Markt und intellektuelles Kräftefeld: Literaturkritik im Feuilleton von "Pariser Tageblatt" und "Pariser Tageszeitung" (1933–1940) [Reprint 2016 ed.] 9783110937343, 9783484350571

The "Pariser Tageblatt", later to become the "Pariser Tageszeitung" (1933-1940), occupies a very spe

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German Pages 441 [444] Year 1997

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Inhaltsverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
Einleitung
I. Das Exilorgan PTB/PTZ und seine Stellung in der Öffentlichkeit
1. Die Tageszeitung der deutschen Emigration in Frankreich
2. Öffentlichkeit der deutschen Emigration und französische Öffentlichkeit
II. Literaturkritik als Ware
3. Die Stellung von PTB und PTZ innerhalb des literarischen Marktes der deutschen Emigration in Frankreich
III. Literaturkritik als Diskurs
4. Strukturelle Bedingungen literarischer Kritik vor und nach 1933 und Konstituierung des literaturkritischen Diskurses im Exil
5. Der literaturkritische Diskurs in PTB und PTZ: ein Instrument in der Konkurrenz um kulturelle Legitimität
Schlussbemerkung
Anhang
Quellen- und Literaturverzeichnis
Personenregister
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Markt und intellektuelles Kräftefeld: Literaturkritik im Feuilleton von "Pariser Tageblatt" und "Pariser Tageszeitung" (1933–1940) [Reprint 2016 ed.]
 9783110937343, 9783484350571

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STUDIEN UND TEXTE ZUR SOZIALGESCHICHTE DER LITERATUR

Herausgegeben von Wolfgang Frühwald, Georg Jäger, Dieter Langewiesche, Alberto Martino, Rainer Wohlfeil

Band 57

Michaela Enderle-Ristori

Markt und intellektuelles Kräftefeld Literaturkritik im Feuilleton von »Pariser Tageblatt« und »Pariser Tageszeitung« (1933-1940)

Max Niemeyer Verlag Tübingen 1997

Redaktion

des Bandes: Alberto

Martino

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Enderle-Ristori, Michaela: Markt und intellektuelles Kräftefeld : Literaturkritik im Feuilleton von »Pariser Tageblatt« und »Pariser Tageszeitung« (1933-1940) / Michaela Enderle-Ristori. - Tübingen : Niemeyer, 1997 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur ; Bd. 57) NE: GT ISBN 3-484-35057-1

ISSN 0174-4410

© Max Niemeyer Verlag GmbH & Co. KG, Tübingen 1997 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Druck und Buchbinder: Memminger Zeitung, Verlagsdruckerei GmbH, Memmingen

Inhaltsverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis

VII

Einleitung

1

I.

Das Exilorgan PTB/PTZ und seine Stellung in der Öffentlichkeit

7

1. Die Tageszeitung der deutschen Emigration in Frankreich 1.1. Zum Verhältnis von Presse und Öffentlichkeit in der Weimarer Republik 1.2. Gründung und Redaktionsgeschichte von PTB und PTZ 1.3. PTB/PTZ, Organ der »antihitlerischen Gesamtopposition« in Frankreich? 2. Öffentlichkeit der deutschen Emigration und französische Öffentlichkeit 2.1. Zum Publikum von PTB und PTZ 2.2. Die Stellung von PTB und PTZ im Spannungsfeld von französischer und Emigranten-Öffentlichkeit

9

II. Literaturkritik als Ware 3. Die Stellung von PTB und PTZ innerhalb des literarischen Marktes der deutschen Emigration in Frankreich 3.1. Das Feuilleton von PTB und PTZ im pressegeschichtlichen Kontext A. Das Feuilleton als publizistische Kategorie B. Das Feuilleton von PTB und PTZ und seine Rubriken C. Die Feuilletonredaktion D. Die Kommerzialisierung des Feuilletons von PTB und PTZ 3.2. Der literarische Markt der deutschen Emigration in Frankreich A. Verlage (am Beispiel der Editions du Phénix) B. Druckereien C. Buchhandlungen und Leihbibliotheken D. Emigrationsorgane mit Literaturteil 3.3. Die Beeinflussung der Literaturkritik durch den literarischen Markt A. Der Buchvertrieb von PTB und PTZ B. Anzeigenaufkommen der Verlage in PTB und PTZ C. Quantitative Analyse der Rezensionen D. Analyse der rezensierten Werke nach Verlagen E. Zum Tauschwert von Rezensionen

9 15 25 42 42 50 65

67 67 67 71 80 . . 84 . . 90 92 98 102 107 112 113 114 117 120 123 V

III. Literaturkritik als Diskurs 4. Strukturelle Bedingungen literarischer Kritik vor und nach 1933 und Konstituierung des literaturkritischen Diskurses im Exil 4.1. Literaturkritik im Feuilleton bis 1933 4.2. Der Beitrag von PTB und PTZ zur Konstituierung des literaturkritischen Diskurses im Exil A. Funktionsbestimmung der Literaturkritik im Exil als Gegenpraxis zur NS-Kritik B. Definitionsversuche der Exilliteratur C. Abgrenzung gegen Autoren reichsdeutscher Verlage und Autoren der »Inneren Emigration« D. Dichter, Schriftsteller und »Asphaltliteraten« E. Die Rolle der Intellektuellen 4.3. Die Vermittlung zwischen Struktur und Praxis der Literaturkritik A. Zum Zusammenhang von Institution und Diskurs B. Kontinuität und Diskontinuität des literaturkritischen Diskurses: die Rezensenten in PTB und PTZ C. Bestandsaufnahme der rezensierten Titel 5. Der literaturkritische Diskurs in PTB und PTZ: ein Instrument in der Konkurrenz um kulturelle Legitimität 5.1. Literaturkritik im Kräftefeld des Exils A. Zeitgeschichtliche Stoffe B. Historische Stoffe C. Im Schnittpunkt von bürgerlicher Literaturtradition und kommunistischer Literaturpolitik 5.2. Literaturkritik im Kräftefeld der französischen Literatur A. Der Transfer zeitgenössischer Literatur B. Funktionen des Literaturtransfers Schlussbemerkung Anhang Verzeichnis der in PTB und PTZ rezensierten Titel Verfasserregister der in PTB und PTZ rezensierten Titel Verlagsregister der in PTB und PTZ rezensierten Titel Register der Rezensenten in PTB und PTZ Dokument: Ergebnisse der Unternehmensprüfung durch die KPD vom Juni 1937

131

133 133 141 144 152 156 166 172 179 179 184 190 204 204 207 229 243 250 254 284 300 302 302 356 371 379 . . . 387

Quellen- und Literaturverzeichnis

402

Personenregister

424

VI

Abkürzungsverzeichnis

Ausser den üblichen Kürzeln für Zitate und Quellennachweise werden folgende Abkürzungen benutzt: Abschn. AdL AEAR AN AmGuild APP BÄK BAP BPRS BW DBF DDP DL DLA DS DSP DW EA EKKI FZ GA IL IISG ISK Kap. KOMINTERN KPD KPF K P O (KPD-O) LO MdR NL NRF NWB NSDAP NTB*) NZZ PB PCF Ps.

Abschnitt Allert de Lange-Verlag(sarchiv) Association des Ecrivains et Artistes Révolutionnaires Archives Nationales, Paris American Guild for German Cultural Freedom (Bestand der Deutschen Bibliothek. Deutsches Exilarchiv 1933-1945, Frankfurt/Main) Archives de la Préfecture de Police, Paris Bundesarchiv Koblenz Bundesarchiv, Abteilungen Potsdam (ehemaliges Zentrales Staatsarchiv) Bund Proletarisch-Revolutionärer Schriftsteller Briefwechsel Deutsche Bibliothek/Deutsches Exilarchiv 1933-1945, Frankfurt/Main Deutsche Demokratische Partei Die Linkskurve Schiller-Nationalmuseum/Deutsches Literaturarchiv Marbach a. Neckar Die Sammlung Deutsche Staatspartei Das Wort Erstausgabe Exekutivkomitee der Kommunistischen Internationale Frankfurter Zeitung Der Gegen-Angriff Internationale Literatur Internationaal Instituut voor Sociale Geschiedenis, Amsterdam Internationaler Sozialistischer Kampfbund Kapitel Kommunistische (III.) Internationale Kommunistische Partei Deutschlands Kommunistische Partei Frankreichs KPD-Opposition Linke Opposition (Bolschewiki-Leninisten) Mitglied des Reichstags Nachlass Nouvelle Revue Française Neue Weltbühne Nationalsozialistische Deutsche Arbeiter-Partei Neues Tage-Buch Neue Zürcher Zeitung Politbüro Parti Communiste Français Pseudonym

VII

PTB*) PTZ*) Rez. SAdK

SAP(D) SAPMO-BArch, ZPA

SDS SFIO SOPADE Slg. SPD TNL USPD VEGAAR VKPD WKKF ZStA ZPA ZK

Pariser Tageblatt Pariser Tageszeitung Rezension Stiftung Akademie der Künste (ehemals Nationale Forschungs- und Gedenkstätten der DDR für deutsche Kunst und Literatur des 20. Jahrhunderts), Berlin Sozialistische Arbeiterpartei (Deutschlands) Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv (Bestand des Zentralen Parteiarchivs im ehemaligen Institut für Marxismus-Leninismus), Berlin Schutzverband deutscher Schriftsteller Section Française de l'Internationale Ouvrière Sozialdemokratische Partei Deutschlands (Büro des Parteivorstands in der Emigration) Sammlung Sozialdemokratische Partei Deutschlands Teilnachlass Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands Verlagsgenossenschaft Ausländischer Arbeiter in der UdSSR, Moskau Vereinigte Kommunistische Partei Deutschlands Weltkomitee gegen Krieg und Faschismus s. BAP s. SAPMO-BArch, ZPA Zentralkomitee

*) Sofern Abkürzungen von Presseorganen nicht kursiv gedruckt sind, verweisen sie auf die jeweiligen Redaktionsarchive

VIII

B e i m Suchen nach Ausdruck musste erst das Zerschlagne, Zertrennte, mit dem wir behaftet waren, ü b e r w u n d e n werden. W i r fragten uns, w a s das W a h r e in der Kunst sei, und fanden, es müsse das Material sein, das durch die eignen Sinne und Nerven gegangen war. (Peter Weiss, Die Ästhetik des Widerstands, Bd. I. Frankfurt/M. 1975, S. 183)

Einleitung

Wir sind eine moderne Tageszeitung von europäischer Reichweite, mit einem raschen Informationsdienst und herausragenden Mitarbeitern. Wir dienen der unabhängigen Meinung in allen Ländern, wo deutsche Sprache und Kultur verbreitet sind - besonders in der Schweiz, in Holland, Skandinavien, Luxemburg, dem Saarland, der Tschechoslowakei, Rumänien etc. Wir erreichen alle diejenigen, die ausserhalb des Reichsgebiets wohnen oder auf Reisen sind und dabei über politische und wirtschaftliche Ereignisse in Frankreich, Deutschland und der ganzen Welt unparteiisch informiert sein wollen. Der Verlag des »Pariser Tageblatts«'

Mit diesem Inserat warb das Pariser Tageblatt während der ersten Monate seines Erscheinens wiederholt in eigener Sache. Selbstbewusst bekundetete es seinen journalistischen Anspruch, eine unabhängige Tageszeitung mit überregionaler, ja internationaler Verbreitung zu sein. Doch der herausgestellte Professionalismus überspielte - notwendigerweise, galt es doch, Abonnenten und Inserenten zu gewinnen - die schwierigen Existenzbedingungen, die das Pariser Tageblatt (fortan: PTB) mit den meisten anderen Exilorganen teilte: Neue Kommunikationsund Vertriebsnetze, ein literarischer Markt und ein interessiertes Publikum hatten sich ausserhalb Hitler-Deutschlands formieren müssen, damit die Zeitung ihre Leser fand. Von der geographischen Streuung des Absatzgebietes, das sich in den Folgejahren im Rhythmus der Expansion des Hitler-Staates modifizieren sollte, hatte das Inserat bereits eine Vorstellung gegeben. Doch gleichzeitig zeugte es auch von dem offensichtlichen Zögern des Blattes, die neue Befindlichkeit des Exils zu artikulieren und sich bewusst als »Emigrantenzeitung« 2 zu definieren.

1

2

»Nous sommes, Nous servons, Nous atteignons« (Werbeinserat), PTB Jg. 2 N° 145 v. 6.5.1934, S. 2 (Übers, d. Verf.). Die Begriffe »Emigration« und »Exil« werden im folgenden undifferenziert verwendet, da im zeitgenössischen Sprachgebrauch von PTB und PTZ der - durchaus politisch verstandene Terminus »Emigrant« bzw. »Emigration« überwog, sich aber andererseits in der Forschung der Terminus »Exil« durchgesetzt hat. Zu den Begriffen »Emigrant«, »Exilant« bzw.

1

Diese Zurückhaltung beruhte nicht nur auf einem Zielgruppenproblem, das durch den fluktuierenden Leserkreis bereits angedeutet wurde, sondern sie entsprang der grundsätzlicheren Frage, wie sich die bisherigen journalistischen Schreib- und Arbeitsmodelle im Exil fortführen Hessen. Durch ihre Mitarbeiter fest in der journalistischen Tradition der Weimarer Republik verwurzelt und nun vor die Notwendigkeit gestellt, den veränderten Existenzbedingungen und Funktionen eines Exilorgans Rechnung zu tragen, hat die Zeitung einen durchaus originellen Weg beschritten. Denn das PTB und sein unter dem Namen Pariser Tageszeitung (fortan: PTZ) veröffentlichtes direktes Nachfolgeorgan war zeit seines Erscheinens die einzige im Exil gegründete Tageszeitung der deutschen Opposition gegen Hitler. Der Erscheinungszeitraum — vom 12.12.1933 bis 14.6.1936 für das PTB, vom 12.6.1936 bis 18.2.1940 für die PTZ - umspannte nahezu den gesamten Zeitraum zwischen Reichtstagsbrand und Okkupation, während dem deutsche Emigranten in Frankreich Asyl finden sollten. Dieser vorwiegenden Leserschaft 3 war es »allgemeines Nachrichtenblatt und Kampforgan zugleich«4, wie 1939 sogar die Encyclopédie Française feststellte. In seiner täglichen Berichterstattung reflektierte sich denn auch der stete Selbstverständigungsprozess der Emigration, die Sammlungsbewegung der politischen Parteien und Gruppen, mitsamt ihrer Peripetien. In der Zeitung spiegelte sich die soziale Realität des Exils, schlugen sich die (Über-) Lebensbedingungen und Alltagserfahrungen der Exilierten nieder. Und sie reflektierte und kommentierte deren kulturelles Leben: Theater, Film, Musik, bildende Kunst und Literatur. Doch fand sich diese exilzentrierte Perspektive gedoppelt um den Blick auf Belange des internationalen - und natürlich besonders französischen — politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Lebens, die die Struktur der Zeitung, ihre Sparten und Rubriken ebenso prägten wie die Berichterstattung über das Exil selbst. So entstand ein Presseorgan, das eine beständige publizistische Auseinandersetzung mit dem französischen Gastland führte und auf diese Weise einen Beitrag zur Integration seiner Leser leistete. Für die wissenschaftliche Forschung wurden PTB und PTZ erst vergleichsweise spät entdeckt. Auch kamen die Impulse nicht, wie es die Entwicklung der Exilforschung in den siebziger Jahren hätte vermuten lassen, von der germanistischen5, sondern von der Politik- und Kommunikationsforschung. In einem Aufsatz zur deutschen Volksfront-Bewegung in Paris hatte Ursula Langkau-Alex

»Exulant« s. Helmut Müssener, Die deutschsprachige Emigration in S c h w e d e n nach 1933. Ihre Geschichte und kulturelle Leistung, Stockholm 1971, S. 7 1 - 1 0 5 . 3 4

5

2

Präzisierungen zum Publikum von PTB und PTZ in Kapitel 2.1. dieser Arbeit. »Les émigrés du IIIe Reich ne disposent que d'un quotidien: L e Pariser Tageszeitung [...] qui s'appelait d'abord Pariser Tageblatt. [...] le Pariser Tageszeitung est à la fois un Journal d'information générale et un Organe de combat. Violemment antihitlérien, il tend à l'union de toutes les tendances de l'émigration et préconise la formation d'un Front populaire contre le national-socialisme.« André Pierre (Professeur à l ' E c o l e du Journalisme), La Presse d e l'émigration, in: Encyclopédie Française, Bd. 18, Paris 1939, Sp. 1 8 ° 3 8 - 6 . Eine Darstellung der Zeitung fehlte z. B. noch bei Hans-Albert Walter, Deutsche Exilliteratur 1 9 3 3 - 1 9 5 0 . Bd. 4 Exilpresse, Stuttgart 1978 (= Neuausgabe von Bd. 7 Exilpresse I, Darmstadt u. N e u w i e d 1974).

(1970) 6 auf die politischen Hintergründe des Wechsels vom PTB zur PTZ im Juni 1936 hingewiesen und dazu erstmals historische Quellen präsentiert. Ein pressegeschichtlicher Aufsatz im Sammelband von Hanno Hardt u. a. (1979) 7 bot erste Daten zu Struktur und publizistischem Profil der Zeitung. Grundlegend für die weitere Forschung war die — politikwissenschaftliche und publizistische Forschungsansätze verbindende - Dissertation von Walter Frederick Peterson (1982 8 ; Buchausgabe 1987 9 ). Hier wurde die Zeitung innerhalb ihres politischen Kommunikationsraumes vorgestellt. Ausführlich untersucht wurde die journalistische Vergangenheit der Redakteure (insbesondere ihres Chefs Georg Bernhard), die komplexe Redaktionsgeschichte von PTB und PTZ sowie ihr publizistischer Beitrag zur politischen Geschichte des Exils. Neben anderen Quellen stützte sich die Dokumentation erstmals auf das weitgehend erhalten gebliebene Redaktionsarchiv der PTZ.10 Kritik am journalistischen Konzept der Tageszeitung übte dagegen Lieselotte Maas in einem Aufsatz (1985)", der leicht verändert auch ins Handbuch der deutschen Exilpresse (1990)' 2 einging. Zeitgleich mit Peterson, doch mit unterschiedlicher Methodik, entstand die Dissertation von Gerda Rassler (1982)' 3 , welche erstmals Texte aus dem Feuilleton von PTB und PTZ präsentierte. Hier wurden Beiträge der Zeitung zu markanten literarisch-politischen Ereignissen des Exils (z. B. dem Reichstagsbrandprozess oder dem Pariser Schriftstellerkongrcss zur Verteidigung der Kultur) untersucht. Rasslers vornehmlich kulturpolitisch orientierte Quellenerschliessung der Zeitung fand einen weiteren Niederschlag in einer Auswahlbibliographie zu PTB und PTZ (1990)' 4 .

6

Ursula Langkau-Alex, Deutsche Emigrationspresse (Auch eine Geschichte des » A u s s c h u s s e s zur Vorbereitung einer Deutschen Volksfront« in Paris), in: International Review of Social History Vol. X V (1970), S. 1 6 7 - 2 0 1 .

7

(Autorenkollektiv), Exilpublizistik in Frankreich, in: Hanno Hardt u. a. (Hg.), Presse im Exil. Beiträge zur Kommunikationsgeschichte des deutschen Exils 1 9 3 3 - 1 9 4 5 , München u. a. 1979, S. 129—142 (= Dortmunder Beiträge zur Zeitungsforschung, Bd. 30). Walter F. Peterson, The German Left Liberal Press in Exile: Georg Bernhard and the Circle of E m i g r é Journalists around the Pariser Tageblatt/Pariser Tageszeitung 1933-1940, Ph. D . diss., State University of N e w York at B u f f a l o 1982. Walter F. Peterson, The Berlin Liberal Press in Exile: A History of the Pariser Tageblatt-Pariser Tageszeitung 1 9 3 3 - 1 9 4 0 , Tiibingen 1987 (= Studien und Texte zur Sozialgcschichte der Literatur Bd. 18).

8

9

B e s t a n d Pariser Tageszeitung im Bundesarchiv, Abteilungen Potsdam (ehemaliges Zentrales Staatsarchiv der D D R ) . " Lieselotte Maas, Kurfürstendamm auf den Champs-Elysees? Der Verlust von Realität und Moral beim Versuch einer Tageszeitung im Exil, in: Exilforschung. Ein internationales Jahrbuch Bd. 3 (1985), S. 106 126. 12

13

14

Lieselotte Maas, Pariser Tageblatt/Pariser Tageszeitung, in: dies., Handbuch der deutschen Exilpresse 1 9 3 3 - 1 9 4 5 . Bd. 4: D i e Zeitungen des deutschen Exils in Europa von 1 9 3 3 - 1 9 3 9 in Einzeldarstellungen, München/Wien 1990, S. 1 5 5 - 1 8 0 . Gerda Rassler, Literatur im Feuilleton. Pariser Tageblatt und Pariser Tageszeitung und ihr literaturpolitisches Profil. Phil. Diss., Leipzig 1982. Gerda Rassler, Pariser Tageblatt/Pariser Tageszeitung 1 9 3 3 - 1 9 4 0 . Eine Auswahlbibliographie, Berlin u. Weimar 1989.

3

Die Untersuchung der Zeitung nicht nur in ihren politischen, sondern auch in ihren sozialen und kulturellen Kommunikationsstrukturen forderten Hélène Roussel und Lutz Winckler (1989) 15 in einem Aufsatz, der Zielsetzungen eines Forschungsprojekts zu PTB und PTZ (1985-1991) an der Universität Paris 8 resümierte. Zwischenergebnisse dieses Projekts stellte ein Sammelband (1989)' 6 mit Beiträgen zum Politik-, Lokal- und Kulturteil der Zeitung vor. Ein weiterer Sammelband (1992) 17 brachte Beiträge zur Stellung der Zeitung innerhalb des Kommunikationsfeldes der deutschen Exilpresse in Frankreich.18 Zur Literaturkritik in PTB und PTZ liegt bislang noch keine eigenständige Untersuchung vor; in der Vergangenheit wurden lediglich vereinzelte Beiträge aus dieser Zeitung als Quellen, sei es für übergreifende Untersuchungen literarischer Produktion und Kritik des Exils' 9 , sei es für Werkausgaben und Textsammlungen einzelner Autoren (u. a. Heinrich Mann, Klaus Mann, Joseph Roth, neuerdings auch Alfred Döblin 20 ), benutzt. Die vorliegende Arbeit setzt sich daher zum Ziel, die literaturkritischen Beiträge aus PTB und PTZ umfassend zu erschliessen 21 und im publizistischen Kontext dieses Presseorgans zu untersuchen.

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4

Hélène Roussel und Lutz Winckler, Pariser Tageblatt/Pariser Tageszeitung: Gescheitertes Projekt oder Experiment publizistischer Akkulturation?, in: Exilforschung. Ein internationales Jahrbuch, Bd. 7 (1989), S. 119-135. Pariser Tageblatt/Pariser Tageszeitung: Konzepte und Praxis der Tageszeitung der deutschen Emigration in Frankreich. Beiträge zur Tagung des Forschungsprojekts der Universität Paris 8 zur deutschen Exilpresse in Frankreich vom 16.-17. Dezember 1988 in Paris, hrsg. v. Hélène Roussel und Lutz Winckler, Universitätsdruckerei Bremen 1989 (masch. vervielf.). Hélène Roussel u. Lutz Winckler (Hg.), Deutsche Exilpresse und Frankreich 1933-1940, Frankfurt u. a. 1992. Zuvor diente die Zeitung bereits als Quelle für sozial- oder kulturgeschichtliche Teilaspekte des deutschen Exils in Frankreich bei Gilbert Badia u. a., Les Barbelés de l'exil. Etudes sur l'émigration allemande et autrichienne, Grenoble 1979; Les Bannis de Hitler. Accueil et lutte des exilés allemands en France 1933-1939, Paris 1984, sowie bei Dieter Schiller u. a., Exil in Frankreich, Leipzig 1981 (= Kunst und Literatur im antifaschistischen Exil 1933-1945, Bd. 7). S. Hans Dahlke, Geschichtsroman und Literaturkritik im Exil, Berlin/Weimar 1976; Silvia Schlenstedt (Hg.), Wer schreibt, handelt. Strategien und Verfahren literarischer Arbeit vor und nach 1933. Berlin u. Weimar 2., unv. Aufl. 1986 ('1983). In die Dokumentation von Klaus Jarmatz (Hg.), Kritik in der Zeit. Antifaschistische deutsche Literaturkritik 1933-1945, Halle u. Leipzig 1981, wurde gar nur ein einziger Beitrag aus der PTZ aufgenommen. Dass Döblins Mitarbeit an PTB und PTZ noch weitgehend unerforscht ist, zeigte sich auf dem 9. Internationalen Alfred-Döblin-Kolloquium »Döblin in Frankreich« v. 17./18.6.1993 in Paris; seine Beiträge aus dieser Zeitung gehen nun doch in die neue Werkausgabe ein. Ausser für Döblin stellt die Zeitung aber auch für Werkausgaben und Textsammlungen weiterer Autoren - u. a. Albert Ehrenstein, Ferdinand Hardekopf, Max Herrmann-Neisse, Alfred Kerr, Alfred Wolfenstein - eine bislang weitgehend unbeachtete Quelle dar! Die Textgattung der Rezensionen wird systematisch, literaturkritische Essays, Werkporträts etc. problemorientiert erschlossen. Sämtliche Rezensionen sind im Anhang dieser Arbeit im chronologisch angelegten Rezensionsverzeichnis mit den dazugehörigen Autoren-, Verlagsund Rezensentenregistern aufgeführt.

Methodisch ist sie Peter Uwe Hohendahls institutionsgeschichtlichem Abriss der deutschen Literaturkritik verpflichtet. 22 Die Institution Literaturkritik23 dient nach Hohendahl der öffentlichen Verständigung über die gesellschaftliche Funktion von Literatur unter Einbeziehung ihrer historischen Produktions- und Rezeptionsbedingungen sowie des Systems literarischer Normen und Konventionen. Eine solche Untersuchung der literaturkritischen Kommunikation in PTB/PTZ bedurfte jedoch einer Ergänzung: Neben der Institution Literaturkritik war die Institution Presse in die Analyse einzubeziehen und als Träger des literaturkritischen Diskurses zu ihrem Ausgangspunkt zu machen. Bestätigt wurde dieses Vorgehen bei Sichtung der historischen Quellen. Insbesondere das umfangreiche Redaktionsarchiv der PTZ gestattete, die ideellen und materiellen Entstehungsbedingungen des literaturkritischen Diskurses vom Medium her zu rekonstruieren. Eine weitere Schwierigkeit bestand darin, die angestrebte medienorientierte Untersuchung der Literaturkritik in den Kommunikationshorizont des Exils zurückzubinden und für den Untersuchungszeitraum 1933—1940 differenziert darzustellen. Um funktionale Analyse und synchronische Ausdifferenzierung miteinander zu verbinden, bot sich Pierre Bourdieus Begriff des champ intellectuel (intellektuelles Kräftefeld) an, der aufgrund seiner dynamischen Konzeption auch kurz- bis mittelfristige Verwerfungen des intellektuellen Bereiches beschreibbar macht. 24 Bourdieus Beschreibungsmodell schien mir ausserdem geeignet zum interkulturellen Vergleich; es liegt der Darstellung der Literaturkritik im Diskursfeld des Exils und der Analyse der französischen Literaturverhältnisse unter der Perspektive der Akkulturation zugrunde. In ihrem medienorientierten Vorgehen unterscheidet sich die vorliegende Untersuchung von bisherigen Darstellungen zur Literaturkritik in der deutschen Exilpresse. 25 Bewusst sucht sie einen Bogen zur neueren Forschung zur deut-

22

Peter U w e Hohendahl (Hg.), Geschichte der deutschen Literaturkritik ( 1 7 3 0 - 1 9 8 0 ) , Stuttgart 1985, S. 2, definiert Literaturkritik als » ö f f e n t l i c h e Kommunikation über Literatur, die die Darstellung und Bewertung dieser Literatur zu ihrer Sache macht«. - Eine Definition der Literaturkritik als »öffentliche Auseinandersetzung über Literatur« lag dem Sammelband von Wilfried Barner (Hg.), Literaturkritik - Anspruch und Wirklichkeit. D F G - S y m p o s i o n 1989, Stuttgart 1990 (ebd., S. XI) zugrunde. D o c h fand hier das literarische Feuilleton, das in Hohendahls kommunikationsgeschichtlichem Werk als literarische Institution ernst g e n o m m e n wurde, nur unzureichende Berücksichtigung.

2:1

Z u m Institutionsbegriff (u. a. in Auseinandersetzung mit dem Konzept Peter Bürgers) s. Peter U w e Hohendahl, Literarische Kultur im Zeitalter des Liberalismus 1 8 3 0 - 1 8 7 0 , München 1985, S. 1 1 - 5 4 .

24

Pierre Bourdieu, Künstlerische Konzeption und intellektuelles Kräftefeld, in: Zur S o z i o l o g i e der symbolischen Formen, Frankfurt/M. 2 1983, S. 7 5 - 1 2 4 .

25

V g l . Angela Huss-Michel, D i e Moskauer Zeitschriften »Internationale Literatur« und » D a s W o r t « während der Exil-Volksfront ( 1 9 3 6 - 1 9 3 9 ) . Eine vergleichende Analyse, Frankfurt/M. u. a. 1987 und den Tagungsband von Michel Grunewald (Hg.), D i e deutsche Literaturkritik im europäischen Exil ( 1 9 3 3 - 1 9 4 0 ) , Bern u. a. 1993 (= Jahrbuch für Internationale Germanistik, Reihe A. Kongressberichte Bd. 34) s o w i e mehrere Einzeldarstellungen Michel Grunewalds: »Bürgerliche« Literaturkritik im Exil. Der Fall »Das N e u e Tage-Buch«, in: Exil Jg. 8 ( 1 9 8 8 ) , H. 1, S. 6 0 - 7 0 ; ders., Literaturkritik in der Vorbereitungsphase der »Deutschen Volksfront«: Die Sammlung und Neue Deutsche Blätter, in: M. G. u. Frithjof Trapp (Hg.),

5

sehen Tagespresse vor und nach 193326 zu schlagen, die die Literaturkritik in den publizistischen Zusammenhang des Feuilletons stellen. Vorarbeiten und methodische Vorüberlegungen gingen in frühere Studien ein.27 Die vorliegende Untersuchung wurde im Frühjahr 1994 abgeschlossen. Herrn Prof. Dr. Lutz Winckler (Tübingen/Poitiers) danke ich für die wissenschaftliche Betreuung, der Forschungsgruppe der Universität Paris 8 zum deutschen Exil in Frankreich für zahlreiche Anregungen und Diskussionen. Ferner gilt mein Dank den Archivaren und Bibliothekaren all derjenigen Institutionen, deren Bestände ich für die Untersuchung benutzen und auswerten konnte. Die Rechteinhaber der zitierten Archivalien Hessen sich nicht in allen Fällen ermitteln; etwaige Ansprüche bitte ich, nachträglich geltend zu machen. Paris, im Mai 1996

Autour du Front populaire allemand. Einheitsfront - Volksfront, Bern u. a. 1990, S. 2 6 5 - 2 8 8 ; ders., »Es geht um den Realismus«. Buchbesprechungen in Das Wort, in: Exil, Jg. 10 (1990) H. 2, S. 5 9 - 7 5 ; ders., Kritik und politischer Kampf: Der Fall Der Gegen-Angriff, in: H. Roussel u. L. Winckler (Hg.), Deutsche Exilpresse und Frankreich, a. a. O., S. 237-247; ders., »Eine Insel gebildeten Bürgertums«. Literaturkritik in Mass und Wert, in: M. G. (Hg.): Die deutsche Literaturkritik im europäischen Exil (1933-1940), a. a. O., S. 7 3 - 8 7 . 26

Vgl. u. a. Klaus Dieter Oclze, Das Feuilleton der Kölnischen Zeitung im Dritten Reich. Frankfurt/M. u. a. 1990 (= Regensburger Beiträge zur deutschen Sprach- und Literaturwissenschaft, Reihe B. Untersuchungen Bd. 45); Bodo Rolika, Die Belletristik in der Berliner Presse des 19. Jahrhunderts. Untersuchungen zur Sozialisationsfunktion unterhaltender Beiträge in der Nachrichtcnpresse, Berlin 1985; Almut Todorow, Das Feuilleton der »Frankfurter Zeitung«. Zur Grundlegung der rhetorischen Medienforschung, Tübingen 1996 (= RhetorikForschung Bd. 8); Kristina Zerges, Sozialdemokratische Presse und Literatur: Empirische Untersuchungen zur Literaturvermittlung in der sozialdemokratischen Presse 1876-1933, Stuttgart 1982. Nicht neu, aber zur Literaturkritik in der deutschen Nachkriegspresse immer noch lesenswert sind: Peter Glotz, Buchkritik in deutschen Zeitungen, Hamburg 1968; Bodo Rolika, Vom Elend der Literaturkritik. Buchwerbung und Buchbesprechungen in der Welt am Sonntag, Berlin 1975.

21

M. E., La Critique littéraire dans le Pariser Tageblatt, quotidien des émigrés allemands en France. Diplôme d'Etudes Approfondies. Université Paris 8, 1986, masch. vervielf., 126 S.; dies., »Freie« deutsche Literatur? Buchbesprechungen in Pariser Tageblatt und Pariser Tageszeitung zwischen Antifaschismus und Marktzwang, in: H. Roussel und L. Winckler (Hg.), Pariser Tageblatt/Pariser Tageszeitung. Konzepte und Praxis der Tageszeitung der deutschen Emigration in Frankreich, a. a. O., S. 166-183; dies., Literaturkritik im Feuilleton von Pariser Tageblatt und Pariser Tageszeitung, in: Die deutsche Literaturkritik im europäischen Exil (1933-1940), hg. v. Michel Grunewald, a. a. O., S. 4 3 - 5 6 .

6

I. DAS EXILORGAN

PTB/PTZ UND SEINE STELLUNG

IN DER ÖFFENTLICHKEIT

1. Die Tageszeitung der deutschen Emigration in Frankreich

1.1. Zum Verhältnis von Presse und Öffentlichkeit in der Weimarer Republik Wir leben in einer Zeit, die so eminent mit Politik erfüllt ist, dass ihre Auswirkungen sich für jeden M e n s c h e n spürbar machen und ihn zu einer Stellungnahme zwingen. [...] Der K a m p f um d i e politische Umgestaltung hat dazu geführt, dass g e w i s s e Grundrechte des deutschen V o l k e s in Frage gestellt, wenn nicht schon nahezu beseitigt sind. Es handelt sich um Grundrechte, für die die besten demokratischen Kräfte gerade des deutschen Bürgertums schon vor hundert Jahren kämpfend eingetreten sind. D i e s e Grundrechte sind: Pressefreiheit Versammlungsfreiheit Rede- und Lehrfreiheit'

So lautete ein Aufruf von Albert Einstein, Heinrich Mann und Rudolf Olden, dem nach Schätzungen der preussischen Polizei rund 500 Personen gefolgt waren, um sich am 19.2.1933 in der Berliner Krolloper zum Kongress Das Freie Wort zu versammeln. Präsent waren u. a. Mitglieder der Deutschen Liga für Menschenrechte und des Schutzverbandes deutscher Schriftsteller, Revolutionäre Pazifisten, Freidenker und Freiberufler (Juristen, Journalisten, Künstler) nebst zahlreichen organisierten Sozialdemokraten und Sozialisten (Kommunisten, wiewohl am Zustandekommen des Kongresses beteiligt, traten nicht öffentlich in Erscheinung 2 ). Einmütig forderten die Versammelten die Einhaltung der verfassungsmässigen demokratischen Grundrechte. Doch der vorzeitige Abbruch des Kongresses durch die preussische Polizei war der schlagende Beweis dafür, wie es um diese Rechte bereits bestellt war. Hitlers Ernennung zum Reichskanzler am 30. Januar 1933 markierte den Beginn der systematischen Ausschaltung der parlamentarischen wie der ausserparlamentarischen Opposition und der Unterordnung aller öffentlichen und privaten Lebensbereiche unter die nationalsozialistische Ideologie. Ein Bereich, in dem sich die Abschaffung demokratischer Grundrechte besonders frühzeitig bemerkbar machte, war das Pressewesen. Dort hatte die Hitler-Regierung am 4. Februar 1933 — rechtzeitig für die Reichstagswahlen am 5. März - mit der Notverordnung Zum Schutze des deutschen Volkes eine Handhabe zum Verbot der gesamten Opposi-

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Undat. Aufruf zum Kongress »Das Freie Wort«, Bundesarchiv Koblenz ( B Ä K ) R 5 8 / 3 9 1 ; zit. n. Klaus Briegleb u. Walter Uka, Zwanzig Jahre nach unserer Abreise ..., in: Exilforschung. Ein internationales Jahrbuch Bd. 1 (1983), S. 2 0 3 - 2 4 4 , hier S . 2 1 9 . Zur organisatorischen Initiative von Willi Münzenberg s. ebd., S. 21 Off.

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tionspresse geschaffen. 3 Doch begnügten sich die Nationalsozialisten nicht mit dieser Massnahme. 4 Am 28. Februar 1933, am Morgen nach dem Reichstagsbrand, holten sie in einer Verhaftungswelle zum Generalschlag gegen die politische Opposition aus und hoben mit der Notverordnung Zum Schutz von Volk und Staat zugleich die in Artikel 118/1 der Weimarer Verfassung garantierte Pressefreiheit auf. Am 13. März 1933 folgte die Gründung des sog. Ministeriums für Volksaufklärung und Propaganda, dessen Abteilung IV, die Presseabteilung der Reichsregierung, fortan den Informationsfluss offiziell regelte.5 Neustrukturierung des Pressewesens und »Säuberungen« im Personalbereich gingen nun Hand in Hand. Die Mitgliedschaft in der Reichspressekammer (ihr Präsident war ExFeldwebel Max Amann) wurde zur Voraussetzung für jede weitere Ausübung journalistischer Berufe und war »Nicht-Ariern« nur in Ausnahmefällen gestattet. Mit dem Reichskulturkammergesetz vom 22. September 1933 wurde neben den Bildenden Künsten, Musik, Theater, Literatur, Film und Rundfunk auch die Presse einer ständischen Organisation und politischen Gleichschaltung unterworfen. 6 Waren in der Reichspressekammer fortan alle im Pressewesen tätigen Verbände (Zeitungsverleger, Nachrichtenbüros etc.) zusammengeschlossen, so betraf das Schriftleitergesetz vom 4. Oktober 1933 (in Kraft getreten am 1.1.1934) allein die Journalisten. »Arische« Abstammung und »nationaler Geist« waren nun die Berufsanforderungen an jene Journalisten der neuen Art: Das neue Schriftleitergcsetz kennzeichnet die totale Wendung in den Grundbegriffen aller Zeitungsarbeit. Es ist eine Wendung um 180 Grad. So wie der nationale Staat den liberalen in allem durchdringt und überwindet, so lässt dieses Schriftleitergesetz alle liberalistischen Auffassungen der Pressefreiheit weit hinter sich. Diese Auffassungen bestanden theoretisch im Glauben an die absolute Natur dieser Freiheit. Das führte, zumal in Deutschland, zu einer wüsten inneren Zerrissenheit des Meinungskampfes. Die Zeitungen wurden Führungsmittel einzelner Gruppen im Kampfe um den Staat. [...] Heute ist dieser Kampf der Gruppen um die Staatsmacht zu Ende. Die Zeitung soll Führungsmittel der Staatsmacht werden. 7

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Abschnitt II, § 7 Abs. I der Notverordnung bestimmte: »Druckschriften, deren Inhalt geeignet ist, die öffentliche Sicherheit oder Ordnung zu gefährden, können polizeilich beschlagnahmt und eingezogen werden.« Reichsgesetzblatt N° 8 v. 6.2.1933, zit. n.: Weimarer Republik. Hg. v. Kunstamt Kreuzberg u. v. Institut für Theaterwissenschaften der Universität Köln, 3., verb. Auflage, Berlin 1977, S. 382. »Zu meinem Bedauern habe ich feststellen müssen, dass die Handhaben der Verordnung des Herrn Reichspräsidenten zum Schutze des deutschen Volkes vom 4. Februar 1933 gegen Ausschreitungen der Presse nicht mit der Strenge angewandt werden, wie es angesichts der sich täglich steigernden Hetze in periodischen Druckschriften, Flugblättern und Plakaten der regierungsfeindlichen Parteien und Verbände erforderlich wäre.« Aus einem Erlass Hermann Görings, Deutsche Allgemeine Zeitung vom 25.2.1933; zit. nach loseph Wulf, Presse und Funk im Dritten Reich. Eine Dokumentation. Frankfurt/M., Berlin, Wien 1983, S. 19. Vgl. Kurt Koszyk, Deutsche Presse 1914-1945. Geschichte der deutschen Presse, Teil III, Berlin 1972, S. 363f. S. dazu insbesondere Dietrich Strothmann, Nationalsozialistische Literaturpolitik. Ein Beitrag zur Publizistik im Dritten Reich. 2., verb. Aufl., Bonn 1963, S. 2 1 - 3 5 . Emil Dovifat, Das neue Zeitungsgrundgesetz, in: Münsterischer Anzeiger v. 4.10.1933, zit. n. Joseph Wulf, Presse und Funk im Dritten Reich, a. a. O., S. 77f.

Die Presse wurde — sogar mit Billigung namhafter Publizisten von einem Mittel der Meinungsäusserung und Meinungsbildung zu einem Instrument der Massenlenkung im Sinne des nationalsozialistischen Staates umfunktioniert. Indessen soll der hier skizzierte Gegensatz von liberaler Publizistik und nationalsozialistischer Propaganda nicht den Blick auf die (politisch-ökonomischen) Schranken freier Meinungsäusserung verstellen, an denen sich bereits die Presse der Weimarer Republik stiess. Denn die Presse als das fortgeschrittenste Medium der Weimarer Republik war nicht erst im Januar 1933 unter den Einfluss der Politik geraten. Die lange Geschichte des Kampfes für Pressfreiheit und gegen die Zensur 8 lässt die Grundfunktion liberaler Publizistik zutage treten: In der sich formierenden bürgerlichen Gesellschaft war die Presse die wichtigste Institution bürgerlicher Öffentlichkeit, wie sie J. Habermas in einer wegweisenden Untersuchung beschrieben hat. 9 Neben der kommunikativen Funktion der Nachrichtenübermittlung (also der Publikmachung einer Sache) diente sie der kritischen Diskussion (dem Räsonnement nach Habermas) und der Herausbildung einer öffentlichen Meinung. Diese öffentliche Meinung folgte Habermas' Analyse bürgerlicher Öffentlichkeit des 18. Jahrhunderts zufolge dem Gesetz der ratio, vor der sich die öffentliche Gewalt zu legitimieren hatte. Idealiter war sie das Instrument der Herrschaftskontrolle in der frühbürgerlichen Gesellschaft und die »zum Publikum zusammentretenden Privatleute« das historische Subjekt der Öffentlichkeit. Als Träger der öffentlichen Meinung charakterisierte sich dieses »räsonierende Publikum« durch die Egalität der in ihm versammelten Privatleute als hommes (»die Parität des »bloss Menschlichen«* 10 ), unter Absehung ihres Status als citoyens bzw. merkantile Eigentümer. Doch die zunehmende Legalisierung einer politisch fungierenden Öffentlichkeit sowie die Konkurrenzsituation der Privatleute in ihrer Eigenschaft als Eigentümer auf dem Markt führten Habermas zufolge zu einem Umschlag von der räsonierenden Gesinnungspresse zu einer kommerziellen Presse. Mit ihrer Kommerzialisierung wurde die Presse, »bis dahin Institution der Privatleute als Publikum, zur Institution bestimmter Publikumsteilnehmer als Privatleuten — nämlich zum Einfallstor privilegierter Privatinteressen in die Öffentlichkeit«". Pressegeschichtlich machte die Rollenteilung zwischen Redakteur und Verleger sowie die technische Trennung des redaktionellen Teils vom Annoncenteil diese historische Aufspaltung von kommerzieller und kritischinformativer Funktion sichtbar. Der Verleger wurde von »einem Verkäufer neuer

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V g l . hierzu u. a. Dieter Breuer, Geschichte der literarischen Zensur in Deutschland, Heidelberg 1982; Klaus Petersen, Literatur und Justiz in der Weimarer Republik, B o n n 1988.

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Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, Darmstadt u. N e u w i e d " 1 9 8 0 ('1961). "' » L e s h o m m e s , private gentlemen, die Privatleute bilden das Publikum nicht nur in dem Sinne, dass Macht und Ansehen der öffentlichen Ämter ausser Kraft gesetzt sind; auch wirtschaftliche Abhängigkeiten dürfen im Prinzip nicht wirksam sein; Gesetze des Marktes sind ebenso suspendiert w i e die des Staates.« Ebd., S. 52. " Ebd., S. 222.

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Nachrichten zu einem Händler mit öffentlicher Meinung«' 2 . So hatte sich Habermas zufolge die Rolle der bürgerlichen Massenpresse um die letzte Jahrhundertwende entscheidend verändert: »Während die Presse früher das Räsonnement der zum Publikum versammelten Privatleute bloss vermitteln und verstärken konnte, wird dieses nun umgekehrt durch die Massenmedien erst geprägt.« 13 In der von kommerziellen Interessen regierten Presse sah er den wichtigsten Faktor für den Zerfall bürgerlicher Öffentlichkeit und die Transformation eines Publikums, das nicht mehr räsoniert, sondern zunehmend konsumiert und Publizität mit publicity übersetzt. Die jüngere Forschung korrigierte Habermas' Theorie der Öffentlichkeit, indem sie deren idealistische Grundzüge blosslegte und die für die frühbürgerliche Gesellschaft angenommene Antinomie von öffentlichem und privatem Interesse, von Ratio und Kommerz zurückwies.14 Sie machte geltend, dass eine philosophisch-literarische Vernunftkritik einerseits und die Entwicklung des literarischen Marktes und der Lesegesellschaften andererseits im Grunde bereits im 18. Jahrhundert gegenaufklärerische Tendenzen hervorgebracht und das »Geschäft der Aufklärung [zu einem] Geschäft mit der Aufklärung« 15 gemacht hatten. Diese Revision der Habermas'sehen Theorie konnte nicht ohne Folgen für die Untersuchung der modernen Presse, insbesondere für die Analyse ihres Status in der Öffentlichkeit bleiben. So kam eine der ersten kritischen Untersuchungen der deutschen Presse des 20. Jahrhunderts, die ihr Verhältnis zu Markt und Öffentlichkeit mitreflektierte, zu dem Schluss: In d e r M i t t e d e s 18. J a h r h u n d e r t s (...] begann d e r Prozess, d e r schliesslich d a z u f ü h r t e , d a s s Z e i t u n g e n n i c h t m e h r hauptsächlich v o m Leser, das heisst von den V e r t r i e b s e i n n a h m e n , s o n d e r n v o m A u f k o m m e n aus den A n z e i g e n e i n n a h m e n a b h ä n g i g w u r d e n . "

Nicht ein qualitativer Umschlag von »räsonierender« zu »kommerzieller« Presse, sondern eine Verlagerung der ökonomischen Basis der Presseorgane vom Lese-

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Ebd., S. 218.

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Ebd., S. 225. S. u. a. O s k a r N e g t u. A l e x a n d e r Kluge, Ö f f e n t l i c h k e i t und E r f a h r u n g . Z u r O r g a n i s a t i o n s a n a l y s e von b ü r g e r l i c h e r und proletarischer Ö f f e n t l i c h k e i t , F r a n k f u r t / M a i n 1972; Christa B ü r g e r , Peter B ü r g e r u. Jochen Schulte-Sasse (Hg.), A u f k l ä r u n g und literarische Ö f f e n t l i c h keit, F r a n k f u r t / M . 1980; Peter U w e Hohendahl, Literarische K u l t u r im Zeitalter d e s Liberalism u s ( 1 8 3 0 - 1 8 7 0 ) , a. a. 0 . , S. 55ff. K l a u s L . B e r g h a h n , V o n d e r klassizistischen z u r klassischen Literaturkritik 1 7 3 0 - 1 8 0 6 , in: Peter U w e H o h e n d a h l (Hg.), G e s c h i c h t e d e r deutschen Literaturkritik ( 1 7 3 0 - 1 9 8 0 ) , a. a. O . , S. 1 0 - 7 5 , hier S. 19. - W e i t e r z u m T h e m a : Otto Dann (Hg.), L e s e g e s e l l s c h a f t e n u n d bürgerlic h e E m a n z i p a t i o n . Ein e u r o p ä i s c h e r Vergleich, M ü n c h e n 1981; Lutz W i n c k l e r , A u t o r - M a r k t - P u b l i k u m . Z u r G e s c h i c h t e der Literaturproduktion in D e u t s c h l a n d , Berlin 1986; R e i n h a r d W i t t m a n n , G e s c h i c h t e des deutschen B u c h h a n d e l s . Ein Ü b e r b l i c k , M ü n c h e n 1991. Kurt K o s z y k , T h e s e n zur d e u t s c h e n Pressegeschichte, in: ders., D e u t s c h e P r e s s e 1 9 1 4 - 1 9 4 5 , a. a. O . , S. 4 4 4 - 4 5 3 , hier S. 4 4 7 . - W e n i g e r strukturell als an E i n z e l d a r s t e l l u n g e n orientiert ist d a g e g e n H e i n z - D i e t r i c h Fischer (Hg.), D e u t s c h e Z e i t u n g e n des 1 7 . - 2 0 . J a h r h u n d e r t s , Pullach 1972; ders., D e u t s c h e Zeitschriften des 1 7 . - 2 0 . J a h r h u n d e r t s , Pullach 1973; ders., D e u t s c h e P r e s s e v e r l e g e r d e s 1 8 . - 2 0 . Jahrhunderts, Pullach 1975.

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publikum hin zu finanzkräftigen Gruppen der Wirtschaft oder Politik charakterisierte die Entwicklung zur modernen Massenpresse. Darüber hinaus erforderten die technischen Innovationen im Pressewesen - Offsetdruck, Rotationspresse etc., die eine wesentliche Steigerung der Druckkapazitäten und Auflagenzahlen erlaubten — grosse Kapitalinvestitionen, die den ökonomischen Konzentrationsprozess beschleunigten. So absorbierten um die Jahrhundertwende die noch als Familienunternehmen gegründeten Zeitungsverlage Ullstein, Mosse und Scherl viele ihrer Konkurrenten und entwickelten sich zu den ersten Presseimperien der »Zeitungsstadt Berlin«17. In der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg stieg die Auflagenzahl mancher Blätter dieser Konzerne in die Hunderttausende. Zwar erreichte — numerisch gesehen - das Pressewesen Ende 1928 seinen Höchststand, als das deutsche Reichsgebiet insgesamt 3356 politische Tageszeitungen (davon 147 allein in Berlin) verzeichnete, die das gesamte politische Spektrum der Weimarer Republik, von der KPD bis zur NSDAP, repräsentierten.18 Doch lässt diese Titelvielfalt nicht erkennen, auf welch schwacher ökonomischer Basis der Pressesektor seit den 20er Jahren insgesamt stand. Im Herbst 1932 meldete Rudolf Mosse 19 Konkurs an, während August Scherl20 bereits 1913 Teile seines Unternehmens an den deutschnationalen Industriellen Alfred Hugenberg verkauft hatte. Der Zwang zu ökonomischer Konzentration und - als Folgeerscheinung - zur Kapitalverflechtung mit politischen Parteien oder grossen Wirtschaftskonzernen stellte sicher die grösste Bedrohung für einen unabhängigen öffentlichen Meinungsbildungsprozess in der Weimarer Republik dar. Vorläufig ungeklärt bleibt zwar die Frage einer (Minderheits-)Beteiligung der IG Farben an der Frankfurter Zeitung.21 Doch der Fall der Deutschen Allgemeinen Zeitung22 z. B. belegt, wie diese nach ihrer Übernahme durch Hugo Stinnes im Jahre 1920 für die Interessen seines »Vertikal-Trusts« instrumentalisiert wurde. Noch gravierender für die politische Öffentlichkeit der Weimarer Republik waren die Konsequenzen einer republikweiten Unterhöhlung der liberalen (Provinz-)Presse durch die Monopoli-

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P e t e r de Mendelssohn, Zeitungsstadt Berlin. Menschen und M ä c h t e in der Geschichte der d e u t s c h e n Presse, Überarb. u. erw. Aufl., Frankfurt/M., Berlin, W i e n 1982. - S. auch: W a l t e r G . Oschilewski, Zeitungen in Berlin. Im Spiegel der Jahrhunderte, Berlin 1975. '* P e t e r de Mendelssohn, Zeitungsstadt Berlin, a. a. O., S. 369fr. " E b d . , S. 401. 20 V g l . ebd., S. 2 3 4 - 2 4 8 und Hans Ermann, August Scherl. D ä m o n i e und Erfolg in Wilhelminis c h e r Zeit, Berlin 1954, S. 276f. 21 D e n vorläufigen Stand der Kenntnisse resümiert H a n s Bohrmann (Hg.), N S - P r e s s e a n w e i s u n g e n der Vorkriegszeit. Edition und Dokumentation, bearb. v. Gabriele Toepser-Ziegert, Bd. 1, M ü n c h e n u. a. 1984, S. 90, Anm. 331. Vgl. dazu auch W o l f g a n g Schivelbusch, Die F r a n k f u r ter Zeitung, in: ders., Intellektuellendämmerung. Z u r Lage der Frankfurter Intelligenz in den z w a n z i g e r Jahren, Frankfurt 1982, S. 4 2 - 6 1 und die spärlichen Äusserungen bei G ü n t h e r Gillessen, Auf verlorenem Posten. Die Frankfurter Zeitung im Dritten Reich, F r a n k f u r t / M . 1986, bes. S. 3 5 - 9 0 . Vgl. auch die Kritik von U w e Pralle, Eine Titanic des bürgerlichen G e i s t e s . Ansichten der Frankfurter Zeitung, in: Frankfurter Rundschau v. 20.1.1990, S. 3 ( B e i l a g e Zeit im Bild). 22 V g l . Peter de Mendelssohn, Zeitungsstadt Berlin, a. a. O., S. 2 6 9 - 3 0 1 und Kurt K o s z y k , D e u t s c h e Presse Bd. 3, a. a. O., S. 1 3 5 - 1 5 9 .

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sierung der Zulieferindustrie, die der Hugenberg-Konzern erfolgreich betrieb.23 Dem Konzern gehörten neben der Scherl-Presse u. a. die Nachrichtenagentur Telegraphen-Union (die in Konkurrenz zum offiziösen Telegraphischen Bureau Wolff stand), die Maternkorrespondenz der Wirtschaftsstelle Provinzpresse (Wipro) und die Allgemeine Anzeigen G. m. b. H. (ALA) an. Gegen den Meinungsdruck dieses Konzerns konnte auch der (legendäre) »rote Hugenberg« Willi Münzenberg, der mehrere Presseorgane (u. a. die Arbeiter-Illustrierte-Zeitung (AIZ), Berlin am Morgen, Die Welt am Abend), Buchverlage und Filmgesellschaften zu einem beachtlichen, über die Parteibasis der KPD hinausreichenden linken Medienverbund zusammengeschlossen hatte, nur schwerlich ein publizistisches Gegengewicht schaffen. 24 So war das Pressewesen am Ende der Weimarer Republik zwei gegenläufigen Tendenzen unterworfen - einer zunehmenden technischen Ausdifferenzierung des Produktionsprozesses einerseits, einem ökonomischen Zusammenschluss der Zulieferindustrie nach Sektoren andererseits - , die sich zwangsläufig auf die publizistischen Inhalte niederschlagen mussten. Die folgenden Zahlen geben einen Eindruck davon: L a u t A n g a b c im H a n d b u c h d e r Weltpresse 1931 gibt e s in D e u t s c h l a n d 3 3 5 3 Z e i t u n g e n . F ü r d i e s e sind 8 0 0 K o r r e s p o n d e n z b ü r o s tätig, die d i e R e d a k t i o n e n mit e i n e m täglich sich f ü l l e n den u n d entleerenden Artikelrcservoir ernähren. M i n d e s t e n s 1400 Z e i t u n g e n bestehen d a n e b e n in ihren Hauptteilen aus M a t e r n . Einzelne K o r r e s p o n d e n z e n sind G r o s s b e t r i e b e f ü r sich. D a s W o l f f - B ü r o hat 41 Filialen, in denen Uber 7 5 0 A n g e s t e l l t e für Uber 3 0 0 0 A b n e h m e r tätig s i n d . W e i t e r e A u f z ä h l u n g v e r d i e n e n die 12000 in D e u t s c h l a n d v o r h a n d e n e n Z e i t s c h r i f t e n , für d i e z a h l r e i c h e f r e i e Schriftsteller arbeiten. D a r ü b e r h i n a u s sind im A n z e i g e n w e s e n g r o s s e S o n d e r b e t r i e b e e n t s t a n d e n . M o s s e hat 89 selbständige Z w e i g n i e d e r l a s s u n g e n und 174 A g e n t u r e n im In- und A u s l a n d e . Die A L A - A n z c i g e n - A G besitzt 28 Zweigstellen und 9 7 Agenturen. 2 5

Die Wirtschaftskrise 1929/30 schliesslich traf die Presse hart; sie verzeichnete einen rapiden Rückgang der Leser sowie des Anzeigengeschäfts. Die ökonomisch gespannte Lage und ein politischer Rechtsruck nach dem Sturz der Reichsregierung Müller, der sich auf die Presse in verschärfter Zensur26 oder schleichender

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E i n e m i n u t i ö s e D o k u m e n t a t i o n für die regionale M ü n c h n e r Presse liefert Paul Hoser, D i e p o l i t i s c h e n , w i r t s c h a f t l i c h e n und sozialen H i n t e r g r ü n d e der M ü n c h n e r T a g e s p r e s s e z w i s c h e n 1914 und 1934: M e t h o d e n d e r P r e s s e b e e i n f l u s s u n g , F r a n k f u r t u . a . 1990 (= E u r o p ä i s c h e H o c h s c h u l s c h r i f t e n R e i h e 3, Bd. 447). E i n e B i l a n z f ü r das g e s a m t e R e i c h s g e b i e t s t e h t a l l e r d i n g s noch aus. S. v o r l ä u f i g Kurt Koszyk, D e u t s c h e Presse Bd. 3, a. a. O., S. 2 1 9 2 3 9 . ( A u f H u g c n b e r g s B e s t r e b u n g e n in der F i l m b r a n c h e bzw. auf das G e s a m t k o n z e p t s e i n e s M e d i e n k o n z e r n s kann hier nicht eingegangen w e r d e n . ) S. dazu B a b e t t e Gross, Willi M ü n z c n b e r g . E i n e politische B i o g r a p h i e , Stuttgart 1968, b e s . S. 162 168 u. S. 174 188; Rolf Surmann, D i e M ü n z e n b e r g - L c g c n d e . Z u r Publizistik d e r r e v o l u t i o n ä r e n d e u t s c h e n A r b e i t e r b e w e g u n g 1921 1933, Köln 1983. C h r i s t i a n Silberhell, P r e s s e und Wirtschaft, in: Mitteilungen des Vereins Arbeiterpresse N ° 325 v. 1.5.1932, S. 2; zit. nach: W e i m a r e r R e p u b l i k , a. a. O., S. 372. Z w e i Z e n s u r g e s e t z e , das Zum Schutz der Republik (23.7.1922) und d a s Gegen Schmutz und Schund ( 1 0 . 1 2 . 1 9 2 6 ) , hatten d a s Reichsgesetz ü b e r die Presse v o m 7 . 5 . 1 8 7 4 bereits vor 1 9 3 0 e r h e b l i c h v e r s c h ä r f t . A b 1930 h ä u f t e n sich N o t v e r o r d n u n g e n (u. a. zählte d i e N o t v e r o r d n u n g

Selbstzensur27

niederschlug, führten ab

1 9 3 0 zur o f f e n e n Krise der

liberalen

P r e s s e . 2 8 D i e l i b e r a l e P u b l i z i s t i k verlor ihre R o l l e e i n e r ö f f e n t l i c h e n F ü r s p r e c h e rin d e r D e m o k r a t i e . 2 9 B e z e i c h n e n d w a r d a s S c h i c k s a l d e s Berliner das b e i m Mosse-Konkurs

Tageblatts,

1 9 3 2 an eine G . m . b . H . überging, die ein G e w ä h r s -

m a n n Hitlers leitete.30 W a s die Nationalsozialisten vor 1933 verdeckt b e g a n n e n , führten sie nach 1933 offen mittels drakonischer M a s s n a h m e n

(Publikationsver-

b o t , E n t e i g n u n g j ü d i s c h e r V e r l e g e r e t c . ) d u r c h . Ihr B e s t r e b e n , d i e P r e s s e z u m »Führungsmittel

der S t a a t s m a c h t « 3 1 z u m a c h e n , Hess s i c h n u n a n

nüchternen

Z a h l e n b e i s p i e l e n a b l e s e n : A m 3 0 . Januar 1 9 3 3 » b e s a s s e n d i e n a t i o n a l s o z i a l i s t i s c h e Partei u n d ihr P a r t e i v e r l a g F r a n z E h e r N a c h f . in M ü n c h e n k n a p p 2 , 5 P r o z e n t a l l e r d e u t s c h e n Z e i t u n g e n . Z e h n Jahre später b e s a s s e n s i e 8 2 , 5 P r o z e n t « 3 2 .

Die

P r e s s e u n t e r m N a t i o n a l s o z i a l i s m u s w a r in d e r F o l g e » e i n h e i t l i c h in ihrer p o l i t i schen T e n d e n z , vielgestaltig im Ausdruck dieser T e n d e n z und m o n o p o l i s t i s c h in ihrer w i r t s c h a f t l i c h e n Struktur« 3 3 .

1.2. Gründung und Redaktionsgeschichte von PTB und PTZ D e m A u f r u f z u m K o n g r e s s Das

Freie

Wort,

der v o n W i l l i M ü n z e n b e r g initiiert

u n d v o n R e c h t s a n w a l t R u d o l f O l d e n u n d d e m S e k r e t ä r der D e u t s c h e n L i g a für M e n s c h e n r e c h t e , Kurt R. G r o s s m a n n , v o r b e r e i t e t w u r d e 1 4 , w a r a u c h G e o r g B e r n -

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vom 6.10.1931 (§ 86a StGb) Druckmaschinen zu den Gegenständen, die dem Hochverrat dienen können) und teils mehrmonatige Verbote sozialdemokratischer und vor allem kommunistischer Presseorgane (vgl. K. Kos/.yk, Deutsche Presse Bd. 3, a. a. O., S. 328). Aufsehen erregte u. a. die Entlassung des Kommunisten Franz Höllering, Chefredakteur bei der Ullstein-Zeitung B. Z. am Mittag, die Carl von Ossietzky als »skandalöseste Kapitulation vor dem Nationalsozialismus« und »Verbrechen an der deutschen Pressefreiheit« anprangerte (Der Fall Franz Höllering, in: Die Weltbühne Jg. 28 N° 1 v. 5.1.1932, S. 1 - 6 ) . S. Michael Bosch, Liberale Presse in der Krise. Die Innenpolitik der Jahre 1930 bis 1933 im Spiegel des Berliner Tageblatts, der Frankfurter Zeitung und der Vossischen Zeitung, Bern, Frankfurt/M. u. München 1976, S.58f. Vgl. auch: Modris Eksteins, The Limits of Reason: The German Democratic Press and the Collapse of Weimar Democracy, Oxford 1975; Bernd Sösemann, Das Ende der Weimarer Republik in der Kritik demokratischer Publizisten. Theodor Wolff, Ernst Feder, Julius Elbau, Leopold Schwarzschild, Berlin 1976. Zum Verkauf an die »Cautio G. m. b. H.« von Max Winkler s. Peter de Mendelssohn, Zeitungsstadt Berlin, a. a. O., S. 398ff. und Margret Boveri, Wir lügen alle. Eine Hauptstadtzeitung unter Hitler, Ölten u. Freiburg 1965, S. 2 1 4 - 2 4 4 . Emil Dovifat, Das neue Zeitungsgrundgesetz, a. a. O., S. 78. Peter de Mendelssohn, Zeitungsstadt Berlin, a. a. O., S. 390. Ebd., S. 392. - Auf Aspekte der NS-Publizistik kann an dieser Stelle nicht eingegangen werden. Zum Thema s. u. a. Karl-Dietrich Abel, Presselenkung im NS-Staat, Berlin 1968; Jürgen Hagemann, Die Presselenkung im Dritten Reich, Bonn 1970; Fritz Sänger, Politik der Täuschungen. Missbrauch der Presse im Dritten Reich. Weisungen, Informationen, Notizen 1933-1939, Wien 1975; NS-Presseanweisungen der Vorkriegszeit. Edition und Dokumentation, hrsg. v. Hans Bohrmann, bearb. v. Gabriele Toepser-Ziegert. 3 Bde., a. a. O. K. Briegleb u. W. Uka, Zwanzig Jahre nach unserer Abreise, a. a. O.

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hard gefolgt. Obgleich er wegen des Polizeieinsatzes seine angekündigte Schlussrede nicht mehr halten konnte, hatte er zu den frühesten Anregern des Kongresses gezählt. 35 In der damaligen Öffentlichkeit war Bernhard gleichermassen als Publizist und als Politiker bekannt. Der gelernte Bankkaufmann hatte 1904-1925 die wirtschaftspolitische Zeitschrift Plutus (so auch sein Pseudonym) herausgegeben, in der er sich als Wirtschaftsexperte profilierte. Seit 1916 war er Dozent, ab 1928 Honorarprofessor für Bank-, Börsen- und Geldwesen an der Berliner Handelshochschule sowie Mitglied des Reichswirtschaftsrates. Eine kurze Mitgliedschaft in der SPD (1901—1906), vor allem aber eine Führungsrolle in der D D P - Bernhard war seit 1927 Vorstandsmitglied - trugen ihm unerlässliche politische Beziehungen und ein Reichstagsmandat (1928-1930) ein. Doch parallel dazu hatte Georg Bernhard eine glänzende publizistische Karriere gemacht. Unter Hermann Bachmann war er stellvertretender Chefredakteur der Vossischen Zeitung (1914-1920), nach dessen Tod übernahm er selbst die Chefredaktion (1920-1930). Diese älteste Berliner Zeitung befand sich seit 1914 im Besitz der Familie Ullstein und war, obwohl vergleichsweise auflagenschwach 3 6 , geradezu ein Prestigeobjekt liberaler Publizistik. 37 Unter Bernhards Chefredaktion und in politischer Affinität zur DDP entwickelte sich die Vossische Zeitung zu einer der führenden Tageszeitungen der Weimarer Republik 38 , die mit dem Berliner Tageblatt von Theodor Wolff 39 , Bernhards grossem Rivalen, konkurrierte. Für die Belange seines Berufes engagiert, war Bernhard zeitweilig auch Vorsitzender des Reichsverbandes der deutschen Presse und der Fédération internationale des journalistes; als Vorstandsmitglied des Centraivereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens (CV) trat er für die Integration der Israeliten in Deutschland ein. In Bernhards Selbstverständnis waren denn auch Journalismus und Politik eng miteinander verbunden. Dem Andenken Lessings in der Vossischen Zeitung verpflichtet, betonte er die didaktisch-aufklärerische, ja geradezu erzieherische Rolle der Presse. Vom alltäglichen Ereignis ausgehend, sollte der Journalist Bernhard

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V g l . ebd., S. 2 0 9 , A n m . 27. B r i e g l c b / U k a berichten von d e r G r ü n d u n g eines K o m i t e e s Das Freie Wort i m A u g u s t 1932, nach Papens Staatsstreich gegen Preussen. D e r G r ü n d u n g s v e r s a m m l u n g bei G e o r g B e r n h a r d wohnten u. a. Heinrich M a n n , Rudolf O l d e n , K u r t G r o s s m a n n u n d Willi M ü n z e n b e r g bei. Z w i s c h e n April u n d Juni 1929 betrug die A u f l a g e durchschnittlich 7 0 9 6 0 E x e m p l a r e , bei E i n s t e l l u n g d e s Blattes im M ä r z 1934 noch 41 5 0 0 Expl. (s. K l a u s B e n d e r , Vossische Zeitung, Berlin ( 1 6 1 7 - 1 9 3 4 ) , in: Heinz-Dietrich Fischer, D e u t s c h e Z e i t u n g e n v o m 17. b i s 20. J a h r h u n dert, a. a. O., S. 39). I m V o l k s m u n d nach e i n e m ihrer Verleger, d e m B u c h h ä n d l e r Christian F r i e d r i c h Voss, b e n a n n t , war d i e Z e i t u n g ab 1617 unter w e c h s e l n d e n N a m e n erschienen. V o n 1 7 7 9 bis 1911 b e f a n d sie sich im Besitz d e r Familie L e s s i n g ; von 1752 bis 1755 w a r G o t t h o l d E p h r a i m L e s s i n g R e d a k t e u r d e s d a m a l s Berlinische privilegierte Staats- und gelehrte Zeitung g e n a n n ten Blattes g e w e s e n . V g l . W e r n e r B e c k e r , D e m o k r a t i e d e s sozialen Rechts. Die politische H a l t u n g d e r Frankfurter Zeitung, der Vossischen Zeitung und des Berliner Tageblatts 1 9 1 8 - 1 9 2 4 , G ö t t i n g e n u . a . 1971.

' V g l . Gotthart S c h w a r z , T h e o d o r W o l f f u n d das Berliner d e r d e u t s c h e n Politik 1906- 1933, T ü b i n g e n 1968.

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Tageblatt.

E i n e liberale S t i m m e in

zufolge dem Leser eine organisierende Perspektive und eine spezifische Anschauung politischer Vorgänge vermitteln. Diese ausdrückliche Vermittlerrolle zwischen öffentlicher Meinung und praktischer Politik liess in Bernhards Denken den Journalisten neben den Politiker treten; pragmatisch betrachtete er beide als notwendige Korrelate im politischen Entscheidungsprozess.40 Dass Bernhard dabei stets im Sinne liberal-demokratischer Politik handelte und argumentierte, bewies nicht zuletzt der »Ullstein-Skandal« im Jahre 1930, mit dem seine Chefredaktion ein abruptes Ende fand. 4 ' Um redaktionelle Eingriffe der ultrarechten Verleger-Gattin Rosie Gräfenberg-Ullstein abzuwehren, hatte Bernhard deren geheimdienstliche Tätigkeit ans Licht der Öffentlichkeit gebracht. Franz Ullstein konterte daraufhin in Leopold Schwarzschilds Tage-Buch und bezichtigte Bernhard der Verbindung zu einem rheinischen Separatisten. Bernhards damalige Analyse des »Ullstein-Skandals« belegt, dass er diesen nicht nur als persönlichen Diskreditierungsversuch interpretierte (tatsächlich war er stets für eine deutschfranzösische Verständigungspolitik eingetreten), sondern auch als ein Manöver, um die redaktionelle Linie der Vossischen Zeitung zu revidieren.42 Im Jahre 1933 war Georg Bernhard also eine publizistisch und politisch profilierte Persönlichkeit. Unmittelbar nach dem Reichstagsbrand war er, wie zahlreiche andere Hitlergegner, nach Frankreich geflüchtet und hatte sich in Paris sogleich ein neues politisch-publizistisches Betätigungsfeld gesucht.43 Seinem journalistischen Prestige verdankte er dort die Verpflichtung als Chefredakteur einer deutschsprachigen Tageszeitung, die der russische Verleger Wladimir Poliakov 44 zu gründen gedachte. Poliakov war nach der Oktoberrevolution 45

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S. Walter F. Peterson, Das Dilemma linksliberaler deutscher Journalisten im Exil. Der Fall des Pariser Tageblatts, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, Jg. 32 (1984) H. 2, S. 269-299, bes. S. 276. S. dazu Walter F. Peterson, The Berlin Liberal Press in Exile, a. a. O., S. 29ff. Bernhard hatte befürchtet, Rosie Gräfenberg-Ullstein wolle an seiner Stelle Hans Zehrer oder Friedrich Sieburg zum Chefredakteur berufen (s. G. B., Verlegertragödie, in: Weltbühne Jg. 26 N° 29 v. 15.7.1930, S. 82-85). Zu Hans Zehrers Absichten s. Joachim Petzold, Wegbereiter des deutschen Faschismus. Die Jungkonservativen in der Weimarer Republik, Köln 1978, S. 277f.; zur Verbindung Zehrer-Sieburg s. Margot Taureck, Friedrich Sieburg in Frankreich, Heidelberg 1987, S. 57. - Bernhards Nachfolger wurde sein bisheriger Stellvertreter, Julius Elbau. Im Sommer 1933 leitete Bernhard kurzzeitig die deutsche Emigrantenzeitung die aktion (s. dazu Kap. 2.2.) und wurde Mitglied zahlreicher deutscher oder französischer Komitees und Vereine, die für die Emigranten wirkten. Er war u. a. Vorsitzender des Verbands deutscher Journalisten in der Emigration, Mitglied des deutschen Volksfront-Ausschusses und des Comité Consultatif für Emigrantenfragen beim französischen Innenministerium; er vertrat die Fédération des Emigrés d'Allemagne en France und die Zentralvereinigung der deutschen Emigranten beim Flüchtlingshochkommissar des Völkerbunds. Ab 1938 war er vorwiegend für den Jüdischen Weltkongress und den American Jewish Congress tätig. Auch: Vladimir Poliakoff/Poljakoff. Ich folge der Namensschreibung seines Sohnes Léon Poliakov, die auch W. F. Peterson übernommen hat. Über Poliakovs verlegerische Aktivitäten in Russland vor der Oktoberrevolution gibt ein Briefkopf Aufschluss: »Ancien éditeur de Notre Vie, Courrier de la Capitale, Parole Contemporaine à Petrograd, Nouvelles d'Odessa, Parole Contemporaine à Odessa, Voix du Nord-

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nach Paris emigriert, verlegte dort mehrere Zeitungen46 und war Mitbesitzer der Anzeigenagentur Publicité Metzl47, die auf das Inseratengeschäft in der fremdsprachigen Pariser Presse48 spezialisiert war. Die Herausgabe einer Tageszeitung der deutschen Emigration stellte für den politisch eher gemässigten Poliakov zunächst eine Erweiterung seiner verlegerischen Aktivitäten dar, die sich angesichts des ständig anschwellenden Flüchtlingsstroms allerdings als Schliessung einer regelrechten Marktlücke erweisen sollte. 49 Dank Poliakovs Verlagsunternehmen konnte sich das am 12.12.1933 erstmals erschienene PTB auf einen technischen und administrativen Apparat stützen, der zu seiner erfolgreichen Lancierung beitrug. Doch gleichzeitig mit den technischen Vorbereitungen, mit der Absicherung von Druck und Vertrieb, waren die Voraussetzungen für eine effektive journalistische Arbeit zu schaffen, von der Einstellung eines Mitarbeiterstabes bis zur Abonnierung bei Nachrichtendiensten. Die publizistischen Anfänge spiegelten die Originalität — und auch die Schwierigkeit — des ganzen Unternehmens.™ Drei grosse Abteilungen teilten sich die Herstellung der Zeitung: die Poliakov unterstehende Administration51 und die Inseratenabteilung52, in denen über-

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Ouest à Volno, Jar-Ptitza à Berlin« (Poliakov an den Jüdischen Wcitkongress, 28.2.1938; Deutsche Bibliothek/Deutsches Exilarchiv 1933 1945, Frankfurt/Main (künftig: DBF), Sammlung (künftig: Slg.) Paul Dreyfus, EB autogr. 395, N° 34). U. a. die russische Emigrantenzeitung Poslednie Novosti und die jiddische Tageszeitung Pariser Haint. Die Anzeigenagentur Metzl (Mitinhaber war bis Juni 1934 Isaac Grodzenski) und die von Chefredakteur Paul Milioukov geleitete russische Emigrantenzeitung Poslednie Novosti (Les Dernières Nouvelles) hatten dieselbe Adresse (51, rue de Turbigo, Paris 3C) und beschäftigten vornehmlich russische Emigranten. Das PTB kam Ende 1933 als jüngstes Poliakov-Unternehmen hinzu. Die Publicité Metzl verwaltete u. a. auch den Inseratenteil der an Auslandsdeutsche gerichteten Pariser Zeitung (1925-1934) von Hubert Delestre, mit der das PTB ab 1933 ökonomisch und politisch in Konkurrenz trat. Von einem anfänglich vielleicht bestehenden Solidaritätsgefühl zwischen russisch- und deutsch-jüdischen Emigranten ist in Leon Poliakovs Verteidigungsschrift für seinen Vater nicht mehr die Rede. Über die Gründungsumstände schreibt er lediglich: »In 1933, the coming to Paris of numerous German émigrés raised the question of a daily newspaper in the German language in France. Some few newspapers in that language were of little authority, and quickly disappeared into the oblivion from which they had come. It occured to Mr. Poliakoff, an experienced émigré publisher living in Paris, to create a serious daily for the new and rapidly growing German emigration, dispersed all over the world.« The Pariser Tageblatt affair, Documentation collected by L.[éon] P.[oliakov], Paris 1938, S. 9. Zur Redaktionsgeschichte von PTB und PTZ s. bereits Walter F. Peterson, The Berlin Liberal Press in Exile, a. a. O. Die nachfolgenden Ausführungen wollen nur einen Abriss geben und neue Informationen nachtragen. Wichtigste Quelle hierfür war das auch von Peterson benutzte - umfangreiche Redaktionsarchiv der PTZ im ehemaligen Zentralen Staatsarchiv der DDR (heutiges Bundesarchiv, Abteilungen Potsdam). Akten des Redaktionsarchivs werden im folgenden zitiert als: BAP, (Bestand) PTZ, Aktennr., Blatt. Geschäftsführer des PTB war bis 1936 der russische Emigrant Arthur Grave, der die Tochter von Alexander Metzl, Olga, geheiratet hatte. Olga Grave verfasste unter dem Pseudonym Gill Feuilletonbeiträge fürs PTB. Buchhalter bei PTB und PTZ war der deutsche Emigrant Josef

wiegend russische Emigranten tätig waren, sowie die mehrheitlich mit emigrierten deutschen Journalisten besetzte Redaktion unter Bernhards Leitung. Die Atmosphäre des auf ein personelles und materielles Minimum beschränkten Redaktionsbüros in der Rue de Turbigo" schilderte ein Mitarbeiter der ersten Stunde: Wir sasscn in zwei kleinen Zimmern. Bernhard schrieb seine Artikel zu Hause, wir hielten ihn telefonisch über wichtige Nachrichten auf dem laufenden. Wir besassen nur eine Schreibmaschine und schrieben die meisten Skripte mit der Hand. Es gab sprachliche Schwierigkeiten, die sich technisch auswirkten. Alle Nachrichten aus deutscher Quelle mussten aus dem Französischen zurückübersetzt werden, da wir keine direkte deutsche Nachrichtenquelle besassen. So konnten wir deutsche Zitate nur selten genau wiedergeben. Unsere Setzer kannten nur Jiddisch; es war eine Sisyphusarbeit, Korrektur 7.u lesen. 54

Im Laufe der Monate verbesserten sich die personellen und technischen Arbeitsbedingungen: Die Zeitung verfügte nun über einen eingespielten technischen Fabrikationsstab (Druckerei55, Korrektoren56, Botenjungen57 etc.), über eine An-

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Böhm; als Sekretär arbeitete Max Israel dort. - In der PTZ setzten die jeweiligen Geldgeber bzw. Hauptgläubiger den Geschäftsführer ein. Als solche nachweisbar sind u. a. Rechtsanwalt Kuhn und Alexander Bloch, ein Neffe Hugo Simons. Der Inseratenteil des PTB war an Poliakovs Anzeigenagentur Publicité Metzl verpachtet. Seine Nutzungsrechte waren nach Redaktionsmeinung mit monatlich 12.500-15.000 Francs unterbezahlt, was in der Folge zu Spannungen zwischen Poliakov und der Redaktion führte (s. dazu unten). Andererseits scheint auch nach der Trennung von Poliakov keine wirklich befriedigende Lösung der kommerziellen Nutzung der PTZ existiert zu haben. Die Verschuldung der Zeitung bei einer eher zwielichtigen Figur der deutschen Emigration wie Frank Arnau, dem zur Abgeltung kurzzeitig das Inseratengeschäft überlassen wurde, führte im November 1936 zu einer Finanzkrise. (Hinweise auf seine Verbindung zur PTZ, wo er gelegentlich auch Kriminalgeschichten veröffentlichte, sucht man vergeblich in seinen Memoiren: F. A., Gelebt - Geliebt - Gehasst. Ein Leben im 20. Jahrhundert, München 1972.) - Vom 22.10.1937 bis Ende Januar 1938 wurde der Anzeigenteil mitsamt den Akquisiteuren der PTZ an die französische Inseratenagentur S. E. T. S. (Société d'édition touristique et sportive, 13, rue du Faubourg Montmartre, Paris 9 e , Inhaber de Dardel) verpachtet, wegen Unrentabilität jedoch wieder an die Zeitung zurückgegeben. Ab 1.2.1939 weisen die Redaktionsakten den tschechoslowakischen Emigranten Karl Spann als Chef der Werbeabteilung aus, der im Dezember 1938 über den Kauf der Zeitung verhandelt haben soll (weiter dazu Kapitel 1.3.). Die Adresse von Redaktion und Verlag lautete vom 12.12.1933-19.1.1936 51, rue de Turbigo, Paris 3C. (Im selben Gebäude war auch die Redaktion der russischen Emigrantenzeitung Poslednie Novosti untergebracht.) Vom 20.1.-11.6.1936 lautete die Adresse 5, rue de la Boëtie Paris 8 e , vom 12.-21.6.1936 übergangsweise 41, rue Cardinet Paris 17e (d.i. die Privatadresse G. Bernhards). Schliesslich installierte sich die PTZ im traditionellen Pariser Zeitungsviertel im 9. Arrondissement: 16, rue de la Grange Batelière (22.6.1936-15.10.1937) und 20, rue Laffitte (15.10.1937-18.2.1940). Hans Jacob, Kind meiner Zeit. Lebenserinnerungen, Köln u. Berlin 1962, S. 185. Die Druckerei des PTB (N° 1 - 6 7 8 ) war die E. I. R. P. (Edition et Imprimerie Rapide de la Presse; 4-5, rue Saulnier, Paris 9C) von Otto Zeluk, wo u. a. auch der Pariser Haint, Poslednie Novosti und das zweite grosse Pariser Exilorgan, Leopold Schwarzschilds Neues Tage-Buch, gedruckt wurden. Allerdings sprachen die dortigen Setzer nur jiddisch, was Satz und Korrekur der Druckfahnen erschwerte. Danach (PTB N° 6 7 9 - 9 1 2 und PTZ) übernahm die

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z e i g e n a b t e i l u n g u n d Akquisiteure 5 8 , d i e d e n Kontakt zu der z u m e i s t französischj ü d i s c h e n Klientel herstellten, und z e i t w e i l i g über einen s p e z i e l l e n A b o n n e n t e n service, zu d e m e i n Reisebüro 5 9 und eine juristische Beratungsstelle 6 0 gehörten. D e n Vertrieb in- und ausserhalb Frankreichs besorgte die f r a n z ö s i s c h e Firma Hachette. 6 1 D i e redaktionelle Arbeit stützte ein N e t z v o n Zulieferdiensten zur Informationsbeschaffung

und

-Verarbeitung

(insbesondere

Nachrichten-

und

Manuskriptendienste 6 2 s o w i e Korrespondenten 6 3 ). Der relative Erfolg d e s Blattes s c h l u g s i c h allerdings nur zögernd auf die A r b e i t s b e d i n g u n g e n nieder. D e r U m z u g in d i e R u e d e la B o e t i e im Januar 1 9 3 6 war ein Ereignis, das die langjährige Redaktionssekretärin Gerda Ascher zu honorieren w u s s t e : ... wir sind grossartig umgezogen, haben drei Räume für uns, wovon das Sekretariat ein sehr grosses schönes Zimmer ist, Caro-Chefzimmer [Bernhard arbeitete stets in seiner Privatwohnung; M. E.] kleiner und das dritte für die anderen eine Küche, die aber bis jetzt noch nicht

J. E. P. (Imprimerie pour Journaux, Editions, Périodiques; 7, rue Cadet, Paris 9e) des Elsässers Marcel Schwitzguebel den Druck. Die graphische Gestaltung der PTZ besorgte der emigrierte österreichische Graphiker und Bühnenbildner Heinrich Sussmann (BAP, PTZ, N° 73, Bl. 191). 56 Festangestellte Korrektoren waren u. a. Hermann Ebeling von 1936-1940 (er veröffentlichte in der PTZ auch unter dem Pseudonym Hermann Linde) und Richard Eiling (von 1938-1940); der Redakteur Erich Kaiser arbeitete 1937/38 zeitweilig als Korrektor; als Aushilfskraft arbeitete u. a. Bernhard Förster (BAP, PTZ, N° 5/1 ). 57 Die Personalakten verzeichnen u. a. Norbert Grave, Willi Kaiser, Marek Muszkatblatt und Peter Gingold als zeitweilige Boten (BAP, PTZ, N° 5/1). Zu P. Gingold s. auch das Interview in: Gilbert Badia u. a. (Hg.), Exilés en France. Souvenirs d'antifascistes allemands émigrés (1933-1945), Paris 1982, S. 262-278. 58 Das Anzeigengeschäft ist im Nachlass der PTZ noch sehr gut dokumentiert (BAP, PTZ, N° 361 -376). Als Anzeigenakquisiteure der PTZ arbeiteten u. a. Alexander Landa, Paul Zagiel und Adolf Küchler, dem ich an dieser Stelle für Hinweise zur internen Organisation von PTB und PTZ danke (Interview Paris, 3.2.1989). 39 Das Reisebüro verwaltete jahrelang der aus Berlin emigrierte Hans-Joachim Klath. "' Die juristische Sprechstunde der Zeitung führte der emigrierte Berliner Rechtsanwalt Dr. Theodor Tichauer. 61 Die Messageries Hachette hatten damals eine Monopolstellung für die Pressediffusion; 1936 vertrieben sie 136 Tageszeitungen und 807 Periodika (s. Raymond Manevy, La Presse de la Troisième République, Paris 1955, S. 185). 62 Das Redaktionsarchiv belegt eine mehr oder minder langfristige Verbindung zur französischen offiziösen Nachrichtenagentur Havas, bei der die Zeitung häufig verschuldet war (BAP, PTZ, N° 2), zur Jüdischen Nachrichtenagentur von Fanny und Michel Wurmbrand (BAP, PTZ, N° 65, Bl. 93ff.), zur Nachrichtenagentur Inpress von Kurt Rosenfeld und Sandor Radö (BAP, PTZ, N° 65, Bl. 75). Ferner zu Korrespondenzbüros wie Coopération von Dr. I. Révész (zu dessen Leitung Bernhard bereits in Berlin gehört hatte; BAP, PTZ, N° 64, Bl. 207-217) und zu Informationsdiensten und Zeitungsausschnittbüros wie dem Unabhängigen Zeitungsdienst (UZD) von Berthold Jacob (BAP, PTZ, N° 64, Bl. 71-79), dem Bureau International de Documentation von Walter Fabian (BAP, PTZ, N° 64, Bl. 182ff.) oder Lit Tout (BAP, PTZ, N° 72, Bl. 111 f.) Das Foto auf der Titelseite wurde zumeist von französischen Bilderdiensten wie L'Actualité illustrée (BAP, PTZ, N° 64, Bl. 10-20) und Images du Jour (BAP, PTZ, N° 65, Bl. 57) bezogen. Hinzu kamen Abonnements deutscher oder französischer Blätter (Deutsche Informationen, BAP, PTZ, N° 64, Bl. 224-228 und N° 67, Bl. 29ff; frz. Pressenachweise in BAP, PTZ, N° 497 u. 582) oder auch gelegentliche Austauschabonnements. 63 S. unten. 20

bewohnbar [sie] da ihr Heizung und noch Knaben [i. e. die drei Redakteure; M. E.] Z i m m e r und schimpfen gelegentlich, dass ehernen Gesetzen war natürlich die Küche

manches andere mangelt und so sitzen die drei eingepresst an kleinen Tischen in dem kleinen die Sekretärinnen s o gut sitzen [...] denn nach für uns bestimmt. 6 4

Es liegt auf der Hand, dass die Arbeits- und Herstellungsbedingungen dieses Exilorgans mit den grosszügigeren Verhältnissen der führenden Berliner Zeitungen, aus denen seine Mitarbeiter zumeist stammten, nicht zu vergleichen sind. Geradezu bezeichnend für den bescheidenen Aufwand der PTZ war es, dass die Redaktion am 19.5.1939 (also nach immerhin 5 1/2 Jahren regelmässigen Erscheinens) die 1000. Nummer bei »schlechtem Kaffee und furchtbar vielen und wunderschönen Pfannkuchen« 6 5 feierte. Und doch war die Zeitung der Berliner Presse in mehrerlei Hinsicht verbunden. Trotz der Umstellung auf das grössere französische Format (Folioformat, 6spaltiger Druck in romanischen Satztypen) erinnerte bereits der in Fraktur-Schrift gesetzte Titel des PTB optisch an Berliner Vorbilder. 66 Zudem präsentierte sich das PTB in seinem Untertitel anfangs als Deutsche Zeitung in Paris61. Auch in seiner Struktur stand das PTB in der Tradition der Weimarer Tagespresse. Die tägliche Ausgäbe von vier Seiten, gegliedert nach den Ressorts Politik (Seite 1 und 2), Lokales, Wirtschaft, Sport (Seite 3), Kultur und Annoncen (Seite 4), wurde sonntags durch den Einschub einer Kulturbeilage (»Sonntagsbeilage«) 68 auf sechs Seiten erhöht. Zeitweilig erschien das Blatt auch wochentags mit sechs Seiten Umfang, so von Oktober 1936 bis Mai 1937 in der Mittwochs-, von Mai 1937 bis Januar 1938 in der Freitagsausgabe. Dadurch wurde Raum geschaffen für eine Sonderseite zur Buch- und Filmkritik, für eine Frauenseite und eine spezielle Emigrationsseite unter dem Titel »Wohin auswandern?« (später »Palästina«-Seite). Feste Rubriken und damit Bestandteile des journalistischen Konzeptes von PTB wie von PTZ waren im politischen Teil der Leitartikel und der Kommentar (S. 1), die Glosse (S. 2), eine Presseschau (»Die Meinung der Welt«, S. 2), Nachrichten aus NS-Deutschland (»Blick ins Dritte Reich«, S. 2). Auf der dritten Seite befanden sich der Lokalbericht (»Paris gestern und heute«/»Links und rechts der Seine«), der Wirtschaftsbericht (»Wirtschaft und Finanzen«) und die

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G. Ascher an Manfred Georg, 18.2.1936; Deutsches Literaturarchiv im Schiller-Nationalmus e u m Marbach/Neckar (fortan DLA), Nachlass (künftig: NL) M. Georg, N ° 75.2122/3. G. Ascher an Manfred Georg, 20.5.1939; D L A , N L M. Georg, N ° 7 5 . 2 1 2 2 / 1 5 . D a s (»französische«) Originalformat des PTB betrug 43x57,5 c m bei einer Spaltenbreite von 6,5 cm. Zum Vergleich hatte das Berliner Tageblatt ein Format von 3 0 x 4 5 cm, es war 3spaltig und auch in den 30er Jahren noch teilweise in Fraktur gesetzt (z. B. für Leitartikel). Der tägliche U m f a n g von PTB und PTZ lag mit vier bis scchs Seiten allerdings erheblich unter dem der Berliner Tageszeitungen, die zudem häufig z w e i bis drei Ausgaben täglich hatten. Der Untertitel des PTB lautete Quotidien en langue allemande bzw. Le quotidien de Paris en langite allemande. In der Seitenzählung von PTB/PTZ erschien die Sonntagsbeilage also auf den Seiten 3 und 4.

