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German Pages [320] Year 2009
Beiträge zur Individualpsychologie
Band 35: Pit Wahl / Heiner Sasse / Ulrike Lehmkuhl (Hg.) Macht – Lust
Pit Wahl / Heiner Sasse / Ulrike Lehmkuhl (Hg.)
Macht – Lust
Mit 20 Abbildungen und 2 Tabellen
Vandenhoeck & Ruprecht
Illustration auf dem Umschlag: Anne-Marie Kuprat, Mainz
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ‹http://dnb.ddb.de› abrufbar. ISBN 978-3-525-45016-1
© 2009, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen Internet: www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Hinweis zu § 52a UrhG: Weder das Werk noch seine Teile dürfen ohne vorherige schriftliche Einwilligung des Verlages öffentlich zugänglich gemacht werden. Dies gilt auch bei einer entsprechenden Nutzung für Lehr- und Unterrichtszwecke. Printed in Germany Satz: KCS GmbH, Buchholz/Hamburg Druck und Bindung: Hubert & Co., Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.
Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Klaus Ohm Über Ethik und Ästhetik in Adlers Individualpsychologie . . . .
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Wolfgang Lehnert Zwei alte Männer mit Zigarren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Heiner Sasse Von der Macht der Lust und der Lust an der Macht . . . . . . . . .
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Bernd Nitzschke Der Wille zur Macht – die Sehnsucht nach Hingabe. Historische Reflexionen über Autorität und Familie . . . . . . . . .
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Nicole Welter Die Lust an der Selbstbehauptung. Eine Jugendlichenpsychotherapie im Scheidungskonflikt . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Elisabeth Fuchs-Brüninghoff Machtverhalten zwischen Sucht und Lust . . . . . . . . . . . . . . . .
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Gisela Eife Die doppelte Dynamik: Was treibt und was hilft Menschen mit psychischen Störungen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Bernd Schäpers Die positive Macht der Peerkultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Almuth Bruder-Bezzel Die verschwiegenen Wege der Lust an der Macht. Adlers Hofrat Eysenhardt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Martina Dusy Leiden und Lust. Darstellung einer psychoanalytischen Behandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Martin Geimer Rollenfindung im therapeutischen Prozess. Eine Fallskizze . .
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Jeremy Holmes Power, empowerment, and mentalising . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
199
Jeremy Holmes Macht, Machterwerb und Mentalisierung
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Gerd Lehmkuhl Zwischen Macht und Lust – die Adler-Freud-Kontroverse. Eine kommentierte Textkollage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Lisa Rauber Lebenslust und Entspiegelung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
272
Gitta Binder-Klinsing (Ohn-)Macht, (Un-)Lust und das Dritte. Über Macht und Machtphantasien in der Ausbildungssupervision . . . . . . . . . . .
286
Die Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Personenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Vorwort »Macht – Lust« war das Thema der Individualpsychologischen Jahrestagung 2008. Dieses Begriffspaar soll im vorliegenden Zusammenhang kein auf Gegensätzlichkeit oder Komplementarität hin ausgerichtetes Antonym suggerieren, sondern greift das Phänomen der seit Beginn der psychoanalytischen Bewegung rivalisierenden theoretischen Leitkonzepte auf. Das Tagungsplakat (s. S. 29) gibt erste Hinweise: Man erkennt zwei Männer, Adler und Freud, leicht schräg Rücken an Rücken sitzend, jeder für sich und dennoch in einer gewissen konkurrierenden Weise aufeinander bezogen, wie um die Wette qualmend. Wird dieses Bild bei Lesern und Leserinnen Lust auf »Macht – Lust« machen? In den ersten Jahren der Mittwochgesellschaft, als während der Treffen dem Zigarrenrauchen und Tabakgenuss in einem heutzutage unvorstellbaren Ausmaß ausgiebig und lustvoll gefrönt wurde, kann man sich die Luft bei den Treffen in Freuds Wartezimmer in der Wiener Berggasse 19 wahrscheinlich gar nicht dick genug vorstellen. Dabei scheint der »blaue Dunst« die intellektuelle Produktivität und die Diskussionsbereitschaft der Teilnehmer zunächst beflügelt und stimuliert zu haben. Adler bevorzugte übrigens die Virginier, die traditionelle Lieblingszigarre der Wiener Fiakerkutscher. Freud wird nachgesagt, dass er im Kontext seiner beginnenden Nikotinsucht jenseits aller psychoanalytischen Symbolik konzedierte, dass eine Zigarre manchmal eben auch nur eine Zigarre sein kann. So weit zur Lust und ihren Symbolen. Vom persönlichen Habitus her dürfte Adler damals ausgeprägter als Freud dem Lustprinzip entsprochen haben, während Machtfragen sicherlich bereits von Anfang an stärker Freuds Domäne waren. Als der Platz in Freuds Wohnung für die wachsende Teilnehmerzahl nicht mehr ausreichte und auch die Stimmung zunehmend weniger dem häuslich-privaten Ambiente entsprach, musste man in einen öffentlicheren Sitzungsraum umziehen. Adler schlug ein Kaffeehaus als Treffpunkt vor, man entschied sich aber für einen neutralen und eher kühlen Ort. Die ehemals wohlig-verqualmte Atmosphäre, der magische blaue Dunst, wurde strenger, der Ton wurde ungemütlicher, polarisierender und schärfer. Es prallten differente Persönlichkeiten, Denkstile, Erfahrungshintergründe und Werthaltungen aufeinander,
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Vorwort
die vor der Diffamierung der jeweils Andersdenkenden nicht Halt machten. »Macht« und »Lust« erwiesen sich als zwei motivationale Konstrukte, deren Bedeutung und Zentralität in den jeweiligen theoretischen Konzeptionen von Adler und Freud kontrovers eingeschätzt wurden. Neben anderen Differenzen lag hier einer der Anstöße zum endgültigen Bruch. Dass gerade Adler, der ja die lustvolle Geselligkeit des Kaffeehauses liebte, insbesondere das Thema der »Macht« zu einem zentralen Fokus seiner Lehre machte, wohingegen der eher spröde, asketische und strategisch handelnde Freud zunächst »Libido« und »Lust« so sehr in den Vordergrund stellte, erscheint aus heutiger Sicht leicht paradox. Seit den Streitereien der Gründungsväter sind mittlerweile hundert Jahre vergangen. Somit scheint die Zeit durchaus reif zu sein, das breite konnotative Spektrum der beiden Konzepte »Macht« (von konstruktiver »Wirkmächtigkeit« bis hin zu Machtmissbrauch) und »Lust« (von Vitalität, Liebe, Eros, Sexualität bis hin zu Destruktivität) neu auszuloten und auf aktuelle gesellschaftliche und fachliche Diskurse zu beziehen. Mit »Macht« und »Lust« liegen analytische Kategorien vor, die gerade, weil es sich um psychoanalytische Kategorien handelt, sowohl die Subjektseite als auch die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen dynamisch, entwicklungsbezogen und in ihrer wechselseitigen Beeinflussung aufeinander beziehen können. Dieser Band ist das Ergebnis einer produktiven Jahrestagung, in deren Verlauf alte und neue Fragen aufgeworfen und in einer stimulierenden Atmosphäre innovativ und kreativ zur Diskussion gestellt wurden. Das Spektrum der Antworten und möglichen neuen Sichtweisen findet sich in den Beiträgen der verschiedenen Autoren und Autorinnen dieses Bandes. Dabei sind manche Beiträge dichter an der mündlichen Vortragsform geblieben, während andere in der schriftlichen Version stärker als separate Fachbeiträge aufbereitet wurden. Die Tagung selber entpuppte sich als durchaus lustvoll und wirkmächtig. Es wäre zu wünschen, dass dieser Funke auf die Leserschaft überspringt und – über alle Therapieschulen hinweg – Lust auf eine aktuelle Standortbestimmung und eine neue Runde der Auseinandersetzung mit »Macht – Lust« im Kontext von Psychotherapie und Beratung macht. Pit Wahl, Heiner Sasse und Ulrike Lehmkuhl
Klaus Ohm
Über Ethik und Ästhetik in Adlers Individualpsychologie
Die Forderungen der Gemeinschaft haben die Beziehungen der Menschen geregelt, die schon ursprünglich als selbstverständlich, als »absolute Wahrheit« bestanden haben. Alfred Adler Die Idee einer Moral als Gehorsam gegenüber einem Kodex von Regeln ist jetzt dabei zu verschwinden, ist bereits verschwunden. Und diesem Fehlen einer Moral entspricht eine Suche, muss eine Suche entsprechen, nämlich die nach einer Ästhetik der Existenz. Michel Foucault Das Individuum ist mithin sowohl Bild wie Künstler. Es ist der Künstler seiner eigenen Persönlichkeit. Alfred Adler
About ethics and aesthetics in Adler’s Individual Psychology The obligatory nature of Christian-occidental ideas on morality were supposed to be replaced by a moral autonomy of the individual in the course of the historical Enlightenment. Thus, the individual now was expected to cope with this freedom in a responsible way – towards himself as well as in relation to his social circumstances. Adler adapted his Individual Psychology to this task. He developed an ideal conception of a human community on an ethical basis that somehow stood in a state of tension towards the artistically creativity of the individual. The author of this contribution follows these ideas and tracks down the meaning of aesthetics for the development of a personal ethic which is at the same time a practice of freedom.
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Klaus Ohm
Zusammenfassung Die Verbindlichkeit der christlich-abendländischen Moralvorstellungen sollte im Zuge der historischen Aufklärung von der moralischen Selbstgesetzgebung des Individuums abgelöst werden. Damit wurde diesem Individuum Freiheit zugemutet, die es nun verantwortlich gestalten musste. Sich selbst betreffend, wie auch seine sozialen Verhältnisse. In diese Aufgabe band Adler seine Individualpsychologie ein. Er entwickelte die Idealvorstellung einer Menschengemeinschaft mit einer Ethik, die in eine gewisse Spannung zur künstlerischen Selbstschöpfung des Einzelnen geriet. Dem geht der Autor nach und spürt die Bedeutung der Ästhetik für eine persönliche Ethik auf, die gleichzeitig Freiheitspraxis ist.
Vorbemerkung Adler schrieb sein zentrales Werk »Über den nervösen Charakter« in unruhigen Zeiten. Bald sollte der Erste Weltkrieg ein Kaiserreich hinwegfegen; die Erosion des Bürgertums hatte ein bedenkliches Ausmaß angenommen; Kommunismus und Anarchie waren starke politische Schubkräfte; das Gespenst des Faschismus begann durch Europa zu geistern. Massenarbeitslosigkeit, Inflation, die Weltwirtschaftskrise gehören in das Bild dieser Zeit. Die Welt war aus den Fugen. Tradierte Sinngarantien, Werte und Normen wurden fragwürdig. Die zentrale Frage der Ethik: »Wie soll ich mein Leben führen?« wurde dringlich und war kaum noch zu beantworten. Die Wertphilosphie hatte Hochkonjunktur. In dieser nervösen Zeit schrieb Adler eine Ethik der Mitmenschlichkeit, in deren Mittelpunkt er das Individuum als Schöpfer seiner selbst stellte. Er dachte den Menschen als »Künstler seiner eigenen Persönlichkeit« (Adler, 1930a, S. 7) und damit auch des Kunstwerks seines Lebens. Adler setzte seine Ethik, die er aus »den Forderungen der Gemeinschaft« ableitete, jedoch »absolut« (Ansbacher, 1975, S. 136). Von daher scheint mir zwischen dem freien Schaffen eines Lebenskünstlers und dem Sollen dieser Ethik eine gewisse Spannung, wenn nicht gar ein Widerspruch zu herrschen. Natürlich steht der Lebenskünstler nicht außerhalb eines bereits seienden Kanons von Normen und Werten. Im Wesentlichen sucht er aber nach einer persönlichen Ethik, sein Leben ist Freiheitspraxis. Nicht Unterwerfung und Gehorsam.
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Deshalb stelle ich mir für die Lebenskunst zumindest einen anderen Typ der Ethik vor als den herkömmlichen. Adler hat, soweit ich sein Werk überblicke, an einer Sollensethik festgehalten und die benannte Spannung nicht thematisiert. Das jetzt zu tun, ist nicht l’art pour l’art, sondern l’art pour vivre. Mehr fast noch als zu Adlers Zeiten sind wir als Lebenskünstler gefragt. Unsere Lebensverhältnisse verändern sich mit zunehmender Geschwindigkeit. Das Nachdenken über das Wie des Lebens empfängt wichtige Impulse aus der Veränderung klimatischer, technischer, wirtschaftlicher, politischer und kultureller Verhältnisse in globalem Ausmaß, wie aus dem Ende der großen Gesellschaftsentwürfe, die die Menschheit beglücken wollten. Gleichzeitig erleben wir, wie die Veränderungen eine Eigendynamik entwickeln, die dem Besen in Goethes Zauberlehrling nicht unähnlich ist. Ohnmächtig fast schauen wir zu, wie Gier und Größenwahn die Grundfesten selbst demokratischer Systeme zu erschüttern in der Lage sind. Die Verbindlichkeit der Sollensmoralen scheint verschwunden. Auch die Möglichkeiten und Versuche der Gentechnologie, in die Grundstrukturen des Lebens einzugreifen, deuten auf einschneidende Veränderungen moralischer Haltungen hin. Die Frage der Sterbehilfe, des Schwangerschaftsabbruchs oder der Umwandlung des Geschlechts wird nicht mehr hinter verschlossenen Türen diskutiert oder auf dem Jahrmarkt verkauft. Die Grenzen, wo menschliches Leben anfängt und aufhört, haben sich verwischt. Auf dem Feld der Ethik explodiert der Diskurs. Aus der Unruhe des Umbruchs steigt wiederum die bange Frage auf: Wie sollen wir unser Leben führen? Die Literatur über Lebenskunst verzeichnet einen deutlichen Aufschwung. Die Unsicherheit in allem wirft uns auf uns selbst zurück. Das Material, das unser Leben ist, können nur wir selbst gestalten. Aber woher bekommen wir unsere Orientierung für unser Wirken, wenn wir uns selbst als Künstler begreifen? Was auf adlerianisch in der Welt dazu zu sagen war, hat Adler gesagt. Welche Antworten sind für uns denkbar, was ist therapeutisch zu tun, wenn wir in eigenem Namen handeln und uns trotzdem als Individualpsychologen begreifen?
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Klaus Ohm
Adler – der Idealist Die Ansbachers verorteten Adler philosophisch im Idealismus (Ansbacher, 1975, S. 100 f.). Adler war zwar kein Philosoph, aber in seiner Theorie sehr stark vom positivistischen Idealismus des Neu-Kantianers Hans Vaihinger inspiriert. Positivistisch bedeutet: Den beiden ging es – etwas salopp gesagt – um die selbstgemachten Ideen, Werte und Tugenden, nicht um die ewigen, oder das Ewige an ihnen, wie es uns Abendländern Platon an den Himmel geschrieben hat. Für den war das, was sich unserer Wahrnehmung darbietet, »nur eine Scheinwelt oder auch nur Erscheinungen […], hinter der eine uns unerkennbare Welt-an-sich oder eine nur denkbare geistige Wirklichkeit steht« (Regenbogen u. Meyer, 2005, S. 302). Dort wohnten Platons Werte. Aber egal welcher Spielart der Idealismus ist – er gründet seinen Stolz nicht darauf, »dass er Wahrheit erkennt, sondern dass er Werte bildet und dadurch Wirklichkeit umbildet« (Safranski, 1995, S. 49 f.). Von diesem Gedanken will ich mich bei meinem heutigen Blick auf die Individualpsychologie leiten lassen.
Adlers Traum Adlers Denken wie auch sein praktisches, therapeutisches Tun waren von der Idee einer idealen Menschengemeinschaft geleitet. Für ihn entsprang diese Idee aus der menschlichen Lebenspraxis. Sie hatte ihren Stammsitz nicht jenseits des Firmaments wie das Wahre, das Gute und das Schöne bei Platon. Sie ergab sich aus den Erfordernissen gesellschaftlichen Zusammenlebens. Adlers Kardinaltugenden waren auch nicht die antiken der Weisheit, Tapferkeit, Besonnenheit und Gerechtigkeit (obwohl sie nicht gestört hätten), sondern die des Gemeinschaftsgefühls, der Einsamkeitsfähigkeit, füge ich hinzu, der Kooperationsfähigkeit, des Mitgefühls, der Fürsorge, der Freude, des Respekts und der Achtung vor sich selbst und den Anderen. Vom Phänomen des Wertes her gedacht sollte die Gleichwertigkeit (égalité) in dieser Gemeinschaft verwirklicht sein. Angstfrei anders sein für alle, hieß das wohl. Wertschätzung gegenüber der Andersartigkeit des Mitmenschen. Auch gegenüber denen anderer Kulturen und anderer
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Zeiten. Ein Grundwert der Aufklärung. Eine Idee, die die Zeitspanne nicht nur eines Menschenlebens überdauert hat. Intim verwandt mit jenen Werten die, kreisend um die Menschenwürde, in den Grundund Menschenrechten niedergelegt sind. Und – die wir Menschen selbst verwirklichen müssen, wenn wir überleben wollen. Die Hoffnung, dass der Kosmos irgendein Interesse an uns haben sollte, war für Adler ein frommer Wunsch.
Das Phänomen des Wertes in der Entwicklungs- und Persönlichkeitstheorie Adlers – Eine Skizze »Mensch sein heißt: sich minderwertig fühlen […]« (Adler, 1933, S. 67). Adler begründete diese These zum einen mit der Unfertigkeit des Menschen bei seiner Geburt, andererseits mit erzieherischen Missgriffen. Vorausgesetzt jedoch, im Leben der Mutter sind keine menschlichen Katastrophen passiert, erwartet das Mängelwesen Mensch (Herder, Gehlen) bei seiner Ankunft auf dieser Welt eine UrErfahrung von Wert, nach deren Wiederholung es sein Leben lang suchen wird. Es ist jener Glanz in den Augen der Mutter (Winnicott), der ihm verrät: Du bist das wunderbarste Baby der Welt, du bist mein Glück und mein Leben, ich werde dich bis ans Ende der Zeiten lieben, ich will, dass aus dir etwas Großartiges wird. Idealisierend umspielt die Mutter mit ihren Phantasien ihr Baby, das sich zappelnd und quiekend in diese Phantasien hineinlebt. Sie »sieht« etwas in ihm, was noch gar nicht da ist. Und bringt ihren animalischen Brocken (Portmann) damit »in die [personale, K. O.] Existenz«, wie Winnicott später sagte (Winnicott, zit. nach Buchholz, 2003, S. 242). So gesehen, existieren wir also nicht und machen dann, weil wir existieren, irgendwelche Werterfahrungen, sondern wir existieren vielmehr nur, insofern wir als Wert erkannt worden sind. Die Werterfahrung bildet das Fundament unserer Existenz. Das anzuerkennen: Nicht Wert zu haben, sondern Wert zu sein, auch in den Augen eines anderen, ist die erste Voraussetzung auch für eine Ethik der Lebenskunst im Sinne der Individualpsychlogie. Auf die »Infusionen« (Shotter u. Newson, 1982, zit. nach Buchholz, 2003, S. 242) von Wert und Sinn durch die Mutter antwortet das
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Klaus Ohm
Kind. Es entsteht ein schöpferischer Akt zu zweit, der sich, wenn es gut geht, zur Lebenskunst entwickelt, die andere im Auge hat. Das Menschenjunge macht sich ein wertgesättigtes Bild von sich und der Mutter und später eins der ganzen Welt, mit der es in ständigem Austausch lebt. Bilder – so Adler – eines gegenseitigen Schöpfungsprozesses, dem eine Intention zur Vollkommenheit innewohnt. Diese Bilder (Synonyme: Persönlichkeitsideal, Fiktion, Ziel) sind eine Art selbsterfundene Kompassnadel, die uns unseren Lebenskurs weist. Der magnetische Nordpol aber heißt Wert. Unter das Diktat dieser Fiktion gerät die Wahrnehmung: Wir gestalten die Welt bereits im Sinne der Fiktion, indem wir sie wahrnehmen. In diese Funktion gerät das Gedächtnis: Es ist kein Archiv, in dem Vergangenes aufbewahrt wird, sondern es ist die Schmiede der Vergangenheit im Sinne der Fiktion. In diese Funktion gerät die Antizipation unserer Zukunft: Dort hilft uns die Fiktion, gestaltend in die Offenheit des Möglichen hinauszugreifen. Unsere künstlerische Arbeit an uns selbst kommt deshalb nicht zum Halt: »Das Individuum ist mithin sowohl Bild wie Künstler. Es ist der Künstler seiner eigenen Persönlichkeit« (Adler, 1930a, S. 7), eine Metapher, die in der Renaissance geboren wurde. »1486 hielt der Philosoph Pico della Mirandola eine Rede ›Über die Würde des Menschen‹«, in der er den Menschen als Bildhauer seiner selbst bezeichnete (Buchholz, 2003, S. 242). Damals artikulierte sich darin ein neues Selbstbewusstsein, das sich dem Schöpfer gleichzusetzen wagte.
Zweifel I Wenn nun alle schöpfen, hämmern, malen, dichten – muss ihre Arbeit nicht zwangsläufig in das Gesamtkunstwerk Gesellschaft einmünden? Und wie könnte so ein Kunstwerk aussehen? Die Frage liegt nahe und scheint mir trotzdem obsolet. Vermutlich gehört auch das Gesamtkunstwerk zu den großen Entwürfen, auf die wir – unter Schmerzen – postmodern verzichten lernen sollten. Auch auf die Vollkommenheit, auf die in Adlers Denken die schöpferische Kraft der Seele hinarbeitet. Bereits in der Antike finden wir diesen Gedanken bei Aristoteles im Konzept der Entelechie. Das ist die im Organismus liegende Kraft, die
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ihn von innen her zur Selbstentwicklung und -vollendung drängt. Gut, wertvoll ist, was das Streben in diese Richtung treibt. Mit diesem Konzept hoffte schon Aristoteles die platonischen Werte abzulösen. Diese Teleologie, die Bestimmung und Begründung solcher Seelenziele, war immer wieder die vornehmste Aufgabe metaphysischer Instanzen. Mit der historischen Aufklärung wurde sie jedoch eine Aufgabe des Subjekts selbst. Damit wurde das Ziel der Vollkommenheit fragwürdig. Zumindest war anzuerkennen, das jeder Mensch seiner Vollkommenheit nachstrebte und nicht einer. Das kann die Lebenskunst entlasten. Wenn jeder seiner Vollkommenheit nachstrebt, hat das möglicherweise den Vorteil, dass jeder den anderen besser lassen kann. Zur Lebenskunst gehört es auch, zu sehen und anzuerkennen, dass sich die zweitbeste Möglichkeit im Nachhinein oft als die bessere entpuppt.
Fortsetzung: Das Phänomen des Wertes in der Theorie Doch zurück an die Wiege unseres Babys. Fehlt dem der liebende Blick (N. Hartmann) der Mutter oder einer sonstigen Bezugsperson, wird in seinem Selbst-Erleben das Minderwertigkeitsgefühl vorherrschen. Es wird seinen Wert über den Weg der Macht suchen. Der Macht über den Mitmenschen, ohne seiner selbst mächtig zu sein. Er braucht die Wertlosigkeit der Anderen zur Wahrnehmung seines eigenen Wertes und seiner eigenen Macht. Das ist eine von Adlers Definitonen seelischer Krankheit. Im Guten wie im Bösen ließe sich das, was Adler zum Umgang des Individuums mit seinem Wert gesagt hat, in einem Satz zusammenfassen, der von dem englischen Philosophen North Whitehead stammt: »Existenz ist ihrer Natur nach die Aufrechterhaltung von Wertintensität« (Hauskeller, 1999, S. 100). Die Aufrechterhaltung dieser Wertintensität für Analysanden wieder zu ermöglichen, ist die Aufgabe individualpsychologischer Psychoanalytiker. Dass das kein »schönes Ideal«, sondern ein tief im menschlichen Wesen verankertes Bedürfnis ist, hat Nicolai Hartmann in seinem Werk »Das Problem des geistigen Seins« in folgende Worte gefasst: »Dem Menschen gerecht werden mit dem Wertgefühl ist für den Menschen eine moralische Anforderung. […] Denn jeder weiß
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es im Stillen von jedem, dass es die Sehnsucht seines Lebens ist, das, was er ist, auch für jemand zu sein; niemand erträgt die Sinnlosigkeit, vergeblich da zu sein. Jeder bedarf zu dem, was er ist, noch der Sinnerfüllung, gewertet, verstanden, genommen, ja nur moralisch gesehen zu werden. […] Das Ethos der Teilhabe und des Gerechtwerdens mit der Wertantwort bildet so ein Kernstück aller echten und innerlich verstandenen Moralität. Es ist mit dem Ethos der Liebe verwandt« (Hartmann, zit. nach Rattner, 1988, S. 7). Das könnten Adlers Worte sein. Was sie sagen, ist für seine ideale Menschengemeinschaft eine unverzichtbare Voraussetzung. Diese Moral hat ihre Grundlegung per Lebenserfahrung erhalten. Sie wird nicht aus Gründen der Vernunft vorgegeben. Auch der Lebenskünstler wird – vorausgesetzt, er hat die Grunderfahrung der Bejahung gemacht – sein Lebenswerk an dieser moralischen Erfahrung ausrichten.
Zweifel II Ich will hier eine zweite Zäsur machen und anmerken, dass längst bevor postmodern die großen Entwürfe abdanken mussten, Friederich Nietzsche, der Zertrümmerer all der großen philosophischen Systeme, die Art, wie auch Adler dachte, massiv attackiert hatte. Mit seiner Umwertung aller Werte zog er nicht nur gegen die moralischen und religiösen Ideale zu Felde, sondern nahm »auch die ›kosmologischen Werte‹ wie ›Zweck‹, ›Einheit‹ und ›Wahrheit‹, mit denen nach seiner Meinung bisher fälschlicherweise der Gesamtcharakter des Daseins interpretiert wurde«, aufs Korn (Schlotter, 2004, S. 560). Diese Werte entlarvte er als das Resultat unserer eigenen »Werthschätzungen«, hinter denen letztlich der Wille zur Macht steht: »Die Werthe und deren Veränderungen stehen im Verhältnis zu dem Machtwachsthum des Werthsetzenden« (zit. nach Schlotter, 2004, S. 560). Das ist harter Tobak für einen Individualpsychologen. Die Idee der idealen Menschengemeinschaft eine Maske der Machtgier? Die Forderung des Gemeinschaftsgefühl ein Mittel der Unterjochung? Auch das kann sein. Wo immer die Menschheit angerufen wurde, wurde der Mensch leicht vergessen. Ich komme darauf zurück.
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Martin Heidegger warf Nietzsche vor, dass er mit seiner Umwertung der Werte dem Denken des Seins als Wert verhaftet bleibe. »Wenn man aber etwas zu einem Wert erkläre, werde das ›so Gewertete seiner Würde beraubt‹. Statt dass man es ›sein läßt, was es ist‹, wird es nur noch ›als Gegenstand für die Schätzung des Menschen zugelassen‹. […] ›Das Denken in Werten ist hier und sonst die größte Blasphemie, die sich dem Sein gegenüber denken läßt‹. Es ist ›ein radikales Töten‹. […] ›Ein Denken gegen die Werte‹ sei darum angesagt, aber so zu denken bedeutet nicht, ›für die Wertlosigkeit und Nichtigkeit des Seienden die Trommel rühren« (Hügli, 2004, S. 567), sondern bedeute, dass das »Sein als Sein« erst in den fragenden Blick zu bekommen sei, wenn wir aufhörten zu werten (Hügli, 2004, S. 567). Eine philosophisch formulierte Abstinenzregel für Individualpsychologen. Die macht es uns nicht gerade leichter. Wenn wir Nietzsches, wenn wir Heideggers Aussagen einmal für einen Moment als Arbeitshypothese nehmen, stellen wir fest, dass Adler den Gedanken Nietzsches über den Zusammenhang von Wertsetzung und Machtzuwachs zwar auf das neurotische Seelenleben, tatsächlich aber nicht auf seine Gemeinschaftsidee angewandt hat. Im Einzelfall spürte er »hinter der Liebe den Haß, hinter dem Gehorsam den Trotz, hinter der Bescheidenheit die Gier« auf (Furtmüller, 1912, S. 4). Er zerstörte moralische Fassaden, verschonte aber seine ideale Menschengemeinschaft. Ideale haben die fatale Eigenschaft, aufs Totale zu gehen, was Menschen, das ist die bittere Erfahrung, immer mit totalitären Mitteln zu erreichen versucht haben. Das macht das Unbehagen auch noch am schönsten Ideal. Und trotzdem: Macht zu haben und auszuüben ist nicht per se krank. Was gut täte – der Gedanke ist in unseren Reihen längst diskutiert und zuvor schon durch Foucault (Schmid, 1998, S. 165 f.) zu philosophischen Ehren gekommen –, wäre eine selbstreflexive Macht, mit der sich das Individuum selbst an die Kandare nimmt und sich nach außen gegen jegliche Art der Bevormundung wendet. Wenn Macht darin besteht, gezielt und erfolgreich auf jemanden oder etwas einzuwirken, gälte es, diese Macht zunächst auf sich selbst zurückzuwenden und damit als Erstes seiner selbst mächtig zu sein. Die Macht, die wir brauchen, nicht unreflektiert auszuleben, gehört ins Zentrum einer reflektierten Lebenskunst.
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Heideggers Vorstellung, etwas »sein zu lassen, was es ist«, »das Sein als Sein in den fragenden Blick zu bekommen« setzt, so wie ich das verstehe, eine Substanz voraus, die zu befragen wäre. In Adlers Denken entsteht unsere Welt aber erst, indem wir sie wahrnehmen. Dahinter, darüber oder darunter ist nichts oder zumindest nichts, was wir erkennen könnten. Der Psychoanalytiker Bion wird nach dem gesucht haben, was Heidegger forderte, als er eine fast kontemplative Haltung in der analytischen Sitzung vorschlug. Auch das, was Stern mit dem Begriff des »now-moments« belegt hat, scheint mir in diese Richtung zu gehen. Highlights im therapeutischen Prozess. Aufhebung der Zeit, Aufhebung jeder Wertung, Momente, in denen niemand mehr etwas will. Dem folgt jedoch unweigerlich die Rückkehr in die Welt-Zeit. In der wiederum ge- und bewertet wird. Mit der Rückkehr kann allerdings eine ungemein wichtige und therapeutisch wirksame Erfahrung verbunden sein. Nämlich die, und damit betrete ich wieder individualpsychologischen Boden, dass unsere Wirklichkeit in uns und durch uns entsteht. Das verändert die Werthaltung gegenüber der Wirklichkeit und allem, was darin vorkommt, nach meiner Beobachtung deutlich. Kunst und auch Lebenskunst braucht die Selbstvergessenheit, das Lassen und die Gelassenheit vor allem Werten.
Die psychoanalytische Kleinarbeit Gewöhnlich arbeiten wir in unserem psychoanalytischen Alltag aber unterhalb dieser peak experiences. Wenn wir bei dieser Arbeit die Idee der idealen Menschengemeinschaft als Orientierung für das Wie und Wohin unseres Lebens versuchsweise einmal zur Seite ließen, müssten wir uns und unseren Analysanden hohe Eigenleistungen an Orientierung zumuten, die sie und uns in die Lage versetzen, unser Leben künstlerisch, vielleicht sogar nur immer wieder experimentell, in eine auch real immer unstrukturiertere Weite hinein zu entwerfen. Und ich meine, dass wir – ob wir wollen oder nicht – diese Zumutung annehmen müssen. Unsere Lebensverhältnisse verändern sich in den letzten 60 Jahren mit zunehmender Geschwindigkeit, die mit zunehmender Einflusslosigkeit auf ihre Entwicklung korrespondiert. Die Orientierung, die wir als Psychoanalytiker haben oder geben können, ist kaum
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noch inhaltlich festzulegen. Was heute gut ist, kann morgen böse, was gestern falsch war, heute richtig sein. In dieser Welt zu leben und zu überleben, wird zunehmend zu einer Kunst. Wenn wir das annehmen, uns selbst und unser Leben als Kunstwerk begreifen, ließe sich jedoch auch damit leben. Als Psychoanalytiker würden wir dann »nur noch« an den Bedingungen der Ermöglichung dieser Orientierung arbeiten oder daran, dass wir selbst und unsere Analysanden die postmoderne Unübersichtichkeit und Einflusslosigkeit zu ertragen in der Lage sind. Auch ohne das ethische Gerüst der idealen Menschengemeinschaft hat Adler genau auf diesem Feld wesentliche Pionierarbeit geleistet. Er dachte seinen Praxisraum (und alle Erziehungsräume) als mögliche Keimzellen seiner idealen Menschengemeinschaft. Und ob die jemals zustande kommt oder nicht: Die Basis für seinen Traum waren Individuen, die sich selbst als Wert erfahren hatten und erfahren konnten. Und diese Erfahrung den Stürmen des Lebens als Schutzschild entgegenhalten konnten. Nur ein Mensch, der sich selbst etwas wert ist, kann verstehen, dass ein anderer das auch für sich möchte. Das war der Grund, auf dem Gemeinschaft sich entwickeln könnte. Nur ein Mensch, der sich selbst etwas wert ist, kann Wert fühlen, die Bedeutung von Werten verstehen. Die Entwicklung dieser Möglichkeit im Kind und im Analysanden zu fördern, sah Adler als die Aufgabe von Eltern und Psychoanalytikern. Wenn ich den »Glanz in den Augen der Mutter« noch einmal bemühe, ließe sich auch sagen: Nur die Liebe kann Wert erkennen. So erkannt worden zu sein, ist die erste Bedingung für die Ermöglichung der Orientierung auch für den Lebenskünstler. In der Therapie legt diese Bedingung dem Willen zur Macht dem, der Werte setzen will, die Zügel an. Das wiederum wirft zwei Probleme auf: Wenn Adler recht hat, müssten sich Wert und Macht auch vertragen können und wir in unserer Arbeit nicht auf Macht verzichten. Dem habe ich bereits zugestimmt. Das zu wollen, sagt uns unser therapeutischer Alltag, wäre auch vergebliche Liebesmüh. Wir besitzen Macht durch unser Wissen und transportieren sie in unseren Deutungen. Die Kunst, die wir in unserer Arbeit, wenn sie denn therapeutisch ist, bereits leben, ist: unsere Macht nicht zu missbrauchen. Problem Nummer zwei: Wenn nur die Liebe Wert erkennt, ist für Individualpsychologen nicht an Abstinenz
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zu denken. Wie aber kann ich als Psychoanalytiker meine Liebe von meinen Idealen (oder meiner Bedürftigkeit) freihalten? Dafür gibt es genausowenig ein Rezept wie gegen den Missbrauch der Macht. Beides sind Entscheidungen. Eine Lehranalyse kann hilfreich dabei sein, die Selbstmächtigkeit des zukünftigen Analytikers in die Richtung zu fördern, dass er gute Entscheidungen trifft. Das tut sie aber – wie wir wissen – nicht zwingend.
Die Selbstmächtigkeit des Individuums und die Seinsmächtigkeit der Werte In der Tradition des Idealismus repräsentiert jede Idee einen Sinnwert (Lersch, 1956, S. 149). Die Ideen des Guten, des Wahren und des Schönen in der Antike stellen Werte dar, die, aus der Perspektive des Idealismus, ihre Gültigkeit daraus beziehen, dass sie überzeitlich sind und die Fülle der Welt von ihrem Anfang bis in alle Ewigkeit irgendwie formen. Seinsmächtig und würdevoll kamen sie daher. Die Werte des Mittelalters: Glaube, Liebe, Hoffnung, die Werte der Französischen Revolution: »liberté, égalité, fraternité«, das Ideal der klassenlosen Gesellschaft im 19. und 20. Jahrhundert traten mit einem ähnlichen Anspruch auf. Diesem Anspruch nach hat jeder Wert den »Charakter eines Rufes, der den Menschen in der Innerlichkeit seines Herzens trifft und verkündet, dass etwas sein soll, weil es gut ist, dass es ist. Und dieser Ruf ist zugleich ein Anruf an den Menschen, mitzuarbeiten an der Verwirklichung der Idee, damit sie sei und gelte. Daraus empfängt sein Leben Sinn« (Lersch, 1956, S. 149). Ich vermute, dass Adlers Gedanke »Das Seelenleben aber ist kein Sein, sondern ein Sollen« (Ansbacher, 1972, S. 106) zumindest von diesem Denken beeinflusst ist. Dieses Sollen kann in Adlers Denken aber nicht das Wirken einer fremden Wesenheit oder Instanz meinen, sondern nur das Wirken der Fiktion. Sie gibt vor, wie es intra- und interpsychisch aussehen soll. Genauso, wie Adler die Marx’sche Idee, dass die ökonomischen Verhältnisse das Bewusstsein bestimmen, infrage stellte, musste er auch den Gedanken verwerfen, dass ein Ideal, Ideen oder Werte eine Gemeinschaftsform hervorbringen könnten. Ein Wert ergreift uns nicht und nimmt uns mit, wenn wir ihn nicht
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erkennen wollen oder können. Das »Hören« seines »Rufes«, sich im tiefsten Inneren von einem Wert anmuten und ergreifen zu lassen, ist eine menschliche Möglichkeit, die in der Erziehung oder im psychotherapeutischen Prozess kultiviert werden will. Und ins Programm der Selbstmächtigkeit gehört. Andere und Anderer Werte wahrzunehmen, kann es ermöglichen, den eigenen Werthorizont zu erweitern oder ihn auch vor dem Einfluss von unannehmbaren Werten zu bewahren. Wenn Individualpsychologie mit dem Bild vom Künstler ernst macht, hat sie deshalb Individuen im Sinn, die ein künstlerisches Verhältnis zu Werterfahrungen pflegen, die nicht von Werten beherrscht sind, sondern sie infrage stellen oder auch durch andere ersetzen können. Wer Werte hat, hat auch Moral. Moralisch zu handeln bedeutet Werte zu bewahren oder gar zu schaffen, die menschliches Zusammenleben konfigurieren und regulieren. Adler interpretierte deshalb bereits die frühen Kindheitserinnerungen als kleine Geschichten »samt einer Moral« (Adler, 1972, S. 79). Moral, das ist zunächst die Geltung und Befolgung von außen gesetzter Pflichten. Die Inhalte der Moral wurden und werden vermeintlich von Göttern, tatsächlich von Päpsten, Kaisern oder dem Staat gegeben oder auf die Natur bezogen. Die Eltern vermitteln diese Inhalte dem Kind, welches daraus die Stimme seines Gewissens macht. Obwohl sich diese Art Gesetzgebung in der aufgeklärten Welt hat hinterfragen lassen müssen und aufgelockert wurde, ist unser Gewissen in der Regel immer noch ein »autoritäres«. Es fordert ein unbedingtes Sollen. Erich Fromm plädierte deshalb eindringlich dafür, diesem ein »humanistisches« zur Seite zu stellen (Fromm, 1978, S. 173), das den Wert des eigenen Lebens, Fühlens und Denkens nicht aus dem Auge verliert. Schon mit der historischen Aufklärung war ja der Gedanke der moralischen Selbstgesetzgebung ins Spiel gekommen. Auf den Punkt gebracht in Kants metaethischer Forderung, das eigene Handeln so einzurichten, das seine Maxime jederzeit allgemeines Gesetz werden könne. Nietzsche roch »Grausamkeit« in dieser Formel (zit. nach Furtmüller, 1912, S. 19). Kants Forderung ist wirklich hoch, unmenschlich hoch. Es wäre ein wahres (Lebens-)Kunststück, sie zu erfüllen. Und dennoch bietet sie idealiter die einzige Sicherheit für unser Wohlergehen im Zusammenleben mit den anderen. »Idealiter«, womit wir wieder
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beim Prinzipiellen sind, von dem wir uns doch gerade verabschieden wollten. Die künstlerische Gestaltung des Selbst und des Lebens, die Adler ins Zentrum seiner Lehre gestellt hat, »reagiert ja gerade [das unterstelle ich, K. O.] auf das Verschwinden der Verbindlichkeit von Sollensmoralen« auf das »Fehlen einer Moral, der zu gehorchen wäre« (Schmid, 1998, S. 166). Wenn meine Unterstellung zuträfe, ist das eine von Adlers großen Ideen. Damit entließe auch er den Menschen in die moralische Selbstgesetzgebung. Da, wo Adler dann, dem sehr zuwider, die Stimme der Gemeinschaft zur obersten Moral erhebt, manchmal mit kantischer Härte, wurde mir oft etwas nietzschig zumute, ich erlebte Grausamkeit und empfand eine fast zärtliche Zuneigung zu einer Diskursethik, wie sie von Jürgen Habermas und Karl-Otto Apel vertreten wurde. Die gehört mit ihren Forderungen nach Wahrhaftigkeit und Herrschaftsfreiheit auf jeden Fall in die Grundausstattung einer reflektierten Lebenskunst. Braucht aber sicher das selbstmächtige Individuum, das auch in der Lage ist, sich selber sein Gesetz zu geben. Heute denke ich, dass Adler vielleicht ja auch deshalb oft so unversöhnlich hart auf das Gewissen pochte, weil sich Moral schon damals nicht mehr von selbst verstand.
Von den Bedingungen des Wertens Dieser Umgang mit Moral setzt Freiheit voraus. Wir sind Natur und Freiheit. Diese »Freiheit ist das sich in uns offenbarende Geheimnis der Welt, die Rückseite des Spiegels der Erscheinungen« (Safranski, 1998, S. 48). Sie findet ihren höchsten Ausdruck in der Selbstbestimmung und stellt uns damit in die Verantwortung gegenüber der Welt. Darauf richtete Adler seine Aufmerksamkeit. Aus dieser (idealen) Freiheit bezog Adler seinen psychotherapeutischen Optimismus und Elan. Real ist diese Freiheit nur mehr oder weniger groß und immer begrenzt durch die Struktur unseres Charakters und durch die Freiheit der Anderen. Das wusste der Idealist Adler sehr wohl. Und hielt auch dafür, dass es zur Selbstmächtigkeit gehört, sich zum Wohle der Gemeinschaft in Sachen Freiheit selbst begrenzen zu können. Der Anspruch auf Freiheit in den Noch-Wohlstands-Gesellschaften
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ist von dieser Tugend und auch von der Wahrnehmung der Freiheit der Anderen oft noch nicht »angekränkelt«. Dieser Anspruch verkennt in der Regel auch, dass die Freiheit von etwas nur im Doppelpack zu haben ist mit der Freiheit zu etwas (Fromm). Das »Prinzip« Freiheit ist ähnlich dem der Ent-Bindung der Mutter bei der Geburt ihres Kindes. Mit der Entbindung wird die Nabelschnur zerschnitten. Die Mutter ist frei von ihrem Kind, um augenblicklich eine intensive Beziehung zu ihm einzugehen. Ihre Freiheit »wird wieder in eine Form gegossen, in einer Bindung festgelegt, auf deren mögliches Anderssein sie für den Rest ihres Lebens verzichtet. […] Wird dieser Schritt nicht vollzogen, bleibt die Freiheit leer, denn sie verbleibt völlig im Raum der Möglichkeiten; wird er vollzogen, ist die Freiheit keine absolute, ideale mehr, denn sie reduziert sich auf die realisierten Möglichkeiten« (Schmid, 1998, S. 115). Zum einen haben wir – bezogen auf die Freiheit – also eine Menge Idealisten unter uns, denen Adler die Selbstbegrenzung nahegelegt hätte. Zum anderen scheint das Scheitern am Freiheitsbedürfnis nicht nur ein Charakterproblem zu sein, sondern auch in den Widersprüchen unserer realen Freiheiten zu liegen. Das zu sehen und am versagten Freiheitsanspruch nicht zu zerbrechen, gehört zu den Grundlagen einer reflektierten Lebenskunst. Im Zentrum der Freiheit liegt die Wahl. Am Anfang unseres Lebens tätigen wir, so will es auch die Individualpsychologie, eine Fundamentalwahl: Wir wählen uns selbst. Zur Lebenskunst gehört, zu wissen und zu akzeptieren, dass ich mich und auch mein Gegenüber gewählt habe; dass ich – mich selbst betreffend – auch andere Möglichkeiten hatte und immer wieder habe. Und dass der Andere neben meiner Wahl auch noch ein Eigenleben führt. Real sind diese Wahlmöglichkeiten eingeschränkt durch die Vorgaben aus der Familie. Aber uns bleibt immerhin ein gewisser Spielraum an Freiheit, innerhalb dessen wir unsere früheste Entscheidung treffen. Unsere Fiktion wird zum internen Wahlleiter für den Rest unseres Lebens. Dieser Wahlleiter erweist sich allerdings als leicht beschränkt gegenüber den Wahlmöglichkeiten der Moderne. Wer die Wahl hat, hatte zwar schon immer auch die Qual. Die Wahlqual der Moderne ist jedoch ins äußerst Schmerzhafte gesteigert. Das Spektrum an Wahlmöglichkeiten in allen Lebensbereichen hat – vorausgesetzt wir haben
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das nötige Geld – einen Umfang angenommen, der uns schier paralysiert. Egal, ob es sich um Seifendosen oder Versicherungen, Peanuts oder Aktien dreht. Manche sehen darin ein Problem der Beliebigkeit, andere »eins der Verzweiflung, in die man stürzen könnte« (Schmid, 1998, S. 216). Das alles ist also nicht nur eine Frage der inneren Entscheidung, sondern auch des Angebots von draußen, was für Adler von allem Anfang an sehr wichtig war. Schließlich – schreibt der Philosoph Wilhelm Schmid – gipfeln unsere Wahlmöglichkeiten im Zwang zu wählen. Wir müssen wählen. Was wir oft mangels Aufklärung oder Geldmangel nicht wirklich können. Wahlfreiheit valet! Die Wahlverzweiflung zu vermeiden hilft ein urteilsfähiger, innerer Wahlleiter. Für ihn plädiert und an dem arbeitet die Individualpsychologie. Der so gedachte Wahlleiter ist ein Lebenskünstler, der weiß, dass es für die meisten Wahlen auch noch eine zweite Möglichkeit gibt, oder, wenn die nicht ist, sich eine Wahl oft im Nachhinein noch legitimieren lässt. Schlussendlich ist auch der Zugang der Individualpsychologie zum menschlichen Seelenleben über das Wertgefühl eine theoretische Fundamentalwahl. Adler hätte auch anders gekonnt. Für diese Wahl ist er dann jedoch mit seinem Leben eingestanden. Aus dieser Haltung lässt sich lernen. Zur seelischen Reife und zur Lebenskunst gehört es auch, am Phänomen der Wahl »die Grenzen der eigenen Macht zu erfahren« (Schmid, 1998, S. 192) und, bezogen auf das Wählen selbst, wählerisch zu werden. Oft muss ich gar nicht wählen, wenn es so scheint.
Zur Ästhetik des therapeutischen Dialogs Die Grundannahmen, dass ein Mensch, der zu uns in die Psychoanalyse kommt, nach einer Wertantwort sucht, dass dieser Mensch gut und böse unterscheiden kann, also ein moralisches Wesen ist, das immerhin einen gewissen Spielraum an Freiheit hat, innerhalb dessen es sich selbst bestimmt und damit festlegt, was für ihn die anderen sind, stellen die Basis unserer therapeutischen Arbeit dar. Auf dieser Basis gestalten wir einen Beziehungsprozess, der die Selbsterkenntnis und damit die Selbstmächtigkeit unserer Analysanden fördern soll. Wie wir das machen, folgt ästhetischen Kriterien
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und ist genauso wichtig wie das Was des Inhalts unserer Arbeit. Das Wie ereignet sich in einem artifiziellen Raum, in dem sich unsere Kunst entfaltet. Üblicherweise nennen wir den eine Bühne, auf der es zu einem bewegten Spiel zwischen Übertragung und Gegenübertragung kommt. Wir sind also nicht nur teilhabender Beobachter, sondern auch Produzent – frei, moralisch, selbstbestimmt, Wertantworten gebend, aber auch suchend. Kategorien, die wir selber von Situation zu Situation mit Inhalt füllen, für den wir uns immer wieder neu entscheiden. Auf diesem Bühnenboden inszenieren oder reinszenieren wir Szenen, in denen Vergangenheit zur Gegenwart und damit zur sinnlichen Erfahrung wird. Veränderungen geschehen eher über solch sinnliche Erfahrungen und weniger dadurch, dass wir die Berichte unserer Analysanden interpretieren. Der Unterschied ist ähnlich groß, wie zwischen dem Interpretieren eines Theatertextes und dem Erleben seiner Darstellung auf der Bühne oder gar der Teilnahme am Spiel. Psychoanalytiker spielen mit oder sitzen im Zuschauerraum im fliegenden Wechsel. Aber selbst wenn sie im Zuschauerraum sitzen, spielen sie nicht nicht mit. Wir achten also darauf, dass die psychoanalytische Sitzung dadurch, dass wir mitspielen, zu einer sinnlichen Erfahrung für unsere Analysanden wird. Jedes Gespräch ist eine Inszenierung der Annäherung und der Distanz, des Verbergens und der Offenbarung, des Verstehens und des Missverstehens, der Abstinenz und des Prickelns. Wir hören mit dem dritten Ohr (Reik), mit dem wir auch das Ungesagte, das Unbewusste erfassen. Keine Wissenschaft kennt am Kopfe eines Menschen drei Ohren. Ein Künstler darf sie haben. Wir erfassen und deuten Zusammenhänge innerhalb der Charakterstruktur, der Geschichte und der Entwürfe unserer Analysanden. Damit diese Deutungen im aufdeckenden oder strukturbildenden Sinn wirksam werden, braucht es unser Taktgefühl und das für den inneren Rhytmus unseres Gegenübers. Takt und Rhytmus erfassen wir intuitiv. Mit ihrer Intuition arbeiten üblicherweise Künstler. Wir lassen uns von Gefühlen und Stimmungen anstecken, was soviel bedeutet, wie dass wir passager auf unsere Souveränität verzichten. Durch die Reflexion der Ansteckung entwickeln wir zunehmend Immunität und gewinnen unsere Souveränität zurück. Wir regredieren mit unseren Analysanden, eine Fähigkeit, ohne die kein Künstler auskommt; eine Selbstvergessenheit, aus der heraus wir unser Ich neu konstituieren.
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Wir identifizieren uns und grenzen uns ab. Gleich und anders sein bedeutet das. Rollenwechsel in einer Geschwindigkeit, wie sie wahrscheinlich nicht einmal ein Schauspieler kennt. Dabei sind wir nicht, wie die Marionetten, aufgehängt an den Fäden unserer Theorie. Die ist da, aber auch ihr gegenüber sind wir selbstbestimmt und – allein. Die sinnliche Erkenntnis, die der Analysand und wir hier machen, zur Vollkommenheit im oben beschriebenen Sinn zu bringen, wäre identisch mit dem Ziel der Ästhetik, so wie es ihr Begründer in Deutschland, Alexander Gottlieb Baumgarten (1714–1762), formuliert hat: »[…] und diese Vollkommenheit im Sinnlichen […] sei nicht anderes als die Schönheit. […] Schönheit ist […] der Ausdruck gelungener Erkenntnis im Bereich des Sinnlichen. Dieser werde hervorgerufen durch das harmonische Zusammenspiel verschiedener Erkenntnisqualitäten, zu denen Reichtum […], Größe […], Wahrheit [Wahrhaftigkeit, K. O.] […], Klarheit […] Gewißheit […] sowie die daraus resultierende lebendige Bewegtheit […] gehörten« (Hauskeller, 1999, S. 209). So gehen unsere künstlerischen Fähigkeiten in ihrer Summe oder auch einzeln eine Liaison mit der ethischen Dimension ein. Sie sind für sich »bejahenswert« und schaffen etwas »Bejahenswertes« (Schmid, 1998, S. 168). Und gleichzeitig machen sie etwas Schönes sichtbar. Es ereignet sich das Paradoxon, dass dieses künstliche Leben in der analytischen Situation als das wahre Leben erscheint, weil in ihm um etwas gerungen wird, was liebenswert ist. So schafft die Ästhetik unserer Arbeit ein erotisches Verhältnis zu Veränderungen und gibt eine Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Lebens. Dass das alles sich nicht in jeder Sitzung ereignet, muss ich kaum erwähnen, wichtig ist, dass der Prozess am Ende, dass das, was bleibt, als bejahenswert, als schön erscheint.
Literatur Adler, A. (1912). Über den nervösen Charakter. Frankfurt a. M. 1972: Fischer. Adler, A. (1930/1976). Kindererziehung. Frankfurt a. M.: Fischer. Adler, A. (1933/1974). Der Sinn des Lebens. Frankfurt a. M.: Fischer. Ansbacher, H. L., Ansbacher, R. R. (1972/1975). Alfred Adlers Individual-
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psychologie. Eine systematische Darstellung seiner Lehre in Auszügen aus seinen Schriften. München u. Basel: Reinhardt. Buchholz, M. B. (2003). Psychoanalyse als »weltliche Seelsorge« (Freud). Journal für Psychologie, 11, 3, 231–253. Foucault, M. (2007). Ästhetik der Existenz. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Hauskeller, M. (1999). Auf der Suche nach dem Guten. Die Graue Edition. Zug/Schweiz: Prof. Dr. Alfred Schmid-Stiftung. Hauskeller, M. (Hrsg.) (1994/1999). Was das Schöne sei. München: dtv. Hügli, A. (2004). Stichwort Wert. Axioloische und phänomenologische Theorien. Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 12. Ritter, J., Gründer, W., Gabriel, G. (Hrsg.). Basel: Schwabe AG. Lersch, P. (1938/1956). Aufbau der Person. München: Barth. Rattner, J. (1988). Was ist Tugend, was ist Laster? Stuttgart: Knesebeck und Schuler. Regenbogen, A., Meyer, U. (Hrsg.) (2005). Wörterbuch der philosophischen Begriffe. Hamburg: Meiner. Safranski, R. (1994/1995). Ein Meister aus Deutschland. Heidegger und seine Zeit. München u. Wien: Hanser. Schiller, F. (1801/2000). Über die ästhetische Erziehung des Menschen. Stuttgart: Reclam. Schlotter, S. (2004). Stichwort Wert. Kant bis Neukantianismus. Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 12. Ritter, J., Gründer, W., Gabriel, G. (Hrsg.). Basel: Schwabe AG. Schmid, W. (1998). Philosophie der Lebenskunst. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
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Als Pit Wahl im März 2008 zum ersten Mal auf der Lehranalytikerversammlung in Mainz das Titelblatt der Tagung vorstellte (Abbildung 1), äußerte eine Kollegin spontan und irritiert: »Warum denn zwei alte Männer beim Rauchen?« Als das Programm dann im Sommer vorlag und ich es meiner Frau zeigte, meinte auch diese sofort: »Wieso zwei alte Männer mit Zigarren?« Was haben zwei alte, Zigarren rauchende Männer mit dem Thema Macht und Lust zu tun? Lassen Sie mich ein paar Worte verlieren über die Zusammenhänge von diesen alten Männern, Zigarren, Macht und Lust und ihre Verbindung zu Berlin. Zum Thema Lust und Zigarren gibt es zwar das Bonmot, welches Heiner Sasse und Pit Wahl in ihrem Vorwort des Programmheftes zur Jahrestagung zitieren: »Eine Zigarre ist auch eine Zigarre« – denn abgesehen von ihrem Symbolcharakter gibt es natürlich auch den direkten sinnlichen Genuss etwa einer würzigen Havanna, wobei das eine das andere ja durchaus kompensieren oder auch verhindern kann, wie wir weiter unten erfahren werden. Zum Thema Macht und Zigarren gibt es kollektive Bilder wie etwa die eines Ludwig Erhards oder eines Gerhard Schröders. Der Letztere bevorzugte übrigens Cohiba Lanceros, die wahrscheinlich circa 20 Mal teurer waren als die Fehlfarben von Erhard oder die Virginias von Adler, woraus wir schließen können, dass es keinen direkten Zu-
1 Begrüßungsansprache des ersten Vorsitzenden der Alfred Adler Gesellschaft für Individualpsychologie in Berlin.
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Abbildung 1: Zwei alte Männer mit Zigarren
sammenhang zwischen dem Preis einer Zigarre und dem Einfluss oder der Macht des Rauchers gibt. Das Thema Zigarren und Rauchen steht an der Wiege der psychoanalytischen Bewegung, wie uns das Protokoll des vermutlich ersten Zusammentreffens der Mittwoch-Gesellschaft 1902, geschrieben damals
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von Stekel, verrät (1923, S. 543, zit. nach Handlbauer, 2002, S. 27 ff.2): »Es war selbstverständlich, dass wir nach einigen einleitenden Worten auf ein psychologisches Thema kamen. Kahane war es, der den Vorschlag machte, zwanglos über verschiedene Themen zu sprechen, und brachte die Anregung, über das Rauchen zu sprechen.« Stekel schreibt, dass dieses Gespräch den Nukleus der analytischen Abende wiedergibt. Selbstverständlich wurde geraucht: Adler seine Virginia, Freud allerdings, wie häufig, seine englische Pfeife. Es geht länger um das Verhältnis zwischen Rauchen und das Wesen des schöpferischen Schaffens, dann jedoch über das Rauchen, die Frauen und die Liebe, was uns hier mehr interessiert. Weiter nach Stekel (1923, S. 543, zit. nach Handlbauer, 2002, S. 27 ff.): »Reitler: Das Rauchen der Frauen, das gäbe auch manche berücksichtigenswerte Punkte. Ein Teil raucht nur aus Emanzipationsgelüsten – Freud: Ein mir bekanntes, geistreiches Mädchen rauchte leidenschaftlich. Darüber zur Rede gestellt, verteidigte sie sich in einem reizenden Gedichte. Der Sinn desselben war kurz und bündig: Ich rauche so viel, weil ich so wenig geküsst werde – Stekel: Das kann einen doppelten Sinn haben. Der Nicotingenuss scheint unser Liebesbedürfnis herabzusetzen. Es sind Fälle bekannt – Freud: Ich weiß, worauf Sie hinauswollen. Wir wissen es alle. Deshalb die ewige Gegnerschaft unserer Frauen gegen das Rauchen! Kahane: Das ist köstlich! Und die Vorwürfe, der Rauch hafte an den Vorhängen – Freud: … sind ein Vorwand! Stekel: Ein Vorhang, der uns den wahren Zusammenhang verschleiern soll. (Alle lachen) Reitler: Es ist ganz klar. Stekel: Gar nichts ist klar. Es stimmt wieder etwas nicht. Ich kannte ein Mädchen, das ich liebte. […] Als ich sie küsste, sagte sie: Du rauchst nicht? Das ist merkwürdig. Du riechst gar nicht wie ein Mann. Ein Mann muss rauchen. Dieses ›Mann‹ sprach sie mit einer feierlichen Betonung aus. Ein Mann – förmlich dreimal unterstrichen … Freud: Das war nur der versteckte Wunsch, Sie als erwachsenen Mann zu sehen. Adler: Nach der Hochzeit hätte sie schon das Gegenteil von Ihnen verlangt!« 2 Zur besseren Verständlichkeit sind die dortigen Pseudonyme durch Klarnamen ersetzt.
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Wir sehen hier schon den fundamentalen Unterschied zwischen dem intrapsychischen dynamischen Verständnis des einen älteren Herrn und dem intersubjektiven des anderen, auf welches wir ja nächstes Jahr bei der Jahrestagung eingehen wollen. Doch jetzt zurück nach Berlin und der Beziehung unserer beiden Protagonisten zu dieser Stadt. Freuds Beziehungen zu Berlin waren eng, anregend und leidvoll. Bis zur Trennung 1902 kam es zu mehreren Besuchen bei seinem Freunde Wilhelm Fließ. Bedingt durch seine Familienbande – seine Schwester Maria und die Söhne Ernst und Oliver lebten zusammen mit den Enkeln in Berlin – kam es zu einer großen Anzahl von Familienbesuchen. Später entwickelte sich Berlin, nachdem sich Karl Abraham 1907 als praktizierender Psychoanalytiker hier niedergelassen hatte, und nachdem 1908 die Berliner Psychoanalytische Vereinigung gegründet worden war (mit den Gründungsmitgliedern Magnus Hirschfeld, Iwan Bloch, Otto Juliusburger, Heinrich Körber und später im Jahr Max Eitington), immer mehr zum psychoanalytischen Zentrum. Der Tatsache, dass gerade Berlin eine zunehmend zentrale Bedeutung bekam, stand Freud durchaus ambivalent gegenüber aufgrund der reservierten Aufnahme von Charcots Ideen anlässlich seines ersten Berlinaufenthaltes. »Berlin ist ein schwieriger, aber bedeutungsvoller Boden, und Ihre [Abrahams, W. L.] Bemühungen, ihn für unsere Absichten urbar zu machen, sind alle Anerkennung wert« (zit. nach Tögel, 2006, S. 57 f.3). Die Gründung der Psychoanalytischen Poliklinik 1920 und der 7. Internationale Psychoanalytische Kongress im September 1922 bewirkten ein weiteres Anwachsen der psychoanalytischen Bewegung mit einer großen Anzahl von Besuchen Freuds in der Stadt. Übrigens fand dieser Kongress makabrerweise in dem gleichen Haus statt, in dem später das von Eichmann geleitete »Judenreferat des Reichssicherheitshauptamtes« untergebracht wurde. Heute steht auf dem Grundstück in der Kurfürstenstraße das Hotel »Sylter Hof«. Die leidvolle Verbindung Freuds mit unserer Stadt führt wieder 3 Aus diesem Buch sind auch die meisten anderen Daten zum Thema Freud in Berlin entnommen.
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zur Zigarre, allerdings zur äußerst unlustvollen Seite des Konsums. Nachdem 1923 bei ihm ein Tumor festgestellt worden war und fünf Prothesen sich als kaum tragbar erwiesen hatten, entschloss sich Freud 1928 zur Anpassung einer erneuten Prothese durch den renommierten Kieferchirurgen Hermann Schröder von der Berliner Charité. Es erfolgten vier zum Teil sechswöchige Aufenthalte in Berlin, so dass sogar ein Umzug erwogen wurde. Trotz allen Leidens war der Erfolg letztendlich mäßig, allerdings lag es nach Ansicht von Felix Blankenstein vom Zentrum für Zahnmedizin der Charité auch daran, dass für Freud eine der wichtigsten Funktionen des neuen Zahnersatzes war, dass er weiter rauchen konnte, was einen Einfluss auf die Härte des Materials hatte. Für seine Pfeife hatte er sich deswegen übrigens ein eigenes Mundstück anfertigen lassen. Weiteres über diese leidvolle Zeit lässt sich aus dem oben erwähnten Buch »Freud und Berlin« entnehmen. 1930 erfolgte der letzte Besuch in Berlin. Bis 1939 kämpfte Freud dann noch mit weiteren Prothesen und ließ dann seinem Leben von dem Arzt Max Schur ein Ende setzen, da alles »nur mehr Quälerei« sei. Da es tabakbedingte Katastrophen in der Geschichte der Berliner Individualpsychologie meines Wissens nach Gott sei Dank nicht gab – dafür aber genügend andere –, verlasse ich jetzt den Weg des Rauchens für einen kurzen Abriss der Individualpsychologie in Berlin. Die »Eroberung« Berlins, wie Almuth Bruder-Bezzel in ihrem Buch »Geschichte der Individualpsychologie« (1999), auf die ich mich im Folgenden in großen Stücken beziehe, schreibt, war für die Verbreitung und Reputation der Individualpsychologie von großer Bedeutung, insbesondere, da Berlin schon seit 1920 als Hauptort der psychoanalytischen Bewegung galt. Adler hat in den zwanziger Jahren immer wieder einige Zeit in Berlin gewohnt, was wohl auch mit dem Umstand zu tun hatte, dass seine Tochter Valentine hier lebte. Er hielt häufig Vorträge und Kurse ab: Oktober 1924, Oktober und Dezember 1928, Februar, April, Oktober und Dezember 1931, Februar und März 1932 und bei den Internationalen Kongressen im September 1925 und 1930. An der Lessing-Hochschule in der Keithstraße war 1929 eine »Abteilung für Individualpsychologie« geplant worden, deren Vorstand Adler selbst sein sollte. 1924 wurde auf Initiative von Dr. med. Fritz Künkel die Ortsgruppe Berlin mit Künkel als Vorsitzendem und
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Leo Groeger, Otto Kaus und Valentine Adler als Vorstandsmitgliedern gegründet. Künkel gelang es, die Individualpsychologie in Berlin in kurzer Zeit bekannt zu machen, er erlangte Anschluss an die Wohlfahrt und die sozial arbeitenden Institutionen der Stadt. Er gründete eine Erziehungsberatungsstelle und eine »Psychopathenberatung« in seiner Praxis und leistete eine breite theoretische und praktische Arbeit. Die Ortsgruppe hatte bedeutenden Einfluss auf die pädagogische und sozialpädagogische Szene Berlins und war eingebunden in die größere Reformpädagogik und Sozialpolitik der Weimarer Zeit. In Künkels Zeit erschien das »Mitteilungsblatt der Sektionen des Internationalen Vereins für Individualpsychologie«. Dessen erste Schriftleiterin war Ada Beil aus Berlin. Das Mitteilungsblatt trug zuerst den Titel »Gemeinschaft«, dann, ab 1927, »Sachlichkeit«. Später gründete Künkel das individualpsychologische Seminar als Ausbildungsstätte. Es fanden regelmäßig Vorträge und Kurse (so die musikpädagogischen Heinrich-Jacobi-Kurse) in der Lessing-Hochschule, im Zentralinstitut für Erziehung und Unterricht, in der Humboldt-Hochschule, in der Sozialen Frauenschule und im Saal des Sozialwissenschaftlichen Clubs statt. Es wurden bis 1930 sechs Beratungsstellen und zwei Heime gegründet: 1926 ein Heim unter der Leitung von Annemarie Wolff-Richter und später die »Heilpädagogische Anstalt für jugendliche Knaben« unter der Leitung von Ada Beil. 1928 wird durch Zusammenschluss der Ausbildungs- und Beratungseinrichtungen das »Individualpsychologische Institut« als Ausbildungsinstitut gegründet. Es gibt ein Theorieseminar, ein Übungsseminar mit Patienten aus Beratungsstellen und es ist ein Seminar für Kontrollanalysen vorgesehen. Es gibt feststehende Curricula für Ausbildungsteilnehmer und einen Institutsplan. 1925 und 1930 fanden zwei der insgesamt fünf individualpsychologischen Kongresse der zwanziger Jahre in Berlin statt. Besonders der zweite Kongress fand reges Interesse des wissenschaftlichen Berlins. Czerny, Bonhoeffer und Spranger waren Zuhörer, wegen des großen Zulaufes musste der Vortrag von Adler zweimal wiederholt werden, wie das Berliner Tagblatt am 26.9.1930 ausführlich berichtete (nach Kölch, 2002). Adler betrachtete Künkel wohl auch aufgrund seiner politischen und religiösen Einstellungen von Anfang an mit Unbehagen. Kün-
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kel ist heute weitgehend dem Vergessen anheimgefallen. Abgesehen von der Entwicklung eigener Theorien wird dies (nach Kölch) dem Umstand geschuldet sein, dass er bis zum Kriegsbeginn an vorderster Front am »Deutschen Institut für psychologische Forschung und Psychotherapie«, das von Matthias Heinrich Göring (einem Vetter von Hermann Göring) geleitet wurde, teilgenommen hatte. Adler schickt denn auch 1927 den 22-jährigen Manès Sperber nach Berlin, der 1928 die Schriftleitung des Mitteilungsblattes von Ada Beil übernahm und das nun mit dem Titel »Sachlichkeit« als Beiblatt zur neuen Zeitschrift für »Individualpsychologische Pädagogik« (Herausgeber: Manès Sperber) erschien. Sperber selbst nennt als Grund für seine Übersiedlung nach Berlin neben dem Auftrag Adlers und Otto Rühles den eigenen Wunsch nach politischer Betätigung. Aufgrund politischer Differenzen zwischen Sperber und Künkel spaltete sich die Ortsgruppe in die »Berliner Gesellschaft für Individualpsychologie« und den »Neuen Verein Berliner Individualpsychologen«. Trotz einer kurzen »Wiedervereinigung« zur Vorbereitung des Kongresses 1930 leitet diese Spaltung den Niedergang der Individualpsychologie in Berlin ein. In seinen Briefen an Alexandra Adler schreibt Adler 1930: »Hier wächst sich sehr viel zusammen« und 1931: »Hier gefällt es mir gar nicht« (zit. nach Kölch, 2002, S. 303). So benennt Sievers (1980) in seinem Artikel »Erinnerungen an die Individualpsychologie« in der Zeitschrift für Individualpsychologie 1980 kein einziges Mitglied der Berliner Gruppe. Berlin taucht als bedeutsamer Ort der Geschichte der Individualpsychologie bei ihm nicht auf. Ich möchte einen großen historischen Sprung tätigen und einige Bemerkungen zum heutigen Berliner Alfred Adler Institut machen. Unser Institut ist ein Kind der Wende, gegründet 1990. In der Entstehungsphase war zunächst im Gespräch, ein Institut zusammen mit den Kolleginnen und Kollegen aus der ehemaligen DDR zu gründen. Dies scheiterte jedoch, allerdings aus anderen Gründen als denen, die bei der Künkel/Sperber-Kontroverse von Bedeutung waren. Erste Vorsitzende der neu gegründeten »Alfred Adler Gesellschaft für Individualpsychologie in Berlin« war Frau Dr. Karin Kutscher. Das erste Institut hatte seinen Sitz in ihrer Praxis. Der Name, der ja von der Namensgebung unserer »Schwesterninstitute« abweicht, soll einer-
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seits an das »Sperber Institut« erinnern, er musste aber auch deshalb gewählt werden, weil sich nach der Wende ein privater Verein in Berlin nicht mehr »Institut« nennen durfte, wir jedoch die Abkürzung AAI ermöglichen wollten. Nach mehr als zehn Jahren im Bezirk Grunewald, zwar schön, aber abseits gelegen, sind wir dieses Jahr in neue größere Räume in die Neue Kantstraße zentral in Berlin-Charlottenburg gezogen. Berlin zeichnet sich durch eine große Anzahl von Ausbildungsinstituten aus. Insgesamt gibt es achtzehn staatliche Ausbildungsinstitute, davon sind sieben DGPT-Institute. Das Verhältnis aller Institute untereinander lässt sich als kooperierende Konkurrenz beschreiben. Mit den anderen psychoanalytischen Ausbildungsinstituten verbindet uns ein gemeinsames Curriculum in einem »Lehrverbund« und ein umfangreiches Veranstaltungsprogramm im Rahmen der Psychotherapeutenkammer. Mit den übrigen staatlich anerkannten Ausbildungsinstituten sind wir in der »Arbeitsgemeinschaft der Berliner Ausbildungsinstitute« verbunden, mit der wir bislang sehr erfolgreich Verträge mit den Kassen schließen konnten. Besonders erfreulich ist, dass wir seit diesem Sommer auch die Anerkennung für die Ausbildung für Kinder- und Jungendlichenpsychotherapie bekommen haben und hoffen, damit an die ehemals erfolgreiche Geschichte der Individualpsychologie in Berlin in diesem Bereich anzuschließen.
Literatur Bruder-Bezzel, A. (1999). Geschichte der Individualpsychologie. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Handlbauer, B. (2002). Die Freud-Adler-Kontroverse. Gießen: Psychosozial. Kölch, M. G. (2002). Theorie und Praxis der Kinder- und Jugendpsychiatrie in Berlin 1920–1935. Inaugural-Dissertation des Fachbereichs Humanmedizin der Freien Universität Berlin. Sievers, E. (1980). Erinnerungen an die Individualpsychologie 1930 bis 1936. Zeitschrift für Individualpsychologie, 5, 221–222. Tögel, C. (2006). Freud und Berlin. Berlin: Aufbau Verlag.
Heiner Sasse
Von der Macht der Lust und der Lust an der Macht
The power of lust and the lust for power The combination of phenomena of power with the principles of lust seems to be helpful and necessary to understand and find a helpful handling with phenomena of mental and interpersonal violence. A greater breadth of understanding the coaction of innate elements with social conditions will be presented as well as an analysis of the differences and the cooperations of power and lust during triumphal violence. The unconscious dependency between perpetrator and victim which increases during the act of violence will be discussed.
Zusammenfassung Zum Verständnis und hilfreichen Umgang mit intrapsychischen und interpersonellen Gewaltphänomenen scheint eine Zusammenführung von Machtphänomenen mit Lustprinzipien hilfreich und unverzichtbar. Umfassendere Vorstellungen über das Zusammenwirken von angeborenen Anteilen mit den jeweiligen sozialen Bedingungen sowie eine Analyse der Unterschiede und des Zusammenwirkens von Macht und Lust bei triumphalen Gewalttaten werden vorgestellt. Das unbewusste Beziehungsgeschehen zwischen Täter und Opfer, das sich in der Gewaltanwendung zuspitzt, wird erläutert.
Macht und Lust Das Spannungsfeld zwischen Macht und Lust wurde sowohl durch die Individualpsychologie wie durch die frühe Psychoanalyse zu einer Frage zwischen zwei Absolutheiten vereinfacht: Entweder sei das Streben nach Macht oder das Streben nach Lust das zentral bedeutsame Fundament, auf dem getrennte Theoriekonzepte errichtet wurden.
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Das eigentliche Spannungsfeld zwischen der Macht der Lust und der Lust an der Macht wird erst durch das und eröffnet: Das Entweder-oder führt sowohl zu einer unnötigen Einschränkung der Erkenntnismöglichkeiten als auch zu einer behandlungstechnischen Haltung, die weder der Komplexität von seelischen Erkrankungen noch der von gesellschaftlichen Prozessen angemessen erscheint. Die Phänomene der Macht lassen sich als Beziehungsverhältnisse und Möglichkeiten der Einflussnahme zwischen unterschiedlichen Personen oder Gruppierungen in der Gesellschaft betrachten, die Phänomene der Lust betreffen das persönliche Körperspürerleben des Einzelnen. Beide Begriffe, »Macht« wie »Lust«, sollen wegen ihrer Bedeutsamkeit im Folgenden sowohl als getrennte Dimensionen dargestellt werden als auch bei ihrem Zusammenwirken untersucht werden; nur so scheint es möglich, ein umfassenderes Verständnis von Gewaltphänomenen erarbeiten zu können. Individuelle Gewaltanwendung wird dabei als Versuch erkennbar, durch das Erleben von Triumph, als Höhepunkt von erlebbarer Machtlust, jedwede Ohnmacht wie Leiden aktuell durch die Beziehung zum Opfer abzuwehren und auch zu überwinden. Global bedrohen uns wachsende Konflikte wie der zunehmende Reichtum von wenigen und die zunehmende Armut von vielen dadurch, dass die Vorstellung von gleichen Chancen der Einzelnen für Ausbildung und Lebensgestaltung einem demokratischen Verständnis von Gleichheit und Freiheit nicht mehr entsprechen. Die Gefährdungen der Umwelt und die Klimafolgen werden wie andere unterschiedliche Interessenlagen und Absolutheitsansprüche zu neuen Kriegen und Terrorentwicklungen beitragen. In den reichen Ländern werden die Folgen der zunehmenden Beschleunigung, Verflüchtigung aller Vorgänge, der unüberschaubaren Medienvielfalt und der wachsenden Grenzenlosigkeit bei zunehmender Aufhebung von Verantwortung, nicht nur in der Finanzwelt, in ihren schädlichen Auswirkungen spürbar. Mir scheint, dass es überall darum geht, in immer schnellerer Abfolge kurzfristig aufeinander folgende Triumphgefühle zu erleben: Triumph als erlebensnaher Höhepunkt zwischen realisierter Macht und gespürter Lust. Nahezu alle medienwirksamen Sportveranstaltungen, erfolgreiche Werbung, die meist verkauften Computerspiele und viele Unterhaltungssendungen im Fernsehen mit
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hoher Einschaltquote drehen sich vorrangig um die Darstellung von Triumph und Niederlage. National diskutieren wir zunehmende Gewaltphänomene in den Schulen und in den Familien; Mobbing, körperliche und sexuelle Gewalt scheinen zuzunehmen oder können weniger verborgen bleiben; der zurückgekehrte Rechtsradikalismus zeigt ebenso wie der Terrorismus, dass die Ursachen weder verstanden noch beseitigt wurden. In den Feldern der Erziehung und Therapie wird unübersehbar, dass eine Zunahme von schwereren Krankheitsbildern mit unbewussten Triumphanteilen zu verzeichnen ist: ADHS, Esserkrankungen und eine wachsende Zahl von Menschen mit sich selbst verletzenden Persönlichkeitserkrankungen betreffen alle unterschiedlichen Altersgruppen. Der Zusammenhang zwischen schlechten Familienverhältnissen und den gravierenden Auswirkungen in Form von individuellen, sich selbst schädigenden Erkrankungen oder interpersoneller Gewaltbereitschaft scheint evident. Sicher lassen sich diese vielschichtigen Probleme nicht allein und einfach mit einem Begriffspaar begründen und verstehen, aber es ist
Macht und Lust zwischen Kompensation und Überkompensation Triumph als Machtlust
Beziehungsverhältnis
Körperspürstruktur
Macht, Kontrolle Dominanz, Überlegenheit
Lust, Genuss Begehren, Spaß
Ohnmacht Wirkungslosigkeit
Unlust, Angst Leid, Schmerz
Abbildung 1: Triumph als Zusammenwirken von Macht und Lust als Überkompensation von Ohnmacht und Leid
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eben auch nicht zu übersehen, dass bei all diesen Konfliktlagen sowohl Macht als auch Lust in ihren unterschiedlichsten Erscheinungsformen beteiligt sind. Deshalb möchte ich versuchen, die Unterschiede zwischen und die Gemeinsamkeiten von Macht- und Lustphänomenen aufzuzeigen und am Beispiel der wachsenden Gewaltbereitschaft das Zusammenwirken von Macht und Lust nachweisen. Dazu soll die erste Abbildung eine Übersicht liefern. Machtphänomene betreffen immer die Beziehungsverhältnisse zwischen Menschen oder die Möglichkeiten innerhalb menschlicher Organisationsstrukturen. Lustphänomene sind vorrangig an das Körpererleben des Einzelnen gebunden, beide Phänomene dienen der Überwindung verschiedener Notlagen. In der triumphalen Machtlust wirken sie zusammen, der Triumph und die Machtlust sind Basis von Gewaltphänomenen.
Über die Ursprünge und Entstehungsbedingungen von Macht und Lust Ältere psychoanalytische Konzepte basieren im Gegensatz zur Objektbeziehungstheorie oder zur Selbstpsychologie auf der Annahme von eindeutigen und abgrenzbaren, angeborenen Trieben. Im Gegensatz zu Freud betonte Adler, dass die Macht und das Streben nach Macht nicht angeboren ist: »[…] denn die Macht, das Machtstreben ist keine Erscheinung sui generis, sie ist vielmehr abgeleitet aus der sozialen Einbindung des Individuums« (Antoch, 1994, S. 54). Während Freud zeitlebens von der Bedeutung der selbstbezogenen, angeborenen Grundausstattung des Sexualtriebes ausging, gewichtete Adler zwar die Beziehung des Individuums zu Fragen der Außenwelt als Anpassungsfähigkeit, aber auch er verabsolutierte dieses Verständnis mit verfassungsrechtlichen Begriffen: »Das Grundgesetz des Lebens ist […] Überwindung« (Adler, 1933, zit. nach Antoch, 1994, S. 141). Aber wenngleich Freud von der angeborenen Libido ausging, betonte auch er immer wieder, dass das Objekt des Begehrens nicht festgelegt sei, sondern dass das Objekt unter psychodynamischen Aspekten libidinös »besetzt« wird.
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Aus heutiger Sicht scheint es mir hilfreich, den scheinbar rigiden Gegensatz zwischen angeborenen Anteilen und Außeneinflüssen aufzulockern, das Primat von angeborenen Anteilen soll durch die Zusammenhangsbetrachtung erweitert werden: Die Hypothese Angeboren versus Außenwelt soll durch die Hypothese Angeboren ist immer auch hineingeboren ersetzt werden. Während viele psychoanalytische Autoren ein übergeordnetes Motivationssystem nach Bindung erkennen (Krause-Steimer, 1996), haben Lichtenberg et al. (2000) ein mehrstufiges Motivationssystem vorgestellt, das der notwendigen Komplexität der Anforderungen an das Neugeborene eher entspricht. Die Arbeiten von Krause (1997, 1998) beziehen sich auf die angeborenen Primäraffekte, die auch für eine breite Komplexität der angeborenen Potentiale sprechen. Primäre Affekte treten nach Ekman (1994) in allen Kulturen auf und sind spätestens nach dem 8. Lebensmonat belegt, vergleichbare Affekte finden sich bei vielen Tieren: Freude/Glück, Trauer, Wut, Ekel, Angst, Überraschung und Interesse sind durch Untersuchungen der Mimik belegt, das primäre Gefühl der Verachtung wird kontrovers diskutiert. Das erste Lächeln wird ab dem 11. Lebenstag beobachtet. Krause betont, dass für alle Primäraffekte Auslöser zu benennen sind, dass eine jeweilig passende Wunschstruktur für jeden Affekt vorliegt und spezifische Funktionen für jeden Affekt erkennbar sind. Damit lässt sich die Fähigkeit zur Beziehungsgestaltung mit vorgegebenen Richtungen, Wünschen und unbewussten Funktionen aufzeigen. Durch Affekte und Gefühle in den Beziehungserfahrungen erhält das Kind gespürte Orientierung, Ausdrucks- und Resonanzmöglichkeiten. Das Neugeborene nimmt mittels der Sinnesorgane wahr, hat Körperspürmöglichkeiten, ist unbewusst gemäß der genannten Bedürfnisse motiviert, speichert das Erlebte dauerhaft und gibt unbewusst allem Geschehen mittels sich langsam entwickelnder mentaler Verarbeitungs- und Verständnisvorgänge eine Bedeutung. Mit der Berücksichtigung der Komplexität des Seelischen soll jedoch nicht die Bedeutung der kompensatorischen Bewegungen von der Ohnmacht in die Überlegenheit und von der Unlust in die Lust geringer gewichtet werden. Für das Verständnis schwerer intrapsychischer Konflikte wie für interpersonelle Gewaltbereitschaft sind sie unverzichtbare Motivquellen.
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Andererseits scheint sicher, dass allein die Betonung der kompensatorischen Bewegungen von der Unlust in die Lust und von der Ohnmacht in die Macht zum Verständnis der seelischen Vielfalt nicht ausreicht. Das Streben aus der leidvollen Ohnmacht in die überlegene Sicherheit kann in seiner Bedeutsamkeit vermutlich nicht unterschätzt werden, auch wenn die Frage nach Motivationen und Motiven, die nicht aus Kompensationsgründen entstehen, zu bedenken ist. Die Motivationen aus guten Erfahrungen, ohne Abwehr oder Überwindungsnotwendigkeiten, werden zu Unrecht als weniger bedeutsam eingeschätzt, obwohl deren Auswirkungen von erheblicher Bedeutung zu sein scheinen. Aus dem Streben nach Macht und Lust lassen sich Erfahrungen wie Dankbarkeit, Liebe, Freude, Demut oder Zufriedenheit nur unzureichend ableiten. Hier scheint mir eine Erweiterung in Richtung von Motiven von gleichwertigen Beziehungen oder, wie Habermas (1981) es nennt, zu herrschaftsfreiem Diskurs zu bedenken. Im Kern würde ein derartiges Motiv, auch wenn man es vermutlich kaum als angeboren beschreiben kann, als wesentlicher Antrieb einer reiferen Persönlichkeit, die über entsprechend gute Beziehungserfahrungen verfügen kann, beschrieben werden. Die Richtung eines Motives nach anerkennendem Dialog oder nach Begegnung scheint mir einerseits auf selbst erfahrenem Mitgefühl und Vernunft zu beruhen, andererseits aus der Fähigkeit zu entstehen, den Anderen als prinzipiell von mir Unterschiedenem und dadurch als bereichernd, als eigenen Wert für sich, erkennen zu können. Die Dimension der Beziehung zu dem bedeutsamen Anderen wurde von vielen Autoren beschrieben, ich erinnere hier nur an Lévinas (2004), der die Bedeutung der sich wechselseitig anerkennenden Begegnungen hervorhebt. Unabhängig davon, ob man ein derartiges Motiv, Individualpsychologen werden es möglicherweise in die Nähe des von Adler gedachten Gemeinschaftsgefühls stellen, als Folge von gut verarbeiteten Erfahrungen sieht, oder ob man ihm eine eigene Motivationskraft zubilligt, erscheint es unverzichtbar, diese Motivation jenseits der Macht- und Lustprinzipien zu bedenken. Denn wenn man die Kompetenzen von Behandlern zu beschreiben sucht, mit denen seelisches Leiden und interpersonelle Gewaltbereitschaft gut behandelt werden sollen, wird genau dieses Motiv bedeutsam. Während man früher diese Haltung
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mit dem Konzept der Abstinenz, also einem gut begründeten Untersagungskonzept beschrieb, kann diese Haltung heute positiv beschrieben werden: Es geht um den Aufbau einer den Anderen anerkennenden Dialogfähigkeit, in der Bindungs- wie Trennungsfähigkeiten, einfühlende wie distanzierende Gefühle unter dem Dach einer die Machtund die Leidanteile des Behandlers nicht befriedigenden Beziehung zusammenwirken. Wenn man dieser zwischenmenschlichen Haltung die Bedeutsamkeit zuweist, wie ich es hier vorschlage, dann führt diese Entscheidung zu weit reichenden Konsequenzen: Dann sind die so genannten störungsspezifischen Ansätze, mit denen unter Nutzung und Anwendung von Machtwissen der Andere von außen behandelt werden soll, kritisch infrage zu stellen. Der schnellen Machbarkeit, den in meinen Augen modernen goldenen Kälbern von Effektivität und Effizienz ohne Berücksichtigung der Machtgegebenheiten, steht dann ein von längeren Zeiträumen abhängiges Beziehungsgeschehen gegenüber, in dem das Eigentliche nicht gemacht, weder macht- noch lustvoll aktiv sicher gestellt werden kann, sondern nur Bedingungen geschaffen werden können, unter denen sich menschliche Entwicklung gemäß ihrer Eigenschaften von selbst vollziehen kann oder sich eben auch nicht vollzieht.
