. Dabei bezieht Canetti Kadmos und die Drachenzähne auf den Krieg (vgl. VII, 117). 88 Zur Wahrnehmung durch die Schrift bzw. des Alphabets vgl. G. Stocker: Schrift, Wissen und Gedächtnis, S. 24-26. 89 M. McLuhan: Die magischen Kanäle, S. 135.

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Kiens Büchersoldaten mit den bewaffneten, gepanzerten Männern, die aus den Drachenzähnen erwachsen, verwandt sind. Die Assoziation der Zähne hat Canetti weiterentwickelt: »Die Zähne sind die bewaffneten Hüter des Mundes. In diesem Raum ist es wirklich eng, er ist das Urbild aller Gefängnisse.« (III, 244) Nach Canettis Einsicht lässt sich das Gefängnis als symbolische und analogische Erweiterung des Mundes verstehen.90 Kiens Bibliothek ist die Festung und zugleich das Gefängnis, in das er sich freiwillig einsperrt, und das hilft, sich von der gemeinen Menschenmenge und den möglichen Risiken der Außenwelt abzuschließen.91 Was den verborgenen Zusammenhang mit dem späterem Werk Masse und Macht angeht, kann die Büchermasse in der Blendung auch mit dem Wald als Massensymbol verglichen werden, das Canetti als »[k]ollektive Einheiten, die nicht aus Menschen bestehen und dennoch als Massen empfunden werden« (III, 86)92, bezeichnet. Die lineare Anordnung als Vorbild für Artefakte findet sich nicht nur im Menschen- und Tierkörper, sondern auch in der Natur, und zwar in den aufrechtstehenden Bäumen. »Das Rigide und Parallele der aufrechtstehenden Bäume, ihre Dichte und ihre Zahl« (III, 202) passen wohl auch – neben ihrer Entzündbarkeit – zu der Vorstellung der Bibliothek in der Blendung. Die Vorstellung von Bäumen und ihre Eigenschaften verknüpfen sich bei Canetti wiederum auch mit der Armee. Über den Wald als Massensymbol schreibt er: »Seine Standhaftigkeit hat viel von derselben Tugend des Kriegers. Die Rinden, die einem erst wie Panzer erscheinen möchten, gleichen im Walde, wo so viele Bäume derselben Art beisammen sind, mehr den Uniformen einer Heeresabteilung.« (Ebd.)

Diese Kombination von Heer und Wald ist zugleich das Massensymbol für die deutsche Nation, in der vor allem im 19. Jahrhundert das Militär eine entscheidende Rolle gespielt hat:

90 Zur Analogie als Denkmethode bei Canetti vgl. P. Friedrich: Die Rebellion der Masse im Textsystem, S. 154-216 und das dritte Kapitel der vorliegenden Arbeit. 91 Die Bibliothek dieses Philologen ist der von der Menschheit entfernteste Ort: »Wissenschaft und Wahrheit waren für ihn identische Begriffe. Man näherte sich der Wahrheit, indem man sich von den Menschen abschloß.« (I, 13) 92 Als andere Massensymbole werden Feuer, Meer, Regen, Korn, Wind, Sand usw. genannt.

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»Heer und Wald waren für den Deutschen, ohne daß er sich darüber im klaren war, auf jede Weise zusammengeflossen. […] [E]r fühlte sich beschützt, einer von diesen allen. Das Schroffe und Gerade der Bäume nahm er sich selber zur Regel.« (Ebd.)93

In Kiens Büchersoldaten kann man vielleicht auch das Bild des »marschierende[n] Wald[es]« (III, 202) sehen.94 Der Schutzumschlag des Buches ließe sich mit dem Panzer des Kriegers vergleichen. 95 Canetti betont auch, dass die Höhe und Dichte der Bäume den Menschen Schutz bietet und »zum Vorbild der Andacht« (III, 98)96 dient. Kiens Bibliothek stellt auch einen abgeschlossenen Dom dar, der von der irdischen Welt isoliert ist.97 Von seiner Bibliothek heißt es: »Es war, als hätte sich jemand gegen die Erde verbarrikadiert; gegen alles bloß materielle Beziehungswesen, gegen alles nur Planetarische eine Kabine erbaut […].« (I, 68f.)

93 Canettis Analyse zum deutschen Verhältnis zum Wald ist ziemlich bekannt. Die folgende, kulturwissenschaftliche Waldforschung beginnt mit dem Zitat von Canettis Bemerkungen über den Wald als Massensymbol. Vgl. Lehmann, Albrecht: Von Menschen und Bäumen. Die Deutschen und ihr Wald, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1999, S. 11. 94 Das Bild des »marschierende[n] Wald[es]« ist jedoch nicht nur für das Deutschtum spezifisch, sondern es findet sich in der Weltliteratur: In Shakespeares Macbeth verwandelt sich eine Armee in »ein[en] gehnde[n] Wald«, indem sich jeder Soldat mit Zweigen maskiert. Shakespeare, William: Macbeth. Tragödie. Übersetzt von Dorothea Tieck. Dietrich Klose (Hg), Stuttgart: Reclam 2001, S. 85. 95 In Zusammenhang mit der Analyse des Befehls in Masse und Macht beschreibt Canetti den Soldaten, der von »Mauern« des Befehls umgeben ist: »Das Eckige des Soldaten ist wie das Echo seines Körpers auf ihre Härte und Glätte; er bekommt von einer stereometrischen Figur.« (III, 368) Diese »stereometrische Figur« betrifft wohl auch Kiens »eckige« Büchersoldaten. 96 Canetti hat den Wald als Massensymbol nicht nur mit dem Heer, sondern auch mit der Kirche in Verbindung gebracht: »Der Wald baut dem Kirchengefühl vor, dem Stehen vor Gott unter Säulen und Pfeilern.« (III, 98) 97 Zur Vorstellung der Bibliothek als Tempel vgl. K. Kirsch: Die Masse der Bücher, S. 466f.

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Kiens Bibliothek bildet das eigene Universum, das mit ihm auch physisch korrespondiert, wie sich Canetti selber in einer Aufzeichnung über die körperliche Verbindung mit seiner Privatbibliothek als Universum, das wohl aus verschiedenen Galaxien besteht, geäußert hat. Zum Schluss soll gezeigt werden, welche spezifische Funktion die Bibliothek als Kosmos für Kien erfüllt.

1.5 E INE ( PARANOISCHE ) M ÄNNERPHANTASIE IN DER B IBLIOTHEK Wie einige Interpreten bereits hervorgehoben haben,98 fungieren die Bücher bzw. die Bibliothek für Kien als Barrikade und Festung gegen die Außenwelt bzw. das Fremde. Nicht zufällig sind alle Seitenfenster in der Bibliothek zugemauert, nicht zufällig befindet sich die Bibliothek im »vierten und obersten Stock des Hauses« (I, 21). »Das Schroffe und Gerade« der Bücher, die Baumreihen ähnlich sind, gewährt Kien praktischen Schutz gegen die Massenwelt, die ihm fremd und bedrohlich ist. Wie oben bemerkt, trägt Kien einen Teil seiner Bücher während des morgendlichen Spaziergangs immer bei sich. Das Buch ist wegen seiner materiellen Härte und Schwere und seiner »Tragbarkeit«99 zum Schutze wie geschaffen, obzwar es freilich brennbar ist. Das Verlangen nach der vollkommenen Verteidigung gehört auch zum Charakteristikum der Paranoia, die überall Gefahr und Fallen

98 Vgl. D. Roberts: Kopf und Welt, S. 11ff; B. Widdig: Männerbünde und Massen, S. 188. 99 Zum materiellen, physischen Aspekt des Buches vgl. M. McLuhan: Die Gutenberg-Galaxis, S. 269-272. Laut McLuhan brach die Tragbarkeit des gedruckten Buches nicht nur das »Bibliotheksmonopol«, sondern sie trug »zum neuen Kult des Individualismus« bei. Auch vgl. M. McLuhan: »Bibliotheken: einst, jetzt und künftig«, in: Wohin steuert die Welt? Massenmedien und Gesellschaftsstruktur (1978), S. 247: »Eine der revolutionären Auswirkungen Gutenbergs auf die Bibliotheken bestand darin, daß das gedruckte Buch sowohl transportabel als auch verschleißfähig war. Die einheitlichen und wiederholbaren oder massengefertigten Waren nahmen mit dem gedruckten Buch ihren Anfang. Die Gutenbergsche Technologie der einheitlichen und beweglichen Typen wurde zu Grundform und Beispiel aller späteren Formen der Massenproduktion.«

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wittert. Um jedes Risiko zu vermeiden und zu verhüten, strebt Kien als Paranoiker nach der »Unangreifbarkeit«, die ihm ein Sicherheitsgefühl verleiht.100 Er trägt die Bücher sozusagen als Panzer, und die Bücher werden schließlich zu einer gepanzerten Körpergrenze als harter Außenhaut, die in seinem Wahnsystem unverletzlich und undurchdringlich scheint. Auch in seinem großen Kafka-Essay Der andere Prozeß. Kafkas Briefe an Felice hat Canetti eine interessante Bemerkung über die prothetische Körpervorstellung bei Kafka gemacht. Kafka war sehr mager wie Peter Kien, und unter der Magerkeit und Schwäche seines Körpers litt er lebenslang.101 Canetti spricht von »Hypochondrie« (VI, 183), für Kafka war doch sein empfindlicher Körper ein Gegenstand, den er immer aufmerksam beobachten zu müssen glaubte. Das »Gefühl der Bedrohtheit« (ebd.) hatte ihn nie verlassen: »Er fürchtet das Eindringen feindlicher Kräfte in seinen Körper […].« (Ebd.) Um sich von den fremden Einflüssen fernzuhalten, muss er sich in seine Wohnung zurückziehen, die für ihn ein Versteck darstellt: »Sein Zimmer ist ein Schutz, es wird zu einem äußeren Leib, man kann es den Vor-Leib nennen.« (Ebd.) Unter »einem äußeren Leib« oder dem »VorLeib« kann man die prothetische Einrichtung verstehen, die Kafkas schwachen Körper umhüllt und beschützt. Aber um jede Berührung mit der Macht zu vermeiden, beschließt Kafka, den Canetti für »de[n] größte[n] Experte[n] der Macht« (VI, 223) unter allen Dichtern hält, in die entgegengesetzte Richtung im Vergleich zu Kien und Schreber zu gehen, die ihren eignen Körper auszuweiten versuchen. Um sich der fremden Übermacht zu erwehren, betreibt Kafka die »Verwandlung ins Kleine« (VI, 190) resp. die

100 Manfred Schneider zählt die »Unangreifbarkeit« zum Schlüsselbegriff der Paranoia bei Canetti. Kiens »Unangreifbarkeit« bezieht sich zuerst auf seine philologische Arbeit der Konjektur, die keinen wissenschaftlichen Widerspruch bzw. Angriff duldet. Vgl. Schneider, Manfred: »Kritik der Paranoia. Elias Canetti und Karl Kraus«, in: Lüdemann, Der Überlebende und sein Doppel. Kulturwissenschaftliche Analysen zum Werk Elias Canettis (2008), S. 189-213, besonders S.191f. Auch Schneider, Manfred: Das Attentat. Kritik der paranoischen Vernunft, Berlin: Matthes & Seitz 2010, S. 217-226, besonders S. 219f. 101 Canetti zitiert Kafkas Brief an Felice vom 1. November 1912, in dem er sich über seine Magerkeit äußert: »›Ich bin der magerste Mensch, den ich kenne, was etwas sagen will, da ich schon viel in Sanatorien herumgekommen bin…‹« (VI, 180)

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»leibliche Verringerung« (VI, 230), die schließlich zum Verschwinden führt. Für die Zusammenfassung des bis hierher behandelten Themenkomplexes vom Frauenhass, der Massenverachtung und der prothetischen Panzerung des Körpers beim visuellen Büchermenschen ist es nun angebracht, sich auf Klaus Theweleits monumentale Faschismusforschung der Männerphantasien zu berufen, in der gerade Canettis Einsichten von Masse und Macht in zusammenhängender Weise das erste Mal im deutschsprachigen Raum kritisch rezipiert und verwendet wurden.102 Theweleit hat versucht, vor allem anhand der sogenannten kriegerischen, rechtsorientierten Freikorpsliteratur in der Weimarer Republik das »Wesen des ‹weißen Terrors›« und die faschistische Sprache des »soldatischen Mannes« klarzumachen.103 In Männerphantasien taucht Die Blendung nicht auf, und selbstverständlich kann Canettis einziger und singulärer Roman mit der Freikorpsliteratur heute nicht mehr bekannter Autoren nicht gleichgesetzt werden. Trotzdem ist Theweleits Arbeit aufschlussreich, um Kiens Abwehr gegen die Außenwelt und die Frau adäquat zu erklären. Laut Theweleit taucht die auflösende, verschluckende und verquickende Menschenmasse, der eine monströse oder erotische Weiblichkeit oft zugeschrieben worden ist, als Bedrohung für die Existenz des soldatischen Mannes auf. 104 Die größte Angst des soldatischen Mannes besteht darin, sich mit der Masse zu vermischen und seine Ich-Identität zu verlieren. Er vermeidet, verachtet und unterdrückt alles, was in seiner Vorstellung die Körpergrenze überschreitet. Theweleit deutet Canettis Massentheorie in die

102 Theweleit, Klaus: Männerphantasien. 1+2. Band 1: Frauen, Fluten, Körper, Geschichte. Band 2: Männerkörper – zur Psychoanalyse des weißen Terrors. Mit zahlreichen Abbildungen. Mit einem Nachwort zur Taschenbuchneuausgabe, München/Zürich: Piper 2002. In Männerphantasien spielt auch AntiÖdipus von Deleuze und Guattari eine besondere Rolle, die wiederum Canettis Masse und Macht sehr früh beachtet haben. Zur Rezeption von Masse und Macht in Anti-Ödipus und Männerphantasien in Bezug auf die physikalischen Konnotationen der Masse vgl. P. Friedrich: Die Rebellion der Masse im Textsystem, S. 244. 103 Vgl. K. Theweleit: Männerphantasien, Band 1, S. 33. 104 Vgl. ebd., Band 2, S. 10.

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Geschlechterfrage um, die in Masse und Macht direkt nicht thematisiert wird: »Elias Canetti hat die Vorgänge innerhalb von Menschenmassen genau beschrieben. […] Die Menschen in der Masse berühren und entgrenzen sich gerade durch ihre große Dichte. Man müßte blind sein, nicht zu sehen, daß da Vorgänge ablaufen, die der Vermischung der Liebenden verwandt sind.«105

Für den soldatischen Mann kann das Massenerlebnis mit dem Geschlechtsverkehr assoziiert werden. Seine Abwehr richtet sich vor allem gegen die körperliche Berührung mit dem, was ihn an die Masse erinnert: »Mehrere zentrale Begriffe der deutschen faschistischen Ideologie leiten sich aus einer Abwehr dessen, was die Masse verkörpert und was in ihr vorgeht, ab.«106 Als diese beispielhaften Begriffe nennt Theweleit »‹Kultur›, ‹Rasse›, ‹Nation›, ‹das Ganze› und Organisationen wie das Heer«.107 All diese Begriffe fungieren im Abwehrsystem gegen das, »was die Masse verkörpert und was in ihr vorgeht«. Der faschistische Mann als »Kulturmann«, der »hochstehende einzelne«108 ist bemüht, sich von der klebrigen, amorphen Masse als Teig abzugrenzen. Aber Theweleit unterscheidet zwei verschiedene Massen für den soldatischen Mann: »Die gefeierte Masse ist immer eine formierte, in Dammsysteme gegossene. Ein Führer ragt aus ihr heraus. Die verachtete erscheint dagegen immer unter den Attributen des Flüssigen, Schleimigen, Wimmelnden.«109

Es ist leicht verständlich, dass die harten und eckigen Bücher für Kien »eine formierte, in Dammsysteme gegossene« Masse sind, die sich strikt von der amorphen, wimmelnden Menschenmasse auf den Straßen der Großstadt unterscheidet.110 Die hohe, feste, solide und formierte Bibliothek von Kien,

105 Ebd., S. 30. 106 Ebd., S. 50, 47. 107 Ebd., S. 47. 108 Ebd. 109 Ebd., S. 8. 110 Entsprechend hat die Filmregisseurin Leni Riefenstahl in ihrem NS-Dokumentarfilm TRIUMPF DES WILLENS von 1935 eine »formierte, in Damm-

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die sich im obersten Stock der Wohnung befindet, überragt die Massenwelt in der Tiefe.111 Es gibt die Masse, die für den soldatischen Mann bedrohlich sein kann, nicht nur auf der Straße bzw. der Außenwelt. Die unkontrollierbare Masse existiert als amorphes Unbewusstes auch im Selbst. Theweleit beschreibt die innere Masse »als Verkörperung des eigenen Unbewußten«112 in folgender Weise: »Daß der Terror gegen die Masse aus der Angst vor dem Zusammenfließen des eigenen ‹Inneren› mit eben der Masse herrühren kann, das wäre Elias Canettis Einsichten in Masse und Macht vielleicht hinzuzufügen: die revolutionäre Masse als Verkörperung (nicht als Symbol) des ausgebrochenen eigenen ‹Innen›, das sich dem soldatischen Mann ganz und gar vergegenständlicht hat zum Gemisch widerwärtiger Körperströme.«113

systeme gegossene« Masse als »Massenornamente« (Siegfried Kracauer) anschaulich inszeniert. Vgl. Kracauer, Siegfried: Von Caligari zu Hitler. Eine psychologische Geschichte des deutschen Films. Übersetzt von Ruth Baumgarten/Karsten Witte, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2014, S. 355: »Der Film enthält auch Bilder der Massenornamente, in die dieses hingerissene Leben auf dem Parteitag gepreßt wurde. Als Massenornament erschienen sie Hitler und seinem Stab, der sie als Konfigurationen gewürdigt haben muß, die die Bereitschaft der Massen symbolisierten, nach dem Willen ihrer Führer geformt und gebraucht zu werden. Der Nachdruck auf diesen lebenden Ornamenten kann auf die Absicht zurückgeführt werden, den Zuschauer durch ihre ästhetischen Qualitäten gefangenzunehmen und ihn dazu zu bringen, an die Solidität der Hakenkreuzwelt zu glauben.« Zur Masseninszenierung in TRIUMPF DES WILLENS vgl. Sontag, Susan: »Faszinierender Faschismus« (Übersetzt von Mark W. Rien/Angela Wittmann-Hausner), in: dies.: Im Zeichen des Saturn. Essays. München 2003, S. 113; Hebekus, Uwe: »Die totalitäre Masse. Zu Leni Riefenstahls Triumpf des Willens«, in: Lüdemann/Hebekus, Massenfassungen. Beiträge zur Diskurs- und Mediengeschichte der Menschenmenge (2010), S. 163-200. 111 Zur Topographie vom Hoch und Tief vgl. K. Theweleit: Männerphantasien, Band 2, S. 55. 112 Vgl. ebd., Band 2, S. 8-12. 113 Ebd., S. 11.

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»Die Masse als Verkörperung des eigenen Unbewußten« wird zwar in Masse und Macht nicht thematisiert noch theoretisiert. Aber es lohnt sich hier zum Vergleich, Georg Kiens Idee der »Masse in uns« in der Blendung heranzuziehen. Der Psychiater Georg als absoluter Herrscher seiner Geisteskranken entwickelt hellsichtigere Erkenntnisse über die Masse als sein älterer Bruder Peter Kien. Nach Georg ist die Masse eigentlich »ein ungeheures, wildes, saftstrotzendes und heißes Tier in uns allen« (I, 449): »[…] Bildung ist ein Festungsgürtel des Individuums gegen die Masse in ihm [Menschen] selbst. […] Den sogenannten Lebenskampf führen wir, nicht weniger als um Hunger und Liebe, um die Ertötung der Masse in uns. […] ›Die Menschheit‹ bestand schon lange, bevor sie begrifflich erfunden und verwässert wurde, als Masse. […] Sie ist trotz ihrem Alter das jüngste Tier, das wesentliche Geschöpf der Erde, ihr Ziel und ihre Zukunft. Wir wissen von ihr nichts; noch leben wir als vermeintliche Individuen. Manchmal kommt die Masse über uns, ein brüllendes Gewitter, ein einziger tosender Ozean, in dem jeder Tropfen lebt und dasselbe will. Noch pflegt sie bald zu zerfallen, und wir sind dann wieder wir, arme, einsame Teufel. In der Erinnerung fassen wir es nicht, daß wir je so viel und so groß und so eins waren. […] Indessen rüstet sich die Masse in uns zu einem neuen Angriff.« (I, 449f.)

Die »Masse in uns« ist nicht unbedingt mit der »revolutionäre[n] Masse als Verkörperung des ausgebrochenen eigenen ‹Innen›« identisch, wie es Theweleit formuliert. Und die »Masse in uns« ist nicht nur revolutionär, sondern kann auch den Grund einer totalitären Gesellschaft bilden, in der ein einziger Machthaber waltet. Es ist aber hier sicher, dass für Kien die Bibliothek als Inbegriff und Verkörperung der »Bildung« die Rolle eines »Festungsgürtels« gegen die »Körperströme«, gegen die bedrohliche, unkontrollierbare Masse von innen und außen spielt. In Anlehnung an den Psychoanalytiker Wilhelm Reich hat Theweleit den Begriff des »Körperpanzers«114 entwickelt, der die eigene Ich-Identität von innen und außen begrenzen und schützen soll. Trotz Canettis heftiger Ablehnung gegen die Psychoanalyse ist Reichs Theorie auch zum Aufschluss über Die Blendung oft herangezogen worden. Bereits mit Reichs Charakteranalyse hat David Roberts, dessen Arbeit über Die Blendung zu

114 Vgl. ebd., Band 1, S. 229, 249, Band 2, S. 85.

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den klassischen Canetti-Studien gehört, die Figuren in der Blendung interpretiert: »Kien ist das Urbild des starr gepanzerten Charakters […]. Dies [die fensterlose Bibliothek] ist der äußere Panzer des Selbst […].«115 Die Bücher dienen Kien als sicherer, sichtbarer und größerer »Körperpanzer«, der schließlich mit seiner eigenen Haut verwächst und seine imaginäre IchIdentität vor der auflösenden Menschenmasse schützt, die für ihn Therese verkörpert. Im letzten Kapitel des ersten Teils, das den Titel »Die Erstarrung« trägt, stellt sich Kien vor, zur Statue, zum »ägyptischen Priester von Granit« (I, 171) zu werden, um im Kriegszustand Thereses Tätlichkeiten abzuwehren. Das Charakteristikum dieser extremen Erstarrung, Verhärtung und Versteifung des Körpers teilt Kien mit dem Paranoiker Schreber; Canetti hat selber die Ähnlichkeit der »Unbeweglichkeit« zwischen beiden entdeckt und in einer Aufzeichnung hervorgehoben.116 In diesem Kontext liefern Theweleits Männerphantasien mit der Theorie Reichs den argumentativen Hintergrund, um aus historischer Perspektive deutlich zu machen, dass Kiens misogyner Charakter zur gepanzerten, faschistischen Mentalität des soldatischen Mannes in Freikorps (Wahl-) Verwandtschaft zeigt. Der Gelehrte Kien, der die Frau, die Menschenmasse und seinen eigenen Körper verachtet, lässt sich nicht nur als typographi-

115 D. Roberts: Kopf und Welt, S. 13. Roberts weist auf die folgende Stelle aus Reichs Charakteranalyse hin: »Der Charakter besteht in einer chronischen Veränderung des Ichs, die man als Verhärtung beschreiben möchte […]. Ihr Sinn ist der des Schutzes des Ichs vor äußeren und inneren Gefahren. Als chronisch gewordene Schutzformation verdient sie die Bezeichnung ›Panzerung‹.« Reich, Wilhelm: Charakteranalyse, Köln: Anaconda Verlag 2010, S. 200f. Zum weiteren Vergleich mit Reich vgl. Meili, Barbara: Erinnerung und Vision. Der lebensgeschichtliche Hintergrund von Elias Canettis Roman Die Blendung, Bonn: Bouvier Verlag Herbert Grundmann 1985, S. 39-48. 116 »Es ist müßig alles aufzuzählen, was bei ihm [Schreber] vorkommt, ich befasse mich damit in ausführlichen Kapiteln für ›Masse und Macht‹. Aber manche Aspekte, die mich im Zusammenhang mit der ›Blendung‹ interessieren, will ich hier doch erwähnen. Da ist die Schilderung einer Periode der ›Unbeweglichkeit‹, sie erinnert an das entsprechende Kapitel ›Die Erstarrung‹ aus der

›Blendung‹. Auch die Gespräche mit erdichteten Gestalten könnten aus der ›Blendung‹ stammen.« (IV, 161) Zur Analyse der Erstarrung bei Schreber in Masse und Macht vgl. III, 545f.

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scher Augenmensch, sondern als »soldatischer Mann« bezeichnen, obwohl und gerade weil er sehr schmal und schmächtig gebaut ist. Ein wichtiger Erkenntnisaspekt der Blendung besteht gerade in der Perspektive, die die Bibliotheksphantasie in der Literatur mit der Männerphantasie der faschistischen Mentalität verknüpft.117 Erst am Ende des Romans stellt sich heraus, dass Kiens Überlebenskampf gescheitert ist. Nach seiner Vertreibung aus der »Heimat« seiner Bibliothek ist Kien unaufhörlich von den Erinnerungen an Therese besessen. Er kann die physische Präsenz Thereses aus seinem Gedächtnis nicht mehr ausschließen und zugleich für Therese kein historisches »Urbild im Druck« finden. Mittlerweile ist Kien überzeugt, dass Therese in seiner Bibliothek vor Hunger gestorben sei, und er leugnet hartnäckig ihre Existenz, als er ihr wieder begegnet. Die »totale Entdifferenzierung und Entlebendigung des Lebenden« 118 ist laut Theweleit charakteristisch für die Wahrnehmung des soldatischen Mannes. Im dritten Teil des Romans kommt der jüngere Bruder Georg aus Paris, um Kien zu retten. Georg ist es gelungen, Kien wieder in seine Bibliothek heimzuholen. Aber gerade das Gespräch mit Georg hat den älteren Bruder gereizt. »Der bloße Gedanke, er [Peter] könne seine Bücher anzünden, brannte Peter mehr als Feuer.« (I, 489) Kiens verschiedene Obsessionen wie der Bibliotheksbrand geraten durcheinander und steigern sich so sehr, dass die Vernunft ihn völlig verlässt. Er zündet seine Bücher an, die als Angehörige mit ihm zusammen untergehen müssen. Hierzu bemerkt Alexander Honold: »Nur wenn er von eigener Hand alles niederbrennt, kann er vor fremder, ihm zustoßender Feuergefahr wirklich sicher sein.«119 Draußen vor der Bibliothek versucht die Polizei die Tür einzuschlagen. Kien schich-

117 Zur Frau in der männlichen Bibliothek als literarisches Motiv vgl. D. A. Castillo: The Translated World, S. 196-262; G. Stocker: Schrift, Wissen und Gedächtnis, S. 294-297. Bernd Widdig, der in seiner Untersuchung über die Beziehung zwischen Männerbund und Masse in der Moderne auch Die Blendung aufgreift, hält Kiens Privatbibliothek für »die allegorische Darstellung eines Männerbundes«. Vgl. B. Widdig: Männerbünde und Massen, S. 184. 118 K. Theweleit: Männerphantasien, Band 2, S. 220. 119 A. Honold: »Canettis Blendung und die brennende Bibliothek. Zur Literaturgeschichte des Autodafés«, in: Lüdemann, Der Überlebende und sein Doppel. Kulturwissenschaftliche Analysen zum Werk Elias Canettis (2008), S. 94.

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tet Bücher an der Tür im Vorraum hoch und baut aus Büchern »eine mächtige Schanze« (I, 510) gegen die Außenwelt, während ihn die Flammen allmählich bedrohen. Kien löst sich durch das apokalyptische Feuer in die brennende Bibliothek auf, wahnsinnig lachend. Hier ist hervorzuheben, dass einige Forscher bereits darauf aufmerksam gemacht haben,120 dass in Masse und Macht das Feuer als ein Massensymbol, »das kräftigste Symbol« (III, 20) der Masse und als das »eindrucksvollste von allen Mitteln der Zerstörung« (III, 19) bestimmt wird. Aber das Feuer stellt für Kien nicht nur die katastrophale Zerstörung, sondern auch das einzige Mittel und die Endlösung für die Vereinigung mit seinen Büchern dar: »Was aber gesondert war, wird vom Feuer in kürzester Zeit verbunden. Die isolierten und unterschiedlichen Gegenstände gehen alle in gleichen Flammen auf.« (III, 87) Canetti selbst hat in einem Gespräch darauf hingewiesen, dass Kien die echte »Einheit mit seinen Büchern« (X, 237) erst mit Hilfe des Feuers als ultimativem Medium verwirklicht, das alles verschlingt und verschmilzt. Am Ende hat Kien vielleicht gerade deshalb gelacht, weil er sich in den Flammen mit seinen Büchern buchstäblich vereinigen konnte: »Als ihn die Flammen endlich erreichen, lacht er so laut, wie er in seinem ganzen Leben nie gelacht hat.« (I, 510)121

120 Vgl. u.a. ebd., S. 94f. 121 Wenn man auch die merkwürdige Theorie des Lachens in Masse und Macht berücksichtigt, ist Kiens einmaliges Gelächter sehr ambivalent. Denn das Lachen ist Canetti zufolge nichts anders als der Verzicht auf die »Einverleibung« des Gegenstandes: »Das Lachen ist als vulgär beanstandet worden, weil man dabei den Mund weit öffnet und die Zähne entblößt. Gewiß enthält das Lachen in seinem Ursprung die Freude an einer Beute oder Speise, die einem als sicher erscheint. Ein Mensch, der fällt, erinnert an ein Tier, auf das man aus war und das man selber zu Fall gebracht hat. Jeder Sturz, der Lachen erregt, erinnert an die Hilflosigkeit des Gestürzten; man könnte es, wenn man wollte, als Beute behandeln. Man würde nicht lachen, wenn man in der Reihe der geschilderten Vorgänge weitergehen und sich’s wirklich einverleiben würde. Man lacht, anstatt es zu essen. […] Der Mensch allein hat es gelernt, den vollkommenen Prozeß der Einverleibung durch einen symbolischen Akt zu ersetzen.« (III, 262) Hierzu vgl. Schneider, Manfred: »Ahnen des Gelächters. Canettis Exorzismus des Komischen«, in: »Ein Dichter braucht Ahnen« Elias Canetti

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Die Groteske des typographischen, visuellen Büchermenschen, der die Büchermasse beherrscht und zugleich selber von ihr beherrscht wird, gipfelt darin, dass die wahre Vereinigung mit den Büchern bzw. die Einverleibung der Bücher in sich gleichzeitig seinen Untergang bedeuten. Dies ist das knappste Fazit des typographischen Augen-Büchermenschen, der vom Buch verblendet wurde. In der Blendung kreisen das Feuer, der Wald und das Heer als Kollektivsymbole um die Büchermasse, die für die GutenbergGalaxis einsteht.

und die europäische Tradition. Jahrbuch für Internationale Germanistik. Reihe A. Band 44 (1997), S. 49-60, besonders S. 50f.

2. Akustische Problematik – Canettis Ohr und Stimmen

Im Gegensatz zu der Blendung haben Die Stimmen von Marrakesch, Der Ohrenzeuge und Die Fackel im Ohr nach dem Titel jeweils das Gehör bzw. das Ohr in den Mittelpunkt gestellt. Hier soll die Mündlichkeit von Canettis Werk, die in der Forschung öfters diskutiert worden ist, in Verknüpfung mit den medienwissenschaftlichen Überlegungen von McLuhan und anderen Theoretikern in zusammenhängender Weise analysiert.

2.1 AKUSTISCHES

BEI

C ANETTI

In der Blendung hat Canetti nach Don Quichotte in der Weltliteratur eine monumentale Figur des typographischen Büchermenschen geschaffen, der das fatale Schicksal der europäischen Buchkultur verkörpert. Canetti hat sich später in seiner ersten Autobiographie Die gerettete Zunge daran erinnert, dass er von Kindheit auf von der Buchlektüre und vom Büchersammeln ganz besessen war. Aber die Buchgelehrsamkeit wurde ihm von seiner Mutter heftig vorgeworfen. Sie sagte dem jungen Canetti: »Du bist noch gar nichts und bildet dir ein, alles zu sein, was du aus Büchern oder Bildern kennst. Ich hätte dich nie zu Büchern bringen dürfen. […] Du bist ein Vielleser geworden und alles ist dir gleich wichtig.« (VII, 322); »Du hast überhaupt kein Recht, etwas zu verachten oder zu bewundern. Du mußt erst wissen, wie es wirklich zugeht. Du mußt es am eignem Leib erfahren.« (VII, 323) Im dritten Band seiner Autobiographie hat sich Canetti mit dem Büchermenschen Peter Kien teilweise identifiziert (vgl. IX, 9f.),

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aber war Canetti selber Büchermensch, der ausschließlich aus Büchern bestand? Obwohl er auch ein begeisterter Leser und ein Bibliomane war und blieb, war er keineswegs der typographische, visuelle Büchermensch wie Kien, der sich nur auf das Sehvermögen verlassen hätte. Canettis dritte Autobiographie trägt den Titel Das Augenspiel, der sich doch nicht auf die Buchlektüre oder die einfache Kunstbetrachtung bezieht, die zuerst den Gesichtssinn in Anspruch nimmt, sondern die Blickkommunikation ohne Worte ankündigt. So hat Canetti den Umgang mit der Bildhauerin Anna Mahler, die zu den wichtigen Figuren in Das Augenspiel gehört, charakterisiert. Obwohl von der Hierarchisierung der fünf Sinne bei Canetti nicht die Rede ist, stellt sich hier die Frage, welcher der fünf Sinne Elias Canettis Werke oder den Dichter selbst am meisten prägt. Wie im ersten Kapitel ausführlich gezeigt worden ist, bezieht sich Canettis erster und einziger Roman Die Blendung auf den Gesichtssinn, wie er in der Buchdruckkultur dominant ist. Bei der Verfassung des Romans inspirierten ihn auch einige Gemälde als visuelle Kunst, wie er selbst berichtet. In Die Fackel im Ohr hat er zurückblickend dargelegt, dass der Eindruck von Rembrandts Gemälde Die Blendung Simsons im Frankfurter Städel in den Titel des Romans eingeflossen ist (vgl. VIII, 113, 345).1 In dieser Hinsicht hält man ihn für einen Augenmenschen, der visuelle Eindrücke hochschätzt. Zugleich ist Canetti als Autor von Masse und Macht auch ein taktil orientierter Mensch, für den das körperliche Erlebnis in der dichten Menschenmasse entscheidend ist. Zudem geht es bei der Analyse der Macht um die anderen Sinne der Nähe, nämlich den Geruchs- und Geschmackssinn. Im Kapitel »Die Eingeweide der Macht« in Masse und Macht hat Canetti die organischen Funktionen des Körpers wie das Essen, Verdauen und Ausscheiden als

1

Zum Verhältnis zwischen Literatur und dem anderen Medium Bild bei Canetti vgl. u.a. Meeuwen, Piet van: Elias Canetti und die bildende Kunst: von Bruegel bis Goya, Frankfurt a.M., u.a.: Peter Lang 1988; Suto, Haruko: »Augenzeuge der gemalten Hoffnung. Elias Canettis Bilderinterpretation zu Brueghel, Rembrandt, Grünewald und Goya«, in: Hiroshi Yamamoto/Christine Ivanovic (Hg.), Übersetzung – Transformation. Umformungsprozesse in/von Texten, Medien, Kulturen, Würzburg: Königshausen & Neumann 2010, S. 204-219; Werner, Sylwia: Bild-Lektüren. Studien zur Visualität in Werken Elias Canettis, Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2013.

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Machtvorgänge selbst betrachtet.2 Die anthropologische Thematik über die Wahrnehmung und die Sinnesorgane durchzieht Canettis theoretisches Hauptwerk. Bei Canetti kommt jedoch die Privilegierung oder die Erniedrigung eines bestimmten Sinnes überhaupt nicht in Frage. Es kommt ihm als Dichter vielmehr auf die synästhetische Mannigfaltigkeit und Verschränkung der sinnlichen Wahrnehmung an. Im Nachwort zu Canettis postum erschienenem Werk Party im Blitz, das eine Fortsetzung der Autographie sein sollte, hat Jeremy Adler erklärt, dass Canetti die Absicht gehabt habe, seine Autobiographie eigentlich als fünfbändiges Werk zu schreiben.3 Dem Titel eines jeden Bandes sollte eines der fünf Sinnesorgane entsprechen. Während sich die erschienenen Bände der Autobiographie nacheinander auf die Zunge, das Ohr und das Auge beziehen, sollten sich die zwei unabgeschlossenen Bände mit der Nase (bzw. dem Geruchssinn) und der Hand oder Haut (bzw. dem Tastsinn) verknüpfen.4 Wenn man Canettis Gesamtwerk überblickt, ist es trotzdem offensichtlich, dass er in sehr charakteristischer Weise vom Akustischen bestimmt ist. So nimmt auch der Gehörsinn eine wichtige, markante Stellung in den nach seinem Hauptwerk erschienenen Werken ein: Der Reisebericht Die Stimmen von Marrakesch, die Charakterbeschreibung Der Ohrenzeuge und der zweite Band der Autobiographie Die Fackel im Ohr hängen jeweils mit dem Gehör zusammen.5 Auch in Canettis Aufzeichnungen findet man viele Äußerungen über Stimmen, die Mündlichkeit und das Ohr, die im Grunde den Bereich des Akustischen betreffen. Als Beispiel kann man folgende Aufzeichnungen nennen, in denen die Vorliebe für das Ohr manifestiert wird: »Bei jedem sitzt die Seele woanders: der hat sie in den Lungen, jener im Darm; die hat

2

Was den (schlechten) Geruch betrifft, stinkt der Kot laut Canetti »[a]ls unsere tägliche, fortgesetzte, als unsere nie unterbrochene Sünde« (III, 247) der Tötung des anderen Lebewesens: »Was übrigbleibt, ist Abfall und Gestank.« (III, 245)

3

Vgl. E. Canetti: Party im Blitz, S. 212.

4

Adler vermutet, dass sich Party im Blitz auf den Geruchssinn oder den Tastsinn

5

In einem Gespräch mit Manfred Durzak von 1975 hat Canetti das akustische In-

beziehen sollte. Vgl. ebd. teresse, das ihn von Kindheit an begleitete, erklärt (vgl. X, 298-317). So haben Karl Kraus, das japanische Kabuki-Theater, die Tierplatte von Julian Huxley usw., den jungen Canetti beeindruckt.

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sie im Herzen und jene im Geschlecht; bei mir fühlt sie sich am wohlsten in den Ohren.« (1942)6; »Das Ohr, nicht das Hirn, als der Sitz des Geistes. (Mesopotamien).« (IV, 264) So ist das Ohr für Canetti nicht das bloße Instrument für die sinnliche Wahrnehmung des Akustischen, sondern stellt ein zentrales Organ für die Aufnahme und Verarbeitung des Seelischen und Geistigen dar. In den Aufzeichnungen geht es nicht nur um die thematische Ebene, sondern auch um den oralen Charakter der aphoristischen Schreibweise, den McLuhan in Die Gutenberg-Galaxis präzisiert hat. In Anlehnung an Walter Ong hat McLuhan darauf aufmerksam gemacht, dass sich die abendländische Literatur vor der Verbreitung der Buchdruckkultur sehr eng mit den »oralen Traditionen aphoristischer Gelehrsamkeit«7 verknüpfte. Kurze, fragmentarische Sätze wie das Sprichwort, die Maxime und der Aphorismus gehören eigentlich zur oralen Kultur, die in erster Linie mündlich mitgeteilt und überliefert wird. So hängen Canettis Gegenstandserörte-

6

Diese Aufzeichnung zitiert das Beibuch von Canettis Hörwerk als Motto, allerdings ohne genaue Quellenangabe. Canetti, Elias: Das Hörwerk 1953-1991. Prosa, Dramen, Essays, Vorträge, Reden, Gespräche. 2 MP3-CDs. Robert Galitz/Kurt Kreiler (Archivrecherche, Audioredaktion)/Katharina Theml (Beibuch) (Hg.). Frankfurt a.M.: Zweitausendeins 2005.

7

M. McLuhan: Die Gutenberg-Galaxis, S. 133-137, hier S. 133: »Wieweit die Buchdruckkultur zu irgendeiner Zeit oder in irgendeinem Lande Eingang gefunden hat, läßt sich somit leicht daran erkennen, wie stark durch sie das Wortspiel, die Pointe, die Alliteration und der Aphorismus aus der Literatur verdrängt worden sind. So haben etwa in den romanischen Ländern auch heute noch Maximen, sententiae und Aphorismen ein beachtliches Niveau. Und die symbolistische Wiedererweckung der oralen Kultur ging nicht nur von romanischen Ländern aus, sondern sie stützte sich in weitem Maße auch auf »zerstückelte Sätze« und Aphorismen. Seneca und Quintilian wie Lorca und Picasso waren Spanier, bei denen auditive Formen in hohem Ansehen standen.« (Ebd., S.135) Nebenbei bemerkt, war Canetti ein Nachkomme der »sephardischen« Juden war, die 1492 aus Iberien vertrieben wurden. Zu den »medialen Möglichkeiten« der aphoristischen Schreibweise vgl. Fürnkäs, Josef: »Moderne Aphoristik. Mediale Möglichkeiten und literarische Form«, in: Josef Fürnkäs/Masato Izumi/K. Ludwig Pfeiffer/Ralf Schnell (Hg.), Medienanthropologie und Medienavantgarde. Ortsbestimmungen und Grenzüberschreitungen, Bielefeld: transcript 2005, S. 249288.

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rungen über das Akustische mit der aphoristischen Methode, die er in seinen Aufzeichnungen verwendet, zusammen.8 Die akustische Problematik bei Canetti ist in der Forschung unter verschiedenen Aspekten beachtet worden. In diesem Zusammenhang ist die umfassende Arbeit von Karoline Naab zuerst zu nennen.9 Sie hat Canettis vielseitige Hörerlebnisse ins Zentrum ihrer Untersuchung gestellt und damit seine »akustische Poetik« systematisch zusammengestellt und analysiert. Darüber hinaus hat Naab die Tondokumente Canettis in den Radioarchiven recherchiert und katalogisiert.10 Als freie Mitarbeiterin für den Hessischen Rundfunk hat sie auch ein CD-Hörbuch über Canettis Leben und Werk, das hauptsächlich aus seinen Interviews und Lesungen mit Kommentaren besteht, herausgegeben. 11 Bemerkenswerterweise hat sie in ihrer Untersuchung auch auf die Seite Canetti als Vorleser bzw. Sprecher, die in der Canetti-Forschung vernachlässigt wurde, aufmerksam gemacht.12 Außerdem hat Naab darauf bestanden, Canettis Hördokumente in den Archiven zu ordnen und zu veröffentlichen: »In den Archiven der Rundfunkanstalten lagern eine Reihe von Tondokumenten, in denen Elias Canetti aus seinem Werk liest. Hier sind die Rundfunkanstalten und die Hörverlage gefordert, einen Schatz zu heben.«13 Im Jahr 2005, nur zwei Jahre nach Naabs Arbeit, erschien beim Verlag Zweitausendeins Canettis Hörwerk, das große Teile seiner Lesungen und Gespräche enthält, wenn sie auch

8

In den Aufzeichnungen hat Canetti oft auch die Vorliebe für die Fragmente der Vorsokratiker und die alten, chinesischen Aufzeichnungen, die vor der Buchdruckkultur entstanden sind, bekundet (vgl. IV, 322, 510, V, 445).

9

Vgl. Naab, Karoline: Elias Canettis akustische Poetik. Mit einem Verzeichnis von Tondokumenten und einer Bibliographie der akustischen Literatur, Frankfurt a.M.: Peter Lang 2003. Reinhart Meyer-Kalkus hat aus der weiteren Perspektive der Sprechkünste im 20. Jahrhundert das Akustische bei Canetti behandelt. Vgl. Meyer-Kalkus, Reinhart: Stimme und Sprechkünste im 20. Jahrhundert, Berlin: Akademie Verlag 2001, S. 318-336.

10 Vgl. K. Naab: Elias Canettis akustische Poetik, S. 135-148. 11 Vgl. Naab, Karoline: Elias Canetti. Leben und Werk. 2 CDs. München: Der hörverlag 2005. 12 Vgl. K. Naab: Elias Canettis akustische Poetik, S. 106-109. 13 Ebd., S. 117.

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meistenteils erst noch Ausschnitte bleiben.14 Die Laufzeit des Hörwerks, das als zwei MP3-CDs digitalisiert ist, beträgt 33 Stunden. Erst damit ist im Gesamtbild die Bedeutung von Canettis literarischen Tätigkeiten deutlich geworden. Das Hörwerk ist kein bloßes Nebenprodukt, das seinem geschriebenen Werk untergeordnet wäre. Dies Hörwerk geht unter Bezug auf die Aufnahmedauer und den Umfang weit über eine Nebenbeschäftigung hinaus. Die Bedeutung von Canettis Hörwerk ist jedoch bis jetzt in der Canetti-Forschung kaum adäquat anerkannt worden. In diesem Kapitel soll die akustische Thematik bei Canetti als Hörer und Sprecher umfassend erörtert werden. Dabei wird der Reisebericht Die Stimmen von Marrakesch als Hauptgegenstand herangezogen, der seinen Aufenthalt in Marokko um 1954 schildert. Für diesen Reisebericht, der den Nebentitel Aufzeichnungen nach einer Reise trägt, ist die synästhetische Darstellung von Gerüchen, Farben und Geräuschen charakteristisch. Doch wie der Titel bereits vermuten lässt, soll das akustische Erlebnis im Mittelpunkt dieser Reisebeschreibung stehen. Zweifellos ist Canetti auch ein Ohrenmensch, der die akustische Dimension der Welt zu verstehen weiß. Bekanntlich hatte Canetti das Hören durch die Vorlesungen von Karl Kraus in den 1920er Jahren in Wien gelernt, bevor er sich mit der Niederschrift der Blendung im Rahmen des Romanzyklus der »Comédie Humaine an Irren« beschäftigte. Das Kapitel über Kraus in Die Fackel im Ohr trägt den Titel »Die Schule des Hörens«. Für Canetti und seine Zeitgenossen war Kraus ein Diktator, der die Publikumsmasse mit seinen Vorlesungen fesseln und packen konnte, obwohl Canetti selbst als sein Schüler ein ausgezeichneter, begeisterter Vorleser war, der es verstand, seine Zuhörerschaft zu bannen. Vor und nach der Emigration hat sich Canetti bei jeder Gelegenheit leidenschaftlich für Autorenlesungen engagiert. Seine Lesung und deren Tonaufnahme haben eine eigene, unabhängige Qualität, die den Vergleich mit seinem schriftlichen Werk nicht zu scheuen braucht. Fast alle seine Werke, einschließlich der theoretischen Studie Masse und Macht, wurden von Canetti selbst vorgelesen und meistens auf Speichermedien wie Kassette oder CD aufgenommen. Außerdem wurden die meisten Werke nicht zuletzt nach den 1960er Jahren auch im Rundfunk als Übertragungsmedium gesendet. Was Die Stimmen von Marrakesch betrifft, so wurden fast alle Kapitel vor-

14 Vgl. Anm. 6 in diesem Kapitel.

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gelesen und das Werk selbst wurde somit auch in der Wiedergabe durch Canettis Stimme überliefert. In diesem Kapitel geht es also nicht um eine intensive Auseinandersetzung mit Canettis einzelnen Texten, sondern vielmehr darum, wie das Akustische in seinen geschriebenen Texten thematisiert und inszeniert wird und wie Canetti den Rundfunk für seine literarischen Tätigkeiten verwendet hat. Diese Untersuchung soll erweisen, dass die akustischen Elemente bei Canetti auch mit dem Medialen eng gekoppelt sind. Wie er mit dem Radio als Massenmedium umgegangen ist, ist sicher eine der produktiven Fragestellungen im Hinblick auf die medienwissenschaftliche Forschung, weil diese Thematik gerade mit der Beziehung zwischen Massen und Medien zu tun hat. Dieses Kapitel stellt zugleich eine vorbereitende Analyse dar, um sich dem Problemkreis in Masse und Macht anzunähern und das Mediale in Canettis Hauptwerk zu problematisieren. In meiner Analyse soll gezeigt werden, dass und wie die auditive Inszenierung bei Canetti auf massenmediale Effekte zielt. Dabei können McLuhans medientheoretische Überlegungen über den »akustischen Raum« und die neue Oralität im elektronischen Medienzeitalter auch zur Untersuchung von Canettis Poetik fruchtbar gemacht werden. Die Bedeutung und die gesamte Kontur seiner Auseinandersetzung mit dem Akustischen und Mündlichen sollen nun auf medientheoretischer Ebene konsequent erörtert werden. Zusammenfassend können vor allem drei konkrete Dimensionen des Akustischen bei Canetti auch unter Berücksichtigung seiner biographischen Hintergründe formuliert und analysiert werden: 1. Die Beziehung zwischen Kraus und Canetti unter dem Aspekt des Massenerlebnisses 2. Die akustischen Erlebnisse in Marrakesch 3. Die Bedeutung der Massenmedien, besonders des Rundfunks, für Canetti. Im Folgenden werden die einzelnen Aspekte, die miteinander eng korrelieren, der Reihe nach untersucht.

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2.2 K ARL K RAUS

UND

M ASSENERLEBNISSE

IN

W IEN

»Wien war zwischen den Kriegen eine Stadt der Massen.« (X, 78) In den 1920er Jahren hat Canetti in Wien zwei ganz verschiedene Arten von Masse erlebt, deren akustische Dimension ihn sehr beeinflusste: zum einen den Massenaufruhr beim Justizpalastbrand 1927, wo Canetti auch jenem »Aktenmenschen« als Vorbild des Büchermenschen begegnete, zum anderen die Vorlesungen von Karl Kraus im Wiener Konzerthaus, die Canetti im Jahr 1924 zum ersten Mal besuchte. Die beiden Massenerlebnisse haben in sehr unterschiedlicher Weise Canettis Ohr für die klangliche Dimension der Welt geöffnet und geschärft. In Die Fackel im Ohr und in seinem Essay Karl Kraus, Schule des Widerstands beschreibt Canetti, wie Kraus’ Vorlesungen, die er fieberhaft und regelmäßig in den 1920er Jahren hörte, für seine späteren Tätigkeiten maßgeblich und verbindlich wurden. Bemerkenswert ist, dass sich die Beziehung zu Kraus bereits mit den beiden Phänomenen Masse und Macht eng verbindet. Was Canetti an der Lesung von Kraus aufgefallen ist, war zuerst »das Jähe der massenhaften Wirkung« (VI, 132), das die Stimme und der Gestus von Kraus hervorgebracht hatten. Canetti hat die Vorlesung vor allem als eine Art von politischer Massenversammlung (vgl. ebd., 131) empfunden und schildert diese in Die Fackel im Ohr im Folgendermaßen: »Daß man mit den Worten anderer alles machen kann, erfuhr ich von Karl Kraus. Er operierte mit dem, was er las, auf atemberaubende Weise. Er war ein Meister darin, Menschen in ihren eigenen Worten zu verklagen. […] Man genoß das Schauspiel, weil man das Gesetz anerkannte, von dem diese Worte diktiert waren; aber auch weil man mit vielen anderen zusammen war und die ungeheuerliche Resonanz empfand, die sich Masse nennt, wo man sich an seinen eigenen Grenzen nicht mehr wund reibt. Keines dieser Erlebnisse mochte man missen, keines von ihnen ließ man sich je entgehen.« (VIII, 207f.)

Man kann feststellen, dass der Vortrag von Kraus für Canetti eine eigenartige Form des Massenerlebnisses annimmt, die die Hörerschaft im Saal nicht unmittelbar körperlich bzw. taktil, sondern akustisch vereinigt durch eine besondere Hetze. Im Kraus-Essay hat Canetti diese Art und Weise des Zitierens von Kraus, »Menschen in ihren eigenen Worten zu verklagen«, »Menschen sozusagen aus ihrem eigenen Mund heraus zu verurteilen« (VI,

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133), als das akustische Zitat charakterisiert: »Die schwarzen, gedruckten, toten Worte waren für ihn laute Worte. Wenn er sie dann zitierte, war es, wie wenn er Stimmen sprechen ließe: akustische Zitate.« (Ebd.)15 Vor Canetti hat Walter Benjamin bereits diese besondere Zitierweise von Kraus, die gegen den Zitierten aussagt, als »mimische Entlarvung« bestimmt: »Die Zitate der ›Fackel‹ sind mehr als Belegstellen: Requisiten von mimischen Entlarvungen durch den Zitierenden.«16 Laut Canetti hat Kraus’ Lesung einen Anblick der Hinrichtung geboten. Er war Diktator, der das Todesurteil vollstreckte und das Publikum im Saal manipulieren konnte, als ob es bei einer öffentlichen Hinrichtung dem Henker zuschaute. Canetti hat diese Publikumsmasse im Saal als »eine Hetzmasse aus Intellektuellen« bezeichnet, »die sich bei jeder Lesung zusammenfand und so lange akut bestand, bis das Opfer zur Strecke gebracht war. Sobald das Opfer verstummte, war diese Jagd erschöpft« (VI, 132). Es

15 Nach Canetti musste Kraus auch die Zeitungen so lesen, »als ob er sie hörte« (VI, 133). Walter Benjamin hat in seinem Kraus-Essay, das manche Punkte Canettis vorwegnimmt, festgelegt, dass eine wichtige Leistung von Kraus darin liegt, »selbst die Zeitung zitierbar zu machen«. W. Benjamin: »Karl Kraus«, in: Gesammelte Schriften. II.1 (2015), S. 363. Zum Kraus-Essay von Benjamin in Hinblick auf die Bedeutung des Zitierens vgl. J. Fürnkäs: Surrealismus als Erkenntnis, S. 258: »Kraus befreit das Zitat aus der Esoterik von Büchern und Bibliotheken. Indem er ihm in der Exoterik der unablässig von Rotationsmaschinen ausgeworfenen Zeitungen und Zeitschriften ein neues Arbeits- bzw. Kampffeld anweist, deutet er bereits auf die für das 20. Jahrhundert folgenreiche Verbindung von Zitat und Massenmedien voraus, die das Zitieren in der alltäglichen, zumal großstädtischen Lebenskultur zum Vorgang von überwältigender Selbstverständlichkeit hat werden lassen.« 16 W. Benjamin: »Karl Kraus«, in: Gesammelte Schriften. II.1 (2015), S. 347. In Masse und Macht wird die »Entlarvung« ausdrücklich als Phänomen der Macht betrachtet. Indem der Machthaber einem Feind bzw. Rivalen die »Maske vom Gesicht« herunterreißt, stellt er seine Identität und seine wahre Gesinnung fest und macht ihn damit unschädlich (vgl. III, 447). Die Entlarvung wird zur paranoischen Leidenschaft, die allen Machthabern zu eigen ist. Der Machthaber selbst lässt sich aber keineswegs demaskieren. Diese »ungleiche Verteilung des Durchschauens« (III, 346) bildet laut Canetti vor allem eine Grundlage der Machtstruktur.