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Sportrubrik. Die Feuilletonseite, die nachfolgend noch gesondert präsentiert wird 69 , enthielt neben der Literatur-, Kunst- und Filmkritik einen Pariser Veranstaltungskalender sowie Annoncen und den Fortsetzungsroman. Je nach Bedarf oder politischer Aktualität ergänzten kurzlebigere Rubriken (z. B. ab März 1938 eine »Österreichische Chronik«) und frei schaltbare Elemente wie der »Leserbriefkasten« die Zeitung. Gravierende Veränderungen dieses Schemas ergaben sich erst im September 1939, als die gesamte, in Frankreich noch autorisierte Presse 70 auf Kriegswirtschaft umstellen und 50 Prozent ihres Umfangs einsparen musste. Seit dem 4.9.1939 hatte die PTZ - verschärft durch die Internierung ihrer meisten Redakteure 71 — den Charakter einer Notausgabe. Die verbliebenen zwei Seiten Umfang unterlagen nun der Vorzensur der französischen Behörden und reichten kaum für den Druck der wichtigsten politischen Meldungen. Die Sonntagsbeilage wurde eingestellt 72 , der Lokal- und Kulturteil sowie die Annoncen entfielen. Die sporadische Wiederkehr von Inseraten und Kulturnachrichten um die Jahreswende 1939/40 konnte fast als Zeichen einer »Normalisierung« im Ausnahmezustand gelten, als das Blatt am 18.2.1940 plötzlich sein Erscheinen wegen Geldmangels einstellte. Das abrupte Ende der Zeitung schärft erst den Blick für die prekäre Existenz, die sie zwischen 1933 und 1940 stets führte. Inwieweit diese an einzelne Personen geknüpft war, soll zunächst durch eine kurze Präsentation der Redaktionsmitglieder gezeigt werden 73 (die Darstellung der Feuilletonredaktion erfolgt an späterer Stelle 74 ). Danach sollen die ökonomischen und politischen Faktoren, die gleichzeitig die Existenz der Zeitung beeinflussten, zur Sprache kommen. Das erste Redaktionsteam des PTB war zugleich das stabilste. Neben Georg Bernhard hat sein Stellvertreter Kurt Michael Caro, ehemaliger Chefredakteur der populären Berliner Volkszeitung, das Blatt bis 1938 nachhaltig geprägt: Er leitete und koordinierte die Redaktionsarbeit vor Ort, während sich Bernhard - wie wir sahen - in seiner Privatwohnung davor abschirmte. Aus Caros Feder stammen

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Ausführliche Darstellung in Kapitel 3.1., Abschn. B. Die französische wie auch die fremdsprachige in Frankreich erscheinende kommunistische Presse war bereits nach dem Hitler-Stalin-Pakt (23.8.1939) verboten worden. In N° 1095 v. 7.9.1939, S. 1 teilte die PTZ ihren Lesern die Intcrnierung der meisten männlichen Redaktionsmitglieder mit; die Zeitung musste zunehmend improvisiert werden (s. W. F. Pcterson, The Berlin Liberal Press in Exile, a. a. O., S. 239 243). Sic erschien mit PTZ N° 1085 v. 27.8.1939 zum letzten Mal. S. dazu bereits W. F. Petcrson, The Berlin Liberal Press in Exile, a. a. O. - Nachfolgend werden biographische Hinweise zu Personen nur gegeben, sofern diese nicht oder unvollständig in verfügbaren Handbüchern erfasst sind. Besonders verwiesen sei auf: Werner Röder u. Herbert A. Strauss (Hg.), Biographisches Handbuch der deutschsprachigen Emigration nach 1933, 3 Bde., München u. a. 1980; Walter Stcrnfeld u. Eva Tiedemann, Deutsche ExilLiteratur 1933 -1945, 2., verb. Aufl., Heidelberg 1970; Walter Tetzlaff, Zweitausend Kurzbiographien bedeutender deutscher Juden, Lindhorst 1982; Renate Heuer, Bibliographia Judaica. Verzeichnis jüdischer Autoren in deutscher Sprache, 3 Bde., Frankfurt u. New York 1988; Josef Walk, Kurzbiographie zur Geschichte der Juden 1918-1945, New York 1988. S. dazu Kap. 3.1., Abschn. C. dieser Arbeit.

z w i s c h e n 1933 und 1939 unzählige politische Kommentare (zumeist unter den P s e u d o n y m e n Manuel Humbert oder Emmanuel Curtius), Reportagen und Rezensionen. Richard D y c k ( P s e u d o n y m René Dufour), vormals Redakteur des 8-UhrAbendblatts in Berlin, war bis April 1937 für Lokalteil und z . T . fürs Feuilleton zuständig; er teilte sich die Aufgabe mit Erich Kaiser ( P s e u d o n y m Emile Grant, Flavius), der früher als unabhängiger Reporter für Berliner Tageblatt und Berliner Volkszeitung gearbeitet hatte und bis Ende 1938 in der Redaktion verblieb. A l s Generalsekretär 7 5 der Redaktion war zunächst Caros Vetter Hans Jacob tätig, der vor 1933 bei Berliner Tageblatt und Vossischer Zeitung gearbeitet hatte. S e i n e Anstellung b e i m PTB dauerte indessen länger, als aus seinen Memoiren 7 6 hervorgeht; Jacob kündigte mehrmals und nahm vermutlich sogar nach Oktober 1934 die Arbeit wieder auf. Auch der e h e m a l i g e Kunstredakteur des Berliner Tageblatts, Georg Wronkow, gehörte der Redaktion mit mehrmaliger Unterbrechung an; er redigierte zeitweilig den Lokalteil und die tägliche Presseschau, als freier Mitarbeiter belieferte er regelmässig feste Rubriken (z. B. das Kreuzworträtsel). Im Juni 1936 erfolgte der Übergang v o m PTB zur PTZ, auf dessen politische Hintergründe im folgenden Abschnitt einzugehen sein wird. D a s Blatt trennte sich von Wladimir Poliakov; neuer Verleger der PTZ wurde der deutsche E m i grant Fritz W o l f f , der zuvor Geschäftsführer des Pariser Hilfskomitees C o m i t é A l l e m a n d g e w e s e n war und sich dabei begrenzter Popularität erfreute. 77 Formal leitete W o l f f die Geschäfte der PTZ bis zu ihrer Einstellung 1940; in der Realität wurden seine Verlegerambitionen von zahlreichen Ereignissen durchkreuzt. 78

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Der französische Titel secrétaire général de rédaction meint cine Koordinations- und Supcrvisionstätigkeit zwischen Redaktion und Druckerei. Hans Jacob, Kind meiner Zeit, a. a. O., S. 192. - In der PTZ veröffentlichte er als freier Mitarbeiter. Im Biographischen Handbuch der deutschsprachigen Emigration (a.a.O., Bd. 1, S. 832) unterlief eine Verwechslung zwischen dem PTZ-Verleger und dem gleichnamigen Graphiker Fritz Wolff. Der Verleger kam über die USPD 1920 zur Vereinigten Kommunistischen Partei Deutschlands (VKPD); zu seiner politischen Tätigkeit s.a. Kap. 1.3. - Im Exil war er Geschäftsführer des Emigrantenhilfskomitees Comité Allemand und wurde für sein Auftreten von einigen Emigranten ausserordentlich hart beurteilt: Paul Zech zählte ihn zu den »Vampyren der Emigration« (P. Zech an Anselm Rucst, 28.3.1938; DLA, NL P. Zech, N° 66.549/4). David Luschnat berichtete an Anselm Rucst am 21.10.1935: »An Herrn Wolff vom Comité Allemand habe ich einen gesalzenen Brief geschrieben. Die Borniertheit und die FeldwebelAllüren dieser über alles hungernde Elendspack (wie wir in deren Augen sind) hoch erhabenen Büro-Baronen übersteigt alles Mass.« (BAP, TNL A. Rucst, Bl. 121). Und Joseph Roth schrieb: »Ein Herr Fritz Wolff leitet dieses Büro, er ist ein gütiger [sie] und harter Mensch, alle hassen ihn, und ich weiss, dass er nicht eine Nacht ohne Mittel schlafen kann, weil ihn sein Gewissen quält.« (J. Roth an Stefan Zweig, 7.11.1935, in: J. Roth, Briefe 1911-1939, hg. u. eingel. v. Hermann Kesten, Köln u. Berlin 1970, S. 433f.) Mehrere Verhandlungen über den Verkauf der PTZ und ein folgenschwerer Streit mit Bernhard 1937 schwächten seine Verlegerposition indirekt; im Juli 1938 schliesslich wurde Wolff in Abmildcrung eines Ausweisungsbefehls (zusammen mit Kurt Caro) polizeilich ein Zwangsaufenthaltsort (résidence assignée) zugewiesen, so dass seine Frau Lieselotte nunmehr de facto die Verlagsgeschäfte führte.

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Als politischer Redakteur arbeitete seit Juni 1936 auch Carl Misch, der schon unter Bernhard in der Vossischen Zeitung das innenpolitische Ressort bekleidet hatte.79 Neuer Generalsekretär der Redaktion wurde nun Fritz bzw. Frédéric Drach, dessen politische Rolle in den Kulissen der Zeitung bislang immer noch nicht eindeutig geklärt ist.80 Drach schied bereits Ende 1936 wieder aus. Als fester Mitarbeiter für Lokal- und Kulturberichterstattung kam schliesslich auch der Sozialdemokrat Robert Breuer81 hinzu; er hatte jedoch nur für kurze Zeit tatsächlich einen Redakteurstatus.82 Das Jahr 1938 brachte einschneidende Veränderungen. Chefredakteur Georg Bernhard schied am 12.1.1938 83 nach folgenschweren Auseinandersetzungen mit Wolff aus. Es folgte eine turbulente Interimsphase, in der Kurt Caro und, als dieser einen Zwangsaufenthalt (résidence assignée) befolgen musste, auch kurzzeitig Robert Breuer die Chefredaktion führten.84 Diese fand mit dem Eintritt von Joseph Bornstein als Chefredakteur — er wechselte von Leopold Schwarzschilds Neuem Tage-Buch zur PTZ — ein spektakuläres Ende. Denn Bornsteins

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Er war 1921-1933 politischer Redakteur der Vossischen Zeitung gewesen und im Oktober 1934 nach Paris emigriert. - S. a. Sigrid Schneider, »Die Leute aufklären und Hitler schaden«. Carl Misch im Exil, in: H. Roussel u. L. Winckler (Hg.), Deutsche Exilpresse und Frankreich 1933-1940, a. a. O., S. 207-226. *" »Drach, Jahrgang 1888, 1919 Spartacuskämpfer in Berlin, seit 1925 in Paris, französischer Staatsbürger, arbeitete in den dreissiger Jahren für VU und LU, war 1940 in Marseille Mitarbeiter des Deuxième Bureau und endete im Juli 1943 in Gestapohaft in Nîmes durch Freitod« (Ruth Fischer u. Arkadij Maslow, Abtrünnig wider Willen. Aus Briefen und Manuskripten des Exils, hg. v. Peter Lübbe, München 1990, S. 16). - Chefredakteur der Zeitschriften VU und LU war Lucien Vogel, dessen Tochter mit Paul Vaillant-Couturier verheiratet war und der mit Münzenberg schon seit den 20er Jahren in Kontakt stand (s. Babette Gross, Willi Münzenberg, a. a. O., S. 252 u. 279). - Drachs massgebliche Beteiligung an der Intrige um PTB/PTZ im Juni 1936 behauptete bereits Maximilian Scheer (So war es in Paris, Berlin/DDR o. D. [1964], S. 138-146); bislang bekannte Details dazu bei W. F. Peterson, The Berlin Liberal Press in Exile, a. a. O. 81

R. Breuer (eigentl. Lucien Friedländer; 1878-1943) war ehemaliger Redakteur sozialdemokratischer Blätter und unter Friedrich Ebert Pressechef der Reichskanzlei gewesen. Breuer war Mitbegründer des Schutzverbandes deutscher Schriftsteller in Berlin; s. dazu Emst Fischer, Der Schutzverband deutscher Schriftsteller 1909-1933, Frankfurt 1980. Vom rechten Flügel der S P D tendierte er im Exil spürbar nach links. Vor seiner Mitarbeit in der PTZ leitete er a. 1934 ein Drei-Mann-Korrespondenzbüro Internationale Korrespondenz (InKo), von dem Fred Uhlmann Anekdotisches berichtet (Fred Uhlmann, Il fait beau à Paris aujourd'hui, Paris 1987, S. 160f). S. desweiteren: Kurt Kersten, Robert Breuers Tod und Begräbnis, in: Frankfurter Hefte, März 1953, S. 226-230.

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Entgegen einer verbreiteten Annahme war R. Breuer nicht jahrelang Redakteur bei der PTZ. Sein N a m e ist auf keiner der erhaltenen Redaktionslisten aufgeführt; auch wurde er zwischen 1936 und 1938 wie alle freien Mitarbeiter pro Artikel entlohnt und scheint zumindest 1936 in einer Nachrichtenagentur (ADMO, 22, rue Notre-Dame de Nazareth, Paris 3e; BAP, PTZ, N° 72, Bl. 36) gearbeitet zu haben. Nur vom 15.9.-31.12.1938 bezog er ein festes Redakteursgehalt von 2.500 Francs, um den unter polizeilichem Zwangsaufenthalt stehenden Chefredakteur Caro zu ersetzen (BAP, PTZ, N° 6, Bl. 11-12).

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S. Bernhards Kündigungsschreiben v. 11. 1. 1938 (BAP, PTZ, N° 58, Bl. 29). Ebd.

Ankunft am 23.12.1938 85 nur wenige Tage vorausgegangen war die fristlose Kündigung von Kaiser und Breuer. Ebenso fristlos wurde Kurt Caro zum 15.1.1939 entlassen. Welch radikale Wende 1938/39 in der PTZ vor sich gegangen war (Anzeichen dafür waren u. a. der Redaktionseintritt der SPD-Funktionärin Anna Geyer 86 sowie der von Stefan Fingal und Berthold Biermann 87 ), lässt sich nur über die politische Geschichte des Exils erklären. Zuvor noch kurz erwähnt seien die wichtigsten freien Mitarbeiter von PTB und PTZ, die der Zeitung - teils durch regelmässige Betreuung von Rubriken, teils durch langfristige Mitarbeit - ihr Gepräge gaben. Rubriken betreuten z. T. abwechselnd Paul Bekker (Musikkritik), Harry Kahn (Theater und Film), Edgar Katz (Sportbericht), Alfred Kerr (Theaterkritik), Paul Erich Marcus (Filmkritik), Herbert Weichmann (Ps. Merkur, Finanzbericht) und Paul Westheim (Kunstkritik). Korrespondenten der Zeitung waren u. a. Rudolf Olden (England), Erich Kuttner (Niederlande), Kurt R. Grossmann und Felix Stössinger (Tschechoslowakei), Wilhelm Herzog (Schweiz), Erich Gottgetreu, Schalom Ben-Chorin und Karl Loewy (Palästina), Manfred Georg (USA); Sonderkorrespondenten waren zeitweilig auch Arnold Zweig (Palästina), Arkadij Gurland, Erika und Klaus Mann sowie Alfred Kantorowicz (Spanien). Häufige Beiträge in Feuilleton und/oder politischem Teil veröffentlichten u. a. die Emigranten Bruno Altmann, Walter A. Berendsohn, Hellmut von Gerlach, Georg Wolfgang Hallgarten, Max Herrmann-Neisse, Kurt Kersten, Heinrich Mann, Klaus Mann, Siegfried Marek, Arkadij Maslow, Rudolf Olden, Joseph Roth, Hans Wilhelm von Zwehl. Französische Mitarbeiter kamen insbesondere aus dem Bereich der Politik, so u. a. Salomon Grumbach und Paul Allard.

1.3. PTB/PTZ, Organ der »antihitlerischen Gesamtopposition« in Frankreich? Das PTB und sein Nachfolgeorgan PTZ war zwischen 1933 und 1940 die einzige von Emigranten gegründete Tageszeitung der deutschen Opposition gegen Hitler. 88 Aus dieser Tatsache ergab sich für die Zeitung de facto eine Monopolstellung, die dazu beitrug, manche der politisch-publizistischen Funktionen des Blattes zu verstärken:

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Datierung laut dem Schreiben von Redaktionssekretärin Gerda Ascher an M. Georg v. 2 0 . 4 . 1 9 3 9 (BAP, PTZ, N ° 70, Bl. 167).

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S. dazu Kap. 1.3. S. dazu Kap. 3.1., Abschn. C. D i e von 1933 bis 1935 in Saarbrücken erscheinende Tageszeitung Deutsche Freiheit von W i l h e l m Sollmann wurde von der Saar-SPD getragen und dem Verlag der Volksstimme angegliedert; die 1941 in London gegründete Die Zeitung erschien nur kurze Zeit täglich und unterstand dem britischen Foreign Office. Andere Tageszeitungen, die sich der Emigration öffneten, waren hingegen keine Exilgründungen: s o das Argentinische Tageblatt (Buenos Aires, gegr. 1889) und die Deutsche Zentralzeitung (Moskau, 1 9 2 5 - 1 9 3 9 ) .

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1. Die Zeitung hatte wesentlichen Anteil an der Konstitutierung eines öffentlichen Diskussionsraumes der Hitlergegner im Ausland, insbesondere in Frankreich. Als Organ der Hitler-Opposition war sie Teil einer Gegenöffentlichkeit gegen den Propagandaapparat des Dritten Reiches; sie wollte das Ausland über den wahren Charakter des nationalsozialistischen Regimes aufklären und ein zukünftiges, demokratisches Deutschland entwerfen helfen. 89 Als publizistisches Medium der Emigration diente die Zeitung aber auch der Information (besonders der Nachrichtenübermittlung in deutscher Sprache) und der öffentlichen Selbstverständigung der Hitlergegner untereinander. In dieser Eigenschaft war sie Teil der politischen wie auch der literarisch-kulturellen Öffentlichkeit des deutschen Exils und muss deshalb neben andere wichtige Organe des Exils gestellt werden, so u. a. die im Exil fortgesetzten Berliner Zeitschriften Das Neue Tage-Buch von Leopold Schwarzschild (Paris, 1933—1940) und - allerdings ohne Carl von Ossietzky - Die Neue Weltbühne (Prag, 1933-1938 und Paris, 1938/39) sowie Exilgründungen wie Willi Münzenbergs Zukunft (Paris, 1938-1940) und Kulturzeitschriften wie Die Sammlung (Amsterdam, 1933-1935), Neue Deutsche Blätter (Prag, 1933-1935), Das Wort (Moskau, 1936-1939). 9 0 2. Die Zeitung hatte - wie manche andere Exilorgane auch - den Anspruch, im Namen der Gesamtemigration zu sprechen und deren öffentliche Meinung zu repräsentieren. Diesem öffentlichen Vertretungsanspruch korrespondierte umgekehrt ein Legitimationszwang der »Zeitungsmacher« vor dem Publikum. Da Gesamtöffentlichkeit des Exils und Lesepublikum der Zeitung jedoch nicht identisch waren, war die Zeitung gezwungen, beide Faktoren im redaktionellen Konzept zu berücksichtigen - was verschiedentlich Quelle von Widersprüchen und Konflikten war. 91 So wollte das PTB zwar antihitlerisch, aber nicht auf die deutsche Emigration beschränkt sein. »In diesen Spalten wird Politik mit Blick auf die Welt, nicht Kirchtumspolitik getrieben. Die deutsche Emigration ist nicht der Nabel der Welt« 92 , hiess es in Bernhards Kommentar der ersten Ausgabe des PTB. Spätere Jahre zeigten eine Änderung dieser Haltung. Ebenso global war anfangs auch die Frage der jüdischen Emigration behandelt worden. Obwohl die Mehrzahl der Redakteure selbst jüdischer Herkunft war, suchten sie zumeist das Phänomen des Antisemitismus der politischen Analyse unterzuordnen. Richtungweisend hierfür war Georg Bernhard gewesen, der »in seinen Kommentaren die Notwendigkeit [betonte], das Schicksal der Juden in Deutschland als einen Teil von Hitlers Politik zu sehen, bekämpfbar nur in Solidarität mit allen anderen

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Gegenentwürfe und Projektionen eines Deutschland nach Hitler nahmen, etwa im Zusammenhang mit der deutschen Volksfront, einen breiten Raum in der politischen Diskussion der Zeitung ein. Auch die im Sommer 1939 in französischen Blättern und der Pariser Exilpresse geführte Debatte über das »Andere Deutschland« schlug sich in der PTZ nieder. Zu diesen sowie zu zahlreichen hier ungenannten Exilperiodika s. die Einzeldarstellungen bei Lieselotte Maas, Handbuch der deutschen Exilpresse, 4 Bde., a. a. O., und Hans-Albcrt Walter, Deutsche Exilliteratur 1933-1950. Bd. 4 Exilpresse, a. a. O. Dass das Lesepublikum der Zeitung die Kreise der Emigration effektiv überschritt, wird in Kapitel 2 dargelegt, das ganz dem Verhältnis von Öffentlichkeit und Publikum gewidmet ist. Georg Bernhard, Die Aufgabe, in: PTB Jg. 1 N° 1 v. 12.12.1933, S. 1.

Opfern des Nationalsozialismus« 93 . Spätere Jahre zeigten auch hier eine Entwicklung. 94 Ein zusätzliches Problem betraf schliesslich die Stellung der Zeitung in der politischen Öffentlichkeit. Obwohl sie als parteilich unabhängiges Organ und als »Tribüne« 95 aller politischen Strömungen des Exils intendiert war - in ihren Spalten artikulierten sich die verschiedensten politischen Tendenzen des deutschen Exils: linksliberale, pazifistische, sozialistische, gelegentlich auch kommunistische und konservative Autoren - , war sie in Wirklichkeit stets mit partikularen Gruppeninteressen der politischen Emigration konfrontiert. Zurückzuführen war dies einerseits auf das politische Engagement der Redakteure selbst — und besonders des Chefredakteurs Georg Bernhard, der auch in der Emigration eine führende politische Rolle zu spielen gedachte. Die Zeitung geriet so in Gefahr, zum publizistischen Echo ihres Chefredakteurs zu werden und redaktionelle Meinung mit »öffentlicher Meinung« zu identifizieren. 96 Zum anderen aber war die Zeitung auch ausserredaktionellen politischen Einflüssen unterworfen, die eine enge Verzahnung von Redaktionsgeschichte und politischer Geschichte der Emigration in Frankreich erkennen lassen (s. dazu untenstehend). 3. Die Zeitung hatte eine entscheidende kulturelle Funktion, und zwar in doppelter Perspektive: Für die Masse der deutschen Emigranten, die sich in Frankreich, aber auch in anderen (ausser-)europäischen Ländern aufhielten, fungierte sie als Verbindungs- und Fortsetzungselement deutscher Kultur in ihren demokratischen, republikanischen und liberalen Traditionen. Diese Funktion kam insbesondere im Kulturteil (Feuilleton), aber auch in kulturkritischen Artikeln innerhalb des politischen Teils der Zeitung zum Ausdruck. Zum zweiten hatte sie eine vermittelnde — akkulturierende - Funktion gegenüber der Kultur des französischen Gastlandes. Auch diese Funktion schlug sich im Feuilleton und seinen verschiedenen Textgattungen nieder. 97 Daneben übernahmen jedoch auch andere Sparten des politischen oder lokalen Teils eine akkulturierende Funktion, so z. B. bei der Vermittlung politisch-institutionellen Wissens über das Gastland, bei der Information über Arbeits- und Aufenthaltsrecht oder bei der Einführung in die französische Alltagskultur (von den faits divers der Justizchronik, Kino- und Theaterprogrammen bis zum Kochrezept für die traditionelle Bouillabaisse). Gerade auf dem Gebiet der Akkulturation konnten PTB und PTZ - letztlich dank ihrer Konzeption als Tageszeitung — ihrem Publikum eine kontinuierliche Hilfestellung

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Lieselotte Maas, Kurfürstendamm auf den Champs-Elysees?, a. a. O., S. 110. Während Poliakov für das Problem der jüdischen Emigration sicherlich sensibel war, brachte PTZ-Verleger W o l f f w e n i g Verständnis dafür auf. Das Zeitungsarchiv überliefert 1938 anhaltende Differenzen z w i s c h e n der Redaktion und W o l f f , der laut einer Redaktionsbeschwerde zählte, » w i e oft das Wort >Jude< in dem Blatt oder gar in den Überschriften vorkomm(e)« (Intern, »Memorandum« v. 12.12.1938; B A P , PTZ, N ° 6 1 , Bl. 87). Georg Bernhard, D i e Aufgabe, a. a. O. Deshalb auch die stark auf Georg Bernhard konzentrierte politische A n a l y s e bei Walter F. Peterson, The Berlin Liberal Press in Exile, a. a. O. Zur Diskussion der Akkulturationsfunktion speziell in der Literaturkritik s. Kapitel 5.2. dieser Arbeit.

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bieten, wie sie in dieser Art und in diesem Umfang kein anderes Exilperiodikum aufwies. 4. Gleichzeitig mit den eben genannten kommunikativen Funktionen hatte das PTB bzw. die PTZ eine kommerzielle Funktion zu erfüllen. Denn die Zeitung war den Gesetzen unternehmerischer Rentabilität unterworfen und gehalten, sich über Verkauf und Werbung zu tragen. Auch enthob sie ihre Monopolstellung als Tageszeitung keinesfalls der ökonomischen Konkurrenz mit anderen - wöchentlich oder monatlich erscheinenden - Periodika der Emigration (in erster Linie mit dem ebenfalls in Paris erscheinenden Neuen Tage-Buch (fortan: NTB) Leopold Schwarzschilds 98 ). Auch konnte die Zeitung, im Unterschied etwa zu den Parteiblättern des Exils, a priori nicht auf externe Finanzierungsmittel zählen. Nicht zuletzt deshalb hatte sie trotz eines relativen publizistischen Erfolges häufig Mühe, ihr Budget auszugleichen. Denn Verleger Poliakov hatte der Zeitung 1933 ein Startkapital von 250.000 Francs — 100.000 Francs in bar, 150.000 Francs als Kredit" zur Verfügung gestellt, das er alsbald um ein Fünftel reduzierte.'00 Das Monatsbudget der Zeitung (inkl. Herstellungskosten) belief sich auf 7 0 - 9 0 . 0 0 0 Francs und konnte durch Verkauf (Strassen- und Kioskverkauf, Abonnement) 101 sowie Werbeinserate102 nur 1935 103 ausgeglichen werden. Ab 1936 folgten chronische finanzielle Engpässe, die Verleger und Redaktion veranlassten, getrennt nach neuen Geldquellen zu suchen.104 Diese Finanzkrisen sowie die insbesondere von Bernhard verfochtene Auffassung eines »geistige(n) Mitbesitzrecht(s) der Redakteure«105

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Wohlgemerkt differierte das publizistische Konzept und vermutlich auch das Lesepublikum dieser beiden Presseorgane. Doch war das NTB die einzige Wochenzeitschrift des deutschen Exils in Frankreich, die eine ähnliche Kontinuität wie PTB und PTZ vorweisen konnte, j a diese um einige Monate überdauerte: Das NTB erschien in Paris vom 1.7.1933 bis 1.5.1940. Zu den weiteren Exilorganen in Frankreich, die mit PTB und PTZ konkurrierten, s. Kapitel 2.2. und 3.2. zur Öffentlichkeit bzw. zum literarischen Markt der deutschen Emigration in Frankreich. 99 Bericht der Minderheit der Untersuchungskommission in der Streitsache Bernhard-Caro einerseits, Schwarzschild andererseits für die Association des journalistes allemands émigrés, [Verf. Berthold Jacob und Paul Dreyfus] Paris, 16.2.1937 (DBF, Slg. P. Dreyfus, EB autogr. 395, N° 23, S. 10). 100 Bereits 1934 zog Poliakov Kapital vom PTB zugunsten des Pariser Haint ab, um dort von seinem Partner Isaac Grodzenski unterschlagene Gelder zu begleichen. Die Summe bezifferte Bernhard in einem Schreiben an Fritz Naphtali v. 2.2.1935 auf 50.000 Francs (DBF, B W G. Bemhard/F. Naphtali, EB autogr. 399). "" Zu Auflagenzahl und Publikum s. Kap. 2.1. 102 Die zunächst an die Société Metzl vergebenen Nutzungsrechte des Inseratenteils brachten der Zeitung monatlich 12.500-15.000 Francs und waren nach Redaktionsmeinung zu niedrig kalkuliert (Minderheitsbericht, a. a. O., S. 10). 103 Das PTB verzeichnete im ersten Geschäftsjahr (1934) noch ein Defizit von 135.000 Francs, 1935 hingegen einen Überschuss von 108.000 Francs (ebd.). 104 Über finanzielle Stützungsaktionen durch jüdische Organisationen wie den American Jewish Congress und politische Kreise der Emigration berichtete bereits W. F. Peterson, The Berlin Liberal Press in Exile, a. a. O. 11)5 Bernhard sah sich von Anbeginn journalistisch und moralisch für das Blatt verantwortlich (Die Aufgabe, PTB Jg. 1 N° 1 v. 12.12.1933, S. 1). Daher bestritt er Poliakovs Auffassung,

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an der Zeitung standen am Ursprung eines strukturellen Konflikts 106 , der Redaktion und Verleger 1936 in die Konfrontation führte. Zugleich bedrohten sie die redaktionelle Unabhängigkeit des Blattes und machten es für politische Einflussnahmen anfällig. Denn parallel zur finanziellen Situation der Zeitung hatte sich auch deren politisches Umfeld verändert und Hess nun unterschwellige Spannungen aufbrechen. Kristallisiert hatten sich diese erneut an Verleger Poliakov, der als Israelit zweifellos ein aufrichtiger Hitlergegner, doch kein militanter Antifaschist war. Diesen Weg indessen beschritten ab 1934/35 Kreise der deutschen HitlerOpposition, die in Frankreich Asyl gefunden hatten und in die sich die zumeist dem politischen Milieu 107 des Liberalismus entstammenden Journalisten der Zeitung zunehmend involviert fanden. Begünstigt wurde diese Entwicklung zunächst durch einen politischen Linksruck in der französischen Öffentlichkeit. Dort hatte ein Putschversuch rechtsextremer Ligen am 6. Februar 1934 die erste einheitliche Demonstration der Linksparteien seit ihrer 1920 erfolgten Spaltung und einen eintägigen Generalstreik ausgelöst. Der nachfolgende Pacte d'unité d'action vom 24. Juli 1935 zwischen der kommunistischen (PCF) und sozialistischen (SFIO) Partei Frankreichs bahnte Léon Blums Regierung des Front populaire vom Juni 1936 an.108 Zum anderen hatte die deutsche Exilöffentlichkeit im Saargebiet ihren ersten (regional begrenzten) Einigungsversuch erlebt: Die Saar-SPD unter Max Braun und die Bezirksleitung der KPD hatten sich zu einer politischen Einheitsfront zusammengeschlossen. Zwar war die Allianz bei der Saar-Abstimmung im Januar 1935 unterlegen und das Saargebiet dem Dritten Reich eingegliedert worden. Doch hatte dieses regionale Bündnis den Weg für einen politischen Zusammenschluss der Hitler-Gegner auf breiterer Basis geebnet. Im Oktober 1935 optierte die KPD - in Ausführung der Beschlüsse des VII. Weltkongresses der Kommunistischen Internationale (KOMINTERN) vom

»der Verleger eines Emigrationsblattes sei [...] berechtigt, auch über den geistigen Inhalt seines Blattes zu verfügen und dessen Gesinnung zum Gegenstand kaufmännischer Transaktionen zu machen. [...] Denn ich bin der Meinung, dass an jeder Zeitung ein bestimmtes M a s s von geistigem Mitbesitzrecht der Redakteure besteht, erst rech [sie] aber bei e i n e m Blatt, das die Interessen einer im Kampf gegen ein despotisches R e g i m e stehenden Emigration zu verfechten hat.« (Eine vereitelte Intrige, Nachdruck eines Briefes von Bernhard an Paul Milioukov v. 18.11.1936, PTZ Jg. 1 N° 2 0 3 v. 3 1 . 1 2 . 1 9 3 6 , S. 3. - Der französischsprachige Originaltext befindet sich in B A P , PTZ, N ° 52, Bl. 2). "*' S. dazu H é l è n e Roussel und Lutz Winckler, Pariser Tageblatt/Pariser Tageszeitung: Gescheitertes Projekt oder Experiment publizistischer Akkulturation?, a. a. O., S. 123f. 11,7 S. dazu Rainer M. Lepsius, Parteiensystem und Sozialstruktur: Zum Problem der Demokratisierung der deutschen Gesellschaft, in: Gerhard A . Ritter (Hg.), Die deutschen Parteien vor 1918, Köln 1973, S. 5 6 - 8 0 . Lepsius definiert dort (S. 67f.) das »Milieu« als soziokulturelles Gebilde, das mehrere für einen spezifischen Bevölkerungsteil gültige Strukturdimensionen Religion, regionale Tradition, wirtschaftliche Lage, kulturelle Orientierung, schichtspezifische Zusammensetzung - vorweist. '"* Ausführliche Darstellung bei Georges Lefranc, Histoire du Front populaire, 2., verb. Aufl., Paris 1974 ('1965); Jacques Droz, Histoire de I'Antifascisme en Europe, Paris 1987.

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Juli/August 1935109 - auf der sog. »Brüsseler Konferenz« für ein breites antifaschistisches Bündnis, das Gruppen und Parteien des kommunistischen und sozialistischen Spektrums umfassen sollte. Der Grundstein für eine deutsche Volksfront war gelegt. 110 Die deutsche Volksfront sollte den Sturz Hitlers herbeiführen. Ihre Anfänge reichten zurück in den Juli 1935, als sich auf Initiative des KPD-Abgeordneten Wilhelm Koenen und des Chefredakteurs der Saar-Zeitung Westland, August Stern, Vertreter der traditionellen Arbeiterparteien sowie bürgerliche Vertreter zumeist Schriftsteller und Publizisten - versammelten und einen »(Vorläufigen) Ausschuss zur Vorbereitung einer deutschen Volksfront« gründeten. 1 " Kurz darauf kehrte Willi Münzenberg, damals noch Mitglied des Zentralkomitees der KPD, mit dem Auftrag des KOMINTERN-Sekretärs Dimitroff nach Paris zurück, die Einigung der deutschen Opposition gemäss dem neuen politischen Kurs voranzutreiben. 112 Münzenberg-Kreis und Vorläufiger Ausschuss arbeiteten zunächst parallel, bis sie auf ihrer ersten gemeinsamen Versammlung im Pariser Hotel Lutetia am 26.9.1935 durch die Wahl eines Exekutivkomitees (»LutetiaComite«) fusionierten." 1 Heinrich Mann wurde zum Vorsitzenden gewählt; fT.ß-Chefredakteur Georg Bernhard" 4 , ATTß-Herausgeber Leopold Schwarzschild" 5 und der frühere preussische Finanzminister Otto Klepper (Deutsche Staatspartei; DSP) wurden als bürgerliche Vertreter, Münzenberg als KPD-Vertreter nominiert. Am 2.2.1936 versammelte das Lutetia-Comite ca. 120 Vertreter der deutschen Opposition" 6 , die die Schaffung eines sog. »Volksfront-Ausschusses« beschlossen, den wiederum Heinrich Mann präsidierte. Das Jahr 1936 erlebte somit den Höhepunkt der deutschen Volksfront-Bewegung.

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»Dimitroff verkündete die neue Linie [...]: Einheitsfront von oben, Aktionseinheit mit den sozialistischen Parteien, Beteiligung und Unterstützung bei der Bildung von Regierungen der Einheitsfront oder der antifaschistischen Volksfront. Es war eine Absage an die Kominternpolitik der vergangenen sieben Jahre, wie sie radikaler nicht gedacht werden konnte.« (Babette Gross, Willi Münzenberg, a. a. 0 „ S. 288). S. dazu ausführlich Ursula Langkau-Alcx, Volksfront für Deutschland? Bd. 1: Vorgeschichtc und Gründung des »Ausschusses zur Vorbereitung einer deutschen Volksfront« (1933-1936), Frankfurt/M. 1977; Willi Jasper, Hotel Lutetia. Ein deutsches Exil in Paris, München u. a. 1994. S. Ursula Langkau-Alex, Volksfront für Deutschland?, a. a. O., S. 80f. Babette Gross, Willi Münzenberg, a. a. O., S. 289. S. Ursula Langkau-Alex, Volksfront für Deutschland?, a. a. O., S. 7 9 - 9 0 . Bernhard gehörte dem Vorläufigen Ausschuss mindestens seit August 1935 an (s. ebd., S. 81). Ebenfalls dort (S. 265, Anm. 13) zitiert ist eine Gestapa-Aufzeichnung, nach der »1 Jude (Redakteur vom >Pariser TageblattPariser Tageblatt< wurde Schwarzschild, wie auch andere, von denen die Herren Greszinski, Breitscheid, Münzenberg, Rheinstrom, Hugo Simon, Heinrich Mann und Rudolf Leonhard namentlich genannt wurden, am 4. Juni oder in den nächsten Tagen in Kenntnis über das gesetzt, was man vorhatte.« Münzenberg dementierte in einem Brief an Hugo Simon, Georg Bernhard u. [Raymond] Bernheim v. 10.1.1937 [1938!]: »Als einziger Mann [...] wurde [...] Herr Schwarzschild rein privat [...] informiert. Wir, d. h. der Volksfrontausschuss, dessen Sekretär ich damals war, erhielt erst nach der vollzogenen Tatsache Kenntnis von den Vorgängen und die KPD, die ich damals im Volksfrontausschuss vertrat, erhielt nur durch den Umstand davon Kenntnis, dass Herr Wolff den Genossen Wilhelm Pieck und mich zufällig im Café Mabillon traf und zwar einige Stunden, bevor die Sache platzte.« (BAP, NL G. Bernhard, N° 50, Bl. 2 5 - 3 0 ; Teilnachdruck des Briefes bei W. F. Peterson, The Berlin Liberal Press in Exile, a. a. O., S. 262-266). Neuen Quellen zufolge (s. unten) erscheint Münzenbergs Dementi zumindest fragwürdig! ,2,i Zwar fungierten die Deutschen Informationen, bis zur Spaltung der Redaktion von 1936 bis 1938 von Kommunisten und Sozialdemokraten gemeinsam herausgegeben, als Nachrichtenblatt der Volksfront; weitere Publikationen (Gegen-Angriff, Deutsche Volkszeitung, Deutsche Freiheit u. a.) repräsentierten jedoch verschiedene Parteien und Fraktionen. I2 ' Minderheitsbericht, a. a. O., S. 38. 118 Ebd., S. 41 heisst es: »Unter den Kombinationen mit dem >Pariser Tageblatt< war (nach dem Dossier) ein Angebot Münzenbergers [sie] von 300.000.- Francs, dem Bernhard geneigt war, das aber Wolff ablehnte.« 129 Ebd., S. 11. - Dort ist auch erwähnt, dass Wolff bereits dem PTB Summen zugeführt hatte, die nicht über die Verlagsbuchhaltung - also Poliakov - liefen. "" Vgl. dazu auch Kurt R. Grossmann: »Im April 1936 trat ein Mann auf die Bühne, von dem alle Eingeweihten wussten, dass er Beziehungen zu den Kommunisten habe. Sein N a m e war Fritz W o l f f , bei Freund und Feind als >der schöne Wolff< bekannt. Er repräsentierte, so sagte

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belegt, dass Wolff nach der erfolgten /TZ-Gründung, die ihn zum juristischen Eigentümer der Zeitung avancierte, ein erneutes Kaufangebot Münzenbergs ablehnte.13' Wessen Interessen vertrat also Wolff? Und welche Stellung bezog er in dem sich 1936/37 entwickelnden Konflikt zwischen Münzenberg und der KPD? Denn - so viel wurde bereits deutlich132 - die zunehmende Opposition zwischen ihm und der Partei hatte Rückwirkungen auf die Geschicke der PTZ. Ruth Fischer zufolge hatte Wolff in den zwanziger Jahren im illegalen Apparat der KPD gearbeitet'33; im Exil stand er jedoch 1935/36 - auch KPD-Quellen zufolge - der SAP 134 nahe, die als einzige Partei neben den Kommunisten offizielle Parteivertreter im Volksfront-Ausschuss 135 besass. Wolffs persönliche Verbindungen weisen hin auf ehemalige Spartakisten, die in den 30er Jahren zur sozialistischen oder trotzkistischen Opposition der KPD zählten.'36

er, eine >anonyme GruppePariser Tageblatt< finanziell zu unterstützen. Die Summe, die er nannte, war 200.000 Francs; aber für diese Investierung verlangte er Einspruchsrechte und Kontrolle.« (Kurt R. Grossmann, Emigration. Geschichte der HitlerFlüchtlinge 1933-1945. Frankfurt/M. 1969, S. 100). Möglicherweise irrte Grossmann in seiner politischen Einschätzung Wolffs, denn in KPD-Quellen wird dieser 1936 der SAP zugerechnet. 131

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Münzenberg an Hugo Simon, Georg Bernhard u. [Raymond] Bernheim, 10.1.1937 [1938!]; BAP, NL G. Bernhard, N° 50, Bl. 2 5 - 3 0 ; Teilnachdruck des Briefes bei W. F. Peterson, The Berlin Liberal Press in Exile, a. a. 0 . , S. 262ff). So formulierte Peterson bereits; »In essence, the participants in the scramble for control over the paper were the KPD and the dissident Communist Willi Münzenberg.« (Walter F. Peterson, The Berlin Liberal Press in Exile, a. a. O., S. 201). Ruth Fischer, die 1923-1925 mit Arkadij Maslow die KPD geleitet und sich 1934-1936 Trotzki angeschlossen hatte, bezeichnete Wolff als »ehemaliges Mitglied der KPD« und als »alte(n) Fachmann für illegale Angelegenheiten« (Ruth Fischer u. Arkadij Maslow, Abtrünnig widerWillen, a. a. O., S. 436). Auch sagte sie ihm (ebd.) »Verbindungen mit Frankreich, [...] und zum englischen Nachrichtendienst« nach. Ihre Anschuldigung, Wolff habe »sicherlich jahrelang für die GPU gearbeitet und m(ü)ss(e) in Washington als Agent bekannt gewesen sein« (ebd.), erscheint allerdings unglaubhaft, denn weshalb hätte dann Maslow noch unter Wolff an der PTZ mitgearbeitet? Zumindest zwei SAP-Mitglieder waren an der neugegründeten PTZ tätig: ein aus Dessau stammender Rechtsanwalt namens Kuhn als Geschäftsführer bis Ende 1936, und Hermann Ebeling als Korrektor bis 1939 (er publizierte dort auch unter dem Pseudonym Hermann Linde). Da sich der nach Prag emigrierte sozialdemokratische Parteivorstand (SOPADE) der Pariser Volksfront-Politik widersetzte, gehörten SPD-Mitglieder dem Ausschuss nur als Privatleute, nicht als Parteivertreter an (so u. a. Max Braun und Rudolf Breitscheid). Weitere sozialistische, kommunistische oder trotzkistische (Splitter-)Gruppen waren nicht offiziell im Ausschuss vertreten (s. U. Langkau-Alex, Volksfront für Deutschland?, a. a. O., S. 162). Eine Schlüsselfigur ist vermutlich Karl Retzlaw, der - wie Wolff - als Spartakist zur KPD gekommen war und bis 1924 den illegalen Apparat geleitet hatte; aus dieser Phase datiert vermutlich ihre Bekanntschaft. Retzlaw hatte sich anschliessend durch KOMINTERN-Arbeit ( z . T . im Münzenberg-Apparat) von der KPD-Leitung entfernt und 1933 den Trotzkisten angeschlossen. In seiner Autobiographie ist Wolff nur kurz erwähnt (s. K. Retzlaw, Spartacus. Aufstieg und Niedergang. Erinnerungen eines Parteiarbeiters, Frankfurt/Main '1985, S. 363), doch arbeitete er mit Wolff im »Comité allemand« und wurde 1936 bei der PTZ unter seinem bürgerlichen Namen Karl Gröhl als Anzeigenakquisiteur geführt - dies zur Tarnung seiner politischen Aktivitäten und vertraulicher Missionen, die er auch für Wolff wiederholt aus-

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I n d e s s e n gestatten n e u e Quellen' 3 7 d e n N a c h w e i s , dass sich die K P D s c h o n vor der U m w a n d l u n g d e s PTB zur PTZ für das Blatt interessiert hatte. S o erkundigte s i c h Z K - M i t g l i e d Herbert Wehner am 1 0 . 6 . 1 9 3 6 (!) bei M ü n z e n b e r g

-

d a m a l s n o c h KP-Vertreter i m Pariser V o l k s f r o n t - A u s s c h u s s - über M ö g l i c h k e i t e n einer F i n a n z b e t e i l i g u n g am PTB.m Parteiauftrag

Finanzhilfe,

I m D e z e m b e r 1936 leistete M ü n z e n b e r g i m

Albert N o r d e n

wurde

mit der

Unternehmensprü-

fung 1 3 9 z w e c k s Verkaufsverhandlungen betraut. A m 2 4 . 1 . 1 9 3 7 j e d o c h soll M ü n z e n b e r g d e m Parteisekretariat gemeldet haben, »die S a c h e [sei] nicht mehr s o aktuell« 1 4 0 , er w o l l e den PTZ-Ankauf

bei seiner nächsten M o s k a u - R e i s e bespre-

chen. B i s z u m Juni 1 9 3 7 verhandelt Albert N o r d e n für d i e K P D über den K a u f v o n Titel und A b o n n e n t e n l i s t e der PTZ.

D o c h die V e r h a n d l u n g e n stocken: D e r

führte (BAP, PTZ, N° 64, Bl. 416-437). Vgl. z. B. ein Schreiben Retzlaws: »Lieber Fritz, ich muss Montag für einen Bekannten, der keinen Pass hat, nach London fahren. Sind dazu bestimmte Dinge nötig? Einladung etc? Ich habe einen ordentlichen Pass. 3 Tage werde ich bleiben. Eventuell gib mir einen Ausweis von der Par. Tageszeitung?« (Karl Gröhl [Retzlaw] an F. Wolff, 25.6.1936; BAP, PTZ, N° 64, B1.437; Hervorh. i. Orig.). Retzlaws Londoner Verbindungen, über die Wolff offensichtlich Bescheid wusste, weisen auf Karl Otten und Otto Lehmann-Russbueldt (s. K. Retzlaw, Spartacus, a. a. O., S. 362f.), die Verbindung zu britischen Regierungsstellen hatten, bzw. auf den britischen Geheimdienst, für den Retzlaw arbeitete. Mit Lehmann-Russbueldt hatte Wolff auch über den Vertrieb der PTZ in Grossbritannien verhandelt (BAP, PTZ N° 65, Bl. 288; 10.8.1936), und die KPD behauptete wiederholt, Wolff habe Gelder für die PTZ aus London erhalten! - Weitere Ex-Spartakisten im Umkreis Wolffs waren schliesslich auch Franz Pfemfert (der sich allerdings im Exil nurmehr als Fotograf betätigte: Wolff räumte ihm wiederholt Gratis-Annoncen für sein PhotoStudio Dorit ein; BAP, PTZ, N° 363, Bl. 5 u. 8), Frédéric Drach (der auch nach seinem offiziellen Ausscheiden aus der PTZ im Dezember 1936 weiterhin mit Wolff und Caro in Verbindung stand) sowie Jacob Walcher. Mit Walcher, der als Spartakist zur KPD (1919), nach seinem Parteiausschluss zur KPO (1928) und schliesslich zur SAP (1932) kam, verband Wolff eine mehr als zwanzigjährige Freundschaft, die Ende 1937 wegen der PTZ-Verhandlungen getrübt wurde. " 7 Mein herzlicher Dank für Hinweise auf Aktenbestände des ehemaligen Zentralen Parteiarchivs im Institut für Marxismus-Leninismus, Berlin (heute: Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv), gilt Herrn Wolfgang Klein, Berlin, und Frau Tania Schlie, Hamburg. Die Bestände werden nachfolgend zitiert als SAPMO-BArch, ZPA. 138 [Kurt] an »Lieber Freund« [Münzenberg], 10.6.1936; SAPMO-BArch, ZPA 1 2/3/286, Bl. 380f. - Ein vom 15.6.1936 datierter vertraulicher Bericht Münzenbergs oder eines seiner Mitarbeiter verweist sogar auf zwei frühere »B. Berichte«, davon der letzte vom 1 O.Mai 1936! (SAPMO-BArch, ZPA I 2/3/358, Bl. 9Q. In derselben Akte (Bl. 16f.) ist ein Gesprächsprotokoll vom 3.7.1936 als »Bernhard-Bericht« betitelt. Möglicherweise hatte also Bernhard selbst Münzenberg noch vor dem »PTB-Skandal« über die schwierige Finanzlage unterrichtet - sie sassen schliesslich beide im Volksfront-Ausschuss - , und dieser dann seiner Partei berichtet. Dies würde auch erklären, dass die KPD Abschriften von einigen Bernhard-Briefen besass! Das Ergebnis dieser kritischen Durchleuchtung ist dokumentiert in einem mehrseitigen Bericht, der vielfältige Aufschlüsse über Budget, Auflage und Vertrieb der PTZ, über ihre Mitarbeiter etc. enthält, und deshalb im Anhang der Arbeit wiedergegeben wird. SAPMOBArch, ZPA 1 2/3/358, Bl. 82 (Dahlem und Norden an Pieck, 21.6.1937, und Beilagen Bl. 83-95). 140

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[Albert Norden?], Bericht über die Verhandlungen betr. »Pariser Tageszeitung«, o. D. [Mitte Januar 1938]; SAPMO-BArch, ZPA I 2/3/358, Bl. 203.

Bankier Hugo Simon, der ihm als Hauptgläubiger und damit als Verhandlungspartner designiert wurde, erhöht seine finanziellen Forderungen und Bernhard verlangt Garantien für die politische Unabhängigkeit des Blattes. Im Mai 1937 platzen abschlussreife Verhandlungen, da Bernhard der KPD plötzlich nur noch eine 50-Prozent-Beteiligung anbietet. Im Juni 1937 argwöhnt Franz Dahlem in einem Bericht ans Politbüro (Wilhelm Pieck): »Meiner Meinung nach erschwerend ist die Tatsache, dass ausser uns noch irgend jemand mit diesen Leuten verhandelt und ihnen wahrscheinlich Versprechungen gemacht hat, die wir ablehnen müssen.« 141 Doch erst im September 1937 wurde die KPD-Führung gewahr, wer sie bei den PTZ-Verhandlungen ausgebootet hatte: Willi Münzenberg. Denn zum 1.1.1937 hatte Wolff die Zeitung an einen Schweizer Rechtsanwalt verkauft, der als Mittelsmann Münzenbergs und seiner Verbündeten, Bernhard und Simon, fungierte. Als der Anwalt zwei Monate später das Geschäft rückgängig machte, wurde Wolff erneut juristischer Eigentümer der PTZ, allerdings ohne diese zu leiten: Er hatte Hausverbot. Doch das Versiegen von Münzenbergs Geldquellen brachte am 24.6.1937 faktisch das Aus für seine »Holding« 142 , und Wolff führte einstweilen die Zeitung dank eines Moratoriums 143 auf eigene Faust weiter. Dabei hatte Münzenberg in den verstrichenen sechs Monaten der hochverschuldeten Zeitung 144 massive Finanzhilfe verschafft: Die Quellen sprechen von 6 0 0 . 0 0 0 Francs. 145 Was rechtfertigte solche Investitionen? Wohl kaum mehr die Idee eines Zentralorgans der deutschen Volksfront, denn Münzenberg hatte sich

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Jean [Franz Dahlem] an »Lieber Freund« [Wilhelm Pieck], 8.6.1937; SAPMO-BAreh, ZPA I 2/3/358, Bl. 81. Als »Holding (W.)« taucht die Münzcnberg-Gruppe auch in einer Mitarbeiterliste auf; BAP, PTZ, N° 5, Bl. 16. Am 25.6.1937 schloss Wolff ein Moratorium mit Drucker, Lieferanten und Mitarbeitern; es findet sich als »Stillhalteabkommen« bzw. »Stillhalteguthaben« in Redaktionskorrespondenz und Kassenbüchern der PTZ häufig wieder. Die Unternehmensprüfung, die die KPD im Rahmen der Verkaufsverhandlungen vorgenommen hatte, ergab für die PTZ. zum 31. Mai 1937 eine Verschuldung von 795 958 F F und ein monatliches Dezifit von 62 295 FF! Dcnnoch zeigte sich die KPD interessiert: »Nach Meinung von Walter [Ulbricht; M. E.] sind die Hauptschwierigkcitcn nicht geschäftlicher sondern politischer Art und es wird noch eine längere Zeit vergehen, ehe der Boden geebnet ist.« (Jean [Franz Dahlem] und Albert [Norden] an »Lieber Freund« [Pieck], 22. 6. 1937; SAPMO-BArch, ZPA I 2/3/358, Bl. 82; vollständiges Schreiben im Anhang). Der KP-Bericht enthält eine (auf Wolffs Aussagen beruhende) Aufstellung, wonach 250.000 FF von dem schwedischen Bankier Olaf Aschberg kamen (der später auch Münzenbergs Wochenzeitung Die Zukunft mitfinanzierte), 100.000 F F aus Spanien, 40.000 F F von Hugo Simon, 15.000 FF von Albert Greszinski, 30.000 F F von der KPD (Zahlung vom Dezember 1936) sowie 165.000 FF »französische Regierungsgelder und sonstige Zuschüsse« ([A. Norden?], Bericht über die Verhandlungen betr. »Pariser Tageszeitung«, o. D. [Mitte Januar 1938]; SAPMO-BArch, ZPA I 2/3/358, Bl. 206f.). - Albert Norden zitiert in einem anderen Bericht Wolff, demzufolge die spanischen Gelder die »Belohnung« für Waffenlieferungen seien, die der frühere Berliner Polizeipräsident Greszinski (SPD) mit Münzenbergs Hilfe für die Spanische Republik organisiert habe (Albert [Norden], Mitteilungen über die weiteren Verhandlungen zum Verkauf der PTZ, 27.11.1937; SAPMO-BArch, ZPA I 2/3/287, Bl. 261).

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hinter dem Rücken seiner Partei an der PTZ beteiligt. Die PTZ wurde dadurch zum politischen Streitobjekt, das den schwelenden Konflikt zwischen Münzenberg und der KPD146 einerseits und zwischen kommunistischen und linksbürgerlich-sozialistischen Vertretern im Pariser Volksfront-Ausschuss 147 andererseits eskalieren liess. Ein neuerlicher Versuch Bernhards im Oktober 1937, Wolff auszuschalten148, scheint diesen seinerseits veranlasst zu haben, insgeheim mit der KPD zu

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Zum Konflikt zwischen der KPD und Münzenberg, der zunächst noch auf politischen Rückhalt in der KOMINTERN zählen konnte, s. Tania Schlie, Le »Cas Münzenberg« d'après le dossiers du KPD et du Komintern, in: Willi Münzenberg. Un Homme contre. Actes du Colloque international du 26 au 29 mars 1992 à Aix-en-Provence organisé par la Bibliothèque Méjanes, Aix-en-Provence 1993, S. 163-171. Die Beziehungen zwischen beiden Gruppen hatten sich seit der Nominierung Walter Ulbrichts, der im April 1937 Willi Münzenberg als KPD-Vertreter im Volksfront-Ausschuss ablöste, ständig verschlechtert; die KPD machte Münzenberg dafür verantwortlich. Die Überlagerung dieses Konflikts mit dem Streit um die PTZ beschleunigte Münzenbergs ZKAusschluss, den Ulbricht nun betrieb: »Im Volksfrontausschuss haben auf Veranlassung Münzenbergs die Sozialdemokraten weitere Zusammenarbeit abgelehnt bis zur Stellungnahme des ZK der Partei. Wir waren gezwungen, im Ausschuss nachzuweisen, dass die Sabotage der Arbeit nur der Durchsetzung persönlicher Interessen Münzenbergs dient. Sozialdemokratische Kampagne gegen KPD zwingt uns, die Parteifunktionäre Uber Fall Münzenberg zu informieren. [...] Schlagen Dir vor, das EKKI um Zustimmung zum Ausschluss Münzenberg [sie] zu ersuchen.« - »Verhandlungen Pariser Tageszeitung bis auf weiteres aussichtslos. Halten politisch notwendig, Deutsche Volkszeitung ab 1. November zweimal wöchentlich herauszugeben. Monatliches Defizit anfangs mindestens 60 000 Francs.« (2 Telegramme von Eiche [Walter Ulbricht] ans Politbüro, 30.9.1937; SAPMO-BArch, ZPA I 2/3/287, Bl. 218). - Da Münzenberg zu den wiederholt angeordneten Berichten über die PTZ-Verhandlungen nicht in Moskau erschien, liess die KOMINTERN die Verkaufsverhandlungen per Order an die KPF - die Mittelsmänner gestellt hatte - stoppen: »Wegen des Ankaufs des >Pariser Tageblattes< [sie] dürfen keinerlei Verpflichtungen eingegangen werden, bis hier Aussprache erfolgt. Auch wenn dadurch der Kauf nicht zustande kommt.« (Telegramm des EKKI-Sekretariats an [Maurice] Thorez, 7.12.1937; SAPMO-BArch, ZPA I 2/3/287, Bl. 272). Laut Wolffs Aussage versuchte Bernhard am 19.10.1937, den Drucker Marcel Schwitzguebel zur Fortführung der PTZ ohne Wolff zu bewegen. Dieser informierte Wolff, der daraufhin Bernhard kündigte und ihn bezichtigte, geheime Subventionen unterschlagen zu haben. Konkret handelte es sich um eine Unterstützung von 15.000 FF monatlich, die die PTZ im ersten Halbjahr 1937 von der französischen Regierung - vermutlich aus dem geheimen Pressefonds des Quai d'Orsay - erhalten hatte (SAPMO-BArch, ZPA 1 2/3/287, Bl. 261). Schlichtungsbemühungen Jacob Walchers, um den von Wolff angestrengten Gerichtsprozess zu verhindern, scheiterten; Walcher hinterbrachte Wolff Münzenbergs Drohung, dass »im Falle von eintretenden Schwierigkeiten für P. [Münzenberg] oder E. [Bernhard], A. [Wolff] binnen 24 Stunden aus O. [Frankreich] ausgewiesen würde« (Friedrich [i. e.?], Niederschrift aus dem Gedächtnis über eine Unterredung mit A. [Wolff], dem J. [Verleger], im Beisein von M. [Robert Breuer], dat. 28.10.1937; SAPMO-BArch, ZPA I 2/3/358, Bl. 118). Münzenberg soll darauf bei Wolff telefonisch dementiert und mit gerichtlichen Schritten gegen die Verbreitung von Walchers Behauptungen gedroht haben (Albert [Norden], Mitteilung über die weiteren Verhandlungen zum Kauf der PTZ, [27.11.1937]; SAPMO-BArch, ZPA I 2/3/287, Bl. 261). - Faktum ist, dass am 4.7.1939 gegen Wolff und Kurt Caro, der inzwischen auch gegen Bernhard und Münzenberg Partei ergriffen hatte, ein Ausweisungsbefehl der französischen Behörden erging (BAP, PTZ, N° 61, Bl. 83f.), der dank der Einschaltung des Staranwaltes Henri Torrès in den bereits erwähnten, bis Anfang Juli 1939 dauernden polizeilichen

verhandeln, um zu verhindern, »dass die J. [PTZ] ein Kampfblatt von P. [Münzenberg] gegen seine Partei werde« 149 . Die KPD leistet Zuschüsse für die PTZ; Ende November 1937 ist der Kaufvertrag abschlussreif, doch die KPD hat das Geld nicht sofort zur Verfügung und erhält deshalb ein Vorkaufsrecht bis zum 1.1.1938: »Wir müssen schnell handeln, da selbstverständlich bei den gegenwärtigen Auseinandersetzungen von entscheidender Bedeutung ist, ob Münzenberg die Zeitung hat oder wir« 150 , rät Walter Ulbricht, Münzenbergs entschiedenster Gegner. Um Bernhard bei der PTZ zu halten - denn die KPD wollte kein Partei-, sondern ein Tarnorgan schaffen —, zeigt sich Wolff bereit, die PTZ als Blatt der gesamten Volksfront-Gruppen fortzuführen und in eine Aktiengemeinschaft umzuwandeln, »damit nicht mehr ein Einzelner Besitzer der einzigen Tageszeitung der deutschen Opposition ist« 151 . Doch Wolffs Versicherungen erscheinen heute mehr als zweifelhaft. Zum einen, weil sich neben der Abschrift seines eben zitierten, zweiseitigen Originalschreibens an Bernhard vom 7.1.1938 auch ein sechsseitiger Briefentwurf vom 4.1.1938 1 5 2 in den Akten des Politbüros der KPD findet, nebst den gesammelten Abschriften153 zum Rechtsstreit um Bernhards Kündigung. Zum anderen, weil Wolffs Version der KPD-Beteiligung an der PTZ durch die Partei-Akten selbst dementiert wird. So schrieb er an Rudolf Olden, die Volksfront-Gruppe der KPD habe durch den Bankier Raymond Bernheim 154 der Gruppe um Bernhard eine 50-Prozent-Beteiligung an der Zeitung angeboten; ein erhaltener Brief Ernest Jouhants155, der

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Zwangsaufcnthalt abgemildert wurde (s. a. W. F. Peterson, The Berlin Liberal Press in Exile, a. a. O., S. 2210Friedrich [i. e.?], Niederschrift aus dem Gedächtnis über eine Unterredung mit A. [Wolff], dem J. [Verleger], im Beisein von M. [Robert Breuer], dat. 28.10.1937; SAPMO-BArch, ZPA I 2/3/358, Bl. 118. W. [alter Ulbricht] an »Lieber Freund« [Wilhelm Pieck], 27.11.1937; SAPMO-BArch, ZPA I 2/3/287, Bl. 255. Fritz Wolff an Georg Bernhard, 7.1.1938; BAP, NL Bernhard, N° 50, Bl. 24. - Dieses Originalschreiben ist bereits zitiert bei W. F. Peterson, The Berlin Liberal Press in Exile, a. a. 0 . , S. 204. Der Durchschlag des zitierten Originalschreibens Wolffs an Bernhard vom 7.1.1938 (BAP, NL G. Bernhard, N° 50, Bl. 24f) findet sich in der Postablage der PTZ (BAP, PTZ, N° 58, Bl. 2 8 0 , eine Abschrift davon in den KPD-Akten (SAPMO-BArch, ZPA I 2/3/358, Bl. 129f.). Dort findet sich auch ein - als Abschrift gekennzeichnetes, doch vermutlich nicht versandtes - öseitiges Schreiben Wolffs an Bernhard vom 4.1.1938 (SAPMO-BArch, ZPA 1 2/3/358, Bl. 192-197), das mit dem versandten Originalschreiben aus BAP, NL G. Bernhard, N° 50, Bl. 24f. in mehreren Textpassagen identisch ist. SAPMO-BArch, ZPA I 2/3/358, Bl. 120-132 enthält Abschriften der Korrespondenz zwischen Wolff und Bernhard bzw. ihren Anwälten, deren Originale sich in den Redaktionsakten der PTZ bzw. im Nachlass Bernhard befinden. Sie wurden vermutlich durch Wolff der KPD zugänglich gemacht. »Bernheim ist der Vertreter der Volksfront-Gruppe der KPD, die der anderen Gruppe, nämlich Heinrich Mann/Bernhard/Max Braun/Walcher das Angebot gemacht hat, gemeinsam die Pariser Tageszeitung zu übernehmen und weiterzuführen auf der Basis 50:50.« (Fritz Wolffan Rudolf Olden, 15.2.1938; BAP, PTZ, N° 81, Bl. 64-66, hierBl. 65. - Das Schreiben ist auch zitiert bei W. F. Peterson, The Berlin Liberal Press in Exile, a. a. O., S. 204). »Ich war erstaunt, dass bei der letzten Besprechung Sie völlig andere Vorschläge unterbreiteten, die sich nicht vereinbaren lassen mit den bisherigen Verhandlungen. Sie schlagen

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für die KPD als Käufer auftrat, schreibt indessen nicht nur Bernhard diese Initiative zu, sondern lehnt sie explizit ab! In demselben Brief an Olden behauptete Wolff auch, die KPD habe »im November und Dezember [1937; M. E.], gleichzeitig mit ihrem Angebot, die Zeitung gemeinsam mit den anderen Gruppen der Deutschen Volksfront zu übernehmen, der Tageszeitung ohne jede Bindung [...] einen Betrag von 102.900 Frcs [...] zur Verfügung gestellt«156. Doch zu besagtem Zeitpunkt stand Wolff, wie wir sahen, kurz vor dem Verkauf der Zeitung an die KPD und hatte ihr bereits Stellenneubesetzungen"7 zugesagt. Zur selben Zeit gaben auch Trotzkisten wie Maslow, die der KPD seit langem ein Dorn im Auge waren158, ihre Mitarbeit an der PTZ auf. Die neuen Quellen dokumentieren den Kampf, den KPD und Münzenberg in den Jahren 1936-1938 um die PTZ führten, und der selbst nach Münzenbergs ZK-Ausschluss im März 1938 bzw. nach Bernhards Niederlegung der Chefredaktion zum 12.1.1938 andauerte.159 Ein Brief des damaligen Mitarbeiters Kurt Kersten an seinen Freund Manfred Georg illustriert die verworrene Lage:

vor, dass wir uns mit 50 % an dem Unternehmen beteiligen sollen. [...] Ich würde diesem Vorschlag zustimmen, wenn der Zeitung dadurch gedient würde. Dies ist aber nicht der Fall.« [Ernest] Jouhant an »Sehr geehrter Herr Professor« [G.Bernhard], 26.5.1937; S A P M O BArch, ZPA I 2/3/358, Bl. 77f. - Dass Jouhant und Bernheim beide (evtl. von der K P F delegierte) Unterhändler für die KPD waren, ist somit erwiesen (s. dazu W. F. Peterson, T h e Berlin Liberal Press in Exile, a. a. O., S. 204). 156 157

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Fritz Wolff an Rudolf Olden, 15.2.1938; BAP, PTZ, N° 81, Bl. 65 (Hervorh. i. Orig.). »W.[olff] versprach mir, dass er uns direkt nach Überreichung des Betrages für die Option das Recht einräumen wird, folgende Posten von uns besetzen zu lassen: den Abonnentenbuchhalter, die Sekretärin von W.[olff], die Nachtsekretärin der Redaktion und den Pointcur (das ist derjenige, der in der Druckerei die Kontrolle über die ausgelieferten Zeitungen macht). Diese Funktionen, die wir besetzen würden, werden von grosser Bedeutung sein für die Zeit, wo wir weiter über den Kauf der Zeitung verhandeln werden, da sie uns über alles, was dort vorgeht, unterrichten würden.« (Albert [Norden], Mitteilungen über die weiteren Verhandlungen zum Kauf der PTZ [27.11.1937]; SAPMO-BArch, ZPA I 2/3/287, Bl. 265). - Die Redaktionsakten belegen, dass am 18.12.1937 der Setzer Richard Eiling bei der französischen Berufsorganisation seine Zulassung als »Pointcur« zwecks Anstellung bei der PTZ beantragte (BAP, PTZ, N° 3, Bl. 151/1), doch bereits zum 31.1.1938 wieder gekündigt wurde (BAP, PTZ, N° 3, Bl. 152/3). Der Verkauf der Zeitung an die KPD war nicht zustande gekommen! - Die Redaktionsakten (BAP, PTZ, N° 5/1, Bl. 91 und N° 6, Bl. 85) belegen ferner, dass 1937/38 Gertrud Kahle, die Frau von Hans Kahle, der früher im Militärischen Apparat der KPD tätig gewesen war und nach Hans Bcimlers Tod die XI. Internationale Brigade in Spanien befehligte, in der Administration (Abonnentenabteilung) der PTZ angestellt war. Möglicherweise hat sie auch der KPD als Informantin gedient. Vgl. Jean [Franz Dahlem] an »Lieber Freund« [Pieck], 8.6.1937; SAPMO-BArch, Z P A I 2/3/358, Bl. 81. - Die Verbindung von Karl Gröhl (Retzlaw) zur PTZ scheint der K P D unbekannt gewesen zu sein. S. den Brief Münzenbergs an »Lieber Freund« v. 24.12.1939; Archives Nationales Paris (fortan: AN), F7 15128, Dossier 3 (Nachdruck bei W. F. Peterson, The Berlin Liberal Press in Exilc, a. a. O., S. 267). Darin zitiert Münzcnberg Wolffs Aussage, noch »bis zum November 1938 erhebliche Gelder aus Moskau und von den Kommunisten« unter der Bedingung erhalten zu haben, »den Einfluss von Mün/.enberg zu bekämpfen«. - Münzenbergs Konflikt mit der KPD endete mit seinem Parteiausschluss, dem er durch die öffentliche Ankündigung seiner Trennung von der KPD (Alles für die Einheit, Die Zunkunft v. 10.3.1939) zuvorgekommen war (s. dazu auch: Tania Schlie, »Alles für die Einheit«. Zur politischen Biographic Willi Münzenbergs (1936-1940), M. A„ Universität Hamburg 1990).

Du möchtest also gern wissen, was mit der P. T. los ist. Das weiss kein Mensch. Der Drucker behauptet, es [sie] gehöre ihm, Bernhard erklärt, er habe nichts damit zu tun, Caro erklärt, er gehöre nicht der Redaktion an, in der er nur zu treffen ist, Wolff ist dort täglich anzutreffen und behauptet, das Blatt habe ihm nur durch Zufall gehört. Der dicke Misch sitzt und gibt beschriebenes Papier in Satz. Eine Gruppe erklärt, sie mache das Blatt weiter, wenn Bernhard Herausgeber und Chefredakteur werde. Die andere Gruppe will nicht, will einfach nicht. Details von unbeschreiblicher Delikatesse kann ich leider unmöglich schreiben, obwohl mir das Herz weh tut. - Das Ganze ist ein sog. Tohuwabohu; und das Blatt kann jeden Tag aufhören. Alles ist ein einziger Wirrwarr. Auch sonst streiten sie sich wie die Verrückten, eine solche Veitstänzerei habe ich noch nie erlebt. Im übrigen ist die Situation alle 12 Stunden anders.""

Bislang ungeklärt sind denn auch die Gründe für den politischen Kurswechsel, den die PTZ Mitte/Ende 1938 vornahm. Untrügliche Anzeichen hierfür waren u. a. der Redaktionseintritt von Anna Geyer16', die Kündigung Robert Breuers162 und Erich Kaisers163, kurz darauf auch Kurt Caros'64. Die Ankunft Joseph Bornsteins165 als neuem Chefredakteur machte ihn perfekt. Dieser dezidierte Antikommunist entstammte ausgerechnet dem Lager Leopold Schwarzschilds, seit dem »fTß-Skandal« Bernhards persönlicher Feind und Volksfront-Gegner. 166 War es wohl politischer Opportunismus oder ernster Gesinnungswandel, der Wolff nun veranlasste, sich an Bornstein zu binden?167

"" Kurt Kersten an Manfred Georg, 2.2.1938; DLA, N L M. Georg, N° 75.2986/1. 161 Anna Geyer (SPD) war die Frau des SOPADE-Mitglieds und Herausgebers des Neuen Vorwärts, Curt Geyer, und gehörte der PTZ-Redaktion vom 27.6.1938 bis zum 31.5.1939 an (s. die Daten in BAP, PTZ, N° 6, Bl. 63 -65 und N° 8, Bl. 6, die bisherige Angaben in der Forschungsliteratur korrigieren). Sic redigierte insbesondere die Emigrationsseite »Wohin auswandern?«. - W. F. Peterson (The Berlin Liberal Press in Exile, a. a. O., S. 151) wies bereits darauf hin, dass Wolff schon 1920/21 mit der damals noch der V K P D angehörenden Anna Geyer zusammengearbeitet hatte. 162 Robert Breuer wurde am 23.12.1938 fristlos gekündigt (BAP, PTZ, N° 3, Bl. 177). Als Kündigungsgrund nennt W. F. Peterson (The Berlin Liberal Press in Exile, a. a. O., S. 224 u. 228) eine Intrige von Breuer und Kaiser gegen Caro und Wolff, die unter polizeilichem Zwangsaufcnthalt standen. Politische Gründe - der Sozialdemokrat Breuer hatte in weitgehender politischer Isolation von der SOPADE Wolffs Verhandlungen mit der KPD unterstützt kamen vermutlich hinzu (s. unten). 16:1 Zusammen mit Breuer am 23.12.1938 fristlos gekündigt. 164 Z u m 15.1.1939 gekündigt. 165 Amtsantritt am 23.12.1938 laut Brief von Gerda Ascher an Manfred Georg, 20.4.1939; BAP, PTZ, N° 70, Bl. 167. - Den Lesern wurde der Wechsel erst in einer redaktionellen Notiz in PTZ Jg. 4 N° 884 v. 4.1.1939, S. 1 bekanntgegeben. 166 Als Folge des »PTß-Skandals« hatte Schwarzschild, von Poliakovs Unschuld überzeugt, Ende 1936 alle Brücken zu Bernhard und dem Volksfront-Ausschuss abgebrochen. Nach seinem Austritt aus dem Schutzverband deutscher Schriftsteller in Paris sowie aus dem von Bernhard präsidierten Berufsverband deutscher Journalisten in der Emigration gründete er den »Bund Freie Presse und Literatur«, in dem sich seine Parteigänger sammelten. - Auch Bornsteins Verhältnis zu Bernhard war seit langem gespannt: Er hatte bereits 1930 im Tage-Buch Bernhard wegen des »Ullstein-Skandals« angegriffen. 161 Wie W. F. Peterson, The Berlin Liberal Press in Exile, a. a. O., S. 231, bereits schrieb, schloss sich Wolff im Londoner Exil 1943 wiederum der kommunistischen »Bewegung Freies Deutschland in Grossbritannien« an. Seiner Charakterisierung Wolffs als »classical indepen-

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Möglicherweise erfolgte das politische Revirement im Zusammenhang mit den Verkaufsverhandlungen, die Wolff im Dezember 1938 mit Karl Spann führte. Es ist derzeit noch unklar, für wen dieser tschechoslowakische Emigrant stand, der ab 1.2.1939 in den Redaktionsakten als Chef der Inseratenabteilung erscheint.' 68 Nicht auszuschliessen ist, dass er Kontakt zur Prager SOPADE unterhielt.169 Eine weitere Vermutung wäre, dass die französische Regierung - insbesondere nach der Absetzung Pierre Comerts als Pressechef des Quai d'Orsay im Oktober 1938 - Druck auf Fritz Wolff ausgeübt hat.170 Dies legt nicht nur ein Schreiben Wolfis nahe, in dem er den Quai d'Orsay über die redaktionelle Umbesetzung informiert171, sondern auch ein weiterer Brief Kurt Kerstens an Manfred Georg:

dant socialist in search of a politica! home [who] typified the moral dilemma of the leftbourgeois Tageblatt circle« (ebd., S. 231), ist allerdings nicht zuzustimmen; vielmehr hat Wolff das Profil eines von allen Wendungen der KPD gebeutelten Alt-Kommunisten und ExKaders, der im Exil - vergeblich - nach politischen Alternativen sucht. "" Die »Urlaubsliste 1939« nennt als Eintrittsdatum den 1.2.1939 (BAP, PTZ, N° 8, Bl. 6); eine Personalliste verzeichnet Karl Spann, geb. am 18.9.1897 in Teschen, tschechoslowakische Staatsangehörigkeit, als »chef de publicité« (BAP, PTZ, N° 5, Bl. 9). Demnach besass Spann zumindest die Nutzungsrechte für den Annoncenteil, das wirtschaftliche Rückgrat der Zeitung. 169 War es Zufall, dass ab Februar 1939 in der PTZ zweimal wöchentlich Werbeanzeigen für den Neuen Vorwärts erschienen? Anna Geyer gehörte zu dem Zeitpunkt der PTZ-Redaktion an! Auch berichtete Albert Norden bereits im November 1937 seiner Partei, dass Jacob Walcher »in der nächsten Zeit nach Prag fahren wird, um mit Aufhäuser und Hertz zu verhandeln, um sie für die Gruppe [Bernhard/Simon/Münzenberg; M. E.] zu gewinnen.« (Albert [Norden], Mitteilung über die weiteren Verhandlungen zum Kauf der PTZ, [27.11.1937]; SAPMOBArch, ZPA I 2/3/287, Bl. 260). - Stichhaltige Beweise müssten indessen die Vermutung erhärten! 17(1

Im Zusammenhang mit der Verurteilung Wolffs und Bernhards 1938 in dem von Poliakov angestrengten Prozess zum »PTB-Skandal« notierte Albert Norden ein Gespräch mit Fritz Wolff, das dessen Version des Vorgangs wiedergibt: »W.[olff] sagte mir: >Wir bekamen damals von der Sûreté Générale die Mitteilung, dass Poliakov mit einem Herrn Schmolz von der deutschen Gesandschaft verhandle und dass die Verhandlungen die Zeitung beträfen. Darauf ging ich zum Kammerabgeordneten [Salomon] Grumbach, ein Freund von Willi M.[ünzenberg], und informierte ihn über die Mitteilung, die ich von der Sûreté Générale erhalten hatte, sowie von meiner Absicht, die Zeitung an mich zu bringen. Grumbach bestärkte mich und sagte, ich solle sofort handeln. Deshalb hat vor kurzem unser Anwalt, [Henri] Torrès, bei Grumbach interveniert und ihm gesagt, dass, falls die Verurteilung von B.[ernhard] und mir bestehen bliebe, er, Grumbach, in die Sache hineingezogen würde. Ich hoffe, dass Grumbach auf Grund dieser Intervention an zuständiger Stelle versuchen wird, die Sache aus der Welt zu schaffend« (Albert [Norden], Mitteilung über die weiteren Verhandlungen zum Kauf der PTZ, [27. 11. 1937]; SAPMO-BArch, ZPA I 2/3/287, Bl. 260). Ausserdem drohte der Prozess wegen Unterschlagung, den Wolff gegen Bernhard 1938 anstrengte, die geheimen Regierungsgelder für die PTZ an die Öffentlichkeit zu bringen. Möglicherweise intervenierten also der Quai d'Orsay oder sozialistische Kreise, um den öffentlichen Auseinandersetzungen ein Ende zu bereiten. Die konsultierten Akten Pierre Comerts im Archiv des Quai d'Orsay enthalten leider keine weiteren Hinweise.

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Direction/W.[olff] an M. le Directeur du Bureau de Presse du Ministère des Affaires Etrangères, 26.12.1938; BAP, PTZ, N° 3, Bl. 63. - Wolff gibt darin bekannt, dass Bornstein die politische Leitung [sie] der PTZ übernommen habe, und zitiert Schwarzschild als Leumund. Gleichzeitig meldet er den Austritt von Breuer und Kaiser und gibt die Versicherung ab, »dass die neue Redaktion unserer Tageszeitung ihrer Pflicht eingedenk (sei), ihren gesamten

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Die Sensation hier ist die >Pariser Tageszeitungverschiedenes< Geld gemacht hat; er hat (zur Zeit) ein Vorkaufrecht und die Sache wird wohl in Kürze perfekt werden. Inzwischen hat man aber schon Breuer und Kaiser aus der Redaktion geworfen, und dafür Bornstein und Misch eingesetzt. Dieser Wechsel vollzog sich ganz plötzlich und nicht ganz ohne Eingreifen höherer Gewalt. Man hat bei den Behörden wieder ein Mal [sie] die Nase von den Emigranten voll, d. h. von den Deutschen, wie Du Dir j a denken kannst. 172

»Schwamm drüber«, lautete denn auch die Parole Joseph Bornsteins in seinem Kommentar zur 1000. Nummer der PTZ im Mai 1939 - womit er nicht nur unliebsame Erinnerungen an den Kampf um die PTZ, sondern generell an das politische Engagement der Zeitung für die deutsche Volksfront gemeint haben dürfte. Denn wo die Zeitung im Vorjahr zumindest noch Appelle zur Einigung der deutschen Opposition veröffentlicht hatte, schienen solche in Joseph Bornsteins Augen bereits überflüssig.171 Entgegen dem früheren redaktionellen Anspruch, alle »Gruppen« und »Parteiungen« 174 der deutschen Opposition publizistisch zu repräsentieren (aufgrund dessen die Zeitung ja gerade in die politischen Fraktionskämpfe verstrickt worden war), vertrat Bornstein die Auffassung, »dass der Zwist in den Cliquen und Sekten der Emigration uns überhaupt nicht berührt« 175 . Dieser selbstgewählte Rückzug aus der politischen Öffentlichkeit stellte die deutlichste Absage an Georg Bernhards Erwartungen dar, die PTZ zu einem führenden Organ der deutschen Emigration zu machen. Gleichzeitig aber reflektiert er auch den spürbaren Umschwung einer öffentlichen Meinung, die nach dem Scheitern der Volksfront-Bewegung in Frankreich und innerhalb der deutschen Hitler-Opposition die realen Wirkungsmöglichkeiten der Exilpresse pessimistischer als in den Anfangsjahren beurteilte.

Einfluss innerhalb der deutschen Emigration geltend zu machen, damit diese die Bedingungen, unter denen sie das Gastrecht in Frankreich geniesst und für die jenes die Gegenleistung ist, strikt befolge« (ebd., Übers, d. Verf.). 172

Kurt Kersten an Manfred Georg, 28.12.38; DLA, N L M. Georg, N° 7 5 . 2 9 8 6 / 5 .

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Nochmals zu Wort kommen soll Kurt Kersten, der seine Eindrücke so schilderte: »Bornstein sitzt in der Pariser Tageszeitung, Caro sitzt, glaube ich, im Orkus. Bornstein macht das Blatt nicht uninteressant, aber natürlich in der Richtung der schwarzschildschen Politik, ohne ihre Schärfe. - Die K. P. hat ihren Leuten verboten dort zu arbeiten wie es ihnen auch verboten ist, an der >Zukunft< mitzuarbeiten; so werden den Leuten, die schon so geringe Publikationsmöglichkeiten haben, noch die paar Publikationsmöglichkeiten genommen.« (Kurt Kersten an Manfred Georg, 1.3.1938 [11939]; DLA, N L M. Georg, N° 75.2986/2).

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»Welchen Sinn haben die Parteiungen innerhalb der deutschen Opposition? Keinen! Denn nur die Einigkeit kann dem Machtlosen Macht verschaffen. Deshalb kennt die Pariser Tageszeitung lediglich ein Ziel: die Einigung Aller - über alle Gruppen hinaus!« Mit dieser Parole warb die PTZ für die Pluralität ihrer Mitarbeiter (PTZ Jg. 3 N° 823 v. 2 3 / 2 4 . 1 0 . 1 9 3 8 , S. 3).

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»Damit ergibt sich, dass der Zwist in den Cliquen und Sekten der Emigration uns überhaupt nicht berührt. W a s gewesen, kommt nicht wieder. Ein Zurückleuchten hat niemand bemerkt, woraus sich wohl ergibt, dass da nichts leuchtend niederging. Schwamm drüber! Wir sind niemandem verschrieben und niemandem feind. Lasst die Toten ihre Toten begraben!« (Redaktionell [J. Bornstein], Nummer 1000, PTZ Jg. 4 N° 1000 v. 19.5.1939, S. 1).

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2. Öffentlichkeit der deutschen Emigration und französische Öffentlichkeit

2.1. Zum Publikum von PTB und PTZ Der Reichstagsbrand vom 27. Februar 1933 hatte das Fanal gesetzt: Kommunisten, Sozialisten, Sozialdemokraten, Pazifisten und Gewerkschafter waren in die Illegalität untergetaucht oder überschritten die Grenze zu Nachbarländern wie der Tschechoslowakei, Österreich, Schweiz, Niederlande, Frankreich und dem Saarland, um der losbrechenden Verhaftungswelle zu entgehen. Angehörige geistiger Berufe wurden durch die öffentliche Verbrennung ihrer Werke und die Auflösung oder Gleichschaltung von Forschungs- und Bildungsinstitutionen ins Exil getrieben. Die deutsch-jüdische Bevölkerung emigrierte in dem Masse, wie ihre steigende Diskriminierung im täglichen Leben in offenen Pogrom umschlug: Der Boykott jüdischer Geschäfte am 1.4.1933, das Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom 7.4.1933, schliesslich die Nürnberger Rassengesetze vom 15.9.1935 und die »Reichskristallnacht« vom 9.11.1938 wurden zu Eckdaten der jüdischen Emigration. Bis Jahresende 1933 hatten rund 65.000 Flüchtlinge Hitlerdeutschland verlassen; 25-30.000 davon waren nach Frankreich gekommen. 1 Damit war Frankreich zu Beginn der Emigrationswelle das wichtigste Aufnahmeland deutscher Emigranten überhaupt. Dies änderte sich erst ab 1938 mit dem Beginn der jüdischen Massenemigration nach Palästina und Übersee. Eine recht grosszügig gehandhabte Asylpraxis hatte in Frankreich die rasche Zunahme der Flüchtlingszahlen im Frühjahr und Sommer 1933 ermöglicht. Bereits ab Herbst 1933 jedoch suchten die französischen Behörden den Emigrantenzustrom zu bremsen. Die Visaerteilung war nunmehr restriktiver, und 1934/35 wurde die Asylgesetzgebung generell verschärft. (Von dieser Verschärfung nicht betroffen waren die rund 6.000 Saaremigranten2, die ab Januar 1935 eintrafen,

1

Nach Werner Röder waren bis Jahresende 1933 60-65.000 Personen aus dem Reichsgebiet geflüchtet (W. Röder, Die deutschen sozialistischen Exilgruppen in Grossbritannien 1940-1945, Hannover 1968, S. 15). Kurt R. Grossmann, ehemaliger Sekretär der Deutschen Liga für Menschenrechte, geht für denselben Zeitraum von 59.000 Personen aus, von denen 42,4 % (rund 25.000) nach Frankreich geflohen seien (Kurt R. Grossmann, Emigration, a. a. O., S. 151). Dagegen bezifferte Norman Bentwich, der Flüchtlingshochkommissar des Völkerbundes, die Zahl der deutschen Flüchtlinge in Frankreich bereits im September 1933 auf 30.000 (N. Bentwich, The Refugees from Germany, April 1933 to December 1935, London 1936, S. 38).

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Zahlen nach Ursula Langkau-Alex, Volksfront für Deutschland?, a. a. O., S. 40. - Vgl. auch die Zahlen bei Hans-Walter Herrmann, Beiträge zur Geschichte der saarländischen Emigration 1935-1939, in: Jahrbuch ßr westdeutsche Landesgeschichte Jg. 4 (1978), S. 3 5 7 - 4 1 2 .

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da Frankreich die Kampagne für den Verbleib des Saargebiets unter Völkerbundsmandat unterstützt hatte.) Im Dezember 1935 bezifferte Heinrich Mann die Zahl der Emigranten in Frankreich auf 35.000. 3 Ein erneuter Anstieg war im zweiten Halbjahr 1936, während der ersten Volksfront-Regierung Léon Blums, zu verzeichnen; dieser war jedoch fast ausschliesslich auf die Massnahmen zur Legalisierung bislang ohne Aufenthaltserlaubnis in Frankreich lebender Emigranten zurückzuführen.4 Neue Legislationsverschärfungen erfolgten ab Mai 1938, um den nun auch aus Österreich und der Tschechoslowakei eintreffenden Flüchtlingsstrom zu hemmen. 5 Die Gesamtzahl deutscher Emigranten in Frankreich lag 1938 vermutlich bei 40.000. Das Haupthindernis für zuverlässiges Zahlenmaterial liegt in der Dunkelziffer derjenigen Emigranten, die sich, teils aus konspirativen Gründen, teils aus Angst vor den Behörden oder vor drohender Ausweisung, illegal in Frankreich aufhielten. Weitere statistische Probleme geben die ausserordentlich starke Remigration6 zumeist jüdischer Flüchtlinge während der ersten Emigrationsjahre sowie die zunehmende Rolle Frankreichs als Durchgangsland 7 für die Flucht nach Übersee (Vereinigte Staaten, Mexiko, Südamerika) auf. Von der Emigration waren grundsätzlich alle Bevölkerungsschichten betroffen, mochten auch ihre Motive verschieden sein. Die Mehrheit der Flüchtlinge hatte Deutschland als Opfer der nationalsozialistischen Rassenpolitik verlassen müssen. Die Zahlenrelation von aus »rassischen« und aus politisch-weltanschaulichen Gründen Verfolgten wurde Ende 1933 auf 100:20, 1935 auf 100:25 29 geschätzt.8 In absoluten Zahlen ergab dies bis 1935 ein Verhältnis von 16-19.000

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Hcinrich Mann, Rede vor dem Völkerbund, Die Neue Weltbühne (künftig: NWB) Jg. 31, N°51 v. 19.12.1935, S. 1599 1601, hier S. 1599 (auch in: H . M a n n , Verteidigung der Kultur. Antifaschistische Streitschriften u. Essays, hg. v. Werner Herden, Berlin u. Weimar 1971, S. 63 65). Vgl. Gilberl Badia, L'Emigration en France, ses conditions et ses problèmes, in: G. B. u. a., Les Barbelés de l'exil, a. a. 0 . , S. 11-95, s. bes. S. 24 -39 und S. 5 5 - 5 9 . - Für die entgegenkommende Haltung der Volksfront-Regierung Leon Blums zeugt auch die Einrichtung eines paritätisch besetzten Comité Consultatif pour les réfugiés allemands, dessen deutsche Vertreter Georg Bernhard, Willi Münzenberg, Albert Greszinski und der Rechtsanwalt Theodor Tichauer waren. (Tiehauer betreute lange Zeit die Rechtsberatung für Emigranten beim PTB.) Die französischen Vertreter des Comité Consultatif waren Paul Perrin, Salomon Grumbach, Raoul Lambert und Emile Kahn.

