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German Pages 611 [628] Year 2017
Luther Handbuch
Luther Handbuch herausgegeben von
Albrecht Beutel Dritte, neu bearbeitete und erweiterte Auflage
Mohr Siebeck
Die Theologen-Handbücher im Verlag Mohr Siebeck werden herausgegeben von
Albrecht Beutel
1. Auflage 2005 2. Auflage 2010 3. Auflage 2017 e-ISBN PDF 978-3-16-154926-7 ISBN 978-3-16-153892-6 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National bibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2017 Mohr Siebeck Tübingen. www.mohr.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Gulde-Druck in Tübingen aus der Minion Pro und der Syntax gesetzt, auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und gebunden. Den Umschlag gestaltete Uli Gleis in Tübingen unter Verwendung des Abdrucks vom Original-Holzstock »Doctor Martin Luther, als Mönch, nach Lucas Cranach« (1520) aus dem Privatbesitz des Herausgebers.
Vorwort zur dritten Auflage Bereits kurz nach seiner Veröffentlichung im Sommer 2005 verwandelte sich das »Luther Handbuch« von der Neuerscheinung zur Institution. Als ein in Studium und Examensvorbereitung breit genutztes Hilfsmittel sowie als verlässlicher Wegweiser für das interdisziplinäre und übrigens auch außerwissenschaftliche Interesse an Luther scheint es der Absicht, die mit seiner Konzeption und Bereitstellung verfolgt worden ist, vollauf zu genügen. Inzwischen ist auch die zweite, 2010 erschienene Auflage dieses Handbuchs nahezu ausverkauft. Aus dem Abstand eines Jahrzehnts kam ein unveränderter Nachdruck der Erstausgabe nicht mehr in Betracht. Stattdessen erfährt das »Luther Handbuch« nun eine dreifache Veränderung. Diejenigen Artikel, die beibehalten wurden, sind von ihren Autoren einer durchgehenden Überarbeitung und Aktualisierung unterzogen worden. Die Artikel der mittlerweile verstorbenen Autoren Siegfried Raeder (»Luther und die Türken«) und Karl-Heinz zur Mühlen (»Wirkung und Rezeption«) wurden von Malte van Spankeren, Christopher Spehr und dem Herausgeber vollständig neu konzipiert. Erstmals hinzu getreten sind, um die internationale, interkonfessionelle und interdisziplinäre Vielfalt der gegenwärtigen Lutherforschung noch deutlicher zu profilieren, die Artikel »Luthers Handschrift« (Ulrich Bubenheimer), »Lutherforschung in Skandinavien« (Risto Saarinen), »Lutherforschung in Nordamerika« (Robert Kolb), »Luther und seine katholischen Sympathisanten« (Franz Posset) und »Luther in der Literatur« (Matthias Luserke-Jaqui). Die im Vorwort zur ersten Auflage notierten Hinweise behalten ihre Gültigkeit. Für die redaktionelle Betreuung des Bandes haben die studentischen Mitarbeiterinnen Sophie Christiane Bienhaus und Verena Susanne Mildner ganz ausgezeichnete, unentbehrliche Hilfe geleistet. Der Weg zum Buch ist von Herrn Dr. Henning Ziebritzki und Frau Jana Trispel in bewährter, vorzüglicher Weise geebnet worden. Mit den Genannten und namentlich mit allen Autoren, die mir eine ebenso gedeihliche wie vergnügliche Zusammenarbeit gewährten, verbindet mich herzliche Dankbarkeit. Mögen sie das Interesse, das dieser Band finden, und den nachhaltigen Nutzen, den er stiften wird, als ihrer Mühe wahren Lohn empfinden. Münster, im September 2016
Albrecht Beutel
Vorwort zur ersten Auflage Der fortschreitende wissenschaftliche Differenzierungsprozess hat auch in der Theologie einen handfesten Bedarf an Übersicht und Orientierung erzeugt. Die Kirchen- und Theologiegeschichte, die unter den theologischen Disziplinen den breitesten Gegenstandsbereich zu verwalten hat, ist davon naturgemäß in besonderer Weise betroffen. Eine sachdienliche Bewältigung des Zugewinns, den die kirchenhistorische Forschungsarbeit der letzten Jahrzehnte erbrachte, dürfte durch den Versuch einer kompendienhaften Zwischenbilanz spürbar erleichtert werden. Damit ist die Zielrichtung, der sich die mit diesem Band begründete, neu konzipierte Handbuch-Reihe verpflichtet weiß, andeutend umrissen. Ihre zunächst auf zentrale Personen, später auch auf Perioden der Kirchengeschichte bezogenen Bände werden den einschlägigen Forschungsstand in allgemeinverständlicher, aktueller, zu selbstständiger Vertiefung anleitender Übersicht darstellen. Sie können damit den Fachleuten und Liebhabern der Theologie, aber auch der angrenzenden Disziplinen – wie etwa der Geschichtswissenschaft, Germanistik oder Philosophie – zu nützlichen Hilfsmitteln werden. Nicht ohne Grund wird die Reihe mit einem Handbuch zu Martin Luther eröffnet. In der Theologie der Neuzeit stellt Luther, übrigens nicht allein auf protestantischer Seite, eine entscheidende, das jeweilige Selbstverständnis affirmativ oder kritisch konstituierende Bezugsgröße dar. Zugleich ist die ihm gewidmete Forschung seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs in einem Ausmaß expandiert, das die Notwendigkeit einer verlässlichen, bündigen, professionell betriebenen Orientierung unbestreitbar sein lässt. Zu Anlage und Gebrauch dieses Handbuchs halten die Hinweise zur Benutzung die erforderlichen Informationen bereit. Die Erfahrungen des akademischen Unterrichts haben mich zu diesem Band angeregt. In Vorlesungen und Seminaren zur Reformationszeit, aber auch zu anderen Feldern der Kirchengeschichte ist der Bedarf eines raschen und seriösen Zugriffs auf den aktuellen Stand der Lutherforschung allgegenwärtig. Das vorliegende Handbuch verfolgt die Absicht, […] die wichtigsten Dimensionen von Leben, Werk und Wirkung Martin Luthers kompetent zu erschließen. Fragestellungen, die nicht in einem eigenen Artikel behandelt werden, sollten sich durch den kreativen Gebrauch der Register annähernd beantworten lassen. Gleichwohl sind auch die gattungsspezifischen Grenzen eines Handbuchs in Rechnung zu stellen. Der Band will nicht mehr sein, als er ist: keine Luther-Enzyklopädie, erst recht nicht eine geschlossene Rekonstruktion seiner Theologie, sondern schlichtes Hilfsmittel zur Aufnahme und Vertiefung eines eigenen wissenschaftlichen Umgangs mit Luther. […] Münster, im Januar 2005
Albrecht Beutel
Inhaltsverzeichnis Vorwort zur dritten Auflage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V Vorwort zur ersten Auflage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII Hinweise zur Benutzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XIII Siglen und Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XV A. Orientierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1
I. Lutherausgaben (Michael Beyer) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2
II. Hilfsmittel (Michael Beyer) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9
III. Luthers Handschrift (Ulrich Bubenheimer) . . . . . . . . . . . . . . . 21 IV. Lutherforschung am Beginn des 21. Jahrhunderts (Volker Leppin) . 28
V. Lutherforschung in Skandinavien (Risto Saarinen) . . . . . . . . . . 42
VI. Lutherforschung in Nordamerika (Robert Kolb) . . . . . . . . . . . . 48 B. Person . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55
I. Traditionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 1. Religiosität (Christoph Burger) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 2. Kirchenreformbewegung (Reinhard Schwarz) . . . . . . . . . . . 60 3. Kirchenväter (Volker Leppin) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 4. Mönchtum (Ulrich Köpf) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 5. Mystik (Volker Leppin) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 6. Universitätswissenschaft (Volker Leppin) . . . . . . . . . . . . . 84 7. Humanismus (Volker Leppin) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 8. Weltliche Ordnung (Armin Kohnle) . . . . . . . . . . . . . . . . 93
II. Aneignungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 1. Lebenslauf (Helmut Zschoch) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 2. Die religiöse Leitidee (Dietrich Korsch) . . . . . . . . . . . . . . 115 3. Geschichtsbild und Selbstverständnis (Johannes Schilling) . . . 122
III. Beziehungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 1. Luther und das Papsttum (Bernd Moeller) . . . . . . . . . . . . . 131 2. Luther und seine katholischen Sympathisanten (Franz Posset) . 140 3. Luther und seine altgläubigen Gegner (Helmut Zschoch) . . . . . 144 4. Luther und seine protestantischen Gegner (Christian Peters) . . 150 5. Luther und die Bauern (Armin Kohnle) . . . . . . . . . . . . . . 165 6. Luther und Müntzer (Christian Peters) . . . . . . . . . . . . . . 169 7. Luther und Erasmus (Thomas Kaufmann) . . . . . . . . . . . . 173 8. Luther und Zwingli (Thomas Kaufmann) . . . . . . . . . . . . . 184
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Inhaltsverzeichnis
9. Luther und Melanchthon (Christian Peters) . . . . . . . . . . . . 193 10. Luther und Wittenberg (Irene Dingel) . . . . . . . . . . . . . . . 200 11. Luther und Sachsen (Andreas Gößner) . . . . . . . . . . . . . . . 211 12. Luther und die reformatorische Bewegung in Deutschland (Thomas Kaufmann) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 13. Luther und das Reich (Armin Kohnle) . . . . . . . . . . . . . . . 230 14. Luther und Europa (Irene Dingel) . . . . . . . . . . . . . . . . . 240 15. Luther und die Juden (Hans-Martin Kirn) . . . . . . . . . . . . . 252 16. Luther und die Türken (Malte van Spankeren) . . . . . . . . . . 262 IV. Prägungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270 1. Bildung (Markus Wriedt) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270 2. Musik (Johannes Schilling) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276 3. Bildende Kunst (Freya Strecker) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 284 4. Sprache (Albrecht Beutel) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289 C. Werk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297
I. Gattungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 298 1. Bibelübersetzung (Heinz Blanke) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 298 2. Programmschriften (Jens Wolff) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 306 3. Streitschriften (Helmut Zschoch) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 318 4. Erbauungsschriften (Johannes Schilling) . . . . . . . . . . . . . . 336 5. Katechismen (Johannes Schilling) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 348 6. Dichtungen (Jens Wolff) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 355 7. Predigten (Helmut Zschoch) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 358 8. Vorlesungen (Jens Wolff) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 365 9. Disputationen (Reinhard Schwarz) . . . . . . . . . . . . . . . . . 372 10. Briefe (Johannes Schilling) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 384 11. Tischreden (Michael Beyer) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 391
II. Themen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 398 1. Theologische Prinzipienfragen (Dietrich Korsch) . . . . . . . . . 398 2. Wort Gottes (Albrecht Beutel) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 408 3. Glaube und Rechtfertigung (Dietrich Korsch) . . . . . . . . . . . 418 4. Christus (Notger Slenczka) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 428 5. Mensch (Eilert Herms) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 439 6. Kirche (Dorothea Wendebourg) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 451 7. Taufe und Abendmahl (Dorothea Wendebourg) . . . . . . . . . . 462 8. Leben in der Welt (Eilert Herms) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 471 9. Christliche Hoffnung (Notger Slenczka) . . . . . . . . . . . . . . 484
III. Strukturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 493 1. Theologie als Schriftauslegung (Albrecht Beutel) . . . . . . . . . 493 2. Theologie als Unterscheidungslehre (Albrecht Beutel) . . . . . . 499
Inhaltsverzeichnis
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3. Theologie als Erfahrungswissenschaft (Albrecht Beutel) . . . . . 503 D. Wirkung und Rezeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 509 I. Im Zeitalter der lutherischen Bekenntnisbildung und Orthodoxie (Christopher Spehr) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 510
II. Im Zeitalter der Aufklärung (Albrecht Beutel) . . . . . . . . . . . . . 520
III. Im 19. Jahrhundert (Christopher Spehr) . . . . . . . . . . . . . . . . . 534 IV. Luther in der Literatur (Matthias Luserke-Jaqui) . . . . . . . . . . . 544 Verzeichnis der Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 551 Quellen- und Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 553 Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 587 Werke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 587 Personen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 592 Sachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 603
Hinweise zur Benutzung Das Luther Handbuch verfolgt das Ziel, die intensiv und extensiv betriebene Lutherforschung der letzten Jahrzehnte in aktueller, verlässlicher, kompendienhafter Übersicht zu erschließen. Damit soll die für den akademisch-theologischen Unterricht unerlässliche Möglichkeit rascher, kompetenter Aufklärung eröffnet, zur Aufnahme und selbständigen Vertiefung eines eigenen Lutherstudiums angeleitet und indirekt auch die wissenschaftliche Weiterarbeit an Leben, Werk und Zeit Martin Luthers stimuliert werden. Das Handbuch gliedert sich in vier Teile. Als einleitende Orientierung (A) bietet es Übersichten zu den wichtigsten Luther-Ausgaben, zu den probatesten Hilfsmitteln des Lutherstudiums, zu Luthers Handschrift und zum aktuellen Stand der Lutherforschung. Der zweite Teil (B) bahnt Zugänge zur Person des Reformators. Dabei rücken zunächst die Traditionen (B. I.), die ihn maßgeblich geprägt haben, in den Blick, sodann seine biographischen, religiösen und reflexiven Aneignungen (B. II.), ferner die wichtigsten personellen und sachlichen Beziehungen (B. III.), die sein Leben und Wirken bestimmten, und schließlich vier für Luther konstitutive Prägungen (B. IV.). Der dritte Hauptteil (C) erschließt das Werk Martin Luthers, indem er nacheinander, bei gebührender Hervorhebung der jeweiligen Hauptschriften, die dabei zu unterscheidenden Gattungen (C. I.) und Themen (C. II.) sowie die dem Denken Luthers eigentümlichen Strukturen (C. III.) spezifiziert. Der letzte Teil (D) skizziert Luthers Wirkung und Rezeption von den Anfängen bis ins 20. Jahrhundert. Bei der damit umrissenen pluriformen Zugangsweise sind thematische Überschneidungen nicht nur in Kauf genommen, sondern als Ausdruck der Kom plexität, in der sich die geschichtliche Bedeutung Luthers darstellt, bewusst kalkuliert. Andererseits gibt es auch Fragestellungen (z. B. »Luther und die Philosophie«) und Konstellationen (z. B. »Luther und seine Familie«), die zwar selbstverständlich behandelt, aber nicht gesondert dargestellt werden. Die dem Benutzer damit abgeforderte Findigkeit dürfte zumutbar sein und wird durch die beigegebenen Register zielführend unterstützt. Die redaktionelle Betreuung des Bandes hat sich um formale, nicht aber um stilistische oder positionelle Harmonisierung bemüht. Insofern dürfte das Handbuch zugleich auch ein Abbild der die gegenwärtige Lutherforschung auszeichnenden methodischen und materialen Differenziertheit geworden sein. Die Texte Martin Luthers wurden nicht modernisiert, längere lateinische Zitate von den Verfassern größtenteils zusätzlich übersetzt. Als Textgrundlage dient in aller Regel die Weimarer Ausgabe (WA); bei Nachweisen aus den Abteilungen Briefe (WAB) und Tischreden (WAT) werden nicht die fortlaufenden Brief- bzw. Tischredennummern, sondern die genauen Seiten- und Zeilenzahlen genannt. Seitenangaben zu ganzen Schriften Luthers beziehen sich auf den Originaltext unter Ausschluss der vorausgehenden, meist vorzüglichen Einleitungen der Her ausgeber.
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Hinweise zur Benutzung
Um störende Doppelungen und Lesehemmnisse zu vermeiden, sind die Lebensdaten der in diesem Handbuch erwähnten historischen Personen zumeist nur im Personenregister angegeben. Die in Klammern beigefügten Kurztitel von Literaturverweisen lassen sich durch das Quellen- und Literaturverzeichnis, das keineswegs eine repräsentative Luther-Bibliographie bieten will, sondern lediglich die in den Beiträgen dieses Bandes benutzte Forschungsliteratur auflistet, mühelos entschlüsseln. Am Ende eines Artikels finden sich jeweils wenige zentrale, weiterführende Lektüreempfehlungen. Einschlägige Artikel aus den gängigen theologischen Nachschlagewerken wie TRE, RGG4 oder LThK 3 wurden in der Regel nicht aufgeführt, seien aber zu kritischer Begleitlektüre empfohlen.
Siglen und Abkürzungen Die Siglen und Abkürzungen folgen Siegfried M. Schwertner: Internationales Abkürzungsverzeichnis für Theologie und Grenzgebiete, 21993. Insbesondere gelten die folgenden – teilweise über Schwertner hinausgehenden – Kürzel: a articulus Abt. Abteilung AGWB Arbeiten zur Geschichte und Wirkung der Bibel AHL Kurt Aland, Hilfsbuch zum Lutherstudium AKThG Arbeiten zur Kirchen- und Theologiegeschichte AWA Archiv zur Weimarer Ausgabe B Beiheft BHZ Bibliographisches Handbuch zur Zinzendorf-Forschung, hg. v. Dietrich Meyer, 1987 Bl. Blatt BoA Martin Luther, Werke in Auswahl, hg. v. Otto Clemen (Bonner Ausgabe) BSLK Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche c capitulum CA Confessio Augustana COD³ Conciliorum oecumenicorum decreta/Dekrete der ökumenischen Konzilien, 3 Bde., ³2000 Corpus Reformatorum CR DH Enchiridion symbolorum, hg. v. Heinrich Denzinger/Peter Hünermann dist distinctio DRTA.JR Deutsche Reichstags-Akten, Jüngere Reihe DS Enchiridion symbolorum, hg. v. Heinrich Denzinger/Adolf Schönmetzer EG Evangelisches Gesangbuch FC Formula concordiae FC SD Formula concordiae. Solida Declaratio FSÖTh Forschungen zur systematischen und ökumenischen Theologie GV 1700–1910 Gesamtverzeichnis des deutschsprachigen Schrifttums 1700–1910, bearbeitet unter Leitung von Hilmar Schmuck, 161 Bde., 1979–1987 GV 1911–1965 Gesamtverzeichnis des deutschsprachigen Schrifttums 1911–1965, hg. v. Reinhard Oberschelp u. a., 150 Bde., 1976–1981 HWRh Historisches Wörterbuch der Rhetorik 1 ff, 1992 ff Inst. Johannes Calvin: Christianae Religionis Institutio KK Julius Köstlin, Martin Luther. Sein Leben und seine Schriften, fortgesetzt von Gustav Kawerau, 2 Bde., ⁵1903 KlProt Klassiker des Protestantismus, 8 Bde., 1962–1967 KlT Kleine Texte für Vorlesungen und Übungen KSLuth Kommentare zu Schriften Luthers KThQ Kirchen- und Theologiegeschichte in Quellen LD Luther deutsch, hg. v. Kurt Aland LG Luther-Gesellschaft loc. cit. loco citato LStRLO Leucorea-Studien zur Geschichte der Reformation und der Lutherischen Orthodoxie LuB Luther-Bibliographie im LuJ
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Siglen und Abkürzungen
LuD Luther digest LuJ Lutherjahrbuch LuSt Luther-Studien Luther Luther. Zeitschrift der Luther-Gesellschaft MBW Melanchthons Briefwechsel, hg. v. Heinz Scheible MSA Melanchthons Werke in Auswahl (Studienausgabe), hg. v. Robert Stupperich Martin Luther, Münchener Ausgabe Mü Martin Luther, Münchener Ausgabe, Ergänzungsbände MüErg not notatio p pars PhB Philosophische Bibliothek q quaestio resp responsio RGG (Die) Religion in Geschichte und Gegenwart StA Studienausgabe Summa theologiae STh SMHR Spätmittelalter, Humanismus, Reformation/Studies in the Late Middle Ages, Humanism and the Reformation s. v. sub voce VD 16 Verzeichnis der im deutschen Sprachraum erschienenen Drucke des XVI. Jahrhunderts 1 ff, 1983 ff VD 17 Verzeichnis der im deutschen Sprachraum erschienenen Drucke des XVII. Jahrhunderts 1 ff, 1996 ff W¹ Martin Luther, Sämtliche Schriften, hg. v. Johann Georg Walch, ¹1740–1753 W² Martin Luther, Sämtliche Schriften, hg. v. Johann Georg Walch, ²1880–1910 Martin Luther, Werke. Kritische Gesamtausgabe (Weimarer Ausgabe) WA WAB – Abt. Briefwechsel WADB – Abt. Deutsche Bibel WAT – Abt. Tischreden Z Huldreich Zwingli, Sämtliche Werke (CR 88 ff), 1905 ff zit. zitiert
A. Orientierung
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A. Orientierung
I. Lutherausgaben Die unmittelbare und sich fortsetzende Wirkung von Luthers reformatorischem Werk ist untrennbar und wechselseitig verbunden mit dem um die Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert aufstrebenden Buchdruck und der mit ihm expandierenden Möglichkeit der Überlieferung von mündlicher bzw. schriftlicher Kommunikation in Kirche, Universität und privatem wie öffentlichem Bereich. Noch mehr betrifft das die von vornherein auf Publizität ausgerichtete, umfangreiche literarische und schriftstellerische Tätigkeit Luthers, die unter den andauernden Herausforderungen des Verteidigens und Ausbreitens der neuen Lehre bzw. im Dienst eines sich erst herausbildenden evangelischen Kirchenwesens stand. Eine Folge der dann über Jahrhunderte anhaltenden Beschäftigung mit den opera Lutheri besteht darin, dass Form und Umfang sowie die thematische Auswahl und Anordnung bzw. die Anzahl der Stücke aus Luthers Werk, die bereits zu seinen Lebzeiten – mit oder ohne sein Zutun –, vor allem aber nach seinem Tod in Nach- und Neuausgaben erschienen, Indikatoren bereithalten, über die sich im jeweiligen Zeitbezug ein bestimmter Stand der realen bzw. erwünschten Lutherrezeption in Kirche, Theologie und Gesellschaft erschließen lässt. Luthers oft wenig umfangreiche, dafür aber zahlreich und mit hoher Frequenz erscheinenden Schriften überschwemmten zu seinen Lebzeiten in mehreren tausend Einzeldrucken und ersten Sammelausgaben (Benzing 1989/1994) mit einer grob geschätzten Gesamtauflage von etwa vier Millionen gedruckter Exemplare den Buchmarkt. Danach erschienen allein in Deutschland noch im Reformationsjahrhundert zwei große Sammelausgaben sowie seither in jedem Jahrhundert mindestens eine große Werkausgabe, außerdem eine derzeit noch nicht vollständig zu überschauende Anzahl kleinerer und kleinster Sammlungen sowie Einzelschriften. Die großen Verzeichnisse der im deutschen Sprachgebiet erschienenen Drucke für das 16., das 17. und das 18. bis 20. Jahrhundert (VD 16; VD 17; GV 1700–1910; GV 1911–1965) sind bereits abgeschlossen oder im Entstehen begriffen, erfahren jedoch immer wieder Ergänzungen in dem Maße, wie die Bestände weiterer großer und kleinerer Bibliotheken erschlossen werden. Eine wirklich umfassende Bibliographie der Einzel‑, Sammel- und Gesamtausgaben der opera Lutheri unter Einschluss auch der fremdsprachigen Überlieferung bis in unsere Tage würde für sich einen überaus aussagekräftigen Teil einer Quellenkunde der Lutherrezeption darstellen. Unter »Lutherausgaben« versteht man traditionell jedoch nicht die ganze Breite der einzelnen Druckausgaben von Lutherschriften, sondern einen gewissen Kanon der großen sowie der aktuell gebräuchlichen kleineren Lutherausgaben.
I. Lutherausgaben
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1. Lutherausgaben des 16. bis 18. Jahrhunderts Erste kleinere Sammelausgaben erschienen bereits seit 1518 in Basel und Straßburg. Nach mehreren fehlgeschlagenen Versuchen begann 1539 bzw. 1545 die erste Gesamtausgabe von Luthers Werken, die Wittenberger Ausgabe, in zwei Reihen: einer deutschen und einer lateinischen (Widt bzw. Wilat), mit kräftiger Unterstützung des Kurfürsten Johann Friedrich sowie der widerstrebenden Billigung Luthers zu erscheinen. Diese für alle späteren Ausgaben mit zwölf deutschen und sieben lateinischen Bänden grundlegende Sammlung, die teils chronologisch, teils nach systematischen Gesichtspunkten geordnet war, hat eine ausführliche monographische Behandlung erfahren (Wolgast/Volz 1980). Die Vorworte zum jeweils ersten Band beider Reihen stammten von Luther selbst; spätere Bände wurden von Philipp Melanchthon eingeleitet. Mitarbeiter an dieser Ausgabe waren z. B. Georg Rörer, Caspar Cruciger, schließlich Georg Major. Noch vor ihrem Abschluss 1559 (Nachdrucke erschienen bis zum Anfang des 17. Jahrhunderts) wurde im Zusammenhang mit den frühen innerlutherischen Streitigkeiten seitens der Gnesiolutheraner zwischen 1555 und 1558 in Jena mit Unterstützung wiederum der ernestinischen Wettiner eine zweite große Gesamtausgabe auf den Weg gebracht (Jdt, 8 Bände; Jlat, 4 Bände; Nachdrucke ebenfalls bis Anfang des 17. Jahrhunderts). Die Jenaer Ausgabe erhob gegenüber den Wittenberger Editoren den Anspruch auf die Wiedergabe des unverfälschten Luther, z. B. durch bewussten, wenn auch nicht vollständigen Verzicht auf Übersetzungen ins Lateinische bzw. Deutsche sowie auf Texte und Dokumente zur Reformationsgeschichte. Ihr wichtigster Redaktor war allerdings ebenfalls Georg Rörer, der sich angesichts der gebotenen Eile in weiten Teilen auf das Material der Wittenberger Ausgabe stützen musste. Beide Lutherausgaben wurden Mitte der 1560er Jahre durch zwei Eislebener Ergänzungsbände (Eis) bereichert, die Johannes Aurifaber besorgte. Aurifaber, der mit dem Vorsatz antrat, in Zeiten innerlutherischer Irritationen das schriftliche Werk Luthers möglichst vollständig zu überliefern, edierte außerdem eine zweibändige Lutherbriefsammlung sowie die erste Ausgabe der Tischreden (k C. I. 11.). Das 17. und 18. Jahrhundert brachten es auf drei große Lutherausgaben, die jeweils alle, auch die ursprünglich lateinischen Schriften und beigegebenen Dokumente in deutscher Sprache bieten. Den Anfang machte 1661–1664 die Altenburger Ausgabe (A), die der sachsen-altenburgische Hofprediger Johann Christfried Sagittarius betreute. Diese zehnbändige Folioausgabe, die auf den Wittenberger und Jenaer Bänden beruht und Herkunftshinweise konsequent durch Marginalien beifügt, das Material – wie J – chronologisch ordnet, teilweise neue Übersetzungen bietet und mit einem ganzen Band bis heute wertvoller Register ausgestattet ist, sollte vor allem die Präsenz von Lutherschriften in jenen Kirchenbibliotheken erneut verstärken, denen der Dreißigjährige Krieg große Verluste zugefügt hatte. 1702 erschien mit dem sog. Hallesche[n] Band (HB) eine Ergänzung zur Altenburger Ausgabe, die Herausgeber und Verleger ausdrücklich als
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A. Orientierung
Supplement zu allen vorangegangenen Ausgaben und Ergänzungen einschließlich der bisher separat erschienenen Postillen-Sammlungen verstanden wissen wollten. Eine Generation später, zwischen 1729 und 1734, brachte der heute noch durch den Zedler, sein Großes Universallexikon aller Wissenschaften und Künste, bekannte Verleger Johann Heinrich Zedler die Leipziger Ausgabe (L) heraus. Die 22 Foliobände umfassende, erstmals wieder nach sachlichen Gesichtspunkten – beginnend mit den Exegetica zum Alten Testament – gestaltete und mit historisch-theologischen Einleitungen versehene Ausgabe wurde unter Leitung des Leipziger Professors Christian Friedrich Börner von dem Pfarrer Johann Jakob Greiff bearbeitet, der ihr 1740 auch den Leipziger Supplementband (LB) mit Nachträgen und Registern hinzufügte. Die Leipziger Ausgabe bot ebenfalls neues Material; Texte bzw. Übersetzungen waren mit Originaldrucken verglichen, erneuert oder auch überhaupt erst angefertigt worden. Der Registerband stellte durch ein Repertorium die Verbindung zu den älteren Ausgaben her. Seit dem Jahr 1740 begann jedoch auch im benachbarten Halle bei Johann Justinus Gebauer die Hallische Ausgabe zu erscheinen, die freilich unter dem Namen ihres Herausgebers, des Jenenser Theologen Johann Georg Walch, als Walchsche Ausgabe (W1) bekannt wurde. Walch brachte die Luthertexte in ein System von Paragraphen und versah sie mit umfangreichen, ihren Inhalt teils auch kritisch beschreibenden und die Provenienzen der Texte klärenden Vorworten. An den eigentlichen Redaktions- und Übersetzungsarbeiten waren mehrere Theologen beteiligt. Gegenüber der Leipziger Ausgabe – deren Editionsmethoden sie folgte, verfeinerte und konsequenter anwendete – erlangte sie größere Bedeutung. Bereichert wurde die insgesamt 24 dicke Quartbände umfassende Ausgabe durch eine Brief- und – erstmals innerhalb einer umfassenden Lutheredition – eine Tischreden-Ausgabe, die der Aurifaber-Ausgabe von 1566 folgte. Die Kirchenbzw. Hauspostille, deren unterschiedliche Überlieferungen L noch einzeln wiedergegeben hatte, wurden in vereinheitlichender Bearbeitung aufgenommen. Neu war u. a. eine Übersetzung der lateinischen Glossenhandschrift Luthers aus der ersten Psalmenvorlesung (Wolfenbütteler Psalter), wobei das Verdienst dieser Ausgabe überhaupt darin besteht, den gesamten erreichbaren lateinischen Luther samt seinem Kontext mittels vieler Schriften seiner Gegner, gegebenenfalls neu übersetzt, ins Deutsche gebracht zu haben. Ein Registerband mit detaillierten Hinweisen auf das Parallelschrifttum in den Vorgängerausgaben fehlte nicht. Der abschließende Band 24 enthält eine große historische Einführung zu Luther. Den Plan eines verbesserten Nachdrucks verhinderte zu Anfang des 19. Jahrhunderts das Erscheinen der Erlanger Ausgabe, aber auch das Bemühen, verfügbare Kräfte zunächst auf andere Autoren der Reformation im Blick auf ein umfassendes Corpus reformatorum zu konzentrieren (Melanchthon, Calvin, Zwingli), doch wurde er an der Wende zum 20. Jahrhundert mit W2 (s. u.) erneut und erfolgreich aufgenommen.
I. Lutherausgaben
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2. Lutherausgaben des 19. und 20. Jahrhunderts Im Umkreis des Reformationsjubiläums von 1817 entstanden Pläne für eine neue, kritisch angelegte Ausgabe des corpus Lutheri. Realisiert wurden sie ab 1826 mit einer zunächst selbständigen Neuausgabe von Luthers Kirchen- und Hauspostille in handlichem Kleinoktav, aus der noch während des Druckes die systematisch gegliederte deutsche Reihe der Erlanger Ausgabe (E1) hervorging, die im Jahre 1857 mit dem Doppelband 66/67 beendet wurde. Eine zweite, verbesserte Auflage (E2), die zwischen 1862 und 1885 erschien, wurde auf halbem Wege mit Band 26 eingestellt: 1883 war der erste Band der Weimarer Ausgabe erschienen. Die lateinische Reihe, in zwei exegetische (E ex; E Gal) und eine chronologisch angeordnete Schriften‑/Fremdschriftenabteilung (E var) gegliedert, brachte es, zuletzt unabgeschlossen, zwischen 1829 und 1873 auf zusammen 38 Bände und erschloss einiges neue Material. Ihr Hauptherausgeber war seit 1532 Johann Konrad Irmischer. Als eine »kritische« kann diese Ausgabe insofern gelten, als sie sich konsequent an den Originalsprachen – freilich mit erheblichen Eingriffen in deren Orthographie und eine fehlinterpretierte, ursprünglich rhetorische Interpunktion –, alten Einzeldrucken und Handschriften orientierte, die einzelnen Schriften mit kurzen Hinweisen auf Provenienz und Bibliographie und die Abteilungen mit historischen Einleitungen versah. Von deutschen und lateinischen Briefeditionen innerhalb und im Umkreis der Erlanger Ausgabe profitierte die Briefausgabe von Ernst Ludwig Enders, die teilweise auch durch die spätere Edition in der Weimarer Ausgabe nicht überholt werden konnte. Die zweite Walchsche Ausgabe (W2), die in Nordamerika um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert als Neubearbeitung von W1 erschien – in Deutschland ebenfalls sehr beliebt und noch einmal in den 1980er Jahren nachgedruckt –, bietet bis auf einige Ausnahmen im Bereich der frühen Vorlesungen oder Predigten die Gesamtheit des lateinischen und frühneuhochdeutschen Lutherschrifttums in noch heute relativ leicht lesbaren und gern rezipierten deutschen Übersetzungen. Gegenüber dem Bestand von W1 kam es zu einigen größeren Veränderungen. Die Vorworte zu den einzelnen Schriften wurden modernisiert, die deutsche Sprachgestalt insgesamt erneuert. Nicht mehr in W2 aufgenommen wurden etwa die lateinische Wittenberger Vulgatarevision (W1 14) oder die bereits erwähnte deutsche Übersetzung der Glossentexte von Luthers erster Psalmenvorlesung. Auch die ausführlich eingeleitete und erneuerte Tischredenausgabe (W2 22), die Sammlung von Lutherbriefen in deutscher Übersetzung (W2 21 a/b) sowie die historischen Quellentexte zu Luther und der Reformation wurden dem Stand der Forschung angepasst; zusammen mit dem Registerband (W2 23) sind sie noch heute nützliche Hilfsmittel. Die bisher umfassendste und nicht nur im deutschen Sprachbereich seit langem als Standardausgabe geltende kritische Lutherausgabe ist die seit Erscheinen ihres ersten Bandes 1883 inzwischen über 130 Jahre alt gewordene und 127 Teilbände umfassende sog. Weimarer Ausgabe in ihren vier Abteilungen: Die einfach
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mit dem Sigel »WA« notierte und erst im neuesten Nachdruck (»Sonderedition«, 2000–2007) so bezeichnete Abt. Schriften umfasst 60 Bände in 75 Teilen. Die Abt. Briefwechsel (WAB) zählt 18, die Abt. Deutsche Bibel (WADB) zwölf Bände in 15 Teilen und die Abt. Tischreden (WAT) sechs Bände. Hinzu kommen einige Bände mit dem »Inhaltsverzeichnis« (WA 61), den Orts- bzw. Personen- und Zitatenregistern (WA 62 f) sowie ein riesiges Sachregister zur Abt. Schriften mit jeweils fünf Bänden für die lateinischen und deutschen Lexeme (k A. II.). Der letzte dieser Registerbände (WA 73) erschien im Jahre 2009. Ein Bibelstellenregister wurde im Rahmen dieser Ausgabe nicht realisiert. Umfang und zeitliche Erstreckung dieser monumentalen Ausgabe haben inzwischen selbst wieder eine neue, vielgestaltige Literaturgattung hervorgebracht: editionsbegleitende »Revisionsnachträge«, Überblicke, speziell einführende Hilfsliteratur und dankbare Rück- bzw. kritische Vorblicke, deren Kenntnisnahme für ein sinnvolles Arbeiten mit der »Weimarana« erforderlich ist. Die Lektüre von WA 61 (Inhaltsverzeichnis) bahnt erste Wege durch alle vier Abteilungen der WA, auch in das schwierige Terrain der in verschiedenen Vorworten durch die ganze Ausgabe hindurch niedergelegten Editionsprinzipien. Für die ständige Arbeit mit der WA erweist sich als unerlässliches Hilfsmittel Alands Hilfsbuch zum Lutherstudium (Aland 1996). Nachdem im Laufe der Jahre einzelne Bände der WA durch reprographische Nachdrucke neu aufgelegt wurden, erschien in einer »Sonderedition« der bereits erwähnte, verhältnismäßig preiswerte, vollständige Nachdruck aller Abteilungen der Ausgabe mit separaten »Begleitheften« zur ersten Orientierung (von diesem Nachdruck ausgenommen blieben die Registerbände WA 62–73). Die gesamte Ausgabe ist auch in einer digitalisierten Version auf zwei CD-ROMs erhältlich bzw. über das Internet abrufbar. Dem Benutzer erschließt sich damit die WA nach einiger Übung auf eine ganz neue Weise, weil er z. B. die Möglichkeit erhält, alle, über die gesamten Bände verstreuten Register relativ schnell zu erfassen oder Texte wie Vorworte und Fußnoten mittels Suchprogrammen zu durchforsten. Die hohen Kosten dieser Ausgabe beschränken zwar den Zugang auf Universitäts- und andere institutionelle Netze. Jedoch bietet das Internet (k A. II.) inzwischen eine Vielzahl von Zugängen zu Luthertexten. Dort sind z. B. große Teile der Weimarer Ausgabe im Lesemodus zugänglich. Die Abt. Schriften ordnete alle Luthertexte, unabhängig von ihrer deutschen oder lateinischen Sprachgestalt, grundsätzlich in chronologischer Reihenfolge, ein Vorsatz, der freilich durch den Forschungsfortschritt um die Wende zum 20. Jahrhundert immer wieder durchbrochen werden musste. Wenn es die Quellenlage erlaubt, bietet die WA in Paralleldruck handschriftliches und gedrucktes Material, so vor allem in der umfangreichen Predigt- und Postillenüberlieferung. Die kritischen Apparate zu den einzelnen Texten sind von unterschiedlichem Zuschnitt; spezielle bibliographische, philologische, vor allem germanistische Untersuchungen fanden Eingang in die oft umfangreichen Vorworte, während die Texte selbst grundsätzlich nach ersten Drucken bzw. Handschriften ediert wurden, zumeist allerdings nicht diplomatisch getreu, sondern entsprechend den
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jeweiligen editorischen Gepflogenheiten mit Eingriffen durch Konjekturen und orthographische Normalisierungen bzw. mit Eingriffen in Interpunktion und Groß- und Kleinschreibung, auf die in der Regel summarisch hingewiesen wird. Die Editionen bzw. Neueditionen des späten 20. Jahrhunderts in WA kommentieren die Texte in historischer Hinsicht dagegen weitaus umfangreicher (z. B. WA 55; 59 f). Seit 1981 erscheint das Archiv zur Weimarer Ausgabe der Werke Martin Luthers (AWA), in das neben Neueditionen von bereits in WA edierten Werken Luthers wie den Operationes in psalmos oder Luthers Liedern auch neu aufgefundene Quellen wie die Annotationes zu den Werken des Hieronymus und spezielle Monographien zu einzelnen Werken Luthers Eingang finden. Bisher unbekannte kleinere Stücke – das betrifft vor allem Luthers Briefwechsel oder ihn tangierende Verwaltungsvorgänge – sind in letzter Zeit oft auch im Lutherjahrbuch nach einheitlichen Regeln ediert worden. 3. Gebräuchliche Luther-Auswahlausgaben Vier Bände hervorragend edierter Originaltexte wichtiger Lutherschriften mit kurzen Einführungen und kritischem Apparat sowie vier weitere Auswahlbände zum Werk des jungen Luther, zu den Briefen, Predigten und Tischreden bietet die zwischen 1912 und 1933 zuerst erschienene sog. Clemensche Ausgabe (Cl), die auch unter dem Namen Bonner Ausgabe (BoA) bekannt ist, in den 1960er Jahren eine letzte Bearbeitung erfuhr und immer noch nachgedruckt wird. Ebenfalls eine Auswahl repräsentativer Originaltexte in lateinischer und frühneuhochdeutscher Sprache in diplomatisch getreuer Wiedergabe und chronologischer Anordnung ist abgedruckt in Band eins bis fünf der seit 1979 zunächst in Berlin, seit 1992 in Leipzig erscheinenden und dort 1999 abgeschlossenen Martin-Luther-Studienausgabe (StA). Die Texte sind (bis auf zwei Stücke aus Luthers Frühvorlesungen im ersten Band) vollständig abgedruckt und in sprachlicher wie historischer Hinsicht teilweise sehr ausführlich kommentiert. Die Vorworte zu den einzelnen Schriften informieren ausführlich über den jeweiligen Forschungsstand. Für die Wiedergabe einiger Disputationen Luthers konnten neuaufgefundene Handschriften verwendet werden. Die Ausgabe bietet im ersten Band eine Einführung in das Frühneuhochdeutsche und im sechsten, dem Register-Band ein frühneuhochdeutsches Glossar, ein Orts- und Personenregister sowie ein Bibelstellenregister. Neue Wege beschreiten die beiden, ebenfalls in Leipzig erscheinenden zweisprachigen Studienausgaben: Zwischen 2006 und 2009 wurde hier die dreibändige, lateinisch-neuhochdeutsche Studienausgabe (LDStA) mit einer gegenüber StA erweiterten Anzahl lateinischer Luthertexte und ihren deutschen Übersetzungen im Paralleldruck verlegt. Ihr frühneuhochdeutsch-neuhochdeutsches Pendant (DDStA) erscheint in gleicher Ausstattung seit 2012 und wird 2016 abgeschlossen sein. In beiden Ausgaben wurden die Originaltexte unter
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Beibehaltung der rhetorisch relevanten Zeichensetzung sowie Groß-und Kleinschreibung vorsichtig normalisiert. Im Vorfeld des Reformationsjubiläums 2017 wurde 2014/15 innerhalb des großangelegten und beim Insel Verlag Berlin angesiedelten Religionsprojektes »Verlag der Weltreligionen« die vierbändige Auswahlausgabe Martin Luther: Schriften (Aufbruch der Reformation; Reformation der Frömmigkeit und Bibelauslegung; Kirche und Schule; Christ und Welt) herausgegeben. Die frühneuhochdeutschen Luthertexte sind nach WA abgedruckt, die lateinischen Texte sind ins Deutsche übersetzt. Marginalien werfen Bibelstellen aus und verweisen auf die Seitenangaben der WA. Im Anschluss an die Textauswahl ist jedem Band ein umfangreicher Kommentarteil beigegeben, dessen Wert die Darbietung des gegenwärtigen Forschungsstandes ausmacht. Von den rein deutschsprachigen Auswahlausgaben frühneuhochdeutscher und lateinischer Luthertexte kann noch immer mit Gewinn benutzt werden die achtbändige Braunschweiger Ausgabe (Br) in ihrer 3. Auflage von 1905 samt ihren beiden Ergänzungsbänden. Nach wie vor ebenfalls brauchbar ist die 3. Auflage der teilweise sehr ausführlich kommentierten sechsbändigen Münchener Ausgabe und ihrer siebenbändigen Ergänzungsreihe (Mü3/Mü3Erg), die zwischen 1948 und 1965 erschienen und in einigen Bänden bis in die jüngere Gegenwart nachgedruckt werden. Weiterhin ist zu nennen die kurz nach 1945 begonnene, später auf zehn Bände erweiterte, mehrfach bearbeitete, oft nachgedruckte und mit einem Registerband ausgestattete Ausgabe Luther deutsch (hg. v. Kurt Aland), die seit 2002 auch als CD-ROM zugänglich ist. Neuerdings wieder nachgedruckt wurden ebenfalls die zehn Textbände der 1964 begonnenen und mehrfach aufgelegten Calwer Ausgabe, der ursprünglich Heinrich Fausels originelle Lutherbiographie auf der Grundlage von Selbstzeugnissen des Reformators beigegeben war. Viele der hier genannten Auswahlausgaben sind ebenso wie WA, einige der unten erwähnten fremdsprachigen sowie die großen historischen Ausgaben inhaltlich weitgehend erschließbar durch Alands Hilfsbuch. Dort nicht verzeichnet, aber mit teilweise außerordentlich guten Neuübersetzungen der lateinischen und frühneuhochdeutschen Originaltexte Luthers ausgestattet sind zwei im Umkreis des Lutherjubiläums 1983 in den damaligen beiden deutschen Staaten unabhängig voneinander entstandene Auswahlausgaben: Die sechsbändige Inselausgabe Martin-Luther: Ausgewählte Schriften (hg. v. Karin Bornkamm u. Gerhard Ebeling) erschien zuerst 1982 in Frankfurt am Main und erlebte mehrere Nachauflagen; die fünfbändige Martin-Luther-Taschenausgabe (LTA) erschien 1981 bis 1984 in Berlin. 4. Fremdsprachige Lutherausgaben Große fremdsprachige Lutherausgaben liegen vor: in englischer Sprache mit der über 50 Bände umfassenden amerikanischen Ausgabe Luther’s works, die seit
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1955 erscheint und seit 2002 auch als CD-ROM erhältlich ist; in französischer Sprache unter dem Titel Œuvres, die seit 1957 in Genf aufgelegt wird (zuletzt Bd. 19, 2015); in italienischer Sprache mit dem Titel Lutero opere scelte, die auf 20 Bände konzipiert und fast abgeschlossen ist; in portugiesischer Sprache unter dem Titel Obras selecionadas seit 1987 (Bd. 12, 2014). Von der auf zwölf Bände veranschlagten neuen ungarische Auswahlausgabe sind seit 2012 vier Bände erschienen. Eine polnische Auswahlausgabe ist in Vorbereitung. Ebeling, Gerhard: Hundert Jahre Weimarer Lutherausgabe (LuJ 52, 1985, 239–251). Junghans, Helmar: The History, Use and Significance of the Weimar Edition (LuthQ 17, 2003, 267–287). Köpf, Ulrich: Kurze Geschichte der Weimarer Luther-Ausgabe (in: D. Martin Luthers Werke. Sonderedition der kritischen Weimarer Ausgabe. Begleitheft zu den Tischreden, 2000, 1–24). Schilling, Johannes: Art. Lutherausgaben (TRE 21, 1991, 594–599). Wolgast, Eike/Volz, Hans: Geschichte der Luther-Ausgaben vom 16. bis zum 19. Jahrhundert, 1980 (WA 60; 427–637). Michael Beyer
II. Hilfsmittel Luthers Werk hat über beinahe ein halbes Jahrtausend seine Wirkungen hervorgebracht; jedes neue Jahrhundert, jede Epoche hat ihn – in Auseinandersetzung mit ihm – für die Nachgeborenen weiter gestaltet und ein eigenes Lutherbild geschaffen. Das schlägt sich auch in einer unübersehbaren Menge von Literatur nieder. Aus der Fülle dieser Literatur und der Hilfsmittel, die sich die Forschung nach und nach geschaffen hat, einzelne Werke auszuwählen oder hervorzuheben, wäre einfach, wenn es nur ein Werk für die Lösung eines spezifischen Problems gäbe. So darf das Fehlen des einen oder anderen, gewiss wichtigen Beitrages nicht als Abwertung missverstanden werden. 1. Allgemeine und Speziallexika, Enzyklopädien, Luther-CD-ROM In der Regel verlässliche Erstinformationen mit Quellen- und Literaturangaben zu Personen vom historischen Rang des Wittenberger Reformators finden sich in den umfangreicheren allgemeinen Lexika, insbesondere in solchen, die das lexikalische Wissen mit enzyklopädischen Beiträgen verbinden. Immer größere Bedeutung gewinnen neuerdings ähnlich aufgebaute und mit bibliographischen Hinweisen sowie Suchfunktionen ausgestattete Lexika auf CD-ROM bzw. DVD. Die in schneller Folge und mit immer größeren Datenmengen erscheinenden elektronischen Wissensspeicher enthalten z. B. Beiträge zur Bibelübersetzung, zur Musik und zu Luthers Stellung in der Reformationsgeschichte, dazu einschlägige Internetadressen zu internationalen Luther-Projekten sowie Link-Sammlun-
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gen und lassen sich über einen gewissen Zeitraum hinweg direkt über das Internet aktualisieren. Große Personalartikel sucht man in Speziallexika auf, unter denen [Die] Religion in Geschichte und Gegenwart traditionell die für die Lutherforschung einflussreichsten liefert (RGG3: H. Bornkamm 1960; Ebeling 1960. – RGG4: Schwarz 2002; zur Mühlen 2002). Das handliche Wörterbuch der Kirchengeschichte (Denzler/Andresen 1997) – selbst ohne Personalartikel, dafür aber mit einem großen Lutherteil im Personenregister ausgestattet – listet in seinem bibliographischen Teil weitere Speziallexika auf. Genannt seien hier ausdrücklich die Artikel des Biographisch-Bibliographische[n] Kirchenlexikon[s] (Schulze 1993), der Theologische[n] Realenzyklopädie (Brecht 1991; zur Mühlen 1991; Mostert 1991), der Oxford encyclopedia of the Reformation (Brecht 1996 b) und des Lexikon[s] der Reformationszeit (Pesch 2002), ein Werk, das die einschlägigen Artikel aus dem Lexikon für Theologie und Kirche zusammenfasst. Schließlich bietet ein relativ schnell aktualisiertes Bücherverzeichnis ausführliche bibliographische Hinweise zu Lexika und den historischen Nachschlagewerken insgesamt (Baumgart 2014). Einen materialreichen Zugang zu Leben, Werk und Umwelt des Reformators ermöglicht eine Luther-CD-ROM, die hohen wissenschaftlichen Anspruch auch in der Beschreibung von Luthers Zeitgenossen und die zeitgenössische Bilderwelt mit den spielerischen Elementen der multimedialen Moderne verbindet und in deutscher und englischer Version angeboten wird (vgl. Junghans 1996/1998). 2. Bibliographie Wer sich intensiver mit Luther beschäftigen möchte, wird auf der Suche nach bibliographischen Hilfsmitteln bald damit konfrontiert, dass der Begriff Lutherbibliographie doppelt besetzt ist. Zunächst steht er für die von Joseph Benzing begründete Primärbibliographie derjenigen Werke Luthers, die zu seinen Lebzeiten im Druck vorlagen. Zum anderen verweist der Begriff auf die seit Jahrzehnten alljährlich im Lutherjahrbuch (LuJ) erscheinende Lutherbibliographie (LuB), mit der Lutherforschung und Lutherrezeption fortlaufend bibliographisch dokumentiert werden. Als bibliographisches Unterscheidungsmerkmal zwischen beiden Lutherbibliographien führt die des Jahrbuchs den betreffenden Jahrgang im Titel. 2.1. Lutherbibliographie (Benzing) und andere Drucke-Verzeichnisse
Der Benzing (Benzing/Claus 1989/1994), ursprünglich als Teil der Revision der Weimarer Lutherausgabe (WA) geplant, kombiniert die Druckbeschreibungen der nachweisbaren Lutherdrucke mit einem Fundort-Verzeichnis dieser Drucke (vgl- Claus 1986). Das Werk erschien seit 1966 in drei Lieferungen, wurde 1982 mit einem Ergänzungsband (vgl- Claus/Pegg 1982) versehen und seit 1989 in
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zweiter Auflage verlegt, die 1994 mit einem zweiten Band abgeschlossen wurde. Zwar sind die neu aufgefundenen Drucke der Ergänzungen vollständig in Band 2 der 2. Auflage des Benzing aufgenommen, aber sie enthalten teilweise Spezialliteratur zu einzelnen Drucken, die nicht noch einmal verzeichnet wurde. Ein Verweissystem in Band 2 führt zu den betreffenden Stellen. Das Gesamtwerk erfasst die Beschreibungen von 3702 Lutherdrucken und verzeichnet Fundorte ihrer einzelnen Exemplare im internationalen Maßstab. Geordnet wird chronologisch nach dem Erscheinungsjahr der betreffenden Lutherschrift (ausgenommen die Lieder und Liederbücher ab Nr. 3539 sowie in Band 2 zusätzlich noch Gebetbuchdrucke ab Nr. 3693). Begonnen wird mit den zu Luthers Lebzeiten erschienenen Sammelausgaben, wobei die Kurztitel der einzelnen Schriften der Titelgebung der WA folgen. Für die verschiedenen Drucke einer jeden Einzelschrift Luthers erfolgt die Ordnung der Auflagen bzw. Ausgaben entsprechend der nachgewiesenen Druckgeschichte ebenso chronologisch. Die Ergänzungen und Band 2 wiederholen die Zählung der Drucke in Band 1, tragen neu aufgefundene Drucke und neu nachgewiesene Fundorte nach und binden sie in die ursprüngliche Zählung ein. Band 2 enthält neben dem Anhang zu den Bibeldrucken Register zu den Druckern, Verlegern und Verlagsorten, ein Titelregister der Lutherschriften mit den Nummern ihrer Einzeldrucke sowie Konkordanzen zu WA und VD 16. Den Schriften bzw. ihren Anfangsseiten in WA 1–60 werden die betreffenden Drucke mit ihren Benzing-Nummern zugeordnet. Die Konkordanz zum VD 16 ordnet dessen Nummern diejenigen nach Benzing zu. Eine umgekehrte Zuordnung erübrigt sich in beiden Fällen, weil jeder einzelnen Lutherschrift in Benzing 1 der Fundort in WA sowie in Benzing 2 die betreffende Nummer aus VD 16, soweit dort nachgewiesen, beigegeben ist. Innerhalb des vielbändigen, in mehreren Abteilungen erschienenen Verzeichnis[ses] der im deutschen Sprachbereich erschienenen Drucke des XVI. Jahrhunderts (VD 16) nehmen Lutherdrucke fast den gesamten 12. Band ein; Lutherschriften innerhalb anderer Drucke verteilen sich auch über weitere Bände des VD 16. Mit Hilfe der Angaben und der Konkordanz in Benzing 2 lassen sich über VD 16 deren Bibliotheksstandorte ebenso wie die der direkten Lutherdrucke leicht ermitteln. Das erweist sich z. B. dann als sehr nützlich, wenn man mehrere Drucke einer Schrift nebeneinander an einem Standort einsehen und zuvor feststellen möchte, welcher Standort sich dafür eignet. In der Regel wird man in der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel oder der Bayerischen Staatsbibliothek München jeweils die meisten Drucke einsehen können, da die reichen Bestände beider Bibliotheken einen großen Teil der Drucke des VD 16 umfassen. Die laufenden Ergänzungen zum gedruckten VD 16 werden in einer Datenbank erfasst und sind über das Internet zugänglich. Neben den großen Verzeichnissen erscheinen immer wieder spezielle Übersichten zu den Beständen einzelner Bibliotheken mit sorgfältigen Druckbeschreibungen (z. B. Kratzsch 1986; Stewing 1997). Bibliothekenübergreifend erfasst sind zeitgenössische Lutherdrucke innerhalb des gesamten Umfeldes der Flug-
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schriftenliteratur des 16. Jahrhunderts im Rahmen einer umfangreichen, auf Microfiche vorliegenden Faksimile-Edition (vgl. Köhler 1991–1996). Das Werk ermöglicht u. a. den Zugang zu vielen bedeutenden Quellen der zeitgenössischen Kontroverse um die Reformation (vgl. Köhler 1978–1987). Über das Internet erschließen sich heute viele große Bibliothekskataloge, insbesondere der Universitätsbibliotheken, von denen nicht wenige auch Einblick in ihre historischen Bestände bieten und diese immer mehr im Netz als Graphiken präsentieren, die es erlauben, eine große Anzahl von Lutherdrucken und historischen Lutherausgaben direkt am Bildschirm zu lesen bzw. zu downloaden. Die Suchmaschine des Karlsruher Instituts für Technologie (KIT) »Karlsruher Virtueller Katalog« enthält ein besonderes Suchfeld für das VD 16 (kvk.bibliothek.kit.edu/?digital Only=0&embedFulltitle=0&newTab=0). Informationen über käuflich erwerbbare Lutherdrucke des 16. Jahrhunderts und darüber hinaus werden durch regelmäßig erscheinende Antiquariats- und Auktionskataloge bereitgestellt (z. B. Hamburger Antiquariat 2001). Eine große Titelauswahl bietet laufend die gemeinsame Website vieler in- und ausländischer Antiquariate (www.zvab.de). 2.2. Fortlaufende Lutherbibliographie (LuB)
Seit 1926 erscheint als Bestandteil des LuJ eine Bibliographie, die fortlaufend sowohl die internationale Forschungsliteratur zu Leben und Werk des Reformators als auch die Vielfalt der Lutherrezeption nach einer vielfältig gegliederten Systematik verzeichnet (vgl. Junghans 1975). Die LuB ist in fünf Hauptgruppen unterteilt: Die unter »Sammelschriften« angezeigten Titel werden innerhalb der Bibliographie unter systematischem Gesichtspunkt ausgewertet. »A Quellen« bietet Informationen über größere und kleinere Editionen von Luthertexten bzw. Faksimileausgaben, über Bildquellen, die Lutherstätten und Ausstellungskataloge sowie eine Verbindung zur Primärbibliographie, insofern unter »Quellenkunde« über gedruckte Kataloge und Bibliotheksbestände und die hierher gehörigen Monographien und Aufsätze berichtet wird. »B Darstellungen« erfasst sowohl die biographischen Arbeiten zu Luther und seiner Familie als auch Luthers Theologie in mehrfacher Untergliederung, außerdem die Beurteilung Luthers, seine Beziehungen zu vorangehenden Epochen sowie diejenigen zu Zeitgenossen und die Lutherrezeption der Nachwelt bis in die Gegenwart einschließlich der Romane, Schauspiele, Filme, Video-Produktionen u. ä. Besonderer Wert wird seit mehreren Jahren unter dem Gliederungspunkt »B 5 b: Wittenberger Freunde« auf die möglichst vollständige Erfassung der anwachsenden Literatur zu Philipp Melanchthon gelegt. Schließlich verzeichnet die Abteilung C eine Bibliographie der Bibliographien von Lutherforschern sowie der Forschungsberichte und Sammelrezensionen. Die »Nachträglichen Besprechungen« sammeln mit Angabe des Jahres der LuB und der betreffenden Nummer, unter denen ein Titel zuerst angezeigt wurde, fortlaufend dessen Rezensionen. Jede LuB schließt mit einem Autoren- und Titelregister ab.
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Die ständig erscheinenden Schriften der engeren Lutherliteratur in Monographien, Sammelschriften und Zeitschriftenaufsätzen sowie der historischen und modernen Rezeption von Luthers Einfluss auf vielen Gebieten des kirchlichen, gesellschaftlichen und geistigen Lebens lassen die LuB seit über 30 Jahren jährlich zuweilen auf über 1.000 Titel anwachsen, wobei diese Zahl im Umkreis von Jubiläen teilweise um mehrere hundert Titel überschritten wird. Diese umfangreiche Berichtstätigkeit ist nur möglich, weil neben der seit den 1950er Jahren im Leipziger Institut für Kirchengeschichte tätigen Redaktion ein internationaler Kreis von Lutherforschern und Bibliothekaren regelmäßig an der Auswertung mitwirkt. Die umfangreichen bibliographischen Recherchen und das Prinzip, die Literatur einigermaßen vollständig anzuzeigen sowie im Dienst einer genauen Systematisierung möglichst einzusehen, führten dazu, dass die LuB ständig Titel über einen längeren Zeitraum nachliefert. Seit 1991 wird die LuB in einer Datenbank verwaltet. Seit 2010 wird sie intern im Internet bearbeitet und soll um das Jubiläumsjahr 2017 mit ca. 15.000 Titeln allgemein zugänglich sein. Der ältere Anteil am Gesamtbestand (ca. 35.000 Einträge) wird rückwirkend nachgetragen. Die Benutzer der LuB sind allerdings nach wie vor auf die jährlichen Ausgaben im LuJ angewiesen. 3. Rezensionen, Sammelrezensionen und Forschungsberichte Im LuJ haben alle drei Gattungen ihren festen Platz: Neben den Rezensionen einzelner Werke erschienen seit 1961 bzw. von 1963 bis 2008 unter dem Titel [Martin] Luther und die Welt der Reformation mit ziemlicher Regelmäßigkeit Sammelrezensionen des Herausgebers. Forschungsberichte aus der internationalen Lutherforschung finden über die Jahre hinweg ebenfalls ihren regelmäßigen Platz (zur Mühlen 1983; J. Fischer 1983; Hendrix 1983; Hagen 1986; Vercruysse 1996; Hendrix 2001; Eom 2003). Zu Forschungsberichten im weiteren Sinn können auch die seit 1985 im Rahmen des LuJ erscheinenden Tagungsbände der Internationalen Kongresse für Lutherforschung gerechnet werden, deren Referate und ausführliche Seminarberichte den jeweiligen Stand der Lutherforschung innerhalb ihrer Spezialgebiete dokumentieren. Die Zeitschrift Luther erscheint dreimal jährlich und bietet ebenfalls Rezensionen an. Das Archiv für Reformationsgeschichte (ARG) unterhält einen jährlich, zusätzlich zum Aufsatzband erscheinenden Literaturbericht (ARG.L) mit Kurzrezensionen in einem eigenen Luther-Teil. Die Theologische Literaturzeitung (ThLZ) sowie – um nur einige weitere Zeitschriften mit ausführlichem Besprechungsteil zu nennen – die Zeitschrift für Kirchengeschichte (ZKG), die Zeitschrift für bayerische Kirchengeschichte (ZBKG), die Theologische Zeitschrift (ThZ), das Lutheran quarterly (LQ) und The sixteenth century journal (SCJ) informieren fortlaufend über Lutherliteratur. Siegfried Bräuer verfasste einen seinerzeit sehr beachteten Forschungsbericht, der die Veränderungen innerhalb der marxistischen Lutherforschung der DDR
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benannte und Veröffentlichungen bis kurz vor das Lutherjubiläum 1983 einbezog, was damals nicht ganz ohne Risiko war (vgl. Bräuer 1983 a). Ausführlich berichtete zuletzt Volker Leppin über die seit dem Jubiläumsjahr 1983 erschienene Spezialliteratur einschließlich der Gesamtdarstellungen zur Theologie sowie zu Textausgaben (vgl. Leppin 2000/2003). Aus der Feder von Helmar Junghans stammen z. B. spezielle Berichte im Nachgang zu Jubiläen (vgl. Junghans 1985; Junghans 1986; Junghans 1998 a; Junghans 2000). Die Nachträgliche[n] Besprechungen in der LuB verzeichnen in der Regel auch die Rezensionen innerhalb der Sammelrezensionen und Forschungsberichte. Eine originelle Form von Informationen über Lutherliteratur erschien zwischen 1993 und 2012 als spezielle Zeitschrift unter dem Titel Luther digest (LuD) bei der nordamerikanischen Luther Academy (St. Louis, MO), deren Fortführung derzeit ungewiss, aber geplant ist. Hier finden sich Kurzfassungen von Büchern bzw. Zeitschriftenartikeln, die seitens der Redaktion bzw. einzelner Lutherforscher ausgewählt und bereitgestellt, gelegentlich auch von ihren ursprünglichen Autoren beigetragen wurden. Die Digest-Form kann und will die Lektüre der originalen Texte nicht ersetzen. Sie schafft allerdings genaue Inhaltsüberblicke und für die angezeigten Werke eine erste Reflexionsebene, weshalb die LuB die entsprechenden Texte aus LuD als eigene Titel bibliographiert (vgl. M. Beyer 1997). 4. Hilfsbücher zum Lutherstudium Für die Orientierung in der umfangreichen schriftlichen Überlieferung des Reformators existiert glücklicherweise ein eigenes, von Kurt Aland herausgegebenes Hilfsbuch zum Lutherstudium. Es bietet sowohl einen ersten Überblick über die Einzelschriften, Predigten, Briefe, Tischreden, Lieder oder über Luthers Arbeit an der Bibel als auch konkrete Hinweise zum Aufsuchen der Texte in alten und neuen Lutherausgaben (k A. I.) und hat sich als unersetzbares Hilfsmittel erwiesen. Im ersten Teil des Werkes sind die einzelnen, mit einer fortlaufenden Nummernzählung versehenen Lutherschriften bzw. Schriftencorpora wie z. B. Briefe, Vorreden oder Predigten alphabetisch nach Stichworten geordnet, die den Titeln entnommen und fett hervorgehoben sind. So finden sich unter dem Stichwort »Abendmahl« zunächst nur vier nummerierte Schriften. Das danach doppelt beigegebene Schlagwort »Abendmahl« führt jedoch zu einer Vielzahl weiterer einschlägiger Schriften(‑Nummern) bzw. zu einem kleinen Stichwortverzeichnis mit lateinischen und deutschen Begriffen. Über beide gelangt man relativ schnell bzw. gelegentlich über weitere Notationen von Stichworten innerhalb des Hilfsbuchs zu entsprechenden Titeln. Jede mit einer Nummer ausgestattete Lutherschrift enthält ihren lateinischen bzw. einen an das Original angelehnten Titel in neuhochdeutscher Sprachform, ihr Erscheinungsdatum sowie den genauen Fundort innerhalb wichtiger Gesamt-
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oder Auswahlausgaben, die im Abkürzungsverzeichnis aufgelistet sind. Gelegentlich finden sich auch Hinweise auf weiterführende Literatur und – soweit vorhanden – auf die noch immer benutzbaren, auf die Inhalte der Lutherschriften ausgerichteten Kurzbeschreibungen in der Lutherbiographie von Köstlin/Kawerau (1903). Generell wird zuerst der Fundort in der WA angegeben, wobei auch die in ihr vorhandenen Einführungen, Nachträge und Revisionen berücksichtigt sind. Detaillierte Fundortangaben finden sich ebenfalls für Lutherausgaben des 19. Jahrhunderts (E; W2), des 18. Jahrhunderts (W1) sowie für die kleineren Sammel ausgaben (Br, BoA, Mü bzw. MüErg und LD). Der Anhang zur 4. Auflage des Hilfsbuches erlaubt jetzt auch den Zugriff auf die Calwer Ausgabe (Calw) und die Martin-Luther-Studienausgabe (StA). Da immer auch die Nummern aus der Primärbibliographie von Benzing/Claus beigegeben sind und im Anhang des Hilfsbuchs zusätzlich eine Konkordanz zwischen jener und dem Hilfsbuch eingefügt wurde, stellt der Aland auch die Verbindung zwischen den Luthertext-Editionen und den alten Drucken her. Das Hilfsbuch enthält weiterhin umfangreiche Sonderverzeichnisse zu den Postillen, Predigten und Briefen – letztere werden chronologisch, alphabetisch und durch ein Verzeichnis der deutschen Übersetzungen der lateinischen Briefe erschlossen – sowie »Schlüssel«, d. h. Inhaltsverzeichnisse und Konkordanzen zu den genannten und weiteren (darunter französischen und amerikanischen) Lutherausgaben des 19. und 20. und zu den großen Ausgaben des 16. bis 18. Jahrhunderts. Den Abschluss bilden ein chronologisches Verzeichnis der Lutherschriften und die erwähnten Anhänge. Als Hilfsbücher im weiteren Sinn dürfen Publikationen gelten, die als Bestandteile von Lutherausgaben diese in unterschiedlicher Hinsicht erschließen helfen. Auch hier vermittelt Alands Hilfsbuch erste Informationen, da sich über die Inhaltsverzeichnisse innerhalb der erwähnten »Schlüssel« zu alten und neuen Ausgaben eine Vielzahl von Registern bzw. ganze Registerbände erschließen lassen. Wichtig wird hier wieder der Nachtrag zum »Schlüssel« der WA in der 4. Auflage des Hilfsbuch[s], der bis zu WA 65 reicht und damit über die beiden Nachtragsbände WA 59 f mit Informationen zu weiteren Hilfsmitteln, über das Inhaltsverzeichnis zur ganzen WA (WA 61), die Orts‑, Personen- und Zitatenregister (WA 62 f) und über die beiden ersten Bände des fünfbändigen lateinischen Sachregisters unterrichtet, das inzwischen zusammen mit dem deutschen Sachregister vollständig vorliegt (WA 64–73). Ein vollständiges Bibelstellenregister zur WA ist derzeit noch ein Desiderat. Hier müssen vorerst neben einzelnen Registern in wenigen Bänden der WA (Übersicht: WA 61; 141 f bzw. jetzt auf der CD-ROM der Weimarer Ausgabe unter Register) noch immer die Register der alten großen Ausgaben bzw. diejenigen der modernen Teilausgaben weiterhelfen. Bibelstellenregister finden sich z. B. in der Altenburger Ausgabe (A 10), in Walch2 (W2 23), in Luther deutsch (LD Registerband) sowie in der Martin-Luther-Studienausgabe (StA 6) und neuerdings in der Lateinisch-deutschen Studienausgabe (LDStA). Ebenfalls als »Hilfsbücher« eignen sich die vier Begleithefte der zwischen 2000
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und 2008 erschienenen Sonderedition der kritischen Weimarer Ausgabe, die neben Informationen zur Geschichte der WA und zu Luthers Werk in ihren vier Abteilungen (Schriften, Briefe, Deutsche Bibel, Tischreden) kurze Inhaltsübersichten enthalten. 5. Einleitungsliteratur zum Lutherstudium Hier handelt es sich um Publikationen, die neben mehr oder weniger ausführlich gehaltenen bibliographischen Informationen vor allem inhaltliche Überblicke zu Leben und Werk des Reformators geben. Jahrzehnte lang immer wieder aufgelegt wurde Hanns Liljes kleine Bildbiographie, deren Bibliographie ständig neu bearbeitet wurde. Weil ihre Ordnung an die der LuB angelehnt war, wird dem Leser, der dort spezielle Informationen sucht, die Recherche nach älterer und weiterführender Literatur sowie nach Rezensionen stark erleichtert (vgl. Lilje 2008). Das Einführungsbuch von Bernhard Lohse darf gewiss als eines der wichtigsten Werke der modernen Lutherliteratur gelten. Die Gestalt Luthers in ihrer Umwelt, sein Leben, die reformatorischen Auseinandersetzungen in Theologie, Kirche und Gesellschaft werden in überschaubaren Abschnitten geboten, wobei offene bzw. innerhalb der Forschung kontrovers diskutierte Fragen benannt sind. Lohse beschreibt Luthers Schrifttum nach seinen Gattungen, stellt wichtige Schriften chronologisch im Überblick vor sowie das literarische Vermögen und das Selbstverständnis des Autors auch in Bezug auf die Bibelübersetzung heraus. Er gibt methodische Hinweise zur Luther-Lektüre sowie zur Beschäftigung mit Luthers Theologie. Ein Überblick über die Geschichte der Lutherdeutung ist ebenso vorhanden wie ein eigenes Kapitel zu den Lutherausgaben, den Hilfsmitteln der Lutherforschung und ein Literaturüberblick, der nach dem zuvor ausgebreiteten Stoff gegliedert ist (vgl. Lohse 1997). In englischer Sprache liegt das Cambridge companion to Martin Luther als Gemeinschaftswerk von deutschen und amerikanischen Lutherforschern vor. Neben den biographischen, umweltgeschichtlichen, theologischen, philologischexegetischen, den sozialethischen und polemischen Topoi liegt besonderes Gewicht auf Beiträgen, die sich der historischen und gegenwärtigen Aneignung von Luthers Gestalt und Werk zuwenden (vgl. McKim 2003). Eine kurze, die wichtigsten Punkte von Luthers Leben und Werk erfassende Schrift mit wenigen prägnanten Hinweisen auf Hilfsmittel und weiterführende Literatur aus der Feder von Albrecht Beutel ermöglicht einen ersten biographischen Einstieg (vgl. Beutel 1991 b). Ernstpeter Maurer verbindet biographische Daten Luthers stärker mit systematisch-theologischen Fragestellungen im Umkreis von Kreuzestheologie, Anthropologie und Gotteslehre sowie der sprachlichen Vermittlung von Theologie (vgl. Maurer 1999). Ebenfalls einen systematisch angelegten Versuch, der die theologischen Grundgedanken des Reformators verständlich machen und an ihnen unter den Bedingungen der modernen plura-
II. Hilfsmittel
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listischen Kultur eigene Unterscheidungen aus christlicher Perspektive einüben möchte, hat Dietrich Korsch vorgelegt (vgl. Korsch 1997). In der Luther-Chronik verbindet Andrea van Dülmen taggenau wichtige Stationen der Reformationsgeschichte mit Zeugnissen aus Luthers ganzem Leben, seinem Alltag und reformatorischem Schaffen (vgl. van Dülmen 1983). Ein Kleines Lexikon der Reformation entfaltet mit Kurzbiographien und Sacherklärungen das historische Umfeld Luthers (vgl- Pertsch 1983). Neuerdings erschließen die beiden umfangreichen Werke Luther-Lexikon (2014) sowie The Oxford handbook of Martin Luther’s theology (2014) Luthers Leben, Umwelt, Theologie und Rezeptionsgeschichte. Das Luther-Lexikon enthält u. a. eine Vielzahl von speziellen Einführungen in wichtige Lutherschriften. Handliche Quellensammlungen zu Luther und seiner Umwelt in moderner deutscher Übersetzung erweisen sich als unverzichtbare Hilfsmittel für erste Schritte beim Überwinden von Verstehensschwierigkeiten gegenüber jener vorneuzeitlichen Epoche (vgl. Junghans 1980; Köpf 2001). 6. Sprachliche Erschließungshilfen Die Lektüre von originalen Luthertexten in frühneuhochdeutscher und lateinischer Sprache, aber auch der angemessene Umgang mit älteren und modernen Übersetzungen erweist sich auch für erfahrene Leser stets als neue Herausforderung. Gerhard Ebelings bekannte Charakterisierung Luthers als »Sprachereignis« findet seine Entsprechung in der nicht überschaubaren Fülle von philologischen Einzelstudien. Die Germanistische Luther-Bibliographie verzeichnete für die einhundert Jahre vor 1980 bereits 4.003 Titel (H. Wolf 1985). Die LuB bietet – gemessen an ihrem Gesamtumfang – alljährlich eine relativ große Anzahl von Titeln unter ihrem Gliederungspunkt »B 2 i: Gottes Wort, Bibel, Predigt, Sprache«. Die zwischen 1992 und 2015 elektronisch erfassten Beiträge dieser Rubrik (ca. 1.500 Titel) weisen allerdings nicht nur Spezialstudien aus, sondern auch mehr oder weniger umfangreiche Erwähnungen sprachlicher Aspekte in Luthers Werk. Die germanistischen und latinistischen Hilfsmittel der Lutherforschung sind ausführlich in LuJ dargestellt worden (vgl. Stolt 1979; Schilling 1988; vgl. M. Beyer 1989). Unter den von Johannes Schilling besprochenen Wörterbüchern ist das verbreitete Handwörterbuch des Klassischen Latein, der Georges, durch eine Neuausgabe in digitalisierter Form jetzt deutlich besser benutzbar, weil verschiedene Suchfunktionen es erlauben, z. B. Wörter und selbst Zitate über die einschlägigen Artikelstichwörter hinaus durch alle Artikel hindurch aufzuspüren (vgl. Georges 1913/2002). Das mittellateinische Mediae latinitatis lexicon minus wurde inzwischen neu bearbeitet und enthält neben den ursprünglich nur englischen und französischen nun auch deutsche Worterklärungen (vgl. Niermeyer 2002). Ebenfalls wieder nachgedruckt sind ein umfangreiches lateinisch-frühneuhochdeutsches Glossarium latino-germanicum sowie dessen Ergänzung (vgl. Diefenbach 1857/1997; Diefenbach 1867/1997). Zum sinnvollen Gebrauch
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A. Orientierung
der Diefenbachschen Glossare sei verwiesen auf das Kleine frühneuhochdeutsche Wörterbuch sowie das im Entstehen begriffene große Frühneuhochdeutsche Wörterbuch, die vor allem aber das Verstehen des nur allzu leicht missverständlichen Frühneuhochdeutschen befördern wollen (vgl. Baufeld 1996; Frühneuhochdeutsches Wörterbuch). Hierbei leistet nach wie vor auch das große Deutsche Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm (inzwischen auch auf CD-ROM und im Internet) gute Dienste. Die erwähnten mehrbändigen lateinischen und deutschen Sachregister der WA lassen sich unter Beachtung der jeweiligen Kontexte ersatzweise als Lutherwörterbücher nutzen. Für das Verständnis der Sprache Luthers im Zusammenhang mit der erst seit wenigen Jahrzehnten immer deutlicher sich abzeichnenden Bedeutung der humanistischen Neubewertung der Rhetorik in der Reformationszeit liegen inzwischen einführende Publikationen und Spezialstudien vor (vgl. Stolt 2001 b; Junghans 1998 b; Maaser 1998; Stolt 2000). Die Einarbeitung in das komplizierte Feld der Rhetorik im 16. Jahrhundert bedarf des Quellenstudiums, z. B. von Werken Ciceros, Quintilians, Rudolf Agricolas, Philipp Melanchthons u. a., die inzwischen in guten zweisprachigen Ausgaben vorliegen. Der imponierenden Breite von Luthers literarischen Fähigkeiten hat Martin Brecht eine eigene kleine Monographie gewidmet (vgl. Brecht 1990). 7. Institutionen der internationalen Lutherforschung Die wissenschaftliche Lutherforschung, aber auch das Wachhalten traditioneller Lutherkenntnis innerhalb Deutschlands bzw. innerhalb von lutherischen Kirchen überhaupt werden durch Institutionen gefördert, von denen viele auf Vereinsbasis mit kirchlicher, staatlicher oder privater Unterstützung arbeiten und die personell mit wissenschaftlichen Einrichtungen an Universitäten, Hochschulen und Akademien über Forschungsprojekte vernetzt sind. Der Verein für Reformationsgeschichte widmet sich mit Fachtagungen und seinen beiden Buchreihen, den Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte und den Quellen und Forschungen zur Reformationsgeschichte, zwar dem weiten Feld historischer und kirchenhistorischer Erforschung der Reformation, auf dem das Interesse am Wittenberger Reformationstyp weit überschritten wird, vernachlässigt dabei jedoch Luthers Person und Werk keineswegs. Dieses Profil wird deutlich im Untertitel des renommierten Jahrbuchs, des Archiv[s] für Reformations geschichte (ARG) als »internationaler Zeitschrift zur Erforschung der Reforma tion und ihrer Weltwirkungen«, das gemeinsam vom VRG und der Society for Reformation Research herausgegeben und von einer europäischen und einer nordamerikanischen Redaktion betreut wird. Sein jährlich erscheinender Literaturbericht (ARG.L) wurde als bibliographisches Hilfsmittel der Lutherforschung bereits erwähnt. Den informationsreichen Internetauftritt des VRG findet man unter www.reformationsgeschichte.de.