Seelische Struktur als lebendiges Verarbeitungspotential In meinen Arbeiten zur Qualität und Kompetenz in den psychoanalytisch begründeten Therapieverfahren beschreibe ich ein Strukturmodell, aus dem weitere Substrukturen erkennbar werden, mit denen der Mensch, wenn auch zunächst in rudimentärer Ausprägung, ausgestattet ist (Sasse, 2005). Als graphische Darstellung dient die zweite Abbildung der Selbststruktur und ihren sieben Substrukturen. Die Substrukturen sind unteilbar miteinander verwoben, sie lassen sich nur konzeptuell als Affekt-, Motivations-, Gedächtnis-, Körperspür-, Wahrnehmungs-, Gewissens- und mentale Struktur differenzieren. Zu jeder dieser Substrukturen liegen umfangreiche Arbeiten vor, so das Motivationssystem von Lichtenberg et al. (2000), die Arbeiten von Krause zu den angeborenen Primäraffekten (1998) oder von Heis-
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Abbildung 2: Die Selbststruktur und ihre sieben Substrukturen
terkamp zum basalen Körperspürerleben (2002). Das Neugeborene nimmt mittels der Sinnesorgane wahr, hat Körperspürmöglichkeiten, ist unbewusst gemäß der genannten Bedürfnisse motiviert, speichert das Erlebte dauerhaft und gibt unbewusst allem Geschehen mittels sich langsam entwickelnder mentaler Verarbeitungs- und Verständnisvorgänge eine Bedeutung.
Lebendige Interaktions- und Wahrnehmungsmuster als Grundlage der Beziehungsgestaltung In Anlehnung an Krause (1998) und an frühe gestalttheoretische Konzepte zu Wahrnehmungsvorgängen beschreibe ich zunächst rudimentär angeborene Interaktions- und Wahrnehmungsmuster. Sie lassen sich als basale körperliche Kontaktvorgänge beschreiben, mit denen die Beziehungsgestaltung ermöglicht wird. Ich unterscheide zwischen zwei unterschiedlichen Formen der Kontaktaufnahme und Beziehungsgestaltung: passive Hingabevorgänge und aktive Selbststabilisierungsvorgänge. Zur Übersicht dient die dritte Abbildung. Die passiven Hingabeanteile beinhalten zwangsläufig einen Ohn-
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Angeborene Interaktions- und Wahrnehmungsmuster Vordergrund der Wahrnehmung ist der Andere, das Du
Vordergrund der Wahrnehmung ist das eigene innere Selbst
spontaner Ausdruck des Eigenen passiv aufnehmende Offenheit
Selbst-Hingabe
aktiv aggressives Ausgreifen aktiv aggressives Abweisen
Selbst-Aufbau Säugling
Abbildung 3: Angeborene Interaktions- und Wahrnehmungsmuster
machtsaspekt, so wie die beiden aggressiven Selbststabilisierungsanteile den Wunsch, den Willen zur Wirksamkeit beinhalten. Sowohl die Hingabe- als auch die Selbststabilisierungsseite kann mit intensiven Lusterfahrungen, als auch mit intensiven Unlust- oder Leidenserfahrungen verbunden werden. Die Interaktionsmuster werden durch die konkreten Auswirkungen der Beziehungsgestaltung mit Macht oder mit Lust besetzt, weder Lust noch Machtstreben scheinen dabei primäre Bewegungshintergründe.
Macht und Lust als getrennt dargestellte Phänomene Ich beginne mit der Überlegung, dass Macht und Machtverhältnisse ein gegebenes Beziehungsphänomen darstellen und damit keine überflüssige oder zwangsläufig schädliche Dimension des Zusammenlebens darstellen. Wenn es stimmt, dass Subjektsein heißt, als Mensch anders zu sein als jeder andere Mensch, dann anerkennen wir, dass jeder Mensch
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über andere Fähigkeiten und Potentiale verfügt. Solange die Menschen getrennt voneinander leben können, entstehen aus diesen Unterschieden nicht zwangsläufig Konflikte oder Machtverhältnisse. Wenn aber Menschen mit Unterschieden, mit verschiedenen Fähigkeiten und Fertigkeiten in wechselseitigen Abhängigkeiten aufeinander treffen, wenn der eine vom anderen abhängig ist, etwas braucht oder will oder nicht will, dann entstehen aus diesen Unterschieden zwangsläufig Machtverhältnisse: Wenn der eine etwas besser kann als der andere, wenn der eine über etwas verfügt, worüber der andere nicht verfügt, dann entstehen unvermeidbar reale Machtverhältnisse, ebenso wie in Institutionen. Machtverhältnisse entstehen also aus den realen Unterschieden zwischen Menschen, die sich in wechselseitiger Abhängigkeit voneinander befinden. Die Fragen der Machtverhältnisse lassen sich meiner Meinung nach nicht einfach mit der Bewertung gut oder böse entscheiden, erst die Untersuchung des verantwortungsvollen oder verantwortungslosen Umgangs mit Macht lässt entsprechende Bewertungen zu. Macht scheint immer an das aufeinander Bezogensein gebunden zu sein, auf wechselseitige Abhängigkeiten angewiesen zu sein; je unabhängiger und trennungsfähiger Menschen voneinander auch sein können, umso eher können sie die Machtverhältnisse zumindest zeitweilig überwinden oder in den Hintergrund treten lassen. Der in Pubertätszeiten beliebte Satz: »Ist mir doch egal« kann als Versuch des Ausbruches aus bestehenden und ungewollten Machtverhältnissen verstanden werden, erst diese Trennungsfähigkeit kann einen Ausstieg aus Machtverhältnissen ermöglichen. Krause (1997) untersuchte, was denn eigentlich eine Beziehung ausmacht und zieht die Sozialpsychologie zu Hilfe. Er verwies auf drei grundlegende, beobachtbare Dimensionen in Beziehungen: 1. Macht, Kontrolle und Dominanz, 2. Nähe, Zuwendung und Sympathie, 3. Aktivität versus Passivität. French und Raven entwarfen bereits 1959 fünf Kategorien, aus denen Macht abgeleitet werden kann: legitime Macht, Macht durch Belohnung, durch Zwang, durch Identifikation und durch Wissen. Pfeffer beschreibt 1992 fünf Methoden, mit denen Macht ausge-
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übt werden kann: Handlungsmacht, Entscheidungsmacht, Mobilisierungsmacht, Verfügungsmacht und Definitionsmacht. Morgan (1986) unterscheidet in Organisationen verschiedene Quellen von Macht. Einige davon sind: formale Autorität, Verfügungsgewalt über beschränkt vorhandene Ressourcen, Kontrolle über Entscheidungsprozesse, Verfügungsgewalt über Wissen oder Technologien, Allianzen und Geschlechtermacht. Die unterschiedlichen Herangehensweisen verdeutlicht der Gegensatz zwischen Burckhardt (1905) und Koslowski (1989). Während der Erstere behauptet: »Und nun ist die Macht an sich böse, gleichviel wer sie ausübe. Sie ist kein Beharren, sondern eine Gier und eo ipso unerfüllbar, daher in sich unglücklich und muss also alle anderen unglücklich machen«, schreibt der andere: »Macht ist das Vermögen, das Mögliche wirklich werden zu lassen«. Der Soziologe Max Weber lieferte eine an konkrete Personen und konkrete Wirkungen gebundene Definition: »Macht bedeutet jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht« (Weber, 1968; zit. nach Claessens, 2000, S. 161). Die Politologin Hannah Arendt (1967) stellt den Zusammenhang zwischen Verantwortung und Macht her. Sie entspricht einer menschlichen Fähigkeit, etwas gemeinsam mit anderen zu tun. Sie beurteilte Macht zur politischen Veränderung positiv. Ein zusammenfassender Ordnungsversuch stammt von Quindeau (2005). Sie beschreibt zunächst das klassische Verständnis von Macht, das als Verhältnis von Machthabern und Machtunterdrückten konzipiert wird. Hier ist Macht an Individuen oder Kollektive gebunden, dem entspricht die Definition von Weber. Insbesondere die Notwendigkeit des von Weber postulierten Widerstrebens wird von Quindeau in Anlehnung an Foucault kritisiert, gerade das Nicht-vorhandensein von Widerstreben kann ein wichtiger Hinweis auf verborgene, intensive Macht sein. Foucault verweist darauf, dass ein zentrales Merkmal von Macht ihre Verdecktheit ist, »je weniger sie zu spüren ist, desto wirksamer ist sie« (Quindeau, 2005, S. 272). Luhmann betont in seinem Frühwerk den omnipräsenten Charakter von Macht, er konzentriert sich auf den Systemcharakter der Macht, Macht ist das generalisierte Medium der Kommunikation, die Funk-
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tion derartiger Medien liegt in der Bildung von sozialen Systemen. Gesellschaftlich besteht die Macht darin, unabhängig vom Willen des Machtunterworfenen mögliche Wirkungsketten von Handlungen sicher zu stellen. Luhmann konzipiert keine Machtverhältnisse zwischen Personen, sondern zwischen Systemen; die Macht ermöglicht erst Kommunikation. Foucault nähert sich dem Phänomen Macht wie Luhmann getrennt von konkreten Personen, er sieht Macht als ein selbstproduktives Entwicklungs- und Integrationsprinzip unserer Gesellschaft. Die Identität des Individuums wird durch diskursive Macht gebildet. Dabei unterscheidet Foucault zwischen drei Machttypen: Beim ersten Typ wird Macht durch Ausschließung ausgeübt, beim zweiten Typ wird Macht dadurch ausgeübt, dass ein Subjekt durch Erziehung oder Behandlung umgeformt wird, den dritten Typ der Macht nennt er die produktive Disziplin. Hier bewirkt die Macht die Durchdringung des Individuums, die Subjektivität vollzieht sich als Unterwerfung unter die Macht, die Trennung zwischen Machthaber und Machtunterworfenem entfällt. Aus einer analytischen Perspektive ist hier die Durchdringung eines Individuums mit einem ursprünglich externen Über-Ich zu verstehen, das nun das Individuum quasi Ich-konform durchdrungen hat und damit in die Selbststruktur eingewoben ist. Der Widerspruch ist dann nicht mehr intrapsychisch spürbar, er ist Ich-konform; dieser internalisierte Konflikt ist am ehesten interpersonell, am und durch das Gegenüber wahrnehmbar und damit benennbar. Person (2001) analysierte den Freud-Adler-Konflikt vielschichtig, kritisierte das Versäumnis der Integration des Machtbegriffes in die freudianische Psychoanalyse und schlug, erweiternd und wie BruderBezzel und Bruder (2001) kritisieren, vermutlich doch zu kurz greifend, die Einführung eines Machttriebes vor. Bruder und Bruder-Bezzel (2001) sowie Bruder in seinem darüber hinausweisenden Vortrag »Annäherungen an einen psychoanalytischen Begriff von Macht« (2005) weisen gut begründet auf andere Aspekte der Macht hin. Sie betonen den Umstand, dass zwischenmenschliche Macht zweifelsfrei immer schon da ist, bevor das Individuum geboren wird. Bruder (2005) verdeutlicht diesen Gedanken: »Das Subjekt täuscht sich darin, dass es selbst die Quelle seiner Macht sei und verleugnet die
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Bedingungen seiner Macht, die im anderen liegen« (Bruder, 2005, S. 29). Gisela Eife vertiefte die Diskussion durch ihren Beitrag »Die Unterscheidung des ›Willens zur Macht‹ von der Macht« (Eife, 2001). Sie weist mit guten Gründen auf die Nähe des Willens zur Macht zur schöpferischen Kraft hin und zeigt den Unterschied zwischen dem Willen zur Macht und realer Macht auf. Nach diesen ersten Überlegungen zu Machtphänomenen möchte ich mich nun den Phänomenen der Lust zuwenden. Auch bei dieser Annäherung beschränke ich mich auf einige aktuelle Konzepte, insbesondere auf diejenigen psychoanalytischen Ansätze, die einerseits neue Perspektiven der Erkenntnis eröffnen oder andererseits mit erkennbar emanzipatorischen Ansätzen die Fallen alter Sexualitätsvorstellungen zu umgehen suchen. Zunächst möchte ich auf die Schwierigkeiten hinweisen, die Freud dazu gebracht haben mögen, von einer genauen Definition von Lust bzw. Sexualität abzusehen. Die Komplexität des Begriffes, die Entwicklungsvorstellungen und die vielschichtigen Funktionen der Lust sind kaum definitorisch einzugrenzen. Bei der Ausarbeitung dieses Themas fand ich dem entsprechend keine befriedigende Beschreibung oder Definition von Lust. Das Erleben von intensivem Genuss bei hoher Erregung und großer Intensität, von partieller Auflösung der eigenen Grenzen, das Verschmelzungserleben mit einem geliebten Gegenüber, das Erleben eines konzentrierten Hier und Jetzt, in dem Vergangenheit und Zukunft für Momente im Hintergrund des Erlebens verschwunden sind, in der aller Mangel, alle Angst, alle Not und Zweifel verschwunden scheinen und ein Zustand von intensivstem Wohlbefinden, Ekstase oder des SichVerlierens erreicht ist, bleibt ein letztlich nicht einfach oder reduktionistisch aufzuklärendes Phänomen. Allerdings sollte dieses kurze Erleben des Paradieses, die gespürte Realität des Wegfalls von Grenzen, Zeit, Raum, Not und Mangel bei gespürtem intensivem Genuss, Lust oder Glück nicht in ihrer motivierenden Kraft unterschätzt werden. Auch wegen der Schwierigkeiten einer umfassenden Lustdefinition wenden sich viele Autoren den umschreibbareren Fragen des Begehrens zu. Begehren kann in zwei unterschiedliche Richtungskräfte differenziert werden: Es gibt ein Drängen und ein Angezogensein,
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das Drängen stammt als Richtungskraft aus dem Inneren des Begehrenden, das Angezogenwerden bezieht sich auf die Attraktivität und Anziehung des Gegenübers, vorausgehend ist die Erhöhung des Erregungsniveaus. Viele Autoren wie Kernberg (1994), Berner (2008) und Leikert (2008) beschäftigen sich wie Quindeau mit dem Begehren. Erotisches Begehren beschreibt Kernberg (1994) mit drei Eigenschaften: Erstens ist das Streben nach Lust auf eine Person gerichtet, mit der im Wechselspiel von Aktivität und Passivität, von Eindringen und Aufnehmen die Lust ausgelöst werden soll. Zweitens wird das komplementäre Verschmelzungserlebnis ersehnt, das einerseits aus der Lust an dem Begehren des Anderen und dessen Orgasmus zu einem ekstatischen Verschmelzungserlebnis führt und andererseits die Trennung der Geschlechter überwindet, also ein Gefühl der gegenseitigen Ergänzung auslöst. Leikert (2008) versteht das Begehren aus der Theorie von Jacques Lacan. Hier wird das Wesen des Begehrens nicht in der Erfüllung, sondern in der Suche, in der Öffnung nach Sinngebung gesehen. Das Begehren wird bei Lacan aus dem Mangel abgeleitet, da der Mangel letztlich nie überwindbar erscheint, besteht das Ziel der Analyse in der Aufgabe der Erfüllungsillusion, die eigentlichen Sinn gebenden Ziele sind dann in der Arbeit, im Leiden, im Risiko und der Begegnung zu finden. Berner (2008) bezieht die Bindungsforschung und Winnicotts Verständnis von Gehaltensein in das Begehren mit ein. »Sexuelles Begehren wird mehr und mehr als Dialektik zwischen dem Bedürfnis nach einem Sicherheit spendenden Objekt und durch körperliche Stimulation entstandener Lusterfahrung gesehen« (Berner, 2008, S. 77). Er beschreibt damit einen Zusammenhang zwischen dem intersubjekthaften Beziehungsgeschehen und dem individuellen Lusterleben, das im Begehren zusammentrifft. Ich werde später versuchen, dieses Verständnis um das Begehren nach Lust durch den Triumph über den Anderen zu ergänzen. Berner differenziert in dieser Arbeit zwischen der psychoanalytischen, der kulturanthropologischen, der evolutionspsychologischen und der neurobiologischen Sicht. Er betont auch, dass den Außenreizen, die anziehend stimulierend wirken, genau so viel Kraft zu-
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zurechnen ist wie der inneren Triebkraft. Entsprechend leitet er eine Theorie der Verliebtheit aus dem Zusammenwirken zwischen einer Triebrepräsentanz und einer Objektrepräsentanz ab. Im buddhistischen Verständnis wird übrigens die höchste Lust in der Verbindung zwischen Liebe und Weisheit gesehen, die Weisheit wird den Frauen und die Liebe den Männern zugewiesen. Die Soziologin und Psychoanalytikerin Ilka Quindeau, der wir schon wichtige Anregungen aus der Auseinandersetzung mit den Fragen der Macht bei Foucault und Luhmann verdanken, hat 2008 eine anregende neue psychoanalytische Sexualtheorie nach Freud unter dem Titel »Verführung und Begehren« vorgelegt. Konsequent wendet sie sich argumentativ gegen viele überkommende Normierungen und gegen eine Phasenfixierung, sie plädiert für eine von festgelegten Reifungsschritten losgelöste Sexualität und betont, wie auch bei der produktiven Machtreflektion nach Foucault, die Bedeutsamkeit der inhaltlichen Ausprägung von Sexualität und Lust durch Beziehungserfahrungen und gesellschaftliche Bedingungen. Sie versteht die Entwicklung des Begehrens des Kindes vorrangig unter der Einwirkung des Begehrens der Erwachsenen, das Kind antwortet mit der Entstehung des eigenen, infantil-sexuellen Begehrens auf den Anspruch des Begehrens der Erwachsenen. Jegliches Begehren sieht sie als Antwort auf das Begehrtwerden, insofern beschreibt sie eine nicht autonom-triebhaft festgelegte Entwicklung, sondern eine durch das Beziehungsgeschehen gerichtete sexuelle Orientierung, durchaus vergleichbar mit dem Adler’schen Verständnis der Entwicklung des Machtstrebens. Sie überwindet sowohl die angeborene Ausrichtung des Begehrens zu Gunsten einer sozialisationstheoretischen Perspektive und sie hebt die vermeintlich klare Trennung zwischen infantiler und erwachsender Sexualität auf. Die scheinbar festliegenden Fundamente der seelischen Entwicklung durch die frühen Kindheitserfahrungen kritisiert sie nicht nur durch die Betonung der Bedeutung der Pubertät, in der die infantile Sexualität nicht aufgehoben, sondern um die Orgasmusfähigkeit erweitert wird. Sie kennzeichnet mit dem Begriff der Einschreibungen, die während des gesamten Lebens fortlaufend umgeschrieben werden müssen, die mentalen Verarbeitungsnotwendigkeiten, die jeder Mensch durch seine individuellen Alterungsprozesse und Rollenzuschreibun-
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gen zu leisten hat. Nach einer ausführlichen Auseinandersetzung mit dem Weiblichkeitskonzept auch der frühen Psychoanalytikerinnen kommt sie auf das ursprüngliche Konzept der Bisexualität zurück, in dem orale, anale, phallische und genitale Impulse sowohl im aktiven wie im passiven Modus von beiden Geschlechtern als lustvoll begehrt werden und als befriedigend erlebt werden können. Die Unterschiede zwischen den Geschlechtern scheinen ihr weniger groß als die Unterschiede innerhalb jeder einzelnen Geschlechtergruppe.
Der Versuch, Macht und Lust in ihren Zusammenhängen zu betrachten Die Frage, wie das Machterleben und das Lustgefühl zusammenkommen, bedarf der Antwort. Freud betonte bei der Entwicklung seiner Triebvorstellungen immer, dass die Besetzung mit Lust nicht an ein festes Objekt gebunden sei, vielmehr sei es charakteristisch, dass sich die Lust ihr Objekt unter den gegebenen Bedingungen sucht. Die Entstehung von Paraphilien kann so gedeutet werden, dass sich die Lust unbewusst an etwas bindet, was zugleich der Abwehr wie der Überwindung dient. Die individualpsychologische Perspektive zu Macht und Gewalt wurde insbesondere von Manès Sperber in seiner 1937 veröffentlichten Arbeit »Zur Analyse der Tyrannis« dargestellt; auf diese Vorarbeit stütze ich mich im weiteren Text. Berner verweist 2008 auf einige empirische Arbeiten zur Sexualforschung bei Gewalttätern und äußert Hypothesen, nach denen unterschiedliche Hormone daran beteiligt sind. Testosteron könnte bei den drängenden Impulsen und Dopamin für die Erregung durch das Gegenüber beteiligt sein. Hartmann et al. (2006) gehen nach Auswertung umfangreicher experimenteller Studien davon aus, dass biologische und speziell hormonelle Faktoren an der Gesamtvarianz der menschlichen Sexualität einen relativ geringeren Anteil gegenüber den soziokulturellen Anteilen haben, der Einfluss gleichwohl aber fundamental für das Erleben bleibt. Volavka (2002) beschreibt, dass die Verbindung zwischen Gewalttätigkeit und Temporallappenauffälligkeiten vielfach belegt sind. Er untersuchte den Einfluss von Testosteron: Während
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bei Sexualstraftätern keine erhöhten Werte gefunden wurden, zeigten unter anderem chronische Gewalttäter sehr wohl signifikant erhöhte Werte. Briken, Hill und Berner fassen (2006) empirische Daten zusammen, danach weisen sie dem Testosteron bei der Koppelung einer Phantasie mit einer sexuellen Präferenz eine wichtige Bedeutung zu, sie betonen die Wichtigkeit der Pubertät und den in dieser Zeit stattfindenden Erfahrungen, denn: »Natürlich bleibt der Inhalt der Phantasien, die unter sexueller Erregung entstanden sind, in Erinnerung und kann auch wiederbelebt werden; allerdings dürften diese Phantasien ohne Testosteron viel von ihrem drängenden Charakter verlieren« (Briken, Hill u. Berner, 2006, S. 836). Sie belegen durch mehrere Untersuchungen die hohe Komorbidität von Gewalttätern mit Alkohol- und Substanzmissbrauch und Angststörungen, im forensischen Bereich finden sich bis zu 80 % Persönlichkeitsstörungen. Diese empirischen Daten lassen sich meiner Meinung nach gut mit dem Ansatz von Quindeau verbinden. Sie erkennt das nach ihrer Auffassung entscheidende Kriterium menschlicher Sexualität in der Unabhängigkeit sexueller Erregung von sinnlicher Wahrnehmung. Erst nach mentalen Verarbeitungsvorgängen wird durch Erinnerungen und Phantasien die sexuelle Erregung in der Folge unabhängig vom direkten Reiz möglich. »Menschliche Sexualität konstituiert sich im Modus der Nachträglichkeit« (Quindeau, 2008, S. 24). Genau diese Besetzung geschieht meiner Meinung nach als unbewusster Abwehrund Überwindungsvorgang dann, wenn das Erleben von Macht mit dem Erleben von Lust bei dem Menschen zusammen treffen, der sein Erleben von Ohnmacht und Leid nicht regulieren kann. Ob die Lust die Macht besetzt oder die Macht die Lust besetzt, scheint beliebig, aber der Umstand, dass die Lust unbewusst auch Bilder von erlebter Macht besetzen kann, scheint mir offensichtlich. So wird verstehbar, dass ein Gewalttäter seine Phantasien zunächst auch ohne direkt vorhandenen Reiz mit triumphaler Machtlust besetzen kann, bevor er sie in der Realität umzusetzen sucht. Hierfür könnten die selbstgedrehten Videos von Gewalttätern vor ihrer Tat Beleg sein. Wenn diese Hypothese stimmt, dann wäre vor allen anderen Präventionsmaßnahmen die Beseitigung von Ohnmacht und Leid die hilfreichste Prävention dagegen, dass spätere Gewalttäter die triumphale Machtlust im Dienst ihrer Abwehr und Überwindung brauchen.
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Auch wenn ich nicht die Auffassung teile, dass jedwede menschliche Motivation ihre Basis nur aus Mangel- oder Notlagen bezieht, lassen sich jedoch Mangel- und Notlagen sowie die damit verbundenen Unlustgefühle oder Leidenszustände vermutlich sicher als Grundlage für das Streben nach Macht und Lust beschreiben. Während jedwede personale Machtanwendung oder Lustempfindung sowohl die intrapsychische als auch die interpersonelle Sphäre der Beziehung betrifft, lassen sie sich als unterschiedliche Seiten einer Münze betrachten: Das Gemeinsame scheint das Streben nach einer über den Moment hinausreichenden Sehnsucht nach Sicherheit, Lust, Angstfreiheit sowohl im Beziehungsgeschehen wie im Körperspürerleben auszuzeichnen. Sowohl Macht wie Lust betreffen also immer den Beziehungsaspekt, wenn auch unter unterschiedlichen motivationalen, affektiven und mentalen Ausformungen. Gemeinsam scheint mir ebenso nicht nur die Häufigkeit des gleichzeitigen Zusammenwirkens, gemeinsam werden beide Kräfte auch von Scham, Schuld und Angst begleitet, oder durch diese Affekte abgewehrt und können sofort wieder der Beseitigung von Angst, Scham und Schuld dienen.
Entstehung und Funktionen der Gewaltphänomene Ich wende mich nun erneut der Frage zu, unter welchen Interaktionsbedingungen diejenigen spezifischen Selbststrukturen gebildet werden, die zu Gewaltbereitschaft führen. In der bereits aufgezeigten Interaktion der erwachsenen Bezugsperson mit dem Kind werden von beiden Seiten hingebungsvolle wie selbststabilisierende Impulse erkennbar, dazu dient die vierte Abbildung. Beide Personen treffen in den alltäglichen Situationen immer wieder aufeinander, die bewussten Aufgaben der Erwachsenen scheinen mir darin zu bestehen, sowohl die Verarbeitungskapazitäten des Kindes zu beachten als auch die Passung zu den vom Kind ausgehenden Impulsen herzustellen, allerdings auch die unverzichtbaren Trennungsvorgänge so zu gestalten, dass das Kind gerade die Trennung nicht als unerträgliche Überforderung erlebt. Dazu müssen die Erwachsenen das Kind, für das gerade die Trennung wegen seiner Abhängigkeit per
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Aufbau von Bindungs- und Trennungsfähigkeit Bezugsperson
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se ein in hohem Maß bedrohliches Erleben zu sein scheint, in seinem Anderssein anerkennen, letztlich lieben und zugleich die Erfahrung des Getrenntwerdens und Getrenntseins einfühlsam initiieren, begleiten und, soweit möglich, unterstützen. Diese Trennungsfähigkeit ist im weiteren Leben deshalb so bedeutsam, weil nur Menschen, die über diese Trennungsfähigkeit verfügen, in der Gestaltung ihrer eigenen Machtausübungen und Lustinszenierungen mittels Einfühlung und Anerkennung des Anderen die Auswirkungen der Macht- und Lustgestaltungen erkennen und regulieren können. Das Machtverhalten wie auch das Lusterleben wird durch die vorhandenen Strukturpotentiale ermöglicht, die Richtung, Intensität und inhaltliche Ausprägung wird maßgeblich unter tendenziöser Verarbeitung der realen Einflüsse festgelegt. Dadurch werden die individuellen, wie die von außen stammenden Anteile untrennbar miteinander verwoben. Ich beschreibe in der folgenden Übersicht den Zusammenhang zwischen subjektiv erlebten/gedeuteten Notlagen und den Versuchen, durch Abwehr oder Überwindung diese Notlagen zu bewältigen, die
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sowohl durch unreife Strukturanteile, durch unzureichende Verarbeitungsfähigkeiten in Folge von defizitären, überstimulierenden oder traumatisierenden Einwirkungen ausgelöst werden können. Die Notlagen werden demnach durch Abwehr ins Unbewusste verdrängt oder abgespalten und / oder sollen ebenso und zeitgleich durch unbewusste Überwindungsbemühungen aufgelöst werden. Aus diesen beiden Bewältigungsversuchen entstehen indirekt intrapsychisch die Symptome einer Erkrankung oder interpersonell das Leiden der Opfer von Gewalttaten.
Kontakt Beziehung Bewusstsein und Wille werden durch Abwehr und Überkompensation unbewusst geleitet Unbewusste Abwehr: weg von der Not Und/oder: Unbewusste Ziele der Überwindung: hin zum Ziel : Macht und/oder Lust Unbewusste Notlagen (Implizites Gedächtnis) Ubw. Struktur und Substruktur, Ubw. Beziehungserfahrungen, Konfliktdynamik, Defizite, Traumata
Abbildung 5: Notlagen – Abwehr – Überwindungsdynamik
Nach dieser Modellvorstellung möchte ich nun den von Reemtsma (2008) dargestellten Zusammenhang zwischen Macht und Gewalt vorstellen. Er unterscheidet phänomenologisch zwischen drei Formen von Gewalt: »Lozierende Gewalt will den Körper aus dem Weg oder an einen anderen Ort schaffen, raptive Gewalt will den Körper haben. Autotelische Gewalt zielt auf die Zerstörung der Integrität des Körpers, sei diese Zerstörung letal oder nicht« (Reemtsma, 2008, S. 116). Nach Reemtsma basiert Macht auf den Fähigkeiten, belohnen oder
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bestrafen zu können. Die Machtverhältnisse entstehen durch Gratifikations- oder Sanktionsfähigkeiten; zwischen Gewährung von Vorteilen und Schenken und dem Entzug oder der Schädigung pendeln verschiedene Möglichkeiten. Durch Schädigung oder Entzug, durch Wegnehmen oder Verletzen sieht er die Gewaltentstehung. Er bleibt bei seiner differenzierten phänomenologischen Untersuchung dem personalen Machtverständnis verbunden und erkennt bei der raptiven Gewalt den Lustaspekt. Ich werde später versuchen, eine andere Perspektive mit den Funktionen im Beziehungsgeschehen zu eröffnen und Gewalt weniger aus einer täter- oder opfergebundenen Perspektive zu betrachten. Die Notlagen, die gemeinsam mit den bereits angeführten biologischen und hormonellen Einflüssen zur Entwicklung von Gewaltbereitschaft führen, lassen sich differenzieren. In Abbildung 6 stelle ich Bedingungen vor, die sich vorrangig aus den Beziehungsgestaltungen ergeben. Wer als Kind zum Selbstobjekt für die Bedürfnisse der Bezugsperson wird, ist zwangsläufig trennungsunfähig und wird als Erwachsener gefährdet sein, Personen aus seiner Umwelt als ungetrennte Objekte
Acht Bedingungen zur Entstehung von Gewaltbereitschaft 1. Unsicherheit/Ambivalenz in Beziehungen (Verlust, Gewalt, Angst, unsicher gebundene Bindungsqualität) 2. fehlende Gefühls- und Intensitätsdifferenzierung 3. fehlende Passung: Bedrohung von Selbst-Hingabe und Selbst-Aufbau (Scham, Schuld, Angst) 4. fehlende Anerkennung des Andersseins, unzureichende Empathie, Mitgefühl, Mitleid 5. massive Notlagen – intensive Abwehr – absolute Überwindungsdynamik 6. Erleben von unerträglicher Ungerechtigkeit 7. Machtlust des Anderen am eigenen Leid/Traumata 8. Trennungsunfähigkeit des gewalttätigen Anderen Abbildung 6: Acht Bedingungen zur Entstehung von Gewaltbereitschaft
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zu benutzen. Die typischen Selbststrukturanteile eines potentiellen Gewalttäters lassen sich grob skizzieren, siehe dazu Abbildung 7. Aus der empirischen Untersuchung mit einem Erhebungsinstrument zur Prognose von zukünftigen Gewaltanwendungen stellten die Autoren (Boer et al., 1997 und Müller-Isberner, 2000) dann eine schlechte Prognose, wenn sie in der Vorgeschichte folgende Erfahrungen fanden: eigene Misshandlungs- oder Missbrauchserfahrungen, Beziehungs- und Beschäftigungsprobleme, Substanzmissbrauch, gravierende seelische Störung, suizidale Gedanken und ein hoher Wert in einem Anti-Dissozialitätstest. Unbehandelt ist die Prognose für diese Patienten relativ schlecht, nach einer Metaanalyse von Hall 1995 werden 27 % der Straftäter erneut straffällig; wurden sie mit Psychotherapie behandelt, lag die Rückfallquote immer noch bei 19 %. In diesem Rahmen möchte ich in Abbildung 8 auf die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen hinweisen, die zu der Entwicklung der dargestellten Strukturanteile gerade dann beitragen, wenn wir anerkennen, dass Menschen durch äußere Einflüsse beeinflusst werden und verletzbar sein können. In der Folge soll nun die Funktion der Machtlust aufgezeigt werden,
Abbildung 7: Schematische Skizze zur Selbststruktur eines potentiellen Gewaltanwenders
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Aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen fördern Gewaltbereitschaft –• –• –• – –• –• –• – –• –• –
Arbeitslosigkeit ungleiche Bildungschancen persönliche Entwertung bei fehlendem Besitz, Ansehen, Leistung fehlende gute Gemeinschaftserfahrungen Dominanz entfremdender Medien Auflösung traditioneller Zusammenhänge: Familien, Vereine, Kirche gesellschaftliche Idealisierung von Triumph erlebte Ungerechtigkeit, Wirkungs- und Bedeutungslosigkeit
Abbildung 8: Aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen, die Gewaltbereitschaft fördern
mit der unter aggressiver Fremdschädigung die Abwehr gegen den Zusammenbruch der eigenen Selbstregulation und die Herstellung eines Triumphgefühls erreicht wird. Kennedy hat in einer aktuellen Studie (2008) anhand von Tierexperimenten nachgewiesen, »dass Einzelne gezielt Gewalt und Konfrontation suchen, weil sie dadurch ihr Belohnungssystem im Kopf stimulieren, und dabei spielt der Botenstoff Dopamin eine zentrale Rolle« (Kennedy, 2008, S. 121). Diese Belohnungskaskaden können eine Sucht nach Gewalt auslösen. In Abbildung 9 versuche ich drei verschiedene Formen von Gewaltanwendung aufzuzeigen, mit denen ich auf das Beziehungsgeschehen zwischen dem Täter und dem Opfer genauer eingehen möchte. Die Gewaltanwendung entsteht demnach aus der drängenden Gewaltbereitschaft des Täters und der Anziehung durch ein dafür geeignetes Opfer. Je nachdem, auf welcher Ebene der Täter seine Machtlust zu erreichen sucht, lassen sich die verbale, die körperlich verletzende und die vernichtende Fremdschädigung durch das Triumphstreben des Täters beschreiben. So berichten Sozialarbeiter des Innenministeriums in NRW, die an der Reintegration ehemaliger rechtsradikaler Gewalttäter mitwirken, dass gerade die körperliche Gewalt anwendenden
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Täter dieser Gruppierung meist auf einem Borderline-Strukturniveau organisiert sind. Die Auswahl der Gewaltanwendung, verbal, seelisch oder körperlich Schmerz zufügend, sexuell missbrauchend oder körperlich vernichtend, scheint einerseits von der seelischen Not-Abwehr-Überwindungsdynamik des Täters abhängig zu sein, andererseits scheint er von der Möglichkeit abhängig zu sein, ein im Sinne des Täters dazu geeignetes Opfer zu finden bzw. erreichen zu können. Der unbewusste Beziehungsaspekt bei der Tat ist mehrdimensional: 1. Macht durch die Abwehrdimension: Der Täter versucht unbewusst, dem Opfer das zufügen zu wollen, was er selbst als Not erfahren hat. Das Opfer soll zum Träger des Abgewehrten werden. Der Täter hört dann mit der Gewaltanwendung auf, wenn das Opfer mit seinem Abgewehrten identifiziert ist. 2. Machtlust durch die Überwindungsdimension: Der Täter inszeniert ein aktuelles Machtverhältnis, in dem er absolute, triumphale Überlegenheit anstrebt, er inszeniert eine dominante Machtkonstellation, in der er die Überlegenheit lustvoll ausagiert, die Lust entsteht aus der realen Machtposition und aus der Potenz, über das Gegenüber entsprechend verfügen zu können. 3. Machtlust durch die Triangulierung: Der Täter sucht, sowohl die Abwehr wie die Überwindung auch vor Dritten zu inszenieren, so geschieht Mobbing meist vor den Augen von bedeutsamen Zuschauern, körperliche oder auch sexuelle Gewalt oft vor den Augen derjenigen, die beeindruckt werden sollen, und auch die vernichtende Gewalt zum Beispiel wird entweder vor Gesinnungsgenossen vollzogen bzw. so inszeniert, dass die Tat anschließend bekannt werden soll, im Gegensatz zum Beispiel zu wirtschaftlichen Kriminellen, die ihre Taten so durchführen, dass sie möglichst nie aufgeklärt werden sollen. 4. Steigerung der Machtlust durch identifikationsbereite Opfer: Das Machtverhältnis wird von beiden Beteiligten aufrechterhalten. Der Täter ist eigentlich wesentlich vom Opfer und dessen Identifikation abhängig, auch wenn in der Tat genau das Gegenteil inszeniert wird. Insofern sind einige unbewusste Haltungen von potentiellen Opfern für einen Täter attraktiv: Wenn ein Opfer glaubt, den Täter
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durch sein schweigendes Leiden verwandeln zu können; wenn es glaubt, eigentlich zu Recht bestraft zu werden, Lust an der Strafe fühlt; wenn es glaubt, durch Identifikation mit dem Täter doch an dessen Macht teilhaben zu können; wenn es unbewusst ein eigenes verletzendes Über-Ich entwickelt hat, dann können diese unbewussten Verarbeitungsmuster dazu beitragen, einen Täter unbewusst und ungewollt zu stimulieren. Dieser Eigenanteil ist nicht als Ursache oder gar als Verantwortung des Opfers zu missdeuten, sollte aber bei der Beziehungsdynamik und bei Präventionsmaßnahmen als Anteil mit bedacht werden. Arno Gruen (2002) benannte diesen Vorgang, den wir aus unseren Behandlungen als projektive Identifikationen kennen oder mit dem Enactmentkonzept verstehen können, als den Versuch, den Fremden in uns durch Projektion am Opfer zu entwerten, zu quälen oder zu vernichten. Abschließend möchte ich auf den Teufelskreis durch Sucht nach
Machtlust als Beziehungsgeschehen gegen den Durchbruch der eigenen Notlagen durch Herstellung eines Triumphgefühls Fremdschädigung durch verbale Entwertung
Fremdschädigung durch körperliche Schädigung
Fremdschädigung durch ganzheitliche Zerstörung oder Vernichtung
Lust am seelischen Leid des Anderen
Lust am körperlichen Leid des Anderen
Lust an der körperlichen Vernichtung/Zerstörung des Anderen
Entwertungs-, Ängstigungs- und Beschämungsmacht
Verfügungsmacht über den Körper des Anderen
Vernichtungsmacht über den Körper des Anderen
Abwehr der eigenen Selbstwertprobleme
Abwehr der eigenen körpernahen Ängste
Abwehr der eigenen Todesangst
Opfer fühlt Entwertung
Opfer spürt körperlichen Opfer hat Todes- und Schmerz/Missbrauch Vernichtungsangst
ängstlich-angezogene Zuschauer steigern die Lust
ängstlich-angezogene Zuschauer steigern die Lust
ängstlich-angezogene Zuschauer steigern die Lust
Abbildung 9: Drei Formen der Fremdschädigung und verschiedene Beziehungsfunktionen der Gewaltanwendung
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Machtlust hinweisen, da die chronifizierten Notlagen durch Gewalt, wie bei jeder Sucht, nicht verändert, sondern vorhersehbar wiederholt, reinszeniert und damit nahezu sicher dauerhaft stabilisiert werden.
Ausblick Nach diesen Überlegungen zur Macht und Lust werden einige Folgerungen und Forderungen formulierbar: Einerseits scheint es mir hilfreich anzuerkennen, dass jeder Mensch prinzipiell mit Macht und Lust, sehr wohl auch mit der Sehnsucht nach Triumph, demnach auch mit Angst, Scham und Schuld konfrontiert ist. Nur der kontinuierliche Diskurs mit anderen und die kritische Selbstreflektion vermögen zu einer möglichst geringen Selbst- und Fremdschädigungsbereitschaft beizutragen. Gewaltphänomene in Form von triumphaler Machtlust sind ein zweifelsfreies Anzeichen dafür, dass sowohl die individuelle Persönlichkeitsentwicklung massiv beeinträchtigt ist, dass sowohl intrapsychische wie interpersonelle Anstrengungen nötig sind, dass aber sicher auch gesellschaftliche Bedingungen verändert werden müssen, um die individuellen Not- und Mangellagen auf ein erträgliches Leiden zurückführen zu können. Bei der psychotherapeutischen Behandlung scheint mir ein sehr genauer Umgang mit Macht- und Lustphänomenen in der Übertragung, Gegenübertragung und im therapeutischen Arbeitsbündnis unverzichtbar, das gewissenhafte Durcharbeiten derartig schwerwiegender und komplexer Dynamiken benötigt nicht nur viel Zeit und Aufwand, sondern auch die Kompetenz zu einem kontinuierlichen Wechsel zwischen intersubjekthafter und interobjekthafter Wahrnehmungs- und Behandlungsstrategie und Beziehungsfähigkeit auf Seiten der Behandler. Wegen der unterschiedlichen Entstehungsdynamiken ist bei jeder Form von Gewaltprävention eine altersgemäße und geschlechtsspezifische Differenzierung notwendig, wenn die Maßnahmen fruchtbar werden sollen. Bei den Präventionsmaßnahmen muss insbesondere auf die Entwicklung von Trennungsfähigkeit hin gearbeitet werden. Sowohl als
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betroffenes Opfer als auch als beteiligter Zuschauer ist es hilfreich, sich innerlich von dem Geschehen trennen zu können und die unbewusste Dynamik des Täters erkennen zu können. Solange die Gewaltphänomene als unerklärlich mystifiziert werden, werden sie entsprechende Anziehung auf Gewalttäter ausüben. Zwar wird der innere Druck entsprechend gewaltbereiter Menschen dadurch nicht geringer werden, aber die soziale Ächtung von Triumph und Machtlust könnte dazu beitragen, die Anziehung für den gewaltbereiten Menschen und die Angst potentieller Opfer zu reduzieren.
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Bernd Nitzschke
Der Wille zur Macht – die Sehnsucht nach Hingabe Historische Reflexionen über Autorität und Familie
The will to power – the longing for surrender Historical reflections about authority and family In 1920 Otto Gross published a pioneering text: »Three Essays on the inner conflict«. In it Gross derived the clash between the (child’s) wish for self-preservation and the wish for self-sacrifice from the conflictual relationship between parent and child. This theory of Gross is connected with the relationship between authority and family (Horkheimer, 1936) and its possible psychopathological consequences are discussed from a contemporary perspective.
Zusammenfassung 1920 veröffentlichte Otto Gross eine Pionierschrift: »Drei Aufsätze über den inneren Konflikt«. Darin wird der Konflikt zwischen dem Wunsch, sich selbst zu erhalten, und dem Wunsch, sich preiszugeben, aus der konflikthaften Beziehung des Kindes zu den Eltern abgeleitet. Hieran anknüpfend werden das Verhältnis von »Autorität und Familie« (Horkheimer, 1936) und dessen mögliche psychopathologische Konsequenzen aus heutiger Perspektive diskutiert.
Der Begriff »Innovation« bezieht sich in der Regel auf neue Ideen; ich verwende ihn an dieser Stelle aber für die Erneuerung alter Ideen. Angesichts der Tatsache, dass wissenschaftliche Erkenntnisse eine immer kürzere Halbwertzeit aufweisen, ist das auch sinnvoll. Schließlich entspricht es guter psychoanalytischer Tradition, im Neuen das Alte zu suchen und im Lichte des Alten das Neue zu verstehen. Werfen wir also einen Blick zurück im Vertrauen darauf, in der Welt von Gestern manches von dem zu finden, was uns noch heute bewegt: Am 26. April 1908 trafen sich in Salzburg die Anhänger einer neuen Wissenschaft, genannt »Psychoanalyse«. Neben Sigmund Freud, der
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beim 1. Internationalen Psychoanalytischen Kongress im Hotel Bristol die Krankengeschichte des »Rattenmannes« vortrug, sprachen C. G. Jung, Alfred Adler, Wilhelm Stekel und Sandor Ferenczi. Die Namen dieser Pioniere sind allseits bekannt und auch ihre später von Freud abweichenden Positionen wurden nie völlig vergessen. Beides trifft auf Otto Gross, der in Salzburg mit seiner Ehefrau Frieda anwesend war, nicht zu. Jones, der in seiner Freud-Biographie (1962, II, S. 60) die in Salzburg gehaltenen Vorträge aufzählt, erwähnt keinen Beitrag von Gross, der zum Zeitpunkt der Abfassung der Freud-Biographie bereits vergessen war. Die Position, die er in Salzburg vorgetragen hatte, formulierte Gross kurze Zeit später so: »Ich habe […] von der Perspektive gesprochen, die sich mit der Entdeckung des ›psychoanalytischen Prinzips‹ d. h. der Erschließung des Unbewußten auf die Gesamtprobleme der Kultur und den Imperativ der Zukunft richtet« (1913a, S. 62). Aus dieser Bemerkung geht nicht klar hervor, ob Gross in Salzburg einen Vortrag gehalten oder nur eine ausführliche Diskussionsbemerkung gemacht hatte. Klar ist aber, dass der Appell, die Psychoanalyse für die politische und die sexuelle Revolution nutzbar zu machen (und das war für Gross nahezu dasselbe), auf taube Ohren stieß. »Es ist mir damals von S. Freud erwidert worden: ›Wir sind Ärzte und wollen Ärzte bleiben‹« (Gross, 1913a, S. 62). Das wollte Gross aber nicht. Er wollte nicht nur Seelenarzt, er wollte Arzt der ganzen Gesellschaft sein. Und so wurde er von der anarchistischen und künstlerischen Avantgarde seiner Zeit auch wahrgenommen: von Ascona bis Schwabing galt er als Prophet der Revolution, die mit Hilfe der Psychoanalyse auf den Weg gebracht werden sollte. Das widersprach zwar Freuds Position, doch die Boheme sah in Gross dennoch einen Vertreter der Psychoanalyse. Kurz nach dem Salzburger Kongress hatte er sich bei C. G. Jung einer psychoanalytischen Behandlung unterzogen. Jung konnte ihm aber ebenso wenig helfen wie einige Jahre später Stekel, der ebenfalls beim Versuch gescheitert war, Gross von der Drogensucht zu befreien, die er sich als Schiffsarzt auf einer Reise nach Südamerika zugezogen hatte. Und so blieb der Privatdozent für Psychopathologie Otto Gross das Sorgenkind seines Vaters Hans Gross, Strafrechtsprofessor an der Universität Graz und Begründer der Kriminalpsychologie. Als Hans Gross 1903 an der Prager Universität Vorlesungen ge-
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halten hatte, saß unter seinen Hörern Franz Kafka. Jahre später plante der gemeinsam mit dem Sohn seines vormaligen Professors eine Zeitschrift mit dem Namen »Blätter zur Bekämpfung des Machtwillens«. Aus diesem Plan wurde nichts – doch Kafka veröffentlichte eine Erzählung mit dem Titel »In der Strafkolonie« (1919). An einen solchen Ort hätte Hans Gross am liebsten alle deportieren lassen, die sein Sohn als revolutionäre Subjekte erkannt hatte: All die Abweichenden und Ausschweifenden, Aufsässigen und Arbeitsscheuen hätten, wäre es nach Hans Gross gegangen, in den Straflagern der überseeischen Kolonien zu anständigen Bürgern umerzogen werden sollen. Das war ein ebenso ehrgeiziger Plan wie die Erziehung des Sohnes, den der Vater 1913 als gefährlichen Revoluzzer in Berlin festnehmen und in der Privat-Irrenanstalt Tulln bei Wien als unzurechnungsfähigen Wahnsinnigen internieren ließ. So wurde der Vater doch noch der Vormund seines Sohnes, wenn auch nur auf juristischem Weg. Und der Sohn musste sich vorerst um die Wiedererlangung seiner eigenen Bürgerrechte kümmern, anstatt der allgemeinen Revolution dienen zu können (Goetz von Olenhusen, 2002). Dieser Vater-Sohn-Konflikt, hinter dem sich eine komplizierte Mutter-Sohn-Beziehung verbirgt, wie aus wieder entdeckten Familienpapieren (vgl. Kocher, 2006) ersichtlich wird, hatte eine exemplarische Bedeutung: Er symbolisierte den Konflikt der Generationen, den Kampf der rebellierenden Söhne gegen die Gesetze der etablierten Väter (Dienes u. Rother, 2003). Der Fall Gross gegen Gross wurde denn auch von einer beispiellosen Pressekampagne begleitet. Die Protesterklärung gegen die Zwangsinternierung von Otto Gross unterzeichneten nahezu alle, die in der (früh)expressionistischen Boheme Rang und Namen hatten (Jung, 2002). Und auch die Autoren, die Jahrzehnte später mit Hilfe psychoanalytischer und soziologischer Theorien die Dialektik von »Autorität und Familie« (Horkheimer, 1936a) aufzuklären versuchten, hätten sich mit gutem Recht auf Otto Gross als Kronzeugen berufen können. Denn der hatte die Autorität in der patriarchalen Familie nicht nur am eigenen Leib erfahren; er hatte, als er, noch immer drogensüchtig, 1920 im Alter von dreiundvierzig Jahren starb, auch ein schmales Werk hinterlassen, in dem er sich intensiv mit dem Thema Autorität und Familie beschäftigt. Otto Gross hat die bürgerliche Familie als Agentur der Herr-
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schaftsgesellschaft analysiert. Und er hat den in dieser Familie mit Hilfe strenger Erziehungsrituale gezüchteten Untertanengeist genau seziert. Jahre später wird Horkheimer schreiben, der Glaube, »dass es immer ein Oben und Unten geben muss und Gehorsam notwendig ist« (1936b, S. VIII), sei in der patriarchalen Familie tief verankert. Diesen Glauben wollte Otto Gross an der Wurzel packen. Daher seine Radikalität, mit der er das Eigene gegen das Fremde verteidigte. Jeder Mensch, der das Eigene in sich bewahren wolle, müsse sich gegen fremde Ansprüche zur Wehr setzen, meinte er. Dieses Fremde trete dem Kind ursprünglich als »Elterngewalt« (vgl. Gross, 1908) entgegen. In dieser frühen Gestalt wirke das Fremde auf das hilflose und von seinen Erziehern gänzlich abhängige Kind suggestiv. Hat die Identifikation mit dem Fremden, das nach Ansicht von Gross vor allem der autoritäre Vater, der Aggressor, repräsentiert, stattgefunden, ist die Forderung, gehorsam zu sein, verinnerlicht. Damit ist das Fremde jetzt Bestandteil der eigenen Person. Der ursprünglich äußere Konflikt (zwischen den Eltern, die die Normen der Herrschaftsgesellschaft durchsetzen wollen, und dem Kind, das sich zur Wehr setzt, um seinen Willen zu behaupten) ist zum inneren Konflikt geworden (Gross, 1920). Der fortgesetzte Kampf gegen das Fremde muss unter dieser Bedingung zur Selbstzerfleischung führen. Das sei bei psychischer Erkrankung auch der Fall, meinte Otto Gross. Doch neben der neurotisch-gehemmten Form des Protests, die sich selbstschädigend auswirkt, gibt es auch noch eine andere Möglichkeit, den inneren Konflikt zum Ausdruck zu bringen: Das ist die »pervers«-agierte Form des Protests, von der der Untertan Gebrauch macht, der mit der Autorität identifiziert bleibt und sich für seinen zähneknirschend ertragenen Verzicht auf Freiheit an denen rächt, durch deren Freiheitsbegehren er an seine Ketten erinnert wird. Die seelische Verfassung dieses Untertanen, den man später »autoritäre Persönlichkeit« oder »autoritärer Charakter« genannt hat (Horkheimer, 1936c; Fromm, 1936; Adorno, 1973), ist von Hermann Hesse in der Erzählung »Unterm Rad« (1905/1977) sehr genau beschrieben worden. In dieser Erzählung heißt der Mann ohne Eigenarten, der jedermanns Eigenschaften besitzt, weshalb er »mit jedem beliebigen Nachbarn Namen und Wohnung vertauschen« hätte können, »ohne
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daß irgend etwas anders« geworden wäre, Joseph Giebenrath. Sein »Respekt vor Gott und der Obrigkeit« und seine »Unterwürfigkeit gegen die ehernen Gebote der bürgerlichen Wohlanständigkeit« sind unerschütterlich. Doch sein Starrsinn, den er in Gestalt felsenfester Überzeugungen zum Ausdruck bringt, ist gepaart mit Beweglichkeit im Sinne von Opportunität. Und so kann er bei genauer Berücksichtigung der »Grenze des formell Erlaubten« auch immer wieder »nicht einwandfreie Geschäfte« tätigen. Daher sein »schlummerloses Mißtrauen«, das eine gute Begründung hat: Sie findet sich in seinem Charakter, in dem auch seine »aus Neid erwachsene Feindseligkeit« wurzelt, die er gegen alle empfindet, von denen er glaubt, sie hätten es unverdientermaßen besser als er (Hesse, 1906/1977, S. 7 f.). Jahrzehnte später wird es bei Adorno heißen: »Das Individuum, das zum Verzicht auf fundamentale Wünsche und in einem System strenger Selbstbeschränkung zu leben gezwungen wurde, und das sich betrogen fühlt, neigt nicht nur dazu, nach einem Objekt zu suchen, an dem es ›sich schadlos halten‹ kann, es wird sich auch besonders über die Vorstellung ärgern, andere könnten ›besser wegkommen‹. Die Variable Autoritäre Aggression kann daher als die sadistische Komponente des Autoritarismus bezeichnet werden, so wie autoritäre Unterwürfigkeit seine masochistische Komponente bildet« (1973, S. 50). Die Psychodynamik dieses autoritären Charakters hatte Otto Gross schon sehr viel früher beschrieben. In dem Buch »Drei Aufsätze über den inneren Konflikt« hatte er, komprimiert zusammengefasst, auch die sadomasochistisch organisierten Beziehungen dieses Charakters dargestellt. Das Buch erschien 1920 bei Marcus & Weber in Bonn, also im Todesjahr von Otto Gross, und kann als sein Vermächtnis gelesen werden. Zur selben Zeit publizierte Wilhelm Reich in diesem Verlag erste Arbeiten (1919, 1920), die auf Referate zurückgingen, die er in dem von Otto Fenichel im Rahmen des »Vereins jüdischer Mediziner« an der Universität Wien gegründeten Sexologie-Seminar gehalten hatte. Später bemühten sich dann Reich und Fenichel darum, Psychoanalyse und Marxismus beziehungsweise die individuelle mit der kollektiven Revolution, zu verbinden. Keiner von beiden hat je eine Schrift von Otto Gross zitiert. Und in der Geschichtsschreibung zum Thema
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»Authoritarianism and Personality« (Beit-Hallahmi, 2004) taucht der Name Otto Gross auch nicht auf. In der Regel beginnen entsprechende Darstellungen mit Hinweisen auf Wilhelm Reichs »Massenpsychologie des Faschismus« (1933). Die »Studien über Autorität und Familie« (Horkheimer, 1936a), zu denen Erich Fromm (1936) einen wesentlichen Beitrag geliefert hat, und die sich daran anschließenden Untersuchungen der autoritären Persönlichkeit, die Horkheimer in Zusammenarbeit mit einer Forschergruppe der Universität Berkeley in den USA auf den Weg brachte, nehmen in den historischen Überblicksstudien zur Autoritarismusforschung den größten Raum ein. Vom Standardwerk »The Authoritarian Personality« (Adorno et al., 1950), das die Ergebnisse dieser Untersuchungen enthält und die weitere Forschung wesentlich beeinflusste, gibt es allerdings bis heute keine vollständige deutsche Übersetzung. Eine erste Teil-Übersetzung erschien zwei Jahrzehnte später mit Adornos (1973) Namen auf dem Titelblatt, der im deutschen Sprachraum nun als der Vertreter einer Untersuchung galt, an deren empirischen Erhebungen er nicht beteiligt war. Die Milgram-Experimente zum Autoritätsgehorsam (1963) wurden in diese Forschungstradition eingereiht. So schreibt etwa BeitHallahmi: »Another echo of TAP [›The Authoritarian Personality‹, B. N.] in the 1960s were the Milgram experiments on obedience, which created controversy and outrage« (2004, S. 168). Diese kurze Bemerkung wird der Bedeutung dieser Experimente allerdings nicht gerecht, denn sie eröffneten eine neue Perspektive auf die Situation, in der sich der Befehlsgeber (die autoritative Persönlichkeit) und der Befehlsempfänger (die autoritäre Persönlichkeit) befinden. Da sich die Befehle auf einen Dritten (das potentielle Opfer) beziehen, kann man die Situation, in der sich der Befehlsempfänger befindet, nicht nur als Zweierbeziehung, sondern auch als trianguläre Beziehungssituation analysieren. Sie wird als Konfliktsituation erlebt, wenn der Befehlsempfänger nicht nur die Stimme seines Herrn, sondern auch die Stimme seines Gewissens hört. Dann lautet die Frage: Wird er der Autorität oder seinem Gewissen gehorchen? Der typische Untertan löst diesen Konflikt, indem er den Führer an die Stelle seines Gewissens setzt: Führer, befiehl! Wir folgen dir! Identifiziert er sich in dieser Weise mit der Autorität, ist er mächtig und gehorsam zugleich.
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Er gehorcht dem Befehl des Führers – und ist demjenigen gegenüber mächtig, an dem er den Befehl exekutiert. Die Milgram-Experimente haben die Bedeutung der situativen Bedingungen des Autoritätsgehorsams betont und damit die Bedeutung der Merkmale des autoritären Charakters relativiert, die bislang im Fokus der Aufmerksamkeit gestanden hatten. Denn mit der räumlichkörperlichen Nähe zwischen dem Befehlsempfänger und dem potentiellen Opfer nimmt die Stärke des emotionalen Konflikts zu, den der Befehlsempfänger erlebt (Nitzschke, 1969; Milgram, 1963, 1974). Damit zeigte sich, dass die Qualität der Beziehung, die sich zwischen Täter und Opfer entwickelt, eine entscheidende Rolle hinsichtlich der Ausführung oder Verweigerung des Befehls spielt. Offenbar lässt sich bei größerer Nähe das Miterleben der Leiden des Opfers nicht so leicht abwehren. Welche Bedingungen sind nun aber dafür verantwortlich, dass emotionale Nähe erlebt werden kann? Die Fähigkeit zur Einfühlung ist hierfür eine Voraussetzung. Allerdings sollte man Einfühlungsvermögen, das auch schon bei Primaten vorhanden ist (Rizzolatti u. Sinigaglia, 2008), also eine stammesgeschichtliche Basis hat, nicht ungeprüft mit Mitleid gleichsetzen, das als exquisit menschliches Vermögen gilt. Der Fortschritt von der Vergeltungs- zur Mitleidsethik kann deshalb als kulturelles Ereignis gelten. Psychopathen kennen kein Mitleid. Sie besitzen aber selektives Einfühlungsvermögen. Das hat der Film »Das Schweigen der Lämmer« (1991) am Beispiel des Hannibal Lecter eindrucksvoll vor Augen geführt. Auch religiöse oder politische Führer, die zu Hass und Gewalt anstacheln, besitzen Einfühlungsvermögen, das sie dazu benutzen, die Wünsche und Ängste ihrer Anhänger aufzugreifen und zu manipulieren. Das gelingt ihnen in Krisensituationen besonders gut. Dann formen solche Führer aus einsamen Massen kompakte Majoritäten, deren Sicherheitsbedürfnis nach einfachen Erklärungen verlangt, mit deren Hilfe das bislang Unverstandene (und deshalb Unheimliche) vermeintlich durchschaubar wird. Auf diese Weise erleben die Geführten Sicherheit – solange sie an die Lösungs- und Erlösungsvorschläge ihrer Führer glauben können. Wer diesen Glauben infrage stellt, gefährdet das Sicherheitsgefühl. Er wird deshalb gefürchtet, bekämpft und schließlich aus der Gruppe ausgeschlossen. Der Konformitätszwang, dessen Ursprünge ebenfalls schon bei
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Primaten zu beobachten sind, sichert also nicht nur den Zusammenhalt der Gruppe, sondern auch den Bestand des Einzelnen, solange der den Gruppenkonsens nicht gefährdet. Die Schuld- und Schamgefühle, die nach Einbeziehung von Kognitionen als Gewissensängste und Gewissensbisse deutlichere Gestalt gewinnen, kann man deshalb auch als Indikatoren auffassen, die den Grad der Übereinstimmung mit, beziehungsweise das Ausmaß der Abweichung von der Gruppe signalisieren. In diesem Konformitätszwang wurzelt schließlich das archaische Gewissen, das von Gefühlen abgesichert wird, zu denen später Kognitionen hinzukommen, die für die starre Beachtung von Regeln und die buchstabengetreue Auslegung der Gesetze sorgen, bevor weitere Entwicklungsschritte eine kritische Reflexion dieser Ge- und Verbote erlauben und mehr Liberalität ermöglichen. Für das Erleben des Kindes stellen nun aber nicht die Familie oder die Gesellschaft die anfängliche Gruppe dar; vielmehr ist die Urgesellschaft, die das Kind erlebt, die Mutter-Kind-Einheit. Sie konstituiert sich unter aktiver Beteiligung des Kindes, von dem die Mutter nicht unbedingt »Konformität«, wohl aber Abstimmung verlangt. Von der Mutter lernt das Kind also die ersten Regeln – das heißt, es lernt, wie es seine Affekte in der Beziehung zur Mutter (und später in der Beziehung zu sich selbst) regulieren soll. Dabei handelt es sich zunächst nicht um kognitive, sondern um emotionale Lernprozesse, die in Interaktionsprozesse eingebettet sind. Sie prägen die frühen Hirnstrukturen und legen so das Fundament für jede spätere Beziehungsgestaltung. Mag sich die Mutter dabei auch noch so sehr an Familien- und Gruppennormen orientieren, das Kind wird die Forderungen, die es erfüllen soll, als Forderungen der Mutter erleben. Neben den bewussten Forderungen, die die Mutter an das Kind richtet, gibt es aber auch noch unbewusste Wünsche der Mutter. Widersprechen sie den bewussten Zielsetzungen der Mutter nicht zu sehr, kann das Kind die Mutter vergleichsweise einfach »verstehen« – und ihr vergleichsweise widerspruchsfrei antworten. Gibt es zwischen den bewussten und den unbewussten Wünschen der Mutter schwerwiegende Diskrepanzen, so befindet sich das Kind in einer verwirrenden Situation: wie immer es reagieren mag – es wird »falsch« reagieren. Die Gewissheit, »falsch« reagiert zu haben, ergibt sich dabei aufgrund der nachfolgenden emo-
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tionalen Reaktionen der Mutter auf das Kind. Das heißt, das Kind wird sich dann »schlecht« fühlen (und am Ende auch denken, es sei »schlecht«), wenn die Reaktionen der Mutter für das Kind »schlecht« ausgefallen sind. Wirken sich die emotionalen Reaktionen der Mutter hingegen »gut« aus, wird sich das Kind »gut« fühlen (und schließlich auch denken, es sei »gut«). Das ist die affektive Basis von Gut und Böse, die durch eine kognitive Umwertung aller daraus abgeleiteten Werte nicht zu beseitigen ist. Das Kind wird sich also darum bemühen, auf die Wünsche der Mutter »richtig« zu reagieren, um so die Reaktionen der Mutter hervorzurufen, die »gut« für das Kind sind. Es wird dieses Bemühen erst dann einstellen, wenn es alle Hoffnung aufgegeben hat, von der Mutter die Reaktionen zu erhalten, die der Erwachsene mit Begriffen wie »Liebe« oder »Anerkennung« umschreibt. Diese »guten« Reaktionen vermitteln dem Kind das basale Sicherheitsgefühl, das zur Grundlage seiner Selbst-Liebe und Selbst-Anerkennung wird. Der Narzissmus des Kindes ist demnach nicht »primär«, vielmehr ist er ein Spiegelbild der ersten Liebe – und die erste Liebe wird zum Vorbild jeder späteren Liebe. On revient toujours à son premier amour. Aus den genannten Gründen liegt der Wunsch des Kindes, von dem Menschen geliebt zu werden, an den es sich erstmals bindet (das ist in der Regel die leibliche Mutter, zu der bereits eine durch und durch körperliche intrauterine »Bindung« bestanden hat), in der »Natur« des Kindes. Diese Natur äußert sich im Zärtlichkeitsbedürfnis des Kindes, das Alfred Adler in Übereinstimmung mit Freud als Modifikation des Sexualtriebs bezeichnete, die sich im Kontext personaler Beziehungen entwickelt. »Die ursprünglichen Äußerungen des Zärtlichkeitsbedürfnisses sind auffällig genug und hinlänglich bekannt. Die Kinder wollen gehätschelt, geliebkost, gelobt werden, sie haben eine Neigung, sich anzuschmiegen, halten sich stets in der Nähe geliebter Personen auf […]« (Adler, 1908/2007, S. 79). Das Ziel des Wunsches ist mit der »Befriedigung dieser nach dem Objekt ringenden Regungen« (S. 78 f.) erreicht. Der Trieb und dessen Modifikation sind also von Anfang an objektbezogen. Doch das Objekt der Begierde (die Mutter), stellt Bedingungen, denen das Kind nachkommen muss, wenn es geliebt werden will. In »der Regel – und vernünftigerweise – ist eine Befriedigung
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des Begehrens nach Zärtlichkeit nicht ganz umsonst zu erlangen. Und so wird das Zärtlichkeitsbedürfnis zum Hebel der Erziehung. Eine Umarmung, ein Kuss, eine freundliche Miene, ein liebevoll tönendes Wort sind nur zu erzielen, wenn sich das Kind dem Erzieher unterwirft, also auf dem Umweg über die Kultur. In gleicher Weise wie von den Eltern ersehnt das Kind Befriedigung vom Lehrer; später von der Gesellschaft […]« (S. 79). So wird das Kind erst zum Kind der Mutter – und damit wird es dann kultur- und gesellschaftsfähig. Die Leistung, die das Kind zu erbringen hat, besteht demnach in der Anpassung an die Wünsche anderer Menschen (zunächst der Mutter und später anderer Erwachsener). Adler spricht sogar davon, das Kind müsse sich »unterwerfen«. Das ist ein hoher Preis. Doch der Preis, den das Kind zu zahlen hat, das nicht geliebt wird, weil es sich nicht anpassen will (oder weil es aus anderen Gründen abgelehnt wird), ist wesentlich höher. Dieses Kind bleibt einsam. »Einsamkeit macht krank« (Nitzschke, 1971). Otto Gross hat die Einsamkeit des Kindes als Quelle seelischer Leiden erkannt und die daraus folgenden Reaktionen beschrieben: »Ich sehe in der Einsamkeit, in die das Kind versetzt wird, den eigentlichen Ursprung aller neurotischen Angst und damit jenes eigentümlich angstvollen, verzweifelt-rücksichtslosen Charakters, der allen aus dem Unbewußten hervorbrechenden Impulsen ein so spezifisches Gepräge verleiht« (Gross, 1920, S. 129 f.). Soziale Isolation wird nun aber in der Gesellschaft wie in der Familie als Erziehungsmittel eingesetzt. Was dort das Gefängnis bewirken soll, soll hier durch Liebesentzug erreicht werden. Doch eine »Erziehung, welche […] das Kind mit seiner Sehnsucht nach Liebe allein lässt«, macht aus dem von »allen Objekten der Zärtlichkeit abgeschnittenen« Kind keinen sozialen, vielmehr einen asozialen Menschen. Und der kann sich dann nur noch selbst »als Ziel seiner Sehnsucht« begreifen (Adler, 1908/2007, S. 80). Das ist kein »primärer« Narzissmus – und auch keine Form der Selbstliebe, die als Spiegelbild einer ersten Liebe aufzufassen wäre; das ist die schiere Verzweiflung – bildlich gesprochen: ein Hunger, der dazu zwingt, sich selbst aufzufressen. In diesem Fall bleiben »die Sozialgefühle […] rudimentär, und Befriedigungstendenzen erhalten die Oberhand, die Eigenliebe in jeder Form zum Inhalte haben. Oder das Kind gerät in die Angriffsstellung.
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Jeder unbefriedigte Trieb richtet den Organismus schließlich derart, dass er sich in Aggression zur Umgebung stellt« (Adler, 1908/2007, S. 80). Das Kind kann die Isolation aber auch als Schutz vor weiterer Demütigung (durch Bestrafung) oder vor neuen Enttäuschungen (wegen vergeblicher Bemühung um Liebe und Anerkennung) benutzen. In diesem Fall wird es sein Zärtlichkeitsbedürfnis bekämpfen, weil es sich nur so aus der Bindung an das enttäuschende oder immer wieder demütigende Liebesobjekt befreien kann. Dieser Rückzug in die Isolation führt aber zu einem neuen Dilemma. Denn »ein starker Egoismus schützt [zwar] vor Erkrankung, aber endlich muß man beginnen zu lieben, um nicht krank zu werden, und muß erkranken, wenn man infolge von Versagung nicht lieben kann« (Freud, 1914, S. 151 f.). Otto Gross hat die Psychodynamik dieses inneren Konflikts im Zusammenhang familiärer Konflikte erörtert, die er in einen historisch-politischen Gesamtzusammenhang einordnete. Demnach hätte das patriarchale Autoritätsprinzip das matriarchale Prinzip der freien Assoziation beseitigt und damit alle menschlichen Beziehungen dem Produktions- und Eigentumsethos unterworfen. Gross forderte deshalb das »Rückgängigmachen aller und jeder Wirkung der falschen Entwicklungsrichtung, auf welcher sich die Menschheit seit ihrer Abkehrung von der mutterrechtlich-kommunistischen Gesellschaftsordnung der Urzeit und der Begründung von Familie und Gesellschaft auf Autorität und Hierarchie befindet« (1919, S. 102). Diese Worte schrieb Gross ein Jahr nach der Russischen Revolution nieder. Vier Jahre zuvor hatte er noch hellsichtig geschrieben: »Es ist keiner der Revolutionen, die der Geschichte angehören, gelungen, die Freiheit der Individualität aufzurichten. Sie sind wirkungslos verpufft, jeweils als Vorläufer einer neuen Bourgeoisie, sie sind geendet in einem hastenden Sicheinordnenwollen in allgemein geltende Normalzustände. Sie sind zusammengebrochen, weil der Revolutionär von gestern die Autorität in sich selbst trug« (1913b, S. 61). Aus dieser Erkenntnis leitete Gross die Forderung ab, der Revolutionär müsse sich selbst »vom Autoritätsprinzip« befreien – und damit »von allen Anpassungen an den Geist der autoritären Institutionen, die sich in ihm gebildet haben im Laufe einer Kindheit im Schoße der Autoritätsfamilie« –, bevor er daran gehen könne, für eine freie Gesellschaft zu kämpfen.
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Nur diese Beseitigung des »sklavenhaften Charakterzugs, der ausnahmslos jedem aus solcher Kindheit her anhaftend bleibt«, könne »von der Erbsünde selbst, dem Willen zur Macht« (1919, S. 103), erlösen. »Keine Revolution ändert etwas am Wesen, solange sie nur die Institutionen ändert und nicht auch die Menschen, die in diesen Institutionen leben sollen. […] Die Weltänderung sei radikal, sie greife an der Wurzel an. Die Wurzel ist der Mensch. Die Änderung des Menschen ist die Erziehung. […] Die neue Erziehung schafft den neuen Menschen und dieser erst die neue Welt« (Fenichel, 1919, S. 310 f.; zit. nach Mühlleitner, 2008, S. 107). Gross empfahl deshalb die Psychoanalyse als Mittel der Revolution: »Die Psychologie des Unbewußten ist die Philosophie der Revolution, d. h. sie ist berufen, das zu werden als das Ferment der Revoltierung innerhalb der Psyche, als die Befreiung der vom eigenen Unbewußten gebundenen Individualität. Sie ist berufen, zur Freiheit innerlich fähig zu machen, berufen als die Vorarbeit der Revolution« (1913b, S. 59; Hervorhebung: B. N.). So wäre »das Beste, das wir haben: das Streben nach Beziehung« (1920, S. 146), aus der Gefangenschaft zu befreien, in die es unter den herrschenden Bedingungen geraten ist. Otto Gross war der Auffassung, es gebe keinen ursprünglichen Gegensatz zwischen dem Streben nach Kontakt und dem Willen zur Selbsterhaltung: »Kein Mensch vermag bereits als Kind auf Liebe zu verzichten: das ist unmöglich, weil der Trieb zum Anschluß an die anderen so arterhaltend wie das Streben zum Bewahren des eigenen Wesens ist« (1914, S. 84). Doch weil das Kind nach den Prämissen der Herrschaftsgesellschaft zu einem Untertanen erzogen werden solle, müsse das Verlangen des Kindes nach Liebe von den Eltern vom ersten Tag an instrumentalisiert werden. Diese Instrumentalisierung zerstöre die Bereitschaft des Kindes zur freiwilligen Hingabe. Und so komme es, »daß die angelegten großen, in ihrem ursprünglichen Charakter doch notwendigerweise harmonisch koordinierten Triebe« – das Streben nach Selbsterhaltung und das Streben nach Kontakt – »zu den beiden antagonistischen Triebkomponenten werden, die man als ›Wille zur Macht‹, als krankhafter Ichtrieb im Sinne Adlers einerseits und als ›allsexuell‹ gewordene, alle Perversionen umfassende, verdrängungsbedürftige und Psychoneurosen erzeugende Sexualität im Sinne Freuds andererseits« bezeichnet (1920, S. 128).
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»Ich definiere Perversion als Übertragung sexueller Triebenergie auf etwas seinem Wesen nach nicht Sexuelles«, heißt es dazu bei Gross (1920, S. 126), der den nicht-sexuellen Anteil perversen Agierens als Wunsch nach Beherrschung des eigenen und des fremden Begehrens erkannte. Die Folgen dieser Repression zeigen sich in der ängstigenden, peinlich zu versteckenden, heimlich zu praktizierenden, also in der »perversen« Sexualität des Erwachsenen – oder aber in deren Gegenstück, im neurotischen Symptom, das Ausdruck gehemmter »perverser« Wünsche ist. Das Gefühl des Triumphs aber zeigt an, dass man nun endlich Herr (der eigenen und/oder fremden Gefühle) geworden ist. Gross widerspricht damit der Annahme Freuds, schon die infantile Sexualität sei polymorph-pervers. Was Freud beobachtet habe, sei ein Ergebnis repressiver Erziehung und nicht der Ausdruck der Natur des Kindes. »Von der ursprünglichen, artgemäß angelegten Sexualität können wir zusammenfassend wohl nur das eine sagen: Die Sexualität als angelegter Trieb und also auch die ursprüngliche Sexualität des Kindes ist Trieb nach Kontakt, im physischen und psychischen Sinne« (1920, S. 129). Auch Gross spricht die erste, alle Sinne umfassende Bindung, die das Kind eingeht, als »sexuelle« Beziehung an, wobei er den Begriff »Sexualität« – genau wie Freud (vgl. Nitzschke, 1976) – in einem erweiterten Sinn verwendet. Zur Veranschaulichung der fundamentalen Bedeutung dieser ersten Bindung zitiert Gross aus dem Bericht einer populären Zeitschrift, in dem die Auffassungen eines Kinderarztes folgendermaßen dargestellt wurden: Kaiser Friedrich II. (1194–1250) wollte wissen, »in welcher Weise sich Kinder miteinander verständigen würden, die niemals ein gesprochenes Wort gehört hätten«. Aus diesem Grund ließ er »verwaiste Säuglinge von Ammen aufziehen«, die den Befehl hatten, die Kinder »mit allem bestens zu versorgen, aber niemals ein Wort oder eine Liebkosung an sie zu richten«. Des Kaisers Frage blieb unbeantwortet. Die »Kinder starben«, bevor sie sprechen konnten. »Sie konnten, sagt die Chronik, nicht leben ohne den Beifall und die Gebärden, die freundlichen Mienen und Liebkosungen ihrer Wärterinnen; deshalb nennt man die Lieder, die das Weib dem Kinde an der Wiege singt, den Ammenzauber.« Ohne diesen Zauber wird das Kind auch »bei sonst einwandfreier Versorgung« krank. Man nennt diese Krankheit schon ein halbes Jahrhundert vor René Spitz (1945)
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»Hospitalkrankheit, Hospitalismus«. Sie äußert sich unter anderem im »Nachlassen des Appetits und damit des Wachstums«. Grund hierfür ist das Fehlen der »zahllosen psychischen und körperlichen Anregungen zu Essen und Bewegung, Wachen und Schlaf, die das glückliche Kind in den Armen der liebenden Mutter empfängt«. Dem einsamen Kind fehlen »das Lächeln und Lieben, das Singen und Wiegen, das Aufgehobenwerden von der Mutter nach dem ersten Wimmerlaut der Nacht und das süße Wiederversinken in Träume unter der Flüstermelodie der Hüterin«. Ihm fehlt die »Befriedigung, die das Kind empfindet, [das] auf den ersten Schrei nach Nahrung zu gewohnter Stunde an die nährende Brust gelegt« wird. Und so kann es die »bewußt-unbewußte erste Wollust des Daseins, saugend am warmen Busen der Mutter zu liegen, all diese traumhaften, kaum empfundenen und doch dem Kinde nötigen Wonnen des ersten Lebens« nicht erleben. An diesem »Mangel an Liebe« oder – wie sich einer der führenden Erforscher des Hospitalismus ausdrückt – an diesem »seelischen Hungertode« geht das Kind zugrunde (Gross, 1920, S. 147 f.). Im angeführten Zitat ist die Rede von einem »Zauber«, von einer »Flüstermelodie«, von »traumhaften« »Wonnen«, schließlich gar von der »Wollust des Daseins«. All das erleben Kinder, deren Sinnlichkeit noch nicht zerstört ist (Nitzschke, 1974), sich vielmehr in einer zärtlichen Beziehung entfalten kann. »Wunsch – Traum – Kindheit« (Nitzschke, 2005) sind dann eins. Diese Einheit wieder zu erleben, das ist der Wunschtraum des Erwachsenen, dessen Erfüllung nur unter einer Bedingung möglich ist: unter der Bedingung einer weit reichenden Ich-Regression. Das wäre dann das wieder gewonnene Kinderglück, das durch Geld nicht zu kaufen ist. Doch die Ermöglichung dieses Glückes macht auch Angst, denn es ist an die Auflösung der Ich-Grenzen gekoppelt, die dem Erwachsenen Schutz und Sicherheit gewähren. Es geht also »darum, die Qualität des Orgasmuserlebens zu verstehen. Den bedeutendsten Schritt in diese Richtung hat Wilhelm Reich unternommen, der die Entspannung des ganzen Körpers als Voraussetzung für eine ganze ›orgastische Potenz‹ betrachtete und ganz allgemein die entspannte Haltung im Gegensatz zum körperlichen ›Panzer‹ sah, der Ausdruck von Verdrängung und Widerstand sei. Es sollte hinzugefügt werden, daß Reichs Auffassung von der orgasti-
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schen Potenz letztlich über das Problem rein körperlicher Entspannung hinausführt« (Fromm, 1990, S. 94 f.). Will man dieses zentrale Anliegen Reichs erkennen, muss man sich von der Suggestivkraft der Schlagworte befreien, die er selbst geprägt hat: »sexuelle Revolution«, »genitaler Charakter«, »orgastische Potenz« beziehen sich nicht auf die Orgie. »Was ich meine, ist die emotionale, die primäre emotionale Erfahrung der Verschmelzung zweier Organismen«. »Es ist […] nicht die Umarmung, nicht der Geschlechtsverkehr. Es ist die wirkliche, emotionale Erfahrung des Verlust[s] des Ichs, des gesamten geistigen Selbst« (Wilhelm Reich in einem Interview mit Kurt R. Eissler, o. J., S. 16). Gemeint ist »das letzte Ziel aller Triebe[:] die Verschmelzung mit dem Objekt, die Herstellung der Ich-Objekt-Einheit […]. Der Erwachsene kommt im Orgasmus diesem Urziel am nächsten« (Balint, 1937, S. 105). »Sexualität als Überwindung der Einsamkeit« ist dann »nicht mehr das Erlebnis des einzelnen«, sondern gemeinsames Erleben; es ist dann nicht mehr »mit der Person identisch, sondern das reine große Dritte« (Gross, 1913c, S. 71). Dieses Dritte ist die Beziehung, in der sich die Individualitäten wie im Traum auflösen, um sich beim Erwachen wieder neu vorzufinden. Diese Auflösung des Ich im Dienste des Ich kann dann angstfrei erlebt werden, wenn das Vertrauen in die Haltbarkeit der inneren Strukturen vorhanden ist, das auf der Verlässlichkeit früher Bindung beruht. Wurden Körper und Seele, Sexualität und Zärtlichkeit damals nicht gespalten, kann deren Einheit auch heute noch erlebt werden. In dem von Gross zitierten Referat über die Ansichten eines Kinderarztes, der, lange vor Bowlby (2008), das Fehlen einer sicheren Bindung als Ursache psychischer Erkrankung erkannte, heißt es weiter: »Wie eine schöngeistige ethische Forschung hört es sich an; Naturgesetz ist es […]: jedem Kinde eine Mutter!« (1920, S. 148). In dieser Formulierung treten Poesie und Natur nicht als Gegensätze auf, vielmehr als zwei Seiten einer Wahrheit. Freud, der sich als Naturwissenschaftler verstand, formulierte diese Wahrheit später poetisch so: »Die Liebe der Mutter zum Säugling, den sie nährt und pflegt, ist etwas weit Tiefgreifenderes als ihre spätere Affektion für das heranwachsende Kind. Sie ist von der Natur eines voll befriedigenden Liebesverhältnisses, das nicht nur alle seelischen Wünsche, sondern auch alle körperlichen Bedürfnisse erfüllt, und wenn sie eine der
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Formen des dem Menschen erreichbaren Glückes darstellt, so rührt dies nicht zum mindesten von der Möglichkeit her, auch längst verdrängte und pervers zu nennende Wunschregungen ohne Vorwurf zu befriedigen« (1910, S. 187 f.). Es sind also Wünsche, die Kind und Mutter aneinander binden, wobei das Kind als der geborene Verführer der Mutter auftritt, und die Mutter als die erste und allgemeine Verführerin des Kindes agiert. Das Band aber stiftet die Natur, die dafür gesorgt hat, dass »infolge der naturgegebenen Aufeinanderbezogenheit der gegenseitigen Triebziele« (Balint u. Balint, 1939, S. 128) jeder von beiden für das Wohl des anderen wie für das eigene sorgt. Dieses Bild hatte Freud vor Augen, als er über »die anfänglichste Sexualbefriedigung«, die »noch mit der Nahrungsaufnahme verbunden war«, schrieb, damals »hatte der Sexualtrieb ein Sexualobjekt außerhalb des eigenen Körpers in der Mutterbrust. Er verlor es nur später, vielleicht gerade zu der Zeit, als es dem Kinde möglich wurde, die Gesamtvorstellung der Person, welcher das ihm Befriedigung spendende Organ [die Brust, B. N.] angehörte, zu bilden. Der Geschlechtstrieb wird nun in der Regel autoerotisch, und erst nach Überwindung der Latenzzeit stellt sich das ursprüngliche Verhältnis wieder her. Nicht ohne guten Grund ist das Saugen des Kindes an der Brust der Mutter vorbildlich für jede Liebesbeziehung geworden. Die Objektfindung ist eigentlich eine Wiederfindung« (1905, S. 123 f.; Hervorhebung: B. N.). »Liebesbeziehungen (indifferent ausgedrückt: Gefühlsbindungen)« (Freud, 1921, S. 100) sind ursprünglich körpernah und deshalb können sie auch als triebhaft-affektiv aufgefasst werden. Sie zeichnen sich also nicht durch jene Reinheit aus, die das Altarbild von der Mutter Gottes und deren Sohn nahelegt. Schließlich war es auch die weltliche Sicht der Mutter-Kind-Beziehung, die Freuds Gegner so sehr erzürnte: »Wenige der Ermittlungen der Psychoanalyse haben eine so allgemeine Ablehnung gefunden, einen solchen Ausbruch von Entrüstung hervorgerufen wie die Behauptung, daß die Sexualfunktion von Anfang des Lebens an beginne und schon in der Kindheit sich in wichtigen Erscheinungen äußere« (Freud, 1925, S. 59). Inzwischen moralisieren Freuds Kritiker nicht mehr. Sie argumentieren vermeintlich wissenschaftlich, wenn sie Freuds These heute angreifen. Dann heißt es etwa, Mutter und Kind seien füreinander
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nicht so sehr »Triebobjekte« als vielmehr »Resonanzräume für eine Vielfalt von körperlichen und seelischen Bedürfnissen«, zu denen »physiologische Regulation, sinnliches Vergnügen, Neugier, Bindung, Kommunikation, Aversion und vielleicht auch Anerkennung« gehören (Dornes, 2005, S. 127). Diese bürokratische Ausdrucksweise unterscheidet sich zwar von der poetisch formulierten Darstellung der Ansichten eines Kinderarztes, die Gross vor hundert Jahren zitierte, doch in der Sache bringt sie nichts Neues. Dennoch wird der alte Wein nun als frisch gekeltert angeboten. Und so meint der Autor weiter, keines aus der »Vielfalt von körperlichen und seelischen Bedürfnissen«, die er unverdrossen aufgezählt hat, »sollte in seiner Bedeutung für die kindliche Entwicklung privilegiert werden […]. Dadurch erhält die Thematisierung dieser Bedürfnisse ein gegenüber der Tradition erhöhtes Gewicht, und das ehemals zentrale Thema der Sexualität tritt in den Hintergrund« (S. 127). Warum? Weil der Lustgewinn, den der Säugling aus der Macht über die Dinge gewinne, experimentell bewiesen sei – meint der moderne Kritiker, der damit die Bedeutung »sexuellen« Lustgewinns, die Freud betonte, zumindest begrenzen will. »Man bindet eine Schnur an einen Fuß des Säuglings und verbindet die Schnur mit einem Mobile. Nach kurzer Zeit bemerkt der Säugling den Zusammenhang zwischen Fußbewegung und Bewegung des Mobiles« (Dornes, 2005, S. 122). Und deshalb fängt der Kleine nun herzhaft an zu lachen. Denn er hat bemerkt, dass er die Welt mit einem Fußtritt bewegen kann. Nietzsche würde dazu vielleicht sagen, der Säugling habe soeben seinen Willen zur Macht entdeckt. Und Schopenhauer könnte aus dem Glucksen des Säuglings die Melodie des Willens zum Leben heraushören. Aber nein, sagt der moderne Kritiker, was »hier zu beobachten ist«, das ist »nichtsexuelle Lust, Funktionslust, das Vergnügen, die Freude oder, wenn man so will, die Erregung über die Entdeckung eines Zusammenhangs und des Hervorrufens eines Ereignisses, dessen Urheber man ist – die Entdeckung von Wirkmächtigkeit also, die das Unterfutter eines jeden gesunden Narzissmus ist« (S. 122). Und was sagt der Säugling dazu? Er kann noch nicht sprechen. Also fängt er freudig an zu hopsen, wenn er die Welt, die ihm in Gestalt seiner Mutter vor Augen tritt, zwar nicht durch einen Fußtritt, wohl aber durch ein Lachen oder – wenn es gar nicht anders geht –
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durch ein Weinen dazu bewegen konnte, sich seiner anzunehmen. Das ist die »Macht« des Säuglings, der mit einem Lachen oder Weinen erreichen kann, was er so dringend braucht: Körperkontakt mit der Mutter. Dabei erlebt er Lust – die Lust, die die Befriedigung elementarer Bedürfnisse mit sich bringt, mögen sie nun von anderen »sexuell«, »nicht sexuell« oder gar »nichtsexuell« genannt werden. Das ist einerlei, denn die »Wollust des Daseins« kann der Kleine in jedem Fall genießen, in dem es ihm gelingt, die Mutter zur Liebe zu bewegen. Dann ist er sich auch der Wirkmächtigkeit gewiss, die nach Meinung des modernen Freud-Kritikers »das Unterfutter eines jeden gesunden Narzissmus« ist. Doch auch dieser himmlische Genuss hat irdische Gründe. Sie sind in der Körperchemie zu finden. Freud, der Naturwissenschaftler, berief sich auf die Poesie – genauer: auf Goethe, der in den Wahlverwandtschaften eine Idee aus dem Vorstellungskreis der Chemie auf das Liebesleben übertragen habe (Freud, 1930, S. 549). Und tatsächlich hat die Forschung Freud (und Goethe) recht gegeben: Die Zuneigung, die die Mutter und das Kind füreinander empfinden, beruht auf der Produktion des Hormons Oxytocin im Hypothalamus, die bei der Mutter wie beim Kind »durch Berührung und Zärtlichkeiten« (Bauer, 2007, S. 64) in Gang gesetzt wird. Das lässt sich bei neugeborenen Kindern nachweisen, bei denen die Ausschüttung körpereigener Opiate zunimmt, die euphorisierend (und damit der Angstentwicklung entgegengesetzt) wirken, sobald sie die Anwesenheit der Mutter beruhigend erleben. Das zunächst den Körper und später auch die Seele des Kindes beherrschende Belohnungssystem, das sich im Kontext früher Bindungserfahrung entwickelt, bleibt grundsätzlich erhalten, auch wenn es sich im Laufe des Lebens vielfältig differenzieren mag. Das zeigt sich etwa bei vierjährigen Kindern. Wenn sie eine halbe Stunde mit ihren Müttern gespielt haben, lässt sich eine Erhöhung des Oxytocinspiegels im Urin nachweisen. Bei Kindern, die »ihr erstes Lebensjahr ohne individuelle Betreuung in einem Waisenheim« verbrachten, fällt »dieser Effekt im Schnitt […] deutlich schwächer aus« (Bauer, 2007, S. 64). Dieser Befund bestätigt indirekt die Auffassung von Balint, wonach sich eine »Grundstörung« nicht beheben, wohl aber betrauern lässt. Die Bedingungen, die die Ausschüttung körpereigener Opiate
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(Serotonin, Dopamin) und damit das Erleben von Lust ermöglichen, und die Bedingungen, die die Ausschüttung körpereigenen Schmerzstoffe und damit das Unlusterleben verursachen, sind später so vielfältig wie das Leben. Dieser Vielfalt liegt die uralte Wahrheit zugrunde: Am Anfang war alles eins. Später schieden sich Himmel und Erde – weil der Herr oder der Vater oder die Gesellschaft oder wer auch sonst es so wollten. Damit zerfiel die psychosomatische Welt. Doch als Wunsch aller Wünsche blieb die Einheit von Seele und Körper erhalten.