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ist nicht zufällig, dass in diesem Kontext das Wort »Jagd« verwendet wird. In Masse und Macht wird die ursprüngliche Form der Hetzmasse auf die »Jagdmeute« zurückgeführt, die auf eine bestimmte Beute zielt. Es ist noch wichtig zu erwähnen, dass in Masse und Macht auch das »Publikum der Zeitungsleser« (III, 58) gerade der Kategorie dieser Hetzmasse zuzuordnen ist. Die moderne Publikumsmasse der Medien hat einige Charakteristika der wilden Hetzmasse in sich übernommen.17 In der Beziehung mit Kraus taucht gleichzeitig ein Machtverhältnis auf.18 Das akustische Erlebnis in der Vorlesung hängt für Canetti nicht nur mit dem Massenerlebnis, sondern auch mit dem Machtverhältnis zwischen Sprecher und Zuhörer zusammen, das mit dem zwischen Führer und Anhänger verglichen werden kann. Kraus, der jede Autorität und jeden Machthaber ohne Scheu kritisierte, hob sich als Diktatur gegen das Publikum im Saal ab. Er besaß den »Hochmut, durch den er Distanz um sich schuf« (VI, 134), und er verwandelte seine Zuhörerschaft, die ihm gegenübersaß, in eine Hetzmasse, die er nach Belieben kontrollieren konnte.19 Die »Distanz« gehört eigentlich zu den Eigenschaften des Individuums, das die eigene körperliche und psychische Grenze als Person bewahrt und sie von der wimmelnden Menschenmasse fernhält. Darüber hinaus hat Canetti die Sprache der Zeitschrift Die Fackel von Kraus als »gepanzerte[] Sprache« (VI, 335) bezeichnet und »Satz um Satz« der Fackel mit einer »Chinesi-

17 Das »Publikum der Zeitungsleser« als Hetzmasse wird im Kapitel zu Masse und Macht ausführlich erläutert. 18 Die Beziehung mit Kraus stellte für Canetti auch ein Machterlebnis dar, das ihn lebenslang beeinflusste: »[…] ich habe damals wirklich erlebt, was es heißt, unter einer Diktatur zu leben. Ich war ihr freiwilliger, ihr ergebener, ihr leidenschaftlicher und begeisterter Anhänger.« (VI, 139) 19 Manfred Schneider hat das Verhalten von Kraus in seiner Lesung als »Distanz« markiert: »Kraus konnte man sich unmöglich in die Bewegung einer Masse hineindenken. Sein ganzer Gestus war Distanz. Und selbst das Publikum seiner öffentlichen Lesungen, das sich für den Augenzeugen Canetti bisweilen zur Hetzmasse manipulieren liess, betrachtete er nicht selten mit Hohn. Auch die Verachtung ist eine Distanz der Macht. Als Instanz der Macht konnte Kraus nie ein Teil dieser Masse werden […].« Schneider, Manfred: »Augen- und Ohrenzeuge des Todes. Elias Canetti und Karl Kraus«, in: Austriaca 6 (1980), S. 89-101, hier S. 93.

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schen Mauer« (VI, 137) verglichen. In dem anderen Kraus-Essay hat Canetti das Motiv der Panzerung bei Kraus wiederum aufgegriffen: »Kraus macht sich öffentlich nie über sich selbst lustig. Nirgends in seinem Werk gibt es einen Satz von ihm gegen sich selbst. Er greift an, erwartet Angriffe gegen sich und schützt sich. Er bemerkt die kleinste Ritze in seiner Rüstung und macht sie dicht. Nichts kann ihm passieren, und es passiert nichts.« (VI, 346)20

Unter Berücksichtigung der paranoischen Problematik bei Canetti und Kraus hat Manfred Schneider darauf hingewiesen, dass alles auch bei Kraus auf »Unangreifbarkeit« wie beim Büchermenschen Peter Kien in der Blendung ausgerichtet gewesen sei: »Die Fackel sollte eine kollektive Festung bilden. Alle sollten sich darin sicher fühlen.«21 In der Lesung sowie in der

20 In diesem Essay Der neue Karl Kraus, in dem auf die Korrespondenz zwischen Kraus und seiner Freundin Sidonie Náhdérny eingegangen wird, setzt Canetti fort; »Schon aus diesem Grund ist es faszinierend, ihn dort zu sehen, wo er schwach ist und sich auch schwach gibt: eben in diesen Briefen.« (VI, 346); »Im Laufe des Februar schreibt er ihr eine Reihe von sehr langen Briefen. […] Man erlebt ihn staunend als Romancier. Eine solche Verbindung von Leidenschaft und psychologischer Ergründung gibt es bei ihm sonst nirgends. Hier greift er nicht an, hier stellt er dar, die Genauigkeit seiner Einsicht in sich selbst erinnert an die großen Franzosen.« (VI, 351) Wenn man seine Beziehung mit Sidonie Náhdérny beachtet, schließt er sich nicht an die »Männerphantasie« an, die im ersten Kapitel in Zusammenhang mit Theweleits Analyse behandelt wird. Interessanterweise hat Canetti auch bei Musil, den er in Wien persönlich kannte, einen gepanzerten Charakter gefunden. Canetti charakterisiert Musils Eigenschaft in Das Augenspiel: »Musil war – ohne daß es auffiel – immer zu Abwehr und Angriff gerüstet. Seine Haltung war seine Sicherheit. Man hätte an einen Panzer denken mögen, doch es war eher eine Schale. Was er zwischen sich und die Welt als deutliche Trennung setzte, hatte er sich nicht umgelegt, es war ihm angewachsen. […] Wie um sich selbst zog er zwischen allen Dingen Grenzen. Vermischungen und Verbrüderungen, Überflüssen wie Überschwängen mißtraute er. Er war ein Mann des festen Aggregats und mied Flüssigkeiten wie Gase.« (IX, 157) 21 M. Schneider: Das Attentat, S. 220.

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Fackel manifestiert sich die »unzerstörbare[] Urteilsmauer« (VI, 138), mit der sich ohne Zweifel der paranoische Charakter umgibt. Es ist Kraus gelungen, sozusagen die Ohren und die Aufmerksamkeit der Masse zu fesseln und die Hörer, die ihm gegenübersitzen, in Hörigkeit zu versetzen.22 Das Publikum steht unter der Herrschaft von Kraus, indem es auf ihn horcht. Das Horchen führt hier zugleich zum Gehorchen. So bildet sich das Machtverhältnis zwischen Kraus und seiner Hetzmasse, zu der auch Canetti im Saal gehörte. Aber unter dieser totalen Passivität bzw. der Unterwerfung wurde eine neue akustische Dimension der Welt Canetti zugänglich: »Viel wichtiger war, daß man gleichzeitig das Hören erlernte. Alles, was gesprochen wurde, überall, jederzeit, von wem immer, bot sich zum Hören an, eine Dimension der Welt, von der man bis dahin nichts geahnt hatte, und da es um die Verbindung von Sprache und Menschen ging, in all ihren Varianten, war es vielleicht die bedeutendste, jedenfalls die reichste. Diese Art des Hörens war nicht möglich ohne Verzicht auf eigene Regungen. Sobald man in Gang gebracht hatte, was sich hören ließ, trat man zurück und nahm nur noch auf und durfte sich darin durch kein Urteil, keine Empörung, kein Entzücken hindern lassen.« (VIII, 208)

Die Passivität des »Verzicht[s] auf eigene Regungen« gehört eigentlich zu den immanenten Eigenschaften des Ohres. In seinem bekannten Exkurs über die Soziologie der Sinne in Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung ist Georg Simmel der soziologischen Bedeutung der Sinne im menschlichen Zusammenleben nachgegangen. Er hat bestätigt, dass das Ohr ein passives, einseitiges Organ darstellt, während das Auge »die Verknüpfung und Wechselbeziehung der Individuen, die in dem gegenseitigen Sich-Anblicken liegt« 23 , in den menschlichen Beziehungen

22 Zur Diskussion über den Gegensatz zwischen Hörigkeit und Zerstreuung in der Kultur- und Medienkritik von Heraklit über Heidegger bis Flusser vgl. Schneider, Manfred: »Kollekten des Geistes. Die Zerstreuung im Visier der Kulturkritik«, in: Neue Rundschau. 110. Jahrgang Heft2 (1999), S. 44-55. 23 Simmel, Georg: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung. Gesamtausgabe Band II. Otthein Rammstedt (Hg.), Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2013, S. 723. (Kursiv im Original)

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ermöglicht. Sogar hat er den »Egoismus« in der Passivität des Ohres gesehen. »Das Auge kann seinem Wesen nach nicht nehmen, ohne zugleich zu geben, während das Ohr das schlechthin egoistische Organ ist, das nur nimmt, aber nicht gibt; seine äußere Formung scheint dies fest zu symbolisieren, indem es als ein etwas passives Anhängsel der menschlichen Erscheinung wirkt, das unbeweglichste aller Organe des Kopfes. Es büßt diesen Egoismus damit, daß es nicht wie das Auge sich wegwenden oder sich schließen kann, sondern, da es nun einmal bloß nimmt, auch dazu verurteilt ist, alles zu nehmen, was in seine Nähe kommt […].« 24

Es fehlt dem Ohr eigener Teilhabe am Tauschakt bzw. die »Reziprozität, die der Blick zwischen Auge und Auge herstellt«.25 Erst mit der Hilfe der Zunge gelingt dem Ohr, »den innerlich einheitlichen Akt des Nehmens und

24 Ebd., S. 729f. Den Gegensatz zwischen Auge und Ohr hat McLuhan anders als Simmel formuliert: »Das Ohr ist ganz anders als das kühl und neutral beobachtende Auge. Feinfühlig und überempfindlich nimmt es alles auf und trägt so innerhalb der Stammeswelt zu dem nahtlos miteinander verbundenen Netz der Verwandtschaften und gegenseitigen Abhängigkeiten bei […].« McLuhan, Marshall: »Geschlechtsorgan der Maschinen. ›Playboy‹ – Interview mit Eric Norden«, in: Das Medium ist die Botschaft. – The Medium ist the Message – Herausgegeben und übersetzt von Martin Baltes/Fritz Boehler/Rainer Höltschl/Jürgen Reuß, Dresden: Verlag der Kusnt 2001, S. 177. Aber das »nahtlos miteinander verbundene[] Netz der Verwandtschaften und gegenseitigen Abhängigkeiten« wird erst durch die Kooperation der Zunge ermöglicht. 25 G. Simmel: Soziologie, S. 729. Der »Blick« macht ein zentrales Motiv in Das Augenspiel aus, wie der Titel dieses dritten Bands der Autobiographie ankündigt. Dort handelt es sich um die »Augenmythologie« zu Anna Mahler, von der Veza Canetti erzählt. So stellt Annas »Augenspiel« nicht die gegenseitige Kommunikation zwischen Menschen her, sondern ihr Blick richtet sich eher als »Jäger« (IX, 235) an andere: »Sie [Anna] habe ihre eigenen gläsernen Gesetze, man könne sie betrachten und bewundern, ihre Augen über alles herrlich finden, dürfte sich aber nie von ihr erblickt fühlen. Worauf sie ihre Augen einmal gerichtet habe, damit müsse sie spielen, das müsse sie sich gewinnen, wie einen Knäuel, einen Gegenstand, nicht wie etwas Lebendes.« (Ebd.)

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Gebens«26 durchzuführen. Der Egoismus des Ohres ist eine Kehrseite der Passivität, »alles zu nehmen, was in der Nähe kommt«. Außerdem hat Simmel darauf hingewiesen, dass ein überindividualistischer Charakter dem Ohr immanent ist: »Was der Eine dem Andern sagt, würden Unzählige sinnlich hören können, wenn sie nur dabei wären.«27 Indem Canetti unter dieser asymmetrischen Hörigkeit, die nur einseitig alles aufnimmt, »was sich hören ließ«, »die Verbindung von Sprache und Menschen […] in all ihren Varianten« erlernte, konnte er später seine eigene Dramaturgie, die sogenannte »akustische Maske« entwickeln. Kraus hat Canetti die Ohren geöffnet: »Dank ihm begann ich zu fassen, daß der einzelne Mensch eine sprachliche Gestalt hat, durch die er sich von allen anderen abhebt.« (VI, 136) Obwohl sich Canetti bald aus der Diktatur und dem Einfluss von Kraus zu befreien versuchte, war diese Schulung des Hörens für Canettis spätere literarische und theoretische Tätigkeiten von großer Bedeutung. Während das Publikum von Kraus unter seiner Kontrolle war, agierte die Wiener Arbeiterschaft beim Aufstand am 15. Juli 1927 ohne Führer. Drei Jahre nach Canettis erstmaligem Besuch der Vorlesung brach der Aufruhr durch die Arbeiter in Wien aus, die gegen ein ungerechtes Urteil heftig protestierten und den Justizpalast anzündeten. In diesem Zwischenfall gab es neunzig Tote, die von der Einsatztruppe erschossen wurden. Karl Kraus war »die einzige öffentliche Figur« in Wien, die »den Polizeipräsidenten Johann Schober, der für den Schießbefehl und neunzig Tote verantwortlich war, aufforderte ›abzutreten‹« (VI, 327). Wie im ersten Kapitel bereits gezeigt wurde, war dieses Massenereignis, bei dem Canetti als Zuschauer und Beteiligter anwesend war und dessen Details ihn faszinierten, auch für den Entwurf der Blendung nicht unbedeutend. Das Erlebnis im Wiener Justizpalastbrand von 1927 hatte für Canetti »Modell-Charakter« (VIII, 236), um die Masse in jeder Hinsicht zu erforschen. Obwohl die Vorlesung von Kraus und der Justizpalastbrand ganz andere Massenerlebnisse für Canetti darstellten, waren beide trotz aller Unterschiede auch hinsichtlich der Entwicklung seines Sinnes für das Auditive sehr einflussreich. Es ist charakteristisch, dass Canetti im Teil »Die Schule des Hörens« in Die Fackel im Ohr bezüglich des Justizpalastbrandes auf das akustische Element seines

26 G. Simmel: Soziologie, S. 730. 27 Ebd.

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Massenerlebnisses hingewiesen hat, während im theoretischen Werk Masse und Macht eher die taktile Dimension in der Menschenmasse hervorgehoben wird. Zu Beginn von Masse und Macht betrachtet Canetti die Masse vor allem als Ort der taktilen Wahrnehmung und der körperlichen Vermischung, die zur Befreiung der »Berührungsfurcht« vor anderen Menschen führt.28 Wie oben zitiert, hat Canetti in Die Fackel im Ohr beschrieben, dass man in Kraus’ Vorlesung das Gefühl habe, die »eigene Grenze« als Person zu überschreiten, was auch für das Erlebnis in der Menschenmasse charakteristisch ist (vgl. III, 19). Das Massenerlebnis nimmt eigentlich die Beteiligung mehrerer Sinne in Anspruch. Aber in der Autobiographie ist er davon ausgegangen, dass man in der Masse zuerst Geräusche und Klänge wahrnimmt. Beim Justizpalastbrand des 15. Juli hat Canetti wie im Saal der Vorlesung von Kraus eine gewisse »ungeheuerliche Resonanz« erlebt, die akustische Effekte hervorgebracht hat. »Das war vielleicht das Unheimlichste: daß man Leute sah und hörte, in einer starken Geste, die alles andere verdrängte, und dann waren gerade diese wie vom Erdboden verschwunden. Alles gab nach und überall öffneten sich unsichtbare Löcher. Doch der Zusammenhang des Ganzen riß nicht ab; selbst wenn man sich plötzlich irgendwo allein fand, spürte man, wie es an einem riß und zerrte. Das kam daher, daß man überall etwas hörte, es war etwas Rhythmisches in der Luft, eine böse Musik. Musik kann man es nennen, man fühlte sich davon gehoben. Ich hatte nicht das Gefühl, daß ich mit eigenen Beinen ging. Man war wie in einem klingenden Wind.« (VIII, 233)

Wie Karoline Naab feststellt, hat Canetti die Menschenmasse nicht nur taktil, sondern »wie in einem klingenden Wind« akustisch wahrgenommen.29 Auch wenn man die Vorgänge aus den Augen verloren hat, konnte man mit den Ohren den »Zusammenhang des Ganzen« erfassen. Hier ist anzumerken, dass in diesem Kontext das Wort »Musik« auftaucht, auch wenn es sich um eine »böse« handelt. Denn anders als bei den bildenden Künsten wie Gemälde und Bildhauerei hat sich Canetti über die Musik nur selten

28 Dazu ausführlich vgl. das dritte Kapitel der vorliegenden Arbeit. 29 Vgl. K. Naab: Elias Canettis akustische Poetik, S. 32f.

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geäußert, 30 obwohl er mit dem Komponisten Alban Berg befreundet war und darüber hinaus in Masse und Macht der Dirigent im Konzert als Modell des Machthabers analysiert wird (vgl. III, 468-470). 31 Durch diese böse Musik im Massenereignis konnte Canetti »ein empfindliches Ohr« »für die Stimme der Masse« (VIII, 239) gewinnen. Kurz nach diesem Zwischenfall wurde ihm der »Aufschrei der Masse« (ebd.) im nahen Fußballstadion bemerkbar, wenn er in seinem Zimmer in der Hagenberggasse war.32 »[J]eder einzelne Laut der Masse« (VIII, 240), die Fußballfans im Stadion hervorbringen, hat Canetti überwältigt und ergriffen. Er hat die Stimme dieser Masse als »die laute Nahrung« (ebd.) empfangen. Naab hat zu Recht Canettis Massenerlebnisse in Wien als »Klangerlebnisse« formuliert.33 Im Abschnitt »Zerstörungssucht« von Masse und Macht hat Canetti auch die Bedeutung des »Lärms« bei dem Zerstörungsakt der Masse nicht übersehen. Die »Zerbrechlichkeit von Gegenständen« (III, 18) reizt die Zerstörungssucht der Masse an: »Es ist nun gewiß richtig, daß der Lärm der Zerstörung, das Zerbrechen von Geschirr, das Klirren von Scheiben zur Freude daran ein Beträchtliches beiträgt: Es sind die kräftigen Lebenslaute eines neuen Geschöpfes, die Schreie eines Neugeborenen. […] [U]nd das Klirren ist der Beifall der Dinge. Ein besonderes Bedürfnis nach dieser Art von Lärm scheint zu Beginn der Ereignisse zu bestehen, da man sich

30 Ausnahmsweise hat Canetti einige Aufzeichnungen über die Musik niedergeschrieben (vgl. IV, 19, 31, 137). Z.B.; »Eine neue Musik erfinden, in der die Töne in schärfstem Gegensatz zu den Worten stehen und die Worte auf diese Weise verändern, verjüngen, mit neuem Inhalt erfüllen. Worten ihre Gefährlichkeit nehmen, durch Musik. Worte mit neuen Gefahren laden, durch Musik. Worte verhaßt, Worte beliebt machen, durch Musik. Worte zersprengen, Worte vereinigen, durch Musik.« (IV, 137) Charakteristischerweise steht hier die Musik in Opposition zur Sprache. 31 Canettis Beziehung zur Musik und Musiker vgl. S. Hanuschek: Elias Canetti, S. 211-216, vor allem zu Canetti und Berg vgl. S. 248f. 32 Diese »Doppel-Masse« im Fußballstadion hat Canetti nur auf akustischer Ebene wahrgenommen: »Sehen konnte ich von meinem Fenster aus nichts, Bäume und Häuser lagen dazwischen, die Entfernung war zu groß, aber ich hörte die Masse, und sie allein, als spiele sich alles in nächster Nähe von mir ab.« (VIII,240) 33 K. Naab: Elias Canettis akustische Poetik, S. 81.

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noch nicht aus allzu vielen zusammensetzt und wenig oder gar nichts geschehen ist. Der Lärm verheißt die Verstärkung, auf die man hofft, und er ist ein glückliches Omen für die kommenden Taten.« (Ebd.)

Peter Friedrich bezeichnet diese »Massenstimme« als »die Ursprünglichkeit der Stimme vor der Artikulation«: »Die Vollendung der Masse im Akt des Zerstörens bedingt schließlich die Überwindung ihrer Sprachlosigkeit.« 34 Damit verleihen die Schreie und der Lärm der Masse die eigene Sprache. Im weiteren Zusammenhang, den Naab und Friedrich nicht heranziehen, hat Canetti noch den klanglichen Aspekt des Massenphänomens problematisiert. So findet sich eine Aufzeichnung aus dem Jahr 1949, die sich über das »Übertönen« der Masse äußert: »Masse und Übertönen. Eine besondere Funktion der Masse ist das Übertönen von Gefahren: von Erdbeben wie von Feinden. Man tut sich zusammen, um lauter zu schreien. Wenn das Andere dann verstummt, das Beben etwa oder der Feind, hat man gesiegt. – Es ist wichtig, hier daran zu denken, daß das Meer sich nicht übertönen läßt. Denn selbst wenn es einer starken Masse gelingen sollte, für den Augenblick lauter zu werden als das Meer, es wäre dadurch trotzdem nie zum Verstummen zu bringen. Das Meer ist darum immer im Sinne der Menschen, die es kennen, die größte Masse geblieben, der man nie wirklich gleichkommen kann.« (IV, 158)

Es ist hier auffallend, dass sich das Meer auf das Massenphänomen bezieht. Canetti findet den Massencharakter überall in Naturerscheinungen wie Feuer, Regen, Meer, Wald, Sand, usw., die in sich ganz wesentliche Eigenschaften der Masse enthalten und als Massensymbole bezeichnet werden. Wie im ersten Kapitel das Feuer und der Wald als Massensymbol unter Bezug auf den Bibliotheksbrand und die Bibliotheksvorstellung kommentiert wurden, zählt Canetti auch das Meer, das aus unzähligen Tropfen besteht, zum Massensymbol als personifizierte Masse. Im Meer kann man den Laut des Massenphänomens am deutlichsten hören: »Das Meer hat eine Stimme, die sehr veränderlich ist und die man immer hört. Es ist eine Stimme, die nach tausend Stimmen tönt.« (III, 93) Die unartikulierte Stimme des Meers

34 Friedrich, Peter: »Das Erlebnis und die Masse. Zu Elias Canettis poetischer Massentheorie«, in: Lüdemann/Hebekus, Massenfassungen. Beiträge zur Diskurs- und Mediengeschichte der Menschenmenge (2010), S. 138.

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ist zwar »sehr veränderlich«, aber vielleicht ursprünglich in dem Sinne, dass alles Leben aus dem Meer stammt. Die Mannigfaltigkeit der Natur erscheint Canetti zuerst als Mannigfaltigkeit der Stimme, des Tons und des Lautes, die man in der »Klanglandschaft«35, unter der man die akustische Landschaft versteht, hören kann. 36 Die ursprüngliche Massenstimme vor

35 Canettis Interesse an polyphonischen Stimmen der Natur erinnert an die Idee »Soundscape« (Klanglandschaft), die der kanadische Komponist Murray Schafer umfassend entwickelt. Er, der auch McLuhan kannte, hat die akustische Dimension in der Natur und in der menschlichen Umwelt untersucht und sie als »Soundscape« entdeckt, was in diesem Kontext aufschlussreich wäre. Vgl. Schafer, R. Murray: Die Ordnung der Klänge. Eine Kulturgeschichte des Hörens. Übersetzt und neu herausgegeben von Sabine Breitsameter, Berlin: Schott 2010. Schafer hält die Welt für »eine makrokosmische musikalische Komposition« (ebd., S. 38) und bestimmt die Stimmen des Meeres als ursprüngliche Töne für den Menschen: »Welches Geräusch wurde zuallererst vernommen? Es war die liebkosende Bewegung des Wassers. […] Dem Ozean unserer Vorfahren entspricht das Fruchtwasser im Leib unserer Mutter. Beide haben eine ähnliche chemische Zusammensetzung. Ozean und Mutter. In der dunklen ozeanischen Flüssigkeit drückten die unbarmherzigen Wassermassen auf das erste Schall wahrnehmende Organ. […] Alle Wege führen zum Wasser. Die Laute des Wassers sind die Ur-Soundscape, das Geräusch, das uns in seinen unzähligen Verwandlungen am meisten beglückt.« (Ebd., S. 52f.) McLuhan schrieb einen Brief an Schafer, in dem er der Konzeption »Soundscape« zustimmt und ihre Bedeutung im elektronischen Zeitalter formuliert: »Naturally I approve entirely your approach in soundscape. We are living in an acoustic age for the first time in centuries, and by that I mean that the electric environment is simultaneous. Hearing is structured by the experience of picking up information from all directions at once. For this reason, even the telegraph gave to news the simultaneous character which created the ›mosaic‹ press of disconnected events under a single date-line. At this moment, the entire planet exists in that form of instant but discontinuous co-presence of everything.« To R. Murry Schafer, December 16, 1974, in: McLuhan, Marshall: Letters of Marshall McLuhan. Selected and edited by Matie Molinaro/Corinne McLuhan/William Toye, Toronto/Oxford/New York: Oxford University Press 1987, S. 507f. 36 Auch über den Wind als Massensymbol schreibt Canetti: »Seine Stärke wechselt und mit ihr seine Stimme. Er kann winseln oder heulen, leise, laut, es gibt weni-

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der Artikulation nimmt schließlich einen kosmologischen Charakter an. In diesem Zusammenhang kann man Canetti selber als einen »Ohrenzeugen« bezeichnen, der den Titel in Fünfzig Charaktere repräsentiert und »alle Orte, wo es etwas zu hören gibt« (II, 286), weiß. Es ließe sich sagen, dass der Ohrenzeuge nicht nur ein Ereignis, eine Tat oder ein Gespräch hört und bezeugt, sondern eine Klanglandschaft als einen anderen sinnlichen Raum entdeckt.37 Sowohl durch die Vorlesungen von Kraus als auch durch die Massenaktion von 1927 hat Canetti das Hören und die Hörigkeit erlernt, und diese Erlebnisse haben Canetti die Ohren für die neue akustische Dimension der Welt geschärft, die man nur mit den Augen nicht erreichen kann. Es ist ihm gelungen, vielfältigen, polyphonischen Stimmen im Universum, die dem typografischen Augenmenschen entgehen, aufmerksam zuzuhören.

2.3 »D ER AKUSTISCHE R AUM « – D IE S TIMMEN VON M ARRAKESCH Im nächsten Schritt stellt sich die Frage, wie Canetti in seinen literarischen Texten, vor allem im Reisebericht Die Stimmen von Marrakesch, das Akustische thematisiert und inszeniert hat. Es ist zwar fragwürdig, ob Canetti die fünf Sinne des Menschen wirklich in einer bestimmten Rangfolge hierarchisiert hat.38 Trotzdem kann man übereinstimmen, dass in den nach Masse und Macht erschienenen Werken der Gehörsinn eine wichtige, besondere Rolle spielt. In ihrem Essay über Canetti hat Susan Sontag die Bedeutung des Ohres im Vergleich zum Auge in Canettis späterem Werk zusammengefasst:

ge Töne, deren er nicht fähig ist. So wirkt er noch als etwas Lebendes, lange nachdem andere natürliche Phänomene ihre Belebtheit für den Menschen verloren haben.« (III, 99) Auch vgl. M. Schafer: Die Ordnung der Klänge, S. 61ff. 37 Zum »Ohrenzeugen« als Dichter vgl. ebd., S. 44. 38 Canetti hat auch nicht die Überlegenheit des gesprochenen Wortes über das geschriebene Wort behauptet. Diesen Sachverhalt bemerkt er in negativer Weise in einer Aufzeichnung: »Jedes gesprochene Wort ist falsch. Jedes geschriebene Wort ist falsch. Jedes Wort ist falsch. Was aber gibt es ohne Worte?« (IV, 212)

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»Was zu hören ist, sind Stimmen – denen das Ohr ein Zeuge ist. […] Das Ohr ist der achtsame Sinn, demütiger, passiver, unmittelbarer, weniger scheidend als das Auge. […] Dem Ohr die oberste Herrschaft zuzusprechen – das ist ein aufdringliches, bewußt archaisierendes Thema in Canettis späterem Werk. Implizit konstatiert er damit aufs neue die archaische Kluft, die zwischen hebräischer im Gegensatz zu griechischer Kultur herrscht, zwischen der Kultur des Ohres im Gegensatz zur Kultur des Auges, zwischen dem Moralischen gegenüber dem Ästhetischen.«39

Laut Sontag stellt die »Achtsamkeit auf Stimmen«40 ein zentrales Motiv in Die Stimmen von Marrakesch dar. Im Jahr 1954 hielt sich Canetti mit seinem englischen Freund Aymer Maxwell in Marokko auf, wo auch sephardische Juden, d.h. Canettis Vorfahren, einst heimisch waren und noch sind. Diese weiteste Reise, die Canetti in seinem Leben je erlebt hat, war für ihn nicht nur eine »Spurensuche nach dem eigenen sephardischen Herkunftsmilieu«41, also eine Suche nach den Resten des »Hebräischen« in Marokko, sondern auch ein eigenartiges Erlebnis der Sprache und Laute, die er nicht verstehen konnte. Er, dem von Kraus die Ohren bereits in den 1920er Jahren geöffnet worden waren, hörte diesmal in Marrakesch vor allem den unartikulierten, unverständlichen und massenhaften Lauten und Rufen achtsam zu, um dann über die Sprache selbst nachzudenken: »Eine wunderbar leuchtende, schwerflüssige Substanz bleibt in mir zurück und spottet der Worte. Ist es die Sprache, die ich dort nicht verstand, und die sich nun allmählich in mir übersetzen muß? Da waren Ereignisse, Bilder, Laute, deren Sinn erst in einem entsteht; die durch Worte weder aufgenommen noch beschnitten wurden; die jenseits von Worten, tiefer und mehrdeutiger sind als diese. Ich träume von einem Mann, der die Sprachen der Erde verlernt, bis er in keinem Lande mehr versteht, was gesagt wird. Was ist in der Sprache? Was verdeckt sie? Was nimmt sie einem weg? Ich habe während der Wochen, die ich in Marokko verbrachte, weder Arabisch noch eine der Berbersprachen zu erlernen versucht. Ich wollte nichts von der Kraft der fremdartigen Rufe verlieren. Ich wollte von den Lauten so betroffen werden, wie es an ihnen

39 S. Sontag: »Geist als Leidenschaft«, in: Hüter der Verwandlung. Beiträge zum Werk von Elias Canetti (1988), S. 103. 40 Ebd. 41 S. Hanuschek: Elias Canetti, S. 508.

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selber liegt, und nichts durch unzulängliches und künstliches Wissen abschwächen.« (VI, 21)

Es liegt ihm viel daran, sich »der Kraft der fremdartigen Rufe« hinzugeben, die sich in seiner Wahrnehmung von der semantischen Ebene befreien. Hier geht es ihm nicht um das Erlernen von Fremdsprachen und orientalischer Kultur, sondern um das »Verlernen« dessen, was man in der eigenen Sprache und Kultur erworben hat. In Marrakesch war Canetti sozusagen von der »rauschende[n] Masse einer unbekannten Sprache«42 umhüllt, wie sie Roland Barthes in ähnlicher Weise bei seinem Japanaufenthalt erlebt hat. In Japan fand sich Barthes »in einem Zwischenraum, der frei von jeder vollen Bedeutung ist«.43 Auch für Canetti war Marrakesch nicht eine Utopie, sondern ein »Zwischenraum«, in dem er über das, was die Sprache verdeckt und wegnimmt, reflektiert. In diesem Kontext scheint Canettis Reflexion über die Sprache auch mit der Kritik der Paranoia zusammenzuhängen. Wie bereits oben gezeigt worden ist, erlernte Canetti das Hören von Karl Kraus als Sprecher, der zugleich aber ein aufmerksamer und eher paranoischer Zuhörer war, dem keine Stimme je entging. Canetti hat beschrieben, dass Kraus von verschiedenen Stimmen in Wien besessen war: »[D]ie Stimmen, die ihn verfolgten, gab es, in der Wiener Wirklichkeit. Es waren abgerissene Sätze, Worte,

42 Barthes, Roland: Das Reich der Zeichen. Übersetzt von Michael Bischoff, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2015, S. 22. Peter Friedrich hat bereits im Vergleich mit Das Reich der Zeichen von Barthes Canettis Spracherlebnis in Marrakesch kommentiert: »Das Erlebnis der unbekannten Sprache ist hier keineswegs als Störung der Kommunikation thematisiert, die auf Unkenntnis des Kodes beruht, sondern es wird umgekehrt nach einer Störung des Verstehens durch die Beherrschung des Kodes gefragt. Als würden die Regeln des Verstehens den Sinn des Fremden verdecken, als führe gerade die rauschende Masse der Laute mitten in die Frage der Bedeutung des Bedeutens.« P. Friedrich: Die Rebellion der Masse im Textsystem, S. 90. Die Sprache als Klangmaterialität war Canetti seit seiner Kindheit vertraut. In einem Interview hat er sich an seine Kindheit erinnert, dass die deutschen Worte, die seine Eltern sprachen, wie »magische Laute« den kleinen Canetti beeindruckten, auch wenn er damals noch gar nichts verstehen konnte (vgl. X, 195). 43 R. Barthes: Das Reich der Zeichen, S. 22.

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Ausrufe, die er überall hören konnte, auf Straßen, Plätzen, in Lokalen.« (VI, 133) Es sind »abgerissene Sätze, Worte, Ausrufe«, die Canetti gerade in Marrakesch überall hörte. An diesem Zitat aus dem Essay über Kraus ist das Wort »verfolgen« auffällig. Denn auch der Paranoiker Schreber, der in Masse und Macht als Typ des Machthabers in allen Punkten untersucht wird, war von »Stimmen« verfolgt worden. Von Stimmen verfolgt zu werden – das gehört auch zu den paranoischen Merkmalen. Canetti betont die Bedeutung der Worte für den Paranoiker: »Es gibt keine Geräusche, die nicht Stimmen sind: die Welt ist voller Worte. Eisenbahnen, Vögel und Kettendämpfer sprechen.« (III, 536) Für den Paranoiker gibt es Worte und Stimmen, die schließlich akustische Halluzinationen sind, »wie Ungeziefer überall« (III, 537). Des Paranoikers Obsession besteht darin, unklare, abgerissene, bruchstückhafte Stimmen zu systematisieren und ihnen eine irgendwie fiktive, zusammenhängende Bedeutung zu verleihen und aufzuzwingen. 44 Erst damit werden Geräusche und Stimmen als Ungeziefer harmlos und kontrollierbar. Aber anders als Kraus und Schreber lauschte Canetti in Marrakesch in einem »Zwischenraum«: Ihn faszinierten die Sprachgeräusche, die unübersetzbar sind und »durch unzulängliches und künstliches Wissen« nicht kontaminiert werden sollten. In seiner Reiseerfahrung hat Canetti Laute, Geräusche und Stimmen sozusagen als fassbare Materialien beschrieben, als sähe man sie zugleich wirklich. In dem Kapitel »Die Rufe der Blinden« charakterisiert Canetti das Gebet, in dem die blinden Bettler »Alláh« ausrufen, die Wiederholung ihres Rufes, als »akustische Arabesken um Gott« (VI, 22). In Canettis Wahrnehmung verschränken sich das Auditive und das Optische im synästhetischen Sinne. Man könnte sagen, dass Canetti den Laut auch sehen konnte. Als er beispielsweise in der Nähe einer Schule in ein Judenviertel kam, überfiel ihn »ohrenbetäubende[r] Lärm« (VI, 41). Er hat einzelne Laute des hebräischen Alphabets, das die Schüler dort rezitierten, mit Regentropfen verglichen: »[D]ie hebräischen Silben fielen wie Regentropfen ins wildbewegte Meer der Schule.« (VI, 42)45 In dem Kapitel »Erzähler und Schrei-

44 Des Paranoikers System schließt jedes Unbekannte, Fremdartige und Zufällige aus: »Jedes Unbekannte wird auf ein Bekanntes zurückgeführt.« (III, 537) 45 Auch der Regen gehört zu den Massensymbolen. Wenn man den Regen erlebt, beteiligen sich mindestens drei Sinne »Gesicht, Gehör und Gefühl« daran (vgl. III, 95).

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ber« hat Canetti bemerkt, dass er von der »Macht des Erzählens« (VI, 67), die die Erzähler auf dem Marktplatz Djema el Fna über ihre Zuhörer ausübten, fasziniert war.46 In dem letzten und wohl eindrucksvollsten Kapitel beschreibt Canetti die Begegnung mit dem »Unsichtbaren« auf dem Platz in der Stadt, mit dem Geschöpf, das keine Hände und Füße zu besitzen schien und sich hinter dem Bündel versteckte. Canetti hörte achtsam das unartikulierte Surren »ä-ä-ä-ä-ä« (VI, 87), das dieser Unsichtbare von sich gab und das vielleicht den Ruf »Alláh« verkürzte. Dieses unsichtbare Geschöpf wurde erst durch seinen einzigen Laut »ä-ä-ä-ä-ä«, aus dem es bestand, bemerkbar und sichtbar. Canettis Versuch, den Aufenthalt in Marrakesch anhand klanglicher Eindrücke und Erlebnisse zu beschreiben, kann sicher als eine Untersuchung des »akustischen Raumes« gedeutet werden, der für McLuhan vom »visuellen Raum« auf einer medientheoretischen Ebene strikt getrennt ist. Der akustische Raum wird dem visuellen Raum entgegengesetzt, welcher durch die Macht der alphabetischen Buchdruckkultur in der Neuzeit geprägt wurde. In dieser Hinsicht unterscheidet McLuhan, der mit Canettis Masse und Macht vertraut war, 47 den akustischen und vortechnischen Raum, für den die Mündlichkeit charakteristisch ist, von dem visuellen und euklidischen Raum, der grundlegend auf der Erfindung der Schrift und des phonetischen Alphabets beruht. 48 Während der visuelle Raum linear, homogen und statisch erscheint, ist der akustische Raum durch Simultanität und Mehrdimensionalität geprägt:

46 Er hat zugleich den eigenen Wert des »Papiers« für die Schrift, das die Schreiber auf dem Platz sehr sorgfältig behandelten, wiederentdeckt. 47 McLuhan schien doch Canettis Die Stimmen von Marrakesch nicht zu kennen. 48 Vgl. McLuhan, Marshall/Powers, Bruce R.: The Global Village. Der Weg der Mediengesellschaft in das 21. Jahrhundert. Übersetzt und mit einem Beitrag versehen von Claus-Peter Leonhardt. Mit einer Einleitung von Dieter Baacke, Paderborn: Junfermann 1995. Zur Verschränkung von dem akustischen und dem nichteuklidischen Raum vgl. Hörl, Erich: »›We Seem to Play the Platonic Tape Backwards‹ – McLuhan und der Zusammenbruch der Euklidischen Mentalität«, in: de Kerckhove/Leeker/Schmidt, McLuhan neu lesen. Kritische Analysen zu Medien und Kultur im 21. Jahrhundert (2008), S. 376-393.

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»Visueller Raum, wie ihn die euklidische Geometrie erklärt, besitzt die charakteristischen Eigenschaften der Linearität, Folgerichtigkeit, Homogenität und des Stillstandes. Diese Eigenschaften kann man in keinem der anderen Sinne finden. Auf der anderen Seite hat der akustische Raum den Grundcharakter einer Sphäre, deren Brennpunkt oder Zentrum gleichzeitig überall zu finden ist und das keine Grenzen hat.«49 »Der Akustische Raum ist eine Heimat für jeden, der nicht von dem alles-auf-einenZeitpunkt setzenden, uniformen Ethos des Alphabets besiegt wurde. Er ist noch in der Dritten Welt und in weiten Teilen des Nahen Ostens, in Rußland und im Südpazifik zu finden. […] Es gibt keine Grenzen um den Ton. Wir hören aus allen Richtungen gleichzeitig.«50

Bei McLuhan ist der Unterschied zwischen dem akustischen und visuellen Raum entscheidend. Der akustische Raum hat kein Zentrum, welches dem »Gesichtspunkt« und der Zentralperspektive im visuellen und geometrischen Raum entspricht. Natürlicherweise ist dieser Hörraum an die Wahrnehmungsart des Ohres eng gekoppelt: »Das Ohr bevorzugt keinen bestimmten ›Blickwinkel‹. Wir sind von Geräuschen umhüllt, in einem lückenlosen Netz. Wir sagen, ›Musik soll die Luft erfüllen.‹ Aber wir sagen nicht: ›Musik soll einen bestimmten Teil der Luft erfüllen.‹ Wir nehmen Geräusche aus allen Richtungen wahr, ohne unser Ohr auf einen bestimmten Punkt zu richten. Geräusche kommen von ›oberhalb‹, ›unterhalb‹, von ›vor uns‹, von ›hinter uns‹, von ›rechts‹ und von ›links‹. Geräusche können wir nicht einfach ausblenden. Wir haben keine Ohrenlider. Ist der visuelle Raum ein organisier-

49 M. McLuhan/B. Powers: The Global Village. Der Weg der Mediengesellschaft in das 21. Jahrhundert, S. 84. Zum Raumkonzept bei McLuhan vgl. Cavell, Richard: McLuhan in Space. A Cultural Geography, Toronto u.a.: University of Toronto Press 2002; C. Bohrer: Babel oder Pfingsten? Elektronische Medien in der Perspektive von Marshall McLuhan (2009), S. 119-131. 50 M. McLuhan/B. Powers: The Global Village. Der Weg der Mediengesellschaft in das 21. Jahrhundert, S. 65.

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tes, einförmiges und verbundenes Kontinuum, so ist die Welt des Ohres eine aus simultanen Verbindungen.«51

Als »ein etwas passives Anhängsel« (Georg Simmel) des Kopfes hat das Ohr keine Schutzfalte, die dem Augenlid entspricht und die man nach Belieben schließen und öffnen kann. Wie im ersten Kapitel entwickelt wurde, macht die Bücherwelt von Peter Kien, der von »Ohrlidern« (I, 115) als Schallschutz träumt, den visuellen Raum aus, der »die charakteristischen Eigenschaften der Linearität, Folgerichtigkeit, Homogenität und des Stillstandes« besitzt.52 Im akustischen Raum ereignet sich dagegen alles simultan und verwickelt sich alles ineinander.53 In diesem Raum kann man mit den Ohren den »Zusammenhang des Ganzen« (VIII, 233) – wie bei Canettis Massenerlebnis des Wiener Justizpalastbrandes – wahrnehmen. Die akustische Welt, die Canetti in Marrakesch entdeckt hat, bildet eine offene Umwelt, die nicht linear begrenzt wird. Zwar kann diese akustische Welt, »die Kultur des Ohres« (Susan Sontag), bei Canetti nicht als Utopie gefasst werden, aber zweifellos hat er versucht, in Die Stimmen von Marrakesch andere sinnliche Räume zu zeigen, die vom Ethos des phonetischen Alphabets verdrängt worden sind.

51 McLuhan, Marshall/Fiore, Quentin: Das Medium ist die Massage. Zusammengestellt von Jeremo Agel. Übersetzt von Martin Baltes/Rainer Höltschl, Stuttgart: Tropen 2011, S. 111. (Hervorhebung im Original) 52 Nach McLuhan hat die Erfindung des phonetischen Alphabets entscheidend die Wahrnehmung des abendländischen Menschen bestimmt: »Das Alphabet separierte und isolierte den visuellen Raum, und löste ihn dadurch von den vielen anderen sinnlichen Räumen, welche die Sinne Geruch, Tasten, Kinästhetik und Akustik umfassen.« M. McLuhan/B. Powers: The Global Village. Der Weg der Mediengesellschaft in das 21. Jahrhundert, S. 89. Nach Schafer ist Hören »eine Art von Berührung aus der Ferne«. Vgl. M. Schafer: Die Ordnung der Klänge, S. 48. 53 Zum Problem der Simultaneität bei McLuhan vgl. Verf.: »Koexistenz absoluter Uneinigkeiten im globalen Dorf. Zur Konzeption der Simultaneität bei Marshall McLuhan«, in: Keiko Hamazaki/Christine Ivanovic (Hg.), Simultaneität – Übersetzen, Tübingen: Stauffenburg 2013, S. 213-224. Diesen Beitrag habe ich im zweiten und dritten Kapitel der vorliegenden Arbeit teilweise bearbeitet.

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In einer Aufzeichnung aus dem Jahr 1947 hat Canetti bereits vermerkt: »Als Dichter lebe ich noch in der Zeit vor der Schrift, in der Zeit der Rufe.« (IV, 126) In Masse und Macht bestimmt Canetti die Meute als ursprüngliche Form der Massen und bezeichnet vor allem die Jagdmeute, auf die die (moderne) Hetzmasse zurückgeführt wird, als »natürlichste und echteste« (III, 111).54 Dabei hat er die Bedeutung des Akustischen (z.B. des Lärms oder des Rufes) bei der Jagd hervorgehoben. Die Einheit und die Erregung der Meute werden durch »Kläffen« und »Rufen« der Mitglieder gestärkt und gesteigert. »Sie [die Meute] muntert sich durch gemeinsames Kläffen auf. Die Bedeutung dieses Lärms, in dem die Stimmen der einzelnen Tiere zusammenfallen, ist nicht zu unterschätzen. Er kann nachlassen und wieder anschwellen; aber er ist unbeirrbar, er enthält den Angriff.« (III, 113)

Der Jäger als »präliteraler« Mensch lebte noch in dem akustisch orientierten Raum, in dem das Wissen mündlich erzählt und übermittelt wird. McLuhan charakterisiert das orale Stammesleben im Folgenden: »Das Stammesleben wurde und wird noch immer wie ein dreidimensionales Schachspiel gelebt; es kennt keine pyramidalen Prioritäten. Die Ordnung der alten oder prähistorischen Zeiten war kreisförmig, nicht nach vorne schreitend.«55 In einer Aufzeichnung nennt sich Canetti »ein[en] wirkliche[n] Erzähler und kein[en] moderne[n]«. Und es ist die »Energie« des Erzählens, die seine literarischen und theoretischen Gesamttätigkeiten durchströmte: »Energie des Erzählens, ich kann ohne sie nicht sein. Ich bin ein wirklicher Erzähler und kein moderner.« (V, 350) Canetti als Dichter war jedoch nichts anders als ein »moderner« Erzähler in dem Sinne, dass er ein Massenmedi-

54 Das Wort »Meute« bedeutet eigentlich »Koppel Jagdhunde«, die Canetti auch für kleinere Gruppen von Menschen verwendet. Vgl. Kluge. Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. Bearbeitet von Elmar Seebold. 25., durchgesehene und erweiterte Auflage, Berlin/Boston: Walter de Gruyter 2011, S. 620. Zu »Lauten der Jagd« vgl. M. Schafer: Die Ordnung der Klänge, S. 94f. 55 M. McLuhan/B. Powers: The Global Village. Der Weg der Mediengesellschaft in das 21. Jahrhundert, S. 65. Diese Eigenschaften des akustischen Stammeslebens wären auch für das Leben der Meute gültig, wenn auch Canetti das Wort »Stamm« vermieden hat.

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um wie das Radio effektiv und strategisch benutzt hat. Seine Absicht und Leistung können keine einfache Rückkehr in die »prähistorische« oder präliterarische Zeit der Meute sein. Zum Schluss möchte man darauf eingehen, dass sich die Inszenierung des Akustischen bei Canetti zugleich mit den modernen Massenmedien eng verbindet.

2.4 C ANETTIS M EDIENSTRATEGIE – S EIN H ÖRWERK UND DAS R ADIO ALS M ASSENMEDIUM Der Reisebericht Die Stimmen von Marrakesch gehört zu Canettis erfolgreichem Werk, das ihn berühmt und populär gemacht und sich erstmals einer allgemeinen Leserschaft erfreut hat. Seine Autorenlesungen dieses Werkes haben sicherlich dazu beigetragen. Wie bereits bemerkt, wurden fast alle Kapitel von Die Stimmen von Marrakesch rezitiert und auch im Radio gesendet. 56 In seiner Biographie beschreibt Sven Hanuschek, wie sich Canetti für Leseveranstaltungen engagiert hat: »Canetti hielt gern und, in der Tradition von Karl Kraus, überaus wirkungsvoll Lesungen ab, sein Charisma bezwang das Publikum fast so wie das seines Vorgängers. An seinen Lektor schrieb er: ›Wie gern ich selber vorlese, wissen Sie; es gibt kaum etwas, das ich lieber tue.‹«57

Anders als professionelle Rezitatoren wie Karl Kraus 58 oder Ludwig Hardt59, dessen Verwandlungskunst durch Stimmen Canetti sehr bewundert

56 Zu näheren Informationen über die Radiolesung dieses Werks vgl. K. Naab: Elias Canettis akustische Poetik, S. 140. Die Autorenlesung von Die Stimmen von Marrakesch ist als CD erschienen. Vgl. Elias Canetti liest Die Stimmen von Marrakesch. 2 CDs. München: Der hörverlag 2005. Die Gesamtlaufzeit beträgt ca. 140 Min. Nur das Kapitel »Die Familie Dahan« ist nicht aufgenommen. Dieses Kapitel wurde vom Autor wohl nicht vorgelesen, weil es etwas umfangreich ist. Canettis Hörwerk bei Zweitausendeins enthält im Grunde nur Auszüge aus den einzelnen Werken. 57 S. Hanuschek: Elias Canetti, S. 482. 58 Die schauspielerische, mimische Seite der Lesung von Kraus hat Benjamin hervorgehoben: »›Ich bin‹, hat Kraus gesagt, ›vielleicht der erste Fall eines Schrei-

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hat, hat der Autor immer Stücke aus eigenen Texten vor seiner Publikumsmasse vorgelesen. Seine Haltung zur Lesung legt auch die Vermutung nahe, dass sein Werk über die schriftliche Ebene hinaus die mündliche Inszenierung seiner Stimmen vorausgesetzt hat. Die meisten Lesungen wurden vom Hanser Verlag, der im Jahr 1963 Canettis Roman Die Blendung erneut veröffentlichte und damit seinen Durchbruch im deutschsprachigen Raum vorbereitete, als Werbeveranstaltungen organisiert und abgehalten. Für den Autor im 20. Jahrhundert ist es üblich, zum Zwecke der Promotion des Werks Autorenlesungen zu veranstalten. Der Biograph Hanuschek hat ausführlich davon berichtet, dass Canetti nach den 1960er Jahren häufig auf Lesetourneen ging und sich eifrig mit Lesungen und Gesprächen in Buchhandlungen, Buchmessen, Universitäten und Radiosendern beschäftigte. Während Canetti wissenschaftliche Einladungen auf Symposien und Tagungen hartnäckig abgelehnt hat, war er immer bereit, Aufträge für Lesungen anzunehmen und Aufnahmen auf Tonband zu erlauben. Sein Hörbuch erzielte auch einen Erfolg und die Lesung gehörte eigentlich zu seinen Spezialitäten: »Sein Pensum an Lesereisen erreichte in den siebziger Jahren den höchsten Punkt. Wie sehr ihm diese Veranstaltungen lagen, läßt sich mit den Aufnahmen von Rund-

bers, der sein Schreiben zugleich schauspielerisch erlebt‹ und weist mit diesem Wort der eigenen Eitelkeit den legitimsten Ort an: den im Mimen. Das mimische Genie, das in der Glosse nachmacht, in der Polemik Fratzen schneidet, entfesselt sich festlich in den Vorlesungen von Dramen, deren Urheber nicht umsonst eine eigentümliche Mittelstellung einnehmen: Shakespeare und Nestroy, Dichter und Schauspieler; Offenbach, Komponist und Dirigent.« W. Benjamin: »Karl Kraus«, in: Gesammelte Schriften. II.1 (2015), S. 346f. Auch vgl. W. Benjamin: »Karl Kraus liest Offenbach«, in: Gesammelte Schriften. IV.1 (1991), S. 515-517: »Aber er spricht ja in Wahrheit nicht Offenbach; er spricht aus ihm heraus. Und dann und wann nur fällt ein atemraubender, halb stumpfer, halb glänzender Kupplerblick in die Masse vor ihm, lädt sie zu der verwünschten Hochzeit mit den Larven, in denen sie sich selber nicht erkennt, und nimmt auch hier sich das schreckliche Vorrecht des Dämons: Zweideutigkeit.« (S. 516) 59 In Die Fackel im Ohr hat sich Canetti an die Lesung von Ludwig Hardt zurückerinnert: »Es war ihm unmöglich, etwas herzusagen, von wem immer es war, ohne dem Urheber dieser Worte zu gleichen.« (VIII, 279)

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funkanstalten und der ›Deutschen Grammophon‹ nachempfinden. Für seine Lesung der Charakterskizzen aus Der Ohrenzeuge auf Schallplatte erhielt er den Deutschen Schallplattenpreis 1975 in der Sparte ›Wortproduktion‹.«60

Mit diesen Lesereisen und den ersten Preisverleihungen in den 1960er Jahren wurde er »eine öffentliche Figur«61, die nicht mehr Eremit in der Privatbibliothek in London sein konnte. Aber man darf nicht vergessen, dass auch Canettis erster und einziger Roman Die Blendung etwa fünf Jahre lang zwischen Abschluss und erster Veröffentlichung hauptsächlich durch Vorlesungen, d.h. seine »Stimme« im Wiener Kreis existierte: »Durch Vorlesungen aus dem Manuskript trat ich mehr und mehr aus der Isoliertheit meines Wiener Lebens heraus.« (VI, 334) Canetti war ursprünglich ein »unzeitgemäßer« Schriftsteller, »der zunächst ein hörendes und erst später ein lesendes Publikum gefunden hat«.62 Im dritten Band der Autobiographie Das Augenspiel, der das Leben in den 1930er Jahren erzählt, hat Canetti beschrieben, wie er zu verschiedenen Gelegenheiten einige Kapitel aus Die Blendung und einige Teile seiner Dramen vorgelesen hat. In seinen Autorenlesungen fanden sich Robert Musil, Ernst Bloch oder James Joyce, die unterschiedliche Reaktionen auf Canettis Inszenierungskunst gezeigt haben. Bei der Lesung am 23. Januar 1933 in der Wiener Volkshochschule Leopoldstadt hat Hermann Broch zudem eine einleitende Ansprache gehalten, in der auch Canettis Konzeption der Massenstudie kurz vorgestellt wurde.63 In Das Augenspiel hat Canetti seine eigentliche Absicht der Lesung am Beispiel des Dramas erklärt: »Um die Komödie zu erfassen, mußte man sie hören, sie war aus dem aufgebaut, was ich akustische Masken nannte, jede Figur war durch Wortwahl, Tonfall,

60 S. Hanuschek: Elias Canetti, S. 548. 61 Ebd., S. 516. 62 E. Canetti: Das Hörwerk 1953-1991, der Kommentar auf der Umschlagsrückseite. 63 Vgl. Broch, Hermann: »Einleitung zu einer Canetti-Lesung«, in: ders.: Paul Michael Lützeler (Hg.), Kommentierte Werkausgabe. Band 9/1, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1976, S. 59-62. In dieser Einleitung erwähnte Broch bereits Canettis Idee des Meeres als Massensymbol.