II. Hilfsmittel
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Die 1918 in Wittenberg gegründete, später für Jahrzehnte in Hamburg ansässige Luther-Gesellschaft verlegte ihren Sitz am 1. Januar 2004 zurück in die Lutherstadt an der Elbe. Mit dem bereits erwähnten Jahrbuch (LuJ mit LuB) fördert sie die internationale Lutherforschung. Ihre Zeitschrift Luther und die in der Regel jährlich stattfindenden Luther-Seminare akzentuieren stärker eine breitere Vermittlung der theologischen und historischen Erforschung von Leben und Werk Luthers innerhalb von Kirche und Gesellschaft. Die Luther-Gesellschaft vergibt alle zwei Jahre den »Martin-Luther-Preis für den wissenschaftlichen Nachwuchs«. Informationen über die Gesellschaft, ihre Publikationen (mit Inhaltsverzeichnissen der letzten Jahre) und den Martin-Luther-Preis bietet die Homepage www. luther-gesellschaft.de. Eine Geschichte der Luther-Gesellschaft bis 1948 erschien in Aufsatzform (vgl. Düfel 1993/1997/2000). Die Lutherhalle bzw. seit 2002 das neugestaltete Lutherhaus in Lutherstadt Wittenberg ist gemeinsam mit den ebenfalls neugestalteten Lutherstätten in Eisleben und dem neuerrichteten Museum zu Luthers Kindheit in Mansfeld Bestandteil der Stiftung Luthergedenkstätten in Sachsen-Anhalt. Es beherbergt das größte reformationsgeschichtliche Museum und weitere Sammlungen und ist selbst Ort wissenschaftlicher Forschung, ist in Verbindung mit der Stiftung Leucorea häufig Tagungsort von Fachkongressen und gibt eigene Publikationsreihen heraus. Die Homepage der Stiftung Luthergedenkstätten in Sachsen-Anhalt (www.martinluther.de) führt an die Rundgänge und Sammlungen des Lutherhauses und der anderen Standorte heran. Die Luther-Akademien Sondershausen und Ratzeburg fusionierten im Herbst 2003 zur Luther-Akademie Sondershausen-Ratzeburg. Beide Akademien blicken auf Jahrzehnte der Vermittlung von Luthers Gestalt und Werk an ein breiteres Publikum zurück, wobei sich die ältere Sondershäuser Akademie – auch während der DDR-Zeit – stärker der Arbeit mit Akademikern aus dem nichttheologischen Bereich widmete, während sich die Ratzeburger Akademie eher der theologischen Arbeit an Lutherthemen unter Einbeziehung des nordeuropäischen Luthertums und der Verbreitung von Luthers Theologie unter Theologiestudenten verpflichtet fühlte. Die Publikationen der Sondershäuser Akademie erschienen zuletzt in den Rostocker theologische[n] Studien, die Ratzeburger Akademie dokumentierte ihre Arbeit in mehr als 30 Heften der Veröffentlichungen der Luther-Akademie Ratzeburg (Schneider 2002). Seit 2004 erscheint eine gemeinsame Publikationsreihe (Vgl. jetzt auch www.luther-akademie.de). Die nordamerikanische Luther Academy (St. Louis, MO) leistete mit ihrer bereits genannten Zeitschrift Luther digest einen Beitrag zur Internationalisierung der Lutherforschung und unterhält eine Homepage mit Links zu weiteren nordamerikanischen Lutherprojekten (www.lutheracademy.com). Der Internationale Kongress für Lutherforschung – The International Congress for Luther Research wird vom Lutherischen Weltbund unterstützt und tagt in der Regel alle fünf Jahre unter einem Hauptthema, das von seinem international be-
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A. Orientierung
setzten Continuation committee bestimmt wird. Die Akten der Kongresse werden im LuJ publiziert. Der Theologische Arbeitskreis für Reformationsgeschichtliche Forschung (TARF), der von der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) und der Union Evangelischer Kirchen (UEK) unterstützt wird, wurde Anfang der 1970er Jahre mit dem Ziel gegründet, der Staatliche[n] Lutherhalle – damals eine kommunale Einrichtung der Stadt Wittenberg – eine regelmäßig tagende internationale Arbeitsgruppe von Kirchen- und Reformationshistorikern an die Seite zu stellen. Daraus entwickelte sich ein jährlich tagender Gesprächskreis der internationalen Lutherund Reformationsforschung, der große Bedeutung für deren Fortbestand innerhalb der wissenschaftlichen Theologie in der ehemaligen DDR erlangte (vgl. Haendler 1999; Bräuer 2010/11). Der TARF unterstützte neben anderen Projekten auch die Martin-Luther-Studienausgabe. Er versteht sich weiterhin als wissenschaftlicher Partner des Lutherhauses und als ein der evangelischen Kirche verbundenes Forum der Reformations- und Lutherforschung. An der »Leucorea: Stiftung des öffentlichen Rechts an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg« finden seit 2000 jährlich, neuerdings aller zwei Jahre die Frühjahrstagungen zur Wittenberger Reformation statt. Diese Arbeitsgespräche werden gemeinsam vom »Zentrum für Reformationsgeschichte und Lutherische Orthodoxie« an der Leucorea, dem Seminar für Kirchengeschichte an der Theologischen Fakultät der Universität Mainz und dem Institut für Kirchengeschichte an der Theologischen Fakultät der Universität Leipzig verantwortet. Der konzeptionelle Schwerpunkt auf dem Wittenberger Reformationstyp erfordert es u. a., Persönlichkeit und Werk von Wittenberger Reformatoren neben Luther und Melanchthon sowie bedeutender Schüler Wittenbergs intensiver zu erforschen (z. B. Georg Major, Justus Jonas, Nikolaus von Amsdorf, Paul Eber, Johannes Mathesius). 8. Lutherforschung im Internet Hinweise auf Hilfsmittel zur Lutherforschung in digitalisierter Form und im Internet gehörten bereits in der ersten Auflage des Luther Handbuches zum Standard. Aufgrund der seitherigen rasanten Entwicklung der elektronischen Medien wurden solche Hinweise teilweise berichtigt und ergänzt. Verlage bieten inzwischen weltweit auch spezielle Lutherliteratur in Zeitschriften bzw. Monographien neben der Printversion auch als sog. »elektronische Ressource« mit meist nur geringen Preisunterschieden an. Über Google.books besteht häufig die Möglichkeit, Publikationen zumindest ansatzweise zu erfassen; manche Veröffentlichungen aus dem Universitätsbereich sind im PDF-Format offen zugänglich. Innerhalb von Universitätsnetzen bestehen allerdings gute Zugangsmöglichkeiten zur Forschungsliteratur. Im Ganzen ergibt sich für die Lutherforschung wie in anderen Wissenschaftsbereichen derzeit ein riesiges, oft aber zufälliges Angebot, des-
III. Luthers Handschrift
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sen optimale Auswertung viel Zeit erfordert. Wirklich hilfreich gestaltet sich allerdings der bereits beim VD 16 erwähnte offene Zugang zu den Quellenbeständen großer Bibliotheken. Einen weiteren guten Zugang zu alten Drucken und älterer Literatur bietet das Münchener DigitalisierungsZentrum – Digitale Bibliothek (www.digitale-sammlungen.de). Immer wichtiger werden auch nur online zugänglichen Rezensionszeitschriften wie sehepunkte (www.sehepunkte.de) oder Portale wie h-soz-kult (www.hsozkult.de), wo neben ausführlichen Rezension und Forschungsberichten auch über anstehende Kongresse informiert wird. Als indirekte Hilfsmittel, z. B. zu Luthers Briefwechsel, bieten sich Portale wie das der Melanchthon-Forschungsstelle in Heidelberg (www.haw.uni-heidelberg.de/ forschung/forschungsstellen/melanchthon/mbw-online.de.html) oder das entstehende Portal der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig zum Briefwechsel der Herzöge und Kurfürsten Friedrich und Johann (www.friedrich-und-johann.de) an. Aland, Kurt (Hg.): Hilfsbuch zum Lutherstudium. Bearbeitet in Verbindung mit Ernst Otto Reichert u. Gerhard Jordan, 41996. Schilling, Johannes: Latinistische Hilfsmittel zum Lutherstudium (LuJ 55, 1988, 83–101). Stolt, Birgit: Germanistische Hilfsmittel zum Lutherstudium (LuJ 46, 1979, 120–135). Michael Beyer
III. Luthers Handschrift O. Brenner veröffentlichte 1917 einen Versuch zur Einordnung von Luthers Handschrift in die Geschichte der deutschen Schriftentwicklung, in dem er zum Schluss kam, »Luther schreibe deutsch und lateinisch gleich«. Brenner bezeichnete Luthers Schrift als »eine deutsche« und stufte den Einfluss der von den Humanisten entwickelten lateinischen Kursive gering ein (Brenner 1917). Erst der Archivwissenschaftler F. Beck hat eine differenzierte Untersuchung zu den Einflüssen der gotischen sowie der humanistischen Kursive auf Luthers Handschrift publiziert (Beck 1989). Dabei untersucht er die in den Handschriften begegnenden Schreibweisen aller Buchstaben des Alphabets. In der Kürze des vorliegenden Beitrags können nur einzelne für die schriftgeschichtliche Einordnung typische Grapheme aus Luthers Handschriften ausgewählt werden. Über die paläographischen Aspekte hinaus soll hier gezeigt werden, wie die Analyse von Luthers Handschriften neue Fragen und Erkenntnisse zur Biographie Luthers, zur Entstehung seiner Texte sowie zur Lutherrezeption ermöglicht. Vorliegende Teilverzeichnisse der Lutherautographen (WA 60, 416‑426; WAB 14, 5–174 und 18, 123–134; vgl. WA 48) bedürfen der Aktualisierung.
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1. Luthers Handschriften in paläographischer Sicht Luther benutzte in deutschen und lateinischen Texten zwei unterscheidbare Schriftarten; in deutschen Texten dominiert die gotische, in lateinischen meistens die humanistische Kursive. Dabei ist Luthers Handschrift zugleich soweit individualisiert, dass sie sich von der Handschrift anderer Schreiber in der Regel unterscheiden lässt, wenngleich in einigen Grenzfällen die Zuweisung an Luther strittig geblieben ist. Wo Luther seine deutsche Schreibschrift erlernte, ist nicht geklärt. Die Darstellung seiner Bildungslaufbahn beginnt in der Regel mit dem Besuch der Lateinschule in Mansfeld. Vielleicht erlernte er schon davor seine deutsche Schrift bei einem berufsmäßigen Schreiblehrer. Die möglicherweise früheste überlieferte deutsche Notiz Luthers findet sich in seinen Randbemerkungen zu Baptista Mantuanus, die in die Erfurter Studienzeit datiert wurden (Bubenheimer 2015b), und zwar im Rahmen der Erklärung einer lateinischen Formulierung: »Turbo lini intorti eyn gestrickt hawbe« (Herzog August Bibl. Wolfenbüttel: 72.5 Quod. [5]). Die deutschen Wörter sind in der gotischen Kursive geschrieben, die Luther lebenslang verwendet hat. Brechungen innerhalb einzelner Buchstaben und spitzwinklig angesetzte An- und Abstriche sind ins Auge fallende Merkmale dieser Schrift. An einigen Minuskeln sei der gotische Charakter von Luthers deutscher Schrift verdeutlicht. Ein typisches Beispiel für die Brechung ist Luthers Schreibweise der Minuskel g. Auch im kleinen d ist die Brechung häufig zu erkennen. Das kleine e schreibt er meistens nicht in einem Zug, sondern nach dem schräg liegenden Schaft setzt er in gotischer Manier ab und hängt einen Beistrich an, der in eine Verbindung mit dem folgenden Buchstaben ausgezogen werden kann. In dem abgebildeten (Abb. 1), von Luthers Hand geschriebenen deutschen Brief Karlstadts und Luthers an Kurfürst Friedrich vom 18. August 1519 (Forschungsbibl. Gotha: A 379; WAB 1; 501 f) entdeckt man allerdings auch Elemente der humanistischen Kursive. Bei lateinischen Worten im deutschen Text ist das generell der Fall. So weist im Datum das Wort »Agapiti« das g der Humanistenkursive auf, in dem an den runden Buchstabenkörper eine wellenförmige Unterlänge angehängt ist. An mehreren weiteren Stellen dieses Briefes findet sich dieses humanistische g, jedoch meist durch eine nach oben zurückführende Schleife mit dem nächsten Buchstaben verbunden, so zuerst in der 5. Zeile (in »begeret«). Wir stoßen hier auf das Phänomen der Mischschrift, die Luther wie viele seiner Zeitgenossen ausgebildet hat: Gotischer Grundcharakter der deutschen Schrift, jedoch durchsetzt von Elementen der Humanistenkursive. Dies ist eine Folge der Zweischriftigkeit, die sich mit der Verbreitung der lateinischen Humanistenkursive im deutschen Sprachbereich herausgebildet hat. Im Wittenberger theologischen Dekanatsbuch (ficker 1923) taucht die Verwendung der humanistischen Kursive zuerst in den Einträgen Karlstadts (ab 1512), dann Luthers (ab 1514) auf, worin sich die begonnene auch institutionelle Rezeption des Humanismus in der Fakultät widerspiegelt. Allerdings findet sich
III. Luthers Handschrift
Abb. 1: Brief Luthers und Karlstadts an Kurfürst Friedrich III. von Sachsen, 18.08.1519. Forschungsbibl. Gotha: Chart. A 379, Bl. 7r.
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eine reine humanistische Kursive in Luthers lateinischen Handschriften nicht. Die Quantität der aus der gotischen Kursive stammenden Grapheme, die die Humanistenkursive durchsetzen, schwankt zwischen den einzelnen Texten adressaten- und situationsbezogen. Das zeigt, dass Luther über seine Schreibweise reflektiert hat. Wo er Anlass sieht, sich um Schönschrift zu bemühen, ist der humanistische Charakter seiner Schrift stärker ausgeprägt. Ein Beispiel hierfür ist Luthers Brief an Kaiser Karl V. vom 28. April 1521 (Lutherhaus Wittenberg: s 166/1387; Abb. in Rogge 1971; WAB 2; 306–310). Die stärkere Rundung von Buchstaben, insbesondere bei m, n und u fällt ins Auge. Beim c und e findet sich die humanistische Rundung neben den gotischen Formen. Das g schreibt Luther hier konsequent nur in humanistischer Form. Das Vorherrschen der humanistischen Formen lässt das Schriftbild einheitlich und ruhig erscheinen. Flüchtiger wirkt Luthers alltägliche lateinische Gebrauchsschrift, in der die Mischung der humanistischen und gotischen Buchstabenformen stärker ausgeprägt ist, wobei die in der Regel exakte Zeilenführung den Eindruck der Regelmäßigkeit des Schriftbildes wiederum stärkt. Als Beispiel wird hier ein Brief Luthers an seinen Ordensbruder Martin Glaser, Prior in Ramsau, vom 30. Mai 1519 (Forschungsbibl. Gotha: Gym. 5; WAB 1; 408–410) abgebildet (Abb. 2). Neben Rundungen tauchen in den einschlägigen Buchstaben eckige Formen auf. Kleines c und e werden mal in humanistischer, mal in gotischer Form geschrieben, während g nur die humanistische Form zeigt. Ein typisches Element der humanistischen Kursive ist die Ligatur von ct, in der das c mit einem nach oben geschwungenen Bogen mit dem t verbunden wird (»Expecto« Z. 12). Bei den Großbuchstaben begegnet beim E neben der gerundeten humanistischen Form (»Epistola« Z. 12) die verschnörkelte gotische Form (»Expecto« Z. 12). In den lateinischen Alltagstexten (vgl. Abb. 2) verwendet Luther erheblich mehr Abkürzungen als in den deutschen. Die verwendeten Abbreviaturen sind entsprechend der lateinischen Handschriften- und Drucktradition normiert und mit den heutigen einschlägigen Hilfsmitteln (s. Foerster/Frenz 2004, 296) leicht auflösbar. Für »et« verwendet Luther das unserem heutigen »&« entsprechende Zeichen der humanistischen Kursive mit einer individuellen, jedoch nicht singulären Besonderheit: Meistens schreibt er das Graphem in zwei Teilen, indem er über ein alpha-förmiges Zeichen einen kleinen Kreis setzt. 2. Luthers Schreiber An der Niederschrift, mitunter auch an der Abfassung von Texten Luthers waren nach handschriftlichem Befund wiederholt andere Personen beteiligt, deren Identifizierung durch Handschriftenvergleich in den meisten Fällen möglich ist. Luther bediente sich dabei keiner Berufsschreiber, sondern seiner Kollegen und Famuli, die in der Lage waren, die Texte gegebenenfalls auch inhaltlich in seinem Sinn zu formulieren. Ausgewählte Beispiele seien genannt:
III. Luthers Handschrift
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Abb. 2: Brief Luthers an Martin Glaser, 30.05.1519. Forschungsbibl. Gotha: Gym. 5, Bl. 2r.
– In Folge kurfürstlicher Zensurmaßnahmen arbeitete Amsdorf Luthers gegen Albrecht von Brandenburg persönlich gerichtete Invektive Wider den Abgott zu Halle (Herbst 1521) zu der Schrift Wider den falsch genannten geistlichen Stand des Papstes und der Bischöfe (WA 10,2; 93–158) um (Bodleian Library Oxford: Ms. Add. C 100; Fragment) und ermöglichte damit die Drucklegung (vor 26. Juli 1522) in der geänderten Fassung (Bubenheimer 2015a). – Johann Agricola setzte im Januar 1532, als er von Eisleben aus den erkrankten Luther besuchte, dessen Niederschrift des Traktats Der Segen, so man nach der Messe spricht über das Volk fort (Fragment im Lutherhaus Wittenberg: I 9/10/69 [Rs.]; vgl. E. Thiele in WA 30,3; 572). Durch die Bestimmung des Schreibers des nicht von Luther geschriebenen Teils lässt sich die zuvor hypothetisch mit »Sommer 1532« angesetzte Abfassung (Brecht 1986a) jetzt genauer bestimmen. – Einen Brief Luthers an evangelische Bürger in Leipzig vom 11. April 1533 (WAB 6; 448–452) hat sein Famulus Veit Dietrich geschrieben, während Luther nur seine Unterschrift hinzufügte mit dem Beglaubigungsvermerk »Manu pro-
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A. Orientierung
pria« (Abb. in: Martin Luther 1483–1546, Nr. 191). Entsprechend ist ein von Bugenhagen geschriebener Lutherbrief (WAB 6; 311 f) gestaltet. Melan chthon leistete 1518 Schreiberdienste für Luther im theologischen Dekanatsbuch (Ficker 1923). 3. Doppelgänger-Handschriften Zu Luthers lateinischer Handschrift sind mehrere Doppelgänger-Handschriften bekannt, die Luthers Handschrift, mehr oder weniger ausgeprägt, ähnlich sind. So kann zum Beispiel die lateinische Handschrift seines Erfurter Freundes und Ordensbruders Johannes Lang mit derjenigen Luthers verwechselt werden. In der Ratsschulbibliothek Zwickau findet sich eine Ausgabe der Sentenzen des Petrus Lombardus mit einer Eintragung (WA 9; 29,1‑19), über die sich eine Forscherkontroverse über die Frage entspann, ob sie von der Hand Luthers oder Langs geschrieben sei (Junghans 1984a). Solche Doppelgänger-Handschriften können darauf hinweisen, dass deren Schreiber ihre Handschrift bei denselben Schreiblehrern erlernt haben oder in denselben Schreibtraditionen stehen. In diesem Licht ist denkbar, dass sich die lateinische Handschrift Luthers in der uns bekannten Gestalt erst im Kontext des Erfurter Humanistenkreises ausgeformt hat. In jener Zeit haben mitunter auch Schüler die Handschrift eines Lehrers nachgeahmt, wie das aus Melanchthons und Luthers Schülerkreisen belegt ist. Eine Wittenberger Handschrift, die derjenigen Luthers außergewöhnlich ähnlich ist, findet sich in einem Druckexemplar von Karlstadts Kommentar zu Augustins De spiritu et littera, in das der Schreiber im Wintersemester 1517/18 Nachschriften aus Karlstadts Vorlesung eingetragen hat (National Library Edinburgh: Crawford.R.38). Die Annahme liegt nahe, dass der betreffende Schreiber ein Student war, der als Schüler Luthers mit dessen Inhalten auch dessen Handschrift rezipiert hatte. Derartige Doppelgänger-Handschriften werden manchmal irrtümlich als Lutherautographe eingestuft. Eine 1519 erschienene Vulgata-Ausgabe (Württ. Landesbibl. Stuttgart: B lat.151901) wurde wegen Ähnlichkeit handschriftlicher Einträge mit Luthers Handschrift vorübergehend für dessen »Wartburg-Vulgata« gehalten (Santos noya 1996), bis weitere Handschriftenanalyse ergab, dass hier eine nur partielle Übereinstimmung mit Luthers Handschrift vorliegt (Bubenheimer 1996; Spilling 1999). Das wichtigste Hilfsmittel zur Unterscheidung von Luthers Handschrift von denen anderer Schreiber ist eine Sammlung von Handschriftenproben möglichst vieler verschiedener Schreiber. Die publizierten Handschriftenprobensammlungen der Reformationszeit (Clemen 1911; Mentz 1912) sind für diesen Zweck oft nicht hinreichend. Sie bilden zu den einzelnen Schreibern nicht sowohl eine lateinische als auch eine deutsche Schriftprobe ab. Zudem wird in Einzelfällen bei Briefen nicht berücksichtigt, dass der Verfasser nicht immer mit dem Schreiber identisch ist. Vor allem aber ist die Anzahl der ausgewählten Schreiber zu gering.
III. Luthers Handschrift
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Für den Wittenberger Theologenkreis findet man in der Faksimileausgabe des Dekanatsbuchs (Ficker 1923) eine einschlägige Handschriftensammlung. Bei einer Handschriftenanalyse ist auch der Überlieferungskontext zu berücksichtigen, bei der Findbücher der Archive und Handschriftenkataloge der Bibliotheken hilfreich sind. 4. Luthers Handschrift als Gegenstand der Verehrung
und Fälschung
Die frühen Nachahmungen von Luthers Handschrift können als Hinweise auf die beginnende Verehrung des Meisters gewertet werden. In Luthers späten Lebensjahren und mehr noch nach seinem Tod wurden Lutherautographe zur Reliquie. Luther hatte sein Handexemplar des für die erste Psalmenvorlesung gedruckten Psalters, das seine eigenhändigen Glossen enthält (Roach/Schwarz 1983), später seinem einstigen Schüler und Ordensbruder Jakob Propst geschenkt. Propst oder ein Zeitgenosse hat eine kalligraphische Inschrift vorangestellt, in der Luther als Heiliger bezeichnet wird. Sehr beliebt waren Bucheinzeichnungen Luthers in einer der ab 1534 erschienenen Gesamtausgaben von Luthers Bibelübersetzung. In diesen Bibeleinzeichnungen fügte Luther einem Bibelzitat eine kurze Auslegung samt seiner Unterschrift, manchmal auch das Jahresdatum, hinzu (WA 48). Nach Luthers Tod entwickelte sich dementsprechend ein Handel mit echten und falschen Lutherautographen. Einem Bibeldruck aus dem Jahr 1560 (Bibl. des Evang. Predigerseminars Wittenberg: B I 9) ist unter der Überschrift »Schriptum [!] Manu D: Lutheri etc.« ein Blatt aus Luthers zerlegtem Manuskript der Schrift Widerruf vom Fegfeuer (1530; WA 30,2; 373,9–375,8) in ein Vorsatzblatt montiert und wie eine Reliquie verziert. Zusätzlich ist darunter ein Text in der Art der Bibeleinzeichnungen Luthers eingeklebt, datiert 1542 (WA 48; 203,1–7), der früher der »Hand des Reformators« zugeschrieben wurde (WA 30, 2; 362), jedoch von der Hand Georg Rörers (1492–1557) geschrieben ist (WA 51, 326 Anm. 7) und spätestens nach dessen Tod als Lutherautograph eingestuft wurde. Beck, Friedrich: Persönliche Schriften im Umfeld der frühbürgerlichen Revolution in Deutschland. Die Handschrift Luthers, Müntzers, Zwinglis und Melanchthons. Ein paläographischer Vergleich (Jahrbuch für Geschichte des Feudalismus 13, 1989, 89‑131). Foerster, Hans/Frenz, Thomas: Abriß der lateinischen Paläographie, 32004, 223‑323. Martin Luther 1483‑1546. Dokumente seines Lebens und Wirkens, hg. von der Staatlichen Archivverwaltung der DDR, 1983. Ulrich Bubenheimer
IV. Lutherforschung am Beginn des 21. Jahrhunderts Das 21. Jahrhundert kann in materialer Hinsicht auf eine unvergleichliche Fülle von gut zugänglichen Luthertexten zurückgreifen: Die große Weimarer Ausgabe (WA) ist einschließlich der Register zu ihrem Abschluss gekommen – und beginnt sich schon in der Weise zu überholen, dass sowohl in der Luther-Studienausgabe (StA) als auch im Archiv zur WA (AWA) Korrekturen wie Ergänzungen zum edierten Bestand möglich und nötig sind. Aber nicht nur in materialer Hinsicht, sondern auch im Blick auf die möglichen Forschungsperspektiven kann das 21. Jahrhundert die reichen Früchte eines mit dem Ausklang des Ersten Weltkriegs beginnenden kurzen 20. Jahrhunderts ernten. Dabei stellt sich die Entwicklung der Lutherforschung vorwiegend als Spiegel der zeitgenössischen theologischen Optionen dar. Auch biographische Themen – wie etwa die Diskussion eines reformatorischen Durchbruchs beim jungen Luther oder die Frage der Existenz eines Thesenanschlages – sind in ihrer Fragerichtung oft nur verstehbar als Reflex auf theologische Deutungsmuster, die den biographischen Rahmen wenigstens mitbestimmen. 1. Die Luther-Renaissance Bis heute ist der maßgebliche Ausgangspunkt für die Luther-Forschung die sogenannte Luther-Renaissance, die der Berliner Kirchenhistoriker Karl Holl durch seinen Vortrag zum vierhundertsten Jubiläum der Ablassthesen am 31. Oktober 1917 auslöste. Karl Holl, von Haus aus Patristiker, hatte lange im Schatten seines Lehrers und übermächtigen Kollegen Adolf von Harnack gestanden und sich wohl auch deswegen das Arbeitsgebiet der neueren Kirchengeschichte gesucht. Seine Rede zu dem runden Jubiläum ist denn auch, blickt man auf sein wissenschaftliches Œuvre, nicht unvorbereitet, brachte als summierende Zusammenfassung seiner kirchenhistorischen Forschungen jedoch einen tiefen Einschnitt für das Lutherverständnis. Zu einem Zeitpunkt, da sich das Scheitern der deutschen Kriegspläne schon abzeichnete, entwarf Holl ein Lutherbild, das von nationalen Konstruktionen des 19. Jahrhunderts zwar nicht ganz frei war, sich aber doch gegen eine einfache nationale Vereinnahmung des Reformators wandte und den Blick ganz auf die religiöse Entdeckung Luthers: die Botschaft von der Rechtfertigung lenken sollte. Dieses sehr weitreichende theologische Interesse band Holl in die aktuelle Forschungsdiskussion ein, indem er sich auf den jungen Luther und seine reforma torische Entdeckung konzentrierte – ein Thema, das für ein halbes Jahrhundert das bestimmende in der Lutherforschung werden sollte. Die Funde von Luthers frühen Vorlesungen um die Jahrhundertwende hatten nicht nur die Edition in der Weimarer Ausgabe weiter angeregt und um Überraschendes bereichert, sondern sie hatten es auch mit sich gebracht, dass das Verhältnis Luthers zum Mittel-
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alter neu bestimmt werden musste. Den gelehrten Deutungen der katholischen Forscher Heinrich Denifle und Hartmann Grisar, die Luthers Abwendung vom Mittelalter vor allem mit psychologisch fragwürdigen, individuellen Problemen eines überforderten Mönches erklärten, hatte die lutherische Forschung bislang kaum etwas entgegenzusetzen vermocht. Und auch die Deutung des evangelischen Theologen und Religionssoziologen Ernst Troeltsch, der Luther letztlich noch in das Mittelalter eingeordnet und die Moderne erst mit den Täufern und den Spiritualisten hatte beginnen sehen wollen, konnte Holl kaum befriedigen. In Auseinandersetzung mit beiden Konzeptionen entfaltete er die dezidierte Deutung Luthers als Begründer der Neuzeit, und zwar sowohl hinsichtlich seiner Deutung des Gott-Mensch-Verhältnisses als auch – dies war gegenüber der Troeltschschen Bevorzugung des linken Flügels der Reformation wichtig und stellte wohl auch eine Folge dessen dar, dass Holl zu Luther eigentlich über Calvin gelangt war – als Begründer eines aktiven, weltgestaltenden Handelns: Luther stand »in einem bewussten und betonten Gegensatz« zu seiner Zeit (Holl 1921 a, 108). Die Argumentation, die Holl hierfür vorbrachte, war nicht nur von einer bislang in der Lutherforschung nicht erreichten methodischen Präzision, wie er sie in seinen patristischen Arbeiten gelernt hatte. Sie besaß vor allem inhaltlich in ihrer verblüffenden Klarheit eine auf Generationen hinaus unhinterfragte Evidenz: Die aus dem Römerbrief gewonnene Auffassung, dass der Mensch nicht durch eigene Aktivität, sondern durch die freie Gnade Gottes gerechtfertigt sei, konnte nicht nur als organisierendes Prinzip der Theologie Luthers erkannt und bestimmt werden, sondern Holl sah in ihr auch den Anfang von Luthers Entwicklung, also letztlich den allein entscheidenden Grund für den Bruch mit der mittelalterlichen Kirche. Dieser lag dann auch entsprechend vergleichsweise früh, nämlich schon im Kontext der Römerbriefvorlesung, deren 1908 erfolgte Edition sich Holl zunutze machte. Das Wesentliche der Reformation war damit in einem frühen theologischen Urereignis begründet. In aller Kürze ließ sich hiernach erfassen, was Reformation ausmachte: Ihre Einheit lag in der einen Person Martin Luthers, an dem einen Ort, dem Studierzimmer im Turm des Wittenberger Augustinerklosters, und in einer theologischen Grundfigur: dem Vertrauen auf die durch den Glauben erfolgende Rechtfertigung des Sünders. Von diesem Lutherbild aus war deutlich die Neuheit und Eigenheit Luthers zu konturieren – und zugleich psychologisch plastisch zu gestalten: Dem sogenannten Großen Selbstzeugnis aus der Vorrede zur Ausgabe der lateinischen Werke von 1545 folgend (WA 54; 185,12–186,24), war der zwar nicht im engeren Sinne aus pietistischem Milieu, aber eben doch aus der pietistisch geprägten württembergischen Kirche stammende Holl der Meinung, dass beim jungen Luther mit einer plötzlichen Konversion im Stile pietistischer Bekehrungen zu rechnen sei. Holls Deutung gewann größere Bekanntheit und Wirkung, als er den Berliner Vortrag von 1917 zusammen mit anderen, zum Teil älteren, aber schon darauf
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hinweisenden Studien 1921 in einem Sammelband unter dem schlichten Titel Luther vorlegte – ein Buch, von dem Adolf von Harnack wenige Jahre später anlässlich der Gedächtnisfeier für Karl Holl (1926) sagen sollte: »Dieses Lutherbuch, das mit eigener Flamme brennt, wird bleiben, solange es eine theologische Wissenschaft gibt und einen evangelischen Glauben« – fast ein Jahrhundert später ist dieser Satz jedenfalls noch nicht widerlegt. Der Zeitpunkt des Erscheinens war fast derselbe, zu dem Karl Barth die zweite Auflage seines Römerbrief[s] vorlegte. In der Realität der Theologie der Weimarer Republik dürfte die Hollsche Luther-Deutung eine mindestens ebenso große Bedeutung gehabt haben wie die erst von späteren Generationen als dominierender Neuansatz herausgestrichene Dialektische Theologie: Holl hatte eine reiche Schülerschar, in der Namen wie Hanns Rückert, Heinrich Bornkamm und, freilich etwas freier, Emanuel Hirsch herausragen. Diese Gruppe, die durch Holl angeregt wurde, sich wieder neu auf das reformatorische Erbe zu besinnen, ist zwar mit der »Luther-Renaissance« nicht einfach identisch, bildet in ihr aber doch einen wesentlichen Anteil. Theologisch und auch gesellschaftlich steht sie auf einem breiteren Fundament. Symptomatisch hierfür ist, dass Karl Holl 1925 – nur ein Jahr vor seinem Tod – zum Vorsitzenden der Luther-Gesellschaft gewählt wurde, deren Gründung im Jahr 1918 unabhängig von seinen Anregungen erfolgt war: Die treibende Kraft war hier der Jenaer Philosoph und Literaturnobelpreisträger Rudolf Eucken gewesen, bei dem lebensphilosophische und völkische Orientierung zusammenflossen. Die Luther-Gesellschaft und das von ihr gegründete Luther-Jahrbuch bildeten eine wichtige Plattform zur Auseinandersetzung mit Luther (vgl. Düfel 1993/1997). Für die akademische Theologie wichtiger und folgenreicher aber war eine andre Form der von Holl unabhängigen Neuorientierung an Luther: Insbesondere in der Tradition des Erlanger Neuluthertums, das im 19. Jahrhundert einen neuen Konfessionalisierungsschub in den evangelischen Kreisen Bayerns und vor allem an der Universität Erlangen mit sich gebracht hatte, wurde Luther unter einer Perspektive relevant, die gegenüber der Holls etwas verschoben war. Bei Werner Elert wie bei Paul Althaus traten in der Deutung Luthers und in ihrer aktualisierenden Anwendung zwei höchst wirkungsvolle Aspekte in den Vordergrund: Zum einen wurde die von Elert in seiner Lutherdeutung und in seiner gegenwärtig verantworteten Theologie betonte Unterscheidung von Gesetz und Evangelium mit der sachlogischen Vorordnung des Gesetzes vor das Evangelium später zu einem Kernpunkt der Auseinandersetzung mit Karl Barth, insbesondere beim Streit um die Erste These der Barmer Theologischen Erklärung (1934) mit ihrer Rede von dem einen Wort Gottes, Jesus Christus. Zum andren aber haben beide Erlanger Theologen die schöpfungstheologischen Aspekte im Werk Luthers gegenüber den rechtfertigungstheologischen entschieden in den Vordergrund gehoben. Folgenreich wurde hierbei die Betonung der in der Schöpfung gesetzten Ordnungen, insofern hier die Grundlage für die theologische Nobilitierung des Volksbegriffs gelegt wurde, die – bis hin zur Vaterländischen Kundgebung des
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Deutschen Evangelischen Kirchentages von 1927 – bestimmend für die kirchliche theologische Gegenwartsanalyse wurde. Mit ihnen war die überwiegende Mehrheit der Lutherforscher zum Teil schon vor, deutlich aber dann um und nach 1933 auch aufgrund ihrer Lutherdeutung für nationalsozialistische Vereinnahmungen anfällig – am augenfälligsten und irritierendsten der hochintelligente Holl-Schüler Emanuel Hirsch, aber auch etwa ein Gelehrter wie Erich Seeberg, der sich gerade von der Holl-Schule und der von ihr behaupteten scharfen Diastase Luthers zum Mittelalter abzusetzen suchte und umgekehrt in Anlehnung an das zentrale Werk der nationalsozialistischen Weltanschauung, den Mythus des 20. Jahrhunderts (1930) von Alfred Rosenberg, die enge Verbindung zwischen Luther und der mittelalterlichen Mystik Meister Eckharts hervorhob. Die banale Rückführung auf eine vermeintlich von Luther herrührende besondere Obrigkeitsgläubigkeit dürfte dabei weit weniger eine Rolle gespielt haben als die theologischen Grundentscheidungen, die, sei es wie bei den Erlangern aufgrund schöpfungstheologischer Konzeptionen, sei es wie im Falle Hirschs aufgrund subjektivitätstheoretischer Rekonstruktionen, Offenheit für die Adaption außertheologischer Phänomene aufwies – ein Zug, der durchaus lange Zeit auch eine Stärke des Luthertums gewesen war, sich nun aber als höchst problematisch erwies. In materialer Hinsicht zeigte sich insbesondere in der Auseinandersetzung um die Barmer Theologische Erklärung von 1934, dass die Unterbestimmung der Christologie Luthers bei Holl den Zugang zu einer konsequent in Distanz zu deutschchristlichen Theologien stehenden Deutung erschwerte. 2. Die Neuorientierung der Lutherforschung nach 1945 Diese enge Verbindung zwischen einer aufgrund der Schulung durch Holl oft auf höchstem Niveau stehenden Lutherforschung und politischer Anfälligkeit bestimmt in gewisser Weise ex negativo auch die Neuansätze in der Lutherforschung nach 1945: Die politische Anfälligkeit der Luther-Renaissance war bald identifiziert: Ernst Wolf warf ihr bei der Göttinger Lutherfeier 1946 eine »Abkehr von Luther im Namen Luthers« vor – und gab damit das Stichwort vor: Ein nun zu rekonstruierender Luther konnte nur ein solcher sein, der frei von den Belastungen durch die Luther-Renaissance war. Und das hieß umgekehrt: einen solchen Luther zu finden – oder zu entwerfen –, der mit den Rahmenbedingungen zusammenstimmte, die die nun bestimmende Theologie Karl Barths – der selbst bekanntlich alles andere als ein Lutherfreund war – setzte. Eine solche Lutherdeutung bewegte sich keineswegs im luftleeren Raum: Die politische Belastung der in der Lutherforschung weiterhin bestimmenden Generation hatte, sieht man einmal von Hirsch ab, der aus gesundheitlichen Gründen emeritiert wurde, um einer schmählichen Entlassung aus politischen Gründen zuvorzukommen, kaum Folgen für den Lehrbetrieb in der Kirchengeschichte. Weiterhin waren zahlreiche Vertreter der Lutherforschung aus der Zeit vor 1945
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im Amt: Heinrich Bornkamm in Heidelberg, Hanns Rückert in Tübingen und nicht zuletzt auch Paul Althaus. Letzterer legte zudem noch im Jahre 1962 eine Theologie Martin Luthers vor (Althaus 1994), die, obwohl sie an manchen Stellen auch die Züge jener Theologie trägt, die ihn in politische Verirrungen gebracht hatte, bis heute auch neben der viel jüngeren Theologie Luthers aus der Feder Bernhard Lohse von 1995 bestehen kann (Lohse 1995). Der Wechsel der Vorzeichen in der Lutherdeutung vollzog sich also insgesamt keineswegs abrupt, und auch in einzelnen Studien nicht immer mit solcher Unmittelbarkeit wie in der vielfach rezipierten, methodisch aber durchaus anzweifelbaren Studie Gesetz und Freiheit von Wilfried Joest aus dem Jahr 1951 (Joest 1968), die ausdrücklich der theologischen Kritik Karl Barths an Luther beziehungsweise seinen Erlanger Deutern Rechnung tragen sollte, indem die wenigen schwachen Hinweise auf einen tertius usus legis und damit einen dem Evangelium folgenden Gebrauch des Gesetzes – neben dem selbstverständlich nicht bestrittenen usus elenchthicus, dem von Elert in den Vordergrund gestellten, die Sünde aufweisenden Gebrauch – stark gemacht wurden und so eine Harmonie mit dem Barthschen Sachanliegen erreichbar schien. Eher ist, was die Genese eines neuen Lutherbildes angeht, eine allmähliche Überlappung zu beobachten, innerhalb deren zunehmend jene Deutungen Luthers bestimmend wurden, die mit dem herrschenden systematisch-theologischen Rahmen kompatibel waren. Dabei konnte man auch bereits an Bemühungen aus der Zeit des Kirchenkampfes, ja, der Weimarer Republik anknüpfen: Hans Joachim Iwand war seit seiner 1927 eingereichten Habilitationsschrift bemüht, die bei Holl faktisch vollzogene Isolierung der Rechtfertigungslehre von der Christologie aufzuheben und den notwendigen Bezug der Rechtfertigungslehre auf den Christus pro nobis deutlich zu machen (vgl. Iwand 1966). Im Dritten Reich gehörte er dann zu den aktiven Trägern der Bekennenden Kirche. Zu ihnen gehörte auch der Mann, dem die moderne Lutherforschung wohl soviel verdankt wie sonst höchstens noch Karl Holl selbst: Gerhard Ebeling (vgl. Beutel 2004; 2012). Ebeling hatte seine Ausbildung in den illegalen Seminaren der Bekennenden Kirche erfahren, war dann aber auf Betreiben Bonhoeffers zur wissenschaftlichen Arbeit nach Zürich entsandt worden. Epochemachend wurde sein Werk über Evangelische Evangelienauslegung (Ebeling 1942). 1938 in Zürich als Dissertation eingereicht, wurde es mitten im Krieg (1942) veröffentlicht. Die vom Holl-Schüler Fritz Blanke betreute Arbeit bot in ähnlicher Weise wie einst Karl Holl die Verknüpfung einer systematisch-theologischen mit einer historischen These: Historisch zeichnete Ebeling nach, wie Luther den mittelalterlichen vierfachen Schriftsinn schon sehr früh in einer Weise umbaute, die allein noch den – freilich christologische Deutung des Alten Testaments durchaus einschließenden – historischen Sinn zusammen mit einer an den moralischen Sinn des Mittelalters anknüpfenden pro-nobis-Dimension verknüpfte. Ohne dass an der Zentralität der Rechtfertigung in theologischer Hinsicht gezweifelt würde, verschob sich damit der Ausgangspunkt für Luthers dem Mittelalter gegenüber neue
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Theologie in die Hermeneutik, diese wurde als Rahmen auch für die Neuentdeckung der Rechtfertigungslehre erkennbar. Der Hauptgewinn war dabei, dass ein individualistisches Missverständnis der Rechtfertigungslehre, wie es insbesondere aus der Theologie Emanuel Hirschs folgen konnte, ausgeschlossen war: Ebelings Deutung sicherte durch ihren historisch ausgedrückten Schriftbezug die Extra-nos-Dimension, auf die Luther im Kampf gegen die Schwärmer stets Wert gelegt hatte. Dies galt auch gegenüber einer anderen Variante vorheriger Lutherdeutung: Seebergs Konzeption eines stark von der Mystik beeinflussten Luther war durch eine solche Betonung der Schriftbindung ausgeschlossen – und blieb dies auf Jahrzehnte hinaus. Dieser hermeneutische Ansatz der Lutherdeutung war einerseits mit der dominierenden Wort-Gottes-Theologie durchaus vereinbar, passte sich gleichwohl nicht einfach ihren Kategorien an, sondern wies für Luther einen eigenen Schriftzugang nach. Die Kraft dieser Deutung zeigt sich nicht nur in einem überreichen Œuvre, das Gerhard Ebeling bis zu seinem Tode vorgelegt hat, sondern auch in seiner reichen Schülerzahl. Bis heute wird eine historische und theologische Deutung Luthers bei aller in jüngerer Zeit auch geäußerten Kritik an den Erkenntnissen Ebelings so wenig vorbeikommen wie an denen Holls. Etwas vorsichtiger wird man hier im Blick auf Ernst Bizer sein müssen, dessen Forschungen in den fünfziger Jahren umstürzend waren, aber nicht jenen grundsätzlichen Charakter annahmen wie die Ebelings. Sein Hauptwerk für die Lutherforschung ist die schmale Monographie Fides ex auditu (1958). Auch sie liegt in der Linie jener Arbeiten, die systematische Erkenntnisse mit historischer Analyse vermitteln: Bizer fragte nach den Anfängen Luthers als Reformator. Hatte Holl hier aufgrund einer Lektüre des Großen Selbstzeugnisses von 1545 (s. o.) und vor allem der frühen Vorlesungen Luthers zu einer deutlichen Frühdatierung in die Zeit der ersten Vorlesungen geneigt, vermochte Bizer nun diese frühen Vorlesungen, auch dort wo sie scheinbar schon in rechtfertigungstheologischen Kategorien und Termini sprachen, im Sinne einer noch dem Mittelalter verbundenen Demutstheologie zu deuten. Entscheidend war dabei die Deutung der reformatorischen Erkenntnis Luthers im Sinne einer Entdeckung des Wortes Gottes als Gnadenmittel: Unverkennbar war Bizers Lutherdeutung von den Vorannahmen der Wort-Gottes-Theologie mitgeprägt, ohne dass diese Einordnung in den zeitgeschichtlichen Kontext seine historische Erkenntnis schmälern müsste. In jedem Falle war eben an jener Stelle, die den Angelpunkt von Holls Lutherdeutung ausmachte, der systematisch-theologischen Verankerung der reformatorischen Erkenntnis eine klar erkennbare Modifikation Holls konstituiert worden. Und hierdurch wurde eine der lebhaftesten Debatten ausgelöst, die die moderne kirchenhistorische Forschung erlebt hat: Vor allem bis in die Mitte der sechziger Jahre, aber mit Ausläufern bis heute, wird in Auseinandersetzung mit Bizer darum gestritten, wann Luther was entdeckt hat. Das heißt: Es geht zum einen um die Datierung jenes Erlebnisses, das Luther als seinen Durchbruch im Großen Selbstzeugnis von 1545 (s. o.) beschreibt. Die Unklarheiten dieses Textes machen
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eine Früh- wie eine Spätdatierung möglich. Bald aber pendelte sich die Forschung bei der von Bizer vorgeschlagenen Spätdatierung ein. Dabei wurde es dann auch nötig, wie Otto Hermann Pesch es in einem grundlegenden Forschungsbericht über diese Debatte tat, zwischen einer – allmählich reifenden – reformatorischen Erkenntnis und einem – biographisch-psychischen, plötzlich erfolgten – reformatorischen Durchbruch zu unterscheiden: Jenes pietistisch gefärbte Konversionsmuster, nach dem sich alle Erkenntnis in einem plötzlichen Durchbruch bündelte, wie es Holl noch vertreten hatte, erwies sich als unzureichend zum Erfassen des Entwicklungsprozesses Luthers: Auch wenn gemeinhin an einem Durchbruch festgehalten wurde, konnte dieser nicht als ein das Neue generierender, sondern eher als ein die allmähliche Entwicklung konzentrierender Vorgang gedeutet werden. Dabei gingen die Auseinandersetzungen sogar so weit, dass Heinrich Bornkamm dazu neigte, einen reformatorischen Durchbruch im Sinne eines plötzlichen Erkenntnisvorgangs ganz zu bestreiten und nur von einem allmählichen Erkenntnis- und Reifungsprozess auszugehen. Noch viel umstrittener aber war die Frage, wie denn nun der Inhalt der reformatorischen Erkenntnis genau zu bestimmen sei – in diesem Teil der Debatte spiegelte sich auch ein Ringen um lutherisches Selbstverständnis nach dem Zweiten Weltkrieg: Auf historischem Parkett sollte geklärt werden, was als genuin reformatorisch und mithin genuin evangelisch anzusehen sei. Gerade darum verknüpften sich hier allerdings systematisch-theologische Vorgaben und historische Fragestellungen so sehr, dass damit ein grundlegendes Problem jeder Lutherforschung schonungslos offengelegt wurde. Als besondere Schwierigkeit erwies sich das bei nahezu allen Forschern zu beobachtende teleologische Vorgehen: Man konstruierte aus systematisch-theologischer Perspektive oder auch aus einer unterstellten Gesamtsicht Luthers eine im Unterschied zu mittelalterlichen – und das hieß letztlich im Blick auf die Gegenwart: katholischen oder als katholisch empfundenen – Positionen als »reformatorisch« angesehene Lehre und suchte dann nach deren erstem Aufkommen im Œuvre Luthers, um hier den reformatorischen Durchbruch festzumachen: Die Heuristik des historischen Vorgehens war bis hin zu den großen Synthesen dieser Forschung – der im Gefolge Bizers das Verheißungswort in den Vordergrund stellenden Arbeit Promissio von Oswald Bayer (1971) und Karl-Heinz zur Mühlens mit einzigartiger Subtilität Mystisches und Reformatorisches voneinander abhebenden Arbeit Nos extra nos (1972) – eine systematisch-theologische. Insofern kommt der Debatte um den reformatorischen Durchbruch Luthers eine Schlüsselrolle für die moderne Lutherdeutung zu: In ihr erweist sich das Ineinander von systematisch-theologischer und historischer Arbeit als nicht nur produktiv, sondern für bestimmte Fragestellungen auch hinderlich. Gerade im Kontext dieser Debatte kam daher nicht zufällig durch Kurt Aland 1965 der Ruf nach einer klar historisch-biographisch konturierten Lutherforschung auf, der grundsätzlich an die Methodik Holls anknüpfte, diese aber in noch viel schärferem Maßstab zur Selbstkontrolle des theologischen Forschens einsetzen wollte.
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Bezeichnend ist, dass das Ergebnis der Studie Alands im Blick auf die Frage eines reformatorischen Durchbruchs negativ war: Ein psychologisch einschneidendes Erlebnis hat jedenfalls in der Korrespondenz Luthers keinen Niederschlag gefunden (vgl. Aland 1965). So sehr sich diese Debatte auf Deutschland konzentrierte, wohl auch weil hier die Erfahrungen des Dritten Reiches die Notwendigkeit innerlutherischer Selbstvergewisserung besonders dringlich gemacht hatten: Die Zeit nach 1945 ist auch durch einen weiteren Aspekt deutlich von der vorherigen Zeit unterschieden: die umfassende Internationalisierung der Forschung. Das Interesse an Luther war international bereits seit dem 19. Jahrhundert vorhanden: In Schweden gab es traditionell eine starke Lutherforschung, und auch in den USA hatte insbesondere das Lutherjubiläum von 1883 große Aufmerksamkeit gefunden, aber als führende Wissenschaftsnation galt im Bereich der Lutherforschung doch für lange Zeit Deutschland als das Mutterland der Reformation. Dass dies den Realitäten nur noch begrenzt entspricht, spiegelt sich in den seit 1956 in mehrjährigen Abständen stattfindenden Lutherforscherkongressen wider, die im Wechsel auf skandinavischem, deutschem und amerikanischem Boden stattzufinden pflegen, zunehmend aber auch Theologen der Jungen Kirchen aus der Dritten Welt in ihren Reihen haben. Diese Ausweitung der nationalen Grenzen hat die Lutherforschung von ihren nationalen Verengungen befreit – durch die ökumenische Ausweitung wurde sie auch von den konfessionellen Grenzen befreit. 3. Ökumenische Lutherforschung Zu den wichtigsten Erscheinungen der jüngeren Lutherforschung gehört, dass im Vorfeld des Zweiten Vatikanischen Konzils die katholische Forschung ihre Sicht auf Luther entschieden neu akzentuierte: Bis dato hatten die gewichtigsten Lutherforscher auf katholischer Seite sich als gelehrte Polemiker hervorgetan – wie die genannten Denifle und Grisar. Eine solche konfessionalistische Haltung entsprach nach 1945 nicht mehr dem Gestus katholischer Forscher, und es kam zu einer fast vollständigen Umbewertung der Reformation durch Joseph Lortz und Erwin Iserloh. Grundgedanke war, dass das späte Mittelalter, das Luther bekämpft habe, gar nicht wirklich katholisch gewesen sei. Damit war eine eigenartige Ehrenrettung Luthers verbunden: Wenn Luther gegen ein unkatholisches Mittelalter gekämpft hatte, konnte man im Umkehrschluss ihm selbst wenigstens über weite Strecken einen guten Katholizismus zubilligen, der nur durch die gegebene historische Situation antirömisch geworden war. Allerdings bedeutete eine solche Sicht der Dinge auch, dass die wieder im eigentlichen Sinne katholisch gewordene römisch-katholische Kirche – seit dem Trienter Konzil – eigentlich von den Vorwürfen der Reformation nicht mehr getroffen sein konnte. Die Kirchenspaltung war mithin ihrem Ursprung nach obsolet geworden und das Festhalten daran konnte nur auf einer Überspit-
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zung sekundärer Entwicklungen innerhalb der protestantischen Kirchen resultieren. Die ausdrückliche Anerkennung bedeutete also selbstverständlich alles andere als eine Aufgabe römisch-katholischer Positionen, aber sie stellte gleichwohl eine bemerkenswerte Annäherung an Luther dar, die sich dem allgemeinen Aufbruch der römisch-katholischen Kirche in den fünfziger und sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts verdankte. Die gewachsene und von protestantischer Seite schwer bestreitbare Kompetenz in Sachen Luther auf katholischer Seite hatte allerdings auch Folgen, die die lutherische Selbstverständigung ganz erheblich verunsicherten: Am 8. November 1961 hielt Erwin Iserloh im Auditorium Maximum der Mainzer Universität einen Vortrag, der eine publizistische Auseinandersetzung auslöste, welche die schon seit einigen Jahren aufgrund der Anregungen Bizers geführte Debatte um den jungen Luther zwar nicht an Quantität und theologischem Tiefgang, möglicherweise aber an emotionaler Schärfe und Verletztheit überbot. Das Thema lautete: Luthers Thesenanschlag. Tatsache oder Legende? (Iserloh 1962) und Iserlohs Antwort lag klar bei dem zweiten Stichwort: Die Behauptung, am 31. Oktober 1517 habe Luther seine Ablassthesen an die Tür der Wittenberger Schlosskirche angenagelt, war eine Legende. Diese These wurde in einer glasklaren historischen Argumentation begründet, deren Angelpunkt der Hinweis darauf war, dass eine Nachricht von einem solchen Thesenanschlag erst nach Luthers Tod aufgekommen sei – und zwar aus der Feder Philipp Melanchthons, der selbst kein Augenzeuge eines solchen Geschehens sein konnte, da er im Herbst 1517 noch in Tübingen weilte. Leichte ironische Spitzen – wie der Hinweis, dass den Anschlag von Disputationsthesen im 16. Jahrhundert schwerlich der Universitätsprofessor persönlich vornahm, sondern wohl eher der Universitätspedell – machten die Aufnahme im protestantischen Milieu nicht leichter. Die Argumentation Iserlohs raubte dem ohnehin zeitgleich um sein Lutherverständnis ringenden Protestantismus auch noch einen symbolischen Akt, in dem sich als »Reformator mit dem Hammer« ein ganzes Charakterbild, ja wohl auch die Vorstellung von einer dynamischen, plötzlichen Beendigung des Mittelalters verdichtete. Bis heute hat sich Iserlohs These denn auch nicht vollständig durchsetzen können und wird vor allem von evangelischen Forschern immer wieder hinterfragt oder mit Kompromisslösungen – der Thesenanschlag habe nicht am 31. Oktober, sondern eben etwas später stattgefunden – aufgefangen. Iserlohs Vortrag aber ist selbst zu einem Symbol geworden: für eine selbstbewusste römisch-katholische Lutherforschung, die sich auf der Höhe des philologischen und historischen Niveaus ihres evangelischen Partners bewegt. Handelte es sich bei Lortz und Iserloh im Wesentlichen um eine kirchengeschichtliche Annäherung, die die historische Stellung Luthers zum ökumenischen Argument machte, so bot Otto Hermann Pesch eine ebenfalls mit historischem Material arbeitende Argumentation, deren Fokus aber ausdrücklich ein systematischer war, ja deren Überzeugungskraft sich letztlich einem hohen Grad der Abstraktion – und ökumenischen Wollens – verdankte. Seine Dissertation von 1965 verglich die Rechtfertigungslehre des Thomas von Aquin mit der Mar-
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tin Luthers – mit dem Ergebnis, dass beide letztlich in ihrer theologischen Intention konvergierten, sich lediglich hinsichtlich ihres Aussagemodus unterschieden: Während Thomas »sapiential« gesprochen habe, habe Luther »existentiell« gesprochen (Pesch 1967). Damit schien von katholischer Seite auf einer überaus reichen Materialbasis und in gelehrter Argumentation die Frage, deren zentrale Bedeutung für die Differenz Luthers zur mittelalterlichen Kirche die Holl-Schule neu ins Bewusstsein gerückt hatte, gewissermaßen fortinterpretiert. In der Stoßrichtung vergleichbar dem 1957 erschienenen Werk von Hans Küng über Barths Rechtfertigungslehre, hatte Pesch dieses Ergebnis nun nicht nur anhand der fortgeschrittenen Lehrentwicklung des 20. Jahrhunderts gewonnen, sondern in einer Analyse der Ursprungssituation der Konfessionsspaltung im 16. Jahrhundert selbst. Seine Untersuchungen stellen damit einen wichtigen Markstein auf dem Weg zu der »Gemeinsame[n] Erklärung zur Rechtfertigungslehre« dar, die sich römisch-katholische Kirche und Lutherischer Weltbund durch Unterzeichnung der hierauf bezogenen »Gemeinsame[n] Offizielle[n] Feststellung« im Jahr 1999 trotz erheblicher Widerstände in der evangelischen akademischen Theologie, in der ein Verzicht auf den Kern evangelischen Glaubens gefürchtet wurde, zu eigen machten. Doch bleibt die Wirkung solcher Untersuchungen nicht auf diesen umstrittenen kirchenpolitischen Bereich beschränkt: Am Beginn des 21. Jahrhunderts lässt sich sagen, dass die katholische Lutherforschung aufgrund der genannten Pionierarbeiten einen eigenen Zugang zu einem positiven Lutherbild gewonnen hat, der sich auch etwa darin äußert, dass der Titel eines 1988 erschienenen Bandes mit Aufsätzen eines katholischen Theologen über Luther lauten konnte: Vater im Glauben (Manns 1988). Etwa zu dieser Zeit begann, mit einer Monographie Tuomo Mannermaas aus dem Jahre 1989 (Der im Glauben gegenwärtige Christus), eine Richtung ökumenischer Deutung Luthers auf dem Boden des Luthertums selbst. Dabei stand weniger die römisch-katholische Kirche im Blick als die Orthodoxie. In einem groß angelegten Projekt finnischer Forscher wurde, insbesondere in Auseinandersetzung mit den Deutungen Ebelings und Joests, der Versuch unternommen zu zeigen, dass der Aspekt der Vergottung des Menschen durch die Erlösung in der Theologie Luthers eine viel bedeutendere Rolle einnehme als die deutsche Lutherforschung gemeinhin behaupte. Deutlich wird in diesem Forschungskontext, der bis heute immer wieder einzelne Arbeiten inspiriert, auf die Nähe zu Athanasius verwiesen und damit die Kompatibilität zu entsprechenden Vorstellungen der Orthodoxie hervorgehoben. Die deutsche Forschung hat hierauf überwiegend mit harscher Kritik reagiert. Gleichwohl wurde die Forschung zu Luther durch dieses Forschungsprojekt inspiriert, und es mag sein, dass die Wiederentdeckung des Themas »Luther und die Mystik«, die sich derzeit abzuzeichnen beginnt, hier auch zu einer weiteren Entspannung beiträgt.
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4. Historisierung Luthers Die nationale und konfessionelle Ausweitung der Lutherforschung wie auch die allgemeine Entwicklung in den Geisteswissenschaften dürfte mit dazu beigetragen haben, dass eine Forschung, die die Autorität Luthers unhinterfragt voraussetzte und ihn ohne Weiteres in die Gegenwart sprechen ließ, auf zunehmende Schwierigkeiten stieß. Dabei sind offene Kritik an Luther – insbesondere die Auseinandersetzung mit seinem vermeintlichen Obrigkeitsglauben und mit seinen späten Judenschriften – und psychologische Dekonstruktion wie sie 1958 der Analytiker Erik Erikson vorlegte, wohl von geringerer Bedeutung als langfristige Forschungstrends, die eine zunehmende Einordnung des Reformators in ein historisches Gesamtumfeld ermöglichten und damit ein modernes Lutherbild ermöglichten, das den Menschen in seiner Epoche plastischer verstehbar macht, ihm aber zugleich auch etwas von seiner Kantigkeit und den möglicherweise zur Auseinandersetzung reizenden Angriffsflächen befreit. Letzteres gilt in diesem Maße noch nicht für die provokanten Arbeiten des Niederländers Heiko Augustinus Oberman, der in theologiehistorischer Hinsicht einen ganz wesentlichen Beitrag zur Kontextualisierung und Historisierung Luthers leistete: Seine großen Studien zur Spätscholastik, insbesondere zu Gabriel Biel, gipfelten in einem Bild von der Wittenberger Reformation, das die Theologie Luthers als unter neuen Bedingungen verstehbare Fortentwicklung bestimmter spätmittelalterlicher Anliegen verstehbar machte. Entscheidend wurde dabei der Verweis auf besondere Traditionen der Augustinereremiten, bei denen nach Obermans Nachweisen eine besondere Zuwendung zur Gnadenlehre Augustins schon seit dem vierzehnten Jahrhundert zu beobachten war. Insbesondere hob Oberman dabei die Rolle Gregors von Rimini hervor, verwies auf die Rede von einer eigenen via Gregorii in den Wittenberger Universitätsstatuten und rekons truierte deren spätscholastische Vorgeschichte, so dass er einen durchgehenden Strang der Kontinuität zu Luther nachzeichnen konnte. Diesem Konzept sind vielfach Einseitigkeiten vorgeworfen worden. Insbesondere wurde die Annahme einer »Augustinschule« ebensowenig akzeptiert wie der Versuch, die Wittenberger Theologie im Horizont einer via Gregorii zu deuten. Gleichwohl hat Oberman in einer so seit dem beginnenden Jahrhundert und den seinerzeitigen Forschungen Reinhold Seebergs nicht mehr erreichten Dichte der Analyse und Materialaufbereitung zum Verständnis der spätscholastischen Hintergründe von Luthers Theologie geboten, die heute noch keineswegs zur Gänze aufgearbeitet ist. Mit diesem dezidiert theologiegeschichtlichen, auch mutig personenbezogenen Programm bewegte Oberman sich allerdings schon zu seiner Zeit – seine erste gewichtige Monographie, The Harvest of Medieval Theology, erschien 1963 – methodisch deutlich jenseits des historiographischen Mainstreams, der zu einer verstärkt sozialgeschichtlichen Betrachtung übergegangen war. Diese Neuorientierung der Forschung war in den fünfziger Jahren durch Forscher wie Werner Conze angestoßen worden und stellte hier, wie die jüngste
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Selbstreflexion der Geschichtswissenschaft offengelegt hat, eine Transformation der methodischen Ansätze der nationalsozialistisch beeinflussten »Volksgeschichte« dar. Für die Reformationsgeschichte aber wurde die sozialhistorische Forschung von einer politisch unbelasteten Generation, angeregt durch Bernd Moeller mit seinem Buch Reichsstadt und Reformation (1962), vorangetrieben. Die Spitze verdankte sich hier, darin der eher theologisch inspirierten Lutherforschung vergleichbar, auch der Ablehnung tradierter und belasteter Rekonstruktionen der Reformation als eines Ereignisses, das sich vornehmlich den deutschen Fürsten verdanke. Als Boden der Reformation wurden nun die Städte, namentlich die Reichsstädte entdeckt. Eine solche Forschung gab, insofern die Beeinflussung des Bürgertums hauptsächlich durch das Buch, präziser: durch die Flugschrift erfolgte, dem leicht vermutbaren Zusammenhang zwischen der mit dem Namen Gutenbergs verbundenen Medienrevolution des Buchdrucks und dem Erfolg der Reformation historische Kontur. Die Folgen für die Lutherforschung waren dabei eher indirekt: In erster Linie wurde deutlich, dass die ungeheure Konzentration kirchenhistorischen Forschens auf die Person Luthers, wie sie sich noch in der Debatte um die reforma torische Wende zeigte, kaum als sachangemessen für den historischen Prozess gelten konnte: Luther wurde, ohne dass seine Bedeutung als Ausgangspunkt der reformatorischen Bewegung in Zweifel gezogen worden wäre, eingereiht in eine Vielzahl von vorwiegend städtischen Reformatoren. Das bedeutete aber auch ganz schlicht, dass mit einer Bestimmtheit der Forschung durch die soziologische Methode, die das Gewicht der Einzelperson zugunsten übergreifender Gruppenprozesse reduzierte, auch das Interesse an der Person Luthers auf einige Jahre hinaus signifikant zurückging. So sehr Luther erkennbarer Gegenstand der Forschung blieb, so sehr wurden doch insbesondere in der historisch orientierten Forschung die eigentlichen Impuls nun in andren Gebieten des Fachs gesetzt: Luther wurde zu einem Randthema reformationshistorischer Forschung, und auch die von der Theologie Karl Barths bestimmte systematisch-theologische Forschung nahm an diesem Rückgang des Interesse an Luther eher teil, als ein Gegengewicht darzustellen. Bezeichnend hierfür ist, dass es seit dem Erscheinen der Theologie Luthers (1962) aus der Feder von Paul Althaus – das Alterswerk eines damals schon über Siebzigjährigen – mehr als drei Jahrzehnte dauerte, bis sich 1995 in Bernhard Lohse wieder ein bedeutender Forscher an eine solche Summe machte: Eine Generation lang strebte niemand an, sich durch diese wohl größte Herausforderung der Lutherforschung zu profilieren. Es scheint, dass es eines äußeren Anlasses bedurfte, um das Interesse an der Erforschung Luthers neu zu entfachen. Jedenfalls ist es auffällig, dass sich drei bedeutende Luther-Biographien – von Martin Brecht (1981/1986/1987), Heiko A. Oberman (1982) und Reinhard Schwarz (1986) – mit ihren Erscheinungs daten um das Luther-Jubiläum von 1983 ranken. Es ist, wie das literarische Genre der Biographie deutlich macht, also ein historisches und biographisches Interesse, das nun leitend für die großen Gesamtdarstellungen wird: Die Einzelpersön-
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lichkeit des Reformators wird wiederentdeckt. Nach der Zurückdrängung der Geschichte aus dem öffentlichen Bewusstsein im Gefolge der Achtundsechzigerrevolution kehrte nun für ein gewichtiges Feld der Kirchengeschichte das Bedürfnis nach Nahrung für das kollektive Gedächtnis zurück – vergleichbar der Wiederentdeckung mittelalterlicher Herrscher für das allgemeinhistorische Bewusstsein kurz zuvor in der Stuttgarter Staufer-Ausstellung von 1977, der zahlreiche Ausstellungen zu mittelalterlichen Dynastien gefolgt sind. Dabei fallen diese biographischen Forschungen weniger durch neue Ergebnisse auf als durch die Zusammenbindung des erreichten Standes: Brecht bietet auf rund 1500 Seiten in drei Bänden eine Fülle von Material über den Reformator, während Oberman mit einem fast essayartigen Büchlein die provokanten Züge seiner historisierenden Rekonstruktion Luthers herausstreicht und Schwarz die Forschungen zur historischen Einordnung Luthers wie zu seiner theologischen Bedeutung in filigraner Analyse und großer Klarheit zu einem Gesamtbild zusammenführt. Alle drei Werke erinnern daran, was die Luther-Forschung der vergangenen Jahrzehnte, soweit sie noch gepflegt worden war, ausgezeichnet hatte: die gründliche historische Arbeit am Detail. Die fernen Folgen der Intervention Alands in der Durchbruchsdebatte wie auch der Iserlohschen These zum Thesenschlag waren deutlich zu greifen in Gestalt der Durchsetzung einer Methode, die so weit wie möglich von systematischen Voraussetzungen absah und der historischen Erfassung des Gewesenen dienen sollte – dies gilt nicht nur für die kirchenhistorische Arbeit, sondern auch für die systematisch-theologische, die im Bereich der Lutherforschung immer stärker theologiehistorische Züge trug und von theologiehistorischer Arbeit im institutionellen Rahmen kirchenhistorischer Lehrstühle nur noch graduell unterscheidbar war. Das Jubiläum von 1983 hatte aber eine weitere markante Besonderheit: Es erinnerte nachhaltig daran, dass die wichtigsten Erinnerungsstätten der Reformation auf dem Boden der damaligen DDR lagen. Und es macht zugleich deutlich, dass sich das Bild der DDR von Luther nun nachhaltig gewandelt hatte: War in der ersten Phase der DDR Luther noch eindimensional als Fürstenknecht dargestellt und ihm der Revolutionär Thomas Müntzer unter Ausblendung von dessen theologischer Verwurzelung entgegengestellt worden, so wurde nun Luther als wichtige Gestalt im Kontext der sogenannten »Frühbürgerlichen Revolution« wiederentdeckt. Das bedeutet auch eine partielle Anerkennung der theologischen Lutherforschung der DDR, die unter schweren Bedingungen gearbeitet hatte und dabei unter anderem eine modernen Ansprüchen genügende Edition der wichtigsten Werke Luthers (StA) hervorgebracht hatte. 5. Neuere Tendenzen Die Lutherforschung zu Beginn des 21. Jahrhunderts steht im Zeichen des Zerfallens der großen Synthesen. Die Hollsche Deutung wird ebenso hinterfragt wie die
IV. Lutherforschung am Beginn des 21. Jahrhunderts
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Ebelings. Freilich ist es noch nicht gelungen, an die Stelle dieser außerordentlich leistungsfähigen Gesamtdeutungen ein neues Paradigma zu setzen. Erkennen lässt sich derzeit nur, an welchen Konfliktlinien entlang die Suche nach neuen integrativen Interpretationsansätzen erfolgen muss: 1. Die neue Aufmerksamkeit der Geschichtswissenschaft auf biographische Fragestellungen ist auch an der Luther-Forschung nicht vorübergegangen. Das bringt es allerdings auch mit sich, dass hier die neuen Konzepte der Erinnerungsund Gedächtnisforschung berücksichtigt werden müssen. Sie haben auf unterschiedliche Weise den rekonstruktiven Charakter von Erinnerungen deutlich gemacht. Da die Erforschung des jungen Luther aber zum großen Teil auf dessen eigenen Erinnerungen beruht, wirft dies die Frage nach dem Maß des kritischen Umgangs mit solchen Erinnerungen oder auch denen seiner Zeitgenossen auf. Plakative Beispiele wie die Diskussion um den »Thesenanschlag« sind dabei freilich eher in der Gefahr, das grundlegende methodische Problem zu überdecken, das sich auch vor allem auf die zentrale Frage nach Art und zeitlicher Verortung der reformatorischen Entwicklung auswirkt (vgl. Bärenfänger/Leppin/Michel 2013). 2. Diese quellenkritische Frage verbindet sich mit der Zuordnung Luthers zu Mittelalter oder Neuzeit. Eine ganz schroffe Abgrenzung vom Mittelalter wird heute in der Forschung nicht mehr ernsthaft vertreten. Gleichwohl stehen sich kontrovers zwei Deutungsmuster gegenüber, deren eines, weitgehend Bernd Moeller folgend, das Mittelalter als bloße »Voraussetzung« der Reformation versteht und diese vornehmlich in den Kontext der Frühen Neuzeit stellt und auf diese zulaufen lässt (vgl. Kaufmann; Schilling). Die andere Deutungsrichtung setzt eher den Ansatz von Oberman fort und fragt nach Luther als einem Theologen innerhalb der spätmittelalterlichen Debatten (vgl. Hamm), dessen eigene genuine Theologie sich mehr als Transformation des Vorgegebenen verstehen lässt denn als Bruch mit ihm (vgl. Leppin). Gegenüber Oberman wird dabei nach Anknüpfungspunkten weniger in der scholastischen Universitätswissenschaft als in der Frömmigkeitstheologie und Mystik gesucht. 3. Beiden Deutungsansätzen gemeinsam ist die konsequente Historisierung und Kontextualisierung Martin Luthers. Damit stellt sich aber die Frage nach einer theologischen Deutung oder gar Adaption seines Werkes umso schärfer. In der wissenschaftlichen Debatte zeichnen sich sehr unterschiedliche Zugänge zwischen einer stärker biographisch orientierten Forschung und einer auf systematisch-theologische Fragestellungen ausgerichteten ab (vgl. Korsch/Leppin 2010). Insbesondere der stark theologisch ausgerichtete Text Rechtfertigung und Freiheit der EKD hat höchst kontroverse Debatten um die Frage ausgelöst, wie legitim eine theologisch ausgerichtete Deutung Luthers und der Reformation insgesamt ist. Will man im Umgang mit Luther die Alternative zwischen ahistorischer Theologisierung auf der einen Seite und einem Rückfall in einen seine eigenen Grundlagen unzureichend reflektierenden Historismus auf der anderen Seite vermeiden, wird die künftige Lutherforschung sich der Aufgabe stellen müssen,
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eine Hermeneutik zu entwickeln, die es erlaubt, einen Weg von der historisch eingeordneten Theologie Luthers zu gegenwärtigen Problemlagen und -debatten methodisch kontrolliert zu beschreiten. 4. Im Blick auf die materiale Theologie ist die gewichtigste Debatte der Gegenwart wohl die um den Gabecharakter der Theologie Luthers (dokumentiert in Holm 2009). Kernpunkt des Streites ist dabei, ob die Erfassung des Handelns Gottes unter der Kategorie der Gabe pure Passivität auf Seiten des Menschen erfordert (vgl. Stoellger) oder ob sie den reziproken Vorgang einer Gegengabe impliziert (vgl. Holm). Letzteres würde die klassische Deutung der Rechtfertigung als eines ganz und allein von Gott geleiteten Geschehens grundsätzlich in Frage stellen und damit endgültig das Hollsche Paradigma außer Kraft setzen. 5. Dieses wird noch grundlegender aus ganz anderer Perspektive hinterfragt: Im Zuge der Globalisierung entstehen ganz neue Rezeptionskontexte für die Theologie Martin Luthers. Zu den vorwiegend systematisch-theologisch zu führenden Debatten wird die Frage gehören, welche Folgen dies für die Anwendbarkeit der Theologie Luthers bringen wird. Möglicherweise lässt sich diese Herausforderung nicht anders als durch fortdauernden Diskurs lösen (s. etwa Helmer 2009). Unter Umständen wird eine starke Berücksichtigung der Kontexte für das Lutherverständnis systematische und historische Deutungen sogar noch weiter auseinanderrücken lassen, als es jetzt ohnehin schon der Fall ist. Assel, Heinrich: Der andere Aufbruch. Die Lutherrenaisance – Ursprünge, Aporien und Wege: Karl Holl, Emanuel Hirsch, Rudolf Hermann (1910–1935) (FSÖTh 72), 1994. Leppin, Volker: Luther-Literatur seit 1983 (I-III) (ThR 65, 2000, 350–377. 431–454; ThR 68, 2003, 313–340). Ders.: Der Verlust des Menschen Luther: Zu Ebelings Lutherdeutung (Journal for Early modern Christianity 1, 2014, 29–50). Mühlen, Karl-Heinz zur: Die Erforschung des »jungen Luther« seit 1876 (LuJ 50, 1983, 48– 125). Ders.: Art. Luther, Martin III. Wirkung (RGG4 5, 2002, 588–600). Saarinen, Risto: Art. Lutherdeutung/Lutherforschung, (in: Leppin, Volker/Schneider-Ludorff, Gury [Hg.]: Das Luther-Lexikon, 2014, 415–419). Schorn-Schütte, Luise (Hg.): 125 Jahre Verein für Reformationsgeschichte, 2008. Vinke, Rainer: Lutherforschung im 20. Jahrhundert. Rückblick – Bilanz – Ausblick, 2004. Volker Leppin
V. Lutherforschung in Skandinavien Obwohl die nordischen Länder Europas seit der Reformationszeit vom evangelisch-lutherischen Glauben tief geprägt sind, kann von einer Lutherforschung im akademischen Sinne erst nach dem Erscheinen der Weimarer Ausgabe gesprochen werden. Für die schwedische und finnische Lutherforschung wegweisend war die systematisch-theologische Methode, die an der Universität Lund von An-
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ders Nygren und Gustaf Aulén formuliert und praktiziert wurde. Nygren hat in den 1920er Jahren einen neukantianischen Zugang entwickelt, der die Beschreibung der faktischen Ideengeschichte als die wissenschaftliche Aufgabe der Theologie versteht. Auf diese Art konnte Nygren die Rolle der Theologie in der positivistisch und empiristisch eingestellten schwedischen akademischen Umgebung verteidigen. Zugleich hat die Universitätstheologie ihr konfessionelles Profil verloren und ist zu einer weitgehend historischen Disziplin geworden. Nygrens Programm einer Historisierung der Dogmatik ist als sogenannte »Motivforschung« international bekannt geworden. Wenn die christliche Ideengeschichte unparteiisch beschrieben wird, beinhaltet sie nach Nygren verschiedene Grundmotive, die jeweils eine theologische Strömung gestalten. In seinem bekanntesten Werk Eros och Agape (1930–1936) untersucht Nygren die Geschichte des christlichen Liebesgedankens. Dabei kommt er zu dem Schluss, man könne zwischen drei geschichtlichen Grundmotiven unterscheiden: dem jüdischen Nomos, der christlichen Agape und den platonischen Eros. In Martin Luthers Theologie erscheine das Agape-Motiv am reinsten, während viele andere Perioden des Christentums durch eine Mischung von verschiedenen Grundmotiven gekennzeichnet seien. Auf diese Art erbringt die scheinbar objektive historische Methode ein Ergebnis, das manche Leser als normativ betrachten. Sie dient als historisch nachgewiesene Norm für das Streben nach echter christlicher Liebe, weil Luthers Theologie den Idealtypus der christlichen Agape bildet. Bei Nygren gestaltet sich das Liebesverständnis Luthers als eine rein schenkende und als von oben nach unten kommende Größe, die nicht ihren eigenen Vorteil sucht, sondern das Gute in ihrem Gegenstand erzeugt. Luthers theozentrisches Bild von der Nächstenliebe als Agape ist von allem Begehren befreit und spiegelt seine grundlegende Einsicht von der Rechtfertigung allein aus Glauben wider. Augustin und der Katholizismus vertreten dagegen eine sogenannte Caritas-Synthese, eine Mischung von christlicher Agape und platonischem Eros. Nygrens Eros och Agape ist das einflussreichste Werk der skandinavischen Theologie überhaupt. Es hat eine breite Diskussion um die Theologie der Liebe ausgelöst, die bis heute von Nygren abhängig geblieben ist. Die späteren Forscher sind zwar weitgehend darin einig, dass die Motivforschung in Wirklichkeit höchst normative Ergebnisse hervorbringt und historisch einseitig ist. Nygren ist auch von deutschen philosophischen Modellen – nicht zuletzt Nietzsche – abhängig. Seine Betonung von Luthers Theologie ist allerdings original und hat den Reformator als Theologe nicht nur des Glaubens, sondern auch der Liebe gezeichnet. Die bleibende Leistung von Nygren liegt in seiner robusten Kategorisierung der verschiedenen Begriffe der Liebe. Es hat sich für die spätere Forschung fast als unmöglich erwiesen, sich von diesen Kategorien zu befreien. Neben Nygren hat Gustaf Aulén die lundensische Theologie und die Motivforschung gestaltet. Sein Christus victor (1930/31) hat die theologische Diskussion um die Versöhnungslehre bis heute stark geprägt. Aulén unterscheidet zwischen
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dem altkirchlichen »Kampf- und Siegesmotiv« einerseits und der Satisfaktionslehre des Anselm von Canterbury andererseits. Das erstgenannte Motiv findet er bei Irenäus und Luther. Als »klassischer Versöhnungsgedanke« repräsentiert dieser altkirchliche Typus das echte christliche Motiv der Versöhnung. Dagegen sei Anselms »lateinischer Typus« der Versöhnung legalistisch und dazu geneigt, das christliche Gottesbild mit juridischen Vorstellungen zu verwirren. Auch bei Aulén ist es relativ einfach, festzustellen, dass Luthers Theologie in dieser Interpretation zu einer tatsächlichen Norm des christlichen Versöhnungsgedankens wird. Aulén ist von deutscher evangelischer Theologie des späten 19. Jahrhunderts (z. B. Ritschl) abhängig, aber seine Lutherinterpretation ist originell, vor allem weil er Luther so stark in die Nähe der Kirchenväter und der ostkirchlichen Tradition bringt. Die bleibende Bedeutung der Lutherdeutung Auléns und Nygrens liegt nicht in der historisierenden Methode, sondern in der Fähigkeit dieser Theologen, treffende idealtypische Charakterisierungen des Liebesgedankens bzw. der Versöhnungslehre zu formulieren. Auch nachdem die spätere Forschung die lundensische Methode falsifiziert sowie die vorhandene Textevidenz weitgehend anders gedeutet hat, ist sie häufig bei der von Nygren und Aulén formulierten Begrifflichkeit hängen geblieben. Aulén und Nygren waren auch einflussreiche Kirchenleiter und ökumenische Pioniere, die das Weltluthertum tief beeinflusst haben. Ihre Schüler haben sowohl in Schweden als auch in Finnland und zum Teil in den USA ihre Einsichten ausgebreitet. Unter den schwedischen Schülern waren Ragnar Bring und Gustaf Wingren besonders einflussreich. Als Professor in Lund von 1934 bis 1962 hat Bring die schwedische Lutherforschung vielseitig geprägt. Gustaf Wingrens Studie Luthers Lehre vom Beruf (1942/51) folgt noch Nygrens Einsichten. Nach dem Zweiten Weltkrieg setzt sich Wingren allerdings mit Nygren, Bring und Aulén kritisch auseinander. Im Anschluss an Karl Barth hält er eine nicht-historisierende systematische Theologie für notwendig. Anders als Barth betont er zugleich die Rolle des ersten Glaubensartikels bzw. die Theologie der Schöpfung. Martin Luther ist für ihn das theologische Vorbild, das die Schöpfungstheologie entschieden zum Vorschein bringt. In verschiedenen Werken, z. B. Schöpfung und Gesetz (1958/60), sowie in seinen Artikeln über die schwedische Theologie in der Theologischen Realenzyklopädie expliziert er seine Differenzen zu Nygren. Während Nygrens historisierende Methode in der kirchlich engagierten Theologie zu einem einseitigen Christozentrismus führe, könne man nach Wingren diesen Fehler durch eine Konzentration auf Luthers Lehre von Schöpfung und Gesetz korrigieren. Die hier behandelten Schweden waren keine Lutherspezialisten im engeren Sinne, sondern theologische Generalisten, bei denen Luther als die maßgebende reformatorische Figur eine zentrale Rolle einnimmt. Nach der Blütezeit der lundensischen Theologie ist die historisch-theologische Lutherforschung in Schweden vor allem von Bengt Hägglund fruchtbar weitergebracht worden. In der Germanistik hat Birgit Stolt maßgebliche Arbeiten zur Sprache und Rhetorik Luthers
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geschrieben. Heutzutage ist eine gewisse Wiederbelebung des lutherischen Bewusstseins in der schwedischen Theologie zu bemerken. Das Forschungsinstitut der Kirche von Schweden hat die Sammelbände Justification in a Post-Christian Society und Lutheran Identity and Political Theology (beide 2014) veröffentlicht, die auch Luthers Theologie auf neue Weisen interpretieren. In der theologischen Landschaft Dänemarks ist die lutherische Theologie der Schöpfung schon seit den Schriften von N. F. S. Grundtvig und K. E. Lögstrup ein wichtiger Bestandteil des reformatorischen Selbstverständnisses. Diese Tradition prägt die Lutherforschung von Regin Prenter. Seine Lutherstudie Spiritus creator (1944/54) legt die Pneumatologie im Rahmen eines »Offenbarungsrealismus« dar, der die trinitarische Gegenwart Gottes in der Welt betont. Prenters Schöpfung und Erlösung (1951–1953/58) galt für lange Zeit als Standarddogmatik des nordeuropäischen Luthertums. Prenters Studien sind durch die lundensische Theologie beeinflusst, aber auch von der anglikanischen Kirche sowie Karl Barth. Im Unterschied zu Nygren sind sie nicht von methodologischen Fragestellungen, sondern von den Inhalten der systematischen Theologie geleitet. Als theologisch engagierter Kirchengeschichtler und international anerkannter Lutherspezialist der Kopenhagener Theologischen Fakultät ist Leif Grane von besonderer Bedeutung. Er hat Luthers Werdegang und sein Verhältnis zum Augustinismus in vielen Studien behandelt (Contra Gabrielem, 1962, Modus loquendi theologicus, 1975). Granes Kommentar zur Confessio Augustana (11958) ist in viele europäische Sprachen übersetzt worden. Sein Spätwerk Martinus noster (1994) erläutert die theologische und historische Rolle Luthers unter seinen Freunden und Kollegen. Wie kaum ein anderer skandinavischer Theologe hat Grane jahrzehntelang an dem engen Kreis der meist renommierten internationalen Lutherforscher aktiv teilgenommen. Sein Einfluss als Erzieher der nächsten Generation der Reformationsforscher ist nicht nur in Dänemark, sondern auch in Norwegen und Finnland beträchtlich gewesen. Nach Grane ist die Lutherforschung in Kopenhagen durch Steffen Kjeldgaard-Pedersen und Anna Vind aktiv vertreten. In Aarhus hat vor allem Bo Kristian Holms Gabe und Geben bei Luther (2006) internationale Beachtung gefunden, weil Holm auch kulturanthropologische Kategorien in seiner Lutherdeutung verwendet. Insgesamt ist die dänische Lutherforschung aber relativ theorieunabhängig und kirchengeschichtlich geblieben. Darin unterscheidet sie sich von der älteren schwedischen und jüngeren finnischen Forschung, die vor allem von den systematischen Theologen getrieben worden ist. In Norwegen ist das theologische Klima einerseits durch die pietistischen Traditionen beeinflusst, die zum Teil im nordamerikanischen Luthertum eine Rezeption gefunden haben. Andererseits sind dänische und schwedische volkskirchliche Strömungen auch in Norwegen bedeutend. Ole Modalslis Das Gericht nach den Werken (1963) untersucht das Verhältnis von reformatorischer Rechtfertigungslehre zur Lehre vom Endgericht. Tarald Rasmussens Inimici ecclesiae (1989) erläutert die ekklesiologischen Feindbilder in Luthers Frühtheologie. Ras-
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mussen hat auch norwegische Lutherausgaben herausgegeben und in den internationalen Gremien der Lutherforschung lange Zeit aktiv mitgewirkt. In der systematischen Theologie haben Inge Lönning und Per Lönning in vielen Studien Luthers Denken als Teil ihrer breiteren Interessen auf originelle Weisen fruchtbar gemacht. In der letzten Zeit haben Knut Alfsvåg und Joar Haga Luthers Theologie mit fundamentaltheologischen und philosophiegeschichtlichen Themen in Verbindung gebracht. Alfsvågs What No Mind Has Conceived (2010) interpretiert Luther in der Tradition der negativen Theologie des Nikolaus von Kues. Hagas Was There a Lutheran Metaphysics? (2012) untersucht Luthers Lehre von der Idiomenkommunikation und deren Rezeption im frühen Luthertum. In der älteren finnischen Lutherforschung ist der Einfluss von lundensischer Theologie sichtbar. Zugleich ist eine Differenzierung und Historisierung zu bemerken. Osmo Tiililäs Das Strafleiden Christi (1942) zeigt, wie Luthers Versöhnungslehre vielseitiger als die Klassifikation Auléns ist. Lauri Haikolas Usus legis (1958) folgt deutscher Forschung in der Diskussion um den sogenannten dritten Gebrauch des Gesetzes bei Luther. Aarne Siiralas Gottes Gebot bei Martin Luther (1956) folgt ebenfalls deutschen Vorbildern, indem es den Vorrang des Glaubens und des ersten Gebotes betont. Lennart Pinomaas Der existenzielle Charakter der Theologie Luthers (1941) gehört zu den ersten nordischen Lutherstudien, die eine breite internationale Rezeption gefunden haben. Pinomaa untersucht Luthers Betonung der ersten Person weitgehend historisch, macht aber auch systematische Vergleiche mit dem Denken Kierkegaards. Nach Pinomaa bilde Luthers »Theologie des angefochtenen Gewissens« eine subjektive Voraussetzung seines gesamten Denkens. Pinomaa war der Veranstalter des 3. Internationalen Lutherforschungskongresses in Finnland 1966. Sein Lehrbuch der Theologie Luthers, Sieg des Glaubens (1964), ist in viele Sprachen übersetzt worden. Seit den 1980er Jahren ist das umfassende Programm von Tuomo Mannermaa, die sogenannte neue finnische Lutherforschung, in Finnland maßgebend gewesen. Mannermaa hat von 1980 bis 2000 als Professor für Ökumenische Theologie in Helsinki gewirkt. Er hat als junger Theologe Arbeiten zu Karl Rahner und zur innerprotestantischen Ökumene verfasst, ist aber durch sein Buch Der im Glauben gegenwärtige Christus (1989) international bekannt geworden. In dieser Studie entwirft er die sogenannte real-ontische Interpretation der Theologie Luthers, die die altkirchlichen und ontologischen Züge des reformatorischen Denkens betont und sich kritisch zu vielen deutschen Lutherinterpretationen verhält. Mannermaa hat lange Zeit mit dem katholischen Lutherforscher Peter Manns zusammengearbeitet und sich für die katholisch-lutherische Ökumene engagiert. Nach 1989 hat er nur richtungweisende Aufsätze in internationalen Sprachen veröffentlicht (in Sammelbänden Thesaurus Lutheri, 1987, Luther und Theosis, 1991, Luther und Ontologie, 1993 und Union with Christ, 1998). Sein Ansatz ist vor allem durch seine vielen Schüler fruchtbar geworden, die in verschiedenen