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Der Wille zur Macht – die Sehnsucht nach Hingabe
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Nicole Welter
Die Lust an der Selbstbehauptung Eine Jugendlichenpsychotherapie im Scheidungskonflikt1
The inclination of self-assertion – a therapy of a juvenile within the parental divorce conflict Conflicts and fears of infants and juveniles, precipitated by the parental divorce are radically intensified if the children are involved in the parental conflict. Meanwhile the conflict of loyalty and the inner crisis notional and symptomatically are known as »Parental Alienation Syndrome«. In this article the psychotherapeutic process of a juvenile who rejects cognition and expression of needs due to the problematical and conflictual divorce of his parents accompanied by the bilateral demand to side against the other is shown. In the course of psychotherapy the juvenile more and more gains power over his self and his self-positioning – even towards his parents.
Zusammenfassung Die durch Scheidung der Eltern ausgelösten Konflikte und Ängste von Kindern und Jugendlichen verschärfen sich radikal, wenn die Kinder in die Auseinandersetzungen der Eltern einbezogen werden. Der Loyalitätskonflikt und die innere Krise ist in der Forschung inzwischen begrifflich und symptomatisch als Parental Alienation Syndrome bekannt. In diesem Beitrag wird der therapeutische Prozess eines Jugendlichen dargestellt, der aufgrund der problematischen, konfliktreichen Scheidung seiner Eltern und der beidseitigen Forderung Stellung gegen den jeweils anderen einzunehmen, neben einem hohen Aggressionspotential auf die Wahrnehmung und Äußerung seiner Gefühle und Bedürfnisse verzichtet. Im Verlaufe der Therapie gewinnt der Jugendliche Macht über sein Selbst und Lust an der Behauptung seiner eigenen Position – auch gegenüber seinen Eltern. 1 Die Fallbeschreibung wurde von mir mit dem Fokus Kinderzeichnungen und Symbolisierungsfähigkeit veröffentlicht mit dem Titel: Vom RamboJesus zu einer gut integrierten Männlichkeit. Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie, 54 (1), 37–58.
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Scheidung/Trennung und Loyalitätskonflikt Das Verhältnis der Ehescheidungen zu den Eheschließungen pro Jahr beträgt 50 % (vgl. Tabelle/Statistik Scheidungen, Eheschließungen in Deutschland, Statistisches Bundesamt, Zugriff am 16.10.2008 unter http://destatis.de/jetspeed/portal/cms/Sites/destatis/Internet/). Jede zweite bis dritte Ehe – hier differieren die Angaben in der Literatur etwas – wird geschieden. In Deutschland leben derzeit circa 200.000 Scheidungs- und Trennungskinder (http://www.schwarzkopf-schwarzkopf. de/lustliebe/autorinnen/heideulrikewendt/wirscheidungskinder.php, Zugriff am 04.11.2008). Die Debatte um die psychosozialen Auswirkungen differiert stark. Wissenschaftliche Untersuchungen zeigen unterschiedliche Ergebnisse, die von starker Traumatisierung bis zu positiven Auswirkungen durch Erhöhung des sozialen Kapitals und der Ressourcen reichen (Kaltenborn, 2007, S. 79 ff.). Das bedeutet, dass die Auswirkungen von Scheidung und Trennung der Eltern nicht per se destruktive Folgen zeitigen müssen, sondern durchaus konstruktive Lösungswege möglich sind. Ein zentraler Konflikt allerdings, der strukturell durch die Trennungs- und Scheidungssituation der Eltern vorliegt, ist der Loyalitätskonflikt, dem sich Kinder und Jugendliche häufig ausgesetzt sehen. Dieser Konflikt kann durch das Verhalten der Eltern und ihr Verhältnis zueinander verschärft oder abgeschwächt werden. Eine besondere Problematik ist es für die Eltern, die Paarebene von der Elternebene zu trennen. Gelingt dies nicht und der Paarkonflikt wird auf der Elternebene ausgetragen, radikalisiert sich der Loyalitätskonflikt für die Kinder und Jugendlichen massiv. Bekannt geworden ist das PAS (Parental Alienation Syndrome) (z. B. Gardner, 2002), das elterliche Entfremdungssyndrom. Hierbei handelt es sich um eine nach rationalen Maßstäben nicht begründete Ablehnung eines Elternteils durch das Kind aufgrund maßgeblicher Einflussnahme des anderen Elternteils. Das Phänomen wurde 1985 erstmalig von dem US-amerikanischen Kinderpsychiater Prof. Richard A. Gardner beschrieben und so bezeichnet. Das Grundproblem liegt in einem Loyalitätskonflikt aufgrund des Machtgerangels der Eltern, in dem die Kinder zu Objekten der Macht instrumentalisiert werden. Die in den jeweiligen Entwicklungsphasen des Kindes notwendigen Schritte hin zu Verselbständigung und Selbstentwicklung werden durch diesen
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Konflikt massiv behindert. Die Kinder sind häufig mehr mit dem Austarieren der elterlichen Positionen und deren Bedürfnisse beschäftigt als mit der Konzentration auf sich selbst im sozialen Gefüge. Häufig lösen die Kinder das Problem, indem sie sich auf eine Seite schlagen, um den Preis, das andere Elternteil zu verlieren. Ich möchte Ihnen den Therapieverlauf eines Jungen, der sich im Übergang von der Präadoleszenz zur Adoleszenz befindet, vorstellen (vgl. zu dieser Lebensphase Blos, 1973). Die Therapie verlief über einen Zeitraum von circa zwei Jahren. Die in dieser Phase üblichen Entwicklungsschritte werden bei ihm aufgrund der schwierigen, von aggressivem Klima geprägten Scheidungssituation der Eltern gehemmt. Der Jugendliche befindet sich in einem ausgeprägten Loyalitätskonflikt und kann sich der negativ konnotierten eigenen Aggression nicht im Dienste seiner Ich-Entwicklung und altersentsprechenden Verselbständigung bedienen.
»Du musst zu den Raubtieren gehören« – Die ersten Gespräche Biographie Bei dem hier vorgestellten Fall handelt es sich um einen Jungen, der mit elf Jahren mit einer tiefenpsychologisch fundierten Therapie begann. Die Biographie des Jungen wird bis zur Trennung seiner Eltern als unauffällig beschrieben. Die Eltern haben sich auf die Geburt des Jungen gefreut. Der Vater, der zehn Jahre älter als die zur Zeit der Hochzeit 21 Jahre alte Mutter ist, hatte schon eine Ehe hinter sich. Die Mutter lebte bis zur Zeit der Eheschließung bei ihren Eltern. Sie hat sechs ältere Brüder und ist damit das einzige Mädchen der Familie und das jüngste Kind. Zu fünf der sechs Geschwister sowie zu ihren Eltern hat sie einen intensiven und guten Kontakt. Der Vater des Jungen hat eine Zwillingsschwester, zu der die Beziehung durchgängig problematisch war. Die an sich gute Beziehung zu den Eltern wird hin und wieder getrübt durch diese Beziehungsproblematik, die sogar zum Kontaktabbruch mit der Schwester führte. Die Eltern des Jungen schildern ihre ersten Ehejahre als harmonisch und es sei eine Liebes-
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heirat gewesen. Als der Junge drei Jahre alt war, wurde ein zweiter Sohn geboren. Um beide Kinder hätten sich die Eltern von Anfang an gemeinsam gekümmert und auch täglich viel miteinander unternommen. Da der Vater als Postbote arbeitete und die Mutter zunächst drei Jahre Mutterschaftsurlaub nahm und dann wieder halbtags als Büroangestellte arbeitete, blieb den beiden genügend geteilte Zeit mit den Kindern. Der Patient wurde nicht gestillt, da die Mutter wollte, dass der Vater intensiv an der Versorgung des Kindes beteiligt sei. So habe er ihn schon als Säugling in seinen Grundbedürfnissen mitversorgt. Säuglingszeit, frühe Kindheit und die Zeit im Kindergarten verliefen positiv, auch die Einschulung und die Grundschulzeit zeigen keine Auffälligkeiten. Der Junge erhielt eine Realschulempfehlung und besucht zum Beginn der Therapie die 5. Klasse der Realschule und befindet sich in der Orientierungsstufe. Er lebt aufgrund der Trennung seiner Eltern abwechselnd vierzehntätig bei dem Vater oder der Mutter. Die Eltern wohnen einen Ort voneinander entfernt in einer ländlichen Gegend. Der Junge war neun Jahre alt, als sich seine Eltern trennten. Der Trennungsgrund liegt in einer sexuellen Problematik begründet. Seit der Trennung befinden sich die Eltern in einer gerichtlichen Auseinandersetzung, bei der es zentral um eine finanzielle Regelung und die Aufenthalts- und Sorgerechtsbestimmung der Kinder geht. Bis zum Therapiebeginn konnte die Scheidung nicht ausgesprochen werden, da es immer wieder gerichtliche Eingaben beider Eltern gibt, die gegen die juristischen Entscheidungen Einwände erheben. Trotz der richterlichen Anordnung des geteilten Sorgerechts und der vierzehntätigen Aufenthaltsbestimmung versuchen beide immer wieder, ein alleiniges Aufenthaltsbestimmungsrecht gegeneinander durchzusetzen. Hierzu müssen beide Kinder Aussagen vor Gericht machen, teils gegen den einen, teils gegen den anderen Elternteil. Die Beziehung der Eltern befindet sich in einer heftigen negativen Verstrickung und ist geprägt von starken Hassgefühlen. Es wird in den Erstkontakten nicht klar, wie aus der ursprünglich liebevollen Beziehung der Eltern eine solche massive Veränderung entstehen konnte. In den Elterngesprächen ist es nicht möglich, beide Eltern gemeinsam zu einem Gesprächstermin einzuladen; die Vorwürfe gegenüber dem
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anderen Partner dominieren die Einzelgespräche. Mutter und Vater haben jeweils wieder neue Beziehungen mit anderen Partnern. Von den Kindern wird demgemäß regelmäßig eine Stellungnahme – eben auch vor Gericht – gefordert, bei der sie sich eindeutig für einen Elternteil entscheiden sollen. Beide Eltern versuchen immer wieder, den Kindern deutlich zu machen, wie schlimm sich der andere Elternteil verhält, und es gibt negative Äußerungen gegenüber dem neuen Partner des anderen. Dennoch betonen beide Eltern, dass sie das Beste für ihre Kinder wollen und kümmern sich, jeweils jeder auf seine Art, ausgiebig um die Kinder.
Vorstellungsgrund und Erstgespräche Zunächst sucht die Mutter mich in der Praxis auf, sie schildert sehr offen und ausführlich die Scheidungsproblematik und beginnt im Anschluss über ihren ältesten Sohn zu sprechen. Er habe in der Schule etwas abgebaut, denn neuerdings habe er Konzentrationsprobleme und Probleme in Deutsch, vor allem mit Aufsätzen. Er sei öfter antriebslos und wolle zu Hause »rumhängen«, anstatt sich mit Freunden zu treffen, wobei sie nicht wisse, ob und welche Freunde er wirklich habe. Oft sei er Fremden gegenüber, zum Teil auch anderen Kindern gegenüber, wachsam-misstrauisch. Seine Aggressionen könne der Junge nicht gut steuern, er lasse sich leicht provozieren und bekomme dann Wutausbrüche oder schlage auch mal zu. Auch mit seinem kleineren Bruder gäbe es solche Auseinandersetzungen. Die Mutter wünscht sich, ihrem Sohn durch die Therapie eine unabhängige Unterstützung in seiner schwierigen Lebenssituation ermöglichen zu können. Dennoch ergibt sich in den folgenden Gesprächen für mich der Eindruck, dass sie sich auch wünscht, dass ich mich mit einem Gutachten auf ihre Seite schlage. Dies bespreche ich mit ihr und verdeutliche, dass ich für ihren Sohn besonders dann hilfreich sein kann, wenn er in der Therapie einen neutralen Ort hat. Zudem habe ich nicht den Eindruck, dass der Vater seinem Sohn schadet, sondern er ganz im Gegenteil wünschenswert präsent ist und seine Vaterrolle positiv erfüllt. Der reale Konflikt findet ausschließlich auf der Paarebene statt und wird auf die Elternebene verschoben.
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Der Vater, inzwischen Frührentner, kommt zur dritten probatorischen Sitzung und schildert, dass er seinen Sohn weder als besonders aggressiv noch als besonders antriebslos erlebe. Der Vater äußert allerdings, er habe hin und wieder gemerkt, dass sein Sohn kleinere Lügen begehe, die allerdings unnötig seien. Dies wundere ihn und darüber mache er sich Sorgen. Zum zweiten Gespräch kommt der Junge allein. Er wirkt am Anfang skeptisch und ist zunächst zurückhaltend. Er zögert, ob er mir die Hand zur Begrüßung geben soll. Im Therapiezimmer stehen unterschiedliche Sitzmöbel. Es gibt einen Tisch mit zwei Holzstühlen und eine Sitzecke mit einem Korbsessel, einer Couch und einem großen schwarzen »Therapeutensessel«. Der Junge wählt gleich den schwarzen Sessel und setzt sich bequem hinein. Er sitzt still in dem Sessel und antwortet auf meine Fragen zunächst einsilbig. Als ich ihn auf sein Vereinstrikot eines bekannten Fußballvereins anspreche, das er trägt, taut er auf und beginnt sehr offen zu erzählen. Er berichtet unter anderem von Schlägereien in der Schule. Man würde ihn hänseln und dann raste er aus. Er hält einen Moment inne, schaut unter sich, dann schaut er mich an und sagt: »Viele nennen mich nur das Arschloch und ich würde gerne wissen, warum.« Er betont, dass er gern wissen möchte, was mit ihm nicht in Ordnung sei, er möchte sich erklären können, warum die anderen ihn provozieren oder hänseln. Er würde sie fragen, aber bekäme keine Antwort. Er könne ja nichts ändern, wenn er nicht wisse was. Nun wird er wieder lebendiger und erzählt von seiner Mutter und von seinem Vater, von den neuen Partnern und deren Kindern sowie etwas reduzierter von seinem Bruder. Einen großen Raum im Gespräch nehmen der Hund des Vaters und der Hund des Partners der Mutter ein. Die Konflikte zwischen seinen Eltern erwähnt er nicht. Obwohl er sich zu den Eltern nicht direkt äußert, spaltet er indirekt, denn der Hund des Partners der Mutter wird als ausgesprochen dämlich beschrieben und der Hund des Vaters als kluges, hübsches Tier. Vieles erzählt er sehr witzig, ironisiert oder bagatellisiert, obwohl man den Eindruck hat, dass er durchaus auch traurig ist. Er habe kein Problem, antwortet er, als ich ihn direkt darauf anspreche. Im FIT (»Familie in Tieren«) malt er drei verschiedene Tierarten: Erstens Raubtiere, er erklärt dazu, dass sie nicht gejagt würden und wie er selbst auf der Hut seien, zu ihnen zählt er den Vater,
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der ein alter Löwe sei, die Freundin des Vaters, die ein Jaguar sei, die eine Tochter der Freundin des Vaters, die ein Leopard sei, sowie er selbst als Gepard, denn das seien die schnellsten. Als zweite Tierart malt er Faultiere, zu ihnen zählt er die Mutter, die andere Tochter der Freundin des Vaters und den einen Sohn des Freundes der Mutter. Zur Mutter sagt er, sie sei ein Faultier, weil sie oft auf der Couch liege. (Im Verlaufe der Elterngespräche entsteht bei mir die Vermutung, dass die Mutter leichte depressive Verstimmungen hat und sich dann in dieser Weise zurückzieht.) Die dritte Tierart sind Frösche, weil die nerven, hierzu zählt er seinen Bruder und den anderen Sohn des Freundes der Mutter. Dann erklärt er, dass man zu den Raubtieren gehören müsse, da diese erfolgreich und stark sind oder, wie er, achtsam vor anderen und aggressiv. In den Elterngesprächen, die auf Wunsch mit den Eltern einzeln durchgeführt werden, spürt man eine große Ambivalenz, denn einerseits betonen beide Eltern, dass sie endlich zur Ruhe kommen wollen, andererseits sind die Vorwürfe gegenüber dem Ex-Partner bzw. der Partnerin vehement und es hat etwas von einem Krieg, wo die Gegenseite jeweils scheinbar nur auf die Aktion des anderen als Reaktion reagiert. Aktion und Reaktion sind nicht mehr voneinander zu unterscheiden, aber der Konflikt schaukelt sich hoch und ist schwer durchschaubar verstrickt. In den Gesprächen fühle ich mich hin- und hergerissen und es ist nahezu unmöglich, in dieser Verstrickung eine klare Position beziehen zu können. Die Gespräche bleiben letztlich irritierend, weil der Konflikt schwer aufzuarbeiten scheint. Meine Gegenübertragungsgefühle zeigen mir, wie hin- und hergerissen sich die Kinder in der permanenten und existenziellen Konfrontation mit dieser Situation fühlen müssen.
Symptomatik und Psychodynamik Die Symptomatik zeigt sich in einem Aggressionskonflikt, einem Loyalitätskonflikt und in Konzentrationsstörungen des Jungen. Zudem verschiebt der Junge seine Aggression auf Gleichaltrige und ist von diesen gewissermaßen isoliert. Die scheinbar unlösbare Beziehungskrise der Eltern, die sich zu einem heftigen Scheidungskrieg
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ausgeweitet hat und bei der die Aggressionen radikal zum Vorschein treten, bestimmt das häusliche Umfeld des Kindes (PAS-Parental Alienation Syndrome; vgl. Gardner, 1998). Der Junge muss damit Aggression als etwas ausgesprochen Gefährliches erleben und ist aufgrund der angespannten Situation und des über ihm schwebenden Damoklesschwertes einer möglichen Trennung von einem Elternteil nicht in der Lage, seine Aggressionen gegenüber seinen Eltern adäquat zum Ausdruck zu bringen. Die Furcht, geäußerte Aggressionen könnten zumindest zu einem Liebesverlust, wenn nicht gar zur endgültigen Trennung von einem geliebten Menschen führen, hemmen den Jungen sogar, seine Aggressivität wahrzunehmen, geschweige denn offen zu benennen. Die Form der Aggression, die er kennt und lebt, sind Impulsdurchbrüche Stellvertretern gegenüber. Die in der beginnenden Pubertät üblichen und für eine altersadäquate Entwicklung notwendigen Auseinandersetzungen mit den Eltern, bei der die Aggression im positiven Sinne für eine Entwicklung der Ich-Reife und Verselbständigung genutzt werden kann, muss zu Hause gegenüber den Eltern weitestgehend unterdrückt werden. Gleichzeitig löst die gespannte Situation und die aggressive Atmosphäre, in der der Junge lebt, und die wechselseitigen Vorwürfe der Eltern gegeneinander, die das Kind miterlebt, sicherlich ein zusätzliches Quantum an Aggression in dem Jungen aus. Seine Wut und Enttäuschung gegenüber den Eltern, denen es selbst für das Wohl der Kinder nicht gelingt, diesen Konflikt zu lösen, kann er aufgrund seiner Verlustängste nicht gegenüber den Eltern äußern. Innerlich wird er in einem enormen Konflikt zwischen Aggressionsdruck und notwendiger Aggressionsverleugnung stehen. Da er die Aggression seinen Eltern gegenüber nicht offen äußern kann, verschiebt er einen Teil von ihr offenkundig auf seinen Bruder und auf Gleichaltrige. Im nichtfamiliären Bereich nun erfüllt sich die von ihm gefürchtete Prophezeiung, denn aufgrund seines impulsiven aggressiven Verhaltens, zum Beispiel gegenüber Klassenkameraden, gerät er in eine eher isolierte Situation. Das bedeutet, er wird von seinen Gleichaltrigen nicht so gemocht, wie er sich das wünscht. Ansonsten ist er ein eher angepasster Junge, insbesondere in der innerfamiliären Situation. Das Lügen spricht für den Versuch, jeweils dem Elternteil, mit dem er zu tun hat, zu entsprechen, den abwesenden Elternteil ab-
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zuwerten und damit die Eltern jeweils zu beruhigen. Sein Bedürfnis, soziale Situationen skeptisch zu kontrollieren, führt zu Konzentrationsproblemen in der Schule, da ein Teil seiner Aufmerksamkeit von den Schulinhalten auf die Kontrolle der sozialen Situation abgelenkt ist. Das Ziel der Behandlung ist es daher unter anderem, zunächst eine offene Äußerung und dann eine Integration der aggressiven Impulse zu erreichen und ihm einen geschützten Raum zu geben, wo er nicht befürchten muss, salomonisch zerteilt zu werden. Für die beginnende Pubertät wird es entwicklungsgerecht sein, eine positive Identifikation mit dem Männlichen zu erreichen, bei der er sich selbst als gut erleben darf und es sich gleichzeitig leisten kann, beide Eltern unabhängig von ihrem Konflikt miteinander lieben und differenziert betrachten zu dürfen.
Der analytische Prozess im Verlauf Erste Phase: Das Dartspiel – Gewinnen oder Verlieren Die ersten Stunden beginnen immer gleich: Er nimmt in dem schwarzen Therapiesessel Platz, macht es sich bequem und erzählt aus seinem Alltag. Immer wieder bringt er überraschende Ideen in seine Erzählungen, die seine spezifischen humorvollen oder ironischen Wendungen enthalten. Durch sein Lümmeln in dem Therapeutensessel zwingt er die Beziehung zwischen uns auf dieser Ebene zu einer Umkehr, er bestimmt die Situation und übernimmt gewissermaßen die Rolle des Therapeuten. Er kehrt die Situation zwischen uns beiden auf einer äußerlichen Ebene um. Ohne die Problematik, die für ihn möglicherweise in der therapeutischen Situation liegt, zu symbolisieren, tritt er in Aktion und verkehrt unsere Rollen auf einer Handlungsebene. Es scheint ihm wichtig zu sein, sich in der Situation mit mir nicht als der Unterlegene zu fühlen, indem er nicht gänzlich die Patientenrolle übernehmen möchte. Er kontrolliert diese an sich asymmetrisch angelegte Beziehung, indem er auf der äußeren Ebene die Asymmetrie ins Gegenteil verkehrt. Er erzählt mir in unserem Gespräch vor allem von Schlägereien in der Schule, die er phantasievoll ausschmückt und die er durchaus zu
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genießen scheint. Er suche allerdings keine Schlägerei von sich aus, aber er gehe auch keiner aus dem Weg. Nachdem der Junge einen Teil der Therapiestundenzeit sehr lebendig erzählt hat, schaut er auf die Uhr und möchte nun Dart spielen. Beim Dartspiel freut er sich sehr, wenn er gewinnt, und wirft sehr heftig auf die Dartscheibe, häufig prallen die Darts an der Wand oder der Scheibe ab und fliegen mit abgebrochenen Spitzen durch den Raum. In der Heftigkeit seiner Würfe hat er die Möglichkeit, seine Aggressionen im Therapieraum weitestgehend kanalisiert, jedoch unsymbolisiert zum Ausdruck zu bringen. Er achtet jedoch immer darauf, dass keiner von uns beiden versehentlich zu Schaden kommt. Obwohl er beim Dartspiel gewinnen will und er sich selbst dann als genial bezeichnet, möchte er nicht, dass der Punktabstand zwischen uns zu meinen Ungunsten sehr groß ist. Er wirft dann, ohne es zu thematisieren, für mich, um mir zu mehr Punkten zu verhelfen, oder er wirft für seinen Punktestand absichtlich daneben. Als ich ihn darauf anspreche, warum er mir zu mehr Punkten verhelfe, antwortet er, er rette damit meine Ehre. Er macht eine Pause und fügt hinzu, dass es nur zwei Möglichkeiten gäbe, entweder man sei zusammen und dann gewinne man zusammen, wenn man getrennt sei, gewinne nur einer. An dieser Stelle drückt der Jugendliche sehr eindrucksvoll seine Wahrnehmung der Beziehungssituation seiner Eltern und seinen eigenen inneren Konflikt aus. Nur wenn eine Beziehung besteht und sie nicht abgebrochen ist, lässt sich ein Konflikt für beide Beziehungspartner befriedigend lösen. Ist die Trennung vollzogen, ändert sich die Regel der Auseinandersetzung: Dinge werden nicht mehr gemeinschaftlich gelöst, sondern es geht ausschließlich um die Frage von Gewinnen und Verlieren, wobei es unabdingbar einen Gewinner und einen Verlierer geben muss. Man kann bei dieser kompromisslosen Variante des Konflikts durchaus sehr viel verlieren, nämlich seine Ehre. Die Ehre ist unabdingbar mit sozialer Anerkennung verknüpft und im kollektiven Unbewussten tief verwurzelt mit der Identität der Gesamtperson (vgl. Sophokles’ Aias). Der Patient möchte meine Ehre im Kontext unserer spielerischen Auseinandersetzung retten, er möchte mich als integriertes Gesamtobjekt in der Therapie bewahren.
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Zweite Phase: Das Cluedo-Spiel – »Ich erhebe Anklage« Der Jugendliche entdeckt das Cluedo-Spiel. Dieses Brettspiel ist ein Detektivspiel, bei dem es darum geht, einen Mord aufzuklären. Die Spieler sind die Detektive. Es muss ermittelt werden, wer den Schlossherrn mit welcher Waffe in welchem Zimmer getötet hat. Mit Würfeln zieht man über die Felder und hat dann die Chance, in einer Kombination aus Glück und Strategie Fragen zu stellen, die einen systematisch zu dem Ergebnis führen. Wenn man meint, das Ergebnis zu kennen, erhebt man Anklage und äußert seinen Verdacht. Bestätigt sich der Verdacht, hat man die Runde gewonnen. Der Patient spielt dieses Spiel mit äußerster Konzentration und es gelingt ihm häufig, der Erste zu sein, der Anklage erhebt, meist liegt er mit seinem Verdacht richtig. Die Sätze »Ich erhebe Anklage« oder »Ich klage an« sagt er laut und deutlich. Er wirkt dabei lustvoll-zufrieden. Eine zunächst undurchschaubare Situation aufzulösen, hinter ihr Geheimnis zu kommen und den Bösen anklagen zu können, scheint ihm Freude zu machen. Außerdem wird er in dem Spiel in die Lage versetzt, im letzten Zug eine gerichtliche Situation nachzustellen, bei der deutlich angeklagt werden darf und man dafür mit dem Sieg belohnt wird. Dieses Spiel ist das zentrale Spiel in dieser zweiten Phase. Hier ist er derjenige, der ein Unrecht aufklärt und zugleich die Kontrolle führt, indem er Herr der gerichtlichen Situation ist.
Dritte Phase: Differenzierte Wahrnehmung In dieser Phase möchte er jede Stunde mit Lesen beginnen und dann noch Zeit zum Spielen haben. Er teilt die Seiten auf und wir lesen abwechselnd jeder die Hälfte der Geschichte vor. Er wählt die Geschichten von Sindbad dem Seefahrer. Nachdem wir die Märchen von Sindbad dem Seefahrer komplett gelesen haben, überlegt der Junge, was wir als Nächstes lesen könnten. Er erzählt mir von Harry Potter. Die beiden Filme habe er gesehen und vielleicht könnten wir das nun lesen. In dieser Phase, in der wir uns gegenseitig vorlesen und am Ende der Stunde noch ein Spiel spielen, bekomme ich insgesamt zwei Zeugnisse ausgestellt. Er entwickelt neue Kategorien, neben den
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schulüblichen, wie Lesen und Mitarbeit, tauchen Kategorien wie Spielen, Lachen, Verstehen und Peilen auf. Die Notendiskrepanz zwischen Verstehen und Peilen ist sehr groß. Im Verstehen bewertet er mich mit sehr gut, im Peilen erhalte ich eine sechs. Als ich nachfrage, was Peilen bedeutet, erklärt er mir, dass ich bei vielen Dingen, die er erzählt, ungewöhnlicherweise nachfrage. Dieses Nachfragen zeige, dass ich die Dinge, die er erzählt, nicht einfach so stehen lasse, sondern etwas frage, obwohl es eigentlich nichts Fragwürdiges dabei gibt. Mit dem Schreiben der Zeugnisse dokumentiert der Patient strukturell dieselbe Rollenverdrehung, mit der er die Therapie begonnen hat. Und dennoch zeigt sich darin etwas Neues, er beurteilt mich differenziert. Das bedeutet, dass es ihm hier gelingt, zumindest Gut und Schlecht zu mischen und darüber Zeugnis abzulegen, das heißt, es zum Ausdruck bringen zu können. Einer seiner gängigen Abwehrmechanismen war in der Spaltung von Gut und Böse organisiert. Außerdem äußert sich in den Zeugnissen sein Mut, mich kritisieren zu dürfen, wenn auch auf einer spielerischen Ebene. Nachdem wir mit »Harry Potter und der Stein der Weisen« begonnen haben, geht der Jugendliche dazu über, dass ausschließlich ich lesen soll. Ich lese in den ersten Stunden während der gesamten Therapiezeit, allerdings immer wieder unterbrochen von seinem Lachen oder einer Geschichte, die ihm zu der Sequenz im Buch einfällt. Die Stunden sind damit geprägt vom Lesen in Abwechslung mit kleinen Gesprächssequenzen zwischen uns. Wenn wir länger miteinander gesprochen haben, kommt die Aufforderung an mich, weiter zu lesen.
Vierte Phase: Gut und Böse In mehreren Therapiestunden thematisiert der Jugendliche den Konflikt zwischen George Bush und Osama bin Laden. Auffällig ist, dass er den politischen Konflikt ausschließlich auf die private Ebene verschiebt und die beiden zu persönlichen Kontrahenten macht. Er nimmt in der Beurteilung die Verteidigung von Osama bin Laden auf, weil er sich frage, welche Chance er denn habe, sich zu wehren. Auch hier wiederholt sich die Thematik Ohnmacht und Macht, Stärke und Verletzlichkeit. Der Junge beginnt sich die Frage nach der Bewertung von
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Gut und Böse zu stellen und sieht in den beiden Kontrahenten Osama bin Laden und George Bush Repräsentanten von Gut und Böse, dessen Zuordnung ihm aber nicht mehr so einfach gelingt. Die in den aggressiven Auseinandersetzungen der Eltern repräsentierte Spaltung in Gut und Böse, und böse ist der jeweils andere, erfordert von dem Jungen eine enorme Integrationsleistung, wenn er es aushalten möchte, mit beiden Eltern ein für sich gutes Verhältnis zu bewahren. In einer solchen Dauerkrise wäre es einfacher, sich für eine Person zu entscheiden und den anderen innerlich abzuwerten. Diesem Jungen gelingt es, sich gerade nicht zu entscheiden, sondern die Integration beider Elternteile gegen die Eltern aufrechtzuerhalten. Er ringt darum, sich seine eigene Position und seine individuelle Beziehung zu beiden Eltern bewahren zu können. Diesen Balanceakt zu wählen, ist die schwierigste Möglichkeit der zur Wahl stehenden Lösungsversuche. Diese enorme Integrationsleistung, die der Junge seit nunmehr mindestens drei Jahren schafft, steht latent zugleich immer zur Disposition, da er die Spaltung der Eltern innerlich austarieren muss.
Fünfte Phase: Die therapeutische Beziehung Es handelt sich bei der fünften Phase um eine Sequenz von fünf aufeinanderfolgenden Therapiestunden. Zentral ist in diesen Stunden, dass er fast in jeder Stunde unsere Beziehung thematisiert. Die erste Stunde der Sequenz eröffnet er, indem er sich in den Sessel fallen lässt und sagt, das Leben sei scheiße. Er glaube nicht an Gott, denn der lasse so viel Elend zu. Er lässt sich jedoch nicht darauf ein, darüber zu reden, sondern fordert mich auf, Harry Potter zu lesen. Er unterbricht mein Lesen nach einiger Zeit und bringt das Gespräch auf die Thematik des Mögens. In diesem Zusammenhang sagt er mir, dass er mich nicht möge und fragt direkt im Anschluss, ob ich ihn mag. Ich bejahe. Er wirkt verwundert und möchte wissen, wieso ich ihn mag, obwohl er mir gerade gesagt hat, dass er dies umgekehrt nicht tut. Ich antworte ihm, dass mein Gefühl nicht abhängig von seinem ist und jeder von uns beiden selbständig fühlen darf. Er schaut mich eine Zeitlang intensiv und interessiert an, schweigt und fordert mich dann auf, weiterzulesen. Am Ende der Stunde schaut er mich genau an und geht.
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In der folgenden Stunde ist er ausgesprochen gut gelaunt, thematisiert unsere Beziehung jedoch mit keinem Wort. Er möchte wieder Harry Potter vorgelesen bekommen und berichtet mir, was in dem Buch alles anders sei als in dem Film. Am Ende der Stunde gibt er mir von sich aus die Hand und schaut mich wieder prüfend an. Während einer langen Phase der Therapie war ich diejenige, die ihm nach jeder Stunde, als er schon im Gehen war, die Hand hinstreckte, und er dies häufig ironisch kommentierte. Die dritte Stunde ist dominiert vom Thema Schule. Er hat vor, von der Realschule auf das Gymnasium zu wechseln und möchte Abitur machen. Das Ziel, ins Gymnasium zu kommen, sei ihm das Wichtigste. Er möchte unbedingt Jura studieren, denn er wünscht sich, Richter zu werden. Er werde die Gerechten bestrafen und die Unschuldigen verurteilen, teilt er mir verschmitzt mit. Sollte das mit dem Berufswunsch Richter nicht funktionieren, wolle er Anwalt werden. Als Anwalt verdiene man viel Geld, erklärt er. Er fragt genau nach, wie es auf dem Gymnasium war und wie das Studieren auf der Universität sei. Immer wieder sagt er: »Sie waren doch auch auf dem Gymnasium« oder »Sie haben doch auch studiert«. Das heißt, er stellt im Nachfragen bezüglich seiner Berufsziele eine inhaltliche Beziehung zu mir her und nutzt mich als Orientierung in seinen durchaus realitätsbezogenen Wünschen. Nachdem er mir und sich selbst noch einmal deutlich versichert hat, dass er zum Gymnasium will und studieren möchte, wechselt er das Gesprächsthema. Er erzählt jeweils ein schönes Erlebnis, das er in der letzten Zeit mit seinen Eltern und ihren Partnern hatte. Beide Erlebnisse erzählt er plastisch und mit viel Freude. Ich höre interessiert zu und bestätige ihn in seiner Freude, die er erlebt hat. Er wirkt erleichtert, weil ich ausschließlich interessiert und teilnehmend reagiert habe. Während er lebendig erzählt, hat er sich eine Holzbäuerin aus einem Kasten genommen und malträtiert sie im Laufe der Stunde aufs Heftigste. Er verdreht ihre Arme, schubst sie wild über den Tisch und als sie herunterfällt, spielt er mit ihr Fußball. Er versucht sie unter meinen Stuhl zu schießen, weil er diesen Ort zum Tor bestimmt hat. Als er geht, hebt er sie auf, zieht die Schraube ihres einen Armes wieder fest und sagt: »Wir spielen mit Puppen«, lacht, hält mir die Hand zum Abschied hin und geht. In der darauffolgenden Stunde möchte er mit mir zu Beginn Fußball
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spielen. Dabei spielt er recht hart und rempelt mich bei dem Kampf um den Ball mehrmals ordentlich an. Nachdem er mit hohem Abstand gewonnen hat, setzt er sich und möchte, dass ich Harry Potter weiterlese. Bevor ich zu lesen beginne, schaut er mich an und sagt grinsend, ich sei eine Nervensäge. Als ich wissen will, was er meint, antwortet er mir, er habe mich nicht ausgesucht, sondern seine Mutter habe das getan. Ich frage ihn, ob er das Gefühl habe, kein Mitspracherecht gehabt zu haben und ob etwas für ihn nicht stimme. Er macht eine Pause, schaut unter sich und sagt: »Eigentlich mag ich Sie ja.« Dann schaut er auf und fordert deutlich: »Lesen Sie!« Zum Abschied klatscht er mir in die Hand, wie es Sportteams häufig tun. In der fünften Stunde ist er gekleidet wie ein Rapper. Er trägt eine Baseballkappe schräg, ein T-Shirt mit einer Musikbandaufschrift und an jedem Handgelenk ein weißes Schweißband. Er erzählt von Klassenkameradinnen und wer in wen verliebt ist. Er hält inne, überlegt und sagt, er hoffe, er bekäme später eine Frau. Er wünsche sich eine gute Frau. Nachdem er einiges von Musikgruppen erzählt hat, kommt er wieder einmal auf die Frage nach Gott zusprechen. Er glaube nicht an Gott, er glaube aber auch nicht an den Teufel. Er macht eine Pause und sagt: »Ich glaube an mich selbst, auch wenn ich der Einzige bin.« Dann schaut er mich an. Ich überlege kurz und sage ihm, dass auch ich an ihn und seine Möglichkeiten glaube. Er schaut mich prüfend an und fragt, ob er mir glauben kann. Ich frage ihn, warum ich ihn anlügen sollte. Er wirkt freudig überrascht. Betrachtet man sich die fünf Stunden in ihrem inneren Zusammenhang, zeigen sich zwei zentrale Themen, die in einem korrelativen Verhältnis zueinander stehen: Das Verhältnis von Selbst-Sein und In-Beziehung-Sein sowie die Frage nach der Abhängigkeit oder Unabhängigkeit von Gefühlen. Das Gefühl der Aggressivität wird auf der verbalen und auf der Handlungsebene zum Ausdruck gebracht. In der ersten Stunde verbalisiert er seine negativen Gefühle, indem er sie auf eine allgemeine, abstrakt-philosophische Ebene verschiebt: Das ganze Leben wird zum Negativum. Seine Aussage über das Leben hat einen Bezug zur Sinnfrage: Das Leben, das so schrecklich ist, muss sich in seiner Sinnhaftigkeit legitimieren. Im Anschluss gelingt es ihm, sein Gefühl auf der persönlichen Ebene zu thematisieren und in eine Beziehung zu mir zu setzen. In seiner Aussage, mich nicht
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zu mögen, hat er den Mut, sein eigenes negatives Gefühl mir gegenüber zu äußern, und erwartet in seiner Frage nach meinem Gefühl zu ihm eine kongruente Antwort. Meine Abgrenzung unserer Gefühle voneinander und das Zugeständnis des Rechts, selbständig fühlen zu dürfen, verwundert ihn zunächst. In der zweiten Stunde wirkt er äußerst entspannt. Die Gewissheit, dass Gefühle sich beim anderen nicht gleich ändern, selbst, wenn man ihn »aggressiv attackiert«, scheint ihn zu beruhigen und zu entspannen. Der von ihm erwartete Rückschlag meinerseits blieb aus. Dennoch muss er sich in der Verabschiedung meiner Intaktheit und Verlässlichkeit rückversichern. Er hat weder mich noch mein Gefühl oder mein Verhalten ihm gegenüber zerstört. In der dritten Stunde stellt er zunächst eine Beziehung zu mir her, in der er seinen eigenen Weg als Zukunftsplan formuliert und sich dabei sachlich an mir orientiert. Er identifiziert sich mit mir auf der Leistungsebene und formuliert dennoch eigene Ziele. Ich diene ihm in der Gestaltung seiner Wünsche als Vorbild und Verbündete. Diese Nähe, die er damit hergestellt hat, ermöglicht es ihm einerseits, positive Erlebnisse mit seinen Eltern zu erzählen, und gleichzeitig seiner Wut stellvertretend an der Holzpuppe Ausdruck zu verleihen. Beide Gefühlsanteile gegenüber seinen Eltern können veräußert werden: Die positiven Gefühle werden verbalisiert, die negativen Gefühle werden agiert. Durch den Raum, der ihm gelassen wurde, ohne dass er in irgendeiner Weise genötigt wurde, erneut zu seinen Gefühlen Stellung zu nehmen, kann er in der vierten Stunde seinem eigenen Gefühl authentisch Ausdruck verleihen, indem er sich eingestehen kann, mich zu mögen, er teilt es mir mit und dennoch ist es vorrangig sein eigenes Gefühl, dass er für sich selbst wahrnehmen kann und haben darf. Sein Weg führt zur Entdeckung seiner eigenen Gefühle, die er sich selbst eingestehen kann, ohne dass an ihnen in der Beziehungsdimension gezerrt wird. Er wird nicht in seinen Gefühlen irritiert, weil seine Gefühle hinsichtlich unterschiedlicher anderer Menschen in unserer Beziehung anerkannt werden. Seine Gefühle sind im therapeutischen Raum nicht interessengebunden. So kann er seine eigenen Gefühle überhaupt erst erleben und äußern. Die für den Jungen vorherrschende Frage liegt in der Ambivalenz, ob er offen sagen darf, wen er mag, und ob er seine an die Beziehungen gebundenen Gefühle äußern darf. In der Beziehung zu mir hat er die Erfahrung gemacht, dass negative und
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positive Gefühle in einer Beziehung Platz haben und die Ambivalenz ausgehalten wird, ohne dass das Gegenüber zerstört wird oder verloren geht. In der fünften Stunde greift er nochmals die Frage nach Gut und Böse auf und personifiziert sie im Bild von Gott und Teufel, an die er nicht glaubt. Seinen Glauben verlegt er in sich selbst. Die Spaltung wird in dieser Stunde verbal-symbolisch aufgehoben und in einer Person vereint: in ihm selbst. Der Glaube an sich ist die unabdingbare Bedingung eines Verselbständigungsprozesses, der sich aus einem positiven Selbstbild, aus einem gesunden Narzissmus speist. Diese Selbstvergewisserung bleibt nicht hermetisch omnipotent an den Jugendlichen gebunden, sondern er formuliert den Wunsch, eine gute Frau zu finden, wenn er erwachsen ist. Sein Bedürfnis nach einem integrierten männlichen Selbst-Sein impliziert den Wunsch nach einer reifen libidinösen Beziehung. Das allmähliche Eingeständnis ambivalenter Gefühle und ihrer schrittweisen Ausdrucksverleihung in der Beziehung ermöglicht dem Jungen seine Befreiung zum eigenen Selbst im Gegensatz zum falschen Selbst (Winnicott, 1965).
Sechste Phase: Verselbständigung und Ablösungsprozess In der letzten Phase möchte er wieder vorgelesen bekommen. Wir wählen das Buch »Timm Thaler oder Das verkaufte Lachen« aus. In diesem Buch verkauft ein Junge sein Lachen an den Teufel, dafür gewinnt er jede Wette. Allerdings merkt er, wie freudlos das Leben ohne Lachen ist, und kämpft mit Freunden gegen den Teufel, um sein Lachen zurückzugewinnen. Die Stunden dieser Phase verlaufen jedes Mal gleich. Er kommt herein, begrüßt mich, legt sich auf die Couch, erzählt mir etwas von den Dingen, die er im Schulalltag, zu Hause oder mit Freunden erlebt hat, oder er möchte, dass ich ihm sofort vorlese. Er hört dann gespannt zu und unterbricht, um etwas zu dem Handlungsverlauf zu sagen. Zwei Themen beschäftigen ihn dabei am meisten. Zum einen das Verhältnis Timms zu seiner Stiefmutter. Der Junge entwickelt dabei eine große Wut und überlegt sich, was er an der Stelle von Timm täte. Er äußert in der Identifikation mit Timm und stellvertretend für ihn große Rache und Bestrafungswünsche gegenüber der Stiefmutter und seinem Stiefbruder. Das bedeutet, er kann
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seine verleugneten Gefühle vor allem der Mutter gegenüber und seine große Enttäuschungswut zum Ausdruck bringen, ohne in die Gefahr zu geraten, seine wirkliche Mutter zum Thema zu machen und die damit verbundenen Verlustängste in ihrer Radikalität erleben zu müssen. Das andere Thema, das ihn besonders beschäftigt, ist der Teufel, der in dem Buch eine Hauptrolle spielt. Der Junge fragt nach Gut und Böse und wie diese auf der Welt verteilt seien. Dabei findet er philosophische Fragen nach Gut und Böse überhaupt interessant und ist fasziniert von den buddhistischen Religionen, bei denen Gut und Böse in der Welt seien und in einem ständigen Kampf miteinander lägen. Er zweifelt jedoch daran, dass Gut und Böse gleichmäßig verteilt seien. Er habe den Eindruck, das Böse herrsche vor, wenn man sich die Welt so ansehe. Hierüber sprechen wir einige Zeit, bis er dann möchte, dass ich weiterlese. Er beginnt sich demnach mit seinem inneren Konflikt auseinanderzusetzen, den er jedoch vorrangig im Allgemeinen und Philosophischen unter die Lupe nimmt. Diese für die Pubertät typische Form der Auseinandersetzung, in der das ganze Leben hinterfragt wird und die eigene Position in dieser Welt ausgelotet und erfragt wird (vgl. Kohlberg, 2000, S. 111–162), findet demnach bei ihm weitgehend altersadäquat statt. Aufgrund seiner problematischen Lebenssituation hat er sich jedoch relativ früh in diese Auseinandersetzung begeben, die Therapie wird dabei unterstützend gewirkt haben. Als wir nahezu das Ende des Buches erreicht haben, thematisiert er häufiger die Frage, wie lange er eigentlich noch kommen müsse. Er habe eigentlich keine rechte Lust mehr, er brauche die Therapie auch nicht mehr und er wolle mehr Zeit für seine mittlerweile reichlichen und konstanten Freunde haben (zur Bedeutung der Peers in der Adoleszenz siehe Seiffge-Krenke, 2004, S. 121 ff.). Außerdem wolle er ins Basketballtraining mit Freunden und das sei immer zu der Zeit, in der die Therapie stattfinde. Ich zeige ihm deutlich, dass ich sein Bedürfnis und ihn ernst nehme, und wir suchen gemeinsam nach einem Weg. Hierbei zeigt sich, dass er ein wirkliches Bedürfnis hat, die Therapie zu beenden. Es scheint so, als wolle er jetzt ausprobieren, ob er allein »gehen« kann. In dieser Ablösungsphase scheint es mir wichtig, ihm zu zeigen, dass ich ihn ernst nehme, und dass unsere Beziehung von gegenseitigem Respekt
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getragen ist. Wir vereinbaren in einer Stunde, dass wir zunächst eine dreimonatige Pause machen, in der wir uns einmal zwischendurch treffen wollen. Das für die Adoleszenz typische Bedürfnis, »flügge« zu werden und sich in der Welt allein zu probieren, traut er sich in der Therapie zu äußern und wird darin gesehen und akzeptiert.
Abschließende Bemerkung In den Scheidungsfällen, in denen die Eltern die Kinder funktionalisieren, um sich an dem Partner einerseits rächen zu können, Macht auszuüben und andererseits unbewusst ihrer Angst Ausdruck verleihen, die Liebe des Kindes an den Partner zu verlieren, kostet die Kinder die Chance, ihre eigenen Gefühle haben zu dürfen, ihre Beziehungen jeweils mit den Elternteilen selbständig gestalten zu dürfen und sich im sozialen Kontext adäquat in ihrem Selbst entwickeln zu können. In diesem Fall blieben die Elterngespräche im gesamten Therapieverlauf schwierig, da meist das Bedürfnis bestand, die Paarebene anstatt die Elternebene zu thematisieren. Beide Eltern verharrten in ihrem Bedürfnis, sich negativ über den Partner äußern zu wollen, waren aber auch nicht bereit, sich selbst Hilfe in diesem langwierigen Konflikt zu holen, um ihre Krise zu bewältigen. Wichtig war es dennoch, mit den Eltern im Kontakt zu sein und dabei aber weder Partei zu ergreifen noch sich instrumentalisieren zu lassen, was einen Balanceakt bedeutet. Diese Neutralität in Zusammenhang mit der Ich-Stärkung des Jugendlichen war, so denke ich, die Voraussetzung zu seiner positiven Entwicklung und der Möglichkeit, einen eigenen Umgang mit diesem Konflikt zu finden. Die beschriebene Therapie ermöglichte es dem Jugendlichen, seine eigenen Gefühle besser wahrzunehmen, sie immer besser thematisieren zu können und zugleich einen Weg zurück zu sich selbst zu finden – und dabei Lust an der Selbstbehauptung und zunehmend Macht gegenüber sich selbst, aber auch in Abgrenzung zu seinen Eltern zu erleben.
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Literatur Blos, P. (1973). Adoleszenz. Eine psychoanalytische Interpretation. Stuttgart: Klett-Cotta. Gardner, R. A. (2002). Das elterliche Entfremdungssyndrom: Anregungen für gerichtliche Sorge- und Umgangsregelungen; eine empirische Untersuchung. Berlin: VWB. Kaltenborn, K.-F. (2007). Zur Konstruktion von Wissen zur Sorge- und Besuchsregelung für Kinder aus geschiedenen Ehen. Sozialwissenschaftliche Literaturrundschau. Zeitschrift für Sozialarbeit, Sozialpädagogik und Gesellschaftspolitik, 2, 79–86. Kohlberg, L. (2000). Die Psychologie der Lebensspanne. Hrsg. von W. Althoff und D. Garz. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Seiffge-Krenke, I. (2004). Psychotherapie und Entwicklungspsychologie. Beziehungen: Herausforderungen Ressourcen Risiken. Berlin u. a.: Springer. Sophokles (1990). Aias. Hrsg. von R. Rauthe. Stuttgart: Reclam. Welter, N. (2005). Vom Rambo-Jesus zu einer gut integrierten Männlichkeit. Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie, 54 (1), 37–58. Winnicott, D. W. (1965). The maturational processes and the facilitating environment. London: Hogarth.
Internet o. N. (2008). Anzahl der Scheidungskinder in Deutschland, Zugriff am 04.11.2008 unter http://www.schwarzkopf-schwarzkopf.de/lustliebe/autorinnen/ heideulrikewendt/wirscheidungskinder.php. Statistisches Bundesamt (2008). Tabelle/Statistik Scheidungen, Eheschließungen in Deutschland. Zugriff am 16.10.2008 unter http://destatis.de/jetspeed/portal/cms/Sites/destatis/Internet/
Elisabeth Fuchs-Brüninghoff
Machtverhalten zwischen Sucht und Lust
The use of power between lust and obsession Power is described as a relationship between people, which can be used positively and negatively. The application of power adults show in life is strongly influenced by their expierence of powerful behaviour during childhood. Often people do not fill their frame of power. Thus they give an enlarged frame of power to others. This is shown in examples of coaching practice.
Zusammenfassung Das Phänomen Macht wird als Beziehung zwischen Menschen beschrieben, die sowohl positiv als auch negativ gestaltet werden kann. Das Machtverhalten Erwachsener ist stark geprägt durch erste Machterfahrungen in der Familie. Anhand von Beispielen aus dem Coaching wird aufgezeigt, dass Menschen häufig ihren Machtrahmen nicht ausfüllen und dadurch den Machtrahmen ihres Gegenübers vergrößern. Entscheidend ist nicht die Frage, ob man Macht hat, entscheidend ist die Frage, wie man mit ihr umgeht. Alfred Herrhausen
Das Phänomen Macht Macht ist ein universelles Phänomen. Macht ist ein faszinierendes Phänomen. Macht ist die Möglichkeit, auf die Umwelt oder andere Menschen (Einzelne oder Gruppen) einzuwirken. Menschen wollen etwas bewirken. Sie empfinden Lust daran, die Umwelt oder andere Menschen zu steuern oder zumindest »mitzumischen«. Dies gilt unabhängig von Alter und Berufsstand. Es gilt für
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den Menschen im Strampelanzug, im Blaumann und im feinen Zwirn, sie tun es mehr oder weniger offensichtlich, manche ziehen die Fäden aus dem Hintergrund, andere dirigieren öffentlich das Geschehen. »Auf andere einwirken, heißt, in Beziehung zu ihnen treten, denn erst in der Beziehung kann sich die Macht einer Person A auf eine Person B entfalten« (Crozier u. Friedberg, 1993, S. 39). Macht ist ein Verhältnis auf Gegenseitigkeit. Macht ist ein interaktionelles Kräfteverhältnis. Macht ist eine Tausch- und Verhandlungsbeziehung. Macht ist letztlich in dem Freiraum angesiedelt, über den jeder der in eine Machtbeziehung eingetretenen Gegenspieler verfügt. Das heißt, jeder hat eine mehr oder weniger große Möglichkeit, das zu verweigern, was der andere von ihm verlangt. »Die Fähigkeit, ›ja‹ oder ›nein‹ zu sagen, ist vielleicht der zentrale Akt, der die Autonomie und die Regulierung des zwischenmenschlichen Kräftespiels miteinander verbindet« (Person, 2001, S. 19). Macht ist untrennbar an die Beziehung der beteiligten Akteure gebunden. Jede Handlung bildet einen spezifischen Spielraum, um den herum sich eine eigene Machtbeziehung herausbildet. Der Machthaber verfügt über mehr als eine Alternative und der Machtbetroffene auch (Luhmann, 1988). Wenn einer der Beteiligten an einer Machtbeziehung keinen Spielraum, keine Entscheidungsmöglichkeit mehr hat, schlägt Macht um in Zwang. Der Machthaber bestimmt dann dem Machtunterworfenen »etwas konkret genau Bestimmtes zu tun« (Luhmann, 1998, S. 9). Macht an sich ist weder gut noch schlecht. Macht entscheidet sich an den Zielen, für die sie eingesetzt wird. Die Grundfrage, die sich bei der Bewertung von Macht stellt, lautet: Dient sie der Ermächtigung = Ermöglichung oder dient sie der Entmächtigung = Beherrschung? Macht mit dem Ziel der Ermöglichung – ist Lust, etwas zu bewirken für sich, für die Gemeinschaft; – wird ausgeübt von Menschen mit einem sicheren Selbstwertgefühl; – beinhaltet den Respekt vor dem Gegenüber (Æ Machtlust). Macht mit dem Ziel der Beherrschung – ist kompensatorische Macht, – wird ausgeübt von Menschen mit mangelndem Selbstwertgefühl,
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– dient der (Über-)Kompensation eigener Minderwertigkeit, – wertet den anderen ab und dient der eigenen Aufwertung (Æ Machtsucht). Den suchthaften Umgang mit Macht beschreibt Adler wie folgt: Der »Nervöse« ist jemand, der »mit großer Gier, direkt oder auf Umwegen, bewusst oder unbewusst durch zweckmäßiges Denken und Handeln oder durch das Arrangement von Symptomen nach vermehrtem Besitz, nach Vergrößerung seiner Macht und seines Einflusses, nach Herabsetzung anderer Personen […] strebt« (Adler, 1912/2008, S. 125). Macht ist attraktiv und anrüchig zugleich. Das Sprechen über Macht ist immer wieder ein Tabu, es gilt als unanständig, den Begriff »Macht« in den Mund zu nehmen. Stattdessen wird dann von Einfluss, Powerplay oder Autorität gesprochen. Das unausgesprochene Verbot über Macht im Allgemeinen und im eigenen Unternehmen im Besonderen zu sprechen, dient der Erhaltung der bestehenden Machtverhältnisse. Die Fähigkeit, mit Macht umzugehen, ist eine wichtige und komplexe psychische und soziale Kompetenz. Die Fähigkeit beinhaltet: die eigene Macht zu kennen und zu akzeptieren, sie nicht unbewusst auszuüben, sie nicht zu verteufeln und sie nicht zu verschleiern. Gefährlich ist der bewusstlose Umgang mit Macht und noch gefährlicher ist der bewusste Umgang mit Macht mit negativen Zielen. Macht braucht einen reflektierten und verantwortlichen Umgang. Denn ohne Macht geht es nicht.
Exkurs: Macht im Interaktionsgefüge Familie Idealtypisch betrachtet lassen sich drei Umgangsweisen mit Macht in der Eltern-Kind-Interaktion unterscheiden (vgl. Wirth, 2002, S. 49 f.). 1. Den Willen des Kindes brechen: Die Eltern zwingen dem Kind ihren Willen auf. Dem Kind wird keinerlei Macht zugebilligt. In der Folge bleibt die Selbstachtung des Kindes in pathologischer Weise am Phänomen Macht fixiert. Menschen mit dieser Erfahrung werden zeitlebens der Macht übergroße Bedeutung beimessen, so dass sie entweder über Identifikation mit dem Aggressor selber
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zum Despoten werden oder im Wiederholungszwang immer wieder Situationen und Personen aufsuchen, die demütigende Macht über sie ausüben. 2. Das Kind beherrscht seine Eltern: Die Eltern unterwerfen sich dem Willen des Kindes. Das Kind mit seinen Bedürfnissen steht über allem und die Eltern, häufig auch alleinerziehende Mütter, werden zum Sklaven des Kindes. Eine solche Situation führt zur Realitätsverkennung auf beiden Seiten, das Kind wächst zum Despoten heran. Menschen mit dieser Erfahrung scheitern später entweder völlig an der Realität, weil andere sich nicht wie die Eltern bzw. die Mutter manipulieren lassen, oder sie werden zu wahren Virtuosen in der manipulativen Machtausübung. 3. Konstruktiver, »gesunder« Umgang mit Macht: Ein Kind macht sowohl die Erfahrung, dass die Eltern Macht über es haben und es mehr oder weniger ihren Vorgaben folgen muss, als auch, dass es als handelndes Subjekt selbst Macht über andere ausüben kann und sie seinen Vorstellungen folgen. Wenn ein ausgewogenes Verhältnis zwischen diesen beiden Erfahrungsmodalitäten besteht, kann man davon ausgehen, dass das Kind ein gesundes Selbstbewusstsein und einen angemessenen Umgang mit Macht entwickelt. Im späteren Leben kann ein Mensch mit dieser Erfahrung sowohl zulassen, der Macht anderer unterstellt zu sein, ohne dabei die Selbstachtung zu verlieren, als auch Macht über andere auszuüben, ohne sie dabei zu erniedrigen. Jemand, der in seiner Kindheit ein realistisches Machtgefühl entwickelt hat, weiß: – Die Welt gehorcht nicht meinen Allmachtsphantasien. – Mein Machtverhalten kann Widerstand hervorrufen. – Ich bin der Macht anderer nicht ohnmächtig ausgeliefert. Ich kann »ja« oder »nein« sagen. – Macht kann zu Konflikten führen. – Machtverhältnisse sind verhandelbar. Jeder entwickelt seine persönlichen Vorstellungen von Macht, wann und wie er sie einsetzt, wie er sich zu der Macht von anderen verhält und wann und wie er sich der Macht eines anderen unterordnet. Die eigenen Erfahrungen mit Macht im Verlaufe der Kindheit wirken sich sehr prägend auf den Umgang mit Macht im Erwachsenenalter aus.
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Elisabeth Fuchs-Brüninghoff Wenn man jemanden fürchtet, dann kommt es daher, daß man diesem Jemand Macht über sich eingeräumt hat (Hesse, 1987, S. 40).
Machtverhältnisse gestalten Der Kontext, in dem ich mich mit Machtverhalten beschäftige, sind in der Regel berufliche Situationen im Rahmen von Coaching, Konfliktberatung und Personalentwicklung. Mein These lautet: Wer seinen Machtrahmen nicht wahrnimmt (i. S. von erkennt und ausfüllt), der vergrößert den Machtrahmen anderer und trägt dadurch möglicherweise zu Machtmissbrauch bei. Diese These möchte ich anhand nachfolgender Abbildungen veranschaulichen.
Abbildung 1: Machtrahmen 1
Abbildung 1 besagt, dass sich um die an einer Beziehung beteiligten Akteure eine für sie eigene Machtbeziehung herausbildet. Diese kann für beide einen gleichgroßen Machtrahmen beinhalten, häufig ist aber durch die hierarchische Situation der Machtrahmen eines Akteurs größer. Füllt nun eine Person (Person A), wie in Abbildung 2 dargestellt, ihren Machtrahmen nicht aus, so entsteht ein Vakuum. Dies wird nun entweder von Person B (Abbildung 3) oder von anderen Personen (Abbildung 4) ausgefüllt.
Abbildung 2: Machtrahmen 2
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Abbildung 3: Machtrahmen 3
Abbildung 4: Machtrahmen 4
Die Zurücknahme des eigenen Machtrahmens vergrößert somit immer den Machtrahmen anderer. Der Umgang mit diesem vergrößerten Machtrahmen kann sehr unterschiedlich ausfallen, wie nachfolgende Praxisbeispiele zeigen.
Praxisbeispiel – Coaching Anhand eines Beispiels aus dem Coaching möchte ich aufzeigen, wie sich der Umgang mit dem Machtrahmen zwischen zwei Personen auswirken kann. Frau Z, Mitte 40, ist Abteilungsleiterin. Ich begleite sie seit zwei Jahren im Coaching. Vor Übernahme der Abteilungsleitungsfunktion habe ich mit Frau Z auf ihren Wunsch hin ihre biographischen Machterfahrungen sehr intensiv reflektiert. Ihre Eltern hatten einen kleinen Handwerksbetrieb. Als Jugendliche war sie immer dann, wenn sich die Auslieferung eines Produktes unangemessen verzögerte, von der Mutter zu den verärgerten Kunden geschickt worden, um diese zu befrieden. Mit der Zeit hatte sie dabei einiges Verhandlungs- bzw. Kommunikationsgeschick entwickelt, wurde aber für ihr Tun nie wirklich von den Eltern anerkannt, im Gegenteil, in den Augen der Mutter hatte sie stets etwas nicht richtig oder nicht gut genug gemacht, vermutlich unter der Devise: »Du sollst nicht merken, was du kannst.« Bis heute tut sie sich mit einer realistischen Einschätzung ihrer Leistung schwer, sie ist immer noch leicht zu verunsichern. Ihr Chef, Herr X, Geschäftsführer des Unternehmens, in dem sie arbeitet, ist ein Altlinker mit einer kaufmännischen Ausbildung. Seine Führungsdevise lautet: Wir sehen das alles nicht so eng. Daher bleiben Rollen- und Aufgaben-
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verteilung häufig im Unklaren. Wenn etwas schiefläuft, kann er allerdings sehr formal und bürokratisch werden. Wenn er bei Vorhaben der Mitarbeiter fachlich nicht durchblickt und sich unterlegen fühlt, entwickelt er plötzlich sehr bestimmende, dominante Verhaltensweisen und wird auch schon mal laut. Konkrete Situation: In einem Bereich von Frau Z gibt es bei einem Entwicklungsauftrag Probleme mit einem Kunden. Es steht ein klärendes Gespräch mit dem Kunden an, an dem Herr X teilnehmen soll. Als Frau Z das Gespräch mit ihm vorbereiten will, lautet sein Kommentar: »Mit denen verhandle ich nicht, die haben keine Ahnung! Sehen Sie zu, wie Sie die Kuh vom Eis kriegen.« Frau Z formuliert im Coaching: »Mein Chef versetzt mich in Angst und Schrecken.« Meine Intervention auf ihre Beschreibung lautet: »Ich wage mal eine andere Sicht. Sie versetzen sich in Angst und Schrecken. Sie fühlen sich von Ihrem Chef im Stich gelassen, nicht unterstützt. Kennen Sie dieses Gefühl möglicherweise von früher?« Ihre Reaktion: »Das ist es. Ich denke, es hängt alles an mir, wie damals zu Hause. Meinem Chef gegenüber weiche ich zurück, mache mich klein.« Sie kann nicht mehr sehen, wie groß ihr Handlungs- und Machtrahmen gegenüber dem Chef ist. Sie nimmt sich zurück und gibt ihm mehr Macht über sich, als angemessen ist. Nachdem ihr dieser Zusammenhang deutlich geworden ist, entscheidet sie sich dazu, ihren Machtrahmen auszufüllen und entwickelt folgende Vorgehensweise zum Umgang mit ihrem Chef. Sie will auf ihn zugehen und ihm Vorschläge für die Verhandlungsführung machen. Sie möchte ein Vorgehen mit verteilten Rollen vorschlagen: Sie können xy besonders gut, dabei könnte ich folgenden Part übernehmen. Seine Schwierigkeit ist, dass er sich in fachlichen Themen unterlegen fühlt und daraus dann sein abwehrendes Verhalten entwickelt. Frau Z kann dies sehen und akzeptieren. Sie sagt: »Bisher habe ich ihm das übel genommen, dass er in diesem Punkt nicht souveräner ist. Er muss das doch gar nicht wissen. Nachdem mir aber heute wieder mein eigenes Gefangenensein in alten Erfahrungs- und Wahrnehmungsmustern bewusst geworden ist, kann ich ihm seine Erlebensweise besser lassen und dazu beitragen, dass er gar nicht in die fachliche Konfrontation kommt, indem ich in diesen Part gehe. Ich werde ihn allerdings in seiner Rolle als Chef in die Pflicht nehmen und von ihm einfordern, dass er diese Funktion in dem Kundengespräch auch aktiv wahrnimmt.« Ihr Fazit am Ende des Gesprächs lautet: »Ich merke, ich bekomme ganz leuchtende Augen. Ich verspüre deutliche Lust, meinen Machtrahmen wahrnehmen. Ohne diese Reflexion hätte ich mir den ›Job‹ zuschieben lassen, wäre allein in die Verhandlung gegangen und hätte versucht, den Karren allein aus dem Dreck zu ziehen. Dabei hätte ich mich von meinem Chef total im Stich gelassen gefühlt und das Ergebnis wäre vermutlich auch weit hinter dem zurückgeblieben, was wir gemeinsam erreichen werden.« Reflexion und Kommentar: Durch die Ähnlichkeit der beruflichen Situati-
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on zu Situationen in der Biographie rutscht Frau Z in ihr altes Verhaltensmuster. Aufgrund ihres hohen Reflexionsgrades reicht eine kleine Intervention, damit ihr das Übertragungsgeschehen bewusst wird. Sie kann sofort aus dem Muster aussteigen und Schritte für die reale Situation entwickeln und den ihr in ihrer Funktion zur Verfügung stehenden Machtrahmen wahrnehmen (sehen und ausfüllen).
Praxisbeispiele – Leitungswechsel Anhand von zwei Beispielen aus Organisationsentwicklung bzw. Konfliktberatung möchte ich aufzeigen, wie sich das Thema Wahrnehmen bzw. Nichtwahrnehmen des Machtrahmens im institutionellen Kontext auswirken kann. In einer großen Bildungseinrichtung führe ich mit den leitenden Angestellten ein zweitägiges Seminar zum Thema »Führen – Einfluss – Macht« durch. Der Hauptfokus liegt auf der Fragestellung »Wie fülle ich meine Führungsrolle aus?« Im Laufe des Seminars kommt es auch zu der Perspektive »Wie werde ich geführt?« Das Gespräch darüber wirkt sehr gereizt und es wird zunehmend eine unterschwellige Unsicherheit, aber auch Aggression spürbar. Als ich diesen Eindruck auf der Metaebene thematisiere, bricht es aus einigen Teilnehmer/-innen heraus, dass sie angesichts des bevorstehenden Leitungswechsels große Ängste haben. Der gegenwärtige Leiter geht in wenigen Monaten nach fast zwanzig Jahren in den Ruhestand. Bis auf zwei der anwesenden Fachbereichsleiter/-innen wurden alle von ihm eingestellt. Für viele verkörpert er eine Art Vaterfigur. Sein Führungsstil war eher zurückhaltend, er hat seinen Mitarbeiter/-innen meist einen großen Handlungsspielraum gelassen. Mittlerweile ist bekannt, wer die Nachfolge antreten wird. Es handelt sich um einen Mann Anfang vierzig, der von außerhalb kommt, von dem man dies und das über seinen Führungsstil gehört hat, einige hatten auch schon mal in Arbeitskontexten mit ihm zu tun. Viele Phantasien und Ängste stehen im Raum. Es werden Befürchtungen geäußert wie: »Der regiert durch!« Ich lade die Seminarteilnehmer/-innen zu einer Übung ein: 1. Notieren Sie drei positive Eigenschaften, die Sie an Ihrem gegenwärtigen Chef wahrnehmen. 2. Notieren Sie drei (vermutete) negative Eigenschaften Ihres zukünftigen Chefs. 3. Nehmen Sie jedes der sechs Eigenschaftswörter in den Blick und vervollständigen dabei folgende Sätze: »Ich bin ein Mensch, der Wert legt auf …« »Für meine Arbeit als Fachbereichsleitung ist mir wichtig …«
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In der anschließenden Reflexion wird allen recht schnell deutlich, dass es gar nicht um den alten oder neuen Chef geht, sondern um die eigenen Bilder im Kopf, die eigenen Phantasien, die eigenen Werte und die eigenen Vorstellungen von Macht. Da schon bekannt ist, dass der neue Chef relativ schnell nach Dienstantritt mit allen leitenden Mitarbeiter/-innen ein Antrittsgespräch führen will, wird den Anwesenden plötzlich klar, welche Chance für sie darin liegt, wenn sie ihre eigenen Wertigkeiten vorab reflektiert haben. Reflexion und Kommentar: »Aufgrund eigener unverarbeiteter Konflikte kommt es zu Übertragungen, durch die Mitarbeiter unbewusst in die Rolle eines Partners, eines eigenen Elternteils oder einer anderen bedeutsamen Person versetzt und mit einer ursprünglichen Konfliktkonstellation in Verbindung gebracht werden« (Rau, 1994, S. 57). Da mit einer solchen Konfliktsituation immer auch eine Machterfahrung verbunden ist, kann man davon ausgehen, dass ein Mensch entsprechend seinen Beziehungs- und Machterfahrungen Erwartungen und Ängste an einen anderen, hier den neuen Leiter, heranträgt und aus dem Verständnis der zurückliegenden Erfahrungen heraus agiert. Ein Bewusstwerden dieses Zusammenhangs ermöglicht eine Reflexion der eigenen Erwartungshaltung und der ihr zugrundeliegenden Erfahrungen und damit eine weitgehend erwachsene Begegnung der Mitarbeiter/-innen mit dem neuen Chef, in der die Machtverhältnisse angemessen verhandelt und gestaltet werden können. In einer großen Bildungseinrichtung, circa 100 Mitarbeiter/-innen, herrscht ein extrem angespanntes Arbeitsklima. Zwischen der Einrichtungsleitung und der nächsten Führungsebene gibt es viele Konflikte. Immer wieder kommt es zu wechselseitigen Beschuldigungen über kommunikatives Fehlverhalten. Diverse Vorwürfe stehen im Raum. Nach eingehenden Einzel- und Gruppengesprächen zeichnet sich mir bei der Konfliktanalyse folgendes Bild: 1. Vor fünf Jahren gab es einen Leitungswechsel. Der alte Leiter war 25 Jahre im Amt gewesen. Er hatte eine pädagogische Ausbildung und wird beschrieben als wohlwollender Patriarch mit viel Charisma. Er habe seinen Mitarbeiter/-innen klar definierte Freiräume gelassen, aber auch klare Aufgaben verteilt. Bei ihm habe man immer gewusst, woran man war. Wie in einer großen Familie habe man sich gefühlt. 2. Der neue Leiter hat eine Verwaltungsausbildung und vorher schon eine kleinere Bildungseinrichtung geleitet. Sein Führungsstil orientiert sich nach seinen eigenen Aussagen an moderne Managementprinzipien. Von seinen Mitarbeiter/-innen wird er beschrieben als Technokrat, der die Lücke, die sein Vorgänger hinterlassen habe, weder persönlich noch fachlich ausfüllen könne. Über eine väterliche Ausstrahlung verfüge er auch nicht. Reflexion und Kommentar: Der alte Leiter hat die Einrichtung patriarchalisch-
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wohlwollend wie ein Vater geführt. Dies hat bei den Mitarbeiter/-innen Erwartungen und Beziehungswünsche entstehen lassen, die sich an Elternfiguren richten. Dem neuen Leiter sind sie demnach auch mit dieser Erwartungshaltung entgegengetreten. Diese konnte er nicht erfüllen. Sein Auftreten und seine Rolle entsprachen eher der eines »Bruders«. Wendet man das Denkmodell des Machtrahmens auf diese Situation an, so ergibt sich folgendes Bild. Das Verhältnis zwischen dem alten Leiter und der Mitarbeiterschaft entspricht der Abbildung 3. Das Machtverhältnis zwischen dem neuen Leiter und der Mitarbeiterschaft entspricht der Abbildung 2. Bei seinem Leitungsantritt hat sich ein Machtvakuum aufgetan. Da ein Vakuum nie über einen längeren Zeitraum bestehen bleibt, macht es Sinn zu schauen, wie es in diesem konkreten Fall gefüllt wurde. Meines Erachtens lassen sich im Wesentlichen drei Punkte identifizieren: 1. Der neue Leiter war irritiert über das »unselbständige Verhalten« einiger Mitarbeiter/-innen und hatte den Eindruck, dass sie von ihm erwarten, dass er ihnen hinterläuft. Dies lehnte er strikt ab und statt das Gespräch zu suchen, wählte er den Weg der schriftlichen Anweisungen. 2. Einzelne Fachbereichsleiter sind vorgeprescht und haben den eigenen Machtrahmen deutlich ausgeweitet. 3. Etliche Mitarbeiter/-innen fühlten sich nicht adäquat behandelt und reagierten darauf in dem je eigenen Verhaltensmuster. Die einen waren empört und gingen in eine Auseinandersetzung (teils pubertär wie gegen eine Elternperson, teils rivalisierend wie in einem Geschwisterstreit), die für den einen oder die andere in einer dauerhaften Rebellenrolle mündete. Andere fühlten sich persönlich zurückgewiesen und zogen sich »verletzt« zurück, was für etliche schließlich in einer resignativen Grundhaltung endete. Rache ist eine Handlung, die man begehen möchte, wenn und weil man machtlos ist: Sobald aber dieses Gefühl des Unvermögens beseitigt wird, schwindet auch der Wunsch nach Rache (Watzlawick, 1983, S. 68).
Machtsucht oder Machtlust Sowohl bei Adler als auch in der modernen Managementliteratur findet man Beschreibungen von Verhaltensweisen und Eigenschaften, die man an Menschen wahrnimmt, die Macht zur Überkompensation eigener Minderwertigkeitsgefühle brauchen bzw. missbrauchen. Wesentliche Kennzeichen der Menschen, die zur Herrschsucht neigen, sind nach Adler (1912/2008): – Verzerrung des Weltbildes (S. 63);
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Einengung des Gesichtsfeldes (S. 68); Gefühl der Überlegenheit (S. 60); Egoismus (S. 61); Neigung, andere Personen dienstbar zu machen (schon in der Kindheit) (S. 60); alles haben wollen (S. 125); der Erste sein wollen (S. 125); Tendenz, Menschen und Dinge zu entwerten (S. 61); Selbstüberschätzung (S. 196); unerbittlicher Geltungsdrang (S. 282).
Kets de Vries (1998, S. 178 f.) spricht von irrationalen Verhaltensweisen, an denen man erkennen kann, dass das Machtverhalten von Menschen in leitenden Positionen ins Negative abrutscht. Er listet zahlreiche Fragen auf, die zum Erkennen von Gefahrensignalen hilfreich sein können: – Sieht er die Schuld immer bei anderen? – Weigert er sich, persönlich Verantwortung für seine Fehler zu übernehmen? – Glaubt er, dass die Leute entweder für oder gegen ihn sind? – Haben die Mitarbeiter der Organisation den Eindruck, sich selbst zensieren zu müssen, weil die Führungskraft auf schlechte Nachrichten unangenehm reagiert? – Kommen in der Organisation nur Ja-Sager voran? – Will der Chef die Entscheidungen alle selber treffen? – Singt er unentwegt sein eigenes Loblied? – Muss er fortwährend im Rampenlicht stehen? – Ist er von seinem öffentlichen Image wie besessen? – Hat sich Misstrauen in die Organisation eingeschlichen? – Weigert er sich, seine Nachfolge zu planen? Die Auseinandersetzung mit dem Thema Macht in unserer Gesellschaft ist sehr stark ausgerichtet auf Machtmissbrauch. Dies verstärkt die negative Konnotation von Macht. Hier braucht es ein Gegengewicht, eine positive Konnotation von Macht, die Menschen darin bestärkt, Macht konstruktiv zu nutzen. Warum fällt es so schwer, einen positiven Blick auf Macht zu entwickeln? Kinder werden in die Ab-
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hängigkeit von ihren Eltern hineingeboren und dabei mit einem natürlichen Verlangen nach Selbstbestimmung ausgestattet. Psychisch gesundes Heranwachsen setzt voraus, dass Eltern »auf den paradoxen Zustand der Hilflosigkeit und des grandiosen Selbstgefühls ihres Kindes angemessen« reagieren (Kets de Vries, 1998, S. 40). Aus diesem Grundkonflikt zwischen Hilflosigkeit und Grandiosität kann das Kind (s. Exkurs zum Interaktionsgefüge Familie) mit Wut und Rachewünschen verbunden mit einem Hunger nach persönlicher Macht (Kets de Vries, 1998, S. 40), mit einer erlernten Anpassungsbereitschaft verbunden mit einem Vermeidungsverhalten bezüglich Machtübernahme oder mit realistischen Vorstellungen von der eigenen Potenz hervorgehen. Treffen nun die Menschen mit dem Hunger nach Macht auf Menschen mit einer Anpassungs- bzw. Unterordnungsbereitschaft, so entsteht ein idealer Nährboden für Machtmissbrauch. Was wir brauchen, ist ein bewusster und kompetenter Umgang mit Macht, also Machtkompetenz. Sich die Macht zu nehmen, ist genauso biographisch geprägt, wie dem anderen die Macht zu geben. Beides bedarf der Reflexion und Bearbeitung der zugrundeliegenden Konflikterfahrungen und Verletzungen, um die Betroffenen zu befähigen, sich aus alten Verhaltensmustern zu lösen. In Organisationen kann ohne Macht nicht effektiv gehandelt werden. Die konkrete Machtausübung liegt bei den einzelnen Organisationsmitgliedern. Personen auf Führungspositionen haben mehr Einfluss auf die Vorgänge in der Institution/Organisation als diejenigen auf niedrigeren Ebenen der Hierarchie, dennoch ist es für eine gesunde Machtbalance wichtig, dass jeder den Machtrahmen, der seiner Position zusteht, sowohl formal als auch persönlich ausfüllt. Es geht darum, »die kleine Welt der Interaktion und die große Welt der Organisation stärker zu differenzieren und in jeder das ihr entsprechende Machtspiel zu spielen« (Luhmann, 1988, S. 115). Im Umgang mit Macht entwickelt jeder Mensch »ein bestimmtes Profil von Ambitionen und Inhibitionen« (= Hemmungen) (Person, 2001, S. 21). Anhand der Praxisbeispiele wird deutlich, wie wichtig es ist, dass Menschen ihre Machterfahrungen reflektieren. Dies ermöglicht ihnen ein bewusstes Handeln im Umgang mit der eigenen Macht und der
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Macht anderer. Letztlich ist jeder sowohl für die Macht, die er wahrnimmt, als auch für die Macht, die er nicht wahrnimmt, verantwortlich. Manche Schieflage des Machtverhältnisses in beruflichen als auch persönlichen Beziehungen könnte dadurch verhindert bzw. reduziert werden, dass Beteiligte ihre Hemmungen, den eigenen Machtrahmen auszufüllen, auflösen. Solange dies nicht der Fall ist, werden es immer die Menschen mit dem Bedürfnis nach Machtsucht sein, die jedes sich auftuende Vakuum sofort füllen. Somit kann das Nicht-Wahrnehmen des eigenen Machtrahmens zum Machtmissbrauch anderer beitragen. In meiner Beratungsarbeit geht es mir darum, Bewusstheit für den eigenen Machtrahmen zu ermöglichen und die Lust am konstruktiven und fairen Umgang oder auch Spiel mit der Macht zu wecken.
Literatur Adler, A. (1912/2008). Über den nervösen Charakter. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Crozier, M., Friedberg, E. (1993). Die Zwänge kollektiven Handelns. Über Macht und Organisation. Frankfurt a. M.: Hain. Hesse, H. (1987). Demian. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Kets de Vries, M. F. R. (1998). Führer, Narren und Hochstapler. Stuttgart: Verlag Internationale Psychoanalyse. Luhmann, N. (1988). Macht (2. durchges. Aufl.). Stuttgart: Enke. Person, E. S. (2001). Über das Versäumnis, das Machtkonzept in die Theorie zu integrieren. Zeitschrift für Individualpsychologie, 26 (1), 4–23. Rau, H. R. (1994). Wenn der Chef geht. Organisationsberatung – Supervision – Clinical Management. 1, 55–67. Watzlawick, P. (1983). Anleitung zum Unglücklichsein. München: Piper. Wirth, H.-J. (2002). Narzissmus und Macht. Gießen: Psychosozial.
Gisela Eife
Die doppelte Dynamik: Was treibt und was hilft Menschen mit psychischen Störungen?
Double dynamics: What drives and what helps individuals with mental disorders? Analytic Individual Psychologists are trained to recognize and to interpret the negative. Thus we might ignore the double dynamics which, according to Adler, is incorporated in every symptom, in every psychological movement. And, at the same time, we might ignore the constructive, integrating aspects of community feeling. Adler’s writings are described phenomenologically and illustrated in a case study.
Zusammenfassung Wir analytischen Individualpsychologen sind trainiert, das Negative wahrzunehmen und zu deuten. Dabei besteht die Gefahr, dass wir die »doppelte Dynamik« übersehen, die nach Adler in jedem Symptom, »in jeder seelischen Ausdrucksbewegung« enthalten ist. Und damit übersehen wir gleichzeitig die konstruktiven, integrierenden Aspekte des Gemeinschaftsgefühls. Adlers Ausführungen werden in einer phänomenologischen Beschreibung veranschaulicht und an einer Fallvignette diskutiert.