5

Vgl. Barbara Vormeicr, Législation répressive et émigration (1938-1939), in: G. Badia u. a., Les Barbelés de l'exil, a. a. O., S. 159 -167. Der Emigrant Wolf Franck (Führer durch die deutsche Emigration, Paris 1936, S. 57) nannte 1935 die Zahl von 18.000 »Repatriierten«. - Zur jüdischen Remigration s . a . Die jüdische Emigration aus Deutschland 1933-1941. Geschichte einer Austreibung. Ausstellung der Deutschen Bibliothek Frankfurt/Main unter Mitwirkung des Leo Baeck Instituts, New York, Frankfurt/M. 1985, S. 120. 1 Ruth Fabian u. Corinna Coulmas (Die deutsche Emigration nach Frankreich 1933, München u . a . 1976, S. 42) sprechen von 50-60.000 deutschen Flüchtlingen, die sich zwischen 1936 und 1939 in Frankreich aufgehalten haben sollen; eine Quellenangabe fehlt jedoch. * Ursula Langkau-Alex, Volksfront für Deutschland?, a. a. O., S. 41. - Die Problematik einer solchen Unterscheidung liegt indessen auf der Hand; viele Israeliten waren auch aus politischen Gründen Hitlergegner. Für die Einschätzung des Kräfteverhältnisses zwischen parteilich organisierten, politisch aktiven Emigranten und der Mehrheit unpolitisiertcr jüdischer Emi-

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politisch-weltanschaulichen Emigranten gegenüber 65.000 jüdischen Emigranten. Die Exilforschung hat versucht, die Relation von jüdischer und politisch-weitanschaulicher Emigration für Frankreich umzurechnen. Untersuchungen zufolge kann um die Jahreswende 1935/36 (bei einer Gesamtzahl von 35.000 Emigranten in Frankreich) von mindestens 7.400, höchstens 9.500 politischen Emigranten ausgegangen werden. 9 Diese wurden wie folgt nach ihrer Parteizugehörigkeit differenziert: 10 3.000 Sozialdemokraten, 3.000 bis 5.500 Kommunisten, mindestens 300 Mitglieder der Sozialistischen Arbeiterpartei, der KPD-Opposition, des Internationalen Sozialistischen Kampfbundes und der Linken Opposition, die sich nochmals annähernd unterteilen lassen", 500 Pazifisten und Demokraten sowie 250 Katholiken. Nach 1936 war der Anteil der politischen Emigranten jedoch allgemein rückläufig. 12 Geographisch konzentrierte sich die Emigration (insbesondere die politisch Aktiven und die Intellektuellen) 1933/34 auf die Städte Paris und Strassburg; die französische Administration setzte in der Folgezeit über eine selektive Erteilung der Arbeitserlaubnis eine Umverteilung auf die Provinzen durch. 13 Für Paris und Umgebung zählte die Polizeipräfektur bis 31.8.1933 6.320, zum 28.11.1933 7.304 Flüchtlinge aus Deutschland. 14 Die Zahl der monatlichen Neuankömmlinge schätzte die Präfektur von April bis August auf 1.500, im September auf 500 und von Oktober bis November 1933 auf 3-400. Die Zahlen berücksichtigen indessen nur die polizeilich gemeldeten Emigranten. In Wirklichkeit dürfte die Zahlen der in Frankreich lebenden Emigranten höher gelegen haben. 15 Eine weitere Polizeistatistik für Paris gibt Aufschluss über die soziale Zusammensetzung der Emigration im Jahre 193316: Erfasst wurden 7.195 Flüchtlinge aus Deutschland, davon 4.039 mit deutscher, 1.412 mit polnischer Nationalität und 1.122 Staatenlose. Unter den 4.039 deutschen Emigranten befanden sich

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granten ist sie d e n n o c h n o t w e n d i g . Eine t e r m i n o l o g i s c h e U n t e r s c h e i d u n g z w i s c h e n (politisch m o t i v i e r t e n ) » E x i l a n t e n « und (rassisch motivierten) » E m i g r a n t e n « , w i e sie h ä u f i g von d e r politischen E m i g r a t i o n g e f o r d e r t wurde, ist mit Blick auf die E n t w i c k l u n g d e r nationalsozialistischen R a s s e n p o l i t i k j e d o c h abzulehnen. Ebd. Ebd. Gilbert B a d i a ( L ' E m i g r a t i o n en France, a. a. 0 „ S. 4 3 ) nennt f ü r die S A P 200, f ü r die K P O m a x i m a l 7 0 u n d f ü r den ISK 3 0 Mitglieder (keine A n g a b e n f ü r die L O ) . W e r n e r R ö d e r , auf den sich d i e oben zitierten B e r e c h n u n g e n von U. L a n g k a u - A l e x stützen, schätzt den G e s a m t a n t e i l der politischen Emigration auf » h ö c h s t e n s 8 - 1 0 v. Hd. d e r j ü d i s c h e n E m i g r a t i o n « ( W . R ö d e r , Die deutschen sozialistischen E x i l g r u p p e n in G r o s s b r i t a n n i e n , a. a. 0 . , S. 17). Vgl. Gilbert B a d i a , L ' E m i g r a t i o n en France, a. a. O., S. 30. Ebd., S. 18. Gilbert B a d i a zitiert (ebd., S. 19) Angaben d e r Pariser Hilfskomitees, die a m 2 3 . 9 . 1 9 3 3 7 . 3 0 0 E m i g r a n t e n ( g e g e n ü b e r 6.600 bei der Préfecture de Police) festgestellt hatten. D o c h selbst d i e H i l f s k o m i t e e s k o n n t e n nur A n g a b e n über die von ihnen e f f e k t i v betreuten E m i g r a n t e n machen. D a die zitierten Statistiken von Ende 1933 s t a m m e n , geben sie keinen A u f s c h l u s s über d i e soziale M o b i l i t ä t (und über die soziale D e k l a s s i e r u n g ) w ä h r e n d der späteren E m i g r a t i o n s j a h r e in F r a n k r e i c h .

rund 8 Prozent Arbeiter, mehr als 20 Prozent Angestellte, 20 Prozent Freiberufler und 20 Prozent Intellektuelle (30 Prozent ohne Angabe). Andere Zahlen lieferte Ende 1933 das sozialdemokratische Pariser Matteotti-Hilfskomitee. Die jeweiligen Berufsgruppen wurden beziffert mit: 37 Prozent Arbeiter (davon 34 % Facharbeiter), 17 Prozent freie und künstlerische Berufe (davon 8 % Journalisten und Schriftsteller, 3 % ausübende oder bildende Künstler, 3 % Ärzte und Zahnärzte, 3 % Juristen), 26 Prozent kaufmännische Berufe und Gewerbetreibende, 3 Prozent Beamte, 6 Prozent Lehrlinge, Schüler und Studenten, 11 Prozent ohne Angabe. 17 Der Anteil der Arbeiter und Angestellten differierte in den beiden Statistiken also stark'8, während der Prozentsatz der freien und künstlerischen Berufe mit 17-20 Prozent relativ stabil war. In derselben Statistik des Matteotti-Komitees fanden sich auch Angaben zur Altersstruktur. Danach waren 60,5 Prozent der Emigranten bis zu 30 Jahre alt, 26,1 Prozent hatten zwischen 30 und 40 Jahre; über 60jährige emigrierten praktisch nicht mehr (0,6 %). Auch waren die Emigranten zu 89 Prozent männlich; von den emigrierten Frauen waren 3 Prozent verheiratet. (In den Folgejahren sollte sich der Anteil der Frauen und Kinder jedoch erhöhen.19) Für spätere Jahre liegen keine weiteren Statistiken zur Sozialstruktur der deutschen Emigration in Frankreich vor, und selbst die eben zitierten Angaben insbesondere des Matteotti-Komitees — sind nur schwer generalisierbar. Denn wenn die Matteotti-Angaben auf die politisch-weltanschaulich motivierte Emigration annähernd zutreffen mochten, so dürften sie kaum für die jüdische Emigration, die drei Viertel der Gesamtemigration repräsentierte, Gültigkeit haben. Greift man auf die Sozialstruktur der jüdischen Bevölkerung 20 in Deutschland

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Zahlen nach den Angaben des Matteotti-Komitees in: Deutsche Freiheit Jg. 2 N° 31 v. 7.2.1934. Dieselbe Statistik, leicht modifiziert, auch in PTB Jg. 2 N° 50 v. 30.1.1934, S. 3. Der höhere Anteil von Arbeitern und Angestellten in den Statistiken des Matteotti-Komitees ist sicher dadurch zu erklären, dass es als sozialdemokratisches Hilfskomitee verstärkt von der Arbeiterschicht in Anspruch genommen wurde. Dies zumindest schien auch die Auffassung des PTB zu sein, das die Matteotti-Statistik kommentierte: »Charakteristisch scheint die verhältnismässig grosse Zahl der Intellektuellen, obschon gerade bei diesem Komitee ein höherer Prozentsatz von Handarbeitern als in anderen gemeldet ist. Unter den letzteren zeigt sich, dass überwiegend gelernte Kräfte aus Deutschland herausgegangen sind, geschulte Facharbeiter, die draussen sicher ordentliche Arbeit leisten werden.« Das Blatt wies auch auf eine unterrepräsentierte Gruppe hin, die in Frankreich gesucht wurde: »Sehr gering ist allerdings die Zahl der Emigranten aus landwirtschaftlichem Beruf: sie betrug bei der vorliegenden Untersuchung noch nicht 1 Prozent.« (PTB Jg. 2 N° 50 v. 30.1.1934, S. 3).

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Nach den Angaben von U. Langkau-Alex (Volksfront für Deutschland?, a. a. O., S. 45) verschob sich später der Anteil auf 70 % Männer, 20 % Frauen und 10 % Kinder und Jugendliche. 2 " Lässt man die Befunde der Volkszählung des Deutschen Reiches vom 16 6.1933 noch gelten, so betrug der Anteil der Glaubensjuden im Vergleich zur Gesamtbevölkerung (diese Angaben jeweils in Klammern) in Land- und Forstwirtschaft 1,7 (gegenüber 28,9) Prozent, in Industrie und Handwerk 23,1 (gegenüber 40,4) Prozent, in Handel und Verkehr 61,3 (gegenüber 18,4) Prozent, im öffentlichen Dienst und privaten Dienstleistungssektor 12,5 (gegenüber 8,4) Prozent und für Häusliche Dienste 1,4 (gegenüber 3,9) Prozent (s. Die jüdische Emigration aus Deutschland 1933-1941, a . a . O . , S. 7). - S. weiter Monika Richarz (Hg.), Jüdisches

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im Jahre 1933 zurück, so tritt deren Unterrepräsentation im primären, und deren Überrepräsentation im tertiären Sektor hervor. Die Sozialstruktur der jüdischen Bevölkerung erklärt, weshalb die Ge.vam/emigration aus Deutschland überdurchschnittlich hohe Anteile von Freiberuflern und Intellektuellen oder von selbständig 21 in Handel und Verkehr arbeitenden Personen umfasste. Berücksichtigt man ausserdem die Tendenz der jüdischen Bevölkerung zum grossstädtischen Leben 22 , so hält man den Schlüssel für die Konzentrierung der deutschen Emigration auf den Grossraum Paris in der Hand. Die geographische Verteilung und soziale Schichtung der deutschen Emigration in Frankreich bilden einen wichtigen Anhaltspunkt für die Zusammensetzung des Publikums von PTB und PTZ. Als weitere empirische Basis zur Bestimmung des Publikums können einige Angaben zur Entwicklung von Auflagenzahl und Verbreitungsgebiet der Zeitung herangezogen werden. Nach einer Startauflage von 6.000 Exemplaren 25 im Dezember 1933 stieg die Auflage des PTB rasch an und erreichte im Frühjahr 1936 1.100 Abonnenten sowie 13.000 Exemplare im freien Verkauf. 24 In den folgenden Jahren war die Auflagenzahl mit Ausnahme des Jahres 1938 relativ stabil geblieben: »Von 11 000 bis 12 000 im Jahr 1937 [fiel] sie auf 8 0 0 0 - 9 500 im Jahr 1938, erreicht aber 1939 wieder mehr als 10 000 Interessenten.« 25 Präzise Zahlen Zu Auflage, Verkauf und Verbreitungsgebiet während der ersten vier Monate des Jahres 1937 enthält die Bilanz der Unternehmensprüfung durch die KPD. 26 Danach betrug die Auflage im Schnitt 11.360 Exemplare, die sich wie folgt unterteilten: Abonnenten 1.315 (= 11,6%), Freiexemplare 300 (= 2,6 %), Pariser Strassenhandel 2.618 (= 23 %), Metro und Bahnhofsbuchhandlungen 1.212 (= 10,7%), Provinz 1.782 (= 15,7%), Ausland 2.729 (= 2 4 % ) , Sonstige 1.404 (davon 500 Exemplare en bloc nach Spanien, 130 nach England) (= 12,4 %). Von der Gesamtauflage wurden durchschnittlich 55 Prozent verkauft, 45 Prozent kamen als Remittenden zurück. Der Vertrieb der Zeitung erfolgte durch die französische Firma Hachette (zu einem kleinen Teil auch, in Umgehung des Exklusivvertrags, im Eigenvertrieb

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Leben in Deutschland. Bd. 3, Sclbstzcugnissc zur Sozialgeschichtc 1918 -1945, Stuttgart 1982, S. 1 4 - 2 5 . Über 45 % aller jüdischen Erwerbspersonen waren in ihrem Beruf selbständig (s. Die jüdische Emigration aus Deutschland 1933-1941, a. a. O., S. 6). Laut der Volkszählung von 1933 lebten 7 0 , 8 % der jüdischen Bevölkerung in Grossstädten mit mehr als 100.000 Einwohnern und 15,4% auf dem Lande (s. ebd., S. 5). Léon Poliakov, L'Auberge des musiciens, Paris 1981, S. 45. Angaben nach W. F. Peterson (The Berlin Liberal Press in Exile, a. a. O., S. 83), der sich dabei auf ein Schreiben von Hachette an die PTZ v. 16.6.1936 (BAP, PTZ, N° 51, Bl. 73) stützt. Hélène Roussel u. Lutz Winckler, Pariser Tageblatt/Pariser Tageszeitung: Gescheitertes Projekt oder Experiment publizistischer Akkulturation?, a. a. O., S. 121. Albert [Norden], Auflage, Vcrtricbsvcrzeichnis, Verkaufspreis, Rabatt und Remitlendcn; SAPMO-BArch, ZPA I 2/3/358, Bl. 86 [!87] (s. Anhang dieser Arbeit). - Die über hundert Akten zu Abonnements, Abbestellungen, Adressenänderungen und Vertrieb aus dem Redaktionsarchiv der PTZ (BAP, PTZ, N° 377 -389 und N° 390 483) konnten im Rahmen dieser Arbeit nicht ausgewertet werden.

durch Depositäre und Kolporteure). Die Aufstellung des Vertriebsgebiets zum Zeitpunkt der KPD-Unternehmensprüfung zeigt, dass die Zeitung zu mindestens 55 Prozent in Paris27 und der französischen Provinz und zu höchstens 40 Prozent im Ausland vertrieben wurde. Nennenswerte Mengen gingen vor allem in die umliegenden deutschsprachigen Länder -- Schweiz, Holland, Österreich - und in Länder mit einem hohen Anteil deutschsprachiger Bevölkerung bzw. deutscher Emigranten: Belgien, Luxemburg, England, Tschechoslowakei, Rumänien. 28 (Eine Sonderrolle hatte 1936 kurzfristig England gespielt, wo Fritz Wolff den Vertrieb intensivieren und evtl. gar eine Londoner Redaktion29 einrichten wollte; das Projekt ging jedoch in der Finanzkrise des Spätherbstes 1936 unter.) Der Auslandsvertrieb erfuhr in den Folgejahren eine zunehmende Einschränkung30, bedingt durch die nationalsozialistischen Gebietsannexionen, den Kriegsbeginn sowie durch zeitweilige Verbote31 der Zeitung. Im März 1938 hatte die PTZ sogar in der französischen Provinz den freien Verkauf wegen Unrentabilität eingestellt und war dort nur noch im Abonnement erhältlich.12 Ungeachtet der Lückenhaftigkeit dieser Angaben treten doch zwei Tatsachen zutage: Die Auflagenzahl von PTB und PTZ lag vergleichsweise etwa ebenso hoch wie die der grossen Wochenschriften des Exils in Frankreich, so Schwarzschilds Neues Tage-Buch und Münzenbergs ZukunftNachweisbar war auch

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Mindestens ein Viertel der Gesamtauflage war also für den Vertrieb im Grossraum Paris bestimmt: Pariser Strassenhandel allein 23 %, sowie starke Anteile beim Abonnements-, Metro- und Bahnhofsverkauf. 28 Auffallend hoch war auch die Zahl (504) von Exemplaren nach Syrien, die zu 42 % verkauft wurden. Vergleichsweise niedrig lagen die Zahlen für Skandinavien, Ost- und Westeuropa, und in die USA ging in den ersten vier Monaten des Jahres 1937 gar nur ein einziges Exemplar! 29 Eine interne Notiz Wolffs zum Vertrieb der PTZ sah vor: »London-Officc ab 15. August: Redaktion, Administration und Inseratenannahme« (W/K, 17.7.1936; BAP, PTZ, N° 64, Bl. 261). Die Adresse des Londoner Büros lautete: Schaureth, 65 Denhigh Street, London SW1. An der Planung beteiligt waren Otto Lehmann-Russbueldt und Arkadij Gurland; s. dazu u . a . ein Schreiben O. Lehmann-Russbueldts an Wolff v. 18.8.1936 (BAP, PTZ, N° 65, Bl. 288) und A. Gurlands an die PTZ v. 23.9.1936 (BAP, PTZ, N° 64, Bl. 483). 111 Die Preisangaben im Kopf der Zeitung lassen die Verschiebung des Verbreitungsgebiets ausserhalb Frankreichs erkennen. 1936 wurden genannt: Belgien, England, Holland, Jugoslawien, Österreich, Portugal, Palästina, Polen, Rumänien, Schweiz, Spanien, Tschechoslowakei, Ungarn. 1939 erschienen im Kopf: Belgien, England mit Dominions, Luxemburg, Holland, Jugoslawien, Skandinavien, Finnland, Palästina, Polen, Rumänien, Schweiz, Nordund Südamerika. 31 Verboten wurde die Zeitung z . B . 1938 in Danzig und in Österreich; bei Kriegsausbruch verbot auch die Schweiz den Verkauf der PTZ (s. W. F. Peterson, The Berlin Liberal Press in Exile, a. a. O., S. 85). 32 S. die redaktionelle Ankündigung in PTZ Jg. 3 N° 640 v. 22.3.1938, S. 2 und in N° 644 v. 6.3.1938, S. 2. " Nach Vertriebsunterlagen der Zukunft schwankte ihre Auflage zwischen 8.000 und 11.000 Exemplaren (AN F7 15126/1/b). Die Auflage des Neuen Tage-Buchs wurde von Hans-Albert Walter (Deutsche Exilliteratur 1933-1950. Bd. 4 Exilpresse, a. a. O., S. 73) auf »maximal 1 5 - 1 6 000 Exemplare, wahrscheinlich weniger« geschätzt, die aktion erreichte nach einer Startauflage von 3.000 Exemplaren nur eine Höchstauflage von 7.000 Exemplaren, davon

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eine im Laufe des Erscheinungszeitraums zunehmende Konzentrierung auf das französische Verbreitungsgebiet und insbesondere auf den Grossraum Paris. Zur Preisgestaltung von PTB und PTZ lässt sich folgendes feststellen: Der Einzelpreis betrug im Strassenverkauf 1934 zunächst 50, darauf (1937) 75 Centimes, später (1938) 1 Franc.34 Im Vergleich zu den anderen Exilorganen, und erst recht zur französischen Tagespresse35, war dies relativ teuer: So kostete z. B. die antifaschistische Wochenzeitung die aktion, die Anfang 1934 in derselben Druckerei 36 wie das PTB, im selben Format und mit 6 Seiten Umfang wöchentlich hergestellt wurde, nur 25 Centimes pro Ausgabe.37 Preisvergleiche für spätere Jahre erlauben die Wochenzeitungen Die Deutsche Freiheit von Max Braun (1,50 Francs im Jahre 1937) und Die Zukunft von Willi Münzenberg (1938 1,50 Francs, 1939 2 Francs). Die regelmässige Lektüre der einzigen Tageszeitung der deutschen Emigration in Frankreich hatte also einen hohen Preis, der sich teils durch Rabatte, teils durch sonstige Vergünstigungen38 für Abonnenten etwas reduzierte: PTB und PTZ kosteten im Jahresabonnement innerhalb Frankreichs 145 (1934), dann nur 100 (1936) und schliesslich 185 Francs (1937). Noch höher lagen die Kosten für ein Auslandsabonnement: Hier stieg der Jahrespreis von 265 (1934) auf 300 Francs (1936); ab 1.7.1938 musste in Valuta bezahlt werden. 39 Wer auf die Unterstützung von Hilfskomitees angewiesen war, konnte eine solche Summe gewiss nicht aufbringen! Eine letzte, unkalkulierbare Schwierigkeit für die Bestimmung des Publikums ergibt sich aus der anzunehmenden Multiplikatorenfunktion von Abonnenten, Einzelkäufern, Institutionen oder Orten mit Publikumsverkehr (Buchhandlungen, Bibliotheken, Emigranten-Cafes), an denen die Zeitung ausgelegen hatte oder weitergereicht wurde. So wurde z. B. die Zeitung in der Deutschen Freiheitsbibliothek in Paris gesammelt und war auch dort einsehbar.40

wurden 1.000 Exemplare kostenlos verteilt, und 1.500 blieben unverkauft (Archives du Quai d'Orsay, Série Europe 1930-1940, Fonds Sarre vol. 287, Bl. 39). 14 Ein grosser Teil des Einzelpreises wurde jedoch von den hohen Herstellungs- und Vertriebskosten geschluckt. Albert Nordens Angaben zufolge betrug der durchschnittliche Ncttoerlös für die ersten vier Monate 1937 je nach Vertriebsart: a) im Abonnementsvertrieb innerhalb Frankreichs: 36 Centimes, in Belgien und Luxemburg 30 cts., im sonstigen Ausland 4 6 - 6 0 cts; b) im freien Verkauf: Pariser Strassenverkauf 42 cts; Metro- und Bahnhofsverkauf 37 cts., frz. Provinzverkauf 4 cts. [!!], Auslandsverkauf 31 cts. (Albert [Norden], Auflage, Vertriebsverzeichnis, Verkaufspreis, Rabatt und Remittenden; SAPMO-BArch, ZPA I 2/3/358, Bl. 86 [!87]; s. Anhang dieser Arbeit). 35 Ein Vergleich verbietet sich wegen der verschiedenen Existenzbedingungen. Dennoch zur Preisorientierung: Das Massenblatt L'Oeuvre kostete 1936 30 Centimes, L'Ordre 1939 50 Centimes täglich. Edition et Imprimerie Rapide de la Presse (E. I. R. P.) von Otto Zeluk (4, rue Saulnier, Paris 9C). 17 Ein Jahresabonnement kostete 1933 in Frankreich 12, im Ausland 32 Francs. Vielleicht war dieser Preis zu niedrig kalkuliert; die aktion wurde im Februar 1934 eingestellt. 38 Die Zeitung versuchte, durch Werbegeschenke (Bücher, Federhalter, etc.) und Preisausschreiben, durch kostenlose Rechtsberatung und ein Reisebüro ihre Abonnentenzahlen zu steigern, da die Abonnements einen gesicherten Absatz bedeuteten. " Z. B. 25 holländ. Gulden oder 300 tschechische Kronen. 4,1 »Wie Sie ja wissen, sind bei uns die ganzen bisher erschienenen Jahrgänge der >PT< vorrätig

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Auflagenzahlen, Preisgestaltung und Verbreitungsgebiet von PTB und PTZ lassen folgende Rückschlüsse auf ihr Publikum zu: Mit einer durchschnittlichen Auflagenzahl von 10-12.000 Exemplaren wandten sich PTB und PTZ an ein Publikum, das - ungeachtet der Schwankungen über die sechs Erscheinungsjahre hinweg — zu mindestens 50 Prozent in Frankreich ansässig war und in seiner Sozialstruktur grösstenteils mit der deutschen Emigration in Frankreich übereinstimmen dürfte. (Zum geringeren Teil wird die sogenannte colonie allemande4I, d. h. deutsche Reichsbürger und Auswanderer, die z. T. schon Jahrzehnte zuvor nach Frankreich gekommen waren, die Leserschaft gestellt haben.) Rund die Hälfte der in Frankreich ansässigen Leser wohnte in Paris und Umgebung. Für die anderen 40 bis maximal 50 Prozent der Leser in deutschsprachigen Ländern sowie in Ländern mit deutschsprachigen Minderheiten kann, mangels Unterlagen, allenfalls vermutet werden, dass sie überwiegend der bürgerlichen Schicht entstammten bzw. Emigranten mit relativ sicherem Auskommen waren. Eine besondere Kategorie von Lesern des PTB bzw. der PTZ sei extra erwähnt. Zum einen kamen verdiente Mitarbeiter oder sonstige umworbene Persönlichkeiten gelegentlich in den Vorzug eines Freiabonnements. 42 Die treuesten und genauesten Leser waren jedoch zweifelsohne die Beamten der französischen Polizei und der Spionagedienste (Deuxième Bureau) nebst den Angehörigen der Deutschen Botschaft in Paris, die aus PTB und PTZ unermüdlich Informationen über die deutsche Emigration zusammentrugen. 43 Die gesammelten empirischen Daten dienten uns dazu, das Publikum von PTB und PTZ weitmöglichst zu beschreiben. Doch wie definierte die Redaktion selbst ihren Leserkreis, welche Öffentlichkeit wollte sie ansprechen? Auffällig ist die Beharrlichkeit, mit der die Zeitung in den verschiedenen Phasen ihrer Existenz an der einmal formulierten Willenserklärung Georg Bernhards festhielt, ein Blatt aller Deutschen zu sein, »die ausserhalb der Kommandogewalt des Dritten Reiches leben« 44 . Die Bezeichnung als »Emigrantenblatt« hatte Bernhard ausdrücklich zurückgewiesen und das PTB als Blatt aller antihitlerischen »Aus-

und für Jedermann [sie] zum Einsehen offen.« (Deutsche Freiheitsbibliothek (Alfred Kantorow i e z ) an Erich Kaiser, 3.1.1938; BAP, PTZ, N ° 72, Bl. 55). 41

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Rita Thalmann (L'Emigration allemande et l'opinion publique en France de 1933 à 1936, in: La France et l ' A l l e m a g n e 1 9 3 2 - 1 9 3 6 . Communications présentées au Colloque francoallemand tenu à Paris du 10 au 12 mars 1977, Paris 1980, S. 1 4 9 - 1 7 2 ) zitiert Quellen des Quai d'Orsay, wonach sich 1933 2 0 . 0 0 0 deutsche Einwanderer auf französischem B o d e n befanden. Sie hatten sicher das Publikum der von 1 9 2 5 - 1 9 3 4 erschienenen Pariser Zeitung v o n Hubert Delestré gestellt. E i n e Bezugsliste von Freiabonnements, deren Zahl Albert Norden 1937 auf 3 0 0 beziffert hatte, ist nicht bekannt; sicherlich erhielten bekannte Persönlichkeiten der deutschen Emigration, wahrscheinlich auch französische Politiker, Freiabonnements. Selbst sporadische Mitarbeiter w i e z. B. Bert Brecht Hessen sich Gratis-Abonnements zuschicken (Margarete Steffin an PTZ, 28.2.1939; B A P , PTZ, N ° 70, Bl. 57). Zeitungsausschnitte und Kommentare zu Artikeln aus PTB und PTZ finden sich s o w o h l im Archiv der Pariser Polizeipräfektur als auch im Archiv des Auswärtigen Amtes in Bonn. Georg Bernhard, Unsere Aufgabe, PTB Jg. 1 N ° 1 v. 12.12.1933, S. 1.

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landsdeutschen« designiert.45 Ignorierte die Redaktion die tatsächliche Struktur ihres Publikums? Wie erklärt sich der Widerspruch von angestrebter Öffentlichkeit und empirisch eingrenzbarem, realem Publikum? Die weite Definition des Adressatenkreises im redaktionellen Sprachgebrauch des PTB konnte kommerziellem Kalkül entspringen, um ein potentielles Publikum von Nicht-Emigranten nicht von vornherein auszuschliessen. (Auf die colonie allemande als potentielle Leserschicht wurde bereits hingewiesen.) Andererseits war der angesprochene Adressatenkreis auch abhängig von der Stellung, die die Zeitung in der Öffentlichkeit - und zwar in der Frankreichs wie der des Exils - einnahm. Dieser Frage soll nun nachgegangen werden.

2.2. Die Stellung von PTB und PTZ im Spannungsfeld von französischer und Emigranten-Öffentlichkeit Verglichen mit der hohen Zahl politischer oder wirtschaftlicher Emigranten anderer Nationalitäten waren die 25-30.000 deutschen Flüchtlinge, die sich zum Jahresende 1933 in Frankreich aufhielten, fast eine quantité négligeable46; in absoluten Zahlen entsprach ihr Aufkommen in etwa dem Stand der deutschen Emigration von 1830 (!) und lag weit unter dem der Jahre um 1848.47 Und doch spalteten gerade die emigrierten Hitlergegner ab 1933 die französische Öffentlichkeit. Die Gründe für diesen nationalen Dissens waren zum einen ökonomischer, zum andern politischer Natur. Die deutsche Emigration fiel in Frankreich in eine Periode wirtschaftlicher Rezession, die bis 1938 andauerte.48 Der Zustrom von Emigranten bedeutete eine unliebsame Konkurrenz für die französischen Arbeitskräfte und eine zusätzliche Belastung für soziale Hilfseinrichtungen. Zweitens akzentuierte sich in Frankreich während der dreissiger Jahre die politische Kluft zwischen dem rechten und dem linken Lager. Der rechtsextremistische Putschversuch vom Februar 1934 und die Volksfrontregierung des Sozialisten Léon Blum vom Juni 1936 markierten das rasche Umschlagen politischer Kräfteverhältnisse, aber auch das politisch-ideologische Konfliktpotential.

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»Das Pariser Tageblatt will aber kein Emigrantenblatt sein. Es ist seinem von A n f a n g an erklärten Programm treu geblieben, das Blatt aller derjenigen Ausländsdeutschen zu sein, die zu stolz sind und zu viel Ehre haben, um Hitlerdeutsche zu werden.« (Georg Bernhard, » 1 0 0 « , PTB Jg. 1 N ° 100 v. 22.3.1934, S. 1). 46 Zur selben Zeit befanden sich u. a. 518.000 polnische, 4 9 0 . 0 0 0 spanische und rund 8 0 0 . 0 0 0 italienische Emigranten in Frankreich, die zumeist schon vor der Jahrhundertwende zugewandert waren. (Zahlen nach Rita Thalmann, L'Emigration allemande et l'opinion publique en France de 1933 à 1936, a. a. O., S. 149.) Zuletzt hatte die weissrussische Emigration in den 20er Jahren 2 0 0 . 0 0 0 Personen nach Frankreich geführt (vgl. PTB Jg. 2 N ° 2 0 9 v. 4 . 7 . 1 9 3 4 , S. 3). 47 S. dazu Jacques Grandjonc, Demographische Grundlagenforschung, in: Transferts. L e s relations interculturelles dans l'espace franco-allemand (18 e et 19 e siècle), hg. v. Michel Espagne u. Michael Werner, Paris 1988, S. 83 96. 4 " S. dazu Henri Dubief, Le Déclin de la Troisième République 1 9 2 9 - 1 9 3 8 , Paris 1976, S. 1 1 - 3 8 .

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Unterstützung fanden die deutschen Emigranten in der Regel bei der französischen Linken 49 , Ablehnung bei der französischen Rechten. Die Linke, von den Kommunisten (PCF) zu den Sozialisten (SFIO) und Radikalsozialisten, solidarisierte sich mit den Emigranten und ergriff für sie im Namen von Internationalismus und Antifaschismus in Aufrufen, Demonstrationen und Solidaritätskomitees öffentlich Partei.50 Die französische Rechte (Katholiken, Nationalisten, Royalisten) kultivierte dagegen in ihren Presseorganen51 Preussenfurcht und Angst vor bolschewistischer Unterwanderung. Auch die französischen Israeliten verhielten sich gegenüber ihren eintreffenden Glaubensgenossen eher distanziert und beschränkten sich zumeist auf humanitäre Hilfeleistungen 52 , aus Furcht, der Zustrom insbesondere der Ostjuden könne in Frankreich erneut den Antisemitismus schüren.53 Denn die Erinnerung an die Dreyfus-Affäre 54 war im kollektiven Gedächtnis noch nicht ausgelöscht, als Léon Daudet55 und Charles Maurras in der Action Française erneut gegen die Juden zu Felde zogen, während Pierre

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' S. Jacques Droz, Le Parti Socialiste devant la montée du nazisme, in: La France et l'Allemagne 1932-1936, Communications présentées au Colloque franco-allemand tenu à Paris du 10 au 12 mars 1977, Paris 1980, S. 173-189; Jean Bruhat, Le PCF face à l'hitlérisme, de 1933 à 1936, ebd., S. 191-211. 50 Die Parteipresse der Kommunisten (L'Humanité), der Sozialisten (Le Populaire) und der Radikalsozialisten (L'Oeuvre) unterstützte die deutsche Emigration publizistisch. Hilfskomitees wurden von der II. (Comité Matteotti) und der III. Internationale (Secours Rouge International) getragen. - Zur Arbeit der Hilfskomitees s. bes. Jacques Omnès, L'Aide aux émigrés politiques (1933-1938). L'exemple du Secours rouge, de la Ligue des Droits de l ' H o m m e et du Parti socialiste, in: G. Badia u . a . , Les Bannis de Hitler, Paris 1984, S. 6 5 - 1 0 3 . 51 Das Spektrum reichte von konservativen Organen wie L'Ordre, Le Figaro, La Croix bis zur rechtsextremen Presse (Le Matin, L'Action Française, Le Petit Journal, Gringoire). 52 Das wichtigste jüdische Hilfskomitee war das Comité National d ' A i d e et d'Assistance aux Victimes de l'Antisémitisme en Allemagne von Baron Rothschild, Vize-Präsident des Pariser Konsistoriums. Das Comité National wurde von den französischen Behörden als einziger Ansprechpartner betrachtet. Symptomatisch war die Reaktion auf eine im Juli 1937 von Georg Bernhard und Max Strauss zusammen mit französischen Mitgliedern des Jüdischen Weltkongresses (Léonce Bernheim, Maxime Piha, Sylvain Cahn) versuchte Gründung eines Comité des Réfugiés Israélites Allemands. Diese wurde abgelehnt mit der Begründung, dass das Comité National unpolitische, rein philantropische Hilfe leiste, während ein neues Komitee wohl nur den Zweck einer linken politischen Gruppierung verfolgen könne. (Archives de Préfecture de Police de Paris - künftig zit. APP - N° BA 1813, chemise (Mappe) 2.) - Weitere humanitäre Hilfe leisteten das American Joint Distribution Committee und die Quäker. S. dazu Jean Baptiste Joly, L'Aide aux émigrés juifs: le Comité national de secours, in: G. Badia u. a., Les Bannis de Hitler, a. a. 0 . , S. 3 7 - 6 4 ; ders., L'Assistance des quakers, ebd., S. 105-116. 55 S. dazu David H. Weinberg, Les Juifs à Paris de 1933 à 1939, Paris 1974. 54 Der Hauptmann Alfred Dreyfus war 1894 in einem Indizienprozess des Hochverrats angeklagt worden. Justizmanipulationen und offensichtlicher Antisemitismus hatten zu seiner Verurteilung geführt. Sie löste eine breite Protestwelle aus, zu deren Wortführer sich 1898 der Schriftsteller Emile Zola in seinem berühmten Offenen Brief an den Präsidenten der Republik (J'accuse, in: L'Aurore v. 13.1.1898) machte. 1906 wurde Dreyfus rehabilitiert. 55 Er hatte zur Zeit der Dreyfus-Affäre zusammen mit Edouard Drumont in La Libre Parole zu den vehementesten Wortführern des Antisemitismus gezählt.

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Dreyfus, der Sohn des Hauptmanns, einem jüdischen Hilfskomitee vorstand.56 Zudem hatten einige politische Affären und Kriminalfälle in der französischen Öffentlichkeit negative Bilder und Vorurteile gegen (jüdische) Emigranten verstärkt, so die Stavisky-Affäre 57 , die Affaire Weidmann58 und die Affaire GrynszpanS9. Auf aussenpolitischem Terrain schliesslich fürchtete die französische Regierung bereits in den Jahren 1933-35, die deutschen Emigranten könnten die Beziehungen zum Dritten Reich belasten, und die Nationalsozialisten ihrerseits setzten alles daran, die Emigranten als politische »Hetzer« zu diskreditieren. Ein unbestreitbarer Erfolg der NS-Propaganda war es, dass deutsche Hitlergegner im Dezember 1938 unter Hausarrest gestellt oder aus Paris verbannt wurden, solange Reichsaussenminister Joachim von Ribbentrop mit Pomp empfangen wurde. 60 Noch unwillkommener wurden die deutschen Emigranten 1939 nach dem Hitler-Stalin-Pakt (tags darauf wurden alle Organisationen der III. Internationale auf französischem Boden verboten), und erst recht nach Kriegsbeginn: Ihre Internierung als »feindliche Ausländer«61, ohne Unterscheidung zwischen Hitlergegnern und Nationalsozialisten, war die bitterste Erfahrung für alle diejenigen, die seit 1933 aus Deutschland geflohen waren. So enthielt das politische Klima Frankreichs jener Jahre in nuce alle Elemente des politischen Antagonismus, der die Nation 1940 in Résistance und Kollaboration spalten sollte. 62

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Das Comité des Juifs persécutés en Allemagne, dem Pierre Dreyfus vorstand, war von der Ligue Internationale contre l'Antisémitisme (LICA) gegründet worden. Präsident der LICA war Bernard Lecache. Die LICA sowie die französische Menschenrechtsliga (Ligue des Droits de l ' H o m m e ) von Victor Bäsch standen als linke Organisationen in Opposition zum Comité National d ' A i d e et d'Assistance aux Victimes de l'Antisémitisme en Allemagne des Barons Rothschild. Ein weiteres Hilfskomitee, das Comité mondial d'aide aux Victimes du Fascisme hitlérien, präsidiert von den Professoren Langevin, Lévy-Bruhl u. a., war eine Gründung von Willi Münzenberg. Alexandre Stavisky, russisch-jüdischer Emigrant und Bankier, hatte unter Mitwirkung französischer Politiker grosse Summen unterschlagen und darauf einen öffentlichen Skandal bewirkt. Sein Tod (Selbstmord?) im Frühjahr 1934 löste eine Regierungskrise aus. Der Deutsche Eugen Weidmann hatte 1937 in Paris sechs Morde begangen; im Juni 1939 wurde er öffentlich hingerichtet. Ihm wurden Beziehungen zur Deutschen Botschaft in Paris nachgesagt. S. a. Roger Colombani, L'Affaire Weidmann. La sanglante dérive d ' u n dandy allemand au temps du Front populaire, Paris 1989. Am 7.11.1938 hatte der illegale deutsch-jüdische Emigrant Herschel Grynszpan auf den Sekretär der deutschen Botschaft in Paris, Ernst vom Rath, ein Attentat verübt. Das Attentat hatte den Vorwand für die »Reichskristallnacht« vom 9./10. November 1938 geliefert. Zur deutsch-französischen Annäherungspolitik der 30er Jahre vgl. Alfred Kupfermann, Le Bureau Ribbentrop et les campagnes pour le rapprochement franco-allemand 1934—1937, in: Les Relations franco-allemandes entre 1933 et 1939, Colloques internationales du CNRS, Paris 1976, S. 8 7 - 9 8 . S. hierzu u. a. die (autobiographischen) Berichte von: Hanna Schramm u. Barbara Vormeier, Menschen in Gurs. Erinnerungen an ein französisches Internierungslager, Worms 1977; Lion Feuchtwanger, Unholdes Frankreich, Mexiko 1942 (Neuausgabe u. d. T. Der Teufel in Frankreich, Frankfurt/Main 1986); Bruno Frei, Die Männer von Vernet, Berlin 1950. S. dazu u. a.: Henri Noguères, Histoire de la Résistance en France, 5 Bde., Paris 1967-1981; Robert Paxton, La France de Vichy 1940-1944. Vichy et la collaboration: un bilan, Paris 1973; Pascal Ory, Les Collaborateurs 1940-1945, Paris 1976; Henri Amouroux, La Grande

Dieser geteilten Aufnahme in der französischen Öffentlichkeit hatte die deutsche Emigration Rechnung zu tragen. Speziell die Exilpresse bekam immer wieder den Zwiespalt zwischen ihrem Willen, das nationalsozialistische Regime aktiv zu bekämpfen und als Gegenöffentlichkeit zur NS-Propaganda zu wirken, und dem ihr behördlich auferlegten Verbot politischer Betätigung - insbesondere natürlich der Einmischung in die französische Innen- und Aussenpolitik - zu spüren.63 Wenn auch eine Zensur vor Kriegsbeginn nicht stattfand, so verfolgten die französischen Behörden die Berichterstattung der Emigrantenblätter aufmerksam und intervenierten in Einzelfällen dagegen. Über die vom französischen Pressegesetz aus dem Jahre 1881 geforderte Nennung eines französischen Staatsbürgers als Verantwortlichen im Sinne des Presserechts (gérant) hinaus waren die deutschen Exilorgane daher häufig durch die (formale) Einsetzung von französischen Besitzern gesichert. (Einen französischen Besitzer hatten z. B. die Wochenzeitungen die aktion und Münzenbergs ZukunftM) Auch PTB und PTZ hatten selbstverständlich einen französischen gérant65, doch ihre juristischen Inhaber waren zwei Emigranten, Poliakov und Wolff. Gerade deshalb konnten sie auf die Protektion einflussreicher französischer Beamter und Politiker nicht verzichten: Mentoren von PTB bzw. PTZ waren der sozialistische Abgeordnete Salomon Grumbach66, Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses im Parlament, sowie der Senator Henry Bérenger67 und Pierre Comert, Chef der Presse- und Informationsabteilung des Quai d'Orsay. Ihnen verdankte die Zeitung nicht nur politische Informationen aus erster Hand, sondern

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Histoire des Français sous l'Occupation, 10 Bde., Paris 1976-1993; Jean-Pierre Azéma, De Munich à la Libération 1938-1944, édition revue et mise à j o u r Paris 1979; Henry Rousso, Le Syndrome de Vichy, Paris 1987. Mit dem Hinweis auf das Verbot politischer Betätigung hatte der Quai d'Orsay dem Journalisten Berthold Jacob die Gründung der geplanten Wochenschrift Der Kampf untersagt. Das Aussenministerium erinnerte die Emigranten daran, »qu'il leur est volontiers donné asile sur notre territoire mais à la condition formelle de s'abstenir de toute activité politique sous peine d'expulsion immédiate« (Lettre du Ministère des Affaires Etrangères du 3 mai 1933, Archives du Quai d'Orsay Z34/5A; zit. n. R. Thalmann, L'Emigration allemande et l'opinion publique en France 1933 à 1936, a. a. O., S. 153). Berthold Jacob, der bereits in Carl von Ossietzkys Weltbühne geheime Rüstungspläne des Dritten Reiches enthüllt hatte, leitete in Frankreich den Unabhängigen Zeitungsdienst. Zweimal (1935 und 1941) von Gestapo-Agenten entführt, verstarb er 1944 in NS-Haft. Als Besitzer der Zukunft fungierte der französische Abgeordnete Guy Menant. Kurt Kerstcn erklärte dies als Vorsichtsmassnahme: »Man hat ja das Blatt hier so in jeder Beziehung gesichert, dass es nicht verboten werden kann (Es müsste denn der Faschismus kommen).« (K. Kersten an M. Georg, 28.12.1938; DLA, NL M.Georg, N° 75.2986/5). Als gérant fungierten Lerat (PTB N° 1 - N ° 912), Marcel Stora (PTZ N° 1 - N ° 727) und Jean Leclerq (ab PTZ N° 728). Grumbach veröffentlichte gegen ein Gehalt von 1.000 Francs monatlich in der Zeitung regelmässig unter Pseudonym Artikel zur französischen Innen- und Aussenpolitik. Bereits erwähnt wurde, dass Grumbach beim Wechsel vom PTB zur PTZ ins Vertrauen gezogen worden war; unklar bleibt vorerst, wie weit dessen politische Rückendeckung reichte. H. Bérenger war Vorsitzender des Senatsausschusses für Auswärtige Angelegenheiten und Repräsentant Frankreichs bei der Flüchtlingskonferenz des Völkerbundes in Evian.

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sicherlich auch die erwähnte finanzielle Unterstützung durch den geheimen Pressefonds des Quai d'Orsay. (Nachweislich unterstützt wurde übrigens auch Willi Münzenbergs Wochenzeitung Die Zukunft.6*) Wenig bekannt ist über die Verbindungen von PTB und PTZ zur französischen Presse. Einige ihrer Mitarbeiter waren Mitglieder in französischen Journalistenverbänden, zuvorderst natürlich Georg Bernhard, der ehemalige Präsident des Reichsverbandes der deutschen Presse.69 Doch nennt das Adressenverzeichnis der Association professionelle de la presse étrangère en France für 1935 auch Kurt Caro, für 1938 Robert Breuer, Wolf Franck und Gerda Ascher als Mitglieder. 70 Weitere Mitarbeiter der Zeitung waren Mitglieder des Syndicat de la presse étrangère, das ausschliesslich akkreditierte Korrespondenten von Tageszeitungen aufnahm, so 1938 u. a. Gertrud Isolani, Harry Kahn und Herbert Weichmann.71 Journalistische Kontakte zu französischen Presseorganen waren indessen seltener. Von öffentlicher Bedeutung war die Verbindung zu der in Toulouse erscheinenden radikalsozialistischen Tageszeitung La Dépêche, in der Chefredakteur Georg Bernhard und Heinrich Mann zwischen 1933 und 1940 regelmässig, Alfred Kerr und Theodor Wolff gelegentlich politische Kommentare veröffentlichten. 72 Weitere Redakteure und feste Mitarbeiter von PTB und PTZ publizierten mitunter auch in Zeitschriften der französischen Linken (Europe, L'Europe Nouvelle, Regards, Vendredi) und in französischen jüdischen Zeitschriften (Cahiers Juifs, Samedi).11 Freundschaftlich-kollegiale Beziehungen existierten zur

S. den vertraulichen Brief von Chefredakteur Werner Thormann an Ernest Pezet v. 27.10.1939 (AN F7 15127/1/a): »Lc Quai d'Orsay a reconnu l'utilité d ' u n tel journal [Die Zukunft; M. E.] et l'a subventionné jusqu'au début de la guerre par une subvention mensuelle de 50.000 Francs.« - Das ebenfalls in Paris erscheinende Neue Tage-Buch Leopold Schwarzschilds soll eine Unterstützung durch die tschechoslowakische Regierung erhalten haben (s. Kurt R. Grossmann, Emigration, a. a. O., S. 45). 69 Bernhard war Mitglied der Association professionelle de la presse étrangère en France; nach dem Gerichtsprozcss zur PTB-Affäre trat er 1938 aus. 711 Annuaire de la Presse française, Paris 1935 bzw. 1938. - Weitere dort aufgeführte Mitglieder waren 1938 u. a. die freien Mitarbeiter Theodor Fanta (Das interessante Blatt, Wien), Iwan Heilbut (National-Zeitung, Basel), T. N. Hudes (Glos Poränny, Lodz), Alfred Polgar (Der Tag, Wien) und Louise Straus-Ernst (Neue Zürcher Zeitung). 71 S. ebd. die Eintragungen von G. Isolani (Bohemia, Prag), H. Kahn (News Review, London) und H. Wcichmann (Prager Tagblatt). - Des weiteren wurden dort u. a. genannt: Ilja Ehrenburg (Izvestia, Moskau), Friedrich Sieburg (Frankfurter Zeitung) und Bohumil Sméral, dem die K O M I N T E R N 1936 die Führung der Pariser Münzenberg-Unternehmungen übertragen hatte und der als akkreditierter Korrespondent der Prager Zeitung Rude Pravo registriert war. 72 S. Propos d'exil. Articles publiés dans La Dépêche par les émigrés du IIIe Reich. Introduction par Alfred Wild, Toulouse 1983. Besitzer und Chefredakteur der Dépêche war der radikalsozialistische Senator Maurice Sarraut, der Bruder des mehrmaligen Ministers und Regierungschefs Albert Sarraut. " S. das Verzeichnis französischer Pressebeiträge deutscher Emigranten bei Albrecht Betz, Exil und Engagement. Deutsche Schriftsteller im Frankreich der dreissiger Jahre, München 1986, S. 2 4 0 - 2 8 0 . - Nicht darin enthalten sind u. a. die Beiträge von Richard Dyck und Arkadij Maslow in Vendredi, die dort dasselbe Pseudonym wie in PTB/PTZ benutzten: Dyck (Ps. René Dufour) veröffentlichte in Vendredi N° 9 v. 3.1.1936, S. 5 einen Beitrag über den »Fall Knut Hamsun«; Maslow (Ps. Malam) veröffentlichte zwei Beiträge: »Sur la guerre des ondes

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Volksfront-Zeitung Vendredi74 und zur radikalsozialistischen Tageszeitung L'Oeuvre15, während die versuchte Kontaktaufnahme mit der Wochenzeitung La Flèche von Gaston Bergery76, der damals eine radikal-bolschewistische Tendenz verfolgte, erfolglos blieb. Mehr noch, La Flèche veröffentlichte 1938, nach dem Ausscheiden Bernhards aus der Chefredaktion der PTZ, einen feindseligen Kommentar, der dessen »Abhalfterung«77 als Folge interner Machtkämpfe nach einem Komplott gegen PTB- Verleger Poliakov bezeichnete und der Bernhard und Wolff zu divergierenden Stellungnahmen78 in diesem Blatt provozierte. Noch kompromittierender war ein Bericht der rechtsextremen Zeitung Candide, der Teil einer Pressekampagne gegen Pierre Comert war und der dessen Einsatz für die deutsche Exilpresse im allgemeinen, für die PTZ im besonderen blossstellte. 79 Eine Anspielung von Candide auf die geheime Finanzhilfe des Quai d'Orsay nötigte Fritz Wolff und Kurt Caro sogar zu einem Dementi, um einen öffentlichen Skandal zu verhindern.80 Doch drohte die Gefahr nicht nur von der rechtsextremen Presse, vielmehr war seit dem Scheitern der zweiten Volksfront-Regierung Léon Blums das gesamte politische Klima in Frankreich zunehmend emigrantenfeindlicher geworden. Erheblich dazu beigetragen hatte die sich zuspitzende internationale Lage: Der »Anschluss« Österreichs im März 1938 und schliesslich das Münchner Abkommen vom September desselben Jahres hatten den Franzosen die drohende Kriegs-

en Espagne« und »Les méthodes de la radio-propagande hitlérienne« in Vendredi N ° 4 1 v. 14.8.1936, S. 3 bzw. N° 47 v. 25.9.1936, S. 3. Erich Gottgetreu, Palästina-Korrespondent der PTZ, berichtete auch für die Zeitschrift Samedi. Hebdomadaire illustré de la vie juive (N° 14 v. 3.4.1936, S. 5; N° 18 v. 2.5.1936, S. 8; N° 25 v. 27.6.1936, S. 1). Und Wolf Franck äusserte sich mehrmals in Europe zu »Questions allemandes« (Europe N° 163 v. 15.7.1936, S. 397; N° 169 v. 15.1.1937, S. 121; N° 184 v. 15.4.1938, S. 41). 74 Zu dem Artikel Richard Dycks in Vendredi s. vorausgeh. Anm. - Frédéric Drach pflegte den Kontakt zu Chefredakteur Louis Martin-Chauffier und liess Vendredi eine Dokumentation zum Prozess gegen David Frankfurter, der 1936 in Davos den NSDAP-Landesführer Wilhelm Gustloff ermordet hatte, zukommen (BAP, PTZ, N° 72, Bl. 4 2 - 4 4 ) . 75 Auch hier hatte Drach den Kontakt zu Georges de la Fouchardière geknüpft (BAP, PTZ, N° 72, Bl. 6 7 - 6 9 ) . In der Sache D. Frankfurter hatte die Zeitung auch Madeleine Jacob, Journalistin bei L'Oeuvre, eingeschaltet (BAP, PTZ, N° 72, Bl. 89). 76 Zu Bergerys weiterem Werdegang s. Philippe Burrin, La Dérive fasciste. Doriot, Déat, Bergery 1933-1945, Paris 1986. 77 So hiess es dort: »Ces luttes viennent d'avoir pour épilogue le limogeage >silencieux< de M. Georg Bernhard. On prête à ce dernier l'intention de lancer un troisième journal avec l'appui du fameux Willy [sic] Münzenberg.« (Redaktionell, L'Etrange Histoire du »Pariser Tageszeitung«, La Flèche N° 107 v. 26.2.1938, S. 3). - Gerüchte über Bernhards und Münzenbergs Bemühungen um Max Brauns Deutsche Freiheit waren offenbar bis zu La Flèche durchgedrungen! 78 S. dort die Erklärung Bernhards, er sei freiwillig aus der Redaktion ausgeschieden (La Flèche N° 111 v. 25.3.1938, S. 2) und das Dementi Wolffs (N° 112 v. 1.4.1938, S. 2). Dass der Verband Freie Presse und Literatur die Auseinandersetzung um die PTZ schürte, lässt ein Kommentar zum Gerichtsurteil gegen Bernhard vermuten (La Flèche N° 109 v. 11.3.1938, S. 3). 79 Redaktionell, Les Brumes du Quai d'Orsay, Candide N° 750 v. 28.7.1938, S. lf. *" Le »Pariser Tageszeitung« (Zuschrift von Fritz Wolff und Kurt Caro v. 2.8.1938, in: Candide N° 752 v. 11.8.1938, S. 2).

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gefahr zu Bewusstsein gebracht. Geradezu bezeichnend für die paralysierende Kriegsfurcht war es, dass ein liberaler Schriftsteller wie Georges Duhamel in der PTZ aus Rücksicht auf deutsche Interessen (!) nicht gedruckt werden wollte: V o u s s a v e z que j e suis de tout coeur avec vous, mais il me semble préférable de ne pas donner l'impression en A l l e m a g n e que m e s articles sont inspirés par l'émigration. Je préfère donc qu'ils ne soient pas publiés dans votre journal. Cela vaut mieux pour la cause que j e défends. 8 1

Und Kurt Kersten, damals Mitarbeiter der PTZ, resümierte die Lage so: »Wie lange die Blätter hier noch erscheinen können, ist ganz fraglich.« 82 Um jeder Verwechslung mit der Hitler-Presse zuvorzukommen, erschien die PTZ seit dem 30.4.1939 mit dem französischen Untertitel Quotidien Antihitlérien à Paris, während noch das PTB den unverfänglicheren Untertitel Quotidien en langue allemande getragen hatte. Trotz dieses im Verlauf der Jahre äusserst schwankenden Rückhalts in der französischen Öffentlichkeit hatte die deutsche Emigration neben Presseorganen wie PTB/PTZ auch zahlreiche Verlagshäuser, kulturelle Einrichtungen, politische und soziale Organisationen (Parteien und Gruppen, Berufsverbände, Hilfskomitees etc.) in Frankreich hervorbringen können. Zusammen bildeten diese Unternehmen und Gruppierungen eine Art Mikrokosmos, der den spezifischen Kommunikationsraum der deutschen Emigranten in diesem Land inhaltlich wie institutionell absteckte; sie verliehen der Öffentlichkeit der deutschen Emigration in Frankreich ihr spezifisches Profil.83 Seit Beginn des Exils war Frankreich bzw. Paris zum Zentrum der politischen Emigration geworden. Bis 1935 befand sich hier der Sitz der Auslandsleitung des Zentralkomitees der KPD, zwischen 1936 und 1939 deren Organisationsleitung für das Ausland. Hohe KPD-Funktionäre und ZK-Mitglieder lebten hier, teils legal, teils illegal - manche noch nach Kriegsbeginn.84 Kommunistische Splittergruppen wie die KPD-Opposition (KPO), Trotzkisten, sozialistische Gruppen wie

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Georges Duhamel an »Monsieur« [Robert Breuer], 10.10.1938; B A P , PTZ, N ° 68, Bl. 24. Zuvor hatte Breuer Duhamel um die Nachdruckgenehmigung des Artikels »Ténèbres du IIIe R e i c h « aus dem Figaro v o m 7.10.1938 ersucht (br/a an Duhamel, 7 . 1 0 . 1 9 3 8 ; B A P , PTZ, N ° 68, Bl. 25). K. Kersten an M. Georg, 11.12.1938; D L A , N L M. Georg, N ° 75.2986/4. Einen Überblick über die politischen und kulturellen Organisationen und Strukturen der deutschen Emigration in Frankreich gibt Jean-Michel Palmier, Weimar en exil. L e destin d e l'émigration intellectuelle allemande antinazie en Europe et aux Etats-Unis, 2 Bde., Paris 1988 (s. bes. Bd. 1, S. 2 7 4 - 3 2 3 ) , weshalb hier auf ausführliche Darstellung verzichtet wird. Weitere Abrisse oder Einzeldarstellungen auch bei: Gilbert Badia u. a., L e s Barbelés de l'exil, a. a. O.; ders., Les Bannis de Hitler, a. a. O.; Dieter Schiller u. a., Exil in Frankreich, a. a. O. Nach 1 9 4 0 existierte die Parteileitung der K P D illegal in Toulouse weiter, von w o aus ab 1943 auch das Comité A l l e m a g n e Libre pour l'Ouest (Nationalkomitee Freies Deutschland im Westen) operierte (s. hierzu u. a. Résistance. Erinnerungen deutscher Antifaschisten, hg. v. Dora Schaul, Frankfurt/M. 1973; Florimond Bonté, Les Antifascistes allemands dans la Résistance, Paris 1969).

die Revolutionären Sozialisten und Neu Beginnen, die Sozialistische Arbeiterpartei (SAP) und der Internationale Sozialistische Kampfbund (ISK) hatten hier Stützpunkte. Auch einzelne Vorstandsmitglieder des Prager Exilvorstands der Sozialdemokratischen Partei (SOPADE) lebten hier seit 1933, bis 1938 der übrige Vorstand nachfolgte. Öffentlichen Niederschlag fand diese Konzentration politischer Parteien und Gruppen in Frankreich bzw. Paris zuvorderst in einer intensiven publizistischen Aktivität. Quantitativ betrachtet, nahm die deutsche Emigration in Frankreich die Spitzenposition in der gesamten Exilpublizistik ein: Mindestens 167 deutsche Exilorgane existierten nachweislich in diesem Land, davon 131 in Paris und sechs in unmittelbarer Umgebung. 85 Unter ihnen befanden sich die Parteiorgane von KPD (Deutschland-Informationen des ZK der KPD), KPO (Gegen den Strom), ISK (Die Sozialistische Warte), SAP (Neue Front), Neu Beginnen (Marxistische Tribüne) und (ab 1938) der SOPADE (Neuer Vorwärts). Ebenso dazu gehörten die Blätter einiger politischer Schlüsselfiguren wie Max Braun (Deutsche Freiheit) und Willi Münzenberg (Der Gegen-Angriff, Deutsche Volkszeitung, Die Zukunft, Krieg und Frieden), parteinahe Zeitschriften wie Die Neue Weltbühne (ab 1938) und parteilich unabhängige Zeitschriften wie die aktion und Das Neue Tage-Buch. Hinzu kamen Nachrichtendienste wie Coopération86, die Jüdische Telegraphenagentur*1, inpressm und der Unabhängige Zeitungsdienst89. Einen weiteren, ebenso beachtlichen Teil der Öffentlichkeit der deutschen Emigranten stellte das Verlagswesen dar. Auch hier zeigt die Forschung, dass die deutsche Emigration in Frankreich bzw. Paris in der Verlagstätigkeit des Exils

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In Lieselotte Maas' Handbuch der deutschen Exilpresse 1933-1945, a. a. O., sind insgesamt 442 Exilorgane nachgewiesen. Davon erschienen 167 in Frankreich, 65 in der Tschechoslowakei, 49 in Grossbritannien und 24 in den Niederlanden. Auch im Städtevergleich lag Frankreich an der Spitze: Paris (131 Exilorgane), Prag (52), London (41) und Amsterdam (21). Coopération. Service de Presse pour le Rapprochement International, 33, av. des C h a m p s Elysées, Paris 8e; Inh. Dr. I. Révész. - Eine erhaltene Mitarbeiterliste (AN, F7 15123, c h . l ) führt 86 Namen international bekannter Politiker, Journalisten u. Wissenschaftler auf. Das Korrespondenzbüro verlangte für den Abdruck 300 (!) Francs pro Artikel (vgl. Coopération an A. Koestler/D/e Zukunft, 14.12.1938; AN, F7 17123, eh. C). Ob PTB und PTZ dank Georg Bernhard, der schon vor 1933 in Berlin der Leitung von Coopération angehört hatte, von Vorzugstarifen profitierte, war nicht auszumachen. Jedenfalls bezog die Zeitung die Artikel und Kommentare internationaler Politiker wie Henry Bérenger, Winston Churchill, Duff Cooper, Edouard Herriot, Carlo Sforza und Wickham Steed in der Regel über Coopération. Die Zentrale der Jewish Telegraph Agency befand sich in London. PTB wie PTZ waren bei der nach Prag emigrierten deutschen Zweigstelle (Inh. Michel Wurmbrand) abonniert, die im April 1938 nach Paris (40, rue du Colisée, Paris 8C) verlegt werden musste. Die Gebühren für den Nachrichtendienst beliefen sich 1938 auf 200 Francs monatlich (Fanny Wurmbrand an PTZ, 21.4.1938; BAP, PTZ, N° 65, Bl. 96). Agence de presse indépendante, 56, Faubourg Saint-Honoré, Paris 8C. (Inhaber Kurt Rosenfeld und Sandor Rado). Inpress wurde redigiert von Maximilian Scheer und Vladimir Pozner (vgl. M. Scheer, So war es in Paris, a. a. O., S. 72-84). Zunächst in Strassburg gegründet, verlegte Berthold Jacob den UZD Ende 1933 nach Paris.

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führend war.90 Doch soll auf die Verlagssituation im Zusammenhang mit dem literarischen Markt noch gesondert eingegangen werden." Ferner verzeichnete die deutsche Emigration in Frankreich eine grosse Anzahl politisch-propagandistischer Organisationen, die in der Mehrzahl dem Münzenberg-Apparat entsprangen, so das Weltkomitee gegen Krieg und Faschismus (WKKF), das Internationale Komitee für die Befreiung von Ernst Thälmann und alle eingekerkerten Antifaschisten, das Institut zum Studium des Faschismus (INFA) und die Deutsche Freiheitsbibliothek92 in Paris. Des weiteren entwickelte die deutsche Emigration in Frankreich ein reges Verbandsleben, das u. a. Berufsorganisationen (Verband deutscher Journalisten in der Emigration, Schutzverband deutscher Schriftsteller (SDS) 93 , Bund Freie Presse und Literatur, Notgemeinschaft deutscher Wissenschaftler im Ausland, Verband deutscher Lehreremigranten, Vereinigung emigrierter deutscher Juristen, Vereinigung sozialistischer Ärzte etc.) und freie Vereinigungen von Künstlern, Wissenschaftlern und Dozenten umfasste (Freier Künstlerbund94, Notgemeinschaft deutscher Wissenschaft und Kunst im Exil). Die Deutsche Volkshochschule und die Freie Deutsche Hochschule in Paris führten überdies regelmässig Lehrveranstaltungen durch und fungierten als Bildungseinrichtungen der Emigration.95 Ferner hinzuweisen ist auf die in Paris ansässigen Emigranten-Buchhand-

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V g l . d a z u H é l è n e Roussel, D e u t s c h s p r a c h i g e B ü c h e r und B r o s c h ü r e n im f r a n z ö s i s c h e n E x i l 1 9 3 3 - 1 9 4 0 , bearb. v. M a r i a K ü h n - L u d e w i g , in: Archiv für Geschichte des Buchwesens Bd. 34 ( 1 9 9 0 ) , S. 2 6 7 - 3 2 5 . D i e s e Bibliographie verzeichnet über 5 0 0 in Frankreich e r s c h i e n e n e d e u t s c h s p r a c h i g e B ü c h e r und Broschüren mit A u s n a h m e der » g r a u e n « Literatur, w ä h r e n d d e r B e s t a n d s k a t a l o g der D e u t s c h e n Bibliothek in F r a n k f u r t / M a i n bis d a t o 10.600 e r s c h i e n e n e Titel f ü r d i e G e s a m t e m i g r a t i o n bis 1950 verzeichnet ( D e u t s c h e s E x i l a r c h i v 1 9 3 3 - 1 9 4 5 , B e s t a n d s k a t a l o g d e r B ü c h e r und B r o s c h ü r e n , hg. v. d. D e u t s c h e n Bibliothek F r a n k f u r t / M a i n , Stuttgart 1989). - Ein früherer F o r s c h u n g s s t a n d ist d o k u m e n t i e r t in: Zeitschriften u n d Zeitungen d e s E x i l s 1 9 3 3 - 1 9 4 5 . Bestandsverzeichnis d e r D e u t s c h e n Bücherei Leipzig, bearb. v. H o r s t H a l f m a n n , L e i p z i g 2 1 9 7 5 (= Bibliographischer I n f o r m a t i o n s d i e n s t d e r D e u t s c h e n B ü c h e r e i N " 19).

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V g l . d a z u d a s Kapitel 3.2. dieser Arbeit. S. a. D i e t e r Schiller, D i e D e u t s c h e Freiheitsbibliothek in Paris, in: Exilforschung. nationales Jahrbuch B d . 8 (1990), S. 2 0 3 - 2 1 9 .

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Ein

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S. d a z u A l f r e d K a n t o r o w i c z , Politik und Literatur im Exil. D e u t s c h s p r a c h i g e Schriftsteller im K a m p f g e g e n den Nationalsozialismus, M ü n c h e n 1983, S. 147- 194; Dieter Schiller, D e r P a r i s e r S c h u t z v e r b a n d d e u t s c h e r Schriftsteller (Société a l l e m a n d e d e s G e n s de lettres). E i n e a n t i f a s c h i s t i s c h e Kulturorganisation im Exil, in: Exilforschung. Ein internationales Jahrbuch B d . 6 ( 1 9 8 8 ) , S. 1 7 4 - 1 9 0 ; E r n s t Fischer, »Organisitis chronica?«, A s p e k t e einer F u n k t i o n s u n d W i r k u n g s g e s c h i c h t e schriftstellerischer Z u s a m m e n s c h l ü s s e im d e u t s c h s p r a c h i g e n Exil 1 9 3 3 bis 1945, in: M a n f r e d Briegel u. W o l f g a n g F r ü h w a l d (Hg.), D i e E r f a h r u n g d e r F r e m d e , K o l l o q u i u m d e s S c h w e r p u n k t p r o g r a m m s » E x i l f o r s c h u n g « d e r D F G , W e i n h e i m 1988, S. 1 6 3 - 1 7 5 . D e r F r e i e K ü n s t l e r b u n d g a b die Zeitschrift Freie Kunst und Literatur heraus, die von P a u l W e s t h e i m geleitet w u r d e ; W e s t h e i m war auch Kunstkritiker bei PTB und PTZ. D i e F r e i e D e u t s c h e H o c h s c h u l e unterhielt ü b e r Paul H o n i g s h e i m K o n t a k t e zu M a x H o r k h e i m e r s Institut für S o z i a l f o r s c h u n g , das 1933 von F r a n k f u r t über G e n f nach Paris e m i g r i e r t w a r u n d dort d i e Zeitschrift für Sozialforschung herausgab. Z u r G e s c h i c h t e der F r a n k f u r t e r S c h u l e im Exil s. M a r t i n Jay, Dialektische Phantasie. D i e G e s c h i c h t e der F r a n k f u r t e r S c h u l e u n d d e s Instituts für S o z i a l f o r s c h u n g 1 9 2 3 - 1 9 5 0 , F r a n k f u r t / M . 1976.

lungen und Leihbüchereien 96 , auf die Theater und Kabaretts (Die Laterne, Bunte Bühne usw.), Cafés (Café Mephisto), Debattierklubs (Deutscher Klub 97 ) und Vortragsräume (Mutualité, Salle de l'encouragement de l'industrie etc.), welche die logistische Basis des politisch-kulturellen Lebens der deutschen Emigration in Frankreich bzw. Paris ausmachten. Die politischen und kulturellen Organisationen, von denen hier nur die wichtigsten erwähnt wurden, haben die Öffentlichkeit der deutschen Emigration in Frankreich geformt und durch ihre Diskussionen das politische sowie das kulturelle Leben des Exils massgeblich beeinflusst. Teils in politischen Bündnissen vereint, teils in ideologischer Konkurrenz zueinander, nie jedoch voneinander isoliert, haben sie ein kommunikatives Bezugssystem geschaffen, das wir nach Pierre Bourdieu als intellektuelles Kräftefeld bezeichnen wollen. Das intellektuelle Kräftefeld ist mehr als nur ein simples Aggregat isolierter Kräfte, ein Nebeneinander bloss zusammengereihter Elemente. Es bildet vielmehr nach Art eines magnetischen Feldes ein System von Kraftlinien: Die in ihm wirkenden Mächte bzw. deren Wirkungsgruppen lassen sich als ebensoviele Kräfte beschreiben, die dem Feld zu einem beliebigen Zeitpunkt kraft ihrer jeweiligen Stellung, gegeneinander und miteinander, seine spezifische Struktur verleihen.' 8

PTB und PTZ waren Teil dieses intellektuellen Kräftefeldes der deutschen Emigration. Ihre Stellung innerhalb des Feldes lässt sich nicht nur anhand der Eigendynamik dieser Zeitung — in erster Linie also ihrer bewegten Redaktionsgeschichte 99 — definieren, sondern auch anhand ihrer Beziehungen zu den anderen Institutionen oder Aktanten des Feldes. Diese Positionseigenschaften100 von PTB und PTZ innerhalb der deutschen Exilöffentlichkeit sollen abschliessend erläutert werden anhand der öffentlichen Selbstdarstellung der Zeitung. Als Vergleich wird die Wochenzeitung die aktion herangezogen, die zu PTB und PTZ in unmittelbarer pressegeschichtlicher Verbindung steht. Die als zweisprachige Wochenzeitung gegründete, zwischen Mai 1933 und Februar 1934 in Paris erschienene aktion wurde anfangs von Rudolf Leonhard und Maximilian Scheer redigiert. (Der französische Schriftsteller Vladimir Pozner redigierte den französischen Teil.)101 Finanziert wurde die aktion vom späteren PTB-Verleger Wladimir Poliakov. Bei ihrer Gründung trug sie den Untertitel Organ zur Verteidigung der deutschen Flüchtlinge und zum Kampfe gegen den Hitlerfaschismus. Parteilich unabhängig, doch mit deutlichen kommunistischen

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S. hierzu Kapitel 3.2., Abschn. C. 1925 als republikanischer deutscher Verein in Paris gegründet, öffnete er sich 1933 der Emigration mit einer Vielzahl von Veranstaltungen. Doch 1934/35 verlagerten die Emigranten ihre Aktivitäten auf von ihnen selbst gegründete Vereine. 98 Pierre Bourdieu, Zur Soziologie der symbolischen Formen, a. a. O., S. 76 (Hervorh. i. Orig.). 99 Vgl. hierzu bereits die Ausführungen in Kapitel 1.2. und 1.3. Pierre Bourdieu, Zur Soziologie der symbolischen Formen, a. a. O., S. 76. "" Vgl. dazu die Erinnerungen von Maximilian Scheer, So war es in Paris, a. a. O., S. 4 4 - 5 1 .

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Sympathien, stellte sich die aktion ihren Lesern in einem programmatischen Text als überparteiliche »Tribüne« zur freien Meinungsäusserung vor. Die Aktion [sie] kennt in diesem Kampfe nur eine Front: Die Einheitsfront aller Gegner des Fachismus [sie]. Gleichgültig ob Sozialdemokraten, Republikaner: [sie] Juden, Pacifisten oder Kommunisten. [...] Parteipropaganda zu machen, lehnt Die Aktion ab. Sie ist aber der Überzeugung, dass die ideologische Klärung ein wichtiger Bestandteil dieses Kampfes ist, sogar seine Basis. Es wird daher in Zukunft viel Raum freigegeben werden für die Diskussion solcher Probleme, die für unseren Kampf aktuelle Bedeutung haben. In dieser Beziehung ist Die Aktion eine >Tribune LibreEmigrationsgewinnlerEinwandererRéfugiésLektoren-Kollektiv(s)Neuen Zürcher< 56

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Die Redaktionsakten geben auch Auskunft über abgelehnte Manuskripte66, wobei die Ablehnung von Klaus Manns Roman Der Vulkan wegen »Überlänge« sicherlich zu den literarischen Fehlleistungen der Redaktion zählt.67 Wie weit neben redaktionellem Pragmatismus auch der — reale oder vermutete — Publikumsgeschmack die Textauswahl bestimmte, soll ein Beispiel aufzeigen: Die PTZ brachte im Sommer 1936 Klaus Manns Mephisto. Roman einer Karriere im Vorabdruck. Eine von Rudolf Leonhard angebotene Novelle mit dem Titel Es ist so weit hatte Carl Misch zunächst angenommen 68 , dann mit dem Hinweis zurückgestellt, dass »nach dem sehr langen und immerhin anspruchsvollen Roman von Klaus Mann eine kräftigere, um nicht zu sagen derbe Kost, zunächst einmal notwendig« 69 sei. Er liess auf Mephisto eine Kriminalnovelle von Hans Siemsen (Der Fall Cochran70) folgen, die von der Redaktion mit den Prädikaten »packend und reissend« angekündigt wurde. Doch kurz darauf übermittelte Misch Rudolf Leonhard die definitive Ablehnung seiner Novelle mit der Begründung: Tatsächlich wollten wir Ihre Novelle veröffentlichen. Allerdings war sie noch nicht gelesen worden. Bei der Lektüre stellte es sich heraus, dass sie erotisch etwas zu stark wirkt. Wir haben leider die Erfahrung, dass ein Teil unserer Leserschaft uns dann grob kommt. 71

Die richtige Dosierung von »anspruchsvoller« und »packender und erregender«72 Literatur war offenbar eine Kunst, die nur den Regeln redaktioneller Alchimie gehorchte. Und doch (oder gerade deshalb?) stach in den Fortsetzungsromanen die Tendenz zu Spannung und Unterhaltung, auch zum Sentimentalen und Sensationellen immer wieder hervor. Eine gar zu reisserisch aufgemachte Ankündigung hatte im Falle von Klaus Manns Roman Mephisto - er war unter Namensnennung von Gustaf Gründgens als »Schlüsselroman« 73 angekündigt

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erschienen« (PTZ an Querido-Verlag, 18.7.1939; BAP, PTZ, N° 68, Bl. 166). - Ein Beweis dafür, dass das Feuilleton der PTZ in Konkurrenz nicht nur zu dem anderer Exilorgane, sondern auch zu dem der Schweizer Tageszeitungen stand. Abgelehnt wurden z. B. Der Kommissar vom Rhein von Willi Bredel (BAP, PTZ, N° 70, Bl. 6 3 - 7 4 ) und Eine Bombe platzt in Rio de Oro von Maria Gleit (BAP, PTZ, N° 70, Bl. 177). Den angebotenen Roman lehnte die Redaktion mit der Begründung ab: »Klaus Mann wäre, selbst wenn wir ihn hätten streichen dürfen, zu lang geworden.« (Red. an Querido-Verlag, 18.7.1939; BAP, PTZ, N° 68, Bl. 166). Carl Misch an Rudolf Leonhard, 12.9.1936; Stiftung Akademie der Künste, Berlin (nachfolgend zitiert als SAdK), R. Leonhard-Archiv, N° 832. Carl Misch an Rudolf Leonhard, 29.9.1936; SAdK, R. Leonhard-Archiv, N° 832. Abdruck in PTZ Jg. 1 N° 104-114 v. 23.9.-3.10.1936. Carl Misch an Rudolf Leonhard, 7.10.1936; SAdK, R. Leonhard-Archiv, N° 832. Mit diesen Prädikaten wurden häufig Romane versehen, so z. B. Balder Oldens Roman eines Nazi: Er »schildert in seinem neuen Roman die Entwicklungen eines Nationalsozialisten und stellt diese in den Rahmen der Ereignisse, die zur sogenannten nationalen Revolution geführt haben. Besonders packend und erregend werden die geschilderten Ereignisse durch die Charakterisierung führender Persönlichkeiten des Dritten Reichs und ihrer Gegenspieler.« (PTB Jg. 2 N° 102 v. 24.3.1934, S. 1; Hervorh. d. Verf.). Die redaktionelle Vorankündigung des Romans lautete: »Ein Schlüsselroman. Das neue Werk von Klaus Mann, mit dessen Veröffentlichung die >Pariser Tageszcitung< am Sonntag beginnt, ist ein Theaterroman aus dem Dritten Reich. Im Mittelpunkt steht die Figur eines Intendanten

worden - sogar den Protest74 des Autors provoziert. Auch wenn die PTZ-Vorankündigung beim Prozess gegen das Werk nicht ausdrücklich zitiert wurde, so hatte doch die publikumsheischende Lesart von Mephisto als Schlüsselroman das Hauptargument der Gründgens-Erben für sein Verbot geliefert. 75 Ausser den Negativbeispielen aus der Feuilleton-Praxis von PTB und PTZ lässt das Redaktionsarchiv freilich auch Positives dokumentieren: So hatte die Zeitung z. B. mit dem Vorabdruck von Irmgard Keuns Nach Mitternacht die Entstehung eines bedeutenden Exilromans gefördert, über dessen Etappen und Verzögerungen der redaktionelle Schriftwechsel Aufschluss gibt.76 Gleichfalls dem Bemühen, die Exilliteratur zu fördern, entsprang der Versuch, eines der für den Literaturpreis der American Guild of German Cultural Freedom 1938 eingereichten Romanmanuskripte zu veröffentlichen. 77 Diverse Artikelserien und Kleinrubriken: Abschliessend genannt seien einige Artikelserien wie die Zeitschriftenschau von Siegfried Marek im ersten Halbjahr 1938 (»Überblick über freie deutsche Zeitschriften«), die philosophischen Essays und Porträts von Bruno Altmann78, Paris-Feuilletons von Arthur Seehof, Hermann Wendel 79 und Hans Wilhelm von Zwehl und die Justizchroniken von Arkadij Maslow. Hinzu kam der Veranstaltungskalender für Paris (er enthielt die Veranstaltungen von Vereinen sowie ein Theater-, Kino- und Rundfunkpro-

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und braunen Staatsrates, der die Züge Gustav [sie] Gründgens trägt. Um ihn herum erkennt man den ganzen Tross der nationalsozialistischen Würdenträger. Klaus Mann ist es gelungen, in MEPHISTO ein packendes Zeitgemälde zu entwerfen. Ab Sonntag in der >Pariser Tageszeit u n g ^ « (PTZ ig. 1 N° 8 v. 19.6.1936, S. 1; Hervorh. i. Orig.). Die PTZ veröffentlichte ein Telegramm Klaus Manns: »Mein Roman ist kein Schlüsselroman. Held des Romans erfundene Figur ohne Zusammenhang mit bestimmter Person. KLAUS M A N N « (PTZ Jg. 1 N° 12 v. 23.6.1936, S. 1) sowie eine schriftliche Erklärung, die mittlerweile nachgedruckt wurde in: K. Mann, Mephisto. Roman einer Karriere. München 1980, S. V I I I - I X . Z u m 1965-1971 dauernden Prozess der Gründgens-Erben gegen den Verleger Berthold Spangenberg s. das Vorwort der deutschen Erstausgabe von Mephisto (München 1980). Diese war erst zustande gekommen, nachdem der Roman im Ausland erfolgreich in Ariane Mnouchkines Théâtre du Soleil inszeniert worden war (Le Théâtre du Soleil, Mephisto. Le Roman d ' u n e carrière, d'après Klaus Mann, Paris 1979). Irmgard Keun hatte den in Deutschland begonnenen Roman nach ihrer Flucht im Sommer 1936 zunächst in Brüssel und Amsterdam weitergeschrieben; das relativ hohe Honorar (3.300 F) war eine wichtige materielle Hilfe für die Autorin. Der Abdruck lief mit PTZ Jg. 1 N" 136 v. 25.10.1936 an und musste trotz dringender Bitten der Redaktion bei N° 174 am 2.12.1936 abgebrochen werden, da I. Keun das Manuskript nicht fristgerecht beenden konnte (vgl. dazu BAP, PTZ, N° 65, Bl. 196-222). - S. auch den Kommentar von Carl Misch zur Buchausgabe Amsterdam 1937 (»I. Keuns neuer Roman. Ein Brief an die Verfasserin«, PTZ Jg. 2 N° 293 v. 31.3.1937, S. 4). S. die Schreiben von Rudolf Olden an Joseph Bornstein, 12.6.1939 (BAP, PTZ, N° 68, Bl. 151 f.) und Maria Heinemann an PTZ, 5.7.1939 (BAP, PTZ, N° 68, Bl. 79). Altmann setzte sich z. B. mit Phänomenologie und Existenzphilosophie, mit Sprachphilosopie und der »Gleichschaltung« der Disziplin an deutschen Universitäten nach 1933 auseinander. S. dazu auch Kap. 4.3., Abschn. C. Lutz Winckler (Hg.), Unter der Coupole. Die Paris-Feuilletons Hermann Wendeis 1933-1936, Tübingen 1995 (= Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur, Bd. 47).

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gramm), die Moderubrik von Antonie Fried und Fannie Fischer bzw. die ganzseitige Frauenbeilage. Ferner umfasste der Feuilletonteil eine »Rätselecke« von Georg Wronkow, gelegentliche Zeichnungen und Karikaturen von Horst Strempel oder Fritz Wolff 60 sowie Platzfüller aus Zitatenschätzen und die Humor-Spalte »Ulk«. C. Die Feuilletonredaktion Die Bearbeitung und Zusammenstellung der Feuilletonbeiträge von PTB und PTZ unterlag in der Regel einem oder mehreren Redakteuren. Doch gerade die Feuilletonredaktion ist bislang noch weitgehend unbekannt. Sie soll an dieser Stelle gesondert vorgestellt werden; auf die bereits skizzierte allgemeine Redaktionsgeschichte wird dabei Bezug genommen.81 Seit der Gründung des PTB waren zwei Redakteure angestellt, die sich Lokalund Feuilletonredaktion jahrelang teilten: Richard Dyck und Erich Kaiser. Eine Ende 1936 von Verleger Fritz Wolff festgeschriebene Arbeitsteilung Iässt erkennen, dass Richard Dyck prioritär den Lokalteil, Erich Kaiser demnach den Feuilletonteil versah. 82 Doch waren nach Aussage des Chefredakteurs Georg Bernhard die Grenzen zwischen Feuilleton und Lokalteil »sehr flüssig«83. Überschneidungen der beiden Ressorts wurden nicht nur an der Plazierung mancher Beiträge sichtbar (so erschienen kulturpolitische Artikel gelegentlich auch im politischen Teil auf Seite 1 oder 2), sondern auch an der ressortübergreifenden Tätigkeit der meisten Redakteure (so verfasste z. B. der stellvertretende Chefredakteur Kurt Caro auch Rezensionen fürs Feuilleton). Dyck und Kaiser wurden zeitweise von weiteren Personen unterstützt. So hatte die neu gegründete PTZ im Herbst 1936 den Literaturkritiker und Hörspielautor Hans Arno Joachim 84 als Feuilletonredakteur eingestellt; die Redaktions-

*" Der Zeichner und Graphiker Fritz Wolff war ein Namensvetter des PTZ-Verlegers Fritz Wolff. 81 Vgl. hierzu bereits Kapitel 1.2. und 1.3. 82 »Dr. Dyck bearbeitet die 3. Seite (Pariser Teil). Ferner wird er jetzt, mehr als bisher, zu Übersetzungen sowohl in der Presseschau als auch für das Feuilleton und die Sonntagsbeilage herangezogen. Auf diese Weise werden bisher vergebene Arbeiten im Rahmen des festgelegten Redaktions-Etats in der Redaktion ausgeführt.« Internes Schreiben von Fritz Wolff (WAV), »Vorschläge zur Verbesserung der Redaktion bzw. des redaktionellen Ausbaus der PTZ«, o. D. [Ende Dez. 1936]; BAP, PTZ, N° 71, Bl. 4 9 - 5 6 , hier Bl. 53. 83 Georg Bernhard an Manfred Georg, 23.4.1937; DLA, NL M. George, N° 75.2208. 84 (1902-1943?); im Biographischen Handbuch der deutschsprachigen Emigration von Röder/ Strauss nicht verzeichnet; Kurznachweis bei Walter Sternfeld u. Eva Tiedemann, Deutsche Exilliteratur, a. a. O., S. 241. - Nach dem Germanistikstudium mit Promotion in Freiburg/ Brsg. war Joachim vor 1933 freier Mitarbeiter der Neuen Rundschau, der Literarischen Welt und der Frankfurter Zeitung gewesen. Im Exil arbeitete er u. a. für den Hörfunk in der Schweiz und veröffentlichte das Hörspiel Die Stimme Victor Hugos (ersch. m. e. Nachwort v. Heinrich Mann in den Editions du Phénix, Paris 1935). Joachim hatte 1936/37 der ersten Jury des vom SDS gestifteten Heine-Preises angehört und hatte am 2.7.1937 auf der SDSAusstellung »Das deutsche Buch 1837-1937« einen Vortrag über »Deutsche Dichter in Paris« gehalten. Er starb in der Deportation.

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unterlagen belegen seine Tätigkeit zumindest ab Mitte September 1936.85 Eine Redaktionsliste der PTZ (vermutlich vom Herbst 1936) verzeichnet »Dr. Joachim« neben Bernhard, Caro, Dyck und Kaiser sowie dem ebenfalls neu hinzugekommenen Carl Misch und den Ressortredakteuren Herbert Weichmann (Wirtschaft) und Edgar Katz (Sport).86 Joachims Tätigkeit scheint jedoch nur von kurzer Dauer gewesen zu sein, denn die Gehaltslisten der Jahre 1937-1940 erwähnen ihn nicht mehr.87 Auch legt der Zeitpunkt seines Redaktionseintritts nahe, dass er zur Betreuung der am 29.9.1936 erstmals erschienenen Literaturbeilage »Das Neue Buch« engagiert worden war. Um dieselbe Zeit hatte auch Fritz (Frédéric) Drach der PTZ wichtige Impulse für das Feuilleton gegeben. Als ehemaliger Redakteur88 der Zeitschrift VU ins französische Pressemilieu bestens eingeführt, suchte er für die PTZ Kontakte zu französischen Presseorganen und besonders zu Verlagen zu knüpfen. Auch diese Bemühungen standen im Zusammenhang mit der Lancierung der Literaturbeilage, wie Drachs serienweise Anschreiben an französische Presse- und Verlagshäuser zeigen.89 Mit Ausnahme der Anfangsphase der PTZ, als die Redaktion durch die Einrichtung der wöchentlichen Literaturbeilage »Das neue Buch« personelle Verstärkung erhielt, scheint das Feuilleton nie über einen eigens dafür verantwortlichen Redakteur verfügt zu haben. Die Finanzkrise, die die PTZ im Herbst 1936 traf - und die zu der bereits erwähnten finanziellen Beteiligung Willi Münzenbergs führte 90 - , hatte den Verleger Fritz Wolff zu einschneidenden Sparmassnahmen veranlasst, denen Hans A.Joachim zum Opfer fiel. So fanden sich in einer internen Notiz Fritz Wolffs zur »Verbesserung des redaktionellen Aufbaus« - sie datiert vermutlich von Ende Dezember 1936 - ausser Chefredakteur Bernhard nur noch Caro, Misch, Dyck und Kaiser als Redakteure erwähnt.91 Ausserdem hiess es dort:

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In einer internen Notiz v. Fritz Wolff v. 7.8.1936 (BAP, PTZ, N° 65, Bl. 88) hiess es: »Betr. Joachim: Besprechung über das Feuilleton. J. beginnt seine Tätigkeit für die P.T. nach seiner Rückkehr aus der Schweiz, spätestems [sie] am 15. September. Vereinbart ist pro Monat ein Fixum von 1000 ffrs. Schon jetzt wird sich J. bemühen, unserer Redaktion Hinweise und auch Ausschnitte für das Feuilleton zu geben. Im September Preisausschreiben für Kurzgeschichten.« Liste der durch die »Pariser Tageszeitung« beschäftigten Angestellten und Mitarbeiter, o. D. [Herbst 1936]; BAP, PTZ, N° 5, Bl. 2. Letzter aufgefundener Nachweis von Joachims Tätigkeit in einer internen Notiz v. 11.12.1936 (BAP, PTZ, N° 73, Bl. 239). In einem Rundschreiben (Dr/D) vom Oktober 1936 an mehrere französische Verlage bezeichnete Drach sich selbst als »ancien rédacteur en chef de VU« (BAP, PTZ, N° 73, Bl. 11 u. a.). Das Impressum von VU nennt jedoch nur Lucien Vogel als Chefredakteur. Drachs Rundschreiben ergingen zwischen dem 14. 10. und 12.11.1936 an mindestens 102 französische Verlage; vgl. BAP, PTZ, N° 73. S. dazu bereits Kap. 1.3. W/W intern, »Vorschläge zur Verbesserung der Redaktion bzw. des redaktionellen Ausbaus der PTZ«, o. D. [Ende Dez. 1936]; BAP, PTZ, N° 71, Bl. 4 9 - 5 6 .