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monographischen Darstellungen eine kohärente Gesamtinterpretation der Theologie Luthers entworfen haben. Auf diese Weise hat eine typische theologische Schulbildung stattgefunden, die näher betrachtet auch unterschiedliche methodologische Zugänge bietet. Auf der einen Seite haben die Schüler Mannermaas eine Reihe von spezialisierten Textinterpretationen veröffentlicht, die vernachlässigte Themen der Theologie Luthers sorgfältig aufarbeiten. Unter diesen Studien hat insbesondere Simo Peuras Mehr als ein Mensch? (1994) ausführliche Diskussion neu hervorgebracht. In Peuras Buch wird die Textevidenz für das Vorhandensein einer Lehre von der Vergöttlichung (Theosis) bei Luther dargestellt. Die Mannermaa-Schule ist in der internationalen Diskussion vor allem wegen dieser kontroversen Theosis-Lehre bekannt geworden. Peuras Arbeit konzentriert sich nicht exklusiv auf den Theosis-Begriff, sondern beachtet verschiedene Ausdrücke einer Teilhabe an Gott sowie einer Gegenwart Christi bzw. Gottes im Glauben. Antti Raunios Summe des christlichen Lebens (2001) bietet eine ausführliche Dokumentation von Luthers Gebrauch der Goldenen Regel der Nächstenliebe. Raunio erweist im Weiteren, wie diese Regel auch eine gewisse soteriologische Bedeutung im Rahmen des Austausches zwischen Christus und dem Glaubenden hat. Sammeli Juntunens Der Begriff des Nichts bei Luther (1996) und Pekka Kärkkäinens Luthers trinitarische Theologie des Heiligen Geistes (2007) verbinden Mannermaas Ansatz mit Demutstheologie und Pneumatologie. Simo Heininen und Kaarlo Arffman haben die kirchengeschichtlichen Dimensionen der lutherischen Reformation selbstständig durchgearbeitet. Auf der anderen Seite haben einige Schülers Mannermaas sich eher als theologische Generalisten erwiesen, die Luthers Theologie im Rahmen einer breiteren dogmatischen und ökumenischen Entfaltung verstehen. Während Eero Huovinens Fides infantium (1997) noch eine historische Textinterpretation ist, sind seine späteren Lutherarbeiten als Bischof, Ökumeniker und Präsident des 12. Lutherforschungskongresses in Helsinki 2012 stets von systematischen Gegenwartsinteressen geleitet (vor allem im Sammelband Baptism, the Church and Ecumenism, 2011). Die in den USA lehrenden finnischen Schüler Mannermaas, Kirsi Stjerna und Veli-Matti Kärkkäinen, haben ebenfalls ein breites Spektrum von kirchengeschichtlichen und systematisch-theologischen Arbeiten dargelegt, in denen Luthers Theologie eine richtungsweisende Rolle einnimmt. Risto Saarinen hat nach einer forschungsgeschichtlichen Dissertation (Gottes Wirken auf uns, 1989) eine Reihe von Lutheraufsätzen und theologiegeschichtlichen Studien publiziert, in denen die Theologie der Gabe und das Verhältnis Luthers zu Spätmittelalter und Humanismus in Erscheinung treten. Sein Weakness of Will in Renaissance and Reformation Thought (2011) betrachtet Luther im Rahmen der philosophiegeschichtlichen Diskussion um die Willensschwäche. Olli-Pekka Vainios Justification and Participation in Christ (2008) untersucht die Rezeptionsgeschichte von Luthers Lehre von der Gegenwart Christi im Glauben im Zeitalter der Reformation. Der von Vainio herausgegebene Sammelband En-
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gaging Luther (2010) bietet eine systematische Entfaltung der neuen finnischen Lutherinterpretation. Indem Vainio und Saarinen als theologische Generalisten Luthers Denken im Hinblick auf die breitere Ideengeschichte untersuchen, hat ihr Zugang gewisse strukturelle Ähnlichkeiten mit dem lundensischen Ansatz von Nygren und Aulén. Inhaltlich gestaltet sich die heutige finnische Lutherforschung anders als die lundensische Theologie. Nichtsdestoweniger kann der methodologische Umstand, dass Luthers Denken im Rahmen der systematischen Theologie und mit einem tiefen ideengeschichtlichen Bewusstsein ausgelegt wird, als die lange kontinuierliche Linie der skandinavischen Lutherforschung bezeichnet werden. Aurelius, Carl Axel: Luther i Sverige: den svenska Lutherbilden under fyra sekler, 22015. Forsberg, Juhani: Die finnische Lutherforschung seit 1979 (LuJ 72, 2005, 147–182). Gregersen, Niels u. a.: Art. Skandinavien. Theologie (RGG4 7, 2004, 1366–1377). Holm, Bo Kristian: Nordic Luther Research in Motion (Dialog 47, 2008, 93–104). Saarinen, Risto: Justification by Faith: The View of the Mannermaa School (in: Kolb, Robert u. a. [Hg.]: The Oxford Handbook of Martin Luther’s Theology, 2014, 254–263). Risto Saarinen
VI. Lutherforschung in Nordamerika Martin Luther kam im 17. Jahrhundert in den Gedanken deutscher, niederländischer und schwedischer Laien, die sich seinen Kleinen Katechismus ins Gedächtnis eingeprägt hatten, und durch die Bibliotheken mancher Pfarrer, die ererbte Bände von Luthers Schriften mit sich brachten, nach Nordamerika. Der schwedische Pfarrer der Kolonie New Sweden, Johann Campanius, übersetzte in den 1640er Jahren den Kleinen Katechismus in die Sprache der Lenape (Delaware). Dies war der erste Versuch, Luther zu den Einheimischen zu bringen. Als im späten 19. Jahrhundert die Zahlen der nach Nordamerika immigrierenden Lutheraner anstiegen, wuchs die Nachfrage nach Luthers Werken. 1880 initiierte Carl Friedrich Wilhelm Walther in Saint Louis eine Überarbeitung der Ausgabe Johann Georg Walchs, herausgegeben von Georg Stöckhardt, ehemaligem Studenten der Universitäten Leipzig und Erlangen, und in erster Linie von Albert Friedrich Hoppe, einem Schützling Theodor Kliefoths, der in Rostock studiert hatte. Hoppe verfeinerte Walchs Übersetzung und fügte die Ergebnisse seiner eigenen Forschung der Ausgabe »Saint Louis« oder »Walch 2« hinzu. Zunehmend konnten Pfarrer in Nordamerika nicht mehr Deutsch lesen. Dozenten am »Lutheran Theological Seminary« (Lutherisch-Theologisches Seminar) in Philadelphia brachten, unter der Leitung von Henry Eyster Jacobs, den sechsbändigen Holman bzw. die Philadelphia-Ausgabe heraus (1915–1932). John Nicholas Lenker (1858–1929), ein Pfarrer in Minnepolis, der nach seinem Stu dium an der »Hamma Divinity School« (Ohio) in Leipzig studiert hatte, versam-
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melte ein Übersetzerteam, das von 1903 bis 1910 zwölf Bände von »The Precious and Sacred Writings of Martin Luther« veröffentlichte. Die Verlage Concordia Publishing House (Saint Louis) und Muhlenberg/Fortress Press (Philadelphia) beauftragten Jaroslav Pelikan, Hilton C. Oswald und Helmut Lehmann, eine 55-bändige Übersetzung der kritischen exegetischen und anderer Werke Luthers herauszugeben (1955–1986); Concordia initiierte eine weitere Reihe mit 20 geplanten Bänden, deren erster im Jahr 2009 erschien. Fortress Press begann 2015 ein Projekt, das als »Leseredition« in sechs Bänden annotierter Schriften mit Illustrationen den Studierenden Zugang zu Luthers wichtigsten Werken anbietet. Abseits von Hoppes Arbeit begann die ernsthafte Lutherforschung Nordamerikas im 20. Jahrhundert, wenngleich schon früher oberflächliche Diskussionen zu Luther als einem Vorboten der Aufklärung sowie Philip Schaffs (1819–1893) und John Williamson Nevins (1803–1886) seriöseres Engagement für die Reforma tion interessierte Leser über den Reformator unterrichtet hatten (vgl. Spitz, 1983, 161–164). Arbeiten deutscher Wissenschaftler, Julius Köstlin eingeschlossen, wurden ins Englische übersetzt (The Theology of Luther, übs. v. Charles E. Hay, 1897). Bis ins späte 20. Jahrhundert übten die Übersetzungen der Biographien von Hartmann Grisar (Luther, 1913/1917) und Heinrich Denfile (Luther and Lutherdom 1917) verbreiteten Einfluss in der nordamerikanischen römisch-katholischen Wahrnehmung Luthers aus. Die nordamerikanische Lutherforschung erhielt vitale Impulse durch Professor Preserved Smith (1880–1941) von der Cornell University, der in der »New History School« von James Harvey Robinson ausgebildet worden war. Smith nahm das soziale Milieu, in dem Luther arbeitete, ernst und fand in der Reformation Wurzeln des amerikanischen Friedens- und Gleichberechtigungskonzepts. Seine Doktorarbeit behandelte die Tischreden (The Life and Letters of Martin Luther, 1911; Luther’s Table Talks. A Critical Study, 1907). Nach dem zweiten Weltkrieg blühte die Lutherforschungen in Nordamerika mit einem »Wildwuchs« biographischer und theologischer Fragestellungen in einer großen Vielfältigkeit an Perspektiven auf. LeserInnen sollten die früheren Überblicke Lowell C. Greens, Scott Hendrix’ und Lewis W. Spitz’ für ein besseres Gesamtbild konsultieren. Ernes Schwiebert (1895–2000), ein Schüler von Smith und später Professor an der Valporaiso Universität und der Wittenberg University (Ohio), publizierte 1950 eine Lutherbiographie (Luther and His Times. The Reformation from a New Perspective), die seine Reformation in der Universität verankerte. Schwieberts Fokus auf die Leucorea gilt immer noch als ein signifikanter Beitrag. Seine Arbeit war durch den populären Gebrauch des sehr gut geschriebenen Berichts über Luthers Leben von Roland Bainton (1894–1984) (Here I Stand. A Life of Martin Luther), Professor an der Yale Divinity School, überschattet. Er bleibt die am weitestgehend genutzte Unterrichtsbiographie trotz des Erscheinens etlicher anderer in den nachfolgenden Jahren, eingeschlossen der Arbeiten von: Baintons Schüler Eric Gritsch (1931–2012), der Luthers Leben in Bezug auf die Torheit der Botschaft des Kreuzes skizzierte (Martin – God’s Court Jester. Luther in retrospect,
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1991); dem Germanisten Harry G. Haile, der psychologische Kategorien nutzte, um Luther in seinen späteren Jahren zu deuten (Luther, an Experiment in Biography, 1980); Heiko A. Oberman (1930–2001), dessen Deutung zu Luthers eschatologischer Wahrnehmung des Konflikts mit dem Satan aus dem Deutschen übersetzt wurde und die detaillierteste theologische Analyse in biographischer Form liefert (Luther: Man between God and the Devil, übs. v. Eileen Walliser–Schwarzbart, 1989); David Steinmetz mit seinen auf Luthers Karriere und Lehre fokussierten Studien (Luther in Context, 1986); und James M. Kittelson (1941–2003) (Luther the Reformer, 1986). Kittelson war an der Ohio State Universität Nachfolger Harold J. Grimms (1901–1983), dessen publizierte Arbeiten zur Reformation (The Reformation Era, 1954) und Doktorandenseminare einen weiten Einfluss auf das nordamerikanische Verständnis der deutschen Reformation ausübten, insbesondere in deren sozialem Kontext und seiner Auswirkung. Scott Hendrix’ Lutherbiographie bringt die jüngste Forschung zu Luthers Karriere und Lehre in einer erfolgreichen Darstellung und Interpretation seines Lebens zusammen (Martin Luther: Visionary Reformer, 2015). Unter den misslungenen Versuchen der biographischen Analyse Luthers sind die des Freudianers Erik Erikson (1902–1994), der einen »jungen Mann Luther« erfand, um seine eigenen psychologischen Theorien anwenden zu können, kulturelle Differenzen und historische Berichte ignorierend (Young Man Luther, 1962) – und die von Richard Marius (1933–1999), der darin seinen Zorn auf Luthers Misserfolg ausließ, um mit US–amerikanischen Werten in sein eigenes 20. Jahrhundert zu passen und der in seinen zwei Studien zu Luthers Leben offen zugab, dass er Quellen selektiv nutzte, um seine Berichte zu verfassen (Luther, 1974; Martin Luther. The Christian between God and Death, 1999). Die Nordamerikaner verließen sich auch auf europäische Gelehrte bzgl. der Übersichten von Luthers Theologie (in Übersetzungen). Solche von Paul Althaus (The Theology of Martin Luther, übs. v. Robert C. Schultz, 1966; The Ethics of Martin Luther, übs. v. Robert C. Schultz, 1972), Bernhard Lohse (Martin Luther’s Theology, übs. v. Roy A. Harrisville, 1999), Hans-Martin Barth (The Theology of Martin Luther: A Critical Assessment, übs. v. Linda A. Maloney, 2013) und Oswald Bayer (Martin Luther’s Theology. A Contemporary Interpretation, übs. v. Thomas H. Trapp, 2008) dienen als Standardwerke. Die erste nordamerikanische Übersicht über Luthers Lehre erschien 2009 von Robert Kolb (Martin Luther. Confessor of the Faith), der zusätzlich zusammen mit Irene Dingel und L’ubomír Batka internationale Bemühungen anstrebte, um Essays zum mittelalterlichen Hintergrund, hermeneutischen Rahmen, lehrmäßigen und ethischen Lehren, zur Verwendung von Gattungen und zu historischen und zeitgenössischen Auswirkungen von Luthers Theologie von 44 Autoren (16 aus Nordamerika) aus 16 Ländern, herauszugeben (The Oxford Handbook of Martin Luther’s Theology, 2014). Nach dem zweiten Weltkrieg erhielt die Lutherforschung in Nordamerika signifikante Impulse durch die Übersetzungen deutscher und nordischer Wissenschaftler, von denen (unter vielen anderen) Heinrich Bornkamm (Luther and The
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Old Testament, übs. v. Eric W. und Ruth C. Gritsch, 1969), Walther von Loewenich (Luhter’s Theology of the Cross, übs. v. Herbert J. A. Bouman, 1976), Regin Prenter (Spiritus Creator, übs. v. John M. Jensen, 1953) und Gustaf Wingren (Luther on Vocation, übs. v. Carl C. Rasmussen, 1957) gute Beispiele sind. Im letzten Vierteljahrhundert fand die Interpretation von Luthers Soteriologie hinsichtlich »Theosis« von Tuomo Mannermaa und seinen finnischen KollegInnen die Unterstützung mancher nordamerikanischer Theologen, wie Carl Braaten und Robert Jensen (Union with Christ: The New Finnish Interpretation of Luther, 1998), und Kritik anderer, wie William Schumacher (Who Do I Say that You Are? Anthropology and the Theology of Theosis in the Finnish School of Tuomo Mannermaa, 2010) und Mark Mattes (Luther on Justification as Forensic and Effective, in: the Oxford Handbook to Martin Luther’s Theology, 264–273; The Role of Justification in Contemporary Theology, 2004). Eingewanderte europäische Wissenschaftler steuerten viel zur nordamerikanischen Nachkriegs–Lutherforschung bei. Der in England geborene methodistische Professor am Garrett Theological Seminary, Chicago, Philip Watson (1909– 1983) analysierte Luthers theologia crucis (Let God be God! An Interpretation of the Theology of Martin Luther, 1947); Uuras Saarnivaara (1908–1998) war unter den ersten, der für eine späte Datierung von Luthers evangelischem Durchbruch argumentierte (Luther Discovers the Gospel. New Light upon Luther’s Way from Medieval Catholicism to Evangelical Faith, 1951). Heiko A. Oberman eröffnete die Thematik der mittelalterlichen Wurzeln für Luthers Denken in seiner Darstellung von Gabriel Biels Theologie (The Harvest of Medieval Theology. Gabriel Biel and Late Medieval Nominalism, 1963). In den 1950er und 1960er Jahren widmeten auch Nordamerikaner Luther ihre Aufmerksamkeit, häufig im Schatten der Assoziation Luthers mit dem dritten Reich, wie in der Arbeit des Journalisten William Shirer (The Rise and Fall of the Third Reich. A History of Nazi Germany, New York 1960). Der Sozialethiker George W. Forell (1919–2011) betonte Luthers Glaubensverständnis in Christus als die Basis der Christen, die ihre göttliche Berufung in Übereinstimmung mit den göttlichen Gesetzen realisieren (Faith Active in Love. An Investigation of the Principles Underlying Luther’s Social Ethics, 1954). Ferdinand Edward Cranz (1914– 1998), ein Mediävist, beurteilte gekonnt Luthers Unterscheidung der zwei Reiche und der »zweierlei Gerechtigkeit«, die zeigen, wie sein Konzept von Gottes Gesetz einen Anspruch geltend gemacht hatte für alle Glieder der Gesellschaft (An Essay on the Development of Luther’s Thought on Justice, Law, and Society, 1959). Lewis W. Spitz (1922–1999) hob Luthers enge Verbindung mit der Bewegung der biblischen Humanisten (The Religious Renaissance of the German Humanists, 1963) und seine Attraktivität in der jüngeren Generation unter ihnen hervor. Die entscheidendste direkte Ablehnung der Vorwürfe Shirers und ähnlicher Autoren findet sich in einer Studie von Uwe Siemon-Netto, einem Schüler des Religionssoziologen Peter L. Berger, welcher sorgfältig die positiven Folgen von Luthers Unterscheidung der beiden Reiche und seinem Berufungsverständnis zur Gesell-
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A. Orientierung
schaftsfürsorge, welches Gott an alle Glieder der Gesellschaft stellt, für deutsche Widerstandskämpfer nachzeichnet (The Fabricated Luther. Refuting Nazi Connections and Other Modern Myths, ²2007). In systematischer Theologie eignete sich Gerhard Forde (1927–2005) Blickwinkel von Hans Joachim Iwand an, mit seinem Schwerpunkt auf der Unterscheidung von Gesetz und Evangelium und der bedingungslosen Erwählung des Volkes Gottes, untrennbar an Christus und die Offenbarung durch das Wort Gottes in der mündlichen, schriftlichen und sakramentalen Form gebunden (On Being a Theologian of the Cross. Reflections on Luther’s Heidelberg Disputation 1518, 1997; Theology is for proclamation, 1990). Um 1970 trat eine neue Generation an Lutherforschern hervor. Nicht nur Obermans Publikationen, sondern auch seine Doktorandenseminare halfen, die nordamerikanische Lutherforschung zu entwickeln. Etliche seiner Studenten der Harvard Divinity School, der Universität Tübingen und der University of Arizona lieferten Beiträge mit dem hauptsächlichen Schwerpunkt auf den frühen Luther und seinen mittelalterlichen Wurzeln in der scholastischen Theologie und Exegese: Kenneth Hagen (1936–2014) über die Auffassung des Bundes in Luthers Vorlesung über die Hebräer (The Theology of Testament in the Young Luther, The Lectures on Hebrews, Leiden 1974), James S. Preus (1933–2001) über seine Hermeneutik des Alten Testaments (From Shadow to Promise: Old Testament Interpretation from Augustine to the Young Luther, 1969), David Steinmetz über seine Beziehung zu Johannes von Staupitz (Misericordia Dei. The Theology of Johannes von Staupitz in its Late Medieval Setting, 1960), Scott Hendrix über seine Ekklesiologie (Ecclesia in via, Ecclesiological Developments in the Medieval Psalms Exegesis and the Dictata super Psalterium [1513–1515] of Martin Luther, 1974). Jeder fuhr fort, Luther oder die Wittenberger Reformation in weiteren Arbeiten zu behandeln, Hendrix zum Beispiel in Studien zu Luthers Betrachtung des Papsttums (Luther and the Papacy. Stages in a Reformation Conflict, 1981) und der Beziehung von Luthers Reformation zu anderen Reformbewegungen (Recultivating the Vineyard. The Reformation Agendas of Christianization, 2004). Unter Spitz’ vielen Doktoranden, die eine weite Bandbreite an Themen im Spektrum der Reformbemühungen in Kirche und Gesellschaft des 16. Jahrhunderts behandelten, Kittelson eingeschlossen, waren Mark U. Edwards Jr. und Marilyn Harran. Edwards brachte aufschlussreiche Studien über Luthers Beziehung zu Anhängern, die seinen Reformweg verließen, über Reformer späterer Jahre (nach 1530) und über die Rolle des Drucks bei der Verbreitung von Luthers Denken hervor. Harran bewertete Luthers Bekehrungslehre und untersuchte zudem Luthers Rolle im Bildungswesen (Luther on Conversion, 1983; Martin Luther: Learning for Life, 1997). Beide wandten sich später von der wissenschaftlichen Forschung ab hin zur Hochschulverwaltung. Harrans Arbeit verstärkte, neben vielen anderen, die ernsthafte Kritik an Gerald Strauss’ Arbeit (Luther’s House of Learning. Indoctrination of the Young in German Reformation, 1978). Seine Archivstudien führten ihn dazu, die Unzu-
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länglichkeiten von Luthers Einstellung zur Schule und seinen Mangel an Erfolg zu betonen. Die anachronistische Art einiger von Strauss’ Annahmen und Gegen beweise aus anderen Archiven schwächten sein Argument und zogen Kritik an. Forells Student Carter Lindberg stellte eine breite Palette an Betrachtungen zu Luthers Denken, speziell zu seinen Lehren über öffentliches Leben in der Gesellschaft, auf (Beyond Charity. Reformation Initiatives for the Poor, 1993). Ian D. K. Siggins lieferte eine systematische Analyse zu Luthers Christologie und Soteriologie, indem er dessen Christuspredigt zusammen mit förmlicheren Lehrwerken untersuchte (Martin Luther’s Doctrine of Christ, 1970). Denis Janz ging von seiner Analyse des Verhältnisses Luthers zu Thomas von Aquin, gleichermaßen bedeutsam für die historische Analyse und den ökumenischen Dialog (Luther an Late Medieval Thomism, 1983; Luther on Thomas Aquinas. The Angelic Doctor in the Thought of the Reformer, 1989), über zu allgemeineren Arbeiten, zumal seinem Handbuch zu Luthers Terminologie, einer Art theologischem Wörterbuch, das Studierenden in ihrem Lesen der Werke des Reformators hilft (The Westminster Handbook to Martin Luther, 2010). In den auf das zweite Vatikanische Konzil folgenden Jahren hielt die Lutherforschung in Nordamerika mit den Entwicklungen der römisch–katholischen Einstellungen, durch Josef Lortz und andere in Europa gepflegt, mit. Harry McSorley, einer der wichtigsten römisch–katholischen Kirchenhistoriker, dessen historische Studien weiter zum ökumenischen Austausch beitrugen, untersuchte Luthers Lehre vom unfreien Willen (Luther Right or Wrong? An Ecumenical– Theological Study of Luther’s Major Work. The Bondage of the Will, 1969). Am wichtigsten unter den nordamerikanischen römisch–katholischen Lutherinterpreten ist Jared Wicks, S.J., ein Schüler Erwin Iserlohs, der im nordamerikanischen und internationalen römisch–katholisch–lutherischen Dialog eine wichtige Rolle spielte und diese Gespräche förderte (Catholic Scholars Dialogue with Luther, 1970; Luther’s Reform. Studies on Conversion and Church, 1992; Man Yearnng for Grace. Luther’s Early Spiritual Teaching, 1968). Traurigerweise, zum Nachteil beider Seiten, hat sich die römisch–katholische Lutherforschung nicht in den folgenden Generationen fortgesetzt. Dennis Bielfeldt, ein Schüler Forells (The Substance of Faith: Luther’s Doctrinal Theology for Today, 2008), und Paul R. Hinlicky (Luther and the Beloved Com munity. A Path for Christian Theology after Christendom, 2010; Paths Not Taken: Fates of Theology from Luther to Leibniz, 2009) haben die Verbindungen, die zu den modernen philosophischen Systemen in ihren Arbeiten gezogen werden können, um die Erkenntnis des Reformators mit diesen Systemen in einen Dialog zu bringen, akzentuiert. Dieser Überblick ist unvollständig, repräsentiert aber in groben Zügen das vielschichtige Profil der nordamerikanischen Lutherforschung. In den letzten 75 Jahren dominierte keine bestimmte Schule oder Perspektive die nordamerikanischen Lutherforscher. Ihre Studien standen im Kontakt zu europäischen Lutherforschern, sowohl um sich verschiedene Aspekte der weltweiten Diskussion über
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das Leben und Denken des Wittenberger Reformators anzueignen als auch um sie zu kritisieren. Green, Lowell C.: Luther Research in English–Speaking Countries since 1971 (LuJ 44, 1977, 105–126). Hendrix, Scott: Martin Luther und die »Confessio Augustana« in der englischsprachigen Forschung seit 1977 (LuJ 50, 1983, 166–180). Ders.: Martin Luther und die lutherischen Bekenntnisschriften in der englischsprachigen Forschung seit 1983 (LuJ 68, 2001, 115–136). Lehmann, Hartmut: Die Entdeckung Luthers im Amerika des frühen 19. Jahrhunderts (in: Moeller, Bernd [Hg.]: Luther in der Neuzeit, 1983, 151–159). Spitz, Lewis W.: Luther in America. Reformation History Since Philip Schaff (in: Moeller, Bernd [Hg.]: Luther in der Neuzeit, 1983, 160–177). Robert Kolb (aus dem Amerikanischen übersetzt von Sophie Christiane Bienhaus)
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I. Traditionen 1. Religiosität ›Religiosität‹ wird im Folgenden weit gefasst, innere Einstellungen und äußere Verhaltensweisen sollen auf knappem Raum gleichermaßen skizziert werden. Alle Aussagen in dieser Skizze beziehen sich auf das Heilige Römische Reich deutscher Nation und die Niederlande. Das herauszustellen ist deswegen wichtig, weil, um nur zwei Beispiele zu nennen, italienische Kleriker, die im frühen 16. Jahrhundert Deutschland besuchten, behaupteten, hier sei die Bevölkerung frömmer als in ihrem Heimatland, und weil der moderne Forscher E. Duffy über England im 16. Jahrhundert urteilt, die Religiosität sei im Volk tief verwurzelt, aber gegen den Zugriff König Heinrichs VIII. wehrlos gewesen. Die jüdische Minderheit, die vereinzelten Freidenker und die Aussagen christlicher Autoren über Moslems bleiben hier außer Betracht. Zunächst werden einige wichtige Wege der Forschung dargestellt, dann heute vertretene Positionen. 1.1. Entwicklungen der Forschung der letzten fünfzig Jahre
Im Laufe dieser Jahrzehnte haben sich die Beziehungen zwischen der römisch-katholischen Kirche und den Kirchen, die aus der Reformation des 16. Jahrhunderts hervorgegangen sind, in Nordeuropa und Nordamerika deutlich verbessert. Da raus folgte unter anderem, dass Themen, die zuvor durch konfessionelle Empfindlichkeiten beladen gewesen waren, zunehmend sachlicher behandelt werden konnten, so auch die Bewertung der Religiosität zu Luthers Zeit: Sie als durch und durch von Missständen deformiert abzuwerten, um gerade dadurch die maßgeblich von Luther geprägte, vom Kurfürstentum Sachsen (k B. III. 11.) ausgehende Reformation (künftig: lutherische Reformation) als rein zeitbedingt zu relativieren und als theologisch nicht auf Dauer herausfordernd abzuwerten, war nun für römisch-katholische Forscher nicht länger erforderlich. Die ökumenisch offener Eingestellten unter ihnen sahen die lutherische Reformation nicht länger als einen verfehlten Reformversuch, geschweige denn als verhängnisvolle Glaubensspaltung. Versuche, Luthers Protest gegen die Religiosität seiner Zeit auf übertriebene Skrupulosität oder auf Subjektivität zurückzuführen, verloren an Plausibilität (man vergleiche etwa die ausgewogene Skizze zu Forschungsgeschichte und heutiger Sicht bei Angenendt 1997, 68–87). Evangelische Theologen, die die Religiosität des frühen 16. Jahrhunderts untersuchen und darstellen wollten, nahmen immer intensiver Forschungsmethoden und Ergebnisse der allgemeinen Geschichtswissenschaft, der Altgermanistik, Soziologie, Anthropologie und religiösen Volkskunde zur Kenntnis. Sozialgeschichtliche Fragestellungen (wie beispielsweise die nach dem Einfluss der lutherischen Reformation auf den Umgang mit der Armut) faszinierten auch zuvor
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rein theologiegeschichtlich orientierte Forscher. Freilich blieben manche Paradigmen nur relativ kurz spannend. Darstellungen, die Luthers körperliche Verfassung für seine theologische Entwicklung verantwortlich machten, konnten keine durchschlagende Wirkung erzielen. Auch die Erziehung, die Luther im Elternhaus erfuhr, wurde als für seine Zeit und soziale Schicht durchaus normal und eben deswegen für die Deutung der Religiosität nicht besonders aussagekräftig erkannt. Visitationsakten schienen zunächst zu erweisen, dass die lutherische Reformation im Verhalten der Gläubigen nichts verändert habe. Die Ergebnisse von Studien, die sich ausschließlich auf diese Quellengattung stützten, wurden aber bald relativiert, weil diese ihrer Art nach den Akzent einseitig auf die Feststellung von Fehlverhalten legten. Im Unterschied zu diesen Paradigmen erfreut sich der Versuch, die Auswirkung der theologischen Ausbildung von Geistlichen auf die Religiosität von Gemeindegliedern zu erforschen, noch lebhaften Interesses. Statt wie zuvor in erster Linie Aussagen hervorragender Theologen zu erforschen, untersuchte man in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts bewusst Quellen über einfache Christen und versuchte Zeugnisse von deren Hand aufzuspüren. Mehr als an die Spitzenwerke der führenden Theologen mit neuen Fragestellungen heranzutreten, reizte es Historiker nun zu erforschen, wie einfache Christen ihre Religiosität gelebt, verteidigt oder aber geändert hatten. Die Alternative »Frömmigkeit des Volkes – Spiritualität der Elite«, die diskutiert wurde, erwies sich freilich bald als trügerisch. Auch Christen, deren Religiosität auf den ersten Blick rein vergeistigt zu sein schien, erwiesen sich bei näherem Hinschauen oft genug als Teilnehmer an Formen der Frömmigkeit, die moderne Forscher zeitweise als bloße Aufzählfrömmigkeit diffamiert hatten. Luther selbst kam beispielsweise als Mitglied des Ordens der Augustinereremiten einerseits mit der verinnerlichten Frömmigkeit seines Ordensvikars Johann von Staupitz in Berührung, andererseits mit der Betonung der gnadenvermittelnden Kraft der Kirche des Johannes von Paltz, der den Erfurter Konvent im gleichen Jahr verließ, in dem Luther dort eintrat. Deutschsprachige evangelische Luther‑, Reformations- und Spätmittelalterforscher entdeckten neben den vertrauten Gesprächspartnern aus den skandinavischen Ländern zunehmend die angelsächsischen Kollegen: Dafür kennzeichnend ist beispielsweise, dass der Verein für Reformationsgeschichte seit 1968 die Zeitschrift Archiv für Reformationsgeschichte (ARG) gemeinsam mit seiner amerikanischen Schwestergesellschaft herausgibt. Ferner setzten sie sich mit der französischen Historikergruppe auseinander, die sich um die Zeitschrift Annales scharte. Die Mehrheit der Reformationsforscher verteidigte gegen deren These von der langen Dauer (longue durée) und Kontinuität der alteuropäischen Verhältnisse allerdings, dass die Reformation durchaus einen Epocheneinschnitt bedeute.
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1.2. Stand der Forschung zur Religiosität im Reich um 1500 1.2.1. Missstände, Missbehagen und Kritik
Eine Zunahme des Antiklerikalismus und ein Niedergang der Bettelorden an Zahl der Novizen und Ansehen sind bereits vor der lutherischen Reformation zu beobachten. Kleriker, Mönche und Mendikanten haben im Spätmittelalter nicht länger ein Monopol auf Glaubenswissen. Selbstbewusste Bürger diskutieren über frömmigkeitsrelevante Fragen und regen die Produktion von Traktaten an. Sie tadeln sittliche Mängel an Mendikanten und Weltgeistlichen und verspotten sie, wenn Ideal und Wirklichkeit zu weit auseinanderklaffen. Der Verkauf von Ablässen trifft auf zunehmende Kritik. Die Kirche soll freilich gebessert, nicht etwa abgeschafft werden. Theologen nehmen wahr, dass ihre gesellschaftliche Geltung in Frage gestellt wird. Sie klagen beispielsweise darüber, dass ehrgeizige Eltern ihre Söhne lieber Jura studieren lassen als Theologie, weil dieses Studium bessere Karrierechancen eröffnet. Sie empfehlen die Lektüre heilsrelevanter Schriften, statt die kurze Lebenszeit mit dem Lesen von Heldensagen und amourösen Erzählungen zu vergeuden. 1.2.2. Gegenläufige positive Anzeichen
Dennoch ist das späte 15. Jahrhundert alles in allem als »eine der kirchenfrömmsten Zeiten des Mittelalters« (B. Moeller) zu betrachten. Das Angebot der Kirche, Heil zu vermitteln, wird akzeptiert. Das Bewusstsein, dass das irdische Leben stets gefährdet ist, regt zur Abfassung, zum Abschreiben und Drucken von Sterbetrostschriften, Darstellungen von Totentänzen und zur Aufführung von geistlichen Theaterspielen an. In den ersten Jahrzehnten des Buchdrucks entfällt der bei weitem größte Anteil der Produktion auf Werke geistlichen Inhalts. Universitätstheologen und deren Schüler schreiben nach dem Vorbild Jean Gersons und mehrerer Wiener Professoren Traktate auf Latein und in den Volkssprachen, um die Nachfrage lesefähiger Nichttheologen nach geistlicher Lektüre zu befriedigen (Frömmigkeitstheologie: B. Hamm). Sie geben die Ergebnisse theologischer Arbeit an theologisch nicht Geschulte weiter (Transformation: Ch. Burger). Es findet eine Konzentration statt auf das Eine, das nottut: das Erlangen der ewigen Seligkeit (normative Zentrierung: B. Hamm). Große Ketzereien fehlen. Das Papsttum behauptet sich gegenüber dem Konziliarismus. Die Gläubigen verlangen nach den Sakramenten, sie stiften zahlreiche Messen und Altäre. In ihren Testamenten bedenken sie die Parochie und den Mendikantenkonvent, in dem sie zur Messe und zur Beichte gingen. Wallfahrten, besonders solche zu Marienbildern (Regensburg, Altötting), erleben großen Zulauf. Wer es sich leisten kann, sammelt Reliquien. Der Verkauf von Ablässen, vielen bereits fragwürdig, aber gut organisiert, erzielt hohe Erlöse. Bruderschaften fördern das Beten des Rosenkranzes. Stadtregierungen lassen es sich etwas kos-
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ten, fähige Theologen wie etwa Geiler von Kaysersberg auf Prädikaturen zu berufen. Landgemeinden ziehen die Aufsicht über ihre Pfarrer an sich und bezahlen deren Lebensunterhalt. Die devotio moderna entwickelt sich in den Niederlanden zunächst als Laienbewegung. Schwestern und Brüder vom gemeinsamen Leben leben in ihren jeweiligen Häusern, ohne Gelübde abzulegen. Der Organisator Geert Grote setzt sich für eine Verbindung des kontemplativen mit dem tätigen Leben ein. Man liest erbauende Schriften, exzerpiert Merksätze daraus und meditiert darüber. Auch die paraliturgische Musik der Frömmigkeitsbewegung hat in diesem Kontext ihren Platz. Bald entstehen neben dem Zweig der Laien auch solche von regulierten Chorherren, Chorfrauen und Drittordensmitgliedern, und auch außerhalb der Niederlande entstehen Häuser und Klöster. Spitzenwerke der bildenden Kunst wie der Isenheimer Altar, aber auch zahlreiche Gebrauchsdevotionalien und geistliche Lieder bezeugen Stiftungseifer und Frömmigkeit der Zeit. Die Sehnsucht nach Heilssicherheit zeigt sich daran, dass die Passion Christi als Zentrum der Bibel herausgestellt und wahrgenommen wird. Dieses Heilsverlangen kommt auch in der Darstellung Jesu als des Schmerzensmannes auf Gemälden und Kruzifixen zum Ausdruck. Jesu intensives Leiden, sagen Bilder und theologische Traktate, hat auch für die schlimmsten Sünder den Zugang zum ewigen Heil frei gemacht. Liedtexte bezeugen den Wunsch, durch Gottes unermesslich große Gnade und (im Verhältnis dazu geringe) eigene Leistung selig zu werden. Zwei Spruchbänder, eines auf einem Gemälde Hans Holbeins d. Ä. aus dem Jahre 1508, eines auf einem Grabstein im Nürnberger Franziskanerkloster, legen Gottvater die Aussage in den Mund: »Barmherzigkeit will ich all denen erweisen, die mit wahrer Reue von hinnen scheiden«. Neben der verbreiteten und ganz besonders eindrucksvoll auf Tympana von Kirchen abgebildeten Erwartung, Christus werde als endzeitlicher Richter am Jüngsten Tage über Seligkeit, Fegefeuer oder Verdammnis entscheiden, steht häufig auch die eigentlich nur schwer damit zu vereinbarende Auffassung, Gottvater werde bereits unmittelbar nach dem Tode jedes einzelnen richten. Wo sie vertreten wird, da wird häufig die Bitte an Heilige oder an Maria gerichtet, sich bei Christus fürbittend für den Beter oder die Beterin einzusetzen. Diese Bitte um Vermittlung führt in der bildenden Kunst zur Darstellung der sog. Heilstreppe, bei der die Bitte um Annahme zur ewigen Seligkeit nicht direkt an Gottvater gerichtet wird, sondern an eine oder einen Heilige(n), Maria und Jesus Christus. 1.3. Zur theologischen Bewertung
Das Bild, das ein Forscher des 21. Jahrhunderts von der Religiosität im Reich und in den Niederlanden um 1500 entwirft, ist stets von seiner eigenen Sichtweise bestimmt. Steht für den einen die Frömmigkeit des Alltags im Vordergrund, so gilt das Augenmerk eines anderen vor allem der verinnerlichten Spiritualität.
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Während dieser betont, dass die Hoffnung auf Gottes Gnade stets den Bezugsrahmen abgebe, in dem Äußerungen christlicher Religiosität in Wort, Bild und Lied in dieser Zeit zu verstehen seien, wird jener darauf hinweisen, wie stark im Westen des vormaligen Römischen Reiches die Angst geschürt worden sei (vgl. J. Delumeau). Eine lebhafte Diskussion ist darüber entbrannt, ob die Verkündigung sowohl von Gottes Barmherzigkeit als auch die von seiner strafenden Gerech tigkeit den einfachen Christen im Spätmittelalter gleichermaßen nahegebracht worden ist oder ob Heilsungewissheit denn doch in der spätmittelalterlichen Frömmigkeit die Oberhand gehabt habe. Die verstärkte Zusammenarbeit akademischer Disziplinen verfeinert gerade auf dem Gebiet der Erforschung der Religiosität um 1500 die Ergebnisse in einer Weise, die Erwartungen weckt. Angenendt, Arnold: Geschichte der Religiosität im Mittelalter, 1997. Burger, Christoph: Das Reden von Gottes strafender Gerechtigkeit und dessen Wirkung in der spätmittelalterlichen Frömmigkeit (LuJ 81, 2014, 79–96). Hamm, Berndt: Religiosität im späten Mittelalter. Spannungspole, Neuaufbrüche, Normierungen (SMHR 54), 2011. Leppin, Volker: Mystische Frömmigkeit und sakramentale Heilsvermittlung im späten Mittelalter (in: Ders.: Transformationen. Studien zu den Wandlungsprozessen in Theologie und Frömmigkeit zwischen Spätmittelalter und Reformation [SMHR 86], 2015, 171–187). Christoph Burger
2. Kirchenreformbewegung Wie sich im Mittelalter der Gedanke der Kirchenreform in der lateinischen Christenheit entwickelt hat, ist ein erstaunliches Phänomen, charakteristisch für die Kirche des Westens und ihr geschichtliches Bewusstsein, während ein Reformgedanke dieser Art den orthodoxen Kirchen des Ostens unbekannt gewesen ist. Innerhalb der westlichen Entwicklung (begriffsgeschichtliche Gesamtübersicht bei Wolgast 1984) verdichtete sich das Bemühen um Kirchenreform zu Beginn des 14. Jahrhunderts in einem Geflecht kirchengeschichtlicher Faktoren, die noch im 16. Jahrhundert wirksam waren, so dass man die Zeit seit etwa 1300 als ein Zeitalter der reformatio ecclesiae bezeichnen kann. Seit jener Zeit entstanden in Folge eines erhöhten Reflexionsbedarfs zahlreiche kirchenrechtliche und theologische Schriften über die Vollmacht der Päpste, der Bischöfe und der Konzile. Zu jenen langfristig wirksamen Faktoren gehörte ein gesteigerter päpstlichrömischer Zentralismus, der unter Bonifaz VIII. mit dem ersten römischen Jubiläumsablass und der Bulle Unam sanctam ecclesiam (1302) hervortrat. Hinzu kamen nationalkirchliche Eigeninteressen, zunächst in den westeuropäischen Königreichen von England und Frankreich, später mit anderen Akzenten in Spanien, wobei Machtkonflikte mit dem Papst nicht gescheut wurden, während gleichzeitig in den Königreichen die Idee einer geschlossen christlichen Gesellschaft verfolgt wurde, so dass z. B. die Juden aus dem englischen Königreich 1290
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und aus dem französischen ein erstes Mal 1306 vertrieben wurden; Spanien folgte 1492, Portugal 1497. Sollten nach päpstlichem Willen bereits die Konzile des Hochmittelalters sich mit kirchlichen Reformen befassen, so wuchs im Spätmittelalter das Eigengewicht der Konzile für die Kirchenreform. Anlässlich des Konzils von Vienne 1311/12 nannte der Bischof von Mende Guillaume Durand d. J. in seiner Schrift De modo concilii generalis celebrando (1311/12) wohl zum ersten Male grundsätzlich Reformen der Kirche »an Haupt und Gliedern« als Aufgabe der Generalkonzile, ohne die Rechtsstellung eines Konzils gegenüber dem Papst näher zu erörtern (vgl. Miethke/Weinrich 1995, 3 f). Allgemein beklagt wurden nicht nur Mängel in der religiösen Disziplin von Klerikern, Ordensleuten und Laien, sondern auch Missstände, die mit dem kurialen Zentralismus verkettet waren; teils betrafen sie das Pfründenwesen und unlautere Verfahrensweisen bei der Besetzung kirchlicher Ämter, teils die wachsenden Finanzleistungen an die Kurie, teils die kuriale Jurisdiktion, die willkürlich kirchliche Rechtsentscheidungen an sich zog und gleichzeitig gegen Gebühren vielfältige Dispense gewährte. Die reformbedürftigen Sachverhalte waren letztlich alle mit dem kirchlichen Recht zu fassen. In der Zeit des avignonesischen Papsttums (1309–1378) wurden die Verhältnisse noch belastender, zumal die Abwesenheit der Päpste von Rom je länger de sto mehr als ärgerlich empfunden wurde, bis das Doppelpapsttum Avignon/Rom (1378–1409) das Reformverlangen erst recht steigerte. Nach dem Fiasko des Konzils von Pisa 1409, das die Kirche mit einem dritten Papst konfrontierte, konnte erst das Konzil von Konstanz (1414–1418) – dank des Rückhaltes an König Sigismund – das Schisma überwinden und die Kirchenreform in Gang bringen. Die kirchenrechtlichen und theologischen Reflexionen über die gesamtkirchliche Repräsentanz des Konzils waren mittlerweile so weit gediehen, dass in den Konzilsbeschlüssen ein Konsens gefunden werden konnte, für den die Geschichtsschreibung den Begriff Konziliarismus eingeführt hat, dem jedoch unterschiedliche Konzeptionen der führenden Kanonisten und Theologen zugrunde lagen (Miethke: Konziliarismus [in: Hlavácek 1996, 29–59]). Der Gedanke der Kirchenreform war stets begleitet von der Frage nach den Normen, die für die Reform maßgeblich sein sollten, oder nach dem als vorbildlich angesehenen früheren Zustand, der wiederherzustellen sei. Konnte der Gedanke einer Reform im allgemeinen sich an einer vagen Vorstellung von der »alten« Kirche orientieren und für die Autorität des Konzils altes Kirchenrecht geltend machen, so wurde für konkrete Reformen im kurialen Rechts‑, Finanz- und Pfründenwesen und in der Disziplin des Klerus verschiedentlich der Zustand etwa des 13. Jahrhunderts als Maßstab der Reformen angesehen (vgl. aaO 58 f). Als das Konzil von Konstanz bei der Verurteilung von Lehrsätzen des John Wyclif und des Jan Hus auch etliche die päpstliche und bischöfliche Autorität berührende Sätze verurteilte (DS 1151–1195. 1201–1230), wurde dadurch deutlich, dass man an den sakralrechtlichen Grundlagen des Papsttums und des Epi skopats festhalten wollte. Das Konzilsdekret Haec sancta synodus (6.4.1415)
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schrieb allerdings den Generalkonzilen eine unmittelbar von Christus stammende Vollmacht zu, der sich jeder Christ, auch der Papst, in Angelegenheiten des Glaubens, der Einheit der Kirche und der gesamtkirchlichen Reform (reformatio ecclesiae in capite et in membris) unterzuordnen habe, so dass das Konzil zur höchsten Appellationsinstanz erklärt und eine gravierende Veränderung der Kirchenverfassung eingeleitet war. Unter dem Vorzeichen des Konziliarismus wurde nicht nur das Papstschisma überwunden; die Konzilsväter haben ebenso mit Entschlossenheit in drei aufeinanderfolgenden Ausschüssen die Kirchenreform, v. a. hinsichtlich Papst, Kurie, Kardinalskollegium, angepackt. Die in Konstanz beschlossenen Reformmaßnahmen waren weder umfassend noch durchgreifend; sie ließen die Strukturen der Kurie und des ganzen geistlichen Standes unangetastet. Das Konzil traf jedoch Vorsorge für weitere konziliare Reformarbeit, indem es (9.10.1417) mit dem Dekret Frequens (Miethke/Weinrich 1995, 484 ff) einen genauen Rhythmus für weitere Konzile festlegte und mit dem sog. Kautionsdekret (10.10.1417; aaO 498 ff) den künftigen Papst zu kurialen Reformen verpflichtete. Doch gleichzeitig gab das Konzil, das nach »Nationen« (der deutschen, englischen, französischen, italienischen und ab 1416 spanischen) organisiert war, dem Papst grünes Licht für Verhandlungen mit den einzelnen Nationen und öffnete damit das Tor zu partikularen Reformabsprachen in sog. Konkordaten. Das zweite große Reformkonzil – ab 1431 in Basel – konnte, zunächst getragen von einem ungeschwächten Reformwillen der lateinischen Christenheit unter Papst Eugen IV., an die Arbeit des Konstanzer Konzils anknüpfen durch die Rezeption der Konstanzer Dekrete Frequens und Haec sancta synodus (14.12.1431 und 15.2.1432; Miethke/Weinrich 2002, 178 ff. 184 ff). Es erreichte nicht nur einen Friedensschluss mit den Hussiten (Prager Kompaktaten 1433), sondern beschloss auch eine Reihe von Dekreten zur gesamtkirchlichen und kurialen Reform (z. B. bzgl. Provinzial- und Diözesansynoden, Konkubinat der Geistlichen, Verhängung von Exkommunikation und Interdikt, Appellationen an die Kurie). Manches aus diesen Reformbeschlüssen wurde in den folgenden Jahren in die nationalen Konkordate aufgenommen; manche Basler Reformdekrete wurden noch in den Diskussionen des 16. Jahrhunderts zitiert. Unglücklicherweise verursachten Beschlüsse zur Kurienreform 1437 einen Bruch mit dem Papst. Der Bruch wurde dadurch irreparabel, dass Eugen IV. die bereits in Konstanz angebahnten Bemühungen des Basler Konzils um eine Union mit der byzantinischen Kirche an sich riss und dann durch das päpstliche Konzil von Ferrara-Florenz-Rom (1438–1445) das Basler Konzil faktisch matt setzte. Das Basler Restkonzil vertiefte nur noch den Bruch, als es (16.5.1439) die Superiorität der Generalkonzile als Glaubenswahrheit dogmatisierte, daraufhin (25.6.1439) Eugen IV. für abgesetzt erklärte und schließlich (5.11.1439) einen Gegenpapst wählte – Felix V. –, bei dessen Tod das Konzil sich selbst auflöste. In der weiteren Entwicklung blieb der Konziliarismus auf der Strecke. Der Humanist Enea Silvio Piccolomini, der in kurialem Dienst an der Arbeit des Basler Konzils beteiligt war, ehe er 1442 an den Hof Kaiser Friedrichs III.
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ging, bekämpfte schließlich als römischer Kardinal (1456) und erst recht als Papst Pius II. (1458–1464) den Konziliarismus. Seine Bulle Execrabilis 1460 (DS 1375) verurteilte schärfstens jede Appellation an ein über dem Papst stehendes Konzil, während er selbst noch päpstliche Reformpläne konzipierte. Auf dieser päpstlichen Linie bewegte sich auch das 5. Laterankonzil (1512–1517) unter Julius II. (1503–1513) und Leo X. (1513–1521). Es verwarf die Pragmatische Sanktion von Bourges (s. u.), die durch ein für Rom günstiges Konkordat ersetzt wurde; es deklarierte v. a. die absolute Superiorität des Papstes gegenüber einem Konzil und bekräftigte die Bulle Unam sanctam ecclesiam von 1302 (Bulle Pastor aeternus, 19.12.1516; DS 1445). Das Konzil fasste zwar auch einige Reformbeschlüsse (COD³ 2, 608 f. 614 ff), die jedoch unzureichend blieben für eine umfassende Kirchenreform. Für den Papst, die Kurie und nun auch für das Konzil war die reformatio ecclesiae praktisch zu einer Verwaltungsreform geworden; selbst für deren Durchsetzung fehlte weithin der ernsthafte Wille. Die große bewegende Kraft einer konziliaren Verfassungsreform war verschwunden. Die konziliare gesamtkirchliche Reformarbeit wurde schon am Ende des Konstanzer Konzils durch nationalkirchliche Konkordate ergänzt (vgl. Mercati 1954, 144 ff). Zur Zeit des Basler Konzils rezipierte der französische Klerus 1438 auf einer vom König veranstalteten Versammlung in Bourges 23 nur leicht veränderte Basler Reformdekrete; diese erhob der König mit der Pragmatische[n] Sanktion von Bourges zum Staatsgesetz (Miethke/Weinrich 2002, 412 ff). Nachdem diese Form staatsgesetzlicher Kirchenordnung bald (1472) von päpstlicher Seite (Mercati 1954, 214 ff) und erneut (1516) vom 5. Laterankonzil (Bulle Pastor aeternus; s. o.) verworfen worden war, konnte Leo X. mit Frankreich 1516 ein Konkordat vereinbaren (Mercati 1954, 233 ff). Bei dem Versuch, dem Beispiel der Pragmatischen Sanktion Frankreichs zu folgen, bekundete in Deutschland 1439 ein Reichstag die Absicht, ebenfalls eine Reihe von 26 Basler Reformdekreten anzuerkennen (Mainzer Akzeptation, 26.3.1439; Miethke/Weinrich 2002, 442 ff); nur stand dahinter, anders als in Frankreich, keine legislative und exekutive Macht. Päpstliche Rechte, v. a. zur Vergabe von Pfründen und zur Erhebung von Gebühren zugunsten Roms, wurden zum Gegenstand von sog. Fürstenkonkordaten, die Eugen IV. und Nikolaus V. 1447 mit einigen deutschen Fürsten abschlossen (vgl. Mercati 1954, 169 ff). Das Wiener Konkordat von 1448 zwischen Nikolaus V. (1447–1455) und Kaiser Friedrich III. (1440–1493) machte wesentliche Abstriche an den Basler Beschlüssen und litt an mangelnder Verbindlichkeit für das ganze Reich (vgl. Mercati 1954, 177 ff). Kein Wunder, dass besonders in Deutschland das Reformverlangen unbefriedigt blieb. Unerfüllte Reformwünsche wurden, wenn auch nicht gleich unter diesem Begriff, als Gravamina nationis Germanicae (als Deutschland drückende Belastungen) wiederholt formuliert, zunächst seit Mitte des 15. Jahrhunderts im Zuge kirchenpolitischer Aktivitäten der geistlichen Kurfürsten; später (1510) ließ sie Kaiser Maximilian I. (1493–1519) von dem Humanisten Jakob Wimpfeling zusammenstellen, um sie bei seiner Reichspolitik zu verwenden, was dann auf dem
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Augsburger Reichstag 1518 bei Verhandlungen mit dem Legaten geschah (vgl. J. Wimpfeling: Briefwechsel, Opera selecta, Bd. 3 II, 1990, 662 ff. 699 f. 819 ff. Nr. 266, 267, 284, 332). Waren sich die weltlichen und geistlichen Reichsstände einig in ihren Gravamina gegenüber Rom, so beschwerten sie sich wechselseitig über Eingriffe in ihre eigenen Interessensphären und blockierten dadurch auf ihrer Ebene Reformmaßnahmen. In diesem Kontext vermischten sich Wünsche der Kirchenreform mit denen der Reichsreform. Im Vorfeld und in der Zeit der großen Reformkonzile war eine reiche Reformliteratur entstanden, während in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts weniger neue Stimmen zu vernehmen waren. Der Bogen repräsentativer Namen reicht von Pierre d’Ailly und Jean Gerson bis zu Nikolaus von Kues. Will man gegenüber der Reformliteratur die literarischen Zeugnisse eines bloßen Antiklerikalismus abgrenzen, dann sollte man dem Antiklerikalismus nur jene Zeugnisse zuordnen, in denen Missstände im höheren oder niederen Klerus oder im Ordensleben beklagt, gegeißelt oder angeklagt wurden, ohne dass ausdrücklich Wege einer Reform erörtert oder sachgemäße Reformvorschläge formuliert wurden oder der Reformwille mit religiösen Gedanken gestärkt wurde. Antiklerikalismus würde sich dann beschränken auf Äußerungen des Unmuts über beklagenswerte Erscheinungen von Machtmissbrauch oder Sittenverfall im Klerus. Was aus der Blütezeit der Reformliteratur breitere und längere Resonanz gefunden hat, sind am ehesten die Schriften, die in einer ganzen Reihe von Handschriften und sogar in Drucken verbreitet worden sind (vgl. Märtl: Der Reformgedanke in den Reformschriften des 15. Jahrhunderts [in: Hlavácek 1996, 91– 108]). Eine erstaunlich weite Verbreitung fand der von einem unbekannten Autor in Basel während des Konzils 1439 verfasste deutsche Traktat Reformation Kaiser Siegmunds; er ist nicht nur in etlichen Handschriften überliefert, sondern wurde noch im 15. Jahrhundert viermal und weitere vier Male 1520–1522 gedruckt (hg. v. H. Koller, 1964). Die Schrift schildert einerseits allerhand Missstände beim hohen und niederen Klerus sowie in den Orden, andererseits wünscht sie für viele Bereiche des kirchlichen und weltlichen Lebens Reformen – sogar Prie sterehe und Säkularisierung von Kirchengut – und will u. a. mit Warnung vor Gottes Zorn die Reformbereitschaft stimulieren. Ein bemerkenswertes Beispiel religiöser Motivation des Reformwillens lieferte Birgitta von Schweden, die seit 1350 in Rom lebte. Ihre mit der Autorität Christi versehenen Revelationes nahmen u. a. zur kirchlichen Situation Stellung; sie forderten die Rückkehr des Papstes nach Rom; sie wandten sich in der Form von Klage- und Warnworten Christi gegen Verfallserscheinungen im Klerus, den Papst eingeschlossen, aber auch im Kirchenvolk. Aus Exzerpten solcher Passagen entstand zwischen ca. 1423 und 1433 eine anonyme Schrift – das Titelstichwort lautet Onus mundi bzw. Bürde der Welt – mit prophetischer Anklage und Unheils androhung, falls nicht Besserung geschehe. Als Autor ist der Leipziger Theologe Johannes Tortsch ermittelt worden. Die lateinische Fassung wurde zwar nur einmal im 15. Jahrhundert (1485), die deutsche Fassung jedoch mehrmals im 15.
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und 16. Jahrhundert gedruckt (beide Fassungen kritisch ediert bei Montag 1968, 151–196, 251–335). Ins Feld der Birgitta-Rezeption gehört außerdem ein etwa Mitte des 15. Jahrhunderts verfasstes Reformprogramm, das den Vicarius Christi und seine Kurie auf ihre Verantwortung für die Gesamtkirche anspricht (Montag 1973). Wenngleich der Reformwille in zahlreichen Schriften und Predigten mit eindringlichen Mahn- und Drohworten angestachelt wurde, war doch das erstrebte Ziel dasselbe wie in der kirchenrechtlichen und theologischen Reformliteratur wie auch bei den praktischen Reformanstrengungen der Konzile und der Konkordate: Es ging um eine Erneuerung der kirchlich geordneten religiösen Diszi plin und um eine kirchenrechtliche Bereinigung von Missverhältnissen im Pfründen- und Finanzwesen sowie in der Jurisdiktion der Kirche. Man schöpfte aus der Bibel noch nicht das theologische Grundverständnis für eine erneuerte Religionsgestalt des Christentums. Dendorfer, Jürgen/Märtl, Claudia (Hg.): Nach dem Basler Konzil. Die Neuordnung der Kirche zwischen Konziliarismus und monarchischem Papat (ca. 1450–1475), 2008. Dykema, Peter A./Oberman, Heiko A. (Hg.): Anticlericalism in Late Medieval and Early Modern Europe (SMRT 51), 1993. Hlavácek, Ivan/Patschovsky, Alexander (Hg.): Reform von Kirche und Reich zur Zeit der Konzilien von Konstanz (1414–1418) und Basel (1431–1449), 1996. Mercati, Angelo (Hg.): Raccolta di Concordati su materie ecclesiastiche tra la Santa Sede e le Autorità civili, Bd. 1, 1954. Miethke, Jürgen/Weinrich, Lorenz (Hg.): Quellen zur Kirchenreform im Zeitalter der großen Konzilien des 15. Jahrhunderts. Bd. 1: Die Konzilien von Pisa (1409) und Konstanz (1414– 1418), 1995; Bd. 2: Die Konzilien von Pavia/Siena (1423/24), Basel (1431–1449) und Ferrara/ Florenz (1438–1445), 2002. Wolgast, Eike: Reform, Reformation (GGB 5, 1984, 313–360). Reinhard Schwarz
3. Kirchenväter Als im 13. Jahrhundert mit der Predigt der Bettelorden die Predigtkanzel zum architektonischen Bestandteil der Kirchen wurde, wurden diese vielfach mit einem festen Figurenprogramm ausgestattet: den westlichen Kirchenvätern Gregor der Große, Ambrosius, Augustin und Hieronymus. Dieses Programm verschwand in den neuen lutherischen Kirchenbauten zugunsten eines ebenfalls im Mittelalter schon belegten, nun aber dominierenden Programms: der vier Evangelisten. So wurde augenfällig, auf welche Lehre die Predigt vom Evangelium allein errichtet werden sollte. Damit verdichtet sich symbolisch ein Prozess, der tatsächlich viel komplizierter war. Die Theologie des Mittelalters gab sich zwar durchaus als Vätertheologie, insofern ihr grundlegendes systematisches Lehrbuch, die Sentenzensammlung
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des Petrus Lombardus eben eine Sammlung von Sprüchen der Väter darstellte, und auch das Decretum Gratiani wie auch die Glossa ordinaria über weite Strecken Materialsammlungen aus den Kirchenvätern boten – aber eben diese Bereitstellung von Sammlungen führte zu einer Erfahrung, die man in einer Analogie zum Gebrauch von Lehrbüchern im heutigen Studium leicht nachvollziehen kann: Die bequeme Sammlung kann die Quellen im selben Maße verschließen wie sie sie erschließt. Anders gesagt: Nur sehr begrenzt und in sehr bestimmten Situationen wurden Schriften der Kirchenväter kursorisch gelesen, der normale Lehr- und Forschungsbetrieb lebte aus zweiter Hand. Ausnahmen hiervon gab es natürlich, wie etwa der erneuerte Augustinismus des vierzehnten Jahrhunderts (Thomas Bradwardine, Gregor von Rimini), der ohne vertiefte Kenntnis der Originale Augustins schwer erklärbar ist. Doch in großem Maßstab verbindet sich eine Hinwendung zu den Kirchenvätern mit dem Humanismus. Bedeutsam hierfür wurde die Möglichkeit, die Kirchenväter durch den Buchdruck breiteren interessierten Kreisen zugänglich zu machen. Eine zentrale Rolle in diesem Vorgang nahm der Basler Drucker Johannes Amerbach ein, aus dessen Offizin unter anderem im Jahre 1506 eine Augustinausgabe hervorging. Erst solche Editionen ermöglichten es den mitteleuropäischen Humanisten, in größerem Maßstab Impulse aus den Kirchenvätern zu empfangen. Luther ist schon in seiner Erfurter Studienzeit mit solchen humanistischen Kreisen in Berührung gekommen (k B. I. 7.), und so weisen seine frühen Annotationen eine Fülle von Verweisen auf die Kirchenväter auf, die von seinem regen Interesse an den Kirchenvätern zeugen (vgl. Matsuura 2009). Diese humanistische Aufgeschlossenheit verband sich nun zusehends mit einer Tradition seines Ordens, den Kirchenvater Augustin besonders in den Vordergrund zu stellen und dabei auch besonders seine antipelagianischen Schriften zur Gnadenlehre zu lesen. Auch wenn sich die einlinige Deutung im Sinne einer augustinisch gesonnenen via Gregorii – nach Gregor von Rimini – zur Erklärung der Theologie Luthers nicht durchgesetzt hat, ist der Zusammenhang zwischen der Berufung seines Ordens auf den Bischof von Hippo als seinen Gründer und Luthers theologischen Bemühungen offenkundig. Die erste Begegnung mit Originalschriften Augustins fällt in die Erfurter Studienzeit. Zu diesem Zeitpunkt aber lässt sich, eingebettet wohl in ein allgemeines humanistisches Interesse, noch keine besondere theologische Präferenz für dessen Antipelagianismus feststellen. Eine solche wird erst offenkundig, als Luther im Rahmen seiner theologischen Professur in Wittenberg Vorlesungen über biblische Schriften hielt. In der Arbeit an den Vorlesungen über den Römerbrief, den Galaterbrief und den Hebräerbrief (1515–1518) erschloss ihm Augustin, insbesondere die Schrift De spiritu et littera, die er in der Amerbach-Ausgabe wahrnahm, wesentliche Aussagen des Apostels. Die Kombination aus beidem, paulinischer und augustinischer Theologie, aber führte ihn in diesen Jahren zu einer Theologie, die gelegentlich noch in jüngste Zeit wie schon bei Holl als genuin reformatorisch gedeutet wurde (vgl.
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Lohse 1995), in jedem Fall aber ein aus dem Kirchenvater gespeistes theologisches Gerüst bereitstellte, das Luther das Bewusstsein gab, in Wittenberg für eine neue, gegen die Scholastik gerichtete Theologie zu stehen – womit er wohl schlicht einer Tendenz der humanistisch geprägten Zeit entsprach vgl. Grane 1975), wie sie sich etwa in den polemisch die scholastische Philosophie aufspießenden Dunkelmännerbriefe[n] (1514) niedergeschlagen hat. Luthers neue Theologie zeichnet sich dadurch aus, dass sie das Verhältnis von menschlichem Tun und Gnade neu im Sinne des antipelagianischen Augustin bestimmt. Kern dieser Auseinandersetzung ist das Menschenverständnis. Gegen alle pelagianisierenden Tendenzen, die er in der Spätscholastik beobachtete, betonte Luther die völlige Verderbtheit des menschlichen Willens durch die Sünde und damit die Angewiesenheit des Menschen auf das gnädige Handeln Gottes. Indem Luther seine augustinisch gespeiste Kritik an der Scholastik bald ins Grundsätzliche kehrt, führt er sie weiter zu einer Kritik der Einmengung von Menschlich-Philosophischem, insbesondere Aristoteles, in die Theologie. Doch wäre die Formel »Augustin statt Aristoteles« zur Beschreibung dieses Prozesses zu kurz gegriffen – nicht nur weil Aristoteles auch in der Theologie des Mittelalters selbstverständlich stets als philosophische, nicht eigentlich als theologische Autorität gebraucht worden war, sondern vor allem weil Luther die dem Mittelalter ebenso selbstverständliche Voraussetzung methodisch intensivierte, dass nämlich der Kirchenvater seine Funktion darin hatte, auf die allein autoritative Bibel hinzuführen. Luther befasste sich auch in dieser Zeit unter den Kirchenvätern nicht ausschließlich mit Augustin – aus derselben Zeit stammen auch seine Annotationen zu Hieronymus (AWA 8). Auch an diesem Kirchenvater, der für die Humanisten wegen seiner auf historisch-philologisches Interesse projizierbaren Bibelübersetzung zur wichtigsten, in der Renaissancekunst vielfach abgebildeten Identifikationsgestalt unter den Heiligen der Kirche geworden war, ist Luther nicht vorbeigegangen. Doch Augustin steht unter allen menschlichen Autoritäten unzweifelhaft im Mittelpunkt. Seine Theologie bestimmt nicht nur Luthers Vorlesungen, sondern den gesamten Lehrbetrieb in Wittenberg: Von zentraler Bedeutung wurde hier die Promotionsdisputation des Bartholomäus Bernhardi aus Feldkirch am 25. September 1516 De viribus et voluntate hominis sine gratia über (WA 1; 145– 151), letztlich Thesen aus Luthers Römerbriefvorlesung, vollgesogen mit augustinischer Theologie. Bei dieser Disputation opponierte Andreas Bodenstein (Karlstadt), Luthers vor allem den Dienstjahren nach älterer gelehrter Kollege, der mit seinen thomistisch, zunehmend aber auch scotistisch geprägten Überzeugungen sicher war, dass der junge Kollege irrte. Doch wenig später kaufte er sich in Leipzig eine Augustin-Ausgabe, die ihn eines Besseren belehrte. Der Kirchenvater wurde so zum Medium der Überzeugung für eine Reform der Theologie, die sich aufgrund des Bezuges auf die unhinterfragte Autorität des Kirchen- und Ordensvaters im Rahmen mittelalterlichen Denkens verorten und doch vom Bewusstsein des Aufbruchs zu Neuem bestimmt sein lassen konnte: »Theologia nostra et
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S. Augustinus prospere procedunt et regnant in nostra universitate Deo operante« (Unsere Theologie und der heilige Augustin machen unter Gottes Beistand gute Fortschritte und herrschen an unserer Universität), schrieb Luther im Mai 1517 triumphierend an seinen Ordensbruder Johannes Lang in Erfurt und berichtete, dass man kaum mehr Aristoteles und die Sentenzen lese, dafür aber die Bibel und Augustin und andere Kirchenväter (WAB 1; 99,8–13). Diese Phase einer an Augustin orientierten Reform ist entscheidend für die reformatorische Theologie Luthers geworden. Zeit seines Lebens hat Luther sich mit Augustin verbunden gesehen. Und doch ist das Gewicht der Kirchenväter in Luthers Denken im Laufe der Jahre merklich zurückgegangen. Luther blickt selbst im Jahre 1539 kritisch auf seine frühere Kirchenväterbegeisterung zurück: »Denn ich hab die Veter auch gelesen, auch ehe denn ich so steiff wider den Bapst mich setzet, Hab sie auch mit besserm vleis gelesen weder die, so itzt durch sie wider mich trotzen und stoltzen, Denn ich weis, das jr keiner versucht hat, ein Buch der heiligen Schrifft in den Schulen zu lesen und der veter schrifft dazu brauchen, wie ich gethan. Und las sie noch ein Buch fur sich nemen aus der heiligen Schrifft, und die glose suchen bey den Vetern, so sols jm gehen wie mirs gieng, da ich die Epistel ad Ebreos furnam mit S. Chrysostomus glossen, Und Titum, Galatas mit huelffe S. Hieronymi, Genesin mit huelffe S. Ambrosij und Augustini, Den Psalter mit allen scribenten, so man haben kann, und so fort an.« Gerade deswegen betonte er im Anschluss an Bernhard von Clairvaux die eindeutige Vorrangstellung der Schriftlektüre (WA 50; 519,18–520,10). Die Schrift Von den Konziliis und Kirchen (1539), aus der dieses Zitat stammt, enthält die grundsätzlichsten Erwägungen Luthers zur Frage der Kirchenväter: Allein schon die Widersprüchlichkeit der Kirchenväter zeigt ihre Relativität – ein Argument, für das Luther sich auf Augustin selbst berief, sich aber auch auf den mittelalterlichen Theologen Abaelard hätte berufen können, der im 12. Jahrhundert in Sic et non die vielfache Widersprüchlichkeit der Kirchenväteraussagen aufgewiesen hatte. Und auch die Konzilien waren in ihrer Autorität zweifelhaft, selbst das in der Schrift belegte sogenannte Apsotelkonzil (Apg 15) bewies offenbar keine dauerhafte Bindekraft, hatte es doch ein Verbot des Genusses von nicht rituell geschlachtetem Fleisch erlassen, welches seine Bedeutung für die Christenheit längst verloren habe. Der im Rückblick beschriebene Prozess einer allmählichen Lösung von der Autorität der Kirchenväter lässt sich an den Werken der Jahre 1515–1520 tatsächlich nachvollziehen, wobei eine besondere Bedeutung der Leipziger Disputation zukommt (vgl. Leppin 2015). Nach deren dramatischem Verlauf fasste Melan chthon die gewonnenen Einsichten in den Gedanken der ausschließlichen Bindung des Glaubens an die Heilige Schrift. Das so entwickelte Schriftprinzip hat die autoritative Stellung der Kirchenväter eindeutig geklärt – zu ihren Ungun sten: »[…] quo magis illorum scripta lego, eo plus offendor, nam res ipsa clamat eos fuisse homines, et ipsorum autoritas oppressit apostolorum scripta« ([…] je mehr ich die Schrift lese, desto deutlicher bemerke ich, ja die Sache selbst ruft es
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aus, dass sie Menschen gewesen sind, und ihre Autorität hat die Schriften der Apostel überlagert) (WAT 4; 285,22–25), heißt es in einer Tischrede aus dem Jahr 1539. Wie hart Luther mit den Kirchenvätern ins Gericht gehen konnte, zeigt seine Auseinandersetzung mit Erasmus (k B. III. 7.) in De servo arbitrio (1525), wo er viel an Schuld für die Fehler des Erasmus Hieronymus und Origenes als den Gewährsmännern des Humanisten zuweist. Von solcher Kritik blieb Augustin frei, aber er fiel selbstverständlich unter das pauschale Urteil über die geringe Autorität der Kirchenväter angesichts der Bibel: Ein Mensch, dem um seiner Menschlichkeit willen keine eigene Autorität zukommen kann, der aber wichtige Geleitdienste auf dem Weg zur Bibel geleistet hat. Allerdings bleibt auch die autoritative Zurückdrängung der Kirchenväter nur ein Aspekt in der Auseinandersetzung Luthers mit ihnen. Es kam nicht etwa zu einer Art Arbeitsteilung in dem Sinne, dass nun die Kirchenväter dem Humanisten Philipp Melanchthon überlassen worden wären, der in der Tat aufgrund seiner Griechisch-Professur in großem Ausmaß Lehrveranstaltungen gehalten hat, die man heute als »patristisch« einstufen würde. Auch Luther selbst konnte ja bei Gelegenheit durchaus mit den Kirchenvätern argumentieren, nicht nur mit Augustin, sondern auch etwa mit Hieronymus, wenn er mit ihm die Gleichsetzung von Bischof und Pfarrer in geistlicher Hinsicht begründen wollte – übrigens ein Zitat, das ihm wohl nicht allein durch seine unmittelbare Hieronymus-Lektüre bewusst war, sondern vielmehr noch durch die Überlieferung im Decretum Gratiani (D. 95 c. 5). Maßstab aber bleibt hier wie überall für die Annahme oder Ablehnung von Vätern nicht deren Autorität, sondern die Entsprechung zur Heiligen Schrift. Auf Grundlage der eindeutigen theologischen Subordination unter die Schrift bleibt allerdings Luthers Haltung zur Zeit der Kirchenväter und altkirchlichen Konzilien ambivalent. Er hat jedenfalls seine grundsätzliche Kritik an der menschlichen Relativität der Väter und ihrer Zeit nicht auf die entscheidenden Dogmen der Alten Kirche – das christologische und das trinitarische – ausgedehnt: schlicht weil er der Überzeugung war, dass die Konzilien hier den Inhalt der Heiligen Schrift angemessen zur Sprache gebracht hätten: »Articulus trinitatis […] est fundatus in sacris literis« (WA 39,2; 304,16). Dies konnten sie aber wohl auch deswegen, weil Luther überzeugt war, dass die Zeit der Alten Kirche noch in geringerem Maße verdorben gewesen war als die späteren Epochen: Die Herrschaft des Antichrist hatte in der Kirche erst, so unter den vielen Datierungen, die er hier angibt, die häufigste, mit Papst Gregor, also um 600 begonnen. Das macht die Epoche der Väter nicht zu einer autoritativen, aber doch zu einer wertgeschätzten Zeit. So ist es auch kaum erstaunlich, dass noch der alte Luther sich bereit fand, zwei Sammlungen von Väterviten, die Georg Spalatin und Georg Major 1544 vorlegten, mit Vorworten zu versehen (WA 54; 109–111. 113–115). Die orthodoxen Väter konnte er dabei als Vertreter einer rechten Via media verstehen. Dies weist schon darauf hin, dass für die Nachwirkung der Tradition der Kirchenväter ganz andere Elemente entscheidend sein können als die negativ geklär-
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te Möglichkeit autoritativer Berufung auf sie. Wie Augustin und die altkirchlichen Lehrentscheidungen beispielhaft zeigen, gibt es eine Fortwirkung der Theologie der Väter bei Luther, die theologieformenden Charakter hat – und dies an den zentralen Stellen der Theologie: Gotteslehre, Christologie und Rechtfertigungslehre. Und wieder stehen Augustin und die Konzilien mit solch nachhaltiger Wirkung auf Luther möglicherweise nicht allein. Insbesondere die finnische Lutherdeutung hat – wie schon 1949 Wilhelm Maurer (Maurer, Freiheit 55) – Luther stark an Konzeptionen des Athanasius angenähert, dessen Vorstellung der Vergottung des Menschen im Heilsprozess Luther weitgehend reproduziert habe. Auch wenn der Begriff der Vergottung bei Luther nur äußerst selten belegt ist, wird damit doch auf eine Dimension des altkirchlichen Erbes aufmerksam gemacht, die die Fixierung auf Augustin erheblich erweitern kann. Allerdings wird man hier wohl eher mit dem Aufweis von Strukturanalogien als mit dem definitiven Nachweis von Abhängigkeiten weiterkommen. Dies gilt auch für die Abendmahlsauseinandersetzung zwischen Luther und Zwingli (k B. III. 8.), bei der es sich hinsichtlich ihrer christologischen Komponente nahelegt, sie auch vor altkirchlichem Hintergrund zu deuten, insofern Luther mit seiner starken Verbindung zwischen menschlicher und göttlicher Natur in Christus und der Übertragung der Ubiquitätseigenschaft von der göttlichen auf die menschliche Natur einen kyrillischen Typus der Interpretation der Zwei-Naturen-Lehre zu repräsentieren scheint, während Zwingli mit seinem scharfen Auseinandernehmen der beiden Naturen eher nestorianische Denkstrukturen aufweist. Beutel, Albrecht: Gerhard Ebeling. Eine Biographie, 2012. Ders.: Luther (in: Drecoll, Volker H. [Hg.]: Augustin Handbuch, 2007, 615–622). Brecht, Martin/Peters, Christian (Hg.): Martin Luther, Annotierungen zu den Werken des Hieronymus (AWA 8), 2000. Demmer, Dorothea: Lutherus interpres. Der theologische Neuansatz in seiner Römerbriefexegese unter besonderer Berücksichtigung Augustins (UKG 4), 1968. Grane, Leif u. a. (Hg.): Auctoritas Patrum. Bd. 1 (VIEG.B 37), 1993; Bd. 2 (VIEG.B 44), 1998. Junghans, Helmar: Der junge Luther und die Humanisten (AKG 8), 1984. Leppin, Volker (Hg.): Autoritäten beim jungen Luther, 2016. Luther, Martin: Erfurter Annotationen 1509–1510/11, hg. v. Jun Matsuura (AWA 9), 2009. Markschies, Christoph: Luther und die altkirchliche Trinitätstheologie (in: Ders./Trowitzsch, Michael [Hg.]: Luther – zwischen den Zeiten, 1999, 37–85). Schulze, Manfred: Martin Luther and the Church Fathers (in: Backus, Irena [Hg.]: The Reception of the Church Fathers in the West. From the Carolingians to the Maurists, 2 Bde., 1997, 573–626). Voigt-Goy, Christopher: Potestates und ministerium publicum. Eine Studie zur Amtstheologie im Mittelalter und bei Martin Luther, 2014. Volker Leppin
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4. Mönchtum 4.1. Luther als Mönch
Luther lebte von seinem 22. bis zu seinem 42. Lebensjahr, also im zweiten und für seine theologische Entwicklung wie für seine Anfänge als Reformator entscheidenden Drittel seines Lebens als Mönch. In dieser Lebensphase hat er besonders intensiv monastische Traditionen aufgenommen; deshalb muss vorweg sein Lebensgang als Mönch vorgestellt werden. Am 17.7.1505 bat Luther um Aufnahme ins Schwarze Kloster der Augustiner eremiten zu Erfurt. Anlass dazu war ein Gelübde, das er knapp zwei Wochen vorher – durch einen Blitzschlag erschreckt – der hl. Anna abgelegt hatte (WA 8; 573,31–574,1. WAT 4; 440,5–16. WAT 5; 99,7–11). Weshalb er sich gerade dem 1256 durch den Zusammenschluss mehrerer mittelitalienischer Eremitengemeinschaften entstandenen Bettelorden der Augustinereremiten anschloss, der seit 1266 eine Niederlassung in Erfurt besaß (vgl. Kunzelmann 1974, 609), kann man nur vermuten (vgl. Burger 1985, 169 f). Sicher ist aber, dass er, der gerade das Jurastudium begonnen hatte, weder die Priesterweihe noch das Theologiestudium anstrebte, sondern den Übertritt aus der Welt ins Kloster als Weg zum Heil ansah. Auch spätere eigene Bedenken, das Abraten der Freunde und vor allem der Zorn des Vaters (WA 8; 573 f) konnten ihn von seinem Entschluss nicht abbringen. Nach kurzer Probezeit und einjährigem Noviziat legte er vermutlich im Spätsommer 1506 die Profess ab. Anschließend wurde er von seinen Ordensoberen zum Priester bestimmt. Nach Vorbereitung durch Lektüre einer Messerklärung und eines Handbuchs der Seelsorge empfing er (am 27.2. oder 3.4.) 1507 die Priesterweihe und feierte am 2. Mai die erste Messe. Jetzt bestimmten ihn seine Oberen zum Theologiestudium, während seine Mitbrüder ihn noch zu Handarbeit und Betteln nötigten (WAT 5; 99,20–23). Nachdem er in Erfurt wohl zum Sommersemester 1507 das Theologiestudium aufgenommen hatte und schon 1508 dritter Lektor des Erfurter Konvents geworden war, wurde er zum Wintersemester 1508 nach Wittenberg versetzt, um als Nachfolger Wolfgang Oster mayrs die von den Augustinern zu besetzende Professur an der Artistenfakultät zu vertreten (k B. III. 9.). In dieser Position las er über die Nikomachische Ethik des Aristoteles und führte gleichzeitig sein Theologiestudium fort. Am 9.3.1509 wurde er baccalaureus biblicus, hielt auch im Herbst noch die Disputation, die Voraussetzung für die Promotion zum baccalaureus sententiarius war, wurde aber noch vor Beginn der Sentenzenlektur überraschend nach Erfurt zurückgefordert, wo er nach einigen Schwierigkeiten wohl im Frühjahr 1510 den Grad eines Sentenziars empfing. Bis in den Spätsommer 1511 las er in Erfurt über die ersten drei Bücher der Sentenzen. Dann berief ihn sein Ordensoberer Johann von Staupitz wieder nach Wittenberg – nun mit dem Ziel, hier seine akademische Ausbildung mit der Promotion zum Doktor der Theologie zu vollenden. Staupitz, der seit
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1502 Professor an der theologischen Fakultät der neu gegründeten Universität Wittenberg gewesen war, wollte mit Hilfe eines Nachfolgers auf der Professur, die das Augustinerkloster zu besetzen hatte, seiner wachsenden Belastung entkommen. Luther war nur widerstrebend zur Promotion bereit. Bevor er jedoch seine theologische Lehrtätigkeit in Wittenberg aufnahm, beauftragte ihn Staupitz, seit 1503 Generalvikar der deutschen Reformkongregation seines Ordens, mit einer anderen Aufgabe. Während er sich bemühte, die sächsische Ordensprovinz durch ihren Zusammenschluss mit der deutschen Reformkongregation an die Reform heranzuführen, war der Vikar 1509 zum Provinzialprior gewählt worden. Doch eine Minderheit von sieben observanten (d. h. nach besonders strenger Befolgung der Regel strebenden) Konventen (darunter die von Erfurt und von Nürnberg) leistete ihm erbitterten Widerstand, weil sie durch den Zusammenschluss eine Schwächung der Observanz befürchtete. In dem Streit, der an diesem Widerstand entbrannt war und sich durch Verhandlungen nicht beilegen ließ, wollte Staupitz vom Generalprior des Ordens in Rom Aegi dius von Viterbo Anweisungen einholen. Dazu sandte er im Herbst 1511 zwei Mitbrüder nach Rom: Johannes von Mecheln, soeben zum Wittenberger Doktor der Theologie promoviert, und Luther als seinen Begleiter. Beide reisten zu Fuß wohl über Ulm, die Pässe der Ostschweiz und Mailand und dürften noch vor Ende November in Rom eingetroffen sein. Ende 1511 oder Anfang 1512 wanderten sie getrennt, aber mit Begleitern aus dem Orden, wieder nach Norden. Während Johannes von Mecheln auf einer östlichen Route nach Salzburg reiste, umging Luther die Kriegsschauplätze in Oberitalien auf einer nicht näher bekannten westlichen Route und kehrte über Augsburg nach Wittenberg zurück, um anschließend seit dem 2. Mai 1512 am Ordenskapitel in Köln teilzunehmen. Dort wurde der Streit dadurch beigelegt, dass Staupitz auf seine Vereinigungspläne verzichtete. Luther aber nahm nach der Rückkehr nach Wittenberg seine Sentenzenvorlesung nicht wieder auf, sondern bereitete sich sogleich auf die Promotion vor. Am 4. Oktober 1512 empfing er die Lizenz und wurde am 18./29. Oktober zum Doktor der Theologie promoviert. Anschließend übernahm er als Nachfolger von Staupitz den theologischen Lehrstuhl, den sein Orden zu besetzen hatte. Luther hatte auch Ämter im Orden inne. Am 2. Mai 1512 wurde er zum Subprior (dem stellvertretenden Oberen) und zum Regens studiorum (Studienleiter) des Wittenberger Klosters ernannt, am 1. Mai 1515 für drei Jahre zum Distriktsvikar für zehn Konvente in Thüringen und Meißen gewählt; die Weite seiner Verpflichtungen schildert er in einem Brief vom 26. Oktober 1516 an seinen Mitbruder Johann Lang (WAB 1; 72,4–13). Die Fülle seiner Aufgaben ließ ihn nicht mehr seinen Gebetspflichten nachkommen (WAT 4; 654,2–6. WAT 5; 137,1–10. 475,2–11). Noch als Distriktsvikar veröffentlichte er im Spätjahr 1517 seine 95 Ablassthesen; am 26. April 1518 leitete er auf dem Kapitel seiner Kongregation in Heidelberg die Disputation, zu der er die Thesen verfasst hatte (WA 1; 353–374). Dass er hier die spätfranziskanische Gnadenlehre und am 3./4. Oktober 1519 auf dem
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Kapitel der sächsischen Ordensprovinz in Wittenberg das franziskanische Vollkommenheitsideal verwarf (WA 59; 606–697), bedeutet nicht, dass er damals schon das Mönchtum im Ganzen abgelehnt hätte. Allerdings trug er in den großen reformatorischen Schriften des Jahres 1520 eingehende Kritik am bestehenden Mönchtum vor. In der Schrift An den christlichen Adel forderte er, Klöster wieder zu ihrem ursprünglichen Charakter als christliche Schulen zurückzuführen (WA 6; 439,33–440,2), und kritisierte den mit den Gelübden verbundenen Zwang (aaO 440,2–7). In De captivitate Babylonica ecclesiae praeludium bot er bereits eine vertiefte Kritik an den Mönchsgelübden (WA 6; 526–543, bes. 538– 542), die er im folgenden Jahr verstärkte. Dennoch hielt er unbeirrt an seiner monastischen Lebensweise fest. Zwar meinte er am 6. März 1521, durch die Bannbulle vom 3. Januar von den Gesetzen des Ordens und des Papstes gelöst zu sein, wollte aber Ordensgewand und Wohnung nicht verlassen (WAB 2; 277,13–15) und unterschrieb am selben Tag einen Brief an Spalatin als »Martinus Luther Aug.« (WAB 2; 275,24 f). Diese Unterschrift ist zum letzten Mal in einem Brief vom 17. September 1521 überliefert (WAB 2; 392,36 f). Inzwischen hatte sich Luther auf dem Reichstag von Worms verantworten müssen. Als er am Morgen des 17. April vor Kaiser und Reich trat, trug er nicht nur den Habit, sondern hatte sich ostentativ eine große Tonsur scheren lassen, was der Umgebung des Kaisers besonders auffiel (DRTA.JR 2; 632,21–23). Der anschließende zehnmonatige Aufenthalt auf der Wartburg riss ihn erstmals seit seinem Klostereintritt aus der monastischen Existenzweise heraus und zwang ihn zu einem Leben als Weltmensch unter Weltmenschen. Er vertauschte den Habit mit weltlicher Kleidung und ließ sich Haare und Bart wachsen; Lucas Cranach bildete ihn als Junker Jörg ab, als er Anfang Dezember 1521 für wenige Tage inkognito in Wittenberg weilte. Seit dem Sommer hatte sich hier eine heftige Diskussion über die Mönchsgelübde entwickelt, an der auch Luther teilnahm (Iudicium de votis: WA 8; 323–335. De votis monasticis: 573–669). Die Kritik der Theologen wirkte sich negativ auf die Stimmung im Wittenberger Augustinerkonvent aus. Anfang Oktober predigte der Klosterprediger Gabriel Zwilling gegen Messe und Gelübde, und Ende November hatten bereits fünfzehn von etwa vierzig Mönchen das Kloster verlassen, darunter Zwilling (vgl. Müller 1911, 71). Da sich die Absatzbewegung fortsetzte, berief Wenzeslaus Linck, seit 1520 (bis 1523) Nachfolger von Staupitz im Amt des Vikars der Reformkongregation, auf Epiphanias 1522 das Kongregationskapitel nach Wittenberg ein. Das schwach besuchte Kapitel fasste Beschlüsse im Sinne der Reformer und hob für die Mitglieder der Kongregation die Gelübde auf (vgl. Kunzelmann 1974, 509 f). Als Luther am 6. März 1522 von der Wartburg nach Wittenberg zurückkehrte, nahm er freilich die monastische Lebensweise wieder auf, bewohnte seine Zelle im Schwarzen Kloster und trug den Habit. Offenbar hatte er vorerst nicht den Wunsch, den Mönchsstand zu verlassen. Dagegen ermunterte er andere zu diesem Schritt, verhalf im April 1523 sogar zwölf Zisterzienserinnen des Klosters
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Marienthron in Nimbschen bei Grimma zur Flucht, rechtfertigte diesen Schritt sogleich in der Schrift Ursach und Antwort, daß Jungfrauen Klöster göttlich verlassen mögen (WA 11; 394–400) und bemühte sich, die ehemaligen Nonnen durch eine Heirat zu versorgen. Auch das Wittenberger Augustinerkloster leerte sich jetzt rasch; zuletzt lebte neben Luther nur noch der Prior Eberhard Brisger darin, und als auch dieser sich anschickte, auszutreten, wollten er und Luther das Kloster dem Kurfürsten »als dem jüngsten Erben« überlassen und baten ihn nur um ein daneben liegendes Grundstück (wohl Herbst 1523: WAB 3; 196 f). Am 25. Mai 1524 schrieb Luther beiläufig, auch er werde endlich einmal den Habit ablegen, den er bisher beibehalten habe, um die Schwachen zu stärken und den Papst zu verspotten (WAB 3; 299,23–25). Freilich fiel ihm, wie er sich später erinnerte, der Verzicht auf den Habit nicht leicht (WAT 4; 303,17–304,6). Damals datierte er diesen Schritt irrtümlich auf das Jahr 1523. Nach Spalatins Zeugnis scheint er erstmals am 9. Oktober 1524 ohne Ordensgewand in Wittenberg gepredigt zu haben; am 16. Oktober erschien er bei der Frühpredigt wieder im Habit, predigte aber im folgenden Gottesdienst ohne Kutte, um zu zeigen, dass er seiner Lehre entsprechend handle (WAB 3; 299 Anm. 6). Den endgültigen Bruch mit seinem Ordensgelübde vollzog er jedoch erst, als er im Juni 1525 Katharina von Bora heiratete: die letzte der Marienthroner Zisterzienserinnen, die noch nicht versorgt war. Das Schwarze Kloster hat Luther nie dauerhaft verlassen; am 4. Februar 1532 übertrug Kurfürst Johann der Beständige ihm, seiner Frau und ihren Leibeserben das Kloster mit Hof und Garten als erbliches Eigentum (WAB 6; 257 f). 4.2. Luthers Einstellung zum Mönchtum
Zahlreiche Selbstzeugnisse Luthers werden durch seinen Lebensgang und seine Lebensweise als Mönch bestätigt. Es gibt keinen Grund, ihm mit seinem vier Jahre älteren Gegner Johannes Cochlaeus und einer von diesem abhängigen, bis in die Gegenwart reichenden, aber immer schwächer werdenden Tendenz katholischer Lutherdarstellungen (vgl. Herte 1943) die Eignung und den Willen zu einer monastischen Existenz abzusprechen und womöglich in seinem persönlichen Versagen gegenüber monastischen Forderungen einen Auslöser seines reforma torischen Handelns zu vermuten. Im Gegenteil: Wir besitzen viele Zeugnisse dafür, dass Luther ein besonders strenger und eifriger Mönch war. Dem widersprechen auch nicht seine spätere Abkehr vom Mönchtum und seine Kritik an ihm. Als Luther ins Kloster eintrat, sah er die Lebensform des Mönchs in traditioneller Weise offenbar als den eigentlichen Weg zum Heil (z. B. WA 40,2; 178,26 f). Er legte darin – im Gegensatz zu seinem modern denkenden, auf die Karriere in einem weltlichen Beruf hoffenden Vater – eine durchaus mittelalterliche Einstellung an den Tag. Wie sein langes Festhalten an der monastischen Lebensweise zeigt, entsprach sie auch durchaus seiner Neigung.