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Rhythmus streng gegen alle anderen abgesetzt und es gab keine Notenschrift für Dramen, in der sich das feststellen ließ. Meine Intentionen konnte ich nur durch eine vollständige Vorlesung des Stückes klarmachen.« (IX, 112)

Diese Erklärung lässt sich wohl im Grunde auf alle anderen Werke, die von Canetti gelesen wurden, übertragen. Indem der Autor selber sein eigenes Werk vorliest, kann er auch seine Intentionen und Interpretationen, die von der Druckschrift nicht mitgeteilt werden können, übermitteln.64 Wie oben bemerkt, hat Canetti aufgrund der Vorlesungen von Kraus »akustische Masken« als Agenten der Dramaturgie entwickelt. Canetti hat von Kraus gelernt, dass »der einzelne Mensch eine sprachliche Gestalt hat, durch die er sich von allen anderen abhebt« (VI, 136). Laut Canetti verliert aber der moderne Mensch gerade wegen der Massenmedien seine eigene sprachliche Gestalt: »[E]ine Überzahl der Menschen heute ist des Sprechens kaum mehr mächtig, sie äußern sich in den Phrasen der Zeitungen und öffentlichen Medien und sagen, ohne wirklich dasselbe zu sein, mehr und mehr dasselbe.« (VI, 367) Canettis Interesse als Dichter besteht darin, durch das Hören und Sprechen bestimmte sprachliche oder akustische Gestalten der Menschen zu retten und wiederzugeben. Das Interesse an der akustischen Physiognomie65 des je einzelnen Menschen hat ihn von Anfang seiner literarischen Tätigkeiten an begleitet. In einem Interview, das in der Tageszei-

64 Canettis Werke wurden nicht nur vom Autor, sondern auch von anderen Rezitatoren vorgelesen und inszeniert. Die Blendung wurde auch als Hörspiel bearbeitet. Vgl. Canetti, Elias: Die Blendung. Hörspielbearbeitung: Helmut Peschina. Regie: Robert Matejka. München: Der hörverlag 2005. Das Drama Die Befristeten ist auch als Hörstück im Radio gesendet worden. Im Gespräch mit Durzak erklärt Canetti das Echo dieses Hörspiels: »Es ist aus dem Stück ein Radiostück gemacht worden für Köln. Es wurde vor einigen Jahren, natürlich gekürzt, aufgeführt, mit Musik von Bernd Alois Zimmermann. Das war außerordentlich exakt; man hat mir eine Kopie davon geschickt. Ich habe selten so viele Briefe darüber bekommen, von Zuhörern. Nun können Sie natürlich sagen: Das war ein Hörstück.« (X, 312) 65 Zur Geschichte der »Physiognomik der Stimme« im Hinblick auf Canettis akustische Maske vgl. R. Meyer-Kalkus: Stimme und Sprechkünste im 20. Jahrhundert, S. 4-50.

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tung Der Wiener Tag von 1937 gemacht wurde, hat Canetti bereits das Konzept der akustischen Maske formuliert: »Gehen Sie in ein Volkslokal, etwa das altbekannte O.K., setzen Sie sich an irgendeinen Tisch und machen Sie da die Bekanntschaft eines Ihnen wildfremden Menschen. […] – halten Sie einmal konsequent den Mund und hören Sie ihn sich einige Minuten hindurch genau an. […] – achten Sie ganz einfach auf das Äußere seiner Worte. […] […] Er ist im Sprechen so sehr Gestalt geworden, nach allen Seiten hin deutlich abgegrenzt, von allen übrigen Menschen verschieden, wie etwa in seiner Physiognomie, die ja auch einmalig ist. Diese sprachliche Gestalt eines Menschen, das Gleichbleibende seines Sprechens, diese Sprache, die mit ihm entstanden ist, die er für sich allein hat, die nur mit ihm vergehen wird, nenne ich seine akustische Maske.« (X, 137f.)

Nun begann Canetti »den Weg zum eigentlichen Buch, jedem einzelnen, in sich selbst eingebundenen Menschen« (VIII, 243) anzutreten. Jeder einzelne hat eine eigene sprachliche Gestalt, die »nach allen Seiten hin deutlich abgegrenzt, von allen übrigen Menschen verschieden« ist. Die akustische Maske ist ein hörbarer und lesbarer Gegenstad, den der Dichter in sich aufnehmen muss. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass es Canetti als Dichter vor allem darum geht, »die Vielfalt der Welt auch in der Vielfalt ihrer akustischen Masken darzustellen« (X, 207). Seine Lesungen und sein Hörwerk machen deutlich, dass seine Medienstrategie gerade darin bestand, die Vielfalt und die Einmaligkeit der akustischen Masken in seinem Werk nicht nur schriftlich, sondern auch mündlich zu inszenieren und zu überliefern. Das Medium des Tonträgers ermöglicht Canetti das Nach- und Überleben seiner Stimme mit dem Werk. Wie bereits erwähnt, wurden und werden seine Lesungen oft im Radio gesendet, und Aufnahmen sind auf Kassette oder CD zugänglich. Trotz seiner Medienkritik hat Canetti das Radio als Massenmedium strategisch verwendet.66 Im Jahr 1959, d.h. unmittelbar vor dem Erscheinen von Masse

66 In Der Ohrenzeuge hat Canetti den Wert der »modernen Apparate« für den Ohrenzeugen negativ beurteilt. Der Ohrenzeuge brauche keinen modernen Apparat: »Da sind alle diese modernen Apparate überflüssig: sein Ohr ist besser und treuer als jeder Apparat, da wird nichts gelöscht, da wird auch nichts verdrängt, es

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und Macht, wurden bereits einige Kapitel daraus vom Autor selbst im Radio NDR vorgelesen. Erwähnenswert ist, dass in dem dort vorgelesenen Kapitel auch der Abschnitt »Hetzmassen«, der gerade das Medienpublikum behandelt, enthalten ist. Diese Studioaufnahme gehört eigentlich zu den frühesten Radiolesungen Canettis.67 Während Die Blendung vor der Veröffentlichung nur im engeren, privaten Kreis in Wien vorgelesen wurde, hatte nun Canetti die Möglichkeit, eine breite Hörerschaft im Radio zu erreichen, das mittlerweile allerdings damals schon zu den klassischen Massenmedien gehörte. Mit Bezug auf den Rundfunk als Massenmedium war Canetti weniger ein Theoretiker als ein Praktiker. Zum Schluss stellt sich die Frage, ob der Radiohörer für Canetti eine »Publikumsmasse« darstellte, die sich mit den Massenmedien verband und Zuhörer von Canettis Stimme wurde, auch wenn Canetti in Masse und Macht selbst noch keine technischen Massenmedien behandelt hat. Laut McLuhan haben technische Massemedien wie Radio und Fernsehen »das simultane ›Feld‹« des akustischen Raums als globales Dorfes wieder hervorgebracht: »Wir leben in einem einzigen komprimierten Raum, der von Urwaldtrommeln widerhallt.«68 In Understanding Media hat

kann so schlimm sein wie es will, Lügen, Kraftworte, Flüche, Unanständigkeiten jeder Art, Schimpfworte aus abgelegenen und wenig bekannten Sprachen, selbst was er nicht versteht, merkt er sich genau und liefert es unverändert aus, wenn es gewünscht wird.« (II, 286) 67 Auch die Autorenlesungen aus Masse und Macht sind als Audio-CD erhältlich. Vgl. Canetti, Elias: Masse und Macht. Mit Elias Canetti. 3 CDs. Hamburg: Hoffmann und Campe 2003. Die Laufzeit dauert ca. 239 Min. Canettis Hauptwerk wird nicht nur vorgelesen, sondern mit den Bildern von Alfred Hrdlicka illustriert. Er hat acht Radierungen über Masse und Macht mit Canettis Essay veröffentlicht. Vgl. Hrdlicka, Alfred: Acht Radierungen zu Elias Canetti Masse und Macht. Einführung Karl Diemer, Stuttgart: Galerie Valentien 1973; S. Werner: Bild-Lektüren. Studien zur Visualität in Werken Elias Canettis, S. 155-184. So wird Masse und Macht mit verschiedenen Medien, nämlich Schrift, Stimme und Bild inszeniert. 68 M. McLuhan: Die Gutenberg-Galaxis, S. 41.

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McLuhan das Radio als »Stammestrommel« (the Tribal Drum) charakterisiert.69 »Das Radio berührt die meisten Menschen persönlich, von Mensch zu Mensch, und schafft eine Atomsphäre unausgesprochener Kommunikation zwischen Autor, Sprecher und Hörer. Das ist der unmittelbare Aspekt des Radios. Ein persönliches Erlebnis. Die unterschwelligen Tiefen des Radios sind erfüllt vom Widerhall der Stammeshörner und uralten Trommeln. Das ist dem Wesen dieses Mediums eigen, das die Macht hat, die Seele und die Gemeinschaft in eine einzige Echokammer zu verwandeln. […] Hitler verdankt seine politische Existenz nur dem Radio und den Lautsprecheranlagen. Das bedeutet nicht, daß diese Medien seine Gedanken wirklich an das deutsche Volk weitergaben. Seine Gedanken waren nebensächlich. Das Radio ließ zum erstenmal die elektronische Implosion massiv erleben, jene Umkehrung der Tendenz und Bedeutung der alphabetischen westlichen Welt. Für die Stammesangehörigen, deren ganzes gesellschaftliches Dasein in einer Erweiterung des Familienlebens besteht, wird das Radio weiterhin ein aufpeitschendes Erlebnis darstellen.«70

Wie der Nationalsozialismus und Hitler das Radio als Massenmedium effektiv verwendet hatten, um die Macht zu erhalten, ist bereits von verschiedenen Theoretikern diskutiert worden.71 In seinem Essay Hitler, nach Speer

69 M. McLuhan: Die magischen Kanäle, S. 450; M. McLuhan: Understanding Media, S. 297. 70 M. McLuhan: Die magischen Kanäle, S. 453f. 71 Die Bedeutung und Wirkung des Radios für den Nationalsozialismus haben bereits Horkheimer und Adorno in ihrer Medienkritik in Dialektik der Aufklärung von 1947 hervorgehoben: »Die Nationalsozialisten selber wußten, daß der Rundfunk ihrer Sache Gestalt verlieh wie die Druckerpresse der Reformation.« Horkheimer, Max/Adorno, Theodor W.: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt a.M.: Fischer 2004, S. 168. Diesen Sachverhalt hat vor allem Günther Anders kurz und prägnant formuliert: »Daß durch Rundfunk ungleich mehr Menschen gleichgeschaltet und effektiv ›vermasst‹ werden können als auf einem noch so kolossalen Nürnberger Gelände, haben sogar Hitler und Goebbels schon begriffen. Denn in ihrem Bemühen, ihren Massenaktionen das Maximum an Masseneffekt zu verleihen, haben sie ja ihre Monsterdemonstrationen noch einmal multipliziert, sie nämlich über den Rundfunk übertragen.

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hat auch Canetti nicht übersehen, dass während des Krieges die breite, unsichtbare Radiohörerschaft Hitler mehr beschäftigte als die Menschenmenge, die sich sichtbar um ihn an einem bestimmten Ort versammelte: »Während des Krieges läßt Hitlers Freude an der akuten Masse um ihn rasch nach. Er hat sich daran gewöhnt, durch das Radio seine größtmögliche Masse, alle Deutschen nämlich, zu erreichen.« (VI, 282) Für McLuhan liegt die Macht des Radios darin, »die Menschen in die Stammesgemeinschaft zurückzuführen«. 72 Diese elektronische »Retribalisation« stellt sicherlich eine Wiedererscheinung der archaischen Meute in Canettischen Sinne dar. Im globalen Dorf, in dem die »Urwaldtrommel« tönt und der Mensch als

Das Fernsehen gab es damals noch nicht, die Riefenstahl-Filme erreichten noch nicht jedermann; wohl aber das Radio. Ohne dieses sind die Massenerfolge Hitlers nicht denkbar. Faschismus und Rundfunk sind Korrelate.« Anders, Günther: Die Antiquiertheit des Menschen. Band II. Über die Zerstörung des Lebens im Zeitalter der dritten industriellen Revolution, München: C. H. Beck 2013, S. 88. 72 Vgl. M. McLuhan: Die magischen Kanäle, S. 460. McLuhan hat zugleich den Aspekt der Dezentralisierung, die das Radio hervorbringt, erwähnt. Es versichert auch die Pluralität der Kanäle: »Das Radio führt zu einer Beschleunigung der Informationsbewegung, die auch andere Medien beschleunigt. Es reduziert auf jeden Fall die Welt auf den Dorfmaßstab und läßt unersättlich dörfliche Bedürfnisse nach Klatsch, Gerüchten und persönlichen Bosheiten aufkommen, bewirkt aber keine Gleichschaltung der Dorfviertel. In Indien, wo das Radio die beherrschende Kommunikationsform ist, gibt es mehr als ein Dutzend offiziell anerkannter Sprachen und ebenso viele öffentliche Rundfunkgesellschaften. Die Wirkung des Radios als Empfänger archaischer Formen und alter Erinnerungen bleibt nicht auf Hitlerdeutschland eingeschränkt. Irland, Schottland und Wales erlebten eine Renaissance ihrer alten Sprachen, seit das Radio existiert, und Israel liefert ein weltweites Beispiel für das Wiederherstellen einer Sprache. Die Israeli sprechen jetzt eine Sprache, die jahrhundertelang tot war und nur noch in Büchern existierte. Das Radio kann nicht nur mit Macht alte Erinnerungen, Kräfte und Gefühle wecken, sondern ist zudem eine dezentralisierende und pluralistische Kraft, was eigentlich für alle elektrischen Medien und auch für den elektrischen Strom gilt.« (Ebd., S. 463f.)

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Jäger ein »Informationssammler« wird,73 sind aber die räumliche Distanz und die physische, reale Kopräsenz aufgehoben. In diesem globalen Dorf kehrt der akustische Raum auf neue Weise wieder. 74 In Anlehnung an McLuhan hat Walter Ong, der McLuhans wissenschaftlicher Kollege in Toronto war, die Bedeutung der sogenannten »sekundären Oralität« im elektronischen Medienzeitalter formuliert: »Gleichzeitig, mit dem Telephon, dem Radio, dem Fernseher, den verschiedenen Klangaufzeichnungsgeräten, hat uns die elektronische Technologie das Zeitalter der ›sekundären Oralität‹ gebracht. Diese neue Oralität besitzt eine überraschende Ähnlichkeit mit der alten, sowohl was die Mystik der Partizipation, als auch was ihre Förderung des Gemeinschaftssinnes, ihre Konzentration auf die Gegenwart und auf den Gebrauch von Formeln anbelangt […]. Es ist jedoch wesentlich eine mehr zufällige und selbstverständliche Oralität, die stets auf dem Gebrauch des Schreibens und Druckens basiert, welche für die Herstellung, die Anwendung und den Gebrauch der elektronischen Ausrüstung notwendig sind. Die sekundäre Oralität ist der primären Oralität sowohl bemerkenswert ähnlich, als auch unähnlich. Wie die primäre Oralität entwickelte sich auch die sekundäre aus einem starken Gruppensinn, denn die Konzentration auf ein gesprochenes Wort

73 Vgl. ebd., S. 430: »Der Mensch als Nahrungssammler tritt wieder, widersinnig scheinbar, als Informationssammler auf. In dieser Rolle ist der elektronische Mensch nicht weniger Nomade als seine steinzeitlichen Ahnen.« 74 »Nachdem sich der elektronische Mensch in einer Arena simultaner Informationen wiedergefunden hatte, fand er sich auch zunehmend von der älteren, mehr traditionellen (visuellen) Welt ausgeschlossen, in der Raum und Vernunft einheitlich, miteinander verbunden und stabil zu sein schienen. Statt dessen entdeckt der abendländische, visuelle und sequentielle Mensch nun, daß sich sein Verhalten mit Informationsstrukturen verbindet, die simultan, unzusammenhängend und dynamisch sind. Er wurde in eine neue Form des Wissens eingetaucht, die ihn weit von seinen gewohnten Erfahrungswelten entfernte, welche im gedruckten Wort wurzelten. Die Neuformulierung und Wiedergewinnung des akustisch gewonnenen Wissens entspricht dem Hörsinn, der innerhalb einer 360° umfassenden Sphäre aus jeder Richtung Einzelheiten erfassen kann, und in diesem Sinne mit einem magnetischen oder elektrischen Feld zu vergleichen ist.« M. McLuhan/B. Powers: The Global Village. Der Weg der Mediengesellschaft in das 21. Jahrhundert, S. 38.

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formt die Hörer zu einer Gruppe, einem wirklichen Publikum, wohingegen das Lesen eines geschriebenen oder gedruckten Textes die Individuen auf sich selbst zurückwirft. Aber die sekundäre Oralität schafft einen Sinn für unendlich größere Gruppen als diejenigen, die wir von der primären Oralität her kennen – McLuhans ›globales Dorf‹.«75

Georg Simmel hat der Wahrnehmung des Ohres »einen überindividuellen Charakter« zugeschrieben. Im Sinne McLuhans steigert die sekundäre Mündlichkeit erneut das Kollektivbewusstsein im globalen Ausmaß. Hier geht es nicht nur um den historischen Medienwandel zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit, sondern auch um einen »starken Gruppensinn« als ein Massenphänomen im globalen Dorf, das nach McLuhan gerade die elektronischen Medien entstehen lassen und das »eine Erweiterung des Familienlebens« darstellt. Dem modernen Erzähler Canetti waren die Passivität des Hörens und die Aktivität des Sprechens bzw. Vorlesens vertraut, die zugleich das Massen- und Machtverhältnis im Zusammenhang mit den Medien konstruieren. Was sind aber Medien für Canetti als Autor von Masse und Macht? Im nächsten Kapitel soll nun erörtert werden, wie die Beziehung zwischen Massen und Medien in Masse und Macht thematisiert wird und wie Canettis Massen- und Machttheorie auch für die Analyse der gegenwärtigen, elektronischen, audiovisuellen Massenmedien fruchtbar gemacht werden kann.

75 Ong, Walter J.: Oralität und Literalität. Die Technologisierung des Wortes. 2. Auflage. Mit einem Vorwort von Leif Kramp und Andreas Hepp. Übersetzt von Wolfgang Schömel, Wiesbaden: Springer 2016, S. 127. In ihrer Untersuchung über Canettis akustische Poetik hat Karoline Naab zu Recht bereits auf Ongs Studie hingewiesen. Vgl. K. Naab: Elias Canettis akustische Poetik, S. 112f.

3. Masse und Macht – Körper und Medien

Während Die Blendung den Gesichtssinn repräsentiert und Die Stimmen von Marrakesch, Die Fackel im Ohr und Der Ohrenzeuge sich jeweils auf den Gehörsinn beziehen, kreist Masse und Macht um die Problematik des Tastsinns, der die Aufhebung der Distanz in der dichten Menschenmasse durch die Hautsinne hervorbringt und damit die »Berührungsfurcht« auslöscht. Aber wie hängt diese körperliche Präsenz der Masse bei Canetti mit der körperlosen Abwesenheit der Masse der Medien zusammen, wie sie McLuhan am Beispiel des Fernsehpublikums erörtert? Dieses Kapitel, welches das umfangreichste in der vorliegenden Untersuchung ist, besteht hauptsächlich aus zwei Teilen: Erstens (3.1-3.6) soll die latente Bedeutung der Medien in Masse und Macht problematisiert werden, damit eine diskursive Kontinuität zwischen Massentheorie und Medientheorie bestätigt werden kann. Anschließend am Exkurs über einen methodischen Vergleich (3.7) werden zweitens (3.8-3.13) die anthropologischen Überlegungen über die Beziehung zwischen dem Körper, vor allem der Hand, und der Technik der Macht bei Canetti im Zusammenhang mit der Konzeption von McLuhans »Ausweitungen des Menschen« überprüft, der in seinem Werk Understanding Media auch Canettis Masse und Macht als eine wichtige Quelle aufgegriffen hat (Zur direkten Canetti-Rezeption bei McLuhan vgl. 3.11, 3.12). In den beiden Teilen dieses Kapitels geht es um den Tastsinn, dem die Haut und die Hand zuzuordnen sind.

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3.1 Z UM V ERHÄLTNIS VON M ASSEN IN M ASSE UND M ACHT

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Als Vorbereitung für das 1964 publizierte Buch Understanding Media konnte sich Marshall McLuhan mit Canettis Masse und Macht nur sehr kurzfristig beschäftigen, da die englische Übersetzung von Canettis Lebenswerk erst im Jahr 1962 erschienen ist.1 Es ist überraschend, dass Masse und Macht zuerst nicht in der Massen- und Machttheorie, sondern in der Medientheorie rezipiert wurde, weil Canetti außer der Zeitung die Beziehung zwischen Massen und Medien bzw. das Problem der Massenkommunikation nicht analysiert hat. In Masse und Macht wird lediglich die Zeitungsleserschaft als Massenpublikum in der Kategorie der »Hetzmasse« flüchtig und beiläufig erwähnt, und der konkrete Zusammenhang zwischen elektronischen Medien und modernen Massen wird nicht diskutiert. Ein Grund dafür besteht darin, dass sich vor dem Erscheinen und während der fast dreißigjährigen Vorbereitungszeiten von Masse und Macht das Fernsehen als wirksames, elektronisches Massenmedium noch nicht weltweit verbreitet hatte.2 Darüber hinaus argumentiert Susanne Lüdemann, dass Canetti die Fokussierung auf die modernen Massenmedien deswegen vermeiden musste, weil es ihm »gerade nicht um die Unterschiede zwischen vormodernen und modernen Gesellschaften«, sondern »um die Kontinuität sozialer Formationen, tendenziell um die Wiederkehr des Archaischen im Modernen«3 gehe: »[H]ätte er die Rolle der sogenannten Massenmedien für das Verhältnis von Masse und Macht im 20. Jahrhundert bedacht, wäre er vielleicht zu einer historischen Relativierung oder Differenzierung seiner Phänomenologie der Massen gezwungen gewesen.«4 Die Kritik an Canetti,

1

Zur bibliographischen Information und Resonanz der englischen Übersetzung

2

Zum Wort Massenmedium für die Analyse der Massengesellschaft, in der das

von Masse und Macht vgl. Einleitung der vorliegenden Arbeit. Fernsehen eine dominante Rolle spielt vgl. C. Bartz: MassenMedium Fernsehen. Die Semantik der Masse in der Medienbeschreibung, S. 17-63. 3

S. Lüdemann: »Unsichtbare Massen«, in: Münz-Koenen/Schäffner, Masse und Medium: Verschiebungen in der Ordnung des Wissens und der Ort der Literatur 1800/2000 (2002), S. 81.

4

Ebd. Auch vgl. C. Bartz: MassenMedium Fernsehen. Die Semantik der Masse in der Medienbeschreibung, S. 72.

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dass er in Masse und Macht das Problem der Massenmedien marginalisiert und vernachlässigt hat, ist bis jetzt nicht selten.5 Ein solch heftiger Vorwurf kam von Eric McLuhan, dem Sohn McLuhans, der als Medienforscher tätig und Koautor seines Vaters ist. In seinem Beitrag im Sammelband Masse und Macht im globalen Dorf hat Eric McLuhan Canetti als sein »signifikantestes Versäumnis«6 vorgeworfen, dass er Nutzer der elektronischen Massenmedien nicht als »Masse« betrachtet hat: »Canetti untersuchte verschiedene Arten von Publikum als Masse – zum Beispiel die Masse in einem Stadion oder in einer Arena –, aber er erwähnte nicht die Masse oder das Publikum einer Radiosendung, eines TV-Programms etc., die elektrische Masse.«7 Es ist zwar berechtigt und zutreffend, dass Eric McLuhan wegen des Mangels an Untersuchung von elektronischen Massenmedien Canetti kritisiert und dennoch aufgrund der Erkenntnisse von Masse und Macht »die elektrische Masse« auf eigene Weise behandelt hat. Eric McLuhan hat jedoch die Tatsache übersehen, dass sein Vater Marshall McLuhan Canettis Masse und Macht ausführlich gelesen und in seiner Medientheorie mehrfach darauf Bezug genommen hatte. Dieses Verschweigen wäre das Versäumnis von McLuhans Sohn. Dieses Kapitel gliedert sich thematisch in die zwei Aufgaben: Erstens zu fragen und zu rekonstruieren, wie Canetti das Verhältnis zwischen Massen und Medien – in diesem Fall die Zeitung und deren Leserschaft – in seine Massentheorie integriert hat und inwieweit diese Überlegungen in Zusammenhang mit seiner Massen- und Machtheorie in die Analyse der elektrischen/elektronischen Massenmedien und in den medientheoretischen Diskurs situiert werden können. Obwohl Masse und Macht die (elektronische) »Medienmasse« nicht zum direkten Gegenstand der Betrachtung macht, bedeutet das keineswegs, dass in Masse und Macht Aspekte für die Analyse der gegenwärtigen Medienverhältnisse fehlen. In diesem Kapitel wird die These verfolgt, dass McLuhans Theorie der Massen-Medien in gewisser Hinsicht, also in Bezug auf den Tastsinn, als Fortsetzung der Massentheorie Canettis aufgefasst werden kann. Zweitens soll daraufhin über-

5

Zur Übersicht über die aktuelle Forschungslage vgl. Einleitung der vorliegenden

6

E. McLuhan: »Die Anatomie der elektrischen Masse«, in: Pattillo-Hess/Smole,

Arbeit. Masse und Macht im globalen Dorf (1999), S. 9. 7

Ebd., S. 9f.

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prüft werden, auf welche Weise Marshall McLuhan aus Canettis Masse und Macht das Mediale herausgezogen und weiterentwickelt hat. In dieser zweiten Fragestellung wird die Diskussion der Körperextension, die im ersten Kapitel über Die Blendung teilweise erläutert wurde, in den Vordergrund gestellt. In dieser Untersuchung geht es sowohl um die Canetti-Rezeption bei McLuhan als auch um die Problematisierung der Beziehung zwischen Massen und Medien bei Canetti anhand McLuhans Gutenberg-Galaxis und Understanding Media. Das Ziel der vorliegenden Analyse ist also, die Tragweite von Masse und Macht aus medientheoretischer Perspektive zu ermessen. Diese beiden Aufgaben sollen insgesamt erweisen, dass für das grundlegende und umfassende Verständnis von Masse und Macht gerade die Vergegenständlichung des Medialen erforderlich und aufschlussreich ist. Wie oben bemerkt wurde, sprechen einige Forscher und Denker immer die Unzufriedenheit aus, dass die Analyse der Massenmedien in Masse und Macht trotz ihrer Wichtigkeit in der (post-) modernen Gesellschaft ganz marginal bleibe. In dem 2000 erschienenen Buch Die Verachtung der Massen, das dem »Projekt der Moderne, die Masse als Subjekt zu entwickeln«8, nachgegangen ist, hat Peter Sloterdijk Masse und Macht als »das härteste und ideenreichste gesellschafts- und menschenkundliche Buch in diesem Jahrhundert« positiv beurteilt, und laut ihm könnte man Canetti »in Analogie zu George Steiner, der sich als einen platonischen Anarchisten bezeichnete, einen Anarchisten des anthropologischen Denkens« nennen.9 Sloterdijk hat jedoch zugleich zu Recht auf die unterschiedlichen Verhältnisse der Massen zwischen dem Erscheinungsjahr 1960 von Masse und Macht und der Jahrhundertwende um 2000 hingewiesen: »Wenn wir an seinen Analysen einen Aspekt wahrnehmen, dem wir keine ganz zeitgenössischen Züge mehr zusprechen können, dann ist der Grund hierfür vor allem in dem Umstand zu suchen, daß in dem halben Jahrhundert, das zwischen der Konzeption von Masse und Macht und der Gegenwart verflossen ist, eine radikale Verwand-

8

Sloterdijk, Peter: Die Verachtung der Massen. Versuch über Kulturkämpfe in der modernen Gesellschaft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2000, S. 30. Dieses Buch wird in der neueren Canetti-Forschung oft herangezogen.

9 Ebd., S. 10. Georg Steiner hat Canettis Werke aufmerksam verfolgt und rezipiert. Dazu vgl. die Einleitung der vorliegenden Arbeit.

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lung der modernen Gesellschaften stattgefunden hat, die ihren Aggregatzustand als organisierte Vielheit von Grund auf modifiziert. Die aktuellen Massen haben im wesentlichen aufgehört, Versammlungs- und Auflaufmassen zu sein; sie sind in ein Regime eingetreten, in dem der Massencharakter nicht mehr im physischen Konvent, sondern in der Teilnahme an Programmen von Massenmedien zum Ausdruck kommt. […] Aus der Auflaufmasse ist eine programmbezogene Masse geworden – und diese hat sich definitionsgemäß von der physischen Versammlung an einem allgemeinsamen Ort emanzipiert. In ihr ist man als Individuum Masse. Man ist jetzt Masse, ohne die anderen zu sehen. Die Folge davon ist, daß sich die heutigen, wenn man so will: die postmodernen Gesellschaften nicht mehr primär an Körpererfahrungen ihrer selbst orientieren, sondern sich nur über massenmediale Symbole, über Diskurse, Moden, Programme und Prominenzen selbst beobachten.«10

Canettis Massentheorie, die auf sein eigenes, physisches Massenerlebnis in den 1920er Jahren zurückgeht, bietet Sloterdijk zufolge ein unvergleichbares Erklärungsmodell für die Mechanismen der »Versammlungs- und Auflaufmassen«, in denen alle zwischenmenschliche Unterschiede und Distanzen momentan gelöscht werden und sich Mitglieder enthierarchisiert und entdifferenziert fühlen. Für die (post)-moderne Gesellschaft ist jedoch charakteristisch nicht mehr die »Versammlungsmasse«, die mit physischen »Körpererfahrungen« verbunden ist, sondern die »programmbezogene Masse«, die sich aus den »aus dem kollektiven Körper herausgelösten, von Medienkraftfeldern umschlossenen Einzelnen in ihrer unübersehbaren Vielzahl« 11 zusammensetzt. Wie Sloterdijk mit David Riesmans einfluss-

10 P. Sloterdijk: Die Verachtung der Massen, S. 16f. Auch Klaus Theweleit hat die ähnliche Diagnose über das Verhältnis der gegenwärtigen Massen gestellt: »[…] ich sehe die Masse/n im Canetti-Sinn heute technisch tendenziell abgeschafft, nicht durch politische oder soziale Ausgrenzung.« Theweleit, Klaus: »Canettis Masse-Begriff: Verschwinden der Masse? Masse & Serie«, in: Ghosts. Drei leicht inkorrekte Vorträge (1998), S. 241. Er schlägt vor, statt der Masse den Begriff der »Serie« zu benutzen. Zur Canetti-Rezeption bei Theweleit vgl. das erste Kapitel der vorliegenden Arbeit. 11 P. Sloterdijk: Die Verachtung der Massen, S. 17: »Die unversammelte und unversammelbare Masse in der postmodernen Gesellschaft besitzt darum kein Eigenkörper- und kein Eigenraum-Gefühl mehr; sie sieht sich selbst nicht mehr zusammenströmen und agieren, sie spürt ihre pulsierende Physis nicht mehr;«

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reicher Studie The Lonely Crowd (dt. Die einsame Masse) von 195012 formuliert, hatte Riesman den Effekt der Massenmedien auf den sozialen Charakter in der amerikanischen Gesellschaft der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts analysiert. »Die aktuellen Massen« haben sich inzwischen zu den »Medienmassen«13 verwandelt, die sich nicht mehr auf einem bestimmten Platz sichtbar zusammenballen. Der Charakter dieser »programbezogenen« »Medienmasse« betrifft besonders die Massen, die sich durch elektronische Medien wie Radio und Fernsehen bilden. Diese Medien können unendlich zahllose Menschen gleichzeitig verknüpfen, die weltweit verstreut und zerstreut sind. In der »Medienmasse« braucht man sich nicht an einem bestimmten, sichtbaren Ort zu versammeln und es kommt zu keiner körperlichen und physischen Berührung. Unter Berücksichtigung dieser Umwandlung der »Massen« schlägt Sloterdijk vor, Canettis Einsichten »über Auflauf und Entladung, über Hetze und Mitgerissenwerden, über Wachstum

12 Vgl. Riesman, David: Die einsame Masse. Eine Untersuchung der Wandlungen des amerikanischen Charakters. Übersetzt von Renate Rausch. Mit einer Einführung in die deutsche Ausgabe von Helmut Schelsky, München: Rowohlt 1965. Marshall McLuhan kannte diesen amerikanischen Soziologen persönlich und arbeitete mit ihm und anderen Wissenschaftlern für die kommunikationswissenschaftliche Zeitschrift Explorations zusammen, die von 1953 bis 1959 veröffentlicht und deren Anthologie 1960 herausgegeben wurde. In der GutenbergGalaxis von 1962 hat McLuhan mit Riesmans The Lonely Crowd kritisch auseinandergesetzt. In Masse und Macht wird dagegen über The Lonely Crowd nicht referiert, aber Canetti besaß dieses englische Originalbuch. Vgl. den Spezialkatalog der Canetti-Bibliothek im Nachlass der Zentralbibliothek Zürich. Zur Bedeutung der Untersuchung Riesmans für den Diskurs von Massenmedien vgl. C. Bartz: MassenMedium Fernsehen. Die Semantik der Masse in der Medienbeschreibung, S. 227-241: C. Borch: The Politics of Crowds, S. 225-230. Aufgrund von Riesmans Einsichten zum Wandel des sozialen Charakters hat Michael Gamper die Großstadtromane von Erich Kästner und Irmgard Keun in der Weimarer Republik analysiert. Vgl. M. Gamper: Masse lesen, Masse schreiben, S. 492-505. 13 P. Sloterdijk: Die Verachtung der Massen, S. 19. Hier bezieht er die »Medienmasse« explizit auf den Begriff der molekularen Masse von Deleuze und Guattari.

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und Paranoia […] umzuformulieren in eine Untersuchung über die Teilnahme zahlloser Einzelner an Massenmedienprogrammen«.14 Die »Medienmasse« scheint sich von der gewalttätigen, unbeherrschbaren und revolutionären Masse weit zu entfernen, die das herrschende System umzukehren versucht. Unter der »Umkehrungsmasse« (vgl. III, 65-70) versteht Canetti z.B. in der Französischen Revolution die aufständische Masse, die gegen die Bastille stürmte. Die einsame »Medienmasse« ist dagegen nicht im Stande, auf der Straße zu handeln und Gewalt anzuwenden. Der Nutzer der Massenmedien ist im Grunde unfähig, eine »Revolution« durchzuführen. In der Mediengesellschaft gebe es keine Möglichkeit der Revolution für die Masse mehr, beurteilte Sloterdijk: »Sie entfernt sich immer mehr von der Möglichkeit, aus ihren praktisch-trägen Routinen in eine revolutionäre Zuspitzung überzugehen.«15 Das Publikum der Massenmedien kann Nachrichten und Informationen nur passiv empfangen und nicht selber senden. Die Massen-Kommunikation ist durch diese Einseitigkeit der Sendemöglichkeit und Passivität der Empfänger geprägt. In seinem postum herausgegebenen Buch Kommunikologie (Umbruch der menschlichen Beziehungen?) hat Vilém Flusser die Struktur der Massenkommunikation als »Amphitheaterdiskurs« charakterisiert, der »die «kosmische Offenheit»‹« im weiten Raum besitzt.16 In der Struktur der Massenkommunikation erfolgt kein »Feedback« zwischen Sender und Empfänger: »Die Emp-

14 Ebd. Leider scheint er diesen Vorschlag in diesem Buch nicht genügend weiterzuentwickeln, da sich sein Hauptinteresse auf den historischen Wandel des Massenverständnisses als Gegenstand der »Verachtung« richtet und sich sein Bezug auf Canetti fast auf das erste Kapitel seines Buches beschränkt. Sloterdijk greift in seiner Trilogie Sphären noch einmal den Masse-Begriff auf. Dort führt er »Schäume« als einen neuen Begriff für das Kollektiv ein, das durch »Masse« ersetzt werden sollte. Dabei verweist er auf »die Unterscheidung zwischen den molaren und den molekularen Mengen« von Deleuze und Guttari, die ihrerseits Canettis Masse-Begriff umformulieren. Vgl. Sloterdijk, Peter: Sphären. Plurale Sphärologie. Band III. Schäume, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2004, besonders S. 605 (Anm.). 15 P. Sloterdijk: Die Verachtung der Massen, S. 17f. 16 V. Flusser: Kommunikologie, S. 27-29. Nach dem editorischen Nachwort wurde der Text Umbruch der menschlichen Beziehungen? in den Jahren 1973-74 geschrieben.

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fänger («die Masse») werden zu Informationskonserven: sie können nichts als empfangen. Sie sind jeder Rücksendung unfähig: sie verfügen über keine Sendekanäle. Jede Verantwortung und «Revolution» ist in dieser Struktur ausgeschlossen […].« 17 Die für unsere Lage charakteristische »Synchronisation von technisch hochentwickelten Amphitheaterdiskursen mit archaisch gebliebenen, aber immer besser bearbeitbaren Netzdialogen« sieht Flusser als apokalyptische Gefahr »eine totalitäre Entpolitisierung bei scheinbar allgemeiner Partizipation«.18 In den 1960er Jahren hat auch Günther Anders, Technik- und Medienphilosoph, die Mediennutzer, die vor dem Apparat zu Hause isoliert sitzen, als »Masseneremiten« bezeichnet und formuliert: »Da die Masseneremiten nicht mehr zusammenkommen, mindestens nicht mehr zusammenzukommen brauchen, sind sie durchweg harmlos, durchweg passiv, durchweg unrevolutionär.«19 Die Masse ist inzwischen »unsichtbar« geworden. Es ist interessant, dass einige Forschungen über Masse und Macht zufälligerweise ihre Aufmerksamkeit auf den Begriff »die unsichtbare Masse« richten, um die isolierte »Medienmasse« zu behandeln,20 obwohl sich die Analyse von Massenmedien in Masse und Macht, wie oben erwähnt, auf das Zeitungspublikum als »Hetzmasse« beschränkt. Canetti erörtert die unsichtbaren Massen wie Tote, Heilige, Dämonen oder Bazillenmassen, die nur in der Vorstellung bzw. Einbildung von Menschen existieren oder die man mit dem bloßen Auge nicht sehen kann. Die »Medienmasse« gehört gerade zu solchen Massen, die sich nicht in einem bestimmten Raum körperlich und sichtbar

17 Ebd., S. 28. 18 Ebd., S. 34. 19 G. Anders: Die Antiquiertheit des Menschen. Band II, S. 90. Er beschreibt anschließend, dass »das Reproduktionszeitalter das grundsätzlich unrevolutionäre Zeitalter ist«. 20 Vgl. E. Subirats: »Die elektronische Masse«, in: Krüger, Einladung zur Verwandlung. Essays zu Elias Canettis Masse und Macht (1995), S. 499; K. Theweleit: »Canettis Masse-Begriff: Verschwinden der Masse? Masse & Serie«, in: Ghosts. Drei leicht inkorrekte Vorträge (1998), S. 173; E. McLuhan: »Die Anatomie der elektrischen Masse«, in: Pattillo-Hess/Smole, Masse und Macht im globalen Dorf (1999), S. 11; S. Lüdemann: »Unsichtbare Massen«, in: MünzKoenen/Schäffner, Masse und Medium: Verschiebungen in der Ordnung des Wissens und der Ort der Literatur 1800/2000 (2002), S. 81-91.

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manifestieren. Wie Sloterdijk formuliert hat, ist man »jetzt Masse, ohne die anderen zu sehen«. Die Sender der Information können die Empfänger auch nicht sehen. In der Massenkommunikation sind nur die Kanäle zwischen Sender und Empfänger sichtbar.21 Der Schauplatz der gegenwärtigen Masse ist also im unsichtbaren, virtuellen Raum. Aber ist die Masse in der Wirklichkeit unreal und »unrevolutionär« geworden? Kann die Menschenmasse in dem Medienzeitalter als »antiquiert« bezeichnet werden? Man kann feststellen, dass die wirklichen »Versammlungs- und Auflaufmassen« nach dem Erscheinen von Masse und Macht noch aktuell bleiben. Sie büßen die Bedeutung auch in der westlichen Welt nicht ein. Nach dem Erscheinen von Canettis Lebenswerk gab es die Studentenrevolte des 1968-Jahres oder den Mauerfall in Berlin, die noch die Aktualität und die Kraft der wirklichen Menschenmassen bewiesen haben.22 Überall in der Welt kann man auch nach dem Zweiten Weltkrieg friedliche oder gewaltsame Massenaktionen beobachten, wie sie Canetti selber in den 1920er Jahren in Deutschland und Österreich erfahren hat. Die Medien tragen immer dazu bei, die Massenaufläufe zu mobilisieren und zu kanalisieren. Wer die wirkliche Demonstration organisieren oder aufhetzen möchte, ist auf die elektronischen Medien angewiesen, und wer die Massendemonstration oder die Massenveranstaltung in der Live-Sendung von Medien sieht, möchte sich daran beteiligen.23 Deswegen ist es für die Macht un-

21 Vgl. V. Flusser: Kommunikologie, S. 28. 22 In den späten 1980er Jahren bemühte sich Canetti, durch »Zeitungen« von den Massenbewegungen in Osteuropa zu erfahren: »›Ich habe in all den vergangenen Wochen an nichts anderes denken können, täglich ein Dutzend Zeitungen in den verschiedenen europäischen Sprachen gelesen, scharf auf die kleinsten Züge gemerkt, die sich in diesem oder jenem Bericht fanden und natürlich zu bestimmen versucht, was sich von meinen früheren Gedanken über Massen erhärtet hat und was neu und dann erst noch zu begreifen bleibt. Seit meiner Jugend habe ich kein so starkes Lebensgefühl mehr gehabt mit auch soviel Hoffnung.‹« Zitiert nach S. Hanuschek: Elias Canetti, S. 670. 23 Manfred Schneider hat die Macht des Bildes im Fernsehschirme so formuliert: »Nie wäre die Bastille gestürmt worden, wenn am 14. Juli 1789 ein Europapokalendspiel zwischen St. Germain und AC Mailand ausgestrahlt worden wäre. Allerdings hätte eine Live-Übertragung des Bastillesturms noch mehr Teilnehmer angezogen. Das Bild sehen, im Bild erscheinen: Das ist Partizipation an der

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verzichtbar, das Bild von Massen zu kontrollieren, weil es die Anziehungskraft auf das Publikum ausübt. Die Live-Sendung, in deren die Massendemonstration auf dem Platz bzw. der Straße erscheint, erweckt den Eindruck, dass die Gesellschaft gerade instabil ist und ins Wanken gerät. Für die politische Macht, die auch mit der Macht des Bildes vertraut ist, geht es nicht nur um die Verwaltung von realen Massen, sondern um die Kontrolle der Bilder von Massen, die in der Zeitung oder im Fernsehen auftreten. Es lässt sich sagen, dass die »wirkliche« Masse und die »Medienmasse« auf diese komplexe Weise koexistieren und sich gegenseitig beeinflussen. Wie die Kamera die Massenbewegung sichtbar machen kann, haben Theoretiker wie Béla Balázs oder Walter Benjamin bereits in der Weimarer Republik in den 1920er und -30er Jahren bemerkt. Der Film stellt im Grunde ein adäquates Medium dafür dar, die »Physiognomie« der Masse darzustellen.24 Nach Balázs hat der Film erst es ermöglicht, mit der Großaufnahme »das Mienenspiel des Massengesichtes« bzw. Einzelmenschen in der Menschenmasse wahrnehmbar zu machen.25 In einer Anmerkung von Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit hat auch Benjamin ermittelt, »daß Massenbewegungen, und so auch der Krieg, eine der Apparatur besonders entgegenkommende

Macht.« Schneider, Manfred: Der Barbar. Endzeitstimmung und Kulturrecycling, München/Wien: Carl Hanser 1997, S. 185. 24 Vgl. Balázs, Béla: Der sichtbare Mensch oder die Kultur des Films. Mit einem Nachwort von Helmut H. Diederichs und zeitgenössischen Rezensionen von Robert Musil, Andor Kraszna-Krausz, Siegfried Kracauer und Erich Kästner, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2001, S. 54. 25 Ebd., S. 55. Benjamin hat auch in seinem Baudelaire-Aufsatz Das Paris des Second Empire bei Baudelaire die Eroberung des »Inkognitos« in der großstädtischen Menschenmasse durch die Aufnahmetechnik wie Kamera erwähnt. Vgl. W. Benjamin: »Das Paris des Second Empire bei Baudelaire«, in: Gesammelte Schriften I.2 (2015), S. 550. Zur Identifizierung und Zurechnungsfähigkeit in der Masse vgl. Friedrich, Peter: »Masse und Recht. Zur Geschichte strafrechtlicher Verantwortlichkeit bei Massendelikten«, in: Michael Niehaus/Hans-Walter Schmidt-Hannsia (Hg.), Unzurechnungsfähigkeiten. Diskursivierungen unfreier Bewusstseinszustände seit dem 18. Jahrhundert, Frankfurt a.M. u.a.: Peter Lang 1998, S. 17-56, hier S. 20 (Anm.).

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Form des menschlichen Verhaltens darstellen«.26 So hat die Menschenmasse im klassischen Film eine dominante Rolle gespielt:27 PANZERKREUZER POTEMKIN von 1925 von Sergei Eisenstein hat die revolutionäre Masse als Hauptdarsteller des Films gewählt, wie Benjamin selber dessen Bedeutung erkannt hat.28 Im späteren Film TRIUMPH DES WILLENS von 1934 von Leni Riefenstahl wird dagegen die organisierte, totalitäre Menschenmasse präsentiert, die dem einzigen Führer Hitler gehorcht.29 Aber man muss noch in präziser Weise feststellen, wie genau die Masse als räumlich versammelte dichte Menschenansammlung mit der verstreuten, unsichtbaren »Medienmasse« aus der diskursgeschichtlichen Sicht zusammenhängt. Sloterdijk stellt »die klassisch-moderne versammelte schwarze Masse« »der post-modernen mediatisierten, aufgesplitterten bunten Masse«30 gegenüber. Diese Gegenüberstellung zweier Massenerscheinun-

26 »Der massenweisen Reproduktion kommt die Reproduktion von Massen besonders entgegen. In den großen Festaufzügen, den Monstreversammlungen, in den Massenveranstaltungen sportlicher Art und im Krieg, die heute sämtlich der Aufnahmeapparatur zugeführt werden, sieht die Masse sich selbst ins Gesicht. Dieser Vorgang, dessen Tragweite keiner Betonung bedarf, hängt auf engste mit der Entwicklung der Reproduktions- bzw. Aufnahmetechnik zusammen. Massenbewegungen stellen sich im allgemeinen der Apparatur deutlicher dar als dem Blick. Kaders von Hunderttausenden lassen sich von der Vogelperspektive aus am besten erfassen.« W. Benjamin: »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit«, in: Gesammelte Schriften. I.2 (2015), S. 506 (Anm.). 27 Hanuschek hat vorgestellt, dass Canetti vor dem Exil nach England die eigene Filmtheorie und Filmkritik skizzierte: »Fluidität des Mythischen im Allgemeinen« ist »[…] im Film bildliche Wirklichkeit geworden.« Canetti sprach auch vom »Massenfilm«. S. Hanuschek: Elias Canetti, S. 307f. Canetti hat jedoch die Filmtheorie nicht weiterentwickelt. 28 Vgl. W. Benjamin: »Erwiderung an Oscar A. H. Schmitz«, in: Gesammelte Schriften II.2 (2015), S. 753f. 29 Vgl. S. Kracauer: Von Caligari zu Hitler, S. 339f. Dazu auch vgl. das erste Kapitel der vorliegenden Arbeit. 30 P. Sloterdijk: Die Verachtung der Massen, S. 20. »Will man die Differenz zwischen dem Zeitalter Canettis und der Gegenwart auf einen Begriff bringen, so ließe sich sagen: Weil heute die Masse über das Stadium ihrer Versammlungsfä-

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gen ist jedoch seit der Debatte der Masse um 1900 von den beiden französischen Schriftstellern und Soziologen Gustave Le Bon und Gabriel Tarde immer wiederholt worden. Im Gegensatz zur berühmten Formel »das Z e i t a l t e r d e r M a s s e n «31, von der Le Bon in seinem 1895 erschienen Buch Psychologie des foules (dt. Psychologie der Massen) sprach, bestimmte Gabriel Tarde in L’Opinion et la foule (dt. Masse und Meinung) von 1901 die Epoche als »das Zeitalter des Publikums oder der Publika«32, die im Wesentlichen die Leserschaft der Zeitungen und Zeitschriften ausmachen. Er hat der »verstreuten Masse«, die durch die Presse unter Fernwirkung steht, eine größere Bedeutung zugemessen und behauptet, dass »die Psychologie des Publikums« »als rein geistiges Kollektiv, als räumliche Verteilung physisch voneinander getrennter Individuen, deren Zusammenhalt ein rein psychischer ist«33, untersucht werden sollte. Dabei stellt die Presse individuelle Gespräche und Meinung von verstreuten Massen zusammen und verwandelt sie in eine gesellschaftliche Meinung.34 Er erkannte, dass »eine radikale Verwandlung der modernen Gesellschaften« durch die Umorganisierung von Massen und Medien im Sinne von Sloter-

higkeit hinaus ist, hat das Programm-Prinzip das Führer-Prinzip ersetzen müssen.« 31 Le Bon, Gustave: Psychologie der Massen. Autorisierte Übersetzung von Rudolf Eisler. Bearbeitet von Rudolf Marx. Mit einer Einführung von Peter R. Hofstätter, Stuttgart: Alfred Kröner 1982, S. 2. 32 Tarde, Gabriel: Masse und Meinung. Übersetzt von Horst Brühmann, Konstanz: Konstanz University Press 2015, S. 17. Michael Gamper fasst diese Paradigmenverschiebung durch Tarde zusammen. M. Gamper: Masse lesen, Masse schreiben, S. 478: »›Öffentlichkeit‹ hat Tarde als ein historisch und medientechnisch spezifiziertes Phänomen betrachtet, das erst durch die Erfindung des Buchdrucks möglich geworden sei.« Auch Thomas Hecken hat auf diesen medialen Wandel der Masse aufmerksam gemacht, indem er auf Tarde verweist. Barbarische, revolutionäre Massen sieht man jetzt »nicht nur in der großen Stadt räumlich zusammengebracht, sondern ebenfalls auf ganz andere – gefährlichere, da stabilere, kontinuierlichere – Art und Weise durch Medien (hier: durch auflagenstarke Tageszeitungen) ›versammelt‹«. Hecken, Thomas: Populäre Kultur. Mit einem Anhang ›Girl und Popkultur‹, Bochum: Posth 2006, S. 37f. 33 G. Tarde: Masse und Meinung, S. 9. 34 Vgl. ebd., S. 63.

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dijk bereits seit langem in Gang gewesen war. Tarde versuchte das »Publikum« von der direkten Menschenmasse begrifflich strikt zu unterscheiden, indem er die Rolle der Medien und Technik betonte: »Ein Publikum hingegen kann sich unbegrenzt erweitern, und da es um so lebendiger und lebhafter wird, je weiter es sich ausdehnt, läßt sich nicht leugnen, daß es die soziale Gruppe der Zukunft darstellt. So entstand durch das Zusammenwirken dreier einander ergänzender Erfindungen – Buchdruck, Eisenbahn und Telegraph – die ungeheure Macht der Presse, dieses erstaunliche Telephon, das das alte Auditorium der Rhetoren und Prediger ins Unermeßliche vergrößert hat.«35

Da es um 1900 weder Rundfunk noch Fernsehen als Massenmedien gab, bedeuteten für Tarde Medien, die die Öffentlichkeit des Publikums konstituierten, die Printmedien wie Tageszeitung, Zeitschrift und Broschüre, die seit der Etablierung der Buchdrucktechnologie von Gutenberg zunehmend als Massenartikel produziert wurden. Obwohl Tarde das Wort »Telephon« metaphorisch benutzt hat, basierte das »Publikum als eine virtuelle Masse«36 also im Grunde damals noch auf der Gutenberg-Galaxis, der das Prinzip der Wiederholung, Homogenisierung und Vereinheitlichung innewohnt.

35 Ebd., S. 17. Auch dazu vgl. M. Gamper: Masse lesen, Masse schreiben, S. 483f. Zur weiteren begrifflichen Unterscheidung von Population, Masse und Publikum von der Massentheorie der Jahrhundertwende um 1900 bis zur Theorie Luhmanns und Foucaults in der Nachkriegszeit des 20. Jahrhunderts vgl. Stäheli, Urs: »Der Aufstand der Populationen«, in: Lüdemann/Hebekus, Massenfassungen. Beiträge zur Diskurs- und Mediengeschichte der Menschenmenge (2010), S. 43-64. 36 G. Tarde: Masse und Meinung, S. 18. Zufolge Stäheli sind jedoch beide Begriffe von Masse und Publikum unauflösbar: »Das Publikum als virtuelle Masse, als Möglichkeit für ein Phänomen, welches die Semantik des Publikums eigentlich überwunden zu haben glaubt, bleibt eine stetige Gefahr, einem schlummernden Vulkan ähnlich, der plötzlich ausbrechen könnte […]. Mit Tarde wird deutlich, dass die ›Ära des Publikums‹ auf der prekären Grenzziehung zwischen dem Publikum und der Masse beruht, die gerade deshalb so prekär ist, weil das Publikum stets von der virtualisierten Masse begleitet wird.« U. Stäheli: »Der Aufstand der Populationen«, in: Lüdemann/Hebekus, Massenfassungen. Beiträge zur Diskurs- und Mediengeschichte der Menschenmenge (2010), S. 59.

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Nach McLuhan: »Die Drucktechnologie erzeugte die Öffentlichkeit [the public].«37 Diesen Paradigmenwechsel von der räumlich und flüchtig zusammengeballten Menschenmasse zur Geburt des durchschnittlichen, isolierten Massenmenschen hat der spanische Philosoph und Kulturkritiker José Ortega y Gasset in seinem einflussreichen Buch La rebelión de las masas (dt. Der Aufstand der Massen) von 1930 vorangetrieben, ohne jedoch die Medien in den Vordergrund zu rücken. Indem er die Masse von der Menge begrifflich unterscheidet, definiert er jene nicht quantitativ, sondern qualitativ: »Masse ist der Durchschnittsmensch.«38 Ob man nun Mitglied der Masse ist, ist unabhängig davon, ob man sich als »Arbeitermassen« der Demonstration auf der Straße anschließt: »Strenggenommen läßt sich das Masse-sein als psychische Tatsache definieren, ohne daß dazu die Individuen in Mengen auftreten müßten. Man kann von einer einzigen Person wissen, ob sie Masse ist oder nicht. Masse ist jeder, der sich nicht selbst aus besonderen Gründen – im Guten oder im Bösen – einen besonderen Wert beimißt, sondern sich schlechtweg für Durchschnitt hält, und dem doch nicht schaudert, der sich in seiner Haut wohl fühlt, wenn er merkt, daß er ist wie alle.«39

Die Masse stellt nun nicht die momentane, akute Erscheinung, sondern den normalen Zustand in der Gesellschaft dar, zu der auch Eliten und Spezialisten gehören. Unter der Masse versteht Ortega nicht eine bestimmte Klasse wie die Arbeiter, sondern eine »Menschenart«, die in allen Schichten der modernen Gesellschaft beobachtet werden kann.40 Der Experte verfügt nur im kleinen, beschränkten Teil der Wissenschaft über besonderes, spezifi-

37 M. McLuhan/Q. Fiore: Das Medium ist die Massage, S. 68. Er setzt fort: »Die elektronische Technologie erzeugte die Masse [the mass].« Vgl. McLuhan, Marshall/Fiore, Quentin: The Medium is the Massage, Berkeley: Gingko Press 2001, S. 68. Zu den Eigenschaften der Gutenberg-Galaxis vgl. auch das erste Kapitel der vorliegenden Arbeit. 38 Ortega y Gasset, José: Der Aufstand der Massen. Autorisierte Übersetzung aus dem Spanischen von Helene Weyl. Mit einem Nachwort von Michael Stürmer, München: Deutsche Verlags-Anstalt 2007, S. 8. 39 Ebd., S. 9. 40 Vgl. ebd., S. 113. Auch vgl. C. Borch: The Politics of Crowds, S. 165-173.