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Wenn die Redaktion in der Lage ist, das Verhältnis zu den Mitarbeitern weitgehends [sie] zu pflegen, dürfte sich auch das Engagement eines besonderen Feuilleton-Redakteurs erübri-

Zur Entlastung der Stammredakteure wurde ein Teil der Buchbesprechungen zeitweilig in die Samstagsausgabe abgekoppelt, wo der politische Redakteur Carl Misch die Rubrik »Das politische Buch« führte.93 Und schliesslich wird auch Robert Breuer, der seit 1936 fester Mitarbeiter der PTZ war, nicht nur Richard Dyck im Lokalteil, sondern auch Erich Kaiser im Feuilletonteil unterstützt haben. Des weiteren war im redaktionellen Zusammenhang auch Manfred Georg 94 von Bedeutung. Bereits seit 1934 hatte der nach Prag emigrierte ehemalige Chefredakteur der Ullstein-Abendzeitung Tempo Urlaubsvertretungen bei der PTZ gemacht, und im Frühjahr 1937 trug ihm Fritz Wolff die Feuilletonredaktion an. Doch Manfred Georg zögerte zunächst und wollte über die vertragliche Situation der anderen Redakteure Aufklärung erhalten.95 (Offensichtlich hatte er von der plötzlichen Kündigung Dycks und Kaisers im April 1937 erfahren.) Wie auch ein Schreiben Georg Bernhards96 belegt, sollte Georg die Feuilletonredaktion nicht personell verstärken, sondern Dyck und Kaiser ersetzen. Ferner bezeugt Manfred Georgs Arbeitsvertrag vom Juni 1937 die geplante Zusammenlegung von Lokal teil- und Feuilletonredaktion. Dort hiess es zunächst: »Sein Ressort umfasst die Leitung der >faits divers< (dritte Seite), der Filmrubrik und des Feuilletons, der Buchkritik sowie der Sonntagsbeilage.« 97 Ein undatierter Zusatz liess jedoch die Buchkritik entfallen und präzisierte nun: »Stattdessen soll es heissen: Buch- und

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Ebd., Bl. 55. In einem »Entwurf zur Sonnabendscite« hiess es: »Das politische Buch: Referate zur Entlastung der Beilage >Das neue Buch< ca. 1 Spalte, 2-spaltige Aufmachung«. (O. Verf. (Fritz Wolff?), undat. interne Notiz; BAP, PTZ, N° 71, Bl. 65). - Hinzu gefügt war ein graphischer Entwurf der Sonnabendseite. M . G e o r g (später: George; 1893-1965) war nach 1933 zunächst Redakteur der Prager Monatszeitung und Korrespondent der Basler National-Zeitung. 1939 wurde er Chefredakteur des New Yorker Exilorgans Der Aufbau. Manfred Georg an Fritz Wolff, 20.4.1937; BAP, PTZ, N° 3, Bl. 176. Georg Bernhard teilte Georg darüber lediglich mit: »Was Ihre weitere Frage anbetrifft, so bemerke ich, dass Sie niemandem einen Posten fortnehmen. Es sind vor einiger Zeit die Kollegen Dr. Dyck und Kaiser gekündigt worden und zwar weil wir lange mit dem Gedanken umgegangen sind, die Redaktion der dritten und vierten Seite einem einzigen Kollegen anzuvertrauen. Nach unserer Meinung muss der lokale Teil und das Feuilleton von einer Person bei uns redigiert werden, zumal die Grenzen da sehr flüssig sind und das Problem der sogenannten dritten Seite bisher noch niemals zu lösen versucht wurde. [...] Mit dem Kollegen Kaiser haben wir ein anderes Arrangement getroffen und mit Dr. Dyck werden wir uns auch über die Bedingungen seines Ausscheidens gütlich einigen.« (Bernhard an Georg, 23.4.1937; DLA, NL M. George, N° 75.2208; Durchschlag des Schreibens in BAP, PTZ, N3, Bl. 177). - Die wirklichen Gründe für die Kündigung Dycks und Kaisers, der faktisch bis Dezember 1938 weiterbeschäftigt wurde, bleiben unklar. Vertrag zwischen Manfred Georg u. Fritz Wolff, 28.6.1937 (»Contrat«; BAP, PTZ, N° 3, Bl. 180; Übers, d. Verf.). - Der Vertrag sah ein Monatsgehalt von 2.500 Francs vor.

S o n n t a g s b e i l a g e werden im G e s a m t e i n v e r n e h m e n redigiert.« 9 8 D o c h n a c h der von

Fritz

W o l f f geforderten

sechswöchigen

Probezeit"

vertraglich z u g e s a g t e feste Einstellung M o n a t u m M o n a t -

verzögerte

sich

die

w e g e n finanzieller

S c h w i e r i g k e i t e n , w i e dieser schrieb —, und im A u g u s t 1 9 3 7 reiste G e o r g enttäuscht nach Prag zurück. E r s t ab d e m 16. M a i 1 9 3 8 k a m es zu einer kurzen Redaktionstätigkeit G e o r g s , der zu d i e s e m Zeitpunkt j e d o c h bereits seine E m i g r a tion nach den U S A vorbereitete. F ü r den V e r t r a g s b r u c h erhielt M a n f r e d G e o r g 1 . 0 0 0 Francs Schadenersatz -

eine S u m m e , die seinen erlittenen

finanziellen

V e r l u s t nicht annähernd kompensierte. 1 0 0 A u c h in den F o l g e m o n a t e n stand kein personeller A u s b a u der Feuilletonredaktion in Aussicht. E r i c h Kaiser, der seit der Kündigung seiner Redakteursstelle als freier Mitarbeiter in der gleichen Funktion weiterbeschäftigt wurde, teilte sich nun vermutlich mit R o b e r t B r e u e r - damals ebenfalls nur »fester« freier Mitarbeiter die Z u s a m m e n s t e l l u n g des Feuilletons. 1 0 1 Erst nach ihrem g e m e i n s a m e n R a u s s c h m i s s E n d e D e z e m b e r 1 9 3 8 - er koinzidierte mit der Ankunft des neuen Chefredakteurs J o s e p h Bornstein 1 0 2 -

erfolgte ein grundsätzlicher personeller W e c h s e l .

A b J a n u a r 1 9 3 9 teilten sich Stefan F i n g a l " " und E d g a r Katz 1 0 4 , ab S e p t e m b e r

Undat. Vertragszusatz; BAP, PTZ, N° 3, Bl. 179. '''' Während dieser Zeit betreute Georg die dritte und vierte Seite selbständig gegen ein Redakteursgehalt von 2.000 Francs (s. die Unternehmensprüfung durch die KPD: Albert [Norden], Gesellschaftsform, Inhaber und leitendes Personal [21.6.1937]; SAPMO-BArch, ZPA I 2/3/358, Bl. 83 im Anhang dieser Arbeit). 100 Vgl. die Schreiben von Manfred Georg an Fritz Wolff v. 21.12.1937 u. 12.5.1938; BAP, PTZ, N° 3, Bl. 189 u. Bl. 197. "" Die Vermutung liegt nahe, dass Kündigungen fester Redakteure und Vertragsbrüche wie im Falle Manfred Georgs durchaus System hatten und der Umgehung arbeitsrechtlicher Verpflichtungen sowie angemessener Gehaltsforderungen dienten. Noch extremer war die Situation im Bereich der Angestellten (Sekretärinnen u.ä.), wo sich zeitlich befristete Arbeitsverträge und fristlose Kündigungen häuften. 1112 Vgl. dazu bereits Kapitel 1.3. " n Stefan Fingal, geb. 25.9.1889 in Mostar, österreichischer Staatsangehöriger (nicht verzeichnet im Biographischen Handbuch der deutschsprachigen Emigration nach 1933 von Röder/ Strauss). Fingal kam nach dem »Anschluss« Österreichs aus Wien über Memel nach Paris und war zunächst freier Mitarbeiter der PTZ, bevor er im Januar 1939 Lokalredakteur wurde (BAP, PTZ, N° 68, Bl. 165). S. auch die Selbstaussagen Fingais in seinen Beiträgen »Memel - ein versunkenes Emigrantenparadies« in PTZ Jg. 4 N ° 9 5 4 v. 26./27.3.1939, S. 3, und »Lieber Leser«, PTZ Jg. 4 N° 1000 v. 19.5.1939, S. 1. 104 Edgar Katz, geb. am 24.1.1906 in Essen (im Biographischen Handbuch der deutschsprachigen Emigration nach 1933 von Röder/Strauss nicht verzeichnet). - Katz betreute jahrelang die Sportrubrik von PTB und PTZ; ab Januar 1939 (nach der Kündigung Kurt Caros) war er während einiger Monate als Lokalredakteur tätig (vgl. das Scheiben Gerda Aschers an Manfred Georg vom 20.4.1939: »Nun ist die Redaktion vollständig anders besetzt und von alten Mitarbeitern gibt es nur Dr. Misch, der mit Herrn Bornstein zusammen arbeitet, und für den lokalen Teil Katz und Herrn Fingal.« DLA, NL M. George, N° 75.2122/14). Um der Internierung zu entgehen, hatte Katz sich nach Kriegsausbruch zum Arbeitseinsatz (prestataire) in der französischen Armee gemeldet. 98

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1939 schliesslich Fingal und Berthold Biermann105 die Lokal- und Feuilletonredaktion in der gewohnten Ressortüberschneidung. D. Die Kommerzialisierung des Feuilletons von PTB und PTZ Das tägliche Feuilleton von PTB und PTZ mit seinen wöchentlichen Beilagen stellte, wie wir sahen, einen kontinuierlichen Veröffentlichungsort für kulturkritische wie unterhaltende Beiträge dar, der angesichts sich ständig reduzierender Publikationsmöglichkeiten für emigrierte Schriftsteller und Journalisten im Laufe der Exiljahre an Bedeutung gewann. Für den Leser bot das Feuilleton in Essays und Rezensionen, Konzert-, Theater- und Filmkritiken, in Kurzmeldungen und im Terminkalender eine umfassende Berichterstattung zum kulturellen Leben. Ihre unbestreitbare Rolle als Kommunikations- und Publikationsort darf indessen nicht vergessen lassen, dass die Feuilletonsparte von PTB und PTZ gleichzeitig kommerziellen Zielen diente. Denn die ökonomische Funktion als Werbeträger und Abonnentenanreiz, die das Zeitungsfeuilleton in der Weimarer Presse übernommen hatte, führte es in der Exilpresse weiter. Auch hier wurde das Feuilleton zur finanziellen Konsolidierung des Gesamtproduktes Zeitung eingesetzt. So notierte Verleger Fritz Wolff nach der Einführung neuer Beilagen im Herbst 1936 befriedigt: Die erst seit kurzem eingeführte Frauen- und Bücherseite hat allgemein Anklang gefunden. Beide haben auch Werbekraft und könnten für die Insertion wesentlich beitragen. 106

Und auch seine »Vorschläge zur Verbesserung der Redaktion« lassen deutlich erkennen, dass die Feuilletonsparte trotz aller inhaltlichen Gestaltungsentwürfe in erster Linie der Steigerung der Inserenten- und Abonnentenzahlen zu dienen hatte. So hiess es dort: Die 4. (letzte) Seite - Feuilleton, Unterhaltungsteil - ist noch lange nicht interessant genug. Es fehlen kleinere oder kürzere Feuilletons und technische und wissenschaftliche Kurzartikel, kulturelle und kritische Beobachtungen über die Lage im 3. Reich und Vergleiche sowie die ständige Beobachtung der geistigen Entwicklung, die in Deutschland vor sich geht (Gegenüberstellung zu der Entwicklung in anderen Ländern). Dazu kommt natürlich, dass bei gesicherter finanzieller Balanzierung [sie] des Unternehmens ausreichend Zeit und Gelegen-

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Berthold Biermann, geb. am 6.4.1903 in Berlin (im Handbuch der deutschsprachigen Emigration nicht verzeichnet). - In einem Brief an den Chefredakteur der Zukunft schrieb er: »Ich war früher Referent in der Presseabteilung der Reichsregierung, in der Abteilung Katzenberger. Seit Herbst 1933 lebe ich im Ausland, gegenwärtig bin ich als Deutschlehrer an einem Lehrerseminar [gemeint ist die Ecole Normale Supérieure des Instituteurs in Varzy (Nièvre); M. E.] in der Provinz.« (Berthold Biermann an Werner Thormann, 15.11.1938; AN, F7 15123, ch. B). -Zunächst freier Mitarbeiter, ab 16.8.1939 Redakteur der PTZ (BAP, PTZ, N° 67, Bl. 19 u. 20 und N° 5, Bl. 19) mit entsprechendem Gehalt (2.400 Francs monatlich; BAP, PTZ, N° 7, Bl. 5). WAV intern [Fritz Wolff], »Vorschläge zur Verbesserung der Redaktion bzw. des redaktionellen Ausbaus der PTZ«, o. D. [Ende Dez. 1936]; BAP, PTZ, N ° 7 1 , Bl. 49-56, hier Bl. 52.

heit vorhanden ist zur Beschaffung wirklich zugkräftiger Romane, die erfahrungsgemäss g r o s s e Werbekraft besitzen. 1 0 7

Die Instrumentalisierung des Feuilletons zu kommerziellen Zwecken war damit offen ausgesprochen. Doch andererseits stellte das Inseratengeschäft, neben dem Erlös aus Abonnements und Strassenverkauf, das finanzielle Rückgrat der Zeitung dar. So waren es die zahlreichen Inserenten der Hotel- und Gaststättenbranche aus Hauptstadt und Provinz, die Pariser Kinos, Theater und Kabaretts sowie die im Stellenmarkt inserierenden Privatpersonen, die zu einem guten Teil zur wirtschaftlichen Existenz der Zeitung beitrugen. Dass die kommerzielle Nutzung des Feuilletons als Werbeträger jedoch in direktem Widerspruch zu inhaltlichen Positionen der Zeitung stand, hatte die fTB-Redaktion gerade im Fall Poliakovs beanstandet: Im redaktionellen Teil wurde der wirtschaftliche Boykott gegen Hitler-Deutschland propagiert, und im Inseratenteil machte Poliakov Reklame für Leni-Riefenstal [sic]-Filme, >S. O . S. Eisberg< und ähnliche Erzeugnisse der gleichgeschalteten Filmindustrie.'"*

Der Einzelfall illustriert nur um so deutlicher den Grundantagonismus, mit dem die Zeitung - wie jedes Presseorgan - existieren musste: den zwischen ihrer kommunikativen und ihrer kommerziellen Funktion, zwischen redaktionell definierter öffentlich-politischer Orientierung und vom Verleger bestimmter ökonomischer Rolle. Gerade im Hinblick auf den Untersuchungsgegenstand Literaturkritik ist es daher aufschlussreich, die materiellen Grundlagen der Feuilletonarbeit in PTB und PTZ näher zu beleuchten. Zur Provenienz des umfangreichen Feuilletonmaterials ist festzustellen, dass es sich grösstenteils um Originalbeiträge (Essays, Glossen, Reportagen, Rezensionen, Gedichte, Kurzprosa, Romane) sowie um autorisierte Nachdrucke aus Verlags- und Presseerzeugnissen handelte. Allerdings brachte die Zeitung immer wieder auch Beiträge ohne Quellennachweis, die in der Regel unautorisierte Nachdrucke waren.109 Denn nicht nur die Feder, auch die Schere gehörte zum Arbeitsinstrument der fTfi/PTZ-Redakteure, wie Stefan Zweig z. B. hatte erfahren müssen. Dieser stellte bei dem Herausgeber der Sammlung, Klaus Mann, klar, die PTZ habe einen »Absatz aus dem >Erasmus< einfach aus dem Pester Lloyd herausgeschnitten und - ob mit Absicht oder ohne Absicht - mit Unterlassung der Quellenangabe so publiziert, als ob (er) ihr den Abschnitt übergeben hätte,

"" Ebd., Bl. 51. "'* Redaktion der Pariser Tageszeitung, D i e Affaire Poliakow../. Pariser Tageblatt. Vertraulich! Persönlich! A l s Manuskript vervielfältigt (msD., o. D. [Herbst 1936], S. 3; Wiener Library, T e l - A v i v , Signatur S 3a France/KAW). 1119 Dafür herangezogen wurden in erster Linie die deutschsprachigen Zeitungen Österreichs und der Schweiz, aber gelegentlich auch Exilorgane. Ferner wurden häufig Feuilletonbeiträge aus der deutschen Presse vor 1933 nachgedruckt, für die die Autorenrechte bei mittlerweile verbotenen oder gleichgeschalteten Verlagen lagen.

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während sie sich in Wahrheit nicht einmal die Mühe genommen ha(be), bei (ihm) anzufragen«"0. In anderen Fällen stammte das Feuilletonmaterial von einem der zahlreichen Korrespondenzbüros des deutschsprachigen Auslandes, die regelmässig Angebotslisten für Feuilletontexte mit Titel- und Tarifangabe versandten.1" Die Honorare für Korrespondenzbüros belasteten das schmale Budget von PTB und PTZ schwer. 1936 dekretierte daher der Verleger: Die Feuilleton-Seite bringt nur selten bezahlte Beiträge, falls anderes Material nicht zur Verfügung steht. Hauptsächlich werden Honorare für die verschiedenen Beilagen und Sonderseiten an den Tagen, an denen die Zeitung mit sechs Seiten erscheint, gezahlt." 2

Die Eigenleistung der Redakteure für namentlich oder mit Pseudonym gezeichnete Beiträge sowie für Übersetzungen fremdsprachiger Texte"3 ist daher nicht zu unterschätzen. Sie bildete, zusammen mit den unzähligen Raubdrucken in allen Sparten, die Palette der »Kostendämpfungsmassnahmen«, mit denen die Redaktion das knappe Budget zu strecken und Auslagen für regulär honorierte bzw. angeforderte Beiträge freier Mitarbeiter zu kompensieren suchte. Die Frage der Qualität des Feuilletons war damit — dies war den Redakteuren durchaus bewusst - auch eine Frage der ökonomischen Mittel. Die Höhe des Budgets für freie Mitarbeiter hatte seit Anbeginn zu Differenzen zwischen Redaktion und Verlag geführt. Schon die P77?-Redaktion hatte geklagt, Poliakov habe seit 1934 den Honoraretat des Blattes »auf die geringfügige Summe von 3000.— frs. pro Monat herabgesetzt, was einen Durchschnitt von 100.— frs. für die einzelne Nummer bedeutete. Aber selbst diese geringfügige Summe«, so heisst es weiter, »blieb er den Mitarbeitern noch schuldig. Im Frühjahr 1936 war auf Honorarkonto bereits 17 000.— frs. rückständig.«114 Der Betrag von 3.000 Francs bezifferte das Gesamtbudget für Honorare freier Mit-

Stefan Zweig an Klaus Mann, 10.4.1934; in: K. Mann, Briefe und Antworten, hg. v. Martin Gregor-Dellin, 2 Bde., München 1975, hier Bd. 1, S. 177. - Klaus Mann hatte Zweig wiederholt um Beiträge für die neu gegründete Sammlung gebeten; dieser hatte jedoch eine Mitarbeit in einem Exilorgan zunächst abgelehnt. Das vermeintliche Debüt Zweigs im PTB kam für Mann daher desto überraschender (vgl. ebd., S. 175f.). 111 Nachweisbar sind Kontakte zur Wiener Manuskriptenvermittlung Ilse Scholley, die von Lili Körber vertreten wurde (BAP, PTZ, N° 70, Bl. 277ff.), zum Pressedienst Dr. Präger in Wien (BAP, PTZ, N° 66, Bl. 188ff.), zur Internationalen Pressekorrespondenz Cl. Hirzel-Wetzikon in Zürich (BAP, PTZ, N° 65, Bl. 36) und der Internationaal Pers Correspondentie voor Roman - Feuilleton - Foto (I. P. C.) in Amsterdam (BAP, PTZ, N° 70, Bl. 244 u. 249). - Die genannten Agenturen vermittelten u. a. Texte von Irmgard Keun, Felix Langer, Joseph Roth, Upton Sinclair, Karl Tschuppik und Joseph Wechsberg. 112 Interne Notiz zur Redaktionsarbeit, o. Verf. [Fritz Wolff], o. D. [Ende Dez. 1936]; BAP, PTZ, N° 71, Bl. 63. 113 Als Übersetzer für Feuilleton, Presseschau und politische Nachrichten wurden u . a . die Redakteure Richard Dyck und Hans Jacob sowie der Mitarbeiter Harry Kahn herangezogen. "" Redaktion der Pariser Tageszeitung, Die Affaire Poliakow ./. Pariser Tageblatt. Vertraulich! Persönlich! Als Manuskript vervielfältigt (msD., o. D. [Herbst 1936], S. 7; Wiener Library, Tel-Aviv, Signatur S 3a France/KAW).

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arbeiter sämtlicher Sparten der Zeitung und erscheint im Vergleich zum Monatsbudget des PTB, das sich inklusive Herstellungskosten in den Anfangsjahren auf 70-90.000 Francs" 5 belief, sehr gering. Für die PTZ hatte sich das reine Honorarbudget Ende 1936 auf 5.000 Francs monatlich erhöht." 6 Eine von Verleger Fritz Wolff vorgenommene Aufstellung zeigt die finanzielle Verteilung auf die einzelnen Sparten: Sonntagsbeilage (2 Druckseiten) Filmseite Vier Leitartikel Buchbeilage Palästinabeilage Frauen Kleinere Korrespondenten- und Feuilletonbeiträge verteilt auf die 7 Nummern der Woche Der durchschnittliche Honorar-Etat für eine Woche beträgt....

250 frs. 75 250 150 100 175 250 1250 frs.

Auf den Monatsetat umgerechnet, waren gut zwei Drittel des Honorarbudgets (ca. 3.600 von 5.000 Francs monatlich) für das Feuilleton und seine Beilagen vorgesehen; für die Einzelnummer machte dies jedoch nur 120 Francs im Tagesdurchschnitt (bezogen auf 30 Nummern pro Monat). Die Honorare für Feuilletonbeiträge variierten dagegen - je nach Länge, Rubrik und Renommee des Autors - zwischen 10 und 100 Francs; das Durchschnittshonorar dürfte bei ca. 30 Francs pro Spalte gelegen haben. Hier einige Beispiele von Honoraren, die gleichzeitig den Marktwert der genannten Autoren reflektieren: Alfred Döblin, Heinrich und Klaus Mann erhielten in der Regel 100 Francs pro Artikel, Hermann Kesten, Siegfried Marek und Joseph Roth 75 Francs, Walter A. Berendsohn, Ferdinand Hardekopf und Max Hochdorf jeweils 60 Francs, Maria Leitner, Hans Natonek und Alfred Wolfenstein jeweils 50 Francs, Frank Arnau, Manfred Georg, Rudolf Leonhard und Arkadij Maslow jeweils 30 Francs; kleinere Beiträge wurden auch unter 30 Francs honoriert." 8 Der Honorarsatz von PTB und PTZ lag damit deutlich niedriger als derjenige z.B. von Willi Münzenbergs Wochenzeitschrift Die Zukunft."9 Er muss je-

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[Berthold Jacob u. Paul Dreyfus], Minderheitsbericht, a. a. O., S. 10. Zu berücksichtigen ist freilich, dass am 26.9.1936 ein neuer Wechselkurs des Franc eingeführt worden war, der eine faktische Abwertung von rund 30 Prozent bedeutete. Interne Notiz zur Redaktionsarbeit, o. Verf. [Fritz Wolff], o. D. [Ende Dez. 1936]; BAP, PTZ, N° 71, Bl. 63f. Genannt wurden Autorenhonorare, soweit die Honorarlisten freier Mitarbeiter aus dem Redaktionsarchiv darüber Aufschluss gaben; je nach Rubrik und Textlänge waren jedoch auch Schwankungen festzustellen. Die Zukunft zahlte bei 3spaltiger Aufmachung ein Honorar von 75 Francs pro Spalte (Werner Thormann an H. Blach, 30.7.1939; AN, F 7 15123, ch. B.). - Thomas Manns Zeitschrift Mass und Wert zahlte Joseph Roth zufolge 1937 »7 Schweizer Franken für >GediegenesPhoenix-Verlag< [...] fühlte ich mich selbst sehr bald aufs schlimmste hereingelegt, obwohl ich als >Herausgeber< zeichnen, und selbst noch das für die folgenden Nummern geltende Einführungsbändchen (>Deutsche und >ArierdurfteMitherausgeberc Herrn Jaques [sic] Friedland = Ivo [sic] = Jaques [sic] P. Terre, d.i. denselben Deutschen, der anfangs nur den freundlichen Vermittler zu Fürst gespielt, eingesetzt, und namentlich figurieren!!)."' 7

Ruests Angaben zufolge fand er sich bereits zum Jahresende 1935 aus seiner Herausgeberfunktion gedrängt, weshalb er auf dem dritten Verlagsprospekt zur Frühjahrsproduktion 1936 seinen Namen gestrichen habe. In demselben Brief an Paul Zech bezichigte er Fürst und Friedland, die Editions du Phénix für »schmutzigste Trödelgeschäfte« zur »Begaunerung (von) diesmal ausschliesslich >nicht-gleichgeschalteten< bzw. emigrierten Autoren«168 benutzt zu haben. Er schrieb:

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Vgl. nochmals die Darstellung in Kapitel 1.3. Der »Phönix«-Verlag teilt mit, PTB Jg. 1 N° 4 v. 16.6.1936, S. 3. Erschienen sind vermutlich nur 14 Titel; s. Hélène Roussel, Deutschsprachige Bücher und Broschüren im französischen Exil 1933-1940, bearb. v. Maria Kühn-Ludewig, a. a. O. Anselm Ruest an Paul Zech, 14.4.1936; DLA, NL P. Zech, N° 66. 549/1 (die Rede ist von Jacques bzw. Isaak Friedland; Pseudonyme Jack Iwo und Jacques P. Terre. Er veröffentlichte auch Feuilleton- und sonstige Beiträge in der PTZ, ein weiteres Indiz einer - ursprünglich von Ruest vermutlich nicht intendierten - engeren Verbindung zwischen den Editions du Phénix und der PTZ). Ebd.; Hervorh. i. Orig. - Die Anspielung auf frühere unlautere Geschäfte Fursts und Friedlands konnte nicht geklärt werden.

Ich - hatte dazu lediglich einige bekannte Namen zu bringen, mit denen eilig Verträge abgeschlossen wurden, die nun fast sämtlich schon gebrochen wurden, bzw. noch täglich werden-, (so hatte ich Paul Bekker, Luschnat, Mynona, Hardekopf, Gattermann etc. etc. gebracht - lediglich Mynona, unter jetzt weidlichem Schimpfen wurde noch gebracht - ) mit dem Erfolg, dass uns nach dem Ablauf des ersten Vierteljahres auch die vereinbarten Prozente (10 % vom Ladenpreis) anscheinend vorenthalten bleiben.' 6 '

Der Grund für das Nichterscheinen vieler im ersten Prospekt angekündigter Werke war also eine von Fürst und Friedland vorgenommene Umorientierung des Verlagsprogramms, die im Zentrum der Auseinandersetzungen mit Ruest stand. Dieser berichtete weiter an Zech: [...] kaltschnäuzig ist mir auch schon erklärt worden, man könne und werde natürlich nur >gängige< Bücher drucken, und mit Sicherheit überhaupt nur solche noch, die vorher 500 Subskribenten bringen oder ca. 1000 frz. Frs. Caution hinterlegen... Als >gängige< Ware aber gilt - wieder einmal: nicht Dichtung, vor allem nicht Qualität... sondern: entweder >KanonenIwo< selbst (= Friedland). 170

Angesichts dieser brieflichen Äusserungen drängt sich die Frage nach Ruests realem Einfluss auf den Verlag auf. Offenbar hatte er den Phoenix-Verlag aus der Asche gehoben, seinen Kurs aber kaum bestimmen können. Auch die Geschäftsbeteiligung von Robert Loeb ab April/Mai 1936 (er wurde laut Ruest »Hauptaktionär, wahrscheinlich Besitzer«171 des Verlags) änderte nichts mehr an den Fronten zwischen der Leitung des Phoenix-Verlags und seinem Initiator, dem nun »kein Autor, kein Manuskript mehr zu Gesicht kam«172. Dauerten auch die Auseinandersetzungen um den Phoenix-Verlag noch das Jahr 1936 über an, so hatte sich Ruest schon im Frühjahr einem anderen Projekt - dem Bühnenverlag Renaissance - zugewandt. 173 Der Fall der Editions du Phénix zeigt exemplarisch, dass Exilverlage - wie andere Verlage auch - nach marktwirtschaftlichen Prinzipien arbeiteten. Ruests Lektorats- und Herausgeber-Bemühungen galten der Förderung »wenn schon >aktuelle(r)überzeitliche(r)< Werke der Emigrati-

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Ebd.; Hervorh. i. Orig. Ebd.; Hervorh. i. Orig. 5 Bl. hs Notizen von A. Ruest, o. D., [dat. 13.12.1936]. Für die Überlassung der Kopien aus dem Teilnachlass (fortan: TNL) Ruests danke ich Herrn Hartmut Geerken, Herrsching. Ebd. Die Gründung des Verlages zusammen mit Eugen Ludwig Gattermann meldete das PTB in Jg. 4 N° 824 v. 15.3.1936, S. 3. Verlagssitz war 10, rue du Bois de Boulogne, Paris 16c; Ziel des Verlags war der »Vertrieb aller im heutigen Deutschland nicht mehr aufführbaren Bühnenwerke« (ebd.). Drei Werke wurden vorangekündigt: Der Boykott von Leo Bagoljubow, Brand, der Rebell von Alfred Apfel und Der geladene Harlekin von F. A. Corvin. Eine undatierte handschriftliche Notiz Ruests nennt Alexander Lazaroff als Autor von Der Boykott (Notiz im T N L Ruest, Privatbesitz H. Geerken). Ein Erscheinen der Werke ist bislang nicht nachweisbar.

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on« 174 , worin er im Exil so selten bearbeitete literarische Formen wie Poesie, Satire oder Drama einschloss. Die Verlagsinhaber Fürst und Loeb hingegen wollten gängige, d.h. auf dem Markt absetzbare, Literatur publizieren.175 Der Fall der Editions du Phénix liess aber auch Mechanismen der Vermittlung zwischen Markt und Öffentlichkeit erkennen: Ein erstes Indiz hierfür war die Natur der Umorientierung des Verlagsprogramms, ablesbar an der A b f o l g e der Verlagsprospekte. Spätere Phoenix-Titel wie Hitlers Kreuzzug gegen die Sowjetunion, Die Millionen Christuskreuz176

des Herrn Hitler oder der geplante Titel Hakenkreuz

gegen

erinnern stark an politische Broschüren der Editions du Carre-

four177, und die Phoenix-Bücher N ° 36-40 waren pauschal unter dem Titel Die Verteidigung

der Kultur angekündigt. Diese direkte Übernahme der Parole des

Pariser Schriftstellerkongresses vom Juli 1935 deutet die Richtung der erfolgten Neuorientierung des Verlagsprogramms um die Jahreswende 1935/36 an und kann als Indiz dafür gewertet werden, dass die Editions du Phénix unter den Einfluss der kommunistischen Kulturpolitik geraten waren.' 78 Die Entwicklung des Verlagsprogramms tradiert also eine Anpassung an die vorherrschende intellektuelle Konjunktur179 jener Jahre.

B. Druckereien Ebenso wichtige Elemente im Produktionsprozess literarisch-publizistischer Erzeugnisse waren die Druckereien, Zwischenstationen vom Manuskript zu dessen massenhafter Vervielfältigung. Ihre typographischen Möglichkeiten bestimmten die jeweilige materielle Qualität eines Presseerzeugnisses (z. B. den Schriftsatz eines Buches oder das Layout einer Zeitung). Doch nicht minder wichtig war deren sprachliche Kompetenz, und zwar nicht nur für den Satz einzelner Texte,

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Anselm Ruest an Paul Zech, 14.4.1936; DLA, N L P. Zech, N ° 66.549/1.

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So schrieb Robert Loeb an Ruest: »Leider haben die Schriftsteller zum grössten Teil solche Manuskripte geliefert, die gelinde gesagt, wenig Anklang beim Publikum finden. Ich will damit nicht anklagen, ich will damit auch nicht über die literarische Qualität dieser Bücher ein Urteil fällen, sondern lediglich die nackte Tatsache feststellen, dass gerade die von Ihnen gebrachten Manuskripte - bzw. Schriftsteller - zum >Schlechtgehen< qualifiziert sind. Wenn diese Bücher so schlecht abzusetzen sind, so liegt nach meiner Ansicht die Schuld weniger beim Verleger, als vielmehr beim Produzenten der Ware.« (R. Loeb an A. Ruest, 13.12.1936; T N L A. Ruest, Privatbesitz H. Geerken). Eine Veröffentlichung der unter diesem Titel angekündigten Schrift von Flavius (i. e. Erich Kaiser) ist in den Editions du Phénix nicht nachweisbar; 1939 erschien jedoch in Strassburg (Centre de Documentation) anonym ein gleichnamiger Titel. Vgl. z . B . E.Henry (i- e. Simon Rostovsky), Feldzug gegen Moskau? (1937) und Miles Ecclesiae, Hitler gegen Christus (1936). Unter dem Pseudonym verbarg sich der Katholik Dr. Carl Spiecker (Rechenschaftsbericht der Editions du Carrefour; A N , F7 15131, ch. 5). Das Buch hatte eine Auflage von 3.000 Stück und zum 31.12.1936 einen Lagerbestand von 370 Exemplaren (ebd.). Ein finanzieller Einfluss der KPD, etwa wie im Fall der PTZ um jene Zeit, lässt sich bislang nicht belegen. Zum Begriff der Konjunktur vgl. Kapitel 5. dieser Arbeit.

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sondern generell für die Organisation des Produktions- und Distributionsnetzes der Exilliteratur. Deutschsprachige Drucker bzw. Setzer waren - mit Ausnahme des Elsass - in Frankreich rar, weshalb die deutschen Exilpublikationen oft in jiddischsprachigen Betrieben hergestellt werden mussten. Von der Forschung bislang als pure Zulieferungsbetriebe verkannt, hatten die Druckereien keineswegs nur eine subalterne Position inne; in Einzelfällen entschieden sie über Sein und Nichtsein eines Exilorgans oder -verlags. Bestes Beispiel hierfür war die PTZ selbst gewesen, die nur dank wiederholt gewährter Zahlungsaufschübe der Imprimerie pour Journaux, Editions, Periodiques (J.EP.) 180 bzw. ihres Inhabers Marcel Schwitzguebel bis 1940 erscheinen konnte. Die Einstellung der PTZ am 18.2.1940 erfolgte denn auch, als dieser den Geldhahn definitiv zudrehte. Das Unternehmen schuldete dem Drucker 50.168,10 Francs181, für die der Konkursverwalter eine 60prozentige Tilgung über sechs Jahre hinweg vorsah. Doch vier Monate später besetzten deutsche Truppen Paris, und so ging Marcel Schwitzguebel — wieder einmal182 — leer aus. Wie im Falle der J.E.P. Marcel Schwitzguebels könnten breitere Forschungen den Anteil der Druckereien an der Exilpublizistik erweisen. In diesem Rahmen - und unter den Fragestellungen des literarischen Marktes - soll jedoch ein kursorischer Überblick über die weiteren Druckereien genügen. Wertet man die Druckvermerke 181 sämtlicher in Frankreich erschienenen Verlags- und Pressepublikationen der deutschen Emigration aus, so fällt zunächst auf, dass der Kreis der damit befassten Druckereien sehr beschränkt war. Auch handelte es sich dabei durchweg um französische Unternehmen, vermutlich, weil die hohen Investitionskosten für Druckmaschinen der Initiative von Emigranten enge Grenzen setzten. Zweitens war festzustellen, dass die Druckereien in der Regel keineswegs »wahllos« bzw. strikt nach Auftragslage druckten. Vielmehr

"() Die Adresse war 7, rue Cadet, Paris 9 e . 1,1 Liquidation Judiciaire »Pariser Tageblatt«, o. Verf., o. D. [1940]; BAP, PTZ, N° 1/1, Bl. 89. - Die Gesamtschuld der PTZ betrug rund 275.000 Francs; die grössten Posten betrafen den Vertrieb (100.000 Francs), den Drucker (50.000 Francs) und den Papierlieferanten (44.000 Francs). 182 Die Druckcrei J.E.P. von Schwitzguebel hatte die von dem katholischen Nationalrevolutionär Wilhelm Kiefer herausgegebene Zeitschrift Europa gedruckt. Nach nur fünf Monaten musste sie im Mai 1936 ihr Erscheinen einstellen. Otto Pick, einer der Geldgeber von Europa, berichtete Georg Bernhard von der finanziellen Misswirtschaft seiner Teilhaber: »Nachdem ich nun das ganze von meiner Frau und Schwiegermutter ersparte und glücklicherweise vor den Nazis gerettete Vermögen in Höhe von rund 78.000 Francs in die Zeitung gesteckt hatte, liess ich mich von Schoppen und Kiefer zur Unterzeichnung eines Wechsels von 10.000 Francs zur Bezahlung des Druckers verleiten. [...] Ich unterschrieb den Wechsel nach langem Sträuben obwohl mir Schoppen auf das Bestimmteste versicherte, dass er in den nächsten Tagen einen grösseren Betrag für die Zeitung erhielt. [...] Leider aber hatten die beiden Gesellschafter nicht ihr gegebenes Wort gehalten und musste die Zeitung eingestellt werden.« (Otto Pick an Georg Bernhard, 30.11.1936; BAP, PTZ, N° 70/1, Bl. 442ff.) - Einen Monat nach der Einstellung von Europa übernahm Schwitzguebel den Druck der PTZ. m

Zugrunde gelegt wurden die Angaben von Lieselotte Maas, Handbuch der deutschen Exilpresse 1933-1945, a. a. O., und von Hélène Roussel, Deutschsprachige Bücher und Broschüren im französischen Exil 1933-1940, bearb. v. Maria Kühn-Ludewig, a. a. O.

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Iiess sich für die Mehrzahl von ihnen ein fester Kundenkreis ausmachen, weshalb auch hier auf das Zusammenwirken marktinterner und -externer Kräfte geschlossen werden kann. Für diese Annahme spricht nicht nur der traditionell hohe Organisationsgrad des französischen Druckereiwesens184, sondern auch eine Serie von Einzelbeobachtungen: Die produktionsmässig wichtigste Druckerei für Exilpublikationen war die Imprimerie Coopérative Etoile185. Hier wurden nicht nur Bücher für den KOMINTERN-Verlag Editions Prométhée und für MUnzenbergs Editions du Carrefour gefertigt, sondern zeitweilig auch die Zeitschriften Die Internationale, Unsere Zeit (das Nachfolgeorgan des Roten Aufbau), Der Gegen-Angriff und sein Folgeorgan Deutsche Volkszeitung, die Deutsche Freiheit, die SDS-Zeitschrift Der Schriftsteller, die Mitteilungen der Deutschen Freiheitsbibliothek und die Deutschland-Informationen des ZK der KPD. Die politische Ausrichtung dieser Druckerzeugnisse legt nahe, dass die Imprimerie Coopérative Etoile ein KOMINTERN-Unternehmen war. Ebenfalls der KOMINTERN (oder der KPF?) zuzurechnen ist die Imprimerie Lantos Frères et Masson186, auf deren Pressen der Weltjugendkurier, die Internationale Bücherschau, die Zeitschrift für Freie Deutsche Forschung und zeitweilig auch Die Internationale gedruckt wurden. Auch druckte sie Buchpublikationen des Secours Rouge International (Rote Hilfe). Bereits bekannt sind die Beziehungen von Willi Münzenberg zu Lucien Mink187, dem Inhaber der Imprimerie Française188 und Herausgeber der Strassburger Zeitung La République. Durch die Pressen von Minks Druckerei gingen viele der Carrefour-Bücher sowie zeitweilig auch Nummern des Gegen-Angriff, der Deutschen Volkszeitung und der UZ (Unsere Zeit). Mink war es auch, der Münzenberg die Editions Sebastian Brant in Strassburg überliess, nachdem dieser sich vom KPD-Apparat getrennt hatte. Neben weiteren Druckereien kommunistischer Observanz189 fanden sich solche der II. und der IV. Internationale. Die Société Nouvelle d'Impression et d'Edition (S.N.I.E.)190 war vermutlich die Druckerei des ISK in Frankreich, der dort eine beachtliche publizistische Tätigkeit entwickelte. Hier wurden ausser den Büchern und Broschüren des Parteiverlages Editions Nouvelles Internationales (E.N.I.) die

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Vgl. Paul Chauvet, Les Ouvriers du livre et du journal. La Fédération française des travailleurs du livre, Paris 1971. Ihre Adresse war 17, rue de la Comète, Paris 7°; ab 1938 lautete sie 1 8 - 2 0 , rue Faubourg du Temple, Paris 1 I e . Ihre Adresse war 86, rue du Faubourg Saint-Denis, Paris 10 e . Vgl. H é l è n e Roussel, Editeurs et publications des émigrés allemands, a. a. O., S. 4 0 4 f f . Adresse: 5, place du Corbeau, Strasbourg. Weitere Druckereien der K O M I N T E R N oder der KPF, die für die K P D oder kommunistische Organisationen druckten, waren u. a. in Paris die Imprimerie Centrale, die Imprimerie Centrale de la Bourse, die Imprimerie Centrale du Croissant, die Imprimerie d'Art Voltaire, die Impr. Lang et Blanchong s o w i e in Metz die Imprimerie Populaire d'Alsace-Lorraine und in Strasbourg-Neudorf die Imprimerie Commerciale d'Alsace-Lorraine (I.C.A.L.). Ihre Adresse lautete 32, rue Ménilmontant, Paris 20 e .

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Bücher der von Karl Gröhl (Retzlaw) gegründeten Editions A.S.R.A. sowie die der Buchhandlung Science et Littérature (Inh. Ernst Heidelberger)191 hergestellt. An Presseorganen wurden dort vor allem Parteiblätter wie Willi Eichlers Reinhart-Briefe, die Sozialistische Warte und die Literaturzeitschrift des ISK, Das Buch, gedruckt. Doch stand die Druckerei auch den Trotzkisten offen, wie der zeitweilige Druck der Zeitschriften Unser Wort und Neuer Weg belegen. Der SAP sind die Druckereien Imprimerie Rony und Imprimerie Crozatier192 zuzuordnen, während sich die Publikationen der Sozialdemokraten in Frankreich auf die Imprimerie Spéciale und die Imprimerie Union konzentrierten. Jene druckten stetig oder zeitweise die Deutschland-Berichte der Sopade, den Neuen Vorwärts und Sonderhefte des Exilorgans der österreichischen Sozialisten, La Lutte socialiste. Bleiben einige Druckereien, die anhand ihrer Druckerzeugnisse nicht eindeutig parteipolitisch zugeordnet werden können. Die J.E.P. von Marcel Schwitzguebel wurde bereits erwähnt. Ebensowenig festlegen liess sich die Imprimerie Haloua193, die die Bücher der Editions du Phénix und der Editions Météore druckte, und schliesslich die beiden Unternehmen von Otto Zeluk. Seine Edition et Imprimerie Rapide de la Presse (E.I.R.P.)194 und die spätere Société Parisienne d'Impression (S.P.I.)195 druckten so verschiedene Organe wie das PTB, die aktion, zeitweilig auch das Neue Tage-Buch, Der Monat und Neue Front. Buchpublikationen fertigte Otto Zeluk u. a. für den Bergis-Verlag, in dem Das Blaue Heft erschien, und für die Editions Sebastian Brant. Zusammenfassend ist festzustellen, dass die mit der Herstellung von Presseund Verlagserzeugnissen der deutschen Emigration beschäftigten Druckereien eine starke parteipolitische Strukturierung aufweisen, die nahezu das gesamte politische Spektrum des Exils reflektiert. Damit dürfte hinreichend belegt sein, dass sich politisch-ideologische Gegensätze des intellektuellen Kräftefeldes bis in die einzelnen Instanzen des Marktes niederschlugen. Eine letzte Beobachtung soll diesen Befund untermauern: Willi Münzenbergs Wochenzeitschrift Die Zukunft wurde, trotz dessen bereits erfolgtem Aussschluss aus dem ZK der KPD, zu Beginn (Nr. 1-10) in der KOMINTERN-Druckerei Imprimerie Coopérative Etoile gedruckt. Ab N° 11 vom 17.3.1939 übernahm der parteilich ungebundene Otto Zeluk den Druck. Der Grund lag auf der Hand: Am 10.3.1939 hatte Münzenberg in der Zukunft seine Trennung von »Leitung und Apparat«196 der KPD erklärt; dieser Schritt schloss die Trennung von den Druckereibetrieben der Kommunisten

191 192 19:1 194 195 196 197

Vgl. dazu S. 105. 3, imp. Crozatier, Paris 12c, Inh. Bernstein. Ihre Adresse lautete 120, av. Parmentier, Paris IT. Die Adresse war 4 - 6 , rue Saulnier, Paris 9°. Der Firmen Wechsel wurde Mitte Mai 1937 vollzogen. Willi Münzenberg, Alles für die Einheit, Die Zukunft Jg. 2 N° 10 v. 10.3.1939, S. 11. Ein KPD-Bericht vom 16.3.1939 vermerkt: »Die Druckerei verweigerte ihm die weitere Herstellung der Zukunft, nachdem er seinen Austritt aus der Partei erklärt hatte.« (AN, F7

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C. Buchhandlungen und Leihbibliotheken Auch über die Buchhandlungen der deutschen Emigration in Frankreich ist noch wenig bekannt. Sie bildeten die Nahtstelle zwischen Markt und Öffentlichkeit: Nach Druck, Verlag und Kommissionshandel bzw. Vertrieb standen sie am Ende des Distributionsweges literarischer Produkte, wenn sie nicht selbst innerhalb Frankreichs für bestimmte Exilverlage den Vertrieb übernahmen. Gleichzeitig bot ihr Verkaufsraum einen Raum der literarischen Kommunikation. Nicht selten mit Leihbibliotheken und Teesalons kombiniert oder als Vortragsräume genutzt, erfüllten sie beide Teilfunktionen literarischer Kommunikation: die Diffusion von Literatur und die öffentliche Diskussion darüber. Unter Marktaspekten betrachtet, hatten zwei Buchhandlungen eine herausragende Bedeutung, nämlich die Agence de Librairie Française et Etrangère und die Librairie Au Pont de l'Europe. Erstgenannte war am 1.11.1935 ins Pariser Handelsregister198 eingetragen worden; ihr Inhaber war der emigrierte Rechtsanwalt Dr. Ern(e)st Strauss199. Dieser betätigte sich bald als Kommissionär fast aller wichtigen Exilverlage in Frankreich, den Niederlanden, Österreich, der Schweiz und der Tschechoslowakei.200 In geschäftliche Beziehungen zur PTZ trat er spätestens im Juli 1936; dort brachte er als Zwischenhändler den seit Juli 1935 existierenden, zeitungseigenen Buchvertrieb201 neu in Schwung und regte die Einrichtung der Literaturseite »Das neue Buch« an. (Sie erschien erstmals in PTZ N° 110 vom 29.9.1936.) Dass beide Seiten von dieser Zusammenarbeit profitierten, hatte Strauss in einem Schreiben an die Redaktion ausdrücklich festgestellt: Ich würde mich freuen, wenn die Angelegenheit des Buchvertriebs und des Literaturblatts gefördert und bald in Gang gebracht werden könnte. Ich glaube, das liegt ebenso in Ihrem wie in meinem Interesse.202

15123/4/d; das Dokument ist erstmals zitiert bei Tania Schlie, »Alles für die Einheit«, a. a. O., S. 94). Ab April 1939 ging in der Imprimerie Coopérative Etoile das KPD-Organ Deutsche Volkszeitung in Druck. "* Die Geschäftsadresse war 2, square Léon Guillot, Paris 15c. m In Frankfurt/M. geboren, hatte Strauss dort 1932 in Staatsrecht promoviert. Er flüchtete im März 1933 und gründete 1935 in Paris die Buchhandlung; am 23.8.1939 wurde er ausgebürgert. Im französischen Exil zeichnete er stets Ernest Strauss. 2(xl Der Briefkopf des Unternehmens verzeichnet eine imposante Liste von Verlagen, für die Strauss das Exklusivrecht für Frankreich besass: Malik-Verlag (Prag), Oprecht und Helbling/ Europa-Verlag (Zürich), Saturn-Verlag (Wien), D. Gundcrt (Stuttgart [!]), Vita Nova (Luzern), Gsur (Wien), Sexpol-Verlag (Kopenhagen), Editions Météore (Paris), Uitgeverij Contact (Amsterdam), Mercure de l'Europe (Paris), Rolf Passer (Wien), Zeitbild (Wien), J. Kittl (Ostrau). Ferner wurde er als Kommissionär der Verlage Allert de Lange (Amsterdam), Schweizer Spiegel-Verlag (Zürich), Genossenschaftsdruckerei (Zürich), Adolf Synek (Prag), Rotapfel-Verlag (Erlenbach), Eugen Rentsch (Erlenbach), Editions du Carrefour (Paris) und Reso-Verlag (Zürich) genannt (Strauss an PTZ, 15.10.1936; BAP, PTZ, N° 47, Bl. 421). 201 S. dazu nachfolgend Kapitel 3.3., Abschnitt A. 2(12 Ernest Strauss an PTZ, 5.8.1936; BAP, PTZ, N° 47, Bl. 422.

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So setzte Strauss seine Verlagskontakte gezielt ein, um (gegen Provision) die Insertion in der PTZ zu steigern. Die Abmachung lautete: Sie werden jeweils nach Besprechung mit unserer Redaktion bei den von Ihnen vertretenen Verlagen anregen, dass die Neuerscheinungen in möglichst grossem Umfang bei uns inseriert werden. Diese Inseratenaufträge, egal ob sie uns durch Sic oder die Verlage direkt zugeleitet werden, verrechnen wir über (das) genannte [Inseraten-; M. E.] Konto. Eine Ausnahme bildet der Verlag O P R E C H T & HELBLING in ZÜRICH, der bisher schon regelmässiger Inserent gewesen ist. 203

Zusammen mit dem Pariser SDS war Strauss 1937 mit der Organisation der Ausstellung »Das deutsche Buch in Paris 1837-1937« beschäftigt, die er bewusst als Gegenveranstaltung zur Nazi-Progaganda während der Pariser Weltausstellung plante. Ende 1937 erschien im Selbstverlag seine Broschüre Fünf Jahre freies deutsches Buch 1933-1938204, eine der ersten Bibliographien zur Exilliteratur, die zum Entstehen der Zeitschrift Das Buch20S beitrug. Und noch aus späteren Jahren finden sich Belege seiner Tätigkeit nicht nur in der PTZ206, sondern z. B. auch im Redaktionsarchiv der Zukunft und im Archiv des Allert de Lange-Verlages. Ernest Strauss, dessen Spur sich 1940 in Frankreich verliert, war fraglos eines der wichtigsten Bindeglieder zwischen Markt und Öffentlichkeit der deutschen Emigration in Frankreich. Gleichfalls hervorzuheben ist die Buchhandlung Au Pont de l'Europe207. Sie wurde schon am 15.3.1933 als deutsch-französisches Unternehmen gegründet und im Pariser Handelsregister mit dem Zusatz »Centre d'information artistique et littéraire franco-allemand« eingetragen. Doch ihre französischen Teilhaber Jacques, Arnold und Claude Naville figurierten vermutlich nur zur juristischen Absicherung der Buchhandlung, deren fachliche Leitung Ferdinand Ostertag hatte. Ostertag war ein aus Berlin emigrierter Buchhändler; als solcher war er bis 1933 Mitglied des Börsenvereins des deutschen Buchhandels gewesen. 208 Kürzere Zeit an dem Unternehmen beteiligt war u. a. auch Otto Gustav Ernst

201

PTZ an Ernest Strauss, 5.2.1937; BAP, PTZ, N° 47, Bl. 418; Hervorh. i. Orig. [Ernest Strauss, Hg.] Fünf Jahre Freies Deutsches Buch 1933-1938, Paris 1938 (Selbstverlag). - Die Broschüre wurde bereits in PTZ Jg. 3 N° 567 v. 1.1.1938, S. 4 angekündigt. 205 Vgl. Ernest Strauss an Walter A. Berendsohn, 11.6.1938; DBF, T N L W. A. Berendsohn, EB 54b/7: »... ich sende Ihnen gleichzeitig [...] die zweite Auflage meiner Bibliographie >Fünf Jahre freies deutsches Buch< und das Heft 2 der daraus hervorgegangenen Zeitschrift Das Buch. Heft 1 der Zeitschrift ist mit der zweiten Auflage meiner Bibliographie identisch.« Die Literaturzeitschrift Das Buch war eine Publikation des ISK, dem Strauss offenbar nahestand (s. dazu auch im folgenden Abschnitt D. S. 111). 206 Er stand mit der Zeitung mindestens bis August 1938 in geschäftlichem Kontakt. 21,7 Sie befand sich 17, rue Vignon, Paris 8°. 20 * Einem Schreiben an Döblin zufolge war er 1930 bereits in der Buchhandlung Leipziger Strasse (Berlin) tätig (Ostertag an A. Döblin, 17.10.1930; DLA, D:Döblin). Nach Quellen des Börsenvereins (s. Deutsches Bücherverzeichnis des Börsenvereins Deutscher Buchhändler in Leipzig, Bd. 18 (1931-1935), Anhang S. 19 und Bd. 16 (1926-1930), Anhang S. 51) hatte Ostertag vor 1933 die Buchhandlung Hagadah schel pessah in der Kleiststr. 20, Berlin W 62 geleitet. 204

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Wittenborn, der 1936 in die USA emigrierte. Er war es vermutlich, der dort 1937 in New York die grosse Kunstbuchhandlung Wittenborn & Company gründete. Noch in Berliner Tagen hatte Ferdinand Ostertag sich einen prominenten Kundenkreis erworben, zu dem u. a. Alfred Döblin209 sowie Heinrich und Klaus Mann 210 zählten. Diese blieben auch in Paris treue Kunden; Ostertag übernahm für sie Bücherrecherchen, vermittelte die Übersetzungsrechte für Heinrich Manns Henri /V-Roman 2 " und war überhaupt eine ständige »Adresse« für Literaturgespräche und Fachsimpeleien, wie u. a. die Aufzeichnungen von Walter Benjamin 212 und Klaus Mann213 belegen. Ihren Kundenservice verbesserte die Buchhandlung 1938 durch die Eröffnung einer »Leihbibliothek für französische und deutsche Literatur zu sehr günstigen Bedingungen« 214 . Im selben Jahr wurde Au Pont de l'Europe Alleinvertreter der Verlage Allert de Lange, Querido und Bermann-Fischer für Frankreich und die französischen Kolonien, d. h., die Buchhandlung wurde eine Zweigstelle der am 9.8.1938 in Amsterdam gegründeten Zentralauslieferung dieser drei Verlage. Mit dieser eingegangenen Bindung hängt vermutlich auch die Streichung der Buchhandlung aus dem Auslands-Adressbuch des deutschen Börsenvereins zusammen, in dem Au Pont de l'Europe - im Gegensatz zu Ernest Strauss, der sich schon früher politisch exponiert hatte - noch bis 1938 verzeichnet wurde.215 Doch wie auch im Falle von Strauss' Agence de Librairie Française et Etrangère stellte die Buchhandlung Au Pont de l'Europe 1939/40 ihre Aktivitäten ein, verliert sich die Spur ihrer Inhaber mit Krieg und Okkupation. Im

™ Vgl. nochmals Ostertag an A. Döblin, 17.10.1930; DLA, D:Döblin. 2I " Im Juli 1933 schrieb Ostertag an Heinrich Mann: »Hochverehrter Herr Mann, Ich nehme an, dass meine Zirkulare über die Neugründung unserer Buchhandlung infolge der Zeitwirren Sie nicht erreicht haben. Ich gestatte mir deshalb ergebenst Ihnen durch diese Zeilen meine neue Adresse mitzuteilen, nachdem ich Ihrem Neffen Klaus die Ihre verdanke. Ich wäre Ihnen natürlich sehr dankbar, wenn Sie mich auch in meinem neuen Unternehmen mit Ihren Aufträgen beehren würden. Mit vorzüglicher Hochachtung, F. Ostertag« (F. Ostertag an H. Mann, 2.7.1933; SAdK, H. Mann-Archiv, T N III, in Bl. 214). 211 Vgl. Ferdinand Ostertag an Heinrich Mann, 12.2.1936; SAdK, H.Mann-Archiv, TN III, Bl. 2709. - La Jeunesse d'Henri IV erschien 1938 bei Pierre Tisne in Paris. 212 S. den Brief Benjamins an Max Horkheimer v. 10.8.1936, in: Walter Benjamin, Briefe, hg. u. eingel. v. Th. W. Adorno und Gershom Scholem, Bd. 2, Frankfurt/M. 1966, S. 716ff. und das Schreiben von Rudolf Roessler, Inhaber des Vita Nova-Verlags in Luzern, an Benjamin v. 4.12.1936. Darin heisst es: »Lebhaft begrüssen wir Ihre freundliche Absicht, mit Herrn Ostertag nach Ihrer Rückkehr nach Paris zu sprechen, und zu versuchen, ihn zu einer stärkeren Propaganda für unsere Bücher zu veranlassen.« (SAdK, W. Benjamin-Archiv, N° 34, Bl. 31). 2 " So notierte Klaus Mann wiederholt in seinen Tagebüchern Besuche in der Buchhandlung, z. B. am 12.3.1934: »Bei Pont de l'Europe. Unterhaltung mit Ostertag - Wittenbom. Bücher angeschaut usw.« (K. Mann, Tagebücher 1934-1935, hg. v. Joachim Heimannsberg, Peter Laemmle und Wilfried F. Schoeller, München 1989, S. 22). 214 Wortlaut eines Werbeinserats in PTZ Jg. 3 N° 739 v. 17./18.7.1938, S. 3. 215 Letztmalige Eintragung im Adressbuch des Deutschen Buchhandels, hg. v. Börsenverein deutscher Buchhändler zu Leipzig, Jg. 100 (1938), S. 450. Dort war auch bis zuletzt Jacques Naville zusammen mit Ostertag als Geschäftsführer verzeichnet, weshalb die Buchhandlung leicht als französisches Unternehmen firmieren konnte.

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Oktober 1940 notiert das Pariser Handelsregister die Geschäftsübergabe, im April 1942 die Expropriation als »jüdisches« Unternehmen. Zum weiteren Spektrum deutscher Emigrantenbuchhandlungen in Paris gehörten auch Unternehmen wie die Buchhandlung Science et Littérature216. Ihr Inhaber Ernst Heidelberger hatte das in einer Seitenstrasse der Sorbonne gelegene Unternehmen im September 1937 als französische Buchhandlung und Leihbücherei eröffnet. Doch bald erweiterte er das Angebot um die Werke deutscher Emigranten und um ein modernes Antiquariat. Seine verlegerischen Aktivitäten gingen, wie er selbst berichtete, auf Lâszlo Radvânyi, den Leiter der Freien Deutschen Hochschule in Paris, zurück, der nach einer Vertriebsadresse für die Zeitschrift für freie deutsche Forschung suchte.217 (Die Freie Deutsche Hochschule hielt in der Buchhandlung auch Abendkurse ab.) 1938/39 verlegte Heidelberger sogar zwei Bücher, Alfred Döblins Schrift Die deutsche Literatur (im Ausland seit 1933)218 und einen Essayband von Manès Sperber219. Der Kriegsbeginn bedeutete auch in diesem Fall das Ende der Buchhandlung. Nicht verlegerisch hervorgetreten ist die Librairie Internationale Biblion220, die dem Pariser Literatencafé Le Dôme gegenüberlag. Ihr Gründungsdatum ist der 1.7.1934; ihre Inhaber waren u.a. der aus Frankfurt/Main emigrierte Buchhändler Paul Günzburg und die Jugendbuchautorin Ruth Rewald.221 (Von ihr war ein Kinderbuch222 im selben Jahr bei den Editions du Carrefour erschienen, zu denen Biblion auch Geschäftsbeziehungen unterhielt.) Der Buchhandlung angeschlossen war eine deutsch-französische Leihbibliothek sowie ein Antiquariat. Biblion war häufiger Inserent in PTB/PTZ; ihre Inserate geben über die weitere Entwicklung der Buchhandlung Aufschluss. Im Dezember 1936 annoncierte sie den Wechsel der Geschäftsführung unter »Beibehaltung von Geist und Richtung der Buchhandlung« 223 , doch bleibt ungeklärt, ob finanzielle Probleme oder die wachsende politische Arbeit der Teilhaber (insbesondere Ruth Rewalds224) dafür verantwortlich waren. Zum 10.3.1937 verzeichnet das Handels-

216

Sie befand sich 21, rue Cujas, Paris 6C. Ernst Heidelberger, Une vie en tranches, in: Gilbert Badia u. a., Exilés en France, S. 190-213. 2 " Alfred Döblin, Die deutsche Literatur (im Ausland seit 1933). Ein Dialog zwischen Politik und Kunst, Paris 1938 (= Schriften zu dieser Zeit, Bd. I). 2 " Manes Sperber, Zur Analyse der Tyrannis, Paris 1939 (= Schriften zu dieser Zeit, Bd. II). 2211 Sie befand sich 25, rue Bréa, Paris 15e. 221 Die weiteren Teilhaber waren die deutschen Emigranten Joachim Schmidt und Käthe Hirsch sowie die Holländerin Alida Fontaine. 222 Ruth Rewald, Janko der Junge aus Mexico, Paris 1934. - Vgl. auch: Dirk Krüger, Die deutsch-jüdische Kinder- und Jugendbuchautorin Ruth Rewald und die Kinder- und Jugendliteratur im Exil, Frankfurt/M. 1990. 223 Werbeinserat, PTZ Jg. 1 N° 185 u. 188 v. 13. u. 16.12.1936, S. 4. 224 Ihr Lebenslauf in den Akten der KPD gibt darüber Aufschluss: »Juni 1936 und Dez., Jan. 36/37 arbeitete ich als Sekretärin im Comité Mondial [pour la Lutte contre le Fascisme; M. E.], 38 bd. Raspail (Ref. Annette Vidal, Paul Friedländer), von Juli bis Anfang Nov. arbeitete ich für die Internationale Agrarkonferenz in Brüssel 4. 6.Sept. im Rahmen des R.U.P. [Rassemblement Universel pour la Paix; M. E.] (Ref. Otto [Katz; M. E.]) z. Zt. Institut Agraire International in M.[oskau], als dessen Sekretärin ich in Brüssel war.« (Ms. Lebenslauf, o. D.; AN, F7 15131, ch. 1). 217

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register die Auflösung des Unternehmens, doch existierte die Buchhandlung mit neuen Inhabern zumindest bis 1939 fort, wie die Inserate in der PTZ bewei225

sen. Ein weiteres Emigrantenunternehmen war die Pariser Librairie Franco-Allemande (Lifa)226, deren Eröffnung ein /Tß-Inserat vom Februar 1935 meldet.227 Ihr Inhaber war der Sozialdemokrat und ehemalige Berliner Rechtsanwalt Dr. Wilhelm Leo, der nach der Darstellung seines Sohnes die Buchhandlung »bald zu einer Stätte der Begegnung zwischen sozialdemokratischen und kommunistischen Emigranten« 228 werden liess. Ausserdem wurde sie von der Deutschen Volkshochschule als Vortragsraum229 genutzt. Zum Angebot der Buchhandlung zählten deutsche, französische, englische und italienische Bücher, Zeitschriften und Zirkulare sowie Sprachkurse in Hebräisch.230 Seit dem 20.5.1938 wartete Lifa zusätzlich mit einer »marxistischen Bibliothek«231 auf. In der PTZ stellte sich Lifa von 1938 bis Ende August 1939 als deutsche Leihbibliothek vor. Keine Emigrantengründung, doch der Emigration aufgeschlossen war die deutsche Buchhandlung und Leihbibliothek Eda232, die mindestens schon seit 1932 existierte. Der Bestand der Leihbibliothek umfasste einem im Archiv der PTZ erhaltenen Katalog233 zufolge im September 1933 ca. 2.300 Bände; im November 1936 war er laut einer Werbeannonce234 in der PTZ auf 28.000 deutsch-, französisch- und englischsprachige Titel gestiegen. Aus diesem Buchbestand lieh Eda der PTZ gelegentlich Titel zu Rezensionszwecken u. ä.235 Geschäftliche Kontakte unterhielt Eda u. a. mit dem Allert de Lange-Verlag. 236

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Die Buchhandlung inserierte z . B . in PTZ Jg. 3 N° 573 u. 587 v. 7. u. 21.1.1938, S. 6: »Sämtliche Bücher, die die Tageszeitung bespricht, kaufen oder leihen Sic bei Biblion«. Sie befand sich 17, rue Meslay, Paris 3C; ab 1.1.1938: 59, rue Meslay. Werbeinserat, PTB Jg. 3 N ° 4 3 9 v. 24.2.1935, S. 3. Gerhard Leo, Feuerproben, in: Dora Schaul (Hg.), Résistance. Erinnerungen deutscher Antifaschisten, a. a. O., S. 9 2 - 1 1 3 , hier S. 92. Gerhard Leo (Un train pour Toulouse, Paris 1989, S. 102) schreibt: »Le professeur Johann Lorenz Schmidt, le mari d'Anna Seghers, Egon Erwin Kisch et d'autres venaient y tenir des conférences.« - Finanziert wurde das Unternehmen weitgehend von einem französischen Industriellen und Cousin seines Vaters (ebd., S. 104). Werbeinserat, PTB Jg. 3 N° 691 v. 3.1 1.1935, S. 3; dieselbe Anzeige noch mehrmals im Dezember 1935. Werbeinserat, PTZ Jg. 3 N° 686 v. 15./16.5.1938, S. 3. Die Adresse lautete: 10, rue Blanche, Paris 9C. Eda - Librairie Internationale, Paris. Katalog der deutschen Leihbibliothek, September 1933, 45 S.; BAP, PTZ, N° 346. Werbeinserat, PTZ Jg. 1 N° 146 v. 4.11.1936, S. 4. Eda hatte z. B. Alfred Döblin einen Roman von Pearl S. Buck geliehen (BAP, PTZ, N° 70, Bl. 108), als dieser für die PTZ seinen Artikel »Der Nobelpreis für Frau Buck« (PTZ Jg. 3 N° 853 v. 27./28.11.1937, S. 3) verfasste. Vgl. z. B. Allert de Lange an Eda, 5.11.1935; Internationaal Instituut voor Sociale Geschiedenis (fortan: IISG), Nachlass des Allert de Lange-Verlages (fortan AdL), N° 148, Bl. 52. Akten aus dem AdL-Nachlass werden nach den Signaturen des ehemaligen Zentralen Staatsarchivs in Potsdam zitiert, wo der Bestand eingesehen werden konnte.

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Seit 1934 gehörte zur Buchhandlung ein Teesalon 237 , für den sie im PTB warb (»Den besten Kuchen isst man in Paris im Teesalon Eda« 238 ), und 1936 inserierte sie für »Teesalon und Mittagessen« 239 . Literarische und soziale Aktivität der Buchhandlung waren auf diese Weise eng verknüpft. Wenig eruieren Hess sich über die Buchhandlung C. Mayer & Cie 240 , die in der PTZ nur 1939 sporadisch inserierte. Eine Mappe von Buchprospekten 241 , die sie an die PTZ versandte, sowie ein umfangreicher Katalog 242 , der in der Mehrzahl Titel der Editions Promethee verzeichnete, lassen darauf schliessen, dass es sich bei der Buchhandlung um ein KOMINTERN-Unternehmen handelte. D. Emigrationsorgane mit Literaturteil Nicht vorstellbar ist das Funktionieren des literarischen Marktes ohne eine weitere Instanz, die Exilpresse. Auf deren grundsätzliche Bedeutung als Veröffentlichungsraum für literarische Texte, als Ort für den (Vor-)Abdruck aus Büchern und Broschüren, für die Ankündigung von Neuerscheinungen, für Verlagsanzeigen und Rezensionen wurde bereits im Zusammenhang mit dem Feuilleton von PTB und PTZ hingewiesen, das in dieser Hinsicht zwischen 1933 und 1940 eine herausragende Rolle spielte. 243 Eine vergleichbare Bedeutung für den literarischen Markt der deutschen Emigration in Frankreich erreichten nur wenige Exilorgane, die deshalb eine direkte Konkurrenz für das Feuilleton von PTB und PTZ darstellten. Diese Exilorgane konkurrierten mit PTB und PTZ nicht nur um Leser bzw. Auflagenzahlen, sondern auch um privilegierte Verlagsbeziehungen (Inserate, Abdruckgenehmigungen für Feuilletontexte, Fortsetzungsromane) und um die Mitarbeit renommierter Autoren, die zu Aushängeschildern der jeweiligen Zeitungen wurden. Grösster Konkurrent von PTB und PTZ war die von Leopold Schwarzschild zwischen 1933 und 1940 in Paris herausgegebene, unabhängige Wochenschrift Das Neue Tage-Buch,244 Die vorwiegend politisch-ökonomisch orientierte Zeitschrift führte zusätzlich einen Kulturteil, der literarische Essays, (Vor-)Abdrucke aus Büchern und Broschüren, Rezensionen und Verlagswerbung umfasste und rund ein Viertel der 24 Seiten starken Hefte einnahm. Hinzu kamen zahlreiche Meldungen zur nationalsozialistischen Kulturpolitik (u. a. in der Rubrik »Miniatu-

237 2.8 2.9 240 241 242

243 244

Werbeinserat, PTB Jg. 2 N° 284 v. 22.9.1934, S. 3. Werbeinserat, PTB Jg. 3 N° 56° v. 25.6.1935, S. 3. Werbeinserat, PTZ Jg. 1 N° 146 v. 4.11.1936, S. 4. Sie befand sich 148, rue de Rennes, Paris 6'. Mappe mit mehreren Einzelprospekten in BAP, PTZ, N° 74. Buchhandlung Mayer & Cie, Deutsche Bücher. Unterhaltung, Belehrung, Wissen; 64 S. o. D.; DBF, EB Ks 1491. S. dazu bereits Kapitel 3.1. dieser Arbeit. Es erschien vom 1.7.1933-11.5.1940; Redaktionsadresse war 56, rue du Faubourg SaintHonore, Paris 8C. Die Auflage des NTB beziffert Hans-Albert Walter (Deutsche Exilliteratur 1933-1945, Bd. 4 Exilpresse, a. a. O., S. 73) mit »15-16 000 als Maximum«, »wahrscheinlich niedriger«. Das NTB ist auch zugänglich als Reprint, Nendeln (Liechtenstein) 1975.

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ren«) und zu Kulturveranstaltungen der Emigration (etwa in der Rubrik »Abseits von der Reichskulturkammer«). Als (freie) Mitarbeiter im Kulturteil in Erscheinung getreten waren u. a. Ludwig Marcuse, Walter Mehring, Alfred Polgar, Joseph Roth, Hermann Wendel und Paul Westheim, die alle gelegentlich auch in PTB und PTZ veröffentlichten.245 Als Beispiel für die Konkurrenz zwischen PTB/PTZ und dem NTB ist der Wechsel einiger renommierter Autoren anzuführen: So war z. B. Alfred Döblin 1935-37 fester Mitarbeiter bei PTB/PTZ, wechselte noch im selben Jahr zum NTB und von dort 1938 zur Zukunft. Klaus Mann veröffentlichte nach der Einstellung der Sammlung vorwiegend in PTB/PTZ, mit Ausnahme des Jahres 1937, wo er häufiger im NTB publizierte. Und Joseph Roth, bis 1938 regelmässiger Mitarbeiter des NTB, wechselte 1939 zur PTZ. Ein ausgesprochenes Hindernis für eine detaillierte Darstellung der reziproken Beziehungen stellt im Falle des NTB - wie auch der anderen nachstehend aufgeführten Organe - die lückenhafte Kenntnis der Redaktionsgeschichte dar. Sie hätte im Falle des NTB nicht nur Aufschluss zu geben über die Redakteure dieser Zeitschrift, insbesondere nach dem Wechsel des Chefredakteurs Joseph Bornstein zur PTZ im Dezember 1938.246 Sie hätte auch die Auswirkungen des »PTB-Skandals« vom Juni 1936 zu untersuchen, der zur ökonomischen Konkurrenz zwischen beiden Zeitungen eine politische Gegnerschaft und persönliche Feindschaft zwischen Schwarzschild und Georg Bernhard hinzufügte, welche auf die Mitarbeiter der beiden Blätter zurückwirkten.247 Das NTB war das einzige bürgerlich-unabhängige Exilorgan in Frankreich, dessen Kulturteil in ständiger Konkurrenz zum Feuilleton von PTB und PTZ stand. Doch gab es einige weitere - kommunistische - Organe, die gleichfalls ein (wie auch immer reduziertes) Feuilleton führten: U. a. erschien die von Willi Münzenberg finanzierte Wochenschrift Der Gegen-Angriff (fortan: GA j248 unter der Redaktion von Bruno Frei seit April 1933 in Prag. Parallel zur achtseitigen

245

Eine A u s n a h m e war Paul Westheim, der Kunstkritiker von PTB/PTZ; seine Mitarbeit am NTB ein.

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D i e aktuellen Kenntnisse der Redaktion(sgeschichte) des NTB sind noch auf dem Stand von 1974, als Hans-Albert Walter schrieb: »Neben dem Herausgeber Schwarzschild war lediglich der - etwas euphemistisch als Chefredakteur bezeichnete - Joseph Bornstein (Ps. Erich Andermann) fest angestellt. Ob Schwarzschilds Neffe, der Wirtschaftsjournalist Rudi Aron (Ps. Joachim Haniel) der Redaktion fest angehörte, ist nicht geklärt. In jedem Fall zählte er zum engsten Mitarbeiterkreis des Blattes, das ausser diesem Kernteam nur zwei kaufmännische Angestellte fest beschäftigte.« (Hans-Albert Walter, Deutsche Exilliteratur 1 9 3 3 - 1 9 5 0 , Bd. 7 Exilpresse I, Darmstadt u. Neuwied 1974, S. 104). - Eine Liste aus dem Redaktionsarchiv d e s NTB nennt Rudolf Aron, Grete Freund und Lilli Jacoby als Mitarbeiter (ms. Mitarbeiterliste, dat. 1.9.1939; B A P , Bestand N T B , N ° 11, Bl. 1); das gesamte Redaktionsarchiv des NTB konnte für die vorliegende Untersuchung jedoch nicht durchgesehen werden. S o m u s s der W e c h s e l Döblins von der PTZ zum NTB im Jahre 1937 als Nachwirkung d e s »PTB-Skandals« gesehen werden. Vgl. dazu auch Kapitel 5.1., Abschnitt C. dieser Arbeit. V g l . Der Gegen-Angriff. Antifaschistische Wochenschrift. Reprint 1 9 3 3 - 1 9 3 6 , V o r w . v. Bruno Frei und Silvia Schlenstedt, 3 Bde., Nendeln (Liechtenstein) 1982. - B. Frei bezifferte die A u f l a g e auf 8 - 1 2 . 0 0 0 Exemplare (s. W o l f g a n g Krämer und Gerhard Müller, Der GegenAngriff. Autoren-, Personen- und Sachregister. Mit Beiträgen v. B. Frei, W o r m s 1982, S. 10).

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er stellte j e d o c h 1936

Prager Ausgabe brachten jedoch Münzenbergs Mitarbeiter von Oktober 1933 bis Januar 1935 eine sogenannte »Pariser Ausgabe« für Frankreich und das Saargebiet heraus, die häufig nur den Prager Mantel beibehielt.249 Die antifaschistische Wochenschrift - so der Untertitel des GA - führte (in der Regel auf Seite 4/5) ein Feuilleton mit kurzen literarischen Beiträgen oder Essays, mit Rezensionen und Werbeanzeigen. Im Feuilleton des GA veröffentlichten neben Bruno Frei in der Regel kommunistische oder KP-nahe Autoren, so z. B. Hans Günther, Kurt Kersten, Rudolf Leonhard, Franz Leschnitzer, Ernst Ottwalt, Gustav Regler, Erich Weinert und Franz Carl Weiskopf, die allerdings nicht bzw. erst nach der Einstellung des GA auch in PTB/PTZ publizierten.250 Ernstere Konkurrenz erwuchs der PTZ ab Herbst 1938 mit Willi Münzenbergs Wochenzeitung Die Zukunft.251 Diese führte in der Regel auf zwei von insgesamt 12 Seiten Umfang ein Feuilleton, das bis Ende März 1939 von Ludwig Marcuse redigiert wurde. Nach dessen Ausscheiden hatte es Chefredakteur Werner Thormann weitgehend mit übernommen. 252 Unterstützt wurde er dabei von Hans Siemsen und Manes Sperber, die beide nach dem Weggang Arthur Koestlers253 zur Redaktion gestossen waren. Im Feuilleton der Zukunft erschienen häufiger Auszüge aus Büchern und Broschüren, kulturkritische Glossen, Buchrezensionen, Ankündigungen von Neuerscheinungen, Verlagsinserate sowie Teile von Alfred Döblins November 1918 als Fortsetzungsroman. Dass nach der Münzenberg-Phase der PTZ die Beziehungen zwischen ihr und der Zukunft selbst im literarisch-kulturellen Bereich254 nicht die besten waren, davon zeugt die Weigerung der PTZ, einen vom Freundeskreis der Zukunft veranstalteten Vortragsabend Walter Mehrings anzukündigen. PTZ- Verleger Fritz Wolff begründete diese Weigerung wie folgt: Es ist uns [...] unmöglich, Veranstaltungen zu propagieren, die der Reklame für Ihre Wochenschrift dienen - einer Wochenschrift, die unserer Zeitung gegenüber eine konkurrierende und durchaus nicht immer freundschaftliche Haltung eingenommen hat."55

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'' Vgl. Wolfgang Krämer und Gerhard Müller, Der Gegen-Angriff, a. a. O., S. 29. Regelmässige Mitarbeiter wurden in späteren Jahren Kurt Kersten und Rudolf Leonhard. 251 Sie erschien vom 12.10.1938 bis 10.5.1940 und trug ab Mai 1939 den Untertitel Organe de /'Union franco-allemande. Redaktionssitz war 41, bd. Haussmann, Paris 91; die Auflagenzahlen schwankten zwischen 8.000 und 11.000 Exemplaren (AN, F7 15126/1/B). - Die Zukunft ist auch zugänglich als Reprint, Vaduz (Liechtenstein) 1978; zur Redaktionsgeschichte s. Tania Schlie, »Alles für die Einheit«, a. a. O., S. 89-102. 252 Davon zeugt die Redaktionskorrespondenz der Zukunft, die ab Frühjahr 1939 auch für den Kulturteil meist von Thormann erledigt wurde (s. AN, F.7 15123-15124). 251 Arthur Koestler war lediglich von Oktober bis Dezember 1938 Redakteur bei der Zukunft; das Redaktionsarchiv in den Pariser Archives Nationales verbürgt die Daten. 254 Zu den politischen Spannungen zwischen PTZ-Verleger Fritz Wolff und Willi Münzenberg s. bereits Kapitel 1.3. 255 Direction W/N an Zukunft, 5.6.1939; BAP, PTZ, N° 71, Bl. 31. 2511

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Die Zukunft warf der PTZ daraufhin vor, dem Emigranten Mehring ihre publizistische Unterstützung zu versagen256 — und unternahm einen erneuten Vorstoss zur Insertion eines geplanten Döblin-Abends: [...] wenn ihre Direktion sich an dem Namen >Freunde der ZUKUNFT< stösst, dann lassen Sie das doch einfach weg! Bringen Sie nur eine kurze Meldung 257 ,

schlug Hans Siemsen scheinbar naiv vor. Bei der PTZ reagierte man nun gereizt: »bitte sofortige Rücksendung beider Briefe« 258 , lautet die handschriftliche Anweisung Bornsteins auf Siemsens Schreiben. Ebenfalls seit 1938 erschien die zuvor nach Prag emigrierte Neue Weltbühne (fortan: NWB)259 in Paris. Als Wochenschrift für Politik, Kunst, Wirtschaft - so ihr Untertitel — umfasste sie einen regelmässigen Kulturteil, der literarische Texte und Essays, gelegentliche (Vor-)Abdrucke aus Büchern und zumeist ausführliche Rezensionen enthielt. Im Feuilleton der NWB traten u. a. Heinrich Mann, Hermann Kesten, Balder Olden, Alfred Polgar, Werner Türk und F. C. Weiskopf hervor, die teils auch in PTB/PTZ veröffentlichten. Unter Hermann Budzislawskis Chefredaktion hatte die NWB einen KPD-nahen Kurs eingenommen und auch im Kulturteil die kommunistische Kulturpolitik durchzusetzen versucht.260 Dass die NWB trotz ihrer unterschiedlichen redaktionellen Orientierung seit ihrer Übersiedlung nach Paris eine Konkurrenz für die PTZ bedeutete, zeigen die Werbeinserate, die sie zwischen April 1937 und Juni 1938 in ihr wöchentlich veröffentlicht hatte und die mit der Übersiedlung nach Paris ein Ende fanden.261 Einige weitere gleichfalls in Frankreich erschienene Exilpublikationen mit Kultur- bzw. Literaturteil haben hingegen keine ökonomische Konkurrenz für PTB/PTZ dargestellt. Dies galt für die streng wissenschaftlich orientierte Zeit-

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S. den weiteren Briefwechsel: Zukunft an Direktion PTZ, 7.6.1939; BAP, PTZ, N° 71, Bl. 30; W / W [Fritz W o l f f ] an Direktion der Zukunft, 13.6.1939; BAP, PTZ, N° 71, Bl. 29). - Über das Echo der Veranstaltung berichtet ein redaktionelles Rundschreiben der Zukunft v. 13.6.1939 (AN, F7 15123 ch. D): »Als ersten Vortragenden wählten wir W A L T E R MEHRING, hauptsächlich deshalb, um im Zusammenhang mit dieser Veranstaltung bei den >Freunden der ZUKUNFT< eine Sammlung für Mehring durchführen zu können, dem es wirtschaftlich und gesundheitlich furchtbar schlecht geht. [...] Es waren etwa 200 bis 250 Personen da und die Einnahmen des Kartenverkaufs und eine Sammlung bei begüterten Freunden ergab über frs. 2.000.- nach Abzug aller Unkosten, die wir dem Autor überreichen konnten.« (Hervorh. i. Orig.). Hans Siemsen an [Joseph] Bornstein, 16.6.1939; BAP, PTZ, N° 70/1, Bl. 667. Ebd. (Hervorh. i. Orig.). Die Neue Weltbühne war die Nachfolgerin der 1919-1933 in Berlin erschienenen Weltbühne (vgl. dazu Ursula Madrasch-Groschopp, Die Weltbühne. Porträt einer Zeitschrift. Frankfurt/M., Berlin, Wien 1985). Sie erschien in Paris vom 1.6.1938 bis zum 31.8.1939, als sie wie alle anderen kommunistischen Organe in Frankreich verboten wurde, und erreichte eine Auflage von ca. 9.000 Exemplaren (vgl. Hans-Albert Walter, Deutsche Exilliteratur, Bd. 4 Exilpresse, a. a. O., S. 29). Vgl. Hans-Albert Walter, Deutsche Exilliteratur, Bd. 4 Exilpresse, a. a. O., S. 6 5 - 6 8 . In PTZ Jg. 3 N° 725 v. 30.6.1938, S. 3 erfolgte der Hinweis: »Die Neue Weltbühne erscheint nun in Westeuropa. Sèvres, Boîte postale 9.«

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schrift für Sozialforschung262, die zwischen 1933 und 1939 im Pariser Verlag Félix Alcan erschien. Das von Max Horkheimer herausgegebene Organ des ehemaligen Frankfurter Instituts für Sozialforschung enthielt ausser den Arbeiten der Institutsmitglieder einen umfangreichen Besprechungsteil zu seinen wichtigsten Forschungsgebieten (Philosophie, Soziologie, Psychologie, Geschichte und Ökonomie) sowie Werbeanzeigen des Verlegers Félix Alcan. Ebensowenig eine Konkurrenz bedeuteten das bereits im Januar 1934 eingestellte Blaue Heft (Untertitel Theater-Kunst-Politik-Wissenschaft)la, das in seinen 32 Seiten starken Heften u. a. regelmässig Theater-, Film- und Literaturkritiken veröffentlicht hatte, sowie die bis Juli 1934 von Emil Szittya und Paul Ruhstrat herausgegebene Kulturzeitschrift Die Zone264. Und selbst die Literaturzeitschrift des ISK, Das Buch, brachte es nicht auf die nötige Kontinuität, um eine ernstliche Konkurrenz zu sein: Von ihr erschienen zwischen Frühjahr 1938 und März 1940 lediglich neun Nummern in unregelmässigen Abständen.265 Die Hefte mit zumeist 50 Seiten Umfang enthielten Rezensionen, Buch- und Zeitschrifteninserate sowie laufende Bibliographien. Heft 1 der Zeitschrift war identisch mit der von Ernest Strauss 1938 im Selbstverlag herausgegebenen Broschüre Fünf Jahre freies deutsches Buch 1933-1938266. Von eingeschränkter Bedeutung für den literarischen Markt waren schliesslich noch einige Exilpublikationen, von denen allenfalls ein oder zwei Hefte 267 erschienen waren oder die sich aufgrund ihres Verbreitungsgrades bzw. ihrer Herstellungsart mit den obengenannten Presseorganen nicht messen konnten. Das galt für Verbandsorgane wie die Zeitschrift des Pariser SDS, Der Schriftsteller268, oder die von der Freien deutschen Hochschule herausgegebene Zeitschrift

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Die Zeitschrift erschien mit fortlaufender Jahrgangszählung zwischen 1932 (Frankfurt) und 1941 (New York); sie ist auch als Reprint (hg. v. Max Horkheimer, mit e. Einleitung v. Alfred Schmidt, 9 Bde., München 1970) zugänglich. Zu ihrer Geschichte s. auch: Martin Jay, Dialektische Phantasie, a. a. O. Von Max Epstein 1920 gegründet, hatte das im Bergis-Verlag Wien, Stuttgart, Paris erschienene Blaue Heft im April 1933 seinen Redaktionssitz nach Paris verlegt. Es erschien dort vierzehntägig von Jg. 12 N° 17 (1.4.1933) bis Jg. 13 N° 11 (1.1.1934); Redaktionssitz war 36, rue Notre-Dame-de-Lorette, Paris 9C. Seine Auflage betrug (laut Handbuch der deutschsprachigen Zeitungen im Ausland, hg. v. Walther Heide, Leipzig 1935, S. 298) 6.000 Exemplare. Sie erschien zwischen 1933 (N° 1; o. D.) bis zum 31.7.1934 (N° 8) in unregelmässigen Abständen in Paris. Keine Auflagenzahlen bekannt. Als Adresse war der Verlagssitz des Parteiverlags Editions Nouvelles Internationales (E. N. I.), rue Singer, Paris 16c angegeben. Die einzelnen Hefte erschienen: Heft 1 im Frühjahr, H. 2 im Juni, H. 3 im Oktober, H. 4 im Dezember 1938; H. 5 im April, H. 6 im September, H. 7 im Dezember 1939 und H. 8 im März 1940. Vgl. dazu bereits Anm. 205 dieses Kapitels. Eine »Eintagsfliege« war z. B. Das Freie Wort. Monatsschrift der 1KD (ersch. Paris, Jan. 1938). Die von Arkadij Maslow herausgegebenen Cahiers d'Europe brachten es auf zwei Hefte, die im Januar und Februar 1939 erschienen. Erschienen waren drei Nummern zwischen 1934 und 1938: Heft 1 vom August 1934, dessen Titelblatt das Reichsorgan der Schriftsteller imitierte, war als Dünndruck-Tarnausgabe zur Verbreitung im Dritten Reich gefertigt. Die beiden weiteren Hefte erschienen aus Anlass des Spanischen Bürgerkrieges (Juli 1937) und des SDS-Jubiläums (November 1938).

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für Freie deutsche Forschung269. Gar nur maschinenschriftlich vervielfältigt waren die ersten Nummern der Mitteilungen der deutschen Freiheitsbibliothek210, das von Paul Westheim herausgegebene Mitteilungsblatt des Deutschen Kulturkartells, Freie Kunst und Literatur27sowie die Wochenschrift Heute und Morgen112, die Wolf Franck eine Zeitlang privat herausgab. Die genannten Exilorgane mit Literaturteil bzw. Feuilleton bildeten mit den gleichfalls in diesem Kapitel vorgestellten Verlagen, Druckereien, Buchhandlungen und Leihbibliotheken die wichtigsten, bislang z. T. noch unerforschten Instanzen des literarischen Marktes der deutschen Emigration in Frankreich. Ihre vollständige Erfassung wurde hier nicht angestrebt.273 Vielmehr ging es um den Nachweis eines kommerziellen Netzes der Literaturproduktion und -diffusion, in das PTB und PTZ durch Geschäftsallianzen oder Konkurrenzbeziehungen eingebunden waren. Die einzelnen Instanzen dieses Produktions- und Vertriebsnetzes (Verlag, Druck, Einzelhandel) wiesen eine starke politisch-ideologisch Differenzierung auf, die den allgemeinen Tendenzen des intellektuellen Kräftefelds der deutschen Emigration in Frankreich entsprach. Nachweisen liess sich damit die generelle Interdependenz von Markt und Öffentlichkeit der Emigration in Frankreich; Einzelbeispiele wie die Editions du Phénix oder der Verlagskommissionär Ernest Strauss boten Fallstudien der Vermittlungsmechanismen zwischen den zwei Bereichen. Diese generell konstatierten Vermittlungsmechanismen zwischen Markt und Öffentlichkeit sollen nun im nachfolgenden Kapitel konkret an der Rezensionspraxis in PTB und PTZ illustriert werden.

3.3. D i e Beeinflussung der Literaturkritik durch den literarischen Markt Wie in der Analyse der Sparte bereits gezeigt274, war das Feuilleton von PTB und PTZ der publizistische Ort, in dem kommunikative und kommerzielle Funktionen von Literatur zusammentrafen. Es diente der Verbreitung und der Ver-

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V o n ihr erschienen bei Science et Littérature insgesamt nur drei Hefte (Juli und N o v e m b e r 1938 s o w i e März 1939). Nur die ersten Nummern der Mitteilungen ab April 1935 enthielten literarische T h e m e n ; ab Juli 1935 fungierte das von Alfred Kantorowicz redigierte Mitteilungsblatt als Informationsblatt der deutschen Volksfront. Ersch. Paris 1938 N ° 1 (September) - 1939 N ° 9 (o. D.); Redaktionssitz 16, rue Charles Tollier, Paris 16 e . Erschienen v o m 1.9.1934 bis 3.10.1936 als maschinenschriftlich vervielfältigtes Heft mit 12 Seiten U m f a n g und fortlaufender Seitenzählung. Redaktionsadresse war Francks Wohnsitz, 10, rue Maurice Berteaux, Sèvres (Seine et Oise). Z. B. konnten bislang keine literarischen Korrespondenzbüros nachgewiesen werden; die dokumentierbaren Geschäftsverbindungen von PTB und PTZ betrafen sämtlich Unternehmen ausserhalb Frankreichs - ein Hinweis auf die prinzipielle Unabgeschlossenheit d e s literarischen Marktes. S. dazu Kapitel 3.1. dieser Arbeit.

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marktung von Literatur zugleich. Für die weitere Untersuchung soll nun ein Teilbereich des Feuilletons — die Literaturkritik — mit einem wichtigen Teil des literarischen Marktes - den Verlagen - konfrontiert werden. Diese doppelte Einschränkung des Analyserahmens soll den Blick auf die kommerziellen Relationen zwischen Feuilletonredaktion und Verlagen lenken und dabei insbesondere die Frage klären, ob das Insertionsverhalten der Verlage oder sonstige verlegerische Massnahmen die Rezensionspraxis in der Zeitung beeinflusst haben. Diese Frage erscheint um so dringlicher, als PTB und PTZ sich zeitweilig über das Feuilleton hinaus auch durch die Einrichtung eines Buchvertriebs auf dem literarischen Markt zu etablieren versuchten. Mit der Einführung dieses Buchvertriebes vollzog die Zeitung einen qualitativen Schritt vom Informations- und Werbeträger für Literatur zum Handel mit Literatur. A. Der Buchvertrieb von PTB und PTZ Die Einrichtung des Buchvertriebs im Juli 1935 hatte die P77?-Redaktion als Serviceleistung für ihre Leser, insbesondere in der französischen Provinz und im Ausland275, angekündigt: Anfragen und Anregungen, die unsere Leser im In- und Ausland an uns richteten, haben uns veranlasst einen Buchvertrieb einzurichten, der sich zum Ziel setzt, unseren Lesern die zeitgenössische Literatur zugänglich zu machen, vor allen Dingen die im Dritten Reich verbrannten und verbotenen Bücher. Wir halten die wichtigsten Bücher vorrätig und können jedes andere Buch in jeder beliebigen Sprache auf Wunsch beschaffen, auch wissenschaftliche und sonstige Fachliteratur. 276

Wie seine Ankündigung erkennen lässt, konzentrierte sich der Buchvertrieb eindeutig auf die literarischen Erzeugnisse emigrierter Autoren. Obwohl er als Bestellservice prinzipiell jedem individuellen Kundenwunsch nachging, führte der Buchvertrieb zumindest eine Zeitlang ein Büchersortiment, dessen Zusammensetzung an rund zwanzig Bücherlisten abzulesen ist, die das PTB im zweiten Halbjahr 1935 sukzessiv publizierte. Die Überschriften dieser anfangs thematisch gegliederten Listen lassen die Zusammensetzung des Sortiments erkennen: Aus deutschen Konzentrationslagern - Zum 30. Juni 1934 - Zur Aufrüstung - Geschichte und Politik - Bauernromane - Romane. Verschiedenes - Reisebücher Kriegsbücher. 277 Zwei weitere Listen waren ausschliesslich Kinderbüchern, eine den Werken von Marx und Engels gewidmet.