Einleitung Adler hinterließ uns kein Theoriegebäude. Das wird manchmal bedauert, und man sagt: Er war eben kein glänzender Denker und Theoretiker wie Freud und Jung. Ich meine, das ist in seinem Menschenbild begründet. Mit einem Theoriegebäude und der modernen Diagnostik blicken wir auf den individuellen Menschen und überlegen, wo er sich einordnen ließe. Die Individualpsychologie aber fragt nach dem
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Subjektiven des Lebens und Erlebens (Witte, 2008, S. 137). Adler hinterließ uns ein psychodynamisches Modell, das eher einem allgemeinen Lebensprinzip entspricht als einer psychologischen Theorie. Wenn Adler schreibt, der Lebensstil werde in den ersten Lebensjahren entwickelt aufgrund der kindlichen Notsituation, dann ist damit ausgedrückt, dass der Lebensstil sich in den »primären pathogenen Objektbeziehungen« entfaltet, da er dazu dient, das eigene Überleben gerade in der primären Umwelt zu sichern. Selbstverständlich werden diese internalisierten Objektbeziehungen auch auf den Therapeuten übertragen, wenn sich der neurotische Lebensstil des Patienten in der Therapie manifestiert, wie Antoch (2006, S. 352) ausführt. Die primären pathogenen Objektbeziehungen wurden vor allem von Kernberg ausgearbeitet. Selbstverständlich kann ich auch auf die pathogene Bindungsform fokussieren, die in den primären Beziehungen vorherrschend war, wie dies in der Bindungstheorie weiter ausgearbeitet worden ist. All dies sind wichtige Konkretisierungen von Adlers abstraktem Modell. Adler hinterließ uns ein zweites großes Vermächtnis: sein Konzept des Gemeinschaftsgefühls. Sein eigenes Bemühen um dieses Konzept ist geprägt von seinem intuitiven Wissen um die große Bedeutung, aber auch um die Möglichkeit des Missbrauchs dieses Konzepts. »Gefährlich scheint mir der Missbrauch der Idee des Gemeinschaftsgefühls in der Form, die gelegentliche bisherige Ungeklärtheit des Weges zum Gemeinschaftsgefühl dazu zu benützen, gemeinschaftsschädliche Anschauungs- und Lebensformen gutzuheißen und zu forcieren unter dem Titel der Rettung der gegenwärtigen oder sogar einer zukünftigen Gemeinschaft« (Adler, 1933b/2008b, S. 72). Und er betont: »Die absolute Wahrheit« ist »dem menschlichen Vermögen unzugänglich« (S. 161). In Adlers letzten Jahren wird sein theoretisches Bemühen um das Konzept des Gemeinschaftsgefühls mehr und mehr abgelöst von seinem (missionarischen) Eifer, das, was er seit dem Ersten Weltkrieg als wesentlich erkannt hatte, auch umzusetzen und möglichst viele Menschen davon zu überzeugen. In diesem Aufsatz werde ich nicht vom Gemeinschaftsgefühl als »richtunggebende[m] Ziel« (Adler, 1933i, S. 261), sinnstiftender Idee, oder, in Antochs Weiterentwicklung, vom »Sinn für das Selbstsein im Bezogensein« (Antoch, 2000, S. 37) ausgehen, sondern vom
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Erfahrungsaspekt des Gemeinschaftsgefühls. Diesen Aspekt habe ich auf dem Internationalen Kongress für Individualpsychologie in Litauen (Eife, 2008b) vorgetragen. In diesem Aufsatz will ich ihn in einer Fallvignette veranschaulichen.
Doppelte Dynamik in jedem Phänomen Schon 1918 schreibt Adler, wie »die Erfahrung von der überragenden Notwendigkeit der Gemeinschaftsbestrebungen« gegen das »Verlangen nach Macht« streitet (Adler, 1918e, S. 527). In seinem Aufsatz über Dostojewski schildert Adler, wie Raskolnikow die Treppe hinaufsteigt, eine alte Wucherin zu töten, und dabei »Herzklopfen« (Adler, 1918c, S. 284) verspürt. »Aus dieser Erregung seines Blutes spricht das Gemeinschaftsgefühl« (Adler, 1928m, S. 235). Diese doppelte Dynamik ist nach Adler in jedem Phänomen enthalten. Diese These ist fundamental für Adlers phänomenologische Sicht. Man kann »die gleichlaufenden Linien und Bewegungsformen des Gemeinschaftsgefühls und des Strebens nach Überlegenheit in zwei oder mehreren Ausgestaltungen« (Adler, 1929f, S. 247) wahrnehmen. Phänomenologisch ist alles präsent, nur sehen wir es nicht sofort. Die doppelte Dynamik ist nach Adler »im neurotischen Symptom genau in der gleichen Weise« zu sehen »wie in irgendwelchen anderen Lebensäußerungen« (S. 246). Bei schweren Persönlichkeitsstörungen empfinde ich die doppelte Dynamik wie eine lebensverneinende und eine lebensbejahende Bewegung. Abgesehen von einer möglichen real lebensgefährdenden Symptomatik ist die Lebendigkeit der Patientin durch die Fiktionen ihres Lebensstils so eingeengt und förmlich erstarrt, dass ich jede spontane Lebensäußerung wie ein neu und wieder gewonnenes Leben begrüße. Die lebensverneinende Bewegung ist in all unseren Vorstellungen und Fiktionen enthalten, wie unser Leben verlaufen soll: in milden Formen in unserem Leidvermeidungswillen und im Wunsch, unser Leben zu kontrollieren und zu beherrschen. Während diese Fiktionen auf Beständigkeit aus sind, ist (meines Erachtens) im Gemeinschaftsgefühl die Erfahrung der spontanen Lebendigkeit enthalten, eine lebensbejahende Bewegung, ein Mitfühlen mit sich selbst und mit anderen. Beide Impulse, die Dynamik der Fiktionen
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und die Dynamik des spontanen Lebens selbst, sind in uns präsent. Auch Symington (2007, S. 1409) geht in Anlehnung an Bion von zwei Kräften aus, die im Menschen wirken; die erste Kraft vermeidet Leid und arbeitet gegen Integration, die andere lässt allmählich Kohärenz und Integration im Inneren entstehen. Bisher habe die Psychoanalyse auf die erste, wohingegen Symington nun auf die zweite fokussiert. Bei Dostojewski bemerkt Adler diese »doppelte Bezogenheit jeder Figur«. Jeder Held »bewegt sich mit Sicherheit im Raum, der einerseits abgegrenzt wird durch das isolierte Heldentum, wo der Held sich in einen Wolf verwandelt, andererseits durch die Linie, die Dostojewski als Nächstenliebe so scharf gezogen hat« (Adler, 1918c, S. 289). Die doppelte Bezogenheit jeder Figur wird in ihren Bewegungen erkennbar.
Adlers Konzeptualisierung der Bewegung Schon 1914 begann Adler die Psyche als Bewegung zu konzeptualisieren. »Wenn ich das Ziel einer Person kenne, so weiß ich ungefähr, was kommen wird. Und ich vermag es dann auch, jede der aufeinanderfolgenden Bewegungen einzureihen, im Zusammenhang zu sehen und meine ungefähre psychologische Kenntnis des Zusammenhangs fortlaufend zu korrigieren oder anzupassen« (Adler, 1914h, S. 20). Im gleichen Aufsatz beschäftigte Adler das Problem, dass man »lebendige Bewegung in Worte, in Bilder einfangen« (S. 24) muss, sobald wir anfangen, die Bewegungen zu beschreiben. 1926 fragt Adler: »Ist denn das so sicher, dass wir alle Bewegung sind, unser Leben nur als Bewegung zu fassen ist?« (Adler, 1926k, S. 137). 1932 ist seine Antwort: Ja. »Wir stehen auf dem Standpunkt, unter Seele einen Teil des Lebens zu verstehen, der alle bewegten Strukturen des Lebens in sich tragen muss« (Adler, 1932h, S. 249). »Erst wenn wir die seelische Ausdrucksform als Bewegung verstanden haben, nähern wir uns dem Verständnis« (Adler, 1932i, S. 264). »Wir fangen die Bewegung ein, sehen sie so, als ob sie geronnene Bewegung, Form, im Ruhezustand wäre« (S. 264). Ein Jahr später schreibt Adler: »Der menschliche Geist« ist nur allzu sehr gewöhnt, »alles Fließende in eine Form zu bringen, nicht
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die Bewegung, sondern die gefrorene Bewegung zu betrachten, Bewegung, die Form geworden ist« (Adler, 1933i, S. 22). Und Adler stellt fest, dass seit jeher die Individualpsychologen auf dem Weg sind, »was wir als Form erfassen, in Bewegung aufzulösen« (S. 23). Ich will versuchen, am Beispiel eines Patienten die Form in Bewegung aufzulösen. Dabei ist die Mit-Bewegung (Adler, 1913j, S. 579; Heisterkamp, 2005, S. 232) der Therapeutin für den gemeinsamen Prozess erforderlich.
Die erste Dynamik, die Dynamik des Überwindungsstrebens Worum geht es der Patientin, wenn sie zur Therapie kommt? Adlers Ansatz ist immer innerpsychisch zu verstehen. Es handelt sich um die (internalisierte) Verarbeitung von traumatischen Erfahrungen innerhalb der ersten Objektbeziehungen. Das angestrebte Ziel der Sicherheit und Überlegenheit soll uns lebenslang vor einer Retraumatisierung schützen. Unsere Frage: »Worum geht es der Patientin?« lässt die neurotisch erstarrte Bewegungsform, die implizit im Gedächtnis gespeichert war, explizit werden; diese neurotische Bewegungsform stellt sich nun innerhalb der therapeutischen Beziehung in der Übertragung dar und kann in Worte gefasst und damit symbolisiert werden. Dies soll in meiner Fallvignette veranschaulicht werden. Dabei spielt es für Adlerianer keine Rolle, ob wir diese Bewegungsform zunächst nur in einer berichteten Beziehungsproblematik beobachten oder innerhalb der therapeutischen Beziehung, da es sich um dieselben Bewegungsformen handelt. Wenn wir diese Bewegungsform einmal erkannt haben, werden wir sie immer auch in der therapeutischen Beziehung entdecken.
Die zweite Dynamik, die Dynamik des Gemeinschaftsgefühls Worum geht es der Patientin eigentlich? Die Dynamik des Gemeinschaftsgefühls geht aus von den positiven frühkindlichen Beziehungserfahrungen. Sie treten in den Hintergrund, wenn wir uns vor den traumatischen Erfahrungen sichern wollen. Deshalb prägen diese Si-
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cherungsmechanismen unseren Lebensstil, und die zweite Dynamik, die des Gemeinschaftsgefühls, ist schwerer zu entdecken. Die erste Frage: »Worum geht es der Patientin?« betrifft das meist unbewusste, aber immer unverstandene Streben der Patientin nach Überlegenheit und Sicherheit; die zweite Frage: »Worum geht es der Patientin eigentlich?« stellte mein Lehranalytiker Rolf Schellack im kasuistischen Seminar, worauf wir alle in tiefes ratloses Schweigen versanken. Die Frage: »Worum geht es der Patientin eigentlich?« führt zur zweiten Dynamik, zur Dynamik des Gemeinschaftsgefühls. Mit dieser Frage stellen wir das neurotische Ziel der Überlegenheit selbst infrage. Wir fragen nach dem tieferen Sinn. Es ist eine existenzielle Frage, die Frage nach meinem Leben, die Frage nach der Beziehung zu mir selbst, zum Mitmenschen, zur Natur und zum Kosmos. Und genau dies ist Adlers Definition des Gemeinschaftsgefühls. Gemeinschaftsgefühl ist für Adler die Fähigkeit zu Mitgefühl, ein »Sich-heimischFühlen« (Adler, 1928f, S. 225) in der Welt, ein »Einigsein mit dem All« (S. 229), »ein Eingebettetsein« (Adler, 1931no, S. 192) und »die Verwachsenheit mit unserem Leben, die Bejahung, die Versöhntheit mit demselben« (Adler, 1908b, S. 76, Fußnote 63 von 1922). 1928 erzählt Adler von einem Jungen, der an einem Charakterdefekt leiden soll: Er stiehlt und er läuft von Zuhause davon. Man könnte nun daraus folgern, dass er ein verwahrlostes Kind sei. Aber eine genauere Untersuchung ergibt, dass der Junge »ein ungeheures Zärtlichkeitsbedürfnis hat, und wenn er stiehlt, so nur deshalb, um Kameraden zu beschenken und sie zu Freunden zu gewinnen und so bei ihnen Zärtlichkeit zu erpressen, und er läuft auch nur zu Hause davon, wenn er das Gefühl hat, dass man sich mit ihm zu wenig beschäftigt und ihm zu wenig Wärme gibt« (Adler, 1928c, S. 218). Ein weiteres Beispiel für diese Dynamik: Eine Patientin bekämpft die Ungerechtigkeit und wütet dagegen, aber eigentlich geht es ihr um das Gute (Eife, 2008a, S. 179). Sie will das Gute erreichen, indem sie das Böse gewaltsam ausrotten will. Das Erzwingende der ersten Dynamik, wie die Patientin dieses Ziel zu erreichen sucht, nämlich das Böse gewaltsam auszurotten, sehen wir vor allem, wenn wir nach Adler »den seelischen Ausdruck seines Inhaltes entkleiden« (Adler, 1927j, S. 198). Mit Hilfe dieser Reduktion wird deutlich, dass wir das fiktive Ziel unbedingt – mit dem Willen zur Macht – erzwingen
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wollen. Nach Witte (Witte, 2002, S. 99) ist aber dieses unbedingte Könnenwollen, wie er den Willen zur Macht ins Psychologische übersetzt, im Bereich der Mitmenschlichkeit, im Bereich der zweiten Dynamik, zum Scheitern verurteilt. Den Willen zur Macht habe ich (Eife, 2001, S. 41) als übergeordnetes Motivationssystem beschrieben und in Beziehung zu Lichtenbergs Motivationssystemen (Lichtenberg, 2000a, S. 61; 2000b, S. 102) gesetzt. Jetzt denke ich eher wie Reinert (2007, S. 37), der Adlers Behandlungsanweisungen weiterentwickelt hat, dass wir Gedanken Adlers, die uns wertvoll erscheinen, auslegen, vertiefen und weiterentwickeln sollten. Einige Kollegen und Kolleginnen sind diesen Weg schon gegangen. Wenn Adler selbst im psychosomatischen Symptom des Herzklopfens von Raskolnikow ein Wirken des Gemeinschaftsgefühls sieht, dann wird deutlich, dass er die Wurzeln des Gemeinschaftsgefühls im leibseelischen Leben sucht. In den 1930er Jahren versuchte Adler, das Gemeinschaftsgefühl mit Hilfe der Evolutionstheorie als eine Tatsache des Lebens zu begründen (Adler, 1931no, S. 192; 1933i, S. 27) oder die absolute »Logik des menschlichen Zusammenlebens« (Adler, 1926m, S. 160) dafür in Anspruch zu nehmen. Dies zeigt meines Erachtens, dass das Gemeinschaftsgefühl für ihn eine Grundgegebenheit des Lebens darstellt. Wenn wir der Quantentheorie (Görnitz, 2008) glauben können, so gibt es nur die Verbundenheit, »gibt es keine einzelnen Objekte und alles ist lediglich ein einziger Quantenzustand«. »Das Einfache ist das Ganze« (S. 312). Adler spricht zwar vom Leben als »Stellungnahme« zur Welt, aber im Kontext wird deutlich, dass er tiefere Erlebens- und Verhaltensschichten meint. Es geht ihm um einen leibseelischen Lebensvollzug, darum, dass einer sich dem anderen »hingibt« (Adler, 1931g, S. 74) und sich »heimisch fühlt in der Gesamtheit der Menschen« (S. 74) und dass »das ursprüngliche Interesse für den Zusammenhang« vorhanden ist (S. 74). Die Verbundenheit ist also eine ursprüngliche oder Grundgegebenheit des Menschen. Adler spricht nicht nur von der Erfahrung des Gemeinschaftsgefühls, sondern auch von der »Möglichkeit« dieser Erfahrung, nämlich von der »Möglichkeit einer Hingabe« für die andere Person, ein Interesse, welches mir »anhaftet« – »von dem ich gar nichts zu wissen brauche« (Adler, 1932f, S. 214). Dieses Interesse sei »die Grundmelodie, die in allen Ausdrucksformen sich wieder fin-
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det« (S. 215), etwa in der Art, »wie einer zum andern spricht und sich im Sprechen mit jemand verbindet«, ebenso beim Hören und Sehen (S. 215). Wenn ich den zitierten Aussagen Adlers folge, dann ist das Gemeinschaftsgefühl in seinem Ursprung uns gegeben als Ausdruck der Verbundenheit mit dem eigenen Leben und dem Leben anderer, weil das Leben uns allen gemeinsam ist. Darin enthalten ist die Möglichkeit, diese Verbundenheit zu erleben wie auch das Erleben selbst. In der individuellen Erfahrung kann freilich diese originäre Verbundenheit leidvoll gestört sein, und jeder neurotische Lebensstil versucht, sich vor diesem Leid, vor Einsamkeit und Isolation zu sichern. Wenn ich aber die Frage stelle: Worum geht es der Patientin eigentlich?, dann lassen sich diese existenziellen Bedürfnisse auch in extremer Verzerrung erahnen: das Verlangen nach Respekt und Achtung, die Sehnsucht nach Liebe und Zärtlichkeit und die Sehnsucht nach einem erfüllten Leben. All diese existenziellen Bedürfnisse, die uns das Leben bejahen lassen, gehören für mich zum Bereich des Gemeinschaftsgefühls. Das heißt: Die doppelte Dynamik ist prinzipiell in jeder Lebensbewegung enthalten, auch wenn sich das Gemeinschaftsgefühl nur rudimentär äußert wie bei Raskolnikow. Dabei ist bemerkenswert, dass diese Dynamik als Aktion eine Gegenbewegung zur ersten Dynamik wäre, aber eigentlich ein Loslassen des Eigenwillens bedeutet. Insofern ist die doppelte Dynamik keine dialektische Bewegung mit These, Antithese und Synthese. Vielmehr sind es ineinanderlaufende Bewegungen, die zwei verschiedenen Dimensionen angehören. Als Vergleich lässt sich das Licht als Welle oder Teilchen anführen: es ist dasselbe in verschiedenen Zuständen oder noch genauer ausgedrückt, es ist dasselbe, aus verschiedenen Perspektiven gesehen. Nur wenn die Selbstbezogenheit von sich lassen kann, wenn sie sich der Erfahrung, von einer Begegnung oder einem Problem ergriffen oder überwältigt zu sein, aussetzt, wird die »Wirklichkeit« des Lebens, die Verbundenheit erfahren. Die Dynamik des Gemeinschaftsgefühls ist die Bewegung des Lebens selbst.
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Das Auftauchen des Gemeinschaftsgefühls im Gegenwartsmoment Wann aber taucht das Gemeinschaftsgefühl im bewussten Erleben der Patientin auf, so dass eine Dynamik des Gemeinschaftsgefühls beginnen könnte, sofern es nicht abgewehrt wird? Das Herzklopfen von Raskolnikow auf der Treppe hätte ein psychosomatischer Einbruch von Gemeinschaftsgefühl werden können, von mitmenschlichem Leben, ein Augenblick der Begegnung mit seinem eigenen Gemeinschaftsgefühl. Stern (2005) nennt diesen Augenblick »Gegenwartsmoment«. Diese neue Erfahrung hätte ein Innehalten der Bewegung bewirkt, und Raskolnikow hätte sein fiktives Ziel, durch den Mord an der alten Wucherin so groß wie Napoleon zu werden, sein lassen können. Einen solchen Gegenwartsmoment möchte ich an der Fallvignette aufzeigen.
Situation Der Patient legt sich auf die Couch, schweigt kurz und stellt sofort eine Frage, was ungewöhnlich ist: ob ich mich an den Gegensatz von Joggen und Schwimmen erinnern könne. Ich brumme kaum hörbar eine Zustimmung, anstatt Ja zu sagen, was auch ungewöhnlich ist. Er fährt fort, unterbricht sich, er müsse sich erst spüren, schweigt; dann will er weiterreden. Ich frage ihn, was los war. Er sagt, er sei froh über meine Frage; sie zeige ihm, dass ich präsent sei. Er habe sich ganz allein gefühlt. Ich frage, was vorher war. Der Patient schweigt, sagt dann: »Ich blieb an der Tür stehen. Sie gaben mir die Hand, ich hatte das Gefühl, Sie ziehen mich herein. Das war angenehm.« Ich: »Und was war dann?« Nach längerem Schweigen sagt der Patient: »Irritierend ist Ihre neutrale und zurückhaltende Art, wie Sie mich begrüßen. Ich werde dann unsicher.« Ich frage: »War es heute auch so?« Patient: »Heute beim Hereingehen haben Sie mich sogar angelächelt.« Ich: »Sie lächelten mich auch an.« Patient: »Ich freute mich, hier zu sein.« Nach längerem Schweigen assoziiert er zu meiner Freundlichkeit, dass bei der Mutter hinter der Freundlichkeit eine dumpfe Leere und ein Desinteresse spürbar waren. (Sie war psychotisch.) Dann erzählt
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er, dass in ihm (anfangs) der Impuls aufkam, mir etwas Besonderes zu sagen. Dazu assoziiert er, dass er mit der Mutter in solchen besonderen Momenten eine gute Verbindung hatte. Aber er wisse, dass ich nichts von ihm erwarte. Ich: »Wirklich? Ist dies entlastend oder ein wenig traurig?« Der Patient meint zuerst, beides, ist sich nicht sicher. Wir brauchen die ganze Stunde, um diese Anfangssituation zu klären (auch deswegen, weil der Patient oft schweigt und erst sich spüren möchte). Die Klärung ermöglichte uns gegen Ende der Stunde eine neue Erfahrung. Ich fragte ihn, ob er einen Fortführungsantrag stellen wolle, er bejahte, und ich freute mich darüber und sagte dies. Er blickt sich um, sieht, dass ich mich freue, setzt sich auf und sagt, das freue ihn. Er wirkt bewegt und ist still. Dann fragt er, ob er die Therapie auch privat zahlen könne? Ich bejahe und sage, dass die Krankenkasse uns die Fortführung der Therapie sicherlich genehmigen wird. Dann frage ich: »Sie haben sich aufgesetzt? Welcher Impuls war da?« Der Patient sagt: »Ich wollte Sie sehen.« Ich: »Das war bewegend, oder?« Patient: »Ja, zu sehen, dass Sie sich freuten.« Ich: »Sie sind allmählich hier angekommen?« Er lächelt und nickt. Ende der Stunde
Mein Kommentar Welche Bewegungen sind hier Form geworden? 1. Erste Bewegungsform, etwas Besonderes erzählen: Er fühlte sich von mir hereingezogen, empfand es als angenehm. Mein Lächeln verstärkte wohl die ihn zu mir hereinnehmende Bewegung. Diese Verstärkung ähnelte einem Impuls seiner Mutter; sie erwartete ein neurotisches Mit-Einschwingen in eine aufgeblähte mütterliche bzw. noch ungetrennte gemeinsame Lebensbewegung; sie wollte ihn, wie Kohut es ausdrückt, als idealisiertes Selbstobjekt (Kohut, zit. v. Stolorow, 1996, S. 95) benutzen. Dieser übergriffige Aspekt der ambivalenten Mutter-Übertragung hatte in der Vergangenheit zu Wutausbrüchen und zu drängenden Suizidgedanken geführt. Im Verlauf der Therapie hatte der Patient mich mehrmals getestet, ob ich ihn vereinnahme oder freigebe. Dieses Problem hat sich für ihn befriedigend gelöst. Mein Hereinziehen in den Therapieraum empfand er nicht mehr als bedroh-
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lich, sondern als angenehm. Unser gemeinsames Lächeln bewegte ihn vielleicht dazu, mir eine Freude machen zu wollen. Dies tut er in der ihm vertrauten Form: Er will etwas Großartiges erzählen und damit die Erwartungen der »Mutter« erfüllen. Er weiß noch nicht, dass er die positive therapeutische Beziehung wie ein Geschenk annehmen darf und nichts dafür leisten muss. Die Erwartungen seiner psychisch kranken Mutter grenzten an Größenwahn: Der Sohn sollte etwa ein Nobelpreisträger werden. Soweit die erste Psychodynamik. Gleichzeitig ist darin die zweite Dynamik enthalten: Er wünscht sich (wohl unbewusst), dass mein Freigeben nicht aus Desinteresse geschieht, sondern dass ich an ihm interessiert bin und mich ihm verbunden fühle. 2. Gescheiterter Augenblick der Begegnung: Seine überraschende Frage irritierte mich, und zugleich war ich erstaunt über meine Irritation. Meine geringe Resonanz löste eine Retraumatisierung und den negativen Aspekt der ambivalenten Mutter-Übertragung, die dumpfe Leere, aus. Es handelt sich um einen gescheiterten Begegnungsmoment: Wir sind irritiert voneinander, weil wir uns nicht begegnen. 3. Rücknahme seiner ersten Bewegung – Gefühl des Allein- und Isoliertseins: Indem ich zu Beginn der Stunde in seiner überschießenden Bewegung nicht mitschwingen konnte, war er in seiner Bewegung gehemmt und sagte, er müsse sich erst wieder spüren. Exkurs: Die Hemmung könnte durch das negative Introjekt des Patienten bedingt sein, zum Beispiel durch Aspekte seiner Mutter, die ihm etwa sagt: »Du bist eben doch nichts Besonderes, du bist ein Nichts.« Dieses negative Introjekt wirkt selbstzerstörerisch und verhindert, dass der Patient sich und sein Leben bejaht, Gemeinschaftsgefühl mit sich selbst entwickelt, und es kann verhindern, dass ich als gutes Objekt internalisiert werde. Deshalb ist die Analyse und die nachfolgende Distanzierung vom negativen Introjekt so wesentlich. Dieser negative Prozess konnte in der hier geschilderten Sitzung nicht analysiert werden, erst in späteren Sitzungen. Aufgrund der Hemmung seiner Lebensbewegung fühlte sich der Patient allein und isoliert. Diese Hemmung der eigenen Lebensentfaltung prägt die frühen Erfahrungen des Patienten: Er sollte beruflich Großes erreichen, aber gleichzeitig die Mutter nie verlassen. Er wollte
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sie begeistern und spürte ihre dumpfe Leere. Der Vater befahl ihm, sich um die Mutter zu kümmern, und hasste den Sohn dafür, dass er ihm die Mutter wegnahm. Zu meiner mangelhaften Kontaktaufnahme assoziiert er die dumpfe Leere und das Desinteresse, das sich hinter der Freundlichkeit der Mutter verbarg. Er ist froh über meine Frage, mit der ich zu ihm wieder Kontakt aufnehme. 4. Internalisierte starre Formen manifestieren sich als neurotische Bewegung: Wenn sich die neurotisch-internalisierten Bewegungsformen in der therapeutischen Beziehung manifestieren, wird Implizites in Explizites, in eine nunmehr bewusste, verbalisierte Bewegung überführt: Meine Fragen an ihn zur Klärung des Geschehens und sein Assoziieren führen dazu, dass sich internalisierte starre Formen wieder als neurotische Bewegung manifestieren. Die erste Bewegung zielte darauf, mir etwas Besonderes zu erzählen, angerührt von der Freude über die positive Begrüßung. Die Rücknahme dieser Bewegung (Hemmung) diente seinem Schutz, seiner Sicherung vor der vermeintlichen dumpfen Leere, die sich hinter meiner Freundlichkeit (wie bei der Mutter) verbergen könnte. Anschließend wollte er weitererzählen, das heißt, über den Vorfall hinweggehen, um die neurotisch stabile Beziehung aufrechtzuerhalten. 5. Die verborgene Dynamik des Gemeinschaftsgefühls: Während die neurotische Dynamik darin besteht, sich von der Mutter narzisstisch missbrauchen zu lassen, zeigt sich die Dynamik des Gemeinschaftsgefühls darin, dass der Patient eine enge Verbindung zu seiner Mutter hatte und aufgrund dieser Verbundenheit eine besondere Sensibilität entwickelte und ein Interesse am Mitmenschen. Diese Dynamik blieb zunächst verborgen hinter seiner Abwehr der mütterlichen Vereinnahmung. Das »Freilegen« des Positiven durch die Analyse des Negativen ist bei schweren psychischen Störungen unabdingbar, aber ebenso notwendig ist das Wahrnehmen und Ansprechen der lebensbejahenden Kräfte im Dienste des Gemeinschaftsgefühls, um dadurch die schöpferischen Selbstheilungskräfte des Patienten zu wecken und zu unterstützen. Die Achtsamkeit auf diese positiven Aspekte und auf die unmittelbare Erfahrung könnte der besondere Beitrag der Individualpsychologie zur Psychoanalyse sein.
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Die Dynamik des Gemeinschaftsgefühls in der beschriebenen Therapiestunde zeigte sich darin, dass der Patient eine innere Verbindung zu mir spürte, sich davor nicht schützen musste und mir eine Freude machen wollte. Dies geschieht zunächst auf neurotische Weise, aber die innere Bewegung ist positiv und nach Klärung und Auflösung des neurotischen Anteils kam es zu einem »Augenblick der Begegnung« (Stern, 2005, Eife, 2000, S. 120; 2004, S. 231), in dem er meine Freude an unserer Verbindung »in sich eindringen lassen« konnte. 6. Das Auflösen der neurotischen Bewegung im »Augenblick der Begegnung«: Das gleichförmig repetitive neurotische Bewegungsmuster löst sich im Augenblick der Begegnung für einen Moment auf. Meine Freude und mein Interesse zu erleben war für den Patienten so bewegend, dass er in Bewegung geriet, seine alte Bewegungsstellung (das Liegen) aufgab und sich setzte. Uns durchströmte eine Atmosphäre des Angekommen- und Willkommenseins, wie sie Heisterkamp (als Wirkfaktor) ausführlich darstellt (Heisterkamp, 2005, S. 227; 2007, S. 8). Man kann sagen: Der Augenblick war erfüllt von einer neuen Lebendigkeit zusammen mit einem spontanen Gefühl von Zusammengehörigkeit, von Gemeinschaftsgefühl. Auf dieser Erfahrungsebene ist das auftauchende Gemeinschaftsgefühl »die unmittelbare Erfahrung des Lebens« selbst (Eife, 2008b). Ich hätte die Frage nach Fortführung der Therapie nicht in dieser Sitzung stellen müssen; es war ein spontaner Einfall. (Vielleicht hatte auch ich mehr Vertrauen, dass ich ihn damit nicht mehr in bedrohlicher Weise bedränge.) Dieser Augenblick bedeutete für uns beide die existenzielle Erfahrung einer Kehrtwende (Eife, 2004, S. 239) oder Umkehr: Wir konnten uns dem überlassen, was unerwartet mit uns geschah und es wie eine Gabe empfangen. Anstelle von Gabe, die mir ciszendent zufällt (Witte, 2002, S. 95), kann ich auch von Selbstorganisation (Kauffman, 1993; Kießling, 1998) und Emergenzphänomen (Palombo, 1999; Dürr, 2000, S. 206; Schülein, 1999, S. 211) sprechen und diese Metapher von der Theorie der dynamischen Systeme (Thelen u. Smith, 1994) übernehmen, oder ich spreche von Passung und einer gelungenen Beziehung; aber all diese Worte erklären nichts, es sind nur Worte für etwas, von dem wir nicht wissen, wann, warum und wie es passiert. Aber es ist erfahrbar im Augenblick. Witte (2005,
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S. 245) unterscheidet die physikalische (Uhr-)Zeit des »Jetzt« von der Zeiterfahrung des Da im Augenblick. Er beschreibt diesen Augenblick »als den Punkt des eigentlichen Versammeltseins im Da«, als »meine Weise zu sein«, als »Da zu sein im Augenblick« (S. 244). Die Veränderung der impliziten therapeutischen Beziehung (Stern, 2005, S. 130) geschieht, wenn nach dem Gegenwartsmoment der Lebensstil sich wieder konstelliert, in etwas anderer Weise, weil die neue Beziehungserfahrung unbewusst integriert und dadurch die implizite therapeutische Beziehung verändert wird. Nochmals zurück zu den Fragen: Worum ging es dem Patienten, und worum ging es dem Patienten eigentlich? In neurotischer Weise ging es meinem Patienten darum, sein Leben, seine Beziehungen so gestalten zu können, wie er es sich gedanklich vorstellte, und in dieser Weise seine eigenen Erwartungen und die Erwartungen anderer zu befriedigen. Dadurch presste er das spontane Leben in sein Gedankengebäude, in seine Fiktionen hinein. Worum ging es ihm eigentlich? Meines Erachtens ging es ihm ganz basal um sein Lebendürfen in Verbundenheit mit den Mitmenschen. In jedem neurotischen Lebensstil ist auch eine positive Lebensbewältigung enthalten, ein Training, das gewürdigt werden sollte. Mein Patient hatte ein Training in einer besonderen Sensibilität gegenüber den Bedürfnissen und Erwartungen der Mitmenschen, außerdem Lust auf Herausforderungen. Wenn ich nun diese Fallvignette so genau wie möglich geschildert habe, entsteht in mir ein Bedürfnis, all dies wieder zurückzunehmen und in die Schwebe zu bringen. Ich könnte es Ehrfurcht vor einem Geheimnis nennen, das unsagbar ist und bleibt, auch wenn wir versuchen, es in Worte zu fassen. »Die Ahnung ist die Quelle der Orientierung, die wir haben. Und auf diese Weise können wir sozusagen von dieser Verbundenheit im Hintergrund auch wirklich profitieren« (Dürr, 2001, S. 157). Es ist eben beides: Wir versuchen, die emotionale Erfahrung des Patienten zu verstehen, zuerst intuitiv, dann mit Worten. Aber wie sich die emotionale Erfahrung des Patienten wandelt, wissen wir nicht; vielleicht war es so, wie ich es deutete, vielleicht nicht. Wesentlich ist, dass ich in der folgenden Stunde wieder alles vergesse, was ich über den Patienten gedacht habe und im Augenblick präsent
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bin. Adler und Bion betonen beide die Intuition und beide betonen das Nicht-Wissen. Adler, indem er die ideale Gemeinschaft in die Ewigkeit verlegt (Adler, 1933i, S. 26), und Bion, indem er von der unerkennbaren letzten Realität (Bion, 1997, S. 186) spricht.
Zusammenfassung Wenn die neurotischen Aspekte geklärt, nicht mehr vorherrschend sind, dann erscheint das, was Adler der Dynamik des Gemeinschaftsgefühls zurechnet, einer Dynamik, der wir uns nur überlassen können. Sie ist verborgen in der neurotischen Lebensbewältigung und kann im Augenblick der Begegnung erfahren werden. Die unmittelbare leibseelische (psychosomatische) Erfahrung von Gemeinschaftsgefühl kann sich aber auch in vielen unscheinbaren Momenten äußern: Ein Patient ist plötzlich wohlwollender sich selbst gegenüber oder wirkt lebendiger. Oder eine Patientin weint erschüttert, weil sie die Liebe zu ihren Kindern, die sie in ihrer Schockstarre nach einer Trennung nicht mehr fühlte, wieder gespürt hat. Oder eine Patientin entdeckt wieder die rebellische Seite ihrer Jugend in sich als Ausdruck einer ungestümen Lebendigkeit und Lebensfreude. Der Wunsch nach der (ursprünglichen) Verbundenheit ist im Hintergrund immer präsent, tritt nur nicht in Erscheinung. Nach Adler liegt in der Erkenntnis der Wurzeln des Gemeinschaftsgefühls »der ganze Wert und die ganze Bedeutung der Individualpsychologie« (Adler, 1933i, S. 21). »Diese Erkenntnis ist nicht unmittelbar erfassbar, sie kann nicht gefunden werden durch eine Analyse der sichtbaren Erscheinungen und Tatsachen« (S. 21), sie erschließt sich nur in einem Prozess, den Adler »die Verwachsenheit mit unserem Leben, die Bejahung, die Versöhntheit mit demselben« (Adler, 1908b, Fußnote 63 von 1922) genannt hat.
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Bernd Schäpers
Die positive Macht der Peerkultur
The positive impact of peer culture The more fragile the relational patterns within the family and the early social environment have been and still prove to be the more insecure and cautious are adolescents as far as new relations and friendships are concerned. Furthermore, the less the surrounding adult culture is characterized by relational aspects such as love, friendship and caring the higher the impact of peer culture will be on adolescents. Yet, taking the high influence of peers on children’s and adolescents’ development into consideration peer-group-education turns out to be a pedagogical concept that allows to build up meaningful and supportive relationships.
Zusammenfassung Je fragiler die Beziehungsmuster innerhalb der Familie und im frühen Umfeld waren bzw. sind, desto unsicherer und vorsichtiger sind Heranwachsende in Bezug auf neue freundschaftliche Beziehungsangebote. Je weniger die umgebende Erwachsenenkultur von Liebe, Freundschaft und Fürsorge geprägt ist, desto stärker wird die Orientierung an der Peerkultur ausfallen. Peer-GroupEducation macht aus dem großen Einfluss, den Peers auf die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen haben, ein pädagogisches Konzept, indem sie befähigt, sinnvolle helfende Beziehungen aufzubauen.
Zur Situation Lehrerinnen und Lehrer sehen sich heute mit einer Wirklichkeit konfrontiert, die in einem Gutachten der Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung folgendermaßen beschrieben wird: »Lernen wird (von den Schülerinnen und Schülern)
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häufig als sinnlos, die Curricula ohne Nutzen für das Leben erlebt. Das Vertrauen in die Lehrer ist gering, die Distanz zu diesen groß. Für viele, insbesondere für bildungsfern aufwachsende Jugendliche, ist Schulerfahrung kein konstruktiver Beitrag zum Aufbau von Lebenssinn, von optimistischem Selbstvertrauen und Überzeugungen eigener Wirksamkeit« (Edelstein u. Fauser, 2001). Einige wenige Schlaglichter sollen die Situation von heutigen Kindern und Jugendlichen beleuchten. Die heutigen Familien sind zunehmend mit verschiedenen Problemen der Alltagsbewältigung konfrontiert. Viele Eltern sind überfordert und verunsichert angesichts eines allgemeinen Wertewandels und haben ihre pädagogischen Bemühungen weitgehend aufgegeben. Strukturierungen und Rituale des familiären Lebens sind entfallen, und es fehlt den Erziehenden oft an sozialer und kommunikativer Kompetenz. Die heutige Gesellschaft orientiert sich an den Interessen der Erwachsenen. Der zehnte Kinder- und Jugendbericht über die Lebenssituation von Kindern in Deutschland sagte bereits 1998: »Die Bedingungen des Aufwachsens von Kindern stehen in eklatantem Widerspruch zum postulierten Wohl der Kinder. Für die Kinder zu sorgen, und sie beim Aufwachsen zu begleiten, ist keine Lebensform, für die in dieser Gesellschaft in ausreichendem Maße die notwendigen Vorkehrungen getroffen, Zeit und Räume bereitgestellt und die materiellen Mittel angeboten werden« (BMFSFJ 1998, S. 279 f.). Die heutige Schule hat ihre eigene Rolle in den letzten Jahrzehnten auf die Wissensvermittlung reduziert. Viele Lehrerinnen und Lehrer lehnen eine gesellschaftliche Erwartung ab, die ihnen die Rolle zuweist, die Defizite der von den Eltern kaum noch geleisteten Erziehung auszugleichen. Die Bildungspolitik hingegen konzentriert sich auf die Kontrolle von Leistungsstandards und überlässt die Qualifizierung der Lehrpersonen für ihre schwierigen erzieherischen Aufgaben sowie die finanzielle Ausstattung von Projekten zum sozialen Lernen weitgehend privaten Förderern. Es ist eine große Herausforderung der Pädagogik, Möglichkeiten zu finden oder zu schaffen, wie Kinder und Jugendliche unterstützt und ermutigt werden können, zu einem selbstbestimmten Leben zu finden. So folgert der Bildungsforscher Krappmann aus dem zehn-
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ten Kinder- und Jugendbericht: »Eine Kultur des Aufwachsens muss ein wohl abgestimmtes Gefüge von persönlichen Beziehungen und unterstützenden Einrichtungen schaffen, in dem Wissen, Werte und Normen übermittelt werden, das zugleich aber auch die Entwicklung eigenen Sinns und die Übernahme von Verantwortung für sich und andere auf Seiten der Kinder und Jugendlichen zulässt« (Krappmann, 1999, S. 337). Hoffnungsvolle Ansätze, wie schulische Bildung und Erziehung in diesem Sinne ergänzt werden können, lassen sich aus verschiedenen theoretischen Kontexten begründen: a) Durch die Individualpsychologie: Kinder brauchen das Gefühl der Zugehörigkeit zu Gemeinschaften in Familie, Schule, Peergruppe, Gemeinde, um zu selbstsicheren, optimistischen, mutigen Erwachsenen heranreifen zu können. b) Durch die Peer-Group-Education: Für immer mehr Jugendliche gewinnen neben Eltern und Lehrern die Gleichaltrigen an größerer Bedeutung, insbesondere da sie die gleichen Werte innerhalb desselben sozialen Systems leben. Peer-Group-Education stellt dabei einen pädagogischen Zugang zu den Peer-Gruppen dar, der aus Training, Begleitung und Unterstützung besteht. c) Durch die Resilienz-Forschung: Resilienz bedeutet psychische Widerstandsfähigkeit gegenüber biologischen, psychologischen und psychosozialen Entwicklungsrisiken. Für die psychische Gesundheit trotz Risikobelastungen ist insbesondere von Bedeutung, inwieweit ein Kind in der Lage ist, Kontakte zu knüpfen und wichtige Bezugspersonen zu finden.
Peer-Group-Education Die Peers »sind diejenigen, denen sich Kinder und Jugendliche zugehörig fühlen, in deren Gemeinschaft sie gleichrangig sind und sich somit als Gruppe von anderen (Erwachsenen) abgrenzen« (Opp u. Unger, 2006, S. 13). Die Gleichaltrigen sind für Heranwachsende heute wichtiger als in früheren Generationen. Sie besitzen bei Jugendlichen hohe Anerkennung für die Ausbildung ihrer Werte, für die Entwicklung ihrer Identität, für ihre gesamte Lebensorientierung. Das
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heißt, gleichaltrige oder wenig ältere Mitschüler sind soziale Modelle, nach denen sich Kinder und Jugendliche ausrichten. Wenn vom Einfluss Gleichaltriger die Rede ist, dann geschieht dieses oft in negativen Zusammenhängen (Gruppenzwang, Fehlverhalten, Gewaltbereitschaft …). Es gibt aber durchaus positive Gründe für Kinder und Jugendliche, sich vertrauensvoll an Gleichaltrige zu wenden: – den anderen geht es ähnlich wie mir, – zu Erwachsenen habe ich kein Vertrauen, – die Erwachsenen in meiner Umgebung sind Verursacher meiner Probleme, – mit den Erwachsenen kann man nicht reden, – zwischen Gleichaltrigen und mir besteht Gleichwertigkeit, – mir von Gleichaltrigen helfen zu lassen, ist kein Zeichen von Schwäche. Entsprechend der individualpsychologischen Auffassung, dass es von den Konstellationen in der frühen Kindheit, in der Regel also in der Familie, abhängt, welche Grundmuster für seine Lebensgestaltung (»Lebensstil«) ein Heranwachsender entwickelt, kann festgestellt werden: »Je fragiler die Beziehungsmuster innerhalb der Familie und im frühen Umfeld waren bzw. sind, desto unsicherer und vorsichtiger sind Heranwachsende in Bezug auf neue freundschaftliche Beziehungsangebote« (Opp u. Unger, 2006, S. 15). Nach Adler betrifft die »Frage, ob das Kind leicht Freunde gewinnt oder ungesellig ist, ob es Führer oder Gefolgsmann ist, […] seine Fähigkeit zur Kontaktaufnahme – mit anderen Worten, das Maß seines Gemeinschaftsgefühls oder seiner Ermutigung« (Adler, 1976, S. 62). Gemeinschaftsgefühl bedeutet in diesem Zusammenhang das angeborene Bedürfnis, in der Gemeinschaft dazuzugehören und einen allgemeinen Beitrag zu leisten, eine soziale Anlage, die im Laufe eines individuellen Lebens aber erst entwickelt werden muss. Ermutigung ist nach Dreikurs eine Handlung und eine Haltung, »die dem Kind vermittelt, dass der Erwachsene es achtet, ihm vertraut, an es glaubt und überzeugt ist, dass sein gegenwärtiger Mangel an Fertigkeiten in keiner Weise seinen Wert als Person beeinträchtigt« (Dreikurs, 1987, S. 90).
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So sind es nicht nur die sozialen und ökonomischen Bedingungen in der Familie, die kindliche Entwicklungsprozesse beeinflussen, sondern vor allem der Kontakt der Eltern zu ihren Kindern. Zu den positiven Faktoren werden gezählt, – »dass sich die Kinder von ihren Eltern verstanden fühlen; – dass die Kinder ihre Eltern als kompetente Ratgeber in wichtigen Lebensfragen sehen; – dass sich die Kinder in ihren Schulerfahrungen von den Eltern wahrgenommen und unterstützt fühlen; – dass die Kinder Freizeitaktivitäten gemeinsam mit ihren Eltern unternehmen; – dass die Kinder das Klima in ihrer Familie als kooperativ, partnerschaftlich und harmonisch erleben; – dass sich die Kinder als Person von ihren Eltern geachtet fühlen« (Eickhoff u. Zinnecker, 2000). Vielen Kindern bleiben diese Erfahrungen in ihren Familien ganz oder teilweise vorenthalten. Die Folgen beschreibt die Individualpsychologie als Sicherung des Selbstwertgefühls durch Streben nach Überlegenheit und Macht durch unerwünschte Verhaltensweisen, mit denen Beachtung erzwungen wird, als Erniedrigung anderer oder Abhängigkeit von Wortführern, als verborgene Rache, indem deutlich gemacht wird, wie unfähig der Erwachsene ist, Aggression und Gewalt zu verhindern, oder als Angst vor Versagen mit einem Ausweichen vor Bewährungssituationen. Fehlt die Erfahrung von Unterstützung in der Familie, dann ist eine grundlegende Dimension kindlicher Lebensqualität bedroht, nämlich das Bedürfnis nach Anerkennung und vor allem nach Zugehörigkeit zu entwicklungsförderlichen Gemeinschaften. Je weniger die umgebende Erwachsenenkultur von Fürsorge und Ermutigung geprägt ist, desto stärker wird die Orientierung an der Peerkultur ausfallen. Hier setzt das Konzept der Peer-Group-Education an: Es geht darum, Kinder und Jugendliche als Partner und nicht nur als Zielgruppe pädagogischer Konzepte ernst zu nehmen. Es handelt sich um einen pädagogischen Ansatz, der die Stärken der Heranwachsenden wahrnimmt und ihnen Fähigkeiten zutraut, unter Gleichaltrigen helfend und ermutigend zu wirken. Der Glaube an die Potentiale
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von Kindern und Jugendlichen beruht auf den Ergebnissen der Resilienz-Forschung. Resilienz (engl. »resilience« = Belastbarkeit, Widerstandsfähigkeit) bezeichnet die Fähigkeit, erfolgreich mit belastenden Lebenssituationen umzugehen. Es geht also um die Fähigkeit, sich von einer schwierigen Lebenssituation »nicht unterkriegen zu lassen« und »nicht daran zu zerbrechen«. Resilienz kann somit verstanden werden als psychische Widerstandsfähigkeit von Kindern und Jugendlichen gegenüber biologischen, psychologischen und psychosozialen Entwicklungsrisiken (vgl. Wustmann, 2004). Aufgrund von wissenschaftlichen Längsschnittstudien geht man davon aus, dass sich ein Drittel aller Kinder, die ein hohes Entwicklungsrisiko kennzeichnet, trotz erheblicher Risikobelastungen zu zuversichtlichen, selbstsicheren und leistungsfähigen Erwachsenen entwickelt (vgl. Werner u. Smith, 2001). Resiliente Kinder verfügen über Kompetenzen, schwierige Situationen zu bewältigen, flexibel und kreativ zu reagieren. Dazu haben sie eine Reihe sozialer Fähigkeiten, von denen eine besonders ins Gewicht fällt: Die Fähigkeit, Kontakte zu knüpfen, auf andere Menschen zuzugehen, gute Freunde zu finden. Im Allgemeinen wird davon ausgegangen, dass Resilienz kein angeborenes Persönlichkeitsmerkmal darstellt, sondern im Verlauf der kindlichen Entwicklung erworben wird. Dabei liegen die Wurzeln sowohl in der Person des Heranwachsenden als auch in seiner Lebenswelt. Individualpsychologisch gedeutet geht es darum, wie das Kind mit seiner »schöpferischen Kraft« auf die in seiner Umwelt vorgefundenen Bedingungen reagiert und welche »Ermutigung« es bei der Bewältigung der Herausforderungen erfährt. In den Studien hat sich gezeigt, dass resiliente Kinder zu mindestens einer Bezugsperson eine stabile, positiv-emotionale Beziehung aufbauen konnten. Dabei ist ein Beziehungsmuster unterstützend, das durch Wertschätzung, Respekt und Akzeptanz dem Kind gegenüber und durch Sicherheit im Erziehungsverhalten gekennzeichnet ist. Als weitere Schutzfaktoren erwiesen sich unterstützende Geschwisterbeziehungen, familiärer Zusammenhalt, religiöser Glaube in der Familie, adäquate Kommunikation und das Eingebundensein der Familie in soziale Netzwerke. Im sozialen Umfeld waren aber ebenso positive Peer-Kontakte und Freundschaftsbeziehungen von Bedeutung.
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Kinder und Jugendliche, die keine Freunde haben, fühlen sich hilflos, sind geplagt von Selbstwertzweifeln und Verhaltensunsicherheit. Ziel einer positiven Peer-Kultur muss es daher sein, Heranwachsenden die Möglichkeit zu geben, Freunde zu finden, die ihnen emotional nahe stehen, die ihnen in fürsorglicher Verbundenheit Aufmerksamkeit schenken und mit ihnen einen lebendigen und ausgewogenen Dialog führen (Opp u. Unger, 2006, S. 14). Wenn im Rahmen von Peer-Group-Education die Problemlösekompetenz von Kindern und Jugendlichen in den Erziehungsprozess einbezogen wird, wirkt dieses in doppelter Weise ermutigend: Zum einen fühlen sich Kinder und Jugendliche durch die solidarische Unterstützung verstanden und ernst genommen, zum anderen erleben die Heranwachsenden ihre Fähigkeit, für ihre eigenen Belange einzutreten. Entsprechend dem »Buddy-Prinzip« lassen sich folgende Gründe für die Peer-Group-Education als grundlegenden pädagogischen Ansatz nennen (vgl. Faller u. Kneip, 2007, S. 24): – Einfluss: Kinder und Jugendliche können die Lernprozesse ihrer Altersgruppe erheblich beeinflussen. – Problemkenntnis: Kinder und Jugendliche kennen Probleme, in denen Gleichaltrige sich befinden können. – Rollenmodell: Kinder und Jugendliche können glaubwürdige Vorbilder sein. – Ressourcen: Kinder und Jugendliche haben mehr zeitliche Ressourcen als Erwachsene. Sie können daher als Multiplikatoren für soziale Lernprozesse dienen. – Selbstwirksamkeitsüberzeugung: Kinder und Jugendliche treten für die Interessen ihrer Altersgruppe ein und erfahren, dass ihr Handeln Wirkung hat. – Erfolgserlebnisse: Kinder und Jugendliche übernehmen Verantwortung und erfahren Bestätigung durch Erfolge. Das hilft ihnen, Verletzungen aus der eigenen Sozialisation zu überwinden. – Weitreichende Wirkung: Peer-Group-Education wirkt über die Gruppe hinaus und beeinflusst das familiäre und das kommunale Umfeld der Kinder und Jugendlichen.
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Das Buddy-Projekt »Unter dem Motto: Aufeinander achten. Füreinander da sein. Miteinander lernen. übernehmen die Schüler als Buddys Patenschaften für jüngere Mitschüler, helfen anderen beim Lernen, setzen sich als Streitschlichter ein oder sind Ansprechpartner für Probleme. Dadurch entsteht in Schulen ein verantwortungsvolles Miteinander von Lehrern und Schülern. Sie helfen und unterstützen sich gegenseitig und lernen voneinander. Insgesamt trägt das Buddy-Projekt so dazu bei, dass Schulen viel mehr leisten als bloße Wissensvermittlung: Schüler können Unterricht und Schule aktiv mitgestalten. Auch der Prozess des »Lehrens« und des »Lernens« in der Schule wird nachhaltig verändert: Der Lehrer ist für seine Schüler Begleiter und Berater im Sinne eines Coachs. Damit fördert das Buddy-Projekt eine Lernkultur, die sich an den Bedürfnissen der Schüler orientiert« (Zugriff unter www.buddy-ev.de). Das Buddy-Projekt ist derzeit offizielles Schulprogramm in Niedersachsen, Berlin, Hessen, Thüringen und Teilen Nordrhein-Westfalens. Insgesamt beteiligen sich mehr als 800 Schulen. Um die Schüler zu erreichen, setzt das Buddy-Projekt bei den Lehrpersonen und pädagogischen Fachkräften an den Schulen an. Sie tragen die BuddyIdee zu ihren Schülern und geben den Anstoß zur Umsetzung von Praxisprojekten. In Trainings werden die Lehrer auf ihre neue Rolle als Coach vorbereitet. Für die Aufgabe als Buddy bedarf es zahlreicher Kompetenzen (siehe Abbildung 1). Da viele Kinder und Jugendliche bereits über beachtliche soziale Kompetenzen verfügen, kann es Aufgabe der Schule und der Lehrer sein, ihnen zu helfen, diese Kompetenzen zu identifizieren und sie durch Trainings zu entwickeln. Im Rahmen des Schulprogramms wird den Schülerinnen und Schülern dann Gelegenheit gegeben, ihre Fähigkeiten in verschiedenen Feldern einzusetzen. Wichtig ist dabei eine qualifizierte Betreuung (Coaching), die den Buddys die Möglichkeit gibt, ihr Handeln zu reflektieren und somit weiterzuentwickeln. Buddys können in verschiedenen Funktionen auf unterschiedlichen Ebenen eingesetzt werden. An Schulen am weitesten verbreitet sind die Peer-Mediatoren als Streitschlichter oder Konfliktlotsen. Es gibt
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Abbildung 1: Die Kompetenzen der Buddys (Faller u. Kneip, 2007, S. 16)
aber weitere Ebenen, auf denen ein helfendes Miteinander zum Prinzip der Erziehung werden kann (vgl. Schäpers, 2005, S. 300). Schüler können sich gegenseitig helfen, – indem sie miteinander lernen, sich beispielsweise gegenseitig Vokabeln abfragen (Peer-Learning); – indem sie sich gegenseitig etwas erklären, sich beispielsweise Nachhilfe vor einer Klassenarbeit geben (Peer-Tutoring); – indem sie jüngere Schüler betreuen, beispielsweise als Klassenpaten in den Pausen für die Schulanfänger da sind (Peer-Coaching); – indem sie sich gegenseitig beraten, beispielsweise bei privaten und schulischen Problemen an professionelle Hilfs- und Beratungseinrichtungen vermitteln (Peer-Counseling). Das Buddy-Projektraster von Faller (Abbildung 2) gibt einen Überblick über zahlreiche Anwendungsfelder von Buddy-Projekten. In den Reihen der Tabelle sind die Interaktionsformen zwischen den Peers aufgeführt: Beim altersübergreifenden »Cross-Age-Modell« unterstützen zum Beispiel ältere Schüler jüngere als Tutoren bei der Hausaufgabenbetreuung. Beim »Peer-to-Peer-Modell« stellen Schüler ihre »besonderen Qualifikationen« Mitgliedern ihrer Peer-Group zur Verfügung, zum Beispiel, indem Klassen-Buddys einen Konflikt
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Abbildung 2: Das Buddy-Projektraster (Faller u. Kneip, 2007, S. 26)
schlichten. Beim »Reverse-Role-Modell« helfen sich Schüler gegenseitig durch ihre speziellen Fähigkeiten, etwa wenn einer dem anderen eine Mathematik-Aufgabe erklärt und dieser »als Gegenleistung« Vokabeln abfragt. Die fünf Spalten der Tabelle stellen die Umsetzungsebenen für Buddy-Projekte dar und bilden damit die gesamte Palette der Einsatzmöglichkeiten von Buddy-Projekten ab. Als Schule, die sich ein soziales Profil geben will, sei exemplarisch die Städt. Realschule Ahlen (Westfalen) vorgestellt. Im Leitbild dieser Schule sind folgende Leitziele formuliert: – Wir legen Wert auf Toleranz und Hilfsbereitschaft. – Wir leiten unsere Schüler an, sich um Mitschüler zu kümmern, die Unterstützung brauchen. – Wir leiten unsere Schüler an, Konflikte gewaltfrei zu lösen. – Wir fördern demokratisches und eigenverantwortliches Handeln. Auf der Ebene der Qualitätsstandards wurden daraus folgende Maßnahmen abgeleitet: – Jeder Schüler der Jahrgangsstufen 7/8 kann mindestens einmal pro Schuljahr für zwei Wochen die Aufgabe des Klassen-Buddys übernehmen. – Interessierte Schüler der Jahrgangsstufen 9/10 lernen verschiedene Methoden der Beratung kennen und helfen Mitschülern bei unterschiedlichen Problemen.
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– Für Schüler der Jahrgangsstufen 5–7 wird am Nachmittag eine Hausaufgabenbetreuung durch Buddys angeboten. – Interessierte Schüler der Jahrgangsstufe 9 werden zu Hausaufgaben-Buddys ausgebildet sowie durch Lehrer und Sozialpädagogen angeleitet, beraten und unterstützt. – Interessierte Schüler der Jahrgangsstufen 9/10 werden in halbjährlichen Kursen zu Nachhilfe-Buddys ausgebildet und erwerben den Nachhilfe-Führerschein für Englisch oder Mathematik. – Interessierte Schüler der Jahrgangsstufe 9 werden während eines Schuljahres zu Streitschlichtern ausgebildet. – Alle Schüler haben die Möglichkeit, sich bei Konflikten von ausgebildeten Streitschlichtern der 10. Jahrgangsstufe beraten zu lassen. Tabelle 1: Buddy-Projekte an der Städtischen Realschule Ahlen BuddyProjekt Streitschlichter
Ziel des Projekts -
Klassenbuddys
Aufgaben der Buddys Beendigung von - helfen bei konStreit struktiven KonfliktDeeskalation gesprächen Vermittlung von - vermitteln die ReKonfliktlösungsgeln gewaltfreier kompetenz Kommunikation Verdeutlichung der - stärken die KomNorm gewaltfreien promissbereitschaft Zusammenlebens
- Wahrnehmung - beobachten die von Störungen des Klassenatmosphäre sozialen Klimas in (Umgang miteinder Klasse ander, Hänseleien, - rechtzeitige InAusgrenzungen, tervention und Gruppendruck) Deeskalation (z. B. - kümmern sich um bei Mobbing, Schüler mit ProDelinquenz blemen einzelner Schüler, - Ansprechen von allgemeiner UnzuKlassenproblemen friedenheit) in der Klassenstunde - veranlassen, dass Konflikte zwischen Schülern und zwischen Schülern und Lehrern bearbeitet werden
Aufgaben der Lehrpersonen - Wahrnehmen und Ernstnehmen von Konflikten zwischen Schülern - Ansprechen des Konflikts bei den Kontrahenten - Hinweis auf Streitschlichter als Berater (beim Mobbing Beratungslehrer!) - regelmäßige Behandlung der Themen zur Gewaltprävention in den Klassenstunden - Ernstnehmen der Funktion der Klassenbuddys (Dienstplan) - regelmäßiger Austausch mit den aktuellen Klassenbuddys - Feedback und Erfahrungsberichte am Ende der »Dienstzeit«
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BuddyZiel des Projekts Projekt Hausaufga- - Unterstützung der benBetreuungsaufgabe Buddys der Familie - Verbesserung der HausaufgabenMoral - Förderung der Verantwortungskompetenz - Hilfe bei Schwierigkeiten mit dem Lernstoff - Förderung durch Beratung und ergänzende Aufgaben - Verbesserung des sozialen Klimas
Aufgaben der Lehrpersonen - sorgen für regelmäßige Eintragung der Hausaufgaben in den Schulbegleiter. - Anregungen für ergänzendes Lernen (»mündliche« Fächer, Vokabeln, Grundrechenarten …) - Bereitstellen von Lernmaterial für individuelles Lernen und Üben - gezielte Hinweise und Hilfen für einzelne Schüler zu den Hausaufgaben
Aufgaben der Buddys - ermöglichen ruhige Arbeitsatmosphäre und partnerschaftliche Zusammenarbeit - motivieren zu zielgerichteter Arbeit - helfen bei Schwierigkeiten mit bestimmten Aufgaben (in begrenztem Umfang, keine Nachhilfe!) - Überprüfen der Vollständigkeit der Hausaufgaben (Schulbegleiter) - Anleiten zu ergänzendem Lernen - Betreuen und Initiieren von partnerschaftlichem Umgang und Spielen in der Freizeit Nachhilfe- - individuelle För- helfen bei LernBuddys derung einzelner schwierigkeiten Schüler bei konkre- in bestimmten ten LernschwierigFächern (bisher: keiten Englisch und Mathematik) - Erklären und Üben bestimmter Lerninhalte
- Vermittlung der Nachhilfe-Buddys - Ausbildung und Coaching der Nachhilfe-Buddys durch zuständige Lehrpersonen - Unterstützung und Instruktion der Nachhilfe-Buddys
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Tabelle 2: Die Buddy-Gruppe und ihre Betreuung Buddy-Gruppe Ziel des Projekts
Aufgaben der Lehrperson/des Coachs – Entwicklung sozialer Handlungskom- – individuelle Kontakte zu den Budpetenz: dys • über eigene Probleme sprechen – verfügbar sein als verlässlicher Gekönnen, sprächspartner • nach Lösungen für diese Probleme – Schaffung und Sicherstellung der suchen können, notwendigen Strukturen (Raum • Verantwortung für die Umsetzung und Zeit) akzeptierter Problemlösungsvor– Anleitung zu beratenden Geschläge übernehmen können, sprächen • anderen bei der Lösung ihrer Pro– Hilfe, dass die Buddys ihren bleme helfen können. Kompetenzen und Fähigkeiten – Entlastung durch Bewältigung von entsprechende Aufgaben überAlltagsherausforderungen nehmen – Erleben von Akzeptanz, Gemein– sicherstellen, dass keine Überschaft und solidarischer Unterstütforderung stattfindet zung
Die Tabelle »Buddy-Projekte an der Städtischen Realschule Ahlen« (Tabelle 1) bringt die Intentionen der Projekte mit den Aufgaben der beteiligten Buddys und Lehrpersonen in Verbindung. Helfende Beziehungen können entstehen durch Hilfen bei konkreten Aufgaben (kooperatives Lernen, Hausaufgabenhilfe, Nachhilfe). Gegenseitige Hilfe kann aber auch immer wieder Formen von Beratung annehmen (Streitschlichtung, Vermittlung bei Kommunikationsstörungen, Unterstützung bei sozialen und privaten Problemen). In besonderem Maße wird dieses Ziel verfolgt bei klassenübergreifenden Buddy-Gruppen (siehe Tabelle 2). Eine Buddy-Gruppe kann sich mit Themen und Problem beschäftigen, die von den Gruppenmitgliedern eingebracht werden (Abbildung 3). Für manche Teilnehmenden befriedigt die Peergruppe so zumindest teilweise das Bedürfnis nach Zugehörigkeit, das in familiären Lebenskontexten vermisst wird. Die Gruppe kann aber auch Ansprechpartner für Schüler außerhalb der Gruppe sein, die Probleme haben und Hilfe suchen (Schulverweigerer, Mobbingopfer, Opfer häuslicher Gewalt …). Hier ist die Funktion der Lehrperson als Coach unverzichtbar, denn die Schülerinnen und Schüler müssen
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lernen, eine helfende Beziehung aufzubauen, angemessen zu reagieren und sich selbst und andere nicht zu überfordern. Als Ratsuchende erfahren die Schüler auf diese Weise, dass Beratung keine konkreten Handlungsanweisungen beinhaltet. Sie ist vielmehr eine Hilfe bei der Suche nach Handlungs- und Entscheidungsmöglichkeiten, die nicht die Autonomie der Ratsuchenden infrage stellt, sondern ihnen die Verantwortung für ihr eigenes Handeln überlässt. Als Berater erleben die Buddys somit, dass ihre Hilfe lediglich ein Angebot darstellt. Die Entscheidung über den Grad der Übernahme von Empfehlungen muss in der Zuständigkeit des Beratenen bleiben. Diese Einsicht fällt manchen Jugendlichen schwer. Ein Kennzeichen für seelische Gesundheit im individualpsychologischen Sinne ist das »Gemeinschaftsgefühl, das sich unter anderem konkret darin ausdrückt, dass man Interesse für die Belange der ande-
Abbildung 3: Themensammlung »Was macht mir Stress?«
ren zeigt, auf diese zugeht und mit ihnen gleichberechtigt zusammenwirken kann« (Kriz, 2007, S. 45). In einer Gesellschaft, die geprägt ist vom Streben nach persönlichen Vorteilen, ist die Gefahr groß, einem Machtstreben zu verfallen, das nur der eigenen Überlegenheit Geltung verleihen will. Die Erfahrung, dass man anderen helfen kann, ist eine der stärksten Erfahrungen zur Veränderung der Persönlichkeit eines Menschen, jedoch nur, wenn sie einhergeht mit großem Respekt vor der Persönlichkeit des Hilfesuchenden. Eine verantwortungsvolle und
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kontinuierliche Begleitung und Unterstützung der jugendlichen Berater dient somit nicht nur dem Schutz der Hilfesuchenden, sondern ist gleichzeitig auch Hilfestellung bei der Persönlichkeitsentwicklung der Buddys. Somit lassen sich abschließend folgende Voraussetzungen für eine positive Peerkultur benennen: – Glaube an die Stärken und Potentiale von Kindern und Jugendlichen; – Überzeugung, dass Kinder und Jugendliche Experten für ihre eigenen Probleme und Sorgen sein können; – Bereitstellung eines gestalteten und ritualisierten Rahmens; – Coaching durch qualifizierte und verlässliche erwachsene Ansprechpartner; – Nachsicht und langer Atem bei der Umsetzung der Projekte.
Literatur Adler, A. (1973). Der Sinn des Lebens. Frankfurt a. M.: Fischer. Adler, A. (1976): Kindererziehung: Frankfurt a. M.: Fischer. BMFSFJ (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend) (Hrsg.) (1998). Zehnter Kinder- und Jugendbericht. Bericht über die Lebenssituation von Kindern und die Leistungen der Kinderhilfen in Deutschland. Bonn: Drucksache 13/11368. Dreikurs, R., Grunwald, B. B., Pepper, F. C. (1987). Lehrer und Schüler lösen Disziplinprobleme. Weinheim u. Basel: Beltz. Edelstein, W., Fauser, P. (2001). Demokratie lernen und leben. Gutachten zum Modellversuchsprogramm der Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung. Bonn. Eickhoff, C., Zinnecker, J. (2000). Schutz oder Risiko? Familienumwelten im Spiegel der Kommunikation zwischen Eltern und ihren Kindern. In Forschung und Praxis der Gesundheitsförderung, Bd. 11. Köln: Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung. Faller, K., Kneip, W. u. a. (2007). Das Buddy-Prinzip. Düsseldorf: Buddy e. V. Krappmann, L. (1999). Der zehnte Kinder- und Jugendbericht – der erste Kinderbericht. Befunde und Empfehlungen. Neue Sammlung, 39, 331–342. Kriz, J. (2007). Grundkonzepte der Psychotherapie. Weinheim: Beltz. Opp, G., Unger, N. (2006). Kinder stärken Kinder – Positive Peer Culture in der Praxis. Hamburg: edition Körber-Stiftung. Schäpers, B. (2005). Mobbing – Krankheit der Gesellschaft? In U. Lehmkuhl (Hrsg.), Die Gesellschaft und die Krankheit – Perspektiven und Ansichten der Individualpsychologie. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
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Werner, E., Smith, R. (2001). Journeys from childhood to midlife: Risk, resilience, and recovery. Ithaca: Cornell. Wustmann, C. (2004). Resilienz: Widerstandsfähigkeit von Kindern in Tageseinrichtungen fördern. Weinheim u. Basel: Beltz.
Almuth Bruder-Bezzel
Die verschwiegenen Wege der Lust an der Macht Adlers Hofrat Eysenhardt
The secret paths of lust for power. Adler’s commentary on the novella »Hofrat Eysenhardt« Referring to Adler’s interpretation (1913) of the novella »Hofrat Eysenhardt« written by Alfred von Berger (1911) the secret path of a narcissistic character in a powerful position is portrayed and social-psychological mechanisms and features of people in power are outlined. Power is based on a social position, is caught up in dependencies, is craving, often combined with sexual lust, it needs hiding and tends to turn ridicule.
Zusammenfassung Anhand von Adlers Werkinterpretation (1913) der Novelle »Hofrat Eysenhardt« von Alfred von Berger (1911), werden die verschlungenen Wege eines narzisstischen Charakters in Machtposition nachgezeichnet und sozialpsychologische Mechanismen und Merkmale der Macht und der Mächtigen herausgearbeitet: Macht basiert auf einer sozialen Position, ist verstrickt in Abhängigkeiten, ist lustvoll, nicht selten verschwistert mit sexueller Lust, sie bedarf der Heimlichkeit und gerät leicht ins Lächerliche.
Vorbemerkung Adlers Aufsatz »Neuropsychologische Bemerkungen zu Freiherr Alfred von Bergers Hofrat Eysenhardt« von 1913 ist eine seiner beiden literaturpsychologischen Arbeiten – die andere ist eine über Dostojewski (Adler, 1918). Es ist eine Werkinterpretation einer zeitgenössischen Novelle von 1911. Der Autor Alfred von Berger war Jurist, Kulturjournalist, Theaterwissenschaftler und Direktor des Deutschen
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Schauspielhauses Hamburg und des Wiener Burgtheaters, eine bekannte Figur des damaligen Wiener Kulturlebens. Adlers Text ist weitgehend unbekannt – ich werde ihn in den 7. Band der Studienausgabe aufnehmen –, da Wolfgang Metzger ihn damals in der Fischerausgabe von »Praxis und Theorie« nicht aufgenommen hat, mit der etwas seltsamen Begründung, dass der Text die Grenze zwischen Tatsachenbericht, also Falldarstellung, und »dichterischer Eingebung« verwische. Das würde einen »Leser, der Adlers Gedankenwelt erst kennen lernen will, […] verwirren« (Metzger, 1974, S. 8). Tatsächlich ist die Nähe von Bergers Text zur Individualpsychologie verblüffend – Metzger spricht von Berger als »literarischem Vorläufer« Adlers –, die Novelle könnte aber genauso auf eine Doppelgängerschaft oder Anhängerschaft Bergers verweisen. Adler spitzt in seinem Beitrag lediglich interpretierend zu, was Berger selbst an Charakterbeschreibung liefert. Damit – seien es nun Bergers oder Adlers Ideen – führt Adlers Text in geradezu bestechender Weise in Adlers Gedankenführung und Metatheorie ein. Besonders überzeugend ist Adler da, wo er die schwierige Aufgabe löst, in den verschiedenen, scheinbar sich widersprechenden Zügen und inneren Gegensätzen, einen Zusammenhang, eine Einheit herzustellen, oder wenn er in Charakter- und Verhaltensänderungen nur Wandlungen der Form der Fiktion sieht, die selbst Konstruktionen sind, die den unbewussten Zielen entsprechen. Im »Nervösen Charakter« (1912) hatte Adler in einer Fußnote bereits auf Bergers Eysenhardt verwiesen, bei dem der Typ des »Obenseinwollens« besonders krass hervorträte. Dazu zählt er bei Eysenhardt unter anderem: männlicher Protest, Steigerung des Sexualbegehrens, des Willens zur Macht, Vorbereitung zum Vatermord, Fetischismus, Konstruktion von Reue, Gewissensbisse, Halluzinationen und Zwangsvorstellungen; »verstärkte Furcht vor der Frau als Ursache eines weiter gesteigerten männlichen Protests und damit […] das Arrangement gesteigerten Sexualbegehrens« (Adler, 1912, S. 255).
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Fallskizze In aller Kürze muss ich den Inhalt der Novelle vorstellen: Hofrat Eysenhardt – diesen Titel »Hofrat« zu haben, bedeutet bereits eine Auszeichnung – ist Wiener Strafrichter und Staatsanwalt, der als »kriminalistisches Genie« und als glänzender Redner bekannt war, wegen seiner »Geisteskraft« und seinem »ungeheuren Gedächtnis« bewundert wurde. Die Härte seiner Strafen (hart wie Eisen) erregte Entsetzen bei allen, bei den Advokaten und in der Verbrecherwelt; Mitleid war ihm eine verabscheuungswürdige, »anarchistische Empfindung« (Berger, 1911, S. 11). Er galt als der Gerechtigkeit verpflichtet und trug als Staatsdiener seine absolute Kaisertreue zur Schau. Persönlich wirkte er eher erbärmlich. Er war mit einer brutalen Erziehung aufgewachsen, die Züchtigung mit der väterlichen Reitpeitsche konnte er damit beenden, dass er schließlich die Pistole auf den Vater richtete (Berger, 1911, S. 60–64). Er lebte gänzlich zurückgezogen, hatte keinen Freund, war schüchtern, verschlossen, wirkte äußerlich unmodern und ungepflegt. Sein ehemaliger Mitschüler nannte ihn einen »Fall von Umbildung verbrecherischer antisozialer Instinkte ins Richterliche« (Berger, 1911, S. 44; Adler, 1913g, S. 81). Seine Leitlinien waren »brutale sexuelle Sinnlichkeit und ein maßloser Ehrgeiz« (Berger, 1911, S. 47; Adler, 1913g, S. 81); er wollte »die Männer beherrschen, womöglich knechten, die Weiber besitzen« (Berger, 1911, S. 52; Adler, 1913g, S. 81). Sein Sexualleben spielte sich im Verborgenen ab, in der Kärntnerstraße und den Seitengässchen. Umgang mit so genannten anständigen Frauen hatte er nicht. Als er eines Tages Anlass hatte, auf die Berufung zum Minister hoffen zu können, passierte mit ihm ein Wandel (bei Adler als »Formenwandel« bezeichnet): Er pflegt sich, kleidet sich elegant und hell, wirkt gehoben, offen und freundlich. Bald aber brach ihm ein Zahn aus, und das erschütterte sein »Nerven- und Seelenleben« zutiefst und erfüllte ihn mit »Bangen vor etwas ihn Bedrohendem« (Berger, 1911, S. 91; Adler, 1913g, S. 78). Als er dann zudem nicht zum Minister berufen wird, bricht er vollends zusammen: In nächtlichen Alpträumen erscheinen ihm die Verbrecher, die er besonders hart verurteilt hatte, besonders eindrücklich ein Kinderschänder. Seine Nerven sind zerrüttet, seine sinnlichen Instinkte steigen an, er sinnt auf Rache am
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Staat. Als er dann aber mit einem staatswichtigen Spionage-Prozess beauftragt wird, rafft er sich wieder auf, Triumphgefühle erwachen. In der Vorbereitung auf den Prozess wird er mehrmals von der Frau des Angeklagten aufgesucht. Am Abend vor Prozessbeginn wird auch das kleine Töchterchen gesehen, das für eine Zeit in seinem Zimmer verschwand und sich eine Stunde später, zärtlich werbend, verabschiedete. Danach wurde Eysenhardt von einem Polizeiagenten in einem Nachtlokal Nähe Kärtnerring »in einer für ihn ungünstigen Situation« (Adler, 1913g, S. 79) mit Dirnen auf dem Schoß erkannt. Er kehrt zurück zu seinem Büro und richtet nun einen Revolver auf sich, um dem »Dämon Weib« zu entgehen und »den Staat um einen treuen Diener« zu bringen. »Noch einmal hatte er, um zu siegen, auf den Kopf des Vaters gezielt, – da musste er den seinen treffen« (Adler, 1913g, S. 88 f.).
Merkmale und Dynamik der Macht und der Mächtigen Die Novelle von Berger und der Text von Adler sind spannend als Fallvignette einer narzisstischen Persönlichkeit zu lesen, die ihre Machtposition ehrgeizig erhalten und steigern will. Mich interessiert daran die Psychologie der Macht, die darin implizit enthalten ist. Der Text liefert uns zumindest einige der Merkmale oder Mechanismen der Macht und der Mächtigen, der »Stützen der Gesellschaft« (Ibsen, 1877), und diese werden in der Psychoanalyse in aller Regel mit den Merkmalen des Narzissmus verbunden. Die narzisstische Persönlichkeit gilt als Personifizierung des Machtstrebens, als eine, die die Machtpositionen für sich zu nutzen versteht (so bei Erdheim, 1982; Cremerius, 1990; Wirth, 2002). Hans Jürgen Wirth hat dem »dynamischen Wechselspiel zwischen Narzissmus und Macht« ein ganzes Buch gewidmet. »Der Narzissmus ist nicht nur eine der zentralen psychischen Voraussetzungen zur Ausübung von Macht, sondern die Ausübung von Macht ist auch eine wirkungsvolle Stimulans für das narzisstische Selbsterleben« (Wirth, 2002, S. 75). Ich möchte die Mechanismen der Macht in sechs Punkten behandeln, die bei den verschiedenen Erscheinungsformen von Macht oder Mächtigen häufig zutreffen, so auch auf Eysenhardt.
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Macht-Position und Persönlichkeit Es ist, zumindest unter einigermaßen zivilisierten Bedingungen, kaum ein Mensch denkbar, der gänzlich ohne Macht ist, Macht in beruflichen, sozialen, privaten Beziehungen hat. Es gibt allerdings beträchtliche Unterschiede, wie weit die Macht reicht, wie groß ihr Einfluss und ihre Wirkungsmöglichkeit ist, es gibt die große und die kleine Macht, große und kleine Fürsten und Despoten. Diese Unterschiede sollte man nicht negieren oder gering schätzen. Die Macht eines Babys über die Mutter oder die Macht des Hausmeisters sind nicht mit der Macht des US-Präsidenten oder der Bill Gates vergleichbar. Es gibt Macht und Einflussmöglichkeit, die mehr oder weniger auf persönlichen, körperlichen, intellektuellen oder emotionalen Qualitäten beruhen – in Freundschafts- oder Liebesbeziehungen, unter Gleichrangigen etc. Ein Großteil aber ist an eine soziale Position gebunden. Eysenhardt hat Macht als Richter und Staatsanwalt eines mächtigen Staates – als Mensch ist er jämmerlich. Er hat eine Machtposition im repressiven Staatsapparat, Macht über Andere, mit der er verurteilen, strafen oder gnädig sein, Schicksal spielen kann. Die Position ist es, die Macht verleiht, sie gibt die Aufgaben und Ziele und die Grenzen ihres Wirkens vor. Die Position stellt besondere Strukturen, Regeln, Netzwerke bereit, die es dem Positionsinhaber erlauben, seine Funktion auszuüben. Somit ist in Teilen zumindest die Bewältigung der Aufgaben oder der Wirkungsgrad der Macht zunächst relativ unabhängig von der Person, relativ egal, ob die Person dazu besonders begabt ist. »Wem Gott ein Amt gibt, dem gibt er auch den Verstand«. Denken Sie an Politiker, Manager, Präsidenten und Chefs, aber auch an die Position des Vaters, Erziehers, Lehrers und Hundehalters. Die Position, nicht in erster Linie der Charakter, bestimmt daher die grundlegende Ausrichtung von deren Verhalten. Adler hat sich im »Nervösen Charakter« auf diesen Sachverhalt mit seinem Ausdruck der »Positionspsychologie« (gegenüber »Dispositionspsychologie«) (Adler, 1912, Erg. 1928, S. 319) bezogen, um damit zu sagen, dass aus der Position heraus jemand handelt oder seine
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Haltung entwickelt, die Position sein Handeln und Denken prägt und bewirkt. Das Marx’sche Diktum »Das Sein bestimmt das Bewusstsein« geht hier bei Adler ein. Adlers Beispiele für Position waren allerdings eher solche, die quasi angeboren, ererbt sind, also zum Beispiel die Position in der Geschwisterreihe, in der Generationenabfolge, die Geschlechterposition, aber auch die Hautfarbe, die geographische und die soziale Herkunft. In anderen Fällen, auch hier bei Eysenhardt, geht es um soziale, berufliche Positionen, und die sind auch gewählt. Diese Wahl der Position – meist das Ergebnis einer Serie von Wahlen – bringt ein subjektives Moment in die Position ein, im Sinn einer Selbstselektion, in die persönliche Merkmale, Fähigkeiten und Vorlieben eingehen, die dann die persönliche Färbung in der Ausfüllung der Position bestimmen. Für Adler geht zum Beispiel in die Wahl der Richterlaufbahn stärkere Aggression und Aggressivität ein (Adler, 1908, S. 73). Jede Berufswahl stehe »unter dem Diktat einer vergöttlichten Persönlichkeitsidee« (Adler, 1913g, S. 80). Ein anderer subjektiver Faktor ist es, wie jemand diese Position im Einzelnen ausfüllt, innerhalb der vorgegebenen Regeln. Es gibt milde und strenge Ausübung von Macht, starke und schwache, impulsive oder rationale etc. Väter, Mütter, Chefs, Politiker etc. Bei Eysenhardt spielt Aggressivität bei der Ausfüllung seiner Aufgaben eine besondere Rolle: er ist besonders streng, urteilt drakonisch, er schöpft die Spielräume der Gesetze voll aus. Eysenhardts Aggressivität erscheint dabei als Identifikation mit dem Aggressor (Vater, Kaiser) oder tritt als Rache am Aggressor auf. Die Machtposition ist Instrument für das Machtstreben, und das ist für Adler immer mit Aggressivität verbunden und mit Männlichkeit. Wille zur Macht ist für ihn »eine Form des männlichen Strebens«, ist männlicher Protest (Adler, 1912, S. 74). Diese Männlichkeit ist Symbol oder Metapher für Überlegenheit, Kraft, Macht, und diese Macht ist zugleich aggressiv. Eysenhardt kann, wie auch andere Menschen in Machtpositionen, seine Charakterneurose, seinen Narzissmus sozial einbringen. Er lebt sein Schwanken zwischen Minderwertigkeitsgefühl und Omnipotenzgefühl, seinen Traum nach mehr Macht, seine Furcht vor Versagen, seine Lust an der Macht, seine kompensatorische Aggressivität oder
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seinen Sadismus in dieser Position aus. Reiche und Mächtige können, so schreibt Cremerius, ihre »Neurosen derart in gesellschaftlich akzeptierten Formen unterbringen«, »dass sie sie nicht als krankhafte Störung bemerken, nicht an ihr leiden« – daher auch therapeutisch nicht erreichbar sind (Cremerius, 1990, S. 221). Denen, so schreibt Cremerius weiter, »die sozial Erfolg haben, schaut man nicht auf die Finger«, während Menschen, die sozial scheitern, bei gleichem Verhalten leicht als »Psychopathen« klassifiziert werden (S. 220).
Die Abhängigkeit der Macht Macht ist der Ausdruck einer sozialen Beziehung, ist relational, Macht ist Macht über andere, sie gründet auf Ungleichheit, oben und unten. Da, wo es Macht gibt, gibt es auch Ohnmacht und Unterworfene, Macht ist auf Ohnmacht angewiesen, die Wenigen herrschen über die Vielen. Und es gibt auch die Gegenmacht. Das Kräfteverhältnis ist im Fluss. Der Gegensatz Macht – Ohnmacht stimmt aber keineswegs absolut und ist im Einzelnen starken Schwankungen ausgesetzt, nicht statisch verteilt. Weder ist der Mächtige absolut mächtig, noch der Ohnmächtige absolut ohnmächtig. Absolut mächtig kann nur ein Gott gedacht werden. Den einsamen, souveränen Mächtigen gibt es nicht mehr oder hat es nie gegeben. Mächtige sind abhängig, weil und insofern 1. sie selbst Diener sind; 2. sie im gesellschaftlichen, heute auch globalen Kontext stehen, und in ein Netz von Beziehungen eingebunden sind (Gemeinschaften, moderne Netzwerke) innerhalb derer und gegen die sie agieren müssen; 3. sie darauf angewiesen sind, dass die Unterworfenen mitspielen, zustimmen oder erdulden, sie wählen – und nicht revoltieren. Zu 1.: Eysenhardt ist als Staatsanwalt eine Machtfigur, aber er hat eine geborgte, delegierte Macht. Er ist Diener, Diener des Staates, des Kaisers, Repräsentant nur der Macht und damit Unterworfener, was er schmerzlich erleidet und mit seiner Kaisertreue auch demons-
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triert. Er muss warten auf seine Berufung, ist darin abhängig. Sein Sadismus und seine Rache richten sich nicht nur gegen seine Opfer, sondern gegen den Kaiser, gegen seine Position des Unterworfenseins, und da könnte auch ein Stück Selbstverachtung drin strecken. Er ist Herr und Knecht. Das ist ein Muster, das irgendwie für die meisten Machtpositionen gilt, wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß und unterschiedlicher Weise. Selbstverständlich gilt das für alle Angestellten und Beamten, auf unterschiedlichen sozialen Rängen, vom kleinen Polizisten bis zum modernen Manager. Sie üben in ihrer Position jeweils vorübergehend repressive oder autoritative Funktionen aus, sind aber ansonsten möglicherweise mehr oder weniger kleine Würstchen, wie Polizisten, Soldaten, Hausmeister, Wachleute. Zu ertragen ist das mit der Identifikation mit dem Aggressor oder, wie Adler dies ausdrückt, mit der Fiktion, groß und stark zu sein, Macht zu haben. In seiner Schrift nach dem Ersten Weltkrieg, »Die andere Seite«, drückt Adler dies in Bezug auf die freiwilligen, angeblich kriegsbegeisterten Soldaten so aus: »Die meisten von ihnen« waren »Opfer einer falschen Scham«: Sie taten so, als ob sie den Ruf des Generalstabs selbst ausgestoßen hätten. »Nun waren es nicht mehr gepeitschte Hunde, die man gegen ihren Willen dem Kugelregen preisgab, – nein, Helden waren sie, Verteidiger des Vaterlandes und ihrer Ehre!« (Adler, 1919, S. 13 f.). Zu 2.: Auch in den höchsten Rängen der so genannten Leistungsträger (Ausdruck von Westerwelle) sind die Funktionsträger von Politik, Wirtschaft, Kirche, Kultur und Medien mächtige Abhängige, in Netzwerke eingebunden. Sie haben, je nach ihrer Position, Macht, zum Teil auch sehr viel, sind aber alles andere als frei und lassen sich auch gern von bestimmten Seiten unter Druck setzen, beeinflussen, beschenken, kaufen – von Lobbyisten, Leihbeamten, Sponsoren etc. –, womit sie natürlich ihre Macht abgeben. Diese Abhängigkeit der Mächtigen, bei uns vorwiegend der politisch Mächtigen von den wirtschaftlich Mächtigen, besteht, aber sie wird dann natürlich auch legitimatorisch benutzt: So hatte zum Beispiel schon Schröder vorgetäuscht, Politik sei machtlos, es gäbe keine Alternative zum Sozialabbau – was natürlich eine politische Entscheidung war.