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sches Wissen und ist in sonstigen Bereichen und im Alltagsleben nichts anders als »Durchschnittsmensch«. 41 Insofern ist z.B. der Romanheld der Blendung Peter Kien, der als Sinologie auf sein Spezialgebiet beharrt und sich von der Menschenmasse fernzuhalten versucht, auch ein »Massenmensch«.42 Ortega erweitert und aktualisiert den Masse-Begriff zur Charakterisierung der modernen Gesellschaft, in der der durchschnittliche Massenmenschentyp dominiert. Sein Buch markiert die Umwandlung von der »Menschenmasse« zum »Massenmenschen«, der die Massengesellschaft und Massenkultur ausmacht. Der nivellierte Durchschnittsmensch ist ersetzbar und besitzt keine besonderen Eigenschaften.43 Die Geburt dieses Massenmenschen ist ohne neue Massenmedien undenkbar. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde die GutenbergGalaxis von der »neue[n] elektrische[n] Galaxis«44 allmählich abgelöst. Die erste Sendung eines Rundfunkprogramms in Deutschland geschieht im Jahr 1923. Wie im zweiten Kapitel bemerkt wurde, versuchte der Nationalsozialismus die Masse der Radiohörer effektiv zu organisieren, um »horchende Menschen zu gehorchenden zu machen« 45 . Was das Fernsehen betrifft, wurde es bereits in den 1920er und -30er Jahren entwickelt und zum Teil praktiziert, aber es erlangte als Leitmedium erst ab 1950 ein breites Publikum. McLuhan grenzt die Öffentlichkeit (the public) in der GutenbergGalaxis vom Massenpublikum (the mass audience) ab, das durch elektronische Medien entsteht und geformt wird: »Die Öffentlichkeit im Sinne eines großen Konsenses von einzelnen, unterschiedlichen Standpunkten hat aus-

41 Vgl. J. Ortega: Der Aufstand der Massen, S. 117f. Flusser hat den Stand des Spezialisten im Massen-Medienzeitalter im Folgenden formuliert: »Der Spezialist ist nur elitär, solange er innerhalb seines Spezialgebietes kommuniziert; ansonsten gehört er zur Masse.« V. Flusser: Kommunikologie, S. 64. 42 Zu dem Sinologen Peter Kien in der Blendung vgl. das erste Kapitel der vorliegenden Arbeit. 43 Vgl. M. Horkheimer/T. W. Adorno: Dialektik der Aufklärung, S. 154: »Die Kulturindustrie hat den Menschen als Gattungswesen hämisch verwirklicht. Jeder ist nur noch, wodurch er jeden anderen ersetzen kann: fungibel, ein Exemplar.« 44 M. McLuhan: Die Gutenberg-Galaxis, S. 362. 45 Hörisch, Jochen: Eine Geschichte der Medien. Von der Oblate zum Internet, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2004, S. 341. Zum Überblick über die Entwicklungsgeschichte des Radios vgl. ebd., S. 332.

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gedient. Heute kann das Massenpublikum (Nachfolger der ›Öffentlichkeit‹) als kreative, teilhabende Kraft eingesetzt werden.«46 Für McLuhan basiert die »Öffentlichkeit« auf der nivellierenden Buchdruckkultur der Gutenberg-Galaxis, während das »Massenpublikum« der elektronischen Medien »eine schöpferische, anteilnehmende Kraft« hervorbringt. Im Artikel Die Antiquiertheit der Masse von Günther Anders, der ein Jahr später nach dem Erscheinen von Canettis Masse und Macht geschrieben und im zweiten Band der Antiquiertheit des Menschen aufgenommen wurde, kann man die Gegenüberstellung zwischen der substantiellen, physischen Menschenmasse und dem virtuellen, dispersen Massenpublikum wieder finden, und Anders plädiert für die Aktualität der letzteren Massenform im Hinblick auf die elektronischen Massenmedien: »Da die Masse von Individuen (die Le Bon geschildert hatte und die in der Revolution von 1917 noch Wirklichkeit gewesen war) von der (durch die Massenmedien hergestellten) Massenhaftigkeit der Individuen abgelöst worden ist, dürfen wir also von einer ›Antiquiertheit der Masse‹ sprechen.«47 Wenn er sagt, dass die Masse, »eben als ›Massenhaftigkeit‹, eine Qualität von Millionen Einzelnen geworden« 48 ist, wiederholt er unabsichtlich Ortegas Diagnose über den Massenmenschen, der sich nicht mehr zusammenzuballen braucht. Aber anders als Ortega behält Günther Anders die Funktion der elektronischen Massenmedien stets im Blickfeld. Laut ihm führt der moderne Mensch, der an ein Mediengerät gekoppelt ist, eine »räumliche Doppelexistenz«, weil »der Raum, den wir durch die Medien empfangen, mit dem Raum, in dem wir uns effektiv aufhalten, niemals identisch oder koextensiv ist«.49 Der Massenmensch kann mittels der elektronischen Medien gleichzeitig überall sein, statt sich an einem bestimmten, öffentlichen Ort zu versammeln. Das Massenpublikum der elektronischen Medien wird durch diese gespaltene, simultane Doppelexistenz geprägt, die sich von der körperlichen Versammlung der Menschenmenge befreit.

46 M. McLuhan/Q. Fiore: Das Medium ist die Massage, S. 22. Nach McLuhan überlappt das »Massenpublikum« von Fernsehen qualitativ mehr die reale Menschenmasse als die »Öffentlichkeit«, die hauptsächlich aus Lesern von Printmedien besteht. Das wird später noch behandelt. 47 G. Anders: Die Antiquiertheit des Menschen. Band II, S. 87f. 48 Ebd., S. 81. 49 Ebd., S. 85.

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3.2 S IMULTANEITÄT

DER IM ELEKTRONISCHEN

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In der neueren Medientheorie wird die Überwindung von Raum und Zeit durch elektrotechnische Innovationen immer wieder thematisiert. Mittels Massenmedien wie Radio und Fernsehen oder Kommunikationsmittel wie dem Telefon kann die geographische Distanz aufgehoben werden. Alle Ereignisse, die sich in anderen fernen Ländern abspielen, werden durch neue Kommunikationstechniken weltweit in Echtzeit übertragen, und man kann unabhängig von der Distanz miteinander kommunizieren, als befände man sich im selben Raum. Vereinfacht und metaphorisch dargestellt: In Verbindung mit der Medientechnik kann man gleichzeitig überall und überall gleichzeitig sein. Vilém Flusser hat in Kommunikologie erklärt, dass die »Synchronizität aller Ereignisse und Reaktionen«51 ein Resultat der radikalen Veränderung der gegenwärtigen Kommunikationsstruktur darstelle: »Daß die gegenwärtige Synchronisation von Massenmedien und Konsensus sowohl die Zeit als auch den Raum «überwunden» hat, ist nur ein Aspekt dieser radikalen Neuerung. Dank dieser Entwicklung gehen alle Ereignisse auf der Welt überall gleichzeig vor sich und erzeugen überall gleichzeitig die gleiche Meinung. Überall können gleichzeitig angeblich bereits vergangene Ereignisse ins «Gedächtnis zurückgerufen» werden und provozieren dann überall gleichzeitig die gleiche Reaktion.«52

Für Flusser ist es noch wichtiger, dass diese Synchronisation aller Ereignisse und Reaktionen und damit die Aufhebung von Raum und Zeit vor allem durch »eine radikal neue Form von Codes«, »nämlich durch Technobil-

50 Im Folgenden möchte ich das Hauptargument meines veröffentlichten Aufsatzes wiederholen und bearbeiten, der die Simultaneität bei McLuhan behandelt. Vgl. Verf.: »Koexistenz absoluter Uneinigkeiten im globalen Dorf. Zur Konzeption der Simultaneität bei Marshall McLuhan«, in: Hamazaki/Ivanovic, Simultaneität – Übersetzen (2013). Zur Simultaneität auch vgl. das zweite Kapitel der vorliegenden Arbeit. 51 V. Flusser: Kommunikologie, S. 48. 52 Ebd.

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der«53 verwirklicht wird, zu denen u.a. Fotografien, Filme und Fernsehbilder gehören. Diese Synchronisierung der Welt durch die Technobilder besonders der Massenmedien führe zu »einer neuen Daseinsform«54, in der man zugleich überall sein und zur gleichen Zeit die gleichen Informationen empfangen kann. Die durch die Medientechnik synchronisierte Allgegenwärtigkeit kann jedoch leicht in ihr Gegenteil umschlagen. Das gleichzeitige Überall-Sein ist Kehrseite des Nirgendwo-Seins. In diesem Zusammenhang bezieht Günther Anders in Die Antiquiertheit des Menschen den Zustand von »ubique simul« auf die Zerstreuung, die im Grunde das Bewusstsein des modernen Menschen charakterisiere: »Was die (gewöhnlich viel zu ›zerstreut‹, nämlich nur als Metapher verstandene) ›Zerstreuung‹ bezweckte, war, die Menschen ihrer Individuation zu entkleiden, genauer: ihnen das Bewußtsein dieses Verlustes zu nehmen; und zwar dadurch, daß sie ihnen ihr principium individuationis: ihre Raumstelle nahm; sie also in eine Lage zu versetzen, in der sie, ubique simul, immer auch anderswo, keinen bestimmten Punkt mehr einnahmen, und sich niemals bei sich, niemals bei einer Sache, kurz: nirgendwo befanden.«55

Die durch die Medien künstlich erzeugte »Omnipräsenz«56 wird hier dem Prinzip der Individuation entgegengesetzt, die als Unteilbares einen bestimmten Platz einnehmen muss. Der moderne Mensch lebt sozusagen eine »räumliche Doppelexistenz«, die Anders im zweiten Band seines Werks in charakteristischer Weise als »Schizotopie« bezeichnet, weil »wir immer zugleich ›da‹ und ›entrückt‹ sind.«57 Das Individuum wird nun – mindestens auf der Ebene des Bewusstseins – zerstreut und teilbar.58 Mit der Er-

53 Ebd., S. 49. 54 Ebd. 55 Anders, Günther: Die Antiquiertheit des Menschen. Band I. Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution, München: C. H. Beck 2010, S. 136. 56 Ebd., S. 137. 57 G. Anders: Die Antiquiertheit des Menschen. Band II, S. 85. 58 Zur »Zerstreuungstechnik« und »Zerstreutheit« des modernen Menschen vgl. G. Anders: Die Antiquiertheit des Menschen. Band I, S. 137-141. Auch zur weiteren medientheoretischen Diskussion über die Zerstreuung vgl. M. Schneider:

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findung und Verbreitung neuer Medien werden die Grenze zwischen der »Außenwelt« und dem »Zuhause« und der Unterschied zwischen »öffentlich« und »privat« immer undeutlicher.59 Für den modernen Menschen, der sich mit Medien umgibt, ist bezeichnend, dass er sich »überall und immer zuhause«60 befindet. Mit Sloterdijks Worten ist er »als Individuum Masse«. Die simultane parallele Doppelexistenz ist also ein wichtiges Merkmal im globalen Netzwerk der Mediengesellschaft. Ähnliche Überlegungen über die durch die Medien hergestellte Simultaneität kann man nun auch bei Marshall McLuhan finden. Sein Interesse richtet sich konkret auf die Eigenschaften von Elektrizität, die die totale Gleichzeitigkeit und die Unmittelbarkeit technisch ermöglichen: »Die elektrischen Medien beeinflussen Informationen und Menschen mit der Geschwindigkeit des Lichtes. Diese sofort wirkende und totale Qualität ist es, die den Zustand des Massenmenschen und der Massengesellschaft charakterisiert, eine Wirkung, die nicht so sehr durch die Größe als vielmehr durch die Schnelligkeit der Erfassung und Umfassung eintritt. Ferner besteht die verborgene Dimension aller elektrischen Medien, ob Telefon, Fernsehen oder Rundfunk, darin, daß der Sendende gesendet wird. Wenn man am Telefon ist oder in einer Sendung auftritt, dann kann man zur gleichen Zeit irgendwo und überall sein.«61

Seine metaphorische Aussage verlangt eine Erklärung. Durch die elektrischen Medien wird nicht der »Sendende« selber gesendet, sondern die Stimme oder das Bild oder die Schrift werden als Nachricht bzw. Informa-

»Kollekten des Geistes. Die Zerstreuung im Visier der Kulturkritik«, in: Neue Rundschau. 110. Jahrgang Heft2 (1999). 59 G. Anders: Die Antiquiertheit des Menschen. Band II, S. 83-88. Zur Veränderung des »Ortssinns« durch elektronische Medien vgl. Meyrowitz, Joshua: Die Fernseh-Gesellschaft. Wirklichkeit und Identität im Medienzeitalter. Übersetzt von Michaela Huber, Weinheim/Basel: Beltz 1987. 60 G. Anders: Die Antiquiertheit des Menschen. Band II, S. 86. 61 M. McLuhan: »Die Gewalt der Medien«, in: Wohin steuert die Welt? Massenmedien und Gesellschaftsstruktur (1978), S. 136. Zur Simultaneität in der elektrischen Masse auch vgl. E. McLuhan: »Die Anatomie der elektrischen Masse«, in: Pattillo-Hess/Smole, Masse und Macht im globalen Dorf (1999), S. 11.

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tion übertragen.62 Wichtig ist, dass Übertragung und Kommunikation trotz der Distanz in einem Augenblick erfolgen können: »Die instantane Welt der elektronischen Informationsmedien bezieht uns alle mit ein, alle auf einmal. Keine Distanz, kein Rahmen!«63 Diese simultane Übertragung und Vermittlung der elektrischen Medien, die nach McLuhan gerade das »globale Dorf« (Global Village) realisieren, sind traditionellen Printmedien verschlossen. Es ist die Geschwindigkeit der Elektrizität, die die Simultaneität und das »globale Dorf« ermöglicht. Nicht nur die Medientechnik bedarf der Elektrizität. Die wesentlichen Infrastrukturen im modernen Leben beruhen auf dem Stromnetz, das ebenfalls »die Schnelligkeit der Erfassung und Umfassung« charakterisiert. Hier geht es auch um die Macht der Geschwindigkeit, die Canetti in Masse und Macht problematisiert. Der Mensch hatte von alters her eine Begierde nach der Geschwindigkeit: In Urzeiten waren die Tiere oder der Blitz das Vorbild der Geschwindigkeit für den Menschen (vgl. III, 335-337). Aber erst im technischen Zeitalter hat man die ideale Geschwindigkeit erreicht: »Die physische Geschwindigkeit als Eigenschaft der Macht hat sich seither in jeder Weise gesteigert. Es erübrigt sich, auf ihre Wirkungen in unserem technischen Zeitalter einzugehen.« (III, 336f.) Hier macht Canetti nochmals explizit deutlich, dass er nicht an Medientechnologie, sondern an Macht-Anthropologie interessiert ist. Aber die Geschwindigkeit betrifft nicht nur die Macht; bemerkenswert ist, dass die Geschwindigkeit auch »den Zustand des Massenmenschen und der Massengesellschaft« im modernen Leben bestimmt.64 In Der Aufstand der Massen von 1930 hat Ortega y Gasset bereits das »Wachstum des Lebens« im Zeitalter der Herrschaft der Massen thematisiert. Das Leben des Massenmenschen hat sich auf den ganzen Planeten ausgedehnt: »Nach dem physikalischen Gesetz, daß die Dinge da sind, wo sie wirken, müssen wir heute jedem Punkt des Globus die einflußreichste Allgegenwärtigkeit zugestehen. Diese Nähe des Fernen, diese Gegenwart des Abwesenden hat den Horizont jedes Lebens in fabelhaftem Ausmaße

62 Zur ausführlichen Definition der Nachricht vgl. G. Anders: Die Antiquiertheit des Menschen. Band I, S. 155-159. 63 M. McLuhan/Q. Fiore: Das Medium ist die Massage, S. 53. 64 Zur Problematik der Geschwindigkeit aus kulturwissenschaftlicher Perspektive vgl. Virilio, Paul: Geschwindigkeit und Politik. Ein Essay zur Dromologie. Übersetzt von Ronald Voullié, Berlin: Merve Verlag 1980.

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geweitet.« 65 »Der Aufstand der Massen« im Sinne von Ortega bedeutet nicht nur, dass die Masse »zur vollen sozialen Macht«66 gelangt und sich unendlich vermehrt, sondern dass sich das Leben einzelner Massenmenschen durch Technik weltweit und planetarisch verändert: »Indem wir Raum und Zeit aufheben, verlebendigen wir sie, nutzen wir sie vital aus. Wir können an mehr Orten sein als früher, Ankunft und Abreise öfter genießen und in kürzere kosmische Zeit mehr gelebte zusammendrängen.«67 Die Aufhebung von Raum und Zeit und »die Allgegenwärtigkeit« haben jedoch weniger mit Maschinen wie Flugzeug oder Eisenbahn zu tun, sondern mit elektronischen Medien, die Ortega zu seinen Lebzeiten noch kaum genug betrachten konnte. McLuhan hat die Simultaneität der Medien zuerst in Zusammenhang mit dem Konzept des globalen Dorfes problematisiert, das sich bereits in Die Gutenberg-Galaxis von 1962 findet. Diese Untersuchung behandelt eigentlich die Wirkungen und Konsequenzen der alphabetischen Schrift- und Buchkultur seit Gutenberg, die im 20. Jahrhundert von der neuen elektronischen Galaxis abgelöst wurde.68 Der Titel eines Kapitels in der GutenbergGalaxis lautet: »Die neue elektronische Interdependenz verwandelt die Welt in ein globales Dorf.«69 McLuhan behauptet, dass »die elektronischen Entdeckungen das simultane ›Feld‹ in allen menschlichen Bereichen wieder erstehen lassen, so daß die Menschenfamilie jetzt unter den Bedingungen eines ›globalen Dorfes‹ lebt.«70 McLuhan zufolge habe erst die elektronische Medientechnik »das simultane ›Feld‹ in allen menschlichen Bereichen« verwirklicht.71 Diesen Aspekt hat er in seinem zwei Jahre später erschienenen Buch Understanding Media weiterentwickelt, indem er die elektronischen Medien zum Hauptgegenstand der Untersuchung machte. Wie der Untertitel The Extensions of Man zeigt, betrachtet er die Medien als Ausweitungen des menschlichen Körpers. Der Mensch hat seinen Körper nach außen ausge-

65 J. Ortega: Der Aufstand der Massen, S. 35. 66 Ebd., S. 5. 67 Ebd., S. 36. 68 Zur Gutenberg-Galaxis vgl. das erste Kapitel der vorliegenden Arbeit. 69 M. McLuhan: Die Gutenberg-Galaxis, S. 41. 70 Ebd. Hier verweist er auch auf die Feldtheorie in der Physik. Ebd., S. 37-41. 71 Vgl. das zweite Kapitel der vorliegenden Arbeit.

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weitet, eine Entwicklung, die im elektronischen Zeitalter ihren Höhepunkt erreicht. Die »Explosion« als Ausweitung schlägt dann plötzlich in »Implosion« nach innen um: »Heute, nach mehr als einem Jahrhundert der Technik der Elektrizität, haben wir sogar das Zentralnervensystem zu einem weltumspannenden Netz ausgeweitet und damit, soweit es unseren Planeten betrifft, Raum und Zeit aufgehoben.«; »Elektrisch zusammengezogen ist die Welt nur mehr ein Dorf.«72 Glaubt man seiner berühmten Formel Das Medium ist die Botschaft (The Medium is the Message), dass nämlich jedes neue Medium oder jede neue Technik eine »Veränderung des Maßstabs, Tempos oder Schemas«73 im menschlichen Zusammenleben hervorbringe, besteht die Botschaft der elektrischen Medien gerade darin, Zeit und Raum aufzuheben und das simultane Feld überall zu schaffen.74 Die Botschaft der Elektrizität stellt unabhängig von ihren Verwendungszwecken oder Inhalten einen simultanen Effekt dar, wodurch die Menschen sofort und im globalen Ausmaß miteinander verbunden werden. 75 Die Simultaneität der elektronischen Masse stellt eine wichtige Bedingung für das globale Dorf dar, das nach McLuhan gerade das archaische Stammesleben wiederbelebt.

72 M. McLuhan: Die magischen Kanäle, S. 15, 17. 73 Ebd., S. 22f. 74 Dazu ausführlich vgl. ebd., S. 18f. McLuhan hat auf die formale und materielle Seite des Mediums aufmerksam gemacht. Er hat bemerkt, dass »der ›Inhalt‹ jedes Mediums immer ein anderes Medium ist« (ebd., S. 22). Wie der Inhalt des Buchdrucks die Schrift ist oder der Film früher das Grammophon benutzte, muss jedes neue Medium ein bereits vorhandenes altes Medium als Inhalt verwenden. Vgl. M. McLuhan: »Testen, bis die Schlösser nachgeben. Gespräch mit Gerald Emanuel Stearn«, in: Das Medium ist die Botschaft, S. 96f. Jedes Medium beinhaltet zugleich ein anderes Medium. Für Medien ist dieser »hybride« Charakter wesentlich. Vgl. M. McLuhan: Die magischen Kanäle, S. 84-95. 75 »Er [der elektrische Schaltkreis] hat den Dialog wiederhergestellt, und zwar im globalen Maßstab. Seine Botschaft heißt Totale Veränderung, die jeder psychischen, sozialen, ökonomischen und politischen Borniertheit ein Ende setzt.« M. McLuhan/Q. Fiore: Das Medium ist die Massage, S. 16.

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3.3 H OMOGENE UND HETEROGENE K OEXISTENZ DER M ASSEN IM GLOBALEN D ORF Sein Konzept zum globalen Dorf oszilliert zwischen beiden Polen: Harmonie und Chaos, Homogenität und Heterogenität.76 Einerseits spricht McLuhan oft von der Tendenz zur »nostalgische[n] Wiederbelebung des ganzheitlichen Menschen und ganzheitlicher Formen«77 im elektronischen Zeitalter. Das globale Dorf erweckt das Bild der utopischen oder reaktionären Welt, in der die einzige »Menschenfamilie« im friedlichen, einheitlichen Nebeneinander lebt. Diese überirdische Vorstellung hat sogar religiöse Charakterzüge angenommen. In der Tat war McLuhan ein frommer Katholik und der Katholizismus steht im Hintergrund seiner theoretischen Tätigkeiten.78 Das Bild des globalen Dorfes ist stark »katholisch« geprägt, und das Wort »katholisch« (griechisch. katholikós) bezeichnet ursprünglich »das Ganze«, »alle betreffend« oder »allgemein«.79 Wie Eduardo Subirats bereits problematisierte, 80 besitzt »die elektronische Masse« auch einige Merkmale, die für die katholische Masse gelten. In Masse und Macht hat Canetti die Beziehung zwischen »Katholizismus und Masse« behandelt:

76 Zur Beurteilung über das globale Dorf in der neueren McLuhan-Forschung vgl. C. Bohrer: Babel oder Pfingsten? Elektronische Medien in der Perspektive von Marshall McLuhan (2009), S. 151f. 77 M. McLuhan: »Die Gegenwart ist immer unsichtbar. Gespräch mit Eli Bronstein«, in: Das Medium ist die Botschaft, S. 117. 78 McLuhan als katholischer Intellektueller vgl. C. Bohrer: Babel oder Pfingsten? Elektronische Medien in der Perspektive von Marshall McLuhan, S. 74-76. 79 Duden. Das große Wörterbuch der deutschen Sprache. Band 4. 2., völlig neu bearbeitete und stark erweiterte Auflage, Mannheim u.a.: Duden 1994, S. 1823. Die Einsicht, dass die Situation der Masse im Medienzeitalter »katholisch« im Sinne von »allgemein« sei, findet sich auch bei Flusser, der von der Allgemeinheit der Technobilder spricht: »Wie die mittelalterliche Priesterkaste ist die gegenwärtige Masse von kosmischer Universalität und in diesem Sinn katholisch: sie verfügt überall auf der Welt über den gleichen Typ von Information, und diese Information ist überall gleich kodiert, nämlich in Technobildern.« V. Flusser: Kommunikologie, S. 63. 80 Vgl. E. Subirats: »Die elektronische Masse«, in: Krüger, Einladung zur Verwandlung. Essays zu Elias Canettis Masse und Macht (1995), S. 504.

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»Am Katholizismus fällt bei unvoreingenommener Betrachtung eine gewisse Langsamkeit und Ruhe auf, verbunden mit großer Breite. Sein Hauptanspruch, daß er für alle Platz hat, ist schon in seinem Namen enthalten.« (III, 182) Obwohl die katholische Kirche die Menschenmasse als stark hierarchisiert und damit kontrolliert (vgl. III, 183), teilt diese religiöse Masse mit der elektronischen Medienmasse die Eigenschaft der großen »Breite«, die »für alle Platz« schafft.81 Das ideale globale Dorf setzt sich aus inaktiven, harmlosen Massen zusammen, die sich weltweit verbreiten und damit einflussreich werden. Die Idee des globalen Dorfes ist bei McLuhan jedoch nicht konsequent. In seinen späten Texten ist die utopische, statische Seite des globalen Dorfes verschwunden. Er hat es vielmehr für den chaotischen Ort des Konflikts gehalten, in dem sich alles ineinander kompliziert verstrickt und alle Geschehnisse sofort alle betreffen können: »Unsere neue Umwelt zwingt uns zu Engagement und Teilnahme. Heute nehmen wir, ob wir wollen oder nicht, Anteil am Leben aller anderen und sind füreinander verantwortlich.«82 McLuhan scheint den religiösen und friedlichen Aspekt des globalen Dorfes zu korrigieren. Das globale Stammesleben ist nicht sicher und berechenbar, vielmehr ungewiss und zufällig. Das globale Dorf stellt »ein erdumspannendes Theater« dar, »in dem die ganze Welt ein einziges Happening ist«.83 Das Dorf ist keine einheitliche Welt, in der einzelne Mitglieder harmonisch und organisch koexistieren, sondern eine »mosaikartige[]

81 Nach Eric McLuhan besteht die elektrische Masse nicht in dem Wachstum, sondern in dem »Sein«: »Das größte Bedürfnis der elektrischen Masse ist nicht, zu wachsen, sondern zu SEIN und kontinuierlich zu sein.« E. McLuhan: »Die Anatomie der elektrischen Masse«, in: Pattillo-Hess/Smole, Masse und Macht im globalen Dorf (1999), S. 15. 82 M. McLuhan/Q. Fiore: Das Medium ist die Massage, S. 24. 83 M. McLuhan: »Geschlechtsorgan der Maschinen. ›Playboy‹ – Interview mit Eric Norden«, in: Das Medium ist die Botschaft, S. 220. Zum »Happening« als Kunstbegriff, zu dessen Merkmalen das »radikale Nebeneinander« gehört, vgl. Sontag, Susan: »Happenings: Die Kunst des radikalen Nebeneinanders«, in: dies.: Kunst und Antikunst. 24 literarische Analysen. Übersetzt von Mark W. Rien, Frankfurt a.M.: Fischer 2015, S. 309-321.

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Welt«.84 McLuhan versucht oft ein Missverständnis über das globale Dorf aufzuklären. Er äußert sich darüber, dass das Dorf »tiefgreifende Spaltung, nicht Fusion« ist: der verwirklichte Alptraum. »Je mehr Dorfbedingungen man schafft, um so mehr Diskontinuität und Teilung und Unterschiedlichkeit erhält man. Das globale Dorf sichert die absolut maximale Uneinigkeit in allen Punkten. Es ist mir niemals eingefallen, daß Einheitlichkeit und Ruhe die Merkmale des globalen Dorfes seien. […] Die Räume und Zeiten sind der zwischenmenschlichen Beziehung entzogen. Eine Welt, in der die Menschen sich ständig gegenseitig tief betroffen machen. […] Dorf ist tiefgreifende Spaltung, nicht Fusion. […] Das Dorf ist nicht der Ort, wo man idealen Frieden und Harmonie findet.«85

Im globalen Dorf herrschen nach McLuhan maximale Uneinigkeiten, die weder homogenisiert noch nivelliert werden können. Er wollte eigentlich kein Werturteil über das globale Dorf treffen, sondern einfach beschreiben, wie es sei: »Ich heiße das globale Dorf nicht gut. Ich sage nur, daß wir darin leben.«86 In einem anderen Interview von 1969 präzisiert er seine Absicht über das Konzept des globalen Dorfes noch einmal. »Die elektronische Technologie schafft Verhältnisse eines globalen Dorfes und fördert so mehr Diskontinuität, Vielfalt und Einzigartigkeit als die alte mechanische, standardisierte Gesellschaft. Das globale Dorf macht sogar ein Höchstmaß an Meinungsverschiedenheiten und kreativem Dialog unausweichlich. Uniformität und Ruhe gehören nicht zu den Markenzeichen des globalen Dorfes. Viel eher sind Streit und Zwietracht sowie Liebe und Harmonie wahrscheinlich – so wie das für die Lebensweise von Stammesmenschen üblich ist.«87

84 M. McLuhan: »Geschlechtsorgan der Maschinen. ›Playboy‹ – Interview mit Eric Norden«, in: Das Medium ist die Botschaft, S. 220. 85 M. McLuhan: »Testen, bis die Schlösser nachgeben. Gespräch mit Gerald Emanuel Stearn«, in: Das Medium ist die Botschaft, S. 73f. 86 Ebd., S. 74. 87 M. McLuhan: »Geschlechtsorgan der Maschinen. ›Playboy‹ – Interview mit Eric Norden«, in: Das Medium ist die Botschaft, S. 222f.

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Während »Einheitlichkeit«, »Uniformität« oder »Ruhe« vielmehr zum visuellen Raum gehören, der sich in der durch die Gutenberg-Galaxis hergestellten »alte[n] mechanische[n], standardisierte[n] Gesellschaft« entwickelte, sind charakteristisch für das globale Dorf, in dem es keinen festen Stand- und Gesichtspunkt gibt, »Diskontinuität« und »Vielfalt«, die keineswegs eine gleichgeschaltete Welt erzeugen. »Das ›Simultanfeld‹ elektrischer Informationsstrukturen«88 stellt keine vereinheitlichende Gleichschaltung des Verschiedenartigen her, und es widerspricht der Tendenz der Homogenisierung und Hierarchisierung in der alphabetischen Buchdruckkultur. Damit kann die Idee des globalen Dorfes von McLuhan auch als Antithese dazu verstanden werden, dass die Medien wie Zeitung die Meinung und die Reaktion des Publikums nivellieren würden.89 Der Anspruch auf den »kreativen Dialog« ist im globalen Dorf gerade deswegen möglich und unausweichlich, weil einzelne Mitglieder ganz verschiedenartig sind. In dieser Hinsicht hat auch Flusser, der ohne Bezug auf McLuhan von einem »«kosmische[n] Dorf[]»«90 spricht, die schöpferische Seite erwähnt: »Alle Möglichkeiten für einen kosmischen schöpferischen Dialog sind gegeben […].«91 Das globale Dorf schafft nach McLuhan »unter den elektrischen Bedingungen simultaner Informationsbewegung und totaler menschlicher Interdependenz«92 die heterogene Koexistenz absoluter Uneinigkeiten, die zugleich »Streit und Zwietracht sowie Liebe und Harmonie« enthalten, wie McLuhans Werke selber mosaikartige und hybride Charakterzüge – wissenschaftliche totale Uneinigkeiten – annehmen.93 Die widersprüchliche Diagnose des globalen Dorfes bei McLuhan erinnert gerade an Canettis »gespaltene Zukunft«, über die er in seinem 1972 erschienenen Buch des gleichnamigen Titels erklärt: »Die Wirklichkeit des Kommenden hat sich gespalten: auf der einen Seite die Vernichtung, auf der anderen das gute Leben. Beide sind gleichzeitig aktiv, in der Welt, in

88 M. McLuhan: Die Gutenberg-Galaxis, S. 184. 89 Zur Homogenisierung des Publikums durch Medien vgl. G. Tarde: Masse und Meinung, S. 22. Auch vgl. S. Moscovici: Das Zeitalter der Massen, S. 239f. 90 V. Flusser: Kommunikologie, S. 204. 91 Ebd., S. 228. 92 M. McLuhan: Die Gutenberg-Galaxis, S. 359. 93 Dazu ausführlich vgl. den Abschnitt 7 in diesem Kapitel.

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uns.«94 Im Aufsatz Realismus und neue Wirklichkeit, sich ausnahmsweise bei Canetti mit der modernen Technik zu befassen, hat er drei Aspekte der Wirklichkeit hervorgehoben, die die moderne Welt von den vorherigen Jahrhunderten trennen: eine »zunehmende« und »genauere« Wirklichkeit, und die Wirklichkeit des »Kommenden« (vgl. VI, 159). Während die Erweiterung und die Präzisierung der Wirklichkeit auf der eher banalen Diagnose über die Gegenwart und Vergangenheit beruhen, bezieht sich die Wirklichkeit des »Kommenden« eigentlich auf die Zukunft, die in die zwei Vorstellungen gespaltet ist. Im Gespräch mit Joachim Schickel hat sich Canetti konkret geäußert, dass es zwei Zukunftsvorstellungen gebe; auf der einen Seite die »ungeheuren Fortschritte der Produktion, der Medizin«, und »soziale Fortschritte«. Auf der anderen die »ungeheure Bedrohung« wie »Atomkrieg«, die »Verschmutzung« und die »Übervölkerung der Erde«: »Wir leben in diesen beiden Zukunften zugleich, soweit man in der Zukunft lebt und jeder projiziert ja doch in die Zukunft, – ist es die eine oder andere?« (X, 251f.) In gewisser Hinsicht kann das globale Dorf als eine räumliche Verwirklichung der gespaltenen Zukunft verstanden werden, insofern es um die simultane Existenz des Widersprüchlichen geht. Wie es im globalen Dorf zugleich »Streit und Zwietracht sowie Liebe und Harmonie« gibt, grenzt sich »die Vernichtung« an »das gute Leben« in der gespaltenen Zukunft. Gerade diese ambivalente Gleichzeitigkeit zeichnet sich deutlich im globalisierten Massen-Medienzeitalter ab.

3.4 Z EITUNG – H ETZMASSE Will man die Beziehung zwischen Massen und Medien in Masse und Macht konkret und präzise thematisieren, muss man zuerst auf die Kategorie der »Hetzmasse« aufmerksam machen. Denn der Analysegegenstand von Massenmedien in Masse und Macht beschränkt sich auf das Zeitungspublikum, das zu der Hetzmasse gehört. In Masse und Macht wird nur die Zeitung als Massenmedium behandelt, da vor der Veröffentlichung von Canettis Hauptwerk das Fernsehen als wirksames Massenmedium noch nicht weltweit verbreitet war.

94 Canetti, Elias: Die gespaltene Zukunft. München: Carl Hanser 1972, das Zitat aus dem Motto als Vorwort.

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Canetti ordnet verschiedene Massen je nach Eigenschaft, Form und Affekt ein. Bei dem Abschnitt über die »Hetzmasse« in Masse und Macht werden Zeitungsleser als einzige Publikumsmasse betrachtet, die durch Massenmedien entsteht. Die Hetzmasse stellt eigentlich eine Masse dar, die auf ein bestimmtes Opfer zielt und, aktiv oder passiv, an dem »Zusammentöten« (III, 58) des Opfers teilnimmt. Die ursprüngliche Form der Hetzmasse wird auf die »Jagdmeute« zurückgeführt, die eine Beute überfällt. Auch die Masse, die sich um eine öffentliche Hinrichtung schart, gehört zur typischen Hetzmasse: »Der wahre Henker ist die Masse, die sich um das Blutgelüst versammelt. Sie billigt das Schauspiel; in leidenschaftlicher Bewegung strömt sie von weither zusammen, um es von Anfang bis zum Ende mitanzusehen.« (III, 56) Ein Merkmal der Hetzmasse besteht darin, die anderen beim Sterben »mitanzusehen«. Dabei ist es eine wichtige Voraussetzung, dass man sich in einem sicheren Ort befindet und sich keiner Gefahr aussetzt. Diese Neigung der Hetzmasse erreicht nach Canetti bei der Publikumsmasse ihren Höhepunkt. Die moderne Hetzmasse macht eine disperse, verstreute Publikumsmasse aus, die sich durch Medien bildet. Die Hetzmasse setzt sich heute als Masse von Mediennutzern bzw. Rezipienten (d.h. Leser, Zuschauer, Zuhörer) fort. Von der »Hetzmasse aus Intellektuellen« (VI, 132) in der Lesung von Karl Kraus war schon die Rede; Kraus verwandelte die Publikumsmasse im Saal in die Hetzmasse, die er manipulieren konnte.95 Anders als bei seiner Publikumsmasse braucht die Zeitungsleserschaft keinen einzigen Diktator, der sie führt.96 Canetti beschreibt die durch die Zeitung entstehende Hetzmasse folgendermaßen: »Der Abscheu vor dem Zusammentöten ist ganz modernen Datums. Man überschätze ihn nicht. Auch heute nimmt jeder an öffentlichen Hinrichtungen teil, durch die Zeitung. Man hat es nur, wie alles, viel bequemer. Man sitzt in Ruhe bei sich und

95 Vgl. das zweite Kapitel der vorliegenden Arbeit. 96 Für den Journalismus, gegen den Kraus gekämpft hat, ist die Zeitung jedoch »ein Instrument der Macht«. Nach dem Kraus-Aufsatz von Walter Benjamin: »Sie [die Zeitung] kann ihren Wert nur von dem Charakter der Macht haben, die sie bedient; nicht nur in dem, was sie vertritt, auch in dem, wie sie es tut, ist sie ihr Ausdruck.« W. Benjamin: »Karl Kraus«, in: Gesammelte Schriften. II.1 (2015), S. 344.

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kann unter hundert Einzelheiten bei denen verweilen, die einen besonders erregen. Man akklamiert erst, wenn alles vorüber ist, nicht die leiseste Spur von Mitschuld trübt den Genuß. Man ist für nichts verantwortlich, nicht fürs Urteil, nicht für den Augenzeugen, nicht für seinen Bericht und auch nicht für die Zeitung, die den Bericht gedruckt hat. […] Im Publikum der Zeitungsleser hat sich eine gemilderte, aber durch ihre Distanz von den Ereignissen um so verantwortungslosere Hetzmasse am Leben erhalten, man wäre versucht zu sagen, ihre verächtlichste und zugleich stabilste Form. Da sie sich nicht einmal zu versammeln braucht, kommt sie auch um ihren Zerfall herum, für Abwechslung ist in der täglichen Wiederholung der Zeitung gesorgt.« (III, 58f.)97

Bei Canetti ist von der Massengesellschaft, die die öffentliche Meinung98 konstruktiv darstellt, nicht die Rede, sondern vielmehr geht es um die Kontinuität zwischen moderner Publikumsmasse und archaischer Menschenversammlung.99 Die Publikumsmasse der Zeitung beteiligt sich zwar nicht direkt am »Zusammen-Töten«, aber schaut durch die täglichen Zeitungsberichte und Zeitungsbilder Morden oder Massensterben bei Konflikten sowie Naturkatastrophen zu. Die Zeitungsleser lassen sich auch »der stockenden

97 Zur Hetzmasse als »Medienmasse« vgl. K. Theweleit: »Canettis Masse-Begriff: Verschwinden der Masse? Masse & Serie«, in: Ghosts. Drei leicht inkorrekte Vorträge (1998), S. 172f; S. Lüdemann: »Unsichtbare Massen«, in: MünzKoenen/Schäffner, Masse und Medium: Verschiebungen in der Ordnung des Wissens und der Ort der Literatur 1800/2000 (2002), S. 82. 98 Walter Lippmanns Public Opinion von 1922 ist als systematische, klassische Forschung über die öffentliche Meinung zu nennen, die durch die Massenmedien wie Zeitung erzeugt wird. Zu Lippmann in der Massentheorie vgl. C. Borch: The Politics of Crowds, S. 151f. Dieser amerikanische Publizist hat in seinem Buch Public Opinion auch die journalistischen Arbeiten von Upton Sinclair kritisch aufgegriffen, dessen Romane von Canetti ins Deutsche übersetzt worden sind. Vgl. Lippmann, Walter: Public Opinion. With a new introduction by Michael Curtis, New Brunswick/London: Transaction Publishers 1998, S. 330, 335, 358. Zu Canettis Übersetzungen von Sinclair vgl. das erste Kapitel der vorliegenden Arbeit. 99 Vgl. S. Lüdemann: »Unsichtbare Massen«, in: Münz-Koenen/Schäffner, Masse und Medium: Verschiebungen in der Ordnung des Wissens und der Ort der Literatur 1800/2000 (2002), S. 81.

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Masse« (vgl. III, 36-42) im Theater oder im Stadion zuordnen, da der einzelne Leser passiv sitzt und an »öffentlichen Hinrichtungen« teilnehmen kann. Für den Inhalt der Berichterstattung ist diese Masse natürlich nicht verantwortlich und entkommt jeglicher Gefahr aufgrund der Distanz zu den Ereignissen und Katastrophen. Deshalb bezeichnet Canetti diese Masse als die »verächtlichste und zugleich stabilste« Form. Das Publikum als Hetzmasse setzt sich eigentlich aus der Masse der verantwortungslosen Zuschauer zusammen. Selbstverständlich haben die Zeitungsleser als Hetzmasse »öffentliche Hinrichtungen« nicht wirklich vor Augen und wissen nur durch Zeitungen Bescheid. Trotzdem fühlen sie sich wirklich »dabei«. McLuhan hält die Zeitung für ein Massenmedium, das den Leser zur imaginären Teilnahme und Beteiligung zwingt. Während das Buch »eine persönliche Bekenntnisform« ist, ist die Presse »eine gemeinschaftliche Bekenntnisform, die alle teilhaben läßt«.100 Ein Grund dafür besteht nach McLuhan gerade in der Zeitungsform des mosaikartigen Nebeneinanders, in der sich die Vielfalt des menschlichen Zusammenlebens reflektiert: »Ich muß hier wieder feststellen, daß die Zeitung von allem Anfang an nicht zur Buchform tendiert hat, sondern zum Mosaik oder zu der zum Mitmachen bestimmten Form. Mit der Beschleunigung des Druckverfahrens und des Nachrichtensammelns ist dieses Mosaik zu einem sehr wichtigen Aspekt menschlichen Zusammenlebens geworden; denn die Mosaikform drückt nicht einen distanzierten ›Standpunkt‹ aus, sondern ständiges Mitmachen.«101

In der Zeitung gibt es keinen bestimmten »Standpunkt« bzw. Gesichtspunkt, an dem man sich orientieren kann. Ebenfalls gibt es in der Zeitung keinen Schluss oder Zweck, den man konsequent verfolgen muss. Die Zeitung muss man nicht immer »von vorn« lesen. Sie setzt sich eigentlich aus dem Nebeneinander der unterschiedlichen, ungleichartigen Artikel, Werbungen, Bilder und Fotos zusammen, die miteinander nicht zusammenhängen. 102 Diesen simultanen Mediencharakter der Presse hat McLuhan als »Mosaikform« bezeichnet, die der Linearität und Folgerichtigkeit der Lek-

100 M. McLuhan: Die magischen Kanäle, S. 311f. 101 Ebd., S. 321. 102 Vgl. ebd., S. 310-331.

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türe widerspricht und vom Leser »ständiges Mitmachen«, also diskontinuierliche Beteiligung fordert. Die »zum Mitmachen bestimmte Form« der Zeitung offenbart jedoch gerade auch dunkle Seiten der Gesellschaft. Die Nachrichten über »öffentliche Hinrichtungen« oder Katastrophen lassen die Leserschaft zur Hetzmasse regredieren. McLuhan sieht »die Presse als eine mosaikartige Nachfolgerin der Form des Buches«.103 Obwohl die Zeitung als Massenmedium ohne Zweifel zu den visuellen Printmedien gehört, besitzt sie jedoch keine rein lineare, sukzessive Form wie das Buch. Die Presse, die seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert die Telegraphie voraussetzt und benutzt, markiert nach McLuhan bereits eine Übergangsphase vom mechanischen Zeitalter in der Gutenberg-Galaxis zum elektronischen Zeitalter. 104 Diese Mosaikform bestimmt für McLuhan gerade auch die technische Eigenschaft des Fernsehens, das als Leitmedium im 20. Jahrhundert gilt.

3.5 F ERNSEHEN – M OSAIK UND T ASTSINN Wie bereits erwähnt ist in Masse und Macht keine Rede vom Fernsehen als Massenmedium. Aber die oben genannten Eigenschaften der Zeitungsleser als Hetzmasse können sich wohl auf das Fernsehpublikum übertragen werden. Der Zuschauer sitzt in Ruhe bei sich vor dem Apparat und kann nach Belieben einen Fernsehkanal wählen, der ihn besonders erregt. Anders als bei der Zeitung kann man im Fernsehen Ereignisse sehen, die nicht nur »vorüber« sind, sondern auch als Live-Sendung ablaufen. Aber der Fernsehzuschauer ist ebenfalls als Hetzmasse für Fernsehnachrichten und -programme nicht verantwortlich. In diesem Zusammenhang soll auf einen Fernsehfilm über Canetti hingewiesen werden, der im Jahr 1968 für die NDR-Reihe Das Portrait aufgenommen wurde.105 Diese einzige Sendung über diesen Autor, der damals noch in London lebte, besteht aus Interviews und Autorenlesungen, die mit Bildern inszeniert wurden. In dieser Sendung

103 Ebd., S. 323. 104 Vgl. ebd., S. 313. 105 Zu diesem 45-minutigen Fernsehfilm, der von Hans-Christof und Rosemarie Stenzel gedreht wurde, vgl. S. Hanuschek: Elias Canetti, S. 517. Canetti hat erst in den 60er Jahren in Deutschland den Durchbruch erlebt.

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wurde auch der oben zitierte Ausschnitt aus der Hetzmasse in Masse und Macht von Canetti selber vorgelesen, wobei zahlreiche Fernsehantennen auf dem Bildschirm im Hintergrund gezeigt wurden. Mit dieser Inszenierung sollte wohl angedeutet werden, dass das Fernsehpublikum die Hetzmasse in der Mediengesellschaft ausmacht. Man kann sogar sagen, dass sich im Fernsehpublikum die durch die Distanz von Ereignissen und Opfern verantwortungsloseste Hetzmasse findet. McLuhan nennt das Fernsehen das Medium der Mosaikform, nicht weil es als Inhalt aus unterschiedlichen Programmen und Werbungen besteht, sondern weil das Fernsehbild aus technischer Perspektive »mosaikartig« konfiguriert wird. Er erklärt, dass das Fernsehbild »das Maschennetz des Leuchtpunkt-Mosaiks«106 darstellt. Diese Mosaikform des Fernsehens bezieht sich nach McLuhan bei der Wahrnehmung überraschenderweise in erster Linie auf den Tastsinn, nicht auf den Gesichts- oder Gehörsinn: »Die Mosaikform des Fernsehbildes verlangt aktive Beteiligung und Einbeziehung der ganzen Tiefenperson, wie es beim Tastsinn der Fall ist.«107 Im Playboy-Interview von 1969 hat McLuhan auf die Frage, ob das Fernsehen doch ein visuelles Medium sei, geantwortet und dabei das Fernsehen als das taktile Medium von der technischen Seite her ausführlich begründet: »Nein, ganz im Gegenteil, obwohl die Vorstellung, das Fernsehen sei eine Ausweitung des Visuellen, ein verständlicher Fehler ist. Im Unterschied zu Film oder Fotographie ist das Fernsehen vor allem eine Ausweitung des Tastsinns, nicht so sehr des Sehsinns, und es ist gerade dieser taktile Sinn, der das größte Wechselspiel aller Sinne erfordert. Das Geheimnis der taktilen Macht des Fernsehens besteht darin, daß das Fernsehbild eine nur geringe Dichte oder Schärfe aufweist und so, im Unterschied zu Film und Fotographie, keine detaillierte Information über bestimmte Ge-

106 M. McLuhan: Die magischen Kanäle, S. 486. Diese Eigenschaft des Mosaiks sei weder mit der »Perspektive in der Kunst« noch mit der »Linearität in der Lebensweise« vereinbar. 107 Ebd., S. 504. »Man kann das Mosaik sehen, wie man den Tanz sehen kann, aber es ist nicht visuell strukturiert und ist auch keine Erweiterung des Sehvermögens. Denn das Mosaik ist nicht einheitlich, stetig und wiederholend. Es ist unstetig, asymmetrisch und nicht linear, wie das den Tastsinn ansprechende Fernsehbild. Für den Tastsinn ist alles plötzlich, konträr, ursprünglich, selten, fremd.« Ebd., S. 503.

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genstände bietet, sondern statt dessen die aktive Teilnahme des Betrachters auf sich zieht. Das Fernsehbild ist ein mosaikartiges Netz nicht nur von horizontalen Linien, sondern von Millionen winziger Flecken, von denen der Betrachter aus physiologischen Gründen nur 50 oder 60 aufnehmen kann, aus denen er dann ein Bild zusammensetzt.«108

McLuhan bezeichnet das Fernsehen als »kaltes« oder »kühles« Medium, das »die aktive Teilnahme des Betrachters« in Anspruch nimmt, weil das Mosaik des Fernsehbildes grob und »detailarm« ist. 109 Das Fernsehen ist bei ihm kein bloßes passives Massenmedium, das man nur sieht und hört: »Das Fernsehbild verlangt in jedem Augenblick, daß wir die Lücken im Maschennetz durch angestrebte Beteiligung der Sinne ›schließen‹, die zutiefst kinetisch und taktil ist, weil Taktilität viel eher Wechselspiel der Sinne bedeutet, als den isolierten Kontakt der Haut mit einem Gegenstand.«110 Der Tastsinn lässt sich als der Meta-Sinn bezeichnen, der alle anderen berührt und integriert. 111 In technischer und physiologischer Hinsicht ist es umstritten, ob diese Argumentation überhaupt gültig ist.112 Was wichtiger hier scheint, ist die Metaphorik des Tastsinns, die McLuhan für die technische Erklärung des Fernsehens benutzt hat. Die taktile »total[e] Einbezogenheit«113, die das Fernsehen als Massenmedium hervorbringt, gehört auch zu den Charakteristiken der Menschenmasse bei Canetti. McLuhans Massenmedien-Theorie des Fernsehens kann auch als eine Fortsetzung bzw. Verschiebung von Canettis Massentheorie

108 M. McLuhan: »Geschlechtsorgan der Maschinen. ›Playboy‹ – Interview mit Eric Norden«, in: Das Medium ist die Botschaft, S. 190f. 109 Zur Unterscheidung zwischen kaltem und heißem Medium vgl. M. McLuhan: Die magischen Kanäle, S. 44-61. 110 Ebd., S. 475. 111 Die Bedeutung des Tastsinns für McLuhan und Canetti wird im Zusammenhang mit der »Hand« später noch einmal behandelt. 112 McLuhan hat die technische Seite des Fernsehens in seiner Zeit mit Vorbehalt behandelt: »›Verbessertes‹ Fernsehen wäre kein Fernsehen mehr. Das Fernsehen ist jetzt ein mosaikartiges Maschennetz von hellen und dunklen Punkten, was ein Filmbild nie ist, auch wenn die Qualität des Filmbildes sehr schlecht sein sollte.« M. McLuhan: Die magischen Kanäle, S. 474. 113 Ebd., S. 505.

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aufgefasst werden, insofern es auf die taktische Dimension der Kollektiverfahrung ankommt. Hier kann man eine diskursive Kontinuität zwischen Massentheorie und Medientheorie am Beispiel von Canetti und McLuhan finden.114 In Masse und Macht wird die Masse zuerst als Problem der Berührung betrachtet. Canetti bestimmt die Masse als Ort der körperlichen, taktilen Kopräsenz. Einleitend in Masse und Macht lautet der erste Satz: »Nichts fürchtet der Mensch mehr als die Berührung durch Unbekanntes.« (III, 13) Der wichtigste Punkt besteht jedoch in der These, dass die Masse die einzige Situation sei, in der man sich von der »Berührungsfurcht« befreien kann: »Es ist die dichte Masse, die man dazu braucht, in der Körper an Körper drängt, dicht auch in ihrer seelischen Verfassung, nämlich so, daß man nicht darauf achtet, wer es ist, der einen ›bedrängt‹. Sobald man sich der Masse einmal überlassen hat, fürchtet man ihre Berührung nicht. […] Wer immer einen bedrängt, ist das gleiche wie man selbst. Man spürt ihn, wie man sich selber spürt. Es geht dann alles plötzlich wie innerhalb eines Körpers vor sich.« (III, 14)

In der Masse, wo die Grenzen zwischen dem Ich und den Anderen überschritten und die Distanzen zwischen Menschen aufgehoben werden, löst sich die Berührungsfurcht vor dem Unbekannten paradoxerweise aufgrund des dichten Kontakts auf. Canetti formuliert dies als »Umschlagen der Berührungsfurcht« (ebd.). Anschließend daran verwirklicht sich die »Entladung«: »Der einzelne Mensch selbst hat das Gefühl, daß er in der Masse die Grenzen seiner Person überschreitet. Er fühlt sich erleichtert, da alle Distanzen aufgehoben sind, die ihn auf sich zurückwarfen und in sich verschlossen.« (III, 19) Damit bildet sich ein ausgeweiteter Kollektivkörper der Masse, in welchem sich einzelne Körper versammeln und verschmelzen. Diese körperliche Versammlung und die imaginäre Erweiterung des einzelnen Körpers bezeichnen Canettis Massen-Begriff, der ursprünglich

114 Zur gründlichen Analyse der diskursiven (Dis-)Kontinuität zwischen Massentheorie und Medientheorie vgl. C. Bartz: MassenMedium Fernsehen. Die Semantik der Masse in der Medienbeschreibung. In ihrer Arbeit ist allerdings keine Rede von McLuhan.

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auf seinem »Massenerlebnis« (VIII, 80) in Frankfurt und Wien in den 1920er Jahren beruht.115 Sobald man in die dichte Masse eintritt und anonym wird, verliert man an Persönlichkeit und Identität. Damit verschwindet auch ein »homo clausus« als unabhängiges, abgeschlossenes Individuum, das Norbert Elias als dominantes Menschenbild im Abendland bestimmt. 116 In der klassischen Massenpsychologie von Le Bon wurde bereits auf das »Schwinden der be-

115 Im zweiten Band seiner Autobiographie Die Fackel im Ohr, die rückblickende Beschreibungen seiner Massenerlebnisse in 1920er Jahren enthält. Dabei beruft sich Canetti ausdrücklich auf den »Teig«, auf den das Wort »Masse« etymologisch zurückgeht: »›Ich habe die Masse erlebt‹, sagte ich, ›in Frankfurt. Ich war selbst wie Teig. […]‹. […] Ich war ja von der Masse ergriffen worden, es war ein Rausch, man verlor sich selbst, man vergaß sich, man fühlte sich ungeheuer weit und zur selben Zeit erfüllt […].« (VIII, 92f.) Neben dem Justizpalastbrand am 17. Juli in Wien, von dem bereits im ersten und zweiten Kapitel der vorliegenden Arbeit die Rede war, zählt »eine Protestdemonstration gegen die Ermordung Rathenaus« (VIII, 79) in Frankfurt zu den wichtigen Massenereignissen, die den jungen Canetti beeindruckten und ihn zur Forschung über das Massenphänomen veranlasst haben. Diese Demonstration wirkte wie »die physische Anziehung« (VIII, 80) auf ihn. Damals stellte er sich als seine Lebensaufgabe, »was mit einem in der Masse geschah, eine völlige Änderung des Bewußtseins« (ebd.) zu erforschen. Canettis Charakterisierungen des Massenerlebnisses wie etwa »ein[] rauschhafte[r] Zustand«, »eine Steigerung der Erlebnismöglichkeiten«, »ein Mehrwerden der Person« oder »eine […] höhere Einheit« (ebd.) in seiner Autobiographie nähern sich nachträglich an George Kiens Idee der überindividuellen Menschenmasse im Roman Die Blendung an. Dazu auch vgl. das erste Kapitel der vorliegenden Arbeit. 116 Vgl. Elias, Norbert: Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen. Erster Band. Wandlungen des Verhaltens in den weltlichen Oberschichten des Abendlandes, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1997, S. 52. Die kritische Auseinandersetzung mit dem Werk von Elias findet sich auch in Theweleits Männerphantasien. Vgl. K. Theweleits: Männerphantasien 1+2, Band 1, S. 311-315.