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»Der Buchvertrieb d e s Pariser Tageblatts will die von den Zentren des Auslandsdeutschtums [sie] isolierten Leser bequem und schnellstens mit der Literatur der Emigration bekannt machen. Er wendet sich daher vor allem an die Leser in der Provinz und im Ausland.« (Der Buchvertrieb des »Pariser Tageblatts« [Inserat], PTB Jg. 3 N ° 6 6 3 v. 6.10.1935, S. 5). Buchvertrieb des »Pariser Tageblatts« [Inserat], PTB Jg. 3 N ° 593 v. 28.7.1935, S. 4; Hervorh. d. Verf. Gefunden wurden 18 Bücherlisten zwischen Juli und Dezember 1936, und zwar in PTB Jg. 2, N ° 593, 600, 602, 6 0 5 , 607, 612, 614, 619, 621, 628, 635, 642, 649, 656, 663, 691, 7 0 9 und 733.

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Unter den angebotenen Werken dominierten eindeutig solche von sozialistischen oder kommunistischen Autoren (u. a. Werke von Willi Bredel, Egon Erwin Kisch, Theodor Plievier, Anna Seghers und Bodo Uhse), gefolgt von linksbürgerlichen Autoren wie Lion Feuchtwanger, Georg Wolfgang Hallgarten, Heinrich Mann und Rudolf Olden. In Übersetzungen waren auch fremdsprachige Autoren der beiden Gruppen vertreten (Ilja Ehrenburg und Michail Scholochow ebenso wie André Malraux). Untersucht man die angebotenen Titel auf ihre Provenienz, so erweist sich erwartungsgemäss, dass die Mehrzahl aus Emigrationsverlagen bzw. emigrierte Autoren publizierenden Verlagen stammte. Am häufigsten auf den Bücherlisten angeboten wurden Titel der Editions du Carrefour, des MalikVerlags und des Mercure de l'Europe. Gut repräsentiert waren Titel aus dem Oprecht- und Europa-Verlag sowie von Julius Kittl Nachf.; reichsdeutsche Verlage fehlten prinzipiell. 1935, im ersten Jahre seines Bestehens, gab der Buchvertrieb des PTB eine Orientierung auf sozialistische und kommunistische Literatur zu erkennen: Eine Tendenz, die nicht nur mit dem vorwiegend bürgerlichen Publikum der Zeitung kontrastierte, sondern auch - so viel kann im Vorgriff bereits gesagt werden mit der in dieser Phase vorwiegend rezensierten Literatur.278 Eine Erklärung für die Titelauswahl des Buchvertriebs liefern vermutlich die Geschäftsbeziehungen von PTB und PTZ zu Verlagen und Buchhändlern. Bereits nachgewiesen wurde, dass der Verlagskommissionär Ernest Strauss im Jahre 1936 den Buchvertrieb der PTZ belieferte; nicht geklärt werden konnte leider, wer ihn 1935 aufbaute. 279 Existiert hatte der Buchvertrieb mindestens bis September 1937. Allerdings publizierte die Zeitung schon ab 1936 keine Sortimentslisten mehr, sondern inserierte nur noch für einzelne Buchtitel mit Hinweisen wie »Erhältlich im Buchvertrieb der Pariser Tageszeitung« oder »Beziehen Sie Ihren Buchbedarf durch den Buchvertrieb der Pariser Tageszeitung«. Ein Hinweis darauf, dass der Buchvertrieb nur noch als Bestell- und Versandservice für die weitverstreuten Leser der Zeitung fungierte.280 B. Anzeigenaufkommen der Verlage in PTB und PTZ Während nahezu ihrer gesamten Erscheinungszeit wurden PTB und PTZ von Instanzen des literarischen Marktes (Verlage, Buchhandlungen, Zeitschriften) als Werbeträger genutzt.281 Die wichtigste Gruppe unter den Werbeinseraten bildet

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S. dazu Kapitel 5. dieser Arbeit. Die Agence de Librairie Française et Etrangère von Ernest Strauss existierte laut Handelsregister erst seit November 1935, Geschäftsbeziehungen zwischen Strauss und PTB/PTZ Hessen sich erst ab Juli 1936 nachweisen. Möglicherweise arbeitete die Zeitung zuvor mit einer der in Kapitel 3.2., Abschnitt C. genannten Emigranten-Buchhandlungen in Paris zusammen. Im Redaktionsarchiv fanden sich zahlreiche Hinweise auf Einzelbestellungen von Lesern aus der französischen Provinz, Belgien, Tschechoslowakei u. a. Das Inseratengeschäft kam 1939 bei Kriegsbeginn zum Erliegen und setzte erst Monate später in bescheidenem Umfang wieder ein. Ausser den Inserenten des literarischen Marktes fanden

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die Verlagswerbung zur Präsentation neu erschienener Bücher und Broschüren. Plaziert war sie bevorzugt im Feuilleton; die Erweiterung des Feuilletons um die Literaturseite »Das neue Buch« im Herbst 1936 führte denn auch zu einem merklichen Anstieg des Anzeigenaufkommens. Nachfolgend soll ein Überblick über die Insertionstätigkeit der Verlage in PTB und PTZ gegeben werden. Ihm zugrunde liegt eine quantitative Auswertung der Inserate; weitere Faktoren wie Format, Aufmachung und Plazierung konnten nicht berücksichtigt werden.282 Auffällig ist zunächst, dass fast ausschliesslich Emigrationsverlage bzw. emigrierte Autoren publizierende Verlage als Inserenten auftraten. Doch war die Insertionstätigkeit der Verlage keineswegs proportional zu ihrer Buchproduktion, d. h., Grossverlage waren nicht automatisch die häufigsten Inserenten. Besonders auffällig ist dies im Falle des Allert de Lange-Verlages, der trotz seiner umfangreichen Produktion nicht in PTB/PTZ inserierte.283 Und selbst der grosse Querido-Verlag inserierte dort vergleichsweise nicht häufiger als die kleinen Pariser Privatverlage Mercure de l'Europe (Inhaber Paul Roubiczek), Science et Littérature oder der von Roderich Menzel gegründete Humanitas-Verlag in Zürich. Maximal 10 Inserate waren für die genannten Verlage nachzuweisen. Rund 20 Anzeigen schalteten der Malik-Verlag von Wieland Herzfelde (Prag/ London), die Pariser Editions Prométhée sowie die Buchhandlung C. Mayer & Cie für die Werke dieses produktionsstärksten Exilverlages auf französischem Boden. Erstaunlich häufig - rund 30 Annoncen — inserierten die eher bescheidenen Pariser Exilverlage Editions du Phénix und Editions Météore, wobei sich die Anzeigen des letztgenannten Verlags auf nur zwei Bücher bezogen.284 Und die Phénix-Inserate bildeten eine Ausnahme insofern, als sie auf den Buchvertrieb von PTB und PTZ als Bezugsquelle der Verlagstitel verwiesen, die Inserate unter Umständen also von diesem geschaltet waren.285 Die Spitzengruppe bildeten drei Verlage, die Editions du Carrefour (rund 60 Inserate) und die beiden Züricher Verlage Emil Oprechts, Oprecht & Helbling (rund 60 Inserate) und der Europa-Verlag (rund 80 Inserate). Für manche ihrer Titel führten diese häufigsten Inserenten sogar langfristige Werbekampagnen, so z. B. die Editions du Carrefour für das anonym erschienene Werk Das Braune Netz (1935), für Das neue deut-

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sich häufig auch A n z e i g e n des Hotel-, Gaststätten- und Veranstaltungsbereichs s o w i e Privatanzeigen, die in unserem Themenzusammenhang jedoch nicht relevant sind. D a die vollständigste Sammlung von PTB und PTZ in der Pariser Bibliothèque Nationale ausschliesslich auf Mikrofilm einsehbar ist und jedes Inserat auf das Originalformat umzurechnen wäre, wurde auf eine Ausmessung verzichtet, auch wenn die Relevanz dieser Kriterien ausser Frage steht (s. dazu B o d o Rolika, V o m Elend der Literaturkritik. Buchwerbung und Buchbesprechungen in der Welt am Sonntag, a. a. O.) Allert de Lange zählte allerdings zu den häufigsten Inserenten im NTB. Es handelte sich um zwei Titel von Friedrich Alexan (i. e. Alexander Kuppermann), Mit uns die Sintflut. Fibel der Zeit, Paris 1935 und ders., Im Schützengraben der Heimat. Geschichte einer Generation, Paris 1937. - Für Georg Hallgartens Werk Vorkriegsimperialismus (Paris 1 9 3 5 ) warb nicht der Verlag, sondern direkt der Buchvertrieb des PTB. Zu den Geschäftsbeziehungen zwischen Editions du Phénix und PTB/PTZ 3.2., Abschn. A.

vgl. bereits Kapitel

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sehe Heer und seine Führer von Berthold Jacob (1936) und für Willi Miinzenbergs Propaganda als Waffe (1937). Der Europa-Verlag inserierte u. a. wiederholt für Herbert Rauschnings Revolution des Nihilismus und Ignazio Silones Schule der Diktatoren (beide 1938). Im Normalfall kostenpflichtiger Insertion - die Druckzeile kostete 1937 8 Francs 286 — kann vorausgesetzt werden, dass der Inserent seinen Werbeträger marktgerecht auswählte, dass ein Verlag also Publikum, Auflagenhöhe und Verbreitungsgebiet der Zeitung für eine gezielte Werbung berücksichtigte. Umgekehrt bedeutet das Unterbleiben der Insertion, dass sich der potentielle Anzeigenkunde von PTB oder PTZ keinen Werbeeffekt versprach. Dies galt insbesondere für französische Verlage wie Hachette und die Editions Sociales Internationales, die nur äusserst selten inserierten. Auch der Verlag Gallimard annoncierte nur André Gides Retour de l'URSS (1936) und seine Retouches à mon Retour de l'URSS (1937), zwei Bücher, die unter den Emigranten auf eminentes politisches Interesse gestossen waren.287 Das von in Frankreich bzw. Paris angesiedelten Exilverlagen dominierte werbliche Aufkommen entsprach in den Jahren 1933 bis 1937 dem Gewicht dieses literarischen Marktes, der bis dahin eine konstante Progression erlebt hatte. Die zunehmende Präsenz der beiden Züricher Verlage Emil Oprechts ab 1938 war indessen symptomatisch für den damals einsetzenden Rückgang der Verlagsaktivitäten auf französischem Boden288, der von den Zeitgenossen mit Sorge registriert wurde. Kurt Kersten z.B., als Münzenberg-Mitarbeiter auch mit dem Verlagsgeschäft der Editions Sebastian Brant vertraut, konstatierte Ende 1938 diese Rezession des Marktes, nicht ohne auf Gegenmassnahmen zu sinnen: Der Absatz von Büchern und Zeitschriften ist sehr schwer geworden; die Buchproduktion erscheint fast aussichtslos, wenn man nicht völlig neue Werbemethoden erfindet, die sich grundlegend von den bisherigen Methoden unterscheiden müssten. 2 8 9

Doch statt der erhofften Ankurbelung erlebte die Werbetätigkeit der in Frankreich angesiedelten Exilverlage 1938/39 — das Inseratenaufkommen in der PTZ liefert den eindeutigen Beweis - praktisch ihren Niedergang und antizipierte den Zu-

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S. d e n Tarif von Inseraten und Kleinanzeigen in PTZ Jg. 2 N ° 4 8 9 v. 15.10.1937, S. 1; er blieb bis mindestens Ende 1938 stabil. In manchen Fällen wurden Rabatte oder Sondertarife gewährt, so z. B. für die Buchhandlung Biblion ( B A P , PTZ, N° 47, Bl. 4 0 3 ) und für Alfred Kerr, der für ein Inserat ( » 2 0 Zeilen à frs. 8 . - frs. 1 6 0 . - minus 50% frs. 80.-«) bezahlte ( B A P , PTZ, N ° 76, Bl. 52). Zuvor hatte Kerr gegen Verrechnung mit seinem Honorarguthaben Gratisinserate für sein Buch Melodien erhalten (BAP, PTZ, N ° 76, Bl. 54). A b g e s e h e n von d i e s e n belegbaren Einzelfällen lässt sich der U m f a n g der Gratis-Inserate nur s c h w e r bestimmen. S. die Inserate in PTZ Jg. 1 N ° 167 v. 2 5 . 1 1 . 1 9 3 5 , S. 4 und Jg. 2 N ° 3 9 2 v. 9 . 7 . 1 9 3 7 , S. 6. Zu d e n genannten Werken Gides s. a. Kap. 5.2., Abschn. B. D i e Jahre 1 9 3 6 - 3 7 verzeichneten mit rund j e 80 Titeln die stärkste Produktionsphase deutscher Exilverlage in Frankreich, 1938 wurden nur noch 70, 1939 nur noch 5 0 Titel produziert (vgl. die aufgeführten Titel bei Hélène Roussel, Deutschsprachige Bücher und Broschüren i m französischen Exil, bearb. v. Maria Kühn-Ludewig, a. a. O.). Kurt Kersten an Manfred Georg, 11.12.1938; D L A , N L M. Georg, N ° 75. 2986/4.

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sammenbruch des literarischen Marktes, der zwischen Kriegsbeginn und Okkupation erfolgte. Eine Untersuchung des werblichen Aufkommens der Verlage in PTB und PTZ gestattet also nicht nur Rückschlüsse auf die Zusammensetzung der Anzeigenkundschaft dieser Zeitung, sondern auch auf geographische und historische Verschiebungen innerhalb des literarischen Marktes während der Phase des europäischen Exils (1933-1940). C. Quantitative Analyse der Rezensionen Nicht nur das Werbeaufkommen der Verlage, sondern auch die Zahl der in PTB und PTZ veröffentlichten Rezensionen muss im Zusammenhang mit dem literarischen Markt gesehen werden. Während ihres mehr als sechsjährigen Erscheinungszeitraums 290 veröffentlichten PTB und PTZ 658 Einzel- oder Sammelrezensionen 291 zu insgesamt 758 Titeln292. Die quantitative Verteilung dieser Rezensionen auf die einzelnen Jahrgänge lässt auf den ersten Blick eine Progression der Rezensionen bis 1937 und einen starken Rückgang ab 1938/39 erkennen. Anzahl

der Rezensionen

und rezensierten

Titel in der

1933

1934

1935

Rezensionen

3

61

74

Rezensierte Titel

3

69

74

1936

Jahresübersicht 1937

1938

1939

1940

Gesamt

89

186

166

72

7

658

124

223

180

77

8

758

Eine Differenzierung nach Halbjahren laut nachstehender Tabelle zeigt die zahlenmässige Progression der Buchbesprechungen noch deutlicher: Anzahl

der Rezensionen

und rezensierten

Titel in der

Halbjahresübersicht

1933

1934

1935

1936

1937

1938

1939

1940

Rezensionen 1. Halbjahr 2. Halbjahr

3

32 29

27 47

34 55

85 101

90 76

47 25

7

Rezensierte Titel 1. Halbjahr 2. Halbjahr

3

35 34

27 47

39 85

108 115

102 78

50 27

8

290

291

292

Zugrunde gelegt wurde die Mikrofilm-Ausgabe der Pariser Bibliothèque Nationale; dort fehlende Einzelnummern oder Seiten wurden - soweit verfügbar - durch die Zeitungsbestände des Internationaal Instituut voor Sociale Geschiedenis (Amsterdam) und der Deutschen Bibliothek (Frankfurt/Main und Leipzig) ergänzt. Ausser den Besprechungen neu erschienener Publikationen in Buch- oder Broschürenform wurden auch Besprechungen von Periodika mitgezählt. Grenzfälle entstanden bei manchen sehr kurzen, unsignierten Texten. Sofern sie eine inhaltliche oder formale Bewertung eines Titels enthielten, wurden sie von Buchankündigungen unterschieden und zu den Rezensionen gezählt. Vgl. das chronologische Verzeichnis der Rezensionen im Anhang dieser Arbeit sowie das zugehörige Verfasser-, Rezensenten- und Verlagsregister.

117

Zu beobachten ist ein kontinuierlicher Anstieg der Anzahl der Rezensionen von Dezember 1933 bis zum Jahresende 1937; insbesondere die zweite Jahreshälfte 1936 verzeichnete nahezu eine Verdoppelung, die auf die damalige Erweiterung des Feuilletons durch die Literaturseite »Das neue Buch« zurückzuführen ist. Ausserdem lässt sich von 1935 bis 1937 jeweils im zweiten Halbjahr ein — vom Umfang des Feuilletons in diesem Falle unabhängiger — deutlicher Anstieg der Rezensionen verzeichnen, der den Produktionsrhythmus des Marktes widerspiegelt: Die Konzentration der Verlage auf die Herbstproduktion bewirkte zeitgleich eine Zunahme der Rezensionstätigkeit. Das Ausbleiben dieses konjunkturellen Anstiegs im zweiten Halbjahr 1938 gestattet es umgekehrt, den Rückgang der Rezensionstätigkeit in der Zeitung mit diesem Zeitpunkt anzusetzen. Von nun an fiel die Zahl der Rezensionen rapide bis zur Einstellung des Feuilletons bei Kriegsbeginn. In den nurmehr 2seitigen Tagesausgaben, die bis zur Einstellung des Blattes im Februar 1940 erscheinen konnten, fanden sich nur noch selten Rezensionen. Ein weiterer Indikator für die Rezensionstätigkeit in PTB und PTZ ist die Zeilenlänge der veröffentlichten Rezensionen. Nachstehende Tabelle gibt darüber Aufschluss: Zeilenlänge der Rezensionen im

Halbjahresüberblick

(Anzahl pro Zeilenlänge; < = weniger als; > = mehr als) in hoffnungsvoller ErwartungLiteraturteils< nicht ersticken zu lassen. Extensive Berücksichtigung schien hier wie anderswo nur am Platz, wenn der Verleger ein ebenso extensives Inserat einrücken liess. 27

Wie eine Bestätigung des Gesagten liest sich Oskar Maria Grafs freimütige Schilderung seines Debüts als Literaturkritiker bei der München-Augsburger Abendzeitung und den Münchner Neuesten Nachrichten: Fünf bis sieben Mark bekam ich für so eine Besprechung. Ich wollte nun möglichst schnell und viel verdienen und las kein einziges Buch mehr. Ich lobte sie einfach und fertig. In die Buchhandlungen ging ich, liess mir Prospekte geben und reimte irgend plausibles Zeug zusammen. Es ging sehr gut. Gedruckt wurde alles, nur war es mitunter sehr gekürzt infolge Raummangels, und da nach Zeilen honoriert wurde, stimmte meistens meine Rechnung nicht.

24

25

26

27

So hiess es in der Analyse der Kulturindustrie von Horkheimer/Adorno: »>Leichte< Kunst als solche, Zerstreuung, ist keine Verfallsform. Wer sie als Verrat am Ideal reinen Ausdrucks beklagt, hegt Illusionen über die Gesellschaft. Die Reinheit der bürgerlichen Kunst, die sich als Reich der Freiheit im Gegensatz zur materiellen Praxis hypostasierte, war von Anbeginn mit dem Ausschluss der Unterklasse erkauft«. (Max Horkheimer u. Theodor W . Adorno, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt/M. 1980 (Taschenbuchausgabe), S. 121). Klaus L. Berghahn, Von der klassizistischen zur klassischen Literaturkritik, a . a . O . , S. 19 (Hervorh. i. Orig.). Vgl. Peter Hamm, Der Grosskritiker, in: ders. (Hg.), Kritik - Von wem/für wen/wie. Eine Selbstdarstellung deutscher Kritiker, München 1968, S. 2 0 - 3 9 . - Das Auftreten des »Grosskritikers« muss bereits in der Weimarer Republik angesiedelt werden; seine ersten Vertreter waren Alfred Kerr und Herbert Ihering. Ernst Bloch, Deutsches Verbot der Kunstkritik, in: Das Wort Jg. 2 (1937), H. 3, S. 6 4 - 7 2 , hier S. 69 (auch in: Gesammelte Werke Bd. 9, Literarische Aufsätze, Frankfurt/M. 1965, S. 4 3 - 5 6 ) .

138

Aber >leichter Verdienst^ sagte ich mir, und >du bist eben doch schon mit einem Fuss in der Literatur^ 28

Die Zitate stützen die These einer weitgehenden Kommerzialisierung und Nivellierung einer Literaturkritik, die unter kulturindustriellen Bedingungen die Transformation der Kultur- in Konsumgüter vorantreibt. 29 Und doch war — dies hatte selbst Bloch eingeräumt - die Standardisierung und Uniformierung der Literaturkritik nicht so weit fortgeschritten, wie dies ihre apparatmässigen Produktionsbedingungen vermuten liessen. Eine Vielzahl von Literaturzeitschriften wie die Literarische Welt, Die neue Rundschau und Der neue Merkur, kulturkritische Zeitschriften wie Die Weltbilhne und Die Fackel und die Feuilletons grosser Tageszeitungen wie Berliner Tageblatt, Berliner Börsen-Courier, Vossische Zeitung und Frankfurter Zeitung hatten eine literaturkritische Essayistik und ein Buchbesprechungswesen entstehen lassen, das eine bemerkenswerte äusserliche Vielfalt und inhaltliche Varietät aufbot. Bei genauem Hinsehen zeigten sich innerhalb der bürgerlichen Literaturkritik sogar Fraktionen und Gruppen: So hatte die bürgerlich-konservative Kulturkritik die manifeste Diskrepanz zwischen bürgerlichem Bildungsbegriff und populärer Massenliteratur durch die massenhafte Produktion »gehaltvoller« Literatur zu überwinden versucht. Linksbürgerlichen Kritikern - u. a. Siegfried Kracauer und Herbert Ihering - erschienen solche bildungsbürgerlichen Rettungsversuche kulturpolitisch verfehlt; sie wandten sich bewusst den neuen Bereichen der Massenkultur (Presse, Radio, Kino etc.) zu und begegneten Initiativen wie der Thomas Manns, bürgerliche Literatur als Billigbuch in Massenauflage zu verbreiten - »demokratisierter Luxus«, nach Thomas Manns Worten —, allenfalls mit ironischer Distanz. 30 Ausserhalb des bürgerlichen Lagers schliesslich unternahmen kommunistische Autoren auf der einen, völkisch-nationale Autoren auf der anderen Seite den Versuch, eine Gegen-Öffentlichkeit zum bürgerlichen Literaturbetrieb bzw. zur bürgerlichen Literaturkritik aufzubauen. 31 Kapitalismuskritik und nationales Denken hatten eine kulturkonservative Strömung genährt, die seit Mitte der zwanziger Jahre eine deutliche »völkische« Wendung nahm. Vertreter dieser von der »völkischen« Literaturkritik angestrebten kulturellen Erneuerung waren

28

Oskar Maria Graf, Wir sind Gefangene. Ein Bekenntnis, München 1982, S. 291 f. » D i e Kulturindustrie kann sich rühmen, die vielfach unbeholfene Transposition der Kunst in die Konsumsphäre energisch durchgeführt, zum Prinzip erhoben, das A m ü s e m e n t seiner aufdringlichen Naivitäten entkleidet und die Machart der Waren verbessert zu haben.« (Max Horkheimer u. Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, a. a. O., S. 121). 30 »Grossbetrieb! Grossbetrieb! Jede W o c h e ein Buch, geschleudert zwar, denn technische Kraft und Präzision geben den Nachdruck, doch durchaus nicht Schleuderware, sondern gut gemacht aussen und innen, in demokratisierten Luxus gehüllt, wohlfeil durch Massenhaftigkeit«, hatte T h o m a s Mann im Vorwort geschrieben (Romane der Welt. Geleitwort zu: Hugh Walpole, Bildnis eines Rothaarigen, Berlin 1927; zit. n. Anton Kaes (Hg.), Weimarer Republik. Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 1 9 1 8 - 1 9 3 3 , a. a. O., S. 289. - Man lese dort die Reaktionen von Kracauer und Ihering!) " Vgl. auch Jost Hermand u. Frank Trommler, Die Kultur der Weimarer Republik, Frankfurt/ Main 1988, S. 1 2 3 - 1 2 7 . 29

139

Personen wie Paul Fechter oder Will Vesper, Herausgeber der Zeitschrift Die Schöne (später: Die Neue) Literatur. Eine antisemitische Stossrichtung hinzu gebracht hatte der Literaturhistoriker Adolf Bartels, Herausgeber der Zeitschrift Deutsches Schrifttum. Die ökonomisch-organisatorische Konzentration aller völkisch-nationalen Kulturbestrebungen führte der im Jahre 1929 von Alfred Rosenberg gegründete »Kampfbund für deutsche Kultur« durch; er schuf die Plattform für eine konsequent nationalsozialistische Kulturpolitik. Auch die kommunistischen Schriftsteller hatten mit dem Ziel der Entwicklung einer Parteiliteratur ihre Frontstellung gegen den bürgerlichen Literaturbetrieb der Weimarer Republik beständig ausgebaut. Der Entwicklung einer klassenorientierten kommunistischen Literatur und Literaturtheorie sollte der im Oktober 1928 gegründete Bund Proletarisch-Revolutionärer Schriftsteller (BPRS)32 dienen, dessen führendes Organ die Zeitschrift Die Linkskurve33 war. Die Gründung des BPRS bedeutete implizit auch das Ende literarischer Koalitionsversuche zwischen linksbürgerlichen und kommunistischen Autoren, wie dies die »Gruppe 1925«34 gewesen war. Ein untrügliches Zeichen dafür war die feindselige Aufnahme, die Alfred Döblins Roman Berlin Alexanderplatz (1929) in der Linkskurve erfuhr. 35 Johannes R. Becher hatte dort einen »rücksichtslosen und offenen Kampf« gegen bürgerliche »Sympathisierende« und gegen »Linkeleuteliteratur« gefordert. 36 Als ehemaliges Mitglied der »Gruppe 1925« verteidigte sich Döblin im Tage-Buch und gab den Vorwurf ideologischer Beschränktheit an die BPRS-Zeitschrift zurück: D a s Ding, w o v o n ich sprechen will, heisst Die Linkskurve [...] ich will etwas v o n diesem neuzeitlichen Apparat sagen. Denn das Ding ist ein Apparat. Es produziert maschinell genormte Kritik, die Urteile sind serienweise hervorzubringen, jedes Kind kann den Apparat bedienen, e s ist ein Apparat mit Schutzvorrichtungen g e g e n selbständiges Denken [...]. A u s s e n ist das D i n g rot angemalt, innen ist es bedeutend blasser, und warum, das w e i s s man, w e n n man die N a m e n der Herausgeber liest: Johannes R. Becher, Andor Gabor, Kurt Kläber, Erich Weinert, L u d w i g Renn. 37

Standen sich also, wie dies auch Döblin nahelegt, gegen Ende der Weimarer Republik nur Apparate zur quasi-industriellen Produktion und Diffusion einer

32

33 34

35

S. dazu H e l g a Gallas, Marxistische Literaturtheorie, N e u w i e d u. Berlin 1971; Christoph M. Hein, D e r »Bund proletarisch-revolutionärer Schriftsteller Deutschlands«. Biographie eines kulturpolitischen Experiments in der Weimarer Republik, Münster u. Hamburg 1991. Die Linkskurve ( 1 9 2 9 - 1 9 3 2 ) ; zugänglich auch als Reprint, Frankfurt/M. 1978. S. dazu Klaus Petersen, D i e »Gruppe 1925«. Geschichte und S o z i o l o g i e einer Schriftstellervereinigung, Hamburg 1981. Vgl. Klaus Neukrantz, »Berlin-Alexanderplatz«, Die Linkskurve Jg. 1 ( 1 9 2 9 ) N ° 5, S. 30f.

36

Johannes R. Becher, Einen Schritt weiter!, Die Linkskurve,

37

Alfred Döblin, Katastrophe in einer Linkskurve, Das Tage-Buch Jg. 11 N ° 18 v. 3.5.1930, S. 6 9 4 - 6 9 8 ; zit. n.: A. Döblin, Schriften zu Politik und Gesellschaft, hg. v. Walter M u s c h g u. Heinz Graber, Ölten u. Freiburg 1972, S. 2 4 7 - 2 5 2 , hier S. 247f. - D i e Polemik wurde fortgesetzt v o n Otto Biha (i. e. Oto Bihalji-Merin), Herr Döblin verunglückt in einer »Linkskurve«, Die Linkskurve Jg. 2 (1930) N° 6, S. 2 1 - 2 4 .

140

Jg. 2 ( 1 9 3 0 ) N ° 1, S. 2ff.

literarischen Kritik gegenüber38, die sich allenfalls hinsichtlich ihrer ideologischen Orientierung unterschied? Die allseitige ideologische Fixierung der Literaturkritik in den Jahren 1929/30 steht ausser Frage. Doch verleitet Döblins Polemik nicht dazu, die - selbst innerhalb einer Gruppe real existierenden - Unterschiede ästhetischer Wertungen und Argumentationen auf unzulässige Weise einzuebnen? Die Entwicklung der Ästhetik als Grundlage eines literarischen Werturteils wurde in diesem Kapitel nicht berührt. Sie ist jedoch das Bindeglied, um den Zusammenhang zwischen öffentlicher Ausübung der Literaturkritik, wie sie durch die Strukturen des Apparates vorgegeben ist, und dem jeweils einzelnen Diskurs klären zu können. Eine solche Untersuchung ist für den Zeitraum der Weimarer Republik an dieser Stelle nicht durchführbar.39 Die Frage behält jedoch als Problemaufriss für die weitere Untersuchung der Literaturkritik in PTB und PTZ ihren methodischen Wert.

4.2. Der Beitrag von PTB und PTZ zur Konstituierung des literaturkritischen Diskurses im Exil Im Kontext des skizzierten Strukturwandels der Literaturkritik können die einschneidenden Veränderungen ihrer Rahmenbedingungen und Zielsetzungen nach 1933 erst richtig ermessen werden. Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten begann die systematische Repression bzw. Destruktion des Literaturbetriebs der Weimarer Republik und der Aufbau neuer Institutionen, welche die Kontrolle

38

Vgl. auch die Autorenumfragen der Weltbühne und des Tage-Buchs zur zeitgenössischen Funktion der Literaturkritik: Im Tage-Buch Jg. 9 H. 25 v. 23.6.1928, S. 1056f. äusserten sich Alfred Döblin, Oskar Loerke und Stefan Zweig zum »Wert der Tageskritik«. In der Weltbühne Jg. 28 N° 19 v. 10.5.1932, S. 720f. äusserte sich Walther Karsch, in N° 47 v. 22.11.1932, S. 765 -770 Annette Kolb, Erich Kästner, M. M. Gehrke, Hermann Kesten und Alfred Polgar und in N° 4 9 v. 6.12.1932, S. 8 4 5 - 8 4 7 diskutierten Walter Abel und Walther Karsch kontrovers zur Kommerzialisierung der Literaturkritik. - Weitere zeitgenössische Stimmen bei Thomas Rietzschel (Hg.), Fortschrittliche deutsche Literaturkritik (1918-1933), Halle u. Leipzig 1983, bes. Kap. VI. »Kritik der Kritik«.

19

Hierzu wäre m. E. eine breit angelegte Untersuchung der literaturkritischen Publizistik der Weimarer Republik erforderlich, für die ein bibliographisches Projekt der Deutschen Forschungsgemeinschaft die Grundlagen schaffen dürfte (s. Georg Jäger, Das Zeitungsfeuilleton als literaturwissenschaftliche Quelle, a. a. O., S. 66f.). Freilich hätte eine solche Untersuchung auch die ökonomischen Verflechtungen der Weimarer Presse, ihre ideologische Zerklüftung sowie das publizistische Gefälle zwischen Provinz- und Hauptstadtpresse einzubeziehen: Das Gros der regionalen Zeitungen verfügte häufig nur über eine reduzierte Feuilletonredaktion und konnte keinen »Renommierkritiker« anstellen, war also in erheblichem Umfang auf Zulieferbetriebe wie Matern- und Korrespondenzbüros angewiesen. Dass auf diese Weise womöglich ungleichzeitige Entwicklungen und Disparatheiten zwischen Apparat und Diskurs eintraten, lässt schon der Fall des sozialdemokratischen Zentralorgans Vorwärts vermuten: Obwohl der Vorwärts seit 1898 einen Feuilletonredakteur hatte, musste dieser bis in die zwanziger Jahre hinein bei der Feuilletongestaltung auf bürgerliche Korrespondenzbüros zurückgreifen (s. Kristina Zerges, Sozialdemokratische Presse und Literatur, a. a. O., S. 185f.).

141

der Literaturproduktion und ihre inhaltliche Ausrichtung im Sinne der nationalsozialistischen Ideologie zum Ziel hatten. Den Auftakt hierzu bildete die Bücherverbrennung vom 10. Mai 1933, jene erste spektakulär inszenierte Aktion »wider den undeutschen Geist«, der die Werke all jener Autoren zum Opfer fielen, die im Ruch des »jüdischen Intellektualismus« oder des »Kulturbolschewismus« standen.40 Als Leitfaden für die Säuberungsaktion in öffentlichen Bibliotheken und Büchereien hatten sogenannte »Schwarze Listen« von »schädlichen« oder »unerwünschten« Autoren gedient, denen der Leipziger Börsenverein des deutschen Buchhandels auch für den Sortimentsbuchhandel Verbindlichkeit verlieh.41 Ebenfalls gründlich »gesäubert« wurden die Schriftstellerorganisationen der Weimarer Zeit: Noch im Frühjahr 1933 hatten NS-Autoren mittels Neuwahlen und Mitgliederausschlüssen die Sektion für Dichtkunst der Preussischen Akademie der Künste, den Schutzverband deutscher Schriftsteller und die reichsdeutsche Sektion des internationalen PEN-Clubs faktisch übernommen42; die berufliche Neuorganisation aller im publizistischen oder editorischen Bereich Tätigen erfolgte durch den obligatorischen Beitritt in die betreffende Abteilung der Reichskultur- bzw. der Reichspressekammer. In der Folgezeit entstanden die zentralen Organe, denen die Steuerung des Literaturbetriebs durch die Reglementierung des Presse-, Verlagsund Besprechungswesens oblag, und deren wichtigste die Abteilung VIII (Schrifttum) des Ministeriums für Volksaufklärung und Propaganda und die Reichsschrifttumskammer (RSK) als staatliche, die Reichsstelle zur Förderung des deutschen Schrifttums (später Amt Schrifttumspflege) Alfred Rosenbergs und die Parteiamtliche Prüfungskommission (PPK) unter Philipp Bouhler als parteiliche Instanzen waren. 43 Diese Prüfungs- und Überwachungsinstanzen nahmen mittels Zensur und Imprimatur die Selektion von »förderungswürdiger« und »schädlicher« Literatur vor. Der Literaturkritik kam innerhalb eines solchen Systems

4(1

Vgl. Gerhard Sauder (Hg.), D i e Bücherverbrennung 10. Mai 1933, München 1983; »Das war ein Vorspiel nur ...« Bücherverbrennung Deutschland 1933: Ausstellungskatalog der Akademie der Künste, Berlin u. Wien 1983; Jürgen Serke, D i e verbrannten Dichtcr, erw. Ausgabe, Frankfurt/M. 1983.

41

Vgl. Börsenblatt für den deutschen Buchhandel, Jg. 100 N ° 108 v. 13.5.1933 u. N ° 112 v. 16.5.1933; D e u t s c h e Nationalbibliographie, Ergänzung I. Verzeichnis der Schriftcn, die 1933 bis 1945 nicht angezeigt werden durften; Ergänzung II. Verzeichnis der Schriften, die infolge der Kriegseinwirkungen vor dem 8. Mai 1945 nicht angezeigt werden durften, hg. v. d. Deutschen Bücherei, Leipzig 1949; Dietrich Aigner, Die Indizierung »schädlichen und unerwünschten Schrifttums« im Dritten Rcich, Frankfurt/M. 1970 (= Archiv für Geschichte des B u c h w e s e n s , Bd. 11, Lfg. 3 - 5 ) .

42

S. dazu Inge Jens, Dichter zwischen rechts und links. D i e Geschichte der Sektion für Dichtkunst der Preussischen Akademie der Künste dargestellt nach Dokumenten, München 1971; Werner Mittenzwei, Der Untergang einer Akademie oder: D i e Mentalität des e w i g e n Deutschen, Berlin u. Weimar 1992; Ernst Fischer, Der »Schutzverband deutscher Schriftsteller« ( 1 9 0 9 - 1 9 3 3 ) , a. a. O.; Werner Berthold und Brita Eckert (Hg.), Der deutsche PEN-Club im Exil 1 9 3 3 - 1 9 4 8 , Frankfurt/M. 1980, S. 1 - 4 4 .

43

Immer noch grundlegend: Dietrich Strothmann, Nationalsozialistische Literaturpolitik, a. a. O.; Hildegard Brenner, Die Kunstpolitik des Nationalsozialismus, Reinbek 1963.

142

staatlich-parteilich kontrollierter Literaturproduktion eine zentrale Rolle bei der Förderung systemkonformer, d. h. völkisch-nationaler und nationalsozialistischer Literatur zu. Orte literarischer Kritik waren die parteilichen Besprechungs- und Referatenorgane (Bücherkunde, Jahres gutachtenanzeige r etc.), aber auch die Feuilletons der sogenannten »bürgerlichen Restpresse«. Um diese Vestigien bürgerlicher Literaturkritik besser unter Kontrolle zu bekommen, ergingen 1935 umfangreiche Massnahmen zur Neuregelung des Buchbesprechungswesens, die 1936 in ein generelles Verbot der Kunstkritik mündeten. 44 Für viele der Autoren und Kritiker in der Emigration, die freiwillig oder unter Zwang ihre Stellung im Weimarer Literaturbetrieb aufgegeben hatten, stellte die Literaturpolitik der Nationalsozialisten eine Herausforderung dar, der sie offensiv begegneten. Denn auf dem Spiel stand nicht nur ihre individuelle literarische Existenz, vielmehr der Anspruch, mit ihrem weiteren Schaffen im Exil die eigentliche »deutsche« Literatur und die »freie« Literaturkritik zu repräsentieren. Praktische Voraussetzung für diese Gegenoffensive war die Herstellung eines literarischen Marktes und einer Öffentlichkeit des Exils gewesen, innerhalb derer sich ein literaturkritischer Diskurs entfalten konnte. 45 Was jedoch dessen Inhalte betraf, so warf die politisch-moralische Distanzierung von den reichsdeutschen Autoren Fragen auf, die nicht erst beim Problem der sogenannten »Inneren Emigration« Grundpositionen der Literaturkritik des Exils berührten. Vielmehr hatte der Legitimationszwang, dem sich die emigrierten Autoren und Kritiker individuell wie als Repräsentanten ihrer Gruppe im Exil ausgesetzt sahen, zu einer Reflexion auf ihr eigenes Rollenverständnis als Intellektuelle und damit vielfach zu einem Überdenken der öffentlich-gesellschaftlichen Aufgabe von Schriftstellern und Kritikern geführt, das sich seinerseits in den Massstäben und Zielsetzungen literarischer Kritik im Exil niederschlug. Doch selbst in den Fällen, wo Gesellschafts- bzw. Faschismusanalyse in ästhetische Theorien Eingang gefunden hatten, hat die Forschung mittlerweile erwiesen, [...] dass sich auch innerhalb der literaturkritischen Diskussionen die scharfsichtigsten Positionen nicht von selbst durchsetzten und die Profilierung als Kritiker von vielfältigen Voraussetzungen externer Art abhängig war. Nichts könnte diesen Umstand sinnfälliger illustrieren als die Wirkungsmacht und H e g e m o n i e der literaturkritischen Positionen von Georg Lukäcs einerseits und die Wirkungslosigkeit der Positionen von Walter Benjamin innerhalb der Literaturkritik des Exils.'"'

Die Wirkungskraft ästhetischer Theorien hing demnach mit davon ab, ob sich der Kritiker — wie Lukäcs mit der Internationalen Literatur - eines literarischen Organs als Sprachrohr bedienen, allgemeiner: ob er Schlüsselpositionen besetzen konnte in den kulturpolitischen Institutionen des Exils (Presseorgane, Schriftstel-

44

Vgl. dazu Abschnitt A. dieses Kapitels.

45

Vgl. nochmals die Darstellung in Kapitel 2. und 3. dieser Untersuchung. Bernhard Zimmermann, Antifaschistische Literaturkritik im Exil, in: P. U. Hohendahl (Hg.), Geschichte der deutschen Literaturkritik ( 1 7 3 0 - 1 9 8 0 ) , a. a. O., S. 2 8 5 - 3 0 0 , hier S. 287.

46

143

lerverbände, Stiftungen, Jurys etc.), die sich als »Lobby« im kulturellen Kräftefeld durchzusetzen vermochten. Freilich muss die Problematik einer Literaturkritik als Instrument parteiischer (wo nicht parteilicher) Interessengruppen gleichfalls deutlich werden. Denn angesichts der konstatierten politisch-ideologischen Divergenzen zwischen einer (links-)liberal und einer sozialistisch bzw. kommunistisch orientierten Literaturkritik der Weimarer Republik stellte gerade die Überwindung parteipolitischer Lagermentalität die grösste Herausforderung an eine Literaturkritik des Exils dar, sofern diese ihren Repräsentationsanspruch einlösen, und das hiess: zur Entstehung einer breiten anti-faschistischen Literatur im Exil beitragen wollte. Auch unter diesem Aspekt kommt der Literaturkritik in PTB bzw. PTZ exemplarische Bedeutung zu. A. Funktionsbestimmung der Literaturkritik im Exil als Gegenpraxis zur NS-Kritik Die kommunikationstheoretischen Überlegungen unserer Untersuchung weiterverfolgend, beschränkt sich die Analyse literaturkritischer Texte in PTB und PTZ nicht nur auf die Textsorte der Rezensionen, sondern erfasst u. a. auch Essays, Werk- oder Autorenporträts, die zu Fragen literarischen Schaffens Stellung nahmen. Alle zusammen bilden sie den Fundus eines literaturkritischen Diskurses, verstanden als das Ensemble »der Argumentationsstrategien und der rhetorischen Mittel, mit denen die Bewertung und Einordnung von literarischen Werken und Autoren plausibel gemacht wird«47. In einem ersten Schritt sollen aus den literaturkritischen Texten von PTB und PTZ Ansätze einer theoretischen Funktionszuweisung literarischer Kritik im Exil herausgearbeitet werden. Gewiss stellten diese Selbstreferenz-Diskurse 48 im Gegensatz zu solchen der Fremdreferenz (d. h. auf das konkrete literarische Werk) in PTB und PTZ eine Seltenheit dar; ihre publizistische Konzeption als Tageszeitung (und nicht primär als literarisches Organ des Exils) mag zur Erklärung dieses Sachverhalts beitragen. Einer dieser Selbstreferenz-Diskurse, in denen sich Schriftsteller und Rezensenten der »Kritik der Kritik« gewidmet und sich theoretisch-generalisierend über den Sinn von Literaturbesprechungen geäussert hatten, war der bereits zitierte Text von Johannes R. Becher. 49 Dabei handelte es sich allerdings um einen — nicht gekennzeichneten — Nachdruck eines Aufsatzes, der zuvor unter dem Titel Aus der Welt des Gedichts in der Moskauer Literaturzeitschrift Internationale Literatur (IL) erschienen war. 50 Der Nachdruck in der PTZ war stark gekürzt und durch Einfü-

47 48

49 50

P. U. Hohendahl (Hg.), Geschichte der deutschen Literaturkritik (1730-1980), a. a. O., S. 3. Vgl. Hans Ulrich Gumbrecht, Literaturkritik als »Literatur«, in: Wilfried Barner (Hg.), Literaturkritik - Anspruch und Wirklichkeit, a. a. O., S. 122-128, hier S. 123. Vgl. nochmals Kapitel 4.1., Anm. 1. Johannes R. Becher, Aus der Welt des Gedichts, in: IL Jg. 6 (1936) H. 6, S. 2 5 - 3 0 . Der Text war ein Beitrag Bechers zum 3. Plenum des sowjetischen Schriftstellerverbandes in Minsk über Fragen des lyrischen Schaffens gewesen. Der Nachdruck in: J. R. Becher, Publizistik Bd. 1 (1910-1938), Berlin und Weimar 1977, S. 4 7 4 - 4 8 3 ist nicht völlig textidentisch.

144

gung römischer Ziffern anstelle der Asterisken straff gegliedert. Der Kürzung anheimgefallen waren längere Ausführungen Bechers, in denen dieser auch für die marxistische Literaturkritik die Eigenständigkeit ästhetischer Wertmassstäbe gegenüber den politischen gefordert hatte, und denen sich die bereits zitierte Kritik des bürgerlichen Rezensionswesens anschloss. Inhalt und Ton seines Beitrags hatten dadurch starke Veränderungen erfahren: Die Ausführungen zur Literaturkritik waren im Umfang zwar aufgewertet, doch aus dem Kontext innermarxistischer Diskussion gehoben worden51, und wo Becher im Originaltext mit der These, Faschismus und Dichtung seien unvereinbar, aktuelle Bezüge zur Emigration hergestellt hatte, fehlten diese Passagen in der PTZ. Hergestellt wurde die Verbindung zwischen Exil und Dichtung dort auf dem Wege der Ästhetisierung: Die Redaktion rückte ein Becher-Gedicht ein, Place Clichy, ein Stimmungsbild eines der belebtesten Pariser Plätze, in dem Lichterglanz und Morbidität kontrastieren. Zuvor noch hatte das PTB im Jahre 1934 einen Beitrag von Alfred Polgar zum Sinn der Buchkritik32 publiziert. In diesem feuilletonistisch-pointierten Artikel verwarf Polgar alle gemeinhin positiv betrachteten Funktionen von Literaturkritik, nämlich didaktisch auf die Literatur, informativ auf die Leser einzuwirken und Orientierungshilfen für die Wahl der Lektüre zu bieten. Die persönliche Voreingenommenheit des Kritikers gegenüber Autoren und Verlagen habe, so Polgar, die Verbindlichkeit des kritischen Urteils auf den Status subjektiver Meinungsäusserung reduziert. Er schloss, ähnlich wie Becher: »Für das Buch beziehungsweise für Autor und Verleger hat Buchkritik vor allem den Wert einer Reklame. Diesem Zweck kann auch die abfällige Kritik dienen.«53 Polgar referierte damit Positionen, wie sie bereits 1932 in der Weltbühne in einer Autorenumfrage zur »Kritik der Buchkritik« laut geworden waren, der sein Beitrag direkt entstammte. 54 Einen Quellennachweis für den leicht gekürzten Nachdruck hatte die P7"ß-Redaktion allerdings unterlassen. Ähnlich negativ war auch der Tenor eines 1937 in der PTZ veröffentlichten Beitrags von Joseph Roth, Bücherbesprechung55, in dem dieser den Rezensionsbetrieb als permanenten Kampf des Zeitungsredakteurs gegen das »Trommelfeuer« der Verleger und die im Alleingang geführten Attacken rezensierender »Zeilenschinder« darstellte: Der Redakteur, der die Literatur verwaltet, führt einen verzweifelten Defensivkrieg gegen zwei Fronten. Gegen die Masse der Bücher und gegen die Buchbesprecher. Seine Tätigkeit besteht oft in strategischen Rückzügen. Viele Rezensionen, die in der Zeitung erscheinen, sind sozusagen aufgegebene Stützpunkte des Redakteurs."

51 52 53 54 55 56

Vgl. B. Zimmermann, Antifaschistische Literaturkritik im Exil, a. a. O., S. 288. Alfred Polgar, Sinn der Buchkritik, PTB Jg. 2 N° 336 v. 13.11.1934, S. 4. Ebd. Alfred Polgar, Sinn der Buchkritik, Die Weltbühne Jg. 28 N° 47 v. 22.11.1932, S. 7 6 8 - 7 7 0 . Joseph Roth, Bücherbesprechung, PTZ Jg. 2 N° 433 v. 20.8.1937, S. 6. Ebd.

145

Damit beschreibt Roth treffend, was im Zusammenhang mit dem Tauschwert von Rezensionen bereits aufgezeigt wurde: Literaturkritik war mitunter das Resultat der Kapitulation eines Redakteurs vor den Pressionen von Verlagen und Kritikern.57 Der Effekt solcher dem Redakteur abgerungenen Besprechungen sei freilich, so schloss Roth, weder für den Autor noch für den Leser von Interesse: Die Rezension »vergäll(e) die Oberfläche« der Werke. Mit Polgar und Roth hatten sich in PTB/PTZ zwei Schriftsteller zur Literaturkritik geäussert, die sich in der Weimarer Republik als Theaterkritiker respektive als Feuilletonisten einen Namen gemacht hatten. Neben biographischen Gemeinsamkeiten - beide hatten ihre journalistische Laufbahn in Wien begonnen und waren in den zwanziger Jahren regelmässige Mitarbeiter der linksliberalen Weimarer Presse gewesen58 - verband sie der sprachliche Gestus. (Joseph Roth selbst hatte in einer Gratulation an seinen zwei Jahrzehnte älteren Kollegen Polgar bekannt, er habe dessen Sprache »abgelauscht«59.) Auch waren die feuilletonistischen Arbeiten Joseph Roths seit Mitte der zwanziger Jahre tagespolitischer Aktualität immer mehr abgewandt60 und ebensowenig einer gesellschafts- oder literaturtheoretischen Norm verpflichtet wie die Beiträge Alfred Polgars 61 , von dem die Weltbühne behauptet hatte: »Was Alfred Polgar, der Künstler unter den Kritikern, schafft, ist reinstes Genieprodukt, frei von jeder Doktrin.« 62 In PTB und PTZ hatten sich mit Polgar, dem »Meister der Kleinen Form« 63 , und seinem noch bekannteren Schüler Roth zwei bürgerliche Autoren zur Literaturkritik geäussert, die innerhalb des Spektrums der Weimarer Republik herausragende Vertreter einer feuilletonistisch-impressionistischen Tendenz waren

57

Vgl. Kapitel 3.3., Abschnitt E. dieser Arbeit. Polgar debütierte um die Jahrhundertwende als Theaterkritiker und Literaturchef liberaler und pazifistischer Wiener Blätter; seit 1922 war er fester Kritiker beim Wiener Tag. 1925 wechselte er nach Berlin und war dort ständiger Mitarbeiter der Weltbühne und des Berliner Tageblatts. - Roth war 1919 bei Polgar, damals Leiter des Literaturteils der Tageszeitung Der Neue Tag, in die »Lehre« gegangen und 1920 nach Berlin umgesiedelt, wo er u. a. Mitarbeiter bei Berliner Tageblatt, Berliner Börsen-Courier, Vorwärts, Tage-Buch war. Seit 1923 war er fester Mitarbeiter und zeitweiliger Auslandskorrespondent der Frankfurter Zeitung gewesen. Vgl. Klaus Westermann, Joseph Roth, Journalist. Eine Karriere 1919 -1939, Bonn 1987 und S. 69 dieser Untersuchung. " Joseph Roth, Dank an Alfred Polgar. Zu seinem 60. Geburtstag. National-Zeitung, Basel 16.10.1935; zit. nach Ulrich Weinzierl, Alfred Polgar, Wien u. München 1985, S. 182. Die Umorientierung Roths vom Journalisten zum Schriftsteller steht damit in Zusammenhang. Zur Publizistik Roths s. J. Roth, Das journalistische Werk, 3 Bde., a. a. O. 61 Alfred Polgar, Kleine Schriften Bd. 4: Literatur, hrsg. v. Marcel Rcich-Ranicki u. Ulrich Weinzierl, Reinbek 1984. 62 Stefan Ehrenzweig, Der Kritiker Alfred Polgar, Die Weltbühne Jg. 23 H. 33 v. 16.8.1927, S. 260f.; zit. n. U. Weinzierl, Alfred Polgar, a. a. 0 . , S. 140. 63 So Walter Benjamins anerkennendes Urteil über Polgar (W. B., Drei Bücher, in: HumboldtBlätter. Monatsschrift für Wissenschaft, Kunst und Technik, Jg. 1 (1928) H. 8, S. 148ff., zit. n.: Gesammelte Schriften Bd. III., Frankfurt/M. 1980, S. 107-113, hier S. 107).

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(»kulinarische Kritik« 64 hatte sie Brecht genannt). Ihre Skepsis gegenüber dem Rezensionswesen hatten beide übereinstimmend mit der kommerziellen Umfunktionierung der Literaturkritik begründet, die eine Entwertung des kritischen Urteils gezeitigt habe. Entscheidend für unsere Frage nach theoretischen Bestimmungen literaturkritischer Praxis in PTB und PTZ ist jedoch, dass der Beitrag Polgars wie schliesslich auch der Roths 65 nicht gekennzeichnete Nachdrucke von Texten aus der Zeit vor 1933 waren, die die Situation der Literaturkritik im Exil keinesfalls reflektieren konnten. Die Frage drängt sich also auf, ob die Redaktion mit der kommentarlosen Übernahme der frühen Texte von Polgar und Roth (wie schliesslich mit der Streichung des zeitgeschichtlichen Rahmens bei Becher) eine Perpetuierung des Weimarer Literaturbetriebs bis ins Exil und folglich die Permanenz hergebrachter kritischer Massstäbe suggerieren wollte. Gerade dieser Vorwurf war j a in einer der ersten Debatten im Neuen Tage-Buch gegen die Literaturkritik des Exils erhoben worden. 66 Alfred Kerr, einem der prominentesten Kritiker der Weimarer Republik und langjährigen Mitarbeiter des Berliner Tageblatts61, verdankt das PTB einen Originalbeitrag, in dem dieser ausdrücklich die Transformation literaturkritischer Praxis in der Emigration thematisierte. Sein Beitrag vom März 1936, Kritik in der Auswanderung, war ein Plädoyer für die Rehabilitierung des kritischen Urteils. Dabei war er sehr vorsichtig vorgegangen: Die emigrierten deutschen Schriftsteller, so Kerr, verdienten höchstes Lob und menschliche Nachsicht gegenüber den gleichgeschalteten Autoren, die sich mit dem Vaterland auch ihr Absatzgebiet erhalten hätten. Doch um die künstlerische Überlegenheit der Literatur der Emigration gegenüber der NS-Literatur zu demonstrieren, bedürfe es strengster Kritik, denn, so fragte er: »Ahnten Andere noch unsren Wert, wenn wir Unwert streichelten?« Unter rhetorischem Schutz führte Kerr die Attacke gegen die Literaturkritik des Exils, indem er öffentlich argwöhnte: »Möglicherweise besteht hier ein unbewusstes Abkommen auf Schonung.« Statt dessen forderte Kerr: »Wir müssen langsam die Scheidung vornehmen: zwischen der Wertschätzung politischer Tapferkeit ... und der Wertschätzung literarischer

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»Hier wird längst nicht mehr produziert, hier wird lediglich verbraucht, genossen und verteidigt«, heisst es bei Bertolt Brecht, Über die kulinarische Kritik, in: Gesammelte Werke. Bd. 18. Schriften zu Literatur und Kunst 1, Frankfurt/M. 1977, S. 98. Derselbe Text war erstmals in den Münchner Neuesten Nachrichten (N° 306 v. 10.12.1929, S. 1) erschienen; wiederveröff. in: J . R o t h , Das journalistische Werk. Bd. 3 (1929-1939), a. a. O., S. 122-124. So hatte etwa Menno Ter Braak, Literaturkritiker bei der niederländischen Zeitschrift Het Vaderland, der Exilliteratur und ihren Verfechtern im NTB vorgeworfen: »Manchmal hat man den Eindruck, dass der >Betrieb< einfach fortgesetzt wird; was früher Kiepenheuer und Fischer war, sind heute Querido und de Lange.« (M. Ter Braak, Emigranten-Literatur, NTB Jg. 2 N° 52 v. 29.12.1934, S. 1244f.). - S. dazu auch Abschnitt B. dieses Kapitels. Zuvor hatte Kerr als Theaterkritiker u. a. auch für die Frankfurter Zeitung, die Neue Rundschau und den Tag gearbeitet und mit Paul Cassirer die Zeitschrift Pan (1910-1915) gegründet. Vgl. u.a. A. Kerr, Die Welt im Drama, a. a. O., und ders., Mit Schleuder und Harfe. Theaterkritiken aus drei Jahrzehnten, hg. v. Hugo Fetting, Berlin 1982.

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Leistung.« Doch sein Rehabilitationsversuch des kritischen Urteils zielte nicht bloss auf eine Trennung von Literatur und Politik im Sinne einer Differenzierung von ästhetischem Gehalt und politischer Tendenz der Werke, sondern auf die Evakuierung politischer Wertungen aus der Kunst überhaupt: »Kurz: entweder Kritik in der Kunst ... oder Politik. [...] Nicht also politische Kritik in der Kunst.« 68 Im zeitgenössischen Kontext erwies sich diese Position freilich als kurzsichtig, denn wo sich seine Kollegen im PTB und andernorts durch die Exilsituation veranlasst sahen, ihr Schaffen neu zu reflektieren69, forderte Kerr bereits die Rückkehr zu tradierten Handlungsmustern. Denn nicht anders war sein Aufruf zu verstehen: Die Emigration dauert lange genug. Wir wollen jetzt wieder so urteilen wie zuhause. Wieder so kritisch sein wie dunnemals. Wieder auf die Leistung sehn, nicht auf die Umstände.7"

Die Stossrichtung von Kerrs Polemik wird erkennbar in seiner Mahnung, Literaturkritik dürfe »nie zu einer Vereinsangelegenheit werden.« Im lokalen Kontext verstanden, enthielt die Bemerkung allenfalls eine polemische Spitze gegen den Pariser SDS. Zur Provokation wurde die Bemerkung erst im Verweis auf Eduard Korrodi, den Literaturkritiker der Neuen Zürcher Zeitung. Denn Kerr nannte denselben Korrodi, der dort eben die Exilautoren öffentlich angegriffen hatte, seinen »Freund«, »mit dem (er) übereinstimme, dass Politik nicht unkritisch machen soll(e)«71. Die Sympathieadresse an Korrodi, gegen den selbst Thomas Mann in einer folgenschweren Erklärung aufgetreten war72, kam einer Ohrfeige ins Gesicht der solchermassen auf Vereinsgebaren herabgesetzten EmigrantenÖffentlichkeit gleich. Dass sich Alfred Kerr mit dieser Stellungnahme innerhalb des PTB in die Isolation begab, machten die redaktionellen Kommentare und Berichte zum Fall Korrodi deutlich. Kerr indessen beharrte auf seiner Position und kam sogar 1939 nochmals auf seinen Beitrag Kritik in der Auswanderung zurück. 73 Für die Funktionsbestimmung literarischer Kritik in PTB und PTZ von Bedeutung war schliesslich auch die Entwicklung des Rezensionswesens im Dritten Reich. Dort waren seit dem »Schriftleitergesetz« 1933 umfangreiche Massnahmen zur Neuordnung der Presse und des Feuilletons ergangen, die den organisatorischen Rahmen einer fortan von der nationalsozialistischen Ideologie bestimmten Literaturkritik absteckten. »Nationalsozialistische Literaturkritik wächst aus dem Instinkt. Instinkt ist Stimme des Blutes. Es bedarf für ihn keiner verstandesmässi-

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Alfred Kerr, Kritik in der Auswanderung, PTB Jg. 4 N° 821 v. 12.3.1936, S. 4. Zum Kontext vgl. Abschnitt C. und D. dieses Kapitels. Alfred Kerr, Kritik in der Auswanderung, a. a. O. Ebd. S. dazu S. 159 dieser Untersuchung. So schrieb er: »In dieser Zeitung wurde vor Jahren gefordert, dass die Emigration kritisch zu sein hat gegen Auswandererdichtung. [...] Gesinnungsverbundenheit, an sich, ist kein Pass. Vereinsmitgliedschaft kein Wertausweis. Auf Kunst kommt es an, noch im Elend.« (Alfred Kerr, [Assiette Anglaise] Hedonismus ... und so, PTZ Jg. 4 N° 979 v. 25.4.1939, S. 4).

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gen Regeln und Gesetze« 74 , hatte 1934 Hellmuth Langenbucher, Leiter des Zentrallektorats von Rosenbergs Amt Schrifttumspflege, die Maxime nationalsozialistischer Rezensionspraxis formuliert. Die Modalitäten der Zusammenarbeit zwischen Verlagen und Presse regelte im Juni 1935 die Gemeinsame Anordnung zur Neugestaltung des Buchbesprechungswesens im Bereich der deutschen Presse15, die u. a. Fristen für Buchbesprechungen und Rezensionsschemata vorschrieb. Doch selbst diese Fülle dirigistischer Massnahmen vermochte nicht, widersprüchliche Urteile oder gar Pannen im Buchbesprechungswesen auszumerzen. Als Reaktion darauf sprach Joseph Goebbels am 26.11.1936 ein generelles Verbot der Kunstkritik aus. Er dekretierte: An die Stelle der bisherigen Kunstkritik, die in völliger Verdrehung des Begriffes >Kritik< in der Zeit jüdischer Kunstüberfremdung zum Kunstrichtertum gemacht worden war, wird ab heute der Kunstbericht gestellt; an die Stelle des Kritikers tritt der Kunstschriftleiter. Der Kunstbericht soll weniger Wertung, als vielmehr Darstellung und damit Würdigung sein. 76

Staatlich fixiert wurde damit eine Praxis von Literaturkritik, gegen die PTB und PTZ seit Anbeginn aufgetreten waren. Denn bereits in den Jahren vor dem offiziellen Kritikverbot hatte das Blatt Vorfälle aus der reichsdeutschen Presse benutzt, um das System staatlich-parteilich gelenkter Kritik zu denunzieren. Als »neudeutsche Literaturkritik«77 prangerte es seit 1934 die Tatsache an, dass Kritik an Parteiautoren zum Tabu78 und das Parteibuch zum Kompetenznachweis geworden seien. »Kritiker, die nicht kritisieren dürfen«79, so hatte die Zeitung auch Goebbels' Kritikertagung vom 14.12.1935 in Berlin resümiert. Das offizielle Verbot der Kunstkritik 193680 kommentierte die PTZ daher nur nüchtern: »Die Kritik war schon längst abgeschafft« 8 ', und zitierte mit Genugtuung die Meinung der französischen Tageszeitung Le Temps: »C'est une morte qu'on tue« (»Hier wird eine Leiche getötet«)82.

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Hellmuth Langenbucher, Wir hatten mal ..., in: Völkischer Beobachter N° 332 v. 28.11.1934; zit. n. D. Strothmann, Nationalsozialistische Literaturpolitik, a. a. O., S. 263. Kurt Friedrich Metzner, Geordnete Buchbesprechung. Ein Handbuch für Presse und Verlag. Erläuterungen zu der gemeinsamen Anordnung der Präsidenten der Reichsschrifttumskammer und der Reichspressekammer vom 5. Juni 1935, Leipzig 1935. »Wortlaut der Verfügung des Reichsministers für Volksaufklärung und Propaganda«, in: Der deutsche Schriftsteller, Jg. 1 (1936) H. 12, S. 280f„ hier S. 280. Redaktionell, Neudeutsche Literaturkritik, PTB Jg. 2 N° 268 v. 6.9.1934, S. 2; Manuel Humbert (i. e. Kurt Caro), Moderne Literaturkritik, PTB Jg. 3 N° 631 v. 4.9.1935, S. 2. Redaktionell, Nazi-Dichter sind sakrosankt, PTB Jg. 3 N° 718 v. 30.11.1935, S. 2. Redaktionell, Schwierige Instruktionsstunde. Kritiker, die nicht kritisieren dürfen, PTB Jg. 3 N° 739 v. 21.12.1935, S. 2. S. die Meldungen: Redaktionell, Göbbels [sie] verbietet die Kunstkritik, PTZ Jg. 1 N° 170 v. 28.11.1936, S. 1; Redaktionell, Die Kultur nach Göbbels [sie], PTZ Jg. 1 N° 172 v. 30.11.1936, S. 2. Redaktionell, Die Kritik war schon längst abgeschafft, PTZ Jg. 1 N° 171 v. 29.11.1936, S. 2. [Am Zeitungsstand], Im »Lande ohne Kritik«, PTZ Jg. 1 N° 191 v. 19.12.1936, S. 2 (Pressestimmen aus Le Temps).

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Diese Auffassung machte sich auch der Kunstkritiker Paul Westheim zu eigen, als er sich in der PTZ mit dem Verbot auseinandersetzte. Zentral war für ihn Goebbels' Behauptung, ein »jüdisches Kunstrichtertum« habe eine »jüdische Kunstüberfremdung« 83 verursacht: Die Kunstkritik der Weimarer Republik, so auch Goebbels' Handlanger, sei das Werk einer »anonyme(n) Clique [gewesen], die sich als eigene Zensurbehörde ohne Auftrag niedergelassen hatte« 84 . In sichtlicher Umkehrung der Argumentation wies Westheim die These einer »jüdischen« Vorherrschaft in der Kritik als »Armutszeugnis für das deutsche Volk und seine Intellektuellen« zurück und konstatierte, dass sich kein Kunstkritiker, von Lessing, Kleist und Heine zu Kerr und Jacobsohn, jemals zu seiner Tätigkeit habe berufen, einsetzen oder kommandieren lassen. Seine >Berufung< hat jeder, jeder einzelne sich selbst schaffen müssen. Durch seine Urteilsfähigkeit, sein Wissen, durch die Fähigkeit, [...] überzeugend zu sagen, was Wert und Unwert ist, was das Kunstwerk dem Publikum, an das es sich wendet, bedeutet oder bedeuten könnte. Mittler zwischen Künstler und Publikum, hat der Kritiker Bedeutung, Geltung, Berufung allein daraus. Er ist Sprecher einer Gemeinschaft. Und ohne diese Gemeinschaft, die ihm als Führer zum Kunstwerk folgt, ist er ein Zeilenfüller, eine Null, ein - Kunstschriftleiter. 85

Fachliche Kompetenz und öffentliche Repräsentanz waren laut Westheim die Qualitäten, die den Kunstkritiker vom Kunstschriftleiter oder »Kunstdiener« des Dritten Reiches schieden. Denn letzterer, auf Parteibefehl und nicht durch seine Kompetenz zu seinem Amt »berufen«, ermangele jenes Publikumsauftrags (»Sprecher einer Gemeinschaft«), der den wahren Kritiker auszeichne. Westheim brachte damit ein zentrales Argument für die Literaturkritik des Exils bei. Indem er die Legitimität des Kritikers auf dessen Publikumsauftrag gründete, deklarierte er die nationalsozialistischen »Kunstdiener« zu illegitimen, die Kunstkritiker des Exils zu den einzig legitimen Vertretern deutscher Kunstkritik.86 Westheims Antithese von Publikums- und Parteiauftrag besass fraglos polemische Schlagkraft für die Legitimation der Kunst- bzw. Literaturkritik des Exils. Für deren inhaltliche Bestimmung war sie jedoch problematisch, da sie für die Exilkritik die Möglichkeit einer parteipolitischen Indienstnahme implizit ausschloss. Westheims Argumentation zum Verbot der Kunstkritik hatte den Grundstein gelegt für die Kommentierung weiterer Schlüsselereignisse der nationalsozialistischen Kunstpolitik, so der Eröffnung des »Hauses der deutschen Kunst« und der nachfolgenden Ausstellung zur »Entarteten Kunst« im Herbst 1937. Wenn hier auch auf eine kunsttheoretische Analyse der PTZ-Kommentare zu nationalsoziali-

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»Wortlaut der Verfügung des Reichsministers für Volksaufklärung und Propaganda«, a. a. O., S. 280f. Alfred-Ingemar Berndt, Vom Kunstrichter zum Kunstdiener, in: Der deutsche Schriftsteller Jg. 1 (1936) H. 12, S. 265-281, hier S. 276. - Berndt war 1936-1939 Leiter der Abteilung Schrifttum des Propagandaministeriums. Paul Westheim, Unter aller Kritik, PTZ Jg. 1 N° 188 v. 16.12.1936, S. lf. Ähnlich hatte im Grunde auch die Redaktion argumentiert, als sie bereits seit 1934/35 die nationalsozialistische Kunstkritik als »neudeutsche« Kritik apostrophierte.

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stischer und »entarteter« Kunst verzichtet werden muss, so soll doch deren Intention deutlich gemacht werden. Hitler hatte in seiner Münchner Eröffnungsrede die moderne Kunst als »volksfremde« Dekadenzerscheinung diffamiert, die von »Kunstschmieranten« produziert werde und wie die Konfektionsmode jährlich wechsle. 87 Die PTZ ergriff diese Gelegenheit, um die Legitimation von Hitlers »Kunstkritikertum« zu hinterfragen. »Wenn er sich wenigstens noch darauf berufen wollte, dass er nicht in die Kunstakademie aufgenommen worden ist!« 88 , mokierte sich Chefredakteur Georg Bernhard; statt dessen reklamiere Hitler die Rolle des Mäzens und Auftraggebers. Paul Westheim seinerseits zog parodistisch gegen die »neue Kunstmode, die per Münchner Tempel gestartet werden soll«, zu Felde, nannte sie »Brauchtumstiroler-« und »olle Germanenromantik«, »direkt aus der Krachledernen konzipiert« 89 . Ob satirisch oder argumentativ, verfolgten die Kommentatoren in PTB und PTZ zwei Ziele: die Biossstellung des »Kultur-Nazismus« 90 und die Affirmation des Exils als legitimen Nachfolger und Bewahrer der Kunst der Moderne. Nicht zuletzt in Abgrenzung zur »Kunstbetrachtung« des Dritten Reiches begründeten die Kommentatoren die kunst- bzw. literaturkritische Praxis des Exils auf den Publikumsauftrag des Kritikers (Paul Westheim) bzw. auf die Autonomie ästhetischer Wertmassstäbe (Alfred Kerr). In diesen Selbstlegitimationsdiskursen ausgeblendet wurden allerdings Divergenzen, die die Exilöffentlichkeit ihrerseits in ästhetischen Debatten auszutragen hatte (so z. B. um die Kunstrichtungen des Futurismus und Expressionismus). 91 Aufschlüsse über die Diskussion innerhalb des Exils gaben in PTB und PTZ speziell für das Gebiet der Literatur Meinungsumfragen und Polemiken zur Rolle der Literatur und zur Aufgabe der Intellektuellen im Exil. Zusammen mit den oben vorgestellten Selbstreferenzdiskursen bildeten sie die Axiome literaturkritischer Praxis in dieser Zeitung.

"7 W e r nicht richtig malt, wird sterilisiert (aus der Hitler-Rede v o m 18.7.1937), PTZ Jg. 2 N ° 4 0 2 v. 20.7.1937, S. 2. "" Georg Bernhard, B e f o h l e n e Kunst, PTZ Jg. 2 N ° 4 0 2 v. 20.7.1937, S. 1 (Kommentar zur Hitler-Rede vom 18.7.1937). 89 Paul Westheim, D a s Haus der deutschen Kunst, ferngesehen, PTZ Jg. 2 N ° 4 1 4 v. 1.8.1937, S.4. w

Paul Westheim, Kultur-Nazismus, PTZ Jg. 2 N ° 4 5 7 v. 13.9.1937, S. 4.

"

Ohne hier den in Kapitel 5 behandelten Fragen vorgreifen zu wollen, sei auf die verzögerte Diskussion des Futurismus in der PTZ verwiesen. In einer Rede v o m 18.7.1937 hatte Hitler zu den angeblich »jährlich wechselnden Kunstmoden« geäussert: »Einmal Impressionismus, dann Futurismus, Kubismus, vielleicht aber auch Dadaismus usw.« ( V ö l k i s c h e r Beobachter v. 19.7.1937, zit. n. Sander L. Gilman (Hg.), NS-Literaturtheorie, Frankfurt/M. 1971, S. 178). Unklar ist, auf welche Textvorlage sich die PTZ bei ihrem stark gekürzten Rede-Nachdruck v. 2 0 . 7 . 1 9 3 7 stützte, doch stand dort »Expressionismus« anstatt »Futurismus«. Möglicherweise ist die Begriffsvertauschung in der PTZ Indiz dafür, dass die Redaktion bzw. Westheim bis dato bereits für das Problem d e s Expressionismus, nicht jedoch des Futurismus sensibilisiert waren. Erst als F. T. Marinetti von Hitler die öffentliche Anerkennung des Futurismus als künstlerischen »Wegbereiter« des Faschismus gefordert hatte und der Vorfall durch die französische Presse ging (Pressestimmen in PTZ N ° 438, S. 2), berichtete auch P. Westheim in der PTZ darüber (Marinetti gegen Hitler, PTZ Jg. 2 N ° 511 v. 6 . 1 1 . 1 9 3 7 , S. 2).

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B. Definitionsversuche der Exilliteratur Mit einer Funktionsbestimmung der Literaturkritik des Exils unmittelbar verknüpft war die Frage nach ihrem literarischen Gegenstand. Damit aufgeworfen war das Problem, die neu entstehende Literatur emigrierter Autoren nach 1933 formal und inhaltlich zu bestimmen. Denn die Definition dessen, was in die heutige germanistische Forschung unter der Bezeichnung »Exilliteratur« eingegangen ist, war damals mit einem umfassenden Selbstverständigungsprozess von Autoren und Kritikern verbunden. Im PTB erfolgte die begriffliche Festlegung der literarischen Produktion emigrierter Autoren zunächst ex negativo, in Abgrenzung zur geistig und produktionsmässig gleichgeschalteten, staatlich geförderten Literatur nationalsozialistischer Observanz. Im ersten Jahr der Emigration erschien eine geographische Bestimmung dieser Literatur angebracht; das PTB bezeichnete sie als Literatur »jenseits der Hakenkreuzgrenzgefühle«, »jenseits der braunen Grenzpfähle« oder »ausserhalb der Grenzen des Dritten Reiches«92. Diese geographische Ausgrenzung korrespondierte durchaus mit dem Umstand, dass im ersten Jahr der Emigration so manches Werk noch zu Hause verfasst und ein Andauern des Exils nicht vorstellbar war.93 Eine Festlegung inhaltlicher Kriterien zur Scheidung der Literatur reichsdeutscher bzw. nationalsozialistischer und emigrierter Autoren war bereits weit problematischer. So konnte man im März 1934 in einer Rezension lesen: A u c h die n a t i o n a l e R e v o l u t i o n mit ihrem mystisch-romantischen Schwulst hat die Flut der realistischen, dem sozialen Geschehen und damit nur zu oft dem sozialen Elend g e w i d m e t e n Bücher nicht unterbinden können. Nur ihr Erscheinungsort musste wechseln, musste ausserhalb der Grenzen des Dritten Reiches gelegen sein, ihr Geist ist der gleiche geblieben. 9 4

Hier hatte der Rezensent zwar die Opposition zweier literarischer Strömungen, einer »realistischen« und einer »mystisch-romantischen«, schon vor 1933 angenommen; eine neue Qualität sprach er der im Exil entstehenden Literatur jedoch nicht zu. Im Gegensatz hierzu strich ein anderer Rezensent (vermutlich der stellvertretende Chefredakteur Kurt Caro) die Ausrichtung der Literatur auf soziale Realität und Alltagserfahrung gerade als distinktives Merkmal des Exils heraus. Seitdem Deutschland in das Dunkel der Diktatur gehüllt ist und das Dritte Reich ein Barbarentum des 20. Jahrhunderts wieder auferstehen lässt, sprosst jenseits der Hakenkreuzgrenzgefühle eine neue Literatur, die sich bemüht, das Dickicht des Alltagslebens zu durchleuchten. 9 5

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Textnachweise dieser Bezeichnungen nachfolgend.

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D a g e g e n belegte die PTß-Umfrage »Schriftsteller 1934« v o m 2 1 . 1 . 1 9 3 4 bereits die beginnende Umorientierung der literarischen Produktion (s. dazu Abschnitt D. dieses Kapitels). E. B. (i. e.?), [Buchbesprechung] Maulwürfe, PTB Jg. 2 N ° 9 2 v. 14.3.1934, S. 4 (Rez. zu: A d a m Scharrer, Maulwürfe, Prag 1933). Redaktionell (Kurt Caro?), Geschändetes Vaterland, PTB Jg. 2 N ° 29 v. 9.1.1934, S. 4 (Rez. zu: Heinz Licpman, D a s Vaterland, Amsterdam 1933).

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Ungeachtet dieser offensichtlichen Widersprüche bezeugen beide Zitate die Entstehung eines redaktionellen Sprachgebrauchs, der eine erste Definition der Exilliteratur im PTB einführt als »Literatur, die jetzt jenseits der braunen Grenzpfähle produziert wird und in den nichtgleichgeschalteten deutschen Verlagen erscheint«96. Diese Formulierung erwies sich als richtungweisend für die im Feuilleton und in den Buchkritiken des Blattes präsentierte Literatur97; neben der Produktion reiner Emigrationsverlage schloss sie diejenige deutschsprachiger Verlage ein, die sich ausserhalb des Reichsgebiets befanden und von den Nationalsozialisten als »Asphaltliteraten« oder »Kulturbolschewisten« verfolgte Autoren publizierten. Bücherverbrennung 98 und nationalsozialistische Bücherverbotslisten99 waren so zu einem Kriterium für die Aufnahme in den Literaturteil von PTB und PTZ geworden. Zu fragen wäre, ob die Redaktion des PTB mit ihrem extensiven Begriff einer »Literatur jenseits der braunen Grenzpfähle« eine Alternative zu andernorts versuchten Definitionsansätzen aufzeigen wollte. Das Neue Tage-Buch (NTB) hatte zur Jahreswende 1934/35 die Frage nach einer Bestimmung der »Emigranten-Literatur« sowie der Aufgaben literarischer Kritik aufgeworfen. 100 Dabei war in mehreren Beiträgen die Problematik einer begrifflichen Fassung dieser Literatur zutage getreten. Wo der holländische Literaturkritiker Menno ter Braak die Existenz einer solchen »Emigrantenliteratur« angenommen und zu kritischsolidarischer Beurteilung ihrer Werke aufgerufen hatte, hatte Joseph Bornstein die blosse Berechtigung des Begriffes in Abrede gestellt: Im Allgemeinen hat Goebbels entschieden, was >Emigranten-Literatur< zu werden habe und was seine literarische Existenz jenseits der Grenze fortsetzen dürfe. [...] Es folgt daraus, dass die >Emigranten-Litcratur< keineswegs eine geistige Einheit ist, sondern nur eine mehr oder minder zufällige Schicksalsgemeinschaft. 101

Die Definition der »Emigrantenliteratur« fand sich damit auf das blosse Phänomen der Emigration zurückgeworfen; ausgeklammert wurde die Frage nach deren 96

[Kurt Caro], [Buchbesprechungen] Das Haus Cosinsky, PTB Jg. 2 N° 373 v. 20.12.1934, S.4 (Rez. zu: Peter de Mendelssohn, Das Haus Cosinsky, Paris 1934). 97 Als Beispiel s. die Extraseite zum zweijährigen Bestehen des PTB mit dem Titel »Das deutsche Buch jenseits der braunen Grenzpfähle«, die u. a. Werke von Max Brod, Alfred Döblin, Gerhart Seger u. Michail Scholochow präsentierte ( P T B Jg. 3 N° 733 v. 15.12.1935, S. 3). 98 Die PTZ veröffentlichte die anlässlich der Buchausstellung »Das Freie Deutsche Buch« errichtete Ehrentafel verbrannter Autoren in PTZ Jg. 1 N° 159 v. 17.11.1936, S. 1. 99 PTB und PTZ veröffentlichten im politischen Teil (S. 1 oder 2) regelmässig Notizen über Publikationsverbote und im Dritten Reich verbotene Bücher. 100 Die wichtigsten Beiträge erschienen in A'TB Jg. 2 (1934) H. 52 und Jg. 3 (1935) H. 1-2; wiederveröffentlicht bei Heinz Ludwig Arnold (Hg.), Deutsche Literatur im Exil 1933-1945. Bd. 1. Frankfurt/M. 1974, S. 5 9 - 7 0 . - Zur Darstellung der Debatte s. Matthias Wegner, Exil und Literatur, Deutsche Schriftsteller im Ausland 1933-1945, Frankfurt/M. u. Bonn, 2., durchges. u. erg. Aufl. 1968, S. 131-134. "" Erich Andermann (i. e. Joseph Bornstein), Grössere Strenge gegen die Dichter?, NTB Jg. 3 H. 1. v. 5.1.1935, S. 1267-1268, hier S. 1267.

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Motiven (insbesondere nach dem Verhältnis von »politischer« und »jüdischer« Emigration). Gegen eine solche Generalisierung wandte sich Hans Sahl, indem er die literarische Emigration auf eine politisch-militante Haltung festlegte und Bornstein entgegenhielt: »Emigration ist nicht nur ein von Hitler aufgezwungener Verlagswechsel, Emigration ist eine geistige Haltung.«102 Wie ein verspätetes Echo auf Hans Sahl liest sich die Feststellung Kurt Caros vom Mai 1937: »Emigrierter Schriftsteller sein, darf eben keinen Zufall, sondern muss literarisches Schicksal bedeuten.« 103 Die Aufforderung an die Literaten, die Emigration als geistig-politische Haltung zu betrachten, musste zu Zusammenstössen mit all jenen führen, die glaubten, sich dem »Zwang zur Politik«, wie Thomas Mann später formulieren sollte104, entziehen zu können. Dies galt insbesondere für diejenigen emigrierten Autoren, die sich — wie Mann selbst - zunächst öffentlicher Stellungnahmen gegen das Dritte Reich enthielten und, obschon emigriert, dort z. T. noch publizierten. Umgekehrt prägte dieses politische Verständnis der Emigration auch eine negative Rezeption der Literatur der »Inneren Emigration« vor. Öffentliche Abgrenzungsprozesse gegen Nicht-Emigranten, Eingrenzungsversuche innerhalb der Emigration und Begriffsgenese der Exilliteratur griffen hier ineinander.105 Eine neue Phase in. der Definition der Exilliteratur markiert der Begriff der »freien deutschen Literatur«, wie ihn die PTZ ab Herbst 1936 übernahm. Der Ausdruck fand sich in den Spalten der PTZ erstmals anlässlich der Ausstellung »Das Freie Deutsche Buch«, die von der Deutschen Freiheitsbibliothek unter Beteiligung des SDS im November 1936 organisiert wurde.106 Die Ausstellung des SDS war konzipiert als Gegenveranstaltung zu einer nationalsozialistischen Bücherschau 107 ; Feuilletonredakteur Erich Kaiser qualifizierte sie folgerichtig als Offensive des »freien deutschen Buches«108. Mit der redaktionellen Übernahme dieses Terminus, der fortan nicht nur in den Ausstellungsberichten, sondern z. B. auch noch 1938 in Rubriktiteln Verwendung fand109, vollzog die PTZ eine Angleichung an einen Sprachgebrauch, wie er sich seit dem Herbst

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Hans Sahl, Emigration - Eine Bewährungsfrist, NTB Jg. 3 H. 2 v. 12.1.1935, S. 45. Manuel Humbert (i. e. Kurt Caro), Macht und Geist. Das Problem der Emigrationsliteratur, PTZ Jg. 2 N ° 3 3 4 v. 12.5.1937, S. 4 (Rez. zu: Das Wort Jg. 2 ( 1 9 3 7 ) H. 4/5). Thomas Mann, Der Z w a n g zur Politik, NTB Jg. 7 H. 30 v. 22.7.1939, S. 7 1 0 - 7 1 2 . S. hierzu auch Abschnitt C. dieses Kapitels. Die Ausstellung fand v o m 1 6 . - 2 3 . 1 1 . 1 9 3 6 in den Räumen der Société Géographique, 184, boulevard Saint-Germain, Paris 6 e , statt. Zur Nazibücherschau im Office Universitaire Allemand en France s. Robert Breuer, Das Buch als Handschuh. Zur braunen Bücherausstellung in Paris, PTZ Jg. 1 N° 163 v. 21.11.1936, S. 2. Flavius ( i . e . Erich Kaiser), Offensive des freien deutschen Buches, PTZ Jg. 1 N ° 158 v. 16.11.1936, S. 2. - S. auch die Ankündigung der Ausstellung »Das Freie D e u t s c h e Buch«, PTZ Jg. 1 N ° 156 v. 14.11.1936, S. 3, s o w i e die Beiträge von: Heinrich Mann, Geleitwort, PTZ Jg. 1 N ° 157 v. 15.11.1936, S . 4 ; Max Herrmann-Neisse, Trost in Büchern (Gedicht), und Robert Breuer, Ausklang der Freien Deutschen Bücherschau, PTZ Jg. 1 N ° 167 v. 2 5 . 1 1 . 1 9 3 6 , S . 4 , s o w i e zahlreiche Anzeigen und Veranstaltungshinweise zur B u c h w o c h e .

'"* So z.B. im Titel für die von Siegfried Marek redigierte Rubrik »Überblick über freie deutsche Zeitschriften« im Jahre 1938.

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1935 in zahlreichen Institutionen der deutschen Volksfront in Paris durchzusetzen begann.110 Der Begriff der »freien deutschen Literatur« stellte somit einen von kommunistischer Seite lancierten Gegenentwurf zum Terminus »Emigrantenliteratur« dar, der nun, nach der Phase der Abgrenzung gegen die NS-Literatur und der Affirmation der »Emigrantenliteratur« als einzig legitimer deutscher Literatur, innerhalb des Kreises der Exilautoren integrative Wirkung hatte. Die höhere Akzeptanz des neuen Begriffes demonstrierte die Zustimmung von Autoren, die sich zuvor dem Begriff der »Emigrantenliteratur« widersetzt hatten." 1 Eine Kommentierung des Terminus der »freien deutschen Literatur« war in der PTZ anlässlich der von Ernest Strauss herausgegebenen Bibliographie Fünf Jahre freie deutsche Literatur112 zu lesen. Wie Strauss in seinem Vorwort ausführte, hatte er »auslandsdeutsche (schweizerische und österreichische) Heimatliteratur« sowie »manche Bücher, die ebenso gut in Deutschland hätten erscheinen können«, von der bibliographischen Erfassung ausgeschlossen, hingegen Werke, »die zur Einfuhr nach Deutschland freigegeben sind, aber in Deutschland nicht hätten verlegt werden können«, darin inbegriffen. 113 Die PTZ äusserte sich nun (1938): D i e deutsche Literatur ausserhalb der Reichsgrenzen ist nicht identisch mit der freien deutschen Literatur. Es erscheinen in Österreich, in der S c h w e i z , in der Tschechoslowakei und in geringerem U m f a n g e in einer Reihe anderer Länder Bücher, die indifferent sind. Der Erscheinungort ist eine geographische Zufälligkeit. D i e freie deutsche Literatur steht äusserlich mitten in ihr drin, obwohl ihr Erscheinungsort eine politische Notwendigkeit ist." 4

Damit wird deutlich, dass das Redaktionskollektiv nach seinem ersten polemischplakativen Definitionsversuch der »Literatur, die jetzt jenseits der braunen Grenzpfähle produziert wird und in den nichtgleichgeschalteten deutschen Verlagen erscheint«, über die Auseinandersetzung mit dem Begriff der »Emigrantenliteratur« zu einer Übernahme der Volksfront-Terminologie einer »freien deutschen Literatur« gelangt war. Da »deutsch« hier keine nationale, sondern eine sprachliche Gemeinschaft bezeichnete, suchte der Volksfront-Begriff der Gefahr einer Isolation der literarischen Produktion der emigrierten Autoren deutscher Sprache

"" S o wurde z.B. i m November 1935 die Freie Deutsche Hochschule, 1938 die Zeitschrift Freie Kunst und Literatur und die Zeitschrift für Freie Deutsche Forschung gegründet. 111 S. z.B. Hermann Kesten, Fünf Jahre nach unserer Abreise, NTB Jg. 6 H. 5 v. 2 9 . 1 . 1 9 3 8 , S. 1 1 4 - 1 1 7 , hier S. 115: »Weder das Exil noch die Mitgliedschaft bei der Reichsschrifttumskammer trennt die beiden deutschsprachigen Literaturen. [...] D i e Grenze zwischen der lebendigen ungefesselten Literatur und der nationalsozialistischen Gräberliteratur geht mitten durch das Reich und mitten durch das Exil und mitten durch jene freieren Staaten, w o die deutsche Sprache die Muttersprache oder eine der Muttersprachen ist, w i e Österreich oder die S c h w e i z und die Tschechoslowakei. Gegenüber der Sklavenliteratur Hitlers steht die gesamte freie deutsche Literatur.« 112 Ernest Strauss, Fünf Jahre freie deutsche Literatur, Selbstverlag, Paris 1938 (vgl. bereits S. 103, A n m . 2 0 4 ) . 113 Ebd., S. 2. 114

Redaktionell, Bibliographie der freien deutschen Literatur, PTZ Jg. 3 N ° 567 v. 1.1.1938, S. 4.

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entgegenzusteuern und beanspruchte deren Verbundenheit mit der europäischen, ja mit der Weltliteratur ihrer Zeit. Der redaktionelle Sprachgebrauch von PTB und PTZ spiegelt somit die Evolution der literaturkritischen und politischen Reflexionen zur Exilliteratur. Individuelle Formulierungen einzelner Mitarbeiter der Zeitung präsentierten indessen Abweichungen vom beobachteten redaktionellen Sprachgebrauch. Einer der bedeutendsten Definitionsversuche der Exilliteratur, der in der PTZ Widerhall fand, war Alfred Döblins Schrift Die deutsche Literatur (im Ausland seit 1933)us. Döblin hatte darin die deutsche Literatur vor 1933 in drei Strömungen eingeteilt - eine konservative, eine bürgerlich-humanistische und eine geistesrevolutionäre - und die deutsche Literatur im Ausland nach 1933 vorwiegend mit den beiden letzten identifiziert. Damit widersprach er so manchen Autoren, die eine Politisierung der Literatur infolge des Exils behauptet hatten; statt dessen betonte er die Kontinuität literarischer Strömungen in der Emigration, die in seinen Augen die deutsche Literatur schlechthin repräsentierten.116 Im Gegensatz zu Döblins argumentativ begründeter Ablehnung einer »Emigrantenliteratur« zeugten andere Begriffsprägungen, die sich mitunter in PTB und PTZ feststellen Hessen, vom weitgehenden Rückzug ihrer Autoren aus der zeitgenössischen Diskussion. So sprach etwa Alfred Kerr noch im April 1939 von »Auswandererdichtung«" 7 , ein Begriff, der weder in PTB bzw. PTZ noch in einem anderen Exilorgan auf Rückhalt gestossen war und der den politischen wie literarischen Tendenzen der Emigration diametral entgegenstand. C. Abgrenzung gegen Autoren reichsdeutscher Verlage und Autoren der »Inneren Emigration« Waren die institutionellen Beziehungen zwischen emigrierten und im Reich verbliebenen deutschen Autoren seit dem Sommer 1933 gelöst worden - erinnert sei nur an die Konstituierung der Reichsschrifttumskammer und die Auflösung der Weimarer Schriftstellerverbände —, so gestaltete sich, zumal bei emigrierten Autoren, die im Dritten Reich (noch) nicht offiziell »unerwünscht« waren, der Abbruch geschäftlicher und privater Beziehungen oft viel langwieriger. Um ihre materielle Existenz zu sichern, suchten manche unter ihnen in vermeintlichen

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A. Döblin, Die deutsche Literatur (im Ausland seit 1933). Ein Dialog zwischen Politik und Kunst. Paris 1938 (auch in: A. Döblin, Schriften zu Ästhetik, Poetik und Literatur, hg. v. Anthony W. Riley, Ölten u. Freiburg 1989, S. 316-364). - S. die Rez. von Walter A. Berendsohn, Zu Alfred Döblins Schrift über »die deutsche Literatur«, PTZ Jg. 4 N° 899 v. 21.1.1939, S. 4 und den Teilabdruck: A. Döblin, Keine Emigrationsliteratur ..., PTZ Jg. 4 N° 900 v. 22./23.1.1939, S. 3. Vgl. dazu auch M. Wegner, Exil und Literatur, a. a. O., S. 55-66. Alfred Kerr, [Assiette Anglaise] Hedonismus ... und so, PTZ Jg. 4 N° 979 v. 25.4.1939, S. 4. - Kerrs Haltung in dieser Frage erklärt mithin, weshalb er in der Literaturkritik des Exils keine nennenswerte Rolle spielte.