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Nachdem er es hinter sich gelassen hatte, sprach er häufig über sein Leben als Mönch, dessen Dauer er bald mit 15 (z. B. WA 21; 486,9 f) oder mehr (z. B. WA 49; 602,31), bald mit 20 (z. B. WA 22; 328,36) Jahren angeben konnte. Immer wieder betonte er die Ernsthaftigkeit seiner ehemaligen monastischen Existenz, z. B. im Galaterkommentar 1531: »ut ego war ein rechter fromer Monch« (WA 40,1; 685,6) oder in einer Tischrede von 1533: »Ich war ser fromm in monachatu« (WAT 1; 240,24). Im selben Jahr bekannte er: »War ists, Ein fromer Münch bin ich gewest, Und so gestrenge meinen Orden gehalten, das ichs sagen thar: ist jhe ein Münch gen himel komen durch Müncherey, so wolt ich auch hinein komen sein. Das werden mir zeugen alle meine Klostergesellen, die mich gekennet haben. Denn ich hette mich (wo es lenger geweret hette), zu tod gemartert mit wachen, beten, lesen und ander erbeit etc.« (WA 38; 143,25–29). Noch in der Vorrede zu Band 1 seiner Opera latina von 1545 bezeichnet er sich als einst »untadeligen Mönch« (WA 54; 185,21). Doch sind seine späteren Äußerungen fast durchweg von der Enttäuschung darüber geprägt, dass das Leben als Mönch trotz seines äußeren Anscheins von Heiligkeit nicht die erhoffte innere Wirkung hatte (z. B. WA 43; 615,25–29). Luthers persönliche Erfahrungen führten ihn seit 1520 zu wachsender Kritik am Mönchtum, die sich nicht nur gegen dessen Entartungserscheinungen richtete, sondern seine Grundlagen in Frage stellte. Er verwarf jetzt vor allem zwei grundsätzliche Punkte: zum einen die Gelübde, durch die er die christliche Freiheit des Gewissens gefährdet sah, zum andern die monastische Askese, deren Zusammenhang mit einem unevangelischen Streben nach Werkgerechtigkeit er aufdeckte. Auch nach seiner persönlichen Absage an das Mönchsleben konnte er gelegentlich zum Verbleiben im Kloster raten – so Abt Heino Gottschalk von Oldenstadt 1528 (WAB 4; 390 f) oder Brüdern des Fraterhauses in Herford 1532 (WAB 6; 255 f). In der Verteidigung gegen Angriffe, etwa gegen die Zumutung, »für einen unwahrhafftigen, Meyneydigen, verlauffenen Munchen« gelten zu müssen (WA 38; 135), konnte er sich selbst zu Schmähungen hinreißen lassen: »Denn du must gewonen, wenn du das wort Münch hörest, das es gleich so viel sey als hörtestu das wort Verleugneter Christ, Aposta ta vom glauben Christi, Ein bundgenos des Teuffels oder Zeuberer. Denn wir münche sind auch die rechten zeuberer und geuckler des Teuffels gewest, die wir alle welt mit unserm falschen gauckel spiel bezaubert und verblendet haben, das sie sampt uns von Christo abgefallen, Apostaten und verleugnete Christen worden sind Und des lieben erlösers sampt seinem leiden und blut gar vergessen haben« (aaO 146,37–147,7). Zusammenfassend: »Ein Kloster ist ein Helle, darinn der Teuffel Abt und Prior ist, Münche und Nonnen die verdampten seelen« (aaO 148,30–32). 4.3. Monastische Traditionen bei Luther
Während seiner zwanzigjährigen Existenz als Mönch hat Luther eine Vertrautheit mit der mönchischen Lebenspraxis und ihren Problemen gewonnen, wie sie kei-
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ner der anderen großen Reformatoren besaß. Dass monastische Traditionen seine Entwicklung beeinflusst und sein Denken dauerhaft geformt haben, muss der Historiker von vornherein vermuten. Evangelische Forscher haben diesen Einfluss lange Zeit vernachlässigt und – selbst nachdem er nicht nur von katholischer (z. B. P. Manns, Th. Bell), sondern auch von evangelischer Seite (z. B. R. Schwarz, U. Köpf) immer nachdrücklicher behauptet wurde – bis in die jüngste Zeit ignoriert oder gar bestritten (z. B. B. Lohse). Ihr vollständiger Nachweis gehört noch immer zu den Desideraten der Lutherforschung; es lassen sich aber doch einige sichere Aussagen darüber machen. 4.3.1. Spezifische Ordenstraditionen
Luther hat das Mönchtum am intimsten durch seinen Orden kennengelernt. Deshalb legt sich die Vermutung nahe, er habe spezifisch augustinische Traditionen des Augustinereremitenordens rezipiert. So behauptet A. Zumkeller, bereits die Erfurter Augustinertheologen des Spätmittelalters hätten eine antipelagianische Position vertreten (vgl. Zumkeller 1984). Weitgehende Folgerungen wurden seit Beginn des 20. Jahrhunderts aus der Tatsache gezogen, dass in den Wittenberger Universitätsstatuten von 1508 neben den beiden Richtungen der via antiqua, der via Thomae und der via Scoti, eine via Gregorii erwähnt wird (Friedensburg 1926, 56). Aus dieser Erwähnung und einigen anderen Belegen schloss H. A. Oberman, es habe eine für Luthers Orden bestimmende Schule Gregors von Rimini gegeben, die er inhaltlich als »Spätaugustinismus« charakterisierte (z. B. Oberman 1986a; Oberman 1981 [Vorwort]). An diese Richtung habe Luther in seinen Augustinusstudien unmittelbar angeknüpft. Verschiedene Arbeiten aus Obermans Schule versuchten, die Existenz einer solchen Schule zu erhärten (vgl. Schulze 1981); doch hat sich diese auf den ersten Blick einleuch tende Erklärung nicht bewährt. Eine via Gregorii wäre in Deutschland ohne Parallele; die Formulierung dürfte eine Verschreibung sein. In Wirklichkeit gab es in Wittenberg auch nie einen Lehrstuhl dieser Richtung – weder in der Artistenfakultät noch in der Theologischen Fakultät. Entscheidend ist aber, dass Luther Gregor erstmals und ausschließlich im Zusammenhang der Leipziger Disputation 1519 zitiert (WA 2; 344,20 f. 394,33. 395,8 f.12 u. ö. Vgl. Grane 1999). Es lässt sich nicht nachweisen, dass er durch diesen Theologen seines Ordens in seiner theologischen Entwicklung oder auch nur in seinem Augustinstudium beeinflusst sein könnte. Andere ältere Theologen des Ordens erwähnt er ebenfalls nur äußerst selten (z. B. singulär WA 7; 708,6: »Egidiista« [Anhänger des ersten großen Ordenstheologen Aegidius Romanus]). Alle Vermutungen über einen für Luther wichtigen »Spätaugustinismus« im Augustinereremitenorden sind demnach unbegründet. Luthers Verhältnis zu Augustin beruht offenbar auf selbständiger Lektüre dieses Kirchenvaters, dessen antipelagianische Schriften er offenbar erst nach seiner Entdeckung des wahren Sinnes von iustitia Dei (WA 54; 186,14 f) las (Grane 1975).
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Damit ist nicht gesagt, dass Luther dem Leben in seinem Orden nichts verdankt hätte. Ordensspezifische Traditionen müssen aber im Einzelnen nachgewiesen werden. Wie schwierig der konkrete Nachweis ist, zeigt M. Nicols Untersuchung über Meditation bei Luther, der es nicht gelingt, spezifische Einflüsse einer Theorie und Praxis der Meditation im Augustinereremitenorden bei Luther festzustellen (vgl. Nicol 1984). 4.3.2. Allgemein monastische Traditionen
Deutlicher fassbar sind allgemein monastische Traditionen. Grundlegend ist dabei das monastische Selbstverständnis. Seit seinen Anfängen in der ägyptischen Wüste hat sich das Mönchtum als Büßerstand begriffen; es entwickelte ein nichtsakramentales Bußverständnis, in dessen ihm besonders durch Bernhard von Clairvaux vermittelter Tradition auch Luther stand (vgl. Schwarz 1968). Als er 1517 seinen Angriff gegen den Ablass richtete, interpretierte er das Jesuswort Mt 4,17 im Sinne dieser monastischen, unsakramentalen Bußauffassung, die er auf alle Gläubigen anwandte (WA 1; 233,10–13). Ein weiteres Merkmal monastischen Selbstverständnisses ist die seit der Frühzeit herrschende Anschauung, nur der Mönch habe eine »Berufung« (vocatio) im Sinne von Röm 11,29 und Phil 3,14 (Holl 1928 a). Diese Anschauung hat Luther vorausgesetzt und zugleich überboten, als er den Berufsgedanken von den Religiosen auf alle Christen übertrug (WA 10,1,1; 308–310). Zum allgemeinen Erbe des Mönchtums gehört auch die durch das Stundengebet begründete Zentralstellung des Psalters in der christlichen Frömmigkeit. Bezeichnenderweise hat Luther seine erste theologische Vorlesung den Psalmen gewidmet (WA 55,1–2); in seiner Lehrtätigkeit ist er später wiederholt zu diesem für die monastische Tradition so grundlegenden Teil der Bibel zurückgekehrt. Der bereits in der ersten Psalmenvorlesung wichtige monastische Gedanke des geistlichen Leibes Christi (corpus Christi mysticum), der in der Mönchsgemeinschaft mit ihrem als Stellvertreter Christi (vicarius Christi) aufgefassten Oberen (abbas, prior, praelatus o. ä.) verkörpert ist, hat ihn bis in seine späteren Ausführungen von der geistlichen Gemeinschaft der Christen begleitet (vgl. Schwarz 1985). 4.3.3. Monastische Theologie
Eine wichtige Quelle für Luthers Kenntnis monastischer Traditionen bildete Bernhard von Clairvaux, der Hauptvertreter einer der scholastischen gleichwertigen monastischen Theologie im 12. Jahrhundert (vgl. Köpf 2002). Obwohl die von Luther benutzte Bernhard-Ausgabe noch nicht aufgefunden wurde und er manches Bernhard-Zitat gewiss der Vermittlung durch andere Autoren (bes. Bonaventura) verdankt, ist seine Bernhard-Kenntnis so dicht, dass sie mit Sicherheit auf ein selbständiges Studium seiner Werke schließen lässt (vgl. Bell 1993; dazu
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Köpf 1999 b). Davon zeugt bereits die erste Psalmenvorlesung, in der Luther wesentliche hermeneutische Einsichten Bernhard verdankt, ja selbst auf diesen zurückführt (z. B. WA 55,1; 301). Eine hermeneutische Grundeinsicht besagt, Erfahrenheit sei eine notwendige Voraussetzung für das Verstehen (z. B. WA 55,2; 490,19 f. Bei Bernhard z. B. Super Cantica 1,11; 22,2; dazu Köpf 1980, 208–212). Hier begegnet ein Hauptbegriff der Theologie Luthers, der zugleich eine zentrale Stellung in der monastischen Theologie einnimmt: der Begriff der Erfahrung (experiri, experientia, experimentum; Köpf 1982) (k C. III. 3.). Dieser Begriff hat von Anfang an im Mönchtum eine tragende Rolle gespielt (vgl. Holze 1992); er bezieht sich hier sowohl auf die vom Mönch verlangte Beobachtung des eigenen Inneren als auch auf die Hochschätzung der Altväter mit ihrem Reichtum an Erfahrungen. Im Werk Bernhards von Clairvaux findet sich ein durchreflektierter, konsequent gebrauchter Begriff religiöser Erfahrung, von dem Luther zweifellos aufs stärkste beeinflusst ist (vgl. Köpf 1980). Das gilt auch von dem zentralen systematischen Strukturelement der aufeinander bezogenen Selbsterkenntnis und Gotteserkenntnis (cognitio sui und cognitio Dei), das zwar seit der Alten Kirche in einem breiten Strom christlicher Sokratik überliefert wurde, Luther jedoch als ein Teil der monastischen Tradition besonders durch Bernhard (Super Cantica 34–38) bekannt war. Bereits in der ersten Psalmenvorlesung betont er, niemand gelange zur Gotteserkenntnis, der nicht zuvor gedemütigt worden und zur Selbsterkenntnis gekommen sei (WA 55,2; 137,8–11), und in den Operationes in psalmos (1519–1521) beruft er sich dafür sogar ausdrücklich auf Bernhard (WA 5; 508,21–26). Im Ganzen ist Luthers Nähe zur monastischen Theologie so auffällig, dass er als ein zweiter großer monastischer Theologe Bernhard von Clairvaux an die Seite gestellt werden darf (vgl. Köpf 1999 c). Köpf, Ulrich: Martin Luthers Lebensgang als Mönch (in: Ruhbach, Gerhard/Schmidt-Clausen, Kurt [Hg.]: Kloster Amelungsborn 1135–1985, 1985, 187–208). Ders.: Monastische Traditionen bei Martin Luther (in: Markschies, Christoph/Trowitzsch, Michael [Hg.]: Luther – zwischen den Zeiten, 1999, 17–35). Lohse, Bernhard: Mönchtum und Reformation. Luthers Auseinandersetzung mit dem Mönchs ideal des Mittelalters (FKDG 12), 1963. Schneider, Hans: Martin Luthers Reise nach Rom – neu datiert und neu gedeutet (in: Studien zur Wissenschafts- und zur Religionsgeschichte [Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, NF 10], 2011, 1–157). Stamm, Heinz-Meinolf: Luthers Stellung zum Ordensleben (VIEG 101), 1980. Ulrich Köpf
5. Mystik Die Frage nach Luthers Verhältnis zur Mystik spielte nach dem Zweiten Weltkrieg in der Lutherforschung lange Zeit kaum eine Rolle. Dies lag zunächst an der Tatsache, dass das Thema während des Dritten Reiches von einigen Forschern
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dazu missbraucht wurde, ihre Lutherdeutung den Vorgaben des Rosenbergschen Mythus des 20. Jahrhunderts (1930) anzupassen und einen mit der nationalsozialistischen Weltanschauung und der von Rosenberg vertretenen Betonung der Mystik als Ausdruck deutscher Religiosität kompatiblen Luther zu entwerfen. Die unmittelbare Abwehr dieses Forschungszweiges wurde noch dadurch unterstützt, dass die Rekonstruktion der Lutherforschung nach 1945 im Wesentlichen im Kontext der bestimmenden Wort-Gottes-Theologie erfolgte, mithin in einem theologischen Zusammenhang, der mit mystischen Überzeugungen eher schwer zu verbinden war; daher fanden auch Stimmen wie die des im Dritten Reich in der Bekennenden Kirche aktiven Wilhelm Maurer, der in einer Untersuchung der Freiheitsschrift Luther zwar von der Mystik unterschied, ihr aber doch streckenweise stark annäherte, kaum Gehör. Die Forschungen von Zur Mühlen haben vor diesem Hintergrund zu einer ganz erheblichen Begriffsdifferenzierung geführt und eine Synthese geschaffen, die die offenkundige Affinität des jungen Luthers zur Mystik mit einer ausgeprägten reformatorischen Theologie verbinden ließ, indem er die Aufnahme mystischer Sprachlichkeit als vorübergehende Hilfe zum Ausdrücken reformatorischer Theologie interpretierte. Insgesamt aber hat die reformationshistorische Forschung an der regen internationalen Debatte um mittelalterliche Mystik kaum Anteil gehabt. Diese Debatte hat aber zugleich ein Problem verschärft, das sich nun auch für die Lutherdeutung mit Vehemenz stellt: Der Begriff der Mystik entzieht sich offenkundig jeder allgemeinverbindlichen Definition. Die verschiedenen etymologischen Ableitungen haben hier ebenso wenig weitergeholfen, wie Anleihen bei der mittelalterlichen Begrifflichkeit oder sozialhistorische Einordnungsversuche. Der Protest gegen den unscharfen Begriff der Mystik geht gelegentlich so weit, dass selbst für einen so deutlichen Vertreter mystischer Theologie wie Meister Eckhart vor der Verwendung des Begriffs »Mystik« gewarnt wird. Solchen Einwänden hat die mediävistische Mystikforschung mittlerweile entschieden Rechnung getragen, und es scheint sich die Möglichkeit eines eher literatur- als allgemein geistesgeschichtlichen Verständnisses von Mystik als Mittel zur Klärung der Debatte abzuzeichnen: Kurt Ruh hat in der Einleitung zu seiner vierbändigen Geschichte der abendländischen Mystik (Ruh 1990–1999), dem neuen Standardwerk für mittelalterliche Mystik, vorgeschlagen, Mystik vor allem als Traditionszusammenhang zu begreifen, und zwar als einen solchen, für den ein gewisser Kern an unbestritten mystischen Schriften als gegeben vorausgesetzt wird, der durch literarische Zusammenhänge angereichert wird, ohne dass klare Abgrenzungen nach außen im Sinne eines »gerade noch mystisch« oder »eben schon nicht mehr mystisch« nötig oder definitiv möglich wären. Allein so kann der Mystikbegriff wissenschaftlich operationalisierbar bleiben und die Forschung von unsinnigen Scheingefechten über das Wesen dieser oder jener Theologie als mystisch entlastet werden. In diesem Sinne wird man auch bei Luther nach den von ihm rezipierten Traditionszusammenhängen zu fragen haben, ehe man eine Klassifizierung als Mystik vornimmt oder bestreitet.
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Dies kann auch den Blick auf »Luther und die Mystik« entspannen. Das Fehlen allgemeinverbindlicher Definitionsstandards wie die zurückhaltende Beschäftigung mit dem Thema hat es mit sich gebracht, dass bis in die jüngste Forschung hinein die Einteilung der für Luther relevanten Mystiktypen von Erich Vogelsang verwendet wird, obwohl sie, 1938 entstanden, mit der Einführung eines »romanischen« und eines »deutschen« Mystiktypus neben dem areopagitischen höchst prekäre nationalpsychologische Chiffren bietet. Diese Einteilung ist heute wohl in vieler Hinsicht überholt: Wichtiger als nationale Typologisierungen sind soziale Zusammenhänge und Ordensprägungen. So ist etwa jene Frömmigkeit, die seit Karl Rosenkranz im 19. Jahrhundert als »Deutsche Mystik« firmierte, heute aber, der französischen Forschung folgend, eher schlicht geographisch als »ober rheinische Mystik« des 14. Jahrhunderts bezeichnet werden sollte, durchaus in einen nationenübergreifenden Kontext eingebettet, wie insbesondere die anzunehmende Prägung Meister Eckharts durch die Begine Marguerite Porete zeigt. Ihr eigentlicher Nährboden ist nicht eine irgendwie zu fassende deutsche Geistigkeit, sondern schlicht die den Dominikanern auferlegte cura monialium an den in den Orden integrierten Beginenkonventen. Ebenso wenig wird man bei Bernhard von Clairvaux eine besondere romanische Prägung in Anschlag bringen können – wichtiger ist die innerliche Frömmigkeit seines Zisterzienserordens. Nicht zuletzt ist eine Isolierung eines »areopagitischen« Strangs der Mystik aufgrund der reichen Erkenntnisse über die neuplatonische Prägung auch wiederum der oberrheinischen Mystik kaum hilfreich. So hat die moderne mediävistische Forschung die in der Lutherforschung etablierten Kategorien weitgehend zerschlagen. Doch bleiben gewichtige Einsichten Vogelsangs erhalten, vor allem die, dass zwei Traditionsblöcke für Luther prägend geworden sind: die oberrheinische Mystik und die bernhardinische Mystik, während Dionysios Areopagita schon früh von Luther mit scharfer Kritik behandelt wurde. Die oberrheinische Mystik hat in den Jahren 1515–1518 einen in seiner Bedeutung unterschiedlich bewerteten, unzweifelhaft aber starken Eindruck auf Luther gemacht: Im Zuge der Erarbeitung der Römerbriefvorlesung erhielt Luther einen Predigtband Taulers und versah ihn mit bemerkenswerten Annotierungen. Besonders empfänglich für mystische theologische Ansätze machte ihn wohl auch Johann von Staupitz, der selbst unter dem Einfluss mystischer Theologen stand und insbesondere brautmystische Vorstellungen lehrte. Die Bedeutung der mystischen Theologie Taulers, die Luther neben Augustin wahrnahm, lag in jedem Falle darin, dass er theologischen Deutungsmustern begegnete, die seine monastische Existenz verstehbar machten und zugleich, ganz im Sinne Augustins, die Nichtigkeit des Menschen vor Gott ausdrückten: »Igitur tota salus est resignatio voluntatis in omnibus ut hic docet sive in spiritualibus sive temporalibus. Et nuda fides in deum« (Also besteht das ganze Heil der Niederlegung des Willens in allen geistlichen und zeitlichen Dingen, wie er hier lehrt, und in dem bloßen Glauben an Gott) (WA 9; 102,34–36), heißt es in einer seiner Randbemerkungen zu Tauler.
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Der Gesamtvorgang der Demütigung des Menschen im Angesicht Gottes und der von Gott her ermöglichten Wiederkehr zu Gott stand so sehr im Mittelpunkt von Luthers Interesse an mystischen Autoren, dass Luther, als er – als seine erste Publikation – 1516 die Theologia Deutsch herausbrachte, die er für ein Werk Taulers hielt, auf das Titelblatt setzen ließ: »Ein geistlich, edles Buchlein von rechter underscheid und vorstand, was der alt und neu mensche sei. Was Adams und was Gottes kind sei. Und wie Adam inn uns sterben unnd Christus ersteen soll« (WA 1; 153): Hier verschmolzen mystische und paulinische Theologie in ähnlicher Weise wie es zeitgleich mit Augustin der Fall war. Ob man dies nur als Einkleidung oder Bestätigung der reformatorischen Theologie oder doch als eigenständigen Impuls zu werten hat, der späte Folgen in der Transformation des Vorgangs der Demütigung und Lösung hieraus zur Dialektik von Gesetz und Evangelium hatte, ist schwer eindeutig festzulegen. Jedenfalls spricht manches für einen gewichtigen Einfluss von Luthers Beschäftigung mit den mystischen Schriften des späten Mittelalters auf die Ablassthesen vom 31. Oktober 1517 (vgl. Leppin 2002 b; Otto 2003): Luther selbst schrieb weniger Monate später, am 31. März 1518 an Staupitz: »Ego sane secutus theologiam Tauleri et eius libelli, quem tu nuper dedisti imprimendum Aurifabro nostro Christianno« (Ich bin freilich der Theologie Taulers und dessen Büchlein, das du kürzlich unserem Goldschmied Christan zum Druck gegeben hast, gefolgt) (WAB 1; 160,8 f) – mit dem zuletzt erwähnten Büchlein war wohl die Theologia Deutsch gemeint. Tatsächlich lässt sich auch inhaltlich nachvollziehen, dass wenigstens die erste Ablassthese mit ihrem sehr grundsätzlichen, das ganze Leben umfassenden Verständnis von Buße den Überlegungen Johannes Taulers nahe steht, der auch die Buße auf die wahre Reue konzentriert und gedanklich sehr weitgehend vom sakramentalen Vorgang im Angesicht des Priesters gelöst hatte. Möglicherweise weist auch das Widmungsschreiben an Staupitz, das Luther wiederum wenige Wochen später, im Mai 1518, den Resolutiones zu den Ablassthesen beigab (WA 1; 525–527), auf so etwas wie ein Bekehrungserlebnis zur von Staupitz vermittelten Mystik hin. Luther berichtet hier in einer an das sogenannte Große Selbstzeugnis von 1545 (WA 54; 185,12–186,24) erinnernden Weise von einem plötzlichen Erkenntniserlebnis, das sich auf das Verständnis der poenitentia bezog und nach seinen Datierungen unmittelbar in die Zeit seiner intensivsten Taulerlektüre fallen müsste. Noch im unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang der Heidelberger Disputation (1518) also hat Luther der spätmittelalterlichen Mystik eine Hochschätzung entgegengebracht, die mit der für Paulus und Augustin ausgedrückten durchaus vergleichbar ist. Und auch für spätere, gemeinhin eindeutig als reformatorisch eingestufte Texte bleiben mystische Vorstellungen sprachlich noch präsent: in der Freiheitsschrift des Jahres 1520 beschreibt Luther den Austausch zwischen Christus und der Seele mit dem Bild von Braut und Bräutigam und nimmt damit in großer Selbstverständlichkeit eine Metapher auf, die er zum einen unmittelbar von Staupitz übernehmen konnte, die aber vor allem durch die Hoheliedauslegungen Bernhards von Clairvaux tief
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in der mystischen Tradition verankert war. Die bernhardinische Mystik ist im Wesentlichen eine christologisch zentrierte Leidens- und Liebesmystik: Das Leben Christi wird als Ganzes, seit der Inkarnation, als Leidensweg gedeutet, aber als ein solcher, der nötig wurde, um den Menschen zur identifikatorischen Liebe einzuladen. Diese wiederum vollzieht sich als Erkenntnis der eigenen Sündigkeit, Nachfolge Christi und schließlich unio mit Christus. Diese relativ einfache Struktur ist in einem gedanklich und sprachlich hochkomplexen Predigtzyklus formuliert, der sich um das Hohelied rankte und diesem durch eine individualistische, dem Text entsprechende brautmystische Interpretation auf eine neue Weise theologischen Sinn zu geben vermochte. Dass Bernhard für Luther hoch attraktiv werden konnte, macht schon allein der bei Bernhard immer wieder betonte Begriff der »Demut« deutlich, der auch für den jungen Luther eine entscheidende Kategorie darstellte. Auffällig aber, und in der neueren Forschung wiederholt hervorgehoben, ist, dass sich Luther zeit seines Lebens positiv auf Bernhard berief. Als Hintergrund hierfür beschreibt Franz Posset eine spätmittelalterliche Bernhard-Renaissance, an der die Wittenberger Theologie in hohem Maße partizipierte (Posset 2011). Die neu edierten Erfurter Annotationen lassen erkennen, dass das mystische Interesse schon in diese Zeit zurückreicht und Luther wenigstens zum Teil auch durch die Lektüre Bonaventuras mit Bernhard vertraut wurde (AWA 9,8 Anm. 7; 11 Anm. 11 f). Theo Bell hat in seiner grundlegenden Untersuchung über fünfhundert Bernhard-Zitate bei Luther gezählt, die sich über sein ganzes Leben erstrecken, wenngleich mit der Zeit um 1520 eine Verschiebung in der Bewertung insofern eintritt, als Luther zunehmend auch die Differenzen zu Bernhard – etwa in der Frage der monastischen Gelübde oder auch des Messverständnisses und des Papstprimates – benennt (vgl. Bell 1993). Wie bei der oberrheinischen Mystik stellt sich allerdings auch bei Bernhard die Frage, was Luther schließlich mit diesem Erbe angefangen hat, dessen Wirkung am stärksten in den Entwicklungsjahren, etwa bis 1518/9 nachzuzeichnen ist. Die Deutungsmuster gehen von einer stark mystisch gefärbten Interpretation Luthers – insbesondere in der finnischen Forschung mit ihrer Betonung der Vergottung im Heilsgeschehen – über die Annahme, Luther habe auch in wesentlichen Teilen seiner Theologie letztlich mystische Konzeptionen transformiert, bis hin zu der vorherrschenden Auffassung, Luther habe zwar eine Zeitlang Bestätigung in der Mystik gefunden, diese aber dann zugunsten der genuinen reformatorischen Theologie abgestreift. Man wird vielleicht sogar sagen können, dass Luther bei den von ihm gelesenen und gebrauchten Autoren besonders von jenen Elementen ihrer Lehre affiziert war, die nach gängigem Verständnis nicht als Mystik einzustufen sind, jedenfalls nicht als Mystik im Sinne einer unio-Vorstellung. Auch wenn der unio-Gedanke bei ihm gelegentlich noch in den späten zwanziger Jahren, etwa im Zusammenhang der Abendmahlstheologie, vorkommt, sind die entsprechenden Erwähnungen mit den Schilderungen eines Bernhard und wohl auch mit den
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Umschreibungen eines Eckhart oder Tauler nicht zu vergleichen. Dass Luther eine unio angestrebt oder auch nur wie Eckhart als anzustrebend gelehrt habe, wird sich schwerlich behaupten lassen. So bleibt der Rekurs auf das Verständnis von Kurt Ruh: Luther ist ohne Zweifel rezeptiv eingebunden in einen literarischen Strom mystischer Texte, dessen Quellen in seinem besonderen Falle vor allem bei Bernhard und Johannes Tauler liegen. Vieles, was die Mystiker den mystisch bewegten Menschen verheißen – etwa ein Priestertum jenseits des Weihepriestertums, das Tauler den mystisch bewegten Männern und Frauen zuspricht – hat Luther – in diesem Falle als Gedanke vom allgemeinen Priestertum – verallgemeinert und auf die Grundlage nicht der Frömmigkeit des Menschen, sondern allein der Gnade Gottes gestellt. Vor allem aber hat er das, was er bei den Mystikern gelernt hat, auf diese Weise auch von deren in der Regel vorauszusetzendem sozialen Kontext, dem Kloster gelöst: Die Reformation wurde gerade auch unter diesem speziellen Gesichtspunkt zum »neuen Mönchtum« (Moeller 1998). Auch damit steht Luther seinerseits in einer Traditionslinie: Ähnliches lässt sich auch in der niederländischen Frömmigkeitsbewegung der devotio moderna beobachten, in der zwar auch ein gewichtiger monastischer Strang erhalten blieb, vieles aber der Verallgemeinerung mystischer Ideale im Bürgertum diente. Auch wenn die literarischen Verbindungen Luthers zur devotio moderna schwach sind – vor allem ist hier der gelegentlich von ihm angeführte Zerbold von Zutphen zu erwähnen –, lässt sich immerhin eine biographische Verbindung nachweisen: Vermutlich wurde er während seiner Schulzeit in Magdeburg von den von der devotio moderna geprägten Brüdern vom gemeinsamen Leben beherbergt. Und auch wenn keine Abhängigkeit vorliegen sollte, ist doch eine Ähnlichkeit im Umgang mit mystischen Inhalten erkennbar: Es ging beiden, der devotio moderna, wie Luther auch, um eine jenseits der Klostermauern lebbare Mystik – oder eben um eine Umformung der überkommenen Mystik zu einer lebbaren Alltagsfrömmigkeit. Mit der zunehmenden Identifikation der mystischen Quellen von Luthers Theologie lässt sich mittlerweile auch die nachhaltige Wirkung dieser Gedanken genauer erfassen. Offenbar brachte seine Entwicklung eine Brechung wichtiger Inhalte der mystischen Theologie mit sich. Besonders hervorzuheben ist hier der Gedanke von Gesetz und Evangelium, dessen spiritueller Hintergrund die mystische Lehre darstellt, dass der Mensch sich ganz »zenihte« (zunichte) machen muss, ehe Gott in ihn einfließen kann. Luther hat demgegenüber die Externität Gottes gegenüber dem Menschen gewahrt und das Geschehen an Gottes Wort gebunden, gerade damit aber das Vorgegebene transformiert. Das gilt in anderer Weise auch für den Gedanken des allgemeinen Priestertums, dessen Grundlagen sich bei Taulers Lehre, der andächtige Mensch sei, unabhängig von Weihe oder Geschlecht, ein Priester, finden. Luther hat diese Vorstellung radikalisiert, indem er das Priestertum nicht an besondere Andacht, sondern an die Taufe gebunden hat – und eben damit in der Adelsschrift die Grundlage für die politische Umsetzung der Reformation gelegt.
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Bell, Theo: Divus Bernhardus. Bernhard von Clairvaux in Martin Luthers Schriften (VIEG 148), 1993. Leppin, Volker: «Omnem vitam fidelium penitentiam esse voluit« – Zur Aufnahme mystischer Traditionen in Luthers erster Ablaßthese (ARG 93, 2002, 7–25). Ders.: Transformationen spätmittelalterlicher Mystik bei Luther (in: Ders./Hamm, Berndt [Hg.]: Gottes Nähe unmittelbar erfahren, 2007, 165–185). Ders.: Die fremde Reformation. Luthers mystische Wurzeln, 2016. Luther, Martin: Erfurter Annotationen 1509–1510/11, hg. v. Jun Matsuura (AWA 9), 2009. Mühlen, Karl-Heinz zur: Nos extra nos. Luthers Theologie zwischen Mystik und Scholastik (BHTh 46), 1972. Otto, Henrik: Vor- und frühreformatorische Tauler-Rezeption. Annotationen in Drucken des späten 15. und frühen 16. Jahrhunderts (QFRG 75), 2003. Ozment, Steven Edgar: Homo spiritualis. A comparative study of the anthropology of Johannes Tauler, Jean Gerson and Martin Luther (1509–16) in the Context of their theological thought (SMRT 6), 1969. Ruh, Kurt: Geschichte der abendländischen Mystik, 4 Bde., 1990–1999. Posset, Franz: The Real Luther. A friar at Erfurt & Wittenberg, 2011. Volker Leppin
6. Universitätswissenschaft Luther hat in Erfurt den gängigen Weg akademischer Ausbildung beschritten. Das bedeutete, dass jeder Student zunächst die Artes-Fakultät zu besuchen hatte. Diese hatte ihren Namen nach den septem artes liberales der Spätantike. Ihr Lehrplan aber hatte sich demgegenüber ist dem 13. Jahrhundert erheblich ausgedehnt. Schwerpunkte für die philosophische Ausbildung Luthers bildeten Logik, Physik, Moralphilosophie und Metaphysik. Diese Unterrichtsfächer wurden in der Regel als Auslegung des Aristoteles vorgetragen, der für die universitäre Wissenschaft des Mittelalters als der Philosoph schlechthin galt. Als seine entscheidenden Erfurter Lehrer hat Luther später Jodokus Trutfetter und Bartholomäus Arnoldi von Usingen genannt – zwei nicht besonders selbständige Vertreter dessen, was Luther wiederum als »Schule Ockhams« zusammenfasste. Präziser würde man heute von der via moderna sprechen: Im Zuge des fünfzehnten Jahrhunderts hatten die philosophischen Unterschiede, die um 1300 in der Einschätzung des ontologischen Status der Universalien (Allgemeinbegriffe) aufgebrochen waren, eine institutionelle Ausformung als schulprägende via antiqua einerseits, via moderna andererseits erfahren. Kurz gefasst handelt es sich beim Kern des Streits um die Frage, ob unseren Allgemeinbegriffen für Arten und Gattungen – etwa »Mensch« oder »Lebewesen« – eine außermentale Realität entspricht oder nicht. Die erste Position, von Thomas von Aquin und seinen Erben vertreten, bezeichnet man als Realismus, die zweite, erkenntnisskeptische Position wird oft verkürzt als Nominalismus bezeichnet, also als eine Lehre, nach
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der die Allgemeinbegriffe bloße nomina (Namen) für an sich heterogene Phänomene, letztlich durch willkürliche Verstandestätigkeit zusammengeordnete Dinge stehen. Genau genommen, hat man es in der Regel mit einem Konzeptualismus oder Terminismus zu tun, also mit einer nicht allein an der sprachlichen Artikulation der Namen, sondern primär an den innermentalen Begriffen orientierten Lehre, die in der Regel durchaus zugestehen konnte, dass der begriffsbildenden Tätigkeit des Intellekts eine reale Ähnlichkeit der Dinge außerhalb des Verstands zugrunde lag. Eine solche konzeptualistische Lehre vertrat auch Wilhelm von Ockham, der sehr häufig – auch von Luther selbst – als Urheber dieser neuen, »modernen« Philosophie genannt wird, die tatsächlich aus sehr unterschiedlichen Impulsen, teilweise zurückgreifend in die terministische Logik des 13. Jahrhunderts, vor allem Petrus Hispanus (gest. 1277 als Papst Johannes XXI.), entstanden war: Ockham war eher eine Chiffre zur Zusammenfassung einer bestimmten Lehrauffassung als ein tatsächliches Schulhaupt. Allerdings rankten sich um seinen Namen auch die Auseinandersetzungen in Paris im vierzehnten Jahrhundert, in denen sich erstmals abzeichnet, dass der Begriff der moderni auf Vertreter einer konzeptualistisch orientierten Philosophie festgelegt wurde. Im 15. Jahrhundert verfestigte sich diese Differenz dann zu den viae. In der Regel kam es zum Vorherrschen der einen via an einer Universität – etwa in Köln, wo schon allein aus einem an Albertus Magnus orientierten Lokalpatriotismus eine auf diesen ausgerichtete Variante der via antiqua vorherrschte, oder in Heidelberg, wo die via moderna vorherrschte und erst 1452 auch die via antiqua zugelassen wurde. Wie schroff die Streitigkeiten werden konnten, zeigt das Beispiel der Universität Ingolstadt, wo man Ende des 15. Jahrhunderts gar die Teilung der Universität erwog, weil sich die Vertreter der jeweiligen Wege nicht einigen konnten. Die weitgehende Verfestigung von Lehrmeinungen in der Bindung an philosophische Lehrstühle bringt es mit sich, dass man für die meisten Menschen, die im späten Mittelalter ausgebildet wurden, mit einiger Sicherheit sagen kann, welche philosophischen Grundannahmen ihr Denken bestimmten – mit den entsprechenden Folgen für die Theologie. Allerdings haben neuere Untersuchungen gezeigt, dass die Verfestigung der Wege möglicherweise nicht das Ausmaß erreicht hat, das man gemeinhin annahm: Für die scholastische Prägung Zwinglis hat Daniel Bolliger aufgezeigt, dass es nicht nur das einfache Gegenüber von via moderna und via antiqua gab, sondern auch Traditionen, die sich der klaren via-Zuweisung entzogen, in diesem Falle eine, vorwiegend von Franziskanern getragene, scotistische Linie, die sich auf den in er Tat von beiden viae als Autorität herangezogenen Duns Scotus berief; für ihn ist eine eigene Lösung der Universalienlehre, die sogenannte distinctio formalis, charakteristisch, die sowohl realistisch als auch konzeptualistisch interpretiert werden kann. Solche gerade in der protestantischen Forschung oft unterschätzten Ordenstraditionen können auch eventuell den Blick auf die sogenannte via Gregorii wieder öffnen, die in den Universitätsstatuten von 1508 erwähnt ist und der H. A. Oberman ein großes Erklärungs-
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potential für die scholastische Prägung Luthers zumaß. Dies gilt umso mehr, als die lange Zeit gültige Annahme, Luther sei auf Gregor von Rimini erst im Zusammenhang der Leipziger Disputation gestoßen, so nicht mehr haltbar ist: Schon in seinen in Erfurt niedergeschriebenen Notizen zu Ockhams Traktat De sacramento altaris verweist Luther auf Gregor von Rimini (AWA 9; 696,12–14), und zwar in einer Weise, die sich nicht restlos aus seinem Gewährsmann Biel erklären lässt. Möglicherweise war seine Gregor-Kenntnis also besser als angenommen. Hintergrund von Obermans These ist die Beobachtung, dass es im 14. Jahr hundert zu einer Augustin-Renaissance kam, die wenigstens teilweise auch von Luthers Orden, dem der Augustinereremiten, getragen wurde. Dabei ist unter Augustin-Renaissance im eigentlichen Sinn eine Wiederentdeckung der inspirierenden Kraft seiner antipelagianischen Schriften zu verstehen: Augustin war dem Mittelalter selbstverständlich als eine der größten theologischen Autoritäten ständig präsent, was sich neben der Erkenntnislehre vor allem in der Sakramentenlehre bemerkbar machte. Die Gnadenlehre aber spielte demgegenüber eine weit geringere Rolle. Eben dies änderte sich bei einigen Denkern im 14. Jahrhundert. Auslöser waren die zum Teil vergröbernden Anwendungen eines Grundkonzeptes der Theologie Wilhelms von Ockham: Zu den zentralen Überzeugungen im theologischen Denksystem Ockhams gehörte die Lehre von der potentia absoluta Dei, nach der Gottes Allmacht grundsätzlich durch nichts eingeschränkt sei als durch die Lehre vom ausgeschlossenen Widerspruch. In seinem schöpfungsbezogenen Handeln allerdings folge er der potentia ordinata, das heißt nur seinen selbst erlassenen, unter Umständen höchst speziellen Gesetzen. Die Folgen dieser Lehre gerieten rasch unter den Verdacht eines Pelagianismus, freilich in krassem Widerspruch zum Intendierten: Ockham betonte gelegentlich gegen Thomas von Aquino, dass der Mensch ohne jede zusätzliche übernatürliche Gnade, allein in seiner natürlichen Verfasstheit von Gott angenommen werden könne – weil dies keinen Widerspruch einschließe, also für Gott nach seiner potentia absoluta möglich sei. Seine Aussage war also Folge der Hochschätzung der göttlichen Möglichkeiten. Dies konnte aber so verstanden werden, als lebe die Überzeugung des Pelagius, der Mensch verfüge über eine so unbelastete Natur, dass er sich sein Heil gewissermaßen erwerben könne, wieder auf – als lehre Ockham also gerade eine besondere Hochschätzung der menschlichen Möglichkeiten. Man konnte daher Ockham selbst und seine Anhänger als »moderne Pelagianer« verstehen, und dies taten zwei Zeitgenossen dann auch: Thomas Bradwardine und Gregor von Rimini. Für die Lutherdeutung entscheidend ist sein Ordensbruder Gregor, der in seiner Kritik an den »modernen Pelagianern« an die augustinische Prädestinationslehre anknüpfte und diese in aller Schärfe als doppelte Prädestination formulierte. Dabei hat Gregor genau der Gedanke der potentia absoluta, aus dem der »moderne Pelagianismus« entstehen konnte, zu seinen antipelagianischen Konsequenz geführt: Gregor bestritt überhaupt nicht, dass Gott durch seine potentia absoluta alle Regelungen außer Kraft setzen könne, aber dies zeige nur seine große Macht. Was die Heilsordnung de potentia ordinata anging,
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versicherte Gregor, dass der Mensch völlig auf die Gnade Gottes angewiesen war: Gregor löste also ein Ockhamsches Problem mit Ockhamschen Mitteln – und so ist es durchaus denkbar, dass ein in terministischen Bahnen geschulter Denker wie Luther auch Inspiration von Gregor empfing. Zwar hat die neuere Forschung gegen Oberman zu Recht darauf verwiesen, dass Luther Gregor erst relativ spät, 1519, zum ersten Mal zitiert; und eine tatsächlich inhaltlich konturierte via Gregorii für Erfurt oder auch, trotz der institutionell folgenlos gebliebenen Erwähnung in den Statuten, für Wittenberg zu konstruieren, dürfte kaum gelingen. Dass Gregor aber für den Augustinereremitenorden Dinge als denkbar erwiesen hatte, die von großer Bedeutung für Luther werden sollten, kann mittelbar auch Folgen für die theologische Entwicklung Luthers gehabt haben. Zu solchen nicht unbedingt im Sinne fester Traditionsstränge, sondern eher im Sinne des Aufweises innerscholastischer Möglichkeiten für das Lutherverständnis wichtigen Phänomenen der Theologie des späten Mittelalters gehört auch das von B. Hamm als »Frömmigkeitstheologie« identifizierte Phänomen. Hiermit werden Theologen bezeichnet, »deren ausschließlich seelsorgerliche Intentionen darauf ausgerichtet sind, der Ferne zwischen scholastischer Theologie der Universität und Frömmigkeit des Alltags entgegenzuwirken und sich ganz der Anleitung zum rechten Vollzug eines christlichen Lebens, seiner geistlichen Vertiefung und ordnenden Gestaltung, zu widmen« (Hamm 1995,608). Zu den bedeutendsten Vertretern dieses Theologietypus, der zeigt, dass die insbesondere von den Humanisten oft gescholtene elfenbeinturmartige Ferne scholastischer Theologen von der religiösen und lebensweltlichen Realität nur begrenzt das Gesamte spätscholastischer Theologie erfasst, gehören Johannes Gerson und, für das Verständnis Luthers wesentlich bedeutsamer, Johannes von Paltz, der bis kurz nach dem Eintritt Luthers im Erfurter Konvent der Augustiner-Eremiten gelebt hatte, von diesem aber wohl nicht mehr bewusst wahrgenommen wurde. Auch wenn er als Theologe an der Theologischen Fakultät Erfurt lehrte, weist sein Œuvre kaum spekulative Züge auf, sondern richtet sich vor allem auf die gnädige Zuwendung Gottes zum Sünder durch die Passion Christi. Sind so durch die Forschung der letzten Jahrzehnte also Traditionen benannt worden, die Luther in seiner theologischen Entwicklung positiv beeinflusst oder gestärkt haben könnten, ohne dass dies im Einzelnen philologisch nachweisbar wäre, so bleibt doch für Luthers reformatorische Entwicklung entscheidend, dass er zu einer zunehmend schroffen Ablehnung der scholastischen Theologie kam, die sich in seiner Thesenreihe Contra scholasticam theologiam 1517 äußert. Der dänische Lutherforscher Leif Grane, der die gründlichste Untersuchung dieser Thesenreihe vorgelegt hat, hat seine Monographie unter den treffenden Titel: Contra Gabrielem gesetzt, denn in der Tat lässt sich nachzeichnen, dass das, was Luther hier als »die« scholastische Theologie bezeichnet, im Wesentlichen die Theologie Gabriel Biels ist. Biel, der im ausgehenden 15. Jahrhundert den der via moderna zugewiesenen Lehrstuhl der Tübinger Universität – die seit ihrer Gründung im Jahre 1477 beide
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Lehrrichtungen zuließ – bekleidet hatte, gehört selbst in den Kontext der Frömmigkeitstheologie, was sich insbesondere in seiner ausführlichen Erläuterung des Messkanons zeigt. Für Luthers Entwicklung wichtiger wurde aber sein Collectorium sive Epitoma circa quattuor libros sententiarum (1486–1488), also eine Erklärung des klassischen Lehrbuches der mittelalterlichen Theologie, der von Petrus Lombardus zusammengestellten und theologisch gegliederten Sammlung von Vätersentenzen. Biels Kommentar war wenig originell, sondern folgte im Wesentlichen den Auffassungen Ockhams – freilich im Allgemeinen unter Zuspitzung in pelagianische Richtung. Dabei war für Biel durchaus sein frömmigkeitstheologischer Ansatz leitend: Mit einem pelagianischen, das Heil vom Tun des Menschen abhängig machenden Theologieverständnis ließ sich der Appell an gutes Tun bei den Menschen leichter formulieren als mit Augustins schroffer Bestreitung des freien Willens. Biels umfassender, rasch gedruckter Sentenzenkommentar lag nun seinerseits den Vorlesungen des Johannes Nathin zugrunde, Augustiner-Eremit und Theologieprofessur in Erfurt. Diese Vorlesung hörte auch Luther, als er nach der kurzen Episode des Rechtsstudiums unter den höheren Fakultäten die theologische ausgewählt hatte, und erhielt so die Einführung im Sinne Biels. Aufgrund dieser Konstellation wurde Luther, während er zunehmend durch Augustin inspiriert wurde, die Problematik scholastischer Theologie besonders deutlich vor Augen geführt. Zusehends sah Luther sich aufgrund seines paulinisch-augustinischen Denkens in eine Konfrontation mit der in seinem Studium offiziell gelehrten Theologie gedrängt, deren Grundübel er – und darin weist sein Kampf gegen die Scholastik weit über die bloße Konfrontation mit Gabriel Biel hinaus – in der Verwendung der aristotelischen Philosophie in der Theologie sah. Schon Anfang 1517 war sein erkennbares Ziel die Verdrängung der aristotelischen Philosophie aus der Theologie. Dieser Kampf gipfelte wenige Wochen vor den Ablassthesen in den Thesen Contra scholasticum theologiam, die am 4. September 1517 der Promotionsdisputation von Franz Günther zugrunde lagen und die eine augustinisch geprägte Gnadenlehre mit der pelagianischen Theologie Biels konfrontierten. Die ersten scharf kritischen Akte Luthers richteten sich also auf eine Reform des Wissenschaftsbetriebs. Das passte durchaus in den Wittenberger Gesamtkontext, in dem ja Luther zu diesem Zeitpunkt noch keineswegs die Zentralgestalt darstellte: Während sich die Probleme des Theologiestudiums gewissermaßen von selbst dadurch lösten, dass die meisten Kollegen sich Luthers Lehre anschlossen, begannen 1518 auch Änderungen an der Artes-Fakultät, vor allem durch die humanistisch inspirierte Förderung des Unterrichts in den alten Sprachen. Dies brachte auch die Berufung Melanchthon (k B. III. 9.) mit sich. Allerdings wurden an der Wittenberger Universität Luthers Pläne keineswegs einlinig umgesetzt: Die Adelsschrift aus dem Jahr 1520 macht deutlich, dass er selbst am liebsten den ganzen Aristoteles außer den Schriften zu Logik, Rhetorik und Poetik, die er nicht nur für die Redekunst allgemein, sondern auch speziell
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für die Predigt für nützlich erachtete, aus dem universitären Betrieb ausschließen wollte (WA 6; 457,35–458,40) – dies ist so auch in Wittenberg nie umgesetzt worden. Noch bis 1521 herrschte selbstverständlich der Aristotelismus an der Wittenberger Artes-Fakultät, und auch trotz des Umbaus der folgenden Jahre wurde die Physik-Vorlesung stets beibehalten und bald auch die Ethik-Vorlesung wieder eingeführt. Melanchthon hat dann später auch deutlich positiver Stellung zu Aristoteles genommen als Luther. Ohnehin wird man auch Luther nicht auf einen platten Antiaristotelismus festlegen dürfen. Insbesondere seine große Disputatio de homine (1536), selbst ein Produkt des wieder erneuerten wissenschaftlichen Betriebs in Wittenberg, zeigt eher eine subtile Grenzsetzung, die den Erkenntnisbereich des Aristoteles nicht einfach negiert, aber aufgrund theologischer Erkenntnisse erheblich beschränkt. Wie weit auch für ihn selbst bestimmte scholastische Denkkategorien leitend blieben, ist schwer zu erfassen. Am ehesten richten sich mögliche Vermutungen einer anhaltenden Prägung durch scholastisches Denken auf die Gotteslehre, der man an einigen Stellen Züge der via moderna unterstellen kann. Das wohl bekannteste Beispiel hierfür ist die Lehre vom deus absconditus in De servo arbitrio (1525), die gerne in Beziehung mit der potentia absoluta Ockhams gesetzt wird. Allerdings unterschätzt dies möglicherweise die Tiefgründigkeit des Lutherschen Konzeptes: Während es sich bei Ockham um ein grundsätzliches, logisch begründetes Konzept handelt, geht es Luther um die Frage nach dem Ursprung des angesichts der Offenbarung nicht Verstehbaren in Gott. Auch wenn der Hinweis auf den deus revelatus an die Betonung der potentia ordinata in einigen Kreisen der via moderna erinnert, die den Menschen vor Verunsicherung durch den all- und übermächtigen Gott bewahren sollte: Die jeweilige Ausrichtung der Dialektik im Gottesbild ist zu unterschiedlich, um sie einfach ineinander zu verrechnen. Plausibler ist da wohl eine Deutung des Marburger Religionsgespräches, die Oberman vorgelegt hat: Hiernach läge die Differenz zwischen Luther und Zwingli gerade auch in ihren unterschiedlichen scholastischen Prägungen. Dabei setzt Oberman für Zwingli einfach eine Ausbildung in der via antiqua voraus, was heute wohl im Sinne einer jenseits der Schulstreitigkeiten zu verortenden scotistischen Tradition zu präzisieren ist. Grundsätzlich aber bleibt der auffällige Gegensatz, dass Zwingli die Möglichkeiten Gottes geradezu definitorisch zu bestimmen sucht, während Luther dem Handeln Gottes einen weiten Möglichkeitsraum zubilligt und ihn nicht durch philosophische Überzeugungen, sondern durch das biblische Wort definiert sein lässt. Das passt mentalitätsgeschichtlich eher zu den Ansätzen der via moderna, die auf eben solche Möglichkeiten in Gott rechneten. Dieter, Theodor: Der junge Luther und Aristoteles. Eine historisch-systematische Untersuchung zum Verhältnis von Theologie und Philosophie (TBT 105), 2001. Dingel, Irene/Wartenberg, Günther (Hg.): Die Theologische Fakultät Wittenberg 1502–1602. Beiträge zur 500. Wiederkehr des Gründungsjahres der Leucorea (LStRLO 5), 2002.
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Grane, Leif: Contra Gabrielem. Luthers Auseinandersetzung mit Gabriel Biel in der Disputatio contra scholasticam theologiam (AThD 4), 1962. Hamm, Berndt: Frömmigkeitstheologie am Anfang des 16. Jahrhunderts. Studien zu Johannes von Paltz und seinem Umkreis (BHTh 65), 1982. Leppin, Volker (Hg.): Thomas Handbuch, 2016. Luther, Martin: Erfurter Annotationen 1509–1510/11, hg. v. Jun Matsuura (AWA 9), 2009. Oberman, Heiko A.: Spätscholastik und Reformation. Bd. 1, 1965; Bd. 2, ²1979. Volker Leppin
7. Humanismus Der Humanismus hatte sein Zentrum zunächst in den norditalienischen Städten. Seit dem 14. Jahrhundert wurde er hier, vor allem im mediceischen Florenz, zu der geistigen Ausdrucksform der Renaissancekultur, die in der Gründung der Akademie in Florenz gipfelte. Es ist insbesondere diese Einbindung in die Renaissancekultur, die in der älteren Forschung zu einer starken ideengeschichtlichen Aufladung des Begriffes »Humanismus« und der Verbindung mit der Konzeption eines »Renaissance-Menschen« bei Jacob Burckhardt geführt hat. Die jüngere Forschung ist hier nüchterner und hat einen Humanismusbegriff erarbeitet, der formal die studia humanitatis in den Vordergrund stellt, also die Beschäftigung mit Sprache in ihren Quellen. So wird die Kontinuität zur scholastischen Philosophie des Mittelalters verstehbar, insofern die Humanisten an die Errungenschaften des sprachlich orientierten Trivium (Grammatik, Rhetorik, Dialektik) innerhalb der septem artes liberales anknüpfen konnten, sich aber sowohl von der autoritativen Geltung des Aristoteles befreiten als auch neue Diskursformen schufen: Große Bedeutung gewannen die sich weit über Europa erstreckenden Korrespondenznetze und die an verschiedenen Orten gebildeten sodalitates (Vereinigungen), die den geistigen Austausch unterstützen und pflegen sollten. In dieser formalen Beschreibung lässt sich der Humanismusbegriff auch auf den deutschen Humanismus anwenden, der ein Ableger des italienischen ist. Soweit Luther Inspiration vom Humanismus empfangen hat, ging diese auf deutsche Humanisten zurück – im Unterschied etwa zu Zwingli, für den der italienische Humanist Giovanni Pico della Mirandola zeitweise von ganz erheblicher Bedeutung war. Luther hat den italienischen Humanismus nur benutzt, wo er seinen Anliegen entgegenkam, namentlich in Gestalt des durch Lorenzo Valla erfolgten Nachweises, dass die sogenannte Konstantinische Schenkung, die die Übertragung von Herrschaftsrechten durch Kaiser Konstantin an Papst Silvester I. berichtete, eine Fälschung sei. Der deutsche Humanismus nahm seinen Ausgang vor allem im Südwesten, einerseits an den Universitäten, andererseits in den größeren Städten, nicht unbedingt nur Reichsstädten: Eine humanistische Schule wie in der Reichsstadt
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Schlettstadt, findet sich auch etwa in der landsässigen badischen Stadt Pforzheim. Als universitäres Zentrum stellte sich bald die Universität Heidelberg heraus, an der Rudolf Agricola nach einer längeren Italienreise an der Artes-Fakultät wirkte. Sein Schüler Conrad Celtis sorgte auf zahlreichen Reisen für die Ausbreitung der humanistischen Bewegung durch Gründung von lokalen sodalitates. Zeitweise hielt Celtis auch Vorlesungen an der Universität Erfurt und prägte damit das intellektuelle Milieu mit, in dem Luther sein Studium verbrachte. Der Erfurter Humanistenkreis gehörte bald zu den bedeutendsten humanistischen Gemeinschaften in Deutschland. Insbesondere Nikolaus Marschalk mit seinem Spott über Scholastik und seinen Forderungen nach grundlegender Studienreform ragte hier heraus und, nach Marschalks Wechsel von Erfurt nach Wittenberg im Jahr 1502, Mutianus Rufus. Er lebte als Kanoniker in Gotha, sammelte aber ab 1503 in Erfurt eine sodalitas im humanistischen Geist, zu der einige später in der Reformationsgeschichte hervortretende Gestalten wie Georg Spalatin, Ulrich von Hutten, Helius Eobanus Hessus und Justus Jonas gehörten. Zu diesen Erfurter Humanisten gehörte auch Crotus Rubeanus, der gemeinsam mit Ulrich von Hutten 1515–1517, also zu einem Zeitpunkt, als Luther schon in Wittenberg war, die Epistolae obscurorum virorum (Dunkelmännerbriefe) verfasste. Der Titel bezog sich auf die 1514 erschienenen Epistolae clarorum virorum, die der Pforzheimer Humanist und entfernte Verwandte Philipp Melanchthons Johannes Reuchlin publiziert hatte, um sein reiches gelehrtes Korrespondentennetz zu dokumentieren. Den Hintergrund bildet sein Engagement gegen die Konfiszierung jüdischer Schriften: Reuchlin hatte hierzu in einem Gutachten Stellung nehmen müssen, das aufgrund der polemischen Schriften des 1504 zum Christentum konvertierten ehemaligen Juden Johannes Pfefferkorn gegen das jüdische Schrifttum eingefordert worden war und war wegen seiner auf die Schonung jüdischer Schriften ausgerichteten Gutachtens sogar einem Häresieprozess unterzogen worden. Die parodistischen Dunkelmännerbriefe stellten das satirische Gegenbild zu den Briefen der hellsichtigen Männer dar: nicht humanistisch gelehrte Briefe, sondern in mittelalterlichem Küchenlatein verfasste Pamphlete starrsinniger Scholastiker. In diesem Produkt des Erfurter Humanismus erreichte der nordalpine Humanismus seine schärfte polemische Zuspitzung gegen die Geisteswelt des Mittelalters. Auch wenn Luther die Zentralgestalt des Erfurter Humanismus, Mutianus Rufus, erst 1515 kennengelernt hat und er auch die Publikation der Dunkelmännerbriefe nicht mehr in Erfurt erlebt hat: Mit einem ihrer Verfasser, Crotus Rubeanus, hatte er in Erfurt intensiven Kontakt, über ihn dann auch mit Ulrich von Hutten. Und es ist deutlich, dass Crotus Rubeanus Luther selbst als Gleichgesinnten wahrgenommen hat: »Eras in nostro quondam contubernio musicus et philosophus eruditus« (Du warst damals in unserer Wohngemeinschaft der Musiker und gelehrter Philosoph) (WAB 2; 91,3 f), schreibt er im April 1520 an Luther – und spricht ihn damit offenkundig als jemanden an, der in seiner Studienzeit,
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noch vor dem Eintritt in das Kloster, nämlich in der mit dem Begriff contubernium gemeinten Georgenburse (Wohnheim), humanistisch-philosophisch orientiert war. Und die Verbindung mit humanistischen Kreisen riss selbstverständlich nicht ab, als er 1505 in den Orden der Augustinereremiten eintrat und damit nur wenige hundert Meter weiter von der Burse in das Kloster zog, denn die Augustinereremiten in Erfurt waren traditionell eng mit den humanistischen Kreisen verbunden. Und auch Luthers theologische Lehrer Trutfetter und Arnoldi waren keineswegs antihumanistische Scholastiker, sondern waren der Überzeugung, beide geistigen Strömungen miteinander verbinden zu können. Es steht also außer Zweifel, dass Luther unter dem Einfluss der humanistischen Bewegung in Erfurt stand, ja ihrem kommunikativen Netzwerk zeitweise zuzurechnen war. Und es war wohl auch der Impuls aus den humanistischen Studien, der ihn auf die Lektüre der Kirchenväter brachte – dass dann allerdings innerhalb dieser Augustin rasch die führende Rolle gewann, ist anderen Einflüssen: der Ordenstradition und der negativen Abgrenzung von der Scholastik der via moderna zuzuschreiben. Auch für die Bibellektüre aber war der Humanismus von großer Bedeutung: Begleitend zu seiner ersten Psalmenvorlesung hat er das Qunicuplex Psalterium des französischen Humanisten Faber Stapulensis benutzt, das fünf unterschiedliche lateinische Fassungen des Psalters bot. Die hermeneutischen Überlegungen der Praefatio Ihesu Christi, die Luther dem für seine Vorlesung bestimmten Psalterdruck von 1513 voranstellte, stehen deutlich unter dem Einfluss des Stapulensis. Vor allem aber wurde die Ausgabe des griechischen Neuen Testaments aus der Hand des Erasmus wichtig, die Luther bald nach ihrem Erscheinen 1516 kennen lernte – damit war für das Neue Testament eine den humanis tischen Ansprüchen genügende Textgrundlage geschaffen, die sich Luther samt ihren philologischen Erklärungen rasch zu eigen machte (k C. I. 1.). Unter anderem sein vertieftes Verständnis von meta-noia, Buße als Sinneswandel, hat er nicht nur aus dem mystischen Bußverständnis gewonnen (k B. I. 5.), sondern durch das Neue Testament des Erasmus wenigstens abgesichert. Insgesamt aber hat Luther durch seine Betonung der Gnadentheologie dem Humanismus gegenüber sehr rasch eine Eigenständigkeit gewinnen können, für die kennzeichnend bleibt, dass es nicht zu einer trennscharfen Abgrenzung vom Humanismus kam, sondern die reformatorische Bewegung lange Zeit mit der humanistischen verschlungen war. So war seine scharfe Kritik an der scholastischen Theologie durchaus mit dem antischolastischen Zeitgeist, wie er sich in den Dunkelmännerbriefe[n] äußerte, kongruent, auch wenn bei Luther aus dem Spott ein durchdachtes theologisches Programm wurde. Auch war Luther an den humanistisch inspirierten Überlegungen zur Universitätsreform in Wittenberg beteiligt, die zur Berufung Philipp Melanchthons nach Wittenberg führten, also einen aufstrebenden jungen Humanisten mit der Aufgabe der Lehre der Alten Sprachen an der Artes-Fakultät installierten. Vor diesem Hintergrund ist es kaum erstaunlich, dass die Rezeption Luthers im humanistischen Kontext erfolgen konnte: In Nürnberg wandelte sich im Jahre
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1518 die sodalitas Staupitziana in eine sodalitas Martiniana: Die humanistische Kommunikationsform wurde mit reformatorischem Inhalt gefüllt. Charakteristisch ist auch etwa noch im Jahr 1521 die Begrüßung Luthers auf dem Weg zum Wormser Reichstag in Erfurt, zu der Eobanus Hessus ein Lobgedicht beisteuerte, das bis hin zur antikisierenden Götteranrufung humanistischen Geist atmete. Auch die vielfach beschworene Trennung vom Humanismus aufgrund des Streits mit Erasmus im Jahr 1525 (k B. III. 7.) besaß die symbolisch aufgeladene Schärfe nicht: Allein schon durch Melanchthon blieb der Humanismus in Wittenberg präsent, und auch andernorts blieben humanistisch gelehrte Prediger und Pfarrer im Lager der Reformation. Diese war ein mit dem Humanismus verbundenes Phänomen, das ohne diesen nicht erklärbar wäre, in ihm aber nicht aufgeht. Beyer, Michael/Wartenberg, Günther (Hg.): Humanismus und Wittenberger Reformation, (FS Helmar Junghans), 1996. Burger, Christoph: Art. Humanismus (in: Leppin, Volker/Schneider-Ludorff, Gury [Hg.]: Das Luther-Lexikon, 2014, 300–303). Grossmann, Maria: Humanism in Wittenberg. 1485–1517 (BHRef 11), 1975. Junghans, Helmar: Der junge Luther und die Humanisten (AKG 8), 1984. Volker Leppin
8. Weltliche Ordnung Der weltlichen Ordnung kommt innerhalb von Luthers Unterscheidung der beiden Regimente (k C. II. 8.) die Funktion einer eigenen, in Gottes Schöpferwillen begründeten Regierweise zu. Im Reich der Welt bedient sich Gott der Politik und des Rechts, um die äußere Ordnung zu erhalten und so dem Bösen zu wehren. Über eine von seinem theologischen Grundverständnis unabhängige politische Theorie verfügte Luther nicht. Die Gegebenheiten, die er konkret vor Augen hatte, wenn er sich zu politischen Fragen äußerte, lassen sich etwas vereinfacht mit folgenden Stichworten umschreiben: Reich und Reichskirche, Territorium und landesherrliches Kirchenregiment. Luther verbrachte den größten Teil seines Lebens im Kurfürstentum Sachsen, die kursächsischen Verhältnisse haben seinen politischen Erfahrungshorizont maßgeblich bestimmt. Daneben kam er kurz nach seinem ersten öffentlichen Auftreten in Kontakt mit dem Reich, dessen Entscheidungen für ihn selbst und seine Lehre von größter Bedeutung wurden. Da Luthers Verhältnis zu den sächsischen Kurfürsten an anderer Stelle be handelt wird (k B. III. 11.) und auch die europäische Dimension hier ausgeblendet bleiben kann (k B. III. 14.), geht es im Folgenden vor allem um das Reich als den politischen Rahmen der lutherischen Reformation (zu Luthers eigenem Bild des Reiches und seiner Auseinandersetzung mit den Reichsentscheidungen k B. III. 13.).
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8.1. Das Reich in der Lutherzeit
Im Blick auf das Reich des ausgehenden Mittelalters sind Vorstellungen moderner Staatlichkeit im Sinne eines institutionalisierten Flächenstaats mit klar abgegrenztem Staatsgebiet, Staatsvolk und einheitlicher Staatsgewalt verfehlt. Das Reich war im Kern noch immer der mittelalterliche »Personenverbandsstaat« (Th. Mayer), der durch individuelle Rechtsbeziehungen, vor allem das Kaiser und Reichsfürsten verbindende Lehnsrecht, konstituiert wurde. Im Namen Heiliges römisches Reich deutscher Nation, der im 15. Jahrhundert gebräuchlich wurde, kommt zum Ausdruck, was das Reich im Selbstverständnis der Zeitgenossen kennzeichnete: die vermeintlich antik-römische Wurzel, eine kirchlich-römisch-heilsgeschichtliche Qualität und eine nationale Komponente. Der Schwerpunkt des Lehensverbandes Reich lag in Deutschland, doch waren die Reichsgrenzen keine Sprachgrenzen. Sie kartographisch darzustellen (vgl. die beigegebene Karte), ist problematisch, suggeriert doch jede Grenzlinie das Vorhandensein eines klar definierten Staatsgebietes. Im Falle des Reiches ist aber eher von Grenzsäumen zu sprechen, in denen sich die lehnsrechtlichen Bindungen an den Kaiser ausdünnten und mit Herrschaftsansprüchen der Nachbarn überlappten. Legt man die theoretischen, vor allem lehnsrechtlich bestimmten Reichsgrenzen zugrunde, so gehörten im Westen Savoyen, die Freigrafschaft Burgund, Lothringen und die Niederlande zum Reich, im Norden reichte das Reich bis zum Meer und zur Eider, schloss das Herzogtum Holstein ein, nicht aber Schleswig, obwohl es mit Holstein in Personalunion verbunden war. Im Osten gehörten Hinterpommern, die Neumark, Schlesien (als böhmisches Nebenland) und Böhmen theoretisch zum Reich, nicht aber Preußen. Die Südostgrenze reichte bis an die Adria. Zu Reichsitalien gehörten große Teile Oberitaliens mit Ausnahme Venedigs und des Kirchenstaats. Ein realistischeres Bild vom Umfang des Reiches lässt sich gewinnen, wenn nicht das Lehnsrecht, sondern die tatsächliche Teilnahme an der Reichspolitik, das heißt die Zugehörigkeit zum politischen System des Reiches, als Kriterium zugrunde gelegt wird. Anhaltspunkte dafür liefern die Beschickung von Reichstagen, die Leistung der Reichsabgaben, die Unterwerfung unter Entscheidungen der Reichsgerichte und die Einbeziehung in die Kreisverfassung (auch zu den eingekreisten und nicht eingekreisten Gebieten vgl. die beigegebene Karte). Danach unterhielten die italienisch- und französischsprachigen Gebiete sowie Böhmen (mit Schlesien und Mähren) – wenn überhaupt – nur lockere Beziehungen zum Reich. Auch die Eidgenossen beteiligten sich seit dem ausgehenden 15. Jahrhundert nicht mehr an den Reichsaufgaben; ähnliches gilt für die habsburgischen Niederlande (einschließlich Burgunds), die zwar in die Kreisverfassung einbezogen waren, deren Bindungen an das Reich sich im 16. Jahrhundert aber dessen ungeachtet zu lockern begannen.
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8.2. Die Reichsreform
Das Bauprinzip des Reiches war die Tradition. Im Zuge der sog. Reichsreform, deren Höhepunkt in den Jahren um 1500 lag, wurde die Institutionalisierung des Reiches und damit seine verfassungsrechtliche Verdichtung jedoch ein Stück weit vorangetrieben. Dabei handelte es sich nicht um einen theoretisch konzipierten und geradlinigen Prozess, sondern um eine Kette von kompromisshaften Einzelentscheidungen, mit denen auf augenblickliche Problemlagen reagiert wurde. Neben Rechtssicherung und Friedenswahrung (Fehdeverbot) stand als Kardinalproblem das Verhältnis von Kaiser und Fürsten auf der politischen Tagesordnung. Da eine Beseitigung der tiefgreifenden Interessengegensätze außerhalb des Erreichbaren lag, konnte es nur darum gehen, den Kaiser-Stände-Dualismus in rechtliche Bahnen zu lenken. Dies gelang, indem die seit längerem üblichen Reichsversammlungen zum Reichstag fortentwickelt wurden. Neuschöpfungen der Reichsreformperiode waren außerdem das Reichskammergericht, die Reichskreise und das Reichsregiment, das sich aber nicht zu einer Dauerinstitution verfestigen konnte. Die um 1500 entstandene institutionelle Ausstattung des Reiches erwies sich als so belastungsfähig, dass sie in späteren Jahrhunderten zwar modifiziert, aber nicht mehr grundlegend verändert wurde. Luther war nicht nur Zeitgenosse der Reichsreform, sondern er bereicherte die Reformdiskussion in der Adelsschrift durch eigene Vorschläge (vgl. WA 6; 465– 468). Er forderte Beschränkungen des seiner Meinung nach überbordenden Kleiderluxus und Restriktionen beim Import von Luxusgütern durch die Kaufleute, er wollte den Zinskauf verbieten lassen und verlangte von den Obrigkeiten Maßnahmen gegen die großen Handelsgesellschaften wie die Fugger und ihre Geldgeschäfte. Außerdem sah er Handlungsbedarf hinsichtlich einer obrigkeitlichen Sittenpolizei (k C. II. 8.). In der zeitgenössischen Reformdiskussion waren diese Forderungen nicht singulär. Die Luthers Schriften durchziehende scharfe Verurteilung jeder Form der Selbsthilfe und des Richtens in eigener Sache unterstützte außerdem ein Grundanliegen der Reichsreform, nämlich die Zurückdrängung des Fehdewesens und die Durchsetzung des Landfriedens in rechtlichen Formen (Reichskammergericht; s. u. Punkt 8. 7.). 8.3. Der Kaiser
Das Reich verkörperte sich in besonderem Maße im Kaiser. Er wurde von den Kurfürsten in Frankfurt gewählt, in Aachen zum König, in Rom zum Kaiser gekrönt. So sah es jedenfalls die mittelalterliche Ordnung vor, die zuletzt bei Friedrich III. (reg. 1452–1493) praktiziert worden war. Von den beiden Kaisern des frühen 16. Jahrhunderts hat Maximilian I. (1486–1519, Alleinregierung seit 1493) seinen Romzug abgebrochen, Karl V. (1519–1556) wurde in Bologna gekrönt. Das Kaisertum der Habsburger war in der Reformationszeit fest etabliert. Die kaiserlichen Herrschaftsrechte waren theoretisch sehr weitgehend, praktisch
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eher gering. Seit der Wahl Karls V. (1519) wurden die Forderungen der Kurfürsten an den Kaiser in einer Wahlkapitulation festgeschrieben, um einer eigenmächtigen Herrschaftspraxis vorzubeugen. Ein Relikt der alten Kaiserherrlichkeit war die Herrschaft über die Reichsstädte. Daneben blieben dem Kaiser eine Reihe von sog. Reservatrechten (Legitimierung unehelicher Kinder, Verleihung von Standeserhöhungen usw.) sowie die Kirchenvogtei, die oberste Lehensgerichtsbarkeit und der Ehrenvorrang vor allen Fürsten, dem Anspruch nach auch vor allen Königen der Christenheit. Die materiellen Vorteile, die daraus entsprangen, waren eher gering. Geldwerte Rechte wie das Zoll-, Markt-, Münz- und Judenregal (Regal = Hoheitsrecht) waren vielfach an die Landesherren veräußert. Auch das Reichsgut war im Spätmittelalter weitgehend verlorengegangen, so dass das Kaisertum nur in Verbindung mit einer starken Hausmacht tragbar war, was die Habsburger als die mächtigsten Reichsfürsten für dieses Amt prädestinierte. 8.4. Die Reichsstände
Die Reichsstände, zu denen in erster Linie die Kurfürsten, die geistlichen und weltlichen Fürsten sowie die Reichsstädte zu zählen sind, waren Gegenspieler und Partner des Kaisers zugleich. Sie wurden in die politischen Entscheidungsprozesse einbezogen, wenngleich mit unterschiedlichem Gewicht. Die häufig gebrauchte Formel »Kaiser und Reich« bedeutete nichts anderes, als dass Kaiser und Reichsstände gemeinsam die Geschicke des Reiches bestimmten. Die Wormser Reichsmatrikel von 1521 zählte 383 leistungspflichtige Reichsstände, wobei Reichsstandschaft das Recht bezeichnete, am Reichstag mit Sitz und Stimme teilzunehmen. Der Kreis der Kurfürsten wurde 1356 durch die Goldene Bulle festgelegt und umfasste im 16. Jahrhundert noch immer die damals benannten drei geistlichen (Erzbischöfe von Mainz, Köln und Trier) und vier weltlichen Kurfürsten (König von Böhmen, Pfalzgraf bei Rhein, Herzog von Sachsen, Markgraf von Brandenburg). Aus der Masse der übrigen Fürsten hervorgehoben waren die Kurfürsten durch das Recht, als Königswähler aufzutreten, doch kam ihnen im politischen System des Reiches auch sonst besonderes Prestige zu. In der Zeit Luthers ist der Sonderfall der ruhenden böhmischen Kurwürde zu beachten, so dass an der Reichspolitik faktisch nur sechs Kurfürsten beteiligt waren. Sie galten in besonderer Weise als für das Reich verantwortlich. Im Sinne der mittelalterlichen Trias von Deutschland, Reichsburgund (Arelat) und Reichsitalien führten die geistlichen Kurfürsten noch immer die Titel eines Erzkanzlers per Germaniam (Mainz), per Italiam (Köln) und per Galliam (Trier). Praktische Bedeutung kam nur noch dem Erzkanzleramt des Mainzer Erzbischofs zu, was sich hauptsächlich im Reichsdirektorium (Leitung der Geschäftsführung während eines Reichstags) niederschlug. Von den weltlichen Kurfürsten fungierten Sachsen und Pfalz als Reichsvikare, das heißt als Stellvertreter des Königs in königslosen Zeiten.