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wußten Persönlichkeit« 117 in der Menschenmasse hingewiesen. Canetti konnte dieses Phänomen als »Entladung« neutral beschreiben, indem er selber die Masse »von innen« erlebt hat. Laut McLuhan gilt gerade dieser Identitätsverlust oder die Verletzung der Identität, die in der wirklichen Menschenmasse passiert, auch für den Nutzer der elektronischen MassenMedien: »Die Gewalt, die alle elektrischen Medien ihren Benützern zufügen, besteht darin, daß diese, augenblicklich überfallen und ihres physischen Körpers beraubt, in ein Netz von Extensionen ihrer eigenen Nervensysteme verstrickt werden.«118 Die »Gewalt« der elektronischen Medien ist nicht der Inhalt der schockierenden Bilder im Programm, sondern die Verletzung der Identität des Nutzers und die Verwirrung des Rahmens von Zeit und Raum. Privatheit und Persönlichkeit der Mediennutzer verlieren, indem sie »in ein Netz von Extensionen ihrer eigenen Nervensysteme« hineingezogen werden. Nach McLuhan ist das Fernsehen ein Medium, das vom Nutzer »eine starke Beteiligung und Einbeziehung der Gesamtperson« verlangt: »Fernsehen führt zu einer Erweiterung des aktiven, erkundenden Tastsinns, indem alle Sinne gleichzeitig einbezogen werden – nicht etwa nur das Sehen! Man muss ›dabei‹ sein.« 119 Das ist das MassenmedienErlebnis, das mit dem Massenerlebnis von Canetti verglichen werden kann. Dabei geht es um die Wiederentdeckung der intimen Hautsinne, die metaphorisch verstanden werden können. Die Haut als Schnittstelle zwischen außen und innen ist nicht mehr gültig, da zufolge McLuhan im Zeitalter der Elektrizität durch die Extension des Nervensystems »die ganze Menschheit zu unserer eigenen Haut« geworden sei.120

117 Le Bon: Psychologie der Massen, S. 17: »Der einzelne ist nicht mehr er selbst, er ist ein Automat geworden, dessen Betrieb sein Wille nicht mehr in der Gewalt hat.« 118 M. McLuhan: »Die Gewalt der Medien«, in: Wohin steuert die Welt? S. 136. 119 M. McLuhan/Q. Fiore: Das Medium ist die Massage, S. 125. 120 M. McLuhan: Die magischen Kanäle, S. 83. In Anlehnung an Stenslie und de Kerckhove hat Claudia Benthien den Begriff der »Teletaktilität« entwickelt, die die »Cyberzone« charakterisiere. Vgl. Benthien, Claudia: Haut. Literaturgeschichte – Körperbilder – Grenzdiskurse, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2001, S. 265-279: »Es ist die (attribuierte) Unfreiheit, Unwillkürlichkeit und Erotik des Taktilen, die den gegenwärtigen Trend zur Integration der Haut in die elektronische Vernetzung bedingt. Es geht um den kontrolliert erzeugten

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Das Erlebnis dieser starken Beteiligung und Anteilnahme durch elektronische Medien wie Fernsehen wird vor allem in kollektiven Ereignissen wie Unfall oder Katastrophe deutlich. Understanding Media von McLuhan hat sich intensiv mit zeitgenössischen, aktuellen Ereignissen von damals beschäftigt, von denen die Medien in Zeitschriften, Zeitungen und Fernsehen berichteten, während Die Gutenberg Galaxis hauptsächlich als historische, akademische Studie über die europäische Buchkultur entworfen wurde. Das Fernsehen ist das exemplarische elektronische Massen-Medium, das McLuhan zum Hauptgegenstand in Understanding Media gemacht hat. Die wesentliche Veränderung der Verhältnisse zwischen Massen und Medien ist vor allem im politischen Bereich in den 1960er Jahren geschehen. Das Fernsehen hat maßgeblichen Einfluss auf den Wahlkampf gehabt und ist ein Instrument der Macht in den USA und anderen Industriestaaten geworden, wie vor 1945 das Radio für den Nationalsozialismus nützlich gewesen war. So hat sich J. F. Kennedy im Fernsehduell geschickt und attraktiv verhalten, um 1961 den Kandidaten Richard Nixon zu besiegen und Präsident zu werden. Die Wirkung der neuen Massenmedien war Kennedy vertraut.121 Am 22. November 1963, d.h. ein Jahr vor der Veröffentlichung von Understanding Media, wurde der Präsident Kennedy in aller Öffentlichkeit ermordet und über die Folgen des Attentats im Fernsehen weltweit berichtet. 122 Im Kapitel über das Fernsehen in Understanding Media hat McLuhan das Attentat Kennedys und dessen Begräbnis aufgegriffen, um »die Macht des Fernsehens« zu erklären. »Die Ermordung Kennedys ließ die Menschen ganz unmittelbar die Macht des Fernsehens, den Beschauer ganz in die Handlung miteinzubeziehen, und seine betäubende Wirkung spüren, die so stark wie Trauer sein kann. Die meisten Menschen waren von der tiefen Bedeutung, welche dieses Ereignis ihnen vermittelte, sehr überrascht. Und noch mehr Menschen wunderten sich über die kühle Gelassenheit und Ruhe, mit der die Masse reagierte. […] […]

Kontrollverlust, um eine paradoxale Verknüpfung von Selbstbestimmung und Ausgeliefertsein.« (S. 265) 121 Vgl. M. McLuhan: Die magischen Kanäle, S. 506. 122 Zur Forschung und Interpretation des Attentats auf Kennedy unter besonderer Berücksichtigung der Medien vgl. M. Schneider: Das Attentat, S. 427-461.

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Den stärksten Eindruck von der Macht des Fernsehens, einem Ereignis den Charakter der geschlossenen Anteilnahme der Gemeinschaft zu geben, hatte die Öffentlichkeit wohl beim Begräbnis Kennedys. […] Das Begräbnis Kennedys war, kurz gesagt, ein Beweis für die Macht des Fernsehens, die ganze Bevölkerung in eine Ritualhandlung einzubeziehen. […] Und vor allem geben die tragischen Ereignisse um Kennedy Anlaß zur Feststellung eines paradoxen Merkmales des »kühlen« Mediums Fernsehen. Es bezieht uns ein in tiefe Gefühlsbewegung, regt und peitscht aber nicht auf und erregt auch nicht. Es ist anzunehmen, daß dies ein Wesensmerkmal des gesamtpersönlichen Erlebens überhaupt ist.«123

Die Ausstrahlung der tragischen Ereignisse um Kennedy hat die Masse nicht erregt oder aufgehetzt, vielmehr »tiefe Gefühlsbewegung« erzeugt, die der »Trauer« ähnlich ist. Der Fall des Attentats auf Kennedy hat nach McLuhan gezeigt, dass die »Medienmasse« nicht immer als unverantwortliche Hetzmasse erscheint, die als Zuschauer an »öffentlichen Hinrichtungen« teilnimmt. Das Fernsehen kann die Hetzmasse auch in die stille, rituelle Masse der Trauer verwandeln, die um das Opfer von Unfall oder Katastrophe klagt. Dieses Massenmedium bringt die öffentliche Massentrauer hervor, die sich im globalen Ausmaß verbreitet und an der jeder gleichzeitig überall teilnehmen kann.124

3.6 Ü BERLEBEN , M EDIEN UND B ETROFFENHEIT – VON M ASSE UND M ACHT ZU D IE GERETTETE Z UNGE Je nach den Umständen und Bedingungen kann die »Medienmasse« verschiedene Formen und Eigenschaften annehmen, die durch die Kategorien

123 M. McLuhan: Die magischen Kanäle, S. 506ff. 124 In Die gerettete Zunge hat Canetti sich an die beiden Katastrophen im Jahr 1912, nämlich die Titanic und den Polarforscher Robert Scott am Südpol, als »die früheste öffentliche Massentrauer« (VII, 62) in seinem Leben erinnert. Er hatte gesehen, dass sich die Menschen, die vom Schiffbruch erfuhren, auf der Straße versammelten.

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von Masse und Macht erklärt werden können. Wie hat aber die »Medienmasse« mit Canettis Machttheorie zu tun? Die Hetzmasse und die Trauermasse stimmen in einem Punkt überein: in der Konfrontation mit dem Tod anderer. Dabei hängt die Problematik der Hetzmasse und Trauermasse zugleich eng mit dem Kernstück von Canettis Machttheorie, d h. dem Thema des Überlebens zusammen. Die Erfahrung, jemanden sterben zu sehen, verstärkt das verborgene Machtgefühl des Menschen. Nach Canetti ist der »Anblick des Todes« zugleich der Moment der Macht: »Der Augenblick des Überlebens ist der Augenblick der Macht. Der Schrecken über den Anblick des Todes löst sich in Befriedigung auf, denn man ist nicht selbst der Tote. Dieser liegt, der Überlebende steht. Es ist so, als wäre ein Kampf vorausgegangen und als hätte man den Toten selbst gefällt. Im Überleben ist jeder des anderen Feind, an diesem elementaren Triumph gemessen, ist aller Schmerz gering. Es ist aber wichtig, daß der Überlebende allein einem oder mehreren Toten gegenübertritt.« (III, 267)

Das Kapitel vom »Überlebenden« beginnt mit der Metapher des Gesichtssinns: Augen-Blick. Der »Anblick des Todes«, der die sichere Distanz voraussetzt, erweckt das »Gefühl der Erhabenheit über die Toten« (III, 268). Der Augenblick des Überlebens als ein »elementarer Triumph« bezieht sich zuerst auf das Sehvermögen, das sich von Opfern und Katastrophen distanziert. Diese Überlebenserfahrung ist im Medienzeitalter alltäglich und inflationär geworden, obwohl es bei der Publikumsmasse kein direktes Gegenüber mit den Toten gibt. Durch das Massenmedium der Zeitung oder des Fernsehens steht man jedoch als Zuschauer bei Berichten über Krieg oder Katastrophen massenhaft produzierten Toten gegenüber. Die Zeitung oder das Fernsehen überträgt die Bilder und Berichte von Kriegs- oder Katastrophentoten aus anderen fernen Ländern, die man vom sicheren Standort aus beobachten kann. Der Rezipient von Massenmedien bestätigt sich jeweils, dass er nicht selbst der Tote ist. 125 Jeder Rezipient liest, hört oder sieht

125 Thomas Anz hat in Anlehnung an Michael Balint den psychoanalytischen Begriff der »Angstlust«, die durch Medien verstärkt werden kann, an Canettis Überlebenserfahrung angeschlossen: »Wer ein Krankenhaus als Besucher betritt, empfindet seine eigene Gesundheit als nicht mehr ganz so selbstverständlich und kann ein Glücksgefühl darüber entwickeln. Wer, in der Literatur oder

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Nachrichten und Aufnahmen sozusagen aus der Position des Überlebenden. Jeder Zuschauer hat durch Medien, die »Leichenberge« weltweit übertragen, »an den psychischen Wonnen des Machthabers, am Überleben«126 teil: »Wir haben heute große Mengen mediengespeicherter Leute in der Psychoposition des Überlebenden in den großen Medienstaaten Europas, in Japan, in Amerika.«127 Jeder als (kleiner) Machthaber, der »allein« vor dem Apparat sitzt, kann die Gelegenheit genießen, »mehreren Toten« gegenüberzutreten und sie zu überleben. In den 1960er Jahren hat Canetti zeitgenössische Ereignisse wie Vietnamkrieg oder Studentenbewegung in den Medien aufmerksam verfolgt. Vor allem die Bilder aus dem Vietnamkrieg schockierten ihn; »›Wenn ich’s schildere – wen geht’s etwas an? Wem hilft es? Viet-Nam.‹«128 Der moderne Krieg braucht immer Medien und Medienkontrolle, die manchmal zur Manipulation von Nachrichten und Bildern führen. Seit dem Vietnamkrieg werden die Gräuelnachrichten mit Bildern in Echtzeit im globalen Ausmaß übermittelt und inszeniert. Der Krieg setzt Medien voraus, durch die man als »Augenzeuge« am Krieg teilhaben kann. Die Bilder lösen im Betrachter verschiedene Emotionen wie Schrecken, Mitleid, Trauer, Angstlust oder »Genugtuung« aus. Canetti hat im Essay Macht und Überleben das Thema des Überlebens noch einmal aufgegriffen und präzisiert: »Der Schrecken über den Toten, wie er vor einem daliegt, wird abgelöst von Genugtuung:

im Leben, einen Toten vor sich hat oder jemanden sterben sieht, kann ein Triumphgefühl darüber entwickeln, daß er selbst noch lebt. Elias Canetti hat in Masse und Macht dieses psychische Phänomen als einen «elementaren Triumph» beschrieben:« Anz, Thomas: Literatur und Lust. Glück und Unglück beim Lesen, München: C. H. Beck 1998, S. 146-149, hier S. 149. Das Triumphgefühl des Überlebens setzt das Sicherheitsgefühl der Angstlust voraus, die durch räumliche und zeitliche Distanz ermöglicht wird. 126 K. Theweleit: Männerphantasien, Band 2, S. 267. Zur Canetti-Rezeption in den Männerphantasien vgl. das erste Kapitel der vorliegenden Arbeit. 127 K. Theweleit: »Canettis Masse-Begriff: Verschwinden der Masse? Masse & Serie«, in: Ghosts. Drei leicht inkorrekte Vorträge (1998), S. 198f. Auch vgl. Theweleit, Klaus: »Von Mauer, Schild, Schirm und Spalt«, in: John PattilloHess/Mario Smole (Hg.), Nationen, Wien: Löcker 1994, S. 116-118. 128 Elias Canetti: Nachlaßnotiz vom 30. 7. 1965, Zentralbibliothek Zürich, Schachtel ZB22a, zitiert nach S. Hanuschek: Elias Canetti, S. 521.

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man ist nicht selbst der Tote. Man hätte es sein können. Aber es ist der andere, der liegt.« (VI, 114) Das »Glücksgefühl«, ein »Gefühl von Unverletzlichkeit« (VI, 116) kann eventuell durch Medien gesteigert und verstärkt werden. Man verspürt zwar Entsetzen oder Mitgefühl, befindet sich aber in Sicherheit, die räumliche oder zeitliche Distanz zu katastrophalen Ereignissen garantiert. Der Betrachter schaut in Medien anderen beim Untergehen zu, und dafür ist er nicht verantwortlich und entkommt jeglicher Todesgefahr aufgrund von sicherer Entfernung. Wenn auch der Zuschauer Mitleid verspürt, ist er nicht selbst der Betroffene. So bestätigt der Rezipient von Medien sich selbst, dass er nicht das Opfer ist und noch weiterlebt.129 Die

129 Der japanische Schriftsteller Kōbō Abe hat in seinem 1973 erschienenen Roman Der Schachtelmann den Mediennutzer als Überlebenden thematisiert. Im Roman wird von einem »nachrichtensüchtigen« Mann erzählt, der sich überlegt, warum man von Nachrichten abhängig wird: »Warum ist jeder so hinter Nachrichten her? Um die Wandlungen der Welt vorauszuahnen, um im Notfall gerüstet zu sein? So dachte ich früher auch. Aber das ist eine reine Lüge. Die Leute wollen nur deshalb Nachrichten hören, um sich zu beruhigen. Selbst die allergrößte Schreckensnachricht – wer sie hört, lebt doch zunächst mal noch. Die wirklich größte, die letzte Nachricht ist die vom Ende der Welt. Genau die wünscht man sich im Grunde zu hören. Dann braucht man als einziger nämlich die Welt nicht fahrenzulassen. Süchtig bin ich, wenn ich es recht bedenke, eigentlich nur geworden, weil ich wild darauf war, auf keinen Fall diese letzte Sendung zu verpassen. Aber solange die Nachrichten weitergehen, sind es nie die letzten gewesen. Dies sind noch nicht die letzten, so lautet die eigentliche Nachricht. Nur, der kleine Nachsatz hinterher wird immer ausgelassen. Gestern nacht flogen B-52er den in diesem Jahr größten Bombenangriff auf Nordvietnam – du aber lebst noch irgendwie. Bei Bauarbeiten kam es zu einer Gasexplosion, acht Menschen wurden verletzt, zum Teil schwer – du aber bist in Sicherheit. Die Preissteigerungsrate hat eine neue Rekordhöhe erreicht – du aber lebst weiter. Fabrikabwässer haben die gesamte Fauna in der Bucht zerstört – du aber bist dem Tod entgangen.« Abe, Kobo: Der Schachtelmann. Übersetzt von Jürgen Stalph, Frankfurt a.M.: Eichborn 1992, S. 97f. Abe gehört zu den wenigen japanischen Autoren, die Canettis Werk gut kennen und schätzen, obwohl Abe Canettis Masse und Macht noch nicht gelesen hatte, als er den Schachtelmann schrieb.

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Meta-Botschaft der Nachrichten über die Katastrophen besteht darin, dass man selber andere überlebt. Selbstverständlich braucht man keine Medien, um Leidenden und Sterbenden zuzuschauen. Es geht hier einfach um das distanzierende Sehen, ohne auf das Risiko einzugehen. Die Figur des Zuschauers findet sich bereits in den berühmten Versen des römischen Philosophen und Dichters Lukrez. Er beschrieb einen Zuschauer, der einen Schiffbruch aus der Distanz vom sicheren Land aus betrachtet: »Süß, wenn auf hohem Meer die Stürme die Weiten erregen, ist es, des anderen mächtige Not vom Lande zu schauen, nicht weil wohlige Wonne das ist, daß ein andrer sich abquält, sondern zu merken, weil süß es ist, welcher Leiden du ledig. Süß ist es auch, des Krieges gewaltige Schlachten zu sehen wohl im Felde geordnet, ohne dein Teil an Gefahren;«130

Dieser oft zitierte Abschnitt thematisiert die Position des Zuschauers, der von dem sicheren Standort aus ohne Risiken Katastrophen oder Unordnung überblickt. Hier geht es in erster Linie nicht um die Befriedigung und den Genuss des Überlebens im Sinne Canettis, sondern vielmehr um das strategische Sicherheitsgefühl im Zusammenhang mit epikureischer Leidvermei-

130 Lukrez: De rerum natura/Welt aus Atomen. Lateinisch/Deutsch. Übersetzt und mit einem Nachwort herausgegeben von Kahl Büchner, Stuttgart: Reclam 2008, S. 85. Hans Blumenberg hat in Schiffbruch mit Zuschauer über die philosophischen Implikationen dieses Verses geschrieben: »Nicht darin besteht freilich die Annehmlichkeit, die dem Anblick zugeschrieben wird, daß ein Anderer Qual erleidet, sondern im Genuß des eigenen unbetroffenen Standorts. Es geht […] um den Gewinn durch die Philosophie Epikurs, einen unbetroffbaren festen Grund der Weltansicht zu haben.« Blumenberg, Hans: Schiffbruch mit Zuschauer. Paradigma einer Daseinsmetapher, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2014, S. 31. Zur »Daseinsmetapher« dieses Zuschauers vgl. J. Fürnkäs: »Automation und die Metamorphosen des Zuschauers«, in: Pfeiffer/Schnell, Schwellen der Medialisierung. Medienanthropologische Perspektiven – Deutschland und Japan (2008), S. 215; T. Anz: Literatur und Lust. Glück und Unglück beim Lesen, S. 148.

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dung, dass man einer Gefahr entkommen und von einer schlechten Situation nicht betroffen werden kann. »Zuschauer bei Katastrophen sein, die sich in einem anderen Land ereignen, ist eine durch und durch moderne Erfahrung […].«131 Susan Sontag hat in ihrem Essay Das Leiden anderer betrachten diese Erfahrung, die mit Medien eng zusammenhängt, zum Gegenstand gemacht. In der modernen Gesellschaft wird der Umgang mit dem »wirklichen« Toten streng kontrolliert und gesperrt. Dagegen wird man heute mit Informationen und Bildern von Katastrophen- und Kriegstoten in den Medien überschwemmt. Sontag, die als aufmerksame Canetti-Leserin das Hören in seinen Werken thematisierte,132 ist in diesem Essay auf die Moral des Sehens – allerdings diesmal ohne Bezug auf Canetti – eingegangen: »Manche Vorwürfe, die gegen Greuelbilder erhoben werden, beziehen sich auf die Grundbestimmungen des Sehens selbst. Sehen kostet keine Anstrengung; zum Sehen bedarf es der räumlichen Distanz; Sehen läßt sich ›abschalten‹ (wir haben Augenlider, aber unsere Ohren sind nicht verschließbar).«133 Außerdem ist es für die Medien auch möglich, »den Anblick des Todes« zu speichern, zu vervielfältigen, zu verbreiten und zu manipulieren: »Einen gerade eintretenden Tod festhalten und für alle Zeit bewahren – das können nur Kameras. Und Bilder aus dem Feld, die den Augenblick des Todes (oder den Moment unmittelbar davor) zeigen, gehören zu den berühmtesten und besonders häufig reproduzierten Kriegsfotos.«134 Wie Sontag festgestellt hat, ist diese Erfahrung, leidende und sterbende Menschen in Kriegen oder Katastrophen durch Medien zu betrachten, in der modernen Gesellschaft schon banal geworden.135 Man zählt das Überleben in oder durch Medien zum alltäglichen Phänomen, das die »Zuschauerkultur«136 charakterisiert.

131 Sontag, Susan: Das Leiden anderer betrachten. Übersetzt von Reinhard Kaiser, Frankfurt a.M.: Fischer 2005, S. 25. 132 Vgl. S. Sontag: »Geist als Leidenschaft«, in: Hüter der Verwandlung. Beiträge zum Werk von Elias Canetti (1988), S. 103. Auch vgl. das zweite Kapitel der vorliegenden Arbeit. 133 S. Sontag: Das Leiden anderer betrachten, S. 137. 134 Ebd., S. 71. 135 Vgl. ebd., S. 135. 136 Ebd., S. 122. In seinem Buch Die Gesellschaft des Spektakels hat auch Guy Debord den Begriff des Spektakels auf das Sehen bezogen, wie dieses Wort

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Hier taucht nun eine ethische Frage auf, wie man eigentlich auf die Massen der Toten reagieren soll, über die mittels der Medien berichtet wird. Im Jahr 1952, vor dem Abschluss von Masse und Macht, heißt es in einer Aufzeichnung, die die Aporie des Überlebens thematisiert: »[…] das Einzige, was man nie sein darf, ist ein Sieger. […] Siegen ist Überleben. Wie soll man es machen: weiter leben und doch nicht Sieger sein? – Die moralische Quadratur des Zirkels« (IV, 185). Wie kann diese »moralische Quadratur des Zirkels« in der Zeit, wo jeder ein Überlebender sein kann, gelöst werden? In Masse und Macht wird auf diese Frage nicht geantwortet. In diesem Zusammenhang soll stattdessen Canettis erster Band der Autobiographie, Die gerettete Zunge, in der der Tod seines Vaters erzählt wird, herangezogen werden. Die Erinnerung an die Zeitung als Massenmedium und deren Beziehung mit Canettis Vater sind von entscheidender Bedeutung in seiner Kindheit. In Die gerettete Zunge kann man ein anderes Bild des Zeitungslesers als das finden, das in der Hetzmasse in Masse und Macht thematisiert wird. Bei dem kleinen Canetti verband sich die Zeitung zuerst mit der Sehnsucht nach Buchstaben. Er erinnert sich daran, wie sein Vater in der Heimatstadt Rustschuk in Bulgarien, die man heute Russe nennt, die Neue Freie Presse feierlich las: »Über den Einfluß Österreichs auf uns schon in dieser frühen Rustschuker Zeit wäre viel zu sagen. Nicht nur waren beide Eltern in Wien in die Schule gegangen, nicht nur sprachen sie untereinander deutsch: der Vater las täglich die ›Neue Freie Presse‹, es war ein großer Augenblick, wenn er sie langsam auseinanderfaltete. Sobald er sie zu lesen begonnen hatte, hatte er kein Auge für mich […]. Ich versuchte herauszubekommen, was es war, das ihn an der Zeitung so fesselte, anfangs dachte ich, es sei der Geruch, und wenn ich allein war und mich niemand sah, kletterte ich auf den

aus dem Schauen hergeleitet wird: »Das Spektakel hat die ganze Schwäche des abendländischen philosophischen Projekts geerbt, das in einem von den Kategorien des Sehens beherrschten Begreifen der Tätigkeit bestand […].« Debord, Guy: Die Gesellschaft des Spektakels. Übersetzt von Jean-Jacques Raspaud, Berlin: Edition Tiamat 2013, S. 20. Er analysiert die Gesellschaft als Spektakels: »Alle durch das spektakuläre System ausgewählten Güter, vom Auto bis zum Fernsehen, sind auch seine Waffen, um beständig die Vereinzelungsbedingungen der ›einsamen Mengen‹ zu verstärken.« (Ebd., S. 25)

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Stuhl und roch begierig an der Zeitung. […] Da sprach er zu mir […] und erklärte mir, daß es auf die Buchstaben ankomme, viele kleine Buchstaben, auf die er mit dem Finger klopfte. Bald würde ich sie selber lernen, sagte er, und weckte in mir eine unstillbare Sehnsucht nach Buchstaben.« (VII, 37f.)

Die Neue Freie Presse kam aus Wien, wo Europa für die Menschen auf dem Balkan begann (vgl. VII, 11). Der Begründer dieser Presse war Moriz Benedikt, »der zu den eigentlichen Ungeheuern der ›Fackel‹ gehörte« (IX, 203). Den Verlag übernahm sein Sohn, Ernst Benedikt, dessen Familie Canetti in Wien in den 1930er Jahren kennenlernte. Ernsts Tochter, Frieda Benedikt, begeisterte sich für Die Blendung und hatte mit Canetti persönlichen Umgang. Sie wurde später als Anne Sebastian eine bekannte Schriftstellerin, die Canetti als ihren Lehrer ansah und nach der Emigration nach London auch seine Geliebte wurde.137 Canettis Beziehung mit dieser Presse hat also nicht nur mit seiner Kindheit, sondern mit der Wiener Zeit in den 30er Jahren zu tun.138 Die Zeitung erweckte in dem kleinen Canetti nicht nur »eine unstillbare Sehnsucht nach Buchstaben«, die sich mit dem »Geruch« verknüpfte. Die Erinnerung der Zeitung hängt zugleich mit dem schrecklichsten Ereignis in seiner Kindheit zusammen: dem Tod seines Vaters. Ein Jahr später, nachdem Canettis Familie von Rustschuk in Bulgarien nach Manchester in England übersiedelt war, starb sein Vater, Jacques Canetti, der kaum 30 Jahre alt und ganz gesund schien, plötzlich an einem Schlaganfall. Die Ursache dieses Schlaganfalls konnte medizinisch nicht geklärt werden. Es ist hier besonders erwähnungswert, dass Canetti die Todesursache seines Vaters auf eine Zeitungsmeldung zurückgeführt hat. Er hat darauf aufmerksam gemacht, dass sein Vater gerade starb, als er die Zeitung las, die von einem Kriegsausbruch auf dem Balkan berichtete. Canetti hat sich an das Gespräch mit einem Nachbarn zurückerinnert, der Florentin hieß und später über den Tod seines Vaters gesprochen hatte: »Bei den Florentins sprach man davon, daß Krieg ausgebrochen sei, der Balkankrieg. Für die Engländer mag das nicht so wichtig gewesen sein; aber ich lebte unter

137 Vgl. S. Hanuschek: Elias Canetti, S. 255, 275. 138 Die Wiener Zeit hat Canetti in dem dritten Band seiner Autobiographie Das Augenspiel ausführlich beschrieben (vgl. IX, 201-208).

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Menschen, die alle aus den Balkanländern stammten, für die war es ein Krieg zuhause. Herr Florentin, ein ernster, nachdenklicher Mann, vermied es, mit mir über den Vater zu sprechen, aber eines sagte er mir doch, als ich mit ihm allein war. Er sagte es, als wäre es etwas sehr Wichtiges […]. Der Vater habe bei jenem letzten Frühstück die Zeitung gelesen und als Überschrift stand darauf, daß Montenegro an die Türkei den Krieg erklärt habe; er wußte, daß dies den Ausbruch des Balkankriegs bedeute und daß viele Menschen nun sterben müßten, und diese Nachricht habe ihn getötet. Ich entsann mich, daß ich den ›Manchester Guardian‹ auf dem Boden neben ihm liegen sah. […] […] Wenn in späteren Jahren immer wieder die Rede davon war, daß der Vater ganz jung, vollkommen gesund, ohne jede Krankheit, ganz plötzlich wie vom Blitz getroffen gestorben sei, so wußte ich, und nichts hätte mich je davon abgebracht, daß dieser Blitz eben jene furchtbare Nachricht war, die Nachricht vom Ausbruch des Krieges. Seit damals hat es in der Welt Krieg gegeben und jeder, wo immer er war […], traf mich mit der Kraft jenes frühen Verlusts und beschäftigte mich als das Persönlichste, das mir geschehen konnte.« (VII, 75f.)139

139 Im Jahr 1972, fünf Jahre vor der Veröffentlichung von Die gerettete Zunge, hat Canetti im Gespräch mit Joachim Schikel vom Tod seines Vaters erzählt, wobei Canetti ebenfalls den engen Zusammenhang zwischen dem plötzlichen Tod seines Vaters und der Zeitung, die vom Balkankrieg berichtete, hervorhebt: »Nachdem wir ein Jahr in England gewesen waren, starb mein Vater ganz plötzlich. Mein Vater war dreißig, saß beim Frühstück und hielt seine Zeitung in der Hand, plötzlich hatte er einen Schlaganfall und fiel tot zu Boden. Ich hatte ihn sehr gern, das war ein schreckliches Ereignis, und es hat mein ganzes weiteres Leben bestimmt, vor allem meine Trotz-Einstellung zum Tod, den ich nicht anerkennen konnte. Ich wollte nicht wahrhaben, daß mein Vater nicht mehr da war. Aber, was ich damals auch erfuhr, die Zeitung, die er gerade las, war der ›Manchester Guardian‹ und hatte als Überschrift die erste KriegsErklärung des Balkankrieges, es war im Oktober 1912. Damals begannen ja alle die Kriege, aus denen wir nicht mehr herausgekommen sind – die Balkankriege waren die ersten, dann kam der Weltkrieg. Für mich war dieser Schlag, den ich nie verwand, der plötzliche Tod meines Vaters, zeitlich verbunden mit dem Ausbruch des ersten Krieges, so daß ich es später auch nie davon trennen konnte.« (X, 247)

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Hier handelt es sich um den Ersten Balkankrieg, der im Oktober 1912 begann. Canetti ist davon überzeugt, dass gerade »der Schock über den Ausbruch des Krieges« (VII, 78) seinen jungen Vater getötet habe. Nach dem Biographen Sven Hanuschek stand die Nachricht über den Ausbruch des Krieges erst am 9. Oktober 1912, also am Tag nach dem Tod seines Vaters.140 Canettis Erklärung ist deswegen unhaltbar. Es ist aber für unsere Diskussion nicht wichtig, ob die Tagesangabe der Zeitung nun richtig war, oder nicht. Viel wichtiger ist, dass Canetti die Todesursache seines Vaters mit dem Massenmedium der Zeitung ausdrücklich verknüpft. Dabei konnte sein Vater als Zeitungsleser nicht ein Teil der Hetzmasse sein, die ohne Risiken das Überlebensgefühl genoss. Hier geht es vielmehr um die Betroffenheit, die Canettis weiteres Leben und seine Gedanken über den Tod geprägt hat. Er hat jeden Krieg, über den in Massenmedien berichtet wird, nicht als Spektakel, sondern als das »Persönlichste«, das ihm geschehen konnte, aufgenommen. Der Einsatz der Atombomben im Zweiten Weltkrieg hat Canetti tief erschüttert und zur Veränderung des Bildes der Macht geführt (vgl. III, 557).141 Auch in den letzten Jahren seines Lebens beschäf-

140 Vgl. S. Hanuschek: Elias Canetti, S. 50ff. 141 Wenn man über die persönliche Einstellung zu Katastrophenopfern nachdenkt, bietet auch Canettis Hiroshima-Essay Dr. Hachiyas Tagebuch aus Hiroshima von 1971 einen Hinweis darauf an, wie man auf die Massen der Toten reagieren soll. Dieses Essay thematisiert das Überleben bei Katastrophen. Canetti sympathisiert mit dem japanischen Arzt Hachiya, der den Atombombenabwurf auf Hiroshima am 6. Augst 1945 knapp überlebte und die Verletzten in der Klinik behandelte, obwohl er selber schwer verwundet war. Dieser japanische Arzt als Überlebender verlor nie den »Respekt für die Toten«: »Man hat nicht das Gefühl, daß die Toten für ihn zu einer Masse verschmelzen, in der kein Einzelner mehr zählt. Er denkt an sie als Personen.« (VI, 310) Hachiya gedenkt der Opfer als »Personen«, die nicht anonyme Massen sind, und er betet nicht nur für die Verwandten und Bekannten, sondern auch für diejenige, von denen er nur erfuhr (vgl. ebd.). Die Ethik des Überlebenden besteht darin, die Überlebten beim Massensterben als Einzelne im Gedächtnis zu haben und zu betrauern. Was Canetti an Hachiya aufgefallen ist, ist diese Art und Weise des Überlebens. Zu Canettis Hiroshima-Essay vgl. S. Hanuschek: Elias Canetti, S. 356f.; Verf.: »Elias Canetti und Japan«, in: 1. Deutsch-japanisch-koreanisches Stipendiatenseminar. Veröffentlichungen des Japanisch-Deutschen Zentrums

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tigte Canetti vor allem der Bosnienkrieg, der wieder auf dem Balkan geschah. In den Aufzeichnungen von 1993, dem Jahr vor seinem Tod, findet man Äußerungen, die sich auf den Krieg beziehen: »In der Volksschule warst du, da rief es: Sarajewo! Heute, beinahe 80 Jahre später: Sarajewo!« (V, 415)142 Der Bosnienkrieg muss Canetti, der sich Sorgen um das Leiden der Menschen auf dem Balkan gemacht hat, seinen persönlichen »frühen Verlust« noch einmal erinnert haben. Die »Trotz-Einstellung zum Tod« beim Überleben ist das genaue Gegenteil des Publikums als Hetzmasse, das als verantwortungslose Zuschauer oder Leser an »öffentlichen Hinrichtungen« teilnimmt und damit die Befriedigung des eigenen Überlebens empfindet. Hier geht es um die ethische Frage beim Überleben, die in Masse und Macht nicht thematisiert und beantwortet wurde. Susan Sontag gibt auf diese Frage eine konkrete Antwort und kritisiert die Privilegien des Zuschauers: »Das Mitgefühl, das wir für andere, vom Krieg und einer mörderischen Politik betroffene Menschen aufbringen, beiseite zu rücken und statt dessen darüber nachzudenken, wie unsere Privilegien und ihr Leiden überhaupt auf der gleichen Landkarte Platz finden und wie diese Privilegien […] mit ihren Leiden verbunden sind, insofern etwa, als der Wohlstand der einen die Armut der anderen zur Voraussetzung hat

Berlin. Band 57 (2008), S. 136ff. Das Hiroshima-Essay, das unter Canettis Texten bis jetzt in der Forschung kaum beachtet worden ist, wird in Sebalds Luftkrieg und Literatur aufgegriffen. Vgl. Sebald, W. G.: Luftkrieg und Literatur. Mit einem Essay zu Alfred Andersch, Frankfurt a.M.: Fischer 2013, S. 59. 142 »Man muß sich fragen, wie man dieses Jahrhundert ohne seine Hoffnungen überstanden hätte. / Es begann für mich mit dem Balkankrieg (1912) und ist achtzig Jahre später (1992) in den Balkankrieg zurückgemündet. / Wie soll man das fassen? Untersteht das einem Gesetz? Es liegen doch zwei Weltkriege dazwischen.« (V, 418) Dazu vgl. S. Hanuschek: Elias Canetti, S. 670f. Nach dem Zweiten Weltkrieg hat Canetti u.a. den Vietnamkrieg sehr ernst genommen. Nach Hanuschek: »Seinen ganzen frischen Erfolg würde er ohne Zögern opfern und ›ins Nichts verschwinden‹, wenn er die Fortsetzung des VietnamKriegs verhindern könnte; er unterzeichnete sogar zusammen mit 35 Engländern eine Petition für das Ende des Kriegs, obwohl er der festen Meinung war, daß das auch nichts helfen würde.« S. Hanuschek: Elias Canetti, S. 521.

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– das ist eine Aufgabe, zu deren Bewältigung schmerzliche, aufwühlende Bilder allenfalls die Initialzündung geben können.«143

Canettis Haltung zu Opfern ist auch kein Mitgefühl und keine einfache Anteilnahme, vielmehr hat er das Privileg des Überlebenden relativiert. Seine Tod-Feindschaft richtet sich vor allem gegen die Menschen, »die ihre Macht darauf aufbauen, dass sie andere in den Tod schicken, dass sie viele andere überleben.«144 Canetti hat sich lebenslang geweigert, diese »moralische[n] Laster«145 anzuerkennen. Mit »der Kraft des frühen Verlusts« hat er sich von der verantwortungslosen Hetzmasse distanziert, die durch Massenmedien gebildet wird.

3.7 E XKURS : M ETHODISCHER V ERGLEICH – ANTI -S PEZIALISTENTUM BEI C ANETTI UND M C L UHAN Es hat sich erwiesen, dass Canettis Masse- und Machttheorie durch Vermittlung von McLuhans Medientheorie auch auf die Analyse der Massenmedien und Massengesellschaft übertragbar ist. In diesem Exkurs, der zwischen den thematischen Erörterungen über Masse, Macht und Medien eingefügt wird, wird auf einen methodischen Vergleich bei beiden Denkern eingegangen. Trotz aller Unterschiede teilen Canetti und McLuhan eine Einstellung zum Wissen, die vielleicht als Anti-Spezialistentum formuliert werden kann. Bei Canetti ist die Tendenz zum integralen, enzyklopädischen Wissen offensichtlich, dem man vor allem in Masse und Macht begegnen kann. In einer früheren Aufzeichnung aus dem Jahr 1943 hat sich Canetti schon über die Aufhebung der »Arbeitsteilung« geäußert: »Mein ganzes Leben ist nichts als ein verzweifelter Versuch, die Arbeitsteilung aufzuheben und alles selbst zu bedenken, damit es sich in einem Kopf zusammenfindet und darüber wieder Eines wird. Nicht alles wissen will ich, sondern das Zer-

143 S. Sontag: Das Leiden anderer betrachten, S. 119. 144 Gespräch mit Paul Schmid, zitiert nach S. Hanuschek: Elias Canetti, S. 650. 145 Ebd.

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splitterte vereinigen.« (IV, 52) Diese Kritik an der Arbeitsteilung geht auch mit der Abneigung gegen das systematische Begreifen und die Klassifizierung und Hierarchisierung der Wissenschaften einher.146 Für Canetti stellt der Mensch eigentlich »ein multiples Wesen« (X, 186) als Verwandlungstier dar, das auch im sozialen und beruflichen Leben vielfältige Möglichkeiten haben sollte. In einigen Gesprächen hat Canetti die Arbeitsteilung in der modernen Gesellschaft und das daraus entstandene Spezialistentum, das wohl auch der irre Romanheld, der Büchermensch Peter Kien repräsentierte, mehrfach kritisiert und ihm gegenüber die Entwicklung der verschiedenen Fähigkeiten eines Menschen vorgeschlagen: »Ich bin überzeugt davon, daß die menschliche Natur eine multiple Tätigkeit braucht, je nach den Begabungen, die jeder Einzelne hat.« (X, 260) Nach der Zeitdiagnose von McLuhan widerspricht schon die Arbeitsteilung dem Milieu des elektronischen Zeitalters, das die totale Einbeziehung und die Interdependenz im globalen Dorf entstehen lässt. McLuhan behauptet, dass die Arbeitsteilung und die Spezialisierung, die sich auf den festen »Gesichtspunkt« im begrenzten Gebiet stützen, zu den Charakteristiken in der Gutenberg-Galaxis gehören. Auch der spezialisierte Gesichtspunkt wurde vom umfassenden Engagement und der aktiven Teilnahme abgelöst: »Im Zeitalter der unmittelbar gegebenen Information gibt der Mensch es auf, sich mit zerlegender Spezialisierung zu beschäftigen und übernimmt die Rolle des Informationssammlers.«147 So kann er mit dem primitiven Jäger oder Fischer verglichen werden. Hier kehrt die archaische Figur des Jägers wieder, der für Canetti in der Meute lebte und McLuhan zufolge heute als »Informationssammler« erscheint. Für McLuhan ist im elektronischen Zeitalter die fixierte Arbeitsteilung schon antiquiert geworden.148 Diese Stellungnahmen gegen das Spezialistentum spiegeln sich bei Canetti und McLuhan auch in der Methode wider, die sie in ihren Werken verwendeten. Beide bevorzugen vor allem das analogische Denken, das fächerübergreifend unterschiedliche Phänomene und Betrachtungen verknüpft. Was das methodische Verfahren in Masse und Macht anbelangt, hat Peter Friedrich Canettis Hauptwerk als »Gegenwissenschaft« grundlegend und präzise untersucht und sein »Ähnlichkeitsdenken« neu bewertet. Canet-

146 Zur Kritik am »Begriffssystem« z.B. vgl. X, 175f. 147 M. McLuhan: Die magischen Kanäle, S. 214. 148 Vgl. M. McLuhan/Q. Fiore: Das Medium ist die Massage, S. 20.

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ti geht es eigentlich um die »eigentümliche Bewegung des Wissens«, die plötzlich einen sprunghaften, sogar »pflanzenhaften« Charakter annimmt (IV, 159). Er zeigt unermüdlich mit dem analogischen Denken verschiedene und unerwartete »Ähnlichkeiten« zwischen Mensch und Tier, Sozialund Naturerscheinungen, Menschenkörpern und künstlichen Produkten, die jeweils auf Bereiche von Masse und Macht bezogen, damit »das Zersplitterte« vereinigt wird. Gerade »im spezifischen Gebrauch der Analogie« hat Friedrich »Canettis Einfluß auf moderne Medien- und Techniktheorie« gesehen.149 McLuhans Medientheorie als »Ausweitungen des Menschen« besteht darin, Medien und Technik mit dem menschlichen Körper als Analogie zu vergleichen und zu erklären.150 Insofern ist die analogische Denkweise auch für McLuhan wesentlich. Der Biograph Philip Marchand bestätigt dies auch: »Das Denken in Analogien war für seine Betrachtungsweise des Lebens so grundlegend wie für Mathematiker die Gesetze der Wahrscheinlichkeit. Diese Denkweise ging ihm in Fleisch und Blut über.« 151 Nach Marchand lässt sich aber der Einfluss der analogischen Denkform auf McLuhan auf den mittelalterlichen Theologen Thomas von Aquin zurückführen. 152 Ähnlichkeits- und Analogiedenken bei Canetti und McLuhan kann man eine zeitgenössische, gemeinsame Tendenz nennen, die Alternativen zum logischen und linearen Denken in der Moderne aufzeigt. Man hat schon festgestellt, dass für McLuhan das globale Dorf als ein »mosaikartiger« Ort, in dem das Heterogene simultan existiert, beschrieben wird. 153 Gerade das Konzept des globalen Dorfes als mosaikartiger Ort hängt auch mit der Textkonstruktion von McLuhan eng zusammen. Der Vorwurf, dass seine Schreibweise unsystematisch, irregulär und unwissenschaftlich sei, ist nicht selten erhoben worden. Was den Schreibstil betrifft, sind bei ihm »mosaikartige« Zitate aus verschiedenen Bereichen sehr auf-

149 P. Friedrich: Die Rebellion der Masse im Textsystem, S. 216 (Anm.). 150 Ausführlich dazu vgl. den Abschnitt 9 und 10 in diesem Kapitel. 151 P. Marchand: Marshall McLuhan. Botschafter der Medien. Biographie, S. 54f. Zum Analogiedenken bei McLuhan auch vgl. Kloock, Daniela/Spahr, Angela: Medientheorien. Eine Einführung. 2. Auflage, München: Wilhelm Fink 2000, S. 42; S. Grampp: Marshall McLuhan. Eine Einführung, S. 33-36. 152 P. Marchand: Marshall McLuhan. Botschafter der Medien. Biographie, S. 54. Auch vgl. Grampp: Marshall McLuhan. Eine Einführung, S. 61. 153 Ausführlich dazu vgl. den Abschnitt 3 in diesem Kapitel.

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fällig. Seine Schriften bestehen eigentlich aus höchst heterogenen Materialien, Zitaten und Bildern, die aus sehr unterschiedlichen Disziplinen und Epochen stammen. 154 McLuhan erklärt seine methodische Absicht beim Buch der Gutenberg-Galaxis: »Ich versuche, meine Leserschaft in Wahrnehmungen zu verwickeln. […] Die Idee, daß die ›Galaxis‹ als Ideogramm hätte dargestellt werden sollen, ist richtig. Das ist ihre eigentliche Form. Sie hätte auch als ein Happening zum Ausdruck gebracht werden können. Das Wort ›Galaxis‹ bringt wirklich das simultane Zusammenspiel von Faktoren zum Ausdruck, die überhaupt keine direkte Verbindung zueinander haben. Diese Struktur des Zusammenspiels ist es, die sowohl die Essenz der elektronischen Beschleunigung ist als auch die Antithese der alten mechanischen Verbundenheit, die jahrhundertelang als Rationalität galt. Die literarischen Zitate, die ich in der ›Galaxis‹ verwende, sind nicht als Fußnoten oder als ein Teil meiner Argumentation gedacht. Sie sind da als heuristische Sonden. Ich könnte jedes dieser Zitate durch zwanzig oder dreißig andere ersetzen.«155

Das »mosaikartige« Nebeneinander der zahlreichen literarischen und wissenschaftlichen Zitate markiert McLuhans Schreibweise, die sogar oft einen aphoristischen, fragmentarischen Charakter annimmt: »The Gutenberg Galaxy develops a mosaic or field approach to its problems. Such a mosaic image of numerous data and quotations in evidence offers the only practical means of revealing causal operations in history.«156 Damit spielt das simultane Prinzip als »Ideogramm« eine entscheidende Rolle in McLuhans methodischer Strategie. Die mosaikartigen Zitate können »heuristische Sonden« sein, um »das simultane Zusammenspiel« zwischen Heterogenem

154 In Das Medium ist die Massage und Krieg und Frieden im globalen Dorf sind viele Bilder und Illustrationen enthalten. 155 M. McLuhan: »Testen, bis die Schlösser nachgeben. Gespräch mit Gerald Emanuel Stearn«, in: Das Medium ist die Botschaft, S. 98. 156 M. McLuhan: The Gutenberg Galaxy, S. 0. Diese kurze Einleitung wurde in die deutsche Ausgabe der Gutenberg-Galaxis nicht aufgenommen. Auch zu medialen Möglichkeiten der Aphoristik vgl. J. Fürnkäs: »Moderne Aphoristik. Mediale Möglichkeiten und literarische Form«, in: Fürnkäs/Izumi/Pfeiffer/ Schnell, Medienanthropologie und Medienavantgarde. Ortsbestimmungen und Grenzüberschreitungen (2005).

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herzustellen und disziplinär und zeitlich auseinanderliegende Phänomene nebeneinander zu stellen und miteinander zu vergleichen. McLuhan selbst hat das Simultane in seinen Texten simuliert und damit die lineare Lektüre verhindert. In diesem Sinne steckt die Simultaneität auch in seiner Methode, die auf dem Nebeneinander des Verschiedenen, des Widersprüchlichen beruht. Diese Art und Weise des Zitierens aus verschiedenen Quellen gilt auch für Canettis Hauptwerk Masse und Macht, das ja auf »massenhafte« Belege wie weltweite Mythen, Literatur, geschichtliches Material und Ergebnisse von anthropologischen, psychologischen Untersuchungen beruht. Friedrich hat den Begriff der »Parataxis« eingeführt, um das offene System in Masse und Macht zu erklären.157 Entsprechend dem Buchtitel von Friedrich lässt sich Canettis poetisches Verfahren überhaupt als »Rebellion der Masse im Textsystem« verstehen. Masse und Macht ist eine Praxis der »Gegenwissenschaft«, die auch die Grenze der hierarchischen Spezialisierung in der Rollenverteilung der Wissenschaften zu sprengen versucht.

3.8 »M EDIUM «

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C ANETTI

Im Hinblick auf das Anti-Spezialistentum haben Canetti und McLuhan jeweils eine spezifische Methode und Schreibweise entwickelt, die sich als interdisziplinär bezeichnen lässt. Im Anschluss an die Analyse der MassenMedien und an die methodische Problematik stellt sich nun die Frage, wie man den Begriff der Medien bei Canetti genauer definieren und vertiefen kann. Was sind eigentlich Medien? Was ist ein Medium? In Canettis Werken taucht das aus dem Lateinischen hergeleitete Wort »Medium« oder »Medien« im Plural nur selten auf. Hier soll nun ermittelt werden, in welchen Kontexten dieses Wort – wenn auch nicht häufig – bei Canetti verwendet wird. Der deutsche Singular »Medium«, der sich schon im 17. Jahrhundert findet, bezeichnet im weitesten Sinne »Vermittler, vermittelndes Element«,

157 Vgl. P. Friedrich: Die Rebellion der Masse im Textsystem, S. 50-63.

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bzw., »Mittel«.158 Das Medium oder das Mediale hat eigentlich mit etwas zu tun, was sich in der »Mitte« befindet. Die Medien im Plural bedeuten dagegen seit dem 20. Jahrhundert in der fachlichen und alltäglichen Verwendungsweise schließlich »Information vermittelnde Einrichtungen«: »Speziell wurde das Wort für den Informationsträger (Ton, Schrift) verwendet und schließlich auf die Gesamtheit der Informationseinrichtungen bezogen.«159 Canetti hat den Plural »Medien« im Sinne der Informationsträger fast gar nicht benutzt,160 aber der Singular »Medium« findet sich explizit in zwei verschiedenen Texten, nämlich in Über Fritz Wotruba und Masse und Macht, in denen das Wort »Medium« jeweils andere Bedeutungen annimmt. Fritz Wotruba war ein österreichischer Bildhauer, den Canetti in den 1930er Jahren in Wien kennengelernt hatte, wobei Anna Mahler als Vermittlerin fungierte.161 An die detaillierte Begegnung mit Wotruba hat Canetti im dritten Band der Autobiographie Das Augenspiel zurückerinnert, und er befreundete sich so mit Wotruba, dass sie sich bald als »Zwillingsbrüder« (IX, 93) betrachteten, obwohl sie sich nach dem Zweiten Weltkrieg gegenseitig allmählich entfremdeten.162 Wotruba gilt heutzutage als international anerkannter Plastiker: »Wotruba wurde neben Henry Moore, Marino Marini, Alberto Giacometti und Germaine Richier der Rang eines der wesentlichen Exponenten der modernen Skulptur zuerkannt, auch wenn seine isolierte Situation in Österreich seinen Bekanntheitsgrad nicht gerade förderte.«163 Canetti kannte persönlich auch Henry Moore, Marino Marini und

158 Kluge. Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache (2011), S. 611. Im Deutschen Wörterbuch von Grimm gibt es keine entsprechenden Einträge für das Wort Medium oder Medien. 159 Ebd. 160 Als Ausnahme vgl. die Medienkritik im Essay Der Beruf des Dichters (vor allem VI, 367) und dazu das zweite Kapitel der vorliegenden Arbeit. 161 Vgl. IX, 90f, auch S. Hanuschek: Elias Canetti, S. 258. 162 Zur ambivalenten Beziehung zwischen Canetti und Wotruba nach der Kriegszeit vgl. S. Hanuschek: Elias Canetti, S. 422f. 163 Ausstellungskatalog: Wotruba, Fritz: Zeichnungen und Steine. Michael Semff (Hg.). Mit einem Beitrag von Werner Hofmann, München: Hatje Cantz 2007, S. 9

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Alberto Giacometti,164 aber nur über Wotruba hat Canetti einen Aufsatz beschrieben, der in einem Buch über Wotruba von 1955 vor dem Erscheinen von Masse und Macht aufgenommen wurde. In diesem Essay hat er Wotruba »ein[en] schwarze[n] Panther« genannt, »der unter die Menschen verschlagen worden ist. […] Er spürt die Gitter der Gefängnisse, in denen die Menschen ihn wie sich selbst versperrt halten. Diese Gitter sind ihm immer gegenwärtig […].« (X, 52) Canetti hat bemerkt, dass die Auseinandersetzung mit dieser »Gefangenschaft« (ebd.) für die Arbeit von Wotruba entscheidend sei. Was aber für unseren Zusammenhang noch interessanter ist, ist der folgende Satz: »Sein wichtigstes Medium, der Stein, ist gerade für diese Auseinandersetzung wie geschaffen.« (Ebd. Hervorhebung von S. F.) Das Wort »Medium« wird hier für den Stein als Mittel der Bildhauerei verwendet. Die meisten Werke von Wotruba bestehen in charakteristischer Weise aus quadratischen Steinen, die nach Canetti im Ganzen als »Gefängnis« wirken: Wotruba »schlägt sich im Stein herum, dem Medium, das diese Gefangenschaft am drückendsten nahebringt« (X, 53f.). »[D]ie Bekämpfung und Gestaltung des Gefängnisses« (X, 54) macht also die Substanz der Arbeit von Wotruba aus.165 Es ist nicht zufällig, dass Canetti das Kunstmaterial Stein als Medium bezeichnet. Sven Hanuschek hat auf ein unveröffentlichtes Interview von 1966 hingewiesen, in dem Canetti erzählte, »wie sehr es ihn fasziniere, bei der Arbeit von Künstlern ›in anderen Medien‹ zuzusehen. ›Ich habe Malern furchtbar gerne bei der Arbeit zugeschaut; ich habe die Arbeit mancher da beobachtet,

164 Vgl. S. Hanuschek: Elias Canetti, S. 421, 524. 165 Zur kunsthistorischen Bemerkung über diesen Essay im Hinblick auf Masse und Macht vgl. Hofmann, Werner: »Eine einzige Glätte«, in: Hüter der Verwandlung. Beiträge zum Werk von Elias Canetti (1988), S. 11-21. Hofmann hat Canettis Essay über Wotruba mit der Analyse zum Gefängnis als Machtapparat in Masse und Macht verglichen. Es gibt sicherlich erkennbare Parallelen zwischen Masse und Macht und Wotrubas Plastiken. Manche Zeichnungen und Bildhauereien von Wotruba, deren Titel einfach »Sitzender« oder »Hockender« heißen, stellen verschiedene menschliche Stellungen dar. Canettis Analyse zu diesen Figuren (vgl. X, 55-62) erinnert an die entsprechende Untersuchung über die Mehrdeutigkeit der menschlichen Stellungen in Masse und Macht (vgl. III, 459-467). Dazu vgl. S. Werner: Bild-Lektüren. Studien zur Visualität in Werken Elias Canettis, S. 132.