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Nischen autorisierter bürgerlicher Blätter"8 oder renommierter Literaturverlage auszuharren. Vertragliche Bindungen und die teils ruinösen Ablösesummen zur Freigabe von Autorenrechten"9 taten ein Übriges, die Trennung vom reichsdeutschen Markt zu erschweren.120 Im Kollegenkreis stellte die Frage der Emigration selbst enge private oder künstlerische Freundschaften auf die Probe; öffentliche Zerwürfnisse wie das zwischen Alfred Kerr und Gerhart Hauptmann, den er doch als Literaturkritiker entschieden gefördert hatte12', oder zwischen Klaus Mann und dem von ihm verehrten Gottfried Benn 122 sind bekannte Beispiele für die Frontenziehung und Abgrenzung zwischen im Dritten Reich verbliebenen und emigrierten Autoren. Doch selbst unter emigrierten Schriftstellern war das öffentliche Bekenntnis zur Emigration und die Publikation in Exilpresse und -Verlagen der Punkt, an dem sich die Geister schieden. Der eklatanteste Fall war die öffentliche Desavouierung des Herausgebers der Sammlung, Klaus Mann, durch Thomas Mann, Alfred Döblin und René Schickele 123 . Letztere hatten im September 1933 nach Erscheinen des ersten Hefts ihre bereits zugesagte Mitarbeit zurückgezogen und erklärt, von Klaus Mann über den »politischen Charakter« der Zeitschrift getäuscht worden zu sein. Zustande gekommen war diese peinliche Erklärung auf Drängen ihres Verlegers Gottfried Bermann-Fischer, der nach den heftigen Angriffen des Börsenblatts auf Die Sammlung124 Repressalien gegen seinen Verlag

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So veröffentlichte selbst ein zweifelsfreier Faschismusgegener wie Walter Benjamin unter Pseudonym bis 1935 in der Frankfurter Zeitung. "* »Fischer verlangt z.B. für Freigabe Jakob Wassermanns 200.000 Mark«, schrieb Stefan Zweig an Joseph Roth (J. Roth, Briefe, a. a. O., S. 290). 120 Vgl. Hans-Albert Walter, Deutsche Exilliteratur, Bd. 2., Europäisches Appeasement und überseeische Asylpraxis, Stuttgart 1984, S. 171-178. 121 Alfred Kerr, der als Kritiker Hauptmanns literarisches Debüt entscheidend gefördert hatte, distanzierte sich 1933 vehement von ihm. S. A. Kerr, Gerhart Hauptmanns Schande, in: Exil. Literarische und politische Texte aus dem deutschen Exil 1933-1945, Bd. 1, hg. v. Ernst Loewy, Frankfurt/M. 1982, S. 2 1 8 - 2 2 1 . 122 Klaus Manns privat geäusserte Kritik an einer Rede Gottfried Benns (Der neue Staat und die intellektuellen v. 24.4.1933; Buchveröff. Berlin 1933) hatte Benn in einer Rundfunkansprache öffentlich zurückgewiesen (Antwort an die literarischen Emigranten v. 24.5.1933, in: G. B., Sämtliche Werke, hg. v. Gerhard Schuster. Bd. 4: Prosa 2, Stuttgart 1989, S. 2 4 - 3 2 ) . K. Mann reagierte mit seiner Glosse Gottfried Benn oder die Entwürdigung des Geistes (Die Sammlung Jg. 1 (1933) H. 1, S. 4 9 - 5 1 ) . Benns späteres Bekenntnis zum Expressionismus (Deutsche Zukunft v. 5.11.1933; auch in: G. B„ Sämtliche Werke. Bd. 4: Prosa 2, a. a. 0 . , S. 7 6 - 9 0 ) lieferte den Anlass zur sog. »Expressionismus-Debatte« im Jahre 1937/38 (s. Kapitel 5.1. dieser Arbeit). - Zum »Fall Benn« s. auch Jürgen Schröder, Gottfried Benn. Poesie und Sozialisation, Stuttgart u. a. 1978, S. 170-175; Joseph Wulf (Hg.), Literatur und Dichtung im Dritten Reich, a . a . O . , S. 131-144; Albrecht Betz, Exil und Engagement, a. a. O., S. 5 9 - 6 8 . 123 R. Schickele war zwar Elsässer und lebte seit 1932 in Frankreich, veröffentlichte jedoch bei S. Fischer. 124 »Literarische Emigranten-Zeitschriften«, Börsenblatt deutscher Buchhändler Jg. 100 N° 236 v. 10.12.1933; die Fischer-Autoren waren hier des »geistigen Landesverrats« bezichtigt worden.

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befürchtete. 125 (Im Falle Stefan Zweigs dagegen hatten Pressionen des InselVerlages wegen seiner geplanten Mitarbeit an der Sammlung den Autor nach kurzer Zeit veranlasst, zum Verlag Herbert Reichner in Wien zu wechseln.126) Hatte diese Absage bekannter Fischer-Autoren an die deutsche Emigration vom Oktober 1933 im PTB kein unmittelbares Echo gefunden (die Zeitung erschien erstmals am 12.12.1933), so gab ein Nachruf zum Tode Samuel Fischers doch Gelegenheit zur Stellungnahme. Die Redaktion äusserte sich darin ebenso anerkennend über die Leistung des alten Chefs, der seit der Jahrhundertwende Autoren der Weltliteratur verlegt und gefördert hatte, wie vernichtend zu der seines Nachfolgers und Schwiegersohns Gottfried Bermann-Fischer. Dessen Versuch, sich mit dem Dritten Reich zu arrangieren, kommentierte sie: »wir werden es dem Erben dieser literarischen Vergangenheit [...] nie vergessen, dass und mit welchen Mitteln er versucht hat, viele Autoren seines Verlages zur Charakterlosigkeit zu verleiten«127. Fortan galt der Fischer-Verlag dem PTB als Beispiel dafür, »wie heruntergekommen im Hitlerreich jetzt die Literatur ist«128. Ankündigungen von Neuerscheinungen, Vorabdrucke und Rezensionen zu neuen Verlagstiteln des Fischer-Verlags sucht man daher in PTB wie PTZ bis zum Jahre 1938 vergebens. 129 Damit nicht genug, torpedierte das Blatt zusammen mit dem NTB die Versuche Bermann-Fischers, sich um die Jahreswende 1935/36 mit Genehmigung der Reichsbehörden in der Schweiz respektive in Wien niederzulassen. Unter dem Titel Emigranten mit Vorbehalt attackierte »Vigilans« (vermutlich Kurt Caro) am 6.1.1936 jene zaudernden literarischen Emigranten, die Goebbels zwar den Rücken gekehrt hätten, doch »seinen Zeitungen die Erzeugnisse ihrer Gehirne zusende[te]n« 130 . Leopold Schwarzschild zog nach und schlug noch aggressi-

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»Erklärung der Reichsstelle zur Förderung des deutschen Schrifttums«, Börsenblatt des Deutschen Buchhandels Jg. 100 N° 240 v. 14.10.1933. - Vgl. zur Affäre die Briefe an und von Th. Mann v. 20.8. u. 13.9.1933, an St. Zweig v. 15.9.1933, von und an R. Schickele v. 2. u. 6.10.1933 (in: K . M a n n , Briefe und Antworten. Bd. 1, a . a . O . , S. 122-124, 132-134, 134-138, 142-145). Ihre Mitarbeit zurückgezogen hatten auch H. Hesse (ebd., S. 115) und St. Zweig (ebd., S. 131). Vgl. weiterden Brief Schickeies an Roth v. 28.1.1934 (in: J. Roth, Briefe, a. a. O., S. 307-312) und die sehr elliptischen Darstellungen in: Gottfried BermannFischer, Bedroht - Bewahrt, a . a . O . , S. 81 f. sowie in: S. Fischer-Verlag, Ausstellung des Deutschen Literaturarchivs, a. a. O., S. 440-445. 126 Zweigs private Solidaritätsbekundung an Anton Kippenberg, die dieser unbefugt im Börsenblatt veröffentlichte, hatte den Verlagswechsel zu H. Reichner ausgelöst (s. die Briefe Zweigs an Klaus Mann v. 18. u. 23.1 1.1933 in: K . M a n n , Briefe und Antworten Bd. 1, a . a . O . , S. 151 ff. und Zweigs Briefwechsel mit Joseph Roth vom November 1933 in: J. Roth, Briefe, a. a. O., S. 284-296). Die Neuen Deutschen Blätter griffen den Vorfall auf (Redaktionell, Briefe, die den Weg beleuchten, NDB Jg. 1 (1933/34) H. 3, S. 129-139). 127 Redaktionell, S. Fischer, PTB Jg. 2 N° 310 v. 18.10.1934, S. 2. 128 Redaktionell, S. Fischers Verlagskatalog, PTB Jg. 3 N° 706 v. 18.11.1935, S. 2. 129 Einzige Ausnahme war die Kurzrezension von -r- (i. e.?), [Buchbesprechungen], PTB Jg. 2 N° 152 v. 13.5.1934, S. 3 (zu Th. Mann, Joseph und seine Brüder, Bd. II. Der j u n g e Joseph, Berlin 1934). 13 " Vigilans ( i . e . Kurt Caro?), Emigranten mit Vorbehalt, PTB Jg. 4 N° 755 v. 1.6.1936, S. lf. - Th. Mann notierte am 8.1.1936 verärgert: »Dummer Artikel im >Pariser Tageblatt< über

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vere Töne an, indem er Samuel Fischers Erben einen »Schutzjude(n) des nationalsozialistischen Verlagsbuchhandels«' 31 nannte. Die Fischer-Autoren Hermann Hesse, Annette Kolb und Thomas Mann stellten sich daraufhin schützend vor ihren Verleger und erklärten, ihm »auch in Zukunft ihre Werke anvertrauen [zu] wollen«132. Ruhig, doch eindringlich kommentierte Georg Bernhard am 19.1.1936, der »Fall S. Fischer« sei »eine politische und moralische Frage, die für die gesamte deutsche Emigration von ausserordentlicher Tragweite ist«133. Eine Diskussion mit Hesse und Kolb hielt er für »unerspriesslich«, da beide noch in der Frankfurter Zeitung veröffentlichten; im Fall Thomas Manns Hess er hingegen keinen Zweifel an dessen »persönlicher Anständigkeit« und »moralischer Gesinnung« und hoffte, dieser möge nicht länger dem Dritten Reich als Aushängeschild dienen. Hermann Hesse reagierte in einer Zuschrift, die das PTB am 26.1.1936 abdruckte.134 Zu seiner Verteidigung wies er darauf hin, dass er kein Mitarbeiter der FZ, sondern der Neuen Rundschau sei und lediglich Zweitdrucke von »alten kleinen Arbeiten« durch Agenturen in die FZ gelangt seien; auch sei er mittlerweile Schweizer Bürger und folglich kein Emigrant. Bernhard wertete Hesses Argumentation als erschreckenden Beweis für »die geistige Haltung eines grossen Teils der Intellektuellen«, die sich noch immer »dem verzweifelten Kampf, den die deutsche Literatur im Exil nicht etwa nur um ihre materielle Existenz, sondern um das ideale Recht führt«135, verschlössen. Als Hesse den Streit mit Bernhard auch in die Neue Zürcher Zeitung (NZZ) trug, forderte Bernhard kurz und bündig: »Schluss mit Hermann Hesse«136. Auf diese Auseinandersetzung Bernhards mit Hesse folgte Schwarzschilds »Antwort an Thomas Mann«, die von der Forschung bislang als alleiniger Auslöser der Kontroverse zwischen Mann und Korrodi betrachtet wurde.137 Im Zentrum von Schwarzschilds Beitrag stand erneut die Legitimation der »Emigranten-Literatur« als einziger deutscher Literatur von Rang138, denn, so hatte er

>Emigranten mit Vorbehalt^ der auch auf mich gemünzt sein soll.« (ders., Tagebücher 1 9 3 5 - 3 6 , Frankfurt/M. 1978, S. 236). 131 L12

Redaktionell, [Notiz], NTB Jg. 4 H. 2 v. 11.1.1936, S. 30f. Th. Mann, H. Hesse, A. Kolb: Erklärung, in: NZZ v. 18.1.1936; auch in: H. L. Arnold (Hg.), D e u t s c h e Literatur im Exil Bd. 1, a. a. O., S. 96f.

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G. Bernhard, Der Fall S. Fischer, PTB Jg. 4 N ° 7 6 8 v. 19.1.1936, S. l f .

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G. Bernhard, Antwort an Hermann Hesse, PTB Jg. 4 N° 7 7 5 v. 2 6 . 1 . 1 9 3 6 , S. l f . (darin der vollständige Nachdruck des Briefes von H e s s e an Bernhard v. 2 4 . 1 . 1 9 3 6 , dessen Durchschlag sich im Hermann-Hesse-Archiv ( D L A ) befindet). Ebd.

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G. Bernhard, Schluss mit Hermann Hesse, PTB Jg. 4 N° III v. 2 8 . 1 . 1 9 3 6 , S. 2. M. Wegner, Exil und Literatur, a. a. O., S. 116; auch die Textsammlung von H. L. Arnold (Hg.), Deutsche Literatur im Exil, a. a. O., S. 9 3 - 1 2 4 , setzt erst hier an. Der Diskussionszusammenhang mit den in Abschnitt A. u. B. dieses Kapitels dargestellten Definitionsfragen der Exilliteratur und der Funktion der Kritik im Exil soll nochmals unterstrichen werden.

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hinzugefügt, »nahezu nichts von Bedeutung ist drüben geblieben«139. Eduard Korrodi, der Feuilletonchef der NZZ, sah sich bemüssigt, Thomas Mann gegen solchen »Ghetto-Wahnsinn« der Emigranten zu verteidigen und behauptete, »dass ein Teil der Emigranten [...] die deutsche Literatur mit derjenigen jüdischer Autoren identifizier(e).« »Ausgewandert«, so Korrodi, sei »vor allem die Romanindustrie und ein paar wirkliche Könner und Gestalter von Romanen«140, während die »Dichter« im Reich verblieben seien.141 Dieser Auffassung Korrodis trat Thomas Mann am 3.2.1936 energisch entgegen. Unter Hinweis auf die eigene Person verteidigte er die literarische Emigration gegen den Vorwurf, lediglich jüdische Autoren zu umfassen, und warnte im übrigen davor, die Abgrenzung zwischen emigrierter und nicht-emigrierter Literatur ausschliesslich anhand geographischer Kriterien vorzunehmen.142 Das PTB druckte die Stellungnahme Manns aus der NZZ kommentarlos ab.143 Das Fazit der Affäre zog Leopold Schwarzschild im NTB: »So hat der Konflikt um einen Verlag, dank der Mithilfe eines allzu fleissigen Gegners, weit über den Anlass hinausgeführt. Thomas Mann hat Brücken abgebrochen, die er bisher noch intakt halten wollte.«144 Denn der »Fall S. Fischer«, der 1933 als Auseinandersetzung um Die Sammlung begann und 1936 mit dem öffentlichen Bekenntnis seines berühmtesten Autors, Thomas Mann, zur deutschen Emigration endete145, war ein Markstein im künstlerisch-moralischen Legitimationsprozess der Exilliteratur. Er hatte die öffentliche Abgrenzung der deutschen literarischen Emigration gegen Autoren und Verleger des Dritten Reiches an einer Symbolfigur vollzogen und bei sich ursprünglich unpolitisch gebenden Autoren das Bewusstsein der Emigration als politischem Akt gefördert. Er hatte für die bürgerlich-konservative Schriftstellerfraktion des Exils, für die Thomas Mann emblematisch war, die Wende von der Negation der Politik zum »Zwang zur Politik«146 vollzogen und dazu beigetragen, wie es das PTB kompromisslos ausdrückte, »klare Scheidelinien gegenüber denen zu ziehen, die sich gegen uns erklären, weil sie nicht mit uns kämpfen«147. Insofern war der schliessliche Positionswandel Thomas Manns die beste Illustration des »Zwang(s) zur Stel-

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Leopold Schwarzschild, Antwort an Thomas Mann, NTB Jg. 4 H. 4 v. 25. 1. 1936, S. 8 2 - 8 8 , hier S. 82. Eduard Korrodi, Deutsche Literatur im Emigrantenspiegel, NZZ v. 26. 1. 1936, zit. nach: H. L. Arnold (Hg.), Deutsche Literatur im Exil Bd. 1, a. a. O., S. 105ff. S. auch Abschnitt D. dieses Kapitels zur Auseinandersetzung z w i s c h e n »Dichtern« und »Literaten«. T h o m a s Mann, Antwort an Eduard Korrodi, NZZ v. 3.2.1936, zit. n.: H . L . A r n o l d (Hg.), Deutsche Literatur im Exil B d . 1, a. a. O., S. 1 0 7 - 1 1 1 . T h o m a s Mann antwortet, PTB Jg. 4 N° 7 8 5 v. 5.2.1936, S. lf. Leopold Schwarzschild, Literatur, NTB Jg. 4 H. 7 v. 15.2.1936, S. 1 5 4 - 1 5 7 . D i e früheren Fischer-Autoren Döblin und Schickele hatten sich bereits 1 9 3 4 Exilverlagen zugewandt. Mit der Emigration nach Stockholm gewann Fischer ab 1938 einige seiner Prestigeautoren zurück. Vgl. bereits S. 154, Anm. 104. Georg Bernhard, Antwort an Hermann Hesse, a. a. O.

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lungnahme« 148 , den die /Tß-Redaktion seit ihrer Umfrage zur »Mission des Dichters 1934« für die emigrierten Intellektuellen postuliert hatte.149 Mit dem Bannspruch belegt blieb freilich der Verlag S. Fischer, dessen Emigrationspläne die Zeitung mit bissigen Kommentaren verfolgte.150 1936, auf der Höhe der Auseinandersetzung um den Verlag, hatte Georg Bernhard geschrieben: S o selbstverständlich bisher für das Pariser Tageblatt - mit der einzigen, von uns bewusst gemachten, A u s n a h m e der Bücher von Thomas Mann - die Verlagserscheinungen von Fischer bisher nicht existierten, werden wir auch in Zukunft von ihnen keine Notiz nehmen, w o auch der Sitz des Verlages immer sein mag. 151

Und noch 1938, als der Verlag ins Stockholmer Exil übergesiedelt war, hegte die Redaktion Misstrauen gegen Bermann-Fischer. Erst die Herausgabe von Exilautoren und die Zusammenarbeit des Fischer-Verlages mit Allert de Lange und Querido in der »Forum-Bücherei« veranlassten die PTZ Ende 1938, ihre Haltung zu ändern und den verhängten Boykott aufzuheben. Verlagsprojekte wie die Briefe der deutschen Vertriebenen wurden nun angekündigt152, das laufende Verlagsprogrammm in Neuerscheinungen und Rezensionen vorgestellt.153 Die Haltung der Redaktion im »Fall S. Fischer« deutete auf ihre Einstellung zur Frage der sogenannten »Inneren Emigration« voraus. Zwar hatte schon Thomas Mann im Januar 1936 darauf verwiesen, dass »die Grenze zwischen emigrierter und nicht emigrierter deutscher Literatur nicht leicht zu ziehen« sei; sie falle, so schrieb er, »geistig gemeint, nicht schlechthin mit der Reichsgrenze zusammen« 154 . Die Schriftsteller der Emigration sollten deshalb gegen diejenigen Autoren, die »in Fragen der Neuansiedlung deutschen Geistes« anderer Meinung seien, »nicht sofort den Vorwurf der Felonie und der Abtrünnigkeit vom gemeinsamen Schicksal erheben«, denn gelitten, gab Thomas Mann zu bedenken, werde »auch im Inneren«155. Dass das PTB solchen Argumenten zugänglich war, muss beweifelt werden, waren sie doch unmittelbar mit der Rechtfertigung von Manns Haltung vor 1936 verknüpft.

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Redaktionelles Vorwort zur »Mission des Dichters 1934«, PTB Jg. 2 N ° 365 v. 12.12.1934, S. 3. "" S. den folgenden Abschnitt D. 150

"Redaktionell, Bermanns Aktien und Literatur, PTB Jg. 4 N ° 901 v. 31.5.1936, S. 2; Redaktionell, »Ganz unpolitisch«, PTZ Jg. 4 N ° 7 3 3 v. 9.7.1938, S. 4.

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Georg Bernhard, Der Fall S. Fischer, PTB Jg. 4 N ° 7 6 8 v. 19.1.1936, S. lf. Redaktionell, »Briefe der deutschen Vertriebenen«, PTZ Jg. 4 N ° 8 8 7 v. 7.1.1939, S. 4 (das B u c h kam nicht zustande). Zur Stockholmer Verlagstätigkeit s. Zehnjahrbuch 1 9 3 8 - 1 9 4 8 , hg. v. Friedrich Torberg, W i e n u. Stockholm 1948. Das Vorwort (S. 9 - 2 2 ) resümiert die Emigrationsfrage aus Verlagssicht. T h o m a s Mann, Antwort an Eduard Korrodi, a. a. O., S. 108.

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Ebd. - 1938 entwickelte Mann diese Auffassung in seiner Schrift Dieser Friede (Stockholm 1938, S. 9f.) weiter, als er von den »Deutschen der inneren und äusseren Emigration« sprach und diese als »die deutsche Opposition extra et intra muros« definierte.

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Wie rigoros sich die Zeitung verhielt, macht die erstmalige Verwendung des Begriffes »Innere Emigration«156 im Mai 1936 deutlich. Das PTB veröffentlichte dort Auszüge eines Berichts der katholischen Tageszeitung La Croix über das Schicksal ehemaliger Politiker der Weimarer Republik, die - wie der redaktionelle Vorspann des PTB präzisierte — »weder in der Emigration noch im Konzentrationslager sind«. Der Titel des Berichts lautete bezeichnend Die innere Emigration. In ihm geschildert wurde neben Beispielen ehemaliger Botschafter und Minister, die einen Zivilberuf als Reitlehrer, Bibliothekar oder als Ein-MannZeitungsausschnittbüro ergriffen hatten, auch der Fall des ehemaligen Reichstagspräsidenten Paul Lobe, der nun für 150 Mark Monatsgehalt als Korrektor arbeite und morgens »um 6 Uhr [...] mit seinem Paket Stullen unter dem Arm zum Betrieb eil(e)«157. Die eigentliche Aussage des Berichts stand zwischen den Zeilen: Vormals in den höchsten Staatsämtern tätig, führten diese im Dritten Reich verbliebenen Ex-Politiker dort eine subalterne, verbürgerlichte oder proletarisierte Existenz. »Innere Emigration« bedeutete für sie den Rückzug in die Privatheit und eine aus dem Verlust ihrer öffentlichen Rolle resultierende soziale Deklassierung. »Innere Emigration« als Zustand einer Privatheit, der »weder in d(ie) Emigration noch i(ns) Konzentrationslager« führe, hiess im Verständnis des PTB aber auch, dass die betreffenden Personen weder der äusseren noch der inneren politischen Opposition angehörten. Eine Transposition des Begriffs »Innere Emigration« von Personen der politischen auf solche der literarischen Öffentlichkeit erfolgte erst später, und nicht ohne Zögern. Am ausführlichsten dokumentieren lässt sich dies am Fall Ernst Wiecherts, der sich, obwohl seit dem Ersten Weltkrieg als deutschnationaler Autor bekannt, aus religiösen Motiven vom nationalsozialistischen Staat zurückzog und wegen öffentlich geäusserter Kritik am NS-Regime 1938 vorübergehend in KZ-Haft kam. Auszüge aus Wiecherts zwei Reden vor Münchner Studenten vom 6.7.1933 und 16.4.1935 waren jeweils über ein Jahr später in die Spalten von PTB (3.11.1934 158 ) bzw. PTZ (8.8.1936'59) gelangt und dort als Beispiele überraschender Systemkritik abgedruckt worden. Am 6.9.1936 brachte die PTZ die unzutreffende — Meldung, Wiechert sei infolge seiner zweiten Rede, die als

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Zur Begriffsgenese allgemein s. Reinhold Grimm, Innere Emigration als Lebensform, in: Exil und innere Emigralion, Bd. I, hg. v. R. Grimm u. J. Hermand, Frankfurt/M. 1972, S. 3 1 - 7 3 ; Ralf Schnell, Literarische Innere Emigration 1933-1945, Stuttgart 1976, S. 2 - 1 5 . Die innere Emigration. Von Lobe bis Rechberg, PTB Jg. 4 N° 890 v. 20.5.1936, S. lf. (teilw. Nachdruck e. Artikels aus La Croix). Ernst Wiechcrt, Der Dichter und die Jugend, in: ders., An die deutsche Jugend. Vier Reden, München 1951, S. 54f. (das PTB veröffentlichte Redeauszüge aus der Neuen Saarpost in Jg. 2 N° 326 v. 3.11.1934, S. 2). Ernst Wiechert, Der Dichter und seine Zeit, ebd., S. 83-85. - Auszüge nach dem Escher Tagblatt (Luxemburg) in der PTZ Jg. 1 N° 58 v. 8.8.1936, S. 4 u. d. T. Warnung an die deutsche Jugend. Eine Münchner Universitätsrede voll verborgener Wahrheiten; die Rede ist dort irrtümlich auf 1936 datiert.

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Stenogramm im Reichsgebiet zirkulierte, ins Konzentrationslager verbracht worden. Dabei versagte sie sich den Hinweis nicht, dass Wiechert »im übrigen den Nationalsozialisten politisch nahe(stand)«160. Im November 1937 wertete dagegen ein (echter oder fingierter?) Korrespondentenbericht aus Stuttgart Wiecherts öffentliche Lesung der Erzählung Der weisse Büffel als wahrhaftige »Kulturdemonstration«. Die Autorenlesung manifestiere, so las man, »wie bei den >Don Carlosdichten< (Robert Neumann) über stark individualistische Argumentationen (Heinrich Mann: Menschen statt Fronten und Alfred Döblin: Kommandierte Dichtung) zu kollektiven Handlungsanweisungen seitens Klaus Manns (Stellung nehmen!), Walter Mehrings (In die Bresche springen!) und Bertolt Brechts (Dichter sollen die Wahrheit schreiben). Mehrheitlich verneint worden war die Kernfrage, ob die politischen Ereignisse seit 1933 einen Wandel der »Mission des Dichters« bedingt hätten. Zur Begründung verwiesen die Autoren jedoch auf einen überzeitlichen, universalen Auftrag der Intellektuellen, für den die Antwort Arnold Zweigs charakteristisch war: Keiner der Befragten kann heute etwas anderes sagen, als die einfache Wahrheit, die auf der Hand liegt: dass der Dichter zu allen Zeiten die gleiche Mission gehabt hat und sie heute nur selbstverständlicher geworden ist als früher; nämlich das Recht zu verteidigen gegen die Gewalt. 191

Einzig Brecht hatte die Frage einer veränderten »Mission des Dichters 1934« bejaht und den Versuch unternommen, die Möglichkeiten aktiven Eingreifens der Intellektuellen in den politischen Kampf zu erörtern. Drei Schwierigkeiten, so Brecht, gelte es dabei zu überwinden. Erstens solle »der Dichter die Wahrheit schreiben [...] in dem Sinn, dass er sie nicht unterdrücken oder verschweigen und dass er nichts Unwahres schreiben soll«192. Die zweite Schwierigkeit sei die der Wahrheitsfindung, und die dritte sei, zu wissen, an wen diese Wahrheit mitzuteilen nützlich sei. Dieser PTß-Beitrag Brechts war die Erstfassung seiner später unter dem Titel Fünf Schwierigkeiten beim Schreiben der Wahrheit bekannt gewordenen Auseinandersetzung mit den Bedingungen literarischer Arbeit im Exil.193 Hauptsächlich wegen des Brechtschen Textes und seiner Bedeutung für eine antifaschistische Ästhetik wurde die Umfrage »Die Mission des Dichters 1934«

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Redaktionelles Vorwort zu »Die Mission des Dichters 1934«, PTB Jg. 2 N° 365 v. 12.12.1934, S. 3 - 5 , hier S. 3. Ebd. Arnold Zweig, Deutung der Welt, ebd. Bertolt Brecht, Dichter sollen die Wahrheit schreiben, ebd. Bertolt Brecht, Fünf Schwierigkeiten beim Schreiben der Wahrheit, in: Unsere Zeit H. 2/3 (1935) (auch in B. Brecht, Gesammelte Werke, Bd. 18, Schriften zu Literatur und Kunst 2, Frankfurt/M. 1967, S. 222-239).

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von der Exilforschung als erster Versuch einer Neubestimmung schriftstellerischer Positionen im Exil hervorgehoben. 194 Ausser acht gelassen wurden jedoch die Äusserungen der Mehrheit bürgerlich-linksliberaler Autoren, deren Beiträge durch ihre Anknüpfung an Debatten vor dem Exil der / T ß - U m f r a g e eine weitere Dimension verleihen. So hatte die Redaktion im Vorspanntext (wie schon bei der Umfrage »Schriftsteller 1934«) die Begriffe »Dichter« und »Schriftsteller« synonym gebraucht. Alfred Döblin und Klaus Mann hingegen differenzierten in ihren Beiträgen. So schrieb Alfred Döblin: Die Frage nach der Mission des Dichters in der heutigen Zeit ist schon in Deutschland viel an uns herangekommen und war da meist eine mehr oder weniger offene Aufforderung zur politischen Stellungnahme. Die Frage ist bald so, bald so beantwortet worden, und zwar mit Recht, denn - manche hören es ungern, aber es ist doch wahr - : die Dichtung lässt sich nicht kommandieren. 1 9 5

Alfred Döblin rief unzweideutig frühere Differenzen mit der kommunistischen Literaturpolitik ins Gedächtnis (»Wir haben dieses stets missglückende Kommandieren der Kunst schon in den ersten Sowjetjahren erlebt und als Dummheit bekämpft« 1 9 6 ) und machte deutlich, wie literaturpolitische Fronten im Exil fortwirkten. 197 Fast beiläufig klang bei Döblin der alte Streit in der »Dichterakademie«' 9 8 an, auf den Klaus Manns Beitrag explizit Bezug nahm. Muss der Dichter Stellung nehmen zu den Ereignissen seiner Zeit? Die Frage wurde immer viel diskutiert; eine besonders dringliche Aktualität hat sie heute [...]. Manche antworten hochmütig: Nein - der >Dichter< ist nicht verpflichtet; nur der >Schriftsteller< ist es. [...] Übrigens ist die ganze Unterscheidung zwischen >Dichter< und >Schriftsteller< bedenklich. Die Grenze ist meistens fliessend, und sie verläuft innerhalb einer und derselben geistigen Persönlichkeit. Sogar der reinste >Dichter< - d. h. einer, der sein Leben lang nichts als Lyrik hervorgebracht hat, hat seine gesellschaftskritische, >schriftstellerische< Seite; schliesslich hatte sie auch Stefan George. Andererseits wäre der Schriftsteller ein armer, bemitleidenswerter Kerl, in dessen Prosa niemals das Dichterische, das Geheimnisvolle, die Gnade spürbar wäre [...].'"

Klaus Manns Ausführungen waren Aktualisierung und Epilog zugleich zum Streit zwischen »Dichtern« und »Schriftstellern« in der Preussischen Akademie der Künste, den er sozusagen en famille mitverfolgt hatte. Ihr diplomatisch-vermittelnder Ton mahnte die emigrierten Literaten, sich nun geeint den tagespolitischen Forderungen zu stellen.

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Vgl. Dieter Schiller u. a., Exil in Frankreich, a. a. O., S. 150-155; Gerda Rassler, Literatur im Feuilleton, a. a. O., S. 36—42; Simone Barck, »Die Mission des Dichters 1934«, in: Silvia Schlenstedt (Hg.), Wer schreibt, handelt, a. a. O., S. 520-532. 195 Alfred Döblin, Kommandierte Dichtung, PTB Jg. 2 N° 365 v. 12.12.1934, S. 3. 196 Ebd. 197 Vgl. Kap. 4.1., S. 140 zur Auseinandersetzung mit der Linkskurve und Döblins Schriften Kunst ist nicht frei, sondern wirksam: ars militans (1929) und Wissen und Verändern. Offene Antwort an einen jungen Menschen (1930). ,9 " S. auch A. Döblin, Die letzten Tage der Dichterakademie, PTB Jg. 4 N° 901 v. 31.5.1936, S. 3. (Die angekündigte Fortsetzung des Artikels war nicht nachweisbar.) Klaus Mann, Stellung nehmen!, PTB Jg. 2 N° 365 v. 12.12.1934, S. 3.

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Denn im Rückblick erscheint der Akademiestreit als Paradebeispiel für die Spaltung der literarischen Intelligenz der letzten Weimarer Jahre: Während kommunistische Autoren die 1926 gegründete Sektion für Dichtkunst der Preussischen Akademie der Künste als »albern(e)«200 Institution ablehnten, lieferten sich republikanische und völkisch-nationale Autoren dort einen Machtkampf, der sich an scheinbar formalen Fragen wie Statuten und Neuwahlen der Sektion entzündete und im Februar 1933 nach dem Rücktritt ihres Präsidenten Heinrich Mann mit der Übernahme der Akademie durch die Nationalsozialisten endete. Thomas Manns bereits 1926 formulierte Bedenken gegen die Namensgebung der Akademie20' und sein 1929 wiederholter Vorschlag zur Aufnahme von Essayisten entfachten eine Kontroverse, die die »völkische« Fraktion der Akademiemitglieder auf den Plan rief. Erwin Guido Kolbenheyer spielte den klassisch-romantischen Begriff einer intuitiv-überzeitlichen »Dichtkunst« gegen den modernen Begriff rational-zeitgebundener »Schriftstellerei«, namentlich der essayistischen Prosaformen, aus und behauptete die »Volksverpflichtung« des Dichters, im Gegensatz zum »Literaten«. Dichtkunst, so Kolbenheyer, sei die »emotionelle Führung und Befreiung eines Volkes durch das Kunstmittel der Sprache«202. Seinen entschiedensten Gegner hatte Kolbenheyer im Berliner Akademiemitglied Alfred Döblin gefunden, der den »Völkischen« nicht erst seit dem Erscheinen seines Romans Berlin Alexanderplatz im Jahre 1929 als exponierter Vertreter »überfremdeter«, grosstädtischer »Asphaltliteratur« galt. Dem Gegensatz zwischen »Dichtern« und »Schriftstellern« bzw. »Literaten« war damit eine weitere Antinomie »Berlin - Provinz« bzw. »Grossstadt - Landschaft« nachgeordnet, die die ideologische Wurzel des Akademiestreites blosslegte. Im »Aufstand der Landschaft gegen Berlin«203, des »sehr platten Landes«204, wie Döblin ironisiert hatte, gegen die »balkanhafte Pariserei«205 der Metropole entlud sich der Gegensatz von moderner, europäisch geprägter Grosstadtkultur und anti-moderner, völkisch-nationaler »Kunst der Scholle«, welche die nationalsozialistische »Blut-und-Boden«-KuItur antizipierte.206

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Johannes R. Becher, Einen Schritt weiter!, a. a. O., S. 4. Th. Mann hatte erstmals 1926 angeregt, die »Sektion für Dichtkunst« in eine »Sektion für Literatur« umzubenennen, um sich nicht »dauernd auf das rein Poetische zu beschränken, sondern das kritisch-essayistische, historisch-kulturphilosophische Element mit einzubeziehen« (zit. n. Inge Jens, Dichter zwischen rechts und links, a. a. O., S. 103). - Zum Akademie-Streit s. a. Werner Mittenzwei, Der Untergang einer Akademie oder: Die Mentalität des e w i g e n Deutschen, a. a. O. Ebd., S. 106. »Der Geist des deutschen V o l k e s erhebt sich gegen den Geist von Berlin. D i e Forderung des Tages lautet: Aufstand der Landschaft gegen Berlin.« W i l h e l m Stapel, Der Geistige und sein Volk, Deutsches Volkstum Jg. 12 (1930) H. 1, S. 5 - 8 ; zit. nach: Marbacher Magazin N ° 3 5 (1985), Berlin - Provinz. Literarische Kontroversen um 1930, bearb. v. Jochen Meyer, S. 11. A. Döblin, Bilanz der Dichterakademie, Vossische Zeitung v. 25.1.1931, zit. nach Marbacher Magazin N ° 35, a. a. O., S. 70. W i l h e l m Stapel, Der Geistige und sein Volk, a. a. O., S . U . 1935 hatte Ernst B l o c h dieses rückwärtsgewandte Bewusstsein als »objektive Ungleichzeitigkeit« und Matrix völkischer Ideologie analysiert (E. Bloch, Erbschaft dieser Zeit, Frankfurt/M. 1985, S. 116f.).

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Wie die Auseinandersetzung um »Dichter« und »Schriftsteller« 207 markiert der Begriff der »Asphaltliteratur« im PTB eine Nahtstelle zwischen der Weimarer Republik und dem Exil. Von völkischen Autoren als pejorativer Ausdruck in den Akademiestreit eingeführt, war die »Asphaltliteratur« nach 1933 in der nationalsozialistischen Kulturpolitik zum Inbegriff systemfeindlicher Literatur geworden. Gegen eine kulturreaktionäre Besetzung des Begriffs hatte schon Heinrich Mann 1931 nach seiner Wahl zum Vorsitzenden der Sektion für Dichtkunst den Titel eines »Asphaltliteraten« für sich reklamiert und ihn positiv definiert als einen »Schriftsteller, (der) nur sich selbst und der europäischen Geistigkeit verantwortlich« 208 sei. Den Streit in der Dichterakademie rekapitulierend, bekannte sich im PTB auch Arnold Zweig zu dem Begriff: Immer [...] brachte der reaktionäre Typ das literarisch und künstlerisch Neue und das politisch Verhasste miteinander in Verbindung; immer auch spielte er den alten Gegensatz zwischen dem flachen Land und den grossen Städten dabei aus. Ob man jemanden einen >Montmartrczigeuner< nannte, einen literarischen SanscuIottenberliner Elcndsmaler< oder einen >Asphaltliteraten< - daran allein liest man den Unterschied der Zeiten ab, und er ist nicht wesentlich. 2 " 9

Die Antinomie von Stadt und Land, Asphalt und Scholle erscheint bei Zweig als Kampf zwischen Fortschritt und Reaktion; die »Asphaltliteraten« werden auch hier in die europäische Geistestradition eingereiht. Doch im Gegensatz zu einem sozialistischen Autor wie Brecht, der zur selben Zeit die originär bürgerliche (und damit vom Klassenstandpunkt letztlich obsolete) Tradition der »Asphaltliteratur« hervorhob 210 , verband Arnold Zweig mit dem Begriff eine resolut modernistische Tendenz: »Die grossen Städte sind die Schlachtfelder des Geistes. In ihnen ermutigen sich und kreuzen einander die verschiedenartigen Ströme des Neuen, das auf dem platten Lande verhöhnt wird.« 2 " Die Stadt sei der Ort der Erprobung von Ideen und Urteilen, die sich dort zu bewähren hätten. Aus diesem Leistungsvermögen beziehe die »Asphaltliteratur« noch im Exil ihre Superiorität über eine nationalsozialistische Literatur, die ihren Mangel an Begabung durch staatliche Richtlinien ersetze. Urbanität und Kosmopolitismus verbinden sich bei Zweig mit dem historischen Verweis auf politische und künstlerische Avantgarde. Seine Auseinander-

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1931 markierte der vorübergehende Austritt der »völkischen« Akademiemitglieder Erwin Guido Kolbenheyer, Emil Strauss und Wilhelm Schäfer nur einen Scheinsieg der demokratisch-republikanischen »Literaten« gegen die »Dichter«. Schon im Frühjahr 1933 traten nach ihrem Präsidenten Heinrich Mann u. a. Alfred Döblin, Ludwig Fulda, Ricarda Huch, Georg Kaiser, Thomas Mann, Alfons Paquet, René Schickele, Fritz von Unruh, Jakob Wassermann und Franz Werfel aus der Akademie zurück bzw. wurden ausgeschlossen. m Heinrich Mann, Die Akademie, in: Essays, Hamburg 1960, S. 321-330, hier S. 325 (Erstveröff. in: H. M„ Das öffentliche Leben, Berlin 1931). 2 ; " Arnold Zweig, Über Asphaltliteratur, PTB Jg. 2 N° 222 v. 22.7.1934, S. 4. 2111 Bertolt Brecht, [Über Asphaltliteratur] Lion Feuchtwanger zum 50. Geburtstag [dat. Juli 1934], in: Gesammelte Werke Bd. 19, a. a. O., S. 429f. 211 Arnold Zweig, Über Asphaltliteratur, a. a. O.

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Setzung mit den »Asphaltliteraten« im PTB im Juli 1934 war damit der Versuch, die literarische Emigration in die Tradition der europäischen Intelligenz zu stellen und die emigrierten Schriftsteller auf dem Asphalt europäischer Metropolen zu beheimaten. Wie hatte doch die Adresse der Preussischen »Dichter«akademie gelautet ? Pariser Platz 4. Sie war den emigrierten »Literaten« Programm und Hoffnung zugleich. E. Die Rolle der Intellektuellen Der Rückzug auf die Stellung der europäischen literarischen Intelligenz212 war jedoch nicht ohne eine Auseinandersetzung speziell mit der deutschen Situation vor und nach 1933 möglich. Stellvertretend für viele der europäischen Kultur zugewandte »Zivilisationsliteraten« beklagte Heinrich Mann im Dezember 1933 die deutsche »erniedrigte Intelligenz«. Bereits im wilhelminischen Kaiserreich hatte er in der Trennung der Intellektuellen vom Staat die Diskrepanz von Geist und Macht angeprangert, und während der Weimarer Republik, die in den Anfangsjahren so manche Hoffnung der Intellektuellen auf eine verstärkte politische Partizipation, ja auf eine Diktatur der Vernunft geschürt hatte, war er einer ihrer entschiedensten Verteidiger und geistigen Führer. Die Abdankung der deutschen Intelligenz vor dem Nationalsozialismus bedrückte Mann deshalb um so mehr. »Die Intelligenz dieser Nation ist tief erniedrigt«, schrieb er im NTB, und verurteilte die »Ausschreitungen der falschen Intelligenz, die sich hat ducken lassen, bis sie niedrig war«214. So seien die im Reich verbliebenen deutschtümelnden Intellektuellen aus Opportunismus »junge Gleichschalter« geworden, danach bestrebt, »auf kürzestem Weg an die Krippe zu kommen«, während die wahren Vertreter des Geistes zur Erhaltung ihrer physischen und geistigen Freiheit in die Emigration gegangen seien. Die »blutige Schande« des Nationalsozialismus, so meinte Mann im Dezember 1933, »war durchaus vermeidbar; nur musste ernsthaft widerstanden werden, vor allem seitens der Intellektuellen, anstatt dass sie sich feige anpassten und Verständnis heuchelten.« 2 ' 5 Ähnlich wie Heinrich Mann argumentierte Georg Bernhard 1935 im PTB, als er den Intellektuellen mangelnde Kampfbereitschaft und Missbrauch ihrer geistigen

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N a c h f o l g e n d e Ausführungen beschäftigen sich mit der kulturtragenden, nicht der technischorganisatorischen Intelligenz. Z u m Verhältnis beider s. Jenö Kurucz, Struktur und Funktion der Intelligenz während der Weimarer Republik, [Saarbrücken] 1967, S. 27f. Heinrich Mann, Diktatur der Vernunft, Vossische Zeitung N ° 4 8 1 v. 11.10.1923, S. 1 (auch in: ders., Essays, a. a. O., S. 4 4 3 - 4 8 4 ) . - Hingewiesen sei auf die aktive Teilnahme von Intellektuellen w i e Kurt Eisner, Gustav Landauer, Erich Mühsam und Ernst Toller an den deutschen Räterepubliken 1918/19 sowie auf elitär-»geistesrevolutionäre« Positionen, w i e sie etwa der Kreis um Franz Pfemferts Zeitschrift Die Aktion vertrat. Vgl. dazu Lothar Peter, Literarische Intelligenz und Klassenkampf, Die Aktion 1 9 1 1 - 1 9 3 2 , Köln 1972. Heinrich Mann, D i e erniedrigte Intelligenz, NTB Jg. 1 H. 12 v. 16.12.1933, S. 2 8 2 - 2 8 6 (zit. n.: ders., Verteidigung der Kultur, a. a. O., S. 3 0 7 - 3 2 0 , hier S. 318). Ebd., S. 316.

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Fähigkeiten vorwarf.216 Den Anlass zu Bernhards Kommentar hatte eine Kolumne Rudolf Kirchers in der Frankfurter Zeitung (FZ) geliefert. Darin hatte dieser unter dem Stichwort »Bildung und Massenstaat« in verklausulierter Form die grassierende Intellektuellenfeindlichkeit des Dritten Reiches und die Besetzung führender Positionen des geistigen Lebens durch Nationalsozialisten konstatiert, aber dennoch behauptet, dass kein wahrer Intellektueller »im Sumpf der Anmassung Halbgebildeter ersticken«217 werde. Kirchers antidemokratischer Bildungsbegriff218, der in dieser Äusserung nebenbei zutage trat, liess erkennen, wie ein elitärer Intellektualismus die Rückzugsstrategie der FZ im Dritten Reich bestimmte: »Die Gemeinschaft der Geistigen [...] muss unsichtbar, nur in ihrer Wirkung spürbar sein. Eine Verpflichtung, - nicht zuletzt sich selbst gegenüber«219, hatte Kircher behauptet. Der Chefredakteur des PTB liess sich diese Gelegenheit zur Abrechnung mit den »Bildungsschwindlern« (dies gegen Kircher gemünzt) und den intellektuellen Überläufern, die auch in der FZ zu finden seien 220 , nicht entgehen. Die Schuldfrage am Sieg Hitlers, die Kircher lediglich aufgeworfen hatte, um sie zu negieren (»... waren es die akademisch Gebildeten, die ihm den Sieg auf der Strasse erkämpft haben oder waren es doch vorwiegend die anderen?«221), beantwortete Bernhard im PTB klar und bestimmt: Auf der Strasse gekämpft hat überhaupt keiner. Aber dass dort keiner kämpfte, war eben die Schuld der Gebildeten. Denn diese >Professoren, Ärzte, Oberlehrer, Advokaten, Richter, Staatsanwälte, Ingenieure« und alles, was dazugehört, haben Hitler in Wirklichkeit zum Siege verholfen. Sie haben die deutsche Knochenverweichung herbeigeführt, die den ganzen Apparat zum Zusammenklappen brachte. Und sie haben schon am Tage, nachdem Hitler an der Macht war, gekatzbuckelt und sich völlig geistig neu eingekleidet, >zur Verfügung< gestellt. W a r u m gesteht das die f r a n k f u r t e r Zeitung< nicht offen ein? In ihrer eigenen Redaktion befinden sich doch ein paar Musterexemplare dieser Art von intellektuellem. Wir können es durchaus verstehen, wenn das Volk von dieser Sorte nichts wissen will. 222

Mit diesen Worten bezichtigte Bernhard das Bildungsbürgertum der Weimarer Republik eines kollektiven Versagens, das den Sieg Hitlers erst ermöglicht habe.

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Georg Bernhard, Klage der Intellektuellen, PTB Jg. 3 N ° 4 1 1 v. 27.1.1935, S. 1. RK (i. e. Rudolf Kircher), Intellektuell, - ein Ärgernis?, FZN° 36 v. 20.1.1935, S. 1 (Frankf. Ausgabe). »Alle Bildung setzt den Prozess der Auslese voraus; >Auslese< aber ist ein aristokratisches Prinzip; die geistigen Bezirke lassen sich nicht demokratisieren«, nur ihr Zugang lässt sich erweitern.« (Ebd.) Ebd. Das Augenmerk des PTB galt insbesondere Friedrich Sieburg, der 1933 Pariser Korrespondent der FZ wurde und sich mit seiner Schrift Es werde Deutschland auf die Seite der Nationalsozialisten gestellt hatte. Ludwig Marcuse erkannte 1935 deutlich den »Januskopf« Sieburgs, der - ungeachtet seiner Tätigkeit im okkupierten Frankreich - nach 1945 in Westdeutschland zu einem der einflussreichsten Publizisten wurde (L. Marcuse, Deutschland entdeckt Robespierre, PTB Jg. 4 N° 775 v. 26.1.1936, S. 3; Rez. zu: F. Sieburg, Robespierre, Frankfurt 1935). R K (i. e. Rudolf Kircher), Intellektuell, - ein Ärgernis?, a. a. O. G. Bernhard, Klage der Intellektuellen, a. a. O.

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Denn mangels eigener fester Überzeugungen habe es die Widerstandsbereitschaft des deutschen Volkes unterhöhlt und so die fatale »deutsche Knochenverweichung« bewirkt. Mit dieser Formulierung leistete Bernhard zeitgenössischen Thesen von einer »zersetzenden«, »schädlichen« Wirkung der Intellektuellen unversehens Vorschub. 223 Und wo er sich auf den einfachen »Mann auf der Strasse« als vorgeblichen Massstab seiner Wertung berief, blitzte unter dem Mantel des Populismus unversehens das Klischee des Caféhaus-Intellektuellen hervor. 224 Der »Durchschnittsmensch« bzw. die Massen könnten nämlich, so Bernhard, schon lange nicht mehr unterscheiden [...] zwischen jener Geistigkeit, die fruchtbare und notwendige Ideenarbeit zur Lebensgemeinschaft des Volkes beisteuert, und jenen artistischen Spielkindern, die im Grunde genommen auch im Leben nur die Zerstörungsarbeit der Kinderstube fortsetzen, wo sie Schaukelpferden und Puppen den Bauch aufschlitzen, weil sie es für äusserst wichtig hielten, zu erfahren, was wohl drinnen sein mag. 225

Derlei Äusserungen lassen das Ausmass der Enttäuschung und Verbitterung des Exilierten erkennen. Doch gleichzeitig erlauben sie, Bernhards Vorstellungen vom Intellektuellen zu präzisieren. Denn seine Ablehnung galt dem solipsistischdestruktiven Artisten, nicht aber dem konstruktiven, mit seiner Ideenarbeit dem Kollektiv dienenden Geistigen. Problematisch bleibt hier zwar die mystifizierende Denomination des Kollektivs (»Lebensgemeinschaft des Volkes«). Doch erlaubte ihm die Anerkennung einer »verantwortlichen« Geistigkeit, den Aktionsversuchen anti-hitlerisch bzw. anti-faschistisch gesinnter Intellektueller vermittels PTB und PTZ seine publizistische Unterstützung zu gewähren. Bernhards Philippika gegen den Missbrauch des Intellekts war der These vom »Verrat am Geist«, die Heinrich Mann angedeutet und Klaus Mann andernorts explizit ausgesprochen hatte 226 , durchaus verwandt. Das Motiv des »Verrats« der Intellektuellen am Geist hatte erstmals 1927 der französische Schriftsteller Julien Benda in seiner philosophischen Schrift La Trahison des clercs227 ausgeführt. Benda hatte darin den Intellektuellen namentlich der französischen Rechten (Maurice Barrés, Charles Maurras, Charles Péguy), aber auch konservativen deutschen Autoren wie Oswald Spengler vorgeworfen, sie hätten ihre intellektuelle und sittliche Verpflichtung gegenüber universalen Werten wie Freiheit und

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Vgl. Dietz Bering, Die Intellektuellen. Geschichte eines Schimpfwortes, Stuttgart 1978, S. 124ff. »Was ist ein Intellektueller? Einer, der im Cafehaus sitzt, alles besser weiss und Dinge redet oder schreibt, die weltenfern von dem sind, was der Durchschnittsmensch begreift - so ungefähr würde der Mann auf der Strasse [...] antworten.« (G. Bernhard, Klage der Intellektuellen, a. a. O.). Ebd. So hatte K. Mann bereits 1933 in der Sammlung Gottfried Benns Bekenntnis zu Irrationalismus und totalitärem Staat als »Verrat am Geist« bezeichnet (K. Mann, Gottfried Benn oder Die Entwürdigung des Geistes, a. a. 0., S. 50). Julien Benda, La Trahison des clercs, Paris 1927 (dt.: Der Verrat der Intellektuellen, Vorw. v. Jean Amery, München u. Wien 1978).

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Gerechtigkeit aufgegeben und wären der tagespolitischen Versuchung geist- und demokratiefeindlicher Strömungen erlegen. Diese Warnung Bendas vor kulturpessimistischen, antidemokratischen Ideen musste für die deutschen Intellektuellen nach 1933, nachdem ein Teil von ihnen auf den Nationalsozialismus eingeschwenkt war, erneute Aktualität erhalten. Zur Verdeutlichung soll rückblickend an die Kritik erinnert werden, die Walter Benjamin an dem Werk übte. In einer Rezension hatte dieser noch 1928 den geistes- und sozialgeschichtlichen Kontext von Bendas philosophisch-politischer Analyse herausgestellt. 228 In der von Benda kritisierten Politisierung der Intellektuellen erblickte Benjamin eine Reaktion auf die Krise der Intelligenz 229 , die das Resultat ihrer Abspaltung von der sozialen Wirklichkeit wie der modernen Krise der Wissenschaft sei. Die Politisierung stelle demnach ein Mittel dar, die »Klausur des utopischen Idealismus« 230 zu verlassen, und sei ökonomisch durch die Pauperisierung der Intelligenz mitverursacht: »Der Untergang der freien Intelligenz ist eben, wenn nicht allein, so doch entscheidend, wirtschaftlich bedingt.« 231 Benjamins Feststellung bestätigte Warnungen des Soziologen Alfred Weber, wonach die Intelligenz der materiellen Voraussetzungen ihrer geistigen Unabhängigkeit verlustig zu gehen drohe, da sie durch Krieg und Inflation ihre weitgehende Unabhängigkeit vom Erwerbs- und Produktionsprozess verloren habe. 232 Indem Benjamin die soziale Deklassierung als Hauptursache für den »Verfall der >freien< Intelligenz« 233 nannte, widersprach er implizit den Vorstellungen von einer »freischwebenden Intelligenz«, wie sie Karl Mannheim um dieselbe Zeit vertreten hatte. 234 Nach K. Mannheim war die Intelligenz eine klassenumgreifende Kraft, welche die Fähigkeit zur Abstraktion von partikularen Standpunkten und somit zur Vertretung gesamtgesellschaftlicher Interessen besitze. Statt dessen konstatierte Benjamin, dass die Intelligenz mit der politischen Konsolidierung des Bürgertums ihrer humanistischen Führungsrolle enthoben 235 und mit parteiischen Erwartungen konfrontiert worden sei: Ganz anders aber ist es in der neuen Front der Defensive, in der nicht die geistige Initiative, sondern die klassenmässige Zuverlässigkeit die Haupterfordernis ist. Ob nun die Intelligenz

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Walter Benjamin, Drei Bücher, a. a. O. Vgl. dazu Frank Trommler, Verfall Weimars oder Verfall der Kultur? Zum Krisengefühl der Intelligenz um 1930, in: Thomas Koebner (Hg.), Weimars Ende. Prognosen und Diagnosen in der deutschen Literatur und politischen Publizistik 1930-1933, Frankfurt/M. 1982, S. 3 4 - 5 3 ; Anton Kaes (Hg.), Weimarer Republik, a. a. O., S. XIX-XXVI. Walter Benjamin, Drei Bücher, a. a. O., S. 112. Ebd., S. 113. Alfred Weber, Die Not der geistigen Arbeiter, München u. Leipzig 1923. Walter Benjamin, Bücher, die übersetzt werden sollten, Die literarische Well Jg. 5 N° 25 v. 21.6.1929, S. 7f„ auch in: W. B., Gesammelte Schriften Bd. III, S. 174-176. Karl Mannheim, Ideologie und Utopie (1929), Frankfurt/M., 6„ unv. Aufl. 1978. Benjamin übernahm dabei Thesen von Hans Speier, Zur Soziologie der bürgerlichen Intelligenz in Deutschland, Die Gesellschaft Jg. 6 (1929) H. 2, S. 58-72; auch in: Gert Mattenklott und Klaus Scherpe (Hg.), Positionen der literarischen Intelligenz zwischen bürgerlicher Reaktion und Imperialismus, Kronberg/Ts. 1973, S. 9-24.

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dieser Disziplin sich fügt oder sich widersetzt - ihre Freiheit verliert sie auf alle Fälle. Die Position eines humanistischen Anarchismus, die sie ein halbes Jahrhundert lang zu halten vermeinte - und in gewissem Sinne wirklich hielt - ist unrettbar verloren. Daher bildete sich die fata morgana eines neuen Emanzipiertseins, einer Freiheit zwischen den Klassen, will sagen, der des Lumpenproletariats.236

Benjamin hat hiermit das Dilemma der Intellektuellen zu Beginn der 30er Jahre präzise formuliert: Nicht mehr in der Lage, bürgerliche Erwartungen nach gesellschaftlicher Gesamtvertretung zu erfüllen, und grossenteils nicht willens, der kommunistischen Parteidisziplin zu folgen, befanden sie sich in einem gesellschaftlichen Vakuum. Ökonomisch dem Proletariat zusehends angenähert, unterschieden sie sich von diesem durch ihre bürgerliche Herkunft und ihr Bildungsniveau. Nichts könne daher, so Benjamin, »die Tatsache aus der Welt schaffen, dass selbst die Proletarisierung des Intellektuellen fast nie einen Proletarier schafft« 237 . Der bürgerliche Intellektuelle könne allenfalls dazu beitragen, die »Politisierung der eigenen Klasse«238 voranzutreiben. Damit stellte Benjamin sich in schärfsten Widerspruch zu linksradikalen bürgerlichen Intellektuellen, deren »proletarische Mimikry« er als letzte »bürgerliche Zerfallserscheinung« 239 wertete, wie auch zu den Kommunisten, die - längst davon entfernt, der intellektuellen Avantgarde eine Führungsrolle für das Proletariat zuzugestehen - die Unterordnung des Intellektuellen unter die Partei forderten.240 Benjamins Analyse bietet, mehr als die ethisch-moralisch begründeten Anklagen Heinrich Manns oder Georg Bernhards, einen Erklärungsansatz für das »Versagen« der Intelligenz in den Jahren 1930 bis 1933. Verfolgt man die Situation der Intellektuellen in die Exiljahre hinein, so zeigen sich jedoch zwei kontradiktorische Tendenzen: Einerseits verschärfte sich die von Benjamin konstatierte soziale Deklassierung der Intellektuellen, während gleichzeitig entgegen Benjamins Prognose - ihr Anspruch auf geistige Repräsentanz wuchs. Tatsächlich barg die Emigration für die Intellektuellen potentiell die Chance, in einer »Front der Offensive« (um Benjamins Formel umzukehren) tätig zu werden. Kulminationspunkt einer solchen intellektuellen Kräftedemonstration war der I. Internationale Schriftstellerkongress zur Verteidigung der Kultur in Paris vom 21 -25.6.1935 und seine Nachfolgekongresse (Valencia/Madrid/Paris, 4.-17.7.1937

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W. Benjamin, Bücher, die übersetzt werden sollten, a. a. O., S. 175. Walter Benjamin, Ein Aussenseiter macht sich bemerkbar (red. Titel: Politisierung der Intelligenz), in: Die Gesellschaft Jg. 7 (1930) H. 1, S. 473-^77; zit. n.: W. B„ Gesammelte Schriften Bd. III, S. 2 1 9 - 2 2 5 , hier S. 224. Ebd., S. 225. Walter Benjamin, Linke Melancholie, Die Gesellschaft Jg. 8 (1931) H. 1, S. 181-184, auch in: W. B„ Gesammelte Schriften Bd. III, S. 2 7 9 - 2 8 3 . Die Distanzierung Georg Lukäcs' 1927/28 von seinem Werk Geschichte und Klassenbewusstsein (1923) ist hierfür symptomatisch. Zur parteioffiziellen Auffassung s. Johannes R. Becher, Die Partei und die Intellektuellen, in: Die Rote Fahne v. 25.11.1928; auch in: Zur Tradition der sozialistischen Literatur in Deutschland, hg. v. d. Akademie der Künste der DDR, Berlin u. Weimar 1967, S. 127ff.

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und Paris, 23./24.7.1938).241 In einer Vorwegnahme der politischen Volksfront der Jahre 1936/37 wurde in Paris 1935 die Einheit von bürgerlichen Intellektuellen und Faschismusgegnern aller Lager demonstriert. Unter dem bezeichnenden Titel Die geistige Front der Schriftsteller berichtete Robert Breuer im PTB über den Pariser Kongress. Zur Eröffnung proklamierte er: »Die Front [der Schriftsteller, M. E.] ist eindeutig: sie will nicht nur den Faschismus niederwerfen, sie marschiert im Hoheitszeichen eines neuen Menschentums.« 242 Doch dissonante Töne im Verlauf des Kongresses wie die Rede des Italieners Gaetano Salvemini, der (italienischen) Faschismus und Stalinismus gleichsetzte, waren dem alten Sozialdemokraten Breuer nicht entgangen. Er kommentierte den Vorfall spitzfindig: [...] der linke Flügel des Kongresses machte die übliche Katzenmusik. Man darf also annehmen, dass das internationale Schrifttum sich über die Taktik, die Freiheit zu sichern und sie neu zu erkämpfen, noch nicht ganz im Klaren ist. Einmütig aber sind alle in dem Entschluss, den Faschismus zu schlagen. 2 " 0

Trotz solcher Spitzen gegen die im Hintergrund gebliebenen kommunistischen Organisatoren des Kongresses und mitunter aufkommender Skepsis über die Tragfähigkeit des Bündnisses begriisste Breuer im PTB den Kongress als ein gelungenes Wagnis, »die Schriftsteller der Erde näher aneinander zu bringen«, und schloss die Berichterstattung optimistisch: »... etwas vom Wehen des Geistes und von dessen Unbesiegbarkeit hat sich auf diesem Kongress manifestiert und wird bleiben«244. Heinrich Manns Partizipation am Schriftstellerkongress wurde von Breuer »vor allem [als] Symbol«245 gewertet. Denn Heinrich Mann verkörperte wie kein anderer den Typus des verantwortlichen, politisch engagierten Geistigen, den Georg Bernhard vom Artisten geschieden wissen wollte (Manns langzeitige Mitarbeit als politischer Kommentator in PTB und PTZ ist auch insofern bedeutungsvoll246). Zugleich inkarnierte er, der sich wenig später an die Spitze des deutschen Volksfront-Ausschusses in Paris stellte, die Hoffnung der bürgerlichen

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S. dazu W o l f g a n g Klein (Hg.), Paris 1935. Erster Internationaler Schriftstellerkongress zur Verteidigung der Kultur, Berlin 1982 und ders., Nachträge zu »Paris 1935«, in: Weimarer Beiträge Jg. 31 (1985) H. 6, S. 897-911. Zur Kongress-Berichterstattung im PTB s. Gerda Rassler, Literaturpolitik im Feuilleton, a. a. O., S. 52-57 u. 105-110. Robert Breuer, D i e geistige Front der Schriftsteller, PTB Jg. 3 N ° 5 5 8 v. 2 3 . 6 . 1 9 3 5 , S. 5. R. Br. (i. e. Robert Breuer), Heinrich Mann und Lion Feuchtwanger auf dem Schriftstellerkongress, PTB Jg. 3 N ° 561 v. 26.3.1935, S. 3 (Hervorhebung d. Verf.). - Über einen zweiten Zwischenfall nach der Intervention von M a g d e l e i n e Paz zugunsten des Trotzkisten Victor S e r g e hatte Breuer allerdings nicht berichtet. Ebd.

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Insbesondere in den Jahren 1935-37 kommentierte H. Mann das politische Geschehen in PTB und PTZ. Direkt zum Kongress s. Manns Beiträge: Wir sind da, PTB Jg. 3 N ° 5 6 5 v. 3 0 . 6 . 1 9 3 5 , S. 3; Gesandte Deutschlands, PTB Jg. 3 N ° 589 v. 24.7.1935, S. 1.

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Intellektuellen, Geist und Tat bzw. Geist und Macht wieder zu vereinen und — zusammen mit den Kommunisten - die Opposition gegen Hitler anzuführen. 247 Die erhoffte wechselseitige Durchdringung von Geist und Politik veranlasste die Zeitung, dem politisierten Intellektuellen den intellektuellen Politiker spiegelbildlich beizuordnen. Als Gegenentwurf zu den »geistfeindlichen« nationalsozialistischen Machthabern erhielten Stilisierungen des »philosophischen Staatsmanns« (Tomaä G. Masaryk)248 und des »literarischen Politikers« (Léon Blum)249 in PTB bzw. PTZ eine wichtige Funktion bei der Propagierung demokratischer Herrschaftsformen, auch wenn das Blatt mitunter Opfer der eigenen Idealisierungen wurde. 250 Die Dauerhaftigkeit solcher Leitvorstellungen lässt sich noch 1938 in einem Kommentar Robert Breuers zum III. Internationalen Schriftstellerkongress in Paris nachweisen, in dem dieser die Synthese vom Intellektuellen und Politiker bekräftigte und ihr - wie schon G. Bernhard - das Negativbild des (gescheiterten) Artisten entgegenhielt: Es ist kein Zufall, vielmehr aufschlussreich, dass der Fascismus [sie] sich von einem subalternen Stubenmaler umnebeln lässt, während die grossen Führer der Volksstaaten o h n e A u s n a h m e >Intellektuelle< sind, Männer aus traditioneller Kultur, Männer der exakten Wissenschaften oder der abstrakten Disziplinen. 2 "

Dieses Zurückholen des Intellektuellen in den Bereich der praktischen Politik gestattete - zumindest theoretisch - die Überbrückung der ideologischen Fronten, die die linke Intelligenz seit den 20er Jahren gespalten hatten, und gab ihr nun, zwischen Aufbruch und Scheitern der deutschen Volksfrontbewegung in den Jahren 1935 bis 1938, einen konkreten Aktionsrahmen. Im Kampf gegen Nationalsozialismus und Faschismus erhielten die linksbürgerlichen Intellektuellen ihre verlorengegangene öffentliche Legitimation und praktische Handlungsfähigkeit so weit zurück, dass sie im Verständnis der PTß/PTZ-Redakteure gleichrangig neben den Politiker traten. Dieser konzedierte politische Handlungsspielraum tradierte sich durch den Einzug der literarischen Intelligenz in den politischen Teil der Zeitung: Aufrufe, Kommentare, Glossen und Essays aus ihrer Feder schufen das politische Ereignis bzw. fanden sich — wie mitunter bei Rezensionen der Fall — wie Leitartikel in den politischen Kontext plaziert.

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An anderer Stelle bezeichnete die Redaktion auch die Exilliteratur als W e g »zur Synthese von Macht und Geist«: Manuel Humbert (i. e. K. Caro), Macht und Geist, PTZ Jg. 2 N ° 3 3 4 v. 12.5.1937, S. 4. M. Humbert (i. e. K. Caro), Der Philosoph als Staatspräsident, PTB Jg. 1 N ° 8 v. 19.12.1933, S. 1. M. Humbert (i. e. Kurt Caro), Literarische Politiker, PTB Jg. 3 N ° 7 3 9 v. 2 1 . 1 2 . 1 9 3 5 , S. 2. Geradezu bestürzend war die Überschätzung einer »harmonischen Verschmelzung« von Politik und Literatur in Frankreich, die die Redaktion dazu verleitete, nicht nur Léon B l u m , sondern auch Léon Daudet von der Action Française zum Bücherfreund und »literarischen Politiker« zu deklarieren (ebd.). R. Br. (i. e. Robert Breuer), Theodor Dreyser gegen die Diktatur des Geldes, PTZ Jg. 3 N ° 7 4 7 v. 2 7 . 7 . 1 9 3 8 , S. 3.

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Wer schreibt, handelt. So hatten die Neuen Deutschen Blätter (NDB) programmatisch den wiedererstarkten Glauben an die Aktionsfähigkeit der literarischen Intelligenz bekundet. 252 Eine ähnliche Formulierung hätte sich auch in PTB bzw. PTZ wiederfinden können. Denn nie hatte die Redaktion einen Zweifel daran gelassen, dass, wer — im Exil, für die Verlage und Presseorgane der Emigration - schreibe, handle: Die Definitionsansätze zur Exilliteratur, die Abgrenzung gegen Autoren und Verleger des Dritten Reiches, die Haltung zur »Inneren Emigration«, die Reflexion auf die politische Verantwortung des Schriftstellers und Intellektuellen liefen auf diese prägnante Formel hinaus. Ihre Grundlage war jedoch die Verabschiedung eines privaten Daseins des Intellektuellen, wie sie das redaktionelle Vorwort zur »Mission des Dichters« gefordert hatte. 253 Das Festhalten an einem öffentlichen Auftrag des Intellektuellen bildete die latente Logik, die an der Konstituierung des literaturkritischen Diskurses in PTB und PTZ wirkte und die in der antifaschistischen Aktion ihre Finalität zu erkennen gab. Als verinnerlichter modus operandi kennzeichnete sie den Habitus 254 der Literaturkritik in PTB und PTZ.

4.3. Die Vermittlung zwischen Struktur und Praxis der Literaturkritik A. Zum Zusammenhang von Institution und Diskurs Die vorausgegangene Darstellung der Faktoren, die zur Konstituierung des literaturkritischen Diskurses in PTB bzw. PTZ beigetragen haben, mochte die Vorstellung erwecken, dieser sei ihr unmittelbarer, ungebrochener Reflex. Die Literaturkritik in dieser Zeitung erschiene folglich als eine Serie von Einzeldiskursen, die allesamt vom Habitus eines in die Literatur transponierten politischen Aktionismus bestimmt wären. Eine solche Annahme hiesse jedoch, das institutionelle Gewicht der Literaturkritik in ihrer Verkettung von Öffentlichkeitsund Marktstrukturen wie auch die mittels der Literaturkritik durch einzeln oder gruppenweise auftretende Rezensenten vorgenommene Vermittlung politischer und ästhetischer Wertmassstäbe zu vernachlässigen. Die strukturellen Voraussetzungen für eine Literaturkritik im Exil, namentlich die Wiederherstellung einer literarischen Öffentlichkeit mittels Verbänden und Pressemedien sowie die Rekonstruktion eines Produktions- und Distributionsapparates für literarische Produkte, wurden im ersten Teil dieser Untersuchung beschrieben. 255 Die Analyse des Medienkontextes erhellte, dass Literaturkritik im Pressemedium ein wesentliches Element literarischer Kommunikation bestimmt, gleichzeitig aber auch der Durchsetzung kommerzieller Interessen dient.

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Redaktionell, Rückblick und Ausblick, NDB Jg. I N° 1 v. 20.9.1933, S. 1. Vgl. nochmals S. 168, Anm. 189 dieser Arbeit. Pierre Bourdieu, Zur Soziologie der symbolischen Formen, a. a. O., S. 150f. Vgl. Teil I., Kapitel 1. bis 3.

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In diesem Zusammenhang wurden die Rezensionen als Tauschobjekte im Kulturwarenverkehr zwischen Verlagen und Presse beschrieben.256 Die Vermittlung zwischen allgemeiner Struktur und einer spezifischen, nach P. Bourdieu jedoch als beständige Variation eines allgemeingültigen Handlungsmusters 257 zu denkende Praxis der Literaturkritik vollzieht sich im literaturkritischen Diskurs bzw. vorderhand in der Person seines Autors. Zur Sondierung dieser Vermittlungsprozesse ist es daher erforderlich, auf Rollenverhalten und Status des Literaturkritikers bzw. Rezensenten einzugehen. Ansatzpunkt dieser Betrachtungen sind auch hier zunächst die strukturellen Voraussetzungen literarischer Kritik. Festzustellen ist dabei, dass sich der Literaturkritiker auch im Exil den Regeln des kulturellen Warenverkehrs nicht entziehen konnte - um so weniger, als die prekäre Marktsituation (die alle Sektoren der Produktion und Verbreitung von Literatur gleichermassen betraf) eine faktische Aufwertung der rarer gewordenen Literaturkritik gezeitigt hatte. Die wenigen Rezensionen in Exilblättern mussten notgedrungen die literarische Betriebsamkeit der Weimarer Presse ersetzen. 258 Doch wo strukturelle Knappheit der Kritik herrschte, konnte diese im Falle eines negativen Urteils doppelt marktschädigend wirken. Emigrierte Autoren hatten daher die Befürchtung geäussert, dass - mangels Masse - die Korrektivwirkung kontradiktorischer Besprechungen entfalle und jedes negative Urteil einer »Justiz ohne Berufungsinstanz« 259 gleichkomme. Wiederholt wurden deshalb Forderungen laut, das exilbedingte Manko an Kommunikation mit einem Plus an Nachsicht, ja einer »Enthaltsamkeit im Hinrichten« 260 zu kompensieren. Wie fern in Wirklichkeit die Literaturkritik des Exils Positionen autonomen Kunstrichtertums stand, verdeutlichte beispielhaft die nachfolgende Beschwerde Alfred Döblins: Lion [i. e. Ferdinand Lion; M. E.] hatte der >SammlungSammlungGefallen< oder >NichtgefallenTagebuch< [sie] lesen, 265

hatte Joseph Roth einen Austausch von Buchbesprechungen mit Hermann Kesten in PTB und Neuem Tage-Buch kommentiert.266 Dass die kollegiale Absprache keinen Einzelfall darstellte, sollen drei weitere Beispiele belegen. Im Juni 1934 besprach Klaus Mann in der Sammlung ein Werk von Hermann Kesten; dieser antwortete im Oktober 1934 mit einer Rezension im NTB zu

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Alfred Döblin an Thomas Mann, 23.5.1935, in: A. Döblin, Briefe, hg. v. Heinz Graber, Ölten u. Freiburg 1970, S. 205f. (Hervorh. i. Orig.) - Die Rezension übernahm schliesslich Hermann Kesten (Alfred Döblin. Babylonische Wandrung oder Hochmut kommt vor d e m Fall, Die Sammlung (fortan: DS) Jg. 1 N° 12 (August 1934), S. 660-663; Rez. z. gleichn. Buch, Amsterdam 1934). Eine konträre Position hatte, wie bereits referiert, Alfred Kerr im PTB eingenommen und sich damit weitgehend in die Isolation begeben (vgl. S. 147f. dieser Untersuchung). S. dazu Georg Lukäcs, Schriftsteller und Kritiker, in: IL Jg. 9 (1939) H. 9/10, S. 165-186; auch in: G. L., Werke. Bd. 4, Essays über Realismus, Neuwied u. Berlin 1972, S. 377-412. S. äusserte z.B. Ludwig Marcuse: »Es schreiben fast nur noch Buch-Autoren übereinander was naturgemäss der Literaturkritik nie und nirgends sehr bekömmlich ist.« (Zur Debatte in der Emigrantenliteratur, NTB Jg. 3 H. 2 v. 12.1.1935, S. 4 3 ^ 5 , hier S. 44). Joseph Roth an Walter Landauer, 10.11.1935; zit. n. Klaus Westermann, Joseph Roth, Journalist, a. a. 0 „ S. 90. Im Mai 1934 hatte Roth im NTB eine Rezension zu Kestens Roman Der Gerechte veröffentlicht (Niederlage der Gerechtigkeit, NTB Jg. 2 N° 21 v. 26.5.1934, S. 500), für die sich Kesten im November 1934 im PTB revanchierte (Joseph Roths >Antichrist, PTB Jg. 2 N° 327 v. 4.11.1934, S . 4 ) . Es handelt sich um Kestens einzige Rezension im PTB, gar zu einem Titel des Allert de Lange-Verlags, wo er Lektor war.

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dessen Roman Flucht in den Norden.261 Die Replik der Replik, Klaus Manns Besprechung von Kestens historischem Roman Ferdinand und Isabella, stand im Dezember 1935 im PTB.26i - Im Januar 1935 präsentierte Alfred Kerr im PTB die Neuauflage einer Heine-Biographie von Antonina Vallentin; vier Monate später besprach die Autorin in der Sammlung Kerrs Rathenau-Biographie. 269 Im Oktober 1935 besprach Lion Feuchtwanger im NTB Ludwig Marcuses historischen Roman Ignatius von Loyola; Marcuse rezensierte zwei Monate später im PTB einen Band der Feuchtwanger-Trilogie Der Jüdische Krieg.210 Diese Beispiele eines gegenseitigen Austauschs von Rezensionen quer durch die Exilpresse dokumentieren sinnfällig die Integration von PTB und PTZ in den literarischen Kommunikationsraum des Exils.27' Der Austausch belegt ferner, dass Buchbesprechungen unter der Prämisse des Marktes nicht nur - wie schon früher nachgewiesen - im Verkehr zwischen Redaktion und Verlagen, sondern potentiell auch im Verkehr unter Autoren und Kritikern Tauschwertcharakter besassen. Dies war der Fall für alle diejenigen unter ihnen, die - wie bereits mit dem Stichwort »Entspezialisierung« angedeutet — selbst den Rollenwechsel vom Autor zum Rezensenten vollzogen und dabei zusätzlich das Gewicht literarischer Institutionen in die Waagschale werfen konnten: als Autoren und Herausgeber bzw. Redakteure von Zeitschriften, Verlagslektoren oder -Übersetzer etc. Solche polyvalenten Produzenten-Rezensenten, die zumeist Schlüsselstellungen im Literaturbetrieb des Exils einnahmen, bildeten einen relativ exklusiven Zirkel literarischer Prominenz, vor dem all jene »Nur«-Rezensenten in den Hintergrund traten, denen die Möglichkeit eines Rollenwechsels mangels künstlerischer oder institutioneller Befähigung nicht gegeben war.272

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Klaus Mann, »Hermann Kesten: Der Gerechte«, in: DS Jg. 1 N° 10 (Juni 1934), S. 5 5 0 - 5 5 2 (Rez. zu: H. Kesten, Der Gerechte, Amsterdam 1934). - Hermann Kesten, Der dritte Mann, NTB Jg. 2 N° 43 v. 27.10.1934, S. 1039 (Rez. zu: K. Mann, Flucht in den Norden, Amsterdam 1934). Klaus Mann, »Hermann Kesten: Ferdinand und Isabella«, PTB Jg. 3 N° 740 v. 22.12.1935, S. 4 (Rez. zu: H. Kesten, Ferdinand und Isabella, Amsterdam 1934). Alfred Kerr, Zwei Heine-Bücher. Gestorben zu Paris, PTB Jg. 3 N° 404 v. 20.1.1935, S. 3 (Rez. zu: A. Vallentin, Henri Heine, Paris 1934). - Antonina Vallentin, »Alfred Kerr: Walter Rathenau«, DS Jg. 2 N° 9 (Mai 1935), S. 494ff. (Rez. zu: A. Kerr, Walter Rathenau, Amsterdam 1935). Lion Feuchtwanger, Marcuse's Loyola-Buch, NTB Jg. 3 N° 43 v. 26.10.1935, S. 1027 (Rez. zu: L. Marcuse, Ignatius von Loyola, Amsterdam 1935). - L. M. [i. e. L. Marcuse], Feuchtwangers Roman »Die Söhne«, PTB Jg. 3 N° 722 v. 4.12.1935, S. 4 (Rez. zu: L. Feuchtwanger, Die Söhne, Amsterdam 1934). Vgl. bereits Kapitel 2.2. dieser Untersuchung. Deutlich spiegelten sich diese Verhältnisse auch in PTB und PTZ, wo Journalisten bzw. journalistisch Tätige als Literaturkritiker eindeutig vor den Schriftstellern zurücktraten. Selbst bekannte Kritiker der Weimarer Presse wie Emil Faktor und Felix Langer traten dort kaum hervor, von Nachwuchsjournalisten ganz zu schweigen (u. a. Bernhard Citron, Erich Gottgetreu).

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Wenn auch manche Exilautoren wie z. B. Hermann Kesten diesen Zustand als »Freundschaftskritik« unter »Meistern« 273 verteidigten, darf diese idealistische Deutung eines regelrechten ingroup- Verhaltens nicht über dessen pragmatischen Charakter hinwegtäuschen. Eklatantes Beispiel hierfür war der »literarische Freundschaftspakt«, den Bertolt Brecht im Dezember 1933 Kesten anbot. Nach Kestens Protokoll lautete er wie folgt: Obwohl ich [i. e. Hermann Kesten; M. E.], wie Sie sich äusserten, >ein objektives Feindschaftsgefühl für Ihr Werk< hätte, sollten wir, Sic, Bert Brecht, und ich, die nächsten fünf Jahre etwa uns gegenseitig durch mündliche Vereinbarung verpflichten, von unserer beider Werken mit Respekt zu sprechen, wenn auch mit weltanschaulichen Vorbehalten. Dieser Pakt sollte so erfüllt werden, auch wenn ich etwa eines Ihrer künftigen Werke oder Ihre ganze literarische Persönlichkeit ohne dieses Bündnis eventuell aufs schärfste hätte ablehnen müssen. Sie erklärten, Sic hätten derlei Pakte mit Feuchtwanger oder Döblin zum Beispiel abgeschlossen. 274

Entscheidend für Brechts Intentionen war, dass Kesten damals Cheflektor des Allert de Lange-Verlages (und mithin häufiger Berater bei Querido) war. Der »Freundschaftspakt« zielte folglich darauf ab, Brecht die vorbehaltlose Annahme seiner Werke bei AdL zu sichern und ihn indirekt vor der Konkurrenz anderer (Verlags-)Autoren zu bewahren. Desweiteren sollte er die zwischen ihm und dem Verlag bestehenden weltanschaulichen Differenzen - Brecht war neben E. E. Kisch der einzige kommunistische Autor bei AdL275 - auf das Terrain literarischer Kritik kanalisieren und damit der geschäftlichen Domäne (Lektoratsgutachten, Vertragsabschlüsse etc.) fernhalten. Kurzum: Es war der Versuch, per Literaturkritik den Wettbewerb unter Autoren zu unterlaufen und mit Kestens Hilfe ein regelrechtes Kartell durchzusetzen.276 War Brechts Vorhaben auch offensichtlich gescheitert, so demonstrierten die zitierten Beispiele gegenseitigen Rezensierens, dass andernorts ähnliche literaturkritische Allianzen existierten.277 Ihr Zustandekommen war jedoch, entgegen

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Dieser hatte gefragt: »Hat nicht der Goethe den Schiller gelobt und der Schiller den Goethe?«, um zu schlussfolgern: »Etwas anderes ist es, wenn der Meister den Stümper lobt! Das ist gegen Natur und Sitte.« (H. Kesten, Der Dichter im Literaturbetrieb, NTB Jg. 7 N° 5 v. 28.1.1939, S. 116f„ hier S. 117). Hermann Kesten an Bertolt Brecht, 15.12.1933, in: K. Mann, Briefe und Antworten. Bd. 1, a. a. O., S. 364. - Danach suchte Brecht den Vorfall herunterzuspielen: s. den Brief Brechts an H. Kesten ([Dezember 1933], in: B. Brecht, Briefe. Bd. 1, hg. u. kommentiert v. Günter Glaeser, Frankfurt/M. 1981, S. 185-187). Vgl. auch die Darstellung bei Klaus Völker, Bertolt Brecht. Eine Biographie, München 1975, S. 206f. S. Andreas Winkler, Hermann Kesten im Exil, a. a. O., S. 160f. Über Brechts Absicht lässt Kestens Protokoll keinen Zweifel: »Zur Erläuterung dieses umfassenden Vorschlags erklärten Sie mir, [...] dass Sie der gesamten bürgerlichen Welt als Marxist feindlich gegenüberständen und gezwungen und willens seien, mit den allerschärfsten [...] Mitteln der kapitalistischen Welt gegen ihre Gegner vorzugehen; dass Sie sich gezwungen sähen, die wirtschaftliche oder literarische Existenz Ihrer Gegner oder Nicht-Freunde mit allen Ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln zu vernichten ...« (H. Kesten an B. Brecht, 15.12.1933, in: K. Mann, Briefe u. Antworten. Bd. 1, a. a. O., S. 365). So schrieb z.B. Feuchtwangeram 16.1.1936 an Arnold Zweig: »Es ist leider wirklich so, dass wir uns schon entschliessen müssten, übereinander Rezensionen zu schreiben, wenn wir was

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der zitierten Auffassung Döblins, nicht vornehmlich eine Frage individueller Haltung und Respektabilität (»Stehen oder NichtStehen zu einem Mann«). Vielmehr waren sie die Folge einer ökonomischen Konkurrenz der Autoren auf dem Markt und ihrer teils scharfen ideologischen Opposition innerhalb des intellektuellen Kräftefeldes. Als Ensemble struktureller wie intellektueller Abhängigkeiten bzw. Eigeninteressen von ihnen entweder stillschweigend »internalisiert« oder in Absprachen explizit formuliert, stellen diese Allianzen einen Vermittlungsmechanismus zwischen Institution und Diskurs der Literaturkritik dar.278 B. Kontinuität und Diskontinuität des literaturkritischen Diskurses: die Rezensenten in PTB und PTZ Wie sahen nun die Verhältnisse in PTB und PTZ aus? Hatten sich auch dort die Literaturkritiker zu Gruppen oder Allianzen zusammengefunden? Wie der quantitative Überblick bereits zeigte, sind zwischen Dezember 1933 und Februar 1940 rund 660 Besprechungen zu ca. 760 Titeln erschienen. 279 Doch einen ständigen Kritiker — wie für andere kulturkritische Rubriken der Fall — hat das Blatt für die Buchbesprechungen nie beschäftigt; statt dessen wurden zahlreiche freie Mitarbeiter und die Redakteure selbst tätig. Im Rezensentenregister konnten bislang

besonderes haben wollen. Ich hatte jüngst darüber mit Heinrich Mann eine Unterredung und sagte ihm, dass ich es ein bisschen komisch fände, wenn wir immer, Sie, Heinrich Mann und ich, im Kreis herum übereinander schreiben. Ich hatte es auch deshalb abgelehnt, über den >Henri IV< zu schreiben, und das >Tage-Buch< hatte dann Roth aufgefordert [...]. [Jetzt] bekam ich nun dringliche Aufforderung vom >Tage-BuchVerlagskonferenzen< [...]. Auch mussten die Erfolgsautoren einigermassen gerecht zwischen den beiden Verlagen verteilt werden, um beiden Verlagen die Existenzmöglichkeit zu erhalten. So konnten beide Verlage nebeneinander bestehen«. (F. H. Landshoff, Ein Emigrationsverlag, in: Bernt Engelmann (Hg.), Literatur des Exils, München 1981, S. 103-109, hier S. 108). - Für sozialistische oder KPnahe Rezensenten ist umgekehrt dasselbe Verhalten festzustellen: Wolf Franck, Kurt Kersten und Rudolf Leonhard konzentrierten sich in ihren Besprechungen in PTB und PTZ im wesentlichen auf die Autoren ihnen nahestehender Verlage. Bei dem (Ex-?)Parteikommunisten Georg Rosenthal (Ps. Fritz Hoff) stammten von 39 rezensierten Titeln gar 13 von den Editions Sociales Internationales, dem Parteiverlag der PCF, und 12 von der Verlagsgenossenschaft ausländischer Arbeiter in der UdSSR (VEGAAR).

™ S. nochmals Kapitel 3.3., Abschnitt C.

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rund 90 Personen 280 erfasst werden, die ihre Besprechungen mit bürgerlichem oder Schriftstellernamen, mit Pseudonymen, Initialen oder Chiffren signiert hatten. Bisher nicht eruieren Hessen sich rund 30 zumeist isoliert auftretende Chiffren und Pseudonyme (z.B. A . B . , E.B. 281 , G., h., Justus, B.M., -na, -r-, ...r), die zumeist für kein weiteres Exilorgan ausser für PTB bzw. PTZ nachweisbar sind.282 Eine partielle Überschneidung mit den 90 bereits identifizierten Personen ist deshalb wahrscheinlich, so dass sich der reale Rezensentenkreis in PTB und PTZ auf insgesamt 100 bis 110 Personen erstreckt haben dürfte. Folgende freie Mitarbeiter traten als Rezensenten hervor (nach der Häufigkeit ihrer Rezensionen) 283 : Georg Rosenthal 284 (Ps. Fritz Hoff; 29 Rezensionen), Ferdinand Timpe 285 (24), Siegfried Marek (22), Helene Radö (Ps. Maria Arnold; 21), Alfred Döblin (13), Francisco Amunategui 286 und Paul Erich Marcus (je 12), Wolf Franck, Rudolf Leonhard und Klaus Mann (je 11). Weniger als 10 Rezensionen stammten von: Paul Westheim und einem mit den Initialen L. H. zeichnenden Rezensenten (9), von Ferdinand Hardekopf und T. N. Hudes287 (je 8), von Walter A. Berendsohn, Max Hochdorf und Eduard Levi 288 (je 7), von

2S

" S. das Rezensentenregister im Anhang. - Zur Registererstellung wurden neben den verfügbaren (bio-)bibliographischen Hilfsmitteln insbesondere die Mitarbeiter- und Gehaltslisten im Nachlass der PTZ herangezogen. 281 E. B. ist vermutlich Kreisen der politischen (sozialdemokratischen?) Emigration in Paris zuzurechnen. Ein redaktioneller Vorspann zu einem Bericht über das Pariser Hilfskomitee Comité National bezeichnete E. B. als »Mitarbeiter des Pariser Tageblatts« (E. B., Die Not der Emigranten, PTB Jg. 2 N° 232 v. 1.8.1934, S. 3). 282 Vgl. das Personenregister bei Lieselotte Maas, Handbuch der deutschen Exilpresse 1933-1945. Bd. 3, a. a. O. 2 " Hinweise im folgenden nur zu Personen, die nicht im Biographischen Handbuch der deutschsprachigen Emigration nach 1933, hg. v. W . Röder u. H. A. Strauss, a. a. O., verzeichnet sind. - Vollständiger Rezensentennachweis im Anhang dieser Arbeit (Rezensentenregister). 284 (1909-1989); vor 1933 Mitarbeiter bzw. Redakteur in kommunistischen Presseorganen (u. a. Berlin am Morgen, Die Rote Fahne), BPRS-Mitglied. Emigration April 1933 bis 1939 Paris (dazwischen 1934—1936 Nizza). Freier Mitarbeiter in Exilorganen, 1937 Parteiausschluss. 1939 Internierung und Fremdenlegion, 1942 Résistance und Identitätswechsel; nach 1945 Auslandskorrespondent deutscher und französischer Zeitungen (Angaben nach: Ute Lemke, Interview mit Georges Reymond (eigtl. G. Rosenthal), Juli 1988; unv. Ms.). 285 Von Beruf Jurist, leitete er vor 1933 den Verlag seiner Frau Ida Graetz (»Entr'act-Bücherei« Berlin-Charlottenburg; dort erschien 1933 u. a. von Rudolf Leonhard Das Wort). Mitglied des Berliner SDS, publizierte unter dem Namen seiner Frau in Foto-Fachzeitschriften. Als er 1936 über die Schweiz nach Paris emigrierte, führte ihn sein Freund Rudolf Leonhard in die PTZ ein. Ausserdem arbeitete Timpe als Übersetzer für (reichs-)deutsche und Schweizer Verlage (vgl. BAP, NL F. Timpe). 286 Der französische Autor spanischer Abstammung rezensierte ausschliesslich französische Literatur in PTB und PTZ. Einige Publikationen und Übersetzungen vom Spanischen ins Französische, u. a. L ' O b u s sur la ville, Paris 1918; Übers, v. Eugenio d'Ors: Pablo Picasso, Paris 1931. 287 T . N . H u d e s lebte als Korrespondent polnischer Zeitungen in Paris; vgl. auch Seite 213, Anm. 54. 288 Freier Mitarbeiter an PTB und PTZ, zwischen 1936 und 1938 insbesondere als Musikkritiker tätig. Sonst keine weiteren Beiträge in der Exilpresse.