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Geistliche und weltliche Fürsten unterschieden sich nicht nur durch den Charakter ihres Amtes, sondern vor allem dadurch, dass geistliche Fürsten durch Wahl, weltliche durch Erbfolge in ihr Amt kamen. Im Übrigen waren die Bischöfe des 16. Jahrhunderts ebenso Landesherren wie die weltlichen Fürsten. Der Bischof war eine Doppelperson, sein Amt hatte eine geistliche und eine weltliche Seite: Landesherr in seinem Hochstift, Hirte in seiner Diözese. Die Reichskirche war eine Adelskirche. Für den Adel stellte sie ein willkommenes Reservoir dar, um nachgeborene Söhne, die man nicht an der Herrschaft beteiligen konnte, standesgemäß zu versorgen. Um 1500 gab es etwa 50 Erzbischöfe und Bischöfe im Reich, zu denen nach dem Stand von 1521 noch 83 Reichsprälaten kamen, die als Leiter von Klöstern oder anderen reichsunmittelbaren geistlichen Instituten ebenfalls das Recht hatten, am Reichstag teilzunehmen. Die weltlichen Fürsten waren im frühen 16. Jahrhundert weniger zahlreich als die geistlichen (24 im Jahr 1521). Auf einer oberen Ebene der Hierarchie zählten zu ihnen die Herzöge, die Landgrafen, Pfalzgrafen und Markgrafen. Auf einer niedrigeren Ebene waren die Grafen und Herren angesiedelt, von denen die Reichsmatrikel von 1521 143 zählte. Geographisch war diese disparate Gruppe konzentriert auf die traditionell königsnahen Landschaften des Reiches, auf Schwaben, Franken, den Mittelrhein und das Maingebiet. Auch Grafen und Herren waren im Besitz der Reichsstandschaft und durften am Reichstag teilnehmen, im Unterschied etwa zu den Reichsrittern als einem anderen Typ des kleinen adeligen Herrschaftsträgers, der zwar dem Kaiser direkt unterstand, also reichsunmittelbar war, aber nicht über die Reichsstandschaft verfügte. Eine Besonderheit in der Verfassung des Alten Reiches waren die Reichsstädte, entfiel die Reichsstandschaft hier doch nicht auf eine Einzelperson wie bei den Fürsten, sondern auf die Gemeinde, die durch den Rat vertreten wurde. 1521 zählte man 86 Reichsstädte. Neben großen und reichen Kommunen wie Augsburg, Nürnberg, Straßburg, Frankfurt am Main oder Köln standen kleinste Reichsstädte wie Buchau am Federsee (Landkreis Biberach) oder Zell am Harmersbach im Schwarzwald. Größe und Reichtum einer Stadt bedeuteten für ihre rechtliche Stellung nichts. Zwischen freien Städten (ehemaligen Bischofsstädten, die sich aus der Bischofsherrschaft gelöst hatten) und eigentlichen Reichsstädten (königliche Gründungen), den beiden mittelalterlichen Wurzeln der Reichsstädte der frühen Neuzeit, wurde schon im 16. Jahrhundert nicht mehr klar unterschieden (daher die Hybridterminologie »freie Reichsstädte«). Streitund Zweifelsfälle waren nicht selten, da viele Landstädte nach der Reichsstandschaft strebten, viele Landesherren auf der anderen Seite immer wieder Reichsstädte ihrer Landesherrschaft zu unterwerfen versuchten. 8.5. Das politische System des Reiches
Die innere Struktur des Reiches war gekennzeichnet durch eine weitgehende Fragmentierung von Herrschaft. Eine Reihe größerer Territorien mit im damali-
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gen Sinne modernen, das heißt von oben nach unten ununterbrochenen, effizienten Verwaltungsstrukturen, stand neben kleineren und kleinsten politischen Einheiten. Geistliche und weltliche Herren, Ritter, kleine Adlige, Städte, Klöster, Orden – sie alle übten innerhalb des Herrschaftspluralismus des Reiches eigene Herrschaftsrechte aus. Was dem Reich an staatlicher Substanz fehlte, zogen die größeren Territorien an sich, ohne deshalb schon »souverän« in einem modernen Sinne zu sein. In den Außenbeziehungen wie in der inneren Politik mussten die Territorien Rücksicht nehmen auf das Reich, das mächtige und mindermächtige Herrschaftsträger überwölbte und zugleich die Kleinen vor dem Zugriff der Großen schützte. Wie der Kaiser das Mitspracherecht der Reichsfürsten beachten musste, so wurde die Landesherrschaft in den meisten Territorien des Reiches beschränkt durch die Landstände, zu denen in der Regel der landsässige Adel, die Städte und die Geistlichkeit gehörten. Dem Kaiser-Stände-Dualismus auf der Ebene des Reiches entsprach auf der Ebene der Territorien der Dualismus von Landesfürstentum und Landständen, die an der Regierung beteiligt sein wollten (Steuerbewilligung, aber in den Anfangsjahren der Reformation auch Entscheidung über die konfessionelle Orientierung). Während sich auf territorialer Ebene auf lange Sicht die Landesherren durchsetzten, was schon im 16. Jahrhundert mancherorts zu frühabsolutistischen Verhältnissen führte, verlief die Entwicklung im Reich anders. Hier wirkte sich auf unterschiedliche Weise aus, dass die Kurfürsten sich 1519 für Karl V. als Kaiser entschieden hatten, den Herrscher über ein Weltreich, für den die deutschen Verhältnisse immer ein Nebenschauplatz seiner Politik geblieben sind. Die jahrelange Abwesenheit des Kaisers aus dem Reich in den 1520er und 1530er Jahren brachte es mit sich, dass selbst ein fähiger und energischer Herrscher wie Karl V. die selbstbewussten Reichsstände an den politischen Entscheidungen beteiligen musste, sollten Reichsbeschlüsse eine Chance auf Umsetzung in den Territorien haben. Dass der Kaiser unmittelbar in die Territorien hineinregierte, versuchten die Landesherren auch in der Reformationszeit nach Möglichkeit zu verhindern. Die immer nur phasenweise persönliche Präsenz des Herrschers im Reich beförderte außerdem die Unabhängigkeit der Territorien. In den Jahren nach 1521, als Karl V. sich für fast ein Jahrzehnt außerhalb des Reiches aufhielt, lag die Leitung der Reichsgeschäfte in den Händen eines Reichsregiments, an dem die Reichsstände nach einem komplizierten Rotationsverfahren beteiligt waren. Statthalter des Kaisers war sein Bruder Ferdinand, seit 1526 König von Böhmen und Ungarn. Nach der Rückkehr des Kaisers ins Reich zum Augsburger Reichstag von 1530 wurde das Reichsregiment – es war das zweite, nachdem ein früherer Versuch zu Beginn des Jahrhunderts gescheitert war – aufgelöst. Karls Interessen in der Reichspolitik wurden jetzt von seinem Bruder Ferdinand vertreten, den Karl zur Festigung seiner Autorität 1531 zum Römischen König und damit zu seinem präsumptiven Nachfolger im Kaisertum wählen ließ. Bei einer Königswahl vivente imperatore (während der Kaiser noch lebt) konnte
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der Gewählte keine eigenen Herrschaftsrechte beanspruchen. Ferdinand war lediglich Stellvertreter seines Bruders, seine Kompetenzen erloschen mit der Rückkehr Karls in das Reich. 8.6. Der Reichstag
Für die Regelung aller das Reich betreffenden Angelegenheiten (Regierung und Verwaltung, Justiz und Militär, Finanzen und Außenpolitik, vor allem Türkenabwehr, konfessioneller Konflikt) war der Reichstag das wichtigste Forum. Hier brachten die Fürsten ihren Mitregierungsanspruch zur Geltung, dem Kaiser bot sich die Chance, die Reichsstände an den Lasten zu beteiligen. Eine verbindliche Geschäftsordnung, die den Ablauf eines Reichstags regelte, gab es nicht; maßgeblich war das Herkommen, auf das man sich von Fall zu Fall neu verständigen musste. Die Reichstage der Reformationszeit tagten nicht permanent oder in festen Intervallen, sondern in unregelmäßigen Abständen in verschiedenen Reichsstädten, unter denen vor allem Augsburg, Nürnberg, Speyer, Worms und Regensburg beliebte Versammlungsorte waren. Noch war es üblich, dass die Reichsstände den Reichstag persönlich besuchten, was mit erheblichem Aufwand und Kosten verbunden war. Schon aus diesem Grund versuchten viele Fürsten, sich dem persönlichen Reichstagsbesuch zu entziehen und Stellvertreter, meist in der Landesverwaltung bewährte und juristisch gebildete Räte, zu entsenden. Auch bei persönlichem Reichstagsbesuch des Fürsten spielten die Räte eine wichtige Rolle, gehörte es doch zu ihren Aufgaben, die Detailverhandlungen in den Ausschüssen zu führen. War der Landesherr nicht selbst zugegen, musste er schriftlich über den Gang der Beratungen in Kenntnis gesetzt und gegebenenfalls um Instruktionen gebeten werden. Dies ist einer der Gründe, warum bei zunehmendem Vertretungswesen im 16. Jahrhundert die produzierte Aktenmasse von Reichstag zu Reichstag anwuchs. Für das Verständnis der Reichstagsverhandlungen und ihrer Ergebnisse ist von Bedeutung, dass sie einem doppelten Interessenausgleich dienten: der Stände untereinander und zwischen Ständen und Kaiser. Um dies zu bewerkstelligen, entwickelten die Reichstage der Reformationszeit ein kompliziertes Verfahren, das sowohl dem unterschiedlichen politischen Gewicht der einzelnen Gruppen von Reichsständen als auch dem gemeinsamen Ständeinteresse gegenüber dem Kaiser Rechnung trug. Die Sonderstellung der Kurfürsten blieb in Form eines eigenen Beratungsgremiums, des Kurfürstenrats oder der Kurfürstenkurie, erhalten. Wurde hier in der Lutherzeit unter nur sechs Parteien beraten (zur Nichtbeteiligung Böhmens s. o.), umfasste der Fürstenrat an die einhundert Reichsstände. Die Kurie der Fürsten war die heterogenste der drei Kurien des Reichstags. Neben geistlichen und weltlichen Fürsten, die in eine geistliche und eine weltliche Bank geschieden waren, umfasste sie auch die Masse der Prälaten (Inhaber geistlicher Ämter), Grafen und Herren, die wiederum auf eigenen Bänken saßen, zum Teil noch getrennt nach ihrer Herkunft. Was für den Reichstag insgesamt galt, näm-
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lich das ungleiche Gewicht der einzelnen Stimmen, galt auch innerhalb des Fürstenrates. Hier führten die Reichsfürsten persönliche Stimmen (Virilstimmen), während die kleinen Reichsstände nur Sammelstimmen (Kuriatstimmen) für die einzelnen Sitzbänke abgeben durften. Die dritte Reichstagskurie, der Städterat, war ebenfalls in Bänke geteilt (rheinische und schwäbische Bank). Unter den Kurien war die Hierarchie festgelegt. Maßgeblich war die Einigung zwischen Kurfürsten- und Fürstenrat (obere Kurien). Das politische Gewicht des Städterats war gering. In der Formationsphase des Reichstags war die Teilnahme der Städte überhaupt umstritten gewesen, und in der Reformationszeit blieb ihnen trotz ihres starken finanziellen Beitrags zu den Reichslasten die volle politische Berechtigung (votum decisivum) vorenthalten. Die Verhandlungen eines Reichstags wurden in dem Bewusstsein geführt, dass die Verbindlichkeit von Entscheidungen nur dann gewährleistet war, wenn wenigstens die wichtigsten Reichsstände zugestimmt hatten. Das formale Mehrheitsprinzip war zwar bekannt, doch blieb die Herstellung eines Konsenses das Ziel der Beratungen sowohl innerhalb wie zwischen den Kurien. Die Kurien verhandelten schriftlich miteinander, man tauschte Texte aus, die man »verglich«, das heißt in Übereinstimmung zu bringen versuchte. Dies machte den Beratungsgang langwierig. Wurden Entscheidungen gegen den Willen einzelner Stände getroffen, kam es nicht selten vor, dass die Unterlegenen gegen die Beschlüsse des Reichstags protestierten, wie 1529 in Speyer die evangelischen Fürsten und Städte gegen den Religionsabschied; die Berechtigung dazu entnahm die unterlegene Minderheit dem Grundsatz, dass Entscheidungen, die alle angingen, auch von allen gutgeheißen werden mussten. Die Wirksamkeit von Reichstagsbeschlüssen stand demnach immer unter dem Vorbehalt der Bereitwilligkeit der Reichsstände, sie für sich selbst als verbindlich anzuerkennen. Die Sanktionsmöglichkeiten des Reiches waren vor allem gegenüber mächtigen Reichsständen beschränkt. Der Einfluss des Kaisers beruhte auf dem Recht, den Reichstag einzuberufen (mit dem sog. Ausschreiben) und den Ständen in der Proposition die Themen, über die beraten werden sollte, vorzutragen. Themenauswahl und Reihenfolge der Proposition waren eigentlich verbindlich, auch wenn sich die Stände dem immer wieder zu entziehen versuchten. Von den Beratungen innerhalb der Kurien war der Kaiser ebenso ausgeschlossen wie von den Beratungen in den Ausschüssen, die entweder innerhalb der Kurien gebildet werden konnten (innerkuriale Ausschüsse) oder als interkuriale Ausschüsse mit Vertretern aller Kurien. Zu den Ausschüssen konnten gegebenenfalls auch Spezialisten, etwa Theologen, herangezogen werden. Dem Kaiser wurde das unter den Ständen ausgehandelte Votum lediglich vorgelegt, das er annehmen oder zur erneuten Beratung an die Stände zurückweisen konnte. Der Prozess der Konsenssuche zwischen Kaiser und Ständen war nicht weniger umständlich als der unter den Ständen und konnte mehrere Verhandlungsrunden in Anspruch nehmen. Auch hier war das Verfahren schriftlich. Plenarversammlungen, in denen Kaiser und Stände vollzählig
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zusammenkamen, waren die Ausnahme. Erst wenn ein Konsens unter den Ständen und zwischen den Ständen und dem Kaiser erzielt war, durfte ein Tagesordnungspunkt als erledigt gelten. Die Formulierungen, auf die man sich geeinigt hatte, kamen in den Reichsabschied, in dem die Beschlüsse des Reichstags zusammengefasst wurden. Wenn einzelne Punkte der Proposition nicht abgearbeitet wurden, konnten sie auf den nächsten Reichstag verschoben werden. Ließ sich ein Konsens in einer Frage nicht herstellen, gab es mehrere Möglichkeiten: Der Punkt wurde ebenfalls vertagt, oder die Meinung der Minderheit wurde übergangen, was die Gefahr einer Protestation und Nichtbefolgung der Beschlüsse nach sich zog; ein dritter, sehr häufig beschrittener Weg war der, den Dissens durch Formelkompromisse zu überdecken. Die Kunst des »Dissimulierens«, das heißt des Vertuschens eines tatsächlich vorhandenen Dissenses durch einen Formelkompromiss, beherrschten die Politiker der Reformationszeit vortrefflich; gerade für die Entscheidungen des Reiches in der Glaubensfrage ist diese Form von Scheineinigung von großer Bedeutung geworden, schwanden die Aussichten der Reichstage, im konfessionellen Konflikt zu einer echten Übereinstimmung zu kommen, doch schon in den 1520er Jahren erheblich. Der idealtypische Verlauf eines Reichstags des frühen 16. Jahrhunderts ist im beigefügten Schaubild dargestellt. Es zeigt den Weg von den Vorberatungen des Kaisers mit den Kurfürsten über die Einberufung des Reichstags, das Ausschreiben, den Beratungsprozess in den Territorien, die Eröffnung, die Verlesung der Proposition, die Beratungen in und zwischen den Kurien, die Verhandlungen zwischen Reichsständen und Kaiser bis zum Reichsabschied (die in den einzelnen Verhandlungsphasen anfallenden Quellentypen sind fett hervorgehoben). Was in diesem Schema nicht zum Ausdruck kommt, ist die kulturgeschichtliche Dimension des Reichstags, der nicht nur ein politisches Großereignis war, sondern auch ein Ort der Geselligkeit (Bankette, Turniere, Jagden) und ein Jahrmarkt der Eitelkeiten. Wo Stände in großer Zahl zusammenkamen, spielten Rang- und Prestigefragen eine überragende Rolle. Die eigene Bedeutung musste auch äußerlich zur Schau gestellt werden. Die Förmlichkeit hat oft genug aber die Effizienz beeinträchtigt – es gab kaum einen Reichstag, der nicht durch endlose Sessions- und Umfragestreitigkeiten belastet worden wäre. 8.7. Andere Institutionen des Reiches
Für Luther waren Kaiser, Reichsstände und Reichstag die wichtigsten Bezugsgrößen. Andere Institutionen der Reichsverfassung waren weniger in seinem Blick. Die im Zuge der Reichsreform als Wahlbezirke für das Reichsregiment und das Reichskammergericht gebildeten sechs (seit 1500) beziehungsweise zehn (seit 1512) Reichskreise spielten im Rechtsleben des Reiches in der Zeit Luthers eine geringere Rolle als später, als sie wichtige Funktionen bei der Sicherung des Landfriedens übernahmen.
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Korrespondenzen
1. Vorverhandlungen zwischen Kaiser und Kurfürsten
Ausschreiben
2. Ausschreiben
Vollmachten Instruktionen
3. Entscheidung über persönlichen Besuch oder Entsendung von Räten 4. Eröffnungsgottesdienst
Proposition
5. Verlesung der Proposition in der Eröffnungssitzung 6. Die Stände treten in die Kurien auseinander; Beginn der Beratungen innerhalb der Kurien; ggf. Einsetzung eines innerkurialen Ausschusses
7. »Vergleich« des kurfürstlichen mit dem fürstlichen Entwurf; ggf. mehrere Verhandlungsgänge bis zu einem »einhelligen Bedenken«
11. Verhandlungen innerhalb der Kurien über die Replik (ggf. auch innerhalb von Ausschüssen) (Duplik)
Kaiser Reichsdirektorium Mainz
Fürstenrat
Kurfürstenrat
Städterat
innerkuriale Ausschüsse
innerkuriale Ausschüsse
innerkuriale Ausschüsse
interkurialer Großer Ausschuß 8. Mitteilung des zwischen Kurfürsten und Fürsten verglichenen Entwurfs an die Städte
10. Beratung im kaiserlichen Rat; Antwort an die Städte (Replik)
9. Übergabe der Ständeantwort an den Kaiser 12. Nach Vergleich aller Punkte der Proposition (innerhalb und zwischen den Kurien sowie mit dem Kaiser) Einsetzung eines Ausschusses für die Redaktion des Abschieds Abschied
13. Schlußsitzung mit Verlesung des Reichsabschieds
(zu Pkt. 6–12) – Entwürfe, Konzepte – Korrespondenzen der Räte mit ihren Herren – Protokolle
Struktur und idealtypischer Verlauf � eines Reichstags in der Lutherzeit (vereinfacht)
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Neben dem Reichstag war das Reichskammergericht die wichtigste Neuschöpfung der Reichsreformperiode. 1495 durch Kaiser Maximilian persönlich eröffnet, ließ sich das Reichskammergericht nach mehrfachem Ortswechsel 1527 in Speyer nieder. Schon in der räumlichen Ferne vom Königshof kommt zum Ausdruck, dass das Gericht im Wesentlichen von den Reichsständen getragen wurde. Der Kaiser hatte zwar das Recht, den Kammerrichter zu ernennen, die Besetzung der meisten der zunächst 16 Beisitzerstellen oblag jedoch den Reichsständen, die auch für die Finanzierung verantwortlich waren. Die Sicherung des Landfriedens gehörte zu den wichtigsten Aufgaben des Reichskammergerichts, das sich allmählich zu einer Appellationsinstanz über den landesherrlichen und reichsstädtischen Gerichten entwickelte und so die völlige Territorialisierung der Rechtsprechung im Reich verhinderte. Durch den konfessionellen Konflikt gestaltete sich die Besetzung der Stellen aber zunehmend schwierig, und nach dem Augsburger Reichstag von 1530 benutzten Kaiser und altgläubige Reichsstände das Gericht als Instrument im konfessionellen Kampf, indem sie Prozesse gegen die Säkularisation von Kirchengut in den evangelischen Territorien anstrengten. Als Gegengewicht zum ständisch dominierten Reichskammergericht wurde um 1500 der allein auf den Kaiser hin orientierte Reichshofrat in Wien ins Leben gerufen, der nicht nur in der Regierung der habsburgischen Lande eine wichtige Rolle spielte, sondern als zweites oberstes Reichsgericht neben dem Reichskammergericht fungierte. Luther war die Bedeutung des Reiches und seiner Institutionen für den Erfolg oder Misserfolg der Reformation bewusst (k B. III. 13.). Die politischen und rechtlichen Folgen und Konflikte seiner Theologie hat er aber weder gewollt noch vorhergesehen. Das Auftreten Luthers war für das Reich, das sich als sacrum imperium verstand, eine ungeheure Herausforderung, drohte durch die Reformation doch nicht nur die mittelalterliche geistlich-weltliche Einheit zu zerbrechen und die traditionelle Bindung von Kaiser und Reich an die römische Kirche verlorenzugehen, sondern das politische System des Reiches selbst drohte funktionsunfähig zu werden. Die Verbindung von Religion und Politik ließ konfessionsunabhängige politische Entscheidungen immer weniger zu. Die Glaubensspaltung zog die konfessionelle Spaltung der Reichsinstitutionen und des Rechts nach sich. Und dennoch war es ein Reichstag, der 1555 im Augsburger Religionsfrieden die reichsrechtliche Lösung herbeiführte, indem die Bikonfessionalität des Reiches bestätigt und die Entscheidung über die konfessionelle Orientierung den Landesherren übertragen wurde (cuius regio eius religio). Diese Bewährungsprobe für die Belastungsfähigkeit des politischen Systems des Reiches hat Luther nicht mehr erlebt. Gotthard, Axel: Das Alte Reich 1495–1806, 52013. Kohnle, Armin: Reichstag und Reformation. Kaiserliche und ständische Religionspolitik von den Anfängen der Causa Lutheri bis zum Nürnberger Religionsfrieden (QFRG 72), 2001. Neuhaus, Helmut: Das Reich in der frühen Neuzeit (Enzyklopädie deutscher Geschichte 42), 2 2003.
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Reinhard, Wolfgang: Probleme deutscher Geschichte 1495–1806. Reichsreform und Reformation 1495–1555 (HDtG 9), 102001. Armin Kohnle
II. Aneignungen 1. Lebenslauf 1.1. Prägungen
Den Eheleuten Hans und Margarete Luder in Eisleben, er ein Bauernsohn aus dem thüringischen Möhra und Bergmann, sie eine geborene Lindemann aus Eisenach, wurde am 10. November 1483 ihr ältester Sohn geboren, der am folgenden Tag nach dem Tagesheiligen Martin getauft wurde. Seinen Familiennamen schrieb er seit 1517 »Luther«, wohl in Anlehnung an die damals von ihm auch gelegentlich benutzte gräzisierte Form Eleutherius (der Freie) (Moeller/Stackmann 1981). 1484 siedelte die Familie in die Stadt Mansfeld über, wo Hans Luder als Pächter mehrerer Kupferhütten ins kleinstädtische Bürgertum hineinwuchs und mit der Zeit ein kleines Vermögen erwarb. Hier verlebte Martin Luther seine Kindheit in einem wachsenden Geschwisterkreis, geprägt durch die elterliche Erziehung – die er als streng und liebevoll in Erinnerung behielt – und durch eine konventionelle kirchliche Frömmigkeit. In Mansfeld begann auch Luthers Bildungsgang, den ihm sein Vater gezielt im Blick auf gesellschaftliche Aufstiegschancen ermöglichte. Zunächst besuchte Martin ab etwa 1490 die dortige städtische Lateinschule, bevor er 1497 an die Magdeburger Domschule und 1498 an die Schule bei St. Georg in Eisenach wechselte. Die Schule, an deren pädagogische Methoden sich Luther später mitunter mit Schrecken erinnerte, vermittelte ihm die sichere mündliche und schriftliche Beherrschung der lateinischen Sprache, die unabdingbare Voraussetzung für ein Universitätsstudium, außerdem eine sprachlogische Grundbildung. Auch elementare musikalische Kenntnisse und musikalische Praxis, namentlich durch das liturgische Singen des Schülerchors, dürfte Luther in seiner Schulzeit erworben haben. Der Schüler lernte charakteristische Gestaltungen der spätmittelalterlichen städtischen Religiosität kennen: in Magdeburg die devotio moderna mit ihrer Betonung der frommen Innerlichkeit bei den Brüdern vom gemeinsamen Leben, in deren Schülerheim er vermutlich wohnte; in Eisenach die auf die Unterstützung des Franziskanerklosters konzentrierte Laienfrömmigkeit, die in seiner Wirtsfamilie Schalbe praktiziert wurde. 1501 bezog Luther die Universität Erfurt und nahm das philosophische Grundstudium in den »freien Künsten« (artes liberales) auf. Seine philosophischen Lehrer Jodokus Trutfetter und Bartholomäus Arnoldi von Usingen vermittelten ihm die aristotelische Schulphilosophie des Mittelalters in der nominalistischen, von
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Wilhelm von Ockham und Gabriel Biel geprägten Richtung. Dem modernen Humanismus, der die mittelalterliche Scholastik am Maßstab der »echten« Antike kritisierte, begegnete Luther in Erfurt am Rande des akademischen Betriebs in vorwiegend milder Form. Anfang Februar 1505 schloss er das Grundstudium mit dem philosophischen Magistergrad (magister artium) ab und nahm – den Karrie rewünschen des Vaters für seinen begabten Sohn folgend – zum Sommersemester das Studium der Rechtswissenschaft auf. Den väterlichen Plänen machte Luther ein Ende, als er am 17. Juli 1505 im Erfurter Konvent des Augustinereremitenordens um Aufnahme ins Kloster ersuchte. Vorangegangen war ein Gelübde, das er am 2. Juli abgelegt hatte, als er bei Stotternheim auf freiem Feld von einem schweren Gewitter überrascht worden war: In höchster Todes- und Gerichtsangst hatte er die heilige Anna angerufen und für ihre Hilfe den Schritt ins Mönchtum und damit eine lebenslange Bußexistenz in Aussicht gestellt. Ob dieses spontane Gelübde durch eine schon länger währende religiöse Neuorientierung vorbereitet war, ist nicht bekannt. Jedenfalls betrachtete Luther es als verbindlich und wurde Mönch – sehr zum Ärger seines Vaters. Der Erfurter Konvent gehörte der strengen (»observanten«) sächsischen Reformkongregation des Augustinereremitenordens an, deren Generalvikar Johann von Staupitz für Luther als Seelsorger Bedeutung gewann. Luther lernte im Kloster ein diszipliniertes religiöses Leben kennen und strebte selbst nach einer ernsthaften, vom Gedanken der Buße bestimmten religiösen Existenz. In Anfechtungserfahrungen wurde ihm allerdings die Möglichkeit der frommen Annäherung an Gott immer wieder fraglich. Nach der 1506 erfolgten feierlichen Profess (Ablegung der Ordensgelübde) wurde Luther für das Priesteramt und für das Theologiestudium und damit für eine wissenschaftliche Tätigkeit vorgesehen. Vorbereitet durch das Studium von Gabriel Biels Kommentar zur Messliturgie, empfing er im Frühjahr 1507 die Priesterweihe. Zur Primiz am 2. Mai erschien auch sein Vater mit großem Gefolge und mit einer ansehnlichen Spende für das Kloster. Obwohl er sich äußerlich mit der Weltentsagung seines Sohnes abgefunden hatte, konfrontierte er diesen mit dem Vorwurf, das Gebot des Elterngehorsams verletzt zu haben, und mit der Sorge, Martin könnte im Gewitter einem teuflischen Trug erlegen sein. Als Theologiestudent durchlief Luther den üblichen scholastischen Studiengang, der sich an den Sentenzen des Petrus Lombardus orientierte. Von den Kirchenvätern nahm er Augustin und Hieronymus intensiver zur Kenntnis, als monastischen Autor des Mittelalters Bernhard von Clairvaux. Wie es üblich war, lehrte Luther neben seinem Theologiestudium als Magister an der artistischen Fakultät; 1508/09 wurde er vorübergehend dem Wittenberger Konvent seines Ordens zugeteilt, um an der erst 1502 gegründeten Universität einen moralphilosophischen Lehrauftrag – er las über die Nikomachische Ethik des Aristoteles – wahrzunehmen. 1511 wurde Luther endgültig nach Wittenberg versetzt, da Staupitz ihn als Nachfolger für seine theologische Professur vorgesehen hatte. Im Zuge von dessen Bemühungen um eine Union der observanten Reformkongrega-
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tion mit der sächsischen Ordensprovinz begleitete er im Winter 1511/12 Staupitz’ Beauftragten Johann von Mecheln nach Rom. Bei dieser Gelegenheit praktizierte Luther die übliche Pilgerfrömmigkeit; erst später verband er die Eindrücke aus der Heiligen Stadt mit der Kritik an der Papstkirche. Wittenberg aber wurde zum Mittelpunkt seines weiteren Lebens und Wirkens. 1.2. Als theologischer Lehrer zum Ketzer gemacht
In Wittenberg entfaltete Luther eine vielfältige Tätigkeit in Kloster und Universität. Seit 1512 war er Subprior, Studienleiter des Wittenberger Konvents und Klosterprediger, 1515 übernahm er als Distriktsvikar die Verantwortung für zehn (ab 1516 elf) Konvente. Spätestens 1514 erhielt er auch einen – kärglich besoldeten – städtischen Predigtauftrag an der Stadtkirche. Luthers theologische Doktorpromotion wurde am 18./19. Oktober 1512 an der Wittenberger Universität feierlich vollzogen. Der Doktoreid verpflichtete ihn auf die »Heilige Schrift« – im mittelalterlichen Doppelsinn als Bibel und als theologische Reflexion ihres Gehalts. Auf diese Verpflichtung – nunmehr gegen Schultheologie und kirchliche Tradition gewandt – berief Luther sich später im Konflikt mit der Papstkirche immer wieder. Seine Lehrtätigkeit auf der von Staupitz übernommenen Professur begann Luther 1513. Er hielt ausschließlich Vorlesungen über biblische Bücher, von denen ausgehend er das Ganze der Theologie zur Darstellung brachte (k C. I. 8.). In den ersten Vorlesungen über die Psalmen (1513–1515), den Römerbrief (1515/16), den Galaterbrief (1516/17) und den Hebräerbrief (1517/18) bediente er sich schon moderner humanistischer Hilfsmittel, blieb aber noch bei der traditionellen Methode, Glossen mit Einzelerläuterungen und zusammenfassende Scholien getrennt zu diktieren. Erst in der zweiten Psalmenvorlesung (1518– 1521; bis Ps 22) fand er zu einer neuen Form von zusammenhängender philologisch-theologischer Auslegung. Luthers Theologie hat sich im Zusammenhang der frühen Vorlesungstätigkeit geformt – wie immer man die ihn in seinem weiteren Wirken bestimmende theologische Grundeinsicht inhaltlich und zeitlich ansetzt (k B. II. 2.). Neben der Beschäftigung mit dem Bibeltext spielten dabei die Lektüre der antipelagianischen Schriften Augustins und die Begegnung mit Texten der deutschen Mystik eine Rolle. An der Wittenberger Universität bildete Luther mit Andreas Bodenstein von Karlstadt, Nikolaus von Amsdorf, Johann Lang und anderen eine Gruppe reforminteressierter Theologen, die den aristotelisch-scholastischen Studienbetrieb durch einen an Bibel und Kirchenvätern ausgerichteten Unterricht ersetzen wollten. 1518 wurde die Gruppe durch den jungen Gräzisten Philipp Melanchthon verstärkt, der zum wichtigsten Mitarbeiter und Freund Luthers wurde (k B. III. 9.). 1517 publizierte Luther mit einer deutschen Auslegung der sieben Bußpsalmen seine erste eigene Schrift (WA 1; 158–220). Sie zielte auf die Formung der Laienfrömmigkeit und nahm mit der Buße ein Grundthema von Luthers monastischer Lebensform auf. Der Widerspruch gegen die scholastische Theologie und
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das Interesse an einer lebendigen Religiosität aller Christen kamen Ende 1517 im Ablassstreit zusammen und führten gerade aufgrund dieser Kombination zu Luthers großem Konflikt mit der Papstkirche. Die 95 Thesen über die Kraft der Ablässe (WA 1; 233–238), am 31. Oktober 1517 verschickt und wohl erst etwas später öffentlich angeschlagen, führten zum römischen Prozess gegen Luther, der durch eine Anzeige des Mainzer Erzbischofs Albrecht von Brandenburg in Gang kam. Im August 1518 erhielt Luther die Vorladung nach Rom. Friedrich der Weise (k B. III. 11.), der seinen Universitätslehrer nach Kräften schützen wollte, erreichte, dass dieser vom päpstlichen Legaten Kardinal Thomas de Vio Cajetanus vom 12. bis 14. Oktober 1518 in Augsburg (und damit nicht in Rom, sondern auf deutschem Boden) verhört wurde. Die Unterredung verlief ergebnislos, denn Luther war nicht zu dem von ihm geforderten Widerruf bereit, sondern begehrte eine Widerlegung aus der Bibel, während der Kardinal mit der kirchlichen Tradition argumentierte. Gegen die nach dem Verhör drohende Verurteilung legte Luther vorsorglich Rechtsmittel ein, indem er am 16. Oktober an den Papst und am 28. November an ein Konzil appellierte. Zunächst geriet der Prozess allerdings aus politischen Gründen ins Stocken. Seit Beginn der Auseinandersetzungen wurde Luther einer breiteren Öffentlichkeit durch eine Reihe kleiner Erbauungsschriften in deutscher Sprache bekannt. Der wissenschaftlichen Öffentlichkeit präsentierte Luther im gleichen Zeitraum seinen mit zunehmender Präzision formulierten Einspruch gegen die scholastische Systemtheologie. Für die feierliche Disputation, die am 26. April 1518 an der Heidelberger Universität anlässlich des Kapitels der Reformkongregation des Augustinereremitenordens stattfand, legte Luther philosophische und theologische Thesen vor, in denen er die aristotelisch fundierte Scholastik heftig angriff und ihr eine den verborgenen Gott in der Erniedrigung Christi wahrnehmende Kreuzestheologie entgegenstellte (WA 1; 353–374). Die Heidelberger Disputation verschaffte Luther neue Anhänger, darunter den späteren Straßburger Reformator Martin Bucer. Beträchtlichen Eindruck machte auch die 1519 erschienene Druckbearbeitung von Luthers Galaterbriefauslegung (WA 2; 443– 618). Bei der Leipziger Disputation vom 27. Juni bis 16. Juli 1519, bei der er und Karlstadt auf den Ingolstädter Theologieprofessor Johannes Eck trafen, zog Luther deutliche Konsequenzen aus seinen theologischen Einsichten und kritisierte die Autorität des kirchlichen Lehramtes. Er erfuhr nun deutliche Unterstützung aus Humanistenkreisen, z. B. durch Ulrich von Hutten. Schon Ende 1518 hatte der Basler Humanist Wolfgang Capito mit einer Sammelausgabe von Luthers lateinischen Schriften dessen schnelles Berühmtwerden dokumentiert. 1519 kam aber auch der Prozess gegen Luther wieder in Fahrt. Im August und November verurteilten die Universitäten Köln und Löwen eine Reihe seiner Aussagen. Im Frühjahr 1520 wurde die Luthersache auch in Rom wieder aufgenommen, und unter Mitwirkung Ecks entstand die am 15. Juni ausgefertigte Bannandrohungsbulle Exsurge Domine, die 41 Sätze Luthers verwarf und seine Schriften zu verbrennen befahl, ihm selbst aber eine Widerrufsfrist einräumte. Luthers
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später so bezeichnete »Hauptschriften« vom Sommer und Herbst 1520, mit denen er die Distanz seiner theologischen Aussagen zu den Lehrnormen und zur Struktur der Papstkirche noch einmal beträchtlich steigerte, waren bei dieser Lehrverurteilung noch nicht berücksichtigt. Luther leistete den von ihm verlangten Widerruf nicht, sondern verschärfte seine Aussagen und erklärte die päpstliche Lehrverurteilung für eine »Bulle des Antichrist«. Als Antwort auf die Verbrennung seiner Schriften inszenierte er mit Kollegen und Studenten am 10. Dezember 1520 vor dem Wittenberger Elstertor eine Gegenaktion, bei der u. a. das päpstliche Kirchenrecht (Corpus Iuris Canonici), die Schriften einiger Luthergegner und ein Exemplar der Bannandrohungsbulle in den Flammen aufgingen. Damit setzte Luther dem Lehrurteil des Papstes ein eigenes Häresieverdikt im Namen der evangelischen Wahrheit entgegen. Das so bezeichnete Gegeneinander zweier widerstreitender Ansprüche auf wahres Christentum entfaltete sich in den folgenden Jahrzehnten in der neuartigen Bildung von »Konfessionen«. Die definitive Exkommunikation Luthers und seiner Anhänger war angesichts seiner offensiven Verweigerung eines Widerrufs nur noch eine Formsache und wurde am 3. Januar 1521 mit der Bulle Decet Romanum Pontificem feierlich verkündet; sie waren damit als Ketzer aus der kirchlichen Heilsgemeinschaft ausgeschlossen. Dass sie auch aus der weltlichen Rechtsgemeinschaft auszuschließen und einer irdischen Strafe zuzuführen waren, ergab sich aus dem mittelalterlichen Zusammenspiel von geistlicher und weltlicher Rechtssphäre eigentlich von selbst. Aufgrund von Absprachen des sächsischen Kurfürsten mit dem neuen Kaiser Karl V. wurde Luther dennoch zu einer Anhörung vor den Reichstag von Worms geladen und erhielt freies Geleit. Der Aufforderung zum Widerruf verweigerte er sich am 18. April 1521 erneut: Da er sich nicht mit Schriftzeugnissen und klaren Sachgründen widerlegt sah, verwies er auf sein durch Gottes Wort gebundenes Gewissen als letzte Autorität. Mit dem am 26. Mai 1521 veröffentlichten Wormser Edikt verhängte der Kaiser schließlich die Reichsacht über Luther. Dieser, als geächteter Ketzer nunmehr rechtlos, war schon am 4. Mai im Auftrag Friedrichs des Weisen auf die Wartburg gebracht und der Öffentlichkeit entzogen worden. 1.3. Reformator und Lehrer der Kirche
Die Verurteilung Luthers brachte diesen keineswegs zum Schweigen, vielmehr konnte er seine theologische Arbeit fortsetzen, seine Grundanschauungen in zahlreichen Konflikten präzisieren und an der Gestaltung eines ihnen entsprechenden kirchlichen Lebens mitwirken. Die Autorität der Papstkirche war 1521 bereits so stark erschüttert, dass sich Kirchenbann und Reichsacht als klassische Kombination geistlich-weltlicher Rechtsmittel zur Ketzerbekämpfung nicht mehr durchsetzen ließen. Luther fand den Schutz seines Landesherrn und die Sympathien anderer Fürsten und Stadtmagistrate, die das Wormser Edikt nicht durch-
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führten. Aber auch in Gebieten, die nicht mit der Papstkirche brachen, blieben die Maßnahmen gegen Lutheranhänger und Lutherschriften zögerlich. So wurde der verurteilte Ketzer Luther zum Reformator einer nunmehr dezidiert »evangelischen« Kirche und für viele zu einer Autorität in allen Fragen christlicher Lehre und christlichen Lebens. Luthers persönliche Bewegungsfreiheit war durch das Wormser Edikt freilich beschränkt auf sichere Gebiete; Wittenberg und Kursachsen blieben das Zentrum seines Wirkens, das von da aus auf die christliche Welt ausstrahlte. Nicht äußere Veränderungen prägten Luthers weiteren Lebenslauf, sondern Konfliktlinien und Gestaltungsvorgänge, dazu die Ereignisse des persönlichen Lebens. Luther blieb zehn Monate auf der Wartburg, wo er inkognito als »Junker Jörg« lebte und nur brieflich über Melanchthon und Georg Spalatin, seinen Vertrauten am kurfürstlichen Hof, mit Wittenberg in Verbindung stand. In dieser äußerlich ruhigen Zeit war Luthers literarische Produktivität umso lebhafter: Er verfasste u. a. eine große Auslegung des Magnificat (WA 7; 544–604), setzte sich mit dem Löwener Theologen Jacobus Latomus über die theologische Anthropologie auseinander (WA 8; 43–128), widmete seinem Vater eine Schrift über die Mönchsgelübde (WA 8; 573–669) und legte mit den Postillen für die Advents- und Weihnachtszeit eine theologische Programmschrift eigener Art vor (k C. I. 7.). Vor allem aber machte er sich im Herbst 1521 an die Übersetzung des Neuen Testaments, die er in elf Wochen im Wesentlichen vollendete. Dabei zeigte sich Luthers geniales Sprachgefühl, das seine Übersetzung zu einem herausragenden Zeugnis der deutschsprachigen Literatur machte, das ihr aber auch zu der intendierten Wirkung verhalf, die Christusbotschaft selbständig hören und verstehen zu lassen. Nach redaktionellen Nacharbeiten erschien Luthers Neues Testament im September 1522, daher »Septembertestament« genannt, im Druck. Die Übersetzung des Alten Testaments und der Apokryphen erstellte Luther anschließend in enger Zusammenarbeit mit Wittenberger Kollegen; sie erschien abschnittsweise seit 1523 und war 1534 abgeschlossen. An der Revision der Übersetzung arbeitete er kontinuierlich bis in sein letztes Lebensjahr (k C. I. 1.). In Wittenberg kam es während Luthers Wartburgaufenthalt zu Differenzen über die aus seinen Lehren zu ziehenden Konsequenzen für die öffentliche kirchliche Ordnung. Bei einem heimlichen Besuch im Dezember 1521 sah Luther noch keinen Grund zum Eingreifen. Als sich die Situation Anfang 1522 in den »Wittenberger Unruhen« zuspitzte, es zu bilderstürmerischen Aktionen kam und insbesondere Karlstadt auf eine schnelle und durchgreifende Erneuerung des Kirchenwesens drängte, verließ Luther die Wartburg und kehrte am 6. März nach Wittenberg zurück. Damit setzte er sich bewusst über die politischen Bedenken seines Landesherrn hinweg und ordnete ihnen die Pflicht seines theologischen Lehramtes vor. Mit den Invocavit-Predigten, die er vom 9. bis 16. März auf der Kanzel der Wittenberger Stadtkirche hielt, meldete er sich in der Öffentlichkeit zurück. Er plädierte für eine behutsame Kirchenerneuerung, bei der die geduldige Belehrung der reformatorischen Aktion vorangehen sollte. In diesem Sinne
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zielte Luther in den folgenden Jahren als Prediger (k C. I. 7.) und mit seinen Publikationen auf die Formung einer erneuerten Frömmigkeit: So veröffentlichte er 1523 und 1526 Ordnungen für den Gottesdienst und 1529 seine Katechismen (k C. I. 5.), dichtete und komponierte zahlreiche Gemeindelieder (k C. I. 6.) und setzte sich für ein geordnetes Schulwesen ein. Gerade als Geächteter musste Luther nach seinem erneuten Erscheinen in der Öffentlichkeit sein Verhältnis zur obrigkeitlichen Rechtsgewalt klären. In seiner Obrigkeitsschrift von 1523 (WA 11; 245–281) erkannte er das Recht der Obrigkeit als irdische, zu ihren Aufgaben von Gott eingesetzte Ordnungsmacht an, unterschied aber deutlich zwischen den Zuständigkeitsbereichen der weltlichen Ordnung mit ihren Zwangsmitteln und der geistlichen Ordnung, die mit dem Evangelium die Gewissen lenkt. Für die Umsetzung seiner Vorstellungen von einer erneuerten Christenheit war Luther darauf angewiesen, dass die christlichen Obrigkeiten anstelle der papstkirchlichen Hierarchie die rechtliche Kirchenhoheit wahrnahmen. Er unterstützte die Etablierung eines landesherrlichen Kirchenregiments, wie es in der Durchführung von Visitationen in Sachsen seit 1527 Gestalt annahm, zumindest als Notmaßnahme. Unterschiedliche Auffassungen hinsichtlich des kirchlichen Reformkonzepts und hinsichtlich der Rolle der Obrigkeiten trennten Luther von Karlstadt und von Thomas Müntzer. Während Karlstadt das »freikirchliche« Konzept einer Gemeindereformation umsetzen wollte, vertrat Müntzer apokalyptisch-chiliastische Anschauungen von einer Neuordnung als Ergebnis des Kampfes der Glaubenden gegen die Gottlosen, unter ihnen auch die weltlichen Obrigkeiten. Luther brandmarkte beide als »Schwärmer« und warnte 1524 die Obrigkeiten – gegen Müntzer – vor dem »aufrührerischen Geist« und – gegen Karlstadt – vor den »himmlischen Propheten« (k B. III. 4.). Während Müntzer angesichts des Bauernkriegs von 1524/25 die Bauern zu auserwählten Gotteskämpfern stilisierte, mahnte Luther sie 1525 zu einem friedlichen Eintreten für ihre Ziele auf dem Boden des weltlichen Rechts und ermunterte schließlich die Fürsten zur gewaltsamen Niederschlagung der Erhebung (k B. III. 5.). Luther hatte sich 1522 vom »Junker Jörg« wieder in den Augustinermönch zurückverwandelt. Er zog erneut die Kutte an und lebte im Kloster, das sich allerdings infolge seiner Gelübdekritik zusehends leerte – im Herbst 1523 lebte außer ihm nur noch ein weiteres Konventsmitglied dort. Im Oktober 1524 legte er die Mönchskutte jedenfalls zeitweise ab, doch erst im Frühsommer 1525 löste er sich durch seine Heirat ganz aus der mönchischen Lebensweise. Luthers Kritik am Zölibat und an den Klostergelübden hatte bis dahin schon eine Welle von Priesterhochzeiten und Klosteraustritten zur Folge gehabt. Obwohl er selbst an der alten Lebensform freiwillig festhielt, setzte er sich für Klosterflüchtlinge ein, so auch für die am 7. April 1523 aus dem Kloster Nimbschen bei Grimma entkommenen zwölf Nonnen, von denen neun nach Wittenberg kamen. Luther rechtfertigte ihre Flucht publizistisch und bemühte sich um die Unterbringung der Frauen. Katharina von Bora, die als einzige von ihnen noch unversorgt geblieben war, heiratete er schließlich selbst. Die auch für seine Freunde überraschende Ehe-
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schließung am 13. Juni 1525 war nicht zuletzt durch die Zuspitzung des Bauernkrieges motiviert, angesichts deren Luther zeigen wollte, dass er selber seinen Lehren im Leben folgte. Seit seiner Eheschließung bezog Luther ein kurfürstliches Professorengehalt. Da überdies der Kurfürst ihm das bisherige Augustinerkloster als Wohnhaus zur Verfügung stellte, es ihm 1532 sogar überschrieb, konnte es unter der Leitung von Katharina Luther zum »Lutherhaus« werden. Die gewohnte Umgebung blieb Luthers Lebenszentrum, in dem sich nun das wissenschaftliche Gespräch in einer für einen Theologen neuartigen Weise mit dem Familienleben verband. Sechs Kinder gingen aus der Ehe hervor, von denen vier das Erwachsenenalter erreichten: Johannes (1526–1575), Elisabeth (1527–1528), Magdalene (1529–1542), Martin (1531–1565), Paul (1533–1593) und Margarete (1534–1570). Gäste, Verwandte und Vertriebene füllten das Haus, dazu die dort wohnenden Studenten. Am Tisch des Reformators wurde über Gott und die Welt gesprochen; Stellungnahmen Luthers wurden begierig erwartet, und ab 1529 wurden »Tischreden« aufgezeichnet. Dass Katharina das Funktionieren des Lutherhauses als eines reformatorischen Kommunikationszentrums durch ihr ökonomisches Geschick ermöglichte, würdigte Luther immer wieder ausdrücklich. Das Ehepaar Luther und sein Haus wurden zum Symbol eines neuen bürgerlichen Christentums; Ausdruck dessen waren auch die von der Wittenberger Cranach-Werkstatt in großer Zahl produzierten Doppelbildnisse von Martin und Katharina Luther. Luther erbrachte ein erstaunliches Arbeitspensum: 1523 nahm er die akademischen Vorlesungen wieder auf, die er – mit einigen Unterbrechungen – bis zum 17. November 1545, dem Abschluss der 1535 begonnenen Genesisvorlesung, fortsetzte. Für die seit 1533 wieder durchgeführten Doktorpromotionen verfasste er Thesenreihen zu zentralen theologischen Problemen. Von 1535 bis 1546 amtierte er überdies als Dekan der theologischen Fakultät. Neben der Abfassung der für den Druck bestimmten Werke und der fortlaufenden Beschäftigung mit der Bibelübersetzung nahmen ihn seine gewaltige Korrespondenz und eine Vielzahl von Gutachten in Anspruch. Als Prediger stieg er zeitweise fast täglich auf die Kanzel. Umso mehr ärgerte ihn immer wieder das Ausbleiben nachhaltiger Wirkungen seiner Predigten bei der Wittenberger Bevölkerung: Im Januar 1530 trat er deshalb in einen mehrmonatigen »Predigtstreik«. 1545 geißelte er erneut das Gewohnheitschristentum der Wittenberger Gemeinde und teilte seiner Frau von unterwegs den Entschluss mit, nicht mehr in das »Sodom« Wittenberg zurückzukehren (WAB 11; 148–150); erst vom Zureden der Universitätskollegen und des Kurfürsten ließ er sich umstimmen. Seit der Mitte der zwanziger Jahre traten neben den bleibenden Gegensatz zur Papstkirche Konflikte im reformatorischen Lager und politische Anforderungen, die mit der Ausbreitung und Sicherung der Reformation zu tun hatten. Beide Aspekte kamen zusammen, wo es um Luthers Stellungnahme zu einem Bündnis der »evangelischen« Reichsstände ging. Infolge der Kontroverse um das Verständnis des Abendmahls mit dem Zürcher Reformator Huldrych Zwingli, die
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Luther in den Jahren 1526 bis 1528 stark beschäftigte, machte er die Einheit in zentralen Lehren, zu denen er auch das Abendmahlsverständnis zählte, zur Voraussetzung von politischen Bündnisvereinbarungen. Auf Einladung des ein solches Bündnis forcierenden Landgrafen Philipp von Hessen trafen sich Luther und Zwingli samt einigen ihrer Anhänger vom 1. bis 4. Oktober 1529 in Marburg zu einem Religionsgespräch, das im entscheidenden Punkt keine Einigung brachte (k B. III. 8.). Die Trennung von der Schweizer Reformation blieb, während Luther mit den Oberdeutschen um Martin Bucer 1536 in der Wittenberger Konkordie (WAB 12; 200–212) zu einer Einigung in der Abendmahlsfrage kam. An der Ausarbeitung eines evangelischen Bekenntnisses auf dem Augsburger Reichstag von 1530 konnte sich Luther infolge der Reichsacht nicht beteiligen. Er hielt sich von April bis Oktober 1530 auf der Veste Coburg auf, von wo aus er das Reichstagsgeschehen verfolgte und mit Schriften und Briefen begleitete. Nach dem Reichstagsabschied, der das Wormser Edikt erneuerte, ließ er sich – zunächst widerwillig – von der Zulässigkeit eines, auch den Widerstand gegen den Kaiser in Betracht ziehenden, protestantischen Defensivbündnisses überzeugen, wie es 1531 im Schmalkaldischen Bund Gestalt annahm. 1537 nahm Luther an einem Treffen der Theologen des Bundes in Schmalkalden teil, bei dem über die Reaktion der Protestanten auf die nun nach langem Zögern erfolgte päpstliche Ausschreibung eines Konzils beraten wurde. Seine Zusammenfassung derjenigen Lehrpunkte, die er für unaufgebbar hielt (Schmalkaldische Artikel: WA 50; 192– 254), wurde nicht offiziell angenommen. Die weitere Ausbreitung der Reformation begleitete Luther mit Ratschlägen und durch die Entsendung von Theologen; mitunter trat er dabei auch selbst als Prediger in Erscheinung. In den dreißiger Jahren machten Luther zunehmend Krankheiten zu schaffen, und er fühlte sich bei aller Aktivität häufig alt und verbraucht, neigte auch stärker zu Schroffheit und Unduldsamkeit. Schon 1527 hatte ein erster Anfall der Menièreschen Krankheit – heftige Ohrgeräusche verbunden mit Drehschwindel und Übelkeit – einen Zusammenbruch hervorgerufen. Sowohl diese Krankheit wie gelegentliche Anfälle von Angina pectoris lösten depressive Zustände aus, die Luther als teuflische Anfechtungen deutete. Kreislaufbeschwerden, Verstopfung, Gicht und Kopfschmerzen plagten ihn zeitweise erheblich. 1536 kam ein Harnsteinleiden zum Ausbruch, das im Februar 1537, als sich Luther in Schmalkalden aufhielt, dramatische Formen annahm: Luther reiste wegen starker Schmerzen und eines anhaltenden Harnstaus vorzeitig ab, war tagelang dem Tode nahe und erholte sich erst nach Wochen wieder einigermaßen. Luther schonte auch fortan seine Gesundheit nicht und blieb in seiner Aktivität ungebrochen. Gerade in seinen letzten Jahren bündelten sich noch einmal die Linien seines Lebenswerks in polemischen Schriften gegen das Papsttum und gegen die Zürcher Nachfolger Zwinglis, besonders aber in seiner eigenen Darstellung der theologischen Grundeinsicht über den Sinn der Rede von der Gerechtigkeit Gottes in der 1545 verfassten Vorrede zum ersten Band der Gesamtausgabe seiner lateinischen Werke (WA 54; 179–187).
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Am 17. Januar 1546 predigte Luther zum letzten Mal in Wittenberg, wo er seit über 34 Jahren lebte und arbeitete; am 23. Januar brach er zu seiner letzten Reise ins Mansfeldische auf. In Eisleben wollte er im Vorjahr begonnene Verhandlungen zwischen den zerstrittenen Linien des Mansfelder Grafenhauses zu einem guten Ende bringen. Tatsächlich kam es am 16. und 17. Februar zur Unterzeichnung entsprechender Verträge. Schon auf der Fahrt nach Eisleben erlitt Luther einen Schwächeanfall. Dennoch predigte er neben den politischen Verhandlungen noch viermal in seiner Geburtsstadt, zuletzt am 14. oder 15. Februar. Seiner Frau suchte er ihre berechtigte Sorge um seinen Gesundheitszustand in anrührenden Briefen durch ironische Bemerkungen und durch den Hinweis auf die Fürsorge Christi zu nehmen (WAB 11; 268–300). Am Abend des 17. Februar 1546 erlitt Luther einen neuerlichen Schwächeanfall, der in den frühen Morgenstunden des 18. Februar zum Tode führte. Luther war bis zuletzt bei vollem Bewusstsein, befahl sich Christus an und bekräftigte seine Lehre. Unter den Zeugen seines Sterbens waren die Theologen Justus Jonas und Michael Coelius, die alsbald einen Bericht über den »christlichen Abschied« Luthers veröffentlichten. Er sollte zeigen, dass der Mann, den die einen als Ketzer verurteilt hatten und den die anderen als Lehrer des reinen Glaubens verehrten, seinen Lebenslauf als frommer Christ vollendet hatte. Luthers Leichnam wurde nach Wittenberg überführt. Vor der trauernden Familie, den Angehörigen der Universität, den Abgesandten des Hofes und den Wittenberger Bürgern sprachen in der Schlosskirche Johannes Bugenhagen, Luthers langjähriger Gefährte und Seelsorger, und Philipp Melanchthon, die Luther als gottgesandten Lehrer des Evangeliums würdigten. Seine letzte Ruhe fand Luther unter der Kanzel der Wittenberger Schlosskirche. Bornkamm, Karin: »Gott gab mir Frau und Kinder.« Luther als Ehemann und Familienvater (Wartburg-Jahrbuch. Sonderband 1996, 63–83). Brecht, Martin: Martin Luther, 3 Bde. Bd. 1: Sein Weg zur Reformation 1483–1521, 1981, 3 1990; Bd. 2: Ordnung und Abgrenzung der Reformation 1521–1532, 1986; Bd. 3: Die Erhaltung der Kirche 1532–1546, 1987. Junghans, Helmar: Luther in Wittenberg (in: Ders. [Hg.]: Leben und Werk Martin Luthers von 1526 bis 1546, 2 Bde., 1983, 11–37. 723–732). Neumann, Hans-Joachim: Luthers Leiden. Die Krankheitsgeschichte des Reformators, 1995. Schilling, Heinz: Martin Luther. Rebell in einer Zeit des Umbruchs, 42014. Hellmut Zschoch
2. Die religiöse Leitidee Dieser Abschnitt beabsichtigt, eine Vorstellung davon zu vermitteln, was Luther zur Ausbildung einer ihm eigentümlichen Theologie bewegt hat, und Auskunft darüber zu geben, welches elementare Thema in deren Zentrum steht. Es geht also im Folgenden um die Verknüpfung von biographisch-persönlichen Fragen
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und Entwicklungen mit überindividuell-theologischen Einsichten und Antworten. Die Maßgeblichkeit der Theologie Luthers entwickelt sich eben daraus, dass die individuellen Ausgangspunkte in eine von anderen Menschen anzueignende Gestalt christlichen Lebens und Denkens umgeformt werden konnten, die gerade darum ein so einladendes wie überzeugendes Ansehen angenommen hat, weil sie nach wie vor für jedermann aus der Bibel als dem ursprünglichen Zeugnis des Christentums zu gewinnen ist. Die herkömmliche Weise, die Verbindung von Biographie und Theologie Luthers nachzuzeichnen, besteht in der Suche nach dem Punkt, an dem sich eine bahnbrechende theologische Erkenntnis im Lebenslauf selbst fixieren lässt. Gefragt wird dann nach dem lebensgeschichtlichen Ort der reformatorischen Einsicht, also nach der sog. »reformatorischen Wende«, die sich zugleich als einmaliger persönlicher »Bruch« verstehen lässt. Diese zugespitzte Sichtweise ist nach langen Debatten, die zu keinem einmütigen Ergebnis geführt haben (vgl. Lohse 1968), aufzugeben. An ihre Stelle tritt ein differenzierteres Entwicklungsprofil, das von einem nach pietistischem Muster vorgestellten biographischen Bekehrungserlebnis ebenso abrückt wie von der Behauptung einer einzigen theologisch grundlegenden Formulierung. Vielmehr sind lebensgeschichtliche Kontingenzen und bildungsmäßige Voraussetzungen mit geschichtlichen und religiösen Rahmenbedingungen zusammen zu sehen. In dieser Perspektive wird dann auch das begrenzte Recht einer Suche nach dem Zusammenfall von biographischer Neudeutung und theologischer Grundeinsicht verständlich. Als Voraussetzung lebensgeschichtlicher Art kommt vor allem der Klostereintritt Luthers in Betracht. In ihm spricht sich, durchaus verständlich im Zusammenhang zeitgenössischer Frömmigkeit, die Suche nach einer durch Gott anzuerkennenden Gestalt eigenen Lebens aus. Das ist eine Suche, die sich einerseits durch das Bewusstsein einer letztgültigen Lebensbeurteilung durch Gott hervorgerufen sieht, die sich andererseits der vielfältigen Vergewisserungsformen des göttlichen Heils, wie sie die kirchliche Religion der Zeit anbietet, bedienen möchte – wobei die Frage nicht zu unterdrücken ist, ob diese die elementare Frage befriedigen können. Die religiöse Ausgangsfrage ist also die nach dem letzten Heil vor und durch Gott. Sie verbindet sich in Luthers Biographie auf kontingente Weise mit der Bestimmung zum Studium der Theologie durch seinen Orden. Das Theologiestudium vermittelt die nötige Bildung, das methodische Handwerkszeug ebenso wie die sachlichen Kenntnisse, um der religiösen Grundfrage im eigenen Forschen und Denken – ebenso wie im Verkündigen und Lehren – nachgehen zu können. Diese Verknüpfung von religiösem Interesse und theologischer Kompetenz steht im Horizont einer kirchlichen Praxis, die sich auf die Themen Buße und Ablass einstellt. Im alten Ritus der Buße wird die Frage bearbeitet, ob und unter welchen Bedingungen es eine neuerlich anerkannte Stellung des Menschen vor Gott geben kann. Im zeitgenössisch propagierten Gebrauch des Ablasses als Nachlass kirchlicher Bußstrafen wird der Beitrag der Kirche zu der gesuchten Neuordnung besonders akzentuiert. Eine Ein-
II. Aneignungen – 2. Die religiöse Leitidee
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sicht in die religiöse Leitidee lässt sich daher am ehesten gewinnen, wenn auf das Ineinander von individuellem religiösem Anliegen sowie theologischer Bildung Luthers und damaliger kirchlicher Praxis geachtet wird. Die hier vertretene These lautet, dass Luthers biographisch neu orientierende und überindividuelle Maßstäbe setzende Theologie sich aus der Durcharbeitung des Anliegens ergibt, das sich in der Buße als Suche nach einem neuen und grundsätzlichen Gottesverständnis ausspricht. Diese These realisiert, dass die Debatten um den Durchbruch der »reformatorischen Erkenntnis« kein schlüssiges Ergebnis erbracht haben (Pesch 1968). Das ist aus verschiedenen Gründen nicht der Fall gewesen. Einmal lässt sich nach den vorliegenden Quellen ein zuverlässiger Zeitpunkt einer biographisch-theologischen »Kehre« nicht finden. Die Auskünfte in der Vorrede zu Band 1 der lateinischen Schriften (WA 54; 179–187), auf die man eine solche Datierung meinte stützen zu können, tragen schon aus literarischen Gründen nicht (vgl. Schäfer 1969). Sodann, und das zeigt sich an demselben Text ebenso, ist auch das neue Verständnis von iustitia Dei als iustitia passiva zwar ein entscheidender Meilenstein in einer sich ausbildenden theologischen Gesamtsicht, darf aber nicht als einzige maßgebliche Formulierung angesehen werden (vgl. Schwarz 2002). Hinzu kommt, dass die Kontroversen über den »reformatorischen Durchbruch« stets mit der Absicht verbunden waren, über die Fixierung des Zeitpunktes auch den Gehalt der reformatorischen Erkenntnis und damit das Wesen der Reformation festlegen zu wollen. Das Thema der Buße ist insofern für das Christentum von größter Bedeutung, als es in ihr um eine solche neue Begründung des Gottesverhältnisses geht, die eine Abwendung des Menschen von Gott voraussetzt. Der Ruf Jesu »Tut Buße und glaubt an das Evangelium« (Mk 1,15) schließt die Buße als den Weg zum Glauben ein, der sich auf die Erfüllung der Zeit und das Kommen des Reiches Gottes einstellt. Damit wird zur Geltung gebracht, dass das durch Jesus begründete Gottesverhältnis nicht nur die Rückkehr in eine zuvor bestehende, dann aber gebrochene Beziehung darstellt, sondern den Rückgang auf den Grund des Gottesverhältnisses selbst. Jesus ist in seiner Person und Geschichte die Begründung des allein richtigen Gottesverhältnisses überhaupt. In der Alten Kirche ist diese Einsicht später noch einmal durchgekämpft worden, als es um die Ermöglichung einer »zweiten Buße« ging, also einer Neueinstellung des Verhältnisses zu Gott, die nach einem Abfall vom wahren Glauben nötig geworden war. Das frühe Mittelalter hat den richtigen Sinn des Bußbegriffes dahingehend ausgebaut, dass es nicht nur und nicht einmal vorrangig um die Wiederaufnahme in die Gemeinschaft der Gemeinde geht, sondern um die Orientierung des vor Gott verantwortlichen Gewissens des einzelnen. Dafür bleibt aber die Mitwirkung des Priesters als des zur Sündenvergebung beauftragten Menschen in der Kirche maßgeblich; ausgesprochene Vergebung der Sünde und Erneuerung der tragfähigen Beziehung zu Gott, die sich auch im Leben zur Anschauung bringt, gehören dazu. Diese Elemente des Bußverständnisses liegen im Hintergrund der Tatsache, dass
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sich über das Modell der Buße der Sinn des reformatorisch verstandenen Gottesverhältnisses aufbaut. Speziell die verantwortliche Mitwirkung der Kirche bei der (Wieder‑)Einsetzung des Menschen ins aktuelle Gottesverhältnis wird im Ablasswesen thematisiert. In ihm kommt zur Geltung, dass die Vergebung der Sünde durch Gott auch Konsequenzen für das kirchliche Gemeinschaftsverhältnis zeitigt. Es bedarf der geistlichen Neukonstitution sowie der fortgesetzten Übung und Vertiefung frommen Lebens, um die zugesprochene Vergebung zu fester Lebensgestalt gelangen zu lassen. Eben hier aber tritt die Missverständlichkeit des Ablasses ein. Denn zwischen der reinen Vergebung durch Gott und den kirchlichen Bußleistungen ist insofern nicht sorgfältig unterschieden worden, als die Person dieselbe ist, die die Vergebung zuspricht und die die Bußleistungen auferlegt. Der Ablass als Umwandlung der Bußleistungen im Interesse ihres zügigeren Abbaus schlägt damit zurück auf die Vergebung der Sünden selbst. Und in der Pein des Gewissens, die zur Buße führt, wird ununterscheidbar, ob es sich dabei um ein kirchlich-sozial verantwortliches oder um ein unmittelbar von Gott gefordertes Gewissen handelt. Im Zusammenhang der Kritik am Ablasswesen erfährt dieses Bußverständnis durch Luther an zwei Stellen eine entscheidende Umstellung. Zunächst ist in der kritischen Revision des Ablasses die kategoriale Differenz zwischen dem freisprechenden Wort und den auferlegten Bußleistungen einzuschärfen (Disputatio pro declaratione virtutis indulgentiarum [95 Thesen], 1517: WA 1; 233–238. Sehr klar auch die Disputation Pro veritate inquirenda et timoratis conscientiis consolandis conclusiones, 1518: WA 1; 629–633). Sodann zeigt sich, diese Linie fortsetzend, dass es allein der Glaube an das als göttliche Zusage verstandene Vergebungswort ist, welcher den Gehalt der Buße in sich trägt. In der klassischen Trias von Reue (contritio), Bekenntnis und Vergebung (confessio und absolutio) und Genugtuung (satisfactio) ist es das Mittelstück, das für die religiöse Bestimmung des Ganzen verantwortlich ist. Allein im Glauben an die von Gott selbst zugesprochene Absolution besteht die neue Gemeinschaft mit Gott, die insofern ohne allen eigenen Beitrag des Menschen ist (Ein Sermon vom Sakrament der Buße, 1519: WA 2; 713–723). Vollständig ist der Ausschluss menschlicher Mitbeteiligung bei der Konstitution des Gottesverhältnisses aber erst dann, wenn auch die contritio nicht mehr unter der Verfügung des sich auf sich besinnenden Gewissens steht. Diese Einsicht ist erst da erreicht, wo deutlich ausgesprochen wird, dass so wie das Wort der Vergebung auch das Wort der Anklage Gottes eigenes Wort ist: »das du hörist deynen gott zu dir reden, Wie alle deyn leben und werck nichts seyn fur gott« (WA 7; 22,26 f). Das bedeutet aber: Durch »Gesetz« und »Evangelium«, durch Verurteilung und Freispruch, baut Gott die Unmittelbarkeit des Menschen zu ihm selbst auf. Diese Unmittelbarkeit Gottes zu dem Menschen wird nun radikal und uneingeschränkt erst dann verstanden, wenn sie ihrerseits voraussetzungslos gedacht wird. Das heißt: In diesem Vorgang der (Neu‑)Begründung des Gottesverhältnisses kommt Gottes eigenes Wesen ebenso zum Ausdruck wie die
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Bestimmung des Menschseins als solches – und darin eben auch die Festlegung der Beziehung zwischen Gott und Mensch. Insofern kann man sagen: Die religiöse Leitidee, die in unterschiedlichen Sprachwendungen zur Aussage kommt, besteht im Heil des Menschen als der Herstellung der Unmittelbarkeit der Gottesbeziehung des Menschen durch Gott selbst. An dem rituellen Geschehen der Buße lässt sich veranschaulichen, dass und inwiefern sich unterschiedliche theologische Einsichten Luthers bündeln. Insbesondere die in der Vorrede von 1545 erörterte Umstellung im Begriff der iustitia Dei kommt hier zur Geltung. War iustitia Dei nach traditionellem Verständnis aufzufassen als göttliche Reaktion auf ein zu beurteilendes menschliches Verhalten, so ist iustitia Dei als iustitia passiva die dem Menschen (als Überwindung seiner Ungerechtigkeit) im Glauben gegebene Gerechtigkeit seines Seins überhaupt – in der Gott eben nicht nach einem gesetzlichen Maßstab Tätigkeiten beurteilt, sondern sich selbst gibt und damit seine Gemeinschaft mit dem Menschen begründet. Gottes Gerechtigkeit ist derjenige Vorgang, in dem er sich selbst und den Menschen verwirklicht. Von dieser Konstellation her lassen sich alle entscheidenden theoretischen und praktischen Konsequenzen der Theologie Luthers verstehen. Zuerst gewinnt das Wort Gottes aus dieser Perspektive seinen eigentümlichen Sinn. Vor dem Hintergrund des in der Absolution ergehenden Freispruchs von der Sünde ist es grundsätzlich und endgültig als ein anredendes Wort wahrzunehmen – und genauso ist es auch schon immer in der Bibel gemeint und gesprochen. Keineswegs also präsentiert das Wort Gottes in den biblischen Schriften geistliche Sachverhalte höherer Art, eine religiöse Weltanschauung etwa, die dann mit einer Aufforderung zur Zustimmung versehen von den Gläubigen rezipiert und auf das eigene Leben appliziert werden müsste. Vielmehr geschieht die Anrede des Wortes Gottes in unmittelbar ansprechenden, also distanzüberwindenden Sprechakten des Verpflichtens (»du sollst …«) und des Versprechens (»du wirst …«). Dieses Sprachverständnis einer Priorität der Anrede besitzt weitreichende erkenntnistheoretische Konsequenzen (k C. II. 1.). In diesem Gefälle sind die Kategorien Gesetz und Evangelium zu deuten. Auch bei ihnen handelt es sich nicht um Gegebenheiten, die als solche irgendwie vorlägen und aufzusuchen wären, sondern um elementare Redeformen, durch die das Selbstverständnis des Menschen grundsätzlich, weil vom Gottesverhältnis her bestimmt wird. Darum bleibt der Versuch, die Kategorie Gesetz über die Kon struktion eines Naturrechts absichern zu wollen, ebenso untauglich wie eine Verobjektivierung des Evangeliums, selbst wenn diese sich der Christologie als Grundlage bedienen wollte. Die über Gottes Wort in der Weise von Gesetz und Evangelium sich ereignende Begegnung von Gott und Mensch prägt nun auch das Verständnis von Gott und Mensch überhaupt. Sofern Gott in seinem Wort sein Wesen zu erkennen gibt, muss er als redender, weil urteilender, und demnach auch als handelnder Gott vorgestellt werden (sogar da, wo die Bestimmtheit seines Handelns nicht erkannt
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werden kann: Vgl. WA 18; 708,19–714,12). Einer Substantialisierung Gottes als höchstes Wesen ist damit ebenso der Abschied gegeben wie einer Spiritualisierung Gottes im Modus negativer Theologie. Zu erörtern bleibt die Frage, wie tief dieses errettende Handeln Gottes in sein eigenes Wesen hineinreicht. Eben diese Frage wird am Thema der Christologie durchdacht (theologia crucis statt theologia gloriae: vgl. WA 1; 353–374, v. a. 361–363) und muss sich an der Unterscheidung von offenbarem und verborgenem Gott (deus revelatus und deus absconditus) bewähren (WA 18; 600–787, v. a. 683–691). Entsprechend ist auch das Wesen des Menschen nicht in unbetroffener Neutralität gegenüber seinen Lebensbeziehungen zu bestimmen. Der Mensch existiert nach diesem Verständnis wesentlich als Angesprochener, der sich vor dem Anspruch verantworten muss und sich dabei auf einen nicht in ihm selbst liegenden, abermals sprachlich verfassten Grund verwiesen sieht, aus dem er existiert (»nullum remedium habet afflicta conscientia contra desperationem et mortem aeternam, nisi apprehendat promissionem gratiae oblatae in Christo«) (kein Heilmittel besitzt das bedrängte Gewissen gegen die Verzweiflung und den ewigen Tod, wenn es nicht die in Christus angebotene Verheißung ergreift) (WA 40,1; 42,26 f). Von der Wesensbestimmung zu unterscheiden, aber von ihr herkommend ist die Ethik als Verantwortung von Handlungen zu verstehen. Im Handeln kommt zum Ausdruck, wie es um die Person bestellt ist, die solche Handlungen vollzieht. Damit wird festgestellt, dass eine Veränderung des Täters durch seine Taten ausgeschlossen ist – die konsequente Folge der Einsicht, dass über Wesen und Wert des Menschen nur seine vor allem Handeln zu erblickende Beziehung zu Gott entscheidet. Zugleich ist damit eine unhintergehbare Würde des Menschen festgestellt, die aus dem Angesprochensein durch Gott vor allem Handeln gegeben ist. Diese Gott und Mensch und ihr Verhältnis betreffenden Einsichten bestimmen dann auch sehr genau praktische Schlussfolgerungen. Zunächst ist mit der herkömmlichen Bußpraxis, die sich in einem Zwielicht hinsichtlich menschlicher und göttlicher Anteile im Vorgang der Buße bewegte, auch die Lehre von den Sakramenten als begrenzten und instrumentell einzusetzenden Medien der Heilszueignung betroffen. Wenn es Gottes Wort allein ist, durch dessen Anrede das Wesen des Menschen (neu) bestimmt wird, dann kann der Gehalt der Sakramente stets nur immer derselbe sein, nämlich Gottes eigene und ganze Selbstvergegenwärtigung. Darum sind die Sakramente an die Einsetzung durch Jesus Christus gebunden, der in seiner Person Gott selbst zu den Menschen bringt. Dadurch wird auch die Funktion des Geistlichen neu verstanden. Der Priester ist nicht instrumentaler Mittler göttlicher Gnade, sondern Zeuge des göttlichen Wortes, das sich selbst im Menschen Gehör verschafft. Damit entfällt aber auch das Weihesakrament und wird als fehlgeleitete Konstruktion zum Zwecke der Gnadenvermittlung wahrgenommen. Schließlich und zusammenfassend verändert sich die Auffassung von der Kirche. Zur congregatio sanctorum (CA 7) werden durch ihren Herrn Jesus Christus in der Macht des göttlichen Wortes dieje-
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nigen Menschen zusammengerufen, die die Stimme ihres Herrn hören und darin wissen, dass sie ganz und gar Gottes bedürftig sind. Das Gegenüber von verkündigtem Wort (in Predigt und Sakrament) und Glaube macht die Gemeinde aus (»Da bey aber soll man die Christlich gemeyne gewißlich erkennen: wo das lautter Euangelion gepredigt wirt«: WA 11; 408,8–10). Damit fällt aber auch alle in nerkirchliche Hierarchie dahin, weil das auftragsgemäße Zeugnis von dem selbst sich in seinem Wort vergegenwärtigenden Gott nicht nach Graden geistlicher Kompetenz abzustufen ist. Sofern die congregatio sanctorum sich allein durch das göttliche (ansprechende) Wort als Grundlegung menschlicher Existenz überhaupt zwanglos aufbaut, ist die Gemeinde eine kontingente Erscheinung in der Geschichte. Die vom Wort Gottes geschaffene Gemeinde existiert aber in einem breiteren Umfeld humanen Lebens, das einer eigenen Ordnung bedarf, die mit der der Gemeinde nicht verwechselt werden darf, wenn die Ungezwungenheit des Glaubens nicht angetastet werden soll. Insofern verlangen gerade die im Glauben grundgelegte Wesensbestimmung des Menschen und die auf den Ruf des Evangeliums gegründete Gemeinde nach dem Verständnis einer sie umfangenden Lebenswelt von größerer Allgemeinheit und rechtlicher Zwangsbewehrung. Im Überblick bewährt sich also die These, dass es sich bei der religiösen Leit idee Luthers um den organisierenden und orientierenden Aufbau eines unmittelbaren Gottesverhältnisses handelt. Das verpflichtende und zusprechende Wort ist der Weg, wie Gott dem Menschen so begegnet, dass er die ihm selbst widerfahrende Vergegenständlichung und Instrumentalisierung durch die Menschen überwindet. Jedoch gibt es für diese gedankliche Figur nicht nur einen einzigen sprachlichen Ausdruck (auch nicht »Rechtfertigungslehre«; k C. II. 3.); vielmehr ist sie in mancherlei Variationen zur Geltung und zur Aussprache gebracht worden. Regelmäßig verlangt diese bei Luther anzutreffende theologische Formation nach der Frage, ob bzw. inwieweit sich in dieser historischen Neubestimmung des Christentums nichts anderes zur Geltung bringt als das ursprüngliche Wesen des Christentums selbst, nur in einer späteren und historisch ausgefalteten Art und Weise. Zur Bedingung seiner Wahrheit gehört aber auch, dass es von jedem Menschen individuell angeeignet werden muss. Insofern stellt sich der Weg Luthers, der über die individuelle Erfahrung des Glaubens führt, als exemplarisch dar. Bayer, Oswald: Martin Luthers Theologie. Eine Vergegenwärtigung, 2003, 41–61. Ebeling, Gerhard: Lehre und Leben in Luthers Theologie (in: Ders.: Lutherstudien. Bd. 3: Begriffsuntersuchungen – Textinterpretationen – Wirkungsgeschichtliches, 1985, 3–43). Schwarz, Reinhard: Art. Luther, Martin II. Theologie (RGG4 5, 2002, 573–588). Ders.: Martin Luther. Lehrer der christlichen Religion, 2015, 19–22: Strukturelemente in Luthers Lehre von der Religion; aaO 75–105: Die christliche Religion in ihren elementaren Relationen. Dietrich Korsch
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3. Geschichtsbild und Selbstverständnis Luthers Geschichtsanschauung und sein Selbstverständnis sind in vielfältiger Weise aufeinander bezogen und ineinander verwoben. Zu Luthers Wahrnehmung Gottes und der Welt gehörte auch eine spezifische Wahrnehmung der Geschichte. Diese Geschichte erfuhr er als Geschichte Gottes mit den Menschen, als »Gottes werck, wie wünderlich er die Menschen kinder regieret« (WA 50; 385,31 f). In diesem Rahmen wurde er durch den tatsächlichen Verlauf der Geschichte genötigt, über seine Person und das Verstehen seines Wirkens nachzudenken. Dieses Nachdenken vollzog sich auf der Grundlage der unvergleichlichen Erfahrung der rechtfertigenden Barmherzigkeit Gottes an seiner Person und in seiner Zeit, kurz, durch die Wiederentdeckung des Evangeliums am Ende der Geschichte. Die – letztlich unzweifelhafte – Gewissheit der Wiederentdeckung des Evangeliums verband sich für Luther gleichwohl mit der Frage, warum dieses Evangelium in den vorausgegangenen Generationen verborgen und unentdeckt geblieben sei. Den »Gottlosen« legte er 1527 die Frage in den Mund: »Bistu alleine des heiligen geists nest ey blieben auff diese letzte zeit?« (WA 23; 421,27 f), nun freilich, um die Wahrheit Christi gegen den Papst und seine Anhänger assertorisch zu bekräftigen. Von diesen Voraussetzungen her erscheint es angemessen, das Thema »Geschichtsbild und Selbstverständnis« nicht im Sinne der Zeichnung eines Charakterbildes Luthers zu behandeln, sondern als ein Thema seiner Theologie. Daher geht es auch nicht um die Darstellung der Entwicklung seiner Persönlichkeit, seiner Beziehungen zu Freunden, Mitstreitern und Gegnern, seiner Stärken und Schwächen und seiner je und je sich äußernden Gefühle und Affekte. Nicht immer und überall hatte er seinen Pflichten zu genügen (vgl. Holl 1921 d), innere und äußere Kämpfe zu bestehen, nicht alles wurde Luther zur Last, nicht jederzeit drückten ihn die Schwere der Verantwortung und das Gewicht der Welt. Nicht zuletzt aus seiner monastischen Vergangenheit wusste Luther, der »Mensch zwischen Gott und Teufel« (Oberman 1987 b), freilich um das Hin- und Hergerissensein zwischen praesumptio und desperatio, zwischen Hochmut und Hochgestimmtheit, Niedergeschlagenheit und Verzweiflung. Schließlich geht es auch nicht um Luthers »Turmerlebnis« bzw. den »Durchbruch der reformatorischen Erkenntnis«. Für das Verstehen des Zusammenhangs von Geschichtsanschauung und Selbstverständnis ist vielmehr Luthers Sicht auf das Ende der Geschichte von entscheidender Bedeutung. Wie erfuhr er Gottes Handeln am Ende der Geschichte? Welche apokalyptischen Überzeugungen bestimmten ihn selbst und seine Zeitgenossen, und welche Konsequenzen zogen sie aus solchen Überzeugungen? Was konnte »Reformation« angesichts dieses (nahe) bevorstehenden Endes sein und bedeuten, und welche Rolle sollte Luther selbst in diesem Prozess der »Reformation« spielen? »Reformation«, das war Luthers frühe und bleibende Überzeugung, war die Sache Gottes selbst, er allein würde sie heraufführen. Luther selbst
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fungierte in diesem Prozess (nur) als evangelista, der das Wort des Herrn verkündigte und auslegte. Unübersehbar ist daneben, dass Luther sein Selbstverständnis wesentlich aus der Gegenüberstellung zu dem Papsttum und den »Papisten« und in Konfrontation mit ihnen entfaltete. Die »Rottengeister und Schwärmer« konnte er dagegen als abgefallene Nachfolger betrachten, die von den Erkenntnissen (falschen) Gebrauch machten, die er selbst errungen hatte (WA 23; 34,28–34) und von denen doch keiner »mit dem Teuffel disputirt« (WAT 1; 132,27 f) – will sagen: die Anfechtungen existentiell durchlitten – habe wie er selbst. Luthers Selbstaussagen müssen schließlich auch in ihrem rhetorischen Charakter gewürdigt werden. Zahlreiche Zeugnisse sind ohne ihren biblischen Hintergrund nicht zu verstehen, und die antike und mittelalterliche Rhetorik hatte auch eine reichhaltige Bescheidenheitstopik ausgebildet, deren Luther sich bediente. Luther verstand seine Zeit als letzte Zeit. Diese letzte Zeit war dadurch besonders ausgezeichnet, dass Gott mit der Wiederentdeckung des Evangeliums am Ende der Geschichte sein Evangelium von der barmherzigen Rechtfertigung der Sünder und damit das Heil für die Welt noch einmal deutlich hatte erkennbar werden lassen. Diese Erkenntnis geschah im Heiligen Römischen Reich; Wittenberg wurde gleichsam zum Ort solcher Erkenntnis des Heils. Aber Luther war aus der Kenntnis der Geschichte gewiss, dass das Evangelium nicht wie ein dauerhafter Besitz ortsfest bleibe: »Gottis wort und gnade ist ein farender platz regen, der nicht wider kompt, wo er eyn mal gewesen ist« (WA 15; 32,7 f; vgl. schon WAB 2; 372,74 ff) – wie eine translatio imperii könne es auch eine translatio evangelii geben. Unter welchen Voraussetzungen konnten Luther und seine Zeitgenossen die eigene Zeit als letzte Zeit verstehen und in solchen »letzten Zeiten« leben und handeln? 3.1. Geschichtsbild
Weltgeschichte war die Geschichte Gottes mit den Menschen. Aus der Überlieferung konnte man verschiedene Einteilungen dieser Geschichte, die von der Schöpfung über die Offenbarung Gottes in Jesus von Nazareth bis zur Vollendung dauern würde, vornehmen. Die geläufigsten Gliederungen der Geschichte waren 1. die – aus Augustins De civitate Dei (22, 30) übernommene – Gliederung in die sechs bzw. sieben Zeitalter der Welt (aetates mundi), von Adam bis zur Sintflut (Noah), von Noah bis zu Abraham, von Abraham bis zu David, von diesem bis zum babylonischen Exil, vom Exil bis zur Menschwerdung Christi, das sechste von der Inkarnation bis zum Weltende, die letzte aetas sollte ein Zeitalter der Ruhe sein; 2. die – vor allem über Orosius dem Mittelalter überlieferte – Gliederung in die vier Weltreiche (regna) nach Dan 2 und 7, das babylonische, das medisch-persische, das griechische und schließlich das – noch bestehende – Rö-
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mische Reich, das letzte vor dem Ende der Welt. Dieses Reich war damit nicht nur eine politische, sondern eine heilsgeschichtliche Größe. Luthers Geschichtsanschauung ist Auslegung der heiligen Schrift. Aus den Büchern des Alten Testaments konnte man das Datum der Erschaffung der Welt errechnen, aus ihnen errechnete man aufgrund der Stammbäume und der angegebenen Lebensalter auch die bisherige Dauer der Geschichte, hatte freilich mit den Ungereimtheiten der diversen Überlieferungen zu kämpfen. Auf verschiedene Weisen ging es in diesem Verfahren darum, die Gewissheit des Glaubens mit der Sicherheit nachvollziehbaren Rechnens zu verbinden und damit zu versuchen, die Ungewissheit über das Ende der Welt wenigstens ein Stück weit gewisser zu machen. Gemeine Überzeugung war jedenfalls, dass die Welt 6000 Jahre bestehen werde. Der sog. Spruch des Propheten Elia besagte: »Sex milibus annorum stabit Mundus. Duobus milibus inane. Duobus milibus Lex. Duobus milibus Messiah. Isti sunt Sex dies hebdomadae coram Deo, Septimus dies Sabbatum aeternum est« (WA 53; 22). Aus Ps 90,4 und 2Petr 3,8 konnte man wissen, dass vor Gott tausend Jahre wie ein Tag seien. In sechs Tagen hatte er die Welt geschaffen, und so würde die Erde 6000 Jahre bestehen, doch sollte das letzte Jahrtausend nicht vollendet werden. Deshalb bestand im frühen 16. Jahrhundert eine gespannte Erwartung auf das Ende. Luther hat diese überlieferten Kenntnisse in einer chronologischen Geschichtstabelle zusammengestellt, die er für seinen eigenen Gebrauch anfertigte; diese wurde unter dem Titel Supputatio annorum mundi 1544 gedruckt (WA 53; 22– 184). Innerhalb der Daten in der Tabelle ist die Geburt Jesu Christi von der Jungfrau Maria als »Annus 1. Salutis« eingetragen (aaO 124), das Jahr seiner Kreuzigung, Auferstehung und der Aussendung des heiligen Geistes als »primus annus ultimae hebdomadae« (aaO 125). Bemerkenswert für Luthers Verständnis der Geschichte sind die Eintragungen über das Papsttum. So verzeichnet er mit dem Pontifikat Gregors des Großen einen Wechsel: »Gregorius magnus ultimus Episcopus Romanae Ecclesiae, sequentes sunt Papae, id est Pontifices Romanae Curiae« (aaO 142). Kein Wunder, dass er Innozenz III. als »Hypocrita insignis« (aaO 158) und Bonifaz VIII. als »Monstrum« (aaO 161) tituliert und das Konstanzer Konzil (1414–1418) als »Concilium Satanae«, auf dem der »Sanctus Martyr Christi« Johannes Hus durch den Antichrist zu Tode gekommen sei (aaO 167). Aus der eigenen Zeitgeschichte ist das Jahr 1517 hervorgehoben durch den Eintrag: »Indulgentiae Papales impugnatae per Lutherum, post mortem Ioh. Hus anno 102., qui est annus fere 1000. confirmati Papatus per Focam« (aaO 170). Darin wird die lebendige Beziehung auf den Konstanzer Märtyrer erkennbar, dessen Weissagung, in Konstanz brate man eine Gans (Hus = tschechisch: Gans), den Schwan, der in hundert Jahren erscheinen werde, werde man jedoch nicht töten können, im frühen 16. Jahrhundert lebendig war und auf Luther bezogen wurde. Aus dieser »Weissagung« rührt auch die vor allem im 16. und 17. Jahrhundert verbreitete Darstellung Luthers mit dem Schwan her.