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und noch in den letzten Jahren war es mir eins der eindrucksvollsten Erlebnisse, Giacometti kennenzulernen und – noch bei sich zu sehen.‹«166 Das Wort »Medium« gilt bei Canetti nicht nur für den Bereich der Plastik. Wie im Kapitel über Die Blendung bemerkt wurde, hat Canetti immer »de[n] Abstand zu einem anderen Medium« (VIII, 263) eingesehen, mit dem sich andere Künstler wie der Maler George Grosz beschäftigen. Schon in der Rede zum 50. Geburtstag von Hermann Broch in 1936 findet sich das »Medium des Wortes« (VI, 109). Für Canetti bezieht sich das Medium vor allem auf das Material bzw. das Mittel von Kunst und Literatur, das jeweils unterschiedliche Bedingungen und Anforderungen stellt. Canetti hat darüber nachgedacht, was den Stein eigentlich charakterisiert. Was ihm an Stein aufgefallen ist, ist zuerst seine »Dauer« (X, 52).167 Dem Stein als Medium wird die Eigenschaft der Unzerstörbarkeit, der Unveränderlichkeit und der Härte (vgl. ebd.) zugeschrieben, die etwa das leicht brennbare und zerreißbare Papier nicht hat.168 Der Stein als Material des Werks wird noch in einem anderen Essay thematisiert: Im großartigen Essay Hitler, nach Speer von 1971, den der Band Das Gewissen der Worte umfasst, wird die Bedeutung des Steins für die Pläne erörtert, die Hitler mit dem Architekten Speer zusammen entworfen hat. Canetti hat diesen

166 Zitiert nach S. Hanuschek: Elias Canetti, S. 524. 167 An der entsprechenden Stelle über Wotruba in Das Augenspiel hat Canetti der Härte eine größere Bedeutung als Dauer zugemessen: »Ich war mit der landläufigen Meinung hingegangen, daß es ihm um die Dauer des Steins zu tun wäre, daß nichts, was er damit mache, sich auflösen und vergehen könne. Aber als ich den Prozeß vor Augen hatte, jene unerklärliche Aktion, verstand ich, daß es um die Härte des Steins ging und um nichts anderes. Er mußte sich damit herumschlagen. Er brauchte einen Stein wie andere einen Bissen Brot. Aber es mußte der härteste Brocken sein und er führte die Härte vor.« (IX, 94) 168 Es ist der kanadische Wirtschafts- und Kommunikationswissenschaftler Harold Innis, der den medialen Unterschied zwischen Stein und Papier als »Schreibmedium« eingesehen und die Bedeutung des Medienwechsels vom Stein zum Papier (Papyrus) für die Veränderung der Macht- und Gesellschaftsstruktur im antiken Ägypten untersucht hat. Vgl. Innis, Harold: Harold a. Innis – Kreuzwege der Kommunikation. Ausgewählte Texte. Übersetzt von Friederike von Schwerin-High. Karlheinz Barck (Hg.), Wien/New York: Springer 1997, S. 5666.

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»Speer-Hitler-Essay als konkrete Erprobung der Theorie«169 von Masse und Macht bestimmt. Nach der Entlassung aus dem Kriegsverbrechergefängnis Spandau veröffentlichte der Rüstungsminister und Architekt des Dritten Reichs Albert Speer, der im Auftrag von Hitler für die Stadtplanung und die Architektur im Nationalsozialismus verantwortlich war, seine Memoiren unter dem Titel Erinnerungen, in denen er von dem persönlichen Umgang mit Hitler und von seiner Besessenheit von der Architektur ausführlich berichtete. Es ist wohlbekannt und erforscht, dass die nationalsozialistische Architektur »als Ausdruck totaler Macht«170 konzipiert wurde. Was Canettis Interesse an Speers Buch erweckt, sind vor allem Hitlers Baupläne. Seine Gebäude und Monumente tragen dazu bei, nicht nur die politische Macht und die Ewigkeit seines Daseins zu symbolisieren, sondern »die größten Massen anzuziehen und zu halten« (VI, 261). Die Riesenmonumente und die Arena für die Veranstaltungen dienen den »›Massenbehältern‹« (VI, 263), die Hitler und seine Untertanen zu organisieren und zu inszenieren verstehen (vgl. VI, 261f.).171 Von seinen Bauten nimmt der Triumphbogen, der in Berlin errichtet werden sollte, einen besonderen Charakter an, weil dieses Gebäude für Hitler nicht direkt mit den lebenden Massen, sondern vielmehr mit den Toten zu tun haben sollte. Der Triumphbogen sollte aus unzähligen Steinen beste-

169 Canettis Brief an Wolfgang Frühwald, 16.2.1976, zitiert nach S. Hanuschek: Elias Canetti, S. 582. 170 Nerdinger, Winfried: Architektur. Macht. Erinnerung. Stellungnahmen 1984 bis 2004. Christoph Hölz/Regina Prinz (Hg.), München u.a.: Prestel 2004, S. 15. 171 Walter Benjamin hat in seinem Pariser Brief I von dem »Menschenmaterial« gesprochen, das die faschistische Kunst ausmacht: »Die faschistische Kunst ist eine Propagandakunst. Sie wird also für Massen exekutiert. Die faschistische Propaganda muß, weiterhin, das ganze gesellschaftliche Leben durchdringen. Die faschistische Kunst wird demnach nicht nur für Massen, sondern auch von Massen exekutiert. […] Das Material, aus dem der Faschismus seine Monumente, die er für ehern hält, aufführt, ist vor allem das sogenannte Menschenmaterial. Die Elite verewigt ihre Herrschaft in diesen Monumenten. Und diese Monumente sind es allein, dank deren das Menschenmaterial seine Gestaltung findet.« W. Benjamin: »Pariser Brief I«, in: Gesammelte Schriften III (1991), S. 488f. Auch vgl. S. Moscovici: Das Zeitalter der Massen, S. 181f.

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hen, in die man zum Gedächtnis der gefallenen Soldaten im Ersten Weltkrieg ihre Namen eingraviert. Canetti zitiert Hitlers Gespräch mit Speer: »Das wird wenigstens ein würdiges Denkmal für unsere Toten des Weltkrieges. Der Name jedes unserer 1,8 Millionen Gefallenen wird in Granit eingemeißelt werden.«172 Der Stein als Medium speichert und überträgt das Gedächtnis der Gefallenen, die Hitler überlebt hatte und die Deutschland gehorsam waren. In Masse und Macht zählt Canetti »Steinhaufen« eigentlich zu den Massensymbolen: »Man errichtet sie [Steinhaufen] für lange, für eine Art von Ewigkeit. […] In ihrer ältesten Form stand jeder einzelne Stein für je einen Menschen, der ihn zum Haufen beigetragen hatte.« (III, 102f.) Dauer und Ewigkeit wohnt Steinhaufen inne, die etwa an die Pyramiden erinnern. Aber jeder einzelne Stein, aus dem der Berliner Triumphbogen bestehen sollte, repräsentiert der Idee nach nicht »je einen Menschen, der ihn zum Haufen beigetragen hatte«, sondern einen Gefallenen, der als solcher auch Hitlers Macht nährt. Canetti erklärt die Bedeutung dieser Toten, die im Triumphbogen repräsentiert werden, für Hitler: »Sie werden dadurch geehrt, aber sie sind auf diese Weise auch dicht beisammen, dichter als es je in einer Masse möglich wäre. In dieser ungeheuren Zahl konstituieren sie den Triumphbogen Hitlers. Es sind noch nicht die Toten seines neuen, von ihm geplanten und gewollten Krieges, sondern die des ersten, in dem er selbst wie jeder andere gedient hat. Er hat ihn überlebt, aber er ist ihm treu geblieben und hat ihn nie verleugnet. Im Bewußtsein dieser Toten hat er die Kraft aufgebracht, den Ausgang jenes Krieges nie anzuerkennen. Sie waren seine Masse, als er noch keine andere hatte, er fühlt, daß sie es sind, die ihm zu seiner Macht verholfen haben; ohne die Toten des Ersten Krieges hätte er nie existiert. Seine Absicht, sie in seinem Tri-

172 Speer, Albert: Erinnerungen, Berlin: Ullstein 2005, S. 88. Nach dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs wurde in Europa heftig darüber debattiert, wie und wo die gefallenen Soldaten verehrt werden sollten. Zu diesem Thema ist zuerst die Untersuchung von George L. Mosse zu nennen. Nach seinem Buch Gefallen für das Vaterland wurde in Deutschland für die Trauer der Toten der »Heldenhain« errichtet, in dem jeder Baum einen einzelnen Gefallenen symbolisieren sollte. Hier taucht wieder das Verhältnis zwischen Wald und Heer als Massensymbol für die Deutschen auf. Vgl. Mosse, Goerge L.: Gefallen für das Vaterland. Nationales Heldentum und namenloses Sterben. Übersetzt von Udo Rennert, Stuttgart: Klett-Cotta 1993, S. 110.

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umphbogen zusammenzubringen, ist eine Anerkennung dieser Wahrheit und seiner Schuld an sie. Aber es ist sein Triumphbogen und seinen Namen wird er tragen. Schwerlich wird jemand viele der anderen Namen lesen; selbst wenn es wirklich gelingt, 1,8 Millionen Namen einzumeißeln, wird die überwältigende Mehrzahl von ihnen nie beachtet werden. Was im Gedächtnis bleiben wird, ist ihre Zahl, und diese ungeheure Zahl gehört seinem Namen.« (VI, 268)

Es geht Hitler nicht um die einzelnen Gefallenen, deren Namen in den Steinen des Triumphbogens eingemeißelt und gespeichert werden sollten, sondern um die dichte, anonyme Masse in den Steinhaufen, in denen die Toten sich drängen: »Das Gefühl für die Masse der Toten ist in Hitler entscheidend. Es ist seine eigentliche Masse.« (Ebd.) Hitler gilt als »Meister der Massen« (VI, 284), der von der Masse der Toten besessen war und seine Macht und Kraft aus ihnen gewann. Nach dem Kapitel des Überlebenden in Masse und Macht: »Je größer der Haufen der Toten ist, unter denen man lebend steht, je öfter man solche Haufen erlebt, um so stärker und unabweislicher wird das Bedürfnis nach ihm.« (III, 271) In diesem Zusammenhang stellen die einzelnen Steine im Triumphbogen das Medium dar, das die Toten im Ersten Weltkrieg, die dem Befehl von Kaiser und Vaterland folgten, beschwört und sichtbar macht. Das Medium hat im Grunde mit den Toten und deren Wiederbelebungen zu tun.173 In Masse und Macht tritt das Medium in einem anderen Kontext auf: das Medium als Beschwörer bzw. Schamane, der die Kommunikation zwischen Lebenden und Toten vermittelt.174 Diese Figur hat Macht und Autorität, indem sie mit den Toten, zu denen auch verstorbene Könige gehören, kommuniziert und ihre Worte vermittelt. Im Abschnitt Die Toten als die Überlebten in Masse und Macht ist die Rede von den Religionen und Riten, die vor allem von der »Macht der Toten« (III, 309) bestimmt wer-

173 »Das Totenreich ist«, so Friedrich Kittler, »eben so groß wie die Speicher- und Sendemöglichkeiten einer Kultur. Medien, wird bei Klaus Theweleit zu lesen sein, sind immer auch Flugapparate ins Jenseits.« Kittler, Friedrich: Grammophon Film Typewriter, Berlin: Brinkmann & Bose 1986, S. 24. 174 Zum Schamanen als »Menschmedium« vgl. Faulstich, Werner: Das Medium als Kult. Von den Anfängen bis zur Spätantike (8. Jahrhundert), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1997, S. 167-173.

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den. Canetti hat einen Beschwörer im Königsreich Uganda angeführt, der vom »Geist des Königs« besessen ist: »Nach seinem Tode wurde ein Medium, ein ›Mandwa‹ ernannt, in dem der Geist des Königs Aufenthalt nahm. Das Medium, das die Funktion eines Priesters hatte, mußte wie der König aussehen und sich ganz wie er gebaren. […] Man darf sich aber nicht vorstellen, daß das Medium immerwährend den König spielte. Von Zeit zu Zeit ›nahm ihn‹, wie man sagte, ›der König beim Kopf‹. Er geriet in einen Zustand von Besessenheit und verkörperte den Toten in jeder Einzelheit.« (III, 318f.)

Durch die körperliche und sprachliche Nachahmung zitiert das Medium den Geist des Königs. Er kann weiterleben, indem er den Körper eines Mediums vorübergehend in Besitz nimmt. Wenn ein Medium tot ist, übernimmt ein anderes dieses Amt. Das Medium als Priester im Königsreich Uganda kommuniziert nur mit dem verstorbenen König. In vielen Religionen gibt es jedoch auch Schamanen, die die Seelen verschiedener verstorbener Menschen und Tiere beschwören. Der Schamane ist zugleich der »Meisterverwandler«: »In seiner ekstatischen Séance holt er sich Geister herbei, die er sich unterwirft […]. Alles ist möglich, der Paroxysmus, den er erreicht, ergibt sich aus der gesteigerten, raschen Folge von Verwandlungen, die ihn so lange schütteln, bis er unter ihnen ausgesucht hat, was er zu seinen Zwecken eigentlich braucht.« (III, 452) Diese Fähigkeit, sich in verschiedene Gestalten zu verwandeln, verleiht dem Schamanen die Macht: »Der Schamane holt sich durch seine Verwandlungen Hilfsgeister herbei, die ihm gehorchen. Er selber packt sie und zwingt sie, ihm bei seinen Unternehmungen zu helfen. Der Schamane ist aktiv, seine Verwandlungen dienen der Steigerung seiner eigenen Macht und nicht der Flucht vor anderen, die mächtiger sind als er.« (III, 408f.) Der Beschwörer hat eine besondere Position in der Gruppe inne, da er die Verbindung mit den unsichtbaren Toten herzustellen scheint. Als Vermittler ist das Medium – wie andere Medien als technische Informationsträger – imstande, das Unsichtbare sichtbar und das Abwesende wahrnehmbar zu machen. Es ist die Aufgabe des Mediums, Diesseits und Jenseits zu überbrücken. Der Diktator Hitler war selbst kein Medium, aber er war zweifellos ein Medienpolitiker, nicht nur weil er seine Massen durch technische Medien wie das Radio effektiv zu organisieren wusste, sondern

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weil er sich auf den Umgang mit den unsichtbaren Toten verstand und sie zur Erhaltung seiner Macht benutzte. Die Masse der Toten gehört zu den unsichtbaren Massen. Die Toten erscheinen hier nicht einzeln, sondern in massenhaften Formen, und man glaubt, dass sie sich in der Luft dicht zusammendrängen. Der Schamane setzt sich mit diesen massenhaften Geistern auseinander und verwandelt sich abwechselnd in sie, bis er sein Ziel erreicht: »Gewöhnlichen Leuten bleiben sie unsichtbar, aber es gibt Menschen mit besonderen Gaben, Schamanen, die sich auf Beschwörungen verstehen und Geister unterwerfen können, die zu ihren Dienern werden.« (III, 47) Canetti hat auch einen keltischen Mythos herangezogen, in dem die Toten als »kämpfende Heere« vorgestellt werden. Für Canetti geht es hier auch um die Kontinuität zwischen archaischen Massen und modernen Massen. Das Wort »Schlachtruf« der Heere heißt in ihrer Sprache »sluagh-ghairm«: »Daraus ist später das Wort ›slogan‹ geworden: Die Bezeichnung für die Kampfrufe unserer modernen Massen stammt von den Totenheeren des Hochlands.« (III, 48) Canetti zählt Nachgeborene, Heilige, Dämonen, Teufel oder Bazillenmassen zur Kategorie der unsichtbaren Massen. Wie bereits bemerkt wurde, gewinnt die unsichtbare Masse als »Medienmasse«, besonders als sich durch elektronische Medien verknüpfende virtuelle Masse, eine neue Realität und Aktualität in der modernen Massengesellschaft. Aber die Kategorie der unsichtbaren Masse, die die nichtexistierende oder nicht aus Menschen bestehende Masse zum Gegenstand der Analyse gemacht hat, wurde bisher hauptsächlich vom sozialphilosophischen Standpunkt aus kritisiert. Während z.B. Theodor W. Adorno im Rundfunkgespräch mit Canetti von 1962 »die unsichtbare Masse« kritisch behandelte und die Denkart der Vermischung von Realem und Imaginärem »ein Skandalon« (X, 142) nannte, hat Canetti »eine[] Art von Realität der unsichtbaren Massen« (X, 144) behauptet, die noch den politischen Bereich in der modernen Gesellschaft zu bestimmen weiß.175

175 Im Gespräch mit Baur ist Canetti wieder auf diese unsichtbare Masse der Toten im Gegensatz zu Nachkommenschaft eingegangen: »Die Masse der Toten ist das Kerngefühl im Nationalismus, die Masse der Nachgeborenen im Sozialismus. Beides ist aber in den Menschen wirksam. / […] Durch Akzentverschiebung wird jeweils der Nationalismus oder Sozialismus stärker.« (X, 275) Für Canetti ist es gleichgültig, ob die Toten wirklich existieren oder nicht.

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Auch in Schrebers paranoischen Halluzinationen treten die unsichtbaren Massen in charakteristischer Weise auf. In seinem Wahn spielen vor allem die Massen der Geister eine entscheidende Rolle. Canetti hat auf den Unterschied und die Ähnlichkeit von Schreber und der archaischen Figur der Schamanen aufmerksam gemacht: »Auf den ersten Blick könnte Schreber in der Sphäre seines Wahns wie eine Figur aus vergangenen Zeiten erscheinen. [sic] da der Geisterglaube allgemein war und die Seelen der Toten wie Fledermäuse um die Ohren der Lebenden schwirrten. Es ist, als übte er den Beruf eines Schamanen, der die Welten der Geister auf das genaueste kennt, sich mit ihnen in direkte Verbindung zu setzen versteht und sie allen möglichen Zwecken dienstbar macht. Als ›Geisterseher‹ läßt er sich denn auch gern bezeichnen. Aber die Macht eines Schamanen reicht lange nicht so weit wie die Schrebers. Der Schamane hat die Geister manchmal wohl in sich. Aber sie lösen sich da nicht auf, immer behalten sie ihre separate Existenz, und es ist ausgemacht, daß er sie einmal wieder entlassen muß. In Schreber hingegen gehen sie ganz auf und verschwinden, als hätten sie nie für sich existiert.« (III, 523)

Der Schamane gewährleistet den Geistern ihre »separate Existenz« in sich, während Schreber die Masse der Toten an sich gezogen und sie ganz einverleibt hat. Sein Wahn wird bevölkert von den Massen von Geistern, Nerven und Strahlen, die gewöhnliche Leute nicht sehen können. Aber es bedarf noch einer genauen Betrachtung, wie Schreber, ein »Meister der Massen« wie Hitler und ein »Künstler großer molarer Einheiten« (Deleuze und Guattari)176, in seinem Wahn auf die Phänomene des (unsichtbaren) Massenhaften körperlich reagiert hat. Dabei wird deutlich, dass die Funktion der Medien, die den Körper in den Raum hinaus ausweiten, im Zentrum der Diskussion steht.

Wichtig ist, wie man sie benutzt, um die politische Macht zu erhalten oder zu begründen, und wie die Vorstellung der Toten auf den Bereich der Politik und Religion wirkt. 176 Vgl. das Kapitel über Die Blendung. Auch der Bücherheld Peter Kien beschäftigt sich sowohl mit der sichtbaren Bibliothek als auch mit der unsichtbaren Kopfbibliothek, die aus der Masse der Bücher besteht.

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3.9 AUSWEITUNGEN DES K ÖRPERS ODER DIE ZWEI K ÖRPER DES M ACHTHABERS Nachdem die spezifischen Verwendungsweisen des Wortes »Medium« im Singular und im Plural »Medien« bei Canetti und die allgemeine etymologische Definition des Wortes geklärt worden sind, kann nun auf die theoretische Betrachtung der Medien bei Marshall McLuhan zurückgekommen werden, die im Kapitel über Die Blendung schon teilweise diskutiert wurde. McLuhan bestimmt die Medien im weitesten Sinne als Ausweitungen und zugleich Selbstamputationen des Menschen: »Jede Erfindung oder neue Technik ist eine Ausweitung oder Selbstamputation unseres natürlichen Körpers […].« 177 Dem originellen Untertitel The Extensions of Man von Understanding Media kann man diese Definition entnehmen. Die Medientechnik erweitere, verlängere, ergänze und forme die Körperteile und Sinnesorgane um, die wiederum für die Erfindung und Entwicklung der Medientechnik vorbildlich seien: »Physiologisch wird der Mensch bei normaler Verwendung seiner technischen Mittel (oder seines vielseitig erweiterten Körpers) dauernd durch sie verändert und findet seinerseits immer wieder neue Wege, um seine Technik zu verändern.«178 In dieser rückkoppelnden Wirkung spielt der Mensch eine Rolle des »Geschlechtsteil[s] der Maschinenwelt, wie es die Biene für die Pflanzenwelt ist, die es ihnen möglich macht, sich zu befruchten und immer neue Formen zu entfalten«. 179 Die Medientechnik ermögliche dem Nutzer, Erkenntnis und Kommunikationsfähigkeit nicht nur zu erweitern, sondern auch zu verändern. Zugleich bringe die Benutzung eines Mediums eine Veränderung der Wahrnehmungsart, d.h. »das neue Verhältnis der Zuordnung der Sinne«180 hervor. McLuhan hat in der Einleitung von Understanding Media einen geschichtlichen Überblick gegeben, wie der Mensch durch Medien sich selbst erweitert hat und in welchen Verhältnissen er sich im elektronischen Zeitalter befindet:

177 Vgl. M. McLuhan: Die magischen Kanäle, S. 78f. 178 Ebd., S. 81. 179 Ebd. 180 Ebd., S. 79.

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»In den Jahrhunderten der Mechanisierung hatten wir unseren Körper in den Raum hinaus ausgeweitet. […] Rasch nähern wir uns der Endphase der Ausweitung des Menschen – der technischen Analogiedarstellung des Bewußtseins, mit der der schöpferische Erkenntnisprozeß kollektiv und korporativ auf die ganze menschliche Gesellschaft ausgeweitet wird, und zwar auf ziemlich dieselbe Weise, wie wir unsere Sinne und Nerven durch verschiedene Medien bereits ausgeweitet haben. […] […] […] Im elektrischen Zeitalter, das unser Zentralnervensystem technisch so sehr ausgeweitet hat, daß es uns mit der ganzen Menschheit verflicht und die ganze Menschheit in uns vereinigt, müssen wir die Auswirkungen jeder unserer Handlungen tief miterleben. […] […] Nach dreitausend Jahren der Explosion des Spezialistentums durch die technischen Ausweitungen unseres Körpers wirkt unsere Welt nun in einer gegenläufigen Entwicklung komprimierend. […] Die elektrische Geschwindigkeit, mit der alle sozialen und politischen Funktionen in einer plötzlichen Implosion koordiniert werden, hat die Verantwortung des Menschen in erhöhtem Maß bewußt werden lassen.«181

Während es in dem Prozess der Mechanisierung um die Ausweitung des einzelnen Körperteils geht, charakterisiert die Technik der Elektrizität die gesamte »Veräußerlichung« 182 des Zentralnervensystems. Nach der Diagnose von McLuhan werden Raum und Zeit durch elektronische (Massen-) Medien überwunden und verwirklicht sich das globale Dorf, in dem sich Mediennutzer in das Informationsnetzwerk verstricken und in dem alles gleichzeitig geschieht.183 Das Zeitalter der Elektrizität, in dem man zur gegenseitigen, engen Beteiligung und psychischen Berührung gezwungen wird, hat McLuhan als »das Zeitalter der Angst«184 für den Menschen formuliert: »Seine Nerven nach außen zu bringen und seine Körperorgane in das Nervensystem oder Gehirn zu verlegen, bedeutet eine Situation – wenn nicht den Begriff – der Angst herbeiführen.«185

181 Ebd., S. 15ff. 182 Ebd., S. 383. 183 Zur Simultaneität im globalen Dorf vgl. das zweite und dritte Kapitel der vorliegenden Arbeit. 184 M. McLuhan: Die magischen Kanäle, S. 17. 185 Ebd., S. 383.

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In Masse und Macht kann man eine paradigmatische Figur finden, die schon im 19. Jahrhundert den eigenen Körper über den Planeten hinaus auf imaginäre und mediale Weise zu erweitern wusste: Daniel Paul Schreber, den Autor der Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken, in denen er seinen Wahn und sein Leben autobiografisch niedergelegt hat. Da auf ihn teilweise jeweils im ersten und zweiten Kapitel der vorliegenden Untersuchung eingegangen worden ist, geht es hier um die Bedeutung des Körpers für den Paranoiker. Canetti bezeichnet Paranoia als »eine Krankheit der Macht« (III, 532) und analysiert die Beziehung zwischen Raum und Körper im Hinblick auf das Phänomen Masse und Macht grundlegend am Fall Schreber. Man kann im letzten Kapitel Paranoia und Herrschaft sozusagen die Ergebnisse und Fazits von Masse und Macht finden. In seinen Wahnvorstellungen beschäftigt sich Schreber als »Welterlöser und Weltherrscher« (ebd.) mit der Erhaltung der Weltordnung, der »Ordnung des Planetensystems« (III, 517), die mit seinem Körper in enge Beziehungen tritt. Er denkt, dass die menschliche Seele in den Nerven des Körpers enthalten sei.186 Sein Wahnsinn bezieht sich immer auf seinen eigenen Körper, wie er selber bemerkt: »Seit den ersten Anfängen meiner Verbindung mit Gott bis auf den heutigen Tag ist mein Körper unausgesetzt der Gegenstand göttlicher Wunder gewesen.« 187 Sein Körper ist durch Strahlen, die von Gott ausgehen, mit dem Weltraum verbunden. Gott besteht aus unendlichen und ewigen Nerven, die fast mit der Sternenwelt identisch und für gewöhnliche Leute unsichtbar sind. Schrebers Wahn beruht auf der Idee, dass der eigene Körper mit dem Universum korrespondiere. Laut Canetti spricht Schreber von seinem menschlichen Körper, »als ob er ein Weltkörper wäre« (ebd.): »Die Größe des Raumes lockt ihn; er will so weit sein wie dieser und sich ganz über ihn erstrecken.« (Ebd.) Der Weltraum steht ihm zur Verfügung, als ob sein Körper die gesamte Fläche des Raums mit den außerirdischen Bevölkerungen besäße, und »die Unveränderlichkeit und Dauer der Sternkonstellationen«, deren »Ewigkeit« (ebd.) fasziniert ihn. Die analogische Gleichsetzung von Menschenkörper und Weltkörper repräsentiert Schrebers »Größe« (III, 524) in seinen Machtwünschen. Er gilt als der »Machthaber, der die politische Macht in seiner Person, seinem Körper, vorstellt« (ebd.).

186 Schreber, Daniel Paul: Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken. Mit einem Nachwort von Wolfgang Hagen, Berlin: Kulturverlag Kadmos 2003, S. 5. 187 Ebd., S. 109.

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In Canettis Analyse geht es bei Schreber um die extreme »Ausstreckung« (III, 548) bzw. Extension des Körpers in und über den Raum. Schreber hat sozusagen zwei Körper, einen menschlichen Körper, der sterben soll, und einen unbegrenzten Himmelskörper, der ewig existiert. In diesem Kontext ist es nicht unbegründet, sich auf The King’s Two Bodies (dt. Die zwei Körper des Königs) von Ernst H. Kantorowicz zu berufen. Diese 1957 erschienene umfangreiche Untersuchung über die politische Theologie des Mittelalters hat rechtstheoretisch und politisch-theologisch gezeigt, dass der König gleichzeitig zwei Körper – einen natürlichen und einen politischen – hat, die beide miteinander eng zusammenhängen. Der politische Körper ist größer als der natürliche Körper, und der erstere enthält den letzteren.188 Der unsterbliche, immaterielle politische Körper kann vom Nachfolger durch Rituale geerbt werden und damit kontinuierlich weiterleben, wenn auch der menschliche, natürliche Körper des einzelnen Königs stirbt.189 Der Körper des Königs ist die Verkörperung einer Körperschaft, die aus dem Corpus besteht. Die Vererbung des politischen Körpers sichert die Kontinuität eines Staates. Kantorowicz hat in dieser Studie die Metapher der zwei Körper des Königs zuerst in dem literarischen Drama King Richard II von William Shakespeare festgestellt; im letzten Kapitel wird auch auf Dante eingegangen.190 Der König, der über zwei Körper verfügt, ist nicht nur eine rechtliche und historische, sondern auch eine literarische Figur, die fiktiv ist. In diesem Sinne ist es berechtigt, den Autor Schreber der Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken mit der Figur des zwei Körper habenden Königs zu verbinden, da das Schicksal der Bevölkerung in Schrebers Welt von ihm abhängig ist. Bei ihm wird der Körper

188 Vgl. Kantorowicz, Ernst H.: Die zwei Körper des Königs. Eine Studie zur politischen Theologie des Mittelalters. Übersetzt von Walter Theimer, München: dtv wissenschaft 1990, S. 33. Peter Friedrich hat in einer Anmerkung seiner Canetti-Forschung einen kurzen Vergleich zwischen Canetti und Kantorowicz angestellt und Ähnlichkeiten und Unterschiede beider Interessen für die Macht klargemacht. Vgl. P. Friedrich: Die Rebellion der Masse im Textsystem, S. 388 (Anm.). Von Kantorowicz ist allerdings bei Canetti keine Rede. 189 Vgl. E. H. Kantorowicz: Die zwei Körper des Königs, S. 37. 190 Der politische Körper ist eigentlich nur als Metapher des natürlichen Körpers bzw. als Fiktion möglich, weil es empirisch in der Wirklichkeit nur den natürlichen Körper gibt.

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nicht mit dem Staatskörper, sondern mit dem Weltkörper gleichgesetzt. Unter Berücksichtigung der Untersuchung von Kantorowicz ist Schreber als »Welterlöser und Weltherrscher« nichts anders als der einzige, der »die Totalität der Menschheit«191 wie Adam und Christus verkörpert und »individuell und kollektiv«192 zugleich wie Phönix als Symbol der Einzigartigkeit und Unsterblichkeit gilt. Der Hauptgegenstand der Studie von Kantorowicz beschränkt sich zwar auf das mittelalterliche England, aber eine ähnliche Idee der zwei Körper des Königs findet sich über Europa hinaus in anderen Kulturen, wenn auch diese Lehre nur in Europa, vor allem in England, konsequent entwickelt wurde. Im Kapitel Herrschaft und Paranoia in Masse und Macht werden neben dem Fall Schreber afrikanische Könige und der Sultan von Delhi herangezogen, die wirkliche absolute Macht hatten. Die Lehre von den zwei Körpern des Königs kann nicht nur in der politischen Theologie, sondern auch in Ethnologie und Anthropologie begründet werden. Der afrikanische König wird mit dem Reich selbst gleichgesetzt. Er muss gesund und makellos sein, solange er auf dem Thron ist. Wenn er krank oder alt wird, glaubt man, dass das Reich selbst gefährdet wird: »Die Verfassung dieser Reiche ist die körperliche Verfassung des Königs selbst.« (III, 495) Die Verfassung des Reichs korreliert mit der körperlichen Verfassung des Königs. Die Verletzung des königlichen Körpers bedeutet auch die Verletzung der Körperschaft selbst, die er verkörpert. Auch in der Analyse zum Fall Schreber findet sich ein ähnlicher Gedanke über den Zusammenhang zwischen dem menschlichen und politischen Körper: »Die politische Struktur vieler Völker hat ihren Kern in der starren und genau vorgeschriebenen Haltung eines einzelnen.« (III, 546)193

191 E. H. Kantorowicz: Die zwei Körper des Königs, S. 474. 192 Ebd., S. 388. 193 In einer Aufzeichnung vom Jahr des Kriegsendes 1945 hat Canetti bereits die Bedeutung des Raumes für den Körper des Paranoikers problematisiert, indem er von der »Heimat-Paranoia« spricht: »In der Bewegung ist zweifellos ein Heilmittel für beginnende Paranoia gegeben. Die Intensität dieser Art von Verwirrung geht aufs Statische. Man benimmt sich so, als ob ein bestimmter Platz bedroht wäre, der, auf dem man selber steht, und man kann um keinen Preis von diesem Platz weg. Die Überbewertung dieses zufälligen Standortes ist oft sehr lächerlich […]. [M]an benimmt sich mit einem Wort wie ein Volk,

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Aufgrund der Erkenntnisse über die Beziehungen zwischen Paranoia und Macht am Beispiel vom Fall Schreber hat Canetti seinen Hitler-Essay von 1971 entwickelt, über den bereits in Zusammenhang mit dem Medium »Stein« diskutiert wurde. Der Paranoiker ist nach Canetti »das genaue Abbild des Machthabers« (III, 549).194 Canetti findet auch den wahnsinnigen Wunsch des Paranoikers, den eigenen Körper mit dem eroberten Territorium gleichzusetzen, gerade in Hitlers Person wieder. Indem Canetti auf markante Parallelen zwischen Schreber und Hitler hingewiesen hat, zählt er die Aufhebung und Eroberung von Raum und Zeit zu den leidenschaftlichen Absichten des paranoischen Machthabers, der sich bedroht fühlt und sich um das eigene Sicherheitsgefühl kümmert: »Der Bedrohung der eigenen Personen […] wird in zweierlei Richtungen entgegengearbeitet: einmal durch Erstreckung über sehr große Räume, die der eigenen Person sozusagen eingegliedert werden, und dann durch die Erlangung von ›ewiger‹ Dauer.« (VI, 279) Des Machthabers Wunsch besteht darin, so groß und lange wie möglich den eigenen Körper zu vergrößern und auszuweiten: »Solange er [Hitler] kann, sträubt er sich dagegen, irgend etwas aufzugeben, gleichgültig, wieviel Opfer es kostet. Denn alles, was erobert wurde, empfindet er als Stück seines eigenen Leibs. Sein leiblicher Verfall während der letzten Wochen in Berlin, den Speer sehr eindringlich schildert, ein Verfall, der trotz allem, was er gegen ihn unternommen hat, sein Mitleid erregt, ist nichts anderes als die Einschrumpfung seiner Macht. Der Leib des Paranoikers ist seine Macht, mit ihr gedeiht oder

das seine Heimat verteidigt. Die Ähnlichkeit dieses privaten Zustandes mit der Politik eines Staates ist frappierend. Die Einheit eines Volkes besteht hauptsächlich darin, daß es unter Umständen wie ein einziger Verfolgungswahnsinniger handeln kann. […] [M]an sollte sich demnach sagen, daß gerade die erzwungenen Wanderungen ganzer Völker, die man so bedauert oder verabscheut, unter günstigen Umständen auch zu einer Heilung von ihrer HeimatParanoia führen können.« (IV, 84) 194 In dem Essay Macht und Überleben hat Canetti darüber Rechenschaft abgelegt, den Paranoiker als Modell des Machthabers zu behandeln: »Darüber, wie man Macht erlangt, kann uns Schreber gewiß nichts sagen, dazu wäre eine Betrachtung ihrer Praxis vonnöten. Aber es scheint mir schon gar nicht verachtenswert, von ihm zu erfahren, worauf die Macht es abgesehen hat.« (VI, 129)

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schrumpft er. […] [S]eine Sorge ist, daß seinem toten Leib nichts geschieht, denn dieser Leib war für ihn mit seiner Macht identisch, er enthielt sie.« (VI, 269)195

Bekanntlich hat Hitler im Verlauf der sich immer verschlechternden Kriegssituation seine Vitalität und Gesundheit verloren, und Canetti hat diese körperliche Symptomatik auf die Tatsache zurückgeführt, dass das erweiterte und eroberte Territorium schrumpfte und das Dritte Reich kleiner wurde. Der Verfall seines Körpers geht mit dem Verzicht auf das einher, was erobert wurde. Hitler kann bei Canetti nicht nur mit dem Senatspräsidenten Schreber und dem afrikanischen König verglichen werden, dessen Körper die Verfassung des Reichs bestimmt. Das Verhältnis von Hitlers Körper zu seinem Territorium entspricht auch dem von Peter Kien, dem paranoischen Büchermenschen im Roman der Blendung zu seiner Bibliothek,

195 Indem Giorgio Agamben in seinem Buch Homo sacer auf Carl Schmitt und Kantorowicz verwiesen hat, hat er über Hitlers Körper geschrieben. Nach Agamben besitzt Hitler einen biologischen und zugleich politischen Körper, der nicht dem Territorium, sondern »dem biopolitischen Leben des deutschen Volkes« entspricht: »Er [Führer] repräsentiert die Einheit und Artgleichheit des deutschen Volkes. Seine Autorität ist nicht die eines Despoten oder Diktators, die sich von außen dem Willen und der Person der Untertanen aufdrückt […]; vielmehr ist seine Macht insofern viel unbegrenzter, als er sich mit dem biopolitischen Leben des deutschen Volkes selbst identifiziert […]. Gewiß kann er auch ein Privatleben führen, aber was ihn zum Führer bestimmt, ist, daß seine Existenz als solche unmittelbar politischen Charakter hat. […] Die traditionelle Unterscheidung zwischen politischem und physischem Körper des Souveräns (deren Genealogie Kantorowicz sorgfältig rekonstruiert hat) schwindet hier, und die zwei Körper drängen sich in drastischer Form ineinander. Der Führer hat sozusagen einen integralen, weder privaten noch öffentlichen Körper, dessen Leben in sich selbst im höchsten Grad politisch ist. Er ist also an einem Punkt angesiedelt, zoe und bíos, biologischer und politischer Körper zusammenfallen. In seiner Person gehen das eine und das andere unablässig ineinander über.« Agamben, Giorgio: Homo sacer. Die Souveränität der Macht und das nackte Leben. Übersetzt von Hubert Thüring, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002, S. 193. Zur »personalisierten Macht« von Hitler vgl. Kershaw, Ian: Hitlers Macht. Das Profil der NS-Herrschaft. Übersetzt von Jürgen Peter Krause, 2., durchgesehene Auflage, München: dtv 2000, S. 184.

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die er ebenfalls »als Stück seines eigenen Leibes empfindet«. Die Bibliothek bzw. die Masse der Bücher ist für Kien ein erweiterter, »symbolischer« Körper, der ihn beschützt.196 Die Überlegungen zur Konzeption der zwei Körper des Königs von Kantorowicz waren McLuhan gut vertraut, da er sich im Abschnitt Die mittelalterlichen Idole des Königs in Die Gutenberg-Galaxis intensiv mit dem Buch von Kantorowicz auseinandergesetzt hat. Diese Untersuchung bekundet nach McLuhan »die immer stärker werdende Neigung des späten Mittelalters, Wissen sichtbar zu machen und Funktionen zu trennen.«197 Die Idee von zwei Körpern des Königs als »Rechtsfiktion« zeigt im späteren Mittelalter »eine Vorliebe für eine immer stärkere Betonung des Visuellen«.198 Der politische immaterielle Körper kann erst durch sprachliche und bildliche Repräsentation bzw. Medien sichtbar gemacht werden. McLuhan hat noch auf einen anderen Aspekt verwiesen, dass nämlich diese Lehre auf den »aggressive[n] paulinische[n] Begriff der Kirche als corpus Christi«199 zurückzuführen ist. Wie Kantorowicz aufgrund von unzähligen Quellen mühsam verfolgt hat, entwickelte sich die Lehre der zwei Körper des Königs als eine säkularisierte Form des mystischen Körpers Christi, der die Kirche und die Gemeinschaft der Gläubigen darstellt. Die Kirche wird traditionell als der mystische Körper Christi definiert200 und ist eigentlich der zweite und »erweiterte« Christ. Die Vorstellung des mystischen Körpers Christi hat sich im Grunde in analoger Weise auf die Vorstellung der zwei Körper des Königs übertragen, obwohl der Körper Christi mit dem Königskörper nicht ohne weiteres gleichgesetzt werden kann. Der politische Körper des Königs muss geerbt werden, während Christ allein das ewige Wesen ist.201 In diesem Zusammenhang mit dem mystischen Körper hat McLuhan in Understanding Media das Problem der Ausweitungen des Menschen gerade an die christliche Körperschaft angeschlossen, ohne aber auf

196 Ausführlich dazu vgl. M. Schneider: »Die Krüppel und ihr symbolischer Leib. Über Canettis Mythos«, in: Hüter der Verwandlung. Beiträge zum Werk von Elias Canetti (1988) und auch das erste Kapitel der vorliegenden Arbeit. 197 M. McLuhan: Die Gutenberg-Galaxis, S. 158. 198 Ebd., S. 161. 199 Ebd. 200 Vgl. E. H. Kantorowicz: Die zwei Körper des Königs, S. 206-278. 201 Vgl. ebd., S. 271.

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die theologischen und juristischen Voraussetzungen und Implikationen einzugehen: »Die Heiligen faßten den Körper ernstlich als symbolisches Gewand der Seele auf und betrachteten die Kirche als einen zweiten Körper, dessen Einzelheiten sie alle mit großer Vollkommenheit sahen.«202 Die traditionelle Auffassung, dass die Kirche einen zweiten erweiterten Körper Christi darstellt, wiederholt McLuhan in einem Interview, in dem er vom »mystischen Körper« im elektronischen Zeitalter spricht: »Zum Bespiel wird das christliche Konzept vom mystischen Körper – alle Menschen als Glieder des Körpers Christi – vermittels der Technologie unter elektronischen Bedingungen eine Tatsache.«203 Dieses Konzept hängt bei dem Katholiken McLuhan schließlich mit der religiösen und utopischen Seite des globalen Dorfes zusammen, in dem man als eine einzige »Menschenfamilie«, die ein »universale[s] Bewußtsein« hat, harmonisch koexistiert: »Die Integration in einer psychischen Gemeinschaft, die schließlich durch die elektronischen Medien möglich geworden ist, könnte jenes universale Bewußtsein herbeiführen, das Dante vorausgesehen hatte, als er prophezeite, daß die Menschen so lange bloß zerbrochene Fragmente bleiben würden, bis sie in einem alles umfassenden Bewußtsein vereint würden. Nach christlichem Verständnis ist das nur eine neue Interpretation des mystischen Leibes Christi. Und Christus ist schließlich die höchste Ausweitung des Menschen.«204

Nach McLuhan wird Dantes Prophezeiung, dass »die Menschen so lange bloß zerbrochene Fragmente bleiben würden, bis sie in einem alles umfassenden Bewußtsein vereint würden«, gerade mittels der elektronischen Technologie realisiert. Die elektronischen Medien würden die Menschen als »bloß zerbrochene Fragmente« in die »psychische Gemeinschaft« integrieren. Das globale Dorf ist laut McLuhan eine Verkörperung des mystischen Leibes Christi, der im Grunde »die höchste Ausweitung des Men-

202 M. McLuhan: Die magischen Kanäle, S.198. Vgl. auch Canettis Analyse zur Kommunion in Masse und Macht (III, 133ff.). 203 M. McLuhan: »Testen, bis die Schlösser nachgeben. Gespräch mit Gerald Emanuel Stearn«, in: Das Medium ist die Botschaft, S. 56. 204 M. McLuhan: »Geschlechtsorgan der Maschinen. ›Playboy‹ – Interview mit Eric Norden«, in: Das Medium ist die Botschaft, S. 229.

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schen« ist. »Alle Menschen« werden »als Glieder des Körpers Christi« gedacht. Auch bei Schreber, der zugleich »Welterlöser und Weltherrscher« ist und als Inhaber der zwei Körper bezeichnet werden kann, verbindet sich das Religiöse mit dem Politischen untrennbar (vgl. III, 532). Er glaubt, dass sein Schicksal und seine Leidensgeschichte nur mit »dem Kreuzestod Jesu Christi«205 verglichen werden können. Im Wahnsinn des »Nervenkranken« Schreber haben Nerven buchstäblich eine entscheidende Rolle gespielt, da sie ihn mit dem Himmelskörper verknüpften und ihn zugleich in komplizierte Beziehungen mit Gott verstrickten. Nach Schrebers Ansicht besteht Gott aus Nerven, die sich in Strahlen verwandeln. Die Nerven als Strahlen sind oft bedrohlich und massenhaft in Schrebers Körper eingedrungen und haben ihn dauernd angesprochen.206 Schrebers erweiterter Körper ist der Ort des Konflikts, in den das Phänomen Masse und Macht mündet. Für ihn besteht der Weltraum aus den massenhaften Phänomenen. »Die Gesamtmasse der göttlichen Nerven oder Strahlen«207, die außer Schreber unsichtbar bleiben, versammeln sich um seinen Körper und dringen dann in ihn durch: »Das durch die Anziehungskraft bedingte Aufgehen der Strahlen (von der Gesamtmasse losgelößten Gottesnerven) in meinem Körper bedeutete für die betreffenden Nerven das Ende ihrer selbständigen Existenz, also etwas Aehnliches wie für den Menschen der Tod.«208 Schreber hat wie ein Schamane die unsichtbaren Geister der Toten zu sich herangezogen und ist von ihnen besessen, aber er unterscheidet sich vom Medium als Beschwörer in einem Punkt,

205 D. P. Schreber: Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken, S. 215. 206 Vgl. dazu auch das zweite Kapitel über das Akustische bei Canetti. Die Worte sind »wie Ungeziefer« (III, 536f.) um Schreber herum, und er möchte sie ergreifen und bändigen: »Es gibt keine Geräusche, die nicht Stimmen sind: die Welt ist voller Worte. […] Vielleicht die extreme Tendenz der Paranoia ist die zu einem kompletten Ergreifen der Welt durch Worte, so als wäre die Sprache eine Faust und die Welt läge darin.« (III, 536) Schrebers erstarrende Hand schließt die Geräusche aus und ergreift die Welt durch Worte, die von den Nerven als Strahlen ausgehen. In dem »Ergreifen der Welt« gipfelt sich die symbolische Macht der Hand. 207 D. P. Schreber: Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken, S. 233. 208 Ebd., S. 131.

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dass er nämlich die Masse der Toten in sich ganz einverleibt. Er agiert als Führer der Massen, die er schließlich assimiliert. Hinter dem kosmischen Wahn von Schreber steckt »das genaue Modell der politischen Macht, die sich von der Masse nährt und aus ihr zusammensetzt« (III, 523). In diesem Zusammenhang ist noch wichtiger, dass die Nerven, die zwischen Gott und Schreber als Netz ausgespannt werden, als eine Art der Nachrichtentechnik fungieren. Schreber korrespondiert mit Gott und dem Weltraum mittels der Nerven als sozusagen der »magischen Kanäle«, die ihm die Botschaften mitteilen. Schrebers kosmologischer Wahnsinn erweist sich aus Canettis Analyse nicht nur als »das genaue Modell der politischen Macht«, sondern als Wahnsinn der Extension in der elektrischen Zeit bzw. im »Zeitalter der Angst«. Die Nervenmassen, die sich in Strahlen verwandeln, hat Schreber ausdrücklich mit den »Telefondrähten« gleichgesetzt: »Es liegt vermuthlich eine ähnliche Erscheinung vor wie beim Telephonieren, d.h. die nach meinem Kopfe ausgesponnenen Strahlenfäden wirken ähnlich wie die Telephondrähte, sodaß die an und für sich nicht allzu kräftige Klangwirkung der anscheinend in sehr bedeutender Entfernung ausgestoßenen Hülferufe in derselben Weise nur von mir empfunden werden kann, wie nur der telephonisch angeschlossene Adressat, nicht aber beliebige dritte Personen, die sich zwischen der Ausgangsstelle und dem Bestimmungsorte befinden, das mittelst Telephons Gesprochene zu hören vermögen.«209

Die Medien haben in Schrebers Wahn eine markante Rolle gespielt, die Canetti wohl noch nicht richtig beurteilen konnte.210 Es ist offensichtlich, dass Schrebers Wahnsystem, in dem sein Körper mit dem Himmelskörper durch die vernetzten Nerven als »Telefondrähte« kommuniziert, gerade den

209 Ebd., S. 232. 210 Manfred Schneider hat die (negative) Bedeutung der Medien für den Paranoiker überhaupt so geschätzt: »Die Paranoia hat es mit dem Problem des Absenders zu tun. Wer ist es, der in mir spricht? Wer lässt die Fliegen gegen mich los? Wer verschafft mir die Pollutionen? Warum schauen die Leute mich so seltsam an? Woher kommen die elliptischen Sätze? Das Netz der Nachrichten, Zeitungen, Telegrafen, Fernsehstationen, Radiosender und neuerdings der virtuellen Verbindungen, bilden ein technisches Implement der Macht, die mich zum Objekt ihrer Willkür gemacht hat.« M. Schneider: Das Attentat, S. 239.

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technischen Innovationen und dem Diskurs der Technikphilosophie im 19. Jahrhundert entspricht. Wolfgang Hagen hat in seinem Nachwort der Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken Ernst Kapp genannt, der eine eigene Technikphilosophie im 19. Jahrhundert entwickelt hatte.211 Mitte des 19. Jahrhunderts war der elektrische Telegraph als Übertragungsmedium erfunden worden, und das Kabelnetz dafür wurde damals öfters mit dem menschlichen Nervensystem morphologisch und metaphorisch gleichgesetzt.212 So kann man bei Ernst Kapp nachlesen: »Die Nerven s i n d Kabeleinrichtungen des thierischen Körpers, die Telegraphenkabel s i n d Nerven der Menschheit!«213 Im 19. Jahrhundert war öfters die Rede vom »Parallelismus von Nerven- und Telegraphenleitung«.214

3.10 AUSWEITUNGEN DES K ÖRPERS ODER DIE H AND -G EBURT DER T ECHNIK In dem Buch Grundlinien einer Philosophie der Technik von 1877 hat Ernst Kapp die These der »Organprojektion« entwickelt, die oft als Vorwegnahme von McLuhans Medienauffassung der »Ausweitungen des Menschen« bezeichnet wird.215 Kapp hat jedes Artefakt vom primitiven Werk-

211 Vgl. das Nachwort von Wolfgang Hagen, in: D. P. Schreber: Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken, S. 354. Hagen ist bei Schreber der Spur der »Elektrizitäts-Physik« des 19. Jahrhunderts in Zusammenhang mit dem Spiritismus als Pseudowissen nachgegangen. Vgl. Hagen, Wolfgang: Radio Schreber. Der ›moderne Spiritismus‹ und die Sprache der Medien, Weimar: Verlag und Datenbank für Geisteswissenschaften 2001, besonders S. 51-55. 212 Vgl. J. Hörisch: Eine Geschichte der Medien, S. 294. 213 Kapp, Ernst: Grundlinien einer Philosophie der Technik. Zur Entstehungsgeschichte der Cultur aus neuen Gesichtspunkten. Mit einer Einleitung von Hans-Martin Sass, Düsseldorf: Stern 1978, S. 141. 214 Ebd., S. 143. Hier weist er auf die Wissenschaftler wie R. Virchow oder C. G. Carus hin. 215 Zur kritischen Auseinandersetzung und Rekonstruktion der Extensionslehre von der Technikphilosophie bis zur Kybernetik vgl. Rieger, Stefan: »Organische Konstruktionen. Von der Künstlichkeit des Körpers zur Natürlichkeit der Medien«, in: de Kerckhove/Leeker/Schmidt, McLuhan neu lesen. Kritische

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zeug über die Maschinentechnik bis zum Staat mit der Analogie des Körpers systematisch erklärt. Damit gelangt der Begriff der Organprojektion schließlich zum politischen Staatskörper, der im letzten Kapitel von seinem Buch untersucht wird.216 In jedem Artefakt, so Kapp, spiegelt sich die physiologische und morphologische Struktur oder Funktion des Organismus wider. Die ersten und primitiven Werkzeuge, z.B., Axt oder Hammer, die zur »Verlängerung, Verstärkung und Verschärfung leiblicher Organe« 217 dienen, seien vor allem der Hand als dem »Werkzeug der Werkzeuge« (Aristoteles)218 nachgebildet. Für Kapp lässt sich menschliches Handeln größtenteils auf die Hand zurückführen: »Auf die Hand zurück weist das Handwerk, die Handlung, der Handel, die Zähleinheit, Maass und Gewicht, Zahl und Rechnung. Alles, was die Hand verrichtet, ist im weiteren Sinne ›Handlung‹.« 219 Das Projizieren des Organs in die Außenwelt, d.h. »das Vor- oder Hervorwerfen […] eines Innerlichen in das Aeussere«220, beruht schon auf der Metaphorik der Hand- und Armbewegung. Im Anschluss an Kapp weist Ernst Cassirer auf die Bedeutung dieser Organprojektion für das mythische Denken hin, das im Grunde auf der kosmologischen und morphologischen Analogie zwischen Mensch und

Analysen zu Medien und Kultur im 21. Jahrhundert (2008), S. 252-269. Auch Rieger, Stefan: Die Individualität der Medien. Eine Geschichte der Wissenschaften vom Menschen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2001, S. 320; Kloock/Spahr: Medientheorien, S. 50; Mersch, Dieter: Medientheorien. Zur Einführung, Hamburg: Junius 2006, S. 109; S. Grampp: Marshall McLuhan. Eine Einführung, S. 79. Aber Kapps Organprojektionstheorie ist McLuhan vermutlich nicht bekannt gewesen. 216 Vgl. E. Kapp: Grundlinien einer Philosophie der Technik, S. 307-351. 217 Ebd., S. 42. Über die eingehende Interpretation zur Organprojektion Kapps und ihre Leistung vgl. Leinenbach, Harald: Die Körperlichkeit der Technik. Zur Organprojektionstheorie Ernst Kapps, Essen: Die Blaue Eule 1990. 218 Aristoteles: Über die Seele. Griechisch/Deutsch. Übersetzt und herausgegeben von Gernot Krapinger, Stuttgart: Reclam 2016, S. 163. 219 E. Kapp: Grundlinien einer Philosophie der Technik, S. 71. 220 Ebd., S. 30.