185

Schalom Ben-Chorin (Ps. Tony Brook)289, Albert Ehrenstein und Olga Grave (Ps. Gill) (je 6), von Peter Bolz290, Gertrud Isolani, Ludwig Marcuse, Rudolf Olden und Alfred Wolfenstein (je 5). Mit weniger als 5 Rezensionen waren vertreten: Alfred Kerr, Kurt Kersten und Ernst Weiss (je 4 Rezensionen), Salomo Friedlaender (Ps. Mynona), Hellmut von Gerlach, Heinrich Mann, Arkadij Maslow (Ps. Malam), Franz Schoenberner und Louise Straus-Ernst (Ps. Ulla Bertram) (je 3 Rezensionen) sowie Bruno Altmann, Alexander Benzion 291 , Emil Faktor, Lion Feuchtwanger, Kurt R. Grossmann (Ps. Felix Burger), Alfred Kantorowicz, Leo Lania, Franz Leppmann, Anselm Ruest und Max Strauss (jeweils 2 Rezensionen). Lediglich eine Rezension veröffentlicht hatten u. a. Alfred Apfel, Bruno Frei, Max Herrmann-Neisse, Hermann Kesten, Lili Körber, Erich Kuttner, Karl Loewy, Balder Olden, Otto Pohl, Maximilian Scheer, Ernst Scheuer 292 , Karl Schnog 293 , Ernst Toller und Jacob Simon 294 (Ps. George Wallis). Neben den freien Mitarbeitern traten Redakteure und Angestellte der Zeitung häufig als Rezensenten auf. Ihr Mitwirken an der Literaturkritik entsprang weitgehend ökonomischen Erwägungen. Denn um das knappe Budget für Rezensionen freier Mitarbeiter zu schonen, mussten die Redakteure mit eigenen - unvergüteten - Buchbesprechungen einspringen.295 So kam es, dass der stellvertretende Chefredakteur Kurt Caro (Ps. Manuel Humbert, Emmanuel Curtius, auch: K. C., M. H.,

285

29,1

291

2,2

293

2 J

'

295

Unter diesem Pseudonym veröffentlichte Ben-Chorin u. a. eine dreiteilige Artikelserie zum 50. Geburtstag von Arnold Zweig (Geistiger aus Leidenschaft/ Arnold Zweigs letzte Romane/ Arnold Zweig als Dramatiker und Essayist, in: PTZ Jg. 2 N° 512, 515, 518 v. 7., 10. und 13.11.1937, S. 4). Mit diesem Namen waren in PTB und PTZ zwischen 1934 und 1937 Theater- und Konzertberichte sowie fünf Rezensionen zu Werken von A. Kerr, W. Langhoff, V. Marcu und zweimal B. Frank signiert. Länge und Gestaltung der Rezensionen lassen vermuten, dass es sich um ein Pseudonym eines bekannten Autors handeln muss. Der Autor lebte vermutlich schon vor 1933 in Paris und engagierte sich für die Emigration durch die Mitbegründung einer deutschen Emigrantenschule ( P T B Jg. 2 N° 65 u. 67 v. 15. u. 17.2.1934) und durch Vorträge ( P T B Jg. 2 N° 91 v. 13.3.1934). 1930 übersetzte er zusammen mit Pierre Leyris Die Novelle von J.W. v. Goethe ins Französische, die erst 1987 erschien. P. Leyris bemerkt im Vorwort: »En 1930, Alexander Benzion [...] nous demandait de l'aider à traduire en français Die Novelle en tête de quelques contes plus légers [...] de Goethe. Le recueil était destiné à ouvrir une collection de Romantiques allemands - dont l'idée s'évanouit après le premier livre (1931) en même temps que la firme dont elle dépendait.« (J. W. v. Goethe, La Chasse, Übers, v. A. Benzion u. P. Leyris, Paris 1987, S. 1). 1906 in Frankfurt/M. geb., im November 1933 Emigration nach Frankreich (Namensliste des Cabinet du Préfet de Police, 12.3.1936; APP, BA 268, ch. 6). (1897-1964), vor 1933 tätig als Schauspieler, Regisseur und Rundfunksprecher. 1933 Emigration in die Schweiz, 1934-40 Luxemburg; Ausbürgerung 2.12.1936. 1940 Verhaftung und Deportation. Ab 1946 in der DDR Chefredaktion der satirischen Zeitschrift Ulenspiegel, 1948-51 Leiter des Ost-Berliner Rundfunks. J. Simon lebte in Kaunas/Riga und sandte von dort auch politische Beiträge; vgl. BAP, PTZ, N° 66, Bl. 262. Die Gehaltslisten der PTZ erlauben einen Einblick in die Honorarpraxis des Blattes. Rezensionen freier Mitarbeiter wurden üblicherweise pro Beitrag honoriert, diejenigen von Redakteuren waren mit dem monatlichen Festgehalt abgegolten, auch wenn sie eine zusätzliche Arbeitsbelastung bedeuteten (zur Feuilletonredaktion s. bereits Kapitel 3.1., Abschn. C.).

186

M. H-t., E. C.) und der politische Redakteur Carl Misch (C. M., -Imi-) ebenso wie die Feuilletonredakteure Erich Kaiser (Ps. Emile Grant, Flavius, auch: e., egrt., gt., fl.) und Manfred Georg (Ps. Spectator, auch M. G., -eo) sowie der feste Mitarbeiter Robert Breuer ressortunspezifisch literarische wie historisch-politische Werke besprachen. Gelegentlich verfassten auch die Redakteure Richard Dyck (Ps. René Dufour, -our), Berthold Biermann (B. B.), Stefan Fingal (St. Fgl.), Hans Jacob, die Redaktionssekretärin Gerda Ascher (g. a.) sowie der Korrektor Hermann Ebeling (Ps. Hermann Linde, Henry Wilde) Buchbesprechungen. Die Eigenleistung der Redaktionsmitglieder ist demnach kaum zu unterschätzen: Zählt man zu den von ihnen gezeichneten Rezensionen alle ohne Verfasserangabe erschienenen als redaktionell verantwortete hinzu 296 , so stammte über ein Drittel aller Rezensionen in PTB und PTZ aus der Feder von Redakteuren und Angestellten der Zeitung (wobei allerdings kürzere Rezensionen zwischen 20 und 40 Druckzeilen dominierten). Die Heterogenität der Rezensenten, das Nebeneinander von prominenten und unbekannten Personen, von versierten Schriftstellern und routinierten Journalisten oder Fachleuten ihres Gebiets (Juristen, Politiker etc.) gibt eine Vorstellung von der Spannbreite der in PTB und PTZ besprochenen Literatur und lässt zugleich erkennen, dass die Literaturkritik in PTB und PTZ schwerlich auf eine gemeinsame literaturästhetische Position festgelegt werden kann. Zwar waren die Rezensenten, wie dargelegt, durch den in der Zeitung demonstrierten aktionistischen Habitus der Literaturkritik wie durch verlagspolitisch oder persönlich motivierte Allianzen in ihrer Tätigkeit vorgeleitet, doch erschöpfte sich diese nicht darin. Die Rezensionstätigkeit bestand nicht zuletzt in einer individuellen Leistung, die je nach literarischen und weltanschaulichen Tendenzen, Fach- und Sprachkenntnissen oder je nach Emigrationsland bei einzelnen Rezensenten zur Ausprägung einzelner Themenschwerpunkte 297 innerhalb der Literaturkritik dieser Zeitung beitrug. So befasste sich Siegfried Marek als Philosophieprofessor häufig mit philosophischen Schriften; als Kunst- bzw. Musikkritiker des Blattes übernahmen Paul Westheim und Eduard Levi die Besprechung von Titeln ihrer Ressorts. Hellmut von Gerlach und Rudolf Olden rezensierten in der Regel politische Schriften, während Schalom Ben-Chorin und Wilhelm Sternfeld bevorzugt Judaica besprachen. Bei fremdsprachiger Literatur traten Max Hochdorf, Francisco Amunategui, Ferdinand Timpe und Ferdinand Hardekopf als ausschliessliche, Rudolf Leonhard und Georg Rosenthal (Ps. Fritz Hoff) als gelegentliche Rezensenten französischer Werke hervor, während Paul E. Marcus zumeist englischsprachige Titel rezensierte. Doch längst nicht alle Rezensenten lassen individuelle Schwerpunkte erkennen, teils weil die Anzahl ihrer Beiträge zu gering war, teils weil sie Buchtitel von der Redaktion zur Besprechung zugeteilt erhielten.

2%

297

V g l . die Rubrik »Ohne Verfasserangabe erschienene bzw. redaktionell verantwortete Rezensionen« im Rezensentenregister. Zur Themenübcrsicht aller rezensierten Titel s. den folgenden Abschnitt C.

187

So ist es schliesslich auch instruktiv, die Rezensenten als Gruppe zu betrachten. Untersucht man die Dauer der literaturkritischen Tätigkeit freier Mitarbeiter, so lässt sich aus der Fluktuation der Rezensenten eine Dynamik ableiten, die mehr als nur eine individuelle Erscheinung darstellt. Die Abfolge von ausscheidenden und neu auftretenden Rezensenten kann zu einem Gruppenbildungsprozess verdichtet werden, der sich in der chronologischen Übersicht (s. nachfolgend) zu regelrechten Phasen abstrahieren lässt. Unter Berücksichtigung des Umstands, dass sich der Personenwechsel nicht plötzlich, sondern sukzessiv und folglich mit zeitlichen Überlappungen vollzog, können vier Phasen für PTB und PTZ bezeichnet werden: Liste der häufigsten Rezensenten* unter den freien Mitarbeitern, Reihenfolge ihres Auftretens (Anzahl der Rezensionen/Jahr) Name Hochdorf, Max Hardekopf, Ferd. Westheim, Paul Bolz, Peter (Ps.) Hudes, T. N. Mann, Klaus Ehrenstein, Albert Marcuse, Ludwig Döblin, Alfred Grave, Olga Olden, Rudolf Marcus, Paul Erich Franck, Wolf H„ L. (L. H A h.) Amunategui, Franc. Isolani, Gertrud Levi, Eduard Leonhard, Rudolf Rosenthal, Georg Marek, Siegfried Rado, Helene Ben-Chorin, Schalom Timpe, Ferdinand Berendsohn, W. A. Wolfenstein, Alfred

in der

chronologischen

1933/34

1935

1936

1937

1938

1939

1940

Gesamt

4 2 1

3 2

_







_

-

-

-

4 2

-

-

-

-

-

-

-

-

7 8 9 5 8 11 6 5 13 6 5 12 11 9 12 5 7 11 29 22 21 6 24 7 5

1

-

1

-

3 7 3 2 3 3

-

-

-

-

-

-

-

-

-

-

-

-

-

-

-

-

-

-

1 3 3 2 8 5 2 1 4 4 4 2 1 1

-

-

-

-

-

-

-

3 2 5 8 2 4 5 21 8 7

-

-

-

-

-

-

-

-

-

-

-

-

1 4 8 12 9 5 12 3

-

-

-

-

-

-

-

-

-

4 2

4

1 1

-

-

-

-

-

-

-

-

2 1

-

-

-

-

-

-

-

2 5 5

1 3

-

-

-

-

-

-

-

-

-

-

-

1 1

-

1 -

-

-

2 5 1 12 4 3

-

2

* Erfasst wurden nur Personen mit mindestens 5 nachweisbaren Beiträgen

Während einer ersten Phase von 1933—1935 traten insbesondere Max Hochdorf und Ferdinand Hardekopf als Rezensenten hervor, die als Kenner bzw. Übersetzer französischer Literatur ausgewiesen und teils — dies galt für Hardekopf - der literarischen Avantgarde verbunden waren. Eine zweite Phase zeichnete sich von 1935-1937 als die Periode bürgerlich-linksliberaler, parteilich ungebundener Schriftsteller ab, die sich vornehmlich der Exilliteratur widmeten: Klaus Mann und Alfred Döblin waren die überragenden Kritiker dieser Phase, gefolgt von 188

Peter Bolz (Ps.), T. N. Hudes, Albert Ehrenstein und Ludwig Marcuse. Während einer dritten Phase zwischen 1937 und 1938 waren (mit Ausnahme Rudolf Leonhards) Personen als Rezensenten tätig, deren literarische Qualitäten hinter ihre politischen zurücktraten: Wolf Franck, Siegfried Marek, Georg Rosenthal (Ps. Fritz Hoff) und Helene Rado (Ps. Maria Arnold) bewirkten als Sozialisten oder Kommunisten in dieser Zeit eine parteipolitische Orientierung der Literaturkritik. Eine vierte und letzte Phase 1938-1939 (bzw. bis 18.2.1940) verzeichnete mit Schalom Ben-Chorin, Walter A. Berendsohn, Alfred Wolfenstein und erneut F. Hardekopf die Rückkehr der Literaten. An Ferdinand Timpe, häufigster Rezensent dieser Phase und selbst Autor von Unterhaltungsliteratur, wird deutlich, wie diese Periode von einer Entleerung politischer Inhalte begleitet war. Zu Phasen abstrahiert, lässt die Alternanz der Rezensenten in PTB und PTZ eine - durch die jeweilige redaktionelle Besetzung getragene bzw. mitverantwortete — variierende intellektuelle Konstellation erkennen, die an einen innerhalb des kulturellen Kräftefeldes sich vollziehenden intellektuellen Konjunkturwandel zurückgebunden war.298 Die aufgezeigten Phasen intellektueller Konstellationen unter den Rezensenten widersprechen der Hypothese eines vom Medien-»Apparat« erzeugten, uniformen literaturkritischen Diskurses299 in PTB und PTZ, und selbst innerhalb einer jeweiligen Phase erscheint sie problematisch. Denn betrachtet man die Rezensionstätigkeit im publizistischen Kontext, so akzentuiert dieser eher eine Diskontinuität als eine Kontinuität des Diskurses: Sofern nicht vertraglich eine bestimmte Periodizität der Rezensionen festgelegt war300, vergingen häufig mehrere Monate zwischen den einzelnen Beiträgen eines Rezensenten, dem die Annahme seines Textes von der Redaktion nicht vorab garantiert war. (Das Schicksal nicht veröffentlichter bzw. von der Redaktion abgelehnter Buchbesprechungen illustriert, wie zufällig so manche »Kontinuität« zustande kam! 301 ) Erst in der Verknüpfung einzelner, sukzessiv publizierter literaturkritischer Äusserungen zur Serie formte sich ein literaturkritischer Diskurs, dessen intellektuelle Kontinuität in der retrospektiven Synthese (des Lesers bzw. des Literaturwissenschaftlers) erkennbar wird. Damit ist die Perspektive der nachfolgenden Untersuchung des Diskurses302 umrissen als eine Analyse disparater Äusserungen, die auf eine innere, ästhetischen Massstäben entsprungene Kohärenz untersucht werden. Die dadurch gewonnene Kontinuität ist infolge dessen keine temporale, sondern eine analytische Kategorie.

298 299 3,1(1

301

302

Ausführlich dazu Kapitel 5. Vgl. nochmals S. 140f. dieser Untersuchung. Manche Rezensenten wurden als feste Mitarbeiter geführt, d. h. mit ihnen waren regelmässige Beiträge vereinbart worden. Siegfried Marek z. B. rezensierte lt. redaktioneller Absprache einmal monatlich neu erschienene Exilzeitschriften (m/a [Carl Misch] an Marek, 13.12.1937; BAP, PTZ, N° 66, Bl. 147). Abgelehnt worden waren z. B. Rezensionen von Helene Radö (Ps. Maria Arnold) zu Werken von E. E. Dwinger, A. Seghers und H. Barbusse (BAP, PTZ, N° 66, Bl. 140; von Albert Ehrenstein zu A. Wolfenstein (BAP, PTZ, N° 66, Bl. 39) und von Max Strauss zu Th. Mann (BAP, PTZ, N° 253/1, Bl. 2f.). S. das nachfolgende Kapitel 5.

189

Hinzu kommt, dass die den literaturkritischen Diskurs konstituierenden öffentlichen Äusserungen einzelner Rezensenten nicht in einem abgeschlossenen (auf die Zeitung begrenzten), sondern - durch Diskussion unter Kollegen, Mitarbeit in weiteren Zeitschriften etc. - in einem viel breiteren Kommunikationsraum entstanden. Dies veranlasst uns, für die literaturästhetische Darstellung der Rezensionen in PTB und PTZ den Medienkontext zu überschreiten und nun den breiteren Kommunikationshorizont literarisch-ästhetischer Diskussionen der Jahre 1933—1940 einzubeziehen. Grundlegend für die Bestimmung dieses Kommunikationsraumes werden nun die beiden intellektuellen Kräftefelder, zwischen denen das Blatt zu vermitteln suchte: einerseits das Kräftefeld des Exils, in dem die Zeitung selbst angesiedelt war und zu dessen intellektueller Ausformung sie beitrug; andererseits das intellektuelle Kräftefeld des französischen Gastlandes, dessen literarische Tendenzen die Zeitung zu erfassen und - wie partikular auch immer - an ihre Leser weiterzugeben trachtete.

C. Bestandsaufnahme der rezensierten Titel Ihren unmittelbaren Niederschlag fanden diese Kräftefelder in der Titelauswahl der rezensierten Werke: Der überwältigende Teil entstammte (wie schon der frühere Überblick über die Verlage gezeigt hat303) der Produktion exilierter bzw. nicht gleichgeschalteter deutschsprachiger und französischer Unternehmen. Die Themen- und Gegenstandsbereiche der rezensierten Titel sollen im folgenden aufgezeigt werden. Zur Strukturierung des Materials werden dabei in einem ersten Schritt formale Kriterien (Textsorten) zu Hilfe gezogen. Denn der Fundus rezensierter Titel in PTB und PTZ umfasste neben Werken aus den traditionellen Bereichen Epik, Lyrik und Drama auch zahlreiche literarische Zweckformen wie Reportage, Essay, Biographie, Autobiographie sowie philosophische, politische, historische, rechts- und sozialwissenschaftliche Schriften, Broschüren, Handbücher, einzelne Zeitschriftenaufsätze und eine Bibliographie.304 Daraus kann für die Buchkritik in PTB und PTZ das Vorherrschen eines Literaturbegriffs deduziert werden, der — die sogenannte »schöne Literatur« weit überschreitend - sich praktisch auf die Gesamtheit schriftlicher Veröffentlichungen in Buch-, Broschüren- und Zeitungsform erstreckt. Die Verfolgung eines solchen universalistischen Literaturbegriffs 305 , der seine historischen Wurzeln in der Aufklärung hat und somit vor die zum Ende des 19. Jahrhunderts abgeschlossene Trennung poetischer und wissenschaftlicher Texte306 zurückreicht, würde allerdings die vorliegende, primär literaturhisto-

303 304 305

306

Vgl. bereits Kapitel 3.3., Abschnitt D. Zum zahlenmässigen A u f k o m m e n der einzelnen Textsorten s. unten. Vgl. dazu Rainer Rosenberg, Eine verworrene Geschichte. Vorüberlegungen zu einer Biographie des Literaturbegriffs, in: Karlheinz Barck, Martin Fontius u. W o l f g a n g Thierse (Hg.), Ästhetische Grundbegriffe. Studien zu einem historischen Wörterbuch, a . a . O . , S. 9 3 - 1 3 2 , bes. S. 102. Vgl. Robert Escarpit, La Définition du terme »Littérature«, in: ders. (Hg.), L e Littéraire et le Social. Eléments pour une sociologie de la littérature, Paris 1970, S. 2 5 9 - 2 7 2 , bes. S. 267.

190

risch orientierte Untersuchung überfordern. Zur Eingrenzung sollen daher heutige, vom Begriff der Textualität ausgehende Differenzierungen zwischen fiktionalen und nicht-fiktionalen Texten, zwischen Literatur (littérature) und Literarität (littérarité) dienen, wie sie Semiotik und Poetologie vornehmen. Als littérarité hatte bereits Roman Jakobson den qualitativen Unterschied von der (schriftlichen) sprachlichen Mitteilung zum ästhetischen Sprachwerk bezeichnet. 307 Dieser Begriff gestattet, die Objekte literarischer Kritik nach texttheoretischen Kriterien zu differenzieren 308 , Texte mit primär pragmatischer Funktion von Texten mit primär ästhetischer Funktion zu trennen und den in dieser Untersuchung im weiteren verfolgten Gegenstandsbereich klar einzugrenzen. So haben wir nach Gérard Genette, der die konstitutiven Elemente von Literarität zu definieren suchte309, die Gesamtheit der 758 in PTB und PTZ rezensierten Werke eingeteilt in:

307

3118

309

Roman Jakobson, Essais de linguistique générale, Paris 1963, S. 210. - Für die Unterscheidung ebenfalls richtungweisend waren die Arbeiten von Roland Barthes (Le Dégré zéro de l'écriture, Paris 1953) und Gérard Genette (Figures I-II1, Paris 1966-1972; Nouveau Discours du récit, Paris 1983). Eine Unterscheidung in »Belletristik« und »Sachbuch«, wie sie die heutige Buchmarktforschung vornimmt, erschien hier unzureichend. Selbst für vorwiegend marklorientierte Untersuchungen zur Literaturkritik war diese Klassifizierung nur bedingt brauchbar (s. dazu B. Rolika, Vom Elend der Literaturkritik, a. a. O., S. 29-32). Gérard Genette, Fiction et diction, Paris 1991. - Genette unterscheidet zwischen bedingt (conditionnel) und unbedingt (constitutif) gültigen Kriterien für Literarität. Fiktionalität bzw. Mimesis ist als inhaltliches (thématique) Strukturmerkmal von Texten nach Genette stets konstitutiv für Literarität, während nicht-fiktionale Texte aufgrund formaler (rhématique) Strukturprinzipien Literarität aufweisen können. Zu dieser Kategorie rechnet er generell die Lyrik und - bedingt - nicht-fiktionale Prosatexte (z. B. Autobiographie, Biographie, Reportage), deren Bestimmung bislang häufig Probleme aufwarf. Als nicht-literarische Texte ausgrenzbar sind somit alle nicht-fiktionalen oder, nach Genette, diktionalen Prosatexte, die auch formal ästhetische Strukturprinzipien vermissen lassen. Stilistische Merkmale sind nach Genette keineswegs konstitutiv für Literarität, sondern können nur zusätzlich zu thematischen oder rhematischen Kriterien über den literarischen Charakter von Texten entscheiden (ebd., S. 148). Sein Schema der zwei Modi von Literarität (régime constitutif und régime conditionnel) sei hier wiedergegeben (ebd., S. 32): Régime Critère^^.

Constitutif

Thématique

FICTION

Rhématique

POÉSIE

Conditionnel

DICTION PROSE

Genettes Ansatz reicht über bisherige, am Begriff der Fiktion orientierte Modelle etwa bei Käthe Hamburger (Die Logik der Dichtung, Stuttgart 3 1977) und Wolfgang Iser (Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung, München 1976; Poetik und Hermeneutik X, Funktionen des Fiktiven, hg. v. W. Iser u. Dieter Henrich, München 1983) hinaus.

191

1.) literarische Textformen: d.h. fiktionale und nicht-fiktionale (nach Genette: diktionale) Texte, die aufgrund thematischer oder Thematischer Kriterien Literarität aufweisen und somit primär ästhetische Funktion haben; 2.) nicht-literarische Textformen, also diktionale Texte, die auch rhematisch keine Kriterien für Literarität aufweisen und daher primär pragmatische Funktion haben. 310 Somit müssen von den 758 rezensierten Titeln 513 ( = 6 8 %) nach den genannten Kriterien als literarische Texte (im Sinne der von Genette definierten Literarität) und 245 (= 32 %) als nicht-literarische oder pragmatische Textformen (im Sinne eines Fehlens von Literarität) bezeichnet werden. Die quantitative Verteilung der beiden Textkategorien über die Jahre 1 9 3 3 - 1 9 4 0 wird aus der folgenden Tabelle ersichtlich: Verteilung der rezensierten Werke auf literarische und nicht-literarische Textformen Titel / J a h r

1933

1934 1935 1936 1937 1938

1939 1940

Ges.

%

Rezens. Werke insgesamt:

3

69

74

124

223

180

77

8

758

100,0

a) literarische Textformen

2

40

56

86

169

101

53

6

513

68,0

b) nicht-literarische Textformen 1

29

18

38

54

79

24

2

245

32,0

Gegenstand der weiteren Untersuchung sind literaturkritische Äusserungen zu Texten mit primär ästhetischer Funktion, also nach G. Genettes Modell fiktionale und diktionale Texte, die aufgrund thematischer oder Thematischer Kriterien Literarität aufweisen. Doch soll zuvor eine Übersicht über die zweite Kategorie, also die 245 diktionalen Texte, die sich auch rhematisch nicht als literarische Texte erweisen, gegeben werden. Zu ihrer inhaltlichen Differenzierung wurden sie nach der Dezimaiklassifikation 3 " in 10 Abteilungen (von 0 bis 9) unterteilt, die über die Jahre 1933—1940 hinweg folgende Streuung aufwiesen: 3 "

310

311

Wenn im folgenden zwischen Texten mit ästhetischer und solchen mit pragmatischer Funktion unterschieden wird, so meint die eine wie die andere Qualifizierung nur die Betonung einer jeweils dominanten Funktion. Auch Genettes Kombination von konstitutiven und konditionalen Kriterien für Literarität kann bzw. will Grenzzonen zwischen ästhetischen und nichtästhetischen bzw. pragmatischen Texten nicht restlos aufheben, da der historische Prozess zur Integration pragmatischer Texte ins literarische Feld tendiert. Dazu schreibt Gerard Genette (Fiction et diction, a. a. O., S. 29): »Toujours est-il que l'on voit, au cours des siècles, le champ de la littérarité conditionnelle s'étendre incessamment par l'effet d'une tendance apparemment constante, ou peut-être croissante, à la récupération esthétique, qui réagit ici c o m m e ailleurs et qui porte au crédit de l'art une grande part de ce que l'action du temps enlève à celui de la vérité ou de l'utilité: aussi est-il plus facile à un texte d'entrer dans le champ littéraire que d ' e n sortir.« Einteilung nach der Dezimalklassifikation der Deutschen Nationalbibliographie (auf die Wiedergabe der Sachgruppen der einzelnen Abteilungen wird hier verzichtet): DK 0 = Allgemeines DK 1 = Philosophie, Psychologie DK 2 = Religion, Theologie DK 3 = Sozialwissenschaften

192

Nicht-literarische Textformen und ihre chronologische Verteilung nach der Dezimalklassifikation Anzahl / Abtlg. DK DK DK DK DK DK DK DK DK

0 1 2 3 5 6 7 8 9

1933

1934

1935

1936

1937

1938

1939

1

29

18

38

54

79

24

-

-

-

11

2 2 17

-

-

8 5 19 1 2 4 4 11

-

1

4 1 15

-

1 2 1 5

1 -

1 1 -

4

1 4 2 10

1 12 1 28 4 -

6 14 13

-

1940

Ges.

%

2

245

100,0

1 30 13 100 5 5 18 23 50

0,4 12,3 5,3 40,8 2,0 2,0 7,4 9,4 20,4

-

2 3 9

1 -

-

-

1

-

-

1 2 7

-

Der Hauptanteil in dieser Kategorie der nicht-literarischen Textformen lag mit insgesamt 40,8 Prozent bei Abteilung 3 (Sozialwissenschaften), der gemäss der Sachgruppeneinteilung der Dezimalklassifikation sämtliche politische Schriften - hierzu wurde auch die politische Behandlung des Themas Judentum/Rassenfrage gerechnet - zugeordnet wurden. Es folgten Abteilung 9 (Geographie, Geschichte) mit 20,4 und Abteilung 1 (Philosophie, Psychologie) mit 12,3 Prozent. Insgesamt repräsentierten Titel dieser drei Abteilungen also knapp drei Viertel (73,5 Prozent) aller rezensierten nicht-literarischen, pragmatischen Texte in PTB und PTZ. Wenn auch ihr Anteil über die Jahre hinweg leicht schwankte, gibt eine Beschreibung dieser Hauptabteilungen wesentliche Aufschlüsse über die Themenbereiche der rezensierten Titel.312 In Abteilung 1 galt das Interesse in der Sachgruppe Psychologie vorwiegend den Arbeiten emigrierter Wissenschaftler zum Gebiet der Psychologie und Psychoanalyse (u. a. Sigmund Freud, Wilhelm Reich, Erich Stern)313. In der

D K 4 = [nicht vergeben] D K 5 = Mathematik, Naturwissenschaften D K 6 = Angewandte Wissenschaften, Medizin, Technik D K 7 = Kunst, Kunstgewerbe, Fotografie, Musik, Spiel, Sport D K 8 = Sprach- u. Literaturwissenschaften, Belletristik D K 9 = Geographie, Geschichte Unter D K 8 wurden hier nur nicht-fiktionale Texte über Literatur (also sog. »Sekundärliteratur«, literaturkritische Essays etc.) aufgenommen. Die »Primärliteratur« wurde, wie schon anhand Genettes Unterscheidung aufgezeigt, in der Kategorie der literarischen Textformen erfasst. 312

Zum vollständigen Titelnachweis sei erneut auf das Gesamtverzeichnis der Rezensionen sowie auf Verfasser-, Rezensenten- und Verlagsregister im Anhang dieser Arbeit verwiesen.

"3

Vgl. die Rezensionen von -t. ( i . e . ? ) , Sexualprobleme, PTB Jg. 2 N° 2 3 6 v. 5 . 8 . 1 9 3 4 , S . 4 (Rez. u. a. zu: W . Reich, Der sexuelle Kampf der Jugend, Kopenhagen 1934; Ernst Parel!

[i. e. W. Reich], Zeitschrift für politische Psychologie

und Sexualökonomie);

Redaktionell,

Moses, ein Ägypter, PTZ Jg. 2 N° 3 5 8 v. 5 . 6 . 1 9 3 7 , S . 4 (Rez. zu: S . Freud, Moses, ein

Ägypter, in: Imago. Zeitschrift fiir Psychoanalyse);

Siegfried Marek, Die Emigration als

psychologisches Problem, PTZ Jg. 2 N° 4 0 5 v. 23.7.1937, S. 6 (Rez. z. gleichnamigen Werk v. Erich Stern, Boulogne 1937).

193

Sachgruppe Philosophie stand die Diskussion von Humanismus und Liberalismus im Vordergrund3'4, wobei neben den Rezensionen Siegfried Mareks3'5 vor allem Bruno Altmanns bedeutende Serie philosophiekritischer Artikel zwischen 1936 und 1939 3 ' 6 Hervorhebung verdient. In Abteilung 2 (Religion, Theologie) standen Schriften über die Stellung der Kirche zum Nationalsozialismus (z. B. die Streitschriften des protestantischen Theologen Fritz Lieb3'7 und eine unter dem Pseudonym Miles Ecclesiae veröffentlichte Broschüre Carl Spieckers318 ebenso wie theologische Schriften zum Judaismus (u. a. von Hugo Marx319 und Schalom Ben-Chorin320) im Vordergrund. Die politische Auseinandersetzung mit dem Judentum, insbesondere mit der nationalsozialistischen Rassenpolitik, bildete neben den zahlreichen Publikationen zum Wesen von Nationalsozialismus und Faschismus, zu Aufrüstung, Justiz und Wirtschaftspolitik des Dritten Reiches das Gros der rezensierten Titel aus

314

115

516

317

318

319

320

Vgl. u. a. die Rezensionen von Salomo Friedlaender, Der posthume Kant, PTZ Jg. 1 N° 125 v. 14.10.1936, S. 4 (Rez. zu: Immanuel Kant, Opus posthumum, Moskau 1936); Ludwig Marcuse, Der deutsche Klassiker des Liberalismus - auf der Anklagebank, PTB Jg. 3 N° 740 v. 22.12.1935, S. 3. (Rez. zu: Wilhelm Grau: Humboldt und das Problem des Juden, Hamburg 1935); Carl Misch, Ziele des Neuhumanismus, PTZ Jg. 3 N° 738 v. 16.7.1938, S. 4 (Rez. zu: Siegfried Marek, Der Neuhumanismus als politische Philosophie, Zürich 1938). Unter den 22 Rezensionen Siegfried Mareks in der PTZ nahmen philosophische Werke von Emigranten eine wichtige Stelle ein. Er rezensierte u. a. Schriften von Paul Ludwig Landsberg (Eine Spitzenleistung der geistigen Emigration, PTZ Jg. 2 N° 279 v. 17.3.1937, S. 4; zu: P. L. L., Die Erfahrung des Todes, Luzern 1937), Felix Weltsch (Schöpferische Mitte?, PTZ Jg. 2 N° 321 v. 28.4.1937, S. 4; zu: F. W „ Das Wagnis der Mitte. Ein Beitrag zur Ethik und Politik der Zeit, Mährisch-Ostrau 1936), Hermann Steinhausen [i. e. Eugen Gürster], (Die Zukunft der Freiheit, PTZ Jg. 2 N° 517 v. 12.11.1937, S. 6; zum gleichn. Werk, Zürich 1938), Erich von Kahler (Deutschland und Europa, PTZ Jg. 3 N° 603 v. 6.2.1938, S. 4; zu: E. v. K„ Der deutsche Charakter in der Geschichte Europas, Zürich 1937) und Ernst Bloch (Zur Philosophie Ernst Blochs, PTZ Jg. 3 N° 697 v. 28.5.1938, S. 4; zu zwei Aufsätzen von E. B. in der NWB). Altmanns kritische Betrachtungen galten der Position der zeitgenössischen, insbesondere deutschen Philosophie gegenüber dem Nationalsozialismus (u. a. Artikel zu Heinrich Rickert, Carl Schmitt, Martin Heidegger, Edmund Husserl, Georg Simmel), der ideologischen Verfälschung philosophischen Denkens durch die Nationalsozialisten (u. a. Artikel zu Henri Bergson, Friedrich Nietzsche, Arthur Schopenhauer, Voltaire) sowie der ethischen Auseinandersetzung mit der Rassenfrage (s. insbesondere Altmanns Beiträge in PTZ N° 59, 80, 206, 251, 290, 540, 582, 603, 625, 633, 686, 805, 873, 924 und 936). Flavius (i.e. E. Kaiser), Der Kampf der deutschen Bekenntniskirche, PTZ Jg. 1 N° 163 v. 21.11.1936, S. 4 (Rez. zu: F. Lieb, Christ und Antichrist im Dritten Reich, Paris 1936). Flavius (i. e. E. Kaiser), Die deutsche Passion, PTB Jg. 4 N° 851 v. 11.4.1936, S. 1 (Rez. zu: Miles Ecclesiae, Hitler gegen Christus. Eine katholische Klarstellung und Abwehr, Paris 1936). - Vgl. den bereits auf S. 98 zitierten Übergabebericht der Editions du Carrefour ( A N F7 15131, ch. 5, »Autoren von Editions du Carrefour 1933-1936)«. Dasselbe Dokument nennt übrigens Hans Siemsen als Autor der anonym erschienenen Broschüre Was soll mit den Juden geschehen? (Ed. du Carrefour, Paris 1936). Siegried Marek, Vom Judentum der Gegenwart, PTZ Jg. 2 N° 348 v. 26.5.1937, S. 4 (Rez. zu: Hugo Marx, Das Judentum der Gegenwart, Zürich 1937). Karl Loewy, Ein Appell zur religiösen Reform, PTZ Jg. 4 N° 1072 v. 12.8.1939, S. 4 (Rez. zu: Sch. Ben-Chorin, Jenseits von Orthodoxie und Liberalismus, Tel Aviv 1939).

194

A b t e i l u n g 3 ( S o z i a l w i s s e n s c h a f t e n ) . 3 2 1 B e s p r o c h e n wurden so b e k a n n t e Publikationen w i e das Schwarzbuch322

und die B r o s c h ü r e Der

gelbe

Fleck323,

Pam-

phlete nationalsozialistischer Rassenpolitiker 3 2 4 , d o k u m e n t a r i s c h e o d e r analytis c h e W e r k e über N a t i o n a l s o z i a l i s m u s und F a s c h i s m u s : V o n D a r s t e l l u n g e n einzelner

Ereignisse

wie

Reichstagsbrand325

und

»Röhmputsch«326

reichte

die

P a l e t t e bis zu p e r s o n e n - o d e r systemorientierten A n a l y s e v e r s u c h e n des N a t i o n a l s o z i a l i s m u s und F a s c h i s m u s ( s o bei R u d o l f Olden und K o n r a d H e i d e n 3 2 7 , G. A . Borgese328,

Hans

Günther329,

Albert

Norden330,

Grete

Stoffel331).

Mit

der

g e h e i m e n Aufrüstung i m Dritten R e i c h befassten sich u. a. die Enthüllungen der Militärspezialisten

Helmut

Klotz332

und

Berthold

Jacob333

sowie

Schriften

Abteilung 3 umfasst die folgenden Sachgruppen: Soziologie, Gesellschaft; Statistik; Politik; Wirtschaft; Arbeit; Recht; Öffentliche Verwaltung; Militär; Erziehung, Bildung, Unterricht; Schulbücher; Berufsschulbücher; Volkskunde, Völkerkunde. 322 Redaktionell, Das Schwarzbuch - Erste Jahresbilanz der Juden unter Hitler, PTB Jg. 2 N° 46 v. 26.1.1934, S. 2 (Rez. zu: Das Schwarzbuch. Tatsachen und Dokumente. Die Lage der Juden in Deutschland 1933 [hg. v. Rudolf Olden], Paris 1934). 323 Ernst Toller, Der gelbe Fleck, PTB Jg. 3 N° 727 v. 9.12.1935, S. 4 (Kurzrez. zu: Der gelbe Fleck, Die Ausrottung von 500.000 Juden [hg. v. Lilly Becher], Paris 1936). 324 Redaktionell (vermutl. K. Caro), Ein Buch im Geiste Streichers, PTB Jg. 2 N° 161 v. 25.5.1934, S. lf. (Rez. zu: Kurt Plischke, Der Jude als Rasseschänder. Eine Anklage gegen Juda und eine Mahnung an die deutschen Frauen und Mädchen, Berlin 1934). 325 Redaktionell, Zwei bemerkenswerte England-Bücher über Hitler-Deutschland, PTB Jg. 2 N° 159 v. 20.5.1934, S. 3 (Rez. u. a. zu: Douglas Reed, The Buming of the Reichstag, London 1934); Redaktionell, Dimitroff contra Goering, PTB Jg. 2 N° 209 v. 9.7.1934, S. 4 (Rez. zu: Dimitroff contra Goering [Braunbuch Bd. II], Paris 1934) sowie K. C. [i. e. Kurt Caro], Die Kulisse des Rechts, PTB Jg. 2 N° 85 v. 7.3.1934, S. lf. (Rez. zu der NS-Schrift: Alfons Sack, Der Reichstagsbrandprozess, Berlin 1934). 326 Manuel Humbert (i. e. Kurt Caro), Politik = Mord. Das Weissbuch über die deutsche Bartholomäusnacht, PTB Jg. 2 N° 383 v. 30.12.1934, S. lf. (Rez. zu: Weissbuch über die Erschiessungen des 30. Juni 1934, Paris 1934). 327 Manuel Humbert (i. e. K. Caro), Zweimal Hitler, PTB Jg. 4 N° 761 v. 12.1.1936, S. lf. (Rez. zu: K. Heiden, Adolf Hitler. Eine Biographie. Bd. 1: Das Zeitalter der Verantwortungslosigkeit, Zürich 1936 und zu: R. Olden, Hitler, Amsterdam 1935; s. dazu auch die Zuschrift von Rudolf Olden, Das Rüpelspiel - Ein Autor antwortet, PTB Jg. 4 N° 767 v. 18.1.1936, S. 4). - Kurt Kersten, Konrad Heidens Hitler-Legende, PTZ Jg. 2 N°461 v. 17.9.1937, S. 6 (Rez. zu: K. Heiden, Adolf Hitler. Eine Biographie. Bd. 2: Ein Mann gegen Europa, Zürich 1937). 328 Manuel Humbert (i.e. K. Caro), Der Sieg der Mittelmässigkeit, PTZ Jg. 3 N ° 7 1 5 v. 18.6.1938, S. 4 (Rez. zu: Giuseppe Antonio Borgese, Der Marsch des Faschismus, Amsterdam 1938). 3 2 ' T.N.Hudes, [Buchbesprechung], PTB Jg. 3 N° 649 v. 22.9.1935, S. 6 (Kurzrez. zu: Hans Günther, Der Herren eigner Geist, Moskau u. Leningrad 1935). 33,1 R. L. (i. e. Rudolf Leonhard), Wer herrscht in Deutschland? P 7 Z J g . 4 N° 1007 v. 27.5.1939, S. 4 (Rez. zu: Hans Behrend [i. e. Albert Norden], Die wahren Herren Deutschlands, Paris 1939). 331 -lmi- (i. e. Carl Misch), Politische Bücher: Ein Staatsrecht der deutschen Diktatur, PTZ Jg. 1 N° 163 v. 21.11.1936, S. 4; Fritz Hoff, Grete Stoffel: La Dictature du fascisme allemand, PTZ Jg. 2 N° 230 v. 27.1.1937, S. 4 (beide Rez. zu: Grete Stoffel, La Dictature du fascisme allemand, Paris 1936). 332 Redaktionell, Deutschlands Rüstung, PTZ Jg. 3 N° 362 v. 9.6.1937, S. 4 (Rez. zu: Helmut Klotz, Der neue deutsche Krieg, Paris 1937). 121

195

pazifistischer (Otto Lehmann-Russbueldt 334 ) oder kommunistischer Autoren (so z. B. von Staschek Scymoncyk 335 und Albert Schreiner336). Die Aushöhlung der Justiz im Dritten Reich thematisierten Schriften emigrierter deutscher Juristen (Alfred Apfel 337 , Timoroumenos (Ps.)338, Kurt Naumann 339 ) sowie einige französische Publikationen340, während die Wirtschaftspolitik des Dritten Reiches oder des Wilhelminismus u. a. in Rezensionen zu Werken von Georg Bernhard341, Hans Erich Priester342 und Jürgen Kuczynski 343 kritisch beleuchtet wurde. Schliesslich befassten sich Werke dieser Abteilung auch mit der Emigration als solcher: Neben Wolf Francks Führer durch die deutsche Emigration,44 stiessen speziell Völker- und staatsrechtliche Werke von offiziellen Vertretern einiger Flüchtlingsorganisationen (Norman Bentwich 345 , Walter

333

334

335

33i

337

338

339

340

341

342

343

344

345

Manuel Humbert (i. e. K. Caro), Statt amtlicher Dokumente, PTZ Jg. 1 N° 164 v. 22.11.1936, S. 2 (Rez. zu: Berthold Jacob, Das neue deutsche Heer und seine Führer, Paris 1936). L . H . (i.e.?), Drei Zeit-Broschüren, PTZ Jg. 1 N° 125 v. 14.10.1936, S. 4 (Rez. zu: Otto Lehmann-Russbueldt, Landesverteidigung ohne Profit, London 1936; ders., Wer rettet Europa? Die wahre politische Lage der kleinen Staaten, Zürich 1936). Flavius ( i . e . Erich Kaiser), Sebastian Erckner: Die Grosse Lüge, PTZ Jg. 2 N ° 2 1 6 v. 13.1.1937, S. 4 (Rez. zu: S. Erckner [i.e. Staschek Scymoncyk], Die grosse Lüge. Hitlers Verschwörungen gegen den Frieden, Paris 1936). Manuel Humbert (i. e. K. Caro), Das Lexikon der deutschen Rüstung, PTB Jg. 2 N° 312 v. 20.10.1934, S. 2 (Rez. zu: Hitler treibt zum Krieg, hg. v. Dorothy Woodman, Paris 1934); ders., Die fliegende Nation, PTB Jg. 3 N ° 5 2 3 v. 19.5.1935, S. lf. (Rez. zu: D. Woodman, Hitlers Luftflotte startbereit, Paris 1935); J. F. C. Füller, Europas nächster Krieg ein Tigersprung, PTB Jg. 3 N° 885 v. 15.5.1936, S. 2 (Nachdruck e. Rez. aus Sunday Dispatch zu: A. Müller, Hitlers motorisierte Stossarmee, Paris 1936). - Die »Autorenliste der Editions du Carrefour 1933-1936« nennt als Autor der zwei unter dem Namen der amerikanischen Journalistin Dorothy Woodman erschienenen Schriften Albert Schreiner (AN, F7 15131, ch. 5). Hellmut von Gerlach, Hitlers Nationalhelden, PTB Jg. 2 N° 184 v. 14.6.1934, S. lf. (Rez. zu: Alfred Apfel, Les Dessous de la justice allemande, Paris 1934). Redaktionell, Die braune Robe - eine Abrechnung mit der Nazijustiz, PTZ Jg. 1 N° 60 v. 10.8.1936, S. 2 (Rez. zu: Timoroumenos (Ps.), La Robe brune - Die braune Robe, Paris 1936). - Der Rezensent präzisiert, dass der Verfasser des Werks, zu dem der bekannte französische Rechtsanwalt Henri Torres das Vorwort schrieb, ein »emigrierter deutscher Rechtsanwalt« sei. Vielleicht stammte das Werk von Jura Dubossarsky, dem Sekretär und Assoziierten von H. Torres. Felix Burger, Der Strafvollzug im Dritten Reich, PTZ Jg. 1 N° 79 v. 29.8.1936, S. 4 (Rez. zu: Der Strafvollzug im Dritten Reich, hg. v. Karl Anders [i. e. Kurt Naumann], Prag 1936). -lmi- (i. e. Carl Misch), Recht und Unrecht in Hitlerdeutschland, PTZ Jg. 1 N° 163 v. 21.11.1936, S. 4 (Rez. zu: Le Droit national-socialiste, Vorw. v. Pierre Cot, Paris 1936). Manuel Humbert (i. e. K. Caro), Meister und Dilettanten am Kapitalismus. Zu dem neuen Buch von Georg Bernhard, PTZ Jg. 1 N° 100 v. 19.9.1936, S. 2 (Rez. zum o. g. Werk, Amsterdam 1936). Redaktionell, Das deutsche Wirtschaftswunder, PTZJg. 2 N° 225 v. 22.1.1937, S. 3 (Rez. zu: Hans Erich Priester, Das deutsche Wirtschaftswunder, Amsterdam 1936). m ~ r (i.e.?), Deutsche Wirtschaft, PTZ Jg. 2 N° 524 v. 19.11.1937, S. 6 (Rez. zu: Peter Forster [i. e. Jürgen Kuczynski], Wohin steuert die deutsche Wirtschaft?, Strassburg 1937). W. H. (i. e.?), Wolf Franck, Führer durch die deutsche Emigration, PTB Jg. 3 N° 740 v. 22.12.1935, S. 3f. (Rez. zum gleichnamigen Werk, Paris 1935). Rudolf Olden, Die deutschen Emigranten, PTB Jg. 4 N° 855 v. 15.4.1936, S. l f . (Rez. zu:

196

Baum346, Frankreich

Léo

Lambert 3 4 7 )

sowie

Studien

der

juristischen

(S. F e b l o w i c z u. Ph. Lamour 3 4 8 , R a y m o n d Millet 3 4 9 )

Situation auf

in

starkes

Interesse. D i e g e r i n g e Repräsentanz v o n W e r k e n der A b t e i l u n g 5 (Mathematik, Naturw i s s e n s c h a f t e n ) und A b t e i l u n g 6 ( A n g e w a n d t e W i s s e n s c h a f t e n , M e d i z i n , T e c h nik) erlaubt k e i n e Herausarbeitung von Schwerpunkten. In A b t e i l u n g 7 (Kunst, K u n s t g e w e r b e , Spiel, Sport) ist allenfalls bei den kunstkritischen Schriften die T h e m a t i s i e r u n g der Juden 351

ches

in der

Kunst350

oder der Kunst

des

Dritten

Rei-

hervorzuheben. Unter d e n W e r k e n der A b t e i l u n g 8 (Geographie,

Ge-

schichte) f a n d e n i n s b e s o n d e r e historische W e r k e , die den U r s a c h e n d e s Ersten W e l t k r i e g e s (Jacques B e n o i s t - M é c h i n 3 5 2 , C a m i l l e Bloch 3 5 3 , W o l f g a n g Hallgarten 354 , Henri Mordacq 3 5 5 ) und d e m Scheitern der Weimarer Republik Greszinski 3 5 6 ,

146

347

348

349

350

351

352

353

354

355

356

357

Friedrich

Stampfer 3 5 7 )

nachforschten,

Berücksichtigung.

(Albert Unter

Norman Bentwich, The Refugees from Germany. April 1933 to December 1935, London 1936). - Bentwich war damals Hochkommissar für Flüchtlinge beim Völkerbund. f. f. (i. e. Fannie Fischer), Die Hilfsarbeit für die deutschen Emigranten - Ein wichtiges Nachschlagewerk, PTZ Jg. 2 N° 482 v. 8.10.1937, S. 2 (Rez. zu: Walter Baum, World Refugee Organizations, hg. v. American Joint Distribution Committee, New York 1937). fl. (i. e. Erich Kaiser), Völkerbund und politische Flüchtlinge, PTZ Jg. 3 N° 679 v. 7.5.1938, S. 4 (Rez. zu: Léo Lambert, Der Völkerbund und die politischen Emigranten - Weissgardisten, Spione und Terroristen im Umkreis des Nansen-Amtes, Paris 1938). - Léo Lambert war beigeordneter Sekretär des Internationalen Büros für Asylrecht in Genf. E. C. (i. e. K. Caro), Handbuch zur Ausländerfrage, PTZ Jg. 3 N° 738 v. 16.7.1938, S. 4 (Rez. zu: S. Feblowicz u. Philippe Lamour, Le Statut juridique des étrangers en France, Paris 1938). [Ferdinand] Timpe, Drei Millionen Fremde in Frankreich, PTZ Jg. 3 N ° 8 1 6 v. 15.10.1938, S. 4 (Rez. zu: Raymond Millet, Trois Millions d'étrangers en France. Les indésirables. Les bienvénus, Paris 1938). P.W. (i. e. Paul Westheim), Karl Schwarz: Die Juden in der Kunst, PTB Jg. 4 N° 890 v. 20.5.1936, S. 4 (Rez. zum gleichn. Werk, Wien u. Jerusalem 1936). P. W. (i. e. Paul Westheim), Der Geist schweigt - Ein Franzose zieht die Kunstbilanz des Dritten Reiches, PTZ ig. 2 N° 348 v. 26.5.1937, S. 2 (Rez. zu: Eugène Wernert, L'Art dans le Troisième Reich, Paris 1936). Carl Misch, Eine französische Geschichte der neuen deutschen Armee, PTZ Jg. 1 N° 146 v. 4.11.1936, S. 4 (Rez. zu: Jacques Benoist-Méchin, Histoire de l'armée allemande depuis l'Armistice, Bd. 1, Paris 1936); Redaktionell, Die Welt der Politik - Geschichte des deutschen Heeres, PTZ Jg. 3 N° 703 v. 4.6.1938, S. 4 (Rez. zu: Jacques Benoist-Méchin, Histoire de l'armée allemande depuis l'Armistice, Bd. 2, Paris 1938). Hellmut von Gerlach, Der Mörder ist schuldlos, PTB Jg. 2 N° 117 v. 8.4.1934, S. 4 (Rez. zu: Camille Bloch, Les Causes de la Guerre mondiale. Précis historique, Paris 1933). Redaktionell, Wolfgang Hallgarten: Vorkriegsimperialismus, PTB Jg. 3 N° 622 v. 26.8.1935, S. 4 (Rez. zum gleichn. Werk, Paris 1935). Max Hochdorf, Général H. Mordacq: Les Légendes de la Grande Guerre, PTB Jg. 3 N° 544 v. 9.6.1935, S. 4 (Rez. zum gleichn. Buch von Henri Mordacq, Paris 1935). Hellmut von Gerlach, Die Todsünde der deutschen Republik, PTB Jg. 2 N ° 3 1 3 v. 20.10.1934, S. lf. (Rez. zu: Albert Greszinski, La Tragi-comédie de la République allemande, Paris 1934). Carl Misch, Die vierzehn Jahre - Fehlschlag und Grösse, PTZ Jg. 1 N° 167 u. 168 v. 25. u. 26.11.1936, S. 4 (Rez. zu: Friedrich Stampfer, Die 14 Jahre der ersten deutschen Republik, Karlsbad 1936).

197

landesgeschichtlichen Aspekten interessierten auch Bücher zu einzelnen Asylländern (Frankreich358, Palästina359) oder vom Nationalsozialismus bedrohten Ländern (u. a. Österreich360, Polen361, Tschechoslowakei 362 ). Soweit der knappe Abriss zu den Gegenstandsbereichen nicht-literarischer bzw. pragmatischer Textformen, die mit Hilfe der Dezimalklassifikation zwar nur schlagwortartig, doch integral erfasst und quantifiziert werden konnten. Wie aus den genannten Beispielen deutlich wurde, standen der Nationalsozialismus, seine ideologischen und sozialhistorischen Wurzeln sowie die Bedrohung, die von ihm insbesondere für die jüdische Bevölkerung ausging, im Zentrum der Mehrzahl der rezensierten Werke. Damit leisteten die Rezensionen nicht-literarischer Werke in PTB und PTZ einen beachtlichen Beitrag zur Erörterung politisch-historischer wie geistesgeschichtlicher Kernfragen der Emigration. Die Ermittlung ihres exakten Stellenwerts innerhalb politischer Meinungsbildungsprozesse des Exils muss jedoch den jeweiligen Fachdisziplinen (Politik- und Sozialwissenschaften, Philosophie ctc.) überlassen bleiben, da sie den Rahmen einer literaturwissenschaftlichen Untersuchung überschreiten würde. Die literarischen Textformen: Die Kategorie literarischer Texte umfasste, wie zuvor definiert, fiktionale und diktionale Textformen, die ingesamt klassifiziert und nach Textgruppen bzw. Genres quantifiziert wurden. Die fiktionalen Formen wurden - nach Massgabe der in PTB und PTZ vorkommenden Texte - in Romane, epische Kurzformen (Novellen, Erzählungen etc.), dramatische Formen (Theaterstücke, Hörspiele) sowie Kinder- und Jugendliteratur eingeteilt. Von den diktionalen Literaturformen wurden poetische Texte (Gedichte, Chansons), Reportage- und Reiseliteratur, Biographien und Autobiographien363 als eigenständige Gruppen erfasst. Buchtitel, die unterschiedliche Textsorten umfassten (Anthologien, Gesamt- und Werkausgaben), wurden in der Rubrik »Sonstigesbildnishafte Wahrheit des Typus< ist so weit vorgetrieben, die Realität dieser letzten Jahre so einheitlich, so objektiv überschaut, dass hier in Wahrheit ein Dokument geschaffen ist, dessen zwingender Kraft niemand sich wird entziehen können. Ein Roman also historischer Gegenwart. 76

»Ein Buch und ein Dokument« zugleich - mit dieser Formel honorierte der Rezensent die geglückte Synthese von Realität und Fiktion bei Feuchtwanger. Dokumentarwert sprach E. P. Mosse diesem Deutschlandroman zu, jedoch nicht aufgrund seiner detaillierten Abbildung der Realität, sondern aufgrund deren typisierender Gestaltung und objektiver Schau. Damit hatte der Rezensent - trotz der missverständlichen Etikettierung des Romans als »Dokument« - im Grunde erfasst, worin sich Feuchtwangers Verfahren vom Dokumentarstil der KZ- und Widerstandsliteratur unterschied. Feuchtwanger hatte dies im Nachwort seines Romans selbst formuliert: »Um die bildnishafte Wahrheit des Typus zu erreichen, musste der Autor die photographische Realität des Einzelgesichts tilgen«. Feuchtwangers fiktionale Romanform stellte somit ein Gegenmodell zum dokumentarischen Tatsachenroman dar; seine idealtypisch-generalisierende Wirklichkeitsdarstellung wies den Weg für die zukünftige Entwicklung literaturkritischer Leitvorstellungen in PTB und PTZ.

74

75

76

Vgl. etwa die von der Fotografie geprägte Definition der Reportage als »Zeitaufnahme« und die im Vorwort zu Der rasende Reporter (Berlin 1924) von Egon Erwin Kisch vorgenommene Bezeichnung des Bandes als »Album«. (1891-1963), Psychologe. Vor 1933 Beiträge in den Presseorganen seines Onkels Rudolf Mosse in Berlin. Im Exil 1934 in Paris vereinzelte Beiträge im Blauen Heft und im PTB; danach Exil in den USA. Peter Flamm (i. e. Eric P. Mosse), Historische Gegenwart, PTB Jg. 2 N° 343 v. 14.1.1934, S. 3 (Rez. zu: Lion Feuchtwanger, Die Geschwister Oppenheim, Amsterdam 1933; Neuveröff. u. d. T. Die Geschwister Oppermann).

217

In Weiterverfolgung des Feuchtwangerschen Modells hoben mehrere Rezensenten von Deutschlandromanen den Wert der fiktionalen Gestaltung gegenüber der dokumentarischen Abbildung hervor, so etwa anlässlich von Romanen Ernst Glaesers (Der letzte Zivilist)11 und Oskar Maria Grafs (Der Abgrund). Über letzteren urteilte Heinrich Mann: [...] der Roman, seine Personen, ihre Schicksale decken sich mit der berichteten Zeitgeschichte; sie laufen nicht nebenher; das Erfundene ist genauso wichtig wie die bekannten Ereignisse und Aktoren. 78

Mit dieser Aufwertung des Imaginären gegenüber dem Faktischen nahm der Deutschlandroman, gewissermassen als Korrektiv, eine starke Typisierung der Handlungspersonen vor, die schon in den Geschwistern Oppenheim feststellbar war. Mehrere Rezensenten in PTB und PTZ entdeckten ein solches Vorgehen z.B. bei Ludwig Renn (»Er gibt kein Einzelschicksal innerhalb dieser deutschen Wirklichkeit, sondern eine Fülle typischer Schicksale«) 79 und bei Theodor Wolff (»Solch Einzelschicksal ist Symbol«) 80 . Die Literaturkritik bestätigte damit, dass zahlreiche Autoren in ihrem Werk umgesetzt hatten, was sie 1934 anlässlich der P77MJmfrage zur »Mission des Dichters«81 theoretisch formuliert hatten: den Verlust der Privatheit, die Auflösung des Individuums in der Masse und seine Determinierung durch Zeitgeschichte und Politik. Freilich tradierte diese Zerstörung des individuellen Helden im Roman nicht nur Exilerfahrungen, sondern auch Tendenzen des modernen europäischen Romans, wie Alexander Benzion schon 1934 in einer Rezension von André Malraux' Roman La Condition humaine notiert hatte. Dort resümierte er die Situation: [...] der >Held< des Epos war im wesentlichen nur Exponent des Volksganzen oder der Repräsentant seines Ideals. Und heute? Wieder sind alte Ordnungen erschüttert, wieder sieht sich der einzelne, ob er will oder nicht, im Kleinen und Grossen tausendfach in das Allgemeinschicksal der Völker und Klassen verstrickt, wird sein privates Leben mehr und mehr von der allgemeinen historischen und wirtschaftlichen Entwicklung bestimmt. [...] Daher geht uns die Mehrzahl der heutigen Romane, wenn sie nur Einzelschicksale behandeln, nichts mehr an: die Zeit hat uns so vehement gepackt, dass wir uns für Individuelles-, für Homunkulusse in der Retorte, die nicht von der Luft unserer Zeit umwittert sind, nicht erwärmen können. 82

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Manuel Humbert (i. e. Kurt Caro), o. T. [Buch-Besprechungen], PTB Jg. 3 N° 726 v. 8.12.1935, S. 4 (Rez. zu: Ernst Glaeser, Der letzte Zivilist, Paris 1935). Heinrich Mann, An Oskar Maria Graf [Offener Brief], PTZ Jg. 1 N° 164 v. 22.11.1936, S. 3 (Rez. zu: Oskar Maria Graf, Der Abgrund, London 1936). Wolf Franck, Vor grossen Wandlungen, PTZ Jg. 1 N° 174 v. 2.12.1936, S. 4 (Rez. zu: Ludwig Renn, Vor grossen Wandlungen, Zürich 1936). Robert Breuer, Ein heiterer Pessimist, PTZ Jg. 2 N° 321 v. 28.4.1937, S. 4 (Rez. zu: Theodor Wolff, Die Schwimmerin, Zürich 1937). Die Mission des Dichters. Eine Umfrage, PTB Jg. 2 N° 365'v. 12.12.1934, S. 3 - 5 (s. bereits Kapitel 4.2, Abschnitt D.). Alexander Benzion, Goncourt-Preis 1933, PTB Jg. 2 N° 34 v. 14.1.1934, S. 3f. (Rez. zu: André Malraux, La Condition humaine, Paris 1933).

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In s c h e i n b a r e m Widerspruch zu den auf Typisierung angelegten P e r s o n e n stand die p s y c h o l o g i s c h e Handlungsmotivation in manchen Deutschlandromanen. Allerdings handelte e s sich dabei z u m e i s t u m p s y c h o l o g i s c h e Erklärungsversuche für d i e M a s s e n b a s i s des F a s c h i s m u s , während i n d i v i d u a l p s y c h o l o g i s c h e R o m a n e , die a u s s e r g e w ö h n l i c h e Individuen und S c h i c k s a l e ( » H o m u n k u l u s s e « , n a c h E. P. M o s s e ) darstellten, in den R e z e n s i o n e n nur w e n i g Zuspruch fanden. D i e p s y c h o l o g i s c h e Schilderung v o n Vater- oder Liebeskonflikten, w i e sie u. a. W e r k e v o n M a x Brod 8 3 und Ernst W e i s s 8 4 boten, wurden von der Kritik i m Grunde als w e n i g z e i t g e m ä s s e m p f u n d e n , und auch Einzelgänger-Figuren ( s o bei Ernst Erich Noth 8 5 ) b e f a n d sie nicht als beispielhaft. 8 6 D a s s s i c h d i e Literaturkritik v o m Tatsachenroman der ersten Exiljahre zunehm e n d auf f i k t i o n a l e Gestaltung hin orientiert hatte, wurde PTZ-Lesern erneut anlässlich einer R e z e n s i o n zu A n n a Seghers' R o m a n Die Rettung deutlich, in der M a n f r e d G e o r g konstatierte: » A n Tendenzschriften, M e m o i r e n , aufregenden romanartigen D o k u m e n t e n fehlt e s in der deutschen Emigrationsliteratur nicht. A b e r die Jahre, die v e r f l o s s e n sind, machen d i e s e Art v o n Schrifttum bereits z u m Teil ü b e r f l ü s s i g . « D o c h nicht d e m Verzicht auf den politischen A u f k l ä r u n g s anspruch d e s Deutschlandromans w o l l t e G e o r g damit das Wort reden, sondern einer verstärkten g e s e l l s c h a f t l i c h e n Analyse. Er fuhr fort: Wichtiger als all dies ist heute die Schilderung physischer [[psychischer; M. E.] und sozialer Zustände in der deutschen Arbeiterschaft, durch deren Analyse der Leser sich nicht nur darüber klar wird, wieso ein Hitler Herr Deutschlands werden konnte, sondern auch von wo ausserhalb offizieller Parteigruppierungen die Opposition wachsen kann. Das ist nur durch die Zurückführung des Romans auf seine epische Form, durch die umfassende Schau in einem kleinen, aber an sich repräsentativen Sektor des Arbeiterlebens vor 1933 möglich.*7

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Balder Olden, o. T. [Buchbesprechung], PTB Jg. 2 N" 204 v. 4.7.1934, S. 4 (Rez. zu: Die Frau, die nicht enttäuscht ..., Amsterdam 1933). - Brods Begriff des »Distanzdeutschen« bewirkte in der Exilöffentlichkeit überdies auch politische Vorbehalte gegenüber dem Autor. Die Rezensenten von Ernst Weiss' Werken betonten übereinstimmend die Aussenseiterposition des Autors in der zeitgenössischen Literatur, so Karl Schnog, o. T. [Buchbesprechungen] Ernst Weiss: Der Gefängnisarzt, PTB Jg. 3 N° 446 v. 3.3.1935, S. 5 (Rez. z. gleichn. Werk, Mährisch-Ostrau 1934); Alfred Döblin, Alfred Neumann und Ernst Weiss, PTB Jg. 4 N° 887 v. 17.5.1936, S. 4 (Rez. u. a. zu: E. W., Der arme Verschwender, Amsterdam 1936) und Ernst Scheuer, Schicksal und Verstrickung, PTZ Jg. 2 N° 538 v. 3.12.1937, S. 6 (Rez. zu: E. W„ Der Verführer, Zürich 1938). Karl Schierling [Ps. ?], Ein junger Deutscher, PTZ Jg. 1 N° 110 v. 29.9.1936, S. 4 (Rez. zu: Ernst Erich Noth, Der Einzelgänger, Zürich 1936). - Der Rezensent konzedierte zwar, Noth erkläre, »wie der Faschismus von dieser grossen Ratlosigkeit [der deutschen Jugend; M. E.] profitier(e)«, doch Noths individualistischer Held lief dem Trend der Exilliteratur zu exemplarischen Figuren zuwider. Möglicherweise liegt darin auch der Schlüssel für die weitaus enthusiastischere Rezeption, die Noth in Frankreich als Vertreter der »deutsche(n) Jugend, die junge(n) deutsche(n) Literatur« erfuhr. (Ebd.) Ebensowenig als Gegenmodelle propagiert wurden freilich auch in der Tradition proletarischer Erziehungsromane stehende Werke wie z. B. Walter Schönstedts Das Lob des Lebens (New York 1938); vgl. die Rez. von: G. (i. e.?), Roman einer deutschen Jugend, PTZ Jg. 3 N° 691 v. 21.5.1938, S.4. m.g. (i. e. Manfred Georg), Anna Seghers: »Die Rettung«, PTZ Jg. 2 N° 503 v. 29.10.1937, S. 6 (Rez. z. gleichn. Roman, Amsterdam 1937). 219

Die Forderung nach Gesamtschau und epischer Breite, gekoppelt mit der angestrebten Repräsentanz der sozialen und politischen Akteure, sollte eine gesellschaftliche Analyse der historischen Ursachen des Faschismus ermöglichen. Der prüfende Blick der Deutschlandromane reichte, wie schon in Periodisierungen der Exilliteratur festgestellt wurde88, nun weiter zurück vor das Jahr 1933, in die Anfangsjahre der Weimarer Republik, in den Ersten Weltkrieg und sogar in Vorkriegszeit und Kaiserreich. Rezensionen der PTZ untersuchten repräsentative Schicksale sozialen Auf- oder Abstiegs in Werken von Alfred Döblin89 und Erich Maria Remarque90; sie untersuchten Militarismus und Patriotismus im Erstlingswerk von Ciaire Lepere91, den Nationalismus des assimilierten jüdischen Bürgertums bei Arnold Zweig92, die Wurzeln des Rassismus bei Walter Mehring93 und den Opportunismus eines weitgehend apolitischen Kleinbürgertums bei Oskar Maria Graf94. Indessen war die zunehmende Verschiebung des Handlungs- und Analysezeitraums dieser Romane zugunsten von Vergangenheit und Retrospektive auch symptomatisch für die anwachsenden Probleme, die das Genre aufgab. Mit zunehmender zeitlicher und geographischer Distanz zu Deutschland wurde es den Exilautoren immer schwieriger, die Verbindung zwischen Heimat und Exil zu bewahren und künstlerisch umzusetzen. Was das Genre des Deutschlandromans idealiter leisten sollte, hatte Helene Radö in der PTZ so formuliert: Herz, Auge und Feder überbrücken die Barriere der Reichsgrenze, verbinden sich mit dem vertrauten, geliebten Land und seinen Menschen. Mit der unermüdlichen Kraft des Streiters für die bessere Sache rückt die Heimat wieder greifbar nahe. Ihr Spiegelbild schenkt uns Werke, welche die Vergangenheit und die Gegenwart in ihr erforschen und die Pfade der Zukunft erhellen. 95

Vertrat sie damit auch die Erwartungen der kommunistischen Literaturkritik an das Genre, so zeigte ihre Formulierung doch, wie politische und psychologische Motive bei dessen Entwicklung zusammengewirkt hatten und erklärt letztlich,

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Jan Hans, Literatur im Exil, a. a. O., S. 452f. M. H-t. (i. e. Kurt Caro), o. T. [Buchbesprechungen] Pardon wird nicht gegeben. Roman von Alfred Döblin, PTB Jg. 3 N° 523 v. 19.5.1935, S. 4 (Rez. z. gleichn. Werk, Amsterdam 1935). Emil Faktor, Der neue Remarque, PTZ Jg. 3 N° 750 v. 30.7.1938, S. 4 (Rez. zu: E. M. Remarque, Drei Kameraden, Amsterdam 193B). Max Herrmann-Neisse, Eine neue Emigrationsschriftstellerin, PTZ Jg. 2 N° 258 v. 24.2.1937, S. 4 (Rez. zu: Ciaire [Kleineibst-] Lepere, Zwischenspiel, Zürich 1937). T . N . H u d e s , o. T. [Buchbesprechungen], PTB Jg. 3 N° 678 v. 21.10.1935, S. 4 (Rez. zu: Arnold Zweig, Erziehung vor Verdun, Amsterdam 1935). Pem (i.e. Paul Erich Marcus), Deutsche Cavalcade ohne Ende, PTB Jg. 3 N ° 7 1 6 v. 28.11.1935, S. 4 (Rez. zu: Walter Mehring, »Müller«. Die Chronik einer deutschen Sippe, Wien 1935). Maria Arnold (i. e. Helene Radö), Herr Postinspektor Sittinger, PTZ Jg. 2 N° 468 v. 24.9.1937, S. 6 (Rez. zu: Oskar Maria Graf, Anton Sittinger, London 1937). Ebd.

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weshalb sich auch bürgerliche oder sozialistische Exil-Autoren und -Kritiker zu Beginn des Exils nachhaltig mit dem Genre befasst hatten. 1937 konnte indessen selbst ein so heimatverbundener Autor wie O. M. Graf nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Genre des Deutschlandromans auf deutliche Grenzen gestossen war. 96 Die Prosawerke der Exilliteratur hatten sich mittlerweile entweder verstärkt der aktuellen Gegenwartsdarstellung gewidmet (so im Exilroman, aber auch in einer zweiten Welle dokumentarischer Literatur, die nun den Spanischen Bürgerkrieg zum Gegenstand hatte) oder sich noch weiter in die Vergangenheit zurückgewandt (historischer Roman, historische Biographie). Exilroman: Unter dem Titel »Erlebte Emigration« präsentierte das PTB (vermutlich Feuilletonredakteur Erich Kaiser) Ende 1935 zwei Bücher97, die aktuelle Tendenzen der Exilprosa vorführten: einerseits die dokumentarische Literatur, die sich nun, nach KZ und Widerstand, auch der Emigrantenthematik zuwandte und in der Folge Reisetagebücher und autobiographische Aufzeichnungen von Betroffenen entstehen liess; andererseits die epische Literatur, die mit dem Exilroman das bedeutendste Genre hervorbrachte, das die Erfahrungen der Emigration fiktional verarbeitete. Dem Exilroman, so hiess es weiter, komme die Aufgabe zu, das »sich hinter der Politik verbergende menschliche Erlebnis der Emigration« 98 zu schildern. Wie eine solche angestrebte Vermittlung zwischen politischer Sphäre und individueller Erfahrung im Exilroman künstlerisch zu bewerkstelligen sei, darüber herrschte unter den Literaturkritikern von PTB und PTZ freilich keineswegs Einhelligkeit. Alfred Döblin z. B. forderte anlässlich einer Besprechung von Romanen Georg Hermanns ausdrücklich keine subjektive, sondern eine künstlerisch-objektivierte Nachgestaltung der Emigrationserfahrung. Zwischen den beiden Darstellungsweisen geschwankt zu haben, machte er dem in Holland exilierten Autor zum Vorwurf. Dessen jüngste Werke seien, so Döblin, [...] gewiss keine Tatsachenberichte, aber auch keine Romane, vielleicht Erzählungen? Sie mischen Schilderungen und Berichte, die einen reportageartigen Charakter haben, mit traumhaften und phantastischen Erfindungen. [...] Das kommt daher, dass der Autor sich nicht ganz abgetrennt hat von seinem subjektiven Stoff, seiner Klage, seinem Gram. [...] Aber ich brauche nicht Hermann [...] [zu] sagen, dass im Epischen nicht der Autor und seine Zustände

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Ein Grenzfall war schon der Roman Die Goldquelle von Alfred Neumann (Amsterdam 1938; s. die Rez. v. Schalom Ben-Chorin, Liebe auf den zweiten Blick, PTZ Jg. 3 N° 798 v. 24.9.1938, S. 4), dessen Handlung im München der Vorkriegszeit spielt. Im selben Rahmen handelt der 1938 erschienene, doch bereits 1908 entstandene Roman Arnold Zweigs, Versunkene Tage (Amsterdam 1938; Rez: Wolf Franck, Versunkene Tage?, PTZ Jg. 3 N° 780 v. 3.9.1938, S. 4). - Ein später, doch wichtiger Beitrag zum Genre war schliesslich Alfred Döblins erster Band der Trilogie November 1918 (ersch. u. d. T. Bürger und Soldaten 1918, Amsterdam 1939), der in der PTZ nicht rezensiert ist. Autor der beiden »gt.« bzw. »e.« signierten Rezensionen war vermutlich Erich Kaiser (Ps. Emile Grant): gt., [Erlebte Emigration], PTB Jg. 3 N° 733 v. 15.12.1935, S. 3 (Rez. zu: Gerhart Seger, Reisetagebuch eines deutschen Emigranten, Zürich 1936); e., [Erlebte Emigration], ebd. (Rez. zu: Robert Grötzsch, Wir suchen ein Land, Bratislava 1936). e., [Erlebte Emigration], a. a. O.

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Gegenstand der Darstellung sind, - >von sich wegsehengut< geht, so kommt das auch davon, dass Sie sich die beiden Bücher (Emigrantenschicksale !) vom Leibe geschrieben haben.« (A. Döblin, Der Krieg geht weiter, PTB Jg. 4 N° 845 v. 5.4.1936, S. 4). 102 Im Biographischen Handbuch von Röder/Strauss nicht verzeichnet. Emigrant; übersiedelte 1939 (von Paris?) nach England; Kontakt zu Manfred Georg (vgl. DLA, NL M.Georg, N° 75.4854); veröffentlichte einige Artikel im Aufbau (New York) und in Die Zeitung (London). 101 F. L. (i. e. Franz Leppmann), Ein Roman unter Emigranten, PTZ Jg. 4 N° 1072 v. 12.8.1939, S. 4 (Rez. zu: K.Mann, Der Vulkan. Roman unter Emigranten, Amsterdam 1939). - Die Redaktion hatte ihm am 25.7.1939 die Rezension angetragen (BAP, PTZ, N° 68, Bl. 114). 104 Ebd.

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Dass Klaus Mann selbst solche Erwartungen nur bedingt teilte, zeigt seine Rezension des Erstlingswerks von Konrad Merz, Ein Mensch fällt aus Deutschland: Mann lobte hier gerade die »Unmittelbarkeit« und »echte Intensität des Gefühls«, die Frische und Direktheit der sprachlichen Ausdrucksformen, die diesen streckenweise autobiographischen Roman beherrschten. Er schrieb: Der Bericht ist auf eine höchst geschickte Art [...] aufgelöst in Briefe und Tagebuchstellen. Durch diese Direktheit der Mitteilung wird der rührende und bewegende Eindruck erhöht. 105

Die Verwendung von Brief- und Tagebuchpassagen stellte bei Merz allerdings nicht, wie zuvor beim Tatsachenroman, ein dokumentarisches Verfahren dar, sondern war ein Kunstgriff: Sie bildete die Erzählstruktur des in der Ich-Form angelegten Romans. So war Klaus Manns Gesamturteil über Konrad Merz trotz einiger stilistischer Bemängelungen recht positiv: »Ein neuer Name — man merke auf! [...] Seine literarische Laufbahn beginnt er in der Emigration.«106 Heftigen Widerspruch erregte Klaus Manns Rezension bei Balder Olden; drei Wochen später attakkierte dieser im NTB das Buch (und indirekt auch Klaus Mann).107 In einer zweiten Stellungnahme begründete Olden seine Ablehnung des Werks explizit mit der Erwartung »wirklichkeitsbezogener«, nicht »fabulierter« Darstellung.108 (Wie grundlegend indessen die ästhetischen Positionen beider Kritiker divergierten, darf im nachhinein hinterfragt werden. Zwar hatte Klaus Mann im PTB die »fingierte« Handlung und die bisweilen symbolistische Sprache von Konrad Merz verteidigt; privat liess er jedoch durchblicken, dass es ihm im Falle Merz' vor allem auf die Förderung eines (Querido-)Nachwuchsautors angekommen war.109)

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Klaus Mann, »Ein Mensch fällt aus Deutschland«, PTB Jg. 4 N° 845 v. 5.4.1936, S. 3f. (Rez. zu: Konrad Merz [i. e. Kurt Lehmann], Ein Mensch fällt aus Deutschland, Amsterdam 1936). - K. Lehmann (geb. 1908) war 1934 nach Holland geflüchtet und überlebte dort die Okkupation zurückgezogen auf dem Lande. Ebd. Balder Olden, Notwendige Kritik, NTB Jg. 4 N° 17 v. 25.4 1936, S. 4 0 4 - 4 0 6 . - In die Kontroverse hatte sich auch Menno ter Braak eingeschaltet: »Notwendige Kritik«, NTB Jg. 4 N° 19 v. 9.5.1936, S. 449f. B. Olden, Notwendige Replik, NTB Jg. 4 N° 19 v. 9.5.1936, S. 450ff. Dort hatte Olden geäussert: »... mir kam es nur darauf an, vor diesem Buch zu warnen, das meiner Überzeugung nach den Emigranten schadet, indem es die psychischen wie materiellen Bedingungen des Emigrantenlebens falsch darstellt, - das auch Konzentrationslager, Verfolgung und Emigration als billiges Romanrequisit verwendet und dadurch entwürdigt. Es ist ein von mir oft verfochtenes ästhetisches Gesetz, dass der Romancier unter strengstem Gebot der Wirklichkeit steht, dass er finden, nicht erfinden, verdichten, nicht erdichten soll.« A u s Klaus Manns Tagebüchern geht hervor, wie seine Bewertung des Werks seit den ersten Leseeindrücken zunehmend kritischer wurde (K. M., Tagebücher 1936-1937, München 1990, S. 15). A m 19.4.1938 schrieb er an Max Brod: »Das Buch zeugte von einem gewissen, äusserst unreifen Talent; war übrigens partienweise beinah unerträglich kitschig, stilistisch durchaus dritten Ranges [...]. Ich lobte den Merz damals in der Pariser Tageszeitung: hauptsächlich, um einen jungen Emigranten zu fördern; weniger aus Überzeugung.« (K. M., Briefe und Antworten Bd. 2., a. a. O., S. 35). Fritz Landshoff vom Querido-Verlag bezeichnete das Buch 1946 in einem Brief an Hermann Kesten schlicht als »unlesbar« (F. H. Landshoff, Amsterdam, Keizersgracht 333, a. a. O., S. 384).

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Die zitierten Beispiele zeigen, wie sich unter den Literaturkritikern mehrheitlich die Forderung nach einer »objektiven« Wirklichkeitserfassung durchzusetzen begann, die nun jedoch - im Gegensatz zur Phase dokumentarischer Literatur — auf eine typisierend-überhöhende, gesellschaftliche Repräsentanz anstrebende Darstellung gegründet war. Die Literaturkritiker näherten sich allmählich einem Realismus-Begriff, wie ihn Georg Lukäcs110 entwickelt hatte, ohne freilich - dies galt besonders für die bürgerlichen Vertreter — dessen parteipolitische Dimension (sozialistischer Realismus) zu übernehmen. So brachte selbst die Kommunistin Helene Radö in der PTZ den Mangel an weltanschaulicher »Perspektive« in Maria Gleits reichlich trivialem Exilroman Du hast kein Bett, mein Kind allenfalls kodiert zum Ausdruck: Ziellos und ohne rechten Glauben wandern ihre Menschen. [...] Wogegen sie sind, wofür sie sein wollen, wird niemals klar und eindeutig sichtbar gemacht. [...] Ebenso bleibt das Leben, unter dem diese Menschen leiden, in Nebel gehüllt und wird in seiner Wirklichkeit nicht gestaltet." 1

Schliesslich wurden sogar Klassiker des französischen Realismus bemüht, der Exilrealität so fern stehende Romane wie Der Reisepass von Bruno Frank (Hauptperson ein emigrierter Aristokrat, der im Exil »happy« endet) das Gütesiegel des »Realismus« aufdrücken zu können." 2 Die Trivialisierung des Genres, die sich etwa in Werken von Hans Habe" 3 und Irmgard Keun" 4 fortsetzte und die selbst Feuchtwangers Exil115 streckenweise erfasste, wurde so in den Rezensionen sichtbar. Reportage und Reportageroman: Auf dokumentarischem Material basierend, nahm die literarische Reportage eine Gegenstellung zur fiktionalen Gestaltung von Wirklichkeit im Deutschland- und Exilroman ein. In ihrem Zentrum standen

"" Vgl. u. a. Georg Lukäcs, »Es geht um den Realismus«, a. a. O. 111 Maria Arnold (i. e. Helene Radö), »Du hast kein Bett, mein Kind«, PTZ Jg. 3 N° 852 v. 26.11.1938, S. 4 (Rez. zum gleichn. Roman, Zürich 1938). - M. Gleit war Journalistin und Schriftstellerin, 1934/35 illegale Tätigkeit, danach Emigration; in erster Ehe mit Walther Victor verheiratet. 112 So argumentierte der Rezensent Peter Bolz (Ps.): »Aber diese glückliche Lösung erwächst aus einer so starken tragischen Seelenbelastung der beiden Hauptfiguren, dass der besinnliche Leser geneigt gemacht wird, das grausige Massenschicksal zu werten, aus dem ihm, durch das Temperament eines Künstlers gesehen, hier ein winziges Detail präsentiert wird.« Zolas Definition, Kunst sei un coin de la nature vu à travers un tempérament, taucht in der Reduktionsstufe auf (Peter Bolz (i. e.?), Ein Roman aus der Emigration, PTZ Jg. 2 N° 440 v. 27.8.1937, S. 6; Rez. zu: Bruno Frank, Der Reisepass, Amsterdam 1937). 113 Pem (i. e. Paul E. Marcus), Emigrations-Roman eines Nicht-Emigranten, PTZ Jg. 2 N° 4 6 8 v. 24.9.1937, S. 6 (Rez. zu: Hans Habe, Drei über die Grenze, Genf 1937). - Habe wurde faktisch zwar erst 1939 zum »Emigranten«, hatte Wien jedoch 1935 verlassen und war bis 1939 Korrespondent des Prager Tagblatts beim Völkerbund in Genf gewesen. 114 Redaktionell, Irmgard Keuns neuer Roman, PTZ Jg. 4 N° 905 v. 28.1.1939, S. 4 (Rez. zu: I. Keun, Kind aller Länder, Amsterdam 1938). 115 Der Roman erschien erst 1940 und ist deshalb nicht in der PTZ rezensiert, fl. (i. e. Erich Kaiser) berichtete über die Autorenlesung aus dem Manuskript des Romans im Pariser SDS (PTZ Jg. 3 N° 623 v. 2.3.1938, S. 3).

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internationale Schauplätze des antifaschistischen Kampfes. An den in PTB und PTZ rezensierten Titeln lässt sich dies leicht verfolgen: »Neusachliche« Reportagen, die politische und soziale Zustände in zumeist aussereuropäischen Ländern untersuchten, wurden abgelöst durch eine stärker agitatorisch orientierte Reportageliteratur, die anlässlich der Saarabstimmung 1935 und vor allem während des Spanischen Bürgerkriegs 1936-1939 entstand. Damit entwickelte sich die Reportageliteratur von der Reise- und sozialen Berichterstattung der Weimarer Zeit" 6 im Exil zunehmend zur Kriegsberichterstattung. Egon Erwin Kisch, dessen Reportagen während der Weimarer Republik wesentlich zur Literarisierung dieser ursprünglich journalistischen Technik beigetragen hatten, war in PTB und PTZ der häufigste Repräsentant des Genres." 7 Besonders die Rezension von Kischs abenteuerlicher Landung in Australien, wo ihm die Einreise als Delegierter des Weltkomitees gegen Krieg und Faschismus behördlich untersagt worden war, war aufschlussreich für die Rezeption der Gattung in der Zeitung. Der Rezensent Wolf Franck" 8 war in seiner Besprechung bemüht, das Werk im Sinne von Kischs Definition der Reportage als Kunstform und als Kampfform119 zu interpretieren, welche auf einer quasi wissenschaftlich-objektiven Methode beruhe. Kisch, so stellte W. Franck fest, [...] genügt es nicht, das gesellschaftliche Dasein der Menschen nur erlebend und erfahrend kennenzulernen und zu studieren, genauso ein- und umsichtig ist er dem theoretischen Studium der Menschen und Dinge hingegeben: denn er weiss genau, dass Theorie und Praxis die beiden untrennbaren Aspekte der Welt und ihrer Vorgänge sind.120

Implizit vorausgesetzt hatte der Rezensent dabei, dass dieses Studium der Gesellschaft auf marxistischer Theorie basierte; die vorgebliche Tendenzlosigkeit der Reportage, die Kisch noch 1924 für sich reklamiert hatte, war einer offen deklarierten Parteilichkeit gewichen.121 Dessen ungeachtet betonte Franck den literarischen Charakter von Kischs Reportagen, da dieser »ein Künstler (sei), ein pro-

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S. dazu Erhard Schütz (Hg.), Reporter und Reportagen. Texte zur Theorie und Praxis der Reportage der Zwanziger Jahre. Ein Lesebuch, Giessen 1974. Rezensiert wurden Kischs Werke Eintritt verboten (Paris 1934), Landung in Australien (Amsterdam 1937), Soldaten am Meeresstrand (Madrid 1938) sowie die Erzählung Die drei Kühe (Madrid 1938) in PTB N° 299 und PTZ N° 223, 679 und 733 (vgl. das Titelverzeichnis der Rezensionen im Anhang). Vor 1933 in der Wirtschaft und als Nachrichtenredakteur im Rundfunk tätig; im französischen Exil 1934-1936 Hg. der Exilzeitschrift Heute und Morgen (Sèvres) u. Autor des Führers durch die deutsche Emigration (Paris 1935); zahlreiche Beiträge in der Exilpresse. Ab 1.4.1939 als Übersetzer beim französischen Rundfunk angestellt (BAP, NL W. Franck, N° 1, Bl. 29). S. Kischs Rede auf dem Pariser Schriftstellerkongress, in: Wolfgang Klein (Hg.), Paris 1935, a. a. O., S. 5 6 - 6 0 . Wolf Franck, Kisch landet in Australien, PTZ ig. 2 N° 223 v. 20.1.1937, S. 4 (Rez. zu: E. E. Kisch, Landung in Australien, Amsterdam 1937). »Der Reporter hat keine Tendenz, hat nichts zu rechtfertigen und hat keinen Standpunkt«, hatte Kisch 1924 im Vorwort zu Der rasende Reporter geschrieben. Schon Kurt Tucholsky hatte in seiner Rezension des Werks die Camouflage erkannt (Peter Panter [i. e. K. Tucholsky], »Der rasende Reporter«, Die Weltbühne Jg. 21 N° 7 v. 17.2.1927, S. 254f.).