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Das »Jahrtausend der Päpste« zeichnet sich nach Luthers Überzeugung dadurch negativ aus, dass in ihm das Evangelium nicht hinreichend zu Gehör gekommen sei und die institutionelle Gestalt der Kirche die Verbreitung und Wirkung der guten Nachricht behindert habe, statt sie zu fördern. Im Jahre 1540 befand man sich nach Luthers Eintragung »precise« im Jahr 5500 seit Erschaffung der Welt. »Quare sperandus est finis mundi«, trägt Luther in seine Tabelle ein, »Nam sextus Millenarius non complebitur, Sicuti tres dies mortui Christi non sunt completi« (aaO 171). Luther hat die Geschichte im Unterricht der Schulen vertreten wissen wollen. Sie könne als Spiegel dienen; Menschen könnten aus den Ereignissen der Geschichte lernen, »was zu suchen und zu meyden were ynn dissem eusserlichen leben«, und insofern fremde Erfahrungen zu eigenen machen, »denn zu eygener erfarung gehört viel zeyt« (WA 15; 45,21.25 f). Die Geschichte dient damit als magistra vitae, als Lehrerin für das Leben, weil sie Exempel und Geschichten zu bieten hat und nichts anderes ist »denn anzeigung, gedechtnis und merckmal Göttlicher werck und urteil, wie er die welt, sonderlich die Menschen, erhelt, regiert, hindert, fördert, straffet und ehret, nach dem ein jglicher verdienet, Böses oder Gutes« (WA 50; 384,3–6). Daher betrachtet Luther auch die Geschichtsschreiber als »die aller nützlichsten Leute und besten Lerer« (aaO 384,15 f). »Aber es gehört dazu ein trefflicher Man, der ein Lewen [Löwen] hertz habe, unerschrocken die warheit zu schreiben« (aaO 385,1 f) und nicht den Mächtigen nach dem Munde zu reden. »Denn weil die Historien nichts anders denn Gottes werck, das ist gnad und zorn, beschreiben, welchen man so billich gleuben mus, als wenn sie jnn der Biblien stünden, Solten sie warlich mit allem höhesten vleis, trewen und warheit geschrieben werden« (aaO 385,15–18). Bei aller Kenntnis der Geschichte, bei aller nützlichen und notwendigen Aufzeichnung und Wahrnehmung der Historien aber gilt: Gottes Handeln in der Geschichte ist den Menschen verborgen, seine Wege sind verborgene Wege. Menschen können die Geschichte nicht planen und die Zukunft nicht machen. »Nun, wer weis, was Gott thun wirt. Er kans wol thun. Praedestinatio eius ist vns zu hoch. Er ist ein wunderlicher Gott. Wir kunnen dauon nicht sagen, denn es heist: Faciem meam non videbis, was ich im sinn habe, das solstu nicht wissen; posteriora mea videbis, wenn ichs gethan hab, so soltu es sehen, nicht ehr. Wer hett gemeint, das in Germania ein solcher contemptus papae solt werden?« (WAT 5; 221,29–34). 3.2. Selbstverständnis
»Ego vero nihil habeo et sum, nisi quod Christianum esse me prope glorier« (Ich aber habe nichts und bin nichts, es sei denn, dass ich mich beinahe rühmen kann, ein Christ zu sein) (WA 18; 786,25 f). Luther hat sich je nach Anlass, Gegenüber und literarischem Genus in vielfältiger Hinsicht über sich selbst geäußert, über den Lauf des Evangeliums in der
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Welt und über seine Aufgabe dabei, über sein Hineingerissensein »provocatus […] wie ein geplendt pferdt« (WAT 3; 656,11 f) und seine Aktivitäten, seine Einschätzungen, Affekte und Urteile, seine Ziele und vor allem über seine Anfechtungen (tentationes). Seine Aussagen sind nicht unabhängig von seinen Zeiterfahrungen. Die frühen Jahre 1519–1521 waren eine »Hoch-Zeit« für Luther und die neue Theologie gewesen, und im Rückblick auf sie formierte sich Luthers reformatorisches Selbstbewusstsein; um 1530 war die Reformation zu großem Einfluss gelangt; gegen Ende von Luthers Leben gewannen Gegenkräfte spürbar an Einfluss. Für alle Zeiten, des »Erfolgs« oder der Bedrohung, aber kann gelten, was Luther im Oktober 1518 an seine Wittenberger Freunde schrieb: »Viuat Christus, Moriatur Martinus et omnis peccator, sicut Scriptum est, pereant peccatores et iniqui de terra ita, vt non sint. Exaltetur autem deus salutis meae« (WAB 12; 14,15–17). Ein entscheidender Moment in Luthers Selbstverständnis und seiner Selbstvergewisserung muss der 31. Oktober 1517 gewesen sein. An diesem Tage schrieb Luther einen Brief an den Erzbischof Albrecht von Mainz (WAB 1; 108–112). Zum ersten Mal in seinem Leben unterzeichnete er dabei in einer neuen Form seines Namens: »Martinus Luther«. Der geborene Martin Luder brachte im Wechsel der Form seines Namens sein neues Selbstverständnis zum Ausdruck: Die beiden Buchstaben »th« bewahrten und brachten zeichenhaft das neue Verständnis der evangelischen Freiheit zum Ausdruck, das Luther in den Jahren zuvor gewonnen hatte und in dem er sich selbst zunächst den Namen »Eleutherius« beigelegt hatte, den er nun, gleichsam nach einer Phase des Übergangs, in dem neuen Namen »Luther« aufgehoben wusste (vgl. in diesem Zusammenhang auch Luthers Brief an Johannes Lang vom 11.11.1517, den er als »F[rater] Martinus Eleutherius, imo dulos et captivus nimis, August[inianus] Wittenbergens[is]« unterzeichnet und in dem er festhält: »nolo, quod hominis industria aut consilio, sed Dei fiat, quod facio. Si enim opus fuerit ex Deo, quis prohibebit? si non fuerit ex Deo, quis promovebit? Fiat non mea, nec illorum, nec nostra, sed voluntas tua, Pater sancte, qui es in coelis, Amen« [Ich will nicht, dass das, was ich tue, nach menschlichem, sondern nach göttlichem Eifer und Rat vor sich gehe. Sollte das Werk aus Gott sein, wer wird’s hindern? Sollte es nicht aus Gott sein, wer wird’s fördern? Nicht mein, nicht ihr, nicht unser, sondern Dein Wille geschehe, Vater unser, der Du bist im Himmel. Amen]) (WAB 1; 122,56 f.48–51). Spätestens seit den Auseinandersetzungen um den Ablass und dem Erfolg des Sermon[s] von Ablaß und Gnade war Luther eine Hauptperson des öffentlichen Interesses – der »Thesenanschlag« und seine Folgen waren »der erste, rechte, grundliche anfang des Lutherischen Lermens« (WA 51; 541,21), ja, sie galten später gleichsam als revelatio euangelii (WAT 2; 567,13 f). Er selbst hat immer wieder betont, er habe sich nicht in die Öffentlichkeit gedrängt und die Konflikte nicht gesucht, und was er getan habe und tue, tue er gezwungenermaßen (»quicquid feci & facio, coactus facio«; WAB 2; 135,41 f). Vielmehr habe Gott selbst den Lauf des Evangeliums (cursus euangelii) bestimmt: »Es ist alles divino consilio ge-
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scheen« (WAT 4; 25,18). Und nicht nur das: Das Wort Gottes habe sich auch selbst durchgesetzt, ohne sein Zutun: »Ich hab nichts gethan, das wort hatt es alles gehandelt vnd außgericht […]. Ich hab nichts gemacht, ich hab das wort lassen handeln« (WA 10,3; 19,2 f. 6 f). Schon 1518 war Luther von der Notwendigkeit einer »Reformation« der Kirche überzeugt; den Zeitpunkt einer solchen Reformation aber wisse Gott allein (WA 1; 627,27–34). In der Auslegung von Ps 9 (10) in den Operationes in psalmos betonte er, »ecclesiam et ecclesiasticos oportere reformari, ubi, positis pompa, fastu, regnis et mundi negotiis, ministerio verbi et orationi instandum sit et apostolorum exemplo in penuria et periculo vitae pro veritate vivendum« (AWA 2; 588,14–17. WA 5; 337,4–7). Aber die Irreformabilität Roms blockiere die Reformation der Kirche vor dem Ende der Zeiten. Daneben hat er die Überzeugung geäußert, zur Reformation der Kirche gehöre auch die Erneuerung des Pfarrerstandes (WA 1; 8–17). 1531 berichtet er dann, Kaiser Karl V. habe erklärt, »Wenn die pfaffen frum weren, so dürfften sie keines Luthers«, und interpretiert ihn dahingehend, »das der Luther sey der Pfaffen rute« (WA 30,3; 294,20 f. 23). Erkennbar ist, dass die Zeitgenossen, nachdem sich Luther in der Ablassfrage an die Öffentlichkeit gewandt hatte, ein sich steigerndes Interesse an seiner Person entwickelten, das nicht ohne Rückwirkungen auf Luthers Selbstwahrnehmung blieb. Seine Porträtwürdigkeit wurde schon im Umkreis der Leipziger Disputation im Holzschnittporträt auf dem Titelblatt einer seiner gedruckten Predigten dokumentiert. In den kommenden Jahren erschien er der Bücher lesenden Öffentlichkeit in Holzschnitten Lucas Cranachs, der über die gesamte Lebenszeit Luthers dessen öffentliche Wahrnehmung im Bild bestimmte: in verschiedenen Typen – als Mönch, Doktor, Junker Jörg, Ehemann im Doppelporträt mit Katharina, Wittenberger Theologe im Doppelporträt mit Melanchthon, schließlich als Kirchenvater der evangelischen Kirche – tritt er über Jahrzehnte in Bildfindungen Cranachs in Erscheinung. Im Umkreis des Wormser Reichstags von 1521 wurde er in Schriften und Bildern vollends zu einem Gegenstand der Flugschriften- und Flugblattpublizistik und im äußersten Falle als ein neuer Heilsbringer gepriesen. Da wird Luther als zweiter Paulus, als Hercules Germanicus, später auch von dem Nürnberger Schuhmacher und Poeten Hans Sachs als Wittenbergische Nachtigall dargestellt. Einen Höhepunkt stellt wohl die Reformulierung seiner Geschichte in Worms als Kontrafaktur der biblischen Passionsgeschichte dar: In der Passio Doctoris Martini Lutheri stellte ein unbekannter Verfasser eine Konkordanz zwischen der Leidensgeschichte Jesu Christi und der »Passion« Luthers dar. Und Michael Stifel verherrlichte Luther in einem Lied als den Engel mit dem ewigen Evangelium (Apk 14,6), also als endzeitliche Gestalt der Heilsgeschichte. Die gegnerische Seite zeichnete ihn dagegen als Septiceps/Siebenkopff (Johannes Cochlaeus), und die Tendenz, ihn zu einem Monster zu machen, ja den leibhaftigen Satan in ihm zu sehen, verstärkte sich seit dem Wormser Edikt vom 8. (26.) Mai 1521, in dem er
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»nit ein mensch, sonder als der böss veinde in gestalt eins menschen mit angenomer münchskuten« (DRTA.JR 2; 648), »verteufelt« wurde, immer mehr. Gegenüber den Versuchen, ihn als Gestalt der Heilsgeschichte zu inszenieren, hat Luther schon in Worms eine klare theologische Korrektur aufgeboten; in seiner Rede vor Kaiser und Reich erklärte er: »Neque enim me sanctum aliquem facio, neque de vita mea, sed de doctrina Christi disputo« (Ich mache mich weder zum Heiligen, noch disputiere ich über mein Leben, sondern über die Lehre Christi) (WA 7; 834,6 f). Und gegenüber Angriffen auf seine Person hatte er bereits im Mai 1520 erklärt: »Schelte, lestere, richte mein person und mein leben nur frisch wer do wil, es ist yhm schon vorgeben. […] Es ligt nichts an myr, aber Christus wort wil ich mit frolichem hertzen und frischem mut vorantworten, niemants angesehen« (WA 6; 323,15–20). Bemerkenswert war, dass die Lutheranhänger früh mit seinem Namen bezeichnet wurden, und zwar als »Martinianer« oder auch als »Luterani« (so wohl zuerst 1519 von Franziskanern in Jüterbog). Luther selbst griff diese Bezeichnung, die er als üble Nachrede der Gegner identifizierte (WA 30,3; 278,15), auf und wollte sie im Sinne eines festen Christusglaubens in Anfechtungen verstanden wissen: »Man mag mich Lutherisch heissen, Aber man thut mir fast schier unrecht, odder bin jhe ein geringer, schwacher Lutherischer, Gott stercke mich. […] wenns an ein treffen gehet, das ich mit dem teuffel, sünden, tod, not und wellt mich sol beissen, das sonst kein hülffe, rat und trost da ist on der einige Eckstein, Da finde ich wol, was ich kan, und was es fur kunst ist, an Christum zu gleuben« (WA 31,1; 174,29–175,1). Schon in der Schrift Eine treue Vermahnung sich zu hüten vor Aufruhr und Empörung hatte er, auch angesichts zu erwartender Gewalt, 1522 klargestellt, dass man sich seines Namens als einer parteiischen Bezeichnung nicht bedienen dürfe: »Tzum ersten bitt ich, man wolt meynes namens geschweygen und sich nit lutherisch, sondern Christen heyssen. Was ist Luther? ist doch die lere nitt meyn. Szo byn ich auch fur niemant gecreutzigt« (WA 8; 685,4–7). Doch galt es ihm auch später als sicher und unausweichlich, dass die Welt – er lebe oder sei tot – »unser nicht los werden« (WA 15; 78,15) solle. Luther hat sein Doktorat als Autorisation zur Vertretung der christlichen Wahrheit verstanden und wahrgenommen. In dem erwähnten Brief vom 31. Oktober 1517 unterzeichnete er als »Doctor S Theologie vocatus« (berufener Doktor der heiligen Theologie) (WAB 1; 112,70 f). Die Berufung auf seinen Doktoreid setzte Luther nach eigener Überzeugung »uber alle Bischove, Pfaffen und Münche« (WA 30,3; 279,23). »Ich aber doctor Martinus bin dazu beruffen und gezwungen das ich muste Doctor werden, on meinen danck [gegen meinen Willen], aus lauter gehorsam, Da hab ich das Doctor ampt mussen annemen und meiner aller liebsten heiligen schrifft schweren und geloben, sie trewlich und lauter zu predigen und leren« (WA 30,3; 386,14–17). Von großer Bedeutung war für ihn, dass er nicht als »Schleicher« (WA 30,3; 522,5), sondern rite vocatus sein Amt als Prediger und Ausleger der heiligen Schrift versehe. Im Sendbrief vom Dolmet-
II. Aneignungen – 3. Geschichtsbild und Selbstverständnis
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schen (1530) hat er in der Verteidigung seiner Übersetzung von Röm 3,28 polemisch-zugespitzt von Amt und Autorität seines Doktorats Gebrauch gemacht: »Wann ewr Papist [Hieronymus Emser] sich vil unnütze machen wil mit dem wort ›Sola Allein‹ so sagt jm flugs also: Doctor Martinus Luther wils also haben, unnd spricht, Papist und Esel sey ein ding. […] Sie sind doctores? Ich auch. […] Denn also viel: Luther wils so haben, und spricht, Er sey ein Doctor uber alle Doctor jm gantzen Bapstum, da sols bey bleiben« (WA 30,2; 635,8–636,2). Und um zu bekräftigen, dass man von dem Artikel der Rechtfertigung nicht weichen könne und werde, führte er sich emphatisch mit dem Titel »Doctor Martinus Luther, unsers Herrn Jhesu Christi unwirdiger Euangelist« (WA 30,3; 366,8 f.26) ein. In der 1521 entstandenen, 1522 veröffentlichten Schrift Wider den falsch genannten geistlichen Stand des Papstes und der Bischöfe stellte er sich selbst als »von Gotis gnaden Ecclesiastes tzu Wittenberg« vor und steigerte seinen »Beruf « mit dem Titel eines »Euangelisten«: »Und ob ich mich einen Euangelisten von gotis gnaden nennet, […] byn des gewiß, das mich Christus selbs also nennet und dafür hellt, der meyner lere meyster ist und auch tzeuge seyn wirt am iungsten tage, das sie nicht mein, ßondern sein lauter Euangelion ist« (WA 10,2; 105,19–106,4). Diese Selbstbezeichnung ist nach 1521 die häufigste; Luther bedient sich ihrer ebenso in der Korrespondenz mit altgläubigen Gegnern wie in der Auseinandersetzung mit den Bauern. Trotz seiner Überzeugung, in »diesen letzten Zeiten« und nicht fern vom Jüngsten Tag zu leben, hat Luther eine gesteigerte Naherwartung nicht vertreten. Insbesondere wandte er sich gegen Versuche, den Jüngsten Tag zu errechnen, wie sie etwa Michael Stifel betrieb – dieser hatte den Termin der Wiederkunft Christi auf den 19. Oktober 1533, acht Uhr morgens berechnet. Im Unterschied und Gegensatz zu Thomas Müntzer hat Luther für sich keine Sonderoffenbarungen in Anspruch genommen oder seine eigene Leidensnachfolge als besondere religiöse Auszeichnung verstanden. Auch eine Berufung durch eine Vision (»ein gesicht gottis«: WA 20; 222,35) habe er nicht erfahren, vielmehr sei er durch andere Menschen zum Predigtamt genötigt worden. Als einen Propheten hat sich Luther ebenfalls nicht ausdrücklich bezeichnet. Zwar kommt der Begriff im Kontext einer Reihe alttestamentlicher Gestalten gelegentlich vor (WA 7; 311,15–313,29); auch in der Schrift An die Ratherren […] legen Luthers Worte einen solchen Vergleich nahe (WA 15; 27 f). Die Selbstthematisierung in der Warnung an seine lieben Deutschen: »Aber weil jch der Deudschen Prophet bin (Denn solchen hoffertigen namen mus jch mir hinfurt selbs zu messen, meinen Papisten und Eseln zur lust und gefallen)« (WA 30,3; 290,28 f), um sich vielmehr als »trewen Lerer« (aaO 290,30) und Warner darzustellen, zeigt indes eine Distanzierung, die ihm eine Aneignung des Prophetentitels verbietet. Gleichwohl hat er als Prophet Karriere gemacht; in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts und im 17. Jahrhundert wurden unter seinem Namen Prophezeihungen, Auszüge aus Tischreden und anderen Schriften, in zahlreichen Ausgaben verbreitet.
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B. Person
In einem freilich war er sich gewiss: dass das Wort Gottes bei ihm und nicht bei seinen Gegnern sei. »Nu mag ich unnd eyn iglicher, der Christus wort redet, frey sich rhumen, das seyn mund Christus mund sey. Ich bynn yhe gewisz, das meyn wort nitt meyn, sondernn Christus wort sey, szo mus meyn mund auch des seyn, des wort er redet« (WA 8; 683,13–17). Dem Kurfürsten Friedrich dem Weisen schrieb er in einem – auch sonst mit Recht berühmten – Brief am 5. März 1522: »E. K. F. G. weiß, oder weiß sie es nicht, so laß sie es ihr hiemit kund sein, daß ich das Euangelium nicht von Menschen, sondern allein vom Himmel durch unsern Herrn Jesum Christum habe, daß ich mich wohl hätte mügen (wie ich denn hinfort tun will) einen Knecht und Euangelisten rühmen und schreiben« (WAB 2; 455,39–43). Und schließlich erklärte Luther an prominenter Stelle, nämlich in seinem Testament von 1542: »Denn so mir verdampten, armen, vnwirdigen elenden sünder Gott, der Vater aller Barmhertzickeit, das Eüangelion seines lieben Sons vertrawet, dazu mich aüch trew vnd warhafftig drinnen gemacht, bis her behalten vnd fünden hat, Also das aüch viel ynn der welt dasselb dürch mich angenomen, Vnd mich für einen lerer der Warheit halten, vngeacht des Bapsts bann, keisers, konige, fürsten, pfaffen, ia aller teüfel Zorn« (WAB 9; 573,62–574,68). Mit diesem Evangelium, das doch seines nicht war, rühmte sich Luther, mehr bewirkt zu haben als fünf Konzilien. Nicht ohne merklichen Stolz behauptete er 1534, er habe als »Bettler (jch mus mich ein wenig rhümen, doch heimlich, das sie es ja nicht erfaren) sie zimlich gereformirt, Ich hab, Gott lob, mehr reformirt mit meinem Euangelio, denn sie villeicht mit funff Concilijs hetten gethan« (WA 38; 271,1–4). Schon 1531 erklärte Luther: »Ich hab lang gnug gelebt, den tod wol verdienet und meinen Herrn Christum am Bapstum redlich angefangen zu rechen. Nach meinem tod sollen sie aller erst den Luther recht fülen« (WA 30,3; 279,17–19). Im gleichen Sinne ist Luthers Vers zu verstehen: »Pestis eram vivens, moriens ero mors tua, papa« (WA 30,2; 339 Anm. 3), der in der Tat über Luthers Tod hinaus lebendig blieb, in den konfessionellen Auseinandersetzungen gegen die »Papisten« gewendet und zahlreichen Bilddarstellungen Luthers beigegeben wurde. Luther erfuhr Zeit und Geschichte im Angesicht Gottes und als Ausleger der heiligen Schrift. Seine Erfahrungen sind geprägt durch das lebendige Wort Gottes und sein wunderbares Heilshandeln, aus dem Luther die Gewissheit schöpfte, der Jüngste Tag sei nicht mehr fern. Unter dieser Voraussetzung ist auch sein letzter Zettel ein sprechendes Zeugnis: »Vergilium in Bucolicis et Georgicis nemo potest intelligere, nisi quinque annis primum fuerit pastor aut agricola. Ciceronem in epistolis nemo secundo intelligit, nisi viginti annis sit versatus in republica aliqua insigni. Scripturas sacras sciat se nemo gustasse satis, nisi centum annis cum prophetis ecclesias gubernaverit. Quare ingens est miraculum primum Iohannis Baptistae, secundum Christi, tertium apostolorum. Hanc tu ne divinam Aeneida tenta, sed vestigia pronus adora. Wir sein pettler. Hoc est verum« (Vergil in seinen Bucolica und Georgica kann niemand verstehen, er sei denn fünf Jahre lang Hirte oder Bauer gewesen. Cicero
III. Beziehungen – 1. Luther und das Papsttum
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in seinen Briefen versteht niemand, wenn er sich nicht zwanzig Jahre lang in einem bedeutenden Gemeinwesen bewegt hat. Die heiligen Schriften meine niemand hinreichend geschmeckt zu haben, wenn er nicht hundert Jahre lang mit den Propheten die Kirchen geleitet hat. Deshalb ist ein ungeheures Wunder 1. dasjenige Johannes des Täufers, 2. dasjenige Christi, 3. das der Apostel. Versuche du diese göttliche Aeneis nicht, sondern bete vielmehr ihre Spuren an. Wir sind Bettler. Das ist wahr) (WAT 5; 317,2–318,4. Vgl. WA 48; 241. WAB 12; 363 f). Beutel, Albrecht: »Wir Lutherischen«. Zur Ausbildung eines konfessionellen Identitätsbewusst seins bei Martin Luther (ZThK 110, 2013, 158–186). Campenhausen, Hans von: Reformatorisches Selbstbewußtsein und reformatorisches Geschichtsbewußtsein bei Luther 1517–1522 (in: Ders.: Tradition und Leben. Kräfte der Kirchengeschichte. Aufsätze und Vorträge, 1960, 318–342). Holl, Karl: Luthers Urteile über sich selbst (in: Ders.: Gesammelte Aufsätze zur Kirchengeschichte, Bd. 1: Luther, 1921, 71948, 381–419). Oberman, Heiko A.: Martin Luther – Vorläufer der Reformation (in: Verifikationen. Festschrift für Gerhard Ebeling zum 70. Geburtstag, hg. v. Eberhard Jüngel u. a., 1982, 91–119). Schilling, Johannes: Die Wiederentdeckung des Evangeliums. Wie die Wittenberger Reformatoren ihre Geschichte rekonstruierten (in: Grenzmann, Ludger u. a. [Hg.]: Die Präsenz der Antike im Übergang vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit [AAWG.PH III, 263], 2004, 125– 142). Johannes Schilling
III. Beziehungen 1. Luther und das Papsttum Zu einer Figur der Weltgeschichte ist Luther durch seinen Konflikt mit dem Papsttum geworden. Mochte auch seine Neuentdeckung des »Evangeliums« – die Erkenntnis, dass das christliche Heil allein auf Christus, auf der gnädigen Zuwendung Gottes zu den Menschen und dem Glauben an ihn, beruht – eine tiefe Veränderung der christlichen Theologie und Frömmigkeit, ja deren Neuausrichtung zur Folge haben, so kam doch der geschichtliche Umbruch der Reformation erst dadurch zustande, dass sich das Papsttum dieser Entdeckung und Erkenntnis verschloss und widersetzte. Es war die Papstfrage, die die große, bis heute nicht behobene kirchliche Scheidung herbeigeführt hat – der päpstliche Anspruch auf die verbindliche Lehrentscheidung über die Glaubenswahrheit und Luthers kategorische Weigerung, diesen Anspruch, da es um das Heil selbst ging, anzuerkennen. Allerdings war diese Konfliktlage nicht von vornherein vorhanden. Sie entstand im Verlauf eines Klärungsprozesses auf beiden Seiten, der indessen, obwohl es ums Ganze ging, doch nur kurze Zeit benötigte und den Historiker, der ihn nachzuvollziehen sucht, durch seine Geradlinigkeit und Stringenz zu faszinieren vermag.
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B. Person
1.1. Der Streit um den Ablass
Alle Äußerungen Luthers aus älterer Zeit, die überliefert sind, stimmen darin überein, dass ihn die Papstfrage wenig beschäftigt hat. Ein Papalist war er nicht, aber ebenso wenig ein Rebell. Dass ihm die mittelalterlichen Kontroversen um das Papsttum genauer bekannt gewesen wären und ihn genauer interessiert hätten, lässt sich nicht erweisen. Durch seine Reise nach Rom 1511/12 scheint er hinsichtlich des Papsttums kaum beirrt worden zu sein. Der Name des seit 1513 regierenden Papstes Leo X. begegnet bei Luther vor 1518 nicht. Wo der Wittenberger Professor in der Zeit der Paulus-Exegese gelegentlich das Papsttum kritisch erwähnt (z. B. WA 56; 480,10–16), ist es Bernhard von Clairvaux, auf den er sich bezieht, so wie er generell viel eher mit geistlichen Schäden haderte als mit rechtlichen, moralischen oder politischen Missständen. Später hat er es bedauert, dem Papsttum damals »viel und fast alles« zugestanden zu haben (WA 38; 134,11). Erst der Streit um den Ablass, der am Jahresende 1517 einsetzte, riss auf einmal neue Horizonte auf. Das galt für Luther selbst, von dem man, wenn man den so reichlich vorhandenen Quellen folgt, sagen möchte, er habe dieses spezielle Thema ziemlich unvorbereitet aufgegriffen, und der doch – wie insbesondere sein spektakulärer Namenswechsel im Zusammenhang seiner 95 Thesen (WA 1; 233– 238) am 31. Oktober 1517 zeigt (vgl. Moeller/Stackmann 1981) – diesen Angriff offenbar mit innerster Beteiligung geführt hat: Dass er die in seinem herkömmlichen Namen »Luder«, wie er meinte, etymologisch verborgene Bedeutung »der Freie« aufdeckte und sich fortan »Luther« sowie zeitweise »Eleutherius« nannte, enthielt ja die emphatische Selbstaussage, dass er sich als von Gott und Christus freigesprochen und in dieser Sache beauftragt sah. Aber auch in der deutschen Öffentlichkeit wurde Luthers Auseinandersetzung mit dem Ablass sogleich als ein spektakuläres Ereignis wahrgenommen; insbesondere rief sie binnen kurzer Zeit eine ganze Reihe von Verteidigern des Ablasses, nicht zuletzt aus dem Kreise seiner Nutznießer, auf den Plan – Luther sah sich rasch in einen dramatischen literarischen Streit verwickelt, und ein Ketzerprozess begann gegen ihn an der päpstlichen Kurie. Mit Luthers Thesen den Beginn der Reformation zu datieren, ist plausibel. Der Ablass, dessen Praxis und Theorie im Laufe von Jahrhunderten aufgebaut worden waren, hatte in den letzten Jahrzehnten und Jahren vor Luthers Auftreten eine erhebliche Vermehrung, Erweiterung und Steigerung erfahren – er war geradezu »allgegenwärtig« geworden (Boockmann 1983, 709) und stellte sich als ein beinahe perfektes Instrument der religiösen Daseinssicherung dar. Denn jedenfalls wenn jemand es vermochte, den der päpstlichen Verfügungsgewalt vorbehaltenen »Plenar-Ablass« zu erwerben – und dazu bot sich ihm in den Jahrzehnten vor und nach 1500 bei zahlreichen »Ablasskampagnen«, die immer neu und überall im Land stattfanden, gute Gelegenheit –, dann konnte er sich, Beichte und Absolution vorausgesetzt, wenigstens für den gegenwärtigen Moment des Lebens aller Sündenstrafen entledigen und für die noch ausstehende Lebenszeit
III. Beziehungen – 1. Luther und das Papsttum
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zumindest gewisse Sicherheiten für sein ewiges Heil erlangen. Auch war – entscheidend seit der Bulle Salvator noster des Papstes Sixtus IV. von 1476 – die Vorstellung legitimiert, die Ablass macht des Papstes reiche über das irdische Leben hinaus bis ins Fegefeuer, durch sie könne also auch das Heil Verstorbener vermittelt werden, möglicherweise sogar »jurisdiktionell«, also durch rechtliche Verfügung, auf alle Fälle aber »fürbittweise« (per modum suffragii). Dabei führte man, wie schon seit Jahrhunderten, die päpstliche Vollmacht darauf zurück, dass man in Rom über einen »Schatz der Kirche« (thesaurus ecclesiae) zu verfügen habe, der sich aus den »überschüssigen« (d. h. nicht von ihnen selbst benötigten) Verdiensten Christi und der Heiligen speise. In Luthers Angriff auf dieses Lehrgebäude und dessen praktische Auswertung kam zum Ausdruck, dass ihm der so verstandene Ablass schlechterdings unvereinbar erschien mit den bewegenden Erkenntnissen über das christliche Heil, zu denen er neuerdings gefunden hatte. Ausdrucksvoll setzte er in den 95 Thesen das »Wort Gottes«, das »Evangelium«, dem Ablass entgegen, und er hob stark hervor, dass für den Menschen, den Sünder, vor Gott keine Rechtsansprüche und religiösen Rechenwerke geltend zu machen, sondern nur wahre Reue und aus der Liebe erwachsende Werke, also ganzheitliche Verhaltensweisen demütiger Büßer, angemessen seien. Die Ablassgewalt des Papstes kam dabei allerdings nur sekundär und nicht sehr präzise zur Sprache. Es konnte scheinen, als sei sie für Luther nur ein Nebenthema. Gegenüber dem Gesamteindruck, dass der Ablass als solcher ein höchst dubioses Institut sei, ließen sich Luthers Aussagen über die päpstliche Vollmacht und deren Grenzen – die Zweifel an der Theorie vom Kirchenschatz und an der Verfügungsgewalt über das Fegefeuer, vorsichtig, ja unsicher formuliert, wie sie waren – eher als bloße Diskussionsmaterie verstehen. Nichtsdestoweniger traten in dem rasch einsetzenden öffentlichen Streit um die Thesen diese letzterwähnten Aussagen sofort in den Vordergrund. Alle Diskutanten, die sich in den folgenden Monaten kritisch gegen Luther äußerten – die Theologen von Mainz und Frankfurt an der Oder (Tetzel-Wimpina), Johann Eck in Ingolstadt, Prierias in Rom –, fochten zwar immer auch um die Ablassfrage, rückten diese aber jeweils unter den Gesichtspunkt der Jurisdiktion. Schon bei der Frankfurter Disputation vom 20.1.1518 (k C. I. 9.) wurden neben anderem zumal die versteckten Andeutungen des Wittenberger Professors zur Papstgewalt im Fegefeuer als error, also Ketzerei, verdächtigt (These 33: Fabisch/Iserloh 1988–1991, Bd. 1, 327) und die Gewichte damit gegenüber Luthers Intentionen deutlich verschoben – ein Wunsch, den Störer kurzerhand mundtot zu machen, war erkennbar. Übrigens waren diese beinahe hektischen Reaktionen auffällig; frühere Kontroversen um den Ablass waren keineswegs sogleich in diese Richtung abgeglitten. Der ganze Themenbereich erwies sich nunmehr als höchst empfindlich, es schien, dass mit der Steigerung des Ablasswesens zugleich die Unsicherheiten, unter denen das Papsttum der Zeit litt, zutage getreten waren. Und in der Tat fehlte es ja einstweilen sowohl in der Ablass- als auch in der Papstfrage an dogmatischen Lehrentscheidungen, was angesichts einer so grundsätzlichen In-
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fragestellung, wie sie sich bei Luther abzeichnete, für die Vertreter des Herkommens einen schwerwiegenden Nachteil bedeutete. Der Wittenberger Theologe selbst wurde durch diesen Verlauf der Debatte eher bestärkt als verunsichert. Die Bestreitungen veranlassten ihn in seinen öffentlichen Äußerungen der folgenden Monate dazu, auch in der Papstfrage seine Positionen zu stabilisieren und zu verschärfen. Vor allem behauptete er zunehmend deutlicher die Begrenzung des päpstlichen Machtbereichs auf das irdische Leben. Nach Analogie der weltlichen Herrscher sollte dem Papst dort zwar gemäß Röm 13 Gehorsam geschuldet sein (WA 1; 618,24), doch konnten ihm – wie Luther unter Berufung auf den Kanonisten des 15. Jahrhunderts Nikolaus von Tudeschi (Panormitanus) feststellte – auch Irrtümer unterlaufen (WA 1; 656,32 f): »Homo est summus pontifex, falli potest […]. Sed veritas est Deus, qui falli non potest« (Ein Mensch ist der Papst, er kann sich irren […]. Die Wahrheit aber ist Gott, der sich nicht irren kann) (WA 1; 306,13–15). Vor der Konsequenz, solche Irrtümer des Papstes konkret zu benennen, hielt sich Luther zwar vorerst noch zurück, ja er erklärte, dergleichen sei noch niemals vorgefallen (WA 1; 662,31–38), und beteuerte in seiner Widmung des Kommentars zu den Thesen an Papst Leo X. seine Bereitschaft, sich diesem zu unterwerfen »mit allem, was ich bin und habe« (WA 1; 529,23 f). Doch war deutlich, dass es für ihn einen theologischen Spielraum zu solcher Unterwerfung in Wahrheit kaum noch gab; die Möglichkeit eines Widerrufs jedenfalls wies er an derselben Stelle kategorisch ab (aaO 529,3). 1.2. Das Augsburger Verhör 1518
Es war das Verhör durch den päpstlichen Nuntius Kardinal Cajetan in Augsburg (12.–15.10.1518), bei dem Luther dazu veranlasst worden ist, diese Zwischenposition zu verlassen und den Schritt über die Grenze zu tun, der nur noch klein war. In den letzten Jahrzehnten haben sich Kirchenhistoriker beider Konfessionen (Selge, Wicks, Lohse, Felmberg) in gemeinschaftlichem Bemühen mit der Frage befasst, wie es zu dieser schwerwiegenden Entscheidung gekommen ist. Der äußere und innere Ablauf des Verhörs kann heute als geklärt gelten. Bei diesem Gespräch handelte es sich nicht wie bei den Aktionen bis zu diesem Zeitpunkt um einen unverbindlichen Disput, sondern um eine prozessuale Sta tion innerhalb des gegen den Wittenberger Theologen anhängigen Ketzerver fahrens; eigentlich hätte es in Rom stattfinden sollen. Mit dem Verhörsort Augsburg kam die Kurie Luther – oder vielmehr dessen Landesherrn, dem Kurfürsten, der ihn schützte – entgegen. Obgleich dem Augustiner damit von vornherein die Rolle des auf Tod und Leben Angeklagten zugewiesen war, wurde die Verhandlung doch zu einem durchaus denkwürdigen Ereignis, und zwar deshalb, weil ihm in der Person des Kardinals der vielleicht bedeutendste scholastische Theologe gegenübertrat, den es damals überhaupt gab, dieser aber sich mit dem theologischen Problem des Ablasses schon seit längerem und insbesondere in letzter Zeit, in der Vorbereitung auf das Verhör, sorgsam befasst hatte. So kam es bei
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dieser Begegnung zwischen der päpstlichen Kurie und dem nun zum Kirchen rebellen Gewordenen, den ungünstigen Voraussetzungen zum Trotz, erstaunlicherweise in gewissen Grenzen wirklich zu einem Gespräch und dem vielleicht wichtigsten Versuch im 16. Jahrhundert, »den Streit zwischen Luther und Rom auf die eigentlichen Probleme zu beschränken und womöglich zu überwinden« (Lohse 1988 b, 48). Allerdings war Cajetan ein Verfechter des Ablasses, und er war Papalist. Seine Strategie war darauf gerichtet, eine inhaltliche Diskussion über den Ablass als solchen nach Möglichkeit zu vermeiden und stattdessen die Frage der päpst lichen Vollmacht in den Vordergrund zu rücken, mit dem offenkundigen Ziel, klare Fronten zu schaffen und eine Verurteilung des Augustiners – oder vielmehr dessen Widerruf – zur zwingenden Konsequenz werden zu lassen; er strebte den Nachweis der »Verurteilbarkeit« Luthers an (Felmberg 1998, 221). Damit blieb er letzten Endes auf der Linie der bisherigen Bestreiter. Gegen Luthers Interesse stand das Gespräch also eher unter juridischem als theologischem Vorzeichen. Jedoch wurde die Position des Kardinals dadurch geschwächt, dass sich im Verlauf der Verhandlung herausstellte, dass seine juristische Argumentation Unsicherheiten enthielt. Als er sich nämlich genötigt sah, »auf seinen Papalismus zurückzugreifen« (Grane 1975, 185), vermochte er, um die Verfügungsgewalt des Papstes über den Kirchenschatz zu beweisen, nicht mehr als eine päpstliche Bulle (Unigenitus von 1343) anzuführen, die er auch noch, wie Luther ihm nachweisen konnte, fehlerhaft zitierte. So gelangte der Letztere in die vorteilhafte Lage, seine Argumentationsbasis, das biblische Zeugnis, eindrucksvoll zur Geltung bringen zu können, indem er es jenem schwachen Dokument des Kirchenrechts entgegenstellte – eine Konfrontation, die Luther in der Folge wiederholt als den Moment beschrieben hat, in dem ihm hinsichtlich des Papstamtes die Augen geöffnet worden seien. Es drängte sich ihm die in der Kirchengeschichte des Mittelalters kaum auch nur als Möglichkeit denkbar gewesene Vermutung auf, die Kirche unter dem Papst und die Bibel stünden in Gegensatz zueinander. Cajetan hat Luther in Augsburg nicht, wie es ihm die Kurie eigentlich aufgetragen hatte, zum Häretiker erklärt und verhaftet. Auch hat er nachträglich die Unsicherheit seiner eigenen Position indirekt eingestanden, indem er in Rom veranlasste, dass sofort (bereits am 9.11.1518) eine von ihm formulierte Bulle Papst Leos X. (Cum postquam: Fabisch/Iserloh 1988–1991, Bd. 2, 191–202) herausgegeben wurde, die die bisher vermisste dogmatische Absicherung der Ablass lehre nun bot. Gleichwohl gestand er dem Augustiner das Recht, an der päpstlichen Ablass vollmacht zu zweifeln oder sie etwa gar zu leugnen, nicht zu, sondern entließ ihn in Augsburg mit der wiederholten Forderung des Widerrufs. »Ibi ego primum disputare coepi contra papam« (da habe ich gegen den Papst zu streiten angefangen), so hat der Reformator in späterer Zeit (WAT 5; 80,5) den tiefen Einschnitt in seinem Leben, den das Augsburger Verhör von 1518 bedeutete, markiert. Dass das Papsttum sich anmaßte, über dem Wort Gottes zu stehen,
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und die Autorität der Kirche einen Vorrang vor der Autorität der heiligen Schrift haben sollte, hat Luther zutiefst beunruhigt. In der Appellation vom Papst an ein künftiges Konzil, die er nach der Rückkehr nach Wittenberg am 28.11.1518 feierlich vollzog, führte er das Psalmwort Omnis homo mendax (Alle Menschen sind Lügner: Ps 116,11) ausdrücklich gegen den Papst ins Feld (WA 2; 37,12). Ja, einige Wochen später deutete er in einem privaten Brief an seinen vertrauten Freund Wenzeslaus Linck, der in Augsburg dabei gewesen war, die Möglichkeit an, dieses Urteil über die Einfügung des Papstes in die sündige Menschheit hinaus noch zu steigern – bis zu dem abgründigen Argwohn, ob nicht etwa der von Paulus (2Thess 2,4) geweissagte Antichrist in der römischen Kurie die Herrschaft ergriffen haben könnte (WAB 1; 121,12 f). 1.3. Die Leipziger Disputation 1519
Im folgenden Jahr verdichtete sich für Luther dieser Argwohn. Das geschah im Zusammenhang der Leipziger Disputation, der zentralen Auseinandersetzung der Wittenberger Theologen mit ihrem wichtigsten scholastischen Gegner in Deutschland, Johann Eck (k B. III. 3.). Auch diese Veranstaltung lief mit einer gewissen Notwendigkeit auf die weitere Erörterung der Autoritäten frage zu. Im Zuge der aufwendigen Vorbereitung hat Luther sich auf das Studium der Papstgeschichte konzentriert und dabei vor allem die Frage nach den Rechtsansprüchen des Papsttums untersucht. In keiner Zeit seines Lebens hat ihn die Kirchengeschichte so stark beschäftigt. Schon im Vorfeld der Disputation klärten sich ihm zwei elementare Fragen. Einerseits bestritt er die Berufung der Päpste auf das Schlüsselwort des Evangeliums Mt 16, 16–19, und damit deren Anspruch, ihr Primat sei göttlichen Rechts. Nicht auf die Person des Petrus, so entnahm Luther dem Text, sondern auf dessen Glaubensbekenntnis wollte Christus seine Gemeinde erbauen. So ist diese als Gemeinschaft der Glaubenden die Inhaberin der Schlüsselgewalt – vom Papst ist im Evangelium nicht die Rede. Dieser hat sich seine Vorherrschaft vielmehr erschlichen, und zwar – das war die zweite neue Erkenntnis Luthers – erst in neuerer Zeit. Erst in den letzten 400 Jahren, so lautete die zunächst in einem Plakatdruck publizierte, abschließende These gegen Eck, hätten die Päpste sich in ihren Dekretalen den absoluten Vorrang angemaßt; Bibel und alte Kirche hätten nichts davon gewusst (WA 2; 161,35–39). Nach dieser Vorgeschichte war abzusehen, dass die Disputation selbst auf beiden Seiten zu einer weiteren Eskalation in der Frage der Papstautorität führen musste. Eck provozierte seinen Gegner, indem er hierzu die extremste päpstliche Äußerung der Vergangenheit zitierte, die Bulle Unam sanctam von 1302, in der die Unterordnung unter den römischen Pontifex als heilsnotwendig bezeichnet worden war. Luther replizierte mit der zustimmenden Wiedergabe eines unter dem Namen des Johann Hus überlieferten Widerspruchs hiergegen (WA 59; 461,888–891. 466,1055–1059) und erklärte, unter den Artikeln dieses Ketzers seien viele sehr christlich und evangelisch (plane christianissimos et evangelicos),
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die die universale Kirche (gemeint: anders als die römische) niemals verdammt hätte (aaO 466,1048–1050). Hierauf drängte Eck weiter: Dieser Meinung zufolge sei Hus also vom Konzil von Konstanz zu Unrecht verurteilt worden (aaO 472, 1235–1242). Das räumte Luther schließlich ein: »concilium aliquando errasse et posse errare, praesertim in his quae non sunt fidei« (manchmal hat ein Konzil geirrt und kann irren, zumal in Fragen, die nicht den Glauben betreffen) (aaO 500,2081–2083) – eine Aussage, die Eck mit dem triumphierenden Ausruf, nun sei der Gegner ihm zu einem ›Heiden und Zöllner‹ (Mt 18,17) geworden, quittierte. Tatsächlich überstieg Luthers Äußerung, indem sie nicht bloß, wie der Panormitanus, die Möglichkeit, sondern das Faktum eines Irrtums der kirchlichen Autoritäten öffentlich behauptete, alles bisher Gesagte. Nicht zuletzt war sie eine Etappe in seiner eigenen Erkenntnisbildung – sein Ingolstädter Kollege hatte sie ihm regelrecht entwunden und abgepresst. Gleichwohl hat der Reformator diese Aussage in der Folge nicht mehr zurückgenommen. Durch die Konfrontation mit Eck wurde es ihm zur Gewissheit, dass mit dem Konzil auch der Papst irrtumsfähig sei; Eck wurde für ihn zum »Katalysator« dieser Erkenntnis (Hendrix 1981, 78). Je mehr jedoch gerade sie von seinen Gegnern bestritten, je heftiger die Unfehlbarkeit des Papstes verfochten wurde, desto deutlicher wurde für den Reformator die epochale Bedeutung dieses Konflikts: Dass da an der Spitze der Christenheit ein Mensch sich göttliche Legitimation und Fähigkeit zuschrieb, das göttliche Wort selbst dabei aber missachtete – musste das nicht der Auftritt des Antichrist sein? Im Spätjahr 1519 erhärtete sich dem Wittenberger Professor diese Vermutung bei der Exegese von Ps 10 (9 b) in den Operationes in psalmos, sie gewann nun aus der Bibel selbst neue Festigkeit (vgl. Hammer 1991, 433–439). Einige Monate später hat er sie erstmals in einer Druckschrift in indirekter Form veröffentlicht: Sollte es so sein, dass der Papst sich die unfehlbare Auslegung der Schrift anmaßt und die menschliche Ordnung seines Amtes zum Glaubensartikel erklärt, »szo wolt ich frey sagen, das er der rechte Endchrist were, davon alle schrifft saget« (WA 6; 322,18 f). 1.4. Der Bann
Im folgenden Jahr legte Luther sodann in der bedeutenden Reformationsschrift An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung fundamental und detailliert dar, dass und wie die Verderbnis der Kirche auf das verdorbene Papsttum zurückging. Es ist wichtig festzuhalten, dass diese Kulmination von Luthers Widerspruch gegen den Papst, die über die Antichristspekulationen des Spätmittealters deutlich hinausging und als theologisches Urteil nicht mehr überboten werden konnte, bei ihm gedanklich vorbereitet war und im Grunde feststand, bevor die Kurie ihr Verwerfungsurteil bekanntmachte und vollzog und damit ihrerseits den Fall auf die Spitze trieb. Dies geschah mit der Bannandrohungsbulle Exsurge Domine (datiert 15.6.1520; Fabisch/Iserloh 1988–1991, 364–411) und der aus ihr folgenden Bannbulle Decet Romanum
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Pontificem (datiert 3.1.1521; aaO 457–467). Luther hat dieses Urteil, das sein Verhältnis zum Papsttum für alle Zukunft klärte, so betroffen er es entgegennahm, doch zugleich als eine Befreiung empfunden. Nun hatte sich erwiesen, dass seine Ahnungen zutrafen, und es war klar, dass es in der Papstfrage um das christliche Heil selbst ging. Die Erkenntnis, dass mit dem Papst der Antichrist, in Rom die Macht innehatte, verhalf Luther dazu, die römische Entscheidung, die auf die Vernichtung seiner Existenz abzielte, zu bestehen. Gewissermaßen hatte sich der Papst als Urheber dieser Entscheidung und Verfasser der Bulle, indem er die aus der Bibel hergeleitete Wahrheit verdammte, selbst als der, »der wider Christum handelt«, demaskiert (WA 7; 242,17). Der Vorgang gewann damit, wie schon der Wechsel der Bezeichnungen erkennen ließ, für Luther endzeitliche Dimension. In der berühmten Szene des 10. Dezember 1520, in der er am Elstertor zu Wittenberg päpstliche Rechtsbücher sowie die Bulle öffentlich verbrannte, vollzog der Reformator seinerseits einen Akt der Verwerfung und abschließenden Scheidung. Wie zuvor seine Bücher mancherorts durch Verbrennung symbolisch aus der Welt geschafft worden waren, so schaffte er nun »mit frolichem mut«, wie er erklärte (WA 7; 433,10 f), die Bücher des Papsttums aus der Welt. Auch der früher von ihm für möglich gehaltene Gehorsam gegenüber dem Papst nach menschlichem Recht hatte nun seine Grundlage verloren. In der Folge unterschied Luther bei kollektiven Aussagen »wir« und »sie, der papisten kirche« und »Die Christliche kirche« (WA 10,2; 228,11 f), ja er disqualifizierte jene als »des Bapsts secten« (WA 7; 644,6). »Ego plane metuo miser valde, ne in Papam et Pontifices, diaboli collusores et socios, nimio fuerim et parcus et modestus, nec ipse satis perpenderim milia illa animarum, quas perdit sine fine Antichristus iste« (Ich Elender fürchte sehr, ich bin mit dem Papst und den Bischöfen – seinen Genossen, diesen Spießgesellen des Teufels – viel zu schonend und sanft umgegangen und habe an die vielen tausend Seelen, die dieser Antichrist fortwährend zugrunde richtet, viel zu wenig gedacht) (WA 8; 50,6–8). 1.5. Die späteren Jahre
Luther hat bei späterer Gelegenheit von seinem Kampf gegen den Papst als seinem Lebenswerk gesprochen (z. B. WAT 3; 390). Dabei zielte er auf die Institution, nicht die Personen. In dem Vierteljahrhundert bis zu seinem Tod hat er seine 1520 gewonnenen Überzeugungen nur noch unwesentlich verändert, sie jedoch bis in seine letzten Lebensäußerungen hinein in immer neuen Varianten und nie nachlassender, ja sich zuletzt noch steigernder Schärfe wiederholt. Alle ihm zu Gebote stehenden literarischen Mittel setzte er in diesem Kampf ein, dem er zu jeder Zeit absolute, eschatologische Dimensionen zuschrieb. Dass dieser Kampf seinen Grund und Sinn in der Theologie hatte, blieb dabei niemals unerkennbar. Immer wieder kam Luther auf das Thema Ablass zurück, bei dem er »die ergist vergifft unnd schedlichst verfürung« wahrnahm, »die auß
III. Beziehungen – 1. Luther und das Papsttum
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dem hewbt verfürer Bapst unnd seynen larven kompt« (WA 10,2; 137,35–138,1), immer wieder legte er anhand von Mt 16 dar, dass der Papst die Christen vom Glauben an Christus wegtreibe zum Glauben an sich selbst (etwa: WA 54; 259,19– 21), und immer wieder geißelte er den päpstlichen Missbrauch der ohnehin angemaßten Schlüsselgewalt, als sollte sie Gesetzgebung, Macht und Herrschaft legitimieren statt die Vergebung der Sünden (etwa: WA 7; 423,2–6). Papst oder Evangelium – so lautete für Luther seit 1520 die grundlegende Alternative, die Scheidelinie aller christlichen Existenz. Die Welt- und Geschichtsschau, die dem zugrundelag, bestätigte sich ihm immer neu, zu keiner Zeit ist er an ihr irregeworden. 1521 etwa legten er und seine nächsten Mitstreiter sie in den drastischen Bildern des Passional Christi und Antichristi dar, wo der dienende und leidende Christus dem Gewalt ausübenden und Macht zelebrierenden Papst, seinem angeblichen Stellvertreter, wirkungsvoll entgegengesetzt wurde (WA 9; 701–715 mit Beilage 1), nach 1523 demonstrierte Luther sie an den Martyrien evangelischer Glaubenszeugen, »die mit yhrem blut das Bapstum sampt seynem Gott, dem teuffel, erseuffen werden« (WA 18; 225,3 f), in den dreißiger Jahren entwickelte er, herausgefordert durch die Einberufung des (später abgesagten) päpstlichen Konzils zu Mantua, eine ausgeführte evangelische Ekklesiologie ohne und gegen den Papst (Von den Konziliis und Kirchen: WA 50; 509–653), und 1545 schließlich, in seinem letzten Lebensjahr, schrieb er Wider das Papsttum zu Rom, vom Teufel gestiftet (WA 54; 206–299), jenes polemische Buch »von einer hanebüchenen Grobheit« (Bizer 1958, 46), in dem die kurialen Ansprüche auf die Oberhoheit in Kirche und Welt in ihrer ganzen Breite angegriffen und als Werk des Teufels verurteilt wurden und wo man lesen konnte: »Wer Gott wil hören reden, der lese die heilige Schrifft. Wer den Teufel wil hören reden, der lese des Bapsts Drecket [Dekrete] und Bullen« (WA 54; 263,14–16). Zwar hat Luther lebenslang immer wieder auch die Möglichkeit erwogen, einem sich nur auf menschliches Recht berufenden Papsttum in der Kirche Raum zu geben; doch blieb das angesichts der geschichtlichen Tatsachen letztlich eine müßige Erwägung. Mit seinem selbsterkämpften, systematisch durchgebildeten, stählernen Antipapalismus hat Luther alle übrigen Reformatoren übertroffen. Dass Melanchthon in der Confessio Augustana 1530 das Thema Papst aussparte, hat Luther (milde) getadelt (WAB 5; 496,8 f) und in dem »persönlichen Testament seiner Theologie« (G. Müller 1989, 407), den Schmalkaldische[n] Artikel[n], korrigiert. So schieden die Kirchen der Reformation aus der Kirche des Papstes aus; der letzteren ging ihre universale Vormachtstellung gerade deshalb verloren, weil sie sie im Lutherkonflikt ungeschmälert durchzusetzen gesucht hatte. Denn hinfort war im Abendland eine Kirche ohne Papst nicht nur denkbar, sondern real. Zur Erklärung des Vorgangs hat man Luthers »abstoßend triebhaften Haß gegen das Papsttum« ins Feld geführt (Bäumer 1987, 99). Dass der Reformator in dieser Konfrontation gelegentlich Grenzen des Geschmacks übertreten hat und dass seinen Äußerungen vergängliche Züge nicht fehlten, tritt in der Rückschau zutage, zumal wenn man bedenkt, dass die dogmatische Zuspitzung des päpstli-
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chen Superioritätsanspruchs auf die »Unfehlbarkeit in Fragen des Glaubens und der Sitte« im I. Vaticanum 1870 (DH 3073–3075) ihm noch gar nicht bekannt war. Freilich bleiben psychologische und überhaupt individualisierende Deutungen an der Oberfläche. Der Stringenz seiner theologischen Position werden sie nicht gerecht, und die Evidenzerfahrungen, die er hervorrief, vermögen sie nicht zu erfassen. Die Kirche ist Tochter, nicht Mutter des göttlichen Wortes; sie ist geboren aus dem Wort (WA 42; 334,12), so hat Luther seine Erkenntnisse in der Papstfrage gelegentlich zusammengefasst. Felmberg, Bernhard A. R.: Die Ablaßtheologie Kardinal Cajetans (1469–1534) (SMRT 66), 1998. Hendrix, Scott H.: Luther and the Papacy. Stages in a Reformation Conflict, 1981. Kaufmann, Thomas: An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung (KSLuth. 3), 2014. Lohse, Bernhard: Cajetan und Luther. Zur Begegnung von Thomismus und Reformation (in: Ders.: Evangelium in der Geschichte. Studien zu Luther und der Reformation, hg. v. Leif Grane u. a., 1988, 44–63). Moeller, Bernd: Die letzten Ablaßkampagnen. Luthers Widerspruch gegen den Ablaß in seinem geschichtlichen Zusammenhang (in: Ders.: Die Reformation und das Mittelalter. Kirchenhistorische Aufsätze, hg. v. Johannes Schilling, 1991, 53–72. 295–307). Mostert, Walter: Die theologische Bedeutung von Luthers antirömischer Polemik (LuJ 57, 1990, 72–92). Bernd Moeller
2. Luther und seine katholischen Sympathisanten Auf der Suche nach dem historischen Luther muss man sich auch nach seinen frühen, oft unbekannten, katholisch gebliebenen Sympathisanten umsehen. Diese Gruppe war sehr heterogen. Viele reformfreundliche Menschen vereinnahmten Luther als »ihren Martin« (noster Lutherus, unser Martinus; Grane 1994). Andreas Bodenstein von Karlstadt schrieb 1518 an Johann Eck: Vivat Martinus noster. Thomas Müntzer sprach polemisch von Martinus noster. Manche wurden zu treuen Anhängern, andere wandten sich nach anfänglicher Solidarität wieder ab. So distanzierte sich der Privatgelehrte Conradus Mutianus Rufus (ca. 1470– 1526) im Lauf der Zeit wieder von Luther. Johannes Crotus Rubeanus (1480–ca. 1540), Luthers ehemaliger Studienkollege in Erfurt, Hauptverfasser des ersten Teils der Dunkelmännerbriefe von 1515, hieß Luther – unterwegs zum Reichstag in Worms – in Erfurt willkommen, wandte sich später aber (ca. 1530) von ihm ab. Das taten auch manche Nürnberger Lutherfreunde wie beispielsweise Christoph Scheurl (1481–1542), Professor der Rechte in Wittenberg bis 1512, danach Jurist in Nürnberg. Scheurl unterstützte die Reformation noch beim Nürnberger Religionsgespräch 1525. Der andere bedeutende Humanist und Politiker in Nürnberg, Willibald Pirckheimer (1467–1532), nahm ebenfalls zunächst eine eindeu-
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tig positive Haltung zu Luther ein. Im Lauf der Zeit distanzierte er sich: »Ich bin weder Lutheraner noch Eckianer, sondern ein Christ« (Eckius dedolatus, Pirckheimer 1520). Der führende Augustiner aus der Schweiz, Konrad Träger (Treger, ca. 1480– 1542), stand dem Denken seines Ordensbruders Luther gelegentlich so nahe, dass man ihn als Lutheraner betrachtete (vgl. Posset 2003). Luthers Ordensvorgesetzter, Johann von Staupitz (vgl. Posset 2003), blieb Luther lebenslang verbunden, auch dann noch, als er 1522 Benediktinerabt in Salzburg geworden war. Staupitz stand immer für die »evangelische Wahrheit« ein. Luthers Ansicht über das Ordensleben als eine Art von Werkgerechtigkeit teilte Staupitz aber nicht. Als Luthers Verhör durch Kardinal Cajetan 1518 in Augsburg stattfand und als nicht nur Luthers, sondern auch Staupitz’ Verhaftung unmittelbar bevorstand, alar mierte Conrad Peutinger (1465–1547) beide rechtzeitig (vgl. Posset 2003). 1521 war Peutinger auf dem Wormser Reichstag an einem Vermittlungsversuch beteiligt – in Zusammenarbeit mit Erasmus von Rotterdam und Johannes Faber OP (ca. 1470–1530). Peutinger zog sich jedoch ca. 1534 von der reformatorischen Bewegung zurück. Der damals kirchenpolitisch und ideologisch bedeutendste Augsburger Lutherfreund war der Prälat und Humanist Bernhard Adelmann von Adelmannsfelden (1459–1523) (vgl. Posset 2015). Im Oktober 1518, als Luther nach Augsburg zitiert worden war, kam es mehrfach zu persönlichen Begegnungen. Aus Luther spreche nichts als »tzarte warheyt und unverruckte tugent«. Bald geriet Adelmann in scharfen Gegensatz zu Johann Eck. Zum Jahresschluss 1519 trafen Adelmann und Eck im Hause des Johann von Schwarzenberg (1463–1528), einem frühen Anhänger Luthers, zum Frühstück zusammen, und unter dem Einfluss geistiger Getränke, die dabei gereicht wurden, wäre es beinahe zu Handgreiflichkeiten gekommen. Adelmann schrieb an Pirckheimer über das »Monstrum Eck«, der sein Spiel mit »unserem Martin« treibe und ihn den Leuten verhasst machen wolle. Eck, der bevollmächtigt war, zusätzliche Namen in die gegen Luther gerichtete Bannandrohungsbulle Exsurge Domine einzufügen, zögerte nicht, auch den Namen des Augsburger Kanonikers Adelmann einzutragen (vgl. Posset 2015). Am 18. Januar 1520 schrieb Luther an Georg Spalatin, dass Adelmannus noster (unser Adelmann) ein verbessertes Manuskript seiner Arbeit über das heilige Sakrament zum Zweck der Veröffentlichung haben wolle (WAB 1; 613,9). Mit der charakterisierenden Bemerkung »unser Adelmann« erkannte Luther diesen eindeutig als seinen Sympathisanten an. Johann Eberlin von Günzburg (ca. 1465–1533) beobachtete mit einer gewissen Selbstverständlichkeit, dass selbst der Augsburger Bischof Christoph von Stadion (1478–1543) die Luther-Sympathisanten in seinem Bistum gewähren ließ (vgl. Posset 2015). Adelmann war mit Vitus Bild (1481–1529) (vgl. Posset 2015), dem Augsburger Benediktiner, befreundet, der immer an seiner Ordenszugehörigkeit festhielt. Bild schrieb im August 1522 an Spalatin: »Das Evangelium, in welchem mich Gott durch Martin, den treuesten Knecht seines Weinbergs, unterrichtet, ist in
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meinem Herzen so festgewurzelt, dass mir zum Ekel ist alles, worin ich früher meine Tage unnütz hingebracht [habe]«. Luther ist für Bild sogar der »Retter Deutschlands«, wie Bild im Dezember 1522 an den Drucker Sigmund Grimm schrieb. Bild hat eine lange Liste von Luthers Büchern angefertigt (siehe Abbildung 11 in Posset 2015 mit fol. 70r und der Abkürzung in griechischen Buchstaben Λ. M. D. zur Verschleierung für »Luther Martin Doctor«). Als kontaktfreudiger Sammler hätte der monastische Humanist in der Augsburger Benediktinerabtei gerne auch ein Lutherbrieflein besessen, das er wie ein »Kleinod« streng gehütet hätte. Das war ihm jedoch nicht vergönnt. Es war Bild auch nicht möglich, Luther in Augsburg 1518 persönlich zu treffen (vgl. Posset 2015). Im August 1518 ließ Bild den Sekretär Spalatin wissen, dass er das Büchlein des Silvester Prierias (1456–1527) nostrum contra Lutherum (gegen unseren Luther) besitze. Er wolle sich dazu aber nur im persönlichen Gespräch äußern. Bild war immer gerne bereit, Lutherdrucke aus Augsburg an andere zu vermitteln, z. B. an seinen Freund Caspar Amman (ca. 1450– ca. 1524), hervorragender Hebraist im Augustinerkloster in Lauingen (vgl. Posset 2015). Ammans Sammlung hebräischer Texte war so bekannt, dass sich Ammans Vorgesetzter in Rom, Aegidius de Viterbo (1469–1532), im Jahr 1513 eine Liste von Ammans hebräischen Büchern erbat. Aegidius bemerkte im Hinblick auf die in Ammans Bibliothek vermuteten Schriften, dass er solche Bücher als »die grössten Schätze und Reichtümer,« ja als »Königreiche« betrachte. Die Rekonstruktion der Buchbestände in Ammans Bibliothek offenbart vor allem Ammans Interesse an zeitgenössischen Klein- und Flugschriften. Daraus ergibt sich eindeutig, dass Amman ein Luther-Sympathisant war. Etwa 30 Luthertexte aus der Zeit von 1519 bis 1524 sind nachweisbar; zwei aus dem Jahr 1519, neun aus dem Jahr 1520, sieben aus dem Jahr 1521, einer aus dem Jahr 1522, neun aus dem Jahr 1523 und noch zwei aus dem vermutlichen Todesjahr Ammans (1524). Kein anderer zeitgenössischer Autor ist mit so vielen Titeln vertreten. Auffallend abwesend in Ammans Bibliothek sind zwei frühe sogenannte reformatorische Hauptschriften von Luther aus dem Jahr 1520: An den christlichen Adel deutscher Nation und De Captivitate Babylonica Ecclesiae Praeludium, obgleich sie doch relativ leicht in Augsburg erwerbbar gewesen wären. Die Mehrzahl von Ammans Lutherschriften waren volkssprachliche Texte. Die Luther-Predigten in deutscher Sprache, die Amman besaß, behandeln unter anderem die Themen Taufe, Buße, Ehe, Gute Werke, Bann und auch eine Auslegung des Buches Genesis. Ferner war auch die kleine Schrift Dass Jesus Christus ein geborener Jude sei in Ammans Besitz. Neben pastoralen und biblischen Themen war Amman aber auch an Luthers polemischen Flugschriften interessiert, wie z. B. gegen die Eckischen Bullen und Lügen, gegen den Romanisten zu Leipzig und gegen Latomus. Amman war der erste, der den Psalter direkt aus dem Hebräischen ins Deutsche übersetzte und 1523 auch veröffentlichte, also noch vor Luther – eine Tatsache, die kaum bekannt ist. Luthers Der Psalter Teutsch wird als Einzeldruck erst im Mai 1524 und im Jahr 1526 in Straßburg erscheinen. Man hätte annehmen
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dürfen, dass Amman auch Luthers deutsches Buch Die Sieben Bußpsalmen bekannt war, welches im Frühjahr 1517 in Wittenberg gedruckt worden war. Eine siebte Ausgabe ist von 1520 aus Augsburg bekannt. Im rekonstruierten Bücherkatalog des Amman fehlt jedoch dieses Buch von Luther, was darauf hindeuten mag, dass Amman diesen Text über die Bußpsalmen nicht vorliegen hatte. Als versierter Bibelhumanist sah Amman sich zu loyaler Detailkritik an Luthers Septembertestament berufen, speziell zur Interpretation von Mt 16,18 (»Du bist Petrus …«). Diesbezügliche Antwortbriefe von Luther an Amman sind nicht bekannt. Luther scheint seinen kritischen süddeutschen Ordensbruder, einer der besten Hebraisten seiner Zeit, wohl bewusst auf Distanz gehalten zu haben. Die Gründe dafür sind aus den vorhandenen Quellen nicht erklärbar. Luthers Bemerkung: »Er werde diesem Schwaben nicht antworten«, könnte sich durchaus auf Amman bezogen haben. Wahrscheinlich war Luther nicht darüber informiert, dass Amman im November 1523 für etwa sechs Monate in Gefangenschaft saß, weil er sich weigerte, die Bulle gegen Luther bekanntzugeben (WAB 2: 609). Vermutlich hat er auch gelegentlich ausdrücklich für Luther Stellung bezogen. Zeitlebens erblickte er in Luther »unseren Apostel«. Kaspar Haslach (ca. 1485–ca. 1540) (vgl. Posset 2015), Priester des Bistums Augsburg, zog sich aufgrund seiner Sympathie für Luther, in dem er einen »apostolischen Mann mit überaus wahren Predigten« sah, ein Verfahren wegen Verstoßes gegen das Wormser Edikt auf den Hals, aus dem er erst nach langen Verwicklungen halbwegs unbeschadet davon kam. Haslach brachte seine Hoch schätzung, welche der bischöflichen Behörde bekannt geworden war, vor allem mündlich zum Ausdruck. In einem handschriftlichen Eintrag auf der letzten Seite eines Buches des böhmischen »Ketzers« Jan Hus (1369–1415) schrieb Haslach: »Ich danke Gott, meinem Vater, und seinem Sohn Jesus Christus und dem heiligen Tröster, dass ich diese Tage erlebe, in denen die evangelische Wahrheit wieder zu blühen begonnen hat; in unserer Zeit zuerst durch das Auftreten ihres Herolds, Martin Luthers, des trefflichsten Mannes, dessen Seele der erhalten möge, der das Menschengeschlecht mit seinem Blut erlöst hat. Amen.« Die Faszination durch Luther seitens reformfreudiger Sympathisanten gründet sich vor allem im Engagement für die »evangelischen Wahrheit«, ein Begriff, der durchaus bereits seit der Väterzeit, im Mittelalter und in der Renaissance Verwendung gefunden hat (Augustinus, Bernhard, Nikolaus von Lyra, Giovanni Pico della Mirandola, Erasmus). Erasmus sah in Luther das Organ der »evangelischen Wahrheit« (1520). An Pirckheimer schrieb er, dass die Leute recht bald anfangen könnten, sich am Geschmack der evangelica veritas zu erfreuen (vgl. Posset 2015). Man musste damals nicht Lutheraner sein oder werden, um für die »evangelische Wahrheit« einzutreten. Selbst Johann Eck versicherte Ende 1520, dass man Luther folgen könne, sofern er nicht »wider Cristenlichen glauben und ewangelische warhait sey« (Eck Briefwechsel, Nr. 128). Die katholisch gebliebenen Lutherfreunde im deutschen Sprachraum repräsentieren einen frühen Evan-
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gelismus, der dem später (ca. 1540) (Ganzer 2002) in Italien aufkommenden nicht unähnlich war. Ganzer, Klaus: Art. Evangelismus (in: Lexikon der Reformationszeit, 2002, 229–230). Grane, Leif: Martinus noster. Luther in the German Reform Movement 1518–1521 (VIEG 155), 1994. Posset, Franz: The Front–Runner of the Catholic Reformation. The Life and Works of Johann von Staupitz, 2003. Ders.: Unser Martin: Martin Luther aus der Sicht katholischer Sympathisanten, 2015. Franz Posset
3. Luther und seine altgläubigen Gegner Luther hat sich seine Gegner nicht ausgesucht, sie haben auf ihn reagiert. Auf der Seite der Papstkirche stand ihm keineswegs von vornherein eine festgefügte Front von Gegnern gegenüber, sie bildete sich erst nach und nach. Das hatte auch mit der Dynamik des Konflikts zu tun, in dem Luther seine eigenen Einsichten klärte, Konsequenzen formulierte und damit weitere Gegnerschaft provozierte. Manche seiner künftigen Gegner sympathisierten noch mit Luthers Ablasskritik, konnten aber spätestens beim Sakramentsverständnis von De captivitate Babylonica (WA 6; 497–573) nicht mehr mitgehen. Die Bereitschaft, Luther entgegenzutreten, lässt sich ebenso wenig zwingend aus gemeinsamen Voraussetzungen ableiten wie die, sein Anhänger zu werden. In beide Richtungen gab die persönliche Entscheidung den Ausschlag, die angesichts von Luthers Auftreten so oder so unausweichlich war. Zu dem Entschluss, die Position der Papstkirche gegen Luther zu vertreten, konnten verschiedene Faktoren beitragen: die Ordenszugehörigkeit – besonders bei Dominikanern –, damit zusammenhängend die Bindung an theologische Schultraditionen – namentlich den Thomismus –, die Stellung in Kirche oder Universität, politische Bindungen. Die altgläubigen Gegner Luthers repräsentierten eine konservative Kirchlichkeit, die zumeist für maßvolle Reformvorstellungen offen war; viele waren von den Idealen eines christlichen Humanismus berührt. In der Regel gehörten sie derselben Generation an wie Luther oder waren älter. Einen Sonderfall in der Gruppe der papstkirchentreuen Gegner Luthers bilden die fürstlichen Laientheologen Heinrich VIII. von England und Georg von Sachsen. Luther nahm alle diese Gegner nicht differenziert wahr, sondern sah sie als Repräsentanten der unter der Flagge des Papsttums marschierenden gegnerischen Front der »Papisten« und »Thomisten«, als »Sautheologen«. Sie waren für ihn nicht Vertreter eines »alten« Glaubens, sondern der im Verhältnis zu den christlichen Ursprüngen »neuen« Papstkirche. Er behandelte sie durchweg mit überlegener Missachtung, fühlte sich von ihnen theologisch nicht ernsthaft gefordert und vermisste einen Gegner, der ihm mit Schrift- und Sachgründen statt mit
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Autoritäten entgegentrat. Ob und wie Luther einen Angriff parierte, hing von der publizistischen Gesamtsituation ab, von den Möglichkeiten, ein Thema weiterzuführen oder zu vertiefen, von der Notwendigkeit, die eigene Position zu explizieren. Mit einigen Gegnern wechselte er mehrfach Streitschriften, mit anderen Briefe, anderen antwortete er nicht oder nur ganz knapp; lediglich mit Johannes Eck hat er öffentlich disputiert. Luther nahm seine papstkirchlichen Gegner immer nur abschnittsweise intensiver wahr und hielt sie dann für hinreichend widerlegt: Sie blieben Gegner, aber er beschäftigte sich nicht mehr mit ihnen. Den Anfang machte der Dominikaner Johann Tetzel. Der für den Ablassvertrieb in der Erzdiözese Magdeburg zuständige Subkommissar Albrechts von Mainz fühlte sich durch Luthers Ablasskritik persönlich getroffen und zur Reaktion herausgefordert. Immerhin war er ein solide gebildeter Theologe und hatte zeitweise als Lehrer der Leipziger Dominikaner gewirkt; seine rhetorische Begabung hatte sich im Ablassgeschäft bewährt. Im Januar 1518 disputierte Tetzel an der Universität Frankfurt/Oder über von dem dortigen Theologieprofessor Konrad Wimpina formulierte Antithesen gegen Luther. Im April verschärfte er den Ton, indem er Luthers Sermon von Ablass und Gnade (WA 1; 243–246) in einer Vorlegung [i. e. Widerlegung] verketzerte, den Wittenberger mit den verurteilten Häretikern Wyclif und Hus in Verbindung brachte und in einer zweiten Thesenreihe die päpstliche Autorität als hinreichenden Grund für die Ablasspraxis bekräftigte. Luther antwortete spöttisch (WA 1; 383–393): Er sah bei Tetzel nur Unverständnis der Bibel und einen auf bloße scholastische Lehrmeinungen gegründeten Häresievorwurf und konnte ihn nicht ganz ernst nehmen. So unbedeutend Tetzel als theologischer Gegner auch war, gab er doch mit der Konzentration auf die Autoritätsfrage und dem Drängen auf ein Ketzerurteil gegen Luther den Ton der Auseinandersetzung vor und lenkte damit auch Luthers Wahrnehmung der Gegner. Im Zusammenhang mit seinem römischen Prozess hatte es Luther mit weiteren Dominikanern zu tun: Silvester Mazzolini Prierias verfasste als päpstlicher Hoftheologe (magister sacri palatii) das erste offiziöse Gutachten, und Kardinal Thomas de Vio Cajetanus verhörte ihn als päpstlicher Legat im Oktober 1518 in Augsburg. Die Auseinandersetzung mit Prierias zog sich bis 1520 hin; zuletzt sekundierte diesem noch sein Ordensbruder Ambrosius Catharinus. Prierias brüstete sich, Luther in drei Tagen erledigt zu haben; in seinem aus dem Gutachten hervorgegangenen Dialogus zeichnete er ihn im Bewusstsein überlegener Wissenschaftlichkeit als Ketzer und hob ganz auf die Anerkennung von Lehre und Praxis der römischen Kirche als Maßstab des rechten Glaubens ab. Luther leugnete in seiner Antwort (WA 1; 647–686) diese Grundlage der Auseinandersetzung und pochte auf die Bibel als alleinige Lehrnorm. Bei Prierias fand er im Wesentlichen die Argumente der thomistischen Scholastik, auf die er sich eigentlich nicht einlassen wollte und denen er sich seinerseits theologisch überlegen fühlte. Ärger über die Autoritätsgläubigkeit des Gegners paarte sich mit ironisch formuliertem Mitleid, und je länger die Auseinandersetzung währte, umso deut-
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licher wurde Luthers Distanzierung von einer Theologie, die sich ihm als antichristliche Schriftverachtung darstellte. Auch in Cajetan begegnete Luther einem thomistischen Theologen, sogar einem der gelehrtesten seiner Zeit. Der Kardinal hatte sich auf das Verhör Luthers (Augsburg 1518) gründlich vorbereitet, war aber nicht auf eine Diskussion aus, sondern auf einen schnellen Widerruf. Luther hingegen beharrte auf einer Widerlegung, wollte also eine inhaltliche Auseinandersetzung. Das Autoritätsgefälle verhinderte ein echtes Gespräch, aber immerhin tauschten Cajetan und Luther die gegensätzlichen Positionen zur Frage der Glaubensgewissheit im Sakramentsempfang und zur Begründung der Ablässe aus. Sowohl von der scholastischen Sicht des Rechtfertigungsgeschehens wie von der Berufung auf die im kanonischen Recht enthaltene Ablassbulle Unigenitus von 1343 ließ sich Luther nicht überzeugen; auch als Cajetan mit seiner richterlichen Autorität drohte, fand er sich nicht zum Widerruf bereit. Cajetan behielt er als feindseligen und theologisch trotz seiner Gelehrsamkeit inkompetenten Gegner in Erinnerung. Die Begegnung mit ihm dämpfte Luthers Hoffnung auf eine inhaltlich weiterführende Belehrung durch einen Vertreter der Papstkirche beträchtlich. Als Ambrosius Catharinus, ein theologischer Autodidakt, 1520 mit einer Apologia in Anlehnung an Prierias päpstlichen Primat, Ablässe, Bußverständnis, Fegefeuer und scholastische Theologie verteidigte, sah Luther in der Widerlegung im Grunde nur noch Zeitverschwendung, der er sich 1521 – inzwischen schon im Bann – nur im Sinne einer Generalabrechnung mit dem antichristlichen Papsttum unterzog. Er wendete das Häresieurteil seines Gegners gegen diesen selbst und damit zugleich gegen die Front der Gegner: »Cum ergo haec Christi autoritas repugnet Papae et Ecclesiae Papisticae, manifeste patet, Catharini et sui Thomae […] opinionem esse extreme haereticam« (Da nun die Autorität Christi [gemeint ist Mt 16,18] dem Papst und der Papstkirche widerspricht, ist ganz klar, dass die Meinung des Catharinus und seines Thomas [von Aquin] […] in höchstem Maße häretisch ist) (WA 7; 710,14–16). Mit einer subtilen Verketzerung wurde Luther konfrontiert, als er im März 1518 eine Abschrift der von dem Ingolstädter Theologieprofessor Johannes Eck für den Bischof von Eichstätt verfassten Obelisci (Spießchen) zu Gesicht bekam, bissige Anmerkungen zu Luthers Ablassthesen. Eck war zu diesem Zeitpunkt in der akademischen Welt für seine Disputationskunst berühmt; gerade im Vorjahr war ein freundlicher Kontakt zwischen ihm und den Wittenberger Theologen angebahnt worden. Insofern war Luther befremdet, dass Eck seine Thesen kurzerhand u. a. als irrig, gefährlich und vermessen bezeichnete und eine Nähe zur böhmischen »Ketzerei« unterstellte. Offenbar hatte Eck, ganz wie Tetzel und Prierias, den Eindruck, der Konflikt steuere auf die Frage nach der päpstlichen Autorität zu. Luther antwortete mit den ebenfalls nicht gedruckten Asterisci (Sternchen) und zeigte sich enttäuscht über Ecks scholastische und auf die kirchliche Ordnung fixierte Argumentation. Als Karlstadt sich auf Luthers Seite in die Auseinandersetzung einschaltete, zog sie weitere Kreise und führte zum Plan einer
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großen Disputation zwischen Eck und Karlstadt, deren Durchführung Luther während seines Augsburger Aufenthalts mit Eck erörterte. Nach einigem Taktieren Ecks stand diesem schließlich auch Luther selbst im Sommer 1519 bei der Leipziger Disputation als Kontrahent gegenüber. Es gelang Eck, die Diskussion auf die päpstliche Amtsvollmacht zu fokussieren und Luther Aussagen über die Irrtumsfähigkeit von Papst und Konzilien sowie positive Bemerkungen über die in Konstanz verurteilten Lehren des Jan Hus zu entlocken und ihn damit zum »Böhmen« zu stempeln. Vorgeschichte und Verlauf der Disputation bestimmten Luthers Urteil über Eck als einen intriganten, ruhmsüchtigen, auf Wirkung bedachten Theologen, der auf die Beschuldigung des Gegners statt auf eine sachliche Klärung setzte. Als Eck seine Erfahrungen aus dem Streit mit Luther 1520 in Rom in den Prozess und in die Formulierung der Bannandrohungsbulle einbrachte, verfestigte sich dieses Urteil vollends. Eck publizierte weiter gegen Luther (insbesondere 1523 sein die »falschen Lehren« zusammenfassendes Enchiridion [Handbüchlein] und 1526 die große Schrift De sacrificio missae [Vom Messopfer]) und machte seinen Einfluss bei altgläubigen Fürsten gegen ihn geltend. Da es nach der Exkommunikation Luthers nicht mehr zu Disputationen mit papstkirchlichen Gegnern kommen konnte, blieb die Begegnung mit Eck für den Wittenberger Reformator die einzige Erfahrung dieser Art, zugleich das eindrückliche Beispiel einer Kontroverstheologie, die vor der Sachauseinandersetzung auf das Autoritätsproblem auswich und gerade damit den kirchlichen Vollmachtsanspruch aus Luthers Sicht nachhaltig diskreditierte. Luther setzte sich fortan nicht mehr direkt mit Eck auseinander. Die Leipziger Disputation hatte bei Herzog Georg von Sachsen die definitive Entscheidung gegen Luther herbeigeführt. Selbst an einer Reform im Rahmen der Papstkirche lebhaft interessiert, wurde er zum vehementesten fürstlichen Gegner des Reformators und verfolgte sowohl in seinem Territorium wie im Reich einen scharf antilutherischen Kurs. Immer wieder beschwerte er sich bei seinen kursächsischen Vettern über Luther und verfasste in den 1530er Jahren sogar eigene Streitschriften gegen ihn. Das Herzogtum Sachsen wurde seit 1519 zu einem Zentrum der Luthergegner. Dabei tat sich Hieronymus Emser besonders hervor, ein Mann von vielfältigen humanistischen Interessen und Kontakten, seit 1511 Hofkaplan Herzog Georgs. Luther hatte ihn im Sommer 1518 bei einem Aufenthalt in Dresden kennengelernt und sich damals in Emsers Haus ausgehorcht gefühlt. Unter dem Eindruck der Leipziger Disputation wurde Emser zum Kontroverstheologen. In einer ersten Veröffentlichung zitierte er Luthers Äußerungen während der Disputation, vorgeblich um ihn von dem Verdacht der Nähe zur »böhmischen Häresie« zu reinigen. Luther sah darin wohl nicht zu Unrecht den Versuch, ihn in dieser heiklen Frage zu weiteren Festlegungen zu drängen, und reagierte äußerst scharf. Er nahm Emser als Sprachrohr Ecks und seines Herzogs wahr und hielt ihn mehr für einen Schwätzer als für einen Theologen. An diesem Urteil änderte sich auch nichts, als Emsers Kritik an Luthers Adelsschrift (WA 6; 404–469) 1521 eine erbitterte Streitschriftenfehde auslöste. Emser
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hatte Luther kaum mehr entgegenzusetzen als das Eintreten für eine kirchlich normierte Bibelauslegung und für das hierarchisch geordnete Weihepriestertum. Luther brach die Auseinandersetzung ab, nachdem er Emser hinreichend vorgeführt zu haben glaubte. Dieser setzte – auch im Auftrag Herzog Georgs – seine Publizistik gegen Luther fort. Insbesondere setzte er sich 1523 mit Luthers Übersetzung des Neuen Testaments auseinander, deren Vertrieb der Herzog in seinem Herrschaftsgebiet untersagt hatte. 1527 gab Emser eine von ihm korrigierte und Luthers Vorreden und Erläuterungen ersetzende Version heraus, deren Text später auch in die altgläubigen deutschen Bibelausgaben Johannes Dietenbergers von 1534 und Johannes Ecks von 1537 einging. Luther bezeichnete daraufhin den inzwischen verstorbenen Emser 1530 im Sendbrief vom Dolmetschen als »Sudler zu Dres[d]en« (WA 30,2; 634,13). Außer Emser profilierten sich im herzoglichen Sachsen auch der Leipziger Theologieprofessor Hieronymus Dungersheim und der Franziskaner Augustin von Alvelt als Luthergegner. Dungersheim korrespondierte 1519/20 mit Luther über den päpstlichen Primat, bis dieser den Briefwechsel abbrach, weil ihn die langatmige Argumentation mit Kirchenväterzitaten ermüdete und er bei seinem Gegenüber die theologische Substanz vermisste. Alvelt veröffentlichte 1520 eine Schrift über den Apostolischen Stuhl (Super apostolica sede), die Luther für ein so dummes Machwerk hielt, dass er sich erst nach dem Erscheinen einer deutschen Übersetzung zu einer Entgegnung herabließ. Im Titel seiner Gegenschrift verspottete er Alvelt als »hochberumpten Romanisten zu Leiptzck« (WA 6; 285,2), um ihn dann als »grobe[s] mullers thier« (WA 6; 323,30) zu entlarven. Luther reihte Alvelt ein in die Phalanx der Gegner – er nennt Prierias, Cajetan, Eck, Emser und die theologischen Fakultäten von Köln und Löwen (WA 6; 285,22 f) –, die er als eine schlecht gerüstete, im Grunde erbarmungswürdige und lächerliche Schar wahrnahm. Die Nachfolge Emsers als Hofkaplan Herzog Georgs trat 1528 Johannes Cochlaeus an, der von da an als Propagandist der Religionspolitik des Herzogs wirkte. Als Teilnehmer an den Verhandlungen beim Wormser Reichstag hatte er Luther schon 1521 kennengelernt. Damals bot er diesem in einer privaten Unterredung eine Disputation an, für die Luther freilich auf sein freies Geleit hätte verzichten müssen, wozu er nicht bereit war. Cochlaeus begann danach, Schriften gegen Luther zu publizieren. Dass er dabei auch die Geschichte jenes Wormser Gesprächs zum besten gab und zu seinen Gunsten ausschmückte, veranlasste Luther, ihm mit einer Spottschrift zu antworten (WA 11; 295–306). Cochlaeus war neben Eck der umtriebigste, kirchenpolitisch aktivste und literarisch produktivste Gegner Luthers. Cochlaeus versuchte auch, Luther als umstrittene Persönlichkeit zu erfassen, so in der 1529 erschienenen Schrift Der siebenköpfige Luther und in den 1546 fertiggestellten Lutherkommentare[n], die das katholische Lutherbild bis ins 20. Jahrhundert bestimmen sollten. Luther kam im Laufe seines Lebens immer wieder auf Cochlaeus zu sprechen, vor allem im Rahmen seiner Auseinandersetzungen mit Herzog Georg. Er hielt Cochlaeus für einen von sich selbst allzu sehr
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überzeugten Schaumschläger und einen ausgemachten Feind des Evangeliums, dessen Bücher er nicht zu lesen pflege, weil sie »eitel geschwetz, lügen odder lestern« enthielten (WA 38; 166,9). Neben Alvelt traten zwei weitere Franziskaner gegen Luther an. Thomas Murner, bekannt als humanistischer, auch kirchliche Missstände aufspießender Satiriker, richtete von Straßburg aus ab 1520 Streitschriften gegen Luther. Er wandte sich u. a. gegen die Kritik am Messopfer, forderte die deutschen Fürsten auf, gegen den Verfasser der Adelsschrift als Aufrührer vorzugehen und publizierte – zur Abschreckung! – eine deutsche Übersetzung von De captivitate Babylonica und 1522 die Satire Von dem großen lutherischen Narren. Luther strafte ihn mit Verachtung, widmete ihm, dem Dichter, aber ein Spottgedicht am Ende einer gegen Emser gerichteten Schrift (WA 7; 687,22–688,9). Ernsthafter als Murner versuchte der Provinzial der oberdeutschen observanten Franziskaner, Kaspar Schatzgeyer, unter Benutzung von Bibel und scholastischer Theologie zu zentralen Fragen des durch Luther ausgelösten Streits eine harmonisierende Lösung zu finden (Scrutinium divinae scripturae [Untersuchung der göttlichen Schrift], 1522). Aus Luthers Sicht war freilich schon der Ansatz methodisch verfehlt, und er hielt daher auch Schatzgeyers gelehrtes Werk für ein albernes Produkt, zu dessen Widerlegung durch den reformatorisch gesinnten Franziskaner Johann Brießmann er nur ein Vorwort beisteuerte (WA 11; 284–291). Zu den Gegnern Luthers zählte seit 1520 auch der humanistisch gebildete Konstanzer Generalvikar Johann Fabri, seit 1530 Bischof von Wien. 1522/23 setzte er sich in umfangreichen Werken umfassend mit Luther auseinander. Gegen Fabris Verteidigung des Priesterzölibats wandte sich Justus Jonas, und in einem Begleitbrief zu dessen Schrift beklagte Luther den kompilatorischen Charakter von Fabris Werken: »nihil est nisi Patres, Patres, Patres, Concilia, Concilia, Concilia« (nichts als Väter, Väter, Väter, Konzilien, Konzilien, Konzilien) (WA 12; 85,21 f) – »sed de scriptura sacra neque lecta bene neque sane intellecta« (aber über die heilige Schrift weder gut Gelesenes noch richtig Verstandenes) (WA 12; 85,28– 86,1). Auch Fabris Gelehrsamkeit fügte sich in Luthers Gesamtbild einer die Bibel mit der Tradition zudeckenden gegnerischen Argumentationsweise. Aus den theologischen Fakultäten von Köln, Löwen und Paris, die Luthers Lehren 1519 bzw. 1521 verworfen hatten, profilierten sich der Pariser Jodocus Clichtoveus und Jacobus Latomus aus Löwen weiter als Luthergegner; nur den letzteren nahm Luther zur Kenntnis. Latomus begründete 1521 in seiner Ratio das Löwener Lehrurteil ausführlich aus Bibel und Kirchenvätern. Luther behauptete zwar auch in diesem Fall, die Lektüre des Buches erzeuge bei ihm nur Verdruss, antwortete aber rasch und ausführlich und ließ sich zu einer tiefgründigen Darlegung seines Sünden- und Gnadenverständnisses anregen. Bei Latomus meinte er »nihil quam ignorantias scripturae, tum meras praesumptiones et petitiones principii« (nichts als Unkenntnis der Schrift, ja lauter Anmaßung und Beweisfehler) (WA 8; 110,35 f) zu finden. Dennoch sprach er später von ihm als dem »feinst scriptor contra me« (feinsten gegnerischen Autor) (WAT 1; 202,5),
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wohl weil Latomus sich zu zentralen Fragen tatsächlich auf das Feld der Schrift auslegung gewagt hatte. König Heinrich VIII. von England wurde – wie viele andere auch – aufgrund von De captivitate Babylonica zum entschiedenen Luthergegner. Mit der Assertio septem sacramentorum (Bekräftigung der sieben Sakramente) trat er 1521 als kontroverstheologischer Schriftsteller hervor. Er verteidigte ganz konservativ die kirchliche Sakramentenlehre und die päpstliche Lehrvollmacht und wurde daraufhin von Leo X. mit dem Titel eines »Defensor fidei« (Verteidiger des Glaubens) ausgezeichnet. Unterstützt wurde er u. a. durch John Fisher, Bischof von Rochester, und durch den Laientheologen, Philosophen und Politiker Thomas Morus, die ihrerseits gegen Luther schrieben, ohne ihn freilich zu einer Reaktion veranlassen zu können. Unter dem Druck politischer Erwägungen entschuldigte sich Luther 1525 devot für die Grobheiten in seiner Antwort auf Heinrichs Buch, woraufhin ihn der König öffentlich bloßstellte. Ob Fürsten, Schultheologen oder Ordensleute – Luther gewann von allen seinen altgläubigen Gegnern den Eindruck, dass die Bindung an die Autorität des Papstes und der scholastischen Theologie dem Verstehen der Bibel und damit einer fruchtbaren Auseinandersetzung und einem evangelischen Glaubensbewusstsein im Weg stand. 1521 schrieb er: »Yhr keyner will an die schrifft, menschen lere und yhre trewm bringen sie erfur […]. Wenn euch aber yemandt von yhnen antastet unnd spricht: Man musz der Vetter auszlegen haben, die schrifft sey tunckel, Solt yhr antwortten, es sey nit war. Es ist auff erden keyn klerer buch geschrieben denn die heyligen schrifft, die ist gegen alle ander bucher gleych wie die szonne gegen alle liecht. Sie reden solch ding nur darumb, das sie unsz ausz der schrifft furen und sich selbs zu meystern ubir unsz erheben, das wyr yhre trewm predigen glewben sollenn« (WA 8; 236,4 f.7–13). Bagchi, David V. N.: Luther’s Earliest Opponents. Catholic Controversialists, 1518–1525, 1991, Nachdr. 2005. Iserloh, Erwin (Hg.): Katholische Theologen der Reformationszeit, 5 Bde. (KLK 44–48), 1984– 1986. Klaiber, Wilbirgis (Hg.): Katholische Kontroverstheologen und Reformer des 16. Jahrhunderts. Ein Werkverzeichnis (RGST 116), 1978. Hellmut Zschoch
4. Luther und seine protestantischen Gegner Auch unter seinen Weggefährten, Kollegen, Freunden und Schülern erwuchsen Luther schon früh ernstzunehmende Gegner. Dies zeigte, dass in der durch ihn ausgelösten reformatorischen Bewegung sehr wohl unterschiedliche Kräfte am Werk waren. Traten die hieraus erwachsenden Spannungen zunächst in Wittenberg selbst zutage, so schon bald auch an anderen Orten und in anderen Zusammenhängen. Luther begriff diese Konflikte als Streit mit den »Schwärmern«.