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Welt basiert.221 Die Technik ist »eine andere Erscheinung dessen, was das Organ als solches leistet und bedeutet«.222 Cassirer erörtert im zweiten Teil Das mythische Denken seines Buches Philosophie der symbolischen Formen das Verhältnis von Körper und Werkzeug, indem er auf die Organprojektionslehre von Kapp zusammenfassend verweist: »Unter ›Organprojektion‹ versteht er dabei die Tatsache, daß alle primitiven Werkzeuge und Gerätschaften zunächst nichts anderes sind als eine Erweiterung der Wirksamkeit, die der Mensch mit seinen eigenen Organen, mit seinen Gliedmaßen auf die Dinge ausübt. Es ist besonders die Hand […], die als natürliches Werkzeug zum Vorbild der meisten künstlichen wird. […] Und nun kann dieser zunächst durchaus unbewußt dem organischen Vorbild nachgeformte Mechanismus seinerseits wieder nach rückwärts als Mittel zur Erklärung und zum Verständnis des menschlichen Organismus dienen. An den Gerätschaften, an den Artefakten, die er sich bildet, lernt der Mensch erst die Beschaffenheit und den Aufbau des eigenen Leibes verstehen. Seine eigene Physis ergreift er und begreift er nur im Reflex des von ihm Gewirkten […]. Jedes neue Werkzeug, das der Mensch findet, bedeutet demgemäß einen neuen Schritt nicht nur zur Formung der Außenwelt, sondern zur Formulierung seines Selbstbewußtseins.«223

Cassirer hebt hervor, dass das wichtige Resultat der Organprojektion nicht in der einfachen, körperlichen Erweiterung und der technischen Naturbeherrschung, sondern in der Formulierung des Selbstverständnisses und Selbstbewusstseins als Mensch besteht. Der Mensch könne »seine[n] eigene[n] Physis« erst mittels der Verwendung der Techniken, die er selber herstellt, reflektieren und verstehen. In der Organprojektion von Kapp erscheint die Lehre der Ausweitungen des Menschen bei McLuhan bereits vorweggenommen. Aber die Organprojektion als Moment und Mittel der Selbsterkenntnis unterscheidet sich von

221 Zum analogischen Denken bei Canetti und McLuhan vgl. P. Friedrich: Die Rebellion der Masse im Textsystem, S. 216 und den Abschnitt 7 in diesem Kapitel. 222 Cassirer, Ernst: Philosophie der symbolischen Formen. Zweiter Teil. Das mythische Denken, Hamburg: Felix Meiner Verlag 2010, S. 253. 223 Ebd., S. 253f. Auch vgl. E. Kapp: Grundlinien einer Philosophie der Technik, S. 26.

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der Theorie bei McLuhan in einem entscheidenden Punkt, dass nämlich Medientechnik die Wirkung der Organe nicht nur ergänzt und erweitert, sondern die Fremd- und vor allem Selbstwahrnehmungsart verwandelt. Die »Ausweitung verlangt auch ein neues Verhältnis oder neues Gleichgewicht der anderen Organe und Ausweitungen der Körper untereinander«.224 Die positive oder negative Rückkopplung zwischen Mensch und Technik ist ein Hauptinteresse von McLuhan, weil jede neue Medientechnik sowohl die Erweiterung als auch die Umformung der Wahrnehmung mit sich bringt, die manchmal auch zur Betäubung der Wahrnehmung führt. Um diesen Narkoseeffekt der Medien zu erklären, hat McLuhan die griechische Sage von Narziss herangezogen, der von seinem eigenen Spiegelbild im Wasser »betäubt« erscheint: »Er hatte sich der Ausweitung seiner selbst angepaßt und war zum geschlossenen System geworden.« 225 Die Medien können nach McLuhan für den Menschen gerade die Formulierung von Selbsterkenntnis verhindern. Man denke als negatives Beispiel an den typographischen Büchermenschen, der in der Verbindung mit der Buchdrucktechnik das Sehvermögen im Vergleich zu anderen Sinnen unangemessen intensiviert hat und verrückt geworden ist. McLuhan hat Medien ausdrücklich als »Verwandler« bezeichnet.226 Die Medien haben im Grunde mit der Umwandlung und Übersetzung von Erfahrung zu tun. 227 Man kann dieses »Umwandlungsvermögen der Medien«228 vielleicht mit dem Canettischen Begriff der Verwandlung vergleichen, welche nach ihm das Menschenwesen begründet. Der Mensch verwandelt seine Körperteile und Sinnesorgane in Medientechnik, mit deren Verwendung er wiederum sein Wesen und sein Wahrnehmungsvermögen verwandelt. Auf diese frappierende Entsprechung bei Canetti und McLuhan hat Klaus Theweleit schon hingewiesen:

224 M. McLuhan: Die magischen Kanäle, S. 79. 225 Ebd., S. 73. Dazu auch vgl. Kloock/Spahr: Medientheorien, S. 51; S. Grampp: Marshall McLuhan. Eine Einführung, S. 80-84. 226 Vgl. M. McLuhan: Die magischen Kanäle, S. 460. 227 Vgl. ebd., S. 97. 228 Ebd., S. 460.

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»Die Verbindung mit einem Medium führt für McLuhan jeweils zu einer Umwandlung der Wahrnehmungsweise der beteiligten Menschen, oft zu einer weitgehenden Verwandlung ihrer gesamten Struktur. Damit landet McLuhan genau beim zentralen Canetti-Begriff der Verwandlung, – der bei Canetti allerdings so merkwürdig unbestimmt (›immateriell‹) oder auch literarisch bleibt.«229

Die Verwandlung durch Medien hängt gerade mit der anderen berühmten These von McLuhan zusammen. Das Medium ist nicht nur »Botschaft« (Message), sondern auch »Massage« als taktiler Einfluss. In Das Medium ist die Massage mit Quentin Fiore hat McLuhan bemerkt: »Alle Medien krempeln uns völlig um. Sie sind so weitreichend in ihren persönlichen, politischen, wirtschaftlichen, ästhetischen, psychologischen, moralischen, ethischen und sozialen Konsequenzen, dass sie keinen Teil von uns unangetastet, unberührt und unverändert lassen. Das Medium ist die Massage.«230 Die Medien berühren die Menschen und verändern sie. Die Nutzung des Mediums übt laut McLuhan einen taktilen Effekt auf den Menschen aus, wie er nämlich in der dichten Menschenmasse empfindet und seine eigene Grenze der Person überschreitet. Die Umwandlung durch Medien hat zugleich mit der Verwandlung bei Canetti zu tun. Die Effekte der Medien »Erweiterung/Betäubung« sind nach Theweleit »eine materielle Basis für den Vorgang, den Canetti Verwandlung nennt«.231 Theweleits Einsicht ist sehr aufschlussreich für unsere Analyse, die Canetti mit McLuhan liest. Aber Basis für die Canetti-Lektüre mit McLuhan ist der Nachweis, an wel-

229 K. Theweleit: »Canettis Masse-Begriff: Verschwinden der Masse? Masse & Serie«, in: Ghosts. Drei leicht inkorrekte Vorträge (1998), S. 226. Auch vgl. Theweleit, Klaus: Buch der Könige. Band 1. Orpheus und Eurydike, 2. überarbeitete Auflage, Frankfurt a.M.: Stroemfeld/Roter Stern 1991, S. 369: »Der Schock jedes neuen Mediums führt entweder zu einer solchen Selbstamputation des betroffenen Sinnesorgans oder zu seiner Ausweitung und einer neuen Verbindung mit dem Apparat. / Die zweite Form der Verbindung führt zu einer Umwandlung in der Wahrnehmungsweise der betroffenen Menschen und u.U. zu einer weitgehenden Verwandlung ihrer gesamten Struktur.« 230 M. McLuhan/Q. Fiore: Das Medium ist die Massage, S. 26. 231 K. Theweleit: »Canettis Masse-Begriff: Verschwinden der Masse? Masse & Serie«, in: Ghosts. Drei leicht inkorrekte Vorträge (1998), S. 227.

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chen Stellen McLuhan Canettis Masse und Macht aufgegriffen hat und wie konkret der Begriff der Verwandlung mit dem »Umwandlungsvermögen der Medien« zu verbinden ist. Es ist aber zweifellos, dass die Theorien von Canetti und McLuhan an die Lehre der Organprojektion angeschlossen werden. Einflüsse dieser These finden sich implizit oder explizit auch bei einigen anderen Theoretikern von Freud bis Gehlen im 20 Jahrhundert. Sigmund Freud hat den Menschen »eine Art Prothesengott« genannt, der mit der Werkzeugtechnik als Prothese sich selbst vervollständigt. »Mit all seinen Werkzeugen« von Schiff und Flugzeug über Brille bis zur photographischen Kamera und zur Grammophonplatte »vervollkommnet der Mensch seine Organe – die motorischen wie die sensorischen – oder räumt die Schranken für ihre Leistung weg«.232 Mit der Medientechnik als Prothese hat sich der Mensch immer mehr einem gottähnlichen Wesen angenähert. Für die anthropologische Philosophie Arnold Gehlens ist der Mensch das »Mängelwesen«, das im Vergleich mit den Tieren biologisch und instinktiv mangelhaft ist und der Technik als Kompensation bedarf: »Das Kunststück eines so riskierten Wesens, sich am Leben zu erhalten, kann in der elementaren Schicht nur in einer Überbietung und Kompensation seiner Mängelausstattung bestehen […].« 233 Mit dem prothetischen Aspekt der Medientechnik reihte sich McLuhan unerwartet in diese Diskussion der Technik im deutschsprachigen Raum ein.234

232 Freud, Sigmund: Das Unbehagen in der Kultur. Und andere kulturtheoretische Schriften. Einleitung von Alfred Lorenzer und Bernard Görlich, Frankfurt a.M.: Fischer 1997, S. 56f. Aber Freud setzt gleich danach fort, dass »der heutige Mensch sich in seiner Gottähnlichkeit nicht glücklich fühlt« (S. 58). Das erste Kapitel der vorliegenden Arbeit hat gezeigt, dass grotesk entstellte Figuren im Roman Die Blendung, vor allem der Romanheld Peter Kien, von irgendwelchen prothetischen Surrogaten besessen sind, die sie jeweils in »eine Art Prothesengott« verwandeln. 233 Gehlen, Arnold: »Über Kultur, Natur und Natürlichkeit« (1958), in: ders.: Anthropologische Forschung. Zur Selbstbegegnung und Selbstentdeckung des Menschen, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1975, S. 95. 234 Die Ausweitungen des Menschen sind allerdings bei dem Literaturwissenschaftler McLuhan im Grunde auch eine sprachliche Fiktion, die metaphorisch und analogisch rekonstruiert werden: »Alle Medien sind […] wirksame Metaphern.« M. McLuhan: Die magischen Kanäle, S. 97. Der Aspekt der Medien

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Bei Canetti bezieht sich die Entstehung der Werkzeugtechnik in erster Linie auf das Problem der Selbsterhaltung und des Überlebens des Menschen, das Canettis Machttheorie prägt: »Der Leib des Menschen ist nackt und anfällig; in seiner Weichheit jedem Zugriff ausgesetzt. […] [W]as er sich von allen Sicherungen am meisten wünscht, ist ein Gefühl der Unverletzlichkeit.« (III, 268f.)235 Um die Mängel in der Ausstattung des natürlichen Körpers zu überwinden und »ein Gefühl der Unverletzlichkeit« bzw. des Überlebens zu erlangen, muss nicht nur die Panzerung des Körpers gewährleistet werden, sondern muss das »Instrument der Macht« (III, 242) erfunden und entwickelt werden, das sich gleichfalls aus Körperteilen herleitet. Dabei sind die Körperteile, vor allem die Organe Mund (die Zähne) und Hand (die Finger und Nägel), vorbildlich und nützlich, weil sie zur Ergreifung und Einverleibung der Beute dienen. Im Anschluss an Canettis Analyse hält McLuhan die Zähne für »ein Agens der Macht des Menschen und besonders auch mancher Tiere«.236 Die Zähne werden wegen ihrer Härte und Glätte schon als primitive Werkzeuge verwendet: »Ihrem Charakter nach standen sie zwischen einem eingeborenen Glied des Körpers und einem Werkzeug.« (III, 243) Ähnlich diente auch der gestreckte Zeigefinger mit hartem Nagel als Vorbild für den Pfeil oder den Speer (vgl. III, 256f.). Nach Canetti ist der sich steckende Finger »psychologisch der Ursprung« (III, 257) aller Art von Schuss- und Bogenwaffen.237

als Metaphern oder Analogien findet sich weiter in seinem postum erschienenen Werk Lows of Media, das sein Sohn Eric McLuhan herausgegeben hat. Auch vgl. M. McLuhan/B. Powers: The Global Village. Der Weg der Mediengesellschaft in das 21. Jahrhundert, S. 60f.: »Die Etymologie aller menschlichen Technologien ist im Körper selbst zu finden: Es sind sozusagen prothetische Vorrichtungen, Mutationen, Metaphern des Körpers und seiner Teile.« 235 Vor allem der paranoische Machthaber wünscht sich dieses Gefühl der Unangreifbarkeit: »Wer es vermag, umgibt sich mit Soldaten und schließt sich in Festungen ein. Schreber, der sich auf vielfache Weise bedroht fühlt, hält sich an den Sternen fest.« (III, 517) 236 M. McLuhan: Die magischen Kanäle, S. 132. Vgl. auch das erste Kapitel der vorliegenden Arbeit. 237 Man kann bereits der Technikphilosophie von Kapp entnehmen, dass die primitiven Werkzeuge vor allem die Nachformung bzw. die Nachbildung von Zeigefinger und Zähnen sind: »[D]er gesteifte Zeigefinger mit seiner Nagel-

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Das Gefängnis als wichtiger Apparat der Macht sei dagegen dem Mund und den Zähnen nachgebildet. Canetti vermutet, dass »man das Gefängnis vom Maul herleiten könne«, und es als »eine Erweiterung des Mauls« (III, 334) bezeichnet.238 Peter Fridrich hat daraus abgeleitet, dass das Artefakt bei Canetti überhaupt erweiterter Körperteil ist, und in dieser Hinsicht kann Canetti als ein Vorläufer von McLuhan gelten.239 Was das Technikwesen betrifft, spielt aber nicht der Mund, sondern eher der Griff der Hand die tragende Rolle. Auch für Canetti stellt das Greifen den wesentlichen Akt der Macht dar, wobei das Ergreifen der Beute durch Raubtiere oder Greifvögel als Vorbild genommen wird. Canetti unterscheidet drei Stufen des Griffes, die auf jeden Fall mit der Zerstörung zu tun haben: Drücken, Zerquetschen und Zermalmen. Aber das Letztere braucht »ein sehr großes, mechanisches Übergewicht« und gehört schon zur Sphäre des »Anorganische[n]« (III, 240). Der Ausdruck »Zermalmen« »vermittelt die Vorstellung einer zerstörenden Macht, die zu seinen Werkzeugen, aber nicht recht zum Menschen selbst gehört« (ebd.). Canetti weist sogar auf die mechanische, automatische Zerstörungssucht der Hände (z.B. gedankenloses und unbewusstes Zerbrechen eines Zündhölzchens oder Zerknüllen von Papier) hin, die sich »zu einem komplexen, technischen System« entwickelt hat: »Die mannigfachen Verzweigungen, die dieser mechanische Zerstörungstrieb beim Menschen aufweist, hängen eng zusammen mit der Entwicklung seiner Werkzeugtechnik. […] [A]ber letzte Instanz für alles bleibt ihm doch die Hand.« (III, 256) Siegfried Giedion,

schärfe wird in technischer Nachbildung zum Bohler; die einfache Zahnreihe findet sich wieder an Feile und Säge, während die greifende Hand und das Doppelgebiss in dem Kopf der Beisszange und in den Backen des Schraubstockes zum Ausdruck gelangt.« E. Kapp: Grundlinien einer Philosophie der Technik, S. 43. 238 Zu dem Urbild des Gefängnisses vgl. das erste Kapitel der vorliegenden Arbeit. Wie Canetti in diesem Kontext auf Mythen und Bibel verwiesen hat, ist auch nach Michail Bachtin der »aufgesperrte Mund (Schlund und Zähne)« »eines der Schlüsselmotive des volkstümlich-festlichen Motivsystems«. Bachtin, Michail: Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur. Übersetzt von Gabriele Leupold. Herausgegeben und mit einem Vorwort versehen von Renate Lachmann, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1995, S. 366. 239 Vgl. P. Friedrich: Die Rebellion der Masse im Textsystem, S. 212-216.

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der Schweizer Kunsthistoriker war und nach dem Krieg für die Zeitschrift Explorations mit McLuhan zusammenarbeitete, hat in seiner umfangreichen Untersuchung über die Geschichte der Technologie Mechanization Takes Command (dt. Die Herrschaft der Mechanisierung) ermittelt, dass die Mechanisierung vor allem auf dem Vorbild der Handbewegung beruht, für die »Flexibilität und Gegliedertheit« charakteristisch sind.240 Die Hand als »Greifwerkzeug« ist aber für die Automatisierung bzw. die präzise Wiederholung derselben Bewegung als »ein[en] endlose[n] Kreislauf« nicht geeignet.241 Die Bedeutung des »Griffes« für die Technik hat auch der französische Ethnologe André Leroi-Gourhan aus anthropologischer Sicht markiert. In seiner Anthropologie geht es nicht um einzelne Organe oder Körperteile, sondern um die Gestik, die vor allem die Bewegung der Hand ermöglicht. Den Griff als technische Gestik beobachtet man schon vorbildlich bei Säugetieren: »Die wesentlichen Züge der dem Menschen eigenen technischen Gestik sind offensichtlich mit dem Greifen verbunden, und wir haben gesehen, daß Greiftätigkeiten vor allem bei einer Kategorie von Säugetieren vorkommen […].«242 Leroi-Gourhan hat die enge Beziehung zwischen Gestik und Technik erläutert. Danach gehen Werkzeug und Sprache aus Gestik als direktem oder indirektem »Motor« hervor, was Leroi-Gourhan als »Ex-

240 Giedion, Sigfried: Die Herrschaft der Mechanisierung. Ein Beitrag zur anonymen Geschichte. Henning Ritter (Hg.), Frankfurt a.M.: Europäische Verlagsanstalt 1982, S. 69. »Die erste Stufe der Mechanisierung bestand in der Umwandlung des Greifens, Tastens, Drückens oder Ziehens der Hand in eine kontinuierlich rotierende Bewegung.« (Ebd., S. 71) Mit Giedions Untersuchungen befasst sich auch McLuhan mehrmals in Die Gutenberg-Galaxis. Detlev Schöttker hat die Möglichkeit erwähnt, dass Giedion McLuhan die Arbeit von Benjamin vermittelt haben könnte, da auch in Benjamins Schriften der Name Giedions auftaucht. Vgl. Benjamin, Walter: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit und weitere Dokumente. Kommentar von Detlev Schöttker, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2007, S. 168. 241 S. Giedion: Herrschaft der Mechanisierung, S. 70. 242 Leroi-Gourhan, André: Hand und Wort. Die Evolution von Technik, Sprache und Kunst. Übersetzt von Michael Bischoff, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1988, S. 297. Erster Band der Originalausgabe erschien im Jahr 1964, zweiter Band 1965.

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teriorisierung« bezeichnet.243 Gerade sie hat den Menschen das »Überleben des Kollektivs« ermöglicht. 244 Leroi-Gourhans Le geste et la parole (dt. Hand und Wort) behandelt die Evolution der Technik aus menschheitsgeschichtlicher Perspektive. Es ist im gleichen Jahr wie McLuhans Understanding Media erschienen und belegt, dass die Existenz der Werkzeugtechnik einschließlich der Sprache entsprechende, vorausgehende Gesten voraussetzt: »Tatsächlich existiert das Werkzeug nur im Operationszyklus; […] Wenn die systematische Technologie […] eine unerlässliche Grundlage bildet, so existiert das Werkzeug real nur in der Geste, in der es technisch wirksam wird.«245 Die Hand, das »Werkzeug der Werkzeuge«, stellt – bis zur digitalen Reduktion auf die Finger der Hand – immer das Schlüsselproblem in der Diskussion der Medientechnik dar. McLuhan schloss seine Medientheorie gerade an Canettis Überlegungen zur Hand an. Das Problem der Hand und der taktilen Berührung bildet zugleich den Ausgangspunkt in Masse und Macht. Es soll nun erklärt werden, wie McLuhan in seiner Medientheorie auf Canettis Masse und Macht im Hinblick auf die Hand rekurriert und in welchem Punkt sich die Interessen beider Denker differenzieren.

3.11 V ON H AND ZU H AND : C ANETTI »M EDIEN ALS Ü BERSETZER «

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Macht der Hand Bevor auf McLuhans Canetti-Lektüre in Bezug auf die Hand konkret eingegangen wird, sollen die Ausgangsüberlegungen in Masse und Macht sorgfältig nachvollzogen werden. In seiner Massen- und Machttheorie kreisen Canettis Gedanken immer um den menschlichen und tierischen Körper. Im Zentrum der anthropologischen Betrachtungen in Masse und Macht steht vor allem die Hand, die als »Organ des Kontakts«246 die taktile Berüh-

243 Vgl. ebd., S. 296-320. 244 Ebd., S. 297. 245 Ebd., S. 296. 246 Plessner, Helmuth: »Anthropologie der Sinne (1970)«, in: Gesammelte Schriften III. Anthropologie der Sinne. Günter Dux/Odo Marquard/Elisabeth Ströker

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rung verkörpert. Charakteristisch für die Geste der Macht und der Gewalt sind nach Canetti das Greifen, Ergreifen und Angreifen. Die »Berührungsfurcht« (III, 13), von der zu Beginn die Rede ist, gilt zuerst der Furcht vor dem Gepackt- und Ergriffenwerden durch Fremdes: »Die Angst vor dem Einbrecher gilt nicht seinen räuberischen Absichten allein, sie ist auch eine Furcht vor seinem plötzlichen, unerwarteten Griff aus dem Dunkel. Die Hand, zur Kralle geformt, wird als Symbol für diese Angst immer wieder verwendet. Viel von diesem Sachverhalt ist in den Doppelsinn des Wortes ›angreifen‹ eingegangen. Die harmlose Berührung wie die gefährliche Attacke, beides ist zugleich in ihm enthalten, und etwas vom letzteren klingt im ersten immer mit. ›Angriff‹, das Hauptwort, aber hat sich auf den schlechten Sinn des Wortes ausschließlich beschränkt.« (Ebd.)

Das Bild der geballten Faust, die etwas ergreift und nicht mehr loslässt, sieht Canetti als Symbol der Macht schlechthin: »Bei den Menschen wird die Hand, die nicht mehr losläßt, zum eigentlichen Sinnbild der Macht.« (III, 239)247 Die symbolische Macht des Ergreifens, um etwas zu beherrschen, findet ihr Vor- und Urbild in Raubtieren und Greifvögeln, die mit den Krallen bzw. den Fängen die Beute ergreifen und dann endgültig sich einverleiben. Beispielsweise manifestiert sich diese symbolische Macht des

(Hg.). Unter Mitwirkung von Richard W. Schmidt/Angelika Wetterer/MichaelJoachim Zemlin, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1980, S. 334. 247 Bekanntlich ist die Macht, die die Hand symbolisiert, traditionell als »Gottes Hand« repräsentiert worden, die in die Welt eingreift und damit seine Allmacht verkörpert. In seinem Essay zu Masse und Macht hat Karl Markus Michel über die Vorstellung von Gottes Hand berichtet, die in der bildenden Kunst im Mittelalter nicht selten auftauchte. Darüber hinaus hat Michel die symbolische Geste des Machthabers interpretiert, die Skulptur und Porträt darstellen. Vgl. Michel, Karl Markus: »Das Schweigen der Macht«, in: Krüger, Einladung zur Verwandlung. Essays zu Elias Canettis Masse und Macht (1995), S. 443ff. Canetti hat auch auf die »Geduld« der Hand Gottes aufmerksam gemacht, die in der Bibel dargestellt wurde: »Die ruhigen, die verlangsamten Prozesse der Hand haben die Welt, in der wir leben möchten, geschaffen. Der Töpfer, dessen Hände den Ton zu formen verstehen, steht als Schöpfer ganz am Anfang der Bibel.« (III, 249)

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Ergreifens noch in Hitlers berühmtem Plan, dass ein Adler über dem Berliner Kuppelberg in 290 Meter Höhe stehen sollte. Nach Speer sollte der Reichsadler mit dem Hoheitszeichen in den Fängen den Kuppelbau bekrönen.248 Aber Hitler forderte von Speer die Veränderung des Plans und bestand darauf, dass der Adler nicht das Hakenkreuz, sondern die Weltkugel in den Fängen halten sollte. Im Hitler-Essay zitiert Canetti Hitlers Äußerung aus Speers Erinnerungen: »›Hier soll nicht mehr der Adler über dem Hakenkreuz stehen, hier wird er die Weltkugel beherrschen! Die Bekrönung dieses größten Gebäudes der Welt muß der Adler über der Weltkugel sein!«‹ (VI, 279) Hier verkörpert der Adler mit der Weltkugel in den »Fängen« die archaische Macht des Ergreifens, die die moderne, totalitäre Herrschaftspolitik symbolisieren soll. Das unerwartete Ergriffenwerden durch Fremdes stellt ein kritisches Moment dar, in dem das Leben des Opfers gefährdet wird: »Das Ergreifen durch die anderen Sinne, des Sehens, des Hörens, des Riechens, ist lange nicht so gefährlich. Sie lassen noch Raum zwischen sich und ihrem Opfer; […] Das Tasten aber als Berührung ist der Vorbote des Schmeckens.« (III, 238) Das Tasten, das Berühren und das Ergreifen können einfach als die Aufhebung der räumlichen Distanz definiert werden. Für Helmut Plessner, der eine philosophische Anthropologie der Sinne entwirft, ist das Tasten der »Inbegriff der Nähe und Distanzlosigkeit«.249 Gerade diese »Nähe und Distanzlosigkeit« und deren Vermeidung spielen in der realen Konstruktion des sozialen Raums eine entscheidende Rolle. Canetti vergleicht den Menschen mit der »Windmühle«, die in regelmäßigen Raumabständen steht: »Auf einem bestimmten, sicheren Platze steht der Mensch und hält sich alles, was ihm in die Nähe kommt, mit wirkungsvollen Rechtsgebärden vom Leibe. […] Alles Leben, wie er es kennt, ist auf Distanzen angelegt […].« (III, 16) Das Haus, die Stellung und der soziale Rang, die alle Canetti als Beispiele nennt, tragen dazu bei, alle Arten von »Abständen« im zwischenmenschlichen wie institutionellen Bereich zu schaffen und zu halten (vgl. ebd.). Der Mensch, vor allem der Machthaber, organisiert die umgebenden Räume so, dass eine physische, unerwartete Berührung durch Fremdes möglichst nicht passieren kann: »Wo immer eine Form des Zu-

248 Vgl. A. Speer: Erinnerungen, S. 175. 249 H. Plessner: »Anthropologie der Sinne«, in: Gesammelte Schriften III (1980), S. 335.

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sammenlebens sich zwischen Menschen etabliert hat, drückt sie sich in Abständen aus, die ihnen diese unablässige Angst des Gepackt- und Ergriffenwerdens benehmen.« (III, 242. Hervorhebung von S. F.)250 Von der »Berührungsfurcht« kann der Mensch für Canetti nur in der dichten Masse befreit werden, in der man keine Angst voreinander mehr hat und in der alle sich gleich fühlen, indem physische Distanzen und soziale Differenzen zwischen Menschen aufgehoben werden. Dieses »Berührungsdilemma«, das den Konflikt zwischen »Berührungsangst und Verschmelzungslust«251 darstellt, löst ohne Umschweife die Mechanismen von Masse und Macht bei Canetti auf. Diese Problematik um die »Berührungsfurcht« des Menschen ist direkt an die Machttheorie der zweiten Hälfte in Masse und Macht gekoppelt. Das Kapitel »Die Eingeweide der Macht« widmet sich der Untersuchung über »Ergreifen und Einverleiben«, in der hauptsächlich die Funktion der Hand bzw. des Tastsinns aus anthropologischer und zoologischer Perspektive analysiert wird. Marshall McLuhan hat in Understanding Media gerade auf diese Erkenntnisse Canettis mehrfach Bezug genommen. Zunächst hat Canetti aufgrund von zoologischem Wissen die Entstehung und Differenzierung der menschlichen Hand nachvollzogen. Dabei weist er die Entwicklung des Daumens als Kennzeichen auf, das die Hand des Menschen von der Pfote oder der Klaue der anderen Tiere strikt unterscheidet. Die Funktionalität und Mobilität der Hand hat sich überwiegend verbessert, indem sich der Daumen von den anderen Fingern absonderte.

250 Vgl. Risthaus, Peter: Onto-Topologie. Zur Entäußerung des unverfügbaren Ortes von Martin Heidegger zu Jacques Derrida und jenseits, Zürich/Berlin: diaphanes 2009, S. 194-207: »Ganz im Sinne der anthropologischen Ausgangsthese von Masse und Macht, dass der Mensch nichts mehr fürchtet als die Berührung durch Unbekanntes, wird er zum Organisator der Räume, die ihn umgeben.« (S. 195f.) Risthaus schließt Canettis Analyse zur Hand an die philosophischen und medientheoretischen Überlegungen über den Raum von Heidegger über Derrida bis Flusser an. Dazu auch vgl. Risthaus, Peter: »Pfote, Klaue, Hand. Zum anthropogenen Zwischenraum«, in: von der Heiden/Vogl, Politische Zoologie (2007), S. 57-70. 251 Neumann, Gerhard: »›Yo lo vi‹ Wahrnehmung der Gewalt: Canettis Masse und Macht«, in: Krüger, Einladung zur Verwandlung. Essays zu Elias Canettis Masse und Macht (1995), S. 70f.

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Die Oppositionsstellung des Daumens ermöglicht der Hand, Gegenstände nicht nur zu ergreifen, sondern sie auch schnell loszulassen. Canetti stellt fest, dass die sich wiederholende Bewegung von Ergreifen und Loslassen bereits bei bestimmten Affen, die hauptsächlich auf Bäumen leben, bemerkbar ist (vgl. III, 247f.). Er beobachtet die Affen beim Klettern auf Bäumen und bezeichnet ihre typische Gestik, Äste zu ergreifen und sie wieder loszulassen, als eine der ältesten »Bewegungskonfigurationen« (III, 248). Diese Erklärungsweise scheint dem neuesten zoologischen Wissen nicht zu widersprechen und heute noch akzeptabel zu sein. Viel erstaunlicher ist jedoch, dass Canetti diese schwingende Pendelbewegung von Ergreifen und Loslassen beim Affen als die Urform eines Tauschaktes erkennt, der sich später in der menschlichen Gesellschaft entwickeln sollte: »Was den Affen von anderen Tieren unterscheidet, ist die rasche Aufeinanderfolge beider Bewegungen. Ergreifen und Loslassen jagen hintereinander her und verleihen den Affen etwas von der Leichtigkeit, die man an ihnen so bewundert. Auch die höheren Affen, die von den Bäumen wieder zur Erde herabgestiegen sind, haben sich diese wesentliche Fähigkeit der Hände, gleichsam ineinanderzuspielen, immer bewahrt. Eine weitverbreitete Übung des Menschen erinnert in der ganzen Art, wie sie in Erscheinung tritt, sehr deutlich daran: der Handel. Er besteht darin, daß man für etwas, was man bekommt, etwas Bestimmtes hergibt. […] Die weitverbreitete und tiefe Freude des Menschen am Handel läßt sich also zum Teil auch daraus erklären, daß er so eine seiner ältesten Bewegungskonfigurationen als seelische Haltung fortsetzt. In nichts ist der Mensch dem Affen noch heute so nahe wie im Handel.« (Ebd.)

Die Wörter »Handel« und (ökonomisches) »Handeln« sind beide mit der »Hand« etymologisch verwandt. Laut Canetti sind die wirtschaftlichen Aktivitäten der Menschen bzw. der Handel nichts anderes als die seelische Fortsetzung bzw. Verlängerung der primitiven Hand- und Armbewegung, die auch für die Affen auf den Bäumen charakteristisch ist. In dieser rhythmischen Bewegung sieht Canetti den »Ursprung aller Ökonomie«.252

252 Platthaus, Andreas: »Der ertäubende Rhythmus, die blendende Vermehrung. Über den Sinnverlust der Massenproduktion«, in: Krüger, Einladung zur Verwandlung. Essays zu Elias Canettis Masse und Macht (1995), S. 385. Auch nach Gerhard Neumann: »Jede Theorie der Wahrnehmung, die zugleich eine

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Die Bewegungskonfiguration, Äste zu ergreifen und sie wieder loszulassen, wird auf den Waren- und Geldaustausch angewendet. Interessanterweise wird das Betrogenwerden beim Handel dazu noch mit dem Fallen der Affen vom Baum gleichgesetzt: »Diese krassere Form des Betrugs, wo einem etwas ohne jeden Gegenwert weggenommen wird, entspricht, in die Vorgänge des Kletterns übersetzt, dem Fallen vom Baume.« (III, 248) Als Korrelat zu Ergreifen und Loslassen wird Nehmen und Geben assoziiert. Wie lässt sich nun diese überraschende, vielleicht »komische«253 Darlegung von Canetti verstehen, die »Hand«-Bewegung mit dem »Handel« im

Theorie sozialen Handelns sein will, nimmt ihren Ausgangspunkt von einer Funktionsbestimmung und Hierarchie der (fünf) Sinne; so auch diejenige Canettis.« Neumann hat das Privileg des Tastsinnes, vor allem der Hand als Wahrnehmungs- und Bewegungsorgan, in Masse und Macht folgenderweise zusammengefasst: »So gilt denn auch Canettis Aufmerksamkeit zunächst und grundlegend der Hand, als dem Organ der Berührung und der Besitz-Stiftung schlechthin, des »Handels« […] im ökonomischen wie im somatischen Sinne […].« G. Neumann: »›Yo lo vi‹ Wahrnehmung der Gewalt: Canettis Masse und Macht«, in: Krüger, Einladung zur Verwandlung. Essays zu Elias Canettis Masse und Macht (1995), S. 71. 253 Man wird nicht umhinkönnen, über Canettis Behauptung zu lachen, dass der Mensch dem Affen noch heute in nichts so nahe wie im Handel sei. In der Tat hat Anna Peiter in Zusammenhang mit ihrem Thema »Komik und Gewalt« bei Canetti diese Analogie zwischen Hand und Handel als Beispiel der »Komik als literarische Strategie« aufgegriffen: »Canetti versucht, die Leserschaft mit Hilfe der Komik dazu zu zwingen, einen neuen Blick auf sich selbst zu gewinnen. […] Das Tierische, das man zunächst mit dem Gestus der Überlegenheit von sich wegschieben mag, schlägt um in Vertrautheit und Selbsterkenntnis […], weil das analogische, auf etymologischen Verknüpfungen beruhende Verfahren von vornherein die Absicht des Autors erkennen lässt, bestimmte Prinzipien des Warentausches in ein komisches Licht zu rücken.« Peiter, Anne D.: Komik und Gewalt. Zur literarischen Verarbeitung der beiden Weltkriege und der Shoah, Köln/Weimar/Wien: Böhlau 2007, S. 341. Peiter hat auch im Nachlass eine unveröffentlichte Passage über die Hand gefunden: »Durch die Entdeckung der Hand verlängert und verteilt sich die Macht (korrigiert in: ›Gewalt‹; A.P.). Aus dem Akt des Ergreifens und seiner tödlichen Konzentration wird der Akt des Haltens ohne zu töten. Die Hand allein, für sich in all ihren einzelnen

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wirtschaftlichen Bereich direkt zu verknüpfen? Gerade diese Analogie zwischen Hand und Handel interpretiert McLuhan als ein wichtiges Beispiel der Erweiterung des Körpers. Im Kapitel »Geld (Money)« in Understanding Media hat er Canettis Auffassung über den Ursprung des Handels zusammenfassend entwickelt: »Die Währung stellt eine Möglichkeit dar, naheliegende Hauptprodukte und Handelswaren, die zuerst als Geld verwendet werden, loszulassen, um den Handel auf den ganzen Sozialkomplex auszudehnen. Der Handel mit einer Währung beruht auf dem Prinzip eines Kreislaufs von Ergreifen und Loslassen. […] Tatsächlich behauptet Elias Canetti in seinem Buch ›Masse und Macht‹, daß der Händler es mit einer der ältesten Beschäftigungen zu tun hat, nämlich der, auf Bäume zu klettern und sich von Ast zu Ast zu schwingen. Das primitive Greifen, Abschätzen und Zeiteinteilen der größeren Baumaffen sieht er als eines der ältesten motorischen Verhaltensmuster in das Finanzwesen übertragen. Genau wie die Hand in den Ästen eines Baumes ein Verhaltensmuster des Greifens lernte, das vom Nahrung-zum-Mund-Führen sehr verschieden war, entwickelte der Händler und Finanzier faszinierende abstrakte Tätigkeiten, die Ausweitungen des gierigen Kletterns und der Beweglichkeit der größeren Affen sind.«254

Akten betrachtet, zeigt sämtliche Aspekte der Macht.« Nachlass, Dezember 1948, zitiert nach A. D. Peiter: Komik und Gewalt, S. 342. 254 M. McLuhan: Die magischen Kanäle, S. 204f. Im englischen Original lautet es: »Currency is a way of letting go of the immediate staples and commodities that at first serve as money, in order to extend trading to the whole social complex. Trading by currency is based on the principle of grasping and letting go in an oscillating cycle. […] In fact, Elias Canetti in Crowds and Power argues that the trader is involved in one of the most ancient of all pastimes, namely that of climbing trees and swinging from limb to limb. The primitive grasping, calculating, and timing of the greater arboreal apes he sees as a translation into financial terms of one of the oldest movement patterns. Just as the hand among the branches of the trees learned a pattern of grasping that was quite removed from the moving of food to mouth, so the trader and the financier have developed enthralling abstract activities that are extensions of the avid climbing and mobility of the greater apes.« M. McLuhan: Understanding Media, S. 132f.

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Alles, was Funktion und Effekt der Körperteile und der Sinnesorgane erweitert, umformt und entstellt, gilt als »Medium« bei McLuhan. Allerdings handelt es sich hier nicht um die Erweiterung des einzelnen Körperteils, sondern um die Ausweitung der Bewegung bzw. »des gierigen Kletterns und der Beweglichkeit der großen Affen«. Das Wesen des Handels, »für etwas, was man bekommt, etwas Bestimmtes herzugeben«, ist für Canetti und auch McLuhan im Grunde auf »eine[s] der ältesten motorischen Verhaltensmuster« zurückzuführen. Diese Analogie beschränkt sich nicht auf den primitiven Tauschhandel, der direkt von Mensch zu Mensch stattfindet, sondern lässt sich ferner auf den Geldhandel im modernen Wirtschaftskomplex übertragen, der sich global entwickelt hat.255 Das Interesse des an der Börse spekulierenden Finanziers besteht gerade darin, gekaufte Aktien zur richtigen Zeit »loszulassen«, damit man davon durch Kursgewinn möglichst profitieren kann. Mit schlechtem Timing loslassen und dann verlieren entspricht, »in die Vorgänge des Kletterns übersetzt« (Hervorhebung von S. F.), ebenfalls dem Absturz vom Baum. Aus dieser zitierten Passage wird zugleich ersichtlich, dass der Handel nicht nur die »Ausweitung«, sondern auch die »Übersetzung/Übertragung« der körperlichen Bewegung in das »Finanzwesen« darstellt. Diese einfachste und älteste »Bewegungskonfiguration« wird nicht nur zum ökonomischen Handeln erweitert, sondern zugleich in eine abstrakte, komplizierte Sozialtätigkeit übertragen. Der Begriff der Übersetzung/Übertragung kann bei McLuhan im Doppelsinn verstanden werden. Was den Körper erweitert und ihn in eine andere Sphäre bzw. Form überträgt, kann man als »Medium« bezeichnen. Darüber hinaus spricht McLuhan von der Umwandlung der Wahrnehmungsweise mittels der Erfindung und der Verbindung mit dem neuen Medium. Die Medien haben das Vermögen, menschliche Erfahrung in neue Formen zu übertragen bzw. zu verwandeln. Diese Eigenschaft der Übersetzung/Übertragung hat McLuhan als die wesentliche Funktion der Medien formuliert. Im Kapitel »Medien als Übersetzer« wird die Handbewegung

255 Elmar Altvater versucht Masse und Macht in dem Kontext der Globalisierung, wo der Weltmarkt herrscht, zu situieren, ohne jedoch auf den Handels-Begriff bei Canetti einzugehen. Vgl. Altvater, Elmar: »Masse und Macht im Zeitalter der Globalisierung«, in: Leviathan. Zeitschrift für Sozialwissenschaft 1 (1998), S. 133-151.

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von Ergreifen und Loslassen mit der Leistung der Technik und der Medien schlechthin in Zusammenhang gebracht: »Das Vermögen der Technik, das allerdings davon abhängig ist, etwas zu ergreifen und dann wieder loszulassen, um den Aktionsradius vergrößern zu können, ist schon als eine besondere Fähigkeit bei höheren Baumaffen beobachtet worden, welche die auf dem Boden lebenden Affen nicht haben. Elias Canetti hat auch richtig diese Fähigkeit der höheren Affen, etwas zu ergreifen und wieder loszulassen, mit den Methoden der Börsenspekulanten in Beziehung gebracht. Das alles ist in nuce in der volkstümlichen Version über Robert Browning enthalten: ›Eines Menschen Fassungskraft muß über seinen Griff hinausgehen, oder was man eine Metapher nennt.‹ Alle Medien sind mit ihrem Vermögen, Erfahrung in neue Formen zu übertragen, wirkliche Metaphern. Das gesprochene Wort war die erste Technik, die es dem Menschen möglich machte, seine Umwelt loszulassen und sie in neuer Weise zu

›begreifen‹.«256 Im Anknüpfen an Canetti manifestiert sich McLuhans grundlegende Einsicht über die Funktion der Medien. Deren Eigenschaft, Erfahrung in neue Formen zu übertragen, findet McLuhan gerade in der Metapher, die bekanntlich sich vom griechischen Wort »meta phérein« (übertragen, übersetzten und transportieren) herleitet. 257 Das »Begreifen« selber ist nichts

256 M. McLuhan: Die magischen Kanäle, S. 96f. Das englische Original lautet es: »The power of technology as dependent on alternately grasping and letting go in order to enlarge the scope of action has been observed as the power of the higher arboreal apes as compared with those that are on the ground. Elias Canetti made the proper association of this power of the higher apes to grasp and let go, with the strategy of the stock market speculators. It is all capsulated in the popular variant on Robert Browning: ›A man’s reach must exceed his grasp or what’s a metaphor.‹ All media are active metaphors in their power to translate experience into new forms. The spoken word was the first technology by which man was able to let go of his environment in order to grasp it in a new way.« M. McLuhan: Understanding Media, S. 56f. 257 McLuhan bezieht seine Medientheorie absichtlich auf die Theorie der Metapher. Im Kapitel über »Straßen und Nachrichtenwege« bemerkt er: »Das Wort ›Metapher‹ kommt vom griechischen meta und pherein, hinübertragen oder befördern. In diesem Buch befassen wir uns mit allen Formen der Beförderung

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anders als die Metapher des physischen »Ergreifens«. Laut McLuhan stellt das gesprochene Wort für den Menschen die erste Technik dar, die Umwelt zu »begreifen«.258 In diesem Zitat scheint das deutsche Wort »begreifen« viel aufklärender für McLuhans Absicht als das englische Originalwort »grasp« zu sein. Ohne Zweifel hat dieses begriffliche Greifen durch die Sprache dem Menschen die Macht verliehen, die den Tieren nicht zugänglich ist.259 Indem die aggressive Tat des »Angreifens« in den seelischen Akt des »Begreifens« übertragen wird, ist es Menschen gelungen, sich von der Natur und Umwelt zu distanzieren und sie zu beherrschen. »Begreifen« und »Erfassen« sind für den Menschen privilegierte Akte, die ihm ermöglichen,

von Waren und Nachrichten, sowohl als Metapher wie auch als Austausch. Jede Form von Transport befördert nicht nur, sondern überträgt und verändert den Absender, den Empfänger und die Botschaft. Die Verwendung irgendeines Trägers oder einer Erweiterung des Menschen verändert den Kanon der gegenseitigen Abhängigkeit zwischen Menschen genauso wie das Verhältnis unserer Sinne zueinander.« M. McLuhan: Die magischen Kanäle, S. 141f. 258 Dagegen hat Flusser in Kommunikologie den Gestus des Begreifens nicht mit dem »Sprechen«, sondern mit dem »Lesen« verknüpft. Die Herkunft des Wortes »Lesen« führt auf »sammeln«, »klauben« zurück: »«Lesen» (das etymologisch auch mit «klauben» verwandt ist) ein Aufklauben und Sammeln von Körnern, und die Botschaft kann erst dann als empfangen gelten, wenn man am Ende der Zeilen alle Körner aufgeklaubt hat. Dieses Klauben von Informationsbits heißt eben «Begreifen», und dieses Einsammeln der Steinchen «Kalkulieren». Und «Schreiben» bezieht sich selbstredend auf die Rückseite der gleichen Medaille.« V. Flusser: Kommunikologie, S. 130. Seine Medientheorie ist ebenfalls anthropologisch orientiert, obwohl er sich von McLuhan distanziert. Zur Schriftgenese und zum Lesen bei Canetti vgl. Anm. 85 im ersten Kapitel der vorliegenden Arbeit. 259 In der Dialektik der Aufklärung haben Horkheimer und Adorno den Menschen vom Tier in folgender Weise unterschieden: »Die Welt des Tiers ist begriffslos. Es ist kein Wort da, um im Fluß des Erscheinenden das Identische festzuhalten, im Wechsel der Exemplare dieselbe Gattung, in den veränderten Situationen dasselbe Ding. […] Damit Glück substantiell werde, dem Dasein den Tod verleihe, bedarf es identifizierender Erinnerung, beschwichtigender Erkenntnis, der religiösen oder philosophischen Idee, kurz des Begriffs.« (Hervorhebung von S. F.) M. Horkheimer/T. W. Adorno: Dialektik der Aufklärung, S. 263.

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Rückkoppelung im Verhältnis zur Umwelt zu etablieren.260 Außerdem hält McLuhan das Tastgefühl der Hand für den integrierenden Meta-Sinn, der alle anderen verbindet und den Gemeinsinn (den Common sense) hervorbringt.261 Das Begreifen und der Begriff können sicher als der Inbegriff des Griffs verstanden werden. Canetti hat das Wort »Ergriffenheit« als das Zeugnis für »jene[n] zentralen und am höchsten gefeierten Akt der Macht« (III, 240f.) bezeichnet: »Der ›Ergriffene‹ ist von einer Riesenhand gepackt, von ihr ganz eingefaßt und tut nichts, um sich gegen sie, deren Absichten er nicht kennen kann, zu wehren.« (III, 241)262

260 Nach dem Neurologen Erwin Straus, dessen Beitrag Helmuth Plessner zitiert: »Sie [die Hand] ist ein Mittler zwischen uns und den anderen Menschen und Dingen.« Zitiert nach H. Plessner: »Anthropologie der Sinne«, in: Gesammelte Schriften III (1980), S. 334. Zur Hand als Medium für die Rückkoppelung vgl. Seitter, Walter: Physik der Medien. Materialien, Apparate, Präsentierungen, Weimar: Verlag und Datenbank für Geisteswissenschaften 2002, S. 59-68, besonders S. 65. 261 Vgl. M. McLuhan: Die magischen Kanäle, S. 102. Die taktile Berührung spielt die Rolle, »eine Form der Erfahrung eines Sinnes auf alle Sinne zu übertragen«. 262 Wie Jacques Derrida in seinem Essay Heideggers Hand ausführlich darlegt, gilt Martin Heidegger als jener Philosoph, in dessen Philosophie »ein Denken der Hand oder eine Hand des Denkens« einen besonderen Stellenwert einnimmt. Vgl. Derrida, Jacques: Geschlecht (Heidegger). Sexuelle Differenz, ontologische Differenz. Heideggers Hand (Geschlecht II). Übersetzt von HansDieter Gondek. Peter Engelmann (Hg.), Wien: Passagen 1988, S. 65. Peter Friedrich hat bereits »Canettis Hand« mit »Heideggers Hand« verglichen, indem er auf Derridas Diskussion hinweist. Vgl. P. Friedrich: Die Rebellion der Masse im Textsystem, S. 206-216. In der Vorlesung Die Grundbegriffe der Metaphysik hat Heidegger nicht über die Metaphysik allein, sondern über den Begriff und das Begreifen selbst nachgedacht. Für Heidegger gründet philosophisches Begreifen in einer Ergriffenheit, die in der Grundstimmung wurzelt: »[D]iese [metaphysischen] Begriffe und ihre begriffliche Strenge werden wir nie begriffen haben, wenn wir nicht zuvor ergriffen sind von dem, was sie begreifen sollen. Dieser Ergriffenheit, ihrer Weckung und Pflanzung, gilt das Grundbemühen des Philosophierens.«; »In ihm [Schrecken] offenbart sich ge-

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In den Gesprächen und den Aufzeichnungen hat Canetti sein Misstrauen gegen den Begriff und begriffliche Systeme mehrmals bekundet. In einer Aufzeichnung aus Die Fliegenpein schreibt Canetti: »Er denkt in Tieren, wie andere in Begriffen.« (V, 15) In diesem kurzen Satz scheint sich auch ein wesentlicher Unterschied des Interesses zwischen Canetti und McLuhan zu zeigen. Canetti geht es um ein Kontinuum zwischen den Kreaturen, deshalb orientieren sich seine Gedanken im Grunde nicht an den starken bzw. klugen Menschen, sondern an den schwachen Tieren. Dagegen richtet sich McLuhans Interesse auf den Menschen, was schon ersichtlich daraus ist, dass im Nebentitel seiner Bücher immer »Man« (der Mensch) steht.263 Aber was heißt »in Tieren zu denken«?264 Da Canetti apodiktisch behauptet, dass der Mensch dem Affen noch heute in nichts so nahe wie im Handel sei, versucht er gerade im seelischen Menschenbereich der Animali-

rade ein Wesentliches alles philosophischen Begreifens, daß der philosophische Begriff ein Angriff ist auf den Menschen und gar auf den Menschen im Ganzen – aufgejagt aus der Alltäglichkeit und zurückgejagt in den Grund der Dinge. Der Angreifer aber ist nicht der Mensch, das zweifelhafte Subjekt des Alltags und der Wissensseligkeit, sondern das Da-sein im Menschen richtet im Philosophieren den Angriff auf den Menschen. So ist der Mensch im Grunde seines Wesens ein Angegriffener und Ergriffener, von dem ›daß er ist, was er ist‹ angegriffen und in alles begreifende Fragen miteinbegriffen.« Heidegger, Martin: Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit, in: Gesamtausgabe. II. Abteilung: Vorlesungen 1923-1944. Band 29/30, Frankfurt a.M.: Vittorio Klostermann 1983, S. 9, 31. Anders als bei Heidegger gehören für Canetti der Begriff sowie der Angriff nicht zur Philosophie, sondern sind Macht- und Gewaltphänomen. Der Ergriffene ist kein anderer als derjenige, der von der unwiderstehlichen, unsichtbaren Hand der Macht gepackt ist. 263 Die Hauptwerke von McLuhan haben jeweils folgende Originaluntertitel: Folklore of Industrial Man von The Mechanical Bride, The Making of Typographic Man von The Gutenberg Galaxy und The Extensions of Man von Understanding Media. 264 Anhand von dieser Aufzeichnung untersucht Benjamin Bühler »Canettis Epistemologie des Tiers«. Vgl. Bühler, Benjamin: »›Er denkt in Tieren, wie andere in Begriffen.‹ Canettis Epistemologie des Tiers«, in: Lüdemann, Der Überlebende und sein Doppel. Kulturwissenschaftliche Analysen zum Werk Elias Canettis (2008), S. 349-365.

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tät auf die Spur zu kommen. Der oben genannten Aufzeichnung ist zu entnehmen, dass Canetti sich im Klaren über die Unterscheidung zwischen dem animalischen Ergreifen und dem menschlichen Begreifen ist. Aber wie soll man konkret verstehen, dass der Mensch mit der Sprache die Umwelt »begreift«? Mit anderen Worten: wie einverleibt und verinnerlicht der Mensch sich die ihn umgebende Welt, damit sie – anders als bei Tieren – zur Umwelt für ihn wird? Das ist für Canetti nicht schon durch das Begreifen der Hände, sondern erst durch deren Verwandlungsfähigkeit möglich geworden. Verwandelnde Hände Ohne Zweifel nimmt die Betrachtung der Hand eine Schlüsselstellung in Masse und Macht ein. Dort bezieht sich die Hand nicht nur auf das Machtphänomen, sondern auch auf die Verwandlung, welche der Macht entgegengesetzt wird und für Canetti das Menschenwesen begründet. Da unter allen Körperteilen des Menschen die Hände die feinste und elastischste Bewegungsfähigkeit besitzen, gehören sie neben dem Gesicht zum verwandlungsreichsten Organ.265 Wie hat nun die Hand diese Verwandlungsfähigkeit erworben, die man bei der Kralle oder der Pfote nicht beobachten kann? Wie bereits bemerkt, wird in Masse und Macht die Symbolik der Stellungen und Gebärden des Menschen als Machtphänomen betrachtet.266 Die einzelne Lage und deren

265 Arnold Gehlen hat »Hände und Gehirn« wegen ihrer Flexibilität privilegiert: »Hände und Gehirn mögen als spezialisierte Organe des Menschen angesprochen werden, aber sie sind es in anderem Sinne als die tierischen: verwendungsvieldeutig, spezialisiert für unspezialisierte Aufgaben und Leistungen, gewachsen daher den unvorhersehbaren Problemen der offenen Welt.« A. Gehlen: »Über Kultur, Natur und Natürlichkeit« (1958), in: ders.: Anthropologische Forschung. Zur Selbstbegegnung und Selbstentdeckung des Menschen (1975), S. 95. 266 Dass auch Michel Foucault in seiner Studie Überwachen und Strafen von 1975 Geste und Körperhaltung als Machtproblem analysiert hat, ist wohlbekannt. Während Foucault die Normalisierung und Institutionalisierung des Körpers durch die Disziplinarkontrolle seit dem 18. Jahrhundert im Abendland thematisiert, hat Canetti die symbolische, konstante Macht der Stellungen unter anth-

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Veränderungen durch Stehen, Sitzen, Liegen, Hocken und Knien machen »stumme Konstellationen der Macht« (III, 459) aus: »Alle diese Stellungen, und ganz besonders der Übergang von einer in die andere, drücken etwas Bestimmtes aus. Rang und Macht haben sich feste, traditionelle Positionen geschaffen.« (Ebd.) Für Canetti ist vor allem die aufrechte Körperhaltung vom überlegenen Machtgefühl untrennbar. Der Stehende fühlt sich frei und selbständig (vgl. III, 460). Viele Philosophen und Anthropologen denken, dass für die Evolution der Menschheit der aufrechte Gang ein entscheidendes Ereignis darstellte. Denn die Aufrichtung befreite beide Hände davon, Mittel zur Fortbewegung zu sein, so dass die völlig befreiten Hände dem Menschen ermöglichten, Werkzeug und Technik zu schaffen und zu benutzen. In diesem Sinne markierten der aufrechte Gang und damit die Befreiung der Hände eine wichtige Grenze, die den Menschen vom Tier unterscheidet. Die rhythmische Fortbewegung der Gliedmaßen: Arme und Beine wurde nun von der der Füße allein abgelöst. 267 Die physiologischen »Befreiungen« des menschlichen Körpers, die sich in der Evolution stufenweise ereigneten, hat Leroi-Gourhan ausführlich begründet. Er zählt z.B. den aufrechten Gang, die freien Hände bei der Fortbewegung und die Erfindung von Werkzeugen und Sprache zu den grundlegenden Menschheitskriterien, die miteinander

ropologischen Aspekten untersucht. Darin unterscheidet sich Canettis Interesse für Stellung und Geste strikt von Foucaults Absicht. Foucault beschreibt den Körper als Gegenstand der Disziplinarkontrolle in den Institutionen: »Indem der Körper zur Zielscheibe für neue Machtmechanismen wird, bietet er sich neuen Wissensformen dar. Es handelt sich mehr um einen Körper der Übung als um einen Körper der spekulativen Physik; eher um einen von der Autorität manipulierten Körper als um einen von Lebensgeistern bevölkerten Körper; um einen Körper der nützlichen Dressur und nicht der rationalen Mechanik.« Foucault, Michel: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Übersetzt von Walter Seitter, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1976, S. 199. 267 Der Rhythmus ist für den Menschen »ursprünglich ein Rhythmus der Füße« (III, 32). Aber Sven Hanuschek hat diese Idee in Frage gestellt: »Canetti war in dieser Zeit [vor der Veröffentlichung von Masse und Macht] Kindern noch abgeneigt, sonst hätte er gewußt, daß der erste Rhythmus im Leben der Herzschlag der Mutter ist, vor der Geburt; im ganzen Leben bleibt der Plus der erste und wichtigste Rhythmus.« S. Hanuschek: Elias Canetti, S. 451.