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Zu 3.: Schließlich sind die Mächtigen, Chefs, Politiker etc. auch hilflos, wenn die Untergeordneten, Untergebenen oder die Wähler nicht mitspielen, wenn diese sich verweigern, ihre Arbeit, den Konsum etc. oder wenn sie die Politiker nicht wählen oder wenn sie gar aktiv oder passiv rebellieren, revoltieren. Macht bedarf der Anerkennung und Zustimmung, ohne dies kann sie nicht sein. Das ist das zentrale Thema in Manès Sperbers’ »Analyse der Tyrannis« (1937), wo er die Abhängigkeit des Herrschers, aber auch seine Angst aufzeigt. Macht und Ohnmacht liegen also zuweilen haarscharf nebeneinander – zum Beispiel bei Politikern, auch bei Managern. Immer muss um den Erhalt der Macht gerungen werden, kann sich das Kräfteverhältnis abrupt ändern, kann die ihm übertragene Macht wieder genommen werden. Das Fundament der Macht ist nicht sicher, im gesellschaftlichen Miteinander ist man aufeinander angewiesen und es gibt Konkurrenten, Mitbewerber und Neider um die Macht. Der Mächtige lebt in ständiger Unsicherheit, der Absturz ist stets möglich. Das alles erzeugt Gefühle von Unsicherheiten, Kränkungen des grandiosen Selbst, Ängste. Sperber nennt die Ängste der Mächtigen: »aggressive Angst«, die als »affektive Aggression« zu Tage trete und aus der heraus kompensatorisch der Wille zur Macht erwachse (Sperber, 1937, S. 45). Wie weit die Mächtigen dies als Angst erleben, ist damit noch nicht gesagt, sie können Abwehrmechanismen und Kompensationen mobilisieren, die bereits diese Gefühle von Angst aus dem Bewusstsein halten. Der alt gewordene Helmut Schmidt sagte in einem Interview bei Frau Maischberger voriges Jahr (20.05.2008) auf ihre Beschreibung, dass er recht spröde und zugeknöpft aufgetreten sei, Folgendes: »Im politischen Geschäft laufen so viele herum mit Pfeil und Bogen, mit einem Dolch oder einer Lanze, da ist es gut, sich eine Rüstung anzulegen.« Auf der instrumentellen und technischen Ebene wird kompensatorisch ein ganzes System von Sicherungen aller Art entwickelt, durch Armee und Polizei, durch Panzerglas, Zäune, Mauern, durch Abhörsysteme, Online-Überwachung, Geheimdienste. Der Überwachungs- und Sicherheitsstaat zeugt von diesen Ängsten und schürt diese Ängste.
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Die Bespitzelung der Mitarbeiter bis in höchste Etagen hinein, wie dies bekannt wurde unter anderem bei Lidl und bei der Telekom, sind Beispiele. In einem Artikel der Zeitung »Die Zeit« (»Die Angst der Chefs«, 05.06.2008) wird von der »Paranoia« in den Chefetagen gesprochen, von »einem Klima der Angst, das die Manager fast jedes deutschen Konzerns umgibt« – und zwar als Misstrauen und Kampf der Manager untereinander. Eysenhardt ist Spielball seiner Ängste und seines Ehrgeizes. Aufstieg und Fall durchlebt er quälend, Reue und Rachegefühle wechseln ab. Er durchlebt Alpträume und Halluzinationen, in denen seine Verurteilten als Rächer erscheinen, er lässt sich niederdrücken von dem Symbol für Verlust von Vitalität und Männlichkeit, dem Verlust des Zahnes, bis hin zu seinem Selbstmord. Als Eysenhardt durch die Nichtberufung zum Minister sich gedemütigt fühlt, wird für ihn der Staat zum »Gegenspieler«. Daraus erwächst für den Staats-»Diener« kompensatorisch der »unstillbare Drang, sich zum Herrn der Staatsgewalt aufzuschwingen« (Adler, 1913g, S. 85). Dieses Schwanken zwischen oben und unten hat zwar durchaus viel mit der narzisstischen Persönlichkeitsstruktur zu tun, aber es liegt sehr wohl auch an der Ungesichertheit und Abhängigkeit von Machtpositionen, die letztendlich mit der Ungleichheit in der Gesellschaft begründet ist. Aus der Unsicherheit und Abhängigkeit der Machtposition entsteht auch der Stachel der Kompensation, das ständige Streben nach Erhalt und nach Steigerung von Macht und von Sicherheit, als unersättlicher Ehrgeiz. Und da nie sicher feststeht, wer der Herr ist, und da es immer noch welche gibt, die höher stehen, ist diese Dynamik endlos: Aus Machtstreben wird Machtgier, wird Sucht nach Macht. Der Ehrgeiz ist unersättlich, er kann auch total werden und sich diktatorisch und sadistisch entfalten.
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Die Lust an der Macht Macht macht Lust, macht high, triumphieren. Herrschen macht Spaß, gibt Sicherheit, Selbstbewusstsein. Schauen Sie sich die Fernsehbilder und Zeitungsfotos von öffentlichen Personen an, von Politikern und Medienstars – seltener von Wirtschaftsbossen: Sie lächeln, sie lachen, und das oft provokant und übertrieben, aus vollem Herzen, triumphal, sie strotzen vor Selbstbewusstsein – Schröder und Ackermann, Beck und Henkel sind dafür prototypisch. Und der rasante, selbst inszenierte Aufstieg von Angela Merkel war sichtbar davon begleitet, dass sie zu lächeln begann, sich ihre Mundwinkel deutlich hoben und sie sich immer häufiger voll lachend – mit Bush oder Sarkozy zum Beispiel – fotografieren ließ. Sie wurde immer netter und damit beliebter. Die Lust an der Macht ist natürlich meist auch mit der Lust am Geld verbunden, das ein sicheres und sorgloses Leben mit vielen Geselligkeiten garantiert. So zeigen sie sich auch in den Medien auf Empfängen, Festen, Banketten und Bällen. Eysenhardts Lust an der Macht kann man erschließen: Er wird bewundert und gefürchtet, er ist ein glänzender Redner, er ist ein kriminalistisches und detektivisches Genie. Daraus spricht Lust und das bringt Lust, narzisstischen Gewinn. Direkt drückt er die Lust an der Macht als Vorfreude auf die erwartete Beförderung aus: Er wird freundlich, elegant etc. Hans Jürgen Wirth drückt die Lust an der Macht immer wieder in seinem Buch aus: Macht bringt Anerkennung, Aufmerksamkeit und damit narzisstische Gratifikation, ist Balsam für das grandiose Selbst. Machtpositionen heizen den Narzissmus an, steigern ihn zur Machtgier, Macht wird zur Droge, sie führt zum Machtrausch, Größenwahn, zur Prunksucht, an der so mancher Fürst gescheitert ist. Ähnlich schreibt Mentzos: »Herrsein«, das ist »der gehobene narzisstische Zustand« (Mentzos, 1993, S. 183). Er spricht auch von der Funktionslust, vom Machterlebnis, als von der Lust am Gefühl der Allmacht, des Herrseins über Schicksale (S. 100).
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Macht und sexuelle Lust Zuweilen ist Lust an der Macht auch mit Lust am Sex verbunden, als weiterer Quelle narzisstischer Befriedigung. Für Adler ist Sexualität ohnehin ein Ausdrucksfeld von Machtbedürfnissen, und dies zeige sich unter anderem in der sexualisierten Sprache (»sexueller Jargon«), aber auch in irgendwie auffälliger, übersteigerter oder abgespaltener Sexualität (was immer das jeweils heißen mag). Diese Sicht Adlers hängt nicht nur mit seiner Skepsis gegen die Triebpsychologie zusammen, sondern auch mit seiner Geschlechtermetaphorik, demgemäß das Streben nach Macht mit dem Streben nach Männlichkeit gleichgesetzt wird. So sei Eysenhardts sexuelles Verhalten, seine Dirnenbesuche, »Analogie, nicht der Ursprung« seines Machtstrebens, das heißt Machtstreben und sexuelles Verhalten stehen nicht in einem Kausalverhältnis, sondern haben die gleiche Bedeutung und gleiches Ziel, bei Eysenhardt: den Starken (den Frauen) auszuweichen, die Schwachen zu bedrücken (Adler, 1913g, S. 81). »Unsicherheit« habe ihn »aus dem Verkehr mit wertvollen Frauen getrieben« (S. 86), und zwar verstärkt in Zeiten der Unsicherheit, die er als abnehmende Männlichkeit erlebe, um sich zu beweisen und zu stärken. Eysenhardt, der Hüter der Moral und Sitte, führt ein Doppelleben – an dem er dann scheitert. Von dieser eher harmlosen Variante der Verknüpfung von Sexualität und Macht erfahren wir bei den immer wieder auftauchenden, etwas anrüchigen und halbseidenen Geschichten aus dem Sexualleben von Promis: Sex im Büro von Politikern (z. B. Clinton), nebeneheliche Liebschaften mit unehelichen Geburten (z. B. Seehofer), Lustreisen nach Brasilien (z. B. VW-Manager), Nächte mit illegalen Thaimädchen (z. B. Friedman), häufig wechselnde Ehen (z. B. Fischer). Hier spielen auch Macht und Geld, das selbst Symbol für Macht ist, eine Rolle. Umgekehrt kann natürlich auch Sexualität, sexuelle Verführung eingesetzt werden, um erst gesellschaftliche Macht, zum Beispiel einen Karriereschub, zu erringen. Natürlich werden diese Geschichten von Prominenten auch skandalisiert, weil sie im Widerspruch zur offiziell verkündeten Sexualmoral stehen und damit an der Glaubwürdigkeit der Mächtigen kratzen, zugleich aber kommen sie
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dem voyeuristischen Bedürfnis oder auch einem Ressentiment in der Bevölkerung entgegen. Schwieriger, weniger harmlos ist der Zusammenhang von Sexualität und Macht natürlich bei sexuellem Missbrauch, wo es um die Unterwerfung eines Kindes oder eines Abhängigen (z. B. in sozialen, medizinischen oder therapeutischen Berufen) geht. Eysenhardt hatte Sexualstraftäter und »Kinderschänder« besonders hart und drakonisch bestraft und diese Täter erscheinen ihm als Halluzinationen. Wir verstehen dies am Ende der Novelle als aggressive Abwehr der eigenen sexuellen Versuchung, denn nun hat er sich selbst zum sexuellen Missbrauch hinreißen lassen (»dem Kind fiel er zum Opfer«, Adler, 1913g, S. 88) – zumindest wird das nahegelegt. Sexueller Missbrauch als Missbrauch von Macht – die vielleicht ähnlich wie bei den Freiern kompensatorisch eingesetzt wird – aus Mangel an anderen Kompensationsmöglichkeiten oder aus Angst vor einem/einer starken, unabhängigen Partner/Partnerin oder als Rache an erlittenem Leid. Auch jede Art von Vergewaltigung ist von dem Zusammenspiel von Sadismus und Unterwerfen geprägt, ganz brutal und offensichtlich in Kriegen: Regelmäßig und offenbar universell scheint militärischer Sieg, der Einmarsch und die Besetzung eines Landes mit Vergewaltigungen verbunden zu sein, bei der sich die geborgte, vorübergehende Macht der Soldaten in brutaler, kruder Form auslebt. Die Verrohung durch den Krieg verbindet sich mit sexualisierter Kompensation, der Siegesrausch tobt sich im »Triebdurchbruch« – wie Freud sagen würde – aus. Bekannt ist diese Verknüpfung auch von KZ’s und von Gefangenenlagern. Auch in der Folter spielt Sexualität immer eine herausragende Rolle, sexuelle Demütigung der Opfer und sexuelle Lust der Folterer – hier geht es vornehmlich um homosexuelle Gewalt. Hier wird die Kontrolle über lebende Wesen, hier wird die körperliche und seelische Zerstörung und Demütigung, absolut (z. B. Abu Graib, Guantánamo). Die Freud’sche triebtheoretische Erklärung – oder besser Beschreibung – dieser sexualisierten Gewalt als »Triebdurchbruch« angesichts der Aufhebung der Kultivierung der Triebe durch den Krieg (Freud, 1915, S. 335 f., S. 338) wirkt plausibel, ist aber nicht ausreichend,
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denn sie individualisiert und sieht von einem Machtkalkül ab. Denn in erster Linie geht es bei dieser sexualisierten Gewalt keineswegs um einen individuellen Triebdurchbruch, sondern um den Einsatz von Macht, in sexualisierter Form, durch den Machtapparat, der sich wohl des individuellen Triebdurchbruchs und des Machtrauschs bedient.
Heimlichkeit, Verschwiegenheit, Lügen Heimlichkeit und Lügen gehören konstitutiv zur Macht. Da, wo es Ungleichheit und Asymmetrie, wo es Gegner und Konkurrenten gibt, gibt es Heimlichkeit. Machtstreben muss, je nachdem, kaschiert, verleugnet, verschleiert oder auch unbewusst gemacht werden – das betont auch Adler immer wieder an verschiedenen Stellen (1912, S. 97, 1913h, S. 238). Macht agiert im Verborgenen, hinter verschlossenen Türen, mit Geheimverträgen, Geheimdiplomatie, Geheimdiensten. Auch die Arbeit der Lobbyisten, Bestechungen und Korruption, können nur heimlich geschehen. In diesen Umkreis gehören auch die Lügen. Auf Lügen und Lebenslügen sind für Henrik Ibsen die »Stützen der Gesellschaft« aufgebaut, und Lügen gehören auch für Hannah Arendt konstitutiv zur Politik (vgl. Bruder, 2009). Das ist nötig nach innen und nach außen, weil auch gegen den Willen der Mehrheit regiert und gehandelt wird und weil es Konkurrenten oder Gegner gibt. Man lässt sich nicht in die Karten gucken, man will sich schützen vor Einblicken. Das gilt auch für Unternehmen, da gab es noch nie Transparenz, Demokratie endet am Fabriktor. Die Verborgenheit, Verschwiegenheit der Macht zeigt sich auch bei so alltäglichen Dingen wie dem Verbergen des privaten Reichtums, dem Wohnen hinter Mauern, Verbergen der Adresse, dem fehlenden Namen am Klingelschild. »Top« ist »out of sight«. Hier spielt Angst hinein, Angst vor Neid, vor Rache, in Form von Überfällen, aber es geht genereller auch um die Herstellung von Distanz, um Ausschluss, um Unter-sich-sein-Wollen, daher auch eigene Clubs, eigene Freizeitund Bildungseinrichtungen. Distanzierung, »to be distinguished«, ist immer ein Mittel, ein Ausdruck von Macht. Auch der Gebrauch einer Fach-, Wissenschafts- oder Fremdsprache einem Publikum gegenüber
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(z. B. Latein in der Kirche und in der Medizin) ist so ein Distanzierungsmittel. Macht, der Besitz von Macht oder die Lust an der Macht, werden von Seiten der Mächtigen gern verleugnet oder verharmlost. Macht soll unbewusst gemacht werden, sie wird als Dienst, Pflicht, als väterliche Fürsorge deklariert im Sinn einer »Gegenfiktion«. Als Angela Merkel ihre Kanzlerschaft antrat, sprach sie ganz harmlos von ihrer Freude, »etwas gestalten zu können«. Dieser Verleugnung von Macht kommt aber allerdings auch von Seiten der Untergebenen das weit verbreitete Bedürfnis entgegen, ebenfalls die Abhängigkeit von der Macht zu verleugnen und ihr Tun und Denken als autonom zu erleben – ich hatte bereits aus Adlers »Die andere Seite« zitiert, wo er diesen verleugnerischen Mechanismus bei den Soldaten beschreibt: Sie »träumten lieber von selbstgewollten und selbstgesuchten Heldentaten« (Adler, 1919, S. 14). Verborgen und geleugnet werden seitens der Mächtigen Hintergründe, Absichten und Zusammenhänge, die wahren Gründe. In der Politik würde Offenheit nur allzu häufig die Glaubwürdigkeit und Wählbarkeit gefährden, da nur allzu häufig gegen die Interessen der Bevölkerung gehandelt wird – und das soll ja verdeckt werden. Eines der Mittel, die Wahrheit zu verschleiern, ist der heute so weit gebrauchte »double speak«, die Verdrehung der Bedeutung der Begriffe ins Gegenteil: zum Beispiel »Reform« für Sozialabbau; »humanitäre Intervention«, »externe Steuerungsversuche« oder »Frieden und Freiheit bringen« für Krieg; »Freiheit« oder »liberal« für das, was den Unternehmen nützt etc. Verborgenheit und öffentliche Inszenierung von Macht stehen zugleich aber auch nebeneinander. Man geht auch in die Öffentlichkeit, naturgemäß Politiker ziemlich häufig (z. B. in Talkshows), während Wirtschaftsleute die Öffentlichkeit im Allgemeinen eher scheuen. Zu bestimmten Situationen stellt man sich zur Schau, zeigt den Glanz und Reichtum, lässt an der Macht partizipieren (Erdheim, 1982, S. 372), natürlich nur scheinbar. Dies aber, das Befriedigen des voyeuristischen Schlüssellochbedürfnisses, ist zugleich ein Mittel des Verbergens, Verschleierns, der Heimlichkeit. Pierre Bourdieu hat das, bezogen auf das Fernsehen, so schön als »verstecken durch zeigen« genannt: etwas zu zeigen, über etwas zu sprechen, das aber nicht das
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Wichtige ist, oder etwas so zeigen, dass es bedeutungslos erscheint, oder so zeigen, dass es einen anderen Sinn als den wirklichen annimmt (Bourdieu, 1998, S. 24). Interesse für eine Sache zu erregen, lenkt von etwas anderem, etwas viel Wichtigerem ab. Das gehört zu den Aufgaben der Medien. Heimlichkeit und Lüge sind beides: ein Zeichen von Souveränität und ein Zeichen von Angst. In der Lüge und Heimlichkeit behauptet sich jemand als Subjekt, als souverän (Lacan, 1990). Zugleich aber sind Heimlichkeit und Lüge ein Mangel an Mut oder Mangel an Macht, an Souveränität. Die Angst zwingt die Mächtigen zum Verbergen, zum Theaterspiel, zum Doppelleben. Sie sind nicht frei und autonom und diese Angst der Mächtigen ist Folge ihrer Herrschaft. Sicher stimmt auch die Umkehrung, die Adler und Sperber betonen würden, dass sie nach Macht streben, um Angst zu überwinden.
Lächerlichkeit Noch eine letzte Dimension, die man mit Macht verbindet, möchte ich anführen: die Lächerlichkeit von Macht und des Machtstrebens und das Lächerlichmachen im Umgang mit Macht, das Lachen über die Macht. Eysenhardt als Person hat etwas Erbärmliches und Lächerliches: seine Lebensweise, sein Auftreten, seine sexuellen Eskapaden. Er ist Herr über die Unterwelt, Herr über die Verbrecher- und Dirnenwelt, weil er sich die Oberwelt, die so genannte »ehrenhafte« Gesellschaft, nicht zutraut – darin ist er lächerlich, deshalb muss er sich verstecken, lebt er zurückgezogen und einsam. Als sein Zahn herausbricht, verfällt er in tiefste Depression, weil er das Symbol des Zahns, als Symbol von Kraft und Stärke, wörtlich nimmt – auch das ist lächerlich. In Adlers Theorie der Macht, als der Stärke aus der Schwäche, ist das Lächerliche von vornherein enthalten: Es ist ein Machtstreben von einem, der es nötig hat, ein Streben nach Geltung und Anerkennung aus einer Schwäche heraus; es ist ein Jagen nach dem Schein, nach einer Fiktion von Größe, eine Aufgeblasenheit, ein Omnipotenzgehabe, ein Gernegroß. Der männliche Protest ist eine lächerliche Pose. Adler war mit dieser Darstellung der geradezu tragischen Lächer-
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lichkeit ganz sicher von Nietzsche inspiriert, der sich mit seiner Absage an die »großen Erzählungen« von der Autorität der erstarrten Wissenschaft befreite, der sich allerdings dann selbst in die Lächerlichkeit der großen Posen stilisiert hat, mit seinem Übermenschen und seiner Gottähnlichkeit, bis er in seinem Wahn sich als der »Gekreuzigte« verstand. Manès Sperber hat in diesem Adler’schen Sinn verallgemeinernd die »Lächerlichkeit der menschlichen Existenz« (Sperber, 1937, S. 24) aufgegriffen und von der »Komödie« (Sperber, 1970, S. 78 f.) gesprochen, die wir als Darsteller und Schwindler (S. 105) aufführen. Es ist die Lächerlichkeit dieser unendlichen Mühe, die man aufwendet, um nicht übersehen zu werden, um Anerkennung zu erringen. Und dabei berufen wir uns auf Fiktionen, also Unwahrheiten oder Teilwahrheiten (Sperber, 1970, S. 78 f.). Im »Willen zur Macht« manifestiere sich »die Flucht vor der Lächerlichkeit« (Sperber, 1937, S. 25). Horst Gröner hat in seinen Sammlungen von Karikaturen über und zur individualpsychologischen Sichtweise sehr adlerianisch gedacht und diesen Zug der Individualpsychologie zu Humor und Selbstironie aufgegriffen und weitergeführt (vgl. Gröner u. Kessemeier, 1988; Gröner, 1992). Die andere Seite: Das Lächerlichmachen der Macht und Autorität ist ein beliebter, kompensatorischer Umgang, um sich von der Schwere der Macht und Unterdrückung zu befreien. In den Streichen gegen den Lehrer, in Karikaturen, Kabarett, Komik, Comics und Comedy, selbst beim rheinischen Karneval oder beim bayerischen Nockerberg, geht es im Wesentlichen um ein – bayerisch ausgedrückt – »Derblecken« der Oberen. Überall, wo es Macht gibt, gibt es das Lachen über die Macht, nichts ist schöner als das, über nichts wird so hemmungslos gelacht wie über sie. Der König ist nackt. Davor haben die Mächtigen schon Angst, aber dieses Lachen können sie auch zulassen, denn es ist Ventil und mildert die Wut und Aggression der Beherrschten. Die Befreiung von der Macht durch das Lachen kann aber auch der erste Schritt sein, sich von der Macht wirklich zu befreien.
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Leiden und Lust Darstellung einer psychoanalytischen Behandlung
Plight and pleasure. A presentation of a psychoanalytical treatment The presentation refers to the concepts of aggression and inhibition of aggression in transference and countertransference within a 240 hours psychoanalytical treatment that was part of psychotherapeutic training. Special emphasis is put on the idea of psychoanalytical competence.
Zusammenfassung Unter dem Gesichtspunkt der Aggression und Aggressionshemmung in Übertragung und Gegenübertragung werden Ausschnitte einer psychoanalytischen Behandlung von 240 Stunden im Rahmen der Ausbildung zur Psychologischen Psychotherapeutin dargestellt. Eine besondere Beachtung findet hierbei die Reflexion psychoanalytischer Kompetenz.
Einleitung Mein Beitrag beinhaltet die Darstellung meiner Abschlussarbeit im Rahmen der Ausbildung zur Psychologischen Psychotherapeutin am Alfred-Adler-Institut in Köln. Es handelt sich um eine analytische Psychotherapie von 240 Stunden bis zum Zeitpunkt der Abschlussprüfung. Im Rahmen der Kassenleistung wurde die Behandlung um weitere sechzig Stunden verlängert. Beginn der Therapie war Dezember 2005. Derzeit befinden wir uns in der 260. Stunde. Die Sitzungsfrequenz betrug zwei bis drei Wochenstunden und wurde vor sechs Monaten auf einmal wöchentlich reduziert. Die Thematik der Jahrestagung »Macht – Lust« berührt ein zentrales
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Thema dieser Behandlung, in der es um Leiden, Lust und Kontrolle geht. Unter Berücksichtigung dieser Thematik möchte ich Ausschnitte des Behandlungsverlaufs unter dem Gesichtspunkt der Aggression und Aggressionshemmung in der Übertragung und Gegenübertragung vorstellen. Dabei werde ich auf drei psychoanalytische Kompetenzen hinweisen, die ich für die Rollenentwicklung zum Psychoanalytiker als bedeutsam erachte. Es handelt sich um einen männlichen Patienten, der zu Therapiebeginn 42 Jahre alt war. Im Erstgespräch berichtet er über seit der Pubertät bestehende depressive Stimmungseinbrüche verbunden mit innerer Unruhe, Antriebslosigkeit, Schlafstörungen, Gefühlen von Wertlosigkeit, Hoffnungslosigkeit und innerer Leere. Ferner sei er »sex- und pornographiesüchtig« und sei »Sklave seiner Triebe«. »Es gelingt mir nicht, die Kontrolle über meine Sucht zu bekommen. Ich bin zu Prostituierten auf den Straßenstrich gegangen und habe ungeschützten Geschlechtsverkehr gehabt. Ich habe mir die unterste Stufe von käuflichem Sex, sozusagen das Letzte ausgesucht, weil ich auch nicht mehr wert bin.« Sein süchtiges Verhalten und die damit verbundenen Schuldgefühle erlebe er als sehr belastend und quälend. Er leide so sehr darunter, dass er häufig an Suizid denke. Nach Mentzos (2000) hat das Suchtmittel Ersatzcharakter, der nur Pseudobefriedigung verschafft, kein anhaltendes Stillen der Bedürfnisse und keine echte, oder nur kurzfristige Zufriedenheit bewirkt und zu einem Verlangen nach Steigerung und Wiederholung führt. Des Weiteren berichtete Herr M., er habe mehrmals täglich auftretende Zwangsgedanken, bei denen er sich vorstelle, dass eine Frau ihren Darm über seinem Genitalbereich entleere. Einerseits erlebe er diesen Gedanken erregend und lustvoll, andererseits aber auch abstoßend und beschämend. Darüber hinaus berichtet er über wiederkehrende Essanfälle und eine leichte Form der Kleptomanie (auf der Arbeitsstelle entwendet er Bücher). Im weiteren Verlauf wurde deutlich, dass das Einverleiben eine wichtige Rolle spielt. Als Voyeur nahm er die pornographischen Szenen in sich auf, beim Essen schlang er übermäßig Nahrungsmittel in sich hinein, und beim Stehlen nahm er etwas in Besitz und machte es sich zu eigen. Ich fragte mich, welche gemeinsame Funktion den verschiedenen Ausdrucksformen seines süchtigen Verhaltens zugrunde
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lag und stellte die Vermutung an, dass er damit sein brüchiges Selbst stabilisierte. Alle Autoren, die sich in jüngster Zeit zur Theorie der sexuellen Perversionsbildung geäußert haben, kommen zu dem Schluss, dass »die Perversion Funktionen für den Aufbau, den Zusammenhalt, die soziale Anpassung und das Selbsterleben der Persönlichkeit« hat (Sigusch, 2001, S. 271).
Lebensgeschichtliche Entwicklung Herr M. ist das dritte Kind und der einzige Junge in einer Geschwisterreihe von vier Kindern. Zwei Schwestern waren bei seiner Geburt zwei und drei Jahre alt. Die jüngere Schwester wurde zwei Jahre nach ihm geboren. Die Eltern seien streng katholisch. Liebesgefühle oder Zuwendung zu den Kindern, aber auch unter den Eltern hätten im Familienleben keine Rolle gespielt. Die Mutter, eine kaufmännische Angestellte, sei nach außen ängstlich und angepasst, innerhalb der Familie habe sie alle Familienmitglieder dominiert und konnte zur »Furie« werden. Häufig sei sie von der Arbeit gereizt nach Hause gekommen und habe wegen »Flusen auf dem Teppich« angefangen zu brüllen. In ihren starken Stimmungsschwankungen sei sie unberechenbar gewesen. Immer wieder habe Herr M. das Gefühl gehabt: »gleich passiert etwas«. Der Vater sei ein ruhiger, gewissenhafter und pflichtbewusster Mensch, der sich bei der Post hochgearbeitet habe. Zu seinen älteren Schwestern habe Herr M. ein distanziertes Verhältnis. Als Herr M. elf Jahre alt gewesen sei, sei die Familie in ein Reihenhaus am Stadtrand gezogen. Die Mutter habe sich dort nicht wohl gefühlt und sei depressiv geworden. Sie habe im ganzen Haus kein Bild aufgehängt und habe tagsüber bei Sonnenschein die Rollos heruntergezogen. Es sei zu häufigen Auseinandersetzungen zwischen den Eltern gekommen. Wenn die Mutter ihren »Tobsuchtsanfall« bekommen habe, sei der Vater aus dem Zimmer gegangen und habe Zeitung gelesen. Abends sei die Mutter dann entweder zum Patienten oder zu dessen jüngerer Schwester ans Bett gekommen und habe sich ausgeweint. In diesen Momenten habe er sich ohnmächtig und ihr ausgeliefert gefühlt. Während dieser Zeit habe er erstmals depressive Stimmungseinbrüche wahrgenommen. Er habe sich zunehmend zu-
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rückgezogen, viel geschlafen und das Interesse an seiner Umwelt verloren. Zu Mädchen habe er mit Beginn der Pubertät wenig Kontakt gehabt. Er sei immer schon schüchtern gewesen, fühle sich bis heute wenig attraktiv, unsicher und minderwertig. Mit 18 Jahren habe er seine erste feste Freundin kennengelernt, mit der er auch erste sexuelle Kontakte gehabt habe. Es folgten zwei weitere Beziehungen, von denen die längere zwei Jahre andauerte. Seit neun Jahren lebt Herr M. allein. Die Grundschulzeit verlief nach Angaben des Patienten unauffällig. Anschließend sei er auf »Anordnung« des Vaters auf das altsprachliche Gymnasium gewechselt. Dort habe er wenige Sozialkontakte gehabt und sei mit dem Lernstoff überfordert gewesen. Jeden Abend habe er mit seinem Vater lernen müssen. Dabei sei der Vater so engagiert gewesen, als sei er selbst derjenige, der sich auf das Abitur vorbereite. Für Herrn M. sei dies eine Qual gewesen. Der Vater habe immer gewusst, was das Richtige für ihn sei. »Mein Vater hat mir seinen Kopf aufgesetzt.« Herr M. absolvierte sein Abitur und zog im Anschluss daran aus dem Elternhaus aus. Er studierte bis zum sechsten Semester Geschichte und Politologie, brach das Studium aber wegen Prüfungsangst ab. In den darauffolgenden Jahren arbeitete er als LKW-Fahrer und nahm Gelegenheitsjobs an. Vor vier Jahren absolvierte er eine Lehre zum Buchbinder. Er ist bis heute in seinem ehemaligen Ausbildungsbetrieb fest angestellt.
Psychodynamische Diagnose Depressiver Modus der Konfliktverarbeitung, bei zugrunde liegendem Unterwerfungs- versus Kontrollkonflikt, Versorgungs- versus Autarkiekonflikt und Selbstwertkonflikt mit unsicherer Identität, süchtig-perverse Entwicklung auf dem Hintergrund einer narzisstischen Strukturproblematik.
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Darstellung der Psychodynamik Herr M. wuchs in einer Familie auf, in der Leistung, soziales Engagement und kirchliche Zugehörigkeit eine große Rolle spielten. Das Familienklima war durch starke Spannungen zwischen den Eltern geprägt. Seine Bindung an die Mutter ist unsicher-ambivalent. Vermutlich bekam Herr M. als einziger Sohn von seiner Mutter ein Übermaß an Verzärtelung im Wechsel mit Nichtbeachtung und Überforderung, indem sie ihn als Vertrauten für ihre Nöte benutzte. Der rigide, emotional unbeholfene Vater zog sich in sein berufliches Fortkommen zurück. Hier wurde der Grundstein für die Trennungs- und Verschmelzungsängste des Patienten gelegt. Durch den »kastrierenden« Vater, dessen geringe Präsenz und die entwertende Haltung der Mutter gegenüber dem Vater entstand ein Familienklima, in dem es für den Patienten wenig Möglichkeiten gab, sich aus der ödipalen Verstrickung mit der Mutter zu lösen. Der Vater konnte die Trennungs- und Verschmelzungsängste des Patienten nicht ausgleichen und trat als männliche Identifikationsfigur nur wenig in Erscheinung. Vielmehr benutzte er seinen Sohn zur selbstobjekthaften Befriedigung seines eigenen Leistungsbedürfnisses und »kastrierte« ihn, indem er Entscheidungen für ihn traf, ihm keine Eigenverantwortung überließ und ihn als minderwertig bezeichnete und verachtete. Von seiner labilen Mutter wurde er zur Stütze und Stabilisierung missbraucht. Sie externalisierte ihre Launen, wurde für ihn unberechenbar und stand ihm nicht als zuverlässiges Objekt zur Verfügung. Durch ihre Hilflosigkeit verführte und kontrollierte sie ihren Sohn. Er spürte ihre narzisstischen Bedürfnisse sehr früh und übernahm die ihm zugeteilte Funktion. Indem er zum Tröster und Vertrauten der Mutter wurde, konnte er sich ihre »Liebe« sichern und wurde gleichzeitig zu einer besonderen und wichtigen Person für sie. Dabei entstanden ambivalente Gefühle – einerseits Omnipotenzphantasien und andererseits Hilflosigkeit, Wut und Ohnmacht. Die Größenphantasien wurden in ein überhöhtes Ich-Ideal integriert, die negativen Gefühle als gefährliche Selbstanteile abgespalten bzw. auf äußere Objekte projiziert. Die Zuwendung der Eltern sicherte sich Herr M. durch das Bild des gehorsamen und sich unterordnenden Sohnes. Auf diese Weise entwickelte er ein ausgeprägt falsches Selbst.
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Mit Aufleben der Sexualität kam es zum Wiederbeleben der frühen ungelösten Konflikte und Ängste. Die sich in dieser Zeit entwickelnde forcierte Sexualisierung hatte Abwehrfunktion. Mittels seiner Sex- und Pornographiesucht wich er einer reifen, genitalen Sexualität aus und wehrte damit »Kastrations-, Trennungs- und Verschmelzungsängste ab, gleichzeitig erreichte er in diesem Zustand eine vorübergehende Selbst-Stabilisierung« (Mentzos, 2000, S. 207 f.) und Stärkung seiner brüchigen Identität bzw. Geschlechtsidentität. Das Beziehungsmuster der hoch ambivalenten Bindung setzte er später in Frauenbeziehungen fort. Er gab sich nur hin, war passiv und wünschte sich, dass die Frau den aktiven Teil übernahm. Gleichzeitig hatte er große Angst, die Kontrolle zu verlieren, verschlungen zu werden und psychisch nicht mehr zu existieren.
Zu den probatorischen Sitzungen Ein Thema war Herrn M.s Unzufriedenheit mit seiner Arbeitsstelle. Er arbeite sehr viel und bemerke, dass er kaum die Kraft hatte, den Kontakt zu seinem Freundeskreis aufrechtzuerhalten. Er habe aktuell zwei Wochen Urlaub, und der Gedanke an die Arbeit belaste ihn so sehr, dass er kaum abschalten könne. Er wolle so wie bisher nicht weiterarbeiten, wisse aber nicht, wie er es schaffen könne, seine Situation zu verändern. Herr M. präsentierte sich klein und hilflos, als ob er ohne Unterstützung nichts bewältigen könne. Er wirkte auf mich wie ein kleiner Junge, und ich spürte deutlich seinen Wunsch, ihn bei der Bewältigung seiner beruflichen Situation zu unterstützen. Im weiteren Verlauf der probatorischen Sitzungen berichtete Herr M., dass er als Jugendlicher nicht zu den Nachhilfestunden gegangen sei und stattdessen das Geld für Pornohefte ausgegeben habe, in der Familie sei nie darüber gesprochen worden. Als einzige Reaktion habe er von seiner Mutter wiederholt zu hören bekommen: »Wir wissen alles über dich.« Dadurch habe er ständig mit der Angst gelebt, ertappt zu werden und schuldig zu sein. Abbildung 1 zeigt ein Bild, das der Patient 2006, ein Jahr nach Beginn der Therapie, gemalt hat. In diesem Bild kommen die Augen der omnipotent sadistischen Mutter zum Ausdruck. Die Augen stehen aber auch für das Heimliche und
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Voyeuristische. In den Zähnen, dem Gebiss, dem Zubeißen drücken sich einerseits die heftigen Aggressionen des Patienten aus, andererseits bedeutet »die Zähne zusammenbeißen« etwas aushalten müssen. Darüber hinaus enthält dieses Bild die Symbolik der weiblichen und männlichen Geschlechtsorgane.
Abbildung 1: Bild, das der Patient 2006, ein Jahr nach Beginn der Therapie, gemalt hat
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Die letzte probatorische Sitzung leitete Herr M. damit ein, dass er sagte, er fühle sich von mir verstanden und angenommen und habe sich für die Therapie bei mir entschieden. Kurz nachdem er diesen Entschluss gefasst habe, seien Ängste in ihm aufgetaucht: »Was mache ich nur, wenn Sie sterben?«. Er wünsche sich doch von mir, dass ich ihn »rette« und ihm zu beruflicher Entlastung verhelfe. Ich erwiderte ihm, dass er hohe Erwartungen an mich habe und ich ihn vermutlich enttäuschen werde, denn retten könne ich ihn nicht. Meine therapeutische Arbeit bestehe darin, ihn zu unterstützen, aber nicht ihm die Dinge abzunehmen. Darauf reagierte Herr M. mit den Worten: »Ich habe oft das Gefühl, ein kleiner Junge zu sein und möchte an die Hand genommen werden.« Hier wurden seine idealisierenden Erwartungen und die damit verbundene Unterwerfungsbereitschaft deutlich. In der Frage »Was mach ich nur, wenn Sie sterben?« drückt sich sein ausgeprägtes Abhängigkeitsbedürfnis aus. In der Mutterübertragung zeigte sich, dass Bindung mit Verlust einhergeht. Die damit verbundenen Aggressionen und Beherrschungswünsche waren nicht wahrnehmbar. In der Übertragung war der Wunsch der guten, fürsorglichen Mutter deutlich spürbar. In der Gegenübertragung spürte ich ein wohlwollendes Gefühl und die Bereitschaft, mich mit seinen Erlebnisinhalten auseinanderzusetzen. Gleichzeitig wurde mir bewusst, dass ich in der Therapie einige Kämpfe mit ihm auszutragen haben würde, damit er sich aus seinem abhängigen Beziehungsmuster lösen können würde.
Behandlungsbeginn: Erste Manipulationsversuche Ein zentrales Thema, das sich durch die gesamte Therapie zog, war die Übernahme von Eigenverantwortung. Herrn M.s Widerstand gegen die Übernahme eigenverantwortlichen Handels zeigte sich in der Therapie, als es um die Nutzung der Couch ging. Hier versuchte Herr M. mich dahingehend zu manipulieren, ich solle sagen, er müsse sich hinlegen. Meine Deutung, ich übernähme dann die Verantwortung für ihn und für den Fall, dass er sich im Liegen unwohl fühlte, sei ich der Auslöser und er sähe sich als Opfer bestätigt, konnte er annehmen. Danach war es ihm möglich, mit mir über seine Befürchtungen, die er hinsichtlich des Liegens verspürte, zu sprechen. Bei all seinen Be-
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denken konnte er auch einen Vorteil für sich sehen. So berichtete er, er habe das Bedürfnis, mir gegenüber all seine belastenden Gedanken, die er »mühsam in Schach halten« müsse, auszusprechen. Er erhoffe sich dadurch Erleichterung und wünsche sich, anschließend weiterhin von mir »akzeptiert und gemocht« zu werden. Diese Gedanken könne er mir jedoch nur im Liegen mitteilen, da sie ihm sehr unangenehm seien. In der Gegenübertragung spürte ich eine starke Anspannung. Es breitete sich eine peinliche, beschämende Atmosphäre im Raum aus. Ich fühlte mich verunsichert und fragte mich, welche weiteren Phantasien er mir mitteilen wolle und wie es für mich wäre, wenn er mich in seine Phantasien mit einbeziehen und mir diese mitteilen würde. Im weiteren Verlauf traten immer wieder Situationen zwischen Herrn M. und mir auf, in denen er versuchte, seine Eigenverantwortung an mich abzutreten. So bat er mich am Ende einer Sitzung, in der nächsten Stunde das heute besprochene Thema einzubringen – schließlich hätte ich mir Notizen gemacht. Oder aber er kündigte an, er habe mir noch etwas sehr Wichtiges zu sagen, was ihm jedoch sehr schwerfalle, und dass er nicht wisse, wann er mit mir darüber reden könne. Fragen meinerseits, was ihm helfen könne, wies er mit den Worten zurück, heute sei nicht der richtige Moment dafür. Sein sadistisch-aggressiver Impuls weckte mein Interesse, meine Sorge und wies mich gleichzeitig zurück. Damit übte er Macht und Kontrolle aus. Ich kann nicht in ihn hineinschauen, bin darauf angewiesen, dass er mit mir spricht. In der Gegenübertragung spürte ich einen deutlichen Ärger aufkommen, denn er brachte mich dazu, mir zu überlegen, ob ich dieses Thema von mir aus aufgreifen sollte und somit die Verantwortung für ihn übernähme, oder ob ich abwarten und es ihm überlassen sollte, das Thema einzubringen. Der andere Teil ließ in mir die Sorge entstehen, Herrn M. belaste etwas, das er bisher noch nicht erzählen konnte. Im weiteren Verlauf kam es noch zu ähnlichen Situationen. Ich entschied mich, Herrn M. hier zu konfrontieren, und teilte ihm mit, er bringe mich dadurch in die Position, Verantwortung für ihn zu übernehmen. Herr M., der meinen Ärger spürte, reagierte daraufhin devot. Fast schon entschuldigend betonte er, er bemühe sich, die Verantwortung für sich zu übernehmen, er wolle schließlich »ein guter Patient« sein. Sein Bemühen, ein guter Patient sein zu wollen, sah ich als Angst
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vor meiner Kritik an und vermutete eine projizierte Feindseligkeit, die ich für mich als eine verdeckte Aggression deutete. An dieser Stelle möchte ich die erste These zur psychoanalytischen Kompetenz einbringen. Eine wichtige analytische Kompetenz besteht darin, dem Patienten emotional zur Verfügung zu stehen, ihn emotional zu verstehen und bereit zu sein, sich emotional von ihm berühren zu lassen und einen fühlbaren Kontakt aufzubauen (Unruh, 2008).
Erste Regression: Ich will der kleine Junge bleiben (Trotz und Verweigerung als Ausdruck von Aggression) In der Beziehung zu mir beharrte Herr M. lange Zeit darauf, der kleine Junge zu sein. Einerseits beklagte er sich darüber, seine älteste Schwester nehme ihn bei Auseinandersetzungen nicht ernst und reduziere ihn auf seine psychische Erkrankung. In diesen Momenten fühle er sich so, als wolle sie damit ausdrücken: »Du kleiner depressiver Rudolf (Name geändert), ab in die Ecke mit dir.« Andererseits reagierte Herr M. sofort »trotzig« und gekränkt, sobald ich versuchte, seinen Handlungsspielraum zu erweitern, indem ich ihm beispielsweise den Vorschlag machte, »der kleine Rudolf hat die Möglichkeit, die Ecke zu verlassen«. Dann zog er sich schweigend zurück, fühlte sich kritisiert und unter Druck gesetzt. Erst auf die Frage, was in diesen Momenten geschieht, sagte er: »Ich denke, Sie fordern von mir, die Ecke zu verlassen und aktiv zu werden. Dann fühle ich mich von Ihnen in meiner ganzen Person abgelehnt, weil ich etwas falsch mache, und befürchte, Sie sind verärgert.« Ich forderte Herrn M. auf zu überprüfen, wie er mich in diesem Augenblick erlebt, und er konnte spüren: Ich war weder verärgert noch verhielt ich mich so, als wolle ich mich von ihm abwenden. Herr M. berichtete, er habe ein starkes Druckgefühl erlebt, das ihn an die Beziehung zu seinem Vater erinnere. Ich hätte ihm die Aufgabe gestellt, »die Ecke zu verlassen«, wodurch das Druckgefühl ausgelöst worden wäre. Dabei habe er sich mir ausgeliefert gefühlt und sei nur noch damit beschäftigt gewesen, wie er dieser Situation entkomme. Zwischen seinem Vater und ihm sei diese Situation immer dann entstanden, wenn sie gemeinsam Hausaufgaben machten oder sein Vater ihm für Klausuren Aufgabenblätter vorlegte, die er in
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dessen Beisein lösen musste. Wenn er dann das Druckgefühl verspürte, habe er sich in Tagträume geflüchtet, in denen er sich mit einem Sportwagen auf Reisen befand und von der großen Freiheit und Unabhängigkeit träumte. Durch diese Tagträume habe er die »schreckliche« Situation aushalten können und solange gewartet, bis sein Vater die Aufgaben schließlich selbst gelöst hatte. Ich deutete ihm, er ziehe sich in der Beziehung zu mir »trotzig‹« in die Ecke zurück und warte ab, ob ich nachgäbe und ihn in Ruhe ließe, und es gehe in seiner Verweigerungshaltung auch darum, wer die Macht hat. Als Reaktion nahm ich in seinem Gesicht ein leicht triumphierendes Lächeln wahr. Gleichzeitig verhielt sich Herr M. unterwürfig und betonte, er habe keine Macht über mich, sondern wolle ein »folgsamer Patient« sein. In der Übertragung wurde ich zum strengen, fordernden Vater. Herr M. reinszenierte zwischen uns den analen Machtkampf mit seinem Vater, sein Wunsch nach Kontrolle und sein unterwürfiges Verhalten wechselten einander ab. Auf meinen Vorschlag, seinen Handlungsspielraum zu erweitern, spürte er den Druck, sich mir zu unterwerfen. Ihm war vertraut, dass seine Eltern an ihm herumzerrten und schimpften, seinen Wünschen und Bedürfnissen keine Aufmerksamkeit schenkten und er sich unterzuordnen hatte.
Beschmutzungsphantasien als Abwehr von Angst und Ohnmacht Die Beschmutzungsphantasien, die darin bestanden, dass eine Frau ihren Darm über seinem Körper entleerte, traten dann auf, wenn Herr M. Sehnsucht nach einer Arbeitskollegin verspürte. Er berichtete, sich zu dieser Frau hingezogen zu fühlen und zugleich Angst vor ihrer Nähe zu haben, sie habe etwas Unberechenbares. Mal sei sie freundlich, zuvorkommend und deute ihm gegenüber ihre Beziehungswünsche an, ein anderes Mal behandle sie ihn schroff und zurückweisend. Er fühle sich ihr ausgeliefert. Sie habe die Fäden in der Hand, sie habe die Macht. Das zentrale Beziehungsmuster von Herrn M. war: »Ich kann nicht anders, andere machen etwas mit mir.« Diesen Teil der Mutterbeziehung trug er auf Nebenschauplätzen mit der Arbeitskollegin aus, zu der er sich hingezogen und der er sich gleichzeitig ohnmäch-
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tig ausgeliefert fühlte. Die Beschmutzungsphantasie sei quälend und beschämend, gleichzeitig habe sie etwas sehr Inniges und Intimes. Sie sei ein »Liebesbeweis der Frau«, und er empfinde es als lustvoll und erregend. In seinen Beziehungen zu Frauen habe er schon immer eine tiefe Sehnsucht verspürt, die Frau nur für sich zu haben. In mir entstand die Überlegung, inwieweit Herr M. diese Beschmutzungsphantasie zur Regulierung von Nähe und Distanz einsetzte. Gleichzeitig drückte er in dieser Phantasie sein Gefühl von Wertlosigkeit aus. Er war das Objekt, das förmlich »beschissen« wurde und es nicht wert war, geliebt zu werden. Dabei steckte er in dem Dilemma, dass er Beziehungen zu Frauen so inszenierte, dass er nur ihren »Dreck« bekam. Die damit verbundene enorme Enttäuschungswut konnte Herr M. zu diesem Zeitpunkt nicht zulassen. Er musste sie in Form selbstschädigenden Verhaltens autoaggressiv durch sein süchtiges Verhalten abwehren. Bisher war es Herrn M. nicht möglich, sich gedanklich auf die Veränderbarkeit der Beschmutzungsphantasie einzulassen. Mein Anliegen war es, ihn auch hier zu einem erweiterten Handlungsspielraum zu ermutigen, um sich dieser Phantasie nicht ausgeliefert zu fühlen. Denn mit der Beschmutzungsphantasie war er mächtig und ohnmächtig zugleich. Er war derjenige, der die Frau in einer solchen Rolle phantasierte. Das stand in seiner Macht. Als Regisseur dieser Phantasie hatte er die Möglichkeit den Ablauf des Films zu bestimmen. Auf diese Deutung reagierte Herr M. mit Unbehagen. Er berichtete, diese Phantasie sei moralisch verwerflich, und er habe Mühe, sie »in Schach« zu halten. Wenn er sich absichtlich mit der Beschmutzungsphantasie beschäftige und sie umschreibe, befürchte er, die Kontrolle zu verlieren und sie könne Besitz von ihm ergreifen und übermächtig werden. Herr M. unterwarf sich seiner Beschmutzungsphantasie und blieb in der hilflosen, leidenden Position. Ich stellte mir die Frage, wie viel Lustgewinn er wohl durch sein Leiden empfand? In der Gegenübertragung spürte ich Wut, denn ich fühlte mich durch seine Opferhaltung manipuliert. Damit hielt er mich auf Abstand und schränkte sich in seinem, aber auch mich in meinem Handlungsspielraum ein. Zu dieser Problematik schreibt Stoller (1998, S. 87): »Der Masochist ist als Regisseur nie wirklich ein Opfer, weil er nie wirklich das Heft aus der Hand gibt, und in diesem Sinne ist das ganze Szenarium darauf
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angelegt, nur vorgespieltes Leiden zu zeigen.« Im weiteren Verlauf stellte sich heraus, dass die Beschmutzungsphantasie auch an den Stellen auftrat, an denen ich ihm die Möglichkeit eines erweiterten Handlungsspielraumes aufzeigte. In diesen Momenten verspürte Herr M. starke Selbstzweifel, dachte, er habe einen Fehler gemacht, und reagierte verunsichert. Gleichzeitig fühlte er sich unter Druck gesetzt und spürte eine innere Leere. Herr M. berichtete, er habe das Gefühl, den Boden unter den Füßen zu verlieren, die Wände des Raumes würden immer enger werden und drohten, ihn zu erdrücken. Dabei fühlte er sich mir ohnmächtig ausgeliefert und die Beschmutzungsphantasie, in der nun ich die Frau sei, die ihren Darm über seinen Körper entleerte, trat ein. In der Übertragung erlebte er mich als mächtig und kontrollierend, wie er seine Mutter erlebt hatte. Parallel dazu verspürte Herr M. starke Schamgefühle und äußerte die Sorge, ich könnte ihm diese Beschmutzungsphantasie ansehen. Dies führte dazu, dass er versuchte, die Phantasie zu unterdrücken, was ihm nicht gelang. Aggressive Gefühle mir gegenüber waren für ihn nicht spürbar, vermutlich setzte stattdessen die Beschmutzungsphantasie ein. In der Übertragung wünschte er sich von der guten Mutter Verständnis. Er berichtete etwas und fühlte sich von mir unter Druck gesetzt, weil ich ihn nicht so ließ wie er war, sondern ihm einen Handlungsspielraum aufzeigte. Damit wurde ich zur kastrierenden Mutter. Die dadurch entstandene Enttäuschungswut konnte Herr M. nicht zulassen. Zu groß war seine Angst, mich zu beschädigen und von mir verlassen zu werden. Stattdessen regredierte er und bewältigte den Wutaffekt aggressiv-pervers. Des Weiteren drückte sich in dieser Mutterübertragung auch seine Verweigerung aus. Er nahm die Möglichkeiten, die ich ihm anbot, nicht an, sondern zweifelte sofort an sich und seinen Fähigkeiten. Damit verweigerte er sich und verharrte in der Rolle des kleinen Jungen. Er kastrierte sich selbst und wollte kein erwachsener Mann werden. Wir konnten erarbeiten, dass die Beschmutzungsphantasie eine Bewältigungsfunktion hatte und nur im Kontakt zu Frauen auftrat. Frauen erlebte Herr M. als unberechenbar. In der Übertragung zeigte sich das durch sein Misstrauen und seine Zweifel mir gegenüber. So stellte er infrage, ob ich ihm wirklich etwas zutraute oder er zweifelte daran, dass ich mich bei der Erstellung des Berichtes für den Fortfüh-
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rungsantrag ausreichend für ihn einsetzte. In der Gegenübertragung fühlte ich mich angegriffen und in meiner Kompetenz entwertet. Um die 140. Stunde berichtete Herr M., er habe nun die Kraft und den Mut, mir etwas sehr Beschämendes und Peinliches aus seinem Leben zu berichten. Er habe darüber noch nie mit jemanden gesprochen und wolle es einmal aussprechen. Es sei vor circa zwanzig Jahren gewesen. Damals habe er sich sehr einsam und hoffnungslos gefühlt und er habe einen starken Todeswunsch verspürt. Es sei ihm so schlecht gegangen, dass er angefangen habe, mit seinem Kot zu spielen, damit habe er sich »berauscht«. Das Spiel mit dem eigenen Kot habe ihn sexuell erregt und er habe dabei onaniert. Gleichzeitig habe er Ekel verspürt. Dies habe sich über Monate einige Male wiederholt. Nach Sigusch (2001, S. 272) werden in der perversen Dynamik »traumatische Erfahrungen nicht verinnerlicht, symbolisiert und durch Phantasiebildung verarbeitet, sondern mit den Mitteln des Primärprozesses entschärft, erotisiert, sexualisiert und schließlich agiert«. Unter starker Anspannung fügte Herr M. hinzu, er müsse mir noch etwas sagen. Er »stehe« auf Frauenunterwäsche und benutze BH’s und Seidenstrümpfe als Fetisch. Er habe sich dadurch schon in bedrohliche Situation gebracht. Er sei in den Keller des Mehrfamilienhauses seiner damaligen Wohnung gegangen, habe dort die Damenunterwäsche von der Leine genommen und onaniert. Dies sei jedoch schon einige Jahre her. Er finde sein Verhalten krank und denke, er sei ein »kaputter« Mensch. In der Gegenübertragung waren Scham, Anspannung und Unsicherheit zu spüren. Ich denke rückblickend, dass es nicht nur die Gefühle des Patienten, sondern auch meine eigenen waren. Der Ekel, den Herr M. beschrieb, war für mich weniger spürbar. Ganz deutlich waren die Gefühle von Not und Hilflosigkeit. Das Spielen mit seinem Kot hatte eine Bewältigungsfunktion, damit konnte er sich beruhigen. Vermutlich handelte es sich um die Vorstufe der Beschmutzungsphantasie und war als Teil von ihr zu sehen. Die Situation mit dem Fetisch war wieder das Heimliche und Verbotene, so wie der Konsum der Pornohefte in der Pubertät, sein heutiger Konsum der Porno-DVDs oder aber auch das Klauen am Arbeitsplatz. In all diesen Situationen brachte sich Herr M. in einen angespannten Erregungszustand zur Abwehr von unangenehmen, nicht aushaltbaren Gefühlen. Indem Herr M. mir von dem Spielen mit seinem Kot und seinen Beschmutzungsphantasien
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erzählte, mutete er mir seine »Scheiße« zu und brachte damit Aggressionen gegen mich ins Spiel. Wie das sexsüchtige Verhalten Herrn M.s stellte auch sein pathologisches Stehlen eine Ersatzbefriedigung dar. Im Laufe der Therapie gestand er unter starken Schamgefühlen, er habe in einem Drogeriemarkt Batterien gestohlen. In einem ersten Schritt bestand meine Interventionsform im Klarifizieren mit dem Ziel, die Motive seines Handelns zu verstehen. Herr M. berichtete, er sei in den Drogeriemarkt gegangen, bevor er zu mir in die Therapiestunde kam. Zuvor habe er gedacht: »Was passiert, wenn ich die Batterien mitnehme und erwischt werde?« Im zweiten Schritt konfrontierte ich ihn damit, dass er durch sein Verhalten nicht nur das Risiko eingegangen sei, die Therapie zu versäumen, sondern habe auch die Fortführung der Behandlung aufs Spiel gesetzt. Herr M. berichtete weiter, dies vor mir verheimlicht zu haben aus Angst, ich könne ihm böse sein und einen Groll hegen. Ich forderte ihn auf zu überprüfen, wie er mich erlebe. Anschließend teilte ich ihm mit, dass ich mir Sorgen mache, weil er die Therapie durch sein Verhalten gefährde, schließlich hatten wir zu Beginn der Behandlung eine Vereinbarung (nicht zu stehlen) getroffen, an die er sich nicht hielt. In einem weiteren Schritt deutete ich ihm, er gebe die Verantwortung an mich ab, indem er mir seine befürchtete Reaktion zuschreibe. Ich nahm diese nicht an, denn schließlich habe er sich vertragsbrüchig verhalten. Daraufhin sagte Herr M. sehr verschämt, er verspüre eine starke Ambivalenz zwischen den Gefühlen: »Ich bin ein kleiner hilfloser Junge und ich habe als erwachsener Mann die Verantwortung für mein Handeln zu tragen.« Herr M. brachte das Thema Heimlichkeit in unsere Beziehung. Er tat etwas »Verbotenes« und wartet darauf, dass die strenge Mutter sein Verhalten sanktionierte. In der Gegenübertragung fühlte ich mich manipuliert. Herr M. setzte die Therapie aufs Spiel und riskierte damit einen Beziehungsabbruch. Es fand eine Über-Ich-Übertragung statt, in der ich zur strafenden Mutter wurde. Die Situation des Heimlichen stellte er aktiv her. Er rebellierte gegen den Despoten, verschaffte sich Kontrolle und provozierte die Bestrafung. Hier zeigte sich der Abwehrmechanismus der projektiven Identifikation. Das anstrengende in der sadomasochistischen Übertragung war, dass er mir ständig die Schuld an allem zuschob. Darin sah ich einen Ausdruck seiner verdeckten Aggression.
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Die zweite These zur psychoanalytischen Kompetenz lautet: Die Fähigkeit zur psychoanalytischen Interaktion und damit verbunden die Bereitschaft zur Rollenübernahme ist eine weitere analytische Kompetenz (Will, 2006). Es ist wichtig, das Auftauchen und die Entstehung einer Inszenierung zu ermöglichen und daran zu arbeiten (Schmidt, 2008). Zur analytischen Kompetenz gehört auch, »die Fähigkeit, mit Angst, Spannungen und Konflikten umzugehen« (Will, 2006, S. 39). Die von dem Patienten geschilderte Situation, in der ich nun in seiner Phantasie die Frau war, die ihren Darm über seinen Körper entleerte, rüttelte schon sehr an meinen persönlichen Grenzen. Aber weil ich durch die Supervision schon darauf vorbereitet war, dass ich irgendwann in dieser Phantasie auftauchen würde, war ich gewappnet und es gelang mir, eine analytische Distanz beizubehalten. Die Situation, in der er mir von seinem Spiel mit dem Kot berichtete, verunsicherte mich sehr. Ich war zu Beginn seiner Ausführung sehr angespannt und hatte Sorge, er könne mir etwas berichten, das meine persönlichen Grenzen überschreiten würde. Es fiel mir schwer, die Spannung auszuhalten. Dadurch, dass ich so sehr mit meinen Gefühlen beschäftigt war, ist es mir nicht ausreichend gelungen, ihn zu ermutigen und aufzufordern, zu dieser Thematik seine Assoziationen einzubringen.
Abschließende Betrachtung Die Behandlung war geprägt von mühsamer Arbeit am Widerstand des Patienten, erwachsen zu werden. Immer wieder versuchte Herr M. mich dahingehend zu manipulieren, für ihn die Verantwortung zu übernehmen, was zu Ärger in der Gegenübertragung führte. Er konnte diesbezügliche Deutungen annehmen und es wurde ihm bewusst, wie sehr er sich als der kleine trotzige Junge fühlte, aber seine ambivalente Haltung, ob er überhaupt etwas verändern wolle und inwieweit er sich das zutraute, konnte er erst in einem langen Prozess des Durcharbeitens ansatzweise überwinden. Herr M. musste die Freiheit, autonom zu sein, lange Zeit abwehren. Er konnte nur schwer damit umgehen, seinen Handlungsspielraum zu nutzen oder eine Entscheidung zu tref-
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fen. Hier war es wichtig, Herrn M. aktiv zu stärken und zur Mitarbeit anzuregen. Einerseits signalisierte ich ihm damit, dass ich ihm Veränderung zutraute, andererseits trug diese Haltung dazu bei, Herrn M. mit der Realität zu konfrontieren, so dass sich seine an mich herangetragenen Heilungserwartungen und passiven Versorgungswünsche relativierten. Im Verlauf der Behandlung zeigte sich, wie schwer es ihm fiel, sich nicht nur als Opfer zu sehen. Die Auseinandersetzung mit seinem Täteranteil gestaltete sich mühsam, ist bis heute nicht abgeschlossen. Einen wichtigen Fortschritt sehe ich darin, dass Herr M. allmählich von dem Wunsch, andere mögen ihr Verhalten verändern, Abstand nehmen konnte. Dies war ein wichtiger Schritt, die Realität und die Getrenntheit der anderen von ihm in ihren Grenzen anzuerkennen. Damit machte er seine seelische Gesundheit nicht weiter von anderen abhängig. Bezüglich seiner Beschmutzungsphantasien spürte ich anfangs in der Gegenübertragung ein Gefühl von Unbehagen und den Impuls, Distanz zu halten. Dies änderte sich im Laufe der Zeit, so dass nun mein fachliches Interesse und meine Anteilnahme im Vordergrund stehen. Herr M. benötigt die Beschmutzungsphantasie weiterhin für die Erhaltung seines inneren Gleichgewichtes. Der »Haufen« der Frau hat eine Schutzfunktion, wenn Anforderungen zu groß für ihn sind. Es gelang ihm jedoch, sein sexsüchtiges Verhalten in der Häufigkeit und zeitlichen Dauer zu reduzieren. Darüber hinaus gab es Phasen, in denen er alle DVDs aus der Wohnung verbannte und einige Tage »clean« blieb. Herr M. spürte seine Sehnsucht nach einer Partnerschaft und seine Bedürftigkeit. Er konnte seinen Hunger nach Zuwendung und Wärme als einen wichtigen Teil seiner Person akzeptieren. Die depressiven Stimmungseinbrüche haben sich durch die Behandlung deutlich gebessert und Herr M. war nicht mehr suizidal. Nach 170 Stunden berichtete er, in sich ein leichtes Gefühl zu verspüren: »Ich will und darf am Leben der Gemeinschaft teilhaben.« Hierzu schreibt Adler (1930): »Im Innern eines jeden Menschen existiert die Vorstellung eines (fiktiven) Ziels oder Ideals, das darauf gerichtet ist, über den gegenwärtigen Zustand hinauszukommen und die gegenwärtigen Schwächen und Schwierigkeiten durch die Aufstellung eines konkreten Ziels zu überwinden. Mit Hilfe dieses konkreten Ziels kann sich das Individuum den Schwierigkeiten der Gegenwart überlegen
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fühlen, weil es den Erfolg der Zukunft im Auge hat« (zit. nach Ansbacher, 1975, S. 110). Die mit Herrn M. durchgeführte Psychoanalyse war eine Behandlung mit schwierigen Themen in einer schwierigen Begegnung, die für mich eine große Herausforderung darstellte, die mir aber auch die Möglichkeit bot, meinen eigenen analytischen Stil zu entwickeln.
Literatur Ansbacher, H. L., Ansbacher, R. R. (1975). Alfred Adlers Individualpsychologie. Eine systematische Darstellung seiner Lehre in Auszügen aus seinen Schriften. Reinhardt: München u. Basel. Mentzos, S. (2000). Neurotische Konfliktverarbeitung. Frankfurt a. M.: Fischer. Schmidt, M. G. (2008). Für die Beschreibung psychoanalytischer Kompetenz – Wider die Selbstidealisierung des Psychoanalytikers. Zeitschrift für Individualpsychologie, 33, 281–286. Sigusch, V. (2001). Sexuelle Störungen und ihre Behandlung. Stuttgart: Thieme. Stoller, R. (1998). Perversion. Die erotisierte Form von Hass. Gießen: Psychosozial. Unruh, B. (2008). Die Psychoanalytische Kompetenz in der therapeutischen Beziehung. Zeitschrift für Individualpsychologie, 33, 245–254. Will, H. (2006). Psychoanalytische Kompetenzen. Stuttgart: Kohlhammer.
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Rollenfindung im therapeutischen Prozess Eine Fallskizze
Finding one’s role in the therapeutic process – A case report On the basis of individual case material the author outlines some aspects of gradually developing a role as psychotherapist within the training in psychotherapy for children and adolescents. Hereby, a central issue is coping with the assumed discrepancy between a more pedagogical vs. a more psychotherapeutic approach. Referring to the example of »setting limits« it was demonstrated how the constructed contradiction between pedagogical and psychotherapeutic treatment could be deconstructed leading to a more integrated role-concept. Zusammenfassung Anhand eines Fallbeispiels zeichnet der Autor einige Aspekte der Rollenentwicklung im Rahmen der Ausbildung zum analytischen Kinder- und Jugendlichenpsychotherpeuten nach. Zentrales Thema ist dabei die Auseinandersetzung mit vermeintlichen Widersprüchen eines pädagogischen und therapeutischen Selbstverständnisses. Am Beispiel Grenzensetzen wird gezeigt, wie die Auflösung konstruierter Gegensätze zwischen pädagogischem und therapeutischem Handeln gelungen ist und zu einem integrierten Rollenverständnis geführt hat.
Einleitung Mit dem Beginn der Ausbildung zum analytischen Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten schauen viele Kandidatinnen und Kandidaten bereits auf eine längere berufliche Karriere als Pädagoge, Sozialarbeiter oder Psychologe zurück. Häufig ist die Entscheidung für eine Ausbildung von dem Wunsch geleitet, die berufliche und fachliche Qualifikation noch einmal neu auszurichten. Mit dem Start der Ausbildung beginnt also der Prozess der Rollenfindung und die
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Orientierung hin zu einem neuen beruflichen Selbstverständnis. Die Frage, die sich dabei aufdrängt, ist die nach der Integration alter und neuer beruflicher Identitäten. Zu Beginn meiner Ausbildung schien mir das Pädagogische mit dem Therapeutischen noch weitgehend unvereinbar. Auf zu neuen Ufern bedeutete vor allem auch: alte Zöpfe abschneiden. Mit meinem seit 15 Jahren gewachsenen Selbstverständnis als Pädagoge und Sozialarbeiter galt es aufzuräumen oder sogar ganz abzuschließen. Schließlich gab es von nun an Dinge wie Deuten, Spiegeln, Containen zu erfassen und zu erlernen. Da wollte man sich mit profanen erzieherischen Angelegenheiten, wie zum Beispiel Grenzen setzen, nicht mehr ernsthaft befassen müssen. Anhand der folgenden Fallskizze möchte ich beispielhaft zeigen, wie sich meine Rollenfindung im Rahmen der Ausbildung entwickelte. Im Vordergrund dieser Entwicklung stand die Erfahrung, dass sich pädagogische und therapeutische Identität nicht zwangsläufig unvereinbar gegenüber stehen müssen. Im Gegenteil: Die Integration beider Aspekte prägt mein berufliches Selbstverständnis und Selbstbewusstsein heute in konstruktiver Weise mit.
Der Patient Der zwölfjährige Stefan wurde mir vorgestellt aufgrund seines aggressiv-aufsässigen Verhaltens. Sowohl in der Schule als auch zu Hause war er streitlustig, aufbrausend und unkontrolliert. Bei Wutanfällen schmiss er unverhofft Hefte und Bücher durch die Klasse und griff auch Klassenkameraden körperlich an. In der Klasse war er deutlich isoliert. Auch außerhalb der Schule hatte er Schwierigkeiten, Freunde zu finden. Zu Hause wurden die Konflikte zwischen Mutter und Sohn immer massiver. Dabei fiel auf, dass Stefans Verhalten von »zwei gegensätzlichen Polen« (Eltern) bestimmt war. Einerseits reagierte er aggressiv, aufbrausend, wütend und trotzig auf Anforderungen oder Frustrationen (z. B. bei Hausaufgaben oder häusliche Pflichten), andererseits zeigte er sich oft zurückgezogen, verzweifelt und depressiv. Anamnestisch berichtete die Mutter, die Schwangerschaft sei ein Unfall gewesen. Sie sei ihr erst im vierten Monat aufgefallen. Im siebten Monat habe sie erfahren, dass sie Zwillinge bekomme, was für sie
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ein Schock gewesen sei. Sie habe Angst gehabt, den Anforderungen nicht gewachsen zu sein. Außerdem habe sie immer das Gefühl gehabt, noch nicht reif genug zu sein für Kinder und Familie. Im Gegensatz zu seinem Bruder sei Stefan ein unruhiger Säugling gewesen, der wenig geschlafen und viel geschrien habe. Die Eltern berichteten, dass er als Kleinkind sowohl ein ängstlich-schüchternes Kind gewesen sei als auch regelmäßig akute Trotzanfälle gezeigt habe. Während sein Bruder die Dinge weitgehend lässig genommen habe, sei Stefan schon immer leicht irritierbar gewesen (siehe hierzu auch Timmermann, 2004). Schon damals sei er ständig an ihrem Rockzipfel gehangen, so die Mutter. Das sei belastend gewesen und habe stark an ihren Nerven gezehrt. Die frühkindliche Entwicklung sei ansonsten ohne Auffälligkeiten verlaufen. Erste Anzeichen der Symptomatik zeigte der Patient nach einem Umzug der Familie und einer lebensbedrohlichen Krebserkrankung der Mutter vor drei Jahren. Bereits in den ersten Gesprächen wurden deutliche Spannungen in der elterlichen Paarbeziehung ersichtlich, die sich unter anderem in erheblichen Differenzen über Erziehungshaltungen und -stile äußerten. Die Spannungen wurden allerdings von den Eltern geleugnet und trugen durch ihre Verschiebung auf die Eltern-Kind-Ebene zur Stabilisierung Stefans als Symptomträger bei. Als zentraler psychodynamischer Faktor konnte herausgestellt werden, dass sich zwischen Stefan und seiner Mutter schon frühzeitig eine unsichere und ambivalente Bindung entwickelte, was als Ausgangspunkt für eine unzureichende Selbstentwicklung sowie für intrapsychische Konflikte des Patienten gesehen werden konnte. Bereits die frühe Interaktion zwischen Mutter und Sohn litt offensichtlich unter deutlichen Schwierigkeiten in der Affektabstimmung und -regulierung. Die von Anfang an stark expressiv gefärbten Gefühlsund Kommunikationsregungen Stefans stießen bei einer latent instabilen Mutter auf Ablehnung. Eine ausreichende emotionale Kongruenz zwischen Mutter und Kind konnte sich nicht etablieren, weil die Äußerungen Stefans seitens der Mutter missinterpretiert wurden, so dass seine Affekte keine angemessene Regulation erfuhren. Mutter und Sohn verstrickten sich in der Folge immer tiefer in einen gegenseitigen Überforderungskreislauf (Dammasch, 2004). Hilfe durch entlastende oder sichernde Dritte wurde der frühen Dyade offensichtlich nicht zureichend zuteil, was für Stefans Entwicklung auch in der
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Folgezeit problematisch blieb. Er erlebte zunehmend, wie seine Expressions- und Progressionsbestrebungen als beängstigend, vielleicht zerstörerisch, zurückgewiesen bzw. kontrolliert wurden, was in ihm Schuld-, Angst- und steigende Wutphantasien festigte. Ängstlichüberangepasstes Verhalten, aus Sorge vor dem Verlust des Primärobjektes, wechselte sich mit unkalkulierbaren und unregulierten Wutund Trotzanfällen ab und bestimmte die Mutter-Kind-Konstellation fortan. Eine solche Verstrickung reinszenierte sich rasch auch im therapeutischen Setting und dominierte die Übertragungsbeziehung über viele Stunden. Stefan, der leicht adipös war und äußerlich noch recht kleinkindlich und unbeholfen wirkte, entdeckte bereits in den ersten Stunden Pratzen und Boxhandschuhe im Therapieraum und forderte mich immer wieder heraus. Was zunächst spielerisch begann, wurde nach und nach immer aggressiver. Die Attacken des Patienten wurden herausfordernd und provokant. Er schlug gezielt an den Pratzen vorbei, um mich zu treffen. Meine Hinweise auf die vereinbarten Regeln beantwortete er mit devoten Entschuldigungen, die mir teilweise wie Unterwerfungsgesten vorkamen. Ich reagierte auf die zunehmenden Grenzüberschreitungen vor allem mit ehrgeizigen Containmentbemühungen. Schließlich wollte ich die Gelegenheit nutzen, meine neue Identität als Therapeut auch praktisch zu festigen. Die fortgesetzten Aggressionen beantwortete ich also mit dem Bemühen, zunächst innezuhalten, die Affekte aufzunehmen und einen Verstehenskontext zu schaffen, um diesen per Deutung zur Verfügung zu stellen. Womit ich allerdings nicht rechnete war, dass Stefan sich von meiner Haltung immer noch mehr provoziert fühlte und seine Attacken nicht, wie ich es erhoffte, zurückgingen, sondern noch massiver wurden. Mir blieb also nichts anderes übrig, als das Boxen immer früher zu beenden bzw. abzubrechen und damit Grenzen zu setzen. Damit aber nahm ich eine aus meiner Sicht allzu pädagogische Haltung ein, was ich so eigentlich nicht (mehr) wollte. Schließlich ging es doch hier und jetzt um therapeutische und nicht um erzieherische Arbeit. Die Situation verwirrte mich, woran auch die Beschwichtigungen meiner Supervisorin nicht viel ändern konnten. Nach meinen begrenzenden Interventionen beruhigte sich das therapeutische Setting für lange Zeit und es begann eine intensive Phase, in der Stefan seine inneren Konflikte im symbolischen Spiel durcharbeiten konnte (z. B. Abbildung 1).
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Abbildung 1: Ein von Stefan gezeichnetes Bild veranschaulicht das Nebeneinander der unterschiedlichen Selbstanteile: Im Mittelpunkt der Junge in der Feuerwand; links die maskenhafte, devot-verhuscht wirkende Maus; der »Rapperwagen« für den anwachsenden Jugendlichen Teil sowie die liebe, kecke Biene.
Nach einer Unterbrechung der Therapie in den Sommerferien begann die schwierigste Phase der Arbeit mit Stefan. Kennzeichnend für diese Zeit waren eine Vielzahl von Auseinandersetzungen und Eskalationen im Therapiegeschehen. Stefan äußerte in der zweiten Stunde nach den Ferien, dass seine Probleme nun, nach dem Klassenwechsel, gelöst seien, inzwischen auch zu Hause alles in Ordnung sei und er nicht mehr einsehe, noch weiter zur Therapie zu kommen. Meinen Hinweis, dass er nach diesem Neubeginn seine Probleme am liebsten vergessen wolle, beantwortete er mit wütenden Attacken über das »ständige Psychogequatsche«, auf das er »keinen Bock mehr« habe. Meist kam der Patient hochaggressiv in die Stunden und provozierte mich mit massiven Grenzüberschreitungen (Beschimpfungen, warf Gegenstände an die Wand etc.). Anstatt meine Containment-Bemühungen als Hilfeangebot zu erkennen, fühlte er sich hiervon angegriffen und provoziert (siehe z. B. Abbildung 2) (vgl. auch Dammasch, 2004, S. 282–286). Einen vorläufigen Höhepunkt erreichte die Situation in der 45. Stunde: Nach einem abgebrochenen Battaka-Kampf schleu-
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derte Stefan Spielmaterial vom Regal. Ich forderte, er solle damit aufhören und bemerkte, dass seine Wut auf mich nun wieder nicht auszuhalten sei. Daraufhin provozierte er weiter und schlug plötzlich wütend mit seinem Schal nach mir. Ich sprang hoch, baute mich vor ihm auf, riss ihm den Schal aus der Hand. Dabei fuhr ich ihn an: »Du wirst das jetzt sein lassen und räumst sofort die Sachen wieder ein!« Stefan stemmte sich nun gegen mich, versuchte mich wegzuschieben, was ihm aber nicht gelang. Für den Fall, dass er noch einmal nach mir schlagen würde entschloss ich mich, ihn festzuhalten. Er erkannte, dass es mir ernst war, meine Haltung klar war. Nach einer Weile beruhigte er sich und begann aufzuräumen. Überrascht war ich von einer überaus entspannten Atmosphäre im weiteren Verlauf bzw. am Ende der Stunde (Liegen in der Hängematte, malen, etc.). Ich fühlte mich in dieser Phase der Therapie zeitweise überfordert. Meine Gefühle dem Patienten gegenüber waren sehr angespannt, ein häufig brisantes Gemisch aus Wut, Ohnmacht, Sorge vor unkontrollierbarer Eskalation. Gleichzeitig war ich entschlossen zu bestehen, klar zu bleiben, durchzuhalten. Es schien mir zeitweise so, als werde ich von Stefan in eine Art destruktiven Handlungsdialog gezwungen. Aus meiner Sicht
Abbildung 2: Von Stefan gezeichneter Comic. Links oben: Patient mit martialischer Bewaffnung bedroht den zur Miniatur geschrumpften Therapeuten, der schreit: »Ich will nicht sterben!«; rechts oben: Patient durchbohrt den Therapeuten mit Schwert; unten: Patient mutiert zum Monster, das den Therapeuten nun sadistisch malträtiert.
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war damit der unbewusste Wunsch des Patienten verbunden, dass ich seinen zügellosen und das psychische Gleichgewicht bedrohenden Omnipotenzphantasien deutlicher entgegentrete. Die Reflexion dieser Sequenzen zwang mich dazu, meine bisherigen beruflichen Rollenvorstellungen zu überdenken. Schließlich hatte Stefan mit allen Mitteln dafür gekämpft, dass ich ihn begrenzte. Es schien für ihn und seine weitere Entwicklung grundlegend, dass er durch die Begrenzungshandlungen Halt und Sicherheit erfährt, und zwar auf basale, auch körperlich spürbare Art und Weise. Erst durch diese Erfahrungen erlangte Stefan die Sicherheit und Gewissheit, dass sich das Objekt (Therapeut) von den destruktiven Kräften des Patienten nicht bezwingen lässt, sondern stark genug ist, gegen diese Anteile anzugehen und zu bestehen (vgl. Timmermann, 2004, S. 121– 134). Nach diesen intensiven Stunden beruhigte sich die Lage in der Therapie allmählich wieder. Aufbauend auf der Erfahrung eines haltenden und sichernden Hilfs-Ich des Therapeuten, entwickelten sich neue Möglichkeiten für Stefan. Nun war es immer öfter möglich, die Wutgefühle zu besprechen. Für mich war dieser Entwicklungsprozess schließlich die Gelegenheit, mich mit meinen scheinbar gegensätzlichen beruflichen Identitäten auszusöhnen. Pädagogisches Handeln und therapeutisches Selbstverständnis stehen sich nicht per se entgegen. Grenzen Setzen in der Therapie untergräbt nicht meine Rolle als Therapeut, im Gegenteil: Es kann ganz im Sinne des therapeutischen Handelns eine notwendige heilende Erfahrung sein, vor allem dort, wo es um das basale Bedürfnis eines Gehaltenwerden geht (zur Bedeutung der »Haltens« in der Psychotherapie siehe Auckter, 2000; Winnicott, 2002a, 2002b). Dort ist es somit auch eine wichtige Voraussetzung für weitere Entwicklungsmöglichkeiten im therapeutischen Raum. So auch für Stefan: Wie schon beschrieben, wurden die Provokationen und Grenzüberschreitungen in den Stunden weniger. Das gemeinsame Nachdenken und Reden über die Wut des Patienten wurde stattdessen immer häufiger möglich. Ganz allmählich erlebte der Patient, dass er seinen negativen Affekten nicht hilflos ausgeliefert war. Am Ende der gemeinsamen Arbeit hatte Stefan seine Ich-Funktionen so gestärkt, dass er seine Wut nicht nur innerhalb des therapeutischen Rahmens, sondern immer besser auch außerhalb steuern konnte.
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Literatur Auchter, T. (2000). Das Konzept des Haltens und seine Bedeutung für die allgemeine und die psychotherapeutische Entwicklung. Zeitschrift für Individualpsychologie, 25, 88–99. Dammasch, F. (2004). »Er weiß nicht, wo er anfängt und wo er aufhört!« Über das ruhelose Kind, seine Mutter, seinen Vater und Ritalin. In Bovensiepen, G., Hopf, H., Molitor, G. (Hrsg.), Unruhige und unaufmerksame Kinder – Psychoanalyse des hyperkinetischen Syndroms (S. 257–311). Frankfurt am Main: Brandes und Apsel. Timmermann, F. (2004). Beunruhigte Eltern. In Bovensiepen, G., Hopf, H., Molitor, G. (Hrsg.) Unruhige und unaufmerksame Kinder – Psychoanalyse des hyperkinetischen Syndroms (S. 113–135). Frankfurt am Main: Brandes und Apsel. Winnicott, D.W. (2002a). Vom Spiel zur Kreativität. Stuttgart: Klett-Cotta. Winnicott, D. W. (2002b). Reifungsprozesse und fördernde Umwelt. Gießen: Psychosozial.
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Macht, Machterwerb und Mentalisierung Der Autor betrachtet von der Bindungstheorie her das Machtverhältnis in Eltern-Kind-Beziehungen: Kinder mit sicherer Bindung werden von ihren Eltern ermutigt, sich und ihre Welt zu erkunden; bei unsicherer Bindung wird eher eine autoritäre Machtbeziehung durchgesetzt. Welche Auswirkungen das in Psychotherapien hat, wird an Fallbeispielen erörtert.
Summary In this paper the author looks at power relations between parents and infants from the perspective of attachment theory: securely attached children are empowered by their caregivers to explore themselves and their world; in insecure attachment a more authoritarian power relationship is established. The implciations of this for psychotherapy are explored using clinical material. Parents are in a position of power over their children; so too, at least at a symbolic level, therapists inescapably wield power over their patients. The analyst sets the terms of the relationship, prepares the room, dictates – albeit by negotiation and contract – the frequency and duration of meetings, and decides how best to intervene, or not, in the client’s life. Theoretically the patient can dispute the contract, or walk away from therapy at any time in ways that a baby cannot. But, unconsciously or otherwise, being a patient means laying one’s vulnerability and powerlessness at the feet (or in the lap) of the analyst’s knowledge and strength. All being well, by the end of therapy, the tables are reversed. The analyst’s vulnerability, manifest in her counter-transference responses, and her powerlessness beyond the confines of the consulting room, contributes to empower1 Some of the material in this paper will appear in Holmes, J. (2009). Exploring in Security. Towards an Attachment-Informed Psychoanalytic Psychotherapy. London: Routledge.
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ment of the patient, who eventually departs therapy to lead her own life, while the analyst, momentarily at least, is left bereft. The main argument of this paper runs as follows: a) there is an implicit ethic within psychotherapy which contrasts this authentic empowerment with pathologies of power – which usually take the form of being either underpowered or overpowering; b) power relations have been somewhat ignored in the psychoanalytic literature, the renegade Adler being an honourable exception; c) Attachment Theory provides a developmental context for theorising how empowerment and disempowerment arise; d) mentalising, emerging from secure attachment, is a crucial factor in the empowerment which analysis promises. In what follows, I expand and offer case-material to illustrate these points.
The ethic of empowerment Chambers Dictionary (1972) defines power as follows: »the capacity for producing an effect; strength; energy; right to command, authority«. All are relevant to psychotherapy. Therapists hope that treatment will enhance their clients’ »capacity for producing an effect« – efficacy, a strengthened sense of self, the ability to be an »author«-ity in the sense of knowing oneself, of being an »author« of one’s own life. Power in itself is neutral. Its potential use for good or ill and can be captured in a series of binary oppositions: tyranny versus democracy; heteronomy versus autonomy; master/slave relationship versus a contractual one freely entered into; power over versus power to; conformism versus agency; overpowering versus empowerment; omnipotence/impotence versus potency. Psychoanalysis allies itself with the positive side of this ethic, seeing empowerment as coming about primarily through enhanced self-understanding. Scientia potentia est: knowledge is power. But knowing extends beyond knowing oneself – it entails knowing oneself-in-relation-to others, others-in-relation-tooneself. This leads us to the recently coined term mentalising (Fonagy, 2006; Fonagy et. al., 2002; Gergely, 2008), which can be defined as »seeing oneself from the outside and others from the inside« (Holmes, 2006), and, crucially, being able to differentiate »things as I perceive/ feel them», from »things as they truly are«. Empowered by the ability to make that distinction, people’s chances of successfully negotiating their relationships are enhanced.
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Psychoanalysis and power Implicit in the dictionary list above are contrasting »scientific» and social definitions of power. For Freud, schooled within a 19th Century scientific paradigm, power equates with the quasi-material energy of a drive, whether libidinous, aggressive, or death-seeking. The power of untamed, un-grasped, unconscious forces push us like billiard balls (or planetary bodies) towards unhappiness and neurosis. By contrast, Adler, a forerunner of relational psychoanalysis, addressed the social aspects of power. Inherent in any human relationship is a power relationship, whether it be the nuclear family or imperial Rome. Who has power over whom, and how is that power wielded? The power of the baby’s cry is pitted against that of the – ultimately – potentially infanticidal parent (Hrdy, 2000). People cannot be separated from their social matrix – we are embedded in concentric rings of relationships, from primary care-giver, father, family, group, to wider society and the myriad power relations that exist within each niche of that matrix. The power relationship between analyst and patient needs to be examined as objectively as the drives, including the putative »drive to power«. The British State differentiates »Powers spiritual« (the Clergy) versus »Powers temporal« (the apparatus of Government – Monarch, Parliament etc). Racially excluded from the »corridors of power«, Freud aimed to make inroads on powers spiritual. In a group context (Freud, 1921) saw external power relationships as essentially regressive, infantile, and malign. The power of the leader mobilises primitive oedipal wishes and fears. Psychoanalysis struggles to this day to establish itself as a »power temporal«. In any power relationship, there is a need for an absolute authority, a »final court of appeal«, to settle power disputes. Family therapists emphasise how the »combined parent« – the executive rather than sexual aspects of a spousal relationship – are stronger than adolescent challenge, however rebellious. In society »the rule of law« is a hallmark of civilisation. Democratic and authoritarian tendencies co-exist within psychoanalysis. Freud is routinely, sometimes genuflectively, invoked as the font. The authority of the founding fathers (and mothers) and the apostolic succession to senior analysts is still a
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significant feature, bringing with it inevitable fissures and splits. But open discussion and listening to opposing views is, or should be, also intrinsic to the psychoanalytic ethos, difficult though it often is in practice (Tuckett et al., 2008). Power is indispensable to health, physical and psychic (poverty, i. e. economic powerlessness, is associated with excessive morbidity and mortality). Power provides access to the resources we need to survive, reproduce and live well: security, material, sexual, and »social capital« (esteem, recognition, popularity etc). Ultimately the purpose of power is, as Freud saw it, »love« – the survival & multiplication of our selfish genes. But game theory shows that under normal circumstances cooperation and mediated power strategies more likely to be successful than the machiavellian exercise of naked power (Dawkins, 1976). When the search for unbridled power becomes an end in itself, it is ultimately empty. Most political careers end in »failure«. Shelley’s Ozymandias invites future generations to »look on my ruins and despair«; the great king had, in Kiergegaard’s phrase »lived forwards, understood backwards«. Mentalising enables one more effectively to »live forward«, and thereby reduce one’s chances of failure and despair. For Freud (1917) an appeal to »reality« was the ultimate arbiter of psychic health; neurosis is always a »turning away from reality«. Psychoanalysis is a power relationship whose aim is to deconstruct power relations. Via »co-mentalising«, psychoanalysis is an interpersonal methodology for finding the truth about oneself, rather a set of specific »truths« or interpretations.