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4.1. »Schwärmer«
Der Begriff »Schwärmer« (lat. fanaticus oder enthusiasta) rekurriert auf das Naturschauspiel der schwärmenden Bienen. Er ist eine Eigenprägung Luthers und begegnet erstmals in dessen Auseinandersetzung mit den Zwickauer Propheten (Nikolaus Storch, Thomas Drechsel, Markus Thomae, genannt Stübner u. a.), Thomas Müntzer und Andreas Bodenstein von Karlstadt. Was er moniert, ist, dem Bilde entsprechend, ein »Mangel an innerer und äußerer Ordnung« (Leppin 1999, 628), dem, da er ansteckend wirkt, Aufruhrcharakter beigelegt wird. Was die »Schwärmer« so gefährlich macht, ist für Luther ihre Missdeutung der christlichen Freiheit. Sie drängen auf energische Verwirklichung der reformatorischen Anliegen (»Vollendung der Reformation«) und wollen die Menschen hierzu auf eine bestimmte Form der kirchlichen Gebräuche und Handlungen (Sakramente) sowie ein besonderes ethisches Verhalten (Heiligung) festlegen (WA 18; 137 f). Damit aber verkehren sie das Verhältnis von Gesetz und Evangelium. Die »Schwärmer« richten eine neue Gesetzlichkeit auf (das Evangelium als nova lex) und entsprechen darin völlig den Altgläubigen. Was dies für die gequälten Gewissen bedeutet, ist ihnen gleichgültig: »Da fragen […] solche falsche geyster nicht nach, Gleich wie der Bapst nicht darnach fragt, wo glaube oder liebe bleybe, wenn nur die werck seynes gehorsams und gesetzs gehen« (WA 18; 64,11–14). Wie Luthers altgläubige Gegner sind also auch die »Schwärmer« letztlich Nomisten. Sie sind ›neue Mönche‹ (aaO 64,10). Dass sich die »Schwärmer« für ihre Forderungen gern auch auf ein direktes Zeugnis des heiligen Geistes berufen, kann, so Luther, nicht hingenommen werden. Was sie dabei treibt, ist nämlich bestenfalls ihr eigener Geist. Gott selbst hingegen will durch die äußeren Heilsmittel (Wort und Sakrament) wahrgenommen und wirksam werden: »So nu Gott seyn heyliges Euangelion hat auslassen gehen, handelt er mit uns auff zweyerley weyse. Eyn mal eusserlich, das ander mal ynnerlich. Eusserlich handelt er mit uns durchs mündliche wort des Euangelij und durch leypliche zeychen, alls do ist Tauffe und Sacrament. Ynnerlich handelt er mit uns durch den heyligen geyst und glauben sampt andern gaben. Aber das alles, der massen und der ordenung, das die eusserlichen stucke sollen und müssen vorgehen. Und die ynnerlichen hernach und durch die eusserlichen komen […]. Denn er will niemant den geyst noch glauben geben on das eusserliche wort und zeychen, so er dazu eyngesetzt hat« (WA 18; 136,9–18). Wenn die »Schwärmer« die von Gott angebotenen Heilsmittel als »leiblich« abwerten und ihnen gegenüber den Primat des Geistes betonen, verkennen sie damit letztlich die Leiblichkeit des Mensch gewordenen Gottes. Dieses für Luther charakteristische Grundmuster (Verkennung der Unverfügbarkeit des Heils bei gleichzeitiger Überbetonung der eigenen Möglichkeiten) findet Luther dann bald auch bei anderen Gegnern wieder, so z. B. bei den »Sa kramentierern« (Abendmahl). Das Brückenelement bildet dabei die Person Karl stadts. Selbst der Papst kann in diesem Lichte nun ganz konsequent als »Schwär-
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mer« verstanden werden (Schmalkaldische Artikel, 1537; WA 50; 245,1–34). Über seine Verwendung in den (späteren) Bekenntnisschriften (Großer Katechismus, 1529; WA 30,1; 199,25. 220,4. 224,2) wird der Begriff dann vollends zum Instrument der konfessionellen Ausgrenzung. Dass gerade viele »Schwärmer« anfangs versucht hatten, ihre Ideen mit Hilfe der weltlichen Obrigkeit zu realisieren (Karl stadt, Müntzer, aber auch manche Täufer), bleibt fortan ausgeblendet. Luthers in einer konkreten theologischen Auseinandersetzung entstandenen Begriff auch historiographisch zu verwenden, ist zwar lange Zeit üblich gewesen (kritisch dazu erstmals Gottfried Arnold). Es erscheint aber heute kaum mehr sinnvoll. Hiergegen sprechen einmal die Unterschiedlichkeit der unter einem solchen Oberbegriff zu subsumierenden Einzelphänomene (das Leben außerhalb der Konfessionskirchen war pluriform und reich an zum Teil ausgesprochen harten Gegensätzen), dann aber auch der polemisch-abschätzige Charakter des Begriffes selbst. Zwar hat namentlich H. Fast 1962 versucht, denselben auf eine kleine Gruppe spiritualistisch geprägter und im Zuge dessen zumindest potentiell revolutionärer Reformatoren einzugrenzen. Eine präzise Unterscheidung dieser Personen von anderen Gruppen (nach Fast: Spiritualisten, Täufern und Antitrinitariern) war aber kaum plausibel zu machen. Auch mehrere den schwierigen Schwärmerbegriff umgehende Hilfsformulierungen, wie z. B. »linker Flügel der Reformation/Left Wing of the Reformation« (Bainton 1941) oder »radikale Reformation/radical Reformation« (Williams 1962), haben sich inzwischen als problematisch erwiesen (Wie weit trägt der formale Rekurs auf die parlamentarische Sitzordnung des 19./20. Jahrhunderts? [Seebass] Waren die »großen« Reformatoren nicht radikal? [Mühlpfordt, Lohse, Wohlfeil]). Auch im Folgenden wird der Schwärmerbegriff daher gemieden. Stattdessen wird ein behutsam deskriptives Verfahren gewählt, das die Gegner Luthers je für sich in den Blick nimmt und dabei jene Terminologie aufgreift, die sich im Anschluss an E. Troeltsch und dessen Unterscheidung zwischen (mystischen) Spiritualisten und Täufern (Troeltsch 1912) herausgebildet hat (Benrath). Als weitere Gruppen hinzugenommen werden dabei aber auch die Antitrinitarier und die Antinomer (k B. III. 7.). 4.2. Spiritualisten
Der Begriff »Spiritualismus« bezeichnet »eine theologische Haltung, die eine unmittelbare Beziehung zu Gott durch den Geist in den Vordergrund stellt und eine äußere, dingliche Vermittlung etwa durch Sakramente, die Bibel oder das geistliche Amt abwertet oder ausschließt« (McLaughlin 2000, 701). Diese wurzelt nicht nur in der Schrift, sondern auch im platonischen Denken, gewinnt im Spätmittelalter zunehmend an Bedeutung (Mystik, devotio moderna, Apokalyptik) und erreicht ihre Blüte im Protestantismus des 16. und 17. Jahrhunderts. Luther selbst begegnete dem Spiritualismus vor allem in Gestalt von Müntzer (k B. III. 6.), Karlstadt und Kaspar Schwenckfeld von Ossig.
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Karlstadt, seit 1511 Archidiakon am Wittenberger Allerheiligenstift und zugleich Professor der Theologie, gehörte zu den ältesten Weggefährten Luthers. Er war nicht nur Theologe, sondern auch Jurist (1510 Dr. theol. in Wittenberg, 1515/16 Dr. iur. utr. in Rom) und hatte sich früh den unterschiedlichsten Einflüssen geöffnet (Neuplatonismus, Kabbala, Humanismus u. a.). Nachdem ihn Luther 1516 zu einer intensiven Beschäftigung mit Augustin angeregt hatte, brach er bald mit der Scholastik. Er studierte die Predigten des Mystikers Johannes Tauler und war der erste Gegner Johannes Ecks bei der Leipziger Disputation (Sommer 1519) (k B. II. 1.). Als sein Name 1520 in die Bannandrohungsbulle gegen Luther aufgenommen wurde, wandte er sich endgültig von Rom ab. Dies hatte sich aber schon etwas früher auch in seinen Äußerungen zur Kanonfrage (Betonung der Majestät der Bibel über die altgläubige Theologie) abgezeichnet (De canonicis scripturis libellus, 1520). Während Luthers Aufenthalt auf der Wartburg (1521/22) tat sich Karlstadt dann zunächst durch eine wirkungsvolle Zölibatspolemik hervor. Er selbst heiratete demonstrativ Anfang 1522 (WAB 2; 423). Bei der Messreform in Wittenberg fiel ihm zeitweise die Führungsrolle zu (Zwang zur communio sub utraque, Beichtverbot). Außerdem betrieb er die Einführung einer neuen Wittenberger Stadtordnung (Januar 1522; Wittenberg als »christliches« Modell) sowie die Entfernung der kirchlichen Bilder. Als es daraufhin zu Tumulten kam (WA 8; 670– 687), schritt der Kurfürst ein. Nach Luthers Rückkehr nach Wittenberg am 6. März 1522 (WA 10,3; 1–64: Forderung nach Schonung der Schwachen) war Karl stadts Stellung geschwächt. Die eingeführte universitäre Pressezensur beschnitt seine Möglichkeiten, sich öffentlich zu artikulieren. 1523 gab Karlstadt sein Professorenamt auf. Er begab sich nach Orlamünde/ Saale und versuchte hier, sein Konzept einer durch die Laien getragenen Gemeindereformation in die Tat umzusetzen (Ablegung des Doktortitels, Selbstbezeichnung als »neuer Lai«/»Bruder Andres«, ordnungswidrige Wahl zum Pfarrer). Im Sommer 1524 kam es darüber zu einem Streit mit Luther, der ihn inzwischen mit den Gewaltakten Müntzers in Verbindung brachte (Ausweisung aus Kursachsen, Reise durch Südwestdeutschland und in die Schweiz). Bald sprach sich Karlstadt nun offen gegen die Säuglingstaufe aus (Zorzin 1990). Außerdem bestritt er die reale Präsenz Christi in den Elementen des Abendmahls (Christus habe bei dessen Einsetzung auf seinen eigenen Leib gewiesen) und löste so den innerreformatorischen Abendmahlsstreit (1524 ff) aus. Luther reagierte heftig (WA 18; 37–214). Nachdem er im Mai 1525 beinahe selbst zu einem Opfer des Bauernkrieges geworden wäre, wandte sich Karlstadt dann bald an Luther, der ihm das Recht zur Rückkehr nach Kursachsen erwirkte (Aufnahme in Luthers Haus). Allerdings durfte er dort fortan nicht mehr schreiben, predigen oder lesen. Verarmt und isoliert, zuletzt sogar unter Hausarrest in Kemberg, floh Karlstadt 1529 nach Kiel. Anschließend reiste er über Ostfriesland (Oldersum) nach Zürich weiter (Diakon am Großmünster und Spitalseelsorger, Zürcher Prophezei). 1534 wurde Karlstadt
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Professor für Altes Testament in Basel. Bis zu seinem Tode 1541 wandte er sich nun verstärkt humanistischen Studien zu, blieb daneben aber auch seinen alten Themen (Gelassenheit, Zinswucher und Bettel etc.) treu. Karlstadt war zeitweise der nach Luther meistgelesene Autor der Wittenberger Reformation. Durch seine Flugschriften und Traktate hat er nicht nur die frühe kursächsische und die schweizerische Reformation, sondern auch das Täufertum beeinflusst. Obwohl sie zahlreich waren (Schwerpunkte in Thüringen, Franken und in den oberdeutschen Städten), haben sich seine Anhänger nicht zu einer eigenen Gemeinschaft formieren können. Karlstadt blieb ein Geächteter, der erst sehr viel später neu entdeckt werden sollte (V. Weigel, Arnold u. a.). Der schlesische Adlige Kaspar Schwenckfeld von Ossig war schon 1519 mit den Gedanken Luthers in Berührung gekommen (»gnedige heimsuchung« bei der Lektüre von Lutherschriften). Als Hofrat Herzog Friedrichs II. von LiegnitzBrieg-Wohlau, des mächtigsten Fürsten Schlesiens, gewann er seinen Landesherrn bald für die Reformation (eingeführt 1524), die er in erster Linie als ein ethisches Programm begriff (Erschrecken über die Missstände in den durch die Wittenberger Reformation erfassten Gemeinden). In der Folgezeit entwickelte Schwenckfeld dann gemeinsam mit seinem humanistischen Freund Valentin Krautwald eine Deutung des Abendmahls, die in diesem lediglich den Hinweis auf eine geistliche Speise sah (Joh 6,54–57 [»Brotrede«] als hermeneutischer Schlüssel zu Lk 22,19). Ein Besuch Schwenckfelds in Wittenberg Ende 1525 (Gespräche mit Luther, Bugenhagen und J. Jonas) verlief zwar noch ohne Eklat, ließ die Differenzen aber schon deutlich werden (Warnungen Luthers vor einer neuen Häresie). 1526 kam es zu einem Streit Schwenckfelds und seiner Anhänger, der »Liegnitzer Bruderschaft«, mit den Breslauer Lutheranern (»Stillstand« der Abendmahlsfeiern bis zur Lösung der Sakramentsfrage). Luther selbst war sich nun sicher, dass Schwenck feld neben Karlstadt, Zwingli und Oekolampad zu den Häuptern der »sacramentaria secta« zähle (WAB 4; 42). Dass hier Allianzen bestanden, belegte für ihn nicht zuletzt der Umstand, dass sowohl Oekolampad in Basel als auch Zwingli in Zürich später Schriften Schwenckfelds drucken ließen (1527/28). Als auch König Ferdinand I., seit 1528 Oberlehnsherr Schlesiens, auf Schwenck felds Entfernung drängte, zog sich dieser 1529 nach Straßburg zurück, wo er zunächst bei Wolfgang Capito und dann bei Matthäus Zell wohnte (Teilnahme am gemeindlichen Leben, »Wortstreit« mit dem nach Marburg reisenden Zwingli [1529], Kontakte zu führenden Täufern und Spiritualisten sowie dem Antitrinitarier Michael Servet). Auch der Umgang mit Martin Bucer war zunächst freundlich, führte dann aber im Juni 1533 zu einem Streit über die Taufe, das Abendmahl und das Amt der Obrigkeit, der Schwenckfeld nach Augsburg vertrieb (1535 Tübinger Gespräch mit Ambrosius Blarer, Martin Frecht und Bucer, Kontakte zu Sebastian Franck, Angriffe auf die Wittenberger Konkordie 1536). In Ulm, wo man ihm seit 1537 Duldung gewährte, stieß Schwenckfeld auf den Widerstand Frechts, eines Zeugen der Heidelberger Disputation Luthers von 1518, der
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seine Christologie (Lehre vom himmlischen Fleisch, Leugnung der Geschöpflichkeit des verherrlichten Christus) attackierte. Auch das Verhältnis zu den Schweizern war nunmehr weithin zerrüttet. Nachdem ihn die lutherischen Theologen 1540 erstmals verworfen hatten (Konvent von Schmalkalden; vgl. im Vorfeld aber auch schon Luthers Disputation De divinitate et humanitate Christi, 1540: WA 39,2; 92–121), folgten dann noch zahlreiche weitere Verurteilungen seiner Lehre. Diese wurde dabei nun zumeist der Lehre der Täufer gleichgestellt (vgl. später auch noch FC SD XII: BSELK 1596–1607). Das nötigte Schwenckfeld zu einem Wirken im Verborgenen. Bis 1561 lebte er auf verschiedenen süddeutschen Adelssitzen oder in den Häusern wohlhabender Anhänger, genoss dabei aber auch den Schutz Landgraf Philipps von Hessen, mit dem er schon seit 1535 regelmäßig Briefe wechselte. Die Anhänger Schwenckfelds haben sich danach zwar vielerorts behaupten können (Niederschlesien, Südwestdeutschland u. a.), sie haben dessen Denken aber zumeist nur noch gebrochen tradiert. Zwar hat Luther den aus Donauwörth stammenden Sebastian Franck wohl nie persönlich kennengelernt. Möglicherweise war dieser als Studienkollege Bucers und Frechts aber Zeuge seiner Heidelberger Disputation von 1518 gewesen. Jedenfalls hatte Luthers mutige Kirchenkritik zumindest anfangs großen Eindruck auf ihn gemacht. Franck, der bis 1524 Priester der Diözese Augsburg gewesen war, hatte von 1525 bis 1529 als evangelischer Prediger im Nürnberger Landgebiet gewirkt (Kontakte zu Hans Denck) und später als freier Schriftsteller und Buchdrucker u. a. in Straßburg, Esslingen, Ulm und Basel gelebt. Nachdem er zunächst große Hoffnungen auf die Reformation gesetzt hatte, sah er sich in diesen zunehmend getäuscht (Ausbleiben einer echten Erneuerung der Kirche). Dies führte bei ihm schließlich zur Ablehnung aller empirischen Kirchentümer. Sie ging einher mit einem konsequenten Pantheismus (Gott existiert nur als an den Menschen gebundener Geist) und einer pessimistischen Geschichtsschau (Anwachsen der Kräfte des sich anpassenden Bösen im fortwährenden Kampf zwischen Geist und Buchstaben/Geist-Mensch und Fleisch-Mensch). Hatte es früher eine wahre Kirche gegeben, so gab es für Franck inzwischen nur noch Ketzer und Sekten, die sich entweder an geistlose Dogmen (so die römische Kirche) oder aber an die zum »papierenen Papst« erhobene Bibel (so die Anhänger der Reformation) klammerten. Dem setzte Franck seine Religion des Geistes entgegen (Auflösung jeder Bindung an Bibel und Dogma, Befreiung des menschlichen Erkenntnisvermögens im Blick auf Natur und Geschichte [»Geschichtsbibel«], umfassende Toleranz etc.). Die lutherischen Theologen haben Franck schon 1540 offiziell verurteilt (Konvent von Schmalkalden) und dabei weithin mit Schwenckfeld gleichgesetzt. Einen direkten Schülerkreis hat Franck zwar nicht hinterlassen, über seine Schriften aber doch breit nachgewirkt (Séguenny). Zumindest erwähnt werden muss an dieser Stelle auch Luthers (letztlich unterbliebener) Konflikt mit dem Theologen und Mathematiker Michael Stifel. Der
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Esslinger Augustinermönch Stifel hatte 1522 eine apokalyptisch-heilsgeschichtliche Deutung des Auftretens Luthers publiziert und hierdurch eine heftige literarische Kontroverse mit Thomas Murner ausgelöst (Flucht zu Hartmut von Kronberg, später zu Luther). 1523 wurde Stifel Hofprediger des Grafen Albrecht VII. von Mansfeld. Es folgten Pfarrämter in Tollet (Tirol) und Lochau (1525 bzw. 1528). Hier errechnete Stifel die Wiederkunft Christi für den 19. Oktober 1533, acht Uhr morgens, was zu erheblichen Unruhen in seiner Gemeinde und schließlich zu Stifels Arrestierung führte. Luther hat ihn aber nicht fallengelassen, sondern 1534 als Pfarrer nach Holzdorf vermittelt. Stifel publizierte wichtige mathematische Werke und begab sich 1547 zu Herzog Albrecht von BrandenburgAnsbach nach Preußen, wo er sich zu einem Anhänger des Matthias Flacius entwickelte. Er starb in Jena. Auch wenn die frühen Spiritualisten vielfältige Beziehungen zu den Täufern unterhielten, man vielleicht sogar von einem »spiritualistischen Flügel der Täuferbewegung« (McLaughlin 2000, 704) sprechen kann – zu denken wäre dabei z. B. an Gestalten wie Denck, Hans Hut, Johannes Bünderlin, Christian Entfelder, David Joris oder Obbe Philips –, handelte es sich dabei doch zumeist um »eine Art feindlicher Bruderschaft« (Stayer). 4.3. Täufer
Als »Täufer« bezeichnet man heute jene »Gruppen der Reformation […], die mit der Kindertaufe brachen und statt dessen die Taufe auf ein persönliches Bekenntnis des Glaubens als Voraussetzung für die Zugehörigkeit zur christlichen Gemeinde forderten« (J. M. Stayer). Der Begriff ist weder eine Selbstbezeichnung (»Brüder in Christo«) noch eine Fremdbezeichnung der Zeit (»Wiedertäufer«), sondern eine um Neutralität bemühte Neuprägung (die aber von mennonitischtäuferischer Seite heute weithin für unzureichend gehalten wird [wichtigstes Kennzeichen der Täufer ist demnach nicht die Bekenntnistaufe, sondern die Kirchenzucht]). Was die meisten Täufer verband, war ihr Drängen auf unbedingte Christusnachfolge. Die Lehre trat demgegenüber schon früh zurück (Ende der 1520er Jahre starben fast alle Täuferführer der ersten Generation, die oft zuvor noch Kleriker gewesen waren; später berief man sich meist nur noch auf die Zehn Gebote, das Vaterunser und das Apostolikum). Dennoch waren die Gemeinsamkeiten mit den übrigen Gruppierungen der Reformation unübersehbar (ausgeprägter Antiklerikalismus, keine priesterlich verwalteten Gnadenmittel, keine Anhäufung »guter Werke« zur Tilgung von Fegefeuerstrafen). Ziel allen Bemühens war die Besserung des Lebens (konsequente Heiligung), die von der Predigt des unverfälschten biblischen Wortes erhofft wurde. Auch außerhalb ihrer eigenen Kreise hat die Lebensführung vieler Täufer Eindruck hinterlassen. Von spiritualistischer Seite wurde ihnen aber häufig vorgeworfen, die Bibel zu einem »papierenen Papst« zu machen (toter Buchstabenglaube) und ohne besonderen Auftrag
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Gottes frühchristliche Zeremonien wiederherstellen zu wollen (Franck). Für die Täufer galt das Festhalten an den äußeren Gebräuchen der Kirche aber weithin als unverzichtbar, wenn man sich nicht der Gefahr der Täuschung aussetzen wollte. Anfang der 1530er Jahre zogen sich viele zeitweise im Täufertum heimisch gewordene Spiritualisten wieder aus diesem zurück, was jedoch auch eine Folge des Speyrer Täufermandats von 1529 war. Luther begegnete der Ablehnung der Kindertaufe erstmals Anfang 1522 im Rahmen der Wittenberger Unruhen (Zwickauer Propheten). Auch Müntzer und Karlstadt kritisierten sie (und setzten sie im Falle Karlstadts dann auch aus), erhoben aber noch nicht die Forderung einer alleinigen Bekenntnistaufe Erwachsener. Dennoch nahm Luther diese Kritik so ernst, dass er ihr in seiner 1524/25 verfassten Fastenpostille entgegentrat (WA 17,2; 78–88). Er rückte beide Gegner nun ganz in die Nähe der Zürcher Reformation (Karlstadt als erster »Sakramentierer«) und damit zugleich ins Umfeld des entstehenden oberdeutsch-schweizerischen Täufertums. Auch im Kreis jener radikalen, mit den Erfolgen der Reformation unzufriedenen Anhänger Zwinglis in Zürich, aus dem dann im Herbst 1524 die erste Gruppe der Täufer entstand, hat man in Müntzer und Karlstadt zunächst Verbündete gesehen (briefliche Kontaktaufnahme zu Müntzer, KlProt 4, 12–27). Man glaubte, dass auch sie die in der Apostelgeschichte beschriebene Urkirche erneuern wollten. Dass man sich dabei theologisch durchaus unterschied – die sächsischen Radikalen standen in der Tradition des mystischen Spiritualismus (Tauler, Theologia Deutsch, Vorbild des Alten Testaments), Zwinglis Zürcher Gegner und frühere Schüler dagegen eher in der eines milden Spiritualismus im Gefolge des Erasmus von Rotterdam (Orientierung am Neuen Testament) –, wurde erst nach und nach ersichtlich. Mit dem schweizerisch-oberdeutschen Täufertum musste sich Luther seit dem Sommer 1524 zunächst kaum befassen. Dies änderte sich 1527, als er Näheres über Balthasar Hubmaiers Wirken in Nikolsburg/Mähren erfuhr (WAB 4; 177), ein Exemplar der von Ludwig Hätzer und Denck geschaffenen deutschen Übersetzung der biblischen Prophetenbücher (»Wormser Propheten«) erhielt (WAB 4; 197) und sich zugleich mit einer verstärkten Ausbreitung des Täufertums in Thüringen, Franken, Ostschwaben, Schlesien und Bayern konfrontiert sah. Dabei ging Luther rasch auf, dass unter diesen Täufern auch Vorstellungen Müntzers fortwirkten (Vernichtung der Gottlosen und Herrschaft der Frommen), die diesen vor allem durch Denck, Hut, Rinck u. a. vermittelt worden waren. Wie bedrohlich dies war, wurde besonders in Augsburg ersichtlich (Urbanus Rhegius, Wider den neuen Tauforden, 1527). Im Februar 1528 verfasste Luther dann seine Schrift Von der Wiedertaufe an zwei Pfarrherrn (WA 26; 137–174), mit der er die Führer der Täufer herausfordern wollte. Zwar wusste er bislang nur wenig Präzises über die täuferische Theologie. Anders als die kaiserliche Rechtssprechung lehnte er es aber ab, die Täufer mit dem Tod zu bestrafen, sofern sich diese nicht des Aufruhrs schuldig machten.
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Nach Luther hatten die Täufer die Kindertaufe zwar vielerorts in ein schlechtes Licht gerückt, ihre Meinung aber bislang nicht überzeugend bewiesen. Indem sie den Glauben zur Voraussetzung der Taufe machten, lästerten sie zugleich deren göttliche Einsetzung, was nicht hingenommen werden durfte. Luther hat diese Gedanken bald auch in Predigtform vorgetragen (WA 27; 32–38. 41–45. 49–53. 55–60). Inzwischen breitete sich das Täufertum gerade in Oberdeutschland zunehmend aus, womit die Frage, wie mit den verhafteten Täufern zu verfahren war, zu einem dringenden Problem wurde. Ähnlich wie Johannes Brenz in Schwäbisch Hall sprach sich auch Luther zunächst gegen die Anwendung der Todesstrafe aus, so im Juli 1528 gegenüber Wenzeslaus Linck im Blick auf in Nürnberg inhaftierte Täufer (WAB 4; 498 f) und im April 1529 gegenüber Herzog Johann Friedrich von Sachsen im Falle des in Zwickau ergriffenen, aus Oberösterreich stammenden Hans Sturm, den er selbst zu verhören hatte (WAB 5; 42–44). Damit ergab sich hier ein Gegensatz zum Täufermandat des Speyrer Reichstages von 1529, das seine Annahme aber nicht zuletzt auch der durch die Habsburger geschürten Angst vor einem neuerlichen Aufstand des »Gemeinen Mannes« verdankte. Waren die Täufer notorische Aufrührer oder beriefen sie sich gar, wie im Januar 1530 im thüringischen Reinhardsbrunn geschehen, auf das Vorbild Müntzers, war es aber auch in Luthers Augen legitim, sie mit dem Tode zu bestrafen (WA 30,2; 209–214). Ähnlich und damit deutlich schroffer als bei seinen früheren Äußerungen votierte Luther etwa zeitgleich auch in seiner Auslegung des 82. Psalms (WA 31,1; 183 f. 207–213. Brecht 1985). 1531 stimmte er dann schließlich sogar der vor allem von Melanchthon geforderten Todesstrafe für Täuferführer zu: »Placet mihi Martino Luthero. Wiewohl es crudele anzusehen, daß man sie mit dem Schwert straft, so ist doch crudelius, daß sie ministerium verbi damniren und keine gewisse Lehre treiben und rechte Lehr unterdrücken und dazu regna mundi zerstören wollen« (WAB 6; 223). Das niederländisch-norddeutsche Täufertum ging vor allem auf Melchior Hoffman zurück. Luther hatte ihn schon 1525 kennengelernt und zunächst keinerlei Misstrauen gegen ihn gehegt. Hoffman, ein aus Schwäbisch Hall stammender Kürschner, hatte seit 1523 als Laienprediger in Livland gewirkt. Er war durch die Passionsmystik Karlstadts geprägt, hatte diese aber schon früh in einen eigentümlichen apokalyptischen Rahmen eingerückt (die Gegenwart als Zeit der Leiden und spirituellen Prüfungen, Eintreten des Jüngsten Tages im Jahre 1533). Nachdem der Dorpater Rat Anfang 1525 die Reformation eingeführt hatte, verlangte er, dass Hoffman ein Zeugnis seiner Rechtgläubigkeit beibringen solle. Der reiste daraufhin nach Wittenberg, wo ihm Luther und Bugenhagen, ohne die Problematik seiner laienhaften Schrift auslegung zu erkennen, die gewünschte Bescheinigung ausstellten (Sendschreiben an die Christen in Livland, 1525: WA 18; 412–430). Nachdem Hoffman nach Dorpat zurückgekehrt war, kam es dann aber rasch zu einem Streit mit der Stadt obrigkeit. Der selbstbewusste Laienprediger, der sich inzwischen als Prophet ge-
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bärdete, wurde ausgewiesen (1526) und ging über Stockholm nach Kiel, wo er die Protektion des dänischen Königs genoss (Diakon an der Nikolaikirche). Auch in Kiel, wo Hoffman eine Druckerei gründete, erregte seine apokalyptische Predigt aber bald Anstoß (Kritik am Umgang des Rates mit dem säkularisierten Kirchengut). Versuche Hoffmans, sich zu rechtfertigen, zunächst gegenüber Nikolaus von Amsdorf in Magdeburg (dieser beschimpfte Hoffman als »Falschen Propheten«), dann gegenüber Luther und Bugenhagen in Wittenberg, schlugen fehl und vertieften den Dissens. Fortan warnte Luther bei jeder Gelegenheit vor Hoffman, der sich seit 1528 auch als Vertreter einer spiritualistischen Abendmahlslehre erwies. Dies führte zur Flensburger Disputation (April 1529) und zur Verbannung Hoffmans aus Schleswig-Holstein. In Straßburg, wohin er sich nach einer gemeinsam mit Karlstadt unternommenen Reise durch Ostfriesland gewandt hatte, wechselte Hoffman dann vollends ins Lager der Nonkonformisten. Er lernte das Dencksche Täufertum und den Kreis um das Ehepaar Lienhard und Ursula Jost kennen und revidierte unter diesen Einflüssen nun auch das eigene Konzept (gedoppelte Rechtfertigung [zunächst: Tilgung der Folgen der Erbsünde durch das gnadenhaft zugeeignete Verdienst Christi, dann: zur Seligkeit führender Kampf gegen die Anfechtungen durch vom heiligen Geist ermöglichte gute Werke], Lehre vom »himmlischen Fleisch Christi« [vgl. dazu Schwenckfeld], Erwachsenentaufe und Chiliasmus: Ausrottung der Gottlosen und ihrer »Pfaffen« [d. h. der lutherischen und zwinglischen Prediger], Errichtung einer die Wiederkunft Christi vorbereitenden Theokratie durch das Straßburger Stadtregiment). Schon 1530 zwang ihn aber ein Streit mit den reformatorischen Predigern zur Flucht aus Straßburg. Hoffman begab sich nun nach Ostfriesland, wo er zwischen 1530 und 1533 mit großem Erfolg für seine Gedanken warb (Ausbreitung des Täufertums in den Niederlanden). Im Frühjahr 1533 kehrte er nach Straßburg zurück, wo er die Wiederkunft Christi erwartete, wurde aber schon im Juni als Häretiker verurteilt. Bis zu seinem Tod 1543 hat er den Kerker wahrscheinlich nicht mehr verlassen. Auch nach 1531 (s. o.) hat Luther die Ausbreitung des Täufertums argwöhnisch beobachtet. Dass dabei oft auch schwere soziale Spannungen im Hintergrund standen, war ihm allerdings kaum bewusst. Ende 1532 warnte er den Rat der Stadt Münster in Westfalen und den dort predigenden Bernhard Rothmann davor, zum Zwinglianismus oder zum Täufertum abzufallen. Wie das Beispiel Müntzers, Hätzers, Huts, Hubmaiers und auch Zwinglis selbst zeige, habe dies nämlich zwangsläufig schreckliche Folgen (WAB 6; 398–403) (k B. III. 7.). Tatsächlich hatte Rothmann damals längst eigene, humanistisch inspirierte Wege eingeschlagen (vgl. Peters 2017). Rothmann war 1529 Kaplan an St. Mauritz in Münster geworden und hier mit reformatorischen Predigten hervorgetreten. Im April 1531 war er dann nach Wittenberg gezogen, wo er Luther verfehlte, aber mit Melanchthon sprach, und später über Marburg nach Straßburg gereist, wo er bei Capito wohnte und nunmehr unter oberdeutsch-schweizerischen Einfluss geriet. Rothmann übte zusehends
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scharfe Kritik am römischen Kultus (Heilige, Messe, Fegefeuer; Streit mit Bischof Friedrich von Wied). Er gewann die Unterstützung des Rats und konnte sich auf einer Klerikersynode behaupten (vgl. Peters 2017). Die Einführung der Reformation in Münster erfolgte im August 1532. Rothmann entwarf eine Kirchenordnung nach Basler bzw. Ulmer Vorbild (Brecht 1985), deutete das Abendmahl fortan konsequent als Gedächtnismahl, geriet im Sommer 1533 aber zusehends unter den Einfluss der Wassenberger Prädikanten (Gegner der Säuglingstaufe). Er öffnete sich der Theologie Hoffmans und ließ sich am 5. Januar 1534 durch Boten des Jan Matthys taufen. Zu Beginn der Belagerung Münsters formulierte Rothmann das täuferische Grundbekenntnis, trat dann aber rasch hinter die Charismatiker Matthys und Jan van Leiden zurück. Im Sommer 1534 lieferte er die theologische Begründung für die Polygynie und das Königtum van Leidens. Als dessen »Worthalter« legitimierte er nun den dramatischen Umbau des Täuferreichs von der leidenden Gemeinde Christi über eine monarchische Theokratie zur Diktatur des »Neuen David«. Bei der blutigen Erstürmung Münsters im Juni 1535 ist er dann wohl zu Tode gekommen. Luther hat den Vorgängen in Münster wenig Beachtung geschenkt. Rothmanns monophysitische Christologie (Bestreitung der wahren Menschheit Christi) galt ihm als irrig (WAB 7; 86 f). Präzisere Informationen über die Situation in Mün ster erhielt er später aus Soest. Die theologische Auseinandersetzung mit den münsterischen Täufern lag auch auf humanistischen Schultern (Melanchthon, Rhegius u. a.). Luther, dem Johannes Cochlaeus schon bald eine Mitschuld an den täuferischen Exzessen zusprach, meldete sich lediglich in Form von Vorreden zu Wort (WA 38; 336–340. 341–350). Dabei bestritt er nicht, dass die »Rottengeister« von ihm herkamen, begriff dies aber keineswegs als einen Skandal. Auch in der Vergangenheit seien die Ketzer ja stets in der Kirche selbst aufgestanden. Ansonsten habe man es in Münster nur mit einem dilettantischen Teufel (einem »Abc Teuffel oder schul Teuffelin«, WA 38; 348,6) zu tun, dessen Aufruhrtreiberei so offensichtlich sei, dass man nicht darüber schreiben müsse. Inhaltlich konzentrierte er sich daher auch ganz darauf, Rothmanns Christologie und Tauf lehre zu widerlegen. Insgesamt hat das münsterische Drama sichtlich dazu beigetragen, Luthers Haltung den Täufern gegenüber zu verschärfen. Dies zeigt sich sowohl in seinen Predigten (vgl. WA 41; 448. 459. 570. 621) als auch in seiner Korrespondenz mit Einzelpersonen (WAB 7; 111 f. WAB 12; 218–224. 236–241) und städtischen Räten (WAB 7; 84 f). Umso wichtiger war es, die Gemeinden über das Wesen der Taufe zu unterrichten, in deren Verständnis man sich mit den Altgläubigen weithin einig war (WA 37; 627–672, v. a. 627). Als die Wittenberger Theologen 1536 durch Landgraf Philipp von Hessen gefragt wurden, wie man mit rückfälligen Täufern verfahren solle (WAB 7; 416– 418), votierten diese streng (WA 50; 6–15): Die Täufer waren Aufrührer und sollten, sofern es sich bei ihnen nicht um Mitläufer handelte, hingerichtet werden. Immerhin machte Luther aber durch einen Nachsatz deutlich, dass man im Einzelfall auch Gnade walten lassen konnte: »Dis ist die gemeine Regel, doch mag
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unser gn. herr, allezeit, gnade neben der straffe gehen lassen, nach gelegenheit der zufelle« (WA 50; 15). Nach 1537 hat sich Luther kaum noch mit den Täufern befasst. Sie galten ihm nunmehr als Sektierer, vor denen man die Gemeinde warnen musste (WA 50; 344–347). Anders als Bucer, den Landgraf Philipp 1538 nicht zuletzt zu diesem Zweck nach Hessen geholt hatte, hatte Luther wenig Hoffnung, die Täufer für die eigene Kirche zurückgewinnen zu können. Sie blieben für ihn »des teuffels samen« und mussten deshalb (wie bislang in Hessen üblich) ausgewiesen werden (WAB 8; 320–325). Dies blieb dann auch fortan seine Generallinie: Aufrührerische Täufer waren hinzurichten, alle übrigen auszuweisen. Noch 1544 stellte Luther die Täufer an die Seite der »Schwärmer« und »Sakramentierer«: »Und ist die warheit, das Widerteuffer und Schwermergeist ein Geist ist« (WA 54; 118,6). 4.4. Antitrinitarier
Auch mit dem entstehenden Antitrinitarismus, d. h. der Behauptung der absoluten Einheit der göttlichen Person, war Luther, für den das trinitarische Dogma »der höchst artickell ym glauben« war (WA 7; 214,27 f), spätestens 1530 in Berührung gekommen. Er begegnete ihm insbesondere in Gestalt des Johannes Campanus aus Maaseyeck/Limburg. Campanus, der sich nach einem Studium in Köln schon Mitte der 1520er Jahre der reformatorischen Bewegung angeschlossen hatte (Verteidigung Luthers gegen die Angriffe des münsterischen Humanisten Timann Kemener), war spätestens 1528 nach Wittenberg gekommen (Besuch bei Georg Witzel in Niemegk). Er hatte sich aber bald mit den dortigen Theologen überworfen, weil diese ihn nicht zum Marburger Religionsgespräch (1529) zulassen wollten. Anfang 1530 bestritt Campanus erstmals die Göttlichkeit des heiligen Geistes, was Melanchthon entsetzte (vgl. CA 1). In Wittenberg warnte man fortan nachdrücklich vor ihm, wobei es aber bald auch zu Verwechslungen mit anderen Personen, wie z. B. dem Soester Prediger Johann Wulff von Kampen kam. Inzwischen war Campanus verbittert nach Jülich zurückgekehrt, wo bald ein nicht vollstreckbarer Haftbefehl gegen ihn erging. 1532 erschien seine Schrift Göttlicher und Hl. Schrift […] Restitution und Besserung. Sie lehrte einen eigentümlichen Ditheismus (mit Subordination Christi unter Gott Vater) und forderte zur Erneuerung des apostolischen Glaubens auf, was auch Rothmann beeinflusste. Trotz seiner Versuche, sich der katholischen Kirche (Johannes Gropper, Erzbischof Hermann von Wied) und anderen (Spiritualisten, Täufern etc.) anzunähern, blieb Campanus isoliert. Er wurde vor 1555 verhaftet und starb wahrscheinlich wie Hoffman im Kerker. 4.5. Antinomer
Der Begriff »Antinomer« (von griech. »anti«/»nomos«) ist eine Neubildung Luthers. Er begegnet erstmals 1537 als Bezeichnung für Johann Agricola, der die
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Buße allein aus dem Evangelium herleiten wollte. Demgegenüber sind die ab strakten Bildungen »Antinomistae« und »Antinomia« deutlich später entstanden (wohl 1568 bzw. 1558). Damit einher ging eine deutliche Pauschalisierung (»Antinomia« als Gesetzesfreiheit im Sinne der Beliebigkeit; so noch 1577 die FC SD V [BSELK 1436 f]). Der aus Eisleben stammende Agricola hatte in Leipzig (1509) und Wittenberg (1515) studiert und zählte seit 1516 zu den engsten Freunden Luthers (Protokollant bei der Leipziger Disputation 1519, Zeuge der Verbrennung der Bannandrohungsbulle 1520). Später hatte er sich der Medizin zugewandt (1521–1523), hielt aber auch Vorlesungen (zunächst in der artistischen, dann in der theologischen Fakultät) und erwarb sich Verdienste in der Unterrichtung der Wittenberger Pfarrjugend. Von 1525 bis 1536 war Agricola Leiter der Eislebener Lateinschule und Prediger an St. Nicolai. Daneben wurde er aber auch als Reichstagsprediger des kurfürstlich-sächsischen Hofes eingesetzt (1526, 1529 f). Hatte Agricola schon in seiner Eislebener Zeit Kritik an Melanchthons Lehre vom Gesetz geübt (Vorordnung der Bußpredigt vor die Predigt des Glaubens in den Visitationsartikel[n] 1527; Wengert 2000; seit 1533 Auseinandersetzung mit Witzel), so führte dies, nachdem er 1536 überraschend nach Wittenberg zurückgekehrt war, bald auch zu einem heftigen Streit mit Luther (Antinomistischer Streit 1537 ff; ausgelöst durch Agricolas Drei Sermone von 1537 sowie dessen – von Luther unterdrückte – Evangeliensummarien). 1540 entzog sich Agricola seiner inzwischen prekären Situation dann durch einen fluchtartigen Weggang nach Berlin, wo er in den Dienst des kurbrandenburgischen Hofes trat. Zwar hat er hier später nicht zuletzt wegen seiner glücklosen Mitarbeit am Augsburger Interim (1548) manche Kritik auf sich gezogen. Agricolas Verdienste um das kurbrandenburgische Luthertum sind aber doch unübersehbar (z. B. Anbahnung der Kontakte zum lutherischen Konkordienwerk). In der Gestalt Agricolas wurden die Wittenberger einmal mehr (Karlstadt, Müntzer) mit einem Gegner konfrontiert, der sich für seine Kritik auf Aussagen des jungen Luther berief (Koch 1984). Dazu kam das ungewöhnlich enge, bis in familiäre Bindungen hineinreichende Freundschaftsverhältnis, in dem man bislang zueinander gestanden hatte (Wengert 2000). Namentlich Luther hat dann auch manche Träne um den früheren Freund vergossen (Belege in den Tischreden, hier aber auch Spott: »Grickel«). Agricolas großes Thema war die angemessene Zuordnung von Gesetz und Evangelium. Dabei ging es ihm vor allem darum, »den Menschen mit dem anklagenden Gesetz nicht allein zu lassen, die Frage des Übergangs von der Bußzerknirschung zur Annahme des Evangeliums als der frohen Botschaft scharf zu pointieren und Bußgesinnung schon als Wirkung des Evangeliums anzusehen« (Rogge 1978, 114). Hierzu stützte er sich auf Aussagen des jungen Luther, vor allem aus der Zeit der Römerbriefvorlesung (1515/16), der Auslegung der sieben Bußpsalmen (1517) und der Operationes in psalmos (1519–1521), die ihm einst den Weg zu seiner eigenen »Theologie der geistlichen Erfahrung« (Koch 1984,
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145) gewiesen hatten, die er nun aber gegen den älteren Luther und ganz besonders gegen Melanchthon verteidigen zu müssen glaubte. Luther hat Agricolas Anliegen nicht nachvollziehen können (»Qui tollit legem, et euangelium tollit«: WAT 3; 483,30 f) und die in seinen Augen fatalen Konsequenzen von dessen Lehren schon bald drastisch herausgestrichen: »Ob du schon nicht die Gebot heltest, Gott und den Nehesten liebest, ja, ob du gleich ein Ebrecher bist, das schadet nicht, so du allein glewbst, so wirstu selig« (WA 45; 146,40– 147,11). In sechs Thesenreihen und etlichen Disputationen versuchte er, den »Antinomer« Agricola ein für allemal zu widerlegen. Bald war ihr Verhältnis gänzlich zerrüttet (WA 50; 461–477. WA 51; 425–444). Zwar stand Agricola mit seinem Antinomismus keineswegs allein (vgl. z. B. Jakob Schenck in Freiberg/Sachsen oder Caspar Aquila in Saalfeld). Durch seine umfänglichen Voten wurde er aber zum wichtigsten Exponenten dieser Unterströmung der Wittenberger Reformation. Abseits ihres besonderen Konflikts hat sich Agricola allerdings lebenslang als einen treuen Schüler Luthers begriffen: »Agnosco enim vos [sc. Lutherum] meum patrem, qui mihi corpore et animo profuit semper« (Ich erkenne euch [sc. Luther] als meinen Vater an, der mir an Leib und Seele immer geholfen hat) (Die Propheten alle Deudsch, 1539, Bl. 63 v. zu Jer 37,18), der mit dessen Gegnern nichts gemein haben wollte. Dies zeigte sich sowohl in Agricolas späteren Urteilen über die Wittenberger Unruhen (1521/22) als auch in seiner Einschätzung Müntzers, dessen Auslegung des 19. Psalms er 1525 in Wittenberg neu herausgegeben hatte: »Summa disser teuffel setzt sich an Gottes stadt« (aaO 19). Seinem theologischen Verhältnis zu Karlstadt und Müntzer, dem er 1520 Luthers Operationes in psalmos zuschicken wollte (Franz 1968, 362), ist man allerdings bislang kaum nachgegangen. Auffällig ist jedenfalls die parallele Taulerrezeption (Koch 1984). Eine erkennbare Nachwirkung hat Agricolas Versuch, das Gesetz aus dem Heilsprozeß zu tilgen, nicht gehabt. Ursächlich hierfür dürften nicht nur Luthers harte Urteile über ihn (Bezeichnung als »Satan« [WAB 9; 286], Vergleiche mit Eutyches und Nestorius [WA 50; 599 f], Parallelisierung mit Müntzer und den Bauern, Karlstadt, den Täufern und den Antitrinitariern), sondern auch Agricolas spätere, ihn zwangsläufig isolierende Mitarbeit am Augsburger Interim gewesen sein. In den späteren Auseinandersetzungen um den »tertius usus legis« (seit 1556; Andreas Poach, Anton Otho, Andreas Musculus) spielten seine Voten keine erkennbare Rolle mehr. Der Vorwurf des »Antinomismus« konnte nunmehr jede Partei treffen. Schwärmer: Bainton, Roland H.: The Left Wing of the Reformation (JR 21, 1941, 124–134). Fast, Heinold (Hg.): Der linke Flügel der Reformation. Glaubenszeugnisse der Täufer, Spiritua listen, Schwärmer und Antitrinitarier (KlProt 4), 1962. Leppin, Volker: Art. Schwärmer (TRE 30, 1999, 628 f).
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Troeltsch, Ernst: Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen, 1912, Nachdruck 1994. Williams, George H.: The Radical Reformation (SCES 15), 1962, 31992. Spiritualisten: Aubel, Matthias: Michael Stifel. Ein Mathematiker im Zeitalter des Humanismus und der Reformation (Algorismus 72), 2008. Bubenheimer, Ulrich/Oehmig, Stefan (Hg.): Querdenker der Reformation. Andreas Bodenstein von Karlstadt und seine frühe Wirkung, 2001. Franck, Sebastian: Sämtliche Werke, hg. v. Hans-Gert Roloff, 14 Bde., 2005 ff. Hasse, Hans-Peter: Karlstadt und Tauler. Untersuchungen zur Kreuzestheologie (QFRG 58), 1993. Looss, Sigrid/Matthias, Markus (Hg.): Andreas Bodenstein von Karlstadt (1486–1541). Ein Theologe der frühen Reformation (Themata Leucoreana 4), 1998. McLaughlin, Robert E.: Art. Spiritualismus (TRE 31, 2000, 701–708). Müller, Nikolaus: Die Wittenberger Bewegung 1521 und 1522 […], 21911. Weigelt, Horst: Art. Schwenckfeld, Kaspar von/Schwenckfeldianer (TRE 30, 1999, 712–719). Zorzin, Alejandro: Karlstadt als Flugschriftenautor (GTA 48), 1990. Täufer: Brecht, Martin: Die Theologie Bernhard Rothmanns (JWKG 78, 1985, 49–82). Deppermann, Klaus: Melchior Hoffman. Soziale Unruhen und apokalyptische Visionen im Zeitalter der Reformation, 1979. Lutterbach, Hubertus: Der Weg in das Täuferreich von Münster. Ein Ringen um die heilige Stadt (Geschichte des Bistums Münster 3), 2006. Peters, Christian: Vom Humanismus zum Täuferreich. Der Weg des Bernhard Rothmann (Refo 500 Academic Studies), 2017. Seebass, Gottfried: Müntzers Erbe. Werk, Leben und Theologie des Hans Hut (QFRG 73), 2002. Antitrinitarier: MacCormick, Chalmers: The Restitution göttlicher Schrifft of John Campanus. An interpretation and the text, 1959. Antinomer: Koch, Ernst: Johann Agricola neben Martin Luther. Schülerschaft und theologische Eigenart (in: Hammer, Gerhard/Mühlen, Karl-Heinz zur [Hg.]: Lutheriana. Zum 500. Geburtstag Martin Luthers von den Mitarbeitern der Weimarer Ausgabe [AWA 5], 1984, 131–150). Rogge, Joachim: Art. Agricola, Johann (TRE 2, 1978, 110–118). Wengert, Timothy J.: Gesetz und Buße. Philipp Melanchthons erster Streit mit Johannes Agricola (in: Frank, Günter [Hg.]: Der Theologe Melanchthon [Melanchthon-Schriften der Stadt Bretten 5], 2000, 375–392). Christian Peters
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5. Luther und die Bauern Bauern und städtische Unterschichten wurden in der Reformationszeit unter den Sammelbegriff des »gemeinen Mannes« gefasst, womit derjenige Teil der Bevölkerung gemeint war, der keinen Anteil an Herrschaft und Verwaltung hatte und weder dem Adel noch der Geistlichkeit zuzurechnen war. Deren Mehrheit lebte als Bauern auf dem Land und von der Landwirtschaft in regional sehr unterschiedlicher Rechtsstellung. Die meisten Bauern schuldeten einem Grundherrn Abgaben und Dienste, die nach Höhe und Art stark variierten. Auch der Grad der persönlichen Abhängigkeit, die bis zur Leibeigenschaft (Beschränkung der Freizügigkeit, der Gattenwahl und der Vererbung) gesteigert sein konnte, war nicht überall gleich; freie Bauern waren im Reich die Ausnahme. Gemeinsam waren der Bauernschaft die fehlende Bildung und die prekäre wirtschaftliche Lage, die von der Höhe der feudalen Lasten ebenso abhing wie von den natürlichen Schwankungen der Ernteerträge. Einen Rückhalt der bäuerlichen Existenz bildete die Dorfgemeinde mit ihren genossenschaftlichen Elementen; Dorfgemeinde und Pfarrgemeinde waren oft deckungsgleich. Die lutherische Lehre vom allgemeinen Priestertum der Gläubigen bedeutete eine theologische Aufwertung und neue Hochschätzung des gemeinen Mannes, die in den Schriften der frühen Reformationsbewegung durch die Stilisierung des einfachen, aber frommen und rechtschaffenen Bauern zum Gegenbild des unmoralischen, ungebildeten und verweltlichten Geistlichen zum Ausdruck kam. Ähnlich respektvoll ist in Luthers frühen Schriften gelegentlich vom Bauern (rusticus, agricola) die Rede: Bauern und Kinder verstehen das Evangelium besser als Papst, Bischöfe und Doktoren (WA 7; 315,4–7. Vgl. 635,2–3. 684,32–685,2). Ein über solche Kontrastierungen hinausgehendes Interesse am Bauernstand selbst, etwa als potentiellem Träger der evangelischen Lehre, findet sich beim frühen Luther hingegen nicht. Sein Reformappell von 1520 richtete sich nicht an die Bauern, sondern an den christlichen Adel. Vereinzelte negative Äußerungen über die rohen und betrügerischen Bauern (WA 1; 502,27 f) lassen eine Ambivalenz in Luthers Bild des Bauern erkennen, das auch vor 1525 nicht nur von Hochschätzung geprägt war. Die frühe Reformation war kein ausschließlich städtisches Ereignis, sondern Luthers Lehre wurde auch in der Bauernschaft in spezifischer Weise rezipiert. Deutlich wird dies im Zusammenhang des Bauernkriegs von 1525. Im bäuerlichen Verständnis war das Evangelium die Richtschnur nicht nur für Fragen des ewigen Heils, sondern auch für die Beurteilung von Gegenwartskonflikten. Unter dem Schlagwort des »göttlichen Rechts« gingen bäuerliches Evangeliumsverständnis und politische, soziale und wirtschaftliche Forderungen eine Verbindung ein. In dem am weitesten verbreiteten Katalog, den aus Oberdeutschland stammenden Zwölf Artikel[n] (Franz 1968, 174–179), wurden die bäuerlichen Forderungen aus dem Evangelium abgeleitet und mit Schriftstellen belegt: Pfarrerwahl und -absetzung durch die Gemeinde, Predigt des reinen Evangeliums,
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Verfügungsgewalt über den Zehnten, Beseitigung der mit der Bibel unvereinbaren feudalen Belastungen und rechtlichen Beschränkungen (etwa der Leibeigenschaft). Mit der Lehre der Wittenberger Theologen glaubten sich die Bauern in Übereinstimmung; Luther und Melanchthon wurden gelegentlich als mögliche Schiedsrichter genannt. Luther äußerte sich während des Bauernkriegs mehrmals in Schriften, zuerst in der Ermahnung zum Frieden auf die zwölf Artikel der Bauernschaft in Schwaben (WA 18; 291–334) Ende April 1525. Dem Vorwurf, der Bauernkrieg sei die Frucht des Evangeliums und der lutherischen Lehre, hält Luther seine eigene Ursachenanalyse entgegen: Eine Mitschuld am Aufruhr tragen die Fürsten und Herren, die das Evangelium unterdrücken und den gemeinen Mann schinden. Gott selbst ist es, der die Herren durch die Bauern bestraft. Luthers eigentliches Interesse gilt aber nicht den Herren, sondern den Bauern. Die Frage der Berechtigung einzelner Forderungen tritt dabei zurück hinter die theologische Bewertung des Aufruhrs: Die Bauern üben verbotene Selbstjustiz und lehnen sich gegen ihre rechtmäßige Obrigkeit auf. Ein christliches Recht dürfen weder Bauern noch Herren beanspruchen. Nicht einen Moment erwägt Luther, den Aufruhr für die Reformation zu nutzen. Er rechnet die Bauern im Gegenteil zu seinen Gegnern, weil sie die christliche Freiheit für weltliche Zwecke missbrauchen und so dem Evangelium schaden. Sein Schlussappell richtet sich an Obrigkeiten und Bauernschaft zugleich, von der Gewalt abzulassen und zu einer Verhandlungslösung zu kommen. Unter dem Eindruck des Thüringer Aufstands und des Auftretens Thomas Müntzers (k B. III. 6.) verschärfte sich Luthers Sprache. Anfang Mai ergänzte er seine erste Bauernkriegsschrift durch einen Anhang Wider die stürmenden Bauern, der auch als eigenständiger Druck unter dem Titel Wider die räuberischen und mörderischen Rotten der Bauern (WA 18; 357–361) verbreitet wurde. Die inzwischen offen ausgebrochenen Kämpfe sind ihm Beleg für die Unaufrichtigkeit des Angebots in den Zwölf Artikeln, sich aus der Schrift belehren zu lassen. Die Bauern erheben sich gegen ihre rechtmäßigen Herren, rauben, plündern und versuchen, dies mit dem Evangelium zu rechtfertigen. In dieser Lage sind nicht nur die Obrigkeiten, sondern ist jeder einzelne aufgerufen, dem Aufruhr zu wehren. »Drumb sol hie zuschmeyssen, wurgen und stechen heymlich odder offentlich, wer da kan, und gedencken, das nicht gifftigers, schedlichers, teuffelischers seyn kan, denn eyn auffrurischer mensch, gleich als wenn man eynen tollen hund todschlahen mus, schlegstu nicht, so schlegt er dich und eyn gantz land mit dyr« (WA 18; 358,14–18). Das Argument, in Gottes Schöpfung seien alle Güter gemeinsam und in der Taufe alle Menschen gleich, lässt Luther nicht gelten. Das Evangelium fordert Gehorsam, und die Taufe macht nicht Leib und Gut, sondern die Seelen frei. Die Obrigkeiten sollen deshalb mit gutem Gewissen gegen die Bauern vorgehen. Wer im Kampf fällt, ist ein Märtyrer. In diesem Sinne kann Luther sagen, dass ein Fürst sich den Himmel mit Blutvergießen verdienen kann, während die Bauern (mitsamt ihren Mitläufern) der sicheren Verdammnis entgegengehen.
III. Beziehungen – 5. Luther und die Bauern
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In die Zeit unmittelbar nach dieser Schrift gehört, nach der Datierung Wallmanns, Luthers Edition des Weingartener Vertrags vom 22. April 1525 mit Vorrede und Schlussermahnung (Vertrag zwischen dem löblichen Bund zu Schwaben und den zwei Haufen der Bauern vom Bodensee und Allgäu: WA 18; 336–343). Hier werden die scharfen Urteile über das Unrecht der Bauern und ihren Verstoß gegen Gottes Ordnung wiederholt, doch gipfelt die Schrift in dem Appell, die Bauern sollten sich zu Frieden und Vertrag bereitfinden, auch wenn es mit leiblichem Schaden geschehen muss, damit wenigstens die Sünde und das Seelenverderben aufhören. Noch hatte Luther die Bauern nicht aufgegeben, sondern hoffte auf eine friedliche Lösung. Kurz nach der Katastrophe der Bauern in der Schlacht von Frankenhausen (15. Mai 1525) griff Luther noch einmal zur Feder, um Thomas Müntzer als falschen Propheten zu entlarven und die Bauern zu ermahnen, zu Frieden und Gehorsam zurückzukehren (Eine schreckliche Geschichte und ein Gericht Gottes über Thomas Münzer: WA 18; 367–374). Dies verbindet er mit einer doppelten Ermahnung an die Obrigkeiten: Den Sieg nicht zu missbrauchen und die Bauern, die sich ergeben haben, gnädig zu behandeln. Luthers Stellungnahmen, die alle unter dem »Verhängnis des ›zu spät‹« (Maron 1975, 66) standen, haben keinen Einfluss auf den Verlauf des Bauernkriegs gehabt. Insofern ist der Vorwurf unberechtigt, das Strafgericht der Fürsten über die Bauern sei eine Folge seiner Schriften gewesen. Dennoch hat die Härte, mit der Luther den Aufstand verurteilte, schon bei den Zeitgenossen Irritationen ausgelöst. Dabei stand Luther mit seiner Haltung unter den Wittenbergern nicht alleine, bestritt doch auch Melanchthon den Bauern in ähnlicher Schärfe das Recht, sich auf das Evangelium zu berufen (vgl. Franz 1968, 179–188). Der auch von seinen Anhängern gegen Luther vorgebrachte Vorwurf der Unbarmherzigkeit gegenüber den Bauern hat ihn noch einmal zu einer Schrift herausgefordert. Seinen Kritikern antwortete er im Sommer 1525 (Ein Sendbrief von dem harten Büchlein wider die Bauern: WA 18; 384–401) und begründete seine Haltung mit dem Verweis auf die zwei Reiche: Im weltlichen Reich regiert nicht die Barmherzigkeit, sondern das Schwert. Auch Strenge kann barmherzig sein, insofern sie die Unschuldigen vor Gewalt schützt. Von der Schärfe seines früheren Urteils über die Bauern nimmt er nichts zurück; sie haben eine harte Bestrafung verdient. Er stellt aber klar, dass es zwischen halsstarrigen Bauern und solchen, die sich ergeben haben, zu unterscheiden gilt und dass er den Obrigkeiten keinen Freibrief zum Missbrauch ihrer Macht ausgestellt hat. Verständnis für die Nöte der Bauern äußerte er aber auch jetzt nicht, sondern ließ die Gelegenheit verstreichen, ein deutliches Wort der Versöhnung zu sagen. Luthers Haltung im Bauernkrieg wirft auch heute noch die Frage auf, ob seine Parteinahme nicht zu einseitig zugunsten der Obrigkeiten ausgefallen ist. Von altgläubiger Seite ist schon 1525 der Vorwurf der Mitverantwortung Luthers für den Aufruhr laut geworden; angesichts der sich abzeichnenden Niederlage der Bauern habe er dann die Seite gewechselt. Demgegenüber wird heute anerkannt, dass die Reformation unter den Ursachen des Bauernkriegs zwar eine Rolle spiel-
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te, dass von einem Kurswechsel Luthers aber keine Rede sein kann. Seine Ablehnung der Argumentation der Bauern war stringent im Sinne seiner Obrigkeitslehre. Seine Mahnung an die Obrigkeiten, ihre Amtspflichten zu erfüllen, war verknüpft mit der Warnung, die Macht nicht zu missbrauchen. Die Spitzensätze seiner Schrift gegen die räuberischen Bauern, die zum Beleg seiner angeblichen Fürstendienerei nicht isoliert zitiert werden dürfen, erklären sich aus dem »apokalyptischen Grundgefühl« (Greschat 1965, 33), das Luthers Stellungnahmen im Bauernkrieg durchzieht. Da der Teufel durch die Bauern sein Werk treibt, musste Luther die verzagenden Obrigkeiten aufrütteln, ihr von Gott verliehenes Amt wahrzunehmen, das heißt die Unschuldigen zu schützen und die Übeltäter zu bestrafen. Die ausschließlich theologische Bewertung des Aufstands hat ihn dabei blind gemacht für die politischen und sozialen Realitäten, in denen die Bauern lebten. Warum er auch die berechtigten bäuerlichen Forderungen nicht unterstützte, bleibt als Anfrage an Luthers Haltung bestehen. Der Bauernkrieg war eine von Luthers eindrücklichsten Geschichtserfahrungen. Immer wieder zog er den Aufstand als Exempel heran, so für den Kampf Satans gegen das Wort Gottes (WA 25; 255,38–256,2), für die Lehre von den beiden Regimenten (WA 28; 250–252), für das rechte Verständnis der evangelischen Freiheit (WA 20; 409,19–21), für Überhebung im Glück und Verzagtheit im Unglück (WA 19; 372,30–373,13). Der Bauernkrieg war für Luther »ein nicht zu bewältigendes Geschehen, das immer neue Fragen aufwirft« (Dörries 1961, 113). Nach dem Ende des Aufstands äußerte er sich vor allem gegen die Fürsten, deren Gewissen er während des Kampfes gestärkt hatte. Jetzt stellte er fest, dass sie aus dem Aufruhr nichts gelernt hatten. Durch ihren Übermut, ihre Tyrannei und ihren Mutwillen gegen die Besiegten versündigen sie sich an den Menschen. An Gott versündigen sie sich, weil sie glauben, er habe ihnen den Sieg wegen ihrer Frömmigkeit gegeben. Für Luther heißt das, Gott nicht die Ehre geben, der durch die Fürsten den Ungehorsam der Bauern strafen wollte (WA 19; 373,20–374,3). Seit 1526 werden Luthers Äußerungen über die Bauern, für die er sich vor dem Bauernkrieg wenig interessiert hatte, zahlreicher. Vor allem die Tischreden und Predigten bieten umfangreiches Material, das von S. Bräuer erstmals systematisch ausgewertet wurde. Bräuer zufolge verbindet Luther mit der Figur des »Bauern« die Vorstellung des Schlichten, Geringen und Ungebildeten; sein Bild ist seit dem Bauernkrieg in der Tendenz eher negativ gefärbt. Innerhalb des herkömmlichen Modells der Dreiständelehre sind dem Bauern bei Luther ein fester Platz und bestimmte, von Gott gewollte Funktionen zugewiesen. Auch wenn er ausgesprochene Härten und Ungerechtigkeiten gegen die Bauern nicht gutgeheißen hat, hielt er Dienste und Fronen doch grundsätzlich für berechtigt. Als Elemente der Bauernkritik begegnen bei Luther immer wieder die Klage über den bäuerlichen Wucher, die mangelhafte Versorgung der Pfarrer und die Verachtung des Wortes Gottes, das heißt die defizitäre bäuerliche Frömmigkeit. Ist Luthers Bild des Bauern seit 1526 überwiegend von Illusionslosigkeit und Enttäuschung geprägt, ist umgekehrt die Frage, wie die Bauern auf Luthers Äuße-
III. Beziehungen – 6. Luther und Müntzer
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rungen während des Bauernkriegs reagierten, in den Quellen schwer zu fassen. Die verbreitete, nicht nur in der marxistischen Historiographie anzutreffende Sichtweise, wonach Luthers Popularität mit dem Bauernkrieg dahin gewesen sei und die Reformation als spontane Volksbewegung nach 1525 keine Fortsetzung mehr gefunden habe, sondern von der Fürstenreformation abgelöst worden sei, ist von F. Lau zu Recht kritisiert worden. Was Lau allerdings am Beispiel der norddeutschen Städte zeigen konnte, nämlich ein Fortbestehen einer Volksreformation über 1525 hinaus, ist für die Landbevölkerung ungleich schwieriger nachzuweisen. Die Bauern sind mit ihrer Niederlage als eigenständig handelnder politischer Faktor im Reich auf lange Zeit ausgeschieden und hatten nach 1525 keine Stimme mehr. Dass sie von Luther ähnlich enttäuscht waren wie er von ihnen, ist eine naheliegende Vermutung. Althaus, Paul: Luthers Haltung im Bauernkrieg, 1952. Bräuer, Siegfried: Luthers Beziehungen zu den Bauern (in: Junghans, Helmar [Hg.]: Leben und Werk Martin Luthers von 1526 bis 1546, 2 Bde., 1983, 457–472. 875–882). Greschat, Martin: Luthers Haltung im Bauernkrieg (ARG 56, 1965, 31–47). Maron, Gottfried: »Niemand soll sein eigener Richter sein«. Eine Bemerkung zu Luthers Haltung im Bauernkrieg (Luther 46, 1975, 60–75). Müntzer, Thomas: Briefwechsel. Bearb. und kommentiert von Siegfried Bräuer/Manfred Kobuch (Thomas-Müntzer-Ausgabe. Kritische Gesamtausgabe 2), 2010. Wallmann, Johannes: Ein Friedensappell – Luthers letztes Wort im Bauernkrieg (in: Henke, Dieter u. a. [Hg.]: Der Wirklichkeitsanspruch von Theologie und Religion. Die sozialethische Herausforderung, 1976, 57–75). Wolgast, Eike: L’homme du commun entre 1525 et 1555 (in: Cahn, Jean-Paul/Schneilin, Gérard [Hg.]: Luther et la Réforme 1525–1555. Le temps de la consolidation religieuse et politique, 2001, 151–161). Armin Kohnle
6. Luther und Müntzer Der Theologe, Prediger, apokalyptische Gerichtsprophet und Anführer im Bauernkrieg Thomas Müntzer galt in mancher Hinsicht als der typische Gegenspieler Martin Luthers. Als solcher wurde er oft geschmäht, nicht selten aber auch verherrlicht. Müntzers historische Persönlichkeit und sein theologisches Profil wurden demgegenüber erst spät differenzierter wahrgenommen. 6.1. Der Gang der Müntzerforschung
Schon das 19. Jahrhundert hat Müntzer in unterschiedlichster Weise ideologisch in Anspruch genommen. Sahen die einen in ihm den Gegenpol eines restaurativ angeeigneten Luther (L. Baczko, J. C. Seidemann, H. Leo), so andere einen Vertreter liberaler (W. Zimmermann) bzw. demokratisch-revolutionärer Anliegen (F. Engels, später K. Kautsky).