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eng zusammenhängen und kooperieren.268 So zeichnet sich der Mensch zuerst durch seine aufrechte Körperhaltung aus.269 Aus dem zweibeinigen Gehen resultiert nicht nur die Befreiung der Hände, sondern zugleich die Ausweitung des Gesichtskreises. 270 Die Befreiung der Hände und deren Folgen hat Plessner als die »Freilegung des Auge-Hand-Feldes« formuliert und diese als den Ausgangspunkt seiner Anthropologie der Sinne genommen.271 Sicherlich verdankt sich das Freiheitsgefühl des Stehenden auch der Freiheit der Hände, die ein wichtiges Merkmal für den Menschen ausmacht.

268 Vgl. A. Leroi-Gourhan: Hand und Wort, S. 36: »Die Freiheit der Hand führt fast notwendig zu einer technischen Aktivität, die von der des Affen verschieden ist; ihre Freiheit bei der Fortbewegung verlangt im Verein mit dem kurzen Gesicht und dem Fehlen offensiver Reißzähne die Verwendung künstlicher Organe, von Werkzeugen also.« 269 Vgl. ebd., S. 36. 270 Freud hat erklärt, dass die Entstehung des aufrechten Gangs zur Erhöhung des Gesichtssinns führte und dagegen die Geruchsempfindung des Menschen entwertete. In einer längeren Fußnote in Das Unbehagen in der Kultur schreibt Freud: »Das Zurücktreten der Geruchsreize scheint aber selbst Folge der Abwendung des Menschen von der Erde, des Entschlusses zum aufrechten Gang, der nun die bisher gedeckten Genitalien sichtbar und schutzbedürftig macht und so das Schämen hervorruft. Am Beginne des verhängnisvollen Kulturprozesses stünde also die Aufrichtung des Menschen. Die Verkettung läuft von hier aus über die Entwertung der Geruchsreize und die Isolierung der Periode zum Übergewicht der Gesichtsreize, Sichtbarwerden der Genitalen, weiter zur Kontinuität der Sexualerregung, Gründung der Familie und damit zur Schwelle der menschlichen Kultur. Dies ist nur eine theoretische Spekulation, aber wichtig genug, um eine exakte Nachprüfung an den Lebensverhältnissen der dem Menschen nahestehenden Tiere zu verdienen.« S. Freud: Das Unbehagen in der Kultur, S. 65. Diese »theoretische Spekulation« von Freud scheint Leroi-Gourhan – allerdings ohne Bezug auf ihn – aus zoologisch- und anthropologischer Perspektive zu überprüfen. 271 »Wir können nur die Korrespondenz zwischen aufrechter Haltung, Auge und Handgebrauch zum Ausgangspunkt nehmen.« H. Plessner: »Anthropologie der Sinne«, in: Gesammelte Schriften III (1980), S. 333. Die medientheoretische Bedeutung dieses »Auge-Hand-Feldes« von Plessner hat Walter Seitter kommentiert: »Das Schreiben mit dem Bleistift oder auf der Tastatur des Compu-

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Die von der Fortbewegung befreiten Hände, die erst der aufrechte Gang möglich machte, begnügen sich nicht mehr mit der einfachen Bewegung von Ergreifen und Loslassen. Beide Hände wurden zum verwandlungsfähigen Organ, das über vielfache Bewegungsmöglichkeiten und Handlungsfunktionen verfügt. Obwohl nach Canetti sich feine Bewegung und empfindlicher Tastsinn der Hände schon in den Fingerübungen von Affen finden (vgl. III, 250f.), darf nicht übersehen werden, dass die Freiheit und die Verwandlungsfähigkeit der Hände mit der aufrechten Körperhaltung eng zusammenhängen. Damit haben die Hände mit »ihr[em] eigene[n] Verwandlungsleben« (III, 255) begonnen. Sie haben nun formen, nähen, streicheln, verflechten, spielen und weben gelernt (vgl. III, 254). Wie »begriff« der Mensch dann die Umwelt mit seiner Verwandlungsfähigkeit der Hände? Wie wurde die umgebende Welt die Umwelt für den Menschen? Canetti ist der Ansicht, dass die Umwelt eigentlich aus zahllosen Gegenständen besteht, denen man sich anverwandeln soll. Indem der Mensch verschiedene Dinge der Außenwelt mit Händen und Gesten nachahmte und nachspielte, verinnerlichte er allmählich die Umwelt. Canetti erklärt, dass »Gegenstände in unserem Sinne, Gegenstände, denen ein Wert zukommt, weil wir sie selber gemacht haben, erst als Zeichen der Hände bestanden« (III, 255). Mannigfaltige Gestalten und Verflechtungen, die die Hände darstellen und formen, können auch als »Zeichensprache für Dinge« (ebd.), also als Gebärdensprache aufgefasst werden: »Es ist nicht genug, daß dies oder jenes Gebilde in der Umwelt bereits vorhanden ist. Bevor der frühe Mensch es selber einmal zu formen versucht, müssen seine Hände und Finger es erst spielen. […] Was man mit Hilfe der Hände spielte, wurde erst später, wenn es oft genug gespielt worden war, auch wirklich gemacht. Worte und Gegenstände wären demnach Ausfluß und Ergebnis eines einzigen einheitlichen Erlebnisses, eben der Darstellung durch die Hände. Alles, was der Mensch ist und kann, alles, was in einem repräsentativen Sinne seine Kultur ausmacht, hat er sich durch Verwandlungen erst einverleibt. Hände und Gesicht waren die eigentlichen Vehikel dieser Einverleibung. Ihre Bedeutung nahm – im Verhältnis zum übrigen

ters spielt sich in diesem Auge-Hand-Feld ab, dessen eines Konstitutivum die externe immanente ›Reflexivität‹ bereits einer Hand ist.« W. Seitter: Physik der Medien, S. 63.

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Körper – immer mehr zu. Das Eigenleben der Hände, in diesem ursprünglichsten Sinne, hat sich im Gestikulieren noch am reinsten erhalten.« (Ebd.)272

Vielleicht ist diese Stelle am wichtigsten in Masse und Macht, weil laut Canetti gerade die Verwandlungsfähigkeit das Menschenwesen begründet. Durch die Begabung zur Verwandlung ist der Mensch erst wirklich zum Menschen geworden (vgl. III, 127). Indem sich der Mensch in Tiere und Pflanzen oder anorganische Gebilde verwandelt, »einverleibt« er sich die umgebende Welt, die dann anders als bei Tieren wahrgenommen wird. Für den Menschen ist und bleibt die Verwandlung »seine eigentümliche Begabung und Lust« (ebd.), die in erster Linie auf körperlichen Gebärden basiert. Im Vorgang der Verwandlung entwickeln sich »Worte und Gegenstände« als »Ausfluß« durch die Gestik der Hände. Dabei fungieren beide Hände als »Vehikel« bzw. konkretes Medium zur Verwandlung. So stellt das »Zeichen der Hände« (III, 255) die ursprüngliche Form der Sprache dar.273 Bei Canetti lässt sich der Körper als privilegiertes Medium bezeich-

272 Hier handelt es sich auch um das Gesicht, das ebenfalls verwandlungsfähig ist. Vermutlich kooperiert die Muskelbewegung des Gesichtes, vor allem des Mundes und der Zunge, mit der Handbewegung. Den Zusammenhang zwischen Lautsprache und Gebärdensprache hat Leroi-Gourhan aus anthropologischer Sicht belegt: »Zwischen der Tätigkeit der Hand und der Tätigkeit der vorderen Gesichtsorgane besteht eine enge Koordination. Beim Affen erstreckt sich diese Verbindung vor allem auf die Nahrungsaufnahme, und dies gilt in den entsprechenden Positionen auch für den Menschen, doch darüber hinaus ist bei ihm auch eine nicht weniger starke Koordination zwischen Hand und Gesicht beim Sprechen festzustellen. Diese Koordination, die sich in Gesten ausdrückt, mit denen das gesprochene Wort kommentiert wird, erscheint auch in der Schrift als einer Transkription von Lauten.« A. Leroi-Gourhan: Hand und Wort, S. 112. Im Kapitel »Hand« vom Handbuch Historische Anthropologie wird auf Canettis Idee über die mimetische Fähigkeit der Hand Rekurs genommen. Vgl. Gebauer, Gunter: »Hand«, in: Christoph Wulf (Hg.), Vom Menschen. Handbuch Historische Anthropologie, Weinheim/Basel: Beltz 1997, S. 479-489, besonders S. 483f. 273 Vor Canetti und Leroi-Gourhan ist Walter Benjamin zu einem ähnlichen Ergebnis gekommen. Im »Sammelreferat« Probleme der Sprachsoziologie fasst er die stark ethnologisch und anthropologisch orientierten Sprachstudien von

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nen, das dem Menschen die Macht der Verwandlung verleiht. In diesem Sinne widmet sich eine zentrale Betrachtung in Masse und Macht dem Körper als Medium.

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Welche Bedeutung hat nun die Betrachtung über die Hand bzw. den Körper als Medium in Masse und Macht für den aktuellen medientheoretischen Diskurs? Was verbindet im größeren Rahmen Canetti und McLuhan trotz ihrer theoretischen Differenzen? Man hat bereits festgestellt, dass bei Canetti die Funktion der verwandelnden Hände mit der Körpersprache verbunden ist. Außerdem hängt die Hand bzw. der Finger nicht nur mit der Sprache, sondern auch mit der Zahl und dem Zählen eng zusammen, welche die beiden privilegierten Medien für den Menschen darstellen. Die Kulturtechniken von Lesen, Schreiben und Rechnen gedeihen auf dem »Auge-Hand-Feld«, das Plessner anthropologisch-philosophisch thematisierte.

Karl Bühler, Lévy-Bruhl, Nikolaus Marr, Richard Paget u.a. kritisch zusammen und fragt nach dem Ursprung der Sprache im Hinblick auf die Gebärdensprache: »In der Kontroverse der beiden Forscher [Leroy und Lévy-Bruhl] ist ein Punkt von besonderer Tragweite. Es handelt sich um das Problem der Gebärdensprache: Ihr wichtiges Vehikel ist die Hand: die Sprache der Hand, nach Lévy-Bruhl die älteste, auf die wir stoßen.« Benjamin hat vor allem die Forschung von Paget geschätzt: »So schließt sich, nach Paget, die Artikulation als Gestus des Sprachapparates dem großen Umkreis der körperlichen Mimik an. Ihr phonetisches Element ist der Träger einer Mitteilung, deren ursprüngliches Substrat eine Ausdrucksgebärde war.« W. Benjamin: »Probleme der Sprachsoziologie. Ein Sammelreferat«, in: Gesammelte Schriften III (1991), S. 461, 478. Benjamin verknüpft die Frage nach dem Ursprung der Sprache ontogenetisch mit der Kindersprache (vgl. S. 473). McLuhan hat auch festgestellt, dass das Sprechen beim Kind erst mit der Entwicklung der Fähigkeit der Hände kommt, Gegenstände spontan loszulassen. Die Fähigkeit der Sprache entspreche der, sich von der Umwelt zu distanzieren. Vgl. M. McLuhan: Die magischen Kanäle, S. 204.

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Für Ernst Kapp ist in der Hand »die Elementarvorschrift für den Zählmodus«274 verborgen: »Die zehn Finger lieferten das Decimalsystem und die zehn Finger mit Zugabe der beiden Hände das Duodecimalsystem.«275 Der Zählmodus bzw. das Zählsystem gehört bei Kapp gerade zu den Ergebnissen der Organprojektion der Finger. Nach anthropologischer Ansicht sind die Hände immer noch »die Universalsprache der Zahl, das Sinnbild des Zählens«.276 Auch McLuhan hat behauptet, dass die Zahl vor der Schrift komme: »Und schon lange vor der Technik des Alphabets genügten die binären Faktoren Hände und Füße, um dem Menschen den Weg des Zählens zu zeigen.«277 In Understanding Media hat er in dem Kapitel über die Zahl, dessen Untertitel »Profil der Masse« heißt, überraschenderweise die Zahl als Ausweitung und Trennung des Tastsinns bezeichnet,278 wobei er sich wiederum auf Canettis Masse und Macht beruft. Was McLuhan an Canettis Lebenswerk aufgefallen ist, gilt zuerst den Betrachtungen über den Tastsinn. Im Folgenden soll auf die gemeinsame »taktile Dimension« von Hand, Zahl und Masse bei beiden Theoretikern eingegangen werden.279

274 E. Kapp: Grundlinien einer Philosophie der Technik, S. 70. Auch nach Kapp sind die Hände und vor allem der Daumen für die Entstehung der Kultur maßgeblich: »Die Hand, das die körperlichen Dinge begreifende und mit ihnen sich befassende Organ, ist zugleich das die Entbindung der Vorstellungen und das geistige Begreifen wesentlich unterstützende Organ und spendet aus dem unversiegbaren Reichtum ihrer Organisation die gesammte Culturwelt. Der Ausspruch, dass der Daumen die Weltgeschichte gemacht, ist kein Paradoxon; denn erst der Daumen constituiert die Hand, die Vollstreckerin der Dictate des Geistes.« (S. 71) 275 Ebd., S. 69. 276 Zirfas, Jörg: »Zahl«, in: Wulf, Vom Menschen. Handbuch Historische Anthropologie (1997), S. 629. 277 M. McLuhan: Die magischen Kanäle, S. 179. 278 »Genau wie die Schrift eine Ausweitung und Trennung unseres neutralsten und objektivsten Sinnes, unseres Gesichtssinnes ist, so ist die Zahl eine Ausweitung und Trennung unserer intimsten und am stärksten in gegenseitiger Beziehung stehenden Tätigkeit, nämlich unseres Tastsinns.« M. McLuhan: Die magischen Kanäle, S. 169. 279 Vgl. ebd., S. 171.

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Das unbegrenzte Wachstum gehört zur ersten Eigenschaft der Masse. McLuhan hat Canettis Massentheorie zusammengefasst, indem er auf den Aspekt der Zahl, die jeder Art von Masse gemeinsam ist, fokussiert: »Die Macht der nackten Zahl, von Reichtum oder Menschenmassen, eine Tendenz zum Größenwachstum zu schaffen, ist etwas Geheimnisvolles. Elias Canetti verweist in ›Masse und Macht‹ auf die enge Verbindung zwischen Währungsinflation und Massenverhalten. Er ist enttäuscht von unserem Versäumnis, die Inflation als Massenphänomen zu untersuchen, da seine Auswirkungen auf unsere moderne Welt überall spürbar sind. Der Zug zum Wachstum ins Grenzenlose, der jeder Art Menge, Haufen oder Horde eigen ist, scheint das Bindeglied zwischen Währungs- und Bevölkerungsinflation darzustellen. […] Das angenehme Gefühl, unter vielen Menschen zu sein, ist das Gefühl der Freude am Multiplizieren von Zahlen, das den alphabetisierten Mitgliedern der westlichen Gesellschaft schon lange verdächtig erscheint.«280

Die »Distanzierung« und das »Unbeteiligtsein« 281 machen vornehme Eigenschaften der »alphabetisierten Mitglieder der westlichen« Gesellschaften aus, die vor allem den Gesichtssinn intensivieren. Es lohnt sich hier daran zu erinnern, dass der Romanheld der Blendung ein Büchermensch ist, der sich von dichten Menschenmassen fernhält und nur dem eigenen Sehvermögen vertraut. Die erste Eigenschaft der Masse lautet für Canetti: »Die Masse will immer wachsen.« (III, 30) Ein Grund dafür, warum die Masse immer wachsen will, mag nach McLuhans Ansicht »das Gefühl der Freude am Multiplizie-

280 Ebd., S. 167f. Der englische Originaltext lautet: »The power of sheer numbers, in wealth or in crowds, to set up a dynamic drive toward growth and aggrandizement is mysterious. Elias Canetti in Crowds and Power illustrates the profound tie between monetary inflation and crowd behavior. He is baffled by our failure to study inflation as a crowd phenomenon, since its effects on our modern world are pervasive. The drive toward unlimited growth inherent in any kind of crowd, heap, or horde would seem to link economic and population inflation. / […] The pleasure of being among the masses is the sense of the joy in the multiplication of numbers, which has long been suspect among the literate members of Western society.« M. McLuhan: Understanding Media, S. 106f. 281 M. McLuhan: Die magischen Kanäle, S. 265.

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ren von Zahlen« sein. Das Diktum »Rausch ist eine Zahl«282, das McLuhan in diesem Kontext zitiert, geht auf den französischen Dichter Charles Baudelaire zurück, der die Poetik der Masse im 19. Jahrhundert entscheidend mitgeprägt hat.283 Die Masse zeigt einen Drang zum Wachstum, in dem der einzelne Mensch anonym wird, und sie scheut dagegen jede Verkleinerung, die zum Zerfall der Masse führen kann. Diese gegenläufigen Eigenschaften der Masse resümiert McLuhan in Anlehnung an Canetti: »Die Gruppe oder Masse weist eine minimale Identität auf und befindet sich im Zustand paranoider Angst vor jeglicher Bedrohung ihrer gefährdeten Struktur. In seinem klassischen Werk Masse und Macht weist Elias Canetti darauf hin, daß alle Arten von Massen einen Drang zur Ausweitung verspüren und gleichzeitig ihre Verkleinerung fürchten. Diese Leidenschaftlichkeit kann sich auf Geld (eine Art von Masse) ebenso erstrecken wie auf die gedankenlose Gruppe.«284

Es ist gleichgültig, ob Mensch, ob Geld den qualitativen Inhalt der Masse ausmacht. Es ist auch nicht wesentlich, wo man sich versammelt: auf der Straße oder im virtuellen Raum. Viel wichtiger sind die Eigenschaften der Masse als »eine Art formale Ursache oder verborgener Hintergrund«285: der Drang zum Wachstum. Die Tendenz zum unbegrenzten Wachstum überträgt sich auf die kapitalistischen Geldmassen, was zu zyklischen Crashs und Währungsinflationen führt.

282 Ebd., S. 172. 283 Zur klassischen Analyse der Masse/Menge bei Baudelaire vgl. W. Benjamin: »Über einige Motive bei Baudelaire«, in: Gesammelte Schriften. I.2 (2015), S. 629. 284 M. McLuhan: »Die Gewalt der Medien«, in: Wohin steuert die Welt? S. 140. Der englische Originaltext war mir leider nicht zugänglich. 285 Ebd. In dem von McLuhans Sohn postum herausgegebenen Werk Laws of Media findet sich ebenfalls die Erwähnung von Canettis Massen-Begriff. McLuhan hat vier Eigenschaften der Masse zusammengefasst, die eine »Tetrad« ausmachen. Vgl. McLuhan, Marshall and Eric: Laws of Media. The New Science, Toronto u.a.: University of Toronto Press 1988, S. 146. »E. Canetti noted in Crowds and Power that all crowds have these properties: a fear of getting smaller / a sense that they are getting smaller, and a need to get larger.«

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Canetti hat die Inflation, die er selber als Kind in Frankfurt in den 1920er Jahren erlebte, als »Massenphänomen« (III, 220) bestimmt.286 Der wirtschaftliche Einfluss der Inflation betrifft alle Mitglieder in der Gesellschaft und führt zur Identitätskrise sozialer Klassen: »Die Inflation hebt die Unterschiede zwischen Menschen auf, die wie für die Ewigkeit geschaffen schienen, und wirft Leute, die einander sonst kaum gegrüßt hätten, in ein und derselben Inflationsmasse zusammen.« (III, 218) In dem Kapitel »Masse und Geschichte« in Masse und Macht hat Canetti die Inflation während der Weimarer Republik in den frühen 1920er Jahren als modernes Massenphänomen aufgegriffen. In der Inflation wird Geld massenhaft in Umlauf gebracht. Aber je mehr Geldscheine gedruckt werden und je höher die Inflation steigt, desto weniger ist das Geld wert. »Der Zug zum Wachstum ins Grenzenlose« schlägt in der Inflation um in Depression bei der Menschenmasse. Man verliert das Vertrauen in die Geldeinheit, und »eine doppelte Entwertung« geschieht: »Der einzelne fühlt sich entwertet, weil die Einheit, auf die er sich verließ, die er sich selber gleich achtete, ins Abgleiten geraten ist. Die Masse fühlt sich entwertet, weil die Million entwertet ist.« (Ebd.) Die Inflation stellt bei Canetti »einen Hexensabbat der Entwertung« dar, »in dem Menschen und Geldeinheit auf das sonderbarste ineinanderfließen« (ebd.). Die »Million« ist in der modernen Welt eine symbolische

286 Canetti hat in Die Fackel im Ohr das Inflationserlebnis in den 1920er Jahren ausführlich beschrieben: »Es war die Zeit, in der die Inflation ihren Höhepunkt erreichte, der tägliche Sprung, der schließlich bis zur Billion ging, hatte für alle Menschen extreme Folgen, wenn auch nicht die gleichen. Es war entsetzlich mitanzusehen: was immer geschah, und es geschah sehr viel, hing von einer einzigen Voraussetzung ab, eben der in rasendem Tempo fortschreitenden Entwertung des Geldes. Es war mehr als Unordnung, was über die Menschen hereinbrach, es war etwas wie tägliche Sprengungen, blieb von einer etwas übrig, geriet es tags darauf in die nächste.« (VIII, 53f.) Zur thematischen Auseinandersetzung mit dem Problem der Inflation bei Canetti vgl. Widdig, Bernd: »Tägliche Sprengungen: Elias Canetti und die Inflation«, in: Krüger, Einladung zur Verwandlung. Essays zu Elias Canettis Masse und Macht (1995), S. 128-150; Widdig, Bernd: Culture and Inflation in Weimar Germany, Berkeley, u.a.: University of California Press 2001, S. 53-75: Kuhnau, Petra: Von der Inflation zum Holocaust. Hitlers virtuelle und reale Massen, in: PattilloHess/Smole, Masse und Macht im globalen Dorf (1999), S. 45-57.

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Zahl, die für jede Art von Masseninhalt gilt. Die »Million« bezieht sich zugleich auf die »Währungs- und Bevölkerungsinflation«, wie McLuhan auch sie betonte. Die Entwertung durch eine Inflation betrifft nicht nur die einzelnen Menschen, sondern die Masse der Millionen: »Wenn die Millionen in die Höhe klettern, wird ein ganzes Volk, das aus Millionen besteht, zu nichts.« (III, 218) Die entwerteten Millionen der Masse suchen nach Objekten der Kompensation. Im Kapitel über das Geld hat McLuhan Canettis Analyse zur Inflation als Massenphänomen wieder aufgegriffen: »Elias Canetti weist besonders darauf hin, daß die Dynamik, die für Massen etwas Wesentliches ist, im Streben nach raschem und unbeschränktem Größenwachstum liegt. Die gleiche dynamische Kraft ist charakteristisch für große Häufungen von Reichtum oder Schätzen. Und tatsächlich ist die moderne Einheit für Reichtum im Volksmund die Million. Es ist dies eine Einheit, die zu jeder Art Währung paßt. Mit der Million ist immer die Vorstellung verbunden, daß sie schnell durch eine freche Spekulation gewonnen werden kann. In gleicher Weise zeigt Canetti, wie der Ehrgeiz, Zahlen ansteigen zu sehen, für Hitlers Reden typisch war. Menschenmassen und Geld in Mengen streben nach Größenwachstum, aber sie nähren auch ein Unbehagen über die Möglichkeit des Zerfalls und der Deflation. Diese in zwei Richtungen verlaufende Bewegung der Expansion und Deflation scheint der Grund der Rastlosigkeit und Unruhe der Massen zu sein, die der Reichtum mit sich bringt. Canetti analysiert ausführlich die psychischen Auswirkungen der deutschen Inflation nach dem Ersten Weltkrieg. Die Abwertung des Bürgers ging Hand in Hand mit derjenigen der deutschen Mark. Beide verloren das Gesicht und ihren Wert, wobei Persönlichkeits- und Währungseinheiten durcheinandergebracht wurden.«287

287 M. McLuhan: Die magischen Kanäle, S. 222f. Das englische Original lautet: »Elias Canetti stresses that the dynamic which is basic to crowds is the urge to rapid and unlimited growth. The same power dynamic is characteristic of large concentrations of wealth or treasure. In fact, the modern unit of treasure in popular use is the million. It is a unit acceptable to any type of currency. Always associated with the million is the idea that it can be reached by a rapid speculative scramble. In the same way, Canetti explains how the ambition to see numbers mounting up was typical of Hitler’s speeches. / Not only do crowds of people and piles of money strive toward increase, but they also

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Hitler und seine Partei missbrauchten »die psychischen Auswirkungen der deutschen Inflation nach dem Ersten Weltkrieg«, um die Unterstützung des ganzen Volkes zu erhalten und die Macht zu erlangen. Sie haben dabei die Verantwortung für die Demütigung und Unordnung durch die Inflation auf die Juden abgewälzt, die traditionell mit dem Finanzbereich assoziiert wurden: »In der Behandlung der Juden hat der Nationalsozialismus den Prozeß der Inflation auf das genaueste wiederholt.« (III, 219) Die Juden wurden zum Sündenbock gemacht, damit das verletzte und verletzende Gefühl der Entwertung durch Inflation aggressiv umschlagen konnte. Canettis Analyse hat gezeigt, dass die Entwertung der Masse während der Inflation schließlich zum Massenmord der Juden führte, die »als Ungeziefer« galten, »das man ungestraft in Millionen vernichten durfte« (ebd.). Ohne das Inflationserlebnis wäre die Massenverfolgung der Juden möglich gewesen. Nach Canetti gehören diese psychologischen Konsequenzen der Inflation als Massenphänomene in der Weimarer Republik zu den versteckten Ursachen des Holocausts.288

breed uneasiness about the possibility of disintegration and deflation. This two-way movement of expansion and deflation seems to be the cause of the restlessness of crowds and the uneasiness that goes with wealth. Canetti spends a good deal of analysis on the psychic effects of the German inflation after the First World War. The depreciation of the citizen went along with that of the German mark. There was a loss of face and of worth in which the personal and monetary units became confused.« M. McLuhan: Understanding Media, S. 143f. 288 George Steiner hat Canettis Untersuchung zur Inflation kommentiert. Vgl. Steiner, George: In Blaubarts Burg. Anmerkungen zur Neudefinition der Kultur. Übersetzt von Friedrich Polakovics, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1972, S. 59f. In Masse und Macht ist der Nationalsozialismus als historisches Phänomen nur im Kapitel »Masse und Geschichte« teilweise behandelt worden, obwohl Canettis Hauptwerk nach seinem Wort als »die Untersuchung der Wurzeln des Faschismus« (X, 169) konzipiert wurde. Hitler und seinem Regime ist Canetti später im Hitler-Essay wieder nachgegangen. Hitlers politisches Motiv besteht in der Umkehrung der Folgen des Versailler Diktats nach dem Ersten Weltkrieg: »Von Versailles und der Niederlage des Ersten Weltkriegs war er ausgegangen. Durch den Kampf gegen Versailles hat er seine ersten Massen gewonnen und schließlich auch die Macht in Deutschland erobert.« (VI, 272)

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McLuhan hat im Anschluss an Canetti darauf hingewiesen, »wie der Ehrgeiz, Zahlen ansteigen zu sehen, für Hitlers Reden typisch war«. Canetti hatte in Masse und Macht und in seinem Essay Hitler, nach Speer dargelegt, wie sehr Hitler von der »Wollust der springenden Zahl« (III, 216, VI, 272) fasziniert war.289 Hitler kannte den rhetorischen Effekt der »springenden Zahl«, und er hat ihn in seinen Reden verwendet, um die Hörerschaft in charakteristischer Weise zu beeindrucken. Dabei ist das Wort Million für Hitler eine Grundeinheit, die vor allem die springenden Bevölkerungszahlen im erwünschten Lebensraum des ganzen deutschen Volkes betrifft: »Das stärkste Mittel zur Erregung der Masse ist die Vorspiegelung ihres Wachstums. […] Die Masse, von diesen Zahlen getroffen, erlebt sie als augenblicklichen Zuwachs.« (VI, 272f.) Canetti hat im Hitler-Essay erwähnt, dass sich »Hitlers Gefühl für große Zahlen« (VI, 273) weiter auch auf die Baukosten in Berlin oder die Produktionszahlen erstreckte. Das Diktum »Rausch ist eine Zahl« scheint auch in diesem Fall gültig. McLuhan hat den magischen Charakter der Zahl bemerkt, der einzelne Elemente ungeachtet ihrer besonderen Qualitäten verbinden kann. Die Zahl wirkt wie der Tastsinn, der das Verschiedene und Getrennte gleichermaßen berührt: »Das geheimnisvolle Bedürfnis von Massen, nach Wachstum und Ausbreitung zu streben, das auch für große Anhäufungen von Reichtum charakteristisch ist, wird

Die neuere NS-Forschung scheint diese Einsichten – allerdings ohne Bezug auf Canettis Werk – heute zu unterstützen. Der Historiker Götz Aly spricht in seiner Studie Hitlers Volksstaat vom »Trauma von 1918« und markiert die Bedeutung des Ersten Weltkriegs und der Niederlage für den Ausbruch des Nationalsozialismus: »Die NSDAP eroberte und konsolidierte ihre Macht aufgrund der situativen Konstellationen. Die wichtigsten Faktoren dafür finden sich in den Jahren nach 1914, nicht davor.« Aly, Götz: Hitlers Volksstaat. Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus, Frankfurt a.M.: Fischer 2005, S. 35. Ein Versuch, Canettis Hitler-Essay und Masse und Macht im Kontext der aktuellen NS-Forschung kritisch zu situieren, kann leider hier nicht unternommen werden. 289 Canetti hat die besondere Bedeutung der Zahl für Hitler hervorgehoben: »Sein Gedächtnis für Zahlen ist eine Sache für sich. Zahlen spielen bei ihm eine andere Rolle als bei anderen Menschen. Sie haben etwas von Massen, die sich sprunghaft vermehren.« (VI, 272)

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verständlich, wenn Geld und Zahlen tatsächlich Techniken sind, die das Vermögen des Tastsinns und das Be-greifen mit der Hand erweitern. Denn eine Zahl von Menschen oder auch von eins bis zehn und von Geldeinheiten haben scheinbar dieselbe wirksame Zauberkraft, sich der Dinge zu bemächtigen und sie sich einzuverleiben.«290

»[D]as Vermögen des Tastsinns und das Be-greifen mit der Hand« wohnt der Zahl inne, die unabhängig vom Inhalt das Getrennte verbindet und integriert. Der Effekt der springenden Zahl besteht nach McLuhan in der taktischen und akustischen »Zauberkraft«, jede Art von Masse zu ergreifen und zusammenzuhalten. Der Inhalt der »Million« kann sich sowohl auf die Massen der Bevölkerung als auch auf die Massen des Geldes beziehen.

3.13 M ASSE

UND M ACHT IN DER DIGITALEN »K ONTROLLGESELLSCHAFT «

Das Zählen stellt eine Machttechnik dar, die mit der wissenschaftlichen Entwicklung einhergeht. Die Masse, die als Zahl in den Statistiken abstrakt auftaucht, ist zugleich Gegenstand der Kontrolle durch die Macht, die z.B. Michel Foucault als »Bio-Politik der Bevölkerung«291 präzisiert und zum Gegenstand seiner späteren Machttheorie gemacht hat. In Der Wille zum Wissen hat Foucault die zwei Machtformen differenziert, die miteinander eng korrelieren. Während sich nach Foucault die Macht der Disziplin nach dem 17. Jahrhundert auf die körperliche Züchtigung des Einzelnen stützt, generiert und reguliert die »Bio-Macht« nach dem 18. Jahrhundert die Masse als Bevölkerung, die statistisch erfasst werden soll. Im Zentrum beider Machtformen steht jeweils das Interesse zum »Leben« des Einzelnen und der Masse der Bevölkerung. 292 Statistiken – wie »die Fortpflanzung, die Geburten- und die Sterblichkeitsrate, das Gesundheitsniveau, die Lebens-

290 M. McLuhan: Die magischen Kanäle, S. 183. 291 Foucault, Michel: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit 1. Übersetzt von Ulrich Raulff und Walter Seitter, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1976, S. 135. 292 Vgl. ebd., S. 134f.

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dauer, die Langlebigkeit mit allen ihren Variationsbedingungen«293, in die die Bio-Macht einzugreifen versucht, werden in der modernen Mediengesellschaft als elektronische, digitale Datenmassen verarbeitet und archiviert. Dafür ist die Bibliothek als Ort der sichtbaren Wissensversammlung, die im Roman Die Blendung einen Hauptschauplatz darstellte, nicht mehr zuständig. Eingreifende Operation und Mittel der Bio-Politik in der Mediengesellschaft sind im Grunde auf die Steuerung und die Archivierung unübersehbarer statistischer Datenkomplexe durch Techniken der Digitalisierung angewiesen. Man kann zwar nicht behaupten, dass die Bio-Macht unbedingt elektronische, digitale Technologie voraussetze, da man diese Machterscheinung bereits im 18. Jahrhundert beobachten kann. Aber zweifellos gehört die Digitalisierung der statistischen Daten zu den effektiven Verwaltungstechniken der Bio-Politik, die für die Entwicklung des Kapitalismus eine wichtige Voraussetzung angeboten hat. In einem berühmten Aufsatz Postskriptum über die Kontrollgesellschaften von 1990 hat Gilles Deleuze die Verbreitung der Kontrollgesellschaft angekündigt, die die Disziplinargesellschaft ablöse, statt von der Bio-Macht zu sprechen. Im Gegensatz zu der Disziplinargesellschaft, die den menschlichen Körper zu dressieren versucht, beruft sich die Kontorollgesellschaft, die durch »unablässige Kontorolle und unmittelbare Kommunikation« 294 funktioniert, auf die abstrakte »Chiffre«, die auch als Identifikationsmetho-

293 Ebd., S. 135. Die Masse der Bevölkerung gehört nach Canettis Zuordnung eigentlich zu den unsichtbaren Massen, die nur als Zahlen oder Daten existieren. Zum eingehenden Vergleich von Canettis Theorie des Überlebens mit Foucaults Biopolitik vgl. P. Friedrich: Die Rebellion der Masse im Textsystem, S. 396-414. McLuhan hat auf den medialen Effekt der Statistiken aufmerksam gemacht: »Die Zahl ist also nicht nur auditiv und resonant wie das gesprochene Wort, sondern wurzelt im Tastsinn, den sie weitet. Die statistischen Zusammenstellungen und Anhäufungen von Zahlen ergeben die modernen Höhlenzeichnungen oder Fingermalereien der Statistiken. Die Häufung von Zahlen in Statistiken bringt dem Menschen in jeder Hinsicht eine neue Welle primitiver Schau und magisch unbewußten Innewerdens des Publikumsgeschmacks oder Empfindens […].« M. McLuhan: Die magischen Kanäle, S. 172. 294 Deleuze, Gilles: »Postskriptum über die Kontrollgesellschaften«, in: ders.: Unterhandlungen 1972-1990. Übersetzt von Gustav Roßler, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2014, S. 250.

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de gilt: »Die numerische Sprache der Kontrolle besteht aus Chiffren, die den Zugang zur Information kennzeichnen bzw. die Abweisung. Die Individuen sind ›dividuell‹ geworden, und die Massen Stichproben, Daten, Märkte oder ›Banken‹.«295 Inzwischen verwandelt sich die Menschenmasse in die unsichtbaren Datenmassen, die sowohl für das Marketing des Unternehmens als auch für die institutionelle bzw. administrative Verwaltung von großer Bedeutung sind. Zugleich besteht der Massenmensch als Quelle aus den Massendaten, die je nach unterschiedlichen Zwecken in Datenbanken versammelt und verwendet werden können.296 Damit wird das Individuum als Ungeteiltes in Datenmengen geteilt, die nicht nur von der politischen, sondern von der kommerziellen Macht kontrolliert und überwacht werden können. Im Epilog von Masse und Macht hat Canetti bemerkt: »Alle Menschen müßten eine Art von idealer Gleichheit erlangen, nämlich als zahlungskräftige und willige Käufer.« (III, 554) »Zahlungskräftige und willige Käufer« stellen aber auch ein statistisches Objekt dar, das als digitalisierte Datenmassen bearbeitet werden soll. Nun stellt sich die letzte Frage: Wie kann man die Digitalisierung mit den anthropologischen Überlegungen von McLuhan und Canetti problematisieren? Obwohl die numerischen Kontrollen in Statistiken immer abstrakter und unvorstellbarer werden, ist das primitive Rechnen mit den Fingern noch in symbolischer Weise in das »analphabetische Digitalrechengerät«297 eingegangen, das für die Informationsgesellschaft unabdingbar ist. McLuhans Ansatzpunkt, die Zahl auf die Hände und die Finger zurückzuführen, führt zur Analyse der Digitalisierung, die die Mediengesellschaft nach 1960 begründet, wenn er auch das Digitale selbst nicht mehr zum Hauptgegenstand seiner Untersuchung machen konnte. Das Digitale hat etymologisch

295 Ebd., S. 258. 296 Historisch gesehen, datiert die Geburt des Menschen als Quelle verschiedener Datenmassen aus dem 18. Jahrhundert. Dazu vgl. Schneider, Manfred: »Der Mensch als Quelle«, in: Peter Fuchs/Andreas Göbel (Hg.), Der Mensch – das Medium der Gesellschaft? Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1994, S. 297-322. Auch vgl. Moscovici, Serge: »Ist die Idee der Masse noch aktuell?« (Übersetzt von Christine Nahas-Hartmann), in: John Pattillo-Hess (Hg.), Canettis Masse und Macht oder die Aufgabe des gegenwärtigen Denkens, Wien: Bundesverlag 1988, S. 69. 297 M. McLuhan: Die magischen Kanäle, S. 173.

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mit dem Finger zu tun. Der Terminus »digit« in »binary digit« bezeichnet eigentlich sowohl die Zahl als auch den Finger: Im Digitalen finden sich die Spuren der primitiven Gebärden wieder, die Zahlen mithilfe der Finger zu berechnen und einzureihen. Horst Wenzel ist der europäischen Geschichte der Digitalisierung im Blick auf Hände und Finger nachgegangen: »Im Begriff der Digitalisierung verbirgt sich jedoch immer noch die Fähigkeit des Fingerrechnens, die das Bild der fünffingrigen Hand mit der Linearität der Zahlen und der aufzählenden Sprache verbindet. Der älteste Computer ist der computus digitalis, das sichtbare Zählen und Aufzählen mit den Fingern und den beiden Händen.«298 Wie bereits festgestellt wurde, bemerkt Canetti, dass der ausgestreckte Finger das Modell für Schuss- und Bogenwaffen wie Pfeil oder Dolch sei (vgl. III, 257).299 Außerdem spiegelt sich der Griff als Handbewegung auch in der modernen Technologie wider (vgl. III, 256). Die Hände mit den Fingern dienen jedoch nicht nur dem »analogen« Modell für die Werkzeugtechnik, das auf der morphologischen, analogischen Ähnlichkeit mit dem Körper basiert. Die beiden Hände mit ihren zehn Fingern bestimmen als Übertrag auch den Bereich des abstrakten Zähl- und Zahlensystems, das schließlich in die Machttechniken der hochentwickelten Mediengesellschaften mündet. Alle Informationen können in »digitale« Datenmassen umgewandelt bzw. übersetzt werden. Die Zahlen sind das Ergebnis der Übersetzung/Übertragung durch Hände und Finger. Es sind die beiden Hände mit ihren Fingern, in denen sich das Analoge und das Digitale überkreuzen.

298 Wenzel, Horst: »Von der Gotteshand zum Datenhandschuh. Zur Medialität des Begreifens«, in: Sybille Krämer/Horst Bredekamp (Hg.), Bild, Schrift, Zahl, München: Wilhelm Fink 2003, S. 25-56, hier S. 26. Zu den philosophischen Implikationen dieser Debatte vgl. Risthaus, Peter: »Erdvariationen (Hölderlin, Hebel, Freyer, Heidegger)«, in: Josef Fürnkäs/Kanichiro Omiya (Hg.), Das Reale der digitalen Medien, Tokio: Keio-Universität 2008, S. 119-143 (Eine japanische Version). 299 »Der Finger war an seinem Ende verjüngt und mit einem Nagel bewaffnet; das aktive Gefühl des Stechens gab zuerst er. Der Dolch, der sich aus ihm entwickelt hat, ist ein härterer und besser zugespitzter Finger. Eine Kreuzung aus Vogel und Finger war der Pfeil.« (III, 256f.) Zum Zusammenhang von Technik und Gestik vgl. A. Leroi-Gourhan: Hand und Wort, vor allem das Kapitel VIII Geste und Programm, S. 296-320.

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So lässt sich zusammenfassend sagen, dass das Bewegungs- und Wahrnehmungsorgan der Hand nicht dieses oder jenes Modell einer bestimmten Medientechnik ausmacht, sondern vielmehr Ausweitung und Übertragung als Funktionen der Medien selbst verwaltet.

3.14 F AZIT In diesem Kapitel über Masse und Macht handelte es sich um zwei große Themen, die miteinander eng zusammenhängen: zum einen die Beziehung zwischen Massen und Medien, zum anderen die anthropologische Analyse über den Körper als Medium. Die körperliche Menschenmasse, wie sie Canetti selber in den 1920er Jahren erlebt hat, können sich inzwischen durch technische Medienumbrüche in unkörperliche, unsichtbare Massen der Medien verwandeln, die sich nicht mehr auf einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit zu versammeln brauchen. Aber die Diskursgeschichte der Masse seit Ende 19. Jahrhundert von Le Bon und Tarde hat deutlich gemacht, dass zwei Arten der Masse, die Versammlungsmasse und die verstreute Masse der Medien als Publikum, immer koexistieren und sich gegenseitig beeinflussen. Diese parallele Existenz der zwei Massenformen hat auch die diskursive Kontinuität zwischen Canettis Massentheorie und McLuhans Medientheorie teilweise bewiesen: Die taktile Charakteristik, an die Canettis Massenerlebnis in erster Linie denkt, findet sich auch in McLuhans Beschreibung der elektronischen Medien, die die Identität und Privatheit des Nutzers verletzen, als ob man in der dichten Menschenmasse wäre. Der Tastsinn differenziert sich in Haut und Hand: Während das Massenerlebnis bei Canetti direkt die Hautsinne betrifft, wird die Hand der Problematik von Macht und Verwandlung zugeschrieben. Canettis anthropologische Analyse geht davon aus, dass die primitive Technik für das Überleben vor allem aus dem Vorbild der Hand entstanden sei. Diese Verwandlung der Hand in das Werkzeug formuliert McLuhan als Übertragung und Ausweitung des menschlichen Körpers. Das Problem der Hand und der Berührung, das die Mechanismen von Masse und Macht bei Canetti in Gang setzt, ist in McLuhans Betrachtung von Körper und Medien im Wesentlichen übernommen worden. Was McLuhan bei der Entwicklung seiner Medientheorie an Canettis Masse und

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Macht findet, stellt den Körper als Medium dar, auf den sich das Problem von Masse, Macht und Verwandlung konzentriert. Das Mediale bei Canetti kann nicht nur als Analyse von Massen-Medien, sondern auch im Kontext eines Diskurses der Wahrnehmungstheorie gelesen werden.

Literatur

Im Laufe der Arbeit wurden auch japanische Übersetzungen von Canetti und anderen Schriftstellern eingesehen, soweit diese vorhanden sind. Eine Bibliographie der Übersetzungen von Canettis einzelnen Werken findet sich in Band X (351-363) der Hanser-Ausgabe.

P RIMÄRLITERATUR Canetti, Elias: Werke in zehn Bänden. München/Wien: Carl Hanser 19922005. [Band I] Die Blendung. Roman. 1992. [Band II] Hochzeit. Komödie der Eitelkeit. Die Befristeten. Der Ohrenzeuge. 1995. [Band III] Masse und Macht. 1994. [Band IV] Aufzeichnungen 1942-1985. Die Provinz des Menschen. Das Geheimherz der Uhr. 1993. [Band V] Aufzeichnungen 1954-1993. Die Fliegenpein. Nachträge aus Hampstead. Postum veröffentlichte Aufzeichnungen. 2004. [Band VI] Die Stimmen von Marrakesch. Aufzeichnungen nach einer Reise. Das Gewissen der Worte. Essays. 1995. [Band VII] Die gerettete Zunge. Geschichte einer Jugend. 1994. [Band VIII] Die Fackel im Ohr. Lebensgeschichte 1921-1931. 1993. [Band IX] Das Augenspiel. Lebensgeschichte 1931-1937. 1994. [Band X] Aufsätze. Reden. Gespräche. 2005. Canetti, Elias: Crowds and Power. Translated from the German by Carol Stewart. New York: Farrar, Straus and Giroux 1984 (1962).

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Canetti, Elias: Die gespaltene Zukunft. München: Carl Hanser 1972. Canetti, Elias: Party im Blitz. Die englischen Jahre. Aus dem Nachlaß herausgegeben von Kristian Wachinger. Mit einem Nachwort von Jeremy Adler, Frankfurt a.M.: Fischer 2005.

H ÖRWERK VON C ANETTI Canetti, Elias: Die Blendung. Hörspielbearbeitung: Helmut Peschina. Regie: Robert Matejka. München: Der hörverlag 2005. Canetti, Elias: Das Hörwerk 1953-1991. Prosa, Dramen, Essays, Vorträge, Reden, Gespräche. 2 MP3-CDs. Robert Galitz/Kurt Kreiler (Archivrecherche, Audioredaktion)/Katharina Theml (Beibuch) (Hg.). Frankfurt a.M.: Zweitausendeins 2005. Canetti, Elias: Masse und Macht. Mit Elias Canetti. 3 CDs Hamburg: Hoffmann und Campe 2003. Elias Canetti liest Die Stimmen von Marrakesch. 2 CDs München: Der hörverlag 2005. Naab, Karoline: Elias Canetti. Leben und Werk. 2 CDs. München: Der hörverlag 2005.

W EITERE L ITERATUR Abe, Kobo: Der Schachtelmann. Übersetzt von Jürgen Stalph, Frankfurt a.M.: Eichborn 1992. Agamben, Giorgio: Homo sacer. Die Souveränität der Macht und das nackte Leben. Übersetzt von Hubert Thüring, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002. Altvater, Elmar: »Masse und Macht im Zeitalter der Globalisierung«, in: Leviathan. Zeitschrift für Sozialwissenschaft 1 (1998), S. 133-151. Aly, Götz: Hitlers Volksstaat. Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus, Frankfurt a.M.: Fischer 2005. Anders, Günther: Die Antiquiertheit des Menschen. Band I. Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution, München: C. H. Beck 2010.

L ITERATUR | 217

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218 | MASSE, MACHT UND MEDIUM

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L ITERATUR | 231

Wotruba, Fritz. Zeichnungen und Steine. Michael Semff (Hg.). Mit einem Beitrag von Werner Hofmann, München: Hatje Cantz 2007 (Ausstellungskatalog). Wu, Ning: Canetti und China. Quellen, Materialien, Darstellung und Interpretation, Stuttgart: Verlag Hans-Dieter Heinz 2000. Zirfas, Jörg: »Zahl«, in: Christoph Wulf (Hg.): Vom Menschen. Handbuch Historische Anthropologie, Weinheim/Basel: Beltz 1997, S. 619-630.

F ILM PANZERKREUZER POTEMKIN (UdSSR 1925, Sergei Eisenstein) TRIUMPH DES WILLENS (Deutschland 1935, Leni Riefenstahl)

Lettre Hildegard Kernmayer, Simone Jung (Hg.) Feuilleton Schreiben an der Schnittstelle zwischen Journalismus und Literatur Juli 2017, ca. 300 Seiten, kart., ca. 34,99 €, ISBN 978-3-8376-3722-9

Andrea Allerkamp, Matthias Preuss, Sebastian Schönbeck (Hg.) Unarten Kleist und das Gesetz der Gattung Juni 2017, ca. 330 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 39,99 €, ISBN 978-3-8376-3500-3

Maria Kirchmair Postkoloniale Literatur in Italien Raum und Bewegung in Erzählungen des Widerständigen Juni 2017, ca. 248 Seiten, kart., ca. 34,99 €, ISBN 978-3-8376-3773-1

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Lettre Hans Stauffacher, Marie-Christin Wilm (Hg.) Wahnsinn und Methode Zur Funktion von Geniefiguren in Literatur und Philosophie April 2017, ca. 320 Seiten, kart., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2339-0

Uta Fenske, Gregor Schuhen (Hg.) Geschichte(n) von Macht und Ohnmacht Narrative von Männlichkeit und Gewalt September 2016, 318 Seiten, kart., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-3266-8

Stefan Hajduk Poetologie der Stimmung Ein ästhetisches Phänomen der frühen Goethezeit Juli 2016, 516 Seiten, kart., 44,99 €, ISBN 978-3-8376-3433-4

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Lettre Linda Maeding, Marisa Siguan (Hg.) Utopie im Exil Literarische Figurationen des Imaginären

Svenja Frank, Julia Ilgner (Hg.) Ehrliche Erfindungen Felicitas Hoppe als Erzählerin zwischen Tradition und Transmoderne

Mai 2017, ca. 256 Seiten, kart., ca. 39,99 €, ISBN 978-3-8376-3749-6

Dezember 2016, 446 Seiten, kart., 39,99 €, ISBN 978-3-8376-3319-1

Alexandra Millner, Katalin Teller (Hg.) Transdifferenz und Transkulturalität Migration und Alterität in den Literaturen und Kulturen Österreich-Ungarns

Raluca Radulescu, Christel Baltes-Löhr (Hg.) Pluralität als Existenzmuster Interdisziplinäre Perspektiven auf die deutschsprachige Migrationsliteratur

Mai 2017, ca. 500 Seiten, kart., ca. 49,99 €, ISBN 978-3-8376-3248-4

November 2016, 234 Seiten, kart., 32,99 €, ISBN 978-3-8376-3445-7

Frauke Nowak Nanotechnologie als Kollektivsymbol Versuch über die Raumsemantik einer Schlüsseltechnologie

Gustav Landgren Rauswühlen, rauskratzen aus einer Masse von Schutt Zum Verhältnis von Stadt und Erinnerung im Werk von Peter Weiss

März 2017, ca. 460 Seiten, kart., ca. 49,99 €, ISBN 978-3-8376-3803-5

Johanna Richter Literatur in Serie Transformationen des Romans im Zeitalter der Presse, 1836-1881 März 2017, ca. 240 Seiten, kart., ca. 32,99 €, ISBN 978-3-8376-3166-1

Kerstin Böhm Archaisierung und Pinkifizierung Mythen von Männlichkeit und Weiblichkeit in der Kinder- und Jugendliteratur Februar 2017, 198 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3727-4

Sebastian Thede Hasard-Schicksale Der literarische Zufall und das Glücksspiel im 19. Jahrhundert Januar 2017, 408 Seiten, kart., Abb., 44,99 €, ISBN 978-3-8376-3521-8

August 2016, 400 Seiten, kart., 44,99 €, ISBN 978-3-8376-3618-5

Thorsten Carstensen, Marcel Schmid (Hg.) Die Literatur der Lebensreform Kulturkritik und Aufbruchstimmung um 1900 Juli 2016, 352 Seiten, kart., Abb., 39,99 €, ISBN 978-3-8376-3334-4

Metin Genç Ereigniszeit und Eigenzeit Zur literarischen Ästhetik operativer Zeitlichkeit Juli 2016, 318 Seiten, kart., 44,99 €, ISBN 978-3-8376-3372-6

Anne Bertheau »Das Mädchen aus der Fremde«: Hannah Arendt und die Dichtung Rezeption – Reflexion – Produktion Juni 2016, 416 Seiten, kart., 44,99 €, ISBN 978-3-8376-3268-2

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Zeitschrif t für Kultur wissenschaf ten Dorothee Kimmich, Schamma Schahadat (Hg.)

Diskriminierungen Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 2/2016

November 2016, 160 S., kart., 14,99 €, ISBN 978-3-8376-3578-2 E-Book: 14,99 € Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften dient als kritisches Medium für Diskussionen über »Kultur«, die Kulturwissenschaften und deren methodische Verfahren. Ausgehend vom internationalen Stand der Forschung sollen kulturelle Phänomene gleichermaßen empirisch konzis wie theoretisch avanciert betrachtet werden. Auch jüngste Wechselwirkungen von Human- und Naturwissenschaften werden reflektiert. Diese Ausgabe untersucht das soziale Phänomen der Diskriminierung. Was bedeutet Diskriminierung? Worauf basiert sie? Wie werden diskriminierende Merkmale identifiziert? Die Untersuchungen verbinden verschiedene Perspektiven, solche aus der Literatur- und Kulturwissenschaft, der Psychologie, der Medizin und der Sportwissenschaft. Lust auf mehr? Die ZfK erscheint zweimal jährlich in Themenheften. Bisher liegen 20 Ausgaben vor. Die ZfK kann – als print oder E-Journal – auch im Jahresabonnement für den Preis von 20,00 € bezogen werden. Der Preis für ein Jahresabonnement des Bundles (inkl. Versand) beträgt 25,00 €. Bestellung per E-Mail unter: [email protected]

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Zeitschrif t für interkulturelle Germanistik Dieter Heimböckel, Gesine Lenore Schiewer, Georg Mein, Heinz Sieburg (Hg.)

Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 6. Jahrgang, 2015, Heft 2

Dezember 2015, 204 S., kart., 12,80 €, ISBN 978-3-8376-3212-5 E-Book: 12,80 €, ISBN 978-3-8394-3212-9 Die Zeitschrift für interkulturelle Germanistik (ZiG) trägt dem Umstand Rechnung, dass sich in der nationalen und internationalen Germanistik Interkulturalität als eine leitende und innovative Forschungskategorie etabliert hat. Sie greift aktuelle Fragestellungen im Bereich der germanistischen Literatur-, Kultur- und Sprachwissenschaft auf und versammelt aktuelle Beiträge, die das zentrale Konzept der Interkulturalität weiterdenken. Die Zeitschrift versteht sich bewusst als ein interdisziplinär und komparatistisch offenes Organ, das sich im internationalen Wissenschaftskontext verortet sieht. Lust auf mehr? Die ZiG erscheint zweimal jährlich. Bisher liegen 12 Ausgaben vor. Die ZiG - als print oder E-Journal - kann auch im Jahresabonnement für den Preis von 22,00 € bezogen werden. Der Preis für ein Jahresabonnement des Bundles (inkl. Versand) beträgt 27,00 €. Bestellung per E-Mail unter: [email protected]

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