Attachment theory and power From an attachment perspective, power and security are closely linked. The »secure base« provider has the power to make the vulnerable individual safe. The weak seek out those with power for their protection, both individually and collectively. Attunement, trust, responsiveness, and »mind-mindedness« on the part of the secure base provider are all features of a secure attachment relationship in infants and toddlers. Mentalising skills characterise secure adults vis-à-vis themselves and
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their offspring. To mentalise is to acknowledge the perspectival nature of thought (Allen u. Fonagy, 2006). The capacity to reflect on power diminishes its absolutism. A secure individual is not only safe, but also empowered – to explore the world and to find her own inner power and security. A recent study (Slade, 2005; 2008) identified two crucial characteristics in mothers whose children could be said to display the features of empowerment – to engage productively with their inner and outer worlds, able to play either on their own or collaboratively, and to ask for help or companionship when they needed or wanted it. The first was mentalising, as defined above; the second »mastery«, which communicates to the child a sense of an adult who can protect a safe space within which fun and growth can take place. The Grossman’s (Grossman, Grossman u. Waters, 2005) longitudinal studies of child development came to similar conclusions, especially about the father’s role in giving a child not just a comforting message about security, but also an empowering »you can do it« message within a secure boundary. In secure attachment the secure-base provider takes care of the power needed for psychological growth to proceed. By contrast, in Insecure Attachment the power aspects of the care-giver/care-seeker relationship predominates, inhibiting exploration. Power remains problematic for the care-seeker, rather than being effortlessly transferred, via empowerment and a sense of efficacy. The deactivating, insecure-avoidant, individual (Main, 1995; Mallinckrodt et al., 2008) tends to have had a care-giver, however »loving«, for whom power predominates over sensitivity. He therefore diminishes his felt and expressed needs in order to achieve a modicum of security. Later when he enters school he may »identify with the aggressor« and become a »bully«. By contrast, the hyperactivating, insecure-ambivalent, individual is likely to have had an untrustworthy care-giver. In order to ensure attention, she exaggerates her dependency needs, thereby learning to wield »weak« or victim power. In disorganised attachment the care-giver is either powerless (helpless/frightened) or power-hungry (intrusive/self-referential). Power comes to predominate over all other aspects of relationship. In the case of the frightened care-giver there may be subsequent role-reversal, where the child becomes inappropriately powerful vis-à-vis her moth-
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er. The intrusive/hostile pattern leads to an even more pronounced identification with the aggressor, in which the abused may becomes him-/herself an abuser. In Sado-masochistic relationships the master always has a willing slave at hand as a receptacle for his projected inner weakness and vulnerability; the slave always has a master to protect her, however much she has to sacrifice her autonomy to achieve that. Adler’s concept of »organ inferiority« can be seen as a precursor of the concept of insecure attachment (Ansbacher u. Ansbacher, 1985). The »will to power« is a response to that insecurity: »never again will I feel powerless if I become master and enslave others as receptacles for my projected helplessness«. For Freud, Oedipus’s fate is universal: his blindness to the inner power of the »Oedipus complex« means that he is phylogenetically condemned to desire his mother and hate his father. For Adler, Oedipus can be understood relationally, and in terms of lived experience. He compensates for his »organ inferiority« – the damaged/swollen foot that gives him his name – with the »drive to power«. Abandoned on a mountain top, without protective parents, he cannot contain and accept his own vulnerability, although his crippled nature enables him to »read« the Sphinx’s message – he knows the tottering transience of man’s upright gait. He is blind not to his sexual and aggressive drives, but to his weakness, or, to vary the myth, his Achilles heel. His infantile helplessness metamorphoses into a tragic drive for power rather than mentalised empowerment. If he can »marry« his mother he will have an ever-ready secure base; by killing his father and usurping the Theban throne he wreaks revenge for his weakness, and this means that he evades facing his own mortality.
How does psychoanalytic therapy empower? How does analytic therapy empower patients? For Freud, understanding that one’s unhappiness is self-generated, albeit unconsciously, liberates. Knowledge, enables the charioteer to control rather than be controlled by the »horse-power« of the unconscious. A Kleinian perspective holds that analysing projective processes in the transference leads to reclamation of previously disowned or inaccessible parts of
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the self (Britton et al., 1989). Winnicott’s model (1971) of analysis as »learning to play«, implies accessing the power of the imagination. But how, in the minute to minute cut-and-thrust of the analytic session does this new power-enhancing knowledge arise? From an attachment perspective, the power relationship between patient and therapist is both real and transferential. A fundamental attachment principle is that a person in distress – at whatever stage in their life-cycle – seeks out an older, wiser secure base in order to alleviate anxiety. Exploration, including thinking itself, is inhibited until attachment needs are assuaged. This is the »real« power that the therapist has to offer her patient. Wielding that power judiciously will empower the client to discover her authentic story via the acquisition of mentalisation skills. Paralleling this real power relationship, »transferential power« comes into play: the projection of absolute power onto the therapist, and its counterpart or »reciprocal role« (Ryle, 1990), the assumption of weakness and vulnerability, often arising, out of sub-optimal attachment patterns in the course of development. The patient may enter therapy longing for total security and protection and understanding. Therapy explores the dialectic between real and transferential power relations. Minute-to-minute, the therapeutic relationship is clouded by transferential mist, seen through a glass darkly; for a while it clears and the patient has the opportunity – a »window of opportunity« – to grasp the ding an sich, before the fog descends once more. As therapy draws to its close, the transference, with luck, begins to dissolve more permanently. The client sees both herself and the therapist for what she is, with their strengths and weaknesses. Empowerment is both a discovery of true potency and a counter-omnipotent acknowledgement of limitations. Cavell (2006), a philosopher and psychoanalyst, has developed Davidson’s concept of »triangulation« to help show how, despite the fact that reality is always filtered through the mind, a child comes to appreciate what is real. The key factor is triangulated referencing. A baby reaches out to a cup. The mother »refers to the cup, verbally, and visually. She says »cup«, lets the child hold and feel and smell it. She »references« it: the baby looks at the cup; looks at the mother looking at the cup; and looks at the mother looking at him looking at the cup. A triangle is formed: mother-child-cup. Parent and child are
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both looking at the »same« cup, albeit not quite the same, since they both have their unique »point of view«. The child begins to compute the reality of the cup, fixed via language, and the overlap of his own experience with that »offered« to him by his mother’s imaginative identification with his own. While this example refers to a physical object, the same principles apply to the emotional understanding implicit in mentalising. The security-inducing care-giver presumes that the child has a mind, different from, but similar to, her own; that despite their differing perspectives, there is a shared cup, »out there«. It is real; the cup is an objective fact; it is the case that it exists. Similarly, if the child is happy, or upset, the mentalising mother attributes desires and intentions to a distinct sentient being immersed in his/her own experiential world, and via »mirroring« and naming, helps the child to begin to »see« his/ her own feelings, which are no less real than the objective world. In psychotherapy, the »cup« now becomes the patient’s feelings; the triangle patient, therapist, and the patient’s lived life-experience. The reality of the latter is what is at stake. The more the patient can come to recognise his feelings and the contexts in which they arise, name them, and to be able to differentiate them from »reality«, the more empowered he becomes. Transferential feelings are essentially those in which the external referent is archaic rather than contemporary. These »archaic« feelings may relate to the need, for security’s sake, to maintain proximity to a powerful object. Differentiating those feelings from what is really the case is empowering. The child who exclaimed »but the emperor has no clothes«, was deconstructing the prevailing transferential perception of the all-powerful emperor as dressed in regal garb. A mentalisation prodigy, he was able on his own to triangulate a) his perception of the emperor (»I can see no clothes«), b) his mentalised presumption of others’ perceptions (»they’ve got it wrong, because for various transferential reasons they need to get it wrong – the emperor’s narcissism, the courtiers’ dependence on his power«), and c) »reality« (»on the balance of probabilities, and insofar as the hypothesis cannot be falsified, the emperor has got no clothes«). Both classical and »relational« models of psychoanalysis veer towards a binary rather than triangular model of empowerment. In
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the classical model the therapist helps the client find the known truths of which he is the guardian. Relational psychoanalysis (Aron ref) rejects the »classical« model of an all-knowing, all-seeing analyst who gradually transmits knowledge to the client, replacing it with a »co-construction model« to which client and therapist’s conscious and unconscious minds contribute. The first is »Platonic« – the client finds his true self in the mind of the therapist, once resistance is overcome (Bion, 1962, 1967). The second is »post-modern« – there is no absolute truth, just coherent stories which are more or less coherent (Aron, 2000). By contrast, the attachment-informed model offered here is »Popperian« (1959). Therapy offers the client a laboratory in which he can explore the reality of his self and his life with the help of a referent, the therapist. A »true« story is assumed to exist, even if our mental models, however coherent, can only approximate to it.
Clinical examples From a theoretical perspective it would be comforting, and consistent with psychoanalytic convention, to argue for a single theoretical construct underpinning therapeutic action – in this case mentalising, via its capacity to put one in touch with reality, as the unique agent of empowerment. However, the real world of therapy is far more messy and multifaceted than theory-builders would have us believe (c.f. Gabbard u. Westen, 2003). Ultimately what makes for empowerment is an empirical question answerable within the methodology of psychotherapy research. I would suggest that psychotherapy enhances empowerment by one or more of the following: – fostering mentalising-skills, and therefore greater appreciation of what belongs to reality, what to transference, as above; – the attunement of the therapist communicates to the patient that they have the power to evoke responses from intimate others; – challenge – giving the patient a sense of having the strength to survive a well-meaning attack, and being seen by the therapist as being able to »take« such a challenge;
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– rearranging the oedipal triangle, with the therapist, rather than the patient, now occupying the excluded »powerless« observing apex (c. f. Steiner, 2008); – humour and playfulness – giving the patient a sense of vitality and significance; – fostering autonomy, so that patients feel more able to can make their own life-decisions and choices; – relinquishing the need of underpowered, hyperactivating individuals to use »down-power« to achieve their goals, and fostering assertiveness; – helping »overpowered« hypoactivating people to be less frightened of their vulnerability, and to see that it doesn’t necessarily compromise genuine potency; – rupture repair (Safran u. Muran, 2000) in which the patient’s genuine complaints about the therapist are listened to and taken seriously. Let us see how these themes play out in some clinical examples.
Case 1: hyperactivationt/mild disorganisation – »down power« Celia, 26, an unmarried junior attorney working in the family division with divorce and child-care clients, had been depressed since student days, and sought help, she said, to »keep her going« through her stressful career choice. She was »underpowered« in the sense that she felt helpless, especially when it came to relationships with men: she »had« to have a boyfriend she said, but had never been able to enjoy sex. Good-looking and intelligent, she was aware of her powers, but somehow could not bring them together in a way that made her feel satisfied with her life. The older of two girls, she was the family high-flyer, a parentified child, keeping, as she saw it, the family in order, and strongly identified with her workaholic father, also a lawyer. She saw her mother as a rather weak and insipid character, always trying to please others, with little identity of her own. She envied her younger sister who seemed to have escaped the family pressure to succeed. Celia was a self-appoint-
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ed second mother to this feckless sibling whom she felt had found the elusive secret of enjoying herself and doing as she pleased. Celia had been depressed at least since high-school days, and described how she would even now binge on chocolate while sitting for hours in front of the TV in a vacant state. She presented in a mildly flirtatious way, as though saying »I’m an attractive girl, in a bit of mess, please come and rescue me, I’m sure you would know how to overcome my sexual difficulties, unlike these inexperienced young men I spend my time with«. At the same time my therapeutic interventions seemed somehow to pass her by. She evinced counter-transference feelings of rivalry and powerlessness. A couple of months into once-weekly therapy, she starting talking with worryingly clear plans about suicide when, having split up with her boyfriend, she almost immediately took up with another man, but developed a vaginal infection which prohibited sex. Before that she had been to several parties where she had, as she put it, »pulled a bloke« – using macho vernacular of sexual liberation that somehow didn’t ring true. As we explored this, it became clear that the idea of being alone was insupportable to her. Her only hope was to have a man, but, in her mind, the only route to power over a man was to offer sex. No sex meant no man, which meant being alone, which meant that she would be better off dead. Seeing me as a powerful older male, she likewise needed to hook me in via a kind of little-girl »sexyness«. In the transference, as in her external life, attachment needs were masquerading as sex. Her »drive for power« over me and other men meant that her vulnerability had to be concealed within a simulacrum of sexuality. A secure baby »knows« that she can excite her care-giver’s interest not in an instrumental way – a vehicle for the parental projections (although those will inevitably be present), a plaything, transitional object, or surrogate sexual partner – but by her very existence. Authentic empowerment vies with inauthentic manipulative power. Celia felt disempowered in a way that threatened her very sense of self. Her »will to power«, »masculine«, identification with success in a competitive profession brought with it feelings of stress and loneliness. She conceived femininity in terms of submission – an Adlerian »inferiority complex« and ever-available sexual access.
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Her sexual anaesthesia exemplified Britton’s et al’s notion (1989) that in hysteria the sufferer vicariously identifies with the parental couple from whom she feels excluded and envious. Her own feelings get lost: in sex Celia played the part of a rapacious father or yielding mother, but was in reality self-estranged. Through sex she was able to make contact with the feelings of the other, as a substitute for being in touch with her own authentic excitement. From an attachment perspective, the initial task was for Celia to develop a more trusting relationship with therapist; this in turn would release her exploratory imagination as her need for security diminished. Celia’s borderline features led to a therapeutic strategy (c.f. Bateman & Fonagy, 2004; Holmes, 2003) containing elements of:
– Reassurance («if you are feeling really desperate you can ring me between sessions«). A degree of flexibility around boundaries is necessary, especially in hyperactivating clients (c.f. Mallinkrodt et al., 2008). The client feels that she has some control over a therapeutic situation which is not implacably rigid and demeaning. – Challenge (»if he drops you just because you can’t make love for a while, is he really worth having?«). Implicit in challenge is a communication that the client is strong and resourceful enough to »take it« – to agree or disagree or modify the gauntlet that has been thrown down. – Humour («realistically, exactly what odds would you put on your ending up barren, loveless and in a nunnery?«). Humour is »democratic« in the sense that the joker makes himself vulnerable when making an »absurd« remark, and lays himself open to ridicule. Genuine humour only works in an atmosphere of trust (the tyrant’s subjects laugh dutifully when their oppressor makes a joke, but the response is inevitably hollow). As therapy progressed, and Celia began to relax, her suicidality receded, and my uncomfortable countertransferential feelings of erotic manipulation and affective distancing diminished. Her mentalisation skills improved in that she was able to think in a more considered way about her fears of abandonment by men, and to acknowledge her boyfriend’s genuine interest in her as a person rather than a sex machine.
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More secure in her narrative competence (Holmes, 2001), she began to talk more fluently, vividly and meaningfully about her feelings, including her sexual life. She was angry and sad when holiday breaks meant missed sessions. I became a person whom she missed rather than an object she needed to control. Ironically, as she began to feel that her boyfriend cared about her as a person and not just a body, their sexual relationship improved and she was able to cope with her tendency to develop thrush infections without being plunged into despair. She moved from an »hysterical« down-power position in which she borrowed or stole other’s sexuality (her parents’; her boyfriends’) to a more authentic owning of her own feminine potency.
Case 2: avoidance – under/over-powerment Peter, a teacher in his mid-40s, came for help in the throes of the breakup of his marriage. His wife had had an affair many years before; he had »forgiven« her, but remained secretly resentful and diminished, and when he met another woman, herself married, he had began an affair which eventually let to the break-up of his marriage. He was illegitimate. His father had supported his mother financially, but Peter had never met him, although as an adult he made a few half-hearted attempts to track him down. His early childhood was spent alone with his hard-working mother, who frequently left him with child-minders, providing a safe but tough home routine in which there was little time for fun or cuddles. Later his mother married; Peter felt rejected by his step-father, especially when two half-siblings were born. Eventually Peter’s mother and stepfather broke up, by which time Peter had joined the Army and found a familiar regime of un-cosy security in its routines and man-to-man relationships, but drawing on the power of the collective to compensate for his feelings of damaged masculinity. Peter was a friendly, apparently easy-going patient who nonetheless often left me feeling uncomfortable, as though something was missing from our sessions. He lived in hope that his lover might leave her husband and children and come to him, but felt unable to claim
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her as his own. He spoke about their exciting sexual relationship, but was clearly bothered by his need to »dominate« and his feelings of triumphant aggression while they were making love. Two power related themes came through in our work together. The first was his lack of identification with a strong father, and therefore his difficulty, despite unequivocal heterosexuality, in asserting his masculinity. Did he have a right to a wife who would be faithful and abandon all for his sake? Peter remained deeply ambivalent about his aggression, which he saw as impossibly destructive. To achieve healthy assertiveness, a boy needs to be able to hate and wish to eliminate his father, and for the father to survive and remain loving and proud of his son. He needs to feel secure enough to hate not just the breast, as Winnicott (1971) conceives it, but also the Oedipal rival: «hello object, I just destroyed you«. This played itself out in therapy, when Peter tentatively, and with encouragement, revealed his anger and disappointment with me at my various failings, particularly when I inadvertently missed a scheduled session. In contrast to Celia, here it was the patient who challenged the therapist; my aim was to contain, and acknowledge; to be neither defensive nor overthrown by his nascent power. Peter’s brusqueness and mild aggression typical of those with avoidant, hypoactivated attachment states of mind. Peter felt reasonably secure with his mother, but had always felt held at a distance by her. Put simply, he felt he had no power over her. In his sex life his avoidant strategies became eroticised in his dominance-submissive sexual fantasies and enactments of split-off power relations. As therapy proceeded, in one session he spoke about how he and his lover had spent the weekend on a botanical ramble. He described how the tutor had focussed on lichens and their biology – which form a symbiotic progression over time from two separate species, fungae and algae, eventually resulting in the emergence of a new free-standing organism. I suggested that this was a beautiful symbol of his situation: if he and his lover could allow themselves to get truly close, and trust the outcome, something genuinely new in his life could arise. Dominance could be replaced by mutual interpenetration, shared rather than unilateral power. In the next session he said he had told his lover of my remark; they
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had laughed at my convoluted »off the wall« interpretation. The imaginative leap from botanical expedition into bedroom and/or nursery, was pleasurable both to me and Peter and his lover, harking back to an all-too-infrequent childhood playful interaction between Peter and his mother – with whom he reported the relationship had become less constrained recently. As with Celia, playfulness seemed to signal a move from a dominance/impotence axis to empowerment. There was an evident »triangle« – Peter, his lover and me. As a child Peter felt the excluded one vis-à-vis his mother, stepfather and his half-siblings. Here he was in the couple relationship and it was I who was the »weak«, playfully mocked outsider. Peter was mentalising in that he saw my metaphor as a product of my mind – something that attempted to describe a reality, but which was as much »wrong« it was »right«. This in contrast to the rigidity associated with pathologies of power – each member of the sado-masochistic pair is assigned a fixed role. In empowered relationships, roles are fluid and interchangeable. A degree of dominance and submission may well be part of a healthy sexual relationship – playing with power, allowing it to become exciting, but always contained within the envelope of safe sexuality.
Case 3: dissolution of the transference John, in his early 40s, was in once-weekly psychoanalytic psychotherapy. His presenting wish was a vaguely expressed desire to »gather my strengths«. He had had a varied life-course, including living in a Tibetan monastery for a while in his 20s, but had settled down, working as a part-time teacher, and devoting himself to his family of three children. He saw his wife, a lawyer, as more of a »high-flyer« than himself, as was his father, a headmaster of a large secondary school. Sent to a high-pressure academic boarding school at 8, he had felt undervalued by and estranged from both his parents, typified, he said, by finding a letter he had written from school signed with both his first and second name, as though he couldn’t otherwise be certain that his parents would know who it came. About a year into therapy he began his session by saying how much
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better he was now feeling, less compelled to control his wife and children, more ready to lead his own life rather than seek out »wise men« (including, by implication, his therapist) who he had thought were in possession of the answers he was looking for. Despite this apparent vote of confidence, I sensed there was an implicit attack in this announcement and that he was somehow angry with, or disappointed in, me. While mulling this over I noticed that a potted plant on my window-sill looked neglected and half-dead for want of watering, thinking to myself that »I must do something about that before my next patient comes«. I said: »I wonder if you are trying out in your mind the idea of leaving therapy«. He said »yes«, hurriedly adding »not immediately of course …«. I asked when the thought had first arisen. »I think it was when I was in your toilet after my last session«, he replied, »it seemed so neglected, so full of cobwebs. It reminded me of my Dad, with his stellar career – yet he neglected all the other parts of his life.« »You included?« I asked. »I can hear a story of disillusionment, or disappointment here …« »No, I don’t feel disappointed, sad perhaps. I realise I’ve made my own choices; what matters to me is my wife and family, the everyday things of life. I feel happy to live by my own lights now, not following an impossible dream of my Dad’s.« »And you seem to be feeling that the so-called ›wise men‹, including me, are an illusion, they neglect what really matters to you; the answers lie within yourself«, I suggested, adding: »I have to confess that I was thinking about that plant over there; it looks, like you, as if could have done with some tender loving care.« »Well, I suppose I do feel angry with you for not transforming me into the perfect person I thought I wanted to be, but also grateful at the same time for the attention and validation you have offered me«, he said. As he left he said jokingly: »I don’t need to go to the toilet today!« I replied in kind: »but it’s pristine, all the cobwebs have been cleared away!« We both laughed; the session seemed to end with a good feeling on both sides. John was deciding to end therapy, prematurely perhaps, but per-
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haps in a more creative and balanced way than the little boy who had to remind himself of his father’s name when writing home. He now knows who he is, and is not. He is more autonomous. He can turn to his »high-flying« wife with his own manhood more firmly established, less needing to be controlling, or to borrow an idealised masculine identity from his »wise men«. His feeling of having being »unwatered« as a child is confirmed, via triangulation, with my sense of having neglected my plants. He can see his feelings for what they are – real but not necessarily appropriate to the context he finds himself in. The »rupture« of the dirty toilet, perhaps a receptacle for his shitty feelings of rage at neglect and lack of care as a child, became a validating moment, moving him from immature dependency (the »wise men«, the high flying wife) to mature dependency (leading his own life, caring for his family). By acknowledging that the toilet was dirty, while at the same time exploring what a »dirty toilet« might represent in his inner world, transference and reality were beginning to be differentiated. This example of rupture repaired gave him a sense of validatory empowerment.
Conclusions Although I have put mentalising at the heart of this paper, the empowerment that is an implicit outcome-goal of analytic therapy comes about through a range of different means. In these concluding remarks I attempt to show how bringing together attachment and psychoanalytic ideas can lead to a more unified view of this process. The current neo-Kleinian model (see Britton et al., 1989) of a successfully negotiated Oedipal phase goes something like this: if a child can tolerate temporary exclusion from the parental couple he gains freedom, begins to develop his own »point of view« and capacity to think for himself, liberating him from dependency and fostering empowerment. The child, as it were, says to himself: »I can see mum and dad want to be alone together; that doesn’t mean that I am forgotten or unimportant; true, I envy them, and wish I could have mum all to myself, but I know that’s just a feeling and will soon pass; if I’m really upset and call for comfort, they’ll be there for me; my mum seemed to
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know what I was feeling when I was a baby, I am beginning to see that they have feelings too; sometimes I want to spend time with my Dad, and mum doesn’t seem to mind being left out, in fact she positively encourages it, so it’s probably OK me feeling left out right now; I can let them have their power temporal, me my power spiritual, rather than having to try to wrest power from them with my screams and hatred, or self-hatefully despair at my own powerlessness.« This idealised reconstruction suggests the beginnings of mentalising skills in the healthy child. Attachment Theory sees those skills as having their origins in the mother’s capacity for mentalising, now internalised by the child, and in her capacity to provide a secure base from which the child is able to explore his feelings, and to make the move away from mum into the wider world, provided and guarded by dad. The child’s power to think about thinking, and to »move« freely, have their origins in the secure base. Where the base is insecure, then reflexive thought and movement are compromised. Where there is no empowerment, then, paradoxically, power becomes a salient feature of relationships. In all three cases the patient moved from being fixed in the excluded »oedipal child« position to a more fluid world in which the therapist could occupy this autonomous, »powers spiritual« reflecting role, while the patient became part of a »powers temporal« pair – Celia and her boyfriend, Peter and his partner, John and his wife. Challenge gave Celia the message – »you are a big girl, you can cope with being alone for a while, so long as you feel there is someone to call on if needs be«. In all three cases humour emphasised the ultimate absurdity of mistaking thought for reality. Rupture repair, especially with Peter and John, was both about the real failures of sensitivity on the part of the therapist, but also the inevitable discrepancy between wishes and reality.
Summary 1. The client enters therapy hoping to acquire power from an allknowing therapist. 2. This wish is realistic in so far as the therapist provides the security
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that is the precondition for thinking and, via triangulation, helps the client compare his perceptions with those of an intimate, accepting but non-collusive, other. This triangulation is the foundation of mentalising skills. Psychotherapy is inherently reflexive in that the mind itself is the object of triangulation. Mentalising the relationship with the therapist enhances the client’s grasp on psychic life and helps him differentiate wishful perception from reality. What the client gets from therapy is not simply a new story about himself, whether analyst-derived or co-constructed, but a new interpersonal method of apprehending reality. The life-story, encoded in language is vital; its veracity depends on mentalised triangulation. This, rather than any specific interpretation, is what is empowering and autonomy-enhancing about analytic therapy.
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Power, empowerment, and mentalising In this paper the author looks at power relations between parents and infants from the perspective of attachment theory: securely attached children are empowered by their caregivers to explore themselves and their world; in insecure attachment a more authoritarian power relationship is established. The implications of this for psychotherapy are explored using clinical material.
1 Aus dem Englischen ins Deutsche übersetzt von Ronald Wiegand, assistiert von Kristin White. 2 Mentalising, mentalised wären ins Deutsche wohl zu übersetzen als Selbstreflexion, selbtreflektiert, jedenfalls im Lichte der Auslegung, die Jürgen Habermas 1968 vorschlug und die anschließend zitiert ist. Dem stand jedoch entgegen, dass in psychotherapeutischen Fachkreisen die direkte Anlehnung an den englischen Ausdruck derzeit als professioneller gilt. »Eine durch Lehranalyse erworbene Selbstkontrolle ist freilich nicht nur nötig, um während der Analyse die Überlegenheit dessen zu wahren, der in Interaktionen eintritt, in ihnen eine gewisse Distanz bewahrt und planmäßig die Interaktionsmuster verändert. Noch wichtiger ist der Umstand, dass sich der Patient überhaupt nur bis zu der Stufe der Selbstreflexion emporarbeiten kann, auf der ihm der Arzt entgegentritt. Selbstreflexion ist keine einsame Bewegung, sondern an die Intersubjektivität einer sprachlichen Kommunikation mit einem Anderen gebunden; das Selbstbewusstsein konstituiert sich am Ende nur auf der Basis gegenseitiger Anerkennung. Wenn der Arzt den Patienten von der Übertragungssituation sich lösen lässt und als ein autonomes Ich freigibt, müssen die Subjekte eine Stellung zueinander einnehmen, in der der Entlassene weiß, dass die Identität des Ich allein durch die von seiner Anerkennung ihrerseits abhängige Identität des Anderen, der ihn anerkennt, möglich ist« (Habermas, J.: Erkenntnis und Interesse. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1968, S. 290, Anm. 56).
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Zusammenfassung Der Autor betrachtet von der Bindungstheorie her das Machtverhältnis in Eltern-Kind-Beziehungen: Kinder mit sicherer Bindung werden von ihren Eltern ermutigt, sich und ihre Welt zu erkunden; bei unsicherer Bindung wird eher eine autoritäre Machtbeziehung durchgesetzt. Welche Auswirkungen das in Psychotherapien hat, wird an Fallbeispielen erörtert. Eltern befinden sich ihren Kindern gegenüber in einer Machtposition; und ebenso üben Psychotherapeuten, zumindest auf einer symbolischen Ebene, Macht über ihre Patienten aus. Der Analytiker definiert die Regeln der Beziehung, er stellt den Raum zur Verfügung, er bestimmt – sei es auch durch Verhandlung und Vertrag – die Häufigkeit und die Länge der Sitzungen, und er entscheidet, wie er am besten in das Leben des Klienten hineinwirkt, oder auch nicht. Theoretisch kann der Patient über den Vertrag streiten wollen, und er kann auch, anders als ein Kleinkind es könnte, die Therapie jederzeit verlassen. Dennoch bedeutet Patient zu sein, sich, ob unbewusst oder nicht, mit der eigenen Verwundbarkeit und Ohnmacht dem Analytiker mit seinem Wissen und Können auszuliefern. Geht alles gut, so ist am Ende der Therapie der Spieß umgedreht. Jetzt liefert die Verwundbarkeit der Therapeutin, die in ihrer Gegenübertragung zum Vorschein kommt, und ihre Machtlosigkeit außerhalb des Behandlungszimmers einen Machtzuwachs für die Patientin, die die Therapie nun verlässt, um ihr eigenes Leben zu führen, während der Analytiker, zumindest für den Augenblick, verlassen zurückbleibt. Das will ich nun in vier Thesen diskutieren: a) Es gibt eine der Psychotherapie innewohnende Ethik, deren anerkannte Machtentfaltung den krankhaften Formen der Machtausübung gegenübertritt – wobei Letztere für gewöhnlich als Gefühl der Machtlosigkeit auftreten oder als Überwältigung; b) Machtbeziehungen sind in der psychoanalytischen Literatur eher wenig beachtet worden, wovon der Abtrünnige Adler eine rühmliche Ausnahme macht; c) die Bindungstheorie liefert einen entwicklungspsychologischen Rahmen, um zu erklären, wie Machterwerb und Machtverlust zustande kommen; d) Mentalisierung, aus sicherer Bindung erwachsend, ist ein entscheidender Faktor bei demjenigen Machterwerb, den Psychotherapie verspricht. Das will ich im Folgenden näher ausführen und an Fallbeispielen illustrieren.
Die Ethik des Machterwerbs Das Chambers-Lexikon (1972) definiert Macht als: die Fähigkeit, etwas zu bewirken; Stärke; Kraft; Befehlsrecht; Autorität. All diese Punkte sind für die Psychotherapie relevant. Psychotherapeuten
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hoffen, dass die Behandlung die Fähigkeit ihrer Patienten verbessern wird, »etwas zu bewirken« – verstanden als Wirksamkeit, als gestärktes Selbstgefühl, als Fähigkeit, eine Autorität zu sein im Sinne von Vertrautheit mit sich selbst, von Autorschaft für das eigene Leben. Macht ist an sich neutral. Die Möglichkeit, sie für Gutes oder Böses einzusetzen, kann in einer Reihe von Gegenbegriffen erfasst werden: Tyrannei versus Demokratie; Fremdbestimmung gegen Selbstbestimmung; Herr-Knecht-Beziehung versus freiwillig eingegangene Vertragsbeziehung; Macht über versus Fähigkeit zu; Konformismus versus reguläre Vermittlung (»agency«); Überwältigung versus redlicher Machterwerb; Allmacht/Ohnmacht versus Könnenskraft. Psychotherapie verbindet sich mit der positiven Seite dieser Ethik, sie sieht Machtzuwachs vor allem aus gesteigerter Selbstkenntnis hervorgehen. Scientia potentia est: Wissen ist Macht. Doch reicht Wissen über das Wissen um sich selbst hinaus – es beinhaltet auch das Wissen um die eigene Bezogenheit auf andere und um die Bezogenheit anderer auf mich. Und das führt uns zu dem neuerdings geprägten Ausdruck Mentalisieren (Fonagy, 2006; Fonagy et al., 2002; Gergeley, 2008), der übersetzt werden kann als »Sich-selbst-von-außen-Sehen und Andere-von-innen-Sehen«. Von entscheidender Bedeutung ist, dass Mentalisieren uns befähigt zu unterscheiden zwischen den »Dingen, wie ich sie sehe oder empfinde« und den »Dingen, wie sie wirklich sind«. Wenn Menschen zu dieser Unterscheidung befähigt werden, haben sie bessere Möglichkeiten, ihre mitmenschlichen Beziehungen zu gestalten.
Psychoanalyse und Macht In den vorhin aufgelisteten Gegenüberstellungen von Machtmerkmalen ist eine Differenz zwischen einer »wissenschaftlichen« und einer sozialen Definition enthalten. Für Freud, der im Rahmen der Wissenschaftsauffassung des 19. Jahrhunderts dachte, lief Macht auf so etwas wie eine quasi-materielle Triebenergie hinaus, ob nun als libidinös oder aggressiv aufgefasst, oder als Todestrieb. Die Macht ungezähmter, unbegriffener, unbewusster Kräfte stößt uns wie Billardkugeln (oder wie Planetenkörper) vor sich her in Richtung Unglück oder Neurose.
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Adler als Vorläufer der interpersonalen Psychoanalyse richtete den Blick auf die Beziehungsaspekte der Macht. Jeder menschlichen Beziehung wohnt eine Machtbeziehung inne, ob es sich dabei um die Kernfamilie handelt oder um das imperiale Rom. Wer hat Macht über wen, und wie wird diese Macht ausgeübt? Da wird die Macht des Säuglingsschreis ins Rennen geschickt gegen diejenige des – in letzter Konsequenz – möglicherweise kindsmörderischen Elternteils (Hrdy, 2000). Menschen können nicht isoliert werden von ihrem sozialen Untergrund – wir sind eingebettet in konzentrische Ringe sozialer Beziehungen, angefangen von der ersten bemutternden Person über Vater, Familie, Gruppe bis hin zur weiteren Gesellschaft und den Myriaden von Machtbeziehungen, die in jedem Winkel dieses Netzgewebes vorhanden sind. Die Machtbeziehung zwischen Analytiker und Patient bedarf ebenso objektiver Untersuchung wie die Triebe, eingeschlossen den gemutmaßten »Machttrieb«. Der britische Staat unterscheidet »geistliche Mächte« (Klerus) von »weltlichen Mächten« (Regierungsapparat – König, Parlament usw.). Freud, von den Fluren der Macht durch Rassismus ausgesperrt, versuchte bei den geistlichen Mächten zu arrivieren. Gruppenpsychologisch gesehen, hielt er die äußeren Machtbeziehungen ihrem Wesen nach für regressiv, infantil und bösartig. Die Macht des Führers mobilisiert hier primitive ödipale Wünsche und Ängste. Die Psychoanalyse müht sich bis heute damit ab, sich selbst als »weltliche Macht« zu etablieren. In jeder Machtbeziehung gibt es das Verlangen nach einer absoluten Autorität, einem »höchsten Berufungsgericht«, um Machtstreitigkeiten beilegen zu können. Familientherapeuten betonen, dass die Elternkoalition – wobei mehr die handlungsmäßige als die sexuelle Seite der ehelichen Beziehung gemeint ist – den Herausforderungen der Heranwachsenden überlegen ist, wie rebellisch sie auch immer sein mögen. In der Gesellschaft gilt die »Herrschaft des Gesetzes« als Wertsiegel der Zivilisiertheit. In der Psychoanalyse gibt es demokratische und autoritäre Tendenzen gleichermaßen. Gewöhnlich wird Freud, manchmal sogar kniefällig, als letzte Instanz angerufen. Die Autorität der Gründungsväter (und -mütter) und die apostolische Nachfolge älterer Analytiker ist immer noch ein bedeutsamer Vorgang, der unausweichlich Risse und Spaltungen mit sich bringt. Aber
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offene Diskussion und das Anhören gegenteiliger Ansichten wohnen dem psychoanalytischen Ethos ebenfalls inne, oder sollten es doch, so schwierig das in der Praxis auch ist (Tuckett et al., 2008). Macht zu haben, ist für die körperliche und seelische Gesundheit unverzichtbar. Ich füge hinzu: Armut, verstanden als ökonomische Machtlosigkeit, ist in hohem Maße mit Kranksein und Sterblichkeit verbunden. Macht bietet Zugang zu den Mitteln, die wir brauchen um zu überleben, Kinder großzuziehen und uns wohlzufühlen: materielle und sexuelle Sicherheit, und »Sozialkapital« (Wertschätzung, Anerkennung, Popularität usw.). Letztlich ist der Zweck der Macht »Liebe« im Sinne Freuds – die Erhaltung und Weitergabe unserer egoistischen Gene. Andererseits zeigt uns die Spieltheorie, dass unter normalen Bedingungen Strategien der Zusammenarbeit und des indirekten Machteinsatzes den Erfolg wahrscheinlicher machen als die machiavellistische Ausübung nackter Gewalt (Dawkins, 1976). Wenn das Streben nach zügelloser Gewalt zum Selbstzweck wird, läuft es letztlich leer. Die meisten politischen Karrieren enden im »Misserfolg«. Shelleys Ozymandias ruft künftige Generationen dazu auf, »auf meine Ruinen und auf meine Verzweiflung zu blicken«; der große König hatte, in Kierkegaards Worten, »vorwärts gelebt, rückwärts verstanden«. Mentalisierung befähigt dazu, wirksamer »nach vorn zu leben« und dadurch die Gefahr des Misslingens und Verzweifelns zu verringern. Für Freud (1917) war eine Anrufung der »Realität« höchste Vermittlungsinstanz für seelische Gesundheit; Neurose ist immer ein Sichabwenden von der Wirklichkeit. Psychoanalyse ist eine Machtbeziehung, die auf den Abbau von Machtverhältnissen abzielt. Über gemeinsames Mentalisieren ist Psychoanalyse eine zwischenmenschliche Methode, die Wahrheit über sich selbst herauszufinden, oder vielmehr einen ganzen Satz besonderer »Wahrheiten« oder Deutungen.
Bindungstheorie und Macht Von einer bindungstheoretischen Perspektive aus sind Macht und Sicherheit eng miteinander verknüpft. Derjenige, welcher eine »sichere Basis« (»secure base«) liefert, hat die Macht, das verletzliche
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Individuum zu schützen3. Die Schwachen wählen den Mächtigen für ihren Schutz aus, auf individueller Ebene ebenso wie auf kollektiver. Feinfühligkeit, Vertrauenswürdigkeit, Ansprechbarkeit und psychologische Wachheit (mind-mindedness) auf Seiten dessen, der die sichere Basis liefert, sind alles Voraussetzungen für eine sichere Bindung des Säuglings und Kleinkinds. Mentalisierungsfähigkeiten sind charakteristisch bei Erwachsenen, die sich selbst und ihren Kindern gegenüber sicher sind. Mentalisieren heißt, die perspektivische Natur des Denkens anzuerkennen (Allen u. Fonagy, 2006). Die Fähigkeit, über Macht nachzudenken, wirkt ihrem Absolutwerden entgegen. Ein sicher gebundener Mensch ist nicht nur sicher, sondern auch gerüstet – nämlich die Welt zu erkunden und seine eigene innere Kraft und Sicherheit zu finden. In einer jüngeren Studie (Slade, 2005; 2008) wurden zwei entscheidende Merkmale von Müttern herausgefunden, von deren Kindern man sagen konnte, sie zeigten Züge von Stärke (– nämlich sich auf ihre innere wie äußere Welt produktiv einzulassen, entweder eigenständig oder im Zusammenwirken mit anderen; und um Hilfe oder Beistand zu bitten, wenn sie sie brauchten oder wünschten). Das erste Merkmal war Mentalisierung, wie oben beschrieben; das zweite war »Meisterschaft«, durch die dem Kind der Sinn für einen Erwachsenen vermittelt wird, welcher einen sicheren Raum gewährleisten kann, in dem Freude und Wachstum statthaben können. Die Grossman‘schen Längsschnitt-Untersuchungen zur kindlichen Entwicklung (Grossman u. Ewaters, 2005) kamen zu ähnlichen Schlussfolgerungen, besonders auch über die Rolle des Vaters dabei, dem Kind nicht nur ein wohltuendes Sicherheitsgefühl zu vermitteln, sondern ebenso auf dieser sicheren Basis ein ermutigendes »du kannst es schaffen« (innerhalb sicherer Grenzen). Im Fall sicherer Bindung geht der Schutzgewährende sorgsam mit der Macht um, die benötigt wird, um seelisches Wachstum vorankommen zu lassen. Im Gegensatz dazu steht bei unsicherer Bindung
3 Auch die »secure base« wurde in Rücksicht auf fachsprachliche Gepflogenheiten durchgängig mit »sichere Basis« übersetzt, wenngleich »sichere Grundlage« oder »sicherer Boden« den Sachverhalt oft anschaulicher machen würden.
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zwischen dem Schutzgewährenden und dem Schutzsuchenden der Machtaspekt im Vordergrund und darf nicht infrage gestellt werden. Für den Schutzsuchenden bleibt die Macht problembehaftet, anstatt dass sie mühelos vermittelt wird, durch Ermutigung und einen Sinn für die eigene Kraft. Das bindungsunterdrückende (»deactivating«) unsicher-vermeidende Individuum (Main, 1995; Mallinckrodt et al., 2008) hat meistens eine Betreuungsperson, wie angeblich »liebevoll« auch immer, bei der die Machtfrage vor der Einfühlungsbereitschaft steht. Darum wird es seine gefühlten und angemeldeten Bedürfnisse klein halten, um so ein Mindestmaß an Sicherheit zu erreichen. Wenn es später zur Schule kommt, wird es sich vielleicht »mit dem Aggressor identifizieren« und ein »Schlägertyp« werden. Anders wiederum beim unsicher-ambivalenten Individuum, das sein Bindungsverhalten übermäßig aktiviert und beim hyperaktiven Individuum, das häufig eine unzuverlässige Betreuungsperson hat. Um sich Aufmerksamkeit zu sichern, wird es sein Anlehnungsbedürfnis übertreiben und dabei lernen, durch »Schwäche« oder durch die Opferrolle Macht auszuüben. Eine Betreuungsperson mit desorganisiertem Bindungsstil ist entweder machtlos (hilflos/verängstigt) oder machthungrig (zudringlich/ selbstbezogen). Die Machtfrage überlagert hier alle anderen Seiten der Beziehung. Im Fall der verängstigten Betreuungsperson kann es später zu einem Rollentausch kommen, bei dem das Kind gegenüber der Mutter unangemessen mächtig wird. Das zudringlich-feindselige Muster verführt zu einer noch betonteren Identifikation mit dem Aggressor, so dass aus dem oder der Missbrauchten selber ein Täter werden kann. In sado-masochistischen Beziehungen hat der sadistische Part einen willig sich Unterwerfenden zur Seite, einen Behälter für die Projektion seiner inneren Schwäche und Verwundbarkeit; die Masochistin hat immer einen Beschützer zur Seite, wie sehr sie dabei auch ihre Selbständigkeit aufopfern muss, um diesen Schutz zu erhalten. Adlers Konzept der »Organminderwertigkeit« kann als Vorläufer des Konzepts der unsicheren Bindung betrachtet werden (Ansbacher u. Ansbacher, 1985). Der »Wille zur Macht« ist eine Antwort auf diese Unsicherheit: »Nie wieder werde ich mich ohnmächtig fühlen, wenn ich selbst Herr werde, andere knechte und sie zum Behälter mache für meine projizierte Hilflosigkeit«. Freud wiederum hielt das Schicksal
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des Ödipus für allgemein: Seine Blindheit für die innere Macht des »Ödipus-Komplexes« bedeutet, dass er stammesgeschichtlich dazu verdammt ist, seine Mutter zu begehren und den Vater zu hassen. Aus Adlers Sicht lässt sich das Ödipusdrama interaktionell ausdeuten, in Worten gelebter Erfahrung. Er kompensiert seine »Organminderwertigkeit« – den verkrüppelten und geschwollenen Fuß, der ihm den Namen gibt – durch seinen »Machttrieb«. Im Gebirge ausgesetzt, ohne den Schutz der Eltern, kann er seine eigene Verwundbarkeit nicht aushalten und annehmen, obwohl seine Verkrüppelung ihn befähigte, die Botschaft der Sphinx zu »lesen« – denn er kannte die schnelle Vergänglichkeit des aufrechten menschlichen Ganges. Blind ist er nicht gegenüber seinen sexuellen und aggressiven Triebimpulsen, sondern gegenüber seiner Schwäche oder, um den Mythos zu wechseln, gegenüber seiner Achillessehne. Seine kindliche Hilflosigkeit verwandelt sich tragisch in den Machttrieb statt in einen mentalisierten Mut. Wenn er sich seiner Mutter »verbinden« kann, wird er eine stets dienstbare sichere Basis haben; indem er seinen Vater tötet und den Thron Thebens an sich reißt, bewirkt er Rache für seine Schwäche und glaubt, seine eigene Sterblichkeit verleugnen zu können.
Auf welche Weise wirkt psychoanalytische Therapie machtstärkend? Wie macht psychoanalytische Therapie ihre Patienten stärker? Nach Freud wirkt sie befreiend, indem sie verstehen macht, dass das eigene Unglücklichsein selbstproduziert ist, wenngleich unbewusst. Das Wissen befähigt den Wagenlenker zu lenken, statt von den »Pferdestärken« des Unbewussten gelenkt zu werden. In Kleinianischer Sicht ist es die Analyse der in der Übertragung ablaufenden Projektionen, welche zur Rückgewinnung der vormals verleugneten oder unzugänglichen Teile des Selbst führt (Britton et al., 1989). Winnicotts (1971) Modell der Analyse als »Spielen lernen« enthält die Absicht, Zugang zur Macht des Schöpferischen zu gewinnen. Doch wie taucht im minütlichen Hin-und-Her der analytischen Sitzung dieses neue machtstärkende Wissen auf? Aus der Bindungsperspektive ist die Machtbeziehung zwischen Patient und Therapeut so-
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wohl wirklich als auch übertragungsbedingt. Eine Grundannahme der Bindungstheorie besagt, dass eine Person in innerer Notlage – gleichgültig an welcher Stelle ihres Lebensbogens – nach einem älteren, weiseren, sicheren Stützpunkt suchen wird, um Angst abzubauen. Solange dieses Bindungsbedürfnis nicht beruhigt ist, kann die Notlage nicht erkundet, kann über sie nicht nachgedacht werden. Genau dies ist die »reale« Macht, welche der Therapeut seiner Patientin erreichbar machen muss. Wenn er seine Macht klug ausübt, ermutigt er die Patientin, ihre eigene wirkliche Geschichte zu entdecken, indem sie die Fähigkeit zur Mentalisierung erwirbt. Parallel zu dieser realen Machtbeziehung kommt die Macht der Übertragung ins Spiel: die Projektion absoluter Macht auf den Therapeuten und ihr Gegenstück oder die »reziproke Rolle« (Ryle, 1990), nämlich die Annahme von Schwäche und Verwundbarkeit, oftmals entstanden aus einem wenig guten Bindungsmuster in der Vorgeschichte. Der Patient mag die Therapie beginnen, weil er für sich totale Sicherheit und Schutz und Verständnis ersehnt. In der Therapie wird die Dialektik zwischen der realen Machtbeziehung und der Übertragungsbeziehung erkundet. In jeder Minute wird dabei die therapeutische Beziehung überschattet vom Übertragungsnebel, der wie ein dunkles Glas wirkt; zwischendurch klart es auf und der Patient hat – im »richtigen Moment« – Gelegenheit, das Ding an sich wahrzunehmen, bevor sich der Nebel aufs neue niedersenkt. Mit Glück beginnt sich die Übertragung dauerhafter aufzulösen, wenn die Therapie ihrem Ende entgegengeht. Die Patientin sieht sich und den Therapeuten so wie beide sind, mit ihren Stärken und Schwächen. Der Machtgewinn liegt in einem Doppelten, nämlich dem Erkennen des eigenen Könnens und Vermögens, und im allmachtskritischen Anerkennen von Grenzen. Cavell (2006), ein Philosoph und Psychoanalytiker, hat Davidsons Konzept der »Triangulation« so aufbereitet, dass er zeigen kann, wie ein Kind dazu kommt, die Wirklichkeit anzuerkennen, und zwar dem Umstande zum Trotz, dass Realität immer durch unsere geistige Verarbeitung gefiltert ist. Den entscheidenden Faktor bildet die Bezugnahme auf einen Dritten. Ein Baby greift nach einer Tasse. Die Mutter bezieht sich mimisch und mit Worten auf die Tasse. Sie sagt »Tasse« und lässt das Kind danach fassen, sie berühren und beriechen. Sie »bezieht sich darauf« meint: Das Baby schaut nach der Tasse;
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es sieht die Mutter an, die auf die Tasse schaut; und es sieht auf die Mutter, die es beim Anschauen der Tasse anschaut. Ein Dreieck formt sich: Mutter – Kind – Tasse. Beide, Mutter und Kind, schauen auf die »selbe« Tasse, wenn es auch nicht ganz dieselbe ist, weil jeder der Beiden seinen eigenen Blickpunkt hat. Das Kind beginnt die Realität der Tasse zu speichern, vermittelt durch Sprache und durch die Überschneidung seines eigenen Erlebens mit dem Angebot der sich einfühlenden Mutter. Während sich dieses Beispiel auf ein physisches Objekt bezieht, gilt das gleiche Prinzip auch für das Verstehen von Gefühlen, das der Mentalisierung inhärent ist. Die Sicherheit verschaffende Betreuungsperson geht davon aus, dass die Wahrnehmungsverarbeitung des Kindes zwar anders ist, aber doch der eigenen ähnlich; dass es trotz ihrer unterschiedlichen Perspektiven »da draußen« eine gemeinsame Tasse gibt. Sie ist real; die Tasse ist eine objektive Tatsache; sie existiert tatsächlich. Ist das Kind glücklich oder aufgeregt, so schreibt die mentalisierende Mutter ganz ähnlich Wünsche und Absichten einem fremden fühlenden Wesen zu, das zu ihrer eigenen Erfahrungswelt gehört. Und durch nachahmendes Spiegeln und Benennen hilft sie dem Kind, seine eigenen Gefühle zu »sehen«, welche nicht weniger real sind als die physische Welt. Im psychotherapeutischen Prozess nun treten an die Stelle der »Tasse« die Gefühle des Patienten; im Dreieck von Therapeut, Patient und dessen gelebter Erfahrung. Um deren Wirklichkeitsgehalt aber geht es. Je mehr es dem Patienten gelingt, seine Gefühle zu erkennen und die Umstände, durch die sie ausgelöst werden, zu benennen und von der »Wirklichkeit« zu unterscheiden, desto mutiger und stärker wird er. Übertragungsgefühle sind wesentlich solche, in denen der äußere Bezug eher archaisch ist als gegenwärtig. Diese »archaischen« Gefühle können mit dem Bedürfnis zusammenhängen, sich die schützende Nähe eines mächtigen Objekts zu sichern. Solche Gefühle von dem unterscheiden zu lernen, was wirklich der Fall ist, ist gleichbedeutend mit Ermutigung. Als das Kind ausrief: »Aber der Kaiser hat ja gar nichts an!«, da zerstörte es die einer allgemeinen Übertragung geschuldete Wahrnehmung des allmächtigen Herrschers in majestätischen Gewändern. Als ein im Mentalisieren hochbegabtes Kind konnte es von sich aus trian-
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gulieren zwischen dem, was es a) als Kaiser vor sich sah (»Ich kann keine Kleider sehen«), b) seiner reflektierten Annahme darüber, was die andern sahen (»sie irren sich, aber aus unterschiedlichen Übertragungsgründen – des Kaisers Narzissimus, der Höflinge Abhängigkeit von seiner Macht – wollen sie sich irren), und c) der »Wirklichkeit« (»in Abwägung der Wahrscheinlichkeiten und weil die Hypothese nicht falsifiziert werden kann, hat der Kaiser keine Kleider an«). Die klassische Psychoanalyse ebenso wie die interaktionistische steuern eher ein binäres als ein trianguläres Muster des Machterwerbs an. Im klassischen Muster hilft der Therapeut dem Klienten, die bekannten Wahrheiten zu finden, deren Hüter er ist. Die interpersonale Psychoanalyse weist das klassische Muster mit seinem allwissenden, alles sehenden Analytiker zurück, der dem Klienten nach und nach Wissen vermittelt. Sie ersetzt es durch ein Modell der Ko-Konstruktion, bei der sowohl Klient als auch Therapeut ihren bewussten und unbewussten Beitrag leisten. Die erste Version ist »platonisch« – der Klient findet sein wahres Selbst im Bewusstsein des Therapeuten vor, sobald der Widerstand überwunden wurde (Bion, 1962; 1967). Die zweite Version ist »post-modern« – es gibt keine absolute Wahrheit, nur Geschichten, die mehr oder weniger zusammenhängen (Aron, 2000). Demgegenüber ist das hier angebotene bindungstheoretische Modell »popperianisch« (1959). Die Therapie bietet dem Patienten ein Laboratorium, in welchem er die Wirklichkeit seines Selbst und seines Lebens mit Hilfe des Therapeuten als Bezugsperson erforschen kann. Es wird unterstellt, dass es eine »wahre« Geschichte gibt, auch wenn unsere mehr oder weniger zusammenhängenden Theorien sich ihr nur annähern können.
Klinische Beispiele Aus theoretischem Blickwinkel wäre es beruhigend und zudem in Übereinstimmung mit den Bräuchen der Psychoanalyse, spräche man sich für eine einzelne Leittheorie aus, die dem therapeutischen Handeln zugrunde liegt. Hier nun wäre Mentalising diese eine Methode, weil sie einen mit der Realität verbinden kann. In Tat und Wahrheit jedoch ist Psychotherapie eine viel buntere und vielgesichtigere Welt
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als die Theoretiker uns gern glauben machen würden (vgl. Gabbard u. Westen, 2003). Wodurch psychische Kraft letztlich erzeugt wird, ist eine empirische Frage, die sich mit den Methoden der Psychotherapieforschung beantworten lässt. Ich würde vermuten, dass Psychotherapie machtstärkend wirkt durch einen oder mehrere der folgenden Punkte: – Fähigkeiten der Mentalisierung fördern und dadurch verständiger unterscheiden können, was zur Wirklichkeit gehört und was zur Übertragung, wie oben dargelegt; – die Feinfühligkeit des Therapeuten teilt sich dem Patienten mit und ermutigt ihn zu der Annahme, dass er fähig ist, Nahestehende zum Antworten zu bringen; – Herausfordern – dem Patienten das Zutrauen geben, einen wohlgemeinten Angriff aus eigener Kraft überstehen zu können, und vom Therapeuten als jemand betrachtet zu werden, der mit einer solchen Herausforderung »fertig werden« kann; – das ödipale Dreieck umräumen, und zwar so, dass anstelle des Patienten der Therapeut die Beobachterecke des ausgeschlossenen »Machtlosen« besetzt (vgl. Steiner, 2008); – Humor und Verspieltheit – um dem Patienten ein Gefühl von Lebendigkeit und Bedeutung zu geben; – Selbständigkeit fördern – die Patienten sollen sich fähiger fühlen, selber in ihrem Leben auswählen und entscheiden zu können; – das Bedürfnis unsicherer, Bindungsverhalten aktivierender (»hyperactivating«) Individuen vermindern, durch Schwäche zu herrschen, um Ziele zu erreichen; stattdessen ihr Durchsetzungsvermögen fördern; – ihr Bindungsverhalten unterdrückenden »Halbstarken« (»overpowered« hypoactivating people) wiederum helfen, ihre eigene Verwundbarkeit weniger zu fürchten und einzusehen, dass sie dadurch nicht an echter Stärke einbüßen; – »Brüche behandeln« (»rupture repair«) (Safran u. Muran, 2000) – aufrichtige Klagen des Patienten über den Therapeuten anhören und ernst nehmen. Betrachten wir nun, wie diese Themen sich in ein paar klinischen Beispielen widerspiegeln.
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Fall 1: Hyperaktivität/leichte Desorganisation – »Ohnmachtsgefühl« Celia, 26 Jahre, ledig, angehende Rechtsanwältin, in der Abteilung Familienrecht beschäftigt mit Scheidungs- und Sorgerechtsklienten, war seit der Studienzeit depressiv und suchte nach eigenem Bekunden Hilfe, um bei ihrer stressreichen Berufswahl durchzuhalten. Sie fühlte sich machtlos im Sinne von hilflos, besonders wenn sie Beziehungen mit einem Mann einging: Ein Freund musste sein, sagte sie, jedoch konnte sie nie befriedigenden Sex haben. Gutaussehend und intelligent, war sie sich ihrer Stärken bewusst, schaffte es jedoch nicht, daraus ein zufriedenes Lebensgefühl zu ziehen. Sie war die ältere von zwei Töchtern, in der Familie der Überflieger, ein parentifiziertes Kind, das aus seiner Sicht die Familie in Ordnung hielt, stark identifiziert mit ihrem arbeitssüchtigen Vater, ebenfalls ein Rechtsanwalt. Die Mutter war in ihren Augen ein eher schwacher und fader Charakter, immer bemüht, es anderen recht zu machen, mit wenig Selbstbewusstsein. Sie beneidete ihre jüngere Schwester, die sich dem Familiendruck anscheinend entwunden hatte, um erfolgreich zu sein. Celia war die selbsternannte zweite Mutter dieses verantwortungslosen Geschwisters, das es für ihr Gefühl auf geheimnisvolle Weise verstanden hatte, sich unfassbar zu machen, sich selbst zu mögen und zu tun, was ihm gefiel. Celia war wohl schon seit ihrer Schulzeit depressiv, und sie beschrieb, wie sie selbst heute noch stundenlang in einem leeren Zustand vor dem Fernseher sitzen und Schokolade in sich hineinstopfen konnte. Sie gab sich mild flirtend, als wollte sie sagen: »Ich bin ein attraktives Mädchen, ein bisschen durcheinander, bitte komme mich retten, sicherlich verstehst du es, meine sexuellen Schwierigkeiten zu überwinden, anders als diese unerfahrenen jungen Männer, mit denen ich meine Zeit verbringe.« Zugleich aber schienen meine therapeutischen Interventionen irgendwie an ihr vorbeizugehen. Sie zeigte Übertragungsgefühle von Rivalität und Machtlosigkeit. Nachdem die Therapie mit einer Sitzung pro Woche ein paar Monate gelaufen war, begann sie über Selbstmord zu sprechen, und zwar mit besorgniserregend genauer Planung. Sie hatte sich von ihrem
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Freund getrennt und sich fast unmittelbar anschließend mit einem anderen Mann eingelassen, entwickelte aber eine Vaginalinfektion, die ihr Sex verbot. Vorher noch hatte sie mehrere Partys besucht und sich dort, wie sie es formulierte, einen Kerl gegriffen – ihr Machogerede von sexueller Befreiung klang dabei jedoch irgendwie unecht. Als wir das näher besprachen, wurde klar, dass ihr die Vorstellung des Alleinseins ganz unannehmbar schien. Ihre einzige Hoffnung war, einen Mann zu haben, aber der einzige Weg, einen Mann zu beherrschen, war ihrer Meinung nach, ihm Sex anzubieten. Ohne Sex bedeutete ohne Mann, und das bedeutete, einsam zu sein, was wiederum hieß, besser tot zu sein. Weil sie in mir einen machtvollen älteren Mann sah, müsste sie mich ganz ähnlich unter Kontrolle bringen, indem sie sich als kleines »sexy« Mädchen gab. In der Übertragung ebenso wie in ihrem Leben draußen maskierten sich Bindungswünsche als Sex. Ihr »Machttrieb« in Bezug auf mich und auf andere Männer befahl ihr, ihre Verwundbarkeit in einer sexuellen Verkleidung zu verbergen. Ein sicherer Säugling »weiß«, dass er die Zuwendung der bemutternden Person nicht auf instrumentellem Wege hervorrufen kann – mit einem Türöffner für die elterlichen Projektionen (wiewohl diese unvermeidlich vorhanden sind), mit einem Spielzeug, einem Übergangsobjekt, einem sexuellen Partnerersatz – sondern nur durch sein schieres Vorhandensein. Wahrhaftes Können konkurriert hier mit unechtem Manipulationsgeschick. Celia fühlte sich auf eine Weise entmachtet, die für ihr Selbstgefühl gefährlich war. Ihr »Wille zur Macht«, »maskulin« aus Identifizierung mit Erfolg in einer ehrgeizigen Berufsgruppe, brachte für sie Gefühle von Stress und Einsamkeit mit sich. Sie stellte sich Weiblichkeit in Begriffen der Unterwerfung vor – ein Adler’scher »Minderwertigkeitskomplex« – und als ständige Bereitschaft zur sexuellen Botmäßigkeit. Ihre sexuelle Empfindungsunfähigkeit war ein Beispiel für die von Britton und anderen (1989) vertretene Auffassung, dass die an Hysterie Leidende sich stellvertretend mit dem elterlichen Paar identifiziert, von dem sie sich voller Neid ausgeschlossen fühlt. Ihre eigenen Gefühle gehen verloren: Beim sexuellen Verkehr spielte Celia die Rolle eines gierigen Vaters oder einer dominierenden Mutter, war aber in Wirklichkeit selbst-entfremdet. Durch sexuellen Verkehr konnte sie
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mit den Gefühlen des Anderen in Berührung kommen, als Ersatz für das Spüren ihrer ureigensten Erregtheit. Bindungsmäßig gesehen war es an Celia, zuerst eine vertrauensvollere Beziehung zum Therapeuten aufzubauen; dies wiederum würde ihre gedankliche Neugier in dem Maße freisetzen, wie sich ihr Sicherungsbedürfnis verringerte. Im Blick auf ihre Borderline-Züge ergab sich daraus eine psychotherapeutische Strategie (vgl. Bateman u. Fonagy, 2004; Holmes, 2003), die folgende Elemente enthielt:
– Rückenstärkung (»Wenn du dich echt verzweifelt fühlst, kannst du mich zwischen den Sitzungen anrufen.«): Ein gewisses Maß begrenzter Nachgiebigkeit ist erforderlich, besonders bei hyperaktiv werdenden Patienten (vgl. Mallinckrodt et al., 2008). Die Klientin fühlt so, dass sie eine gewisse Kontrolle hat über die therapeutische Situation, dass diese nicht unerbittlich starr und erniedrigend ist. – Herausforderung (»Wenn er dich fallen lässt, bloß weil du eine Weile nicht Liebe mit ihm machen kannst, ist er es dann wert, ihn zu haben?«): Indirekt wird dem Patienten durch diese Herausforderung bedeutet, dass er stark und einfallsreich genug ist, es zu schaffen – den Fehdehandschuh, den man ihm hingeworfen hat, aufzunehmen, abzulehnen oder noch anderes. – Humor (»Mal ehrlich, wie viel würdest du darauf wetten, kinderlos, ungeliebt und in einem Frauenkloster zu enden?«): Humor ist »demokratisch« in dem Sinne, dass der Spaßende sich durch eine »absurde« Bemerkung selbst angreifbar und eventuell lächerlich macht. Echter Humor funktioniert nur in einer Atmosphäre des Vertrauens (die Untertanen des Tyrannen lachen pflichtschuldigst, wenn ihr Unterdrücker einen Witz macht, aber das Lachen ist unvermeidlich hohl). Als die Therapie vorankam und Celia sich zu entspannen begann, ließ ihre Selbstmordneigung nach und auch meine unangenehmen Übertragungsgefühle schwanden, erotisch manipuliert und gefühlsmäßig auf Abstand gehalten zu werden. Ihre Fähigkeit zu Mentalisierung verbesserte sich insofern, als sie abwägender über ihre Furcht nachdenken konnte, von Männern verlassen zu werden. Sie vermochte anzuerkennen, dass ihr Freund ein echtes Interesse an ihr als Person
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hegte und sie nicht als reine Sex-Maschine betrachtete. Sicherer geworden in ihrer Fähigkeit, sich mitzuteilen (Holmes, 2001), begann sie flüssiger, lebhafter und fundierter über ihre Gefühle zu sprechen, ihr Sexualleben eingeschlossen. Sie wurde ärgerlich und traurig, wenn durch Feiertage Sitzungen ausfielen. Ich wurde zu einer Person, die sie vermisste und nicht mehr als ein Objekt kontrollieren musste. Ironischerweise verbesserte sich die sexuelle Beziehung zu ihrem Freund, als sie zu empfinden begann, dass er sie als Person und nicht bloß als Körper betrachtete. Und sie konnte mit ihrer Anfälligkeit für Soor-Infektionen umgehen, ohne in Verzweiflung zu geraten. Sie bewegte sich von einer Position hysterischen Ohnmachtsgefühls, in der sie Sexualität von Anderen borgte oder stahl (die der Eltern; die des Freunds), hin zu einem echteren Verfügen über ihre eigene weibliche Potenz.
Fall 2: Vermeiden – Ohnmacht/Allmacht Peter, ein Lehrer Mitte vierzig, suchte mitten im Scheitern seiner Ehe Hilfe bei mir. Seine Frau hatte vor vielen Jahren eine Affäre gehabt; er hatte ihr »verziehen«, fühlte sich jedoch heimlich weiter verbittert und herabgesetzt, und als er eine andere Frau kennengelernt hatte, selber verheiratet, begann er mit ihr eine Affäre, die letztlich zum Zerbrechen seiner Ehe führte. Er war unehelich geboren. Der Vater hatte die Mutter zwar finanziell unterstützt, doch hatte Peter ihn nie getroffen, obwohl er als Erwachsener ein paar halbherzige Versuche unternommen hatte, ihn aufzuspüren. Die frühe Kindheit verbrachte er allein mit der hart arbeitenden Mutter, die ihn oft bei Tagesmüttern ließ und zu Hause für eine verlässliche aber harte Ordnung sorgte, in der wenig Zeit war für Spaß oder Kuschelei. Später heiratete die Mutter und Peter fühlte sich von seinem Stiefvater zurückgewiesen, besonders als zwei Halbgeschwister geboren wurden. Schließlich trennten sich Peters Mutter und der Stiefvater, während Peter zur Armee gegangen war und in deren Routinen und Beziehungen von Mann zu Mann eine vertraute Ordnung gefühlsarmer Sicherheit gefunden hatte. Aus der Macht des
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Kollektivs bezog er den Ausgleich für seine Gefühle beschädigter Männlichkeit. Peter war ein freundlicher und äußerlich unkomplizierter Patient, der trotzdem öfter ein Unbehagen in mir zurückließ, als ob irgendetwas gefehlt hätte in unseren Sitzungen. Er hoffte, seine Geliebte würde ihren Mann und die Kinder verlassen und zu ihm kommen, doch fühlte er sich unfähig, sie als ihm zugehörig zu beanspruchen. Er erzählte von ihrem aufregenden Sexualleben, war aber deutlich irritiert durch sein Verlangen zu »dominieren« und über seine aggressiven Triumphgefühle während des Verkehrs. Zwei machtbezogene Themen drängten sich in unserer gemeinsamen Arbeit auf. Da war zuerst die fehlende Identifikation mit einem starken Vater und von daher die Schwierigkeit, sich trotz eindeutiger Heterosexualität seiner Männlichkeit sicher zu fühlen. Besaß er überhaupt das Recht auf eine Frau, die treu war und aufopfernd? Peter blieb auch tief ambivalent, was seine Aggressivität betraf, die ihm unmöglich zerstörerisch schien. Um gesunde Selbstsicherheit zu gewinnen, muss ein Knabe seinen Vater hassen und wünschen können, ihn zu beseitigen. Und vom Vater muss er wünschen, dass er überleben will, seinen Sohn weiterhin liebt und stolz auf ihn ist. Er muss sich sicher genug fühlen können, um nicht nur die Brust zu hassen, wie Winnicott (1971) es sich vorstellt, sondern auch den ödipalen Rivalen: »Hallo du Objekt, ich habe dich gerade zerstört«. Dies kam in der Therapie zum Vorschein, als Peter versuchsweise und durch mich ermutigt seinen Ärger offenbarte und sein Enttäuschtsein von mir bei verschiedenen Patzern, besonders, als ich einmal eine Sitzung unangekündigt versäumt hatte. Im Unterschied zu Celia war es hier der Patient, der den Therapeuten herausforderte. Mein Ziel war es, an mich zu halten und einzuräumen, weder in die Verteidigung zu gehen, noch mich von seiner aufkeimenden Stärke überrumpeln zu lassen. Peters Schroffheit und milde Aggression ist typisch bei vermeidendem und hyperaktivischem Bindungsbewusstsein. Bei seiner Mutter hatte Peter sich halbwegs sicher gefühlt, zugleich jedoch von ihr auf Abstand gehalten. Einfach ausgedrückt, er spürte, dass er keine Macht über sie hatte. In seinem Geschlechtsleben wurden seine Ausweichstrategien erotisch aufgeladen in seinen sado-masochistischen Sexualphantasien und Akten abgespaltener Machtbeziehungen.
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Als die Therapie voranging, sprach er in einer Sitzung darüber, wie er und seine Geliebte das Wochenende auf einer botanischen Wanderung verbracht hatten. Er beschrieb, wie der Führer der Gruppe die Aufmerksamkeit auf Flechten und ihren Stoffwechsel gelenkt hatte – der sich als zunehmende Symbiose zweier unterschiedlicher Arten entwickelt, Pilzen und Algen, und am Ende in das Entstehen eines neuen freistehenden Organismus mündet. Ich vermutete, dies sei ein schönes Gleichnis für seine Situation: wenn er und seine Geliebte es zulassen könnten, einander wahrhaft nahezukommen und auf ein gutes Ende zu vertrauen, dann ergäbe sich in seinem Leben etwas aufrichtig Neues. Dominanz würde ersetzt durch gegenseitige Durchdringung, Macht würde eher geteilt als einseitig ausgeübt. In der nächsten Sitzung sagte er, er habe seiner Geliebten meine Bemerkung weitererzählt; sie hätten über meine spontane und etwas verrückte Deutung des Abgeschottetseins gelacht. Der phantasierende Sprung vom pflanzenkundlichen Ausflug ins Schlafzimmer und/oder ins Kinderzimmer gefiel ebenso mir wie Peter und seiner Geliebten, ließ er doch ein allzu seltenes Spiel zwischen Peter und seiner Mutter anklingen – mit der die Beziehung, wie er berichtete, neuerdings weniger gezwungen war. Wie bei Celia schien Verspieltheit einen Schritt anzuzeigen weg von einer Dominanz-Impotenz-Achse und hin zu wahrer Stärke. Es gab offenkundig ein Dreieck – Peter, seine Geliebte und mich. Als Kind hatte Peter sich als Ausgeschlossener gefühlt gegenüber seiner Mutter, dem Stiefvater und seinen Halbgeschwistern. Hier aber war er in der Paarbeziehung und ich war der »schwache« und spielerisch verspottete Außenseiter. Peter mentalisierte, dass mein Bild meiner Einbildung entsprang – etwas, das eine Wirklichkeit zu beschreiben suchte und das gleichzeitig »falsch« und »richtig« war. Das stand der Rigidität entgegen, die mit krankhafter Machtausübung verbunden ist – wo jeder Seite des sado-masochistischen Paars eine starre Rolle zugeteilt ist. In wahrhaft starken Beziehungen sind die Rollen fließend und austauschbar. Ein gewisser Grad an Dominanz und Unterwerfung mag auch in gesunden Sexualbeziehungen vorkommen – ein Spiel mit der Macht, das aufregend sein darf, aber immer innerhalb der Grenzen sicheren Beisammenseins bleibt.
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Fall 3: Auflösung der Übertragung John, Anfang vierzig, kam einmal in der Woche zur Psychotherapie. Er brachte als Grund den etwas vagen Wunsch vor, »seine Kräfte zu sammeln«. Er hatte Unterschiedliches erlebt, unter anderem in seinen Zwanzigern eine Weile in einem tibetanischen Kloster gelebt, war dann aber sesshaft geworden, arbeitete als Teilzeit-Lehrer und widmete sich ansonsten seiner Familie mit drei Kindern. Seine Frau, eine Richterin, hielt er für erfolgreicher als sich selbst, wie es in seinen Augen auch sein Vater als Leiter einer großen Realschule gewesen war. Mit acht Jahren in ein akademisches Eliteinternat geschickt, hatte er sich von beiden Eltern unterschätzt und ihnen entfremdet gefühlt, eingestuft, wie er sagte, nachdem er einen Brief fand, den er ihnen von der Schule aus geschickt und mit Vor- und Zunamen unterschrieben hatte, so als könne er sonst nicht sicher sein, ob die Eltern wüssten, von wem er kam. Als die Therapie ungefähr ein Jahr lief, äußerte er zu Beginn einer Sitzung, um wie vieles er sich unterdessen besser fühle, weniger gezwungen, seine Frau und die Kinder zu kontrollieren, bereit, mehr aus eigener Kraft zu leben als nach »weisen Männern« zu suchen (was, nebenbei bemerkt, seinen Therapeuten einschloss), von denen er geglaubt hatte, sie würden die Antworten wissen, nach denen er suchte. Trotz dieser vertrauensvollen Mitteilung spürte ich in der Äußerung einen Angriff, und dass er über mich irgendwie ärgerlich oder von mir enttäuscht war. Als ich noch darüber grübelte, bemerkte ich, dass eine Topfpflanze auf meinem Fensterbrett mickrig aussah und halb abgestorben aus Wassermangel, und ich dachte bei mir: »Da muss ich irgendwas tun, bevor mein nächster Patient kommt.« Ich sagte: »Ich frage mich, ob Sie wohl innerlich mit der Idee spielen, die Therapie abzubrechen.« Er sagte: »Ja«, setzte aber eilig hinzu: »nicht sofort natürlich …« Ich fragte, wann der Gedanke zuerst aufgetaucht sei. »Ich denke, als ich das letzte Mal nach der Sitzung bei Ihnen auf der Toilette war«, erwiderte er, »sie schien so vernachlässigt, so voller Spinnweben. Das erinnerte mich an meinen Vater mit seiner steilen Karriere – aber er vernachlässigte alles Übrige in seinem Leben.«
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»Sie eingeschlossen?«, fragte ich. »Ich höre hier eine Geschichte der Desillusionierung, der Enttäuschung heraus.« »Nein, ich fühle mich nicht enttäuscht, traurig vielleicht. Mir wird klar, dass ich meine eigenen Entscheidungen getroffen habe; was mir wichtig ist, ist meine Frau und meine Familie, die alltäglichen Dinge des Lebens. Ich bin glücklich, jetzt aus eigener Kraft zu leben und nicht länger einem unmöglichen Traum meines Vaters zu folgen.« »Und Sie scheinen zu spüren, dass die sogenannten ›weisen Männer‹, mich inbegriffen, eine Illusion sind, sie übersehen, was Ihnen wirklich wichtig ist; die Antworten finden Sie in sich selbst«, vermutete ich, und ich fügte hinzu: »Und ich muss gestehen, dass ich über die Pflanze da drüben nachgedacht habe; sie sieht aus wie Sie, als hätte sie mit etwas mehr liebevoller Sorgfalt behandelt werden können.« »Also«, sagte er, »vermutlich fühle ich Ärger über Sie, weil Sie mich nicht in die perfekte Person umwandeln konnten, die ich glaubte sein zu wollen, aber zugleich fühle ich auch Dankbarkeit für die Aufmerksamkeit und für die Wertschätzung, die Sie mir anboten.« Beim Gehen sagte er spaßend: »Heute muss ich nicht zur Toilette!« Ich antwortete freundlich: »Aber sie ist tadellos sauber, alle Spinnweben sind entfernt worden!« Wir lachten beide; die Sitzung schien mit beiderseits guten Gefühlen zu enden. John entschied, die Therapie zu beenden, vielleicht etwas früh, aber doch in einer viel schöpferischeren und ausgeglicheneren Weise als der kleine Junge, der meinte, seinen Nachnamen hinzusetzen zu müssen, als er nach Hause schrieb. Er weiß nun, wer er ist und wer nicht. Er ist selbständiger. Er kann sich seiner so erfolgreichen Frau mit fester verankerter Männlichkeit zuwenden, muss weniger Kontrolle über sie ausüben, und er ist nicht darauf angewiesen, sich von »weisen Männern« eine idealisierte männliche Identität zu borgen. Sein Gefühl, in der Kindheit zu wenig »gegossen« worden zu sein, ist bestätigt, durch Triangulation, weil mir durch den Sinn ging, ich hätte meine Pflanzen vernachlässigt. Er kann seine Gefühle als das sehen, was sie sind – real zwar, aber nicht unbedingt zu der Situation passend, in der er sich befindet. Der »Schock« der ungepflegten Toilette, einem Abfalleimer gleich für sein beschissenes Wutgefühl in der Kindheit über seine Vernachlässigung und den Mangel an Zuwendung, wurde zum Moment
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der Erleuchtung und ließ ihn den Sprung machen von seiner unreifen Abhängigkeit (von den »weisen Männern«, von seiner erfolgreichen Frau) zu einer reifen Abhängigkeit (sein eigenes Leben führen und für seine Familie sorgen). Indem er wahrnahm, dass die Toilette schmutzig war, und sich gleichzeitig fragte, was eine »schmutzige Toilette« innerlich für ihn bedeutete, begannen Übertragung und Wirklichkeit sich voneinander zu unterscheiden. Dieses Beispiel einer heilsamen Erschütterung gab ihm ein Gefühl echter Ermannung.
Schlussfolgerungen Obwohl ich die Mentalisierung ins Zentrum meiner Ausführungen gestellt habe, kommt die Macht- und Könnenssteigerung, welche unausgesprochen das Resultat der Therapie sein soll, durch eine Reihe unterschiedlicher Mittel zustande. In meinen abschließenden Bemerkungen will ich zu zeigen versuchen, wie Bindungstheorie und psychoanalytische Ideen in der Verknüpfung zu einer einheitlicheren Sicht des Prozesses führen können. Das aktuelle Neo-Kleiniansche Modell (siehe Britton et al., 1989) einer erfolgreich überwundenen ödipalen Phase besagt ungefähr Folgendes: Wenn ein Kind es ertragen kann, vorübergehend aus der elterlichen Paarbeziehung ausgeschlossen zu sein, dann gewinnt es Freiheit, fängt an, eine eigene Sicht zu entwickeln und eigenständig zu denken, wodurch es sich aus Abhängigkeit löst und Selbständigkeit befestigt. Das Kind sagt sozusagen zu sich selbst: »Ich kann sehen, dass Mama und Papa allein sein möchten; das bedeutet nicht, dass ich vergessen bin oder unwichtig; klar, ich beneide sie, und wünschte, ich könnte Mama ganz für mich haben, aber ich weiß, das ist bloß ein Gefühl und geht bald vorüber; wenn ich wirklich durcheinander bin und getröstet sein will, werden sie für mich da sein; meine Mama schien zu wissen, wie es mir geht, als ich ganz klein war, und ich fange an zu verstehen, dass auch sie Gefühle hat; manchmal möchte ich nur mit meinem Papa zusammen sein und Mama scheint es nichts auszumachen, ja, sie findet es sogar gut, also ist es anscheinend in Ordnung, wenn ich mich jetzt draußen vor fühle; ich kann ihnen ihre äußere Willensmacht lassen, mir meinen inneren Willen und muss
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nicht versuchen, ihren Willen unter Druck zu setzen, indem ich sie durch Weinen und Wut bedränge, oder voller Selbsthass über meine eigene Machtlosigkeit verzweifle.« Diese idealisierte Rekonstruktion schildert die beginnende Mentalisierungsfähigkeit beim gesunden Kind. Die Bindungstheorie sieht die Ursprünge dieser Fähigkeit in der Mentalisierungsfähigkeit der Mutter, die vom Kind verinnerlicht wird; die Mentalisierungsfähigkeit erwächst zum zweiten aus dem Vermögen der Mutter, dem Kind eine sichere Basis zu bieten, von der aus es seine Gefühle erkunden kann, und von der aus es dann den Übergang in die weitere Welt bewerkstelligen kann, ermöglicht und beschützt durch den Vater. Soweit das Kind über sein eigenes Denken nachdenken und sich dabei frei »bewegen« kann, erwächst dieses Können auf jener sicheren Basis. Wo diese Basis unsicher ist, sind Nachdenken und geistige Beweglichkeit beeinträchtigt. Wo keine Ermutigung stattfindet, dort wird paradoxerweise die Machtfrage zum vorherrschenden Zug der Beziehungen. In allen drei Fällen war der Patient fixiert in einer Position des ausgeschlossenen »ödipalen Kindes« und bewegte sich dann in eine flexiblere Welt hinüber, in der der Therapeut diese autonome Rolle besetzen konnte, welche die »geistlichen Mächte« reflektiert, während der Patient Teil eines Paares mit »weltlicher Macht« wurde – Celia und ihr Freund, Peter und seine Partnerin, John und seine Frau. Herausforderung signalisierte Celia »du bist ein großes Mädchen, du kannst es aushalten, eine Weile allein zu sein, solange du spürst, dass da notfalls jemand ist, den du anrufen kannst«. In allen drei Fällen wurde durch Humor bedeutet, wie höchst absurd es ist, bloße Vorstellungen für Realität zu halten. Bruch und Heilung (»rupture repair«) erlebten besonders Peter und John, und zwar sowohl durch den wirklichen Mangel an Einfühlungsvermögen von Seiten des Therapeuten als auch durch das unvermeidliche Auseinanderklaffen von Wunsch und Wirklichkeit.
Zusammenfassung 1. Der Klient beginnt die Therapie in der Hoffnung, bei einem allwissenden Therapeuten Macht erwerben zu können. 2. Der Wunsch ist insoweit realistisch, als der Therapeut die Sicher-
Macht, Machterwerb und Mentalisierung
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heit bietet, welche Voraussetzung ist, denken zu lernen, und als er, mittels Triangulation, dem Klienten hilft, seine Wahrnehmungen zu vergleichen mit denen eines intimen, wohlwollenden, aber nicht-verschworenen Anderen. Diese Triangulation begründet die Fähigkeit zur Mentalisierung. Psychotherapie ist von Natur aus reflexiv dadurch, dass Geist und Seele (mind) selbst Gegenstand der Triangulation sind. Die Beziehung zum Therapeuten zu mentalisieren, fördert beim Patienten das Begreifen des Seelenlebens und hilft ihm, Wunschdenken von Realität zu unterscheiden. Der Patient erwirbt durch die Therapie nicht einfach eine neue Erzählung über sich selbst, weder eine vom Therapeuten gelieferte, noch eine gemeinsam konstruierte, sondern eine neue interpersonale Methode, Realität zu verstehen. Die Lebensgeschichte, in Sprache übersetzt, ist lebenswichtig; ihre Glaubwürdigkeit hängt von der mentalisierten Triangulation ab. Sie ist es, eher jedenfalls als irgendeine spezielle Deutung, die in der analytischen Therapie erstarkend wirkt und Selbständigkeit fördert.4
4 Das Literaturverzeichnis zu diesem Beitrag findet sich auf S. 217 f.
Gerd Lehmkuhl
Zwischen Macht und Lust – die Adler-FreudKontroverse Eine kommentierte Textkollage1
Einleitung Es ist der Stoff, aus dem Königsdramen gemacht sind: Zwei Personen ziehen gemeinsam in die Schlacht, um für neue Ideen und Theorien zu kämpfen, entzweien sich und wenden sich gegeneinander. Wir können das Schauspiel dieses Konfliktes aus den Protokollen der MittwochGesellschaft nacherleben und die zunehmende Entfremdung und Trennung der Protagonisten nachvollziehen. Dieser Prozess dauerte zwischen Adler und Freud von 1902 bis 1911, also immerhin neun Jahre, und der enormen emotionalen Brisanz, die in der Auseinandersetzung dieser beiden Männer steckte, kann man sich kaum entziehen. Bereits 1900 macht Freud deutlich, dass sich für ihn in Beziehungen Liebe und Hass sehr leicht mischen, wenn er feststellt: »Ein intimer Freund und ein gehasster Feind waren mir immer notwendige Erfordernisse meines Gefühlslebens; ich wusste beide mir immer von neuem zu verschaffen, und nicht selten stellte sich das Kindheitsideal soweit her, dass Freund und Feind in dieselbe Person zusammenfielen« (Freud, 1900a, S. 487). In welchem Rahmen fand die Inszenierung statt und wie waren die weiteren Rollen verteilt? Der zum damaligen Zeitpunkt 46-jährige Sigmund Freud suchte nach einer Zeit der »splendid isolation« der 1890er Jahre den Dialog und Kontakt mit Gleichgesinnten. Es war der Arzt Wilhelm Stekel, der den Anstoß zur Gründung der »MittwochGesellschaft« gab, über die er später schrieb: 1 Auf der DGIP-Jahrestagung 2008 vorgetragen vom Berliner Schauspieler Hans-Jürgen Schatz.
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»Ich gab […] (Freud) die Anregung, eine kleine Diskussionsgruppe zu gründen; er akzeptierte, und an jedem Mittwochabend trafen wir uns bei Freud […] Diese Abende waren erquickend […] Es bestand eine vollendete Harmonie unter uns Fünfen ohne jegliche Dissonanz, wir waren wie Pioniere in einem neu entdeckten Land, und Freud war unser Führer. Ein Funke schien von einem zum anderen überzuspringen, und jeder Abend war wie eine Offenbarung« (Stekel, 1950, S. 115).
Wer waren die Herren, die sich jeden Mittwochabend in Freuds Wohnung in der Berggasse bei schwarzem Kaffee im Nebel unzähliger, qualmender Zigarren trafen? Zunächst waren es nur Ärzte wie Stekel und Adler, später stießen auch Vertreter anderer Berufsgruppen hinzu. In der entspannten Atmosphäre wurden persönliche Bedürfnisse, eigene innere Konflikte und theoretische Überlegungen miteinander ausgetauscht. »Der Meister sitzt am Schreibtische, bequem in einen Armstuhl zurückgelehnt, die anderen, um einen kleinen Tisch gruppiert« (Stekel, 1911/1992, S. 221). Die Teilnehmer hielten abwechselnd Referate, in denen sie aus psychoanalytischer Sicht zu medizinischen und psychopathologischen Problemen Stellung nahmen. Begeisterung, Engagement und lustvoller Austausch standen also am Anfang der Mittwoch-Gesellschaft, wobei Freud, jedoch später auch die bereits damals sich abzeichnenden Schwierigkeiten spürte: »In dem Reichtum und der Mannigfaltigkeit der Begabungen, die […] [der kleine Kreis] umschloss, stand er kaum hinter dem Stab eines beliebigen klinischen Lehrers zurück. Von Anfang an waren jene Männer darunter, die in der Geschichte der psychoanalytischen Bewegung später so bedeutungsvolle, wenn auch nicht immer erfreuliche Rollen spielen sollten. Aber diese Entwicklung konnte man damals noch nicht ahnen […] Von übler Vorbedeutung waren nur zwei Dinge, die mich endlich dem Kreise innerlich entfremdeten. Es gelang mir nicht, unter den Mitgliedern jenes freundschaftliche Einvernehmen herzustellen, das unter Männern, welche dieselbe schwere Arbeit leisten, herrschen soll, und ebenso wenig, die Prioritätsstreitigkeiten zu ersticken, zu denen unter den Bedingungen der gemeinsamen Arbeit reichlicher Anlass gegeben war« (Freud, 1946, S. 63).