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Eine historisch-kritische Beschäftigung mit Müntzer und dessen Theologie setzte erst in den 1920er Jahren ein (H. Boehmer, K. Holl und deren Schüler). Parallel dazu entwickelte sich aber auch die marxistische Müntzerdeutung fort (M. M. Smirin). Sie wurde vor allem in der DDR gepflegt (A. Meusel) und hier nach 1960 in das Gesamtmodell der »frühbürgerlichen Revolution« eingebettet (M. Bensing). Fortan erfolgte eine systematische Instrumentalisierung Müntzers für die Kirchen‑, Kultur- und Schulpolitik der SED (Müntzer als »Volksrevolutionär«). Inzwischen war es allerdings auch im Westen zu einer neuen Beschäftigung mit Müntzer gekommen. Sie reagierte auf die marxistischen Thesen und fragte bei Müntzer vor allem nach dem Zusammenhang von Theologie und Revolution (C. Hinrichs, Th. Nipperdey). Neben den Revolutionär trat damit nun der Theologe (W. Elliger). 1968 war die erste kritische Gesamtausgabe der Schriften und Briefe Müntzers erschienen (Franz 1968; MSB). Sie gab der Forschung wichtige Impulse. Hinsichtlich Müntzers Theologie wurden die Akzente dabei aber durchaus unterschiedlich gesetzt: Betonten einige die mystischen Einflüsse (H. J. Goertz), so andere diejenigen apokalyptischer Traditionen (G. Maron, R. Schwarz, G. Seebaß). Noch später wurde außerdem ein humanistischer Hintergrund diskutiert (U. Bubenheimer). Bereits im Verlauf der 1980er Jahre wurden diese Ansätze dann auch durch die marxistische Forschung aufgegriffen. Man kam sich nun sichtlich näher. Ein Ergebnis dieser Entwicklung war der noch vor der Wende erschienene Sammelband Der Theologe Thomas Müntzer (Bräuer/Junghans 1989). Er bot Beiträge von Vertretern aller Deutungen und war ein Meilenstein der Forschung. Inzwischen hatte sich aber auch herausgestellt, dass die Gesamtausgabe (MSB) viele Mängel aufwies. Angesichts dessen kam es schon vor 1990 zum Plan einer Neuedition. Das im Auftrag der Sächsischen Akademie der Wissenschaften erarbeitete Werk (MGA) ist auf drei Bände angelegt und im Erscheinen begriffen. 6.2. Das Verhältnis zu Luther
Wohl noch 1517 kam Müntzer, zuvor Leiter der Schule im Kanonissenstift Frose bei Aschersleben, zum Studium nach Wittenberg. Er lernte die dortigen Theologen kennen (MSB 341), las mystische Texte (Johannes Tauler; MGA 3, 54 f), vertiefte aber wohl auch seine humanistische Bildung. Um Ostern 1519 ging Müntzer dann als Vertreter des mit Luther sympathisierenden Predigers Franz Günther nach Jüterbog. Hier kam es zu einem schweren Streit der Franziskaner mit den »Martinianern« (Angriffe auf die scholastische Theologie und die kirchliche Hierarchie; MSB 561–563; WAB 1; 392; MGA 3; 39–54). Ende des Jahres kehrte Müntzer nach Wittenberg zurück. Bald darauf wurde er Beichtvater im Zisterzienserinnenkloster Beuditz bei Weißenfels (MSB 351–356; MGA 2; 24–39). Im Mai 1520 begab sich Müntzer dann ins unruhige Zwickau, wo er, wohl auf Vermittlung Luthers (WAB 2; 346), den Prediger an St. Marien, Johannes Egra-
III. Beziehungen – 6. Luther und Müntzer
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nus, vertreten sollte. Auch hier gab es Streit mit den Franziskanern. Der als Mann Luthers geltende Müntzer fand aber rasch die Unterstützung des Rates und konnte später sogar Prediger an St. Katharinen werden. Nachdem es wegen seiner Theologie (Spiritualismus, Apokalyptik, Kontakte zu den Zwickauer Propheten) zu Spannungen mit Egranus u. a. gekommen war, wurde Müntzer aber schon im April 1521 entlassen. Er begab sich nun nach Böhmen und später an die Universität Prag (20.6.1521), wo man ihn freundlich aufnahm (Voten Luthers zu Jan Hus). Hier verfasste er sein als Brief an die gesamte Christenheit gehaltenes Prager Manifest, das gleichermaßen spiritualistisch wie apokalyptisch geprägte Programm einer Restitution der apostolischen Kirche. In der Folge gibt Müntzers Weg manche Rätsel auf. Er hatte wohl große Probleme, eine feste kirchliche Anstellung zu finden. Zwar suchte er das Gespräch mit den Wittenbergern, so im Februar 1522 mit Philipp Melanchthon in Wittenberg und (im Winter darauf) mit Andreas Bodenstein von Karlstadt in Wörlitz (MSB 386 f; MGA 2; 150–154). Die Spannungen zwischen Müntzer und der lutherischen Seite waren aber unübersehbar (Streit mit Lorenz Süße in Nordhausen). Namentlich der durch Luthers Invocavitpredigten vom März 1522 eingeleitete Umschwung der Wittenberger Reformation (Rücksicht auf die Schwachen) war Müntzer ein Gräuel (MBW 223). Im April 1523 wurde Müntzer dann (unter klarer Missachtung des kurfürstlichen Patronatsrechtes) Pfarrer der Johanniskirche des Ackerbürgerstädtchens Allstedt, einer kursächsischen Exklave. Hier brachte er rasch nicht nur den Rat und seinen Amtskollegen, sondern auch den kurfürstlichen Schösser [i. e. Rentmeister] auf seine Seite. Er heiratete und begann mit einer Reform des gottesdienstlichen Lebens (Deutsches Kirchenamt, 1523 [MSB 25–155]; Ordnung und Berechnung [i. e. Berechtigung] des Deutschen Amts zu Allstedt, 1523 [MSB 207– 215]; Deutsche Evangelische Messe, 1524 [MSB 157–206, mit Angriffen auf Luthers Formula missae von 1523, WA 12; 197–220]). Müntzer warnte seine Anhänger in Stolberg, wo er 1522 gepredigt hatte, vor der Erwartung eines nahe bevorstehenden Anbruchs der Herrschaft Christi (Sendbrief an die Brüder zu Stolberg, 1523 [MSB 21–24]) und suchte erneut den Kontakt zu den Wittenberger Theologen (MSB 389–392. 393. 415 f; MGA 2; 160–172. 187–191). Luther aber blieb misstrauisch gegen den »Propheten Thomas« (WAB 3; 120). Die Attraktivität der Allstedter Reformation für das altgläubige Umland führte schnell zu Konflikten mit dem katholischen Grafen Ernst von Mansfeld (MSB 393 f ; MGA 2; 194–199). Zwar warb Müntzer nun um die Gunst des Kurfürsten (MSB 395–397; MGA 2; 199–207). Er war aber nicht bereit, sich einem Verhör durch die Wittenberger Theologen zu stellen (Protestation oder Erbietung Thomas Müntzers, 1524 [MSB 225–240]; Von dem gedichteten [= werk- und leidensfreien] Glauben, 1524 [MSB 217–224. 569 f]). Der Eklat der Niederbrennung der zum Kloster Naundorf gehörigen Mallerbacher Kapelle am 24.3.1524 verschärfte den Konflikt. In der Allstedter Fürstenpredigt über Dan 2 (13.7.) empfahl sich Müntzer seinen Zuhörern, Herzog Johann und dessen Sohn Johann Friedrich, als neuer Daniel und Deuter des endzeitlichen Dramas (MSB 241–263; Aufhebung der
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Unterscheidung beider Reiche, Aufruf zum Heiligen Krieg für das Evangelium; WAB 3; 325). Darauf drängte Luther die Fürsten, gegen Müntzers Aufruhrpredigt einzuschreiten (Ein Brief an die Fürsten zu Sachsen von dem aufrührerischen Geist, 1524: WA 15; 199–221. Vgl. später WA 18; 85 und im Vorfeld WAB 3; 307 f), was dieser unter dem Eindruck erster Maßnahmen gegen seine Anhänger als Landfriedensbruch interpretierte und mit der Gründung eines Verteidigungsbundes beantwortete. Nach einem Verhör in Weimar und in Erwartung seiner Ausweisung (MSB 430–432; MGA 2; 330–335) floh Müntzer dann Anfang A ugust in die Reichsstadt Mühlhausen, wo er trotz Luthers Warnungen (WA 15; 230– 240) Fuß fassen konnte (Predigten in der Marien- und Nikolaikirche, Versuch der Übertragung der Allstedter Gottesdienstreform). Er gründete den auf einen Umsturz der Stadtverfassung abzielenden »Ewigen Bund«, stieß aber rasch auf den Widerstand des Rates und wurde am 26. September gemeinsam mit seinem Kollegen Heinrich Pfeiffer, einem früheren Mönch, ausgewiesen. Über den Buchführer Hans Hut in Bibra beförderte Müntzer, der Prediger »mit dem Hammer [des Wortes Gottes]«, nun seine in Allstedt verfasste Ausgedrückte Entblößung (MSB 265–319) zum Druck, eine Replik auf Luthers Fürstenbrief. Dann begab er sich selbst nach Nürnberg, um seine in Mühlhausen konzipierte Hochverursachte Schutzrede und Antwort wider das sanftlebende Fleisch zu Wittenberg zu publizieren (MSB 321–343). Diese war der Höhepunkt seiner Polemik gegen Luther, wies dessen Vorwürfe zurück und zog Luther nunmehr selbst vor den Richtstuhl Christi. Dass es einen gewaltsamen politisch-sozialen Konflikt um seine Theologie geben würde, galt Müntzer nun als unausweichlich. Dann zog er nach Südwestdeutschland und trat hier auch in Kontakt zu den aufständischen Bauern im Hegau und Klettgau, für die er damals angeblich Artikel, »wie man herrschen soll«, verfasst hat. Nachdem Müntzer im Februar 1525 nach Mühlhausen zurückgekehrt war (Pfeiffer war dies schon im Dezember 1524 gelungen) und hier die Pfarrstelle an St. Marien übernommen hatte, eskalierte die Entwicklung zusehends (Konflikt mit den Predigern, Absetzung des Stadtregimentes, »Ewiger Rat«). Auch in Thüringen entstanden nun Bauernhaufen. Anders als von Müntzer gefordert, wollte sich der Mühlhäuser Haufen aber nicht gegen Ernst von Mansfeld wenden. Am 10. Mai setzte er sich an die Spitze eines kleinen städtischen Aufgebots und eilte dem Frankenhäuser Haufen zu Hilfe. Auch brieflich warb er nun für dessen Unterstützung. Nachdem Müntzer die Führung des Haufens übernommen hatte, wurde dieser aber bald durch die verbündeten Fürsten eingekreist. In seiner letzten Predigt am 15. Mai verhieß Müntzer den Bauern ein Eingreifen Gottes zu ihren Gunsten (Ri 6–9). Nach der Niederlage wurde er verhört und mit Pfeiffer enthauptet (27.5.1525). Obwohl er sich am Ende von den Bauern abgewandt hatte, starb Müntzer ungebrochen. Für Luther zählte Müntzer zu den Hauptschuldigen am Bauernkrieg (was historisch keineswegs zutraf). In ihm hatte sich der Teufel erhoben (Aufruf zur gewaltsamen Umgestaltung der Welt zum Reich Gottes durch die Frommen) und
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Luther so zur Notwehr gezwungen (so später immer wieder auch in Luthers Predigten, Vorlesungen und vor allem seinen Tischreden, z. B. WAT 1; 31,25: »incarnat[us] Diabol[us]«). Beleg dafür waren ihm Müntzers Briefe aus der Mühlhäuser und der Frankenhäuser Zeit (Eine schreckliche Geschichte, 1525: WA 18; 362– 374). Ähnlich urteilten damals aber auch Melanchthon (Historie Thomas Müntzers, 1525), Agricola (Ein nützlicher Dialog, 1525) und Urbanus Rhegius. Müntzers Theologie, die sich in der Tat völlig von der Theologie Luthers unterschied (Rechtfertigungslehre, Christusverständnis, Lehre von der Bibel, den Sakramenten und dem Amt der Obrigkeit; Seebass 1994, 419–427), wurde damit auf dessen apokalyptische Deutung des Bauernkriegs reduziert. Müntzer, der zunächst ja auch ein Schüler Luthers gewesen war, wurde zum »moerdischen und blut gyrigen propheten« (WA 18; 367) der »Müntzerlegende« (M. Steinmetz), die – trotz des differenzierteren Urteils Gottfried Arnolds – bis weit ins 20. Jahrhundert hin ein nachgewirkt hat. Müntzer, Thomas: Schriften und Briefe. Kritische Gesamtausgabe, hg. v. Günther Franz (QFRG 33), 1968. Ders.: Kritische Gesamtausgabe, 3 Bde., 2004 ff. Bräuer, Siegfried/Junghans, Helmar (Hg.): Der Theologe Thomas Müntzer. Untersuchungen zu seiner Entwicklung und Lehre, 1989. Dammascke, Marion/Vogler, Günter: Thomas Müntzer Bibliographie (1519–2012) (Bibliotheca dissidentium 28 = Bibliotheca bibliographica Aureliana 233), 2013. Junghans, Helmar: Der Wandel des Müntzerbildes in der DDR von 1951/52 bis 1989 (in: Ders.: Spätmittelalter, Luthers Reformation, Kirche in Sachsen. Ausgewählte Aufsätze, hg. v. Michael Beyer u. Günther Wartenberg [Arbeiten zur Kirchen- und Theologiegeschichte 8], 2001, 269–291). Kaufmann, Thomas: Thomas Müntzer, »Zwickauer Propheten« und sächsische Radikale. Eine quellen- und traditionskritische Untersuchung zu einer komplexen Konstellation (Veröffentlichungen der Thomas-Müntzer-Gesellschaft 12), 2010. Seebass, Gottfried: Art. Müntzer, Thomas (TRE 23, 1994, 414–436). Christian Peters
7. Luther und Erasmus Das Verhältnis zwischen Luther und Erasmus ist vielfältig und unterliegt einer beträchtlichen historischen Dynamik. Es hat sein theologisches und publizistisches Zentrum in der zwischen 1524 und 1527 ausgetragenen Kontroverse über den »freien Willen«, die allerdings nur vor dem Hintergrund vorangehender wechselseitiger theologischer Einzelkritiken und religionspolitischer Kontakte und Konflikte angemessen zu verstehen ist. Die in der älteren Forschung verbreitete Tendenz, den Willensstreit als definitives theologisches Entscheidungs- und Trennungsszenario zwischen »Humanismus« und »Reformation« zu deuten, geht insofern an der Sache vorbei, als prägende Impulse des Humanismus auch nach der Kontroverse zwischen Luther und Erasmus in den sich bildenden Konfessio-
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nen dauerhaft präsent blieben, der im protestantischen Basel beigesetzte große niederländische Gelehrte auch von Vertretern der schweizerisch-oberdeutschen und der stärker an Melanchthon orientierten Richtung des Protestantismus als ›Ahnherr‹ in Anspruch genommen wurde und seine Geltung im römischen Katholizismus umstritten blieb. Zu Verlauf und Ergebnis der Auseinandersetzungen zwischen Luther und Erasmus trug wesentlich bei, dass beide einander nie persönlich begegnet sind, ihre direkten brieflichen Kontakte von Dritten eingeleitet und veranlasst wurden und die in der reformatorischen Öffentlichkeit vertretene Behauptung einer substantiellen Übereinstimmung ihrer kirchenpolitischen und theologischen Anliegen zu präzisierenden positionellen Klarstellungen und Distanzierungen nötigte. Angesichts dessen, dass ein phasenweise intensives Interesse der kursächsischen Religionspolitik daran bestand, Erasmus zu einer positiven oder doch neutralen Haltung gegenüber Luther zu bewegen, ist es notwendig, sowohl in Bezug auf Luther als auch in Bezug auf den ›Humanistenfürsten‹ zwischen öffentlichen und privaten Äußerungen, dem jeweiligen Klärungsgrad ihrer theologischen Einschätzung des anderen und der Form ihrer Kommunikation zu unterscheiden, denn im Horizont der öffentlichen Meinung drohte die causa Lutheri auch zu einer causa Erasmi zu werden. Luthers älteste Äußerung über Erasmus fällt in das Jahr 1516, jenes Jahr, in dem der gelehrte Niederländer mit der ersten griechischen Edition des Neuen Testaments, dem Novum Instrumentum, und mit der gleichfalls bei dem Basler Drucker Johannes Froben in Basel erschienenen Ausgabe des Kirchenvaters Hieronymus den Zenit seiner Berühmtheit in der gelehrten Welt erreichte. Luther benutzte die Erasmische Ausgabe des Neuen Testaments und seine Annotationes unmittelbar nach ihrem Erscheinen (März 1516), äußerte aber bereits im Oktober des Jahres gegenüber dem kurfürstlichen Sekretär Georg Spalatin tiefgreifende Kritik an der Paulusinterpretation des Niederländers: Erasmus verstehe unter der paulinischen Rede von der Gesetzesgerechtigkeit nicht die Gerechtigkeit aus Werken im Sinne des ganzen Dekalogs, sondern die des Zeremonialgesetzes Israels; auch an Erasmus’ Deutung der Erbsündenlehre in Röm 5, die hinter den in den antipelagianischen Schriften Augustins enthaltenen Einsichten zurückbleibe, übte Luther Kritik. Überhaupt verdiene Augustin in theologischen Fragen Vorzug gegenüber dem von Erasmus über alle Maßen geschätzten Hieronymus. Erasmus schien Luther noch in aristotelischen Interpretationskategorien befangen und die Priorität der Gerechtmachung der Person gegenüber ihrer gerechten Betätigung zu verkennen (WAB 1; 70,29–31). Luther bat Spalatin darum, Erasmus über seine Einwände zu informieren, damit sich nicht weiter ein totes Verständnis der Gesetzesgerechtigkeit, wie es in der Theologie nach Augustin dominiert habe, festsetze. Luther war sich bewusst, wie vermessen es wirken musste, einen so gelehrten Mann wie Erasmus zu belehren, hielt die Kritik aber um der Sache der Theologie und des Heils der Brüder willen (»pro re theologica et salute fratrum«: WAB 1; 71,42 f) für erforderlich. In dem ersten Brief, den Spalatin an Erasmus richtete (19.12.1516; Allen 2; 415–418. 417,47 ff), ist dieser Luthers Wunsch
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unter weitgehend wortwörtlicher Übernahme seiner Kritik nachgekommen, freilich ohne den Namen des amicus, der die Einwände erhoben habe, zu nennen. Von einer Reaktion des Erasmus ist nichts bekannt. Diese frühe und theologisch grundsätzliche Äußerung Luthers über Erasmus enthält bereits wesentliche Grundzüge, die ihr Verhältnis von Seiten des Wittenbergers dauerhaft bestimmen sollten: Ein gelehrtes Autoritätsgefälle gegenüber dem Hohenpriester im Tempel der bonae literae erkennt der Wittenberger Bibelprofessor, der mit den exegetischen Hilfsmitteln der Humanisten selbstverständlich und eigenständig arbeitet, aus theologischen und soteriologischen Gründen nicht an; gegen die Prädominanz des Hieronymus und einer an ihm orientierten philologisch-historisierenden Exegese klagt er den Wahrheitsgehalt der antipelagianischen Schriften Augustins ein; das Verständnis der die Person erneuernden Gerechtigkeit Gottes bildet den kriteriologischen Dreh- und Angelpunkt seiner Erasmuskritik; der über Spalatin initiierte Verständigungsversuch deutet auf ein Interesse Luthers hin, seine eigenen, an Augustin gewonnenen theologischen Einsichten dem durch Erasmus repräsentierten Bibel- und Kirchenväterhumanismus nahezubringen. Luthers Kritik am fehlenden theologischen Tiefgang des gelehrten Philologen Erasmus und seines Vorbildes Hieronymus bildete seit 1516 die Konstante seines Urteils: Einen von ihm edierten Auszug aus der Theologia Deutsch sandte Luther mit der Bemerkung an Spalatin, dass er weitaus ›theologischer‹ (»theologicissimum«) sei als der höchst gelehrte Erasmus und der hoch gerühmte Hieronymus (WAB 1; 96,8 ff. 23 ff). Und im Januar 1518 bekannte er Spalatin gegenüber, dass er dem als Verteidiger der bonae literae hochzuachtenden Erasmus in Bezug auf die Dinge, die zur Erkenntnis Christi gehörten, keinen Vorrang gegenüber Augustin oder Hieronymus einzuräumen bereit sei (18.1.1518; WAB 1; 132–134). Angesichts dessen, dass Luthers Wittenberger Kollege Karlstadt, der neben ihm wichtigste und publizistisch einflussreichste Exponent der frühen Wittenberger Theologie, Erasmus mit Augustin und Ambrosius auf eine Stufe stellte oder diesen gar vorzuziehen bekannte, wird deutlich, dass sich an der Beurteilung der theologischen Bedeutung des großen Gelehrten aus den Niederlanden die Geister der frühreformatorischen Bewegung scheiden sollten. Auch wenn Luther einzelne theologische Erkenntnisse, etwa in Bezug auf das Verständnis des neutestamentlichen Begriffs der Buße (μετάνοια), aus der Benutzung der Erasmischen Annotationes gewann, dessen Neues Testament später als Grundlage seiner Übersetzung nutzte und sich dabei die Fruchtbarkeit einzelner philologischer Erläuterungen immer wieder zu eigen machte, dürfte er in keiner Phase seiner Entwicklung von den theologischen Grundanliegen des Christianismus renascens im Sinne des Erasmus in nennenswertem Maße beeindruckt gewesen sein. Die rein instrumentelle Bedeutung, die Luther der bibelhumanistischen Philologie zuerkannte, unterschied seinen Umgang mit den gepriesenen wissenschaftlichen Errungenschaften des Zeitalters deutlich von der Wertschätzung, die sie bei beinahe allen Generationsgenossen besaß.
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Die Tatsache freilich, dass junge Gelehrte wie Melanchthon oder Bucer in den Jahren 1518 und 1519 wesentliche theologische und kirchenreformerische Übereinstimmungen zwischen Luther und Erasmus wahrzunehmen vermochten, Unterschiede hingegen lediglich auf der Ebene des kirchenpolitisch-strategischen Vorgehens sahen, bildete eine entscheidende Voraussetzung für die positive Resonanz der Anliegen Luthers unter den Humanisten und die Entstehung der frühreformatorischen Bewegung. In publizistisch sehr erfolgreichen Flugschriften wie dem vermutlich von Zwingli mit veranlassten Reimgedicht Die göttliche Mühle (1521) ist die Vorstellung eines engen Zusammenschlusses von Erasmus und Luther im Kampf um die Bibel und die Kirchenreform auch auf die Ebene der Volkssprache hinab verbreitet worden. Nicht zuletzt Erasmus’ 1518 mit einem kirchenkritischen, auf den problematischen Ablasshandel anspielenden Vorwort neu erschienenes, nun zu einem Erfolgsbuch avancierendes Enchiridion militis Christiani, das eine Orientierung an Christus als einzigem ethisch verpflichtenden Vorbild des Glaubens und eine Ausrichtung des Lebens und der theologischen Lehre an der Schrift propagierte, trug wesentlich dazu bei, im gemeinsamen Kampf gegen ein veräußerlichtes Christentum und eine sklerotisierte scholastische Theologie eine substantielle Übereinstimmung Luthers und Erasmus’ wahrzunehmen. Auch die von keinem Zeitgenossen mit größerem Nachdruck und Erfolg als von Erasmus erhobene Forderung nach einer volkssprachlichen Laienbibel, die bereits deutlich vor Luthers Bibelübersetzung zu einzelnen deutschen Teilübersetzungen des Neuen Testaments, orientiert am Novum Instrumentum des Erasmus, geführt hatte, bildete eine wesentliche Voraussetzung für die Plausibilität und die Durchschlagskraft des reformatorischen Schriftprinzips, überlagerte die von Anfang an gegebenen, tiefgreifenden theologisch-hermeneutischen Differenzen zwischen Luther und Erasmus zeitweilig und nährte die verbreitete Erwartung einer grundsätzlichen Koinzidenz des bekanntesten Gelehrten und des seit 1518 berühmtesten Theologen im Reich. Aufgrund der intensiven Kontakte, die der enge Erasmusvertraute Wolfgang Fabritius Capito, Theologieprofessor und Münsterprediger in Basel, der im Oktober 1518 die erste, Luthers Bekanntheit in der gelehrten europäischen Welt begründende lateinische Sammelausgabe des Wittenberger Kollegen anonym publiziert hatte (WA 60; 431 ff. WAB 1; 336,13–17), mit Luther und dem Wittenberger Kreis aufbaute, kam auch der erste Briefwechsel zwischen Luther und Erasmus zustande. Gegenüber Erasmus war Capito für Anliegen Luthers eingetreten; Luther versorgte er mit Hinweisen auf die Haltung des Erasmus ihm gegenüber, so etwa der Nachricht, der Niederländer nehme dessen Ablasskritik positiv auf – tatsächlich hatte er Luthers Ablassthesen an Thomas Morus in England gesandt (5.3.1518; vgl. Allen 3; 238–240. 239,37) und in der Vorrede seines Enchiridion auf diese angespielt (WAB 1; 197,1 ff). Dass Luther dies in seinem ersten Brief an den ›Humanistenfürsten‹ (WAB 1; 362,19–22. Allen 3; 518,18–20) sogleich ansprach, bezeugt, dass auch er Gemeinsamkeiten in der Kirchenkritik wahrnahm,
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allerdings zugleich – ungeachtet des devoten Tones, in dem er an ihn schrieb – auf eine offene Parteinahme zugunsten seiner reformatorischen Gnadentheologie drängte. Auch wenn sich Erasmus gegenüber Kurfürst Friedrich im ganzen positiv über Luther äußerte, freilich nicht ohne eine Distanzierung von dessen seines Erachtens zu scharfem öffentlichen Agieren anzudeuten und ohne sich zu dessen theologischen Anliegen zu äußern (WAB 1; 404,4–6. Allen 3; 605–607), ließ er Luther selbst wissen, dass er seinetwegen Verdächtigungen der Universität Löwen ausgesetzt sei; deshalb mahnte er ihn zur Mäßigung und dazu, den Konflikt um Ablass und Buße nicht unter das Volk zu bringen (WAB 1; 413,18 ff). Seinem Verleger Froben redete Erasmus mit Erfolg aus, sich weiterhin an der Druckverbreitung Lutherscher Schriften zu beteiligen (vgl. Allen 3; 590,97–99). Spätestens zu diesem Zeitpunkt dürfte beiden deutlich gewesen sein, dass der Abstand zwischen dem vor allem auf die Eliten gerichteten Kirchenreformprogramm des Niederländers und dem theologischen Anliegen des Wittenbergers, dem es um das Heil jedes Christenmenschen, das deshalb auch auf publizistischem Wege erreicht werden sollte, ging, kaum überbrückbar war. Indem Erasmus allerdings gegenüber Erzbischof Albrecht von Mainz im Oktober 1519 Sympathien gegenüber dem christlichen Engagement Luthers äußerte, eine Beurteilung seiner Theologie ablehnte, aber auch vor einer vorschnellen, von vordergründigen Machtinteressen bestimmten Verurteilung warnte (vgl. Allen 4; 96–107. 100,46 ff), trug er indirekt zur Verbreiterung und Festigung der reformatorischen Bewegung im Nachgang der Leipziger Disputation bei, denn die Anhänger der Wittenberger Theologen wurden nicht müde, Äußerungen dieser Art in die Öffentlichkeit zu bringen und den Namen des Erasmus zugunsten der Propaganda für Luther zu verwenden. Im Horizont der reformatorischen Öffentlichkeit wurde Luther in gewissem Sinne des Erasmus ›Schicksal‹: In dem Maße, in dem er von der einen Seite in Anspruch genommen wurde, verstärkten sich die Vorbehalte gegen ihn auf der Gegenseite und drohten die vermeintliche Liaison mit dem gefährlichen Ketzer aus Wittenberg zum Anlass von Maßnahmen gegen die Erneuerung der humanistischen Wissenschaften, dem eigentlichen Herzensanliegen des Niederländers, werden zu lassen. Als eine vertrauliche Stellungnahme, die Erasmus auf Bitten Friedrichs des Weisen nach einem Gespräch in Aachen im November 1520 angefertigt hatte, durch Indiskretionen der Wittenberger in einem Leipziger Druck erschien (vgl. Allen 4; 375–393), sah sich Erasmus zu immer deutlicheren distanzierenden Äußerungen in der Öffentlichkeit veranlasst, blieb aber auch weiterhin bei seiner Ablehnung von Gewaltmaßnahmen gegen Luther. Im Falle des Erasmus wie mancher anderer Humanisten war es vor allem Luthers Schrift De captivitate Babylonica (WA 6; 497–573), die ein unüberschreitbares Koalitionshemmnis darstellte (vgl. Allen 4; 444,7–14). Nach dieser Schrift, Luthers Assertio omnium articulorum […] per bullam Leonis X. novissimam damnatorum (WA 7; 91–151), der scharfen Antwort an Heinrich VIII. (WA 10,2; 175–222) und der Verbrennung des kanonischen Rechts hielt Erasmus realistischerweise eine Ver-
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ständigung zwischen dem Wittenberger und der römischen Kirche für ausgeschlossen. Die kursächsische Politik, die – teilweise durchaus nicht ohne Erfolg – Erasmus in die causa Lutheri hineinzuziehen und den Ruhm des Gelehrten zugunsten Luthers zu instrumentalisieren versucht hatte, trug ebenso wie der sich zuspitzende Argwohn, der ihn von altgläubiger Seite zu einer Parteinahme gegen den Ketzer drängte, entscheidend dazu bei, dass sich die einander innerlich fremden Geister auch öffentlich schieden. Seit Frühjahr 1522 scheint Erasmus mit konkreten Planungen für eine in unpolemischer Manier zu führende theologische Auseinandersetzung mit Luther umgegangen zu sein. Eine ihm bekannt gewordene Äußerung Luthers, die dieser gegenüber dem Basler Theologen Johannes Oekolampad gemacht hatte – Erasmus’ Aufgabe habe in der Einführung der Sprachen und im Ruf zu den heiligen Studien bestanden; zu den »meliora studia (quod ad pietatem pertinet)« sei er aber nicht vorgestoßen und sterbe so wie Mose vor dem Erreichen des Heiligen Landes (WAB 3; 96,20 f) – empfand Erasmus als Kriegserklärung (»belli praeludia«: Allen 5; 349 f. 349,11. Vgl. Allen 5; 326–330. 327,4 ff). Angriffe, die der literarische Vorkämpfer des bewaffneten antiklerikalen Kampfes der Reichsritterschaft und ehemalige Vertraute des Erasmus Ulrich von Hutten im Sommer 1523 gegen den Humanisten schleuderte, indem er ihn des opportunistischen Verrats an der Reformation bezichtigte, beförderten den Distanzierungswillen des Erasmus gegenüber Luther und dessen zweifelhaften Gefolgsleuten und steigerten seinen Drang, sich als neutrale Instanz über den Parteien zu gerieren. Luther kommentierte die literarische Kontroverse zwischen Hutten und Erasmus gegenüber Konrad Pellikan in Basel mit scharfen Urteilen über Erasmus’ Unkenntnis der christlichen Sache (WAB 3; 158–162); zweifellos konnte er voraussetzen, dass Erasmus dies hinterbracht würde. Im Frühjahr 1524 schließlich forderte Luther Erasmus direkt auf, sich von der Auseinandersetzung um die Sache der Reformation, zu der er ohnehin keinen Zugang habe, fernzuhalten (WAB 3; 270,40–271,43). Doch zu diesem Zeitpunkt scheint eine erste Fassung von Erasmus’ gegen Luther gerichteter Schrift über die Willensfrage bereits fertig gewesen und an den englischen König Heinrich VIII. und den Basler Freund Ludwig Ber versandt worden zu sein (vgl. Allen 5; 399 f. 417 f). Außer einzelnen Freunden dürften es besonders Georg von Sachsen, der polnische Hof und der englische König gewesen sein, die Erasmus zum literarischen Schlag gegen Luther drängten. In seinem Antwortbrief an Luther vom 8.5.1524 (WAB 3; 284–287) nahm Erasmus für sich – durchaus kämpferisch – in Anspruch, dass es auch ihm um das Evangelium gehe und die zeitgeschichtlichen Erfahrungen von Aufruhr und Verfall der Wissenschaft eindeutig gegen den von Luther eingeschlagenen Weg sprächen. Doch die folgende Auseinandersetzung sollte nicht mehr reformationsstrategischen, sondern ausschließlich theologischen Fragen gelten. Mit dem Problem der Willensfreiheit des Menschen in Bezug auf sein Heil war das anthropologische Kernthema des reformatorischen Rechtfertigungsglaubens berührt, zu dem Luther seit der Heidelberger Disputation (StA 1; 205,12–21) in
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engem Anschluss an Augustin dezidiert Position bezogen hatte. Die 13. seiner Heidelberger Thesen (»Liberum arbitrium post peccatum, res est de solo titulo, et dum facit quod in se est peccat mortaliter« [Willensfreiheit gibt es nach dem Sündenfall nur noch dem Namen nach, und sofern der freie Wille tut, was an ihm ist, begeht er eine Todsünde]) (StA 1; 214,25 f) war als einzige dieser Thesenreihe in der Bannandrohungsbulle (Art. 36, DH 1486) verurteilt worden. Luther hatte sie daraufhin in seinen lateinischen und deutschen Erläuterungen der verurteilten Artikel (WA 7; 142–149. 444–451) ausführlich begründet und die unbedingte Prärogative der Gnade Gottes, ohne die der Mensch hoffnungslos in seiner Sünde gefangen sei, akzentuiert. Erasmus hatte sich mit der Willensfrage ein besonders brisantes, traditionell hochkontroverses Thema gesucht, in dem eigene humanistische Leitvorstellungen in Bezug auf den Menschen in einer eigentümlichen Nähe zum Hauptstrang der abendländischen Theologiegeschichte und ihrer Distanzierung von den radikalen Positionen des antipelagianischen Augustin standen. Zugleich vermied er mit diesem theologischen Thema, zu Fragen kirchlicher Praxis, zu denen er sich vorher ähnlich kritisch wie Luther geäußert hatte, ausführlicher Stellung nehmen zu müssen, denn gerade in Bezug auf die Kirchenkritik waren die reformatorischen und die humanistischen Anfragen hinsichtlich ihrer Konsequenzen schwerlich zu unterscheiden. Dass Erasmus mit der Willensthematik ein für Luther zentrales Thema gewählt hatte, wurde von dem Wittenberger Kontrahenten ausdrücklich anerkannt (WA 18; 604,4 ff. 786,26 ff). Erasmus’ De libero arbitrio ∆IATΡIBH sive collatio erschien Ende August oder Anfang September 1524 bei Froben in Basel, erreichte noch im selben Jahr Nachdrucke in Antwerpen und Köln und trug dazu bei, dass der Argwohn einiger seiner Kritiker im altgläubigen Lager abgeschwächt wurde (vgl. Allen 6; 4–6. Allen 7; 158–160). Wie es scheint, verfasste er die Schrift in wenigen Tagen (WAB 3; 294,19 f. WA 18; 566 f. Allen 5; 399 f), griff allerdings wohl auf ältere Vorarbeiten zurück. Ihrer literarischen Form nach stellt die Diatribe einen gelehrten Traktat mit stark diskursiv-polemischen Elementen dar, der die biblischen Argumente für und wider den freien Willen vorträgt und per se eine Replik des angegriffenen Gegners fordert. Außer Luther scheint gelegentlich auch Karlstadt im Visier der Erasmischen Polemik zu stehen, wohl auch, um die innerwittenbergischen Differenzen in Bezug auf die Willensfrage herauszustellen und mit dem breiten Konsens der katholischen Väter zu konfrontieren. In der Einleitung (I) legte Erasmus dar, dass er – wo immer die Autorität der Schrift und die Entscheidungen der Kirche dies zuließen – auf der Seite der Skeptiker stehen wolle und keine Freude an festen Behauptungen habe (»non delector assertionibus«: I a 4; Welzig IV, 6); in der Schrift gäbe es dunkle Stellen, die in ihrer Unerforschlichkeit anzuerkennen seien. Entscheidend sei, dass der auf dem Weg der Frömmigkeit (»in via pietatis«: II a 8; Welzig IV, 10) befindliche Mensch nach dem Besseren strebe, sich von der Sünde ab‑ und der Güte Gottes zuwende. Dieses eindeutig in der Schrift enthaltene ethische Basiskriterium mache es überflüssig, abgründige Spezialfragen wie die, ob unser Wille in Bezug auf die Dinge,
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die sich aufs ewige Heil bezögen, etwas vermöge oder nicht (»utrum nostra voluntas aliquid agat in his, quae pertinent ad aeternam salutem«: I a 8; Welzig IV, 12), zu erörtern, zumal sie für die Menge der einfältigen Christen im Hinblick auf eine ethische Anstrengung eher kontraproduktiv wären. Die Vorschriften für ein gutes Leben (»bene vivendi praecepta«: I a 9; Welzig IV, 14) seien höchst gewiss. Der zweite Teil der Einleitung legte die methodologische Basis der theologischen Urteilsbildung im Sinne des Erasmus dar: nicht allein die Schrift, sondern auch die durch ihr heiliges Lebenszeugnis autorisierten Kirchenlehrer und der breite Traditionsstrom universitärer und konziliarer Lehrbildung habe – mit Ausnahme ganz weniger Abweichler wie Mani, Wyclif oder Valla – dem Menschen einen freien Willen zugeschrieben (I b 2). Angesichts der frommen Wahrheitszeugen, denen man den Besitz des heiligen Geistes nicht absprechen könne, erscheine der Anspruch Luthers und seiner Anhänger, einen bislang verborgenen Sinn der Schrift gegen den Hauptstrang ihrer bisherigen Auslegung freizulegen, als hochmütige Anmaßung. Den Beweis für das liberum arbitrium als Kraft des menschlichen Willens, sich dem zuzuwenden, was zum ewigen Heil führt, oder sich davon abzukehren (»vi[s] humanae voluntatis, qua se possit homo applicare ad ea, quae perducunt ad aeternam salutem, aut ab iisdem avertere«: I 10; Welzig IV, 36), erbringt Erasmus zunächst anhand alttestamentlicher (II a), dann neutestamentlicher (II b) Belegstellen, so dass die Meinung der Kirchenlehrer, den freien Willen nicht gänzlich beseitigen zu wollen (»ne in totum tollerent liberum arbitrium«: II b 8; Welzig IV, 90), gerechtfertigt erscheint. Ethische Paränesen, Mahnungen zur Umkehr, die Drohung mit dem Gericht: All dies setze die Eigenverantwortlichkeit des Menschen in Bezug auf das Gottesverhältnis voraus. Teil III erörtert, zum Teil in engem Anschluss besonders an Schriftauslegungen des Origenes und die Scholastiker, diejenigen Bibelstellen, die dem freien Willen zu widersprechen scheinen; Teil IV entfaltet das zwischen den Extremen vermittelnde Lösungsmodell des Erasmus, das eine synergistische Kooperation von göttlicher Gnade und menschlicher Willensfreiheit propagiert: Gott ist die causa principalis des menschlichen Heils, doch der als sittliche Persönlichkeit gedachte Mensch nimmt den göttlichen Gnadenimpuls qua voluntativer Kooperation auf und vollbringt gute Werke, deren Verdienstlichkeit allein Gott zu danken ist. Die synergistische Vermittlungsposition des Erasmus zielt darauf ab, einerseits den Gottesbegriff von jedem kausativen Begründungsverhältnis hinsichtlich des Bösen freizuhalten, andererseits den Menschen in der Verantwortung für die sittliche Vervollkommnung zu behaften; eine genauere Ausarbeitung des Zusammenwirkens von Gnade und freiem Willen legt er nicht vor. Die Anthropologie und die Gotteslehre koinzidieren in der Willensthematik wie nirgends sonst; dem trug auch Luther in seiner Replik Rechnung. Eine von Emser und Cochlaeus verfasste deutsche Übersetzung der Diatribe erschien bald nach dem Druck der lateinischen Ausgabe. Luther ödete die Lektüre der Diatribe nach kaum zwei Druckbögen an (WAB 3; 368,30); eine Erwiderung zögerte er immer wieder heraus; das »ungebildete Buch
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eines so gelehrten Mannes« – wie er die Diatribe gegenüber Spalatin bezeichnete (WAB 3; 368,29–31) – empfand er nicht als intellektuelle Herausforderung, und der Nötigung, Erasmus überhaupt zu antworten, gab er nur auf Drängen seiner Freunde nach. Erst über ein Jahr nach dem Erscheinen der Diatribe, im November 1525 (WAB 3; 616,6–8), stellte der durch die Bauernunruhen, seine Eheschließung und die Auseinandersetzung mit Karlstadt und den »Schwärmern« mannigfach in Anspruch genommene Luther seine gegen Erasmus gerichtete Schrift De servo arbitrio (Urdruck: Dezember 1525) fertig. Bereits wenige Wochen nach der lateinischen Ausgabe erschien eine von Justus Jonas besorgte deutsche Übersetzung der Schrift. Ebenso wenig wie die Altgläubigen wollten die Wittenberger die Leser volkssprachlicher Schriften von der Kontroverse ausschließen. Luthers De servo arbitrio stellt in literarischer Hinsicht eine durchweg auf die Diatribe bezogene Replik dar, deren Gedankengang sie im Aufbau folgt. Der in der Vorrede der Diatribe explizierten Verbindung von Skepsis und Autoritätsprinzip setzt Luther die dem evangelischen Glaubensbewusstsein selbst eigene Gewissheit, der ein assertorischer modus loquendi theologicus entspreche, entgegen. Denn der heiligen Schrift eignet nach Luther in Bezug auf die das Gottesverhältnis des Menschen betreffenden Fragen uneingeschränkte Klarheit: Der äußeren Klarheit des biblischen Wortes (claritas externa) entspricht die innere Klarheit (claritas interna) des durch den heiligen Geist geschenkten Verstehens. Das Korrespondenzverhältnis von äußerer und innerer Klarheit der Schrift markiert die spezifische hermeneutische Differenz gegenüber pneumatologischer Unmittelbarkeit im Sinne der »Schwärmer« und gegenüber in Autoritätsglauben umschlagender Skepsis im Sinne des Erasmus. Das elementare Interesse christlicher Glaubensgewissheit sei darauf ausgerichtet, zu wissen, dass Gott allein der Grund des Heils ist und dass er seine Verheißungen erfüllen wird. Die Alleinwirksamkeit Gottes in Bezug auf das menschliche Heil, deren der Glaube gewiss ist, widerstreite der von Erasmus um der Moralität willen aufrechterhaltenen Vorstellung eines freien Willens in Bezug auf das Gottesverhältnis. Die menschliche Entscheidungsfreiheit gegenüber weltlichen Dingen (vgl. WA 18; 638,4 ff. 672,7 ff) duldet eine Übertragung auf das Gottesverhältnis um der Glaubensgewissheit willen nicht. In der Auseinandersetzung um die zahlreichen Bibelstellen, die Erasmus im zweiten und dritten Teil seiner Diatribe für und wider ein liberum arbitrium angeführt hatte, tritt Luther besonders Erasmus’ Argument, aus den Imperativen sei auf ein in Bezug auf das Heil wirksames Können des Menschen zu schließen, mit der für sein Gesetzesverständnis zentralen These entgegen, dass die Forderung den Sünder seiner Verlorenheit überführe und auf Christus als einzigen Grund seines Heils hintreibe. Im Zusammenhang damit werden Ausführungen zur Prädestination, Gottes Wirken als Schöpfer und Erhalter und zur Bedeutung seiner Allmacht im Verhältnis zu seiner Offenbarung in Christus (deus absconditus, deus revelatus) unausweichlich, die den scharfen Gegensatz zwischen Luthers und Erasmus’ Gottesbegriff, zwischen einer auf die alle Lebensbereiche umschlie-
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ßende Gotteserfahrung und einer auf die partielle Autonomie des menschlichen Subjektes gegründeten ethischen Perfektibilitätslehre, offenbar machen. Luther konstatiert gegenüber Erasmus einen Fundamentalgegensatz im Verständnis des christlichen Glaubens; De servo arbitrio vollzieht eine radikale Absage an eine rationale Synthetisierung von göttlicher Gnadenwirkung und menschlicher Willensfreiheit, wie sie die theologischen Systeme der Scholastik ebenso wie die Position des Erasmus bestimmt hatten. Die ausschließliche Begründung des Heils des Menschen in Gott lässt ein liberum arbitrium, das zwischen Heil und Unheil, Gericht und Gnade, ewigem Leben und Verdammnis Entscheidungs spielräume besäße, nicht zu. Luthers ganz von der überwältigenden Gnaden erfahrung her konzipierte, im gewissmachenden Evangelium zentrierte Glaubenskonzeption erfuhr in De servo arbitrio eine in Bezug auf das Gottes- und Menschenbild radikal zuspitzende Ausarbeitung, an der sich – auch im Spiegel der Rezeptionsgeschichte – die Geister scheiden sollten. Neben seinem Katechismus hielt Luther De servo arbitrio für sein wichtigstes und gelungenstes Werk (WAB 8; 99,7 f. WA 18; 595 f). Erasmus’ Antwort auf Luthers De servo arbitrio erschien unter dem Titel Hyper aspistes [Schildhalter zur Beschirmung] Diatribae in zwei Teilen: Der erste, in nur zehn Tagen fertiggestellte Teil kam rechtzeitig zur Frankfurter Buchmesse 1526 heraus und replizierte auf den ersten Teil von Luthers Schrift. Neben der persönlichen Verteidigung gegen den Vorwurf des gottlosen Skeptizismus bringt Erasmus hier auch unter Rekurs auf die offenkundigen Auslegungsdifferenzen der Reformatoren grundlegende Einwände gegen das sich von der kirchlichen Autorität und der normativen Kraft der Tradition emanzipierende Schriftprinzip zur Sprache. Der im September 1527 erschienene zweite Teil des Hyperaspistes führte die exegetische Auseinandersetzung mit Luther, nun unter noch breiterer Bezugnahme auf die Kirchenväter, weiter. Luther hielt das Werk für keiner weiteren Auseinandersetzung würdig, und in der Tat waren die markanten theologischen und hermeneutischen Differenzen schon beim ersten literarischen Waffengang überdeutlich hervorgetreten und die Fronten definitiv geklärt. Auf beiden Seiten häuften sich nun die unverstellt kritischen, von taktischen Rücksichtnahmen freien Äußerungen, die der fortschreitenden Verfestigung der Kirchenspaltung entsprachen. Vorstellungen und Ini tiativen bezüglich einer Wiedervereinigung der Kirchen, wie sie Erasmus 1533 propagiert hatte, kamen aus Luthers Sicht allein wegen der Schiedsinstanz kirchenleitender Autoritäten, die der Niederländer voraussetzte, nicht in Frage (WA 38; 276–279): Eine Einigung um der Liebe willen sei unstrittig, ein Kompromiss in Glaubensfragen hingegen sei für beide Seiten inakzeptabel. Die erasmische Vermittlungsposition wurde aus der Perspektive Luthers als spezifische Form der Parteilichkeit dekuvriert und diskreditiert, bewahrte allerdings ihre historische Plausibilität im Milieu des reformkatholischen Humanismus im Umkreis Karls V. bis in die Zeit der Religionsgespräche hinein. In einem sogleich in den Druck beförderten Brief an Amsdorf (WAB 7; 27–40) vollzog Luther abermals eine de-
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finitive öffentliche Scheidung von Erasmus; er enthalte der Jugend eindeutige Glaubenswahrheiten vor, mache aus dem Römerbrief ein theologisch belangloses Dokument, reduziere die soteriologische Bedeutung Christi in unerträglicher Weise und gerate so in die Nähe arianischer Irrlehren; er leiste mit seiner dissimulierenden und ambivalenten Lehr- und Redeweise einer satanischen Tyrannei Vorschub. Die regelmäßige Erwähnung des Erasmus in Luthers Tischreden zeugt davon, dass er in ihm die Negativfigur des indifferenten, karrierefixierten und geistlich verantwortungslosen Religionsintellektuellen schlechthin sah, dem selbst ein seliges Ende kaum zukam, denn der am 12.7.1536 als Katholik im protestantischen Basel Verstorbene hatte auf den tröstenden Beistand eines Geistlichen an seinem Sterbebett verzichtet. Luthers scharfe Urteile über Erasmus und sein Werk, die altgläubige Diffamierungen des hochgeachteten und umstrittenen Gelehrten aufnahmen und zuspitzten, schlossen selbst seine Ausgabe des griechischen Neuen Testaments ein (vgl. Luthers Randglossen zu Erasmus’ Novum Testamentum und Annotationes von 1527 [ca. 1533], in: WA 60; 192–228. S. auch: WAT 3; 620–622. WAT 4; 573 f.671. WAT 5; 183 f.220.310. WA 42; 596,21–23), verhinderten allerdings nicht, dass das Erbe des auf die Indices der römischen Kirche gesetzten ›Humanistenfürsten‹ im frühneuzeitlichen Protestantismus in vielfältiger Weise präsent blieb. In einzelnen Teilkontroversen der binnenlutherischen Auseinandersetzungen um die Theologie Melanchthons und seiner Schüler wirkte Erasmisches Gedankengut ebenso nach wie in reformkatholischen Innovations- und Restaurationsprozessen und bei einzelnen täuferischen und separatistischen Reformern, die den konfessionellen Kirchentümern und ihren Dogmen im Namen eines ethischen Christentums eine Absage erteilten. Am Ende blieb Erasmisches Gedankengut außerhalb und innerhalb der konfessionellen Kirchentümer lebendig; sein Erbe gehört der abendländischen Christenheit als ganzer. Erasmus von Rotterdam: Opus epistolarum, hg. v. Percy Stafford Allen u. a., 12 Bde., 1906– 1958. Ders.: Ausgewählte Werke in acht Bänden, hg. v. Werner Welzig, 21990. Dall’asta, Matthias (Hg.): Anwälte der Freiheit! Humanisten und Reformatoren im Dialog, 2015. Fabisch, Peter: Iulius exclusus e coelis. Motive und Tendenzen gallikanischer und bibelhumanistischer Papstkritik im Umfeld des Erasmus (Reformationsgeschichtliche Studien und Texte 152), 2008. Herms, Eilert: Gewißheit in Martin Luthers »De servo arbitrio« (LuJ 67, 2000, 23–50). Kohls, Ernst-Wilhelm: Luther oder Erasmus. Luthers Theologie in der Auseinandersetzung mit Erasmus, 2 Bde., 1972/1978. Kunze, Johannes: Luther und Erasmus. Der Einfluß des Erasmus auf die Kommentierung des Galaterbriefes und der Psalmen durch Luther 1519–1521 (Arbeiten zur historischen und systematischen Theologie 2), 2000. Thomas Kaufmann
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8. Luther und Zwingli Die Beurteilung des theologischen und persönlichen Verhältnisses zwischen Zwingli und Luther ist seit der Reformationszeit weitestgehend von der innerreformatorischen Kontroverse über das Abendmahl, in deren Zusammenhang sie 1527 und 1528 scharfe polemische Schriften gegeneinander richteten, bestimmt gewesen. Dieser sog. erste Abendmahlsstreit der Reformationszeit steht am Anfang der sich fortschreitend polarisierenden Beziehungen zwischen den beiden kirchlichen Reformationszentren in Wittenberg und Zürich, die in die Ausbildung zweier unterschiedlicher protestantischer Konfessionen, dem Luthertum und dem Reformiertentum, einmündeten. Die konfrontative Dynamik des konfessionellen Gegensatzes, die von politischen und gesellschaftlichen Faktoren von Anfang an wesentlich mitbestimmt war, drängte vermittlungstheologische Optionen und sachentschärfende Positionen, wie sie seit den späten 1520er und frühen 1530er Jahren vor allem von den oberdeutschen Theologen unter der Führung der Straßburger Reformatoren Bucer und Capito vertreten worden waren, sukzessive in die historische Wirkungslosigkeit. Die historische Bewertung des ersten Abendmahlsstreites als Grundlagenkrise der Reformation ergibt sich einerseits aus dem Umstand, dass die diametral entgegengesetzten Deutungen der biblischen Abendmahlstexte die Geltung der einzigen Lehrnorm reformatorischer Theologie in Frage zu stellen schienen, andererseits daraus, dass in dieser Kontroverse grundsätzliche theologische Deutungsalternativen in Bezug auf das Verständnis des Wortes Gottes, seines Zu sammenhanges mit Gegenständen der materiellen Welt, der Person Christi und ihrer Gegenwart, der Ekklesiologie und anderem mehr zum Ausdruck bzw. zum Austrag kamen. Der Abendmahlsstreit bildete zugleich den Anlass, an dem sich vorhandene theologische Differenzen artikulierten, und die Ursache, auf Grund deren sie sich vertieften und doktrinal verfestigten. Die Tatsache, dass der Abendmahlsstreit überdies seit dem Frühherbst 1524, als eine Reihe von Abendmahlsschriften Karlstadts erschien, im Raum der »reformatorischen Öffentlichkeit« ausgetragen wurde, trug wesentlich dazu bei, dass er phasenweise den Charakter eines theologiepolitischen Richtungskampfes um die öffentliche Meinung insbesondere im oberdeutschen Raum annahm und auch als Auseinandersetzung um die Autorität Luthers und den Anspruch auf eigene Lehrautorität einiger von ihm in der Abendmahlsfrage abweichender Reformatoren geführt wurde. Die in der älteren Forschung zum Abendmahlsstreit übliche Fixierung auf die Antipoden Zwingli und Luther als Hauptkontrahenten der Debatte und Meinungsführer zweier auseinanderstrebender theologischer Lager hat die Erfassung der komplexen historischen Bedeutung der Kontroverse und ihrer kommunikationsgeschichtlichen Breite eher behindert als gefördert und zum Teil dazu geführt, die diskursive Entwicklungsdynamik der Auseinandersetzung zu unterschätzen, ja im Abendmahlsstreit lediglich den Niederschlag unvereinbarer theologischer ›Ansätze‹ wahrzunehmen. Dies geht insofern an der Sache vorbei, als Zwinglis
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frühreformatorisches Wirken in Zürich zunächst von dem Bewusstsein einer zwar eigenständig gewonnenen, gleichwohl substantiell mit Luther übereinstimmenden Position bestimmt war und er auch von seiner Umwelt in affirmativer oder polemischer Tendenz als Parteigänger des Wittenberger ›Ketzers‹ wahrgenommen wurde. Zwinglis theologische Entwicklung vom Erasmischen Christentum zur reformatorischen Theologie und die Frage, welche Bedeutung der Rezeption der Schriften Luthers in diesem Zusammenhang zugekommen ist, bilden ein besonders kompliziertes und umstrittenes Problem der Reformationsgeschichtsforschung. Einvernehmen herrscht in der Regel darüber, dass Anfechtungen, Zweifel und Seelennöte, die in einer etwa eruptiv und umbruchartig vollzogenen ›reformatorischen Wende‹ gelöst worden wären, in seiner Entwicklung und in den retrospektiven Deutungen, die er ihr widmete, keine entscheidende Rolle gespielt haben. Alles deutet auf eine allmähliche, mit vertieften exegetischen Studien und der sorgfältigen Auseinandersetzung mit der patristischen und Teilen der scholastischen Theologie untrennbar verbundene Transformation seiner Position hin, die nach und nach zu einer fundamentalen Bestreitung des überkommenen Kirchenwesens und seiner theologischen Grundlagen führte. In Bezug auf die Bestimmung des Propriums reformatorischer Theologie im Sinne eines Luther, Zwingli und anderen Reformatoren gemeinsamen, basalen Grundanliegens herrscht in der Forschung Uneinigkeit darüber, ob die Glaubensgerechtigkeit im Sinne Luthers bei dem Zürcher Reformator eine vergleichbar zentrale, integrative Bedeutung besessen habe oder nicht vielmehr von einer dauerhaften humanistischen Prägung auszugehen ist, die zu einem spezifischen Profil reformatorischer Theologie geführt hat. Überdies ist damit zu rechnen, dass sich Zwinglis Theologie in starkem Maße im Horizont der kontextuellen Herausforderungen, in denen er als Prediger und Seelsorger seiner Zürcher Gemeinde stand, ausformte und dass in diesem Prozess immer wieder Nachrichten oder literarische Rezeptionsprozesse der von Luther angestoßenen reformatorischen Bewegung wirksam wurden. Möglicherweise interessierte sich Zwingli bei seiner Rezeption Lutherscher Schriften besonders für die kritischen Konsequenzen, die der Wittenberger Theologieprofessor in Bezug auf die zeitgenössische kirchliche Praxis etwa des Zölibats, des Ablasswesens, der Papstgewalt, der Geltung des kanonischen Rechts oder der Heiligenverehrung zog. Manche der Kritikpunkte waren aus der humanistischen Reformbewegung durchaus geläufig, so dass sich Luthers Vorstellungen in rezeptionsgeschichtlicher Perspektive an vertraute Auffassungen anschließen konnten. Eine schlechterdings herausragende Bedeutung erkannte Zwingli Luther allerdings als Exegeten zu, »der da mit so grossem ernst die gschrifft durchfüntelet [i. e. durchforscht], als er in tusend jaren uff erden ie xin [i. e. gewesen] ist« (Z 2, Usslegen 1523, 147,15 f). Die Tatsache, dass der Konflikt mit dem von Zwingli geschätzten Exegeten Luther über einer im Kern exegetischen Frage, nämlich der Auslegung der biblischen Abendmahlstexte, insbesondere der Ein-
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setzungsworte (Mt 26,26–28 par.), aufbrach, unterstreicht die Dramatik des binnenreformatorischen Zerwürfnisses. In Bezug auf Zwinglis frühe Wahrnehmung und Deutung Luthers kann folgendes als gesichert gelten: Zwingli war seit Dezember 1518 über Luthers Ablasskritik, die er zustimmend registrierte, informiert; im Rahmen des engen Kontaktnetzes der Humanisten um Beatus Rhenanus, Erasmus und andere partizipierte er an Nachrichten über den Wittenberger Reformator; durch seine Beziehungen zum Basler Drucker Johannes Froben und über Dritte erhielt er Lutherschriften, u. a. die erste lateinische Sammelausgabe Lutherscher Schriften, die Froben herausbrachte und der eine zentrale Bedeutung für die Lutherrezeption der Humanisten, auch im Ausland, zukam. Insbesondere Luthers Kritik am Papsttum und an der Heiligenverehrung nahm er bereits im Frühjahr 1519 produktiv auf; als Luthers Auslegung deutsch des Vaterunsers für die einfältigen Laien (1519) in Zürich bekannt wurde, meinten einige Predigthörer Zwinglis, die mit seiner fortschreitenden Auslegung des Matthäusevangeliums, die er von der Kanzel des Großmünsters vortrug, bekannt waren, sie stamme von ihm (Z 2; 146,9–13). Im Herbst 1519 hat Zwingli Gedanken aus Luthers Auseinandersetzung mit dem Papsttum aus dem Umfeld der Leipziger Disputation zustimmend aufgenommen; in einem Briefwechsel mit dem berühmten Freiburger Juristen Ulrich Zasius erkannte er ihre Berechtigung an, nicht ohne allerdings in der üblichen Humanistenart ein zurückhaltendes Vorgehen für angemessener zu halten. Möglicherweise wurde die Beschäftigung mit Luthertexten für Zwingli auch zum Anlass, sich seit Anfang 1520 intensiver mit Augustins Sünden- und Gnadenverständnis zu beschäftigen. Auch wenn die Relativierung des Kirchenväter‑, v. a. des von Erasmus besonders geförderten Hieronymusstudiums durch den Grundsatz der alleinigen Geltung der Schrift von Zwingli selbst noch in die Zeit vor seinem Wechsel nach Zürich (1.1.1519) datiert wurde (Z 2; 145,5–17), dürfte sein besonderes Interesse an Augustin durch Luther gefördert worden sein. Neben der Schrift selbst war auch Augustin für Zwingli auf Dauer eine wichtige Instanz der kritischen Lutherlektüre. Der, wie es scheint, sich frühzeitig abzeichnende, höchst selbständige Umgang Zwinglis mit Luther, dessen Texte er auch weiterhin intensiv studierte, unterscheidet den Zürcher Reformator von nicht wenigen Parteigängern des Wittenberger Bibelprofessors, für die die Begegnung mit seinen Schriften zu einer ›existentiellen Wende‹ und zu einem Bruch mit ihrer bisherigen beruflichen Stellung oder ihrer monastischen Existenz geführt hatte. Unter den Reformatoren ist Zwingli insofern eine Ausnahmeerscheinung, als er grundlegende kirchliche Wandlungsprozesse einleitete und heraufführte, ohne seine berufliche Position zu verändern. Dass er sich in seiner Kritik am überkommenen Kirchenwesen mit Luther bis 1523/24 im Wesentlichen ungebrochen einig wusste, ohne sich en détail an Luther zu orientieren, dürfte ebenso wenig zu bestreiten sein, wie dass er seit 1520/21 als dessen wichtigster Anhänger in der Schweiz galt. Die Tatsache, dass Zwingli im Unterschied zu wohl beinahe allen führenden Reformatoren keinen direkten Briefwechsel mit Luther aufnahm und
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auch der Wittenberger kaum wesentlich mehr von ihm wusste, als dass er erfolgreich gegen Fabri disputiert hatte, weshalb er ihm und anderen auch den weiteren Kampf gegen diesen überlassen könne (WA 12; 86,30–87,1), begünstigte die spätere Eskalation des Streites ebenso wie der Umstand, dass Nachrichten Dritter die gegenseitige Meinung voneinander beeinflussten und dass Luther in seiner Polemik gegen Zwingli gelegentlich anti-schweizerische Ressentiments verwendete. Nur ein einziges Mal, während des Marburger Religionsgesprächs, sind Luther und Zwingli einander persönlich begegnet; unter den gegebenen Bedingungen trug dies zur Entlastung des Verhältnisses nur wenig bei. Dass Luther und Zwingli bereits vor der Kontroverse unterschiedliche abendmahlstheologische Konzeptionen vertraten, die den Keim des späteren Konflikts in sich bargen, wird an einer ersten ausführlichen publizistischen Äußerung des Zürchers zu Luther, die sich in der Schrift Auslegen und Gründe der Schlußreden (14.7.1523), einer ausführlichen Kommentierung der Thesen der ersten Zürcher Disputation vom Januar 1523, findet, deutlich. In der Auslegung des dem Abendmahl gewidmeten 18. Artikels kommt Zwingli darauf zu sprechen, dass Luther Leib und Blut Christi mit Vorliebe als »ein testament« (Z 2; 144,19) bezeichne, während Zwingli selbst die Bezeichnung als »widergedächtnus« (aaO 144,21) bevorzuge. Damit gibt Zwingli die seit Luthers Sermon von dem Neuen Testament (1520) und De captivitate Babylonica (1520) dominierende, auch in seiner gegen die symbolische Abendmahlsdeutung Hoens und der Böhmen gerichteten Schrift Von Anbeten des Sakraments (1523) weiterverfolgte abendmahlstheologische Grundposition des Wittenberger Reformators durchaus sachgerecht wieder: Die Elemente Brot und Wein sind Leib und Blut Christi und als solche äußeres Versiegelungs- und Bekräftigungszeichen (sacramentum) des in Christi Zusage (promissio) im Abschiedsmahl ergangenen Vermächtnisses (testamentum). Für Luthers Abendmahlstheologie ist seit 1520 perspektivisch entscheidend, dass Christus im Abendmahl an seiner Gemeinde durch Wort und Zeichen handelt. Zwingli hingegen, der noch 1523 die Identität der sakramentalen Zeichen mit Leib und Blut selbstverständlich voraussetzt, versteht das Abendmahl primär als Handlungsvollzug der Gemeinde: Das Wort »widergedächtnus« ist »ein nam des bruchs, also, das unser bruchen nüt anderst ist, weder von nüwem gedencken und brysen [i. e. preisen]« dessen, was Christus bei der Einsetzung des Abendmahls selbst getan habe (Z 2; 144,22–25). Diese perspektivische Differenz im Ansatz des Abendmahlsverständnisses wirkte sich bereits vor dem innerreformatorischen Abendmahlsstreit in einer unterschiedlichen Argumentationsstrategie in Bezug auf das Messopfer aus: Während für Luther von seinem Glaubens- und Rechtfertigungsverständnis her der entscheidende Kritikpunkt am Messopfer in der Vorstellung bestand, dass der Mensch Gott etwas darbringen könne, kritisierte Zwingli die Messfeier primär vom Charakter des Abendmahls als Memorialakt her: Da es ein Gedächtnis des Selbstopfers Christi am Kreuz vollziehe, könne es nicht selbst ein Opfer sein, sondern müsse auf dieses im Modus der Erinnerung verweisen.
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Obschon Zwingli und Luther in Bezug auf die kritischen Konsequenzen gegenüber der bisherigen Sakramentspraxis – das Verbot des Laienkelchs, die Opfervorstellung, die Siebenzahl der Sakramente, die Stillmessen etc. – weitestgehend übereinstimmten, bildeten die unterschiedlichen Perspektiven ihres Abendmahlsverständnisses ex post ein wesentliches Motiv ihrer späteren Differenz. In Bezug auf den gemeinsamen römisch-katholischen Gegner sah Zwingli in ihren unterschiedlichen Ansätzen jedoch keinen Streitpunkt (»dhein span«: Z 2; 144,21). Auch darin, dass Luther »in etlichen dingen den blöden [i. e. Schwachen]« »vil nachgibt« (Z 2; 148,3 f), etwa in Bezug auf die Ohrenbeichte oder die Fürbitte der Heiligen (Z 2; 148,7. 149,7), markierte Zwingli schon bei seiner ersten ausführlichen Äußerung über den Wittenberger Reformator eine signifikante Differenz, in der sich sein später immer wieder bekundeter Anspruch eines gegenüber Luther konsequenteren und der Lehre Christi gemäßeren kirchlich-theologischen Programms andeutet. In Bezug auf den Ansatz seiner Abendmahlstheologie und den Anspruch seines Reformationskonzepts weist Zwingli unverkennbare Parallelen zu Karlstadt auf. Der Ausbruch des Abendmahlsstreites hatte zwei sich gegen Jahresende 1524 v. a. in Oberdeutschland und der Schweiz wechselseitig verstärkende Ursachen: zum einen die Diskussionen um die liturgischen Veränderungen der überkommenen Messfeier, die in Zürich, Straßburg, Nördlingen und Nürnberg seit Sommer 1524 intensiv geführt und zum Teil aufeinander abgestimmt wurden, zum anderen die seit Oktober 1524 v. a. in Oberdeutschland Aufsehen erregenden Abendmahlsschriften des im September 1524 aus Kursachsen vertriebenen Karlstadt, die die leibliche Realpräsenz Christi in den Elementen des Abendmahls massiv bestritten und die Abendmahlslehre Luthers als ›neue Papisterei‹ brandmarkten. Für die Frontenbildung im Abendmahlsstreit wurde charakteristisch, dass die Mehrzahl der schweizerischen und oberdeutschen Theologen Karlstadts exegetischer Lösung, nach der das »hoc« der Einsetzungsworte von dem folgenden »quod pro nobis traditur« her zu deuten sei und sich auf den Kreuzigungsleib beziehe – das neutrische τοῦτό, so argumentierte er, könne nicht mit dem maskulinischen ὁ ἄρτος verbunden werden, so dass Christus beim Sprechen der Einsetzungsworte auf sich selbst gezeigt habe –, nicht zustimmte, hingegen seine Konsequenzen, die Leugnung einer leiblichen Realpräsenz, einer konsekratorischen Wirkung der verba testamenti und die Abschaffung der Elevation, teilte. Auch den von Karlstadt als exegetisches Schlüsselargument gegen die leibliche Präsenzvorstellung eingeführten Vers Joh 6,63 (das Fleisch ist nichts nütze), den Luther nur auf eine ungeistliche Nießung, nicht aber auf die Elemente zu beziehen anerkannte, verwendeten Zwingli und seine oberdeutschen Parteigänger entsprechend. Bereits vor der Veröffentlichung der Abendmahlsschriften Karlstadts waren Zwingli und sein Zürcher Kollege Leo Jud nach Ausweis eines Briefes des Wertheimer Predigers Franz Kolb an Luther (WAB 3; 329–332) zu dem Ergebnis gelangt, dass die Einsetzungsworte den am Kreuz hingegebenen Christusleib, nicht aber den in den Elementen anwesenden Christus bezeichneten, und hatten
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dies mit Joh 6,63 begründet. Auch die Nießung des Leibes Christi verstanden sie bereits als Glauben an seine Leidenshingabe (»Nobis [sc. Kolb, Zwingli, Jud] ergo videtur, quod, quando dicitur corpus Christi manducari, quod nihil aliud sit, quam verbo credi, quod corpus eius traditum sit pro nobis in mortem«: WAB 3; 331,90–92). Aufgrund dieser Nachricht war Luther bereits im Herbst 1524 zu der Gewissheit gelangt, dass Zwingli und Leo Jud dasselbe wie Karlstadt dächten (WAB 3; 373 f. 373,11 ff. WAB 3; 397,5–7), ein Urteil, das in Bezug auf die Gesamttendenz der Zürcher Abendmahlstheologie zutreffend, in Bezug auf die exegetische Deutung der Einsetzungsworte hingegen unrichtig war. Zwinglis zum Zeitpunkt des Kolb-Briefes an Luther noch nicht abgeschlossene, unter dem Einfluss der Karlstadtschriften und ihrer lebhaften Rezeption in Zürich intensivierte Suche nach einer seines Erachtens tragfähigen exegetisch-philologischen Lösung führte unter dem Eindruck seiner Bekanntschaft mit dem sog. Hoen-Brief, einem von dem Niederländer Hinne Rode seit 1521 verbreiteten, ursprünglich an Luther gerichteten Traktätlein, das das est der Einsetzungsworte im Sinne von significat zu deuten vorschlug – eine Interpretation, der Luther in Von Anbeten des Sakraments eine klare Absage erteilt hatte (WA 11; 417–456) –, zu einem eindeutigen Ergebnis, das sich in einem offenen Brief an den Reutlinger Reformator Matthäus Alber (Übersendung an die Straßburger Prediger am 16.12.1524; Druck im März 1525) dokumentierte: In den Einsetzungsworten sei ein Tropus, und zwar im est, das als significat zu deuten ist; Brot und Wein verwiesen symbolisch auf die Leidenshingabe am Kreuz, deren sich die Gemeinde im Ritus gläubig erinnere; in der als Bundeszeichen zu deutenden Mahlfeier verpflichte sich die Gemeinschaft der Glaubenden zur Treue gegenüber Gott und seiner Gemeinde, ähnlich dem Treueschwur städtischer Kommunen, wie sie Zwingli und seinen Anhängern aus dem eigenen Lebenskontext bekannt waren. Unter Rekurs auf den altkirchlichen Sprachgebrauch verstand er sacramentum als Eides- und Verpflichtungszeichen der Gemeinde, nicht als Heilsmittel, mit dem Christus selbst an seiner Gemeinde handelt. Als es im Sommer 1525 zu einem offenen Ausbruch des Abendmahlskonflikts zwischen Wittenberg und Zürich kam, war Karlstadt aus der Gruppe der öffentlich gegen eine leibliche Realpräsenzauffassung auftretenden Theologen ausgeschieden. Luthers Schrift Wider die himmlischen Propheten (1525) hatte ihn zu einer ›untragbaren‹ Gestalt gemacht, und seine Affinität zu klandestinen Milieus, etwa dem Kreis der im Entstehen begriffenen Zürcher und Straßburger Täufergemeinde, hatte den Argwohn der ›etablierten‹ Reformatoren, unter ihnen auch Zwinglis, gegen ihn angefacht, auch wenn sie Luthers Schrift gegen den Wittenberger Dissidenten scharf ablehnten. Luthers Publizistik im Bauernkrieg (k B. III. 5.) verstärkte Zwinglis Vorbehalte gegen ihn nachdrücklich. Nachdem Karlstadt nach seiner heimlichen Rückkehr zu Luther zu einer distanzierenden öffentlichen Erklärung seiner Abendmahlslehre (WA 18; 455–466) genötigt worden war, die zwar keine Revokation darstellte, aber doch ihren hypothetischen Charakter betonte und sie als eher unverbindlichen Diskussionsbeitrag relativierte,
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löste dies im schweizerisch-oberdeutschen Lager heftige Empörung aus, die sich v. a. in von Straßburg aus verbreiteten anonymen und pseudonymen Flugschriften Luft machte. Erschwerend kam hinzu, dass Bugenhagen in einem Mitte Juli verfassten und sogleich gedruckten Sendbrief an den Breslauer Reformator Johannes Heß einen ersten öffentlichen Angriff auf Zwingli vortrug; in der Vorrede zu Karlstadts Erklärung, die in der zweiten Septemberhälfte 1525 im Druck erschien, ging auch Luther zu einem Angriff auf Zwingli über und konstatierte, dass dieser wie Karlstadt und andere in Bezug auf das Abendmahl »aus eym wahn und fragen« redete, nicht jedoch in der Gewißheit eines eindeutigen Schriftfundaments urteilte und also »den geyst ynn dem stuck noch nicht habe[n], auch aus menschlichem dunckel und nicht aus dem geyst« rede (WA 18; 454,24–27). Durch eine diplomatische Gesandtschaft nach Wittenberg bemühten sich die Straßburger offiziell um Schadensbegrenzung und verteidigten Zwingli und den gleichfalls in die Schusslinie der Wittenberger geratenen Basler Reformator Oekolampad, während Bucer in vertraulichen Korrespondenzen für die Hoensche Deutung der Einsetzungsworte warb und Zwingli bei der Vorbereitung eines literarischen Gegenangriffs gegen Luther beriet. Durch die Formierung einer schwäbischen Theologengruppe um Brenz, die im später auch von Wittenberg aus verbreiteten Syngramma der Position Luthers beitrat, verschärfte sich die Konfliktlage dramatisch. Luther stellte nun die Differenzen zwischen Karlstadt, Zwingli und Oekolampad (WA 19; 459,6 ff.20 ff. 461,20–23. WAB 4; 120,28 ff) als Beweis ihrer Heterodoxie bloß. Zum direkten literarischen Schlagabtausch zwischen Zwingli und Luther kam es dann in den Jahren 1527 und 1528. Ende Februar 1527 erschien Zwinglis Amica exegesis und im März eine entsprechende deutsche Schrift (Freundliche Verglimpfung); noch in Unkenntnis dieser Schriften publizierte Luther im März 1527 seine Schrift Daß diese Worte Christi ›Das ist mein Leib‹ noch fest stehen wider die Schwarmgeister (WA 23; 64–283), was wiederum im Juni 1527 zu Zwinglis Dass diese Wort den alten Sinn haben Anlass gab. Luthers letzte Schrift zur frühreformatorischen Abendmahlskontroverse, Vom Abendmahl Christi. Bekenntnis (Februar/März 1528), setzte sich mit allen bisher erschienenen Abendmahlsschriften seiner innerreformatorischen Kritiker, außer Zwingli, Oekolampad und Bucer zuletzt Kaspar von Schwenckfeld, auseinander. Ende August 1528 replizierten Zwingli und Oekolampad gemeinsam auf diese Schrift (Über Luthers Buch Bekenntnis genannt). Die Schriften der beiden Kontrahenten unterschieden sich in ihrem literarischen Gestus zum Teil erheblich: Während Zwingli mit der freundlich-überlegenen Attitüde des Antipolemikers polemisierte, stritt Luther mit der ihm eigenen unverstellten Direktheit dessen, der sein Gegenüber für einen Abtrünnigen hielt. Für Luther ging es in der Diskussion grundsätzlich um die Geltung der Schrift: Er insistierte auf dem seines Erachtens klaren und unmissverständlichen Text der Einsetzungsworte und warf Zwingli vor, dass er aus Befangenheit in substantialistischer Identitätslogik menschliche Vernunftgründe, die die paradoxe Identität zweier unterschiedlicher Entitäten – Brot und Leib; Wein und Blut – leugnen
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müssten, auf das Schriftzeugnis anwende. Die Auslegung der Einsetzungsworte mündete damit zwangsläufig in die Interpretation der Person Christi ein, die für Luther als kommunikativer Prozess der untrennbar innigen Gemeinschaft von Gott und Mensch gedacht wurde, von Zwingli hingegen als Abhängigkeit der menschlichen von der göttlichen Natur, deren Suppositum diese im Sein halte; nach der Auferstehung sitze die menschliche Natur an einem certus locus, zur Rechten Gottes, könne also nicht substantiell mit dem Brot verbunden sein. Die Zwingli vor allem aus seiner scotistischen Schultradition geläufige Basisdoktrin einer grundsätzlichen Improportionalität von finitum und infinitum erhielt unter den Bedingungen des Abendmahlsstreites neue Aktualität. Während Luther die Allgegenwart als ein Idiom der göttlichen Natur, an dem die menschliche Natur in Christus real beteiligt sei, verstand (Communicatio idiomatum realis), sah Zwingli in der Übertragung gottheitlicher Prädikate auf den Menschen Jesus lediglich rhetorische Applikationen (Alloiosis), die die fundamentale ontologische Differenz von Schöpfer und Geschöpf in Christus nicht aufhoben. Während für Luthers Wirklichkeitsverständnis im Horizont des Evangeliums soteriologisch schlechterdings entscheidend war, dass sich Gott selbst mit der geschöpflichen Welt in Wort, Sakrament, Christus incarnatus wesentlich gemein machte, insistierte Zwingli darauf, dass der in neuplatonischer Tradition gedachte Menschengeist mit dem Gottesgeist kommuniziere, alles ›Fleischliche‹ hingegen unter prinzipialistischer Anwendung des johanneischen Axioms (Joh 6,63) per se nutzlos sei. Nach Zwinglis geistbezogenem Glaubensverständnis konstituiert der Glaube die geistliche Gegenwart Christi in seinen Gläubigen; für Luther wird der als reines Empfangen verstandene Glauben im Wort der Zusage Christi konstituiert. Luthers als testimoniales ›letztes Wort‹ zur Sache gestaltetes Bekenntnis, dem in der weiteren bekenntnistheologischen Entwicklung des Luthertums (FC 7–8) eine beträchtliche rezeptionsgeschichtliche Bedeutung zuwachsen sollte, bewertete den innerreformatorischen Lehrgegensatz dezidiert als kirchentrennend, während Zwingli und seine Parteigänger die Heils- und Glaubensgewissheit durch den Streit um eine res externa nicht berührt sahen. Zwinglis Auffassung, Luther bleibe mit seiner in der Kontroverse entfalteten Sakramentslehre noch im Papsttum stecken, ja falle hinter die Position seiner früheren Abendmahlsschriften, insbesondere seines Sermon[s] von 1519 (WA 2; 742–758) zurück, sollte für den Überbietungsanspruch des reformierten Protestantismus gegenüber dem Luthertum charakteristisch bleiben, verkennt aber die für Luthers Theologie zentrale Bindung an den Literalsinn des als aktuelle Zusage ergehenden verbum promissionis des Abendmahls, das kein historisches Berichtswort über die