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duktiver Schöpfer«, dem es allerdings - die Anspielung auf Marx' Feuerbachthesen war deutlich - »nicht darauf ankomm(e), die Welt und ihren Inhalt auf seine Art zu interpretieren, sondern der sie zu verändern«122 helfe. Wolf Francks Rezension rekurrierte indirekt auf die Auseinandersetzung um die Reportage- und Tatsachenliteratur in der kommunistischen Literaturkritik der Weimarer Republik, indem sie einige der Streitpunkte, die zwischen E. E. Kisch und dem BPRS 123 einerseits, zwischen Ernst Ottwalt und Georg Lukäcs124 andererseits aufgetreten waren, im Sinne ersterer entschied und so mit Kisch die sachliche, anti-psychologische Kunstform der Reportage, mit Ottwalt die bewusstseinsverändernde Funktion und formale Innovation dokumentarischer Literatur hervorhob. Deutlich wurden damit die theoretischen Ansätze einer auch in der PTZ verbreiteten Rezeption der Reportage als operative125 Literaturform, die über Ottwalt zu Tretjakow und der sowjetischen Linken Kunstfront (LEF) reichten126 und die seit den 20er Jahren dem von Lukäcs verfochtenen, geschlossenen Kunstwerk und seiner Werkästhetik eine auf einer Materialästhetik begründete experimentelle (hier: dokumentarische) Literatur gegenübergestellt hatten. Walter Benjamin hatte 1934 in seiner Analyse operativer Literatur darauf insistiert, dass diese »die richtige politische Tendenz und (eine) fortschrittliche literarische Technik« 127 verbinde. Die Rezensenten von Reportagewerken in

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Wolf Franck, Kisch landet in Australien, a. a. O. Kischs Konzept der unaktuellen, grossen Reportage widersprach sowohl der BPRS-Auffassung der Reportage als kleine »Agit-Prop«-Form wie auch Lukäcs' Forderung nach einem »grossen« (d. h. epischen) »proletarischen Kunstwerk«. Vgl. Helga Gallas, Marxistische Literaturtheorie, a . a . O . , S. 125ff. und Dieter Schlenstedt, Sachlichkeit-Wahrheit-Soziales Gefühl. Die Reportage E. E. Kischs zwischen Ende der 20er und Mitte der 30er Jahre, in: Silvia Schlenstedt (Hg.), Wer schreibt, handelt. Strategien und Verfahren literarischer Arbeit vor und nach 1933, a. a. 0 . , S. 119-163, hier S. 132ff. So hatte Lukäcs in der bekannten Auseinandersetzung mit Ernst Ottwalt in der Linkskurve die Reportage als Form der Publizistik, die mit den Methoden der Wissenschaft arbeite, akzeptiert und ihr die Literatur entgegengestellt, die sich der Kunst bediene. Ottwalt replizierte, Lukäcs' Forderung nach einem geschlossenen Kunstwerk behindere die Entwicklung neuer Literaturformen wie Reportage und Tatsachenroman, die operativ wirken sollten (s. G. Lukäcs: »Reportage oder Gestaltung?«, DL Jg. 4 (1932) H. 7, S. 2 3 - 3 0 ; H. 8, S. 2 6 - 3 1 und »Aus der Not eine Tugend«, H. 11/12, S. 15-24 sowie E. Ottwalt, »Tatsachenroman« und Formexperiment, DL Jg. 4 (1932) H. 10, S. 21-26). Walter Benjamin hatte auf Tretjakows Reportagetechnik als Vorbild hingewiesen: »Tretjakow unterscheidet den operierenden Schriftsteller vom informierenden. Seine Mission ist nicht zu berichten, sondern zu kämpfen; nicht den Zuschauer zu spielen, sondern aktiv einzugreifen.« (W. B„ Der Autor als Produzent (1934), in: Gesammelte Schriften, a . a . O . , Bd. II. 2, S. 6 8 3 - 7 0 1 , hier S. 686). Ob Benjamin den für das Pariser Internationale Institut zum Studium des Faschismus (INFA) konzipierten Vortrag dort tatsächlich hielt, bleibt ungeklärt (s. Chryssoula Kambas, Walter Benjamin im Exil, Tübingen 1983, S. 27). Sergej Tretjakow, Die Arbeit des Schriftstellers. Aufsätze, Reportagen, Portraits, hg. v. Heiner Boehncke, Reinbek 1972; vgl. auch Simone Barck, Achtung vor dem Material. Zur dokumentarischen Schreibweise bei Ernst Ottwalt, in: S. Schlenstedt (Hg.), Wer schreibt, handelt, a. a. O., S. 102ff. - Erwähnt sei auch die enge Zusammenarbeit zwischen Ottwalt und Brecht, die schon im BPRS einen Gegenpol zur Gruppe um Lukäcs und J. R. Becher entstehen Hess. Walter Benjamin, Der Autor als Produzent, a. a. O.

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PTB und PTZ beschränkten sich jedoch zumeist auf die Herausstellung der politischen Komponente operativer Literatur, unter Ausklammerung ihrer formalen. Bezeichnend für eine exklusiv an der Tendenz orientierte Kritik war die Rezension Alfred Kantorowicz' zu einer Saarkampf-Reportage von Theodor Balk.128 Doch auch die zahlreichen literarischen Reportagen129, die kollektiven Erfahrungsberichte130 sowie die Fotoreportage'31, die in der PTZ den wenigen Rezensionen epischer132 oder gar lyrischer133 Werke zum Spanischen Bürgerkrieg gegenüberstanden, wurden zumeist im Sinne operativ-propagandistischer Literatur interpretiert und von ihren Rezensenten bevorzugt auf ihren »Kampfwert« hin untersucht. Der Grund für die zögernde Auseinandersetzung mit Formfragen der Reportage lag sicher mit darin, dass die Reportagetechnik einem Realismusbegriff, wie ihn die Sowjetliteratur ab 1934 forderte, widersprach und »formalistische« Ansätze unter den PTZ-Rezensenten - und als solche traten in jenen Jahren zunehmend KP-nahe oder KP-Autoren wie Wolf Franck, Georg Rosenthal (Ps. Fritz Hoff), Rudolf Leonhard und Helene Rado (Ps. Maria Arnold) hervor134 — keine Befürwortung fanden. So war es bezeichnenderweise ein linksbürgerlicher Autor, Lion Feuchtwanger, der sich 1938 in einer Rezension mit dem Verhältnis von ästhetischer Form

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Kantorowicz schrieb: »... ein deutscher Reporter greift mit seinem Buch [...] in diesen Entscheidungskampf ein: indem er beschreibt, was er genau gesehen und gut gehört hat, handelt er zugleich, denn diese Sammlung der Eindrücke und Gespräche zeigt Zusammenhänge«; darum werde Balks Buch im Kampf weiterwirken (A. Kantorowicz, »Hier spricht die Saar«, PTB Jg. 3 N° 390 v. 5.1.1935, S. 4; Rez. zu: Th. Balk, Hier spricht die Saar. Ein Land wird interviewt, Zürich 1934). B. M. (i. e.?), Zwei neue Spanien-Bücher, PTZ Jg. 2 N° 237 v. 3.2.1937, S. 4 (Rez. u.a. zu: Arthur Koestler, Menschenopfer unerhört, Paris 1937). - Redaktionell, Ein ungewöhnliches Spanienbuch, PTZ Jg. 2 N° 426 v. 13.8.1937, S. 6 (Rez. zu: Peter Merin [i. e. Oto BihaljiMerin], Spanien zwischen Tod und Geburt, Zürich 1937). - Manuel Humbert (i. e. Kurt Caro), Revolution in Katalanien, PTZ Jg. 2 N° 489 v. 15.10.1937, S. 6 (Rez. zu: Hanns Erich Kaminski, Ceux de Barcelone, Paris 1937). - Lion Feuchtwanger, Das Thema Krieg und Tod, PTZ Jg. 3 N° 644 v. 26.3.1938, S. 4 (Rez. zu: Arthur Koestler, Ein spanisches Testament, Zürich 1938). - Fritz Hoff, Aus der Geschichte des Bataillons Edgar André, PTZ Jg. 3 N° 675 v. 3.5.1938, S. 4 (Rez. zu: Bodo Uhse, Die erste Schlacht, Strassburg 1938). Robert Breuer, »Wir kämpfen mit«, PTZ ig. 3 N°709 v. 11.6.1938, S.4(Rez. zu: Gusti Firku (Hg.), Wir kämpfen mit!, Madrid 1938). - E. K. (i. e. Erich Kuttner), Ein Heldenlied vom Bataillon Tschapaiew, PTZig. 3 N° 675 v. 3.5.1938, S. 4 (Rez. zu: Alfred Kantorowicz (Hg.), Tschapaiew, das Bataillon der 21 Nationen, Madrid 1938). - Carl Misch hatte Kuttner, der für die PTZ auch aus Spanien berichtet hatte, zu dieser Rezension aufgefordert (m/a an Kuttner, 7.4.1938; BAP, PTZ, N° 66, Bl. 120). Maria Arnold (i. e. Helene Radó), Bericht von einer Reise nach Spanien, PTZ Jg. 2 N° 524 v. 19.11.1937, S. 6 (Rez. zu: Anna Siemsen, Spanisches Bilderbuch, Paris 1937). W. A. B. (i. e. Walter A. Berendsohn), Neue Romane, PTZ Jg. 3 N°869 v. 17.12.1938, S. 4 (Rez. zu: Karl Otten, Torquemadas Schatten, Stockholm 1938). - P. W. (i. e. Paul Westheim), PTZ Jg. 4 N° 941 v. 11.3.1939, S. 4 (Rez. zu: Hermann Kesten, Die Kinder von Gernika, Amsterdam 1939; Willi Bredel, Begegnung am Ebro, Paris 1939). Redaktionell, Rudolf Leonhard: Spanische Gedichte und Tagebuchblätter, PTZ Jg. 3 N° 774 v. 28.8.1938, S. 4 (Rez. z. gleichn. Titel, Paris 1938). Verwiesen sei nochmals auf die Phasen der Rezensenten, Seite 188f. in dieser Arbeit.

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und politischer Tendenz der Reportage auseinandersetzte und dabei auch dies kein Zufall - an Kisch anknüpfte. Kisch, dessen Reportagen im Exil letztlich die Zustimmung seiner parteigenössischen Kritiker gefunden hatten135, hatte auf dem Pariser Schriftstellerkongress gefordert, der Reporter/Schriftsteller dürfe »die Besinnung seiner Künstlerschaft nicht verlieren, er soll(e) das grauenhafte Modell mit Wahl von Farbe und Perspektive als Kunstwerk, als anklägerisches Kunstwerk gestalten«136. Diese Formulierung hatte Feuchtwanger bei seiner Rezension von Arthur Koestlers Spanischem Testament vor Augen, als er eine Überbetonung operativer Effekte vorsichtig zurückwies (»seine Darstellung ist manchmal zu wirksam«) und statt dessen die Kunstform des Werkes hervorkehrte. Farbe und Perspektive hatte Kisch 1935 als Kunstmittel der Reportage genannt; auf beide Kategorien berief sich auch Feuchtwanger in der PTZ: »Seine >FarbeNapoleon< nur ein Vorwand ist, dass ihn der damalige Realablauf in keiner Weise interessiert. Er ist noch nicht einmal auf den Schatten der Historie aus.« Obgleich (oder gerade weil?) Roths Verfahren Döblin sichtlich widerstrebte (er hatte das Buch einen »merkwürdigen Einfall auf dem Gebiet der Literatur« genannt), quittierte er Roths Werk mit einem nachlässigen Achselzucken: »Warum nicht?«168 - Zwischen der Historie als »Vorwand« für pure Fiktion und der grösstmöglichen Respektierung historischer Fakten, wie sie etwa Stefan Zweig169 anstrebte, suchten die meisten Romane einen Mittelweg zu beschreiten. Das verbreitetste Muster war die Historie als »Kostüm«, d. h. als

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Ludwig Marcuse, Roman der Bartholomäusnacht, PTB Jg. 3 N° 656 v. 29.9.1935, S. 4 (Rez. zu: Heinrich Mann, Die Jugend des Königs Henri IV, Amsterdam 1935). Einigkeit herrschte in der Literaturkritik über die Forderung nach dessen völliger »Gestaltung« (d. h. der Integrierung historischer Quellen in die epische Form). Eine Überfrachtung mit Material kritisierte Klaus Mann (K. Mann, Hermann Kesten: Ferdinand und Isabella, PTB Jg. 3 N° 740 v. 22.12.1935, S. 4; Rez. z. gleichn. Werk, Amsterdam 1936) ebenso wie Robert Breuer die blosse Addition von Fakten (R. Breuer, Spannende Lektüre, a. a. O.). Alfred Döblin, Joseph Roth: Die hundert Tage, PTB Jg. 3 N° 719 v. 1.12.1935, S. 3 (Rez. zum gleichn. Werk, Amsterdam 1936). Peter Bolz (Ps.), Ein Lehrer der Macht, PTZig. 2 N° 272 v. 10.3.1937, S. 4 (Rez. zu: Valeriu Marcu, Machiavelli. Die Schule der Macht, Amsterdam 1937). Ludwig Marcuse, Roman der Bartholomäusnacht, a. a. O. . Alfred Döblin, Joseph Roth: Die hundert Tage, a. a. O. Ausschliesslich auf der psychologischen Ebene argumentierte jedoch Ernst Weiss (Liebesbriefe an das Schicksal, PTZ Jg. 3 N° 587 v. 21.1.1938, S. 6; Rez. zu: S. Zweig, Magellan, Wien 1938).

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Stilisierungsmittel für die Gegenwart, das Lion Feuchtwanger am konsequentesten vertreten hatte170 und das auch im PTB in Ludwig Marcuse einen eifrigen Verteidiger fand. Feuchtwangers Söhne nannte letzterer einen »Schlüsselroman aus unseren Tagen« und notierte, das Werk sei [...] eine Mitte zwischen wissenschaftlicher Historie und historischem Roman. Die romanhaften Elemente sind nur soweit da, als sie nötig sind zur Anschaulichmachung einer vergangenen Wirklichkeit. Auf dieser Linie liegt ein neuer Typus gestaltender Geschichtsschreibung17'.

Indessen hatte Marcuse den Gegenwartsbezug (»Schlüsselroman«) wie auch die historische Quellentreue (»neuer Typus gestaltender Geschichtsschreibung«) Feuchtwangers überschätzt; weitaus pragmatischer sah der Autor selbst das Verhältnis von Geschichte und Roman: Ich habe mich immer bemüht, das Bild meiner Wirklichkeit bis ins kleinste Detail treu wiederzugeben, aber niemals habe ich mich darum gekümmert, ob meine Darstellung der historischen Fakten exakt war. Ja, ich habe oft die mir genau bekannte aktenmässige Wirklichkeit geändert, wenn sie mir illusionsstörend schien.172

In der Darstellung »naturalistisch«, im Umgang mit der Historie hingegen »fiktionalisierend«, kamen die historischen Romane vom Typus Feuchtwangers (also etwa auch Heinrich Manns Henri IV.) Tendenzen der Literaturkritik des Exils entgegen, die eine realistische Schreibweise mit Geschichtsoptimismus und Antifaschismus zu verbinden suchte. (Hier lagen denn auch die Anknüpfungspunkte für Lukäcs, der vom historischen Roman den »Typus eines positiven Helden« und die »Verteidigung humanistischer Ideale«173 forderte.) Auf Abstraktion und symbolischen Verweis gegründet war hingegen ein drittes Modell der Bearbeitung historischer Stoffe, dessen sich u. a. Brecht bedient hatte. Historisierung im Brechtschen Sinne bedeutete einen Verfremdungseffekt 174 und nicht, wie bei Feuchtwanger, ein illusionssteigerndes Verfahren im Dienste der Mimesis. Als Geschichtsparabeln widersetzten sich solche Werke einer realistischen Schreibweise (oder zumindest der offiziösen kommunistischen Auffassung davon, denn gerade im PTB gab Leo Lanias Rezension des Dreigroschenromans ein Argument für Brechts Verteidigung des Werks als

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Lion Feuchtwanger, Vom Sinn des historischen Romans, a. a. O. L. M. (i. e. Ludwig Marcuse), Feuchtwangers Roman »Die Söhne«, PTB Jg. 3 N° 722 v. 4.12.1935, S. 4 (Rez. zum gleichn. Werk, Amsterdam 1935). Lion Feuchtwanger, Vom Sinn des historischen Romans, a. a. O., S. 642. Georg Lukäcs, Der Kampf zwischen Liberalismus und Demokratie ..., a. a. O., S. 63f. »Verfremden heisst also Historisieren, heisst Vorgänge und Personen als historisch, also als vergänglich darstellen. Dasselbe kann natürlich auch mit Zeitgenossen geschehen, auch ihre Haltungen können als zeitgebunden, historisch, vergänglich dargestellt werden.« (B. Brecht, Über experimentelles Theater (1939), in: Gesammelte Werke Bd. 15, a. a. O., S. 302. Vgl. auch: [Notizen über V-Effekte], ebd., S. 365).

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» R o m a n für R e a l i s t e n « vor 1 7 5 ). Und unter den bürgerlichen, j e d o c h ganz an einer aristotelischen Ä s t h e t i k orientierten Kritikern in PTB u n d PTZ stiessen s i e auf w e i t g e h e n d e s Unverständnis. 1 7 6 D i e grösste O f f e n h e i t für e i n e verschlüsselte, anti-realistische Wirklichkeitsdarstellung b e w i e s Alfred D ö b l i n in einer R e z e n s i o n zu Bernard v o n B r e n t a n o s Prozess ohne Richter, w o b e i gerade d i e s e s W e r k , das Gestalten aus M o l i e r e s Misanthrope ( 1 6 6 6 ) mit z e i t g e n ö s s i s c h e r T h e m a t i k kombinierte, d e m Kritiker weniger formale als inhaltliche P r o b l e m e a u f g a b . D ö b l i n b e g a b sich m i t Brentanos Parabel politischer Säuberungsaktionen auf sichtlich e x p l o s i v e s Terrain, hatte er d o c h in seiner B e s p r e c h u n g die m a n g e l n d e Konkretisierung d e s p o l i t i s c h e n Kontexts i m W e r k gebilligt und dadurch z w e i i m Jahre 1937 g l e i c h e r m a s s e n plausible Lesarten zugelassen: als Parabel der N S S ä u b e r u n g e n w i e der M o s k a u e r Prozesse. Das Land wird nicht genannt. Warum die Abstraktion gewählt ist [...] ist klar: man will klar und scharf den Konflikt in seinem engen Rahmen. Es dreht sich ferner um Prinzipien und sonst um nichts, also auch nicht um Lokalkolorit, um Zeitumstände in irgendwelcher Detaillierung. Man weiss schon. Und wer nicht weiss, dem ist nicht zu helfen. 177 A l f r e d D ö b l i n hat s i c h — dies wurde bereits angedeutet — in PTB und PTZ a m nachhaltigsten mit historischen Stoffen auseinandergesetzt. Dort v e r ö f f e n t l i c h t e er i m Januar 1 9 3 6 s e i n e n essayistischen Beitrag Historie und kein Ende, der in d i e s c h w e l e n d e Auseinandersetzung 1 7 8 u m historische S t o f f e direkt eingriff und d e n V o r w u r f der » F l u c h t « in die Historie entkräftete: Gewiss, es ist eine Art Flucht, aber so, wie in der Ohnmacht das Blut den Kopf verlässt und in das Innere stürzt; es gibt für eine Weile das Bewusstsein preis, um besser das Leben zu

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Lania, der bereits mit Béla Baläzs das Drehbuch zur Verfilmung der Dreigroschenoper durch G. W. Pabst (1931) verfasst hatte, verglich im PTB den Roman mit dem Realismus Swifts und schloss: »Der Roman ist ebenso unreal wie der Gulliver und der Don Quichotte und ebenso realistisch.« (Leo Lania, Brechts Dreigroschenroman, PTB Jg. 2 N° 355 v. 2.12.1934, S. 3f.; Rez. z. gleichn. Werk, Amsterdam 1934). - Das Motiv griff Brecht auf, als er sich bei J. R. Becher über die Verurteilung des Dreigroschenromans als »idealistisches« Werk - so Alfred Kantorowicz in Unsere Zeit Jg. 7 (1934) H. 12, S. 61 f. - beschwerte: »Ich habe der Parole Realismus zugestimmt, da ich glaubte, auch Swift und Cervantes realistische Autoren nennen zu können. Und ich dachte, idealistisch sei dann ein Werk, wenn das Bewusstsein als bestimmender Faktor für die jeweilige Realität der gesellschaftlichen Einrichtungen hingestellt wird.« (Brief an J. R. Becher, [dat. Anf. 1935], in: B. Brecht, Briefe, Bd. 1, a. a. O., S. 232.) Robert Breuer z. B. bezeichnete Walter Mehrings modellhafte Erzählung von der Diktatur der Lilahemden (Die Nacht des Tyrannen, Zürich 1937) als »romantische Novellenballade«! (Zur Problematik des Tyrannen, PTZ Jg. 2 N°531 v. 26.11.1937, S. 6). - Auch der politische Redakteur Carl Misch war mit Döblins erstem Band der Amazonas-Trilogie überfordert (Carl Misch, In der Wildnis des Amazonas-Stroms, PTZ Jg. 2 N° 385 v. 2.7.1937, S. 3; Rez. zu: A. Döblin, Fahrt ins Land ohne Tod, Amsterdam 1937). Alfred Döblin, »Prozess ohne Richter«, PTZ Jg. 2 N° 293 v. 31.3.1937, S. 4 (Rez. zu: Bernard von Brentano, Prozess ohne Richter, Amsterdam 1937). - Dagegen hatte F. C. Weiskopf die »Abstraktion nur eine zur künstlerischen Tugend gemachte ideologische Not« genannt und damit implizit eine Kritik des kommunistischen Systems in dem ambivalenten Werk ausgeklammert (Ja und Ja?, NWB Jg. 33 N° 21 v. 20.5.1937, S. 665-667, hier S. 667). Vgl. bereits Anm. 142 und 162 in diesem Kapitel.

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bewahren. (Ich spreche von den historischen Büchern, Romanen, Geschichtswerken, Träumereien der Emigration; in der stabilen Gesellschaft spielt die Historie eine andere Rolle.)' 7 9

Damit hatte Döblin den Rückgriff auf historische Stoffe im Exil eindeutig als Strategie einer privaten wie gesellschaftlichen - Krisenüberwindung legitimiert, wie er auch in seinem Vortrag Der historische Roman und wir am 15.6.1936 im Pariser SDS ausführte: An sich ist der historische Roman selbstverständlich keine Noterscheinung. Aber w o bei Schriftstellern die Emigration ist, ist auch gern der historische Roman. Begreiflicherweise, denn abgesehen vom Mangel an Gegenwart, ist da der Wunsch, seine historischen Parallelen zu finden, sich historisch zu lokalisieren, [...] die Neigung, sich zu trösten und wenigstens imaginär zu rächen. 18 "

Allerdings distanzierte er sich, radikaler noch als Feuchtwanger, von der Vorstellung vom historischen Roman als »gestaltende Geschichtsschreibung« (L. Marcuse). Geleitet von einem profunden Misstrauen gegen eine scheinbar objektive Historiographie181, machte Döblin seine Kritik des Historismus (»Mit Geschichte will man etwas«m) zur Grundlage einer Nivellierung genremässiger Grenzen zwischen »historischem« und rein fiktionalem Roman. Es bestehe nämlich, so Döblin, »kein prinzipieller Unterschied zwischen einem gewöhnlichen und einem historischen Roman. Der historische Roman ist erstens ein Roman und zweitens keine Historie.«183 Mit dieser pointierten Formulierung hatte Döblin, dessen Vortrag im Oktober 1936 im Moskauer Wort erschien, dort einigen Widerspruch provoziert, der, soweit er Georg Lukäcs betraf, erst verspätet an die Öffentlichkeit drang.184 Bislang völlig unbekannt ist dagegen die öffentliche Kontroverse, die Döblin 1936/37 in Wort und PTZ mit Kurt Kersten austrug. Schon im Vorfeld der Kontroverse hatten sich an Gustav Reglers Roman Die Saat Divergenzen zwischen beiden Kritikern hinsichtlich der Bewertung historischen Materials herauskristallisiert: Wo Kersten im Wort die Gestalt des Bundschuh-Führers Joss Fritz mit der Elle historischer Werke zum deutschen Bauernkrieg mass 185 , hatte Döblin Mo-

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Alfred Döblin, Historie und kein Ende, PTB Jg. 4 N° 754 v. 5.1.1936, S. 3 (auch in: A. D„ Schriften zu Ästhetik, Poetik und Literatur, a. a. O., S. 288-291). Druckfassung: A. Döblin, Der historische Roman und wir, DW Jg. 1 (1936) H. 4, S. 5 6 - 7 1 , hier S. 70 (auch in: A. D., Schriften zu Ästhetik, Poetik und Literatur, a. a. O., S. 2 9 1 - 3 1 6 ) . - Über den Vortrag referierte Iwan Heilbut, Der historische Roman und wir, PTZ Jg. 1 N° 6 v. 17.6.1936, S . 4 . »Eine Darstellung ohne Urteil ist nicht möglich, schon bei der Anordnung des Stoffs spielt das Urteil mit. Aber das Urteil hat seinen Grund im Historiker, in seiner Person, seiner Klasse, seiner Zeit.« (A. Döblin, Der historische Roman und wir, a. a. O.). Ebd., S. 63 (Hervorh. im Orig.). Ebd., S. 60. S. Georg Lukäcs, Der historische Roman, Berlin 1955, S. 296ff. (Lukäcs hatte sein Werk im September 1937 abgeschlossen, eine deutsche Ausgabe erschien jedoch erst nach dem Exil.) So hatte Kersten gefragt: »Deckt sich die historische Gestalt, wie sie Zimmermann und Engels sahen, mit dem Produkt Reglers? Sie müssen sich keineswegs decken [...]. Aber ist es

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nate zuvor in der PTZ eine parteilich-selektive Verwertung historischer Quellen im Namen künstlerischer Gestaltung186 zugelassen und vor einer unbedingten Objektivität der Darstellung gewarnt: [...] das Falscheste, Unwahrste und Blasseste, die völlige Lebensunfähigkeit ist die Objektivität, man kann mit ihr nichts anfangen. - Blut, Rückgrat und Gesicht kommt nur v o m Willen und der sicheren Einstellung des Autors, - man hüte sich davor, vollständig und >gerecht< sein zu wollen. Praktisch bedeutet das in der Regel, seinen ganzen Farbkasten wegwerfen. 1 8 7

Die Rezension illustrierte Döblins theoretische Position zum historischen Roman, während Kersten, selbst Autor zahlreicher historisch-biographischer Werke, die Forderung erhob, »aus dem überlieferten Tatsachenmaterial eine Dichtung zu schaffen« 188 . Zur direkten Konfrontation führte dann im Februar 1937 Döblins /TZ-Beitrag Kritisches über zwei Kritiker, in dem er zur Auseinandersetzung mit der kommunistischen Literaturkritik, namentlich Lukäcs189 und Kersten, ausholte. Den Anlass hatte Kerstens scharfe Kritik im Wort an Stefan Zweigs Roman Castellio gegen Calvin geliefert, in dem Zweig Humanismus und protestantischen Dogmatismus gegenübergestellt hatte. Denn nicht Castellio, sondern Calvin erachtete Kersten als den »grosse(n) Ahnherr(n) des streitbaren Humanismus« und warf Zweig vor, die historischen Gestalten Castellios und Servets retouchiert, »ihre Verbindungen mit der Konterrevolution« weggelassen und für die Calvinfeindlichen »Sektierer« Partei ergriffen zu haben. Ästhetisch bemäntelte Kersten sein Urteil, indem er Zweig einer »idealistische(n) Darstellungsart, die sich erbittert gegen den Realismus auflehnt«, bezichtigte und darauf sein Verdikt begründete, Zweig habe sich der Methoden des »Pamphletisten, nicht des Geschichtsschreibers«190 bedient. - »Was fällt bloss unserem guten alten Kurt Kersten ein?«, entrüstete sich Döblin in der PTZ. »Muss er [...] das wirklich brillant geschriebene [...] Buch herunterreissen? Und warum? Es entspricht nicht der Doktrin.« Denn Friedrich Engels zähle nun einmal Calvin und nicht Castellio »zu den >grossen progressiv wirkenden Figuren der Geschichten Und da heisst es Maul halten und sich verbrennen lassen«, kommentierte Döblin gereizt die marxistische Geschichtsschreibung. Seine ethisch-moralische Deutung und stark aktualitätsbezogene Lektüre von Zweigs Werk machten ihm Kerstens Argumentation fragwürdig:

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erlaubt, eine historische Figur wesentlicher Züge zu berauben, vor allem wenn sie an revolutionäres W e s e n rühren?« (Kurt Kersten, Konspiration und Revolution, DW Jg. 1 ( 1 9 3 6 ) H. 1, S. 8 1 - 8 4 , hier S. 83; Rez. zu: Gustav Regler, Die Saat, Amsterdam 1936). Döblin hatte dies in seiner Schrift Der historische Roman und wir (a. a. O., S. 68) auf den Begriff der »Parteilichkeit des Tätigen« gebracht. Alfred Döblin, D i e Saat, PTB Jg. 4 N° 859 v. 19.4.1936, S. 3 (Rez. zu: Gustav Regler, D i e Saat, Amsterdam 1936). Kurt Kersten, Konspiration und Revolution, a. a. O., S. 83. Zu Döblins Kontroverse mit Lukäcs vgl. Abschnitt C. dieses Kapitels. Kurt Kersten, Pamphletist und Geschichtsschreiber, DW Jg. 2 ( 1 9 3 7 ) H. 1, S. 9 4 - 9 7 (Rez. zu: Stefan Zweig, Castellio gegen Calvin. Ein Gewissen gegen die Gewalt, Wien 1936).

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Die geschichtliche >Progression< liege bei dem Henker [...], Recht ha(b)e er gegenüber seinem Opfer, dem Humanisten, der nach Toleranz schrie und den er vernichtete. [...] Aber wie kommt solche >Kritik< aus der Feder eines Emigranten? Diese Machtanbetung, Erfolganbetung, bei einem Geschlagenen? Etwas Geheimes, Schlimmes, steckt hinter solcher Kritik. Hat etwa vielleicht auch Kersten solche Despotie in petto? Optiert er etwa auch schon für irgendwelche Schizophrenien k la Calvin und Robespierre? Und Toleranz und Dogmenfeindschaft laufen falsch?1"

Döblins unverblümter Vorstoss konnte gerade wegen seiner Aufforderung zur Gegenrede 192 als Testfall gelten; einerseits nämlich für die Einstellung der kommunistischen Literaturkritik zum Humanismus und zu »bürgerlich-humanistischen« Autoren wie Zweig. (Hier hatte Döblin Widersprüche zwischen der theoretischen Berufung auf den Humanismus — Lukäcs hatte wiederholt auf die humanistische Tradition verwiesen, die im historischen Roman auflebe193 — und Kerstens praktischer Auslegung desselben aufgedeckt.) Andererseits war sie ein Prüfstein für den antifaschistischen Grundkonsens bürgerlich-sozialistischer und kommunistischer Literaturkritiker, der unter dem wachsenden Druck politischer Ereignisse zu zerbrechen drohte. Kerstens Replik in der PTZ bestätigte Döblins Befürchtungen: Nicht nur wiederholte dieser die im Wort geäusserten Vorwürfe gegen Zweig (»ein tief unsittliches Buch«), sondern er liess die Katze, von der Döblin metaphorisch gesprochen hatte, aus dem Sack: dass Zweig nämlich »im Grunde gar nicht Calvin und auch nicht Hitler meint(e)«.194 Der politische Verweischarakter der Äusserungen Kerstens war nun eindeutig. Sein Plädoyer für den »Genfer Diktator« Calvin, der den ehemaligen Freund und Bundesgenossen Castellio als »Schädling« und »Helfershelfer der Konterrevolution«195 auf dem Scheiterhaufen enden liess, wurde in der historischen Parallele zum Legitimationsversuch stalinistischen Machtgebrauchs vor einer befürchteten trotzkistischen »Unterhöhlung«196; der historischen Rechtfertigung Calvins korrespondierte die aktuelle Rechtfertigung der Moskauer Prozesse. In der Superposition zweier Zeitebenen geriet so nicht nur Zweigs historischer Roman, sondern auch die literaturkritische Rezeption des Werks zur Geschichtsparabel.

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Alfred Döblin, Kritisches über zwei Kritiker, PTZ Jg. 2 N° 244 v. 10.2.1937, S. 4. Döblin hatte geschrieben: »Lieber Kersten, wissen Sie, wem Sie da den Fehdehandschuh zuwerfen? Ich hoffe doch: sich selbst. Sprechen Sie noch einmal.« (Ebd.) Das Schlusskapitel von Lukäcs' Werk Der historische Roman (entst. 1937) war dem Humanismus gewidmet; 1938 schrieb er gar, der »historische Roman des deutschen Antifaschismus (sei) zur Verteidigung der humanistischen Ideale entstanden« (G. L., Der Kampf zwischen Liberalismus und Demokratie ..., a. a. O., S. 63). Kurt Kersten, Die Katze im Sack. Castellio gegen Calvin, PTZ Jg. 2 N° 272 v. 10.3.1937, S. 4. Die Qualifikative sind der Rezension Kerstens entnommen (K. Kersten, Pamphletist und Geschichtsschreiber, a. a. O., S. 95 u. 97). Vgl. z. B. Äusserungen wie die folgende: »Servet und Castellio forderten in einem Augenblick schwerster Gefahren von Calvin, der selbst seines Lebens nicht sicher war und den erbitterten Feind in den eigenen Mauern hatte, Toleranz; unbedingte, allgemeine Duldung forderten sie schlau unter Berufung auf Calvins eigene Lehren, um dem Gegner, der nur auf Calvins Untergang sann, die Bahn für die Angriffe freizumachen.« (Ebd., S. 96).

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Angesichts der zunehmenden Wertschätzung historischer Romane in PTB und PTZ wurden entschiedene Gegner wie Albert Ehrenstein in die Aussenseiterposition gedrängt. Seine abschätzige Äusserung, der historische Roman begnüge sich damit, den Leser »mit historisch gefärbtem spannendem Klatsch, gruseliger Weltgeschichte in Kriminalromanform, anekdotischem Mummenschanz, pikanten Einzelheiten sowie neuesten Lokalnachrichten aus dem Mittelalter oder jeder gerade zügigen Epoche«197 abzufüttern, verdient indessen zitiert zu werden, da sie das Problem historischer Stoffe verlagert. Denn nicht etwa politischer Aktivismus, sondern geistiger Elitismus (hier lagen letztlich Berührungspunkte mit Kurt Hillers Kritik des Genres198) veranlassten den ehemaligen Expressionisten Ehrenstein zur Ablehnung des historischen Romans. Von ihm zur Kolportageliteratur deklariert, vermochte der historische Roman ebenso wenig seiner Vorstellung gehaltvoller Literatur zu entsprechen, wie es die Serienromane eines Alexandre Dumas oder Eugène Sue taten.199 Dass Ehrenstein gerade die Vorläufer der Feuilletonliteratur vom Literaturkanon ausschloss, war für seine Haltung ebenso bezeichnend wie seine Einschätzung der Leserschaft historischer Romane: >Historische< Romane [...] sind meist eine Mischung aus geschichtlichem Klatsch und psychologischem Tratsch: in [lad] usum delphini - des halbgebildeten, gegenwartsabgewandten Durchschnittslesers. 200

Angesichts von Konzeption und Publikumsstruktur der Zeitung musste eine solche Äusserung durchaus provokatorisch wirken. Denn keineswegs auf ein akademisches Publikum ausgerichtet, hatten PTB bzw. PTZ gerade dem (klein-bürgerlichen »Durchschnittsleser« einen festen Platz eingeräumt und ihm historische Lesestoffe angeboten, deren fraglos populärste Variante neben dem Roman die in PTB und PTZ gleichfalls propagierte historische Biographie war. Historische Biographien: Redaktionelle Äusserungen brachten die Isoliertheit Ehrensteins rasch zutage; so etwa, wenn Carl Misch beteuerte, zwischen »Ranke und Emil Ludwig (sei) ungeheuer viel Platz«201, oder wenn Kurt Caro die »aus den Restbeständen der Geschichte hervorgesucht(en), entstaubt(en) und moderni-

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Albert Ehrenstein, o. T. [Buch-Besprechungen], Zum historischen Roman Alkibiades von Vinzens Brun, PTB Jg. 4 N° 894 v. 24.5.1936, S. 4 (Rez. z. gleichn. Werk v. V. Brun [i. e. Hans Flesch-Brunningen], Amsterdam 1936). Kurt Hiller, Zwischen den Dogmen, a. a. O. So schrieb Ehrenstein: »Extraleistungen der Genies, [...] unter den Epikern: Balzac, die wissenschaftliche Akribie und gründlich gelehrte Pedanterie Flauberts [...] sind nie so beliebt und populär geworden wie die aufregungsreichen Fortsetzungsromane der >Dumas< und >Sue< genannten Kolportageroman-Epidemien, die in der sozialeren Form >Victor Hugo< noch literarisch sind.« (A. Ehrenstein, o. T. [Buch-Besprechungen], Zum historischen Roman Alkibiades von Vinzens Brun, a. a. 0.). Albert Ehrenstein, Ballade vom Erzherzog, PTZ Jg. 3 N° 573 v. 7.1.1938, S. 6 (Rez. zu: Ludwig Winder, Der Thronfolger, Zürich 1938). C. M. (i. e. Carl Misch), Der historische Schriftsteller Walther Tritsch, PTZ Jg. 2 N° 223 v. 20.1.1937, S. 4 (Rez. zu: W. Tritsch, Karl V., Mährisch-Ostrau 1935; ders., Wallenstein, Mährisch-Ostrau 1936).

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siert(en)« historischen Figuren nur beklagte, um ein neues Historienwerk lobend dagegen abzusetzen202. Solch redaktionelle Rhetorik machte deutlich, dass PTB und PTZ für die historisch-biographische Belletristik äusserst aufgeschlossen waren. (Dagegen wurden Versuche dramatisierter Formen der Biographie 203 in Rezensionen nur ausnahmsweise, historische Dramatik204 gar nicht berücksichtigt.) Im Unterschied zur zeitgenössischen Biographik205 waren bei historischen Biographien die Übergänge zum Roman zumeist recht fliessend 206 ; doch selbst als Mischform stiess die biographie romancée in der Literaturkritik auf breite Zustimmung. Im Zentrum historischer Biographien standen Lebensdarstellungen gekrönter Häupter sowie Personen der Literatur- und Kulturgeschichte. Erstere wurden durchweg als historisch-biographische Unterhaltungslektüre rezipiert und von den Rezensenten nach sensationsträchtigen Ankündigungen wie »Messalinalegende« 207 und »kluger Diplomat und wildes Tier«208 als Illustrationen eines ewigen Macht- und Geschlechterkampfs dem Publikum nahegebracht. Letztere erfuhren vor allem eine kritische Prüfung hinsichtlich der Aktualität und Aussagekraft ihrer Personen für die Gegenwart. Dies war der Fall in Besprechungen von Werken wie Max Brods Heinrich Heine, Erich Kuttners Hans von Marées oder Siegfried Kracauers Jacques Offenbach, bei denen die gesellschaftliche Analyse das Niveau hagiographischer Künstlerbiographien, wie dies etwa die Musikerporträts Paul Stefans waren, weit überschritt.209 Der von den Rezensen-

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M. H-t. (i. e. Kurt Caro), Katharina die Grosse, PTB Jg. 3 N° 530 v. 26.5.1935, S. 4 (Rez. zu: Gina Kaus, Katharina die Grosse, Amsterdam 1935). ™ (Redaktionell), Szenen aus Heines Leben, PTZ Jg. 2 N° 369 v. 17.6.1937, S. 4 (Rez. zu: Felix Frey, Heinrich Heine. Spiel in elf Bildern, Paris 1937). 204 Lediglich in Abdrucken und Theaterkritiken wurden solche präsentiert (vgl. z. B. PTB Jg. 3 N° 600 v. 4.8.1935, S. 3 zu Arnold Zweigs Drama Napoleon in Jaffa). 205 An zeitgenössischer Biographik exilierter Autoren wurden u. a. Werke über Personen aus Politik (Erich Mühsam in PTB N° 456, Feldmarschall Hindenburg in PTB N ° 5 1 2 , Felix Fechenbach in PTZ N° 97, Carl von Ossietzky in PTZ N ° 2 1 6 , Louis Barthou in PTZ N° 656), aus der Rüstungsindustrie (Basil Zaharoff in PTB N° 348, Alfred Krupp in PTZ N° 321) und aus der Literatur (Franz Kafka in PTZ N° 503; R.M. Rilke in PTZ N° 1211) rezensiert. 206 So wurde z. B. Bruno Franks historischer Roman Cervantes (Amsterdam 1934) von der Kritik als »biographischer Roman« und »romanhafte Form der Biographie« gelobt (Peter Bolz [i. e.?], Die Geburt des Don Quixote, PTB Jg. 3 N° 4 2 8 v. 13.2.1935, S. 4). 207 Vgl. die Rezensionen von M. H-t. (i. e. Kurt Caro), o. T. [Buchbesprechung], PTB Jg. 3 N° 530 v. 26.5.1935, S. 4 (Rez. zu: Gina Kaus, Katharina die Grosse, Amsterdam 1935). egrt. (i. e. Erich Kaiser), Alfred Neumann: »Königin Christine von Schweden«, PTB Jg. 3 N° 373 v. 20.12.1934, S. 3 (Rez. zum gleichn. Werk, Amsterdam 1934). - M. H-t. (i. e. Kurt Caro), o. T. [Buchbesprechungen], PTB Jg. 3 N° 373 v. 20.12.1934, S. 4 (Rez. zu: Karl Tschuppik, Maria Theresia, Amsterdam 1934). 208 gw. (i. e. Georg Wronkow), o. T. [Buchbesprechung], PTB Jg. 3 N° 740 v. 22.12.1935, S. 3 (Rez. zu: K. Kersten, Peter der Grosse, Amsterdam 1935). - Wronkow ist durch die Honorarabrechnung in BAP, PTZ, N° 85, Bl. 116 (20 Francs) als Rezensent ausgewiesen. Ein Buchauszug erschien in PTB Jg. 3 N° 747 v. 29.12.1935, S. 4. 209 Vgl. die Rezensionen von -eo- (i. e. Manfred Georg), Beschwörung des Dichters, PTB Jg. 3 N° 4 0 4 v. 20.1.1935, S. 3f. (Rez. zu: Max Brod, Heinrich Heine, Amsterdam 1934; daneben-

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ten herausgearbeitete Konflikt zwischen Deutschtum und Judentum, preussischem Provinzialismus und jüdischer Weltgewandtheit suchte die Grundthese nahezulegen, dass die Deutschen ein »Volk ohne Raum für seine besten Geister« 210 seien. Auf diesen suggerierten Gegensatz von Geist und Macht, »heimlichem« und »offiziellem« Deutschland nicht einlassen mochte sich Alfred Döblin, als er - aus damals zionistischer Sicht - an Otto Zareks Moses Mendelssohn die historischen Wurzeln jüdischer Assimilation in Deutschland untersuchte und die »Leisetreterei« des »Leithammels« Mendelssohn als fatal für die ganze Judenemanzipation bezeichnete.211 Indem die Literaturkritik historische Personen wie die genannten einer kritischen Revision unterzog, suchte sie sichtlich zur Klärung »jüdischen Schicksals in Deutschland« (so Zareks Untertitel) sowie zur Wiederentdeckung historischer Vorbilder für die deutsche Emigration in Frankreich bzw. Paris beizutragen. Hier lieferten die Personen Heines und Börnes, die ja nicht nur als jüdische Intellektuelle, sondern auch als Repräsentanten der demokratischen Emigration zwischen 1830 und 1848 für die Emigranten nach 1933 reklamiert werden konnten, Identifikationsmuster, die in einer Fülle monographischer Beiträge herausgestellt wurden. 212 Die historische Biographik eröffnete so einen Zugang zu den Autoren des Jungen Deutschland und des Vormärz, zu den deutschen Republikanern und Anhängern der Französischen Revolution, die in der Folge unter dem Aspekt des literarischen Erbes einer konsequenten Reaktualisierung unterzogen wurden. Exemplarisch hierfür kann die Börne-Rezeption durch Ludwig Marcuse gelten, der in dem »grosse(n) deutsche(n) Emigrant(en)« und »glänzende(n) Publizist(en) von 1830« einen Bundesgenossen »im Kampf gegen die deutschen Unterdrücker« wiederentdeckte, »dessen Bücher die Väter und Grossväter schon in den Ecke [sie] ihrer Bücherschränke hatten verstauben lassen«213. Allerdings entsprach der Erbebegriff, der in der Mehrzahl der literaturhistorischen Beiträge in PTB und PTZ am Wirken war, nicht dem selektiv-normativen

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stehend Alfred Kerrs Rezension zu: Antonina Vallentin, Henri Heine, Gallimard 1934). - Paul Westheim, Hans von Marées zum 50. Todestag, PTZ Jg. 2 N° 359 v. 6.5.1937, S. 4 (Rez. zu: Erich Kuttner, Hans von Marées. Die Tragödie des deutschen Idealismus, Zürich 1937). Carl Misch, Jacques Offenbach und sein Paris, PTZ Jg. 2 N° 355 v. 2.6.1937, S. 4 (Rez. zu: Siegfried Kracauer, Jacques Offenbach und das Paris seiner Zeit, Amsterdam 1937). - Vgl. daneben z. B. P. Stefans Dvorak. Leben und Werk (Wien 1938), das der nach Tel Aviv emigrierte Rechtsanwalt Dr. Max Strauss in PTZ N° 733 rezensierte. Paul Westheim, Hans von Marées zum 50. Todestag, a. a. O. Alfred Döblin, Moses Mendelssohn, PTB Jg. 4 N° 873 v. 3.5.1936, S. 4 (Rez. zu: Otto Zarek, Moses Mendelssohn - ein jüdisches Schicksal in Deutschland, Amsterdam 1936). S. auch die Reaktion von Otto Basler auf Döblins Beitrag (Um Moses Mendelssohn, PTB Jg. 4 N° 900 v. 30.5.1936, S. 4). Ohne hier auf die Rezeption näher eingehen zu wollen, sei auf zwei repräsentative Beiträge verwiesen: Arthur Seehof, De l'Allemagne 1835-1935. Ein Heine-Jubiläum, PTB Jg. 3 N° 439 v. 12.2.1935, S. 3; Emil Szittya, Die Spelunken, in denen Börne Demokratie predigte. Aus dem Leben eines Emigranten, PTB Jg. 2 N° 236 v. 5.8.1934, S. 4. Ludwig Marcuse, Ein grosser deutscher Emigrant. Ludwig Börne starb vor hundert Jahren, / T Z Jg. 2 N ° 2 4 8 v. 14.2.1937, S. 3f.

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Begriff, den Lukäcs in den 30er Jahren definiert hatte.214 Denn als »Erbmasse« wurde — und insofern rekurriert der Begriff eher auf Franz Mehring - zunächst die sogenannte »fortschrittliche bürgerliche Kunst« aus den Perioden von Aufklärung, Klassik und Vormärz herangezogen: Neben Heine und Börne wurden etwa auch Herwegh, Gutzkow, Hoffmann von Fallersleben sowie die Klassiker Goethe und Schiller für die Emigration reklamiert.215 Die Avantgarde hingegen wurde - im Unterschied zur kommunistischen Literaturkritik — nicht rigoros vom Erbe ausgeschlossen216, wie schliesslich überhaupt nur die wenigsten Rezensenten die Finalität des kommunistischen Erbebegriffs, nämlich die Kanonisierung einer genuin sozialistischen Literatur, befürworteten. Die in PTB und PTZ dominierende Konzeption des Erbes war damit keine klassenkämpferische, sondern eher eine (historisch der Sozialdemokratie verpflichtete) Vorstellung vom Erbe als »Kulturgut und >geistigem Schatz«OblomowKrieg und Friedenutileinquietudesur-realistischen< Sümpfen glimmt(e)«286, zu folgen, befand Hardekopf. 287 Teilte er zwar die Wertschätzung Cocteaus mit Klaus Mann, so muss doch sein abfälliges Urteil über die Avantgarde erstaunen. Denn schliesslich hatte Hardekopf selbst einst in expressionistischen Blättern debütiert

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Cocteau zählte, neben André Gide und Julien Green, auch schon vor dem Exil zu den literarischen Freunden Klaus Manns; dessen Portraits-Souvenirs erwähnt er erstmals in der Tagebuch-Eintragung vom 9.2.1935: »Bei COCTEAU. Wie gut er mir wieder gefiel. Er ist ziemlich gealtert; klagt über Geldnot. Aber der alte Zauber. Seine >Portrait [sie] Souvenirs< im >Figarobiographie romancée«< hielt der 1935 erschienene Voltaire nicht stand. Dabei monierte Hardekopf weniger die geradezu »pharmazeutische Routine, die ein Geheimnis des Stilisten Maurois bleib(e)«, als das ironisch-distanzierte Porträt des grossen Philosophen: [...] wie entfernt hält sich Maurois' kühle Abgewogenheit von der brennenden VoltaireBewunderung eines Arthur Schopenhauer und von dem aufregenden staccato-Pathos, das in Heinrich Manns Sätzen hämmert, wenn sie dem Genie und dem Mute des grossen Freigeistes huldigen! 314

Auf diese Weise zwei Rezeptionsmuster konfrontierend - den »paradoxen« Voltaire Maurois' und den deutschen »Rebellen« Voltaire, der »ein Insurektioneller gewesen (sei) und ein erhabenes Vorbild des reinen, des klaren, des freien Gedankens« - , fällte Hardekopf sein Urteil über Maurois: Er sei »Voltairianer des Stils, kaum des Herzens« 315 . - Ebenso kritisch prüfte Klaus Mann eine Jesus-»Biographie« von François Mauriac. Das Buch des christlich-konservativen Autors, der seit 1933 Mitglied der Académie Française war, stellte bereits formal eine Herausforderung dar: eine »lyrisch bewegte Interpretation der Heiligen Schrift« nannte Klaus Mann das Werk, »halb Kirchenlied, halb Roman«. Als Stärke des Buchs empfand er den »ethischen Radikalismus« Mauriacs, doch schreckte ihn seine jansenistisch-strenge Einstellung zu Sünde und Sexualität. Aus diesem Grunde nannte er Mauriacs Vie de Jésus ein »auf den Knien« geschriebenes, »erschreckend zeitfremdes, naives und starr-bigottes Buch«, dem jeder »Schatten eines aufklärerischem, wissenschaftlichen Geistes« fehle: Überdruss an der Vernunft; Feindschaft gegen die Vernunft; dergleichen kennen wir doch, und dies gibt es also auch in Frankreich, und selbst in der Akademie. Glaube statt Erkenntnis - oder Glaube als die letzte Erkenntnis? - : es ist die grosse Mode der Zeit, und vielleicht ist es mehr als nur die grosse Mode. Freilich, hüten wir uns davor, die Gläubigkeit des Katholiken [...] mit der zerstörerischen Vernunftfeindlichkeit der >RasseRasseGriffAction Française^ das »stürmische Lebern Georges Clemenceaus beschrieben hat318,

schrieb Misch, sich direkter Attacken gegen Daudet enthaltend. Doch konfrontierte er zwei Nationalismuskonzepte, ein revolutionär-republikanisches und ein katholisch-romantisches, die er in »symbolische(r) Kennzeichnung des geistigen Standortes« zum Gegensatz von »Jakobinern« und »Jesuiten« zuspitzte. Indem er Clemenceau als Jakobiner interpretierte, der zur »Verkörperung des Französischen geworden« 319 sei, machte Misch sich zum Verteidiger des Jakobinismus - auch gegen die reaktionäre Rechte der Action Française. Mit Maurois, Mauriac und Daudet hatte die Literaturkritik drei Tendenzen der französischen Rechten, von der traditionellen, der klerikalen bis zur profaschistischen Richtung, vorgestellt. In allen drei Fällen hatten die Rezensenten eine Gegenposition eingenommen und sich dabei auf die Aufklärung (Hardekopf, K. Mann) und die jakobinisch-laizistische Tradition der Französischen Revolution (Misch) gestützt. Diese politisch-historische Referenz auf Aufklärung und Revolution diente dem »Import« bzw. der Verstärkung ideologischer Werte, die die Rezensenten unter ihrem Lesepublikum zu verankern suchten. Fiktionale Prosaformen: Die Spitzenstellung, die Prosaformen unter der Literatur des 20. Jahrhunderts einnahmen, spiegelte sich in den rezensierten französischen Titeln wieder: Romane bildeten (neben einigen Novellen) den Schwerpunkt. Unter allen Literaturformen bot die epische Form die umfassendste Möglichkeit, gesellschaftliche Wirklichkeit in ihrer Komplexität darzustellen. Von ihr konnten Kritiker und Leser am ehesten erwarten, dass sie in der fiktionalen Gestaltung eine Analyse der französischen Gesellschaft und der sie bewegenden Fragen gebe. Eine Rasteranalyse der rezensierten Romane nach ihren sozialen Handlungsträgern sowie ihrem geographischen und zeitlichen Rahmen fördert bereits einige Anhaltspunkte zutage. Am breitesten angelegt war der Versuch, gesellschaftliche Realität darzustellen, in den der Tradition der Gesellschaftsromane des 19. Jahrhunderts entsprungenen Romanzyklen320, die über mehrere Generationen und

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Maurras, einer der Begründer der Action Française, wurde lediglich im politischen Teil von PTB und PTZ erwähnt; hier wurde auch seine Wahl in die Académie Française - mehr zwischen den Zeilen als explizit - kommentiert (Redaktionell, Maurras in die Académie française gewählt, PTZ Jg. 3 N° 708 v. 10.6.1938, S. 2). 1945 wurde Maurras als Kollaborateur von ihr ausgeschlossen. Carl Misch, Clemenceau durch die Brille Daudets, PTZ Jg. 3 N° 739 v. 17./18.7.1938, S. 3f. (Rez. zu: Léon Daudet, La Vie orageuse de Clemenceau, Paris 1938). Ebd. S. die Rezensionen in PTB N° 355 u. PTZ N° 881 (Jules Romains) und PTZ N° 355 (Roger Martin du Gard). - Vollständige Nachweise dieser und nachfolgend aufgeführter Rezensionen im Titelverzeichnis.

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Handlungsorte hinweg verschiedene Schichten der französischen Gesellschaft zeichneten. Durch ihre sozialen Träger stärker eingegrenzt und teils auf ein spezifisches Milieu reduziert waren Romane, in deren Zentrum das Bürgertum321, die Arbeiterschaft 322 , Bauern323 oder Studenten324 standen. Aristokraten325 fehlten fast völlig; dagegen behandelten mehrere (in der Tradition des psychologischen Romans und des Entwicklungsromans stehende) Werke die soziale und moralische Dekomposition 326 des Bürgertums bzw. politische oder soziale Konflikte zwischen Arbeiter- und Bürgertum (so im proletarischen und im sozialen Roman) 327 . Erwartungsgemäss bildete Frankreich den geographischen Rahmen der meisten rezensierten Romane. Die Grossstadt bzw. Paris328 trat als Handlungsort aber deutlich zurück hinter Provinz329 und Kleinstadt330 bzw. wurde von der Vorstadt (insbesondere den Pariser Arbeitervororten)331 verdrängt. Eine Besonderheit stellte der Kolonialroman332 dar. Ausserhalb Frankreichs fanden sich neben einigen exotischen Ländern, die häufig die Kulisse für Abenteuer- oder Unterhaltungsromane 333 boten, Deutschland334 und die Sowjetunion 335 als Handlungsorte; Spanien dagegen fehlte. Die Handlungszeitebene der Romane zeigt schliesslich, dass die rezensierten Werke fast ausnahmslos auf Gegenwart oder Zeitgeschichte (Erster Weltkrieg) bezogen und historische Stoffe 336 nur in wenigen Titeln bearbeitet waren.337

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Vgl. u. a. die Rezensionen in PTZ N° 251, 279, 300, 362, 721 u. 738 (Werke von Troyat, Laporte, Mazeline, Drieu La Rochelle, Chenevière, Sikorska). S. die Rezensionen in PTZ N° 139, 300, 314, 321, 440, 545, 798 (Werke von Palu, CoulletTessier, Garmy, Monnier, Rémy, Audoux und Poulaille). S. die Rezensionen in PTB N° 34, 68 u. PTZ N° 167, 230, 286, 559 u. 566 (Werke von Aymé, Braibant, Lacretelle, Hervieu, R. de Jouvenel, Vincent u. Giono). S. die Rezensionen in PTZ N° 230, 300 u. 780 (Werke von Millet, Vivian und Castel). S. die Rezension in PTZ N° 251 (Saint-Hélier). S. u. a. die Rezensionen in PTZ N° 31 u. 199 (Céline), N° 362 (Drieu La Rochelle) u. N° 905 (Nizan). S. die Rezensionen in PTZ N° 237, 810 u. 893 (Werke von Thomas, Lefèvre u. Millet). S. die Rezensionen in PTZ N° 139 u. 300 (Werke von Queneau und de Miomandre). S. den ausgeprägten Regionalismus in den Romanen von Aymé und Giono (PTB N° 34 u. PTZ N° 566). S. u. a. die Rezensionen in PTZ N° 314 u. 419 (Werke von Garmy und Simenon). S. z. B. die Rezensionen in PTZ N° 279, 300, 545 u. 810 (Werke von Fauchet, CoulletTessier, Audoux und Lefèvre). S. die Rezension in PTB N° 229 (Benoit). S. u. a. die Rezensionen in PTZ N° 132, 139, 251, 341 und 419 (2 Titel) (Werke von Francis, Bourget-Pailleron, Sainte Soline, Guilloux, Guirec und Reyer). S. die Rezensionen in PTB N° 320 (Marguerite) und PTB N° 607 u. 901 (Malraux). S. die Rezensionen in PTZ N° 341 u. 398 (Werke von Pozner und Téry). S. die Rezensionen in PTZ N° 314, 341, 362, 774, 1025, 1043 u. 1072 (Werke von Arnoux, Rageot, Martet, Hermant, Rolland, Aron u. Ransan). Eine Gliederung nach zeitgenössischen und historischen Stoffen, wie im vorausgehenden Kapitel zur Exilliteratur vorgenommen, wäre daher unergiebig gewesen.

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Das Raster weist für die rezensierten französischen Romanwerke signifikante stoffliche Unterschiede zur Exilprosa auf: Sie waren stark auf aktuelle, schichtoder klassenspezifische Probleme zwischen Arbeitern und Bürgertum, zwischen bürgerlicher (Haupt-)Stadt und proletarischer Vorstadt orientiert, vor denen das in den Romanen des Exils dominante Problemfeld Faschismus/Antifaschismus in den Hintergrund trat. Die beschriebene stofflich-thematische Orientierung der rezipierten Romane, die weitgehend mit den tragenden Gesellschaftsthemen im Frankreich der 30er Jahre korrespondierte, legt damit freilich eine Hypothese nahe: dass nämlich die (im Hinblick auf das französische Sozialgefüge) akkulturierende Funktion dieser Romane in Konkurrenz, wenn nicht in Kontradiktion zur propagandistisch-militanten Funktion antifaschistischer Literatur stand.338 Als erster Beweis mag hierfür der Umstand gelten, dass französische Spanienromane überhaupt nicht, Deutschlandromane nur in geringem Umfang rezipiert wurden. Über diese literatursoziologisch fassbaren Unterscheidungsmerkmale hinaus boten die rezensierten französischen Romane jedoch auch als ästhetische Produkte, die einer fremden (französischen) Literaturtradition angehörten, Ansatzpunkte für die literaturkritische Diskussion. Es stellt sich also die Frage, wie die Rezensenten von PTB und PTZ auf genuine Tendenzen des französischen Romans der 30er Jahre reagierten bzw. ob ihre Auseinandersetzung mit französischen Romanen für die ästhetischen Probleme, die sich bei der Bewertung der Exilliteratur aufgetan hatten, produktive Impulse lieferte. Romanzyklen: Im Vergleich zu den in der Rollandschen Tradition des roman fleuve339 stehenden Werken eines Roger Martin du Gard oder eines Jacques de Lacretelle war der 27bändige Zyklus Les Hommes de bonne volonté von Jules Romains mit seiner komplexen, parallele Handlungsstränge über breite Bände entwickelnden Struktur der formal weitestgehende Versuch jener Zeit, ganze Gruppen der französischen Gesellschaft zwischen 1908 und 1933 zu analysieren.340 Als »Romanenzyklopädie« bezeichnete deshalb Max Hochdorf das Projekt in einer Besprechung der ersten acht Bände. Aufmerksam studierte er den von der Massenpsychologie beeinflussten Unanimismus341 am Werk. »Psychologisch begreifen will er das ganze französische Volk, die vierzig Millionen, die 1910 an der Kulturarbeit sind«, schrieb Hochdorf und hob speziell die Jugendgeneration hervor, die Romains zufolge orientierungslos zwischen den »Kutten-

" 8 S. dazu auch Abschnitt B. dieses Kapitels. 339 Rezensiert wurde ein Werk des Zyklus Les Thibault (8 Bde., 1922-1940) von Roger Martin du Gard (Hans Jacob, Sommer 1914, PTZ Jg. 2 N° 355 v. 2.6.1937, S. 4; Rez. zu: R. Martin du Gard, L'Eté 1914, Paris 1936) und Les Hauts-Ponts (4 Bde., 1932-1935) von Jacques de Lacretelle (Francisco Amunategui, Jacques de Lacretelle - Mitglied der Akademie, PTZ Jg. 1 N° 167 v. 25.11.1937, S. 4). - Nicht von der Literaturkritik berücksichtigt wurde die ebenfalls hierher gehörende Chronique des Pasquier von Georges Duhamel (10 Bde., 1933-1941). 340 Von dem 27bändigen Zyklus Les Hommes de bonne volonté (1932-1946) waren bis Ende 1939 18 Bände erschienen. 341 Jules Romains, La Vie Unanime, Paris 1908. - Der von Romains entwickelte Unanimismus galt der ab 1906 versammelten Groupe de l'Abbaye, der u. a. René Arcos, Georges Duhamel und Charles Vildrac angehörten, als theoretisches Programm.

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trägem« des Klerus und dem »Evangelium der roten Internationale« schwanke. Was Romains konstatiert habe, das sei »die Unruhe der Kampfkadres, Maurice Barrés würde sagen: die Wurzellosigkeit.« Seit seinem Erscheinen im Jahre 1897 galt Barrés' Tendenzroman Les Déracinés, der die geistige und soziale Haltlosigkeit einiger Provinzjugendlicher in der Grosstadt Paris schilderte, als Symbol einer desorientierten, republikmüden Jugendgeneration.342 Doch über die Parallelen einer politischen Analyse hinaus ging es dem Rezensenten offenbar darum, Jules Romains mit der antidemokratisch-nationalistischen Ideologie Barrés' in Verbindung zu bringen. Die Auseinandersetzung mit der französischen Jugend geriet so zum Tribunal gegen Romains: Er betreibt eine mathematisch-psychologische Literatur, die immer in Frankreich gedieh, eine Literatur, [...] der sich die Jugend 1934 mit Anhänglichkeit widmet. Ja, sogar mit Fanatismus ... Diese Jugend findet Victor Hugo zu dumm und Anatole France zu leichtsinnig [...]. Sie ist entschlossen, die souveräne Phantasie, die mit der Glut des Gefühls gemischt ist, geringer einzuschätzen als die Instinkte des Herrentums. Sie hält die Nationalökonomie für wichtiger als die tiefste Eremitenerfahrung. Und deshalb ist Jules Romains ihr Liebling.343

Ungleich positiver wertete Berthold Biermann 1938 zwei spätere Bände des Zyklus über die Weltkriegsjahre. »Wer Frankreich, seine geistigen Probleme und Tendenzen, wirklich verstehen will, kann an Jules Romains' Werk nicht vorübergehen«, befand er in der PTZ. Doch sein ästhetisches Urteil war durchaus widersprüchlich. So kritisierte Biermann einerseits, dass der »soziologische Aufbau immer mehr von der psychologischen Schilderung überdeckt worden« sei. Die reale Welt interessiert den Dichter nur in ihrer Spiegelung im menschlichen Gehim. Die Aktion ist nur als Anlass zur Diskussion wichtig, und die Hauptstücke bilden eigentlich die inneren Monologe.

Doch gleich danach behauptete er, Romains bewahre [...] bei seiner psychologischen Bohrarbeit immer den Zusammenhang mit der Wirklichkeit, denn er will keine Ausnahmefälle geben, sondern Alltagsmenschen. Im Grunde ist in diesen Romanen nicht viel erfunden, es wird nur transponiert. Erlebnisse der realen Welt auf Phantasiefiguren verteilt.344

Damit hatte Biermann Romains' Unanimismus im Grunde als eine hybride Form des roman psychologique definiert, die entgegen der individualpsychologischen Tradition des Genres ihre Motive aus der »realen Welt« beziehe. Als psychologi-

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Les Déracinés (1897) war der erste Band der Trilogie Le Roman de l'énergie nationale, in der Barrés seine boulangistisch-nationalistische Ideologie literarisch umsetzte. Dr. Max Hochdorf, 8 Bände Jules Romains, PTB Jg. 2 N° 355 v. 2.12.1934, S. 3 (Rez. zu: Jules Romains, Les Hommes de bonne volonté, Bd. 1-8, Paris 1932-1934). B. B. (i. e. Berthold Biermann), Der Balzac der Gegenwart, PTZ Jg. 3 N° 881 v. 31.12.1938, S. 4 (Rez. zu: Jules Romains, Les Hommes de bonne volonté Bd. 15 u. 16, beide Paris 1938). - Eine Honorarforderung v. 12.1.1939 weist Biermann als Autor aus (BAP, PTZ, N° 67, Bl. 19).

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scher Realismus wurde nun ein Verfahren positiv bewertet, das 1934 noch als »mathematisch-psychologische Literatur« abgelehnt worden war. Biermanns Intention trat deshalb nur um so deutlicher hervor: zwischen der französischen Tradition des psychologischen Romans und dem Postulat realistischer Schreibweise, das sich 1937/38 in der PTZ durchgesetzt hatte345, zu vermitteln. Dies geschah ganz im Sinne eines reaktualisierten Erbes — im Rekurs auf die Realisten des 19. Jahrhunderts: Romains wurde zum »Balzac der Gegenwart« 346 deklariert. Ausserdem — und dies war nicht minder wichtig - fehlte in Biermanns Rezension jede Spur politischer Polemik. Die Erklärung hierfür dürfte in der gründlich veränderten Haltung Jules Romains' gegenüber der deutschen Emigration zu suchen sein.347 Psychologischer Roman: Wie an der Rezeption Romains' bereits absehbar, begegnete die Literaturkritik dem traditionellen psychologischen Roman mit grosser Zurückhaltung. Bekannte Vertreter dieser Richtung fehlten entweder ganz 348 oder wurden mit der »Schule der Klassiker« (und das sollte heissen: der blutlosen Sprachstilisten)349 assimiliert. Im Vergleich zu neuen literarischen Impulsen der 30er Jahre schien der psychologische Roman einigen Rezensenten nachgerade veraltet.350 Kaum besser stand es um die Stoffe psychologischer Romane, die ausnahmslos im bürgerlichen Milieu angesiedelt waren. Eine in »endlos(e) Meditationen [...] über die Strategie der Gefühle« 351 verlorene jeunesse dorée, alternde oder neurasthenische Frauengestalten352, zerrüttete bürgerliche Familien 353 — über allen wehte der Hauch der Dekadenz und des Zerfalls.

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S. dazu bereits Kap. 5.1. B. B. (i. e. Berthold Biermann), Der Balzac der Gegenwart, a. a. O. - Romains selbst hatte im Vorwort seines Zyklus seinen »unanimistischen« Roman gegen Balzacs Konzeption der Comédie humaine abgegrenzt. Jules Romains war im November 1934 als Gast der Reichsregierung nach Deutschland gereist. Diese Reise sowie die betont apolitische Haltung, die Romains als internationaler PEN-ClubPräsident vertrat, hatten zunächst zu seinem negativen Bild unter den Emigranten beigetragen. Die Wende brachte der Prager PEN-Kongress 1938, als sich Romains der Teilnahme Marinettis widersetzte (vgl. den Bericht von Oskar Maria Graf, Nachklänge zum PEN-Kongress [1]938, PTZ Jg. 3 N° 734 v. 10/11.7.1938, S. 3). Im November 1938 unterzeichnete er dann einen offiziellen Protest des PEN-Clubs gegen die Judenverfolgungen in Deutschland (redaktionelle Notiz in PTZ Jg. 3 N° 844 v. 17.11.1938, S. 1). - Die Rezension Hochdorfs war im Monat nach der Deutschlandreise, die von Biermann nach dem PEN-Protest erschienen. Nicht rezensiert wurden z. B. Werke der konservativen Autoren Jacques Chardonne und Marcel Arland. Francisco Amunategui, Jacques de Lacretelle - Mitglied der Akademie, a. a. O. Vgl. z. B. die Kommentare von Alexander Benzion (Goncourt-Preis 1933, PTB Jg. 2 N° 34 v. 14.1.1934, S. 3f.) und von Francisco Amunategui, Neue französische Romane, PTZ Jg. 2 N° 279 v. 17.3.1937, S. 4 (Sammelrezension zu: Raymond Fauchet, Abeille Guichard, Raymond Guerin und René Laporte). Francisco Amunategui, Neue französische Romane, a. a. O. (zu: Abeille Guichard, David, Paris 1936). Ebd. (zu: Raymond Guerin, Zobain, Paris 1936 und René Laporte, Les Chasses de novembre, Paris 1936. Laporte erhielt den Prix Interallié für das Buch). »Eine grossbürgerliche Familie zersetzt sich«, kommentierte F. Amunategui den Niedergang der Reedersfamilie Donadieu, den der Kriminalautor Georges Simenon schilderte (Neue

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Auf die gesellschaftspolitische Ebene transponiert fanden sich diese Motive bei Pierre Drieu La Rochelle in seinem Werk Rêveuse Bourgeoisie, das den wirtschaftlichen Ruin des Grossbürgertums und den Verlust seines gesellschaftlichen Führungsanspruches vorführte. Als »Geschichte einer Konventionsehe, die schlecht ausgeht«, resümierte Francisco Amunategui den Roman vom Niedergang einer reichen Erbin und eines strebsamen Provinzlers und unterstrich dabei die »Gefahr für gewisse Klassen, in einer abgesonderten Welt zu leben«. Auch die literarischen Qualitäten des Buchs beurteilte er zustimmend: »... zunächst einmal ist das Buch angenehm, und mit einer Menschlichkeit, die Tristan Bernard entlehnt zu sein scheint.« Sein Fazit lautete: »Was bleibt, als wesentlicher Eindruck, ist: ein sehr starkes Buch.« 354 Ein solches Urteil musste 1937 die PTZLeser erstaunen. Denn Drieu La Rochelle, der zunächst in Kreisen der Avantgarde zirkuliert und sich dort u. a. mit Aragon befreundet hatte, war seit 1934 ein Anhänger des Faschismus - eine Entwicklung, die der Rezensent schlicht ignorierte.355 Stellte die Drieu-Rezension in der PTZ 1937 also eine »Entgleisung« dar bzw. einen (vom antifaschistischen Standpunkt aus) konjunkturwidrigen Literaturtransfer? Das Ausbleiben weiterer Rezensionen zu Werken des Autors sowie das rasche Ausscheiden des Kritikers Amunategui aus der PTZ sprechen für eine solche Annahme.356 Doch stellt sich gerade in dem komplexen Falle Drieu la Rochelles die Frage, inwieweit nicht sein »Linksfaschismus« (seine Erwartung eines revolutionären fascisme socialiste und sein Engagement für den kommunistischen Renegaten Doriot 357 ) selbst in der französischen Öffentlichkeit - denn Amunategui war Franzose! - seine Zuordnung zum faschistischen Lager verzögert hat.358

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französische Romane, PTZ Jg. 2 N ° 4 1 9 v. 6.8.1937, S. 6; Rez. u . a . zu: G . S i m e n o n , Le Testament Donadieu, Paris 1937). Francisco Amunategui, Neue französische Bücher, PTZ Jg. 2 N° 362 v. 9.6.1937, S. 4 (Rez. u. a. zu: Pierre Drieu La Rochelle, Rêveuse Bourgeoisie, Paris 1937). Amunategui hatte die virulente Antibürgerlichkeit Drieus zwar notiert (»... so wird eine schlichte Anekdote zum Prozess einer Gesellschaft«), Drieu aber lediglich als Autor der Comédie de Charleroi (1934) präsentiert. Ein Hinweis auf seine politische Entwicklung fehlte. Drieus nachfolgender Roman Gilles ( 1939) wurde nicht rezensiert. Amunategui veröffentlichte nur noch eine weitere Rezension in PTZ N ° 4 1 9 v. 6.8.1937. Dass sein Ausscheiden eine Folge oder gar Sanktion der Drieu-Rezension war, ist nicht völlig auszuschliessen. Ungeklärt bleibt allerdings die Frage redaktioneller Verantwortung bei der Veröffentlichung. 1934 hatte Drieu seine Schrift Socialisme fasciste veröffentlicht; ihr folgten 1936/37 weitere über den Führer der faschistischen Parti Populaire Français, Jacques Doriot. Doriot, seit 1924 Abgeordneter und Jugendsekretär der PCF, war im Juni 1934 aus der Partei ausgeschlossen worden und gründete 1936 die PPF, die zu einem Pfeiler der Kollaboration wurde. Drieu gehörte ihr von Dezember 1936 bis Juni 1938 an (s. Geraldi Leroy u. Anne Roche, Les Ecrivains et le Front populaire, a. a. O., S. 77-88). Drieus Deutschlandreise vom Januar 1934 (eine zweite erfolgte im September 1935 zum Nürnberger Parteitag) liess für Emigranten keinen Zweifel an seiner Hinwendung zum Faschismus. Auch Aragon reagierte darauf, als er Drieu auf einer AEAR-Veranstaltung im Juni 1934 als Faschisten bezeichnete (s. Herbert R. Lottman, La Rive gauche, Paris 1981, S. 89). Der Bruch mit Aragon markierte Drieus definitive AbkehT vom kommunistischen Lager, sein Eintritt in die PPF besiegelte ihn. Als Schriftsteller indessen bewahrte sich Drieu

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Entwicklungsroman: Nur noch teilweise einer psychologischen Schreibweise verpflichtet waren die Entwicklungsromane, die in PTB und PTZ rezensiert wurden. Auch schilderten diese in der Regel nicht die Erfüllung bürgerlicher Bildungsideale, sondern stellten sie in Frage. Sichtbar wurde diese Tendenz bereits in Werken über die französische Jugend vor 1914, so etwa in Alain-Fourniers 1913 erschienener Geschichte vom Grand Meaulnes, die in zweiter deutscher Auflage in der PTZ rezensiert wurde. Der Roman gestaltete das jugendliche Erwachen zu Liebe und Sexualität als eine éducation sentimentale, bei der sich Traum und Wirklichkeit zu einer rastlos-chimärischen Suche verloren, doch rezipiert wurde er vor allem als kulturhistorisches Zeugnis (»Bild einer Vorkriegsgeneration« 359 ). (Demselben Muster folgte die Rezeption eines Romans von Jacques Chenevière, Valet Dames Roi, als »Geschichte der Kultur des Bürgertums«. 160 ) Die Jugend der Nachkriegszeit hatten die Entwicklungsromane teils im symbolischen Vater-Sohn-Konflikt gestaltet (so bei Henri Troyat und Guy Mazeline) 361 , teils hatten sie den psychologischen Konflikt zugunsten eines soziologischen oder eines Generationenmodells aufgegeben und die Revolte der jugendlichen Söhne gegen die Väter zur Anklage der Gesellschaft ausgeweitet. Diese Werke zeichneten eine französische Nachkriegsjugend, die noch sichtbare Züge der lost génération trug: Rebellion gegen die »Schule der Eltern« (Kléber Haedens362), Auflehnung gegen anarchische Gewalt (L.-F. Céline363) und ein existentieller dégoût vor der eigenen bürgerlichen Klasse (Paul Nizan364) waren die Themen. »Gefühllosigkeit«, »Kälte« und »Hass« fanden die Rezensenten auch im Stil dieser Werke wieder, für den Maupassantscher Naturalismus und Stendhalscher Realismus die Vergleichsmassstäbe boten.365 Das Hauptwerk dieses

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auch in den Folgejahren seine Beziehungen, insbesondere zur N.R.F., die er während der Okkupation verwalten sollte (s. Gerhard Heller, Un Allemand à Paris 1940-1944, Paris 1981, S. 4 0 - 5 6 ) . Maria Arnold (i. e. Helene Radö), Der grosse Kamerad, PTZ Jg. 4 N° 995 v. 13.5.1939, S. 4 (Rez. zu: Alain-Fournier, Zürich 1938; frz. Le grand Meaulnes, Paris 1913). F. T. (i. e. Ferdinand Timpe), L o b des Gefühls, PTZ Jg. 3 N° 721 v. 25.6.1938, S. 4 (Rez. zu: Jacques Chenevière, Valet Dames Roi, Paris 1938). S. die Sammelrezensionen von Francisco Amunategui in PTZ Jg. 2 N° 251 v. 17.2.1937, S . 4 (u. a. zu: Henri Troyat, Grandeur nature, Paris 1936) u. PTZ Jg. 2 N° 300 v. 7.4.1937, S. 4 (u. a. zu: Guy Mazeline, Bêtafeu, Paris 1937). E.[duard] Levi, Kléber Haldens [IHaedens]: »L'Ecole des Parents«, PTZ Jg. 2 N° 440 v. 27.8.1937, S. 6 (Rez. z. gleichn. Werk, Paris 1937). Hans Jacob, Gestaltung und Chaos, PTB Jg. 2 N° 27 v. 7.1.1934, S. 4 (Rez. u. a. zu: LouisFerdinand Céline, Reise ans Ende der Nacht, Mährisch-Ostrau 1933; frz. Voyage au bout de la nuit, Paris 1932). - Das Werk erhielt 1932 den Prix Renaudot - nicht 1933 den Goncourt, wie Jacob schrieb. Redaktionell (?), Paul Nizan: La Conspiration, PTZ Jg. 5 N° 905 v. 28.1.1939, S. 4 (Kurzrez. z. gleichn. Werk, Paris 1938). - Für das Werk erhielt Nizan den Prix Interallié. So hiess es bei E. Levi (Kléber Haldens [IHaedens]: »L'Ecole des Parents«, a. a. O.): »Es ist ein naturalistisches Buch, mit einer erstaunlichen Kälte und Nüchternheit geschrieben, mit einem kalten, brennenden Hass, mit einer grossen Härte. [...] In seiner Grausamkeit erinnert es an die Bauern-Novellen Maupassants.« Ein anderer Rezensent verglich Nizans Schreibwei-

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Genres war Louis-Ferdinand Célines Roman Mort à crédit, der in der PTZ gleich zweimal - in französischer und deutscher Ausgabe — rezensiert wurde. Céline hatte in dem Roman den Erziehungsweg des kleinbürgerlichen Verhältnissen entstammenden Jungen Ferdinand Bardamu als eine Serie von Misserfolgen dargestellt, die den Rezensenten Bernhard Citron zu der Bemerkung veranlassten: Der herkömmliche Entwicklungsroman bejaht das Leben und seinen Ablauf als sinnvoll. Dieses Werk erscheint völlig wertungsfrei. Die Frage nach dem Sinn des Lebens wird gar nicht gestellt, aber aus der Darstellung ergibt sich eindeutig, dass der Autor sie verneint.366

So fand sich der traditionelle Entwicklungsroman bei Céline gründlich auf den Kopf gestellt: »Verfall«, »Auflösung« und »Zersetzung« waren die Begriffe, mit denen Citron das Werk inhaltlich und formal erschloss. 367 Ausgehend von dieser für Céline zentralen Motivik war die ideengeschichtliche Einordnung des Werkes nur um so überraschender: Wir sind in den letzten Jahren nicht gewohnt, neben den zahllosen historischen Romanen derartige Entwicklungsromane, die das Schicksal von Einzelmenschen in ein Verhältnis zu dem Schicksal einer Klasse bringen wollen, in dieser tendenzlosen Form dargeboten zu bekommen. In diesem Zusammenhang ist das Werk zeitlos und sogar gegen die Strömungen des Zeitgeschmacks. 368

»Wertungsfrei« und keineswegs nihilistisch, »tendenzlos« anstatt subjektivistisch, so hatte Citron Célines Werk qualifiziert. Für diese Lesart Célines ausschlaggebend war sein Schreibstil gewesen, dessen Pseudonaturalismus Citron den Blick für den Geschichtspessimismus des Autors verstellte.369 Die aussergewöhnliche Gestaltungsweise des Romans hatte auch das Interesse Alfred Döblins erregt, der Céline in der PTZ einen programmatischen Beitrag widmete. »Auf welcher Stufe des Romans befinden wir uns? Naturalismus? Realismus? Surrealismus?«, fragte er und analysierte seinerseits Célines Werk:

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se »... mit der Kälte eines Untersuchungsrichters. Er hätte einem Stendhal viel Freude bereitet.« (Redaktionell (?), Paul Nizan: La Conspiration, a. a. O.). LEON (i. e. Bernhard Citron), Louis Ferdinand Céline »Mort à crédit«, PTZ Jg. 1 N° 31 v. 12.7.1936, S. 4 (Rez. z. gleichn. Werk, Paris 1936). - Citrons Autorschaft ist durch eine Honorarquittung (40 FF) v. 20.7.1936 nachgewiesen (BAP, PTZ, N° 64, Bl. 201). Als er Anfang 1939 vom Budapester ins Pariser Exil wechselte, arbeitete er kurzzeitig in der PTZ mit (BAP, PTZ, N° 69, Bl. 109-117). Citron schrieb, es sei »persönliches Schicksal [Bardamus; M. E.], überall in den Verfall hineinzugeraten«. Das Verfallsmotiv findet sich in der Formanalyse wieder, wo Citron bemerkt, dass jede der Episoden »mit völliger Auflösung, mit völliger Zersetzung end(e)« (ebd.). Ebd. So bemerkte Citron, Célines »Naturalismus (sei) nicht vergleichbar einem entschleiernden«; vielmehr seien Bardamus Lebensabschnitte »mit dichterischer Freiheit und dichterischer Kühnheit ausgewählt und so erzählt, wie es sich den handelnden Personen darstellt« (ebd.). - Sein distanziertes Verhältnis zu Zola hatte Céline bereits in seiner Rede vom 1.10.1933 (Hommage à Emile Zola; veröff. 1936; auch in: Cahiers Celine N° 1, S. 78-83) zum Ausdruck gebracht.

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Zunächst: es wird geschrieben wie gesprochen [...]; es ist [...] eine [...] Strassensprache, eine ungemein erfrischende Reaktion gegen die geleckte Schönheitssprache à la Carossa (eine übrigens auch inhaltlich notwendige Reaktion, denn diese Schönschreibe schleppt alle erdenklichen Rückständigkeiten mit sich, nicht zufallig).370

Positiv bewertete Döblin die mit Pariser Argot durchsetzte Alltagssprache des Romans; positiv reagierte er auch auf dessen offene Struktur371, an der sich »wieder einmal der Unsinn von der Forderung einer >Fabel< im Stile des alten Romans« zeige. Als wesentliches Kompositionsprinzip entdeckte Döblin ein — von Proust entlehntes, doch hier ins Monströse gesteigertes - Abgleiten von der Realität: ein »Ausrutschen« in die »planvoll verzerrte Realität« oder in »Traumsituationen«, wie er schrieb. In Döblins Ausführungen wurde deutlich, wie für ihn inhaltliche Fragen des Romans vor der künstlerischen Gestaltungsweise zurücktraten, ja wie Célines innovative Schreibtechnik seine positive Rezeption determinierte. In Céline begrüsste er einen jungen Autor, der geradewegs die Linie der modernen Neuerer des Romans fortsetze: Nun, Céline ist nicht der Entdecker oder Erfinder dieser Schreib- und Darstellungsweise, deutliche Beispiele haben Green, Dos Passos, der junge Amerikaner Asch, Yoice [sie] und ich gegeben372,

schrieb er selbstbewusst in der PTZ. Dass Döblin seine eigene Person ins Spiel brachte, führt auf den Kern seiner Betrachtungen. Für ihn beruhte Célines Leistung darauf, einer realistischen Wirklichkeitsbeschreibung den Rücken gekehrt zu haben, um mittels einer Realität und Phantastik verbindenden Schreibweise (»Realismus und Ausrutschen«) zu einer neuen Wirklichkeitserfassung vorzustossen. Denn Céline, dem Döblin einen »bis zum Zynismus gehende(n) Wirklichkeitssinn« und »kecke(n) Subjektivismus« bescheinigte, sei [...] weit entfernt von der Technik des alten naturalistischen Romans. Man hat sich von den Fesseln der alten Schreibe und ihres ideellen Ballastes freigemacht, nicht um nun neu zu beschreibenMass< gibt es hier natürlich nicht, wir sind im Chaos, aber in einem lebendigen. Von einer >Romanform< kann man nicht sprechen.« (ebd.). Ebd. Ebd.

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damals forderte.374 Die Céline-Rezension kennzeichnet deshalb den Ausgangspunkt seiner scharfen Auseinandersetzung mit Kurt Kersten und Georg Lukâcs (PTZ N° 244 375 ), ja sie nahm Elemente seiner Kritik an Lukâcs' eben erschienenem Essay Erzählen oder beschreiben? vorweg: Über die Auseinandersetzung mit dem Naturalismus führte sie zur Kritik des Lukâcs'schen Realismusbegriffs. 376 Damit zeigte sich, wie konsequent Döblin in der PTZ als Literaturkritiker sein spezifisches Anliegen verfolgte: die »Reform des Romans« und die Verteidigung der Moderne, auch und gerade im Exil. Döblins Positionsnahme in der PTZ schloss nicht nur den Legitimationsversuch eigener künstlerischer Praxis (»... Joyce und ich«) ein, sondern sie bezeichnete vor allem die kulturpolitische Trennungslinie zwischen ihm und der marxistischen Literaturkritik. Eine deutsche Exilliteratur, die sich von der modernen Literaturentwicklung abschnitt, war für ihn untragbar; sein literaturkritischer Blick - und die komparatistische Haltung, die der Akkulturationsprozess erzeugte, wirkte hierfür verstärkend - blieb auch im Exil auf die Entwicklung der longue durée gerichtet.377 Deshalb liefen Döblins Beiträge in der PTZ 1936/37 so häufig den konjunkturellen Tendenzen einer Literaturkritik des Exils zuwider, die auch innerhalb der Zeitung zunehmend von kommunistischen Rezensenten (Kersten, Leonhard, Rado) bestimmt wurde. Es bleibt schliesslich die Frage, ob Döblin nicht durch seine an der Romantechnik orientierte Céline-Rezeption die ideelle Brisanz von Mort à crédit unterschätzte. Den »bittere(n), ja hassende(n) und verachtende(n)« Blick des Autors hatte er zwar bemerkt, wollte sich aber zu keiner ideologischen Wertung durchringen:

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Diesen Zusammenhang deutete Döblin am Schluss seiner Rezension an: »Ich will nächstens an ihn [Céline; M. E.] anknüpfen, um etwas über den >objektiven< oder >sachlichen< Stil einiger junger Autoren und über einige fragwürdige Äusserungen von G. Lukacz [sie] in der Dezembernummer des >Wort< (>Niedergang des bürgerlichen RealismusCe SoirMonde< hat damals den deutschen Antifascisten, den emigrierten Deutschen, beinahe über das für eine internationale Zeitschrift Zulässige hinaus ihre Spalten geöffnet.« Heinrich Manns - gewiss idealisiertes - Bild des kommunistischen Volksaufklärers Barbusse war der offenen Werbung

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Auch Romain Rolland wurde im PTB zunächst ausschliesslich als engagierter Antifaschist 499 wahrgenommen: Das Blatt berichtete wiederholt über seine Interventionen zugunsten der Angeklagten im Reichstagsbrandprozess500, zugunsten der politischen Gefangenen in Deutschland501, später auch der Spanischen Republik502. Literarische Porträts erschienen erstmals zu Rollands 70. Geburtstag am 29.1.1936: Theaterregisseur Alwin Kronacher erinnerte an Inszenierungen Rollandscher Stücke auf dem deutschen Theater503, und Wilhelm Herzog liess den Romancier und Essayisten Rolland aufleben504. Beide gingen sie der Frage nach, weshalb Rollands literarisches Werk selbst in Frankreich so wenig Resonanz gefunden habe: Die einen halten ihn für keinen Künstler, günstigstenfalls für einen ehrlichen Wahrheitsfanatiker. Er ist ihnen zu wenig >ArtistPalmyre
5 cts. und für die 6seitige Nummer mit 10,565 cts. berechnet. (Die Portospesen der Post betragen 1 cts., in üorten ein Centime// pro Esemplari) Hachette berechnet ferner die Retourspesen mit 1,32 cts. pro Exemplar. Die Abrechnungen aber den Verkauf werden mit einem Rückstand von 6 Wochen überreicht. Abrechnung Die nohe Remittendenzahl xwirkt sich sehr stark auf den Abrechnungsprels aus. Der NettoerlOs pro verkauftes Exemplar ist faktisch nur 37 cts (vor der Preiserhöhung 19 cts), das entspricht einei.Rabatt von 50¡S.

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d) Provlnzverkauf Vertrieb 2t-iäi.'— cS:c^ltt: ^.uslieieraiisinemitieadeiiiveriittul: Oktober-Dezember 1936 1681 St. I540 St. 141 St. Januar-^Srz 1537 1859 St. 1235 St. 624 St. „pril 1537 1705 2 t . 553 St. 712 3t.

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Ueber die scheinbare Verbesserung des Verkaufs in April gilt das= selbe, ras weiter oben gesagt wurde. Der Prozentsatz der Renitten ist im Durchschnitt der ersten 4 lionate I937 65^. Verkaufsbedlngungen sind dieselben nie bei den Bahnhofbuchhandlungen. Abrechnung Die Zahl der verkauften Exenplare ist hier ungefährgmeieh dem Bahn« hofsverkauf, die Auslieferung, d.h. die Renittenden dagegen bedeutend hoher. Das bedingt ein starkes Sinken des Nettoerlöses im Vergleich zum Bahnhofsverkauf. Der Nettoerlös pro verkauftes Exemplar im Provinzver= kauf betragt 28,2 cts, vor der Preiserhöhung sogar nur 4 cts, in Worten vier Centimes. e) Auslandsverkauf Vertrieb Tagesdurchschnitt: Auslieferung: Bemittenden: Verkauf: Januar 1937 2764 St. I5OO St. 1264 St. Februar " 2771 " 981 " I79O " MHrz " 2745 " 1181 " I568 " April " 2651 " 743 " 1908 " Der Tagesdurchshhnitt für die ersten 4 L'onate I937 betragt: Auslieferung 2725 3t., Remittenden 1103 St., Verkauf I626 St. Prozent* satz der Renittenden 40-J Verteilung des Verkaufs (Tagesdurchschnitt Oktober 36 bis April 37) r Auslieferung: Hecittenaen: Ver.ouf: Belgien 800 292 5O8 Luxemburg 207 71 136 Schweiz 202 100 102 England 164 76 88 Holland 287 I65 122 Syrien 504 291 213 Egypten 10 4 6 Portugal 14 7 7 Spanien 15 23 ! (500 Expl. Oesterreich 105 12 93 direkt) Bulgarien 14 4 10 Estland 1 1 Fir.nland 11 11 Griechenland 5 3 2 Ungarn 1 1 Polen 53 36 17 Tschechoslovakei 84 54 30 Transvaal 16 16 Jugoslawien 75 25 50 Rumänien 90 31 59 Türkei 58 12 46 U S A 1 1 Dänemark 15 8 7 Norwegen 14 8 6 Palestina 18 58 I Schweden 47 25 22 In Italien ist die Zeitung verboten, in Polen halblegal. Der Versi^ Der Versand nach Palestina ist im April I937 eingestellt worden.

. uiifc ^üiec.mum; C i e " F e s t s e t z u n g der Vencaufspreise ftlr die e i n z e l n e n Lanier i s t nicht ranz durchsichtir. Koch vrenirer klar sind die Abrechnun^sT-reise von Hachette. Dafiir folgende Beispiele: Verkaufspreis: d.i.in frz.irar.es: .-.brechng.vor; Hachette: Belgien belg.frs. 1.20 ffrs. 0,9096 ffrs. 0?5328 Luxemburg " " 1.20 " 0,5056 0,39 England pence J » 1.3862 0.35 u Holland ' Gulden 0.15 I.854 0.35 Schweiz schw.Fr. 0.30 " 1.J42 O.pO Tschechoslowakei Kronen 1.60 " 1.28 0.63 Auf die an sich vie4 teureren Verkaufspreise im Ausland erhält die Zeitung mit einigen Ausnahmen weniger von Hachette àls In Inland. In Durchschnitt der ersten vier lionate 1537 betraft der Abrechnungspreis ca. 50 cts. Ausser dieser Konmission berechnet Hecnette die Pottospesen mit 16,625 =ts. resp. 31,625 für die vierseitige Ku=:er und mit 18,40 Qts. resp. 33;40 cts. für die sechsseitige Nummer (àie Portospesen betragen 15 resp. 30 cts.). Ferner cerden für die Remittenden 1,J2 resp. 1,