Hier finden wir also schon die Stichworte für das Skript und die sich über die Jahre entwickelnde spannungsreiche Handlung. Nachlesen und noch heute in seiner Dramatik nachvollziehen kann man dies in den »Protokollen der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung«. Sie wurden jedoch erst ab Oktober 1906 mit Beginn des fünften Arbeitsjahres von Otto Rank angelegt und stellen keine ungekürzte Wieder-
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Gerd Lehmkuhl
gabe des Wortlautes der Diskussionen dar, sondern Notizen über Inhalt und Verlauf der Abende. Allerdings vermitteln sie einen guten Eindruck in die emotionalen und inhaltlichen Konflikte und erlauben, ein fiktives Drehbuch zu verfassen mit den Hauptdarstellern Freud und dem 14 Jahre jüngeren Adler. Die von Nunberg und Federn herausgegebenen »Protokolle der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung« stellen die zentrale Quelle für die vorliegende Textzusammenstellung dar. Wichtige Ergänzungen und Anregungen stammen von Handlbauer (1984, 1990), Bruder-Bezzel (1999) und Ellenberger (1973), die sich intensiv mit der AdlerFreud-Kontroverse auseinandersetzten. Auch wenn die mangelnde »Wörtlichkeit« des Gesprächsverlaufs Stimmungen und Affekte nur unvollkommen widerspiegelt, so stellen sie eine gute Grundlage für ein Drehbuch dar. Und so schrieb zum Beispiel Wittels 1924 in seiner Freud-Biographie: »Einmal sagte Freud, dass er alles freigebe, was er mitteile« und dann weiter: »Man darf also Freuds Gedanken verwenden. Er ist so sehr dagegen, dass seine Schüler eigene Gedanken entwickeln, dass er ihnen lieber von seinem Überfluss abgibt.« Nach Junker (1992, S. 38) stellen die Protokolle nach den heutigen Möglichkeiten der Reproduzierbarkeit gesprochener Äußerungen keine Protokolle im engeren Sinn dar, weil sie von Anfang an keine stenographische Genauigkeit anstrebten, sondern zusammenfassende Inhaltsangaben und den interaktionellen Ablauf der gemeinsamen Mittwochabende beschreiben: »Mir erscheinen die Wörter der Texte oftmals wie Stichwörter, um nicht zu sagen wie Stichflammen eines Feuers, dessen Vorhandensein daraus eindeutig erkennbar, dessen brennbare Substanz und Ausdehnung jedoch nur geahnt werden kann« (S. 38). Werden die Äußerungen Adlers und Freuds zwischen 1906 und 1911 in einem Zeitraffer zusammengefasst, dann zeigt sich die Verknüpfung und Überschneidung von inhaltlichen und persönlichen Konflikten. Diesen Vorgang heute aus der Distanz heraus zu reflektieren, kann meines Erachtens dazu beitragen, in aktuellen, theoretischen und praxeologischen Diskussionen tradierten Mustern und latenten Vorurteilen zu begegnen. Adler nahm diesen Gedankenaustausch, der sich später zu einer regelrechten »Schlacht« entwickelte, von Beginn an als Herausforderung ernst und leistete intensive und heftige Diskussionsbeiträge.
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Erster Akt: »Katakomben-Romantik« und »atmosphärisches Geplänkel« Ort des Geschehens ist Freuds Privatwohnung. Das gemütliche Studierzimmer eines bedeutenden Nervenarztes. »Der Hausherr sitzt am Schreibtisch und dampft aus einer kleinen englischen Pfeife« (Stekel, 1903, 1923, S. 543). Die wöchentlichen Mittwochabendsitzungen finden im zwanglosen Kreis statt, »eine kleine, verwegene Gruppe, heute noch verfolgt, aber auserkoren, die Welt zu erobern« (Furtmüller, 1983, S. 239). Eine zunächst beinahe harmonische Gruppe, innerhalb derer sich jedoch bald Fraktionen bildeten und Rivalitäten entstanden. Dies mag auch daran gelegen haben, dass Adler, als er dem Kreis beitrat, nach Furtmüller (1983), »schon zu sehr ein unabhängiger Denker auf dem Wege zu wichtigen Entdeckungen war, als dass man von ihm hätte erwarten können, dass er dem Meister zu Füßen sitzen würde« (S. 240). Unser Stück mit zwei Hauptpersonen rückt die Protagonisten Freud und Adler in den Mittelpunkt. Es beginnt am 10. Oktober 1906 nach einem Vortrag von Otto Rank über das Inzestdrama und seine Komplikationen. Freud:
Adler:
Ich verstehe nicht, warum das Thema so scharf begrenzt ist, andererseits wäre es sinnvoll, einiges zu streichen, zum Beispiel den Mythos von Orest und Klytämnestra. Die Erkenntnisse und Resultate sind mir zu wenig verständlich. Ich würde als Kernvorbild Oedipus in den Mittelpunkt stellen und je weiter man sich von diesem Kern entfernt, desto unsicherer bleibt die Deutung. Denken Sie nur daran, wie häufig der Inzest bei den Göttern war und alles, was später verboten und schließlich heilig gesprochen wurde, ist etwas, worauf ursprünglich alle verzichtet haben. Hierin steckt die doppelte Bedeutung des Wortes Sacer. Ich kenne aus meiner psychotherapeutischen Praxis einige Beispiele, die Ranks Resultate bestätigen. Eine meiner Patientinnen ist nachts aus einem Traum aufgeschreckt und bemerkte, dass sie sich in den Finger gebissen hatte. Die Deutung liegt da auf der Hand, der blutige Finger entspricht einem Penis und die Symptomhandlung lässt auf eine Abwehr der Mundperversion schließen. Eine meiner Patientinnen berichtete mir, dass zwischen ihr und ihrem Vater eine Verbindung in der Gestalt einer Schlange bestünde und zum Teil eines Vogels. Als ich sie bat, diese Vorstellung zu zeichnen, war unverkennbar, dass es sich bei dieser Verbindung um einen Penis handelte.
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Drei Wochen später spricht die zehnköpfige Runde über Bleulers Buch »Affektivität, Suggestibilität und Paranoia«. Adler:
Freud:
Es wäre wichtig zu verstehen, wo die fixe Idee und die Halluzinationen entstehen. Von Freud haben wir ja gelernt, dass psychisches Geschehen nur mit einer psychologischen Methode untersucht und erfasst werden kann. Bleuler mischt physiologische und psychologische Ansätze. Ich kann mich hier nur Adler anschließen, Bleulers Buch ist eine schwächliche Arbeit. Allerdings enthält sie für mich eine große Neuigkeit, nämlich, dass man die Erkrankung auf einen Affektanlass zurückführen kann. Allerdings finde ich sehr kritisch, dass Bleuler dem Sexuellen so verständnislos gegenübersteht.
Am 7. November 1906 hält Adler einen Vortrag über die organischen Grundlagen der Neurosen. Es geht ihm dabei vor allem darum, dass bei der Minderwertigkeit eines Organs gewisse morphologische Ausfallerscheinungen zu beobachten sind, die die ursprüngliche Minderwertigkeit kennzeichnen. Adler:
Auch völlig gesunde Individuen können minderwertige Organe aufweisen, die erst dann von Bedeutung wären, wenn sich gehäufte Krankheitserscheinungen an diesem Organ zeigten. Ein weiteres Merkmal der Minderwertigkeit eines Organs seien die so genannten Kinderfehler, die zurzeit der Entwicklung an dem Organ auftreten. Vom Organ kommt es zu einer Ausbildung der dazu gehörigen Gehirnpartien und damit zur Grundlegung der Psyche. Dies geschieht mittels Kompensation: Die Minderwertigkeit des Organs wird durch Mehrleistung des Gehirns ausgeglichen. Von dieser Mehrarbeit des zentralen Nervensystems im Kindesalter scheine eine direkte Linie zu den Kinderfehlern zu führen. Bei den Neurotikern könne man in der Regel Kinderfehler nachweisen: die Überwindung dieser Kinderfehler sei für das ganze Leben des betreffenden Individuums markierend. Alle Aktionen des Kindes seien auf Lust berechnet. Mit diesen sinnlichen Lustgefühlen sei das Individuum an die Außenwelt gekettet und bei vollwertiger Entwicklung würde allmählich der Lustgewinn zugunsten der Kulturfähigkeit aufgegeben. Das minderwertige Organ aber arbeite auch späterhin auf Lustgewinn und lebe sich darin ein. Mancher Kinderfehler sei nichts anderes als ein sichtbar gewordener Reflex, wobei jede Minderwertigkeit eines Organs von einer Minderwertigkeit des Sexualorgans begleitet werde. Bei Sängern, Schauspielern und Rednern habe ich mehrfach Sprachfehler nachweisen können. Die Berufswahl geschieht auf Forderung des
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minderwertigen Organs; so findet man bei Köchinnen häufig Gaumenreflexanomalien, aber auch bei Fettleibigen, die meist gar keinen Beruf außer dem Essen haben. Ich messe der Arbeit von Adler eine große Bedeutung zu. Sie führt meine eigenen Ideen ein Stück weiter. Vieles dürfte richtig sein, vor allem der Begriff der Kompensation und dass die Verdrängung durch die Gestaltung eines psychischen Oberbaus erfolgt. Eine ähnliche Formel hat sich mir auch schon aufgedrängt. Bei Personen mit starker Ich-Sucht deckt die Analyse als letzten Grund häufig schwere organische Defekte auf. Besonders interessant und bedeutungsvoll ist die von Adler hervorgehobene Tatsache der Betätigung des Kindes aus freiem Lustgewinn und das spätere Verlassen dieser Lustgefühle. Auch die Ableitung der Affektleistungen von den Reflexen ist ganz hübsch, aber ich muss doch einen Haupteinwand machen, der jedoch nur die formelle Seite der Arbeit betrifft: Gegen das Wort Minderwertigkeit habe ich eine Ablehnung. Es ist wenig originell und ich würde vorziehen, von einer besonderen Variabilität der Organe zu sprechen.
In der weiteren Diskussion wird Adlers Arbeit von vielen Diskutanten gewürdigt und begrüßt, allerdings mit der Einschränkung, dass sie eine Fortführung und Ergänzung der Leistung Freuds sei. In den kommenden Diskussionsabenden lässt Adler das Thema der organischen Minderwertigkeit nicht mehr los und er kommt wiederholt darauf zu sprechen. Und immer dann, wenn es um Fragen der Lust geht, wird der Dissens zwischen Adler und Freud zunehmend deutlich. So im Anschluss an einen Vortrag von Sadger über Lenau und Sophie Löwenthal. Freud:
Adler:
Zu Lenaus Geigenspiel, das er bis zur Ekstase fortzusetzen pflegte, fällt mir die von Karikaturisten häufig verwendete Idee ein, die Geige als Weib und den Fiedelbogen als Penis darzustellen. Der Masturbation Lenaus müssen frühzeitig Ereignisse vorausgegangen sein, die mit der Betätigung der Organe, d. h. erogener Zonen, zusammenhängen. Ich bedauere, nichts weiter über die organische Konstitution Lenaus gehört zu haben.
Dieser Dissens setzt sich im Januar 1907 in einer Diskussion über die Ätiologie und Therapie der Neurosen fort. Adler:
Die Mechanismen in den Neurosen sind dieselben, die wir auch beim Normalen finden. Und die Frage lautet ja, was hinzukommen muss, um eine Neurose zu erzeugen. Ich gehe von einer engen Kongru-
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Freud:
Gerd Lehmkuhl enz der psychischen Konstellationen aus und denke, dass es in der Neurose zu einer Verstärkung bzw. einer Schwächung der normalen Psyche kommt. Die häufig mangelnde Introspektionsfähigkeit interpretiere ich als Schwächung und die Therapie besteht hauptsächlich in der Stärkung gewisser psychischer Fehler durch ein psychisches Training. So kommt es in der Behandlung beim Hysteriker zu einem Wachstum seiner psychischen Eigenschaften. Der Patient überrascht uns mit Einfällen und der Aufdeckung von Zusammenhängen, die ihm vor der Behandlung fremd waren. Da ich, wie Sie wissen, auf dem Standpunkt der Minderwertigkeitsätiologie stehe, kann es auch nach der Kur keinen normalen Menschen geben. Praktisch stellen sich einer vollständigen Heilung oft Schranken entgegen, die in den sozialen Verhältnissen des Patienten begründet sind. Es kommt nicht allein auf Stärkung und Schwächung der Libido, sondern darauf an, wie das Individuum diese Libido verträgt. Ich muss konstatieren, dass die sexuelle Komponente des psychischen Lebens auf die Verursachung der Neurosen mehr Einfluss hat als alle anderen Momente. Erst durch das Sexuelle wird die enge Beziehung des Psychologischen zum Somatischen hergestellt. Der Neurotiker ist an sich nicht krank, sondern nur insofern er selbst leidet. Wir können ihn nur soweit heilen, als er leidet. Wo er nicht leidet, da gleitet die Therapie ab. Vielleicht sind wir alle ein bisschen neurotisch, aber wenn die lebenswichtigen Funktionen und Aufgaben betroffen sind, dann entsteht durch die Krankheit eine quantitative Steigerung. Es kommt darauf an, die Teile der psychischen Kräfte, die für die Hemmung sorgen, wieder zur freien Verfügung zu stellen. Hierin liegt die eigentliche Wirkung der psychologischen Kur. Das Wesen der Therapie besteht in mehreren Vorgängen: dem Ausfüllen der Gedächtnislücken, die durch Verdrängung entstanden sind, und der Beseitigung von Widerständen durch Bewusstseinmachung von Unbewusstem. Durch die Übertragung gelingt die Beseitigung von Widerständen. Wir nötigen den Patienten, uns zuliebe die Widerstände aufzugeben, so dass wir von Liebesheilungen sprechen können. Es bleibt uns eigentlich nur die Aufgabe, die persönlichen Widerstände zu beseitigen. Und so weit die Übertragung reicht, kann man Heilungen zustande bringen.
Ende Februar trifft sich die Runde, um über Möbius’ Buch »Die Hoffnungslosigkeit aller Psychologie« zu diskutieren. Adler:
Ich habe das Buch nur zum Teil gelesen. Meiner Meinung nach trennt Möbius zu scharf zwischen Trieb und Gefühl. Ob das Tier eine Seele hat oder nicht, darüber zu streiten ist unsinnig. Wenn alles nur wahr-
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nehmbare Äußerung des Trieblebens ist, dann kommt es dem Tier ebenso zu wie dem Menschen. Ich muss mich gegen Adler’s Anschauung wenden, dass die scharfe Sonderung von Gefühl und Trieben nicht berechtigt ist. Der Trieb ist ein Begriff, ein Name für den bewegenden oder störenden Einfluss, den organische Notwendigkeiten auf Psychisches ausüben. Der Trieb leitet vom Organischen zum Psychischen hinüber. Das Gefühl aber gehört ganz ins Psychische. Das Bewusstsein ist auf zwei Endpunkte eines weiten Bogens von Vorgängen eingestellt: Auf die Wahrnehmung und auf die Gefühle.
In der Woche darauf hielt Adler einen Vortrag über einen russischen Studenten aus reichem Hause, der sich als Stotterer vorstellte und seit dem sechsten Lebensjahr verschiedene Kuren gegen Nervosität durchgemacht hatte. Der Patient litt unter einer Vielzahl von Symptomen seit früher Kindheit: Kopfschmerz, Pavor nocturnus, Schlaflosigkeit, später Melancholie, anfallsweise Herzklopfen, er litt lange an Darmkatarrhen. In der Analyse entdeckt Adler unterdrückten Sadismus und Exhibitionismus. Er betont die Rivalität des Patienten zu seinem jüngeren Bruder und analysiert die Zwangshandlungen des Patienten, die darin bestehen, dass er im Bad solange untertauchen musste, bis er entweder bis drei oder bis sieben oder bis 49 oder auch alle drei Zahlen zusammen gezählt hatte. Oft war er dem Ersticken nahe. Hierzu die Einfälle: drei ist die heilige Zahl; eins, zwei, drei zählt man als Anlauf beim Springen; sieben ist die heilige jüdische Zahl; sieben mal sieben = 49 ist das Jubeljahr der Juden. Freud:
Vielleicht stellt die Zahl drei auch den christlichen Penis dar, die sieben den kleinen jüdischen und 49 den großen jüdischen. Der kleinere Penis der Juden ist in der Zwangshandlung durch die größere Zahl dargestellt. Als Arzt habe ich immer die Aufgabe, die Widerstände zu beseitigen, dann wird mir der Sinn der Handlung auf einmal klar. Ihre Minderwertigkeitslehre erweitert zwar die Erkenntnis um die organische Basis der Neurosen, ich sehe die Entwicklung des Patienten jedoch ganz abweichend von Ihnen. Der Patient begann ja erst später zu stottern, so dass das Sprechen zur Exhibition gehört und das Stottern ein Unterdrückungssymptom darstellt. Das Charakteristische der Zwangsneurose ist ja gerade, dass aus der Unterdrückung bestimmter Regungen das Symptom hervorgeht.
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Die Diskussion ist heftig und kontrovers. Federn kritisiert, dass von einem Darmkatarrh doch nicht auf die Minderwertigkeit des Organs zu schließen sei, und es wird sich zeigen, dass Adler auch in den weiteren Diskussionen jener Jahre immer wieder auf seine Organminderwertigkeitslehre zurückkommt. Auch die Interpretation der Zahlen erscheint vielen nicht genügend geklärt, das Untertauchen könne auf ein Kinderspiel zurückgehen, und letztlich sei kein Symptom vollständig aufgeklärt und Sadger findet die organische Minderwertigkeit zu sehr betont. Für Deutsch stellt sich die Analyse nicht lückenhaft dar und Jung hält die Organminderwertigkeitslehre für eine glänzende Idee. Am 30. Oktober und 6. November diskutiert die Vereinigung über eine Krankengeschichte, die Freud vorgetragen hat. Es handelt sich um einen Mann mit Zwangsneurose und die Frage der psychoanalytischen Behandlungstechnik. Adler:
An sich bezweifle ich die Lehrbar- und Erlernbarkeit der Psychoanalyse. In vielen Fällen muss manches unerklärt bleiben, denn es handelt sich nur um einzelne wichtige Kampfpositionen, deren Einnahme den Sieg verbürgt. Die Feinde müssen nicht bis zum letzten Mann erschlagen werden. Ich bin dagegen, wichtige Zusammenhänge, wenn der Patient sie einmal gefunden hat, ihm vorzuenthalten. Allerdings muss ich auch im vorliegenden Fall daran festhalten, dass hier sicher organische Bedingungen nachweisbar sind. Es scheint ein Fall von stark ausgeprägtem Autoerotismus zu sein, der von Heterosexualität nicht abgelöst worden ist.
Handlbauer (1984, 1990) hat darauf hingewiesen, dass Adlers Diskussionsbeiträge vor allem in den Jahren 1906 und 1908 stark von seiner Organminderwertigkeitslehre dominiert waren. In ihrer Tendenz, die verschiedensten psychischen Phänomene auf die eine alles erklärende Ursache zurückzuführen, erscheinen überraschend einseitig. Adler vertrat also über mehrere Jahre in der Mittwoch-Gesellschaft eine sehr eng gefasste Theorie mit dem Anspruch, hiermit den Schlüssel für alle psychologischen Abläufe entdeckt zu haben. Die ursprünglich positive Aufnahme der »Studie über Minderwertigkeit von Organen« wich im Laufe der folgenden Jahre jedoch einer zunehmenden Reserviertheit gegenüber seiner Theorie: »Ausschlaggebend dafür scheint Adlers konsequentes Bemühen zu sein, die Organminderwertigkeits-
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lehre mit möglichst vielen der diskutierten Themen in Beziehung zu setzen« (Handlbauer, 1990, S. 60). Im Dezember 1907 beschäftigt sich die Gruppe mit dem Thema Sexualtraumen und Sexualaufklärung. Freud:
Adler:
Gelingt es, durch Aufklärung eine Art Schutzimpfung gegen sexuelle Traumen zu gewinnen? Ich gehe davon aus, dass die Symptome der Phantasie entstammen und dem Muster von Befriedigungserlebnissen folgen. Hierbei stehen die sexuellen Traumen obenan, die jedoch nicht tatsächlich stattfanden und die daher keine Bedeutung für die Ätiologie von Neurosen besitzen. Dort, wo die Enthaltung von sexuellen Aktivitäten lange gefordert wird, dort gelangen die infantilen Sexualtraumen zu ihrer Bedeutung. Da sich die Wirkungen der infantilen Traumen erst später einstellen, so kann ihnen durch die Aufklärung wirksam begegnet werden. Der beste Weg, um die sexuellen Traumen unschädlich zu machen, ist eine gesellschaftliche Form, die eine gewisse Sexualfreiheit gewährt. Die Kinder müssen die Tatsachen des Sexuallebens so akzeptiert sehen wie alle anderen Dinge des Lebens. Durch die Erziehung werden die intellektuellen Fähigkeiten ganz vom sexuellen Thema abgelenkt, so dass das Trauma unüberwindliche intellektuelle Anforderungen stellt: Das Kind muss diese Erregung also verdrängen. Es ist sehr wahrscheinlich, dass mit Aufklärungen den Wirkungen solcher Traumen zu begegnen wäre. Ich bin eher gegen die systematische Aufklärung der Kinder. Man hindert durch die Aufklärung das selbständige Streben des Kindes nach Fühlungnahme mit der Außenwelt, man verschüttet die Forschungssucht, die Wissbegierde des Kindes. Die infantilen Traumen haben nur Bedeutung im Zusammenhang mit der Minderwertigkeit der Organe. Die Traumen werden nicht nur gesucht, sondern gehen notwendig aus dem Zusammenstoß der Individualität mit dem umgebenden Kulturkreis hervor.
Im Februar 1908 bringen Adler und Federn Vorschläge zur Reform der Arbeitsordnung ein. Die Vorträge sollen nur alle 14 Tage stattfinden, die dazwischen liegenden Abende mit Diskussionen gefüllt werden. Für die Neuanmeldungen und Aufnahmen von Mitgliedern soll in einer geheimen Abstimmung entschieden werden und durch die Abschaffung der Urne sollen freie Meldungen möglich werden. In der Debatte tauchen noch weitere Vorschläge auf, unter anderem soll dem Vorsitzenden ermöglicht werden, persönliche Ausfälle und Übergriffe durch die ihm zustehende Macht und Autorität sofort zu unterdrücken.
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Gerd Lehmkuhl Es ist mir peinlich, jemanden zurechtweisen zu müssen. Wenn die Herren sich untereinander nicht ausstehen können, so dass keiner seine wahre wissenschaftliche Meinung äußert, dann bleibt mir nichts anderes übrig, als zu schließen. Die mir zugedachte Gewalt möchte ich nur in dem Fall gebrauchen, wenn einige durch ihre Unterhaltung die Rede stören. Ich hoffe auf einen gewissen Grad von Ernsthaftigkeit und Offenheit.
Die Protokolle zeigen, dass sich in dieser Zeit die Konflikte und Kontroversen um theoretische Konzepte häuften. Am 4. März werden kurze Referate aus der Literatur und kasuistische Mitteilungen von allen Anwesenden gehalten. In der weitläufigen Diskussion wird Adler von mehreren Teilnehmern kritisiert: Stekel empfindet die Heranziehung der Minderwertigkeitslehre in einem Fall als peinlich, Hitschmann Adlers Erklärungen paradox und gezwungen und die Minderwertigkeit an den Haaren herangezogen. Adler:
Ich kann den Widerstand gegen die Minderwertigkeitslehre nur daraus erklären, dass sie nicht verstanden wird. Ich glaube aber, es gibt keinen Dramatiker ohne einen minderwertigen Sehapparat, denn er erschafft im Gehirn die Szene und muss sie so sehen, wie sie dann später auf dem Theater wirklich aufgeführt wird.
Einige Abende später hält Wittels einen Vortrag über die natürliche Stellung der Frau. Freud: Adler:
Der Vortrag hat mich amüsiert und angeregt. Ich muss den Gedanken des Vortragenden und des Professors widersprechen. Während alle annehmen, dass der Rahmen der gegenwärtigen Gruppierung von Mann und Frau unveränderlich ist, nehmen die Sozialisten an, dass der familiäre Rahmen heute schon erschüttert ist. Die Frauen werden sich nicht hindern lassen, durch die Mutterschaft einen Beruf zu ergreifen.
Daraufhin polemisiert Wittels, dass Adlers Widersprüche daher kommen, dass man nicht gleichzeitig Freudianer und Sozialdemokrat sein könnte.
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Zweiter Akt: Phase zunehmender theoretischer Differenzen – Es wird ernster und kämpferischer Am 25. November 1908 hielt Otto Rank einen Vortrag zum Thema »Der Mythos von der Geburt des Helden«. Adler:
Freud:
Das Material überrascht und erdrückt mich. Die Erfassung des Kerns der Sache ist nicht gelungen. Der wunde Punkt besteht darin, es sieht so aus, als ob Rank die Mythenbildung vom Kinde ausgehen lässt. Die Sexualität nimmt ein Verhältnis mit geringem Raum ein. Ich gehe wohl nicht fehl, wenn ich die Zurückführung auf den Geburtsakt als Behauptung des Professors hinstelle. Die von Adler bezweifelte Berechtigung, die Träume als Geburtsträume aufzufassen, ist völlig unbegründet.
Am 3. Februar 1909 stellt Adler einen Fall von Zwangserröten dar. Er beabsichtigte in seinem Referat nicht eine »vollständige Durcharbeitung dieses Krankheitsbildes, das ihn über ein dreiviertel Jahr beschäftigt habe. Er wollte den Fall aber ausführlich im Zusammenhang darstellen und betonte, dass diese Darstellung des Zusammenhangs für ihn in einer Analyse das Wichtigste sei. Adler:
Wenn man die Literatur der Freud’schen Schule zur Hand nimmt, so bekommt man darin oft den Zusammenhang einer Analyse vorgeführt und man muss schon glücklich sein, wenn man den Zusammenhang in einem Bruchstück wahrnimmt. Der größte Teil der Publikationen bringt Zusammenhänge nicht. Es geht den meisten Publikationen vor allem darum, gewisse Hervorhebungen Freuds noch einmal zu belegen und zu versichern, dass alles so ist. Auch in meiner vorgestellten Analyse sind alle wichtigen Aspekte und Züge vorhanden. So finden sich: Perversionen aller Art, deutlich oder in Spuren, Inzestgedanken, besonders auf die Mutter, aber auch Inzesthandlungen, die sich auf Geschwister, sowohl Bruder als auch Schwester, beziehen. Mein Standpunkt in dieser Frage ist auch der von Freud betonte, dass diese Beziehungen in jedem Fall vorhanden sind, auch beim normalen. Ich führe eine ganze Reihe von infantilen Traumen an, die alle geeignet sind, die Neurose hervorzurufen, aber sie haben es nicht getan.
Adler brachte in seinem Vortrag eine Fülle von Details, die in den Protokollen mehr als sechs Seiten einnehmen. Die Symptome werden umfangreich beschrieben, eine ausgedehnte Krankengeschichte dargestellt und viel anderes Material, ohne eine vorschnelle Diagnose
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zu stellen. Damit ist aber auch, um Handlbauer (1990) zu zitieren, eine Schwäche des Vortrags angedeutet, denn nach der ausführlichen Materialdarstellung blieb eine Erklärung oder Analyse, die man nach so vielen Einzelfakten erwartet hätte, aus. Erst am Schluss gibt Adler eine kurze und etwas überraschende Erklärung der Krankheit. Adler:
Freud:
Adler:
Man kann nun zu Recht die Frage stellen, warum errötet der Mann? Das geht aus dem Material nicht hervor. Nun, es ist interessant, dass dieses Erröten gar nicht vor vier Jahren aufgetreten ist, sondern dass der Patient schon als Kind von vier bis fünf Jahren errötete. Ja, er errötet auch jetzt nach der Heilung nach wie vor und es macht ihm nichts. Er errötete früher zum Beispiel, wenn er vor der Tante den Hut ziehen musste; man kann sagen, eine Art Exhibitionismus. Wichtiger aber ist, dass diese Tante ihn anhielt, den Hut abzunehmen, was für ihn eine unangenehme Lektion war. Und Schuld an alledem ist sein kleiner Wuchs. In diesem Zusammenhang ist auch eine Kleinigkeit zu erwähnen, die sich von selbst versteht und in dem Material immer wieder auftaucht, die für das Verständnis einer solchen Neurose eine geringe Rolle spielt, wichtig aber für die Normalpsychologie ist: Dass der Patient nämlich seinen Penis mit anderen verglich und besonders den seines Vaters größer und schöner fand. Hinter dem Zustand seiner Neurose steckt also die Unmöglichkeit zu imponieren, die eine allgemeine Aggressionshemmung in mancherlei Beziehung herbeigeführt hat. Es ist interessant, die Krankheitsform der Erythrophobie behandelt zu sehen. Ich habe selbst intensive Erfahrungen durch die Analyse von drei Fällen, eine hat mich mit kurzen Unterbrechungen durch fünf Jahre beschäftigt und das weitere Schicksal ist mir bekannt. Aus meinen zahlreichen Erfahrungen kann ich Adlers Bemerkungen über die Erythrophobie nur gutheißen. Sie ist tatsächlich ein Zustand für sich, deren Einreihung in Sexualneurosen nur schwer gelingt. Mit dem Gegensatzpaar von Scham und Wut, also einer aktiven und passiven Regung, lassen sich die Fälle von Erythrophobie erklären. Und hier muss ich ein bisschen Kritik an Adlers Analyse anbringen, der über diese Formel nicht herausgekommen ist. Denn das Problem besteht darin, die Neurosenwahl zu erklären und hierzu hat Adlers Vortrag keine Aufklärung gebracht. Noch eine kurze Anmerkung betreffend der Aggressionshemmung. Ich habe mit Vergnügen gemerkt, dass Adler auf den ersten Teil des Wortes den Akzent legt, während er selbst den zweiten Teil betont haben möchte. In seinem Fall zeigt sich darüber hinaus, dass nicht die Aggressionshemmung die Neurose hervorgerufen hat, sondern die sexuelle, denn erst als sich der Patient verliebt, erkrankt er. Über die Aggressionshemmung müsste man zur Vermeidung von
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Missverständnissen mehr sprechen. Sie macht nicht die Krankheit, sondern sie ist die Form. Es bliebe jedoch zu klären, woher sie kommt, was immer wieder auf das Problem zurückführt, warum der Patient von seiner Liebesneigung weggeschaut hat. Was das Sexuelle betrifft, so stehe ich bekanntlich zu dieser Auffassung in einer kleinen Opposition, weil für mich die sexuellen und die anderen Kinderfehler zusammenfließen und dass diese anderen Kinderfehler ursprünglich des sexuellen Einschlags entbehren.
Dem sexuellen Thema konnte man nicht mehr entkommen, auch nicht in der Diskussion über Freuds Referat »Über einen besonderen Typus der Objektwahl«. Freud geht hier von der Beobachtung aus, dass männliche Patienten gewisse Eigentümlichkeiten in dem Bereich der Liebesbedingungen aufweisen. Hierunter ist die Tatsache zu verstehen, dass es für jeden Menschen gewisse, ihm in der Regel unbekannte Bedingungen gibt, deren Erfüllung die Voraussetzung ist, dass er sich verliebt. Adler:
Über Liebesbedingungen sollte man einmal ausführlich sprechen und dabei das psychische Phänomen hervorheben, dem diese Liebesbedingung ihre Bedeutung verdankt. An dem Typus, dessen Vorkommen unfraglich ist, möchte ich eine kleine Einschränkung machen: Es scheint, dass ähnliche Bedingungen, wenn man genauer darauf achtet, sich bei jedem Neurotiker finden. Das kann uns nicht wundern, denn alle diese Bedingungen werden ja vom Verhältnis zur Mutter gewonnen. Dauer, Intensität und Reaktion mag ja dann den weiteren Ausschlag geben, der uns beim fertigen Individuum als so bedeutsamer Unterschied in die Augen fällt. Beim Eingehen auf den Mechanismus verschwinden diese Unterschiede. Freud hat uns in dem Typus nur das Urbild gezeigt. Das Dynamische kommt erst hinein, wenn wir uns dem Gedankengang nähern, der auch in anderen Fällen die wichtigste Rolle spielt: Dem Zustand der Empfindlichkeit bei allen diesen Menschen, der sich hier nur in dieser bestimmten Form äußert, die aber immer ein Zurückgehen auf die ursprünglichste Bedingung ist, in der ihre Empfindlichkeit gereizt wurde. In der Regel durch die Unzulänglichkeit der Mutter, die ihm nicht ihre volle Zärtlichkeit zuwendete. Erst diese Empfindlichkeit kann uns klar machen, wie das Urbild der Beziehung zur Mutter dynamisch zu wirken beginnt. So kenne ich den übrigens häufigen Fall einer Frau, die ihren ungeliebten Mann zu lieben beginnt, wenn er sich in eine andere Frau verliebt. Sie wollte ihn wohl verlassen, erträgt es aber nicht, dass er sie verlässt. Man gewinnt überhaupt den Eindruck, dass das, was man Liebe nennt, etwas sehr Rares ist und dass die Empfindlichkeit eine größere Rolle fast dabei spielt als der normale Sexualtrieb.
256 Freud:
Gerd Lehmkuhl Was Adler jetzt hervorhebt, ist etwas sehr Beachtenswertes, was bislang in unseren Darstellungen nicht zum Vorschein kam. Wir verfolgen immer die Sexualtriebe und deren psychische Einwirkungen. Adler weist darauf hin, dass zur kompletten Schilderung das Verhältnis des Ich-Triebes gehört. Dies ist die Zensur, die das Ich in den jeweiligen sexuellen Situationen ausübt und der eigentliche Grund der Verdrängung. Allerdings kann ich Adler nicht in der Auffassung folgen, dass das Dynamische regelmäßig vor dem Ich-Trieb beigestellt wird. Das scheint mir nicht nur willkürlich, sondern auch eine große Unterschätzung der Sexualität.
Am Ende des 7. Vereinsjahres hält Adler sein Referat »Über die Einheit der Neurosen«. Dieser 2. Juni 1909 nimmt eine Schlüsselstellung in der inhaltlichen Auseinandersetzung zwischen Adler und Freud ein, da hier zum ersten Mal die wesentlichen Unterschiede offen ausgesprochen wurden und die früheren kleinen Scharmützel einer offenen Konfliktlinie weichen. Einleitend drückt Adler die Hoffnung aus, dass durch den Vortrag und die Besprechung dieser noch sehr der Schonung bedürftigen Gedankengänge vielleicht ein kleiner Schritt nach vorwärts im Verständnis und in der Therapie der Neurosen getan werden könnte. Adler geht systematisch vor und nennt fünf Eckpunkte, die sowohl die Ätiologie als auch Psychodynamik der Neurosen charakterisieren. Er geht hierbei auf die Organminderwertigkeit als Grundlage für das Verständnis des Trieblebens ein, kommt auf den Aggressionstrieb zu sprechen, die Überempfindlichkeit, die einer Verwandlung des Aggressionstriebs entstammt, dem Analcharakter, der mit den drei ersten Punkten in Wechselwirkung stünde, und auf die Beziehung zu den Eltern. Adler:
Wie lässt sich die Wahl der Neurose erklären? Ich denke, dies ist ein Programm der Zukunft und ich kann hierzu vorläufig nur einen bescheidenen Beitrag liefern. Es zeigt sich aus dem Material, dass dabei die Verschränkung und das Zusammenstoßen der Triebe von größtem Belang ist. Aber auch die Organminderwertigkeit spielt ihre Rolle, das kann man regelmäßig aus der Analyse gewisser funktioneller Symptome ersehen. Dieses Zusammentreffen und der Widerstreit besonders ausgeprägter, aber für die Kultur nicht freier Triebe, ferner der Grad der Einschränkung der Aggression spielen gewiss bei der Neurosenwahl eine gewichtige Rolle, aber es kann unmöglich alles sein. Wir müssen uns vorstellen, dass schon ein geringer Unterschied
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Freud:
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in der Triebstärke genügt. Das Wichtigste bei der Neurosenwahl ist aber sicherlich, auf welcher Entwicklungsstufe des Kindes dieser Zusammenstoß erfolgt: Der Zusammenstoß vereinzelter Triebe mit der Kultur, der Außenwelt, kurz, wann die inneren Widersprüche laut werden. Ganz allgemein kann ich feststellen, dass bei der Aufrechterhaltung des Grundsatzes von der Einheit der Neurosen die Neurosenwahl dadurch bedingt ist, wann und in welcher Verfassung das Lautwerden innerer Widersprüche das Individuum antrifft, d. h. in welcher Verfassung es die Aggressionshemmung antrifft oder allgemein verständlicher, in welcher geistigen Verfassung die Verdrängung der Phantasien eintritt. Dabei spielt, wie schon betont, die Stärke der Reaktion nach Außen und nach Innen eine Hauptrolle. Ich lege also ein besonderes Gewicht auf die Zurückführung der Neurose bis in die Zeit vor der Verdrängung, wie es auch Freud regelmäßig getan hat, und wie es aus der Betrachtung des Analcharakters hervorgeht. Dieser betrifft die angeführte Entwicklungsstufe, auf der das unheilvolle Ereignis eintritt. Damit ist klar, dass es sich tatsächlich um einen angeborenen Trieb handelt und dass im Hintergrund die Organminderwertigkeit steht, die allerdings die Neurosenwahl nicht ausmachen kann, nicht allein zur Neurose führen kann, deren Betrachtung aber unentbehrlich ist zum Verständnis der Neurosenwahl und zum Verständnis der Symptomatologie der später eintretenden Neurose. Ich habe an den klaren und konsequenten Gedankengängen Adlers wenig auszusetzen, auch wenn ich eingestehen muss, dass ich im Allgemeinen einen anderen Standpunkt einnehme. Es ist interessant, diese beiden Standpunkte miteinander zu vergleichen und so von verschiedenen Seiten Licht auf die Probleme zu werfen. Mein stärkster Einwand besteht darin, dass Adler fast wie absichtlich das Sexuelle völlig eliminiert hat. Dieser Aspekt ist aber in der Betrachtung der Neuroseneinheit nicht zu missen. Adler beschäftigt sich im Wesentlichen mit Bewusstseinspsychologie und dem Bereich, den man Psychologie der Ich-Triebe nennen kann. Aber die ganze Psychotherapie steht doch auf der anderen Seite der erotischen Triebe, um den Menschen für die anderen Interessen fähig zu machen. Die Ätiologie der Neurosen ist durchweg eine Sexuelle. Als Ergänzung kann die Beschreibung der Ich-Triebe und ihres Verhaltens gegen die abzuwehrenden Sexualtriebe etwas außerordentlich Bedeutsames und Unentbehrliches sein. Aber ich sträube mich, Adlers Betrachtung als Charakteristik der Neurosen anzuerkennen. Über die Organminderwertigkeit haben wir ja schon wiederholt diskutiert und Sie kennen hierzu meine Meinung. Den Aggressionstrieb sehe ich nicht als eigenen Trieb, der den anderen Trieben nur formalen Inhalt gibt. Auch mit der Überempfindlichkeit habe ich meine Probleme. Sie ist ein exquisiter Charakterzug – nicht des neurotischen Individu-
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Adler:
Gerd Lehmkuhl ums, sondern bestimmter Ich-Triebe des Individuums. Sie entspricht damit Verdrängungsanlässen, hinter denen die pathologischen Komplexe liegen und erkannt werden müssten. Ich würde am ehesten die Empfindlichkeit mit einer Art Libido der Ich-Triebe vergleichen. Wichtig ist, dass die Einheit der Neurosen nicht erst gesucht zu werden braucht, denn sie existiert schon längst. Ich fasse die Neurosen auf als Ersatzbildungen für die Verdrängung der Libido und erkläre ihre Verschiedenheiten durch die verschiedenen Mechanismen der Verdrängung und der Wiederkehr des Verdrängten. Die Disposition der Neurosenwahl liegt also in den Schicksalen der Libido, von denen wir ja bereits einige kennen gelernt haben. Der allgemeinste pathologische Gesichtspunkt besteht in der Entwicklungshemmung als Disposition und in der Rückbildung als Erkrankungsmechanismus, was aber den Anstoß dazu gibt, das ist die Libido und ihr Schicksal. Ich hatte nicht vor, das Sexuelle zu eliminieren. Wenn Freud hervorhebt, dass die Entstehung der Neurosen abhängt von der Entwicklung der Libido und ihren Störungen, so muss ich die Frage stellen, welches die Ursachen dieser Entwicklungsstörung sind. Mir ist ein Fall in Erinnerung, der belegt, dass diese Entwicklungsstörung durchaus nicht angeboren sein muss, sondern auch aus dieser Konstitution stammt. Man muss also keineswegs auf das Angeborensein einer Libido rekurrieren. Das Entscheidende für die Entstehung der Neurosen und der Neurosenwahl stellt in meinen Augen der Primärkonflikt, in welchem die Widersprüche zutage treten, dar.
Die Diskussion wird heftig geführt. Federn, Stekel, Hitschmann und Reitler beteiligen sich, worauf Adler noch einmal entgegnet und Freud das Schlusswort zukommt. Adler:
Freud:
Ich danke für die Aufmerksamkeit, möchte nicht auf alle Diskussionsbeiträge eingehen, nur erwähnen, dass ich an dem Konzept der Überempfindlichkeit festhalte. Die Einheit der Neurosen hat nur einen Sinn, wenn man auch die Verschiedenheit der Neurosen beachtet. Diese beruht auf der Verschiedenheit der Verdrängungsbedingungen. Wenn man sagt, in der Ätiologie liegt die Einheit der Neurosen, so reicht auch das nicht aus, denn diese fällt mit der Ätiologie unserer sonstigen seelischen Entwicklung zusammen. Die Frage, warum man krank wird, hat sich uns während unserer analytischen Bemühungen verflüchtigt. Darüber, ob einer krank wird, entscheiden allein quantitative Verhältnisse.
Im Vortrag am 23. Februar 1910 beginnt Adler zurückhaltend. Er sei sich bewusst, mit dem angekündigten Thema psychischer Hermaphroditismus an die heikelsten Punkte des psychoanalytischen Forschungsgebietes zu rühren. Obwohl Adler grundlegende Verände-
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rungen seiner theoretischen Betrachtungsweise darstellt, bleiben die Inhalte im Protokoll zum Teil unklar, was auch von mehreren Seiten in der anschließenden Diskussion bemängelt wurde. Adler rückt von seiner biologischen Sichtweise ab und erweitert sie um einen erlebnispsychologischen Ansatz. Der Aufsatz, dem eine Schlüsselstellung in Adlers Theorieentwicklung zukommt, ist nach Handlbauer möglicherweise deshalb so unklar und verwirrend, weil Adler das Neue, das bereits für ihn spürbar war, zu diesem Zeitpunkt noch nicht klar artikulieren konnte. Adler:
Freud:
Aus dem Kampf zwischen der weiblichen Grundlage und dem männlichen Protest entstehen auch jene Erscheinungen in der Neurose und beziehen ihre Kraft, die wir im eigentlichen Sinne Kompromissbildungen nennen, zum Beispiel den Zweifel, sadistisch-masochistische Züge, alle Formen des gehemmten und perversen Aggressionstriebs, die Erscheinungen des Zwangs und der Angst. Eine weitere Form dieses Kampfes ist der Trotz. Das trotzige Festhalten der als unmännlich empfundenen Kinderfehler stellt auch eine Kompromissbildung dar zwischen einer als »weiblich« empfundenen Eigenart und dem Versuch eines männlichen Protestes. Die Neurose zeigt sich erst dann, wenn der männliche Protest scheitert, und er muss beim Neurotiker aus folgenden Gründen scheitern: Weil seine weiblichen Züge immer durchschlagen wie Masochismus, Angst, Unentschlossenheit, Zweifel, Pessimismus. Und weil die Anforderungen, die er stellt, um sich als Mann zu fühlen, hypertrophisch sind, so dass er sein Minderwertigkeitsgefühl überkompensiert, jedoch auch hierdurch nicht zufrieden gestellt werden kann. Und weil unsere Gesellschaft nicht geeignet ist, regelmäßig weitgehende Anforderungen zu erfüllen und dies ist auch der Punkt, wo die Neurose manifest wird. Wie immer ist in Ihrem Vortrag eine Anzahl scharfsinniger, begrifflich gut definierter und vor allem die Tatsachen in ein scharfes Licht rückende Bemerkungen. Andererseits gelingt es Ihnen aber kaum, sich in Ihre Gedanken einzufühlen. Und ich stehe, das muss ich zugeben, Ihren Ausführungen mit einer gewissen Fremdheit gegenüber. Dies liegt daran, dass Sie psychologisches Material zu früh biologischen Gesichtspunkten unterwerfen und so zu Ergebnissen kommen, zu denen das psychologische Material auch gar nicht berechtigt. Das Beispiel von Fließ, der eine biologische Charakteristik gibt, hat viele verführt. Fließ hat im Unbewussten das Gegengeschlechtliche gesehen. Das ist falsch. Bei der Frau findet man allerdings in der Neurose verdrängte Männlichkeit, aber beim Mann auch wieder nur die Verdrängung »männlicher« Regungen und nicht »weiblicher«. Die Neurose hat immer weiblichen Charakter. Doch taugen die Begriffe
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Adler:
Gerd Lehmkuhl männlich und weiblich in der Psychologie nichts und wir bedienen uns mit Rücksicht auf die Ergebnisse der Neurosenpsychologie besser der Begriffe Libido und Verdrängung. Alles, was libidinös ist, hat männlichen, was Verdrängung ist, weiblichen Charakter. Psychologisch können wir nur den Charakter der Aktivität und Passivität darstellen. Setzt man da die Begriffe männlich und weiblich ein, so kommt heraus, was Adler beschrieben hat. Es ist ein Wechsel der Nomenklatur, bei dem wir an Klarheit nur verlieren. Ähnlich ist es mit der Auffassung des Traumes als Wegstreben vom Weib zum Mann: Der Traum hat eben das Streben, einen Wunsch zu erfüllen. Und dieses Streben ist libidinös, ist aktiv. Ich muss mich dagegen wehren, vor allem, auf dem biologischen Standpunkt festgenagelt zu werden. Ich bin, glaube ich, weniger biologisch, als wenn ich die Schicksale der Libido und der angeborenen sexuellen Konstitution verfolgt hätte. Aber ich muss sagen, dass ich die Äußerungen des Professors an manchen Punkten dankbar begrüße.
In den nächsten Treffen hält sich Adler in der Diskussion merkwürdig zurück und erst am 18. Mai 1910 kommt es wieder zu einem kleinen Scharmützel zwischen Adler und Freud. Stekel hält einen Vortrag über das Gefühl des Fremdartigen im Traum und im Leben. Stekel interpretiert das Gefühl des Fremdartigen am Beispiel einer Patientin als Durchbruch eines heftigen Wunsches, eine von ihr geliebte Person zu vergessen und ihr fremd zu werden. Immer wenn eine Liebe stürbe und eine neue entstände oder der Wunsch danach bestehe, dann träte dieses Gefühl der Fremdartigkeit auf. Eine Herabsetzung des Ich-Gefühls spiele dabei sicherlich auch mit, denn das Selbstwertgefühl dieser Personen sei gekränkt. Adler:
Freud:
Das Gefühl des Fremdartigen findet sich fast in jedem Fall von Neurose. In meinen Fällen finde ich dabei oft eine Anzahl von Kinderfehlern mit dem Gefühl der körperlichen Minderwertigkeit, aus dem dialektisch gesteigerter Ehrgeiz und Selbstbewusstsein herauswachsen. Das Wichtigste ist aber, den Sinn des Symptoms zu verstehen und wie seine Dynamik aussieht. Was Stekel als Gefühl des Fremdartigen beschreibt, gilt für Jung als Charakter der Dementia praecox. Zu dieser irrtümlichen Auffassung kam er, weil in diesen Fällen wesentlich dasjenige wahrgenommen wird, wofür Stekel den überflüssigerweise neuen Namen Differenzierung vorschlug, nämlich eine Affektablösung. Das heißt, die Libido wird von einem Objekt, an dem sie haftet, anderswohin verschoben. Für die Dementia praecox ist zwar charakteristisch, dass die Libido
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zum Ich zurückkehrt. Der Demente hat kein Minderwertigkeitsgefühl, er entwickelt Größenwahn, indem er sein Ich mit der den Objekten entzogenen Libido vergrößert. Adler wird mit seiner Betonung des Ichs und der bewussten Vorgänge dem psychoanalytischen Tatbestand nie gerecht. Die Psychoanalyse fasse die Dinge gerade vom Unbewussten und von der Libido her, die doch erst die Neurosen ausmachen.
Dritter Akt: Dramatischer Höhepunkt mit Trennung der Helden Adler hielt am 4. Januar 1911 einen Vortrag über einige Probleme der Psychoanalyse. Er sollte den endgültigen Bruch einleiten. Im Vorfeld hatte Adler bereits seine neuen Begriffe Minderwertigkeitsgefühl und männlicher Protest vermehrt in die Diskussion eingebracht und heftige Kritik geerntet. Die sich zunehmend über Adler zusammenziehenden Gewitterwolken veranlassten Hitschmann den Antrag zu stellen, dass die Adler’schen Lehren einmal im Zusammenhang und insbesondere im Hinblick auf ihre Divergenz gegenüber der Freud’schen Lehre eingehend diskutiert werden sollten, um, wenn möglich, eine bessere Verschmelzung beider Anschauungen zu erzielen oder zumindest eine Klärung der Differenzen. Freud ging es vor allem um das Verhältnis des männlichen Protestes zur Verdrängungslehre, die in den Adler’schen Arbeiten keine Rolle spiele. Die Stimmung war bereits ungemütlich und angespannt, wie aus mehreren Briefen Freuds an Ferenczi vom 8. und 23. November 1910 sowie vom 6. April 1911 hervorgeht (zit. nach Jones, 1984), und es wurde persönlich und verletzend: »Leider muss ich zugeben, dass die Taktlosigkeit und Unliebenswürdigkeit von Adler und Stekel die Verständigung sehr erschweren. Ich ärgere mich über Beide« (S. 160). »Ich ärgere mich überdies schändlich mit Adler und Stekel. Ich habe bereits gehofft, dass es zu irgendeiner reinlichen Scheidung kommen würde, aber es verzieht sich wieder, so muss ich trotz meiner Meinung, dass mit ihnen nichts zu machen ist, doch mit ihnen weiterrackern. Ich sage Ihnen, es war oft schöner, solange ich allein war.« (S. 160). »Ich ärgere mich unausgesetzt über die Beiden – Max und Moritz –, die sich auch mit großer Rapidität nach rückwärts entwickeln und bald bei der Leugnung des Unbewussten angekommen sein werden« (S. 161).
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Gerd Lehmkuhl
Auch in seinem Briefwechsel mit Jung zeigt sich Freud gegenüber Adler unversöhnlich und gekränkt (Freud u. Jung, 1974): »Adler ist überempfindlich, und weil ich seine Theorien konsequent ablehne, innerlich verbittert« (19.06.1910). »Die Stimmung wird mir durch die Ärgernisse mit Adler und Stekel weggenommen, mit denen schwer auszukommen ist. Adler, ein sehr anständiger und geistig hochstehender Mensch, ist dafür paranoisch, drängt seine kaum verständlichen Theorien im Zentralblatt so vor, dass sie alle Leser in Verwirrung bringen müssen. Streitet beständig um seine Prioritäten, belegt alles mit neuen Namen, beklagt sich, dass er in meinem Schatten verschwindet und drängt mich in die unliebsame Rolle des alternden Despoten, der die Jugend nicht aufkommen lässt. Ich wäre froh, wenn ich sie beide los wäre, da sie mich auch persönlich schlecht behandeln« (25.11.1910). »Mit Adler wird es wirklich arg. Finden Sie Bleuler in ihm, so erweckt er in mir das Andenken an Fließ, eine Oktave tiefer. Dasselbe Paranoid. […] Seine Darstellung leidet an der paranoiden Unbestimmtheit. […] Natürlich bin ich ihm gegenüber zwischen meiner Überzeugung, dass das alles schief gewickelt und schädlich ist, und der Gefahr, für einen intoleranten Greis zu gelten, der die Jugend nicht aufkommen lässt, in einer sehr peinlichen Stellung« (03.12.1910).
Freud wurde an die Wunden der Fließ-Affäre erinnert und setzte sich bereits intensiv mit der Trennung von Adler auseinander, als dieser die angekündigten Vorträge am 4. Januar und 1. Februar 1911 hielt. Versuchen wir die Dramaturgie dieser beiden Mittwochabende mit den weiteren Diskussionen darüber am 8. und 22. Februar nachzuzeichnen: Adler:
Ich denke, dass die Auffassung, jeder Trieb habe eine sexuelle Komponente, biologisch nicht haltbar ist. Ebenso wenig ist die Organminderwertigkeit mit der Erogenität eines Organes identisch. Um erogen zu werden, bedürfen diese Zonen einer Triebverschränkung unter dem Druck falscher Sexualtheorien. Alles was uns der Neurotiker an Libido zeigt, ist nicht echt. So dienen die Inzestphantasien weit entfernt, der Kernkomplex der Neurosen zu sein, nur dazu, den eigenen Glauben an die Übermacht und die verbrecherische Neigung der Libido zu nähren und dabei jeder anderen Sexualbeziehung aus dem Wege gehen zu können. Sexuelle Motive werden frühzeitig geweckt und gereizt durch die Organminderwertigkeit und vom gesteigerten männlichen Protest als riesenhaft empfunden. Dies hat den Zweck, dass der Patient sich rechtzeitig sichert.
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Freud schweigt, Federn, Jekels, Reitler, Hitschmann und Tausk diskutieren kontrovers und lehnen Adlers Konzepte zum Teil heftig ab. Es sei unrichtig zu glauben, dass nur die Organminderwertigkeit zu gesteigertem Ich-Gefühl und Aggressionstendenz führe. Zur Neurose könne es auch ohne minderwertige Organe kommen und Adler vergesse, dass es sich vor allem dabei um die Verdrängung von Sexuellem handelte. Adler verteidigt sich, auch Freud erkläre die Symptome der Neurose nicht restlos aus der Libido. Und Adler fügt hinzu, dass er nie bestritten habe, dass der Keim seiner Auffassungen in den Ausführungen Freuds zu finden sei. Aber reicht dies, um Schüler und Mitglied der Mittwoch-Gesellschaft zu bleiben? Bis zum nächsten Vortrag Adlers über den männlichen Protest als Kernproblem der Neurose am 11. Februar 1911 geht es thematisch – und dies ist nicht ganz ohne Symbolik – über die Grundlagen der Mutterliebe, über Magisches und anderes sowie über das Schuldgefühl. Und dann wird es ernst. Adler:
Die Ursachen und der Weg zur Neurose sind trotz der Erkenntnis der Verdrängung nicht so klar, wie man annimmt. Durch Zurückführung auf die sexuelle Konstitution ist das Problem der gelungenen und misslungenen Verdrängung nur noch rätselhafter geworden. Die Frage lautet: Ist das treibende Moment in der Neurose die Verdrängung oder – wie ich sagen möchte – die irritierte Psyche, bei deren Untersuchung auch die Verdrängung zu finden ist? Die ganze Verdrängung geschieht unter dem Druck der Kultur. Doch woher stammt unsere Kultur? Aus der Verdrängung, so dass der Ich-Trieb zum erdlosen Begriff geworden ist. Fasst man ihn aber nicht als etwas starr gewordenes auf, sondern als die Summe aller Anspannungen, als Einstellung gegen die Außenwelt, als ein Geltenwollen, Streben nach Macht, nach Herrschaft, nach Obenseinwollen, so wird klar, dass dieses Geltenwollen auf gewisse Triebe hemmend, verdrängend und modifizierend, aber vor allem auch steigernd einwirken muss. Die Triebbefriedigung und damit die Qualität und Stärke des Triebes ist jederzeit variabel und daher unmessbar. Ebenso wenig lassen die libidinösen Tendenzen einen Schluss auf die Stärke und Zusammensetzung des Sexualtriebes zu. Die Anpassung des Kindes an ein bestimmtes gegebenes Milieu vollzieht sich, begleitet von der Trotzeinstellung des Kindes, derzufolge es an den Kinderfehlern, an den sexuellen Unarten festhält. So lässt sich auch erklären, warum die Aufdeckung der Protestcharakterzüge als erstes Stück der Analyse gewöhnlich zu einer Besserung führt, häufig aber auch von Widerständen gefolgt wird, die sich in Versuchungen zur Entwertung des Arztes kund geben. Das weitere Stück der Kur führt dann regelmäßig
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Adler:
Gerd Lehmkuhl zu den Quellen der Neurose, d. h. dem Gefühl der Minderwertigkeit und dem männlichen Protest. Ob und wie viel Libido mit dabei im Spiel ist, ist vollkommen gleichgültig. Dienstmädchen- und Gouvernantenliebschaften, Masturbation und Pollution sind Sicherungstendenzen gegen Herabsetzung und dienen bloß der männlichen Tendenz, sich nicht einer Frau beugen zu müssen. Ich kann nicht mehr von einem Komplex der libidinösen Wünsche und Phantasien reden, sondern auch der Oedipus-Komplex muss als Teilerscheinung einer überstarken psychischen Dynamik verstanden werden, als ein Stadium des männlichen Protestes, von dem aus die wichtigeren Einsichten in die Charakterologie des Neurotikers möglich sind. Ich möchte heute nur einen Teil meiner Einwendungen vorbringen. Adlers Arbeiten lassen sich wegen ihrer abstrakten Art nur schlecht verstehen. Dabei spricht er von denselben Dingen, ohne sie mit den bereits bekannten Namen zu bezeichnen. Ich habe den Eindruck, dass im männlichen Protest irgendwie die Verdrängung steckt. Viele der von Adler vorgebrachten Gesichtspunkte habe ich bereits früher schon gestreift. Um es deutlich zu sagen, Adlers Arbeit ist etwas anderes als die Psychoanalyse. Mir fällt immer die antisexuelle Tendenz in Ihren Arbeiten auf und Ihre Tendenz gegen den Wert des Details und gegen die Phänomenologie der Neurose. In meinen Augen führt das Konzept der Einheit der Neurosen zu einer Einerleiheit der Neurosen. Diese Tendenz ist methodisch sehr zu bedauern und verurteilt die ganze Arbeit zur Sterilität. Im Grunde aber schaden Ihre Lehren der Psychoanalyse. Sie haben darüber hinaus einen reaktionären und retrograden Charakter und damit allerdings eine höhere Anzahl von Lustprämien. Sie werden einen großen Eindruck machen, aber statt Psychologie stellen sie einen großen Teil Biologie sowie Oberflächen- und Ich-Psychologie dar. Streng genommen schaden Sie der Entwicklung der Psychoanalyse, wo wir uns gerade bemühen, die Psychologie reinzuhalten von jeder Abhängigkeit. Mein wichtigster Einwand: Es handelt sich um Ich-Psychologie durch die Kenntnis der unbewussten Psychologie vertieft. Darin liegt die Stärke und die Schwäche Ihrer Darstellung. Die Dinge, die wir bislang studiert haben, kann man auf diese Weise niemals sehen. So kommt es auch, dass Sie fortwährend primäre und sekundäre Dinge vertauschen. Und letztlich wiederholen Sie Ihre Meinungen stereotyp. Immer wieder hören wir nur vom Obenseinwollen, von der Sicherung, vom Scharfmachen und von Rückendeckung. Ihr Material sind Menschen mit schlampigen Konflikten, verdrehte und verschrobene Charaktere, aber keine wirklich echten Hysterien und großen Neurosen. Obwohl ich in manchen Punkten von der bisherigen Lehre abweiche, muss ich Ihre Stellungnahme als unverdient und abwertend zurückweisen. Und noch mal: Meine Befunde zeigen, dass es darauf ankommt, hinter dem Sexuellen viel wichtigere Beziehungen zu
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erkennen, wie den männlichen Protest, die das Sexuelle nur vortäuschen. Um meine Ansichten noch besser zu veranschaulichen, plane ich eine Analyse des Professors aus meiner Sicht zu beleuchten und die Abweichungen aufzuzeigen. Ich halte die Adler’sche Lehre für falsch und für die Entwicklung der Psychoanalyse für gefährlich. Es sind wissenschaftliche Irrtümer, die durch eine falsche Methodik, und zwar durch das Heranziehen von sozialen und biologischen Gesichtspunkten begründet sind, aber ungeachtet der Ablehnung des Inhalts kann man doch ihre Konsequenz und ihren Sinn anerkennen. Ich kann an einer eigenen Krankengeschichte zeigen, dass die von Adler aufgezeigten Dinge wirklich bestehen, jedoch sekundär durch primäre Libidoströmungen bedingt sind. Ich merke, dass meine Arbeiten vom Professor und einigen Kollegen als Provokation aufgefasst werden. Allerdings wären sie ohne Freud nie möglich gewesen. Jetzt sehe ich meine wissenschaftliche und persönliche Situation einigermaßen bedroht und ich werde im Interesse der psychoanalytischen Bewegung daraus die nötigen Konsequenzen ziehen.
Bis zum 11. Oktober schwelt der Konflikt, dann gibt Freud bekannt, dass seit der letzten Vereinssitzung folgende Mitglieder ausgetreten seien: Dr. Adler, Dr. Bach, Dr. Maday und Dr. Baron Hye.
Epilog: Trennung und Folgen Nachdem die Trennung vollzogen war – Adler sprach von nicht zu überbrückenden Inkompatibilitäten –, verringerten sich die feindlichen Haltungen keineswegs, vielmehr setzten sich das Machtthema und die gegenseitigen Abgrenzungen zweier nun unabhängiger Schulen in ungebrochener Schärfe fort. Freud zitiert in einem Brief an Jung die Begründung Adlers für seinen Austritt: »Der Verein hatte Ihnen gegenüber trotz einer einmaligen Entschließung nicht den moralischen Einfluss, Sie in der Verfolgung Ihres alten persönlichen Kampfes gegen mich aufzuhalten. Da ich keine Neigung habe, mit meinem gewesenen Lehrer diesen persönlichen Kampf zu führen, zeige ich hiermit meinen Austritt an.« Freud setzt in seinem Brief an Jung fort: »Der Schaden ist nicht sehr groß. Paranoische Intelligenzen sind nicht rar und mehr gefährlich als wertvoll. Er
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hat als Paranoiker natürlich in Vielem Recht, wenn auch in Allem Unrecht. Einige recht unbrauchbare Mitglieder werden wahrscheinlich seinem Beispiel folgen« (Freud u. Jung, 15.6.1911).
Der Bruch sollte die beiden Protagonisten bis an ihr Lebensende beschäftigen und sich auf die Schüler fortsetzen. Als Adler bei einem Abendessen mit Maslow 1936 auf sein »Schülerverhältnis« zu Freud angesprochen wurde, lief er rot an und sagte: »Dies sei eine Lüge und ein Schwindel, an dem Freud ganz allein Schuld sei. Er habe von Anfang an klar gemacht, dass er mit Freud nicht übereinstimme und seine eigenen Ansichten habe. Freud, so sagte er, habe ihm vorgeschlagen, es gemeinsam zu versuchen, und vielleicht zu einer Übereinstimmung zu kommen. Als die Auffassungsunterschiede fortdauerten und Adler die Gruppe verließ, habe, so Adler, Freud jene Version des Bruchs eingestreut, die seither von allen akzeptiert wurde, nämlich, dass Adler ein Schüler Freuds gewesen und dann von ihm abgefallen sei. Das war es, was Adler verbitterte, zumindest an diesem Abend, und ihn veranlasste, Freud als ›hinterhältig‹ zu bezeichnen« (zit. nach Handlbauer, 1990, S. 185). Und auch Stekel (1950) meinte, dass Adler ein »furchtbarer Gegner« wurde. Aber auch Freud verhielt sich keineswegs zurückhaltend und wies immer wieder auf die tiefgreifenden inhaltlichen Diskrepanzen zwischen Adler und ihm hin, wie in einem Brief an Lou Andreas-Salomé (1972): »Verehrte Frau, Sie sind unverwüstlich. Sie scheinen nicht der Hemmung zu verfallen, die uns Anderen allein in diesen Zeiten die Schöpferkraft geraubt hat. Ihre Bemerkungen zum Narzissmus nehme ich nicht als Einwände, sondern als Anweisungen, weitere begriffliche und sachliche Aufklärungen zu versuchen. Ich gebe Ihnen Recht, ohne die so aufgeworfenen Probleme lösen zu können. Auch den Vorteil Adlers gebe ich zu, es ist der Vorteil einer den Dingen aufgedrängten Systembildung vor einer Beobachtung, die ängstlich bemüht ist, ihnen gerecht zu werden. Ich tröste mich damit, dass es keine Aufgabe der Wissenschaft ist, die Welt zu vereinfachen, wenigstens nicht die nächste« (31.1.1915, S. 115).
Wir erlebten ein dramatisches Geschehen, das die Protagonisten zunächst zu neuen Ufern führt, dabei scheint der Zusammenhalt eng und die Begeisterung groß, Neues zu entdecken und die Perspektiven zu erweitern. Doch dieser lustvolle Erkundungsprozess endet rasch in Machtgerangel und Kompetenzstreit: Wer trägt die wichtigsten
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Erkenntnisse bei, wer bestimmt die Richtung und wem gebührt die höchste Anerkennung? Je stärker die Machtfragen ins Spiel kommen, desto mehr bleibt die Lust auf der Strecke. Vielleicht liegt es auch an diesen frühen Grabenkämpfen, dass die Psychoanalyse – wie Heisterkamp (2001, 2002) ausführt – das Thema Freude stiefmütterlich behandelt, Abweichungen sanktioniert, Kreativität hierdurch unterdrückt und Versagensängste geschürt werden (Kernberg, 1998). Dabei wurde bislang das Thema Macht ebenfalls ängstlich ausgespart. Person (1999, 2005) arbeitet heraus, dass trotz der Marginalisierung des Machtkonzeptes in der psychoanalytischen Theorie Überlegungen zur Macht mit der Therapiesituation selbst und mit unseren Organisationen untrennbar verbunden sind: »Überlegungen zur Macht fließen in mehrfacher Weise zwangsläufig in die klinische Arbeit ein; aus therapeutischer Sicht geht es in Erzählungen, Träumen und Phantasien der Patienten um Macht; Machtinteraktionen sind ein integraler Bestandteil des Phänomens der Übertragung und Gegenübertragung und Machtgedanken sind fast immer im Spiel, wenn Therapeuten Grenzverletzungen begehen« (S. 4). Und hinter der Lust und Freude am Diskurs lauert häufig die Angst, gekränkt und abgelehnt zu werden. In diesem Sinne meint Heisterkamp (2005), dass der publizierende Analytiker, je mehr er sein eigenes Erleben und das der Patienten konkretisiert, umso angreifbarer und verletzbarer wird. Wenn er sich mit und an seinen Patienten freut und im Konzeptuellen Lust und Freude oder Trieb und Affekt noch nicht getrennt gehalten werden können, setzt er sich leicht heftiger Kritik aus. Vielleicht lassen sich die Wurzeln unseres heutigen Umgangs mit Macht und Lust in den psychoanalytischen Gesellschaften auch auf die Erfahrungen in der Mittwoch-Gesellschaft zurückführen. Wenn Aspekte der Deutungs- und Theoriehoheit überhand nehmen, ist es mit der Lust nicht weit her und für die Freude entsteht kein Raum. Vielleicht ist dies eine der zentralen Lehren der Mittwoch-Gesellschaft. Eine weitere sollte darin bestehen, den Anspruch auf Theoriesicherheit und -überlegenheit kritisch zu hinterfragen (Lehmkuhl, 1999). Die psychoanalytische Welt von heute wird zunehmend pluralistisch und dementsprechend verfügen und wählen die Analytiker aus einer Vielzahl verschiedener Methoden des Zuhörens und Eingreifens aus. Dabei haben diese Methoden ihren Ursprung nicht nur
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in verschiedenen Systemen psychoanalytischen Denkens und in theoretischen Beiträgen innovativer Denker, sondern auch in den bewährten persönlichen Glaubenssystemen, die jenes Rohmaterial waren, das durch die Erfahrung unserer Erziehung und Bildung mehr oder weniger gestaltet wurde (Duncan, 1993). Für Schafer (1994) gibt es jedoch keinen finalen und absoluten Grund, auf dem irgendeiner von uns stehen könnte, wenn wir behaupten, dass nur eine Version von analytischer Interaktion die korrekte sein könne und dass es die unsere sei. Unsere Behauptungen oder unsere Schilderungen, so Schafer, können nur innerhalb eines einzelnen Denksystems standhalten, und dann auch nur vorläufig, denn innerhalb der Systeme verändern sich die Dinge ebenfalls. Theoretischer Pluralismus (Wallerstein, 1988) – eine Psychoanalyse oder mehrere? Für Schafer (1994) ist die Diskussion über das, was wir tun, was wir wissen, wie wir ausgebildet werden, was unsere Maßstäbe sein sollten und worauf unsere Resultate hinauslaufen unentscheidbar und er kommt zu der Einschätzung, »dass man natürlich den Verlockungen des Pluralismus überhaupt widerstehen und versuchen kann, eng innerhalb der Beschränkungen nur eines Denksystems zu arbeiten, also monosystemisch zu sein. Viele tun dies, denn monosystemische Arbeit empfiehlt sich durch vieles. Sie ermöglicht es, einen sehr hohen Grad an Beständigkeit zu entwickeln und liefert eine Basislinie für Vergleiche innerhalb des Bereichs unserer eigenen Anstrengungen und Ergebnisse. Sie hilft dem Analytiker und der Analytikerin auch dabei, die eigene Arbeit genau mit der Arbeit von ehemaligen oder gegenwärtigen Kollegen zu vergleichen, und ist eine Chance, ein weiteres Ausfeilen der Konzepte und Methoden und vielleicht auch Innovationen zu entwickeln. Doch die monosystemische Arbeit eliminiert nicht die Schattenseiten des Pluralismus. Das liegt daran, dass die Konzepte irgendeines einzelnen Systems nie vollkommen abgegrenzt, die Sensibilitäten ihrer Mitglieder nie identisch entwickelt sind, und dass immer individualistische Neigungen im Gange sind. Daraus folgt, glaube ich, dass es unter jenen, die fleißig innerhalb einzelner Traditionen analysieren, viele gibt, die dazu neigen, die Übereinstimmung miteinander vielmehr zu feiern, als sich durch Beobachtungen rechtfertigen ließe« (Schafer, 1994, S. 244). In der Adler-Freud-Kontroverse findet sich bereits die schmerz-
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hafte Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit: Dass es nicht nur eine, sondern verschiedene Sichtweisen gibt und wir uns mit der Begrenztheit des eigenen Vorgehens abfinden müssen. Dies ist vielleicht die größte Herausforderung, die für alle therapeutische Schulen gleichermaßen gilt und die Hillman (1986) wie folgt zusammenfasst: »Keine psychologische Handlung kann voll befriedigen, keine Interpretation ganz überzeugend sein, keine Beziehung von Fehlen, Mangel und Versagen ausräumen, die im Wesen der Seele verwurzelt sind. Es wird immer einen Fehler geben; und genau das gibt dem psychotherapeutischen Mut seinen Wert. Die Psychotherapie muss bei ihrer Minderwertigkeit bleiben, wenn sie psychotherapeutisch bleiben will« (S. 179).
Zusammenfassung Die Adler-Freud-Kontroverse, ihre zunehmende Entfremdung bis hin zur Gegnerschaft, das Konkurrenzdenken der ersten Generation von Psychoanalytikern, das Ringen um psychoanalytische Konzepte, Prinzipien und Wahrheiten lässt sich nirgendwo so unmittelbar nacherleben wie in den Protokollen der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung. In ihnen werden die tiefgreifenden theoretischen Differenzen zwischen Adler und Freud ebenso deutlich wie ihr persönlicher Machtkampf. Die Aufzeichnungen der Vortragsabende, an denen Adler durch eine hohe Präsenz auffiel, dokumentieren nicht nur die zunehmende Entfremdung, sondern auch das Ringen um die von Adler eingebrachten theoretischen Grundbegriffe mit dem männlichen Protest, das Minderwertigkeitsgefühl und den Aggressionstrieb. So sind die Diskussionen der Mittwoch-Gesellschaft sowohl durch die Freude und Lust am gemeinsamen Entwickeln von Ideen geprägt als auch durch Machtfragen und Ausgrenzung. Auf die Bedeutung der bereits bis in die Frühzeit der psychoanalytischen Bewegung zurückreichenden Konflikte für die heutige Multiplizität der theoretischen Systeme der Nachkommen Freuds und Adlers wurde besonders eingegangen.
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Joy of Live and »Demirroring« Problems of personal interference by the analyst are discussed, which surge out of countertransference and daily work. Looking for answers to the questions What does the countertransference do to us? How can we »demirror« us and maintain our joy of life? concepts of the following theories will be consulted: intersubjective psychoanalysis, mirror-neurons, »struktural psychotherapy«, »psychodynamic imaginative traumatherapy« and buddhist psychology.
Zusammenfassung Es werden Probleme der persönlichen Psychohygiene der Analytikerin dargestellt, die infolge der Gegenübertragung und der täglichen Arbeit entstehen. Antworten auf folgende Fragen werden versucht: Was macht die Gegenübertragung mit uns? Wie können wir uns »entspiegeln« und unsere Lebensfreude erhalten? Dazu werden Konzepte der Intersubjektiven Psychoanalyse, der Spiegelneurone, der strukturbezogenen Psychotherapie, der psychodynamisch imaginativen Traumatherapie und der buddhistischen Psychologie herangezogen. Die Warner Wenn Leute dir sagen: »Kümmere dich nicht soviel um dich selbst!« dann sieh dir die Leute an die dir das sagen: An ihnen kannst du erkennen wie das ist wenn einer sich nicht genug um sich selbst gekümmert hat. Erich Fried
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Die Lebenslust der Analytikerin hängt von ihrer Fähigkeit ab, sich zu »entspiegeln« Chris Jaenicke beschreibt in seinem Buch »Das Risiko der Verbundenheit – Intersubjektivitätstheorie in der Praxis« seine tiefe Sehnsucht, aus seinem Gefängnis der inneren Isolation auszubrechen sowie nach einer emotionalen Verfügbarkeit seines Analytikers. Seine gesamte Analyse schien auf die Frage hinauszulaufen, ob der Analytiker ihn auch so liebe, wie er ihn. In der Antwort des Analytikers erblickte Jaenicke etwas Rohes und Authentisches, eine Mischung aus Verletzbarkeit, Hilflosigkeit, Unbehagen und Irritation, weil er seinem Analytiker zugesetzt hatte. Das genügte ihm, weil sich dadurch eine Kluft zwischen seinem inneren Selbsterleben und dem Analytiker geschlossen hatte (Jaenicke, 2006, S. 12). Die These der Intersubjektivitätstheorie ist, dass die Psychoanalyse Phänomene erhellt, die durch die Überschneidung zweier Subjektivitäten konstituiert wird, die des Patienten und die des Analytikers. Damit ist der Beobachter auch gleichzeitig der Beobachtete (Atwood u. Stolorow, 1996, S. 41 f.). Das Risiko der Analytikerin erhöht sich dadurch gewaltig, denn es macht sie wesentlich verwundbarer. »Wenn man […] Pathologie nicht länger allein im Patienten lokalisiert, sondern dessen Affektzustände als untrennbaren Teil des psychoanalytischen Feldes betrachtet […], dann beginnen wir zu verstehen, welche Risiken die Verbundenheit für beide Beteiligte mit sich bringt und weshalb das Bedürfnis auftauchen kann, defensiv zu reagieren« (Jaenicke, 2006, S. 13). Das bedeutet, dass die eigene Subjektivität des Analytikers die Grundlage der Arbeit darstellt. Die klinische Wirkung der introspektiv-empathischen Haltung, das bedeutet, das Verstehen der subjektiven Realität des Patienten, besteht darin, dass der Patient seine eigene Weltsicht nicht weiter als Gefährdung für sich oder andere erlebt. »Für viele Patienten ist die Erfahrung neu, dass ihre Standpunkte konsequent und zuverlässig verstanden werden. Sie führt ihnen die Möglichkeit vor Augen, dass ihre Selbstwahrnehmung ebenso wie ihre Wahrnehmung des Anderen zuverlässig sein kann. […] Verglichen mit der frühen Erfahrung ist diese
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Wirkung der Empathie tatsächlich eine korrigierende emotionale Erfahrung« (Jaenicke, 2002, S. 53). Uns erinnert das natürlich an Adler’s Ausspruch: »Mit den Augen des anderen sehen, mit den Ohren des anderen hören« (Adler, 1930, S. 5). Es geht nicht um spiegelndes Wiedergeben, um dem Patienten zu zeigen, dass allein Verstehen alles heilt, sondern darum, ihm verlorene Selbstanteile zurückzugeben, damit er empfinden kann, was er sagt, es integrieren und somit zu einem reflektierten Selbstgefühl finden kann. Wie sieht andererseits die Subjektivität der Analytikerin aus, nach acht Stunden Arbeit täglich oder vierzig Stunden die Woche? Es gibt Kollegen, die sogar 50 Stunden in der Woche arbeiten. Wie wirkt sich die Empathie in umgekehrter Richtung aus? Um dies zu verstehen, kann das Konzept der Spiegelneurone hilfreich sein. Die Forschergruppe um Rizzolatti (zit. nach Lentzen-Schulte, 2006, S. 421) beobachtete die Gehirnaktivitäten eines Affen, wenn er eine Rosine ergriff. Erstaunlicherweise trat die gleiche Hirnaktivität auf, wenn einer der Forscher nach einer Rosine griff. Es trat also die gleiche Aktivität auf beim Tun wie beim Zuschauen. Dieses Experiment war der erste Beweis für die Existenz der Spiegelneurone, was bedeutete: Der Affe kann wahrscheinlich die Bewegung des Forschers fühlen. Seitdem gibt es viele neue Forschungsprojekte über Spiegelneurone, die für Therapeuten bedeutsam sind. Für unsere Arbeit bedeutet dies, dass auch wir wahrscheinlich fühlen können, was der Patient tut. Dadurch ergeben sich neue Aspekte, die wir bei der Gegenübertragung beachten sollten. Auch Geräusche rufen Spiegelneurone auf. Bauer (2005) sagt: Wenn ein Affe eine Nuss aus dem knisternden Papier auswickelt, lässt sich die gleiche Aktivität messen, wie wenn er lediglich das passende Knistern hört, ohne dass er den Vorgang sieht, und das gelte beim Menschen auch für das Sprechen über eine Handlung. Wir können zum Beispiel so etwas wie eine somatische Empathie entwickeln. Das bedeutet, wir können lernen zu unterscheiden, ob es sich um ein eigenes Körpergefühl handelt oder um eines, welches wir von einem Patienten übernommen haben. Es geht darum, unbewusstes Spiegeln bewusst zu machen. Paul
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Ekman (zit. nach Goleman, 2003) hat in seinen Studien nachgewiesen, dass die Veränderung von Gesichtsausdrücken Emotionen hervorrufen können. So erhöht Ausdruck von Wut den Puls und die Körpertemperatur. Ekmann (zit. nach Goleman, 2003) zeigte in Untersuchungen an Tausenden von Menschen, dass Versuchspersonen, die im Erkennen subtiler Emotionen besser abschneiden, offener für neue Erfahrungen und insgesamt stärker an Dingen interessiert und neugieriger sind. Sie sind außerdem gewissenhaft, zuverlässig und tüchtig. Nehmen wir einmal an, dass die Mehrzahl der Therapeuten zu dieser Gruppe gehört. Buchholz (2007) berichtet in einem Newsletter über eine Studie von Euler et al., die bei zwei Patienten und Analytikern bei einer vierstündigen Analyse den Cortisolspiegel vor und nach den Sitzungen über fünf Wochen gemessen haben. Das Ergebnis war: »Man meint beinah, eine Beziehungsbalance vor sich zu sehen, die man natürlich aus eigenen Behandlungserfahrungen nur allzu gut kennt: Der Therapeut fühlt sich ›gut‹, weil er irgendeine Auseinandersetzung mit dem Patienten ›gewonnen‹ hat, während der Patient freilich ›unter Druck‹ ist, was er zunächst verbirgt. Wir erfahren, dass so etwas messbare psychosomatische Wirkungen hat, dass also ›Beziehung‹ körperliche Reaktionen reguliert, dass damit psychotherapeutisch behandelt und gehandelt wird und werden kann – und dass das für beide Seiten, Therapeut und Patient, gilt« (Buchholz, 2007, S. 2 f.). Die eine Seite der somatischen Empathie kann sein, dass dadurch das Verständnis für den Patienten erhöht werden kann, aber die andere Seite ist, dass sie die Wahrscheinlichkeit einer »compassion fatigue«, sekundärer Traumatisierung und des Burnouts bei der Analytikerin, erhöht. Dies geschieht besonders dann, wenn die Analytikerin sich dessen nicht bewusst ist und unbewusst in die Gefühle des Patienten schliddert. Hier sehe ich eine wichtige Aufgabe der Selbsterfahrung in der Ausbildung und finde es höchst bedenklich für die zukünftigen Therapeuten, dass nach dem Psychotherapeutengesetz und bei vielen Ärztekammern eine Selbsterfahrung in Gruppen ausreichend ist. In Supervisionen und Therapien mit Kolleginnen begegnet mir dieses Phänomen immer wieder. Ganz besonders in der Behandlung
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von Borderline-Patientinnen, Traumatisierten und Patientinnen mit massiver Neidproblematik ist die persönliche Psychohygiene des Therapeuten von sehr großer Bedeutung. Anfänger neigen diesbezüglich zur Selbstüberschätzung. Ich erinnere mich, dass mir zu Anfang meiner Praxis auffiel, dass ich ganz besonders mittwochs nachmittags wie erschlagen war und kaum noch in der Lage war, etwas zu unternehmen. Ich musste feststellen, dass ich an diesem Tag fünf Patientinnen aus der oben genannten Gruppe hintereinander behandelte, ohne mein heutiges Wissen über die Notwendigkeit einer Psychohygiene zur Verfügung zu haben. Die wichtigste Voraussetzung, um mit der negativen somatischen Empathie umzugehen, ist das Bewusstsein darüber, dass es sie gibt. Hilfreich ist es, wenn wir uns in diesem Zusammenhang immer wieder folgende Frage stellen: Wann bin ich so verletzlich, dass ich von den Gefühlszuständen des Patienten infiziert werde? Wenn ich dies in der Stunde bemerke, ändere ich willentlich meine Körperhaltung, meine Atmung oder meinen Gesichtsausdruck. Das heißt, ich versuche mich zu »entspiegeln«. Es ist günstig, wenn jeder seine eigene Form des »Entspiegelns« findet. So kann man zum Beispiel nach jeder Stunde das Fenster öffnen, imaginativ den Raum reinigen, ein paar freundliche Worte mit Kollegen wechseln, sich vorstellen, alles Negative auf dem Nachhauseweg in den Rhein zu werfen, der alles bis ins weite Meer mitnimmt, sich vor Augen führen, was man Schönes in der Freizeit machen will usw. Dadurch können wir unseren Arbeitsstress deutlich verringern. Woher kommt die große Bereitschaft von uns Therapeuten zu erleiden und zu ertragen? Warum ist das gesellschaftlich so hoch angesehen? Reddemann (2003, S. 79 f.) vertritt die Hypothese, dass dies damit zusammenhänge, dass die aktuelle Therapeutengeneration Kriegskinder oder deren Kinder sind. Der Umgang mit der eigenen Psychohygiene könnte eng verknüpft sein mit unbewussten Prozessen, die die Verarbeitung beziehungsweise die Nichtverarbeitung der Kriegs- und Nachkriegserfahrungen zum Inhalt haben. Es gäbe eine Art ungesunde Genügsamkeit, die mit den Erfahrungen von Hunger, Kälte und Mangel zusammenhängen könnte, da diese Erfahrungen nicht integriert wurden. Ursache dafür sei die Täterschaft. Opfer, die auch Täter waren, sind erst dann zu einem Schuldeingeständnis in der
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Lage, wenn sie Mitgefühl für den verletzten Teil in sich entwickeln konnten. Wenn die Täterschaft der Eltern gesehen wurde, wurde häufig übersehen, dass sie auch Opfer waren und umgekehrt. Das bedeutet, dass sich die Kinder der Täter und Mitläufer aus der verinnerlichten Sippenhaft befreien und ihr eigenes Leben anschauen müssen. Den Teil, der nicht zu ihnen gehört, müssen sie innerlich ihren Eltern zurückgeben, weil dies Auswirkungen auf die Selbstfürsorge hat. Hinzu kommen psychotherapeutische Theorien, die im Gegensatz zu einer positiven Selbstfürsorge stehen können. Dazu gehört zum Beispiel ein völliges Missverstehen von Containing mit der Vorstellung, dass es zu einer guten Therapie gehöre, alles, also auch alle Scheußlichkeiten, die Patienten an uns herantragen, in uns behalten zu müssen oder für unsere Patienten verdauen zu müssen. Weitere häufig unreflektierte Axiome in der Psychoanalyse sind: – Leiden kann nur durch ebenso großes Leid geheilt werden. – Möglichst regressives Arbeiten ist besser und das einzig Wahre. – Behandlung im Liegen ist besser als im Sitzen. – Vier bis fünf Mal pro Woche ist besser als ein bis zwei Mal. – Oder in der kleinianischen Schule: Man muss zum psychotischen Kern des Patienten vordringen. – Auch strukturelle Störungen sollen in der Übertragungsbeziehung behandelt werden und es werden Konflikte postuliert, die keine sind, während in Wirklichkeit eine fehlende Affektregulierung oder fehlende Empathiefähigkeit vorliegt. Rudolf (2006) weist darauf hin, dass die übertragungszentrierte therapeutische Vorgehensweise, welche sich deutend an die regressiven Impulse des strukturell beeinträchtigten Patienten wendet, dessen immense Bedürftigkeit mobilisiere und die damit verbundenen schmerzlichen Erfahrungen in der realen Beziehung zum Therapeuten, ohne dass dieses kindliche Erleben des Patienten aus einer Erwachsenenperspektive durch Deutungen relativiert und distanziert werden könnte. Dem erwachsenen Patienten werde dadurch seine Ohnmacht und Hilflosigkeit noch stärker bewusst, ohne dass ihm jemand dabei helfe oder er sich selber helfen könne. Daraus könne eine reale Abhängigkeit anstatt einer reflektierten
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Übertragungsbeziehung resultieren und die Patienten könnten dann die Deutungen als Kritik erleben. Dem analytischen Selbstverständnis widerspreche der Gedanke, strukturierend, unterstützend im Sinne einer Hilfe zur Selbsthilfe tätig zu werden. Aber genau das ist bei dieser Patientengruppe sinnvoll. Sowohl die Gruppe um Fonagy (2003) als auch die Gruppe um Rudolf (2006) kommen zu den gleichen Ergebnissen, was die Behandlung von strukturellen Störungen angeht: – keine Deutung der therapeutischen Beziehung und Übertragung, – keine Deutung von unbewussten Konflikten oder komplexen psychologischen Zusammenhängen, – kein Versuch, die aktuelle Situation aus der Vergangenheit zu erklären, weil alle diese typisch analytischen Ansätze diese Patienten ängstigen, verwirren, destabilisieren und Behandlungsabbrüche provozieren würden. Bei Adler hörte sich das vor ungefähr hundert Jahren folgendermaßen an: – keine langen, die Regression fördernden Analysen im Liegen, – kein Ausgraben von unbewusstem Material, – kein aufdeckendes Deuten von Träumen und Fehlleistungen, – sondern Ich-stärkende Maßnahmen, – eine aktive, stützende Psychotherapie (Handlbauer, 1990). Rudolf (2006) meint, dass der weitgehende Verzicht auf störungsspezifische Modifikationen in der Therapie auf einer psychoanalytischen Reinhaltungstheorie beruhe, die notfalls Abweichler aus der Gemeinschaft ausgrenze. Diese individuelle Not der sogenannten Abweichler interessiert mich wiederum im Hinblick auf mein Thema der persönlichen Psychohygiene. Wo finden diese einen Platz, ihre zweifelnden Gedanken auszutauschen? Jaeggi (2001) hat in ihrem Buch »Und wer therapiert die Therapeuten?« viele solcher Schicksale dokumentiert, alle anonym natürlich. Mehrere analytische Kollegen schildern dort, wie sie ihre Fälle in den Supervisionen frisierten, um die Anerkennung des Supervisors
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oder der Gruppe zu erhalten. Letzten Endes fühlten sie sich mit ihren Problemen allein gelassen. Einige meiner Kollegen wurden von strukturell gestörten und enttäuschten Patienten nach Beendigung der Analyse jahrelang verfolgt und dadurch in tiefe Zweifel gestürzt über die Richtigkeit ihrer Methode. Auch die aufgesuchten Supervisoren wussten nicht weiter. Zu unserer eigenen Psychohygiene gehört meines Erachtens auch, dass wir die Grenzen unserer Methode erkennen und den einzelnen Patienten im Fokus unserer Aufmerksamkeit behalten. Dann fällt es uns auch nicht so schwer, neue Entwicklungen mit einzubeziehen, im Sinne der Patientinnen und auch in unserem eigenen Interesse.
Was ist positive Selbstfürsorge? Es geht um einen liebevollen, wertschätzenden, achtsamen und mitfühlenden Umgang mit uns selbst und um das Ernstnehmen der eigenen Bedürfnisse. Wichtig sind auch frühe Erfahrungen mit ausreichender Fürsorge und, wenn das nicht gegeben war, ein entsprechender Trauerprozess mit anschließendem veränderten Umgang mit uns selbst. Ansonsten schleichen sich die Gespenster der Vergangenheit auch bei uns Therapeutinnen immer wieder ein. Leider genügt Einsicht allein da nicht. Ein komplett neues Handeln ist erforderlich. In der buddhistischen Psychologie ist Mitgefühl wie ein Kreis, der alle Wesen umfasst, auch uns selbst. Mitgefühl entsteht sogar nur, wenn wir sowohl uns als auch die anderen im Blick behalten, wenn die beiden Seiten der Waage im Gleichgewicht stehen. Mitgefühl ist nicht töricht. Es gibt nicht einfach anderen, was sie wollen. Es gibt ein klares Ja, aber auch ein klares Nein. Das Nein kommt nicht aus dem Gefühl des Hasses, sondern aus Fürsorge. Buddhisten nennen das das »scharfe Schwert des Mitgefühls«.
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Wie merken wir, dass wir sekundär traumatisiert sind? Wir können in so tiefe Gefühle von Ohnmacht und Hilflosigkeit geraten, dass unser Ich traumatisiert wird. Es entstehen Gefühle von Lustlosigkeit gegenüber der Arbeit und wir beschäftigen uns zunehmend mit Fragen nach dem Sinn unserer Arbeit und unseres Lebens. Patientinnen werden innerlich mit nach Hause genommen und unsere Beziehung kann dadurch belastet werden. Wir können misstrauisch gegenüber unserem Partner werden und uns zurückziehen. Wir können die Freude an der Sexualität und am Leben überhaupt verlieren. Es entstehen Gefühle von Ohnmacht und Hilflosigkeit, Verzweiflung und Depression, aber auch Wut, Zorn und Aufbegehren. Wenn diese negativen Gefühle unser Leben dominieren und immer weniger Platz für Freude, Lebenslust und Glück bleibt, dann ist es höchste Zeit für die eigene Psychohygiene.
Psychohygiene – Wie machen wir das? Wir können – uns mit schönen Gegenständen, Blumen, Kunst, Schmuck umgeben; – Musik hören; – tanzen; – meditieren; – reisen; – gute Kontakte mit Freunden unterhalten; – viel lachen, was nach Allan Schore (2002) die Hirnentwicklung fördert; – therapeutische Wege finden, die das Schwere leicht machen; – ressourcenorientiert denken; – bei Patienten Probleme und Ressourcen sehen. Wir können – Patientin und Therapeutin als Partner einer gemeinsamen Arbeit sehen; – nach Rudolf (2006): beide kümmern sich um etwas Drittes;
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– nach Reddemann (2001): zwei Erwachsene kümmern sich um das verletzte innere Kind; – das Konzept der »inneren Weisheit« für uns anwenden; – unseren eigenen Körper wichtig nehmen; – uns außerhalb der Therapie mit wenig Problematischem beschäftigen; – Freude und Inspiration fördernde Bücher lesen. Sehr hilfreich ist eine konsequente Haltung des inneren wohlwollenden Beobachtens, indem wir wahrnehmen, was wir denken, fühlen und unsere eigenen Handlungsimpulse wahrnehmen, ohne zu beurteilen und ohne uns mit dem Beobachteten zu identifizieren (»ich bin mehr als das, was ich beobachte«). Weiter kann es sehr hilfreich sein, das Kreative in sich zu entdecken und dessen Entdeckung bei den Patientinnen zu fördern, zum Beispiel ein Bild, einen Klang, einen Geruch und die dazugehörige Imagination. Wir können auch den Tod als Ratgeber nehmen, indem wir uns fragen: Was wäre mir wichtig, wenn ich nur noch fünf Jahre, Monate oder Tage zu leben hätte? Das hilft zu klären, was und wer für uns wirklich Bedeutung hat und ist ebenfalls eine gute Form von Psychohygiene. Es gibt eine individuelle persönliche Psychohygiene und eine professionelle Psychohygiene. Erstere bedeutet genügend Schlaf, Ernährung und Bewegung mit Entspannung und Meditation. Hilfreich sind auch Distanzierungstechniken, Spiritualität, Humor, ein schöner Arbeitsplatz und ein gutes soziales Unterstützungsnetz sowie wenig zusätzlich Belastendes im Alltag. Die professionelle Psychohygiene beinhaltet eine gute Ausbildung, Selbsterfahrung – auch im Bereich eigener Traumata. Dazu gehört auch die Aufarbeitung der individuellen und kollektiven deutschen Geschichte, das Setzen von Grenzen, Supervision und Intervision mit gleichgesinnten und ressourcenorientierten Kolleginnen, vor allem mit der Möglichkeit, offen zu reden. Ressourcenorientierung bedeutet nicht, dass man das individuelle Leid nicht ernst nimmt, sondern es geht lediglich darum, das verletzte Ich der Patientin zu stärken, so dass sie anschließend in der Lage ist,
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sich mit einem gestärkten Ich mit ihrem Leid auseinanderzusetzen. Diese Arbeitsweise ist nicht unanalytisch. Die Beschäftigung mit traumatischen Erfahrungen berührt uns Therapeutinnen in allen Schichten unseres Seins: – auf der körperlichen Ebene, – auf der emotionalen Ebene, – auf der kognitiven Ebene, – auf der spirituellen Ebene. Konzentration in einem Bereich fördert die anderen mit. Am wichtigsten ist der Aspekt der Freude. Metaphern für die uns innewohnende Selbstheilungskraft oder Resilienz sind: – Intuition, – innere Weisheit, – innerer Ratgeber, Coach, Heiler. Ist der Kontakt zu dieser inneren Kraft hergestellt, können visionäre Ziele in Bezug auf die persönliche und berufliche Zukunft imaginiert werden. Auch »verrückte« Ideen haben Raum. Einige Empfehlungen von Luise Reddemann (persönliche Mitteilung): Es geht darum, mitzufühlen und gleichzeitig zu wissen, dass es einen nicht selbst betrifft. Wichtig ist es auch, nicht mitzuleiden, so als seien wir selbst betroffen, und deshalb können wir durch Distanzieren eine bessere Balance finden. Wir müssen die Sachen wieder loslassen und nicht behalten und Wege aus der Ohnmacht und Verzweiflung finden. Folgende Übung kann in schwierigen Situationen für uns hilfreich sein: Wir fragen uns, mit welchem Element wir arbeiten möchten? Mit Wasser, Licht oder Luft? Dieses Element fließt durch uns hindurch, bringt uns neue Energie und nimmt alles mit, was wir nicht brauchen. Hier noch einige weitere Beispiele, wie wir während der laufenden Therapie und in der Freizeit die Selbstfürsorge im Auge behalten können: 1. mit den Patienten regelmäßig Dinge tun, die mit Freude und Heilsamem zu tun haben;
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2. Traumatisierungen nicht en détail erzählen lassen (dies gilt auch in Supervision und Intervision); 3. spazieren gehen (bilaterale Aktivität); 4. den Patientinnen zeigen, dass sie in der Phantasie nicht hilflos sind; 5. erfreuliche Erfahrungen ermöglichen und unterstützen. 6. Die Resilienzforschung hat gezeigt, dass häufig eine einzige gute Beziehung reicht, damit sich Kinder unter schwierigsten Bedingungen trotzdem gut entwickeln. Dies gilt auch für Patientinnen in der Therapie und auch für uns Therapeutinnen. 7. Die Defizit-Orientierung verlassen. Das bedeutet, nicht nur darauf schauen, was die Patientin nicht kann oder welchen Fehler sie hat, sondern darauf achten, welche Stärken sie hat. 8. Zuerst das erwachsene Ich stärken – da die Alltagstauglichkeit für eine erfolgreiche Therapie vorhanden sein muss. 9. Nicht zu lange von negativen und traumatisierenden Dingen reden und stattdessen fragen: »Wie haben Sie es geschafft, das zu verarbeiten oder zu überleben?« und damit auf das fokussieren, was die Patientinnen können. Oder auch die Frage stellen: »Was könnten Sie tun, um es sich selbst leichter zu machen?« Das Ziel ist ein achtsamer, nicht verurteilender Umgang mit sich selbst nach dem Zitat von Ayya Khema (2007; persönliche Mitteilung): »Erkennen, nicht tadeln, ändern.« Die Buddhisten gehen eher von der Vorstellung der Urgüte als von der Ursünde aus. Diese ursprüngliche Güte ist die Buddha-Natur und das innerste Wesen des Geistes. Man sagt, dieser Zustand der Verwirklichung sei gänzlich frei von negativen Emotionen und folglich von Leid. Wenn hundert Goldstücke im Sand liegen, sind sie wahrscheinlich alle mit Staub bedeckt, doch am Wesen des Goldes ändert sich nichts. Kontemplative Erfahrungen sagen uns, dass destruktive Emotionen nicht zum eigentlichen Wesen des Bewusstseins gehören. Der Weg der inneren Wandlung beginnt mit der Erkenntnis, dass Freiheit möglich ist. Man kann die Wolken vertreiben und sieht dann, dass hinter ihnen seit jeher die Sonne schien und der Himmel seit jeher klar war. Akhtar (zit. nach Fonagy u. Target, 2003), ein Kollege von Fonagy,
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beschreibt dies einerseits als klassisches Menschenbild und andererseits als romantisches Menschenbild. Das klassische Menschenbild geht auf Kant zurück und versteht das Streben nach Autonomie und die Vorherrschaft der Vernunft als entscheidendes Charakteristikum des Menschen. Das romantische Menschenbild, durch Rousseau und Goethe vertreten, stellt Authentizität und Spontaneität über Vernunft und Logik. So ist Agieren für die »Klassiker« unvermeidbare Konsequenz einer tief verwurzelten Pathologie und für die »Romantiker« Ausdruck der Hoffnung, dass die Umwelt den angerichteten Schaden beheben werde. Manchmal können wir von unseren Patienten diesbezüglich etwas lernen. Hier ein Beispiel von Emily (11 Jahre): »Mein sicherer Ort ist eine schöne rote Tulpe, die in der Türkei mitten auf einer schönen Blumenwiese steht. Ich steige in Hamburg in ein Flugzeug und fliege los, dann laufe ich über die Wiese, bis ich bei meiner Blume bin. Erst mal muss ich mich klein zaubern, dann klettere ich hinauf. Oben habe ich noch einen Code angebracht, damit niemand anders hinein kann. In meiner Blume steht ein großes Bett mit vielen weichen Kissen, ein Kühlschrank mit guten Sachen zu essen und ein Tisch mit Malsachen. Wenn ich nach oben schaue, sehe ich den blauen Himmel und höre die Vögel. Abends kann die Tulpe die Blütenblätter zuklappen, das ist wie ein schönes Dach. Aber es gibt ein kleines Loch, damit ich den Sternenhimmel gucken kann« (Krüger u. Reddemann, 2007).
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Gitta Binder-Klinsing
(Ohn-)Macht, (Un-)Lust und das Dritte Über Macht und Machtphantasien in der Ausbildungssupervision
About power and phantasies of power in trainingsupervision Aspects of power in supervision are discussed under the following central assumptions: power is inherent to psychotherapy and supervision and – in analogy to love – understood as simultaneously wanted and not wanted. Power is seen in a relational frame which includes intersubjective mutuality and at the same time structural and relational asymmetry. Preventing the abuse of power in therapy is one important aspect of reflecting power in supervision where supervision can serve as a role modell for future therapists. Finally interactive conditions enhancing power abuse in the psychotherapeutic relationship are described.
Zusammenfassung Machtaspekte in der Supervision werden unter folgenden zentralen Annahmen diskutiert: Macht ist etwas Psychotherapie und Supervisision Inhärentes und – wie Liebe – etwas zugleich Erwünschtes und Unerwünschtes. Macht wird verstanden im Rahmen eines relationalen Geschehens, das intersubjektive Gleichheit bei struktureller und relationaler Asymmetrie umfasst. Ein Aspekt der Reflexion von Macht in der Ausbildungssupervision ist die Prävention von Machtmissbrauch in Psychotherapie, wobei der Supervision auch die Funktion als Rollenmodell künftiger Psychotherapeuten zugeschrieben werden kann. Schließlich werden interaktive Entstehungsbedingungen von Machtmissbrauch in Psychotherapien beschrieben.
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Macht in Psychotherapie und Supervision als etwas Inhärentes, zugleich Erwünschtes und Unerwünschtes In seinem Beitrag »Liebe und Abstinenz im psychoanalytischen Prozess« behauptet Sebastian Krutzenbichler (2006, S. 196), dass »die meisten Autoren mit der Liebe im analytischen Prozess, mit der Übertragungsliebe« verfahren »als sei sie ein metapsychologisch ableitbares Phänomen mit Widerstandscharakter« und »desavouieren sie als pathologische Entität«. Gerade dieses Vorgehen habe eine offene Auseinandersetzung mit der Ambiguität von Liebe im psychoanalytischen Prozess als etwas Unerwünschtem und dennoch Erwünschtem verhindert, so dass gelte (S. 192): »Angst vor der Liebe der Patienten und Verleugnen des eigenen Begehrens provoziert geradezu Entgleisungen«. In Analogie dazu behaupte ich, dass erst eine offene Auseinandersetzung mit der Doppeldeutigkeit von Macht in Psychoanalyse und psychoanalytischer Ausbildung als etwas Unerwünschtem und zugleich Erwünschtem die Chancen bietet, die Gefahr von Entgleisungen und Machtmissbrauch zu mildern. Erst wenn wir akzeptieren, dass ein »wichtiger Aspekt des Therapeutischen das Beeinflussen ist« (Buchholz, in Mitchell, 2003, S. 8), und uns damit von der traditionellen Vorstellung lösen, »dass der Analytiker über den Verständnisgewinn hinaus keine weiteren direkten Veränderungsabsichten verfolgt« (Scharff, 2007, S. 854), können wir auch anerkennen, dass Macht in der therapeutischen und supervisorischen Situation ein relevantes Phänomen ist, das unvermeidbar ist, aber der analytischen Reflexion ebenso unterzogen wird wie die Liebe.
Macht als relationales Geschehen Dabei möchte ich hier versuchen, den Schritt zur relationalen Psychoanalyse auch im Verständnis von Macht und Ohnmacht nachzuvollziehen und auf die Reflexion von Macht in der Supervision auszudehnen. In psychotherapeutischen Dialogen lassen sich nach Buchholz (2006) nicht nur manifeste, sondern auch konzeptuelle Metaphern
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herausarbeiten. So können zum Beispiel Metaphern beschrieben werden, mit denen Patienten in die Therapie kommen, so etwa Psychotherapie als Beichte, Psychotherapie als Reparatur, Psychotherapie als Training usw. Aber auch Therapeuten arbeiten mit unbewussten metaphorischen Konzepten, zum Beispiel wenn sie beschreiben, Patienten »auffangen« zu wollen oder wünschen, dass der Patient »reifen« könne. Die Verwendung solcher Metaphern in Interaktionen erzeugt eine Rahmung des Geschehens, wobei sich die Stellung des Sprechers zu der Thematik implizit erschließen lässt. Wenn man diese Vorgehensweise zur Erfassung konzeptueller Metaphern auf den Umgang der Individualpsychologie mit dem Thema Macht in Psychotherapie und Supervision anwendet, könnte man zu folgendem Eindruck kommen: Bei der Auseinandersetzung mit dem Begriff Macht gibt es weiterhin eine Suche nach einer Art Identitätssubstanz, einem unverrückbaren Felsen. Dieser wird zwar nicht im Triebbegriff, aber doch in der menschlichen Natur gesucht. Außerdem scheinen Macht als strukturelles Phänomen und Machtmissbrauch in eins zu fallen. Etwas provokant könnte man die dahinter liegenden konzeptuellen Metaphern beschreiben als: Jeder und alles ist verdächtig. Macht ist immer gefährlich. Man weiß vorher schon, was eigentlich dahinter steckt. Exemplarisch möchte ich zwei Zitate (Eife, 1998, S. 272) anführen: »Der Wille zur Macht ist zutiefst verborgen in diesem Gutseinwollen, einer machtvollen Gegenfiktion, welche der Verharmlosung der eigenen Machtimpulse und der dahinterliegenden destruktiven Affekte, der eigenen Hassgefühle und unseres psychotischen Kerns dient.« »Die Fiktionenanalyse verdächtigt grundsätzlich alle Ziele, die wir uns zugute halten, als Ausdruck des narzisstischen Willens zur Macht.« Ich plädiere mit Alfred Adler und der Haltung des Nicht-Wissens eher für einen relationalen und kontextuellen Zugang auch zum Verständnis von Macht. Mit dieser Sichtweise tritt das Denken in Substanzbegriffen in den Hintergrund und das »Verhältnis«, die Relation tritt in den Vordergrund. Damit wird nach meiner Einschätzung auch die große Vielgestal-
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tigkeit und zugleich subjektiv erlebbare Flüchtigkeit von Macht und Ohnmacht in Psychoanalyse und psychoanalytischer Ausbildung besser erfasst. Macht und ihre Bedeutung kann nach dieser Auffassung nur immer wieder in einem individuellen intrapsychischen und intersubjektiven Kontext verstanden werden. Dies schließt natürlich auch die Möglichkeit ein, dass destruktive Affekte und narzisstische Impulse hinter vordergründig positiven Zielen stecken – aber eben nur die Möglichkeit, so dass immer wieder der jeweilige individuelle Kontext für das Verständnis der verborgenen Bedeutung entscheidend ist. Der relationale und kontextuelle Zugang zum Verständnis von Macht erscheint gerade für die Supervision besonders wichtig: Im supervisorischen Raum führt die Verwobenheit von vielfältigen Beziehungen (Patient, Ausbildungsteilnehmer, Supervisor, Kollegen und andere Ausbildungsteilnehmer am Institut, Supervisor der Supervisoren des Institutes, Gutachter, Ministerium und Landesprüfungsamt, Kollegen aus anderen Instituten als Prüfer im Rahmen der staatlichen Prüfung usw.) zu einem komplexen Übertragungsgeschehen mit zum Teil heftigen Inszenierungen von Macht und Ohnmacht. Nach meiner Einschätzung entziehen wir uns deren je individueller und kontextueller Reflexion aber eher, wenn wir versuchen, gerade die Machtaspekte mit vorher schon festliegenden Setzungen zu erfassen. Angeregt durch Frawley-O`Dea und Sarnat (2001) möchte ich deswegen folgende Aspekte der psychoanalytischen Supervision weiter ausführen: – Macht in der psychoanalytischen Supervision sollte in einem intersubjektiven, relationalen Kontext verstanden und reflektiert werden. – Es wird anerkannt, dass die psychoanalytische und supervisorische Situation eine der Gegenseitigkeit (»mutuality«) ist. Interaktionsformen werden in einer gleichwertigen Subjekt-Subjekt-Beziehung ausgehandelt (»negotiation«). – Bei aller Gleichwertigkeit muss aber die Asymmetrie der Beziehung beachtet und reflektiert werden. – Dies hat Folgen für Konzepte des Machtmissbrauchs in der psychoanalytischen und supervisorischen Beziehung. – Zusätzliche spezifische Spannungen und Widersprüche ruft die Supervision im Rahmen einer Aus- und Weiterbildung hervor, da die
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Supervisoren hier Funktionen innerhalb staatlicher oder kammerrechtlicher Vorgaben sowie sozialrechtlicher Vorschriften ausüben, denen sie als Funktionsträger selbst unterworfen sind. Die grundsätzliche Auffassung von Macht als einem relationalen Phänomen findet sich außerhalb psychoanalytischer Überlegungen zum Beispiel bei Foucault, der 1978 schreibt: »[…] die Macht ist nicht als ein massives und homogenes Phänomen der Herrschaft eines Individuums über andere, einer Gruppe über andere, einer Klasse über die andere aufzufassen, sondern man muß erkennen, dass die Macht […] nicht etwas ist, das sich unter denjenigen aufteilt, die über sie verfügen und sie ausschließlich besitzen, und denjenigen, die sie nicht haben und ihr ausgeliefert sind. Die Macht muss als etwas angenommen werden, das zirkuliert, oder vielmehr als etwas, das nur in einer Art Kette funktioniert. Sie ist niemals hier oder dort lokalisiert, niemals in den Händen einiger weniger, sie wird niemals wie ein Gut oder Reichtum angeeignet. Die Macht funktioniert und wird ausgeübt über eine netzförmige Organisation. Und die Individuen zirkulieren nicht nur in ihren Maschen, sondern sie sind stets auch in einer Position, in der sie diese Macht zugleich erfahren und ausüben; sie sind niemals die unbewegliche und bewusste Zielscheibe dieser Macht, sie sind stets ihre Verbindungselemente. Mit anderen Worten: Die Macht wird nicht auf die Individuen angewandt, sie geht durch sie hindurch« (S. 82). Auch Niklas Luhmann (1975, S. 8) beschreibt Macht in einem Beziehungskontext mindestens zweier Partner in einer sozialen Beziehung, die beide anders handeln könnten und die beide wissen, dass dies so ist. Macht vermag »[…] die Selektion von Handlungen (oder Unterlassungen) angesichts anderer Möglichkeiten zu beeinflussen […]. Sie ist größere Macht, wenn sie sich auch gegenüber attraktiven Alternativen des Handelns oder Unterlassens durchzusetzen vermag. Und sie ist steigerbar nur zusammen mit einer Steigerung der Freiheiten auf Seiten Machtunterworfener«. Dies bedeutet: Der Supervisor, der den Ausbildungsteilnehmer durch eine Form der Selbsterkenntnis davon überzeugt, dass ein bestimmtes weiteres Vorgehen mit dem Patienten sinnvoll sein könnte, übt größere Macht aus als derjenige, bei dem der Ausbildungsteil-
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nehmer etwas eher mechanisch deswegen tut, weil es der Supervisor für richtig hält. Macht ist dabei nach Luhmann abzugrenzen von Zwang. Hierbei sind die Wahlmöglichkeiten des Gezwungenen nicht vorhanden. Im Grenzfall läuft dies auf die Anwendung von Gewalt hinaus. »Macht verliert ihre Funktion, doppelte Kontingenz (also die Handlungsfreiheit beider Partner) zu überbrücken in dem Maße, als sie sich dem Charakter von Zwang annähert. Zwang bedeutet Verzicht auf die Vorteile symbolischer Generalisierung und Verzicht darauf, die Selektivität des Partners zu steuern« (S. 9). Insofern könnte man sagen, dass möglicherweise zu Beginn einer Ausbildung ein angehender Psychotherapeut eher einem Zwang unterworfen ist, weil und wenn er noch wenig Wahlmöglichkeiten hat. (In diesem Zusammenhang könnte es interessant sein, einmal zu reflektieren, ob gerade die sehr jungen Ausbildungsteilnehmer kurz nach dem Studium, um die die Institute sich heute bemühen, von der »zwanglosen« Struktur der Psychoanalyse auch überfordert sind und zunächst – wenn man den Zahlen zum Beispiel der DGPT folgt – überwiegend eine verhaltenstherapeutische Ausbildung suchen.) Der Machtbegriff impliziert »einen intentionalen Akt des Machthabers«, »der eine Veränderung der sozialen Realität will«, wie es Hans-Jürgen Wirth (2002, S. 109) in seinem Buch »Narzissmus und Macht« formuliert. Insofern der Supervisor eine Veränderung der sozialen Realität will, nämlich eine Beeinflussung der therapeutischen und persönlichen Kompetenz des Supervisanden in seiner Arbeit, übt er Macht aus. Diese ist durch die Zustimmung des Supervisanden legitimiert und gleichzeitig durch dessen Ziel definiert und begrenzt: Psychoanalytiker zu werden und/oder ein besserer Psychoanalytiker zu werden. Psychoanalytische Supervision baut dabei auf der Psychoanalyse auf. Zugleich ist sie aber etwas kategorial anderes, weil sie (Levenson in Caligor et al., 1984, S. 154) auf einem anderen Abstraktionsniveau operiert. Wenn man außerdem Psychotherapie als Interaktionsspezialisierung (Buchholz, 1999) versteht, kann analytische Supervision als eine weitere Interaktionsspezialisierung von der Psychoanalyse unterschieden werden. Zusammenfassend sind in einem relationalen Konzept von analy-
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tischer Supervision folgende Vorstellungen auch für die Bearbeitung und Reflektion von Machtaspekten bedeutsam: – Wir handeln als Analytiker als Person, die durch Reflexion ihrer Subjektivität zur verändernden Ressource wird, und zwar in einer Beziehung zweier gleichwertiger Subjekte. – Trotz der grundsätzlichen Gleichwertigkeit der Subjekte in der analytischen oder supervisorischen Beziehung ist die Beziehung strukturell asymmetrisch. Aus der strukturellen Asymmetrie resultiert ein Machtgefälle. Dies kann fruchtbar sein, aber auch missbraucht werden. – Wenn wir Psychoanalyse mit den Mitteln der Psychoanalyse lehren wollen, muss nach meiner Einschätzung die Reflexion der Subjektivität in der Supervision auch auf zentrale und/oder kritische Aspekte der supervisorischen Beziehung ausgedehnt werden – also zum Beispiel Machtaspekte. Das Medium der Supervision ist unter diesem Vorgehen konsistent mit den Aussagen der klinischen Theorie, so dass der Prozess der Supervision parallel zur analytischen Arbeit verläuft. Dies verhindert auch, dass Supervision sich in einem theoretischen Vakuum abspielt (Canestri, 2007). – Macht wird als unvermeidlicher Ausdruck jedes relationalen Geschehens anerkannt und somit müssen Machtaspekte in der therapeutischen Beziehung reflektiert werden. Zugleich werden sie auch als relevant für die supervisorische Beziehung anerkannt. In der Supervision werden dabei Parallelprozesse (Searles, 1955; Gediman u. Wolkenfeld, 1980) als unbewusste Repräsentation des therapeutischen Geschehens überlagert und kompliziert durch das Beziehungsgeschehen zwischen Supervisor und Supervisand. Dies umfasst eine eigene Übertragungs- und Gegenübertragungsdynamik sowie nicht zuletzt die reale Macht des Supervisors in seiner Funktion als Träger eines gesellschaftlichen Auftrags. Es folgt ein klinisches Beispiel:
Eine erfahrene Psychoanalytikerin einer anderen Fachgesellschaft ist bei mir in Supervision, unter anderem, weil sie »ihren Horizont« für andere Perspektiven erweitern wollte. In der Supervision geht es um die analytische Psychotherapie einer depressiven Immi-
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grantin, die zusätzlich oft tagelang wegen einer »totalen Schwäche in den Beinen« nicht richtig laufen kann. Dies führt dazu, dass sie an diesen Tagen neben dem Studium nicht für ihren Vater den Haushalt führen kann, so wie sie es selbst und ihre Brüder von ihr erwarten. Die therapeutische Situation ist geprägt von einem lähmenden Gefühl der Ohnmacht, sowohl der Patientin als auch der sehr mit ihr identifizierten Therapeutin, die jedoch zunehmend Schwierigkeiten hat, ihre wachsende ratlose Wut angesichts der Unterordnung der Patientin unter die Vorstellungen ihrer Brüder und des Vaters zu bewältigen. In der Supervision fällt dabei nicht nur auf, dass die Therapeutin zwar meinen Kommentaren und Vorstellungen zu ihrer Arbeit interessiert zu folgen scheint, aber immer wieder Einwände hat und kaum eine meiner Interventionen hilfreich erscheint. Ich selbst spüre einen zunehmenden Ärger in einer für mich ungewohnten Heftigkeit mit dem Wunsch, »dazwischenzugehen«, bis mir schließlich auffällt, dass auch in der supervisorischen Beziehung etwas wie eine »gewaltige Lähmung« herrscht, als gebe es einerseits eine Botschaft »sag mir, was ich machen soll« und andererseits die Botschaft »du hast mir nichts zu sagen«. Erst als wir dies auch verstehen können als einen unbewussten Konflikt auf dem Boden der Unsicherheit der Kollegin, inwieweit sie mich angesichts meiner Herkunft aus einer anderen Fachgesellschaft autorisieren kann und ich meine eigene Angst und Ohnmacht mit entsprechenden kompensatorischen aggressiven Impulsen reflektieren und einordnen kann, setzt eine fruchtbare Auseinandersetzung ein, die schließlich über ein verändertes Verständnis der unterschiedlichen analytischen Kulturen Zugang zu der machtvollen Ohnmacht der Patientin als Frau im Geflecht ihrer kulturellen Herkunft erlaubt. Auf einige dieser Aspekte einer relationalen Auffassung von psychoanalytischer Supervision möchte ich jetzt noch einmal besonders eingehen.
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Die strukturelle Asymmetrie bei Gleichwertigkeit der Subjekte In der Gestaltung der therapeutischen Beziehung ist die Vorstellung einer gleichwertigen Beziehung zwischen zwei Subjekten zentral. Danach gestalten zwei Subjekte in einem wechselseitigen (mutuellen) Prozess intersubjektiver Verwobenheit eine Beziehung. Die resultierende Übertragungs-Gegenübertragungsmatrix wird von beiden Individuen gestaltet. Poetisch ausgedrückt hat dies Mitchell (1988, S. 9): »Like Escher’s Drawing Hands, the interpersonal and the intrapsychic realms create, interpenetrate, and transform each other in a subtle and complex manner.« Diese Mutualität oder Wechselseitigkeit ist einerseits zentral. Sie hilft, die psychoanalytische Situation zu begreifen als eine, in der zwei Subjekte sich gegenseitig beeinflussen und zugleich ihre Autonomie wahren, gerade weil sie sich in unvermeidlicher Abhängigkeit gegenseitig benötigen. In dieser Betonung der Mutualität besteht jedoch nach meiner Einschätzung andererseits auch eine Gefahr: Die vor allem zu Beginn einer Therapie starke Asymmetrie in der Beziehung kann übersehen oder zumindest unterschätzt werden und so Wegbereiter eines narzisstischen Missbrauches von Macht werden. Auch in der modernen Konzeption der psychotherapeutischen Beziehung als eines intersubjektiven, dialogischen Prozesses bleibt die strukturelle Asymmetrie der Beziehung bestehen. Diese resultiert hauptsächlich aus zwei Aspekten: Aus der Abhängigkeit des Patienten von psychotherapeutischer Hilfe, die vorübergehend im Rahmen des Übertragungsgeschehens in der psychoanalytischen Beziehung ja noch zunehmen kann und aus der Asymmetrie der Intimität, die im Laufe einer Psychotherapie ja ebenfalls noch wächst. Die Supervision hat auch die Aufgabe, den Ausbildungsteilnehmer für diese strukturelle Asymmetrie zu sensibilisieren und gleichzeitig die anders gelagerte strukturelle Asymmetrie der supervisorischen Beziehung mit zu reflektieren. Diese besteht neben den vielfältigen Übertragungsaspekten unter anderem in der Abhängigkeit des Supervisanden von der Hilfe beim Erreichen des Ausbildungszieles. Dies schließt die Problematik des
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Beurteiltwerdens durch den Supervisor mit ein und dessen dadurch möglichen realen Einfluss auf den Gang der Ausbildung, auch und gerade weil es sowohl dem Supervisanden als auch dem Supervisor Angst machen kann. Aus dieser Differenz und aus dieser Asymmetrie resultiert also ein Machtgefälle. Dies ist unausweichlich. Dabei gilt es, wiederum zwei Ebenen zu unterscheiden: Erstens die Ebene der strukturellen Asymmetrie, die zu einer strukturell asymmetrischen Machtrelation führt und zweitens die Beziehungsebene, in der es unter anderem im Rahmen von Übertragungen zu Machtzuschreibungen und deren Ausgestaltung in der individuellen therapeutischen und supervisorischen Begegnung kommt. Es ist wichtig, dieses zweifach bedingte Machtgefälle in der psychotherapeutischen und supervisorischen Interaktion zu sehen und es anzuerkennen, weil diese Anerkennung erst seine Reflexion und damit eine Begrenzung ermöglicht.
Reflexion von Macht in der supervisorischen Beziehung als Prävention von Machtmissbrauch in der therapeutischen Beziehung Der supervisorischen Beziehung kommt dabei insofern eine zentrale Bedeutung zu, als sie durch Identifikations- und Verinnerlichungsprozesse späteres professionelles Verhalten modelliert und zum Beispiel den nachlässigen Umgang mit Grenzverletzungen des künftigen Therapeuten im Sinne einer transgenerationalen Weitergabe bahnen kann (Gabbard u. Lester, 1995). Wenn die Lehre von Psychoanalyse in einem analytischen Rahmen erfolgen soll, muss die analytische Reflexion von Macht auch auf die Reflexion von Macht in der Supervision erweitert werden. Dies bedeutet auch, dass eine Supervision der Supervisoren durch einen Dritten unausweichlich ist. Die wechselseitige Anerkennung und Bezogenheit im Modell der Intersubjektivität wirkt zwar der Asymmetrie der Macht auf der strukturellen Ebene entgegen, hebt sie aber nicht auf. Die intersubjektive Gleichheit dient in der therapeutischen und supervisorischen Beziehung als ethische Orientierung in der Ungleichheit der Macht.
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Dabei ist es auch ethisch gefordert, die Ungleichheit nicht auszublenden. Besonders bei Grenzverletzungen wie sexuellem Missbrauch in der Therapie wird diese eingeschränkte Gleichheit vom Therapeuten häufig verleugnet.Vom ethischen Standpunkt aus kann deshalb in der Psychotherapie die Orientierung an intersubjektiver Gleichheit nicht ausreichen. Wir müssen die Ungleichheit anerkennen, die wiederum die besondere Verantwortung und Fürsorgepflicht des Therapeuten erfordert. Die Verantwortung des Supervisors ist dabei nicht nur als eine triadische beschrieben worden, indem er in der Dyade Therapeut-Patient die Funktion des Dritten übernimmt und so eine Triangulierung ermöglicht. Die besondere Komplexität der Verantwortung des Supervisors spiegelt sich in der Erweiterung des Begriffs der Triade wider. Es ist die Rede von einem supervisorischen Rhombus (und noch komplexeren Figuren): Der Supervisor hat nicht nur Verantwortung gegenüber dem Patienten, dessen Therapie supervidiert wird, sondern auch gegenüber dem Supervisanden und schließlich dem Institut und dessen weiteren sozialen Bedingungen. Gerade dieser letzte Aspekt führt nach meiner Einschätzung in den letzten Jahren zu wachsenden Ängsten und Ohnmachtserfahrungen auch der Supervisoren, die sich zum Beispiel immer mehr reglementierenden Bedingungen ausgesetzt fühlen, die tief in die analytische Ausbildung und therapeutische Beziehungsgestaltung eingreifen können. Die Ungleichheit ist also nicht nur eine Folge der Beziehungsgestaltung der Psychoanalyse, die Phantasien im Rahmen der Regression und Abhängigkeit eher zulässt, sondern sie ist strukturell jeder therapeutischen Beziehung inhärent. Dies gilt grundsätzlich – wenn auch in einem geringeren Ausmaß – für die supervisorische Beziehung insbesondere in der Ausbildung. Darüber hinaus können Macht und Übertragungs-, Gegenübertragungsgefühle komplementär sein, so dass das strukturelle Machtgefälle durch Übertragungsphänomene gestützt werden kann. In der Ausbildung wird dies oft verstärkt durch die traditionelle Mystifizierung und Idealisierung der Lehranalytiker und Supervisoren. Beide Formen der Macht – die strukturelle und die Übertragungsmacht – können missbraucht werden. Ob sie der Therapeut im Interes-
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se des Patienten und unter therapeutischer Zielsetzung nutzt, unterliegt wiederum auch dem komplexen und zum Teil unbewussten Prozess der »mutuality« und »negotiation« und sicher nicht der einseitigen Festsetzung durch den Therapeuten. Analog gilt dies für die supervisorische Beziehung. Die Zielsetzung wäre hier der Zuwachs der inzwischen ja viel diskutierten psychoanalytischen Kompetenz des Supervisanden. Da wie oben angeführt die Person des Therapeuten durch Reflexion ihrer Subjektivität Ressource für Veränderung wird, schließt diese Zielsetzung natürlich auch Selbsterfahrungsaspekte in der Supervision ein. Deren Begrenzung ist aber immer auch im Sinne einer »negotiation« nötig, denn Supervision ist zwar idealerweise einerseits Lehre innerhalb eines psychoanalytischen Rahmens. Andererseits ist sie, wie ausgeführt, aber etwas kategorial anderes als Therapie und operiert auf einem anderen Level der Abstraktion. Für entscheidend halte ich dabei, dass das Paradox zugelassen werden kann, dass die Selbstbemächtigung des Therapeuten sich in einem Prozess entfaltet, an dessen Beginn ein asymmetrisches Machtund Autoritätsgefälle anerkannt und zugleich dessen Schwinden im Verlauf zugelassen werden kann, so dass etwas Neues, zuvor nicht dagewesenes »Drittes«, entstehen kann. Mit anderen Worten: Wenn der Prozess gelingt, wächst der Ausbildungsteilnehmer über seinen Supervisor und sich selbst hinaus. Wenn nicht, könnte eintreten, was in der Entwicklung der Psychoanalyse immer wieder zum Problem wurde: Der Schüler nimmt es seinem Lehrer übel, wenn er immer Schüler bleibt. Frawley-O´Dea und Sarnat (2001, S. 69) zitieren Fiscalini (1997), der sagt: »The supervisory relationship is a relationship about a relationship about other relationships.« Die Bereitschaft des Supervisors, nicht nur die klinischen Aspekte des Falles zu untersuchen, sondern auch die Aspekte der supervisorischen Beziehung, macht die Supervision zu einem Lernmodell für die analytische Arbeit. Zugleich lädt diese Haltung zur Kokonstruktion von Bedeutung ein. Der Therapeut hat kein Deutungsmonopol und erfährt diese Haltung im Idealfall in einer supervisorischen Beziehung, in der auch der Supervisor kein Deutungsmonopol hat. Dies demystifiziert den
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Supervisor als einen idealisierten, alles wissenden und omnipotenten Inhaber von Wahrheit. Im besten Falle macht es dem Supervisanden den inneren analytischen Prozess des Supervisors zugänglich, so dass dieser von beiden erörtert werden kann mit der Möglichkeit eines erweiterten Verständnisses des Geschehens für beide Beteiligten. Das »Verteiltsein« von Macht in Psychoanalyse und erst recht in Supervision wird in diesem Modell beschrieben als ein mutuelles Beziehungsgeschehen, eingebettet in eine erweiterte soziale Matrix. Für die Macht des Supervisors in einer analytischen Ausbildung heißt dies Folgendes: zum einen reflektiert sie seinen Status in der jeweiligen analytischen Organisation. Zum anderen resultiert sie aber auch aus der fortwährenden Autorisierung durch den Supervisanden. Insofern teilen sich Supervisor und Supervisand Macht und Autorität. Die Asymmetrie in der Supervision ist allerdings komplexer und hat andere Schwerpunkte als in der therapeutischen Beziehung. Vor allem berührt sie auch die ethisch wichtige Frage: Wer hat Verantwortung wofür? Wie kann der Supervisor seiner Verantwortung gegenüber dem Patienten und auch gegenüber dem Institut und den die Ausbildung regulierenden Institutionen gerecht werden und zugleich dem Supervisanden einen offenen und kreativen Selbstreflexionsprozess ermöglichen? Gerade die Ausbildungssupervision ist eingebunden in umfangreiche soziale Regeln bis hin zu Gesetzen und insofern externer Macht unterworfen, was zu vielfältigen Übertragungs- und Gegenübertragungsreaktionen führen kann, die Gegenstand der analytisch-supervisorischen Arbeit werden können. Eine besondere Bedeutung kommt gerade in dem inzwischen allgemein anerkannten Non-reporting-System der Lehranalyse für den Fortgang der Ausbildung der Evaluation durch die Supervisoren zu, die offen gehandhabt und reflektiert werden sollte. Dies alles zusammenfassend existiert das unauflösbare Paradox, dass sich der Supervisand in gewisser Weise dem Einfluss und der Macht des Supervisors aussetzt, um seiner selbst als Analytiker mächtig zu werden. Die umwandelnde Macht der supervisorischen Beziehung liegt dabei auch in der Offenheit für gegenseitige Verletzbarkeit und interpersonellen Einfluss unter Akzeptanz der Verschiedenheit
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der Rolle. Gerade das Eingebettetsein in einen rahmensetzenden sozialen Kontext einer staatlich reglementierten Ausbildung setzt sowohl den angehenden Therapeuten als auch den Supervisoren hochkomplex miteinander verwobenen Macht- und Ohnmachtserfahrungen aus. Dabei gilt: Von sich selbst in der Gegenwart eines anderen etwas zu zeigen, ruft nicht nur Angst, sondern auch Scham hervor. Aber während die Angst- und Schamaffekte des Patienten im psychoanalytischen Prozess differenziert wahrgenommen und reflektiert wurden, um sie konstruktiv innerhalb der Bearbeitung von Übertragung und Gegenübertragung nutzen zu können, wurde der subjektive Beitrag des Analytikers erst allmählich anerkannt und schließlich zunehmend thematisiert im Rahmen eines Verständnisses der psychoanalytischen Situation als einer intersubjektiven (u. a. Gill, 1982; Lichtenberg, Lachmann u. Fosshage 1996; Stolorow, Brandchaft u. Atwood 1996; Orange, Atwood u. Stolorow, 2001). Ähnlich scheint die Entwicklung für die Wahrnehmung von Angst und Scham bei Supervisanden und Supervisoren zu verlaufen. Die Angst des Supervisanden vor Bloßstellung und Kränkung ist immer wieder in ihrer Dynamik im Supervisionsprozess beschrieben worden: die bedrohte Selbstachtung; die Angst vor dem Offenbarwerden realer oder phantasierter Kompetenzdefizite; die Scham, wenn eine Diskrepanz zwischen dem erlebten Selbst und dem Ideal deutlich wird, aber auch, wenn die Person des Analytikers als diskrepant zum idealisierten Analytiker erlebt wird; die Beschämung beim Sichtbarwerden bisher unbekannter Selbstaspekte, aber auch die Beschämung beim Erfahren von Anerkennung oder gar Lob. Ich habe den Eindruck, als würden bestimmte Aspekte von Angst und Scham gerade in der Supervision besonders verleugnet, und zwar gerade solche, die Fragen von phantasierter und realer Macht der Supervisoren berühren und solche, die die Angst und Scham der Supervisoren betreffen, während sie für die Lehranalyse thematisiert und reflektiert wurden (Cremerius, 1987, 1989; Lehmkuhl, Lehmkuhl u. Huttanus, 1990; Wiegand-Grefe u. Schuhmacher, 2006). Lesser (1984, S. 147) weist auf die Wichtigkeit hin, offen auch die Ängste der Supervisoren wahrzunehmen: »However, the supervisor’s anxieties are generally unrecognized, perhaps anxieties are less ac-
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ceptable to the supervisor than to the analyst. Awareness of the supervisor’s anxieties is essential for fulfilling the supervisory task. The supervisor’s responsibility to evaluate the candidate is anxiety provoking for both members of the supervisory dyad. No matter what efforts are made to minimize it, both are aware that the supervisor’s judgement may affect the candidate’s career in the professional world. […] The supervisor is bound to be affected by the potentially serious consequences for the supervisee of a poor evaluation. Certainly, participation as a co-equal becomes strained.« Mein persönlicher Eindruck ist, dass diese Angst der Supervisoren vor der Evaluation in der Ausbildung weit verbreitet ist und womöglich unvermeidbar ist, trotz der inzwischen weitaus offeneren Diskussion um Kompetenz in der psychoanalytischen Ausbildung (wobei interessant wäre zu diskutieren, ob der zumindest mir auffallende technokratische Duktus mancher Beiträge auch als ein diesbezügliches Abwehrphänomen verstanden werden könnte). Die Verleugnung der Angst des Supervisors kann daran hindern, die diesbezügliche Angst der Supervisanden anzuerkennen und gegebenenfalls zu bearbeiten. Ich möchte folgende Bemerkung von Crowley (1984, S. 79) zu bedenken geben: »In our profession, this issue may be bypassed too often. A writing or music teacher who fails to let a student know whether he has artistic ability required for the adequate performance of his art is not only failing his responsibility as a teacher but also his social responsibility of encouraging only those who can serve adequately.« Die neuen Versuche, Fragen der Kompetenz in der analytischen Ausbildung transparenter zu machen, können hier sicher langfristig hilfreich sein, aber Macht und Ohnmacht als unvermeidbare Bestandteile der Ausbildungsbeziehung für alle Beteiligten nicht zum Verschwinden bringen. Die Angst des Supervisors vor der Evaluation ist nur eine von vielen möglichen. Es liegt sehr in der Persönlichkeit des Supervisors, was wie viel Angst auslöst: Dies kann offene Kritik sein ebenso wie Lob; Scham vor den Kollegen beim Scheitern mit einem Supervisanden; Angst oder Scham beim Scheitern des Supervisanden in einer supervidierten Therapie; Konkurrenz- und Rivalitätsgefühle auch gegenüber den Kollegen des Institutes können einfließen: Wie kommt der von mir so geschätzte Supervisand bei den anderen an, wie wird seine Ab-
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schlussarbeit, die ja auch den supervisorischen Prozess widerspiegelt, angenommen usw.; Angst oder Scham vor anderen Fachkollegen (z. B. den Gutachtern, die die Berichte der Supervisanden lesen), manchmal auch zu vermuten hinter einer völligen Verleugnung des Einflusses Dritter (»Das interessiert mich hier gar nicht.«). Die Vielschichtigkeit von Übertragungsmöglichkeiten erscheint angesichts des Eingebundenseins der Supervision in den sozialen Rahmen des Institutes sehr groß (Lesser, 1984, S. 148): »It is important to be aware that the supervisory room is crowded with all sorts of ›persons‹ who create anxieties for both the supervisor and the supervisee. The supervisory room is often even more populated than the analytic room. Each participant must consider his own multiple transferences, which include the patient, colleagues, training-committee members, and others in the institution.« Und schließlich spielt die Angst des Supervisors vor Intimität, Nähe und Bezogensein eine große Rolle für die Gestaltung des supervisorischen Prozesses, denn die Rolle als wissender Experte kann einerseits mittels Intellektualisierung eine komfortable Abwehr von Nähe ebenso wie von Unsicherheit bieten, was dazu führen kann, dass der Supervisor nicht nur Aspekte seiner selbst ausblendet, sondern auch des Supervisanden und des Patienten. Andererseits kann unreflektierte Nähe auch der Abwehr von spannungserzeugender Distanz dienen, was das Erleben und Verdauen angemessener »Diskrepanzerfahrungen« (Fürstenau, 1992) erschwert, die für eine Weiterentwicklung des Therapeuten aber unerlässlich sind. Das Paradox, dass in einem modernen Verständnis seiner Arbeit der Supervisor heute nicht mehr in Anspruch nehmen wird, objektiv zu wissen, was richtig ist, und doch in gewisser Weise seine Macht und seine Verantwortung annehmen muss, wird sicher nicht nur in der aktuellen Diskussion um die Kompetenz von angehenden Analytikern eine Rolle spielen, sondern die Diskussion erweitern um die Kompetenz auch der Supervisoren.
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Interaktive Entstehungsbedingungen von Machtmissbrauch Gerade der analytischen Supervision kommt in der Reflexion von Psychotherapie mit ihren sozusagen ganz gewöhnlichen interaktiven Entstehungsbedingungen von narzisstischen Beziehungsstrukturen eine zentrale Funktion für die Prävention von missbräuchlichen Beziehungen zu. Nicht nur Therapeuten mit narzisstischen Störungen missbrauchen ihre Patienten! Schmidt-Lellek (1995) weist auf einige spezifische narzisstische Aspekte in der therapeutischen Situation hin, die mitbeteiligt sind an der besonderen Gefährdung von therapeutischen Professionellen für Machtmissbrauch. Dies sind: – die »deformation professionelle« als beständige Verführung für Therapeuten, sich unbewusst mit dem Bild zu identifizieren, dass sich sie idealisierende Patienten von ihnen machen und das zu einem idealisierten Selbstbild des Therapeuten führt. – der Zwiespalt zwischen den hohen Anforderungen und der oft unspektakulären, manchmal auch niedrigen Erfolgsresonanz, was zu einem Bedürfnis nach kompensatorischer Aufwertung führen kann. – Regressives Arbeiten fördert Abhängigkeit und es kann schwer fallen, sich aus der Elternübertragung zu verabschieden und als Therapeut einer zu werden wie jeder andere. – Es besteht ganz profan die Notwendigkeit, den Stundenplan zu füllen und Geld zu verdienen. – Möglich ist ein Bedürfnis nach Entschädigung für die – insbesondere in der klassischen analytischen Ausbildung – lange regressive Abhängigkeit in der Lehranalyse. Abhängigkeit und Kleinsein wird dann kompensiert durch Machtausübung. – Das häufige Ohnmachtsgefühl angesichts großer Not der Patienten kann zu Kompensationsversuchen führen. – Die Nichtwahrnehmung eigener Ängste und Schwächen kann ebenso zu Machtmissbrauch führen wie eine dogmatische Grundhaltung als Form der Unsicherheitsbewältigung. Dies geht dann damit einher, nur solche Aspekte beim Patienten wahrzunehmen, die die eigene Theorie bestätigen. – Insbesondere freiberufliche Therapeuten in Einzelpraxen scheinen
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gefährdet für einen narzisstischen Machtmissbrauch, da hier der alltägliche professionelle Austausch am dünnsten ist und die Bedürftigkeit am ehesten in die Beziehung zum Patienten hineingetragen werden kann. – Wenn dann auch noch das Privatleben brüchig ist, kann die therapeutische Arbeit zu einer Art Ersatzleben werden: Die Patienten sind dann die einzigen kontinuierlichen Bezugspersonen. Dies kann zu einer malignen Eskalation führen: Aus persönlicher Unzufriedenheit wird immer mehr gearbeitet, auch um so die eigenen Defizite weniger zu spüren und die Leere zu füllen. Dabei entsteht gleichzeitig eine immer größere Bedürftigkeit des Therapeuten auf der Suche nach Anerkennung und Bestätigung durch seine Patienten. Emotionale Selbstausbeutung macht besonders gefährdet für die narzisstische Ausbeutung von Patienten. Das besondere Abhängigkeitsverhältnis in psychotherapeutischen Beziehungen ist geprägt durch die Übertragung elementarer Kindheitswünsche nach Schutz, Fürsorge und existenziellem Verständnis, aber auch die Übertragung von Kindheitsverletzungen und Enttäuschungen bei gleichzeitiger Erlebnisaktivierung und dem sich Öffnen gegenüber sonst verborgenen Gefühlen. Dies aktiviert auch die Sehnsucht nach einem liebevollen guten und machtvollen Gegenüber. Darin liegt eine wesentliche Bedingung und Voraussetzung für die Wirksamkeit von Psychotherapie. Gleichzeitig ist sie aber auch die Grundlage für die Gefahr destruktiver Folgen, wenn der Therapeut selbst aufhört, diese Sehnsucht anzunehmen und zugleich ihre Unerfüllbarkeit anzuerkennen. Dieses Spannungsfeld von Liebe und Macht grundlegend zu reflektieren, ist eine Aufgabe der Ausbildungssupervision.
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Levenson, E. A. (1984). Follow the Fox. In L. Caligor, P. M. Bromberg, J. D. Meltzer (Eds.), Clinical Perspectives on the Supervision of Psychoanalytic Psychotherapy (S. 133–167). Berlin u. a.: Springer. Lichtenberg, J. D., Lachmann, F. M., Fosshage, J. L. (1996). The Clinical Exchange. Hillsdale, NJ: The Analytic Press. Luhmann, N. (1975). Macht. Stuttgart: Enke. Mitchell, S. A. (1988). Relational Concepts in Psychoanalysis: An Integration. Cambridge, MA: Harvard University Press. Orange, D. M., Atwood, G. E., Stolorow, R. D. (2001). Intersubjektivität in der Psychoanalyse. Frankfurt a. M.: Brandes und Apsel. Scharff, J. M. (2007). Psychoanalysieren und die Kunst der Balance. Psyche, 61 (9/10), 837–862. Schmidt-Lellek, L. J (1995). Narzißtischer Machtmissbrauch. In L. J. SchmidtLellek, B. Heimannsberg (Hrsg.), Macht und Machtmissbrauch in der Psychotherapie (S. 171–194). Köln: Edition Humanistische Psychologie. Searles, H. F. (1955). The Informational Value of the Supervisor`s Emotional Experiences. Psychiatry, 18, 135–146. Stolorow, R. D., Brandchaft, B., Atwood, G. E. (1996). Psychoanalytische Behandlung. Ein intersubjektiver Ansatz. Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch Verlag. Wiegand-Grefe, S., Schuhmacher, M. (2006). Strukturelle Gewalt in der psychoanalytischen Ausbildung. Eine empirische Studie zu Hierarchie, Macht und Abhängigkeit. Gießen: Psychosozial. Wirth, H.-J. (2002). Narzissmus und Macht. Zur Psychoanalyse seelischer Störungen in der Politik. Gießen: Psychosozial.
Die Autorinnen und Autoren
Gitta Binder-Klinsing, Dr. med., ist Ärztin für Allgemeinmedizin, Ärztin für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie/Psychoanalyse, in privater Praxis und als Dozentin, Supervisorin und Lehranalytikerin (DGIP, DGPT) am Alfred-Adler-Institut (AAI) in Mainz tätig. Almuth Bruder-Bezzel, Dr. phil., Dipl.-Psych., ist in privater Praxis und als Dozentin, Supervisorin und Lehranalytikerin (DGIP, DGPT) am AAI in Berlin tätig. Martina Dusy, Dipl.-Soz.-Arb., Dipl.-Psych., ist Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin und Psychoanalytikerin (DGIP, DGPT). Gisela Eife, Dr. med., ist Ärztin für Psychotherapeutische Medizin/ Psychoanalyse, in privater Praxis und als Dozentin, Supervisorin und Lehranalytikerin (DGIP, DGPT) am AAI München tätig. Elisabeth Fuchs-Brüninghoff ist als Individualpsychologische Beraterin und Lehrberaterin (DGIP) in freier Praxis im Bereich Beratung, Coaching und Fortbildung tätig. Martin Geimer, Dipl.-Soz.-Arb., ist Analytischer Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut (DGIP) in eigener Praxis und als Dozent am AAI Aachen-Köln tätig. Jeremy Holmes, M. D., ist in privater Praxis, als Dozent, Supervisor und Lehranalytiker und als »Visiting Professor of Psychotherapy« an der Universität von Exeter, UK, tätig.
Autorinnen und Autoren
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Gerd Lehmkuhl, Univ.-Prof., Dr. med., Dipl.-Psych., ist Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters der Universität zu Köln und als Dozent, Supervisor und Lehranalytiker (DGIP, DGPT) am AAI Aachen-Köln tätig. Wolfgang Lehnert, Dipl.-Psych., ist in privater Praxis und als Dozent, Supervisor und Lehranalytiker (DGIP, DGPT) am AAI Berlin tätig. Bernd Nitzschke, Dr. phil., Dipl.-Psych., ist in privater Praxis und als Dozent, Supervisor und Lehranalytiker (DGPT) am Institut für Psychoanalyse und Psychotherapie Düsseldorf tätig. Klaus Ohm, Dr. phil., Dipl.-Psych., ist als Psychoanalytiker (DGIP) in privater Praxis in Berlin tätig. Lisa Rauber ist Ärztin für Psychiatrie und Psychosomatische Medizin/Psychoanalyse, in privater Praxis und als Dozentin, Supervisorin, Lehranalytikerin (DGIP, DGPT) und Geschäftsführende Ausbildungsleiterin am AAI in Mainz tätig. Heiner Sasse, Dr. phil., Dipl.-Psych., ist in privater Praxis, als Dozent, Supervisor und Lehranalytiker (DGIP, DGPT) am AAI in Düsseldorf tätig und erster Vorsitzender der DGIP. Hans-Jürgen Schatz ist Theater- und Filmschauspieler und Sprecher zahlreicher Hörbücher. Er lebt in Berlin. Bernd Schäpers ist als individualpsychologischer Berater (DGIP) und stellvertretender Schulleiter in Ahlen/Westfalen tätig. Nicole Welter, Dr. phil., Dipl.-Päd., Analytische Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin (DGIP), ist als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Erziehungswissenschaften an der Humboldt-Universität in Berlin tätig. Ronald Wiegand, Univ.-Prof. für Soziologie (Freie Universität Berlin), Dr. rer. pol., Dipl.-Soz., ist Fachmitglied der DGIP, Redaktionsmitglied der ZfIP und Dozent am AAI Berlin.
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Personenverzeichnis
Personenverzeichnis
A Abraham, K. 31 Adler, A. 9 f., 12–16, 18–22, 24, 28, 30, 32 ff., 39, 41, 47, 50, 66, 73–76, 115, 119–122, 124 f., 133, 141, 154 f., 157 ff., 161, 189, 220, 222, 225 f., 242–247, 249 ff., 253 f., 256–266, 268 f., 274, 278, 288 Adler, Alexandra 34 Adler, V. 32, 33 Adorno, T. 68, 70 Akhtar, S. 283 Allen, J. 224 Andreas-Salomé, L. 266 Ansbacher, H. L. 10, 12, 20, 190, 226 Ansbacher, R. 190, 226 Antoch, R. F. 39, 120 Apel, K.-O. 22 Arendt, H. 46, 167 Aristoteles 14 Aron, L. 227 Atwood, G. E. 272, 284, 299 Auchter, T. 198
B Bach, D. J. 265 Balint, E. 80, 83 Balint, M. 79 f., 82 f. Bateman, A. 233 Bauer, J. 82, 274 Baumgarten, A. G. 26
Beil, A. 33 f. Beit-Hallahmi, B. 69 f. Berner, W. 49, 51 f. Bion, W. R. 18, 122, 133, 229 Blankenstein, F. 32 Bleuler, E. 246, 262 Bloch, I. 31 Blos, P. 88 Boer, D. P. 57 Bonhoeffer, D. 33 Bourdieu, P. 169 Bowlby, J. 79 Brandchaft, B. 299 Briken, P. 52 Britton, R. 226, 233, 239 Bruder, K.-J. 47, 167 Bruder-Bezzel, A. 32, 47, 244 Buchholz, M. B. 13f., 275, 287, 291 Burckhardt, J. 46
C Caligor, L. 291 Canestri, J. 292 Cavell, M. 227 Charcot, J. M. 31 Claessens, D. 46 Cremerius, J. 157, 160, 299 Crowley, P. 300 Czerny, A. 33
Personenverzeichnis
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D
G
Dammasch, F. 198 Dawkins, R. 223 Deutsch, F. 250 Dienes, G. 67 Dornes, M. 81 Dostojewski, F. M. 154 Dreikurs, R. 141 Dürr, H.-P. 131 f.
Gabbard, G. O. 230, 295 Gardner, R. A. 87, 93 Gediman, H. K. 292 Gehlen, R. 13 Gergeley, G. 221 Giebenrath, J. 69 Gill, M. M. 299 Goethe, J. W. von 82, 284 Goetz von Olenhusen, A. 67 Goleman, D. 275 Göring, H. 34 Göring, M. H. 34 Görnitz, B. 125 Groeger, L. 33 Gröner, H. 170 Gross, F. 66 Gross, H. 66, 67 Gross, O. 65–69, 74–79, 81 Grossman, K. 224 Gruen, A. 60
E Edelstein, W. 139 Eickhoff, C. 142 Eife, G. 48, 121, 125, 131, 288 Eissler, K. R. 79 Eitington, M. 31 Ekman, P. 40, 275 Ellenberger, H. F. 244 Erdheim, M. 157, 168 Erhard, L. 28 Euler, S. 275 Ewaters, J. 224
H F Faller, K. 144, 146 f. Fauser, P. 139 Federn, E. 250, 270 Federn, P. 244, 251, 258, 263 Fenichel, O. 69, 76 Ferenczi, S. 66, 261 Fiscalini, J. 297 Fließ, W. 31, 259, 262 Fonagy, P. 221, 224, 233, 278, 283 Fosshage, J. L. 299 Foucault, M. 46, 50, 290 Frawley-O’Dea, M. G. 289, 297 French, J. P. R. Jr. 45 Freud, S. 30 ff., 39, 47, 50 f., 65 f., 73, 75 ff., 79 f., 82, 119, 166, 221 ff., 226, 242–247, 250, 255 f., 258, 260–263, 265 f., 268 f. Fried, E. 272 Fromm, E. 21, 23, 68, 70, 79 Fürstenau, P. 301 Furtmüller, C. 17, 21, 245
Habermas, J. 22, 41, 219 Hall, G. C. N. 57 Handlbauer, B. 30, 244, 250 f., 254, 259, 266, 278 Hartmann, N. 15 f. Hartmann, U. 51 Hauskeller, M. 15, 26 Heidegger, M. 17 f. Heisterkamp, G. 42, 123, 131, 267 Herder, J. G. 13 Hesse, H. 68 f. Hill, A. 52 Hillman, J. 269 Hirschfeld, M. 31 Hitschmann, E. 252, 258, 261, 263 Holmes, J. 233 f. Horkheimer, M. 65, 67, 68, 70 Hrdy, S. 222 Hügli, A. 17 Huttanus, A. 299 Hye, F. Baron v. 265
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J Ibsen, H. 157, 167 Jaeggi, E. 278 Jaenicke, C. 273 Jekels, L. 263 Jones, E. 66, 261 Juliusburger, O. 31 Jung, C. G. 66f., 119, 250, 260, 262, 265 Junker, H. 244
K Kafka, F. 67 Kahane, M. 30 Kaltenborn, K.-F. 87 Kant, E. 21 Kauffman, S. A. 131 Kaus, O. 33 Kennedy, C. 58 Kernberg, O. 49, 267 Kessemeier, S. 170 Kets de Vries, M. F. R. 116 f. Khema, A. 283 Kierkegaard, S. 223 Kießling, K. 131 Kneip, W. 144, 146 f. Kocher, G. 67 Kohut, H. 128 Kölch, M. B. 33f. Körber, H. 31 Koslowski, P. 46 Krappmann, L. 140 Krause, R. 40, 42, 45 Krause-Steimer, E. 40 Kriz, J. 151 Krüger, A. 284 Krutzenbichler, S. 287 Künkel, F. 32 ff. Kutscher, K. 34
Personenverzeichnis Lehmkuhl, U. 299 Leikert, S. 49 Lentzen-Schulte, M. 274 Lersch, P. 20 Lesser, R. M. 301 Lester, E. P. 295 Levenson, E. A. 291 Lévinas, E. 41 Lichtenberg, J. D. 40, 42, 125, 299 Löwenthal, L. u. S. 247 Luhmann, N. 46, 50, 117, 290
M Maday, S. 265 Main, M. 225 Mallinckrodt, B. 225, 233 Marx, K. 159 Maslow, A. 266 Mentzos, S. 164, 174, 178 Metzger, W. 155 Meyer, U. 12 Milgram, S. 70 f. Mitchell, S. A. 287, 294 Möbius, P. J. 248 Morgan, G. 46 Mühlleitner, E. 76 Müller-Isberner, R. 57 Muran, J. 231
N Newson, E. 13 Nietzsche, F. 16 f., 21, 81, 170 Nitzschke, B. 71, 74, 77 f. Nunberg, H. 244
O Opp, G. 140, 141, 144 Orange, D. 299
L Lacan, J. 49, 169 Lachmann, F. M. 299 Lecter, H. 71 Lehmkuhl, G. 267, 299
P Palombo, S. R. 131 Person, E. S. 47, 117, 267 Pfeffer, M. 45
Personenverzeichnis Platon 12 Portmann, R. 13
Q Quindeau, I. 46, 49f., 52
R Rank, O. 243, 245 Rattner, J. 16 Rau, H. R. 114 Raven, B. 45 Reddemann, L. 276, 281, 282, 284 Reemtsma, J. P. 55 Regenbogen, A. 12 Reich, W. 69, 78 f. Reik, T. 25 Reinert, T. 125 Reitler, R. 30, 258, 263 Rizzolatti, G. 71, 274 Rother, R. 67 Rousseau, J. J. 284 Rudolf, G. 277 f., 280 Rühle, O. 34 Ryle, A. 227
311 Schur, M. 32 Searles, H. F. 292 Shotter, J. 13 Sievers, E. 34 Sigusch, V. 175, 186 Sinigaglia, C. 71 Slade, A. 224 Smith, R. 143 Sophokles 95 Sperber, M. 34, 51, 162, 170 Spitz, R. A. 77 Spranger, E. 33 Stekel, W. 30, 66, 242 f., 245, 252, 258, 260 ff., 266 Stern, D. N. 18, 127, 131 f. Stoller, R. 184 Stolorow, R. D. 128, 273, 284, 299 Symington, N. 122
T Target, M. 283 Tausk, V. 263 Thelen, E. 131 Timmermann, F. 198 Tögel, C. 31 Tuckett, D. 223
S Sadger, I. I. 247, 250 Safran, J. 231 Safranski, R. 12, 22 Sarnat, J. E. 289, 297 Sasse, H. 42 Schafer, R. 268 Schäpers, B. 146 Scharff, J. M. 287 Schlotter, S. 16 Schmid, W. 17, 22 ff., 26 Schmidt, H. 162 Schmidt, M. G. 188 Schmidt-Lellek, L. J. 302 Schopenhauer, A. 81 Schore, A. 280 Schröder, G. 28 Schröder, H. 32 Schuhmacher, M. 299 Schülein, J. A. 131
U Unger, N. 140, 141, 144 Unruh, B. 182
V Vaihinger, H. 12 Volavka, J. 51 von Berger, A. 154, 156
W Wallerstein, R. S. 268 Watzlawick, P. 115 Weber, M. 46 Werner, E. 143 Westen, D. 230 White, K. 219 Whitehead, N. 15
312 Wiegand, R. 219 Wiegand-Grefe, S. 299 Will, H. 188 Winnicott, D. W. 13, 49, 102, 196, 226, 235 Wirth, H.-J. 157, 164, 291 Witte, K. H. 120, 125, 132
Personenverzeichnis Wittels, F. 244, 252 Wolff-Richter, A. 33 Wolkenfeld, F. 292 Wustmann, C. 143
Z Zinnecker, J. 142
Stichwortverzeichnis
A Abhängigkeit 154, 160 Abschlussarbeit 173 Abstinenz 41 Abwehr 54 Aggression 173, 174 affektive 162 verdeckte 188 Aggressionshemmung 173, 174 Aggressionskonflikt 92 Aggressionspotential 86 Aggressionsverleugnung 93 Aggressivität 159 Aggressor 68 Allmacht 164, 221 Anerkennung Bedürfnis nach 142 Angst aggressive 162 Arrangement 155 Ästhetik 26 der Existenz 9 Asymmetrie in der Supervision 298 relationale 286 strukturelle 286, 292 Aufklärung 13 Augenblick der Begegnung 131 Ausbildungsbeziehung 300 Ausbildungssupervision 303 Autoritarismus 69 Autoritätsgefälle 297 Autoritätsgehorsam 70 f. Autoritätsprinzip 75
B Begegnungsmoment 129 Begehren 49, 50 Beschmutzungsphantasie 183 Bewältigungsfunktion 186 Bewältigungsversuch 55 Bewegung 122 Beziehung Streben nach 76 Beziehungsgeschehen zwischen Täter und Opfer 58 Bindungsbedürfnis 227 Bindungsbewusstsein 236 Bindungserfahrung 82 Bindungsmuster 227 Bindungsperspektive 227 Bindungsstil 225 Bindungstheorie 220, 224, 227, 239 Bindungsverhalten 225, 230 Buddy-Gruppe 148, 151 Buddy-Prinzip 144 Buddy-Projekt 145 Buddy-Projektraster 146, 147 Burnout 275
C Charakter autoritärer 68, 69, 71 narzisstischer 154 Charakterneurose 159 Coaching 111 Cortisolspiegel 275
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Stichwortverzeichnis
D
G
Demütigung 75 Deutungsmonopol 297 Dispositionspsychologie 158 Distanz 167 Dominanz 237 Doppelgängerschaft 155 doppelte Dynamik 121 double speak 168
gefrorene Bewegung 123 Gegenfiktion 168, 288 Gegenmacht 160 Gegenübertragung 25, 61, 173, 174, 220, 272 Gegenwartsmoment 132 Gelassenheit 18 Geltungsdrang 116 Gemeinschaft 9 Gemeinschaftsgefühl 16, 41, 120, 141 Gesamtkunstwerk 14 Geschlechtermetaphorik 165 Gewaltbereitschaft 38, 53 Gewaltphänomene 62 Gewalttäigkeit 51 Gewissen 21 Gleichheit intersubjektive 286 Gratifikation, narzisstische 164 Grenzüberschreitung 194 f., 197 Grundstörung 82
E Ehrgeiz 163 Eigenverantwortung 180 Einfluss Gleichaltriger 141 Einfühlungsvermögen 71 Eltern-Kind-Kontakt 142 Elterngewalt 68 Empathie somatische 274 ff. Empathiefähigkeit 277 Enactmentkonzept 60 Entelechie 14 Entfremdungssyndrom 87 entspiegeln 276 Entstehungsdynamik 61 Enttäuschungswut 184 Erfahrungsmuster 112 Erfolgsresonanz 302 Ermutigung 141, 240 Ethik persönliche 10 Existenz 13, 15
F Feindseligkeit, projizierte 182 Fiktion 14, 20, 155 Fiktionenanalyse 288 Freiheit von 23 Freiheit zu 23 Freude 12, 81, 280, 281, 282 Führungsrolle 113 Führungsstil 113 f. Funktionslust 81, 164
H Halluzination 155 Handlungsrahmen 112 Handlungsspielraum 113, 182 Hausaufgaben-Buddys 148 Heimlichkeit 154, 167 Herrschaftsfreiheit 22 Herrschaftsgesellschaft 67, 68 Herrschsucht 115 Hilflosigkeit 277, 280 Hingabe 43, 65 Hormone 51 Hospitalismus 78
I Ich-Regression 78 Idealismus 12, 20 Identifikation projektive 60 Identität
Stichwortverzeichnis pädagogische 192 therapeutische 192 Identitätssubstanz 288 Impuls, sadistisch-aggressiver 181 Inszenierung 168 Interaktionsmuster 43 Interaktionsspezialisierung 291 Intersubjektivitätstheorie 273 Introjekt 129
J Jargon, sexueller 165
K Kardinaltugenden 12 Kindheitserfahrung 50 Klassen-Buddys 147 Ko-Konstruktion 229 Komorbidität 52 Kompetenz kommunikative 139 psychoanalytische 173 f. Konfliktberatung 115 Konformitätszwang 71 f. Kontakt Streben nach 76 Kontrolle 174, 181 Körperspürerleben 37 Kriminalpsychologie 66 Künstler 9 f., 14
L Lächerlichkeit 169 Lebensfreude 272 Lebenskunst 13, 17 f., 23 Lebenskünstler 10 f., 16, 24 Lebenslüge 167 Lebenslust 272, 280 Lebensstil 132 Leiden 174, 184 Leidenserfahrung 44 Liebesbedürfnis 30 Loyalitätskonflikt 86 ff., 92 Lüge 167
315 Lust 28, 36, 48, 82, 86, 112, 118, 159, 174 sexuelle 154, 165 Lusterfahrung 44 Lustgewinn 81, 184 Lustlosigkeit 280
M Macht 15, 17, 19, 28, 36, 81, 86, 97, 116, 154, 181, 220–223, 224 ff., 236, 241 Asymmetrie der 295 des Säuglings 82 des Schöpferischen 227 Doppeldeutigkeit von 287 Dynamik der 157 externe 298 Flüchtigkeit von 289 Grenzen der 24 Hunger nach 117 narzisstischer Missbrauch von 294 reale 299 Spiel mit der 118, 237 Ungleichheit der 295 Vorstellungen von 114 Machtaspekt 225 Machtausübung 117, 220, 302 krankhafte 237 Machtbalance 117 Machtbeziehung 220, 222 f., 227, 236 Machtentfaltung 220 Machterfahrung 111, 114, 117, 299 Machterwerb 220 f., 229 Machtfrage 225, 240 Machtgefälle 292, 295, 297 strukturelles 296 Machtgerangel 87 Machtgewinn 227 Machtgier 16, 163 Machthaber 291 Machtimpuls 287 Machtkampf, analer 183 Machtkompetenz 117
316 Machtlosigkeit 220, 232, 240 ökonomische 223 Machtlust 57 Machtmerkmal 221 Machtmissbrauch 116 ff., 286 ff., 302 Konzepte des 289 narzisstischer 303 Machtposition 154, 220 Machtrahmen 111, 112 f., 115, 118 Machtrelation 295 Machtstreben 39, 50, 157, 163 Machtsucht 115, 118 Machttrieb 47, 222, 226, 232 Machtübernahme 117 Machtvakuum 115 Machtverhalten 116 Machtverhältnis 118, 220, 223 Machtverhältnisse 45, 47, 114 Machtverlust 220 Machtwille 67 Machtzuschreibung 295 Machtzuwachs 17, 220 f. Mängelwesen 13 männlicher Protest 155 Menschengemeinschaft ideale 12 Menschenwürde 13 Mentalisierung 220, 223 f., 228, 239 Mentalisierungsfähigkeit 224, 227f., 234, 240f. Minderwertigkeitsgefühl 15, 115, 159 Minderwertigkeitskomplex 233 Missbrauch, sexueller 166 Mit-Bewegung 123 Mitgefühl 279 Mittwoch-Gesellschaft 29 Moral 21 f. als Gehorsam 9 Moralität 16 Moralvorstellungen 10 Motivationssystem 40 Mutterübertragung 180
Stichwortverzeichnis
N Nachhilfe-Buddys 148 Narzissmus 157, 159, 229 Neid 69, 233 Neidproblematik 276 Netzwerk 160 Notlage 54 now-moment 18
O Objektfindung 80 Ödipus-Komplex 226 Ohnmacht 40, 97, 160, 196, 220 f., 234, 277, 280, 282 machtvolle 293 Ohnmachtserfahrung 296, 299 Ohnmachtsgefühl 231, 234, 302 Omnipotenzgefühl 159 Omnipotenzphantasie 197 Organisationsentwicklung 113 Organminderwertigkeit 225 f. Orgasmusfähigkeit 50
P Peer-Coaching 146 Peer-Counseling 146 Peer-Group-Education 138, 140, 142, 144 Peer-Learning 146 Peer-Mediatoren 145 Peer-Tutoring 146 Peergruppe 140 Peerkultur 138, 142 Persönlichkeit autoritäre 68, 70 autoritative 70 narzisstische 157 Persönlichkeitsidee 159 Phantasien 52 Pimärobjekt Angst vor Verlust 194 Position, soziale 158 Positionspsychologie 158 Potenz orgastische 79
Stichwortverzeichnis
317
Rechtsradikalismus 38 Reformpädagogik 33 Resilienz 140, 143 Ressourcenorientierung 281 Rivalität 232 Rollenentwicklung 191 Rollenfindung 192 Rollenmodell 286 Rollenverteilung 111
Selbstzerfleischung 68 Sexualität 52 Sexualmoral 165 sexuelle Gewalt 38 Sicherheit 163 Sicherheitsbedürfnis 71 Sicherheitsgefühl 71 Sinn 13 Sinnlosigkeit 16 Sinnwert 20 Sollensethik 11 soziale Modelle 141 Spiegelneurone 272, 274 störungsspezifischer Ansatz 42 Streitschlichter 148 Subjektivität 47 Subjektsein 44 Substruktur 42 Sucht nach Gewalt 58 Symptomträger 193
S
T
Sachlichkeit 34 Sadismus 160, 166 Scheidungskrieg 92 schöpferische Kraft 48 schöpferisches Schaffen Wesen des 30 seelische Struktur 42 Selbst grandioses 164 Selbstbemächtigung 297 Selbstentwicklung 193 Selbsterleben 273 narzisstisches 157 Selbstfürsorge 277, 279, 282 Selbstgefühl 274 Selbstgesetzgebung 21 Selbstmächtigkeit 20 ff., 24 Selbstobjekt 56 Selbststabilisierung 43 Selbststruktur 42, 53 Selbstvergessenheit 18 Selbstwertgefühl Sicherung des 142
Teleologie 15 therapeutische Kompetenz 42 therapeutischen Arbeitsbündnis 61 Todestrieb 222 Traumatherapie 272 Trennungsfähigkeit 54 Triangulation 239, 241 Triangulierung 59 Triebdurchbruch 166 Triebpsychologie 165 Triumph 37, 61
Präventionsmaßnahmen 52 Psychodynamik 129 Psychohygiene 272, 276, 278–281 Psychopathenberatung 33
Q Qualität von analytischen Therapieverfahren 42
R
U Überkompensation 115 Überlegenheit 40 Streben nach 142 Übertragung 25, 61, 114, 123, 173 f., 226 f., 229 f., 237 Macht der 227 sadomasochistische 187 Übertragungsbeziehung 227, 277 f. Übertragungsgeschehen 113
318 Übertragungsliebe 287 Übertragungsmacht 296 Überwindung 54 Unsicherheit 163 Untersagungskonzept 41 Unterwerfung 237 Unterwerfungsbereitschaft 180 Unterwerfungsgeste 194
V Vaterfigur 113 Verführung 50 Vergewaltigung 166 Verhaltensmuster 113 Verleugnung 168 Verschmelzungserleben 48 Verschwiegenheit 167 Verständnis intersubjektiv 31 intrapsychisch 31 Verweigerung 185 Vollkommenheit 14
Sachverzeichnis
W Wahrheit absolute 9 Wahrnehmungsmuster 43, 112 Weltsicht 273 Wert 13 Werterfahrung 13, 21 Wertewandel 139 Wertgefühl 15 Wertintensität 15 Wille zum Leben 81 Wille zur Macht 16, 19, 48, 65, 76, 81, 124, 155, 159, 226, 232, 288 Wirkmächtigkeit 81 f. Wollust des Daseins 78 Würde 17
Z Zärtlichkeitsbedürfnis 73 ff. Zugehörigkeit 140 Zwang 291 Zwangsvorstellung 155
Beiträge zur Individualpsychologie Band 29: Ulrike Lehmkuhl (Hg.) Wie arbeiten Individualpsychologen heute? 2003. 324 Seiten mit 4 Abb. und 9 Tab., kartoniert ISBN 978-3-525-45010-9 Band 29 dokumentiert den aktuellen Stand der Adler’schen Therapie in verschiedenen Anwendungsfeldern.
Band 30: Ulrike Lehmkuhl (Hg.) Die Bedeutung der Zeit Zeiterleben und Zeiterfahrung aus der Sicht der Individualpsychologie 2005. 262 Seiten mit 22 Abb. und 10 Tab., kartoniert ISBN 978-3-525-45011-6 Die wesentlichen Beiträge des letztjährigen Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Individualpsychologie.
Band 31: Ulrike Lehmkuhl (Hg.) Die Gesellschaft und die Krankheit Perspektiven und Ansichten der Individualpsychologie 2005. 336 Seiten mit 16 Abb. und 10 Tab., kartoniert ISBN 978-3-525-45012-3 Die wesentlichen Beiträge des Kongresses 2004 der Deutschen Gesellschaft für Individualpsychologie (DGIP).
Band 32: Ulrike Lehmkuhl (Hg.) Instanzen im Schatten Väter, Geschwister, bedeutsame Andere 2006. 175 Seiten mit 21 Abb., kartoniert ISBN 978-3-525-45013-0 Neben der Mutter haben auch andere »Instanzen« maßgeblichen Einfluss auf die Entwicklung eines Kindes – dieser Band befreit sie aus dem Schatten.
Band 33: Ulrike Lehmkuhl / Heiner Sasse / Pit Wahl (Hg.) Wozu leben wir? Sinnfragen und Werte heute 2007. 226 Seiten mit 6 Abb., kartoniert ISBN 978-3-525-45014-7 »Der Anspruch, einen Einstieg in eine weitere vertiefte Diskussion und Reflexion des Wertethemas zu bieten, wird eingelöst.« Sabine Al-Diban, report psychologie
Band 34: Pit Wahl / Heiner Sasse / Ulrike Lehmkuhl (Hg.) Der phantastische Raum Phantasie, Realität, Kreativität 2008. 272 Seiten mit 23 Abb., kartoniert ISBN 978-3-525-45015-4 Was haben so phantastische Sachen wie »Seife im Sauerkraut«, »tanzende Rosen«, »virtuelle Teddybären« und »Schweine im Weltall« mit Alfred Adler zu tun? Das verrät dieser Band.
Alfred Adler Studienausgabe herausgegeben von Karl Heinz Witte
Frühe Schriften (1904–1912)
Für Alfred Adler steht die Weiterentwicklung menschlicher Gemeinschaften im Zentrum. Die pädagogischen Grundlagen hierfür sind Ermutigung und Kooperation.
Herausgegeben von Almuth Bruder-Bezzel. 2007. 291 Seiten, gebunden ISBN 978-3-525-46051-1
Band 5: Alfred Adler Menschenkenntnis (1927)
Band 1: Alfred Adler Persönlichkeit und neurotische Entwicklung
Der erste Band der Studienausgabe Alfred Adler umspannt die Jahre der gemeinsamen Zeit mit Freud bis zur Gründung der eigenen psychotherapeutischen Schule.
Band 2: Alfred Adler Über den nervösen Charakter (1912) Grundzüge einer vergleichenden Individualpsychologie und Psychotherapie Unter Mitarbeit von Michael Hubenstorf herausgegeben von Karl Heinz Witte, Almuth Bruder-Bezzel, Rolf Kühn. 2., korrigierte Auflage 2008. 438 Seiten, gebunden. ISBN 978-3-525-46053-5 Das theoretische Fundament der Individualpsychologie in Abgrenzung zur Psychoanalyse Sigmund Freuds.
Band 4: Alfred Adler Schriften zur Erziehung und Erziehungsberatung (1913–1937) Herausgegeben von Wilfried Datler, Johannes Gstach, Michael Wininger. 2009. 432 Seiten mit 1 Abb., gebunden ISBN 978-3-525-40106-4
Herausgegeben von Jürg Rüedi. 2007. 235 Seiten, gebunden ISBN 978-3-525-46052-8 Das Buch »Menschenkenntnis« kann als Ergebnis und Fundierung von Alfred Adlers sozialpädagogischem Engagement betrachtet werden.
Band 6: Alfred Adler Der Sinn des Lebens (1933). Religion und Individualpsychologie (1933) Herausgegeben von Reinhard Brunner, Ronald Wiegand. 2008. 252 Seiten, gebunden ISBN 978-3-525-40554-3 Alfred Adler bezieht Stellung zur Frage nach dem Sinn des Lebens, die er in der menschlichen Gemeinschaft beantwortet sieht, sowie zur Rolle von Religion und Ethik, die die Individualpsychologie füllen kann.
Band 7: Alfred Adler Gesellschaft und Kultur (1897–1937) Herausgegeben von Almuth Bruder-Bezzel. 2009. Ca. 238 Seiten, gebunden ISBN 978-3-525-46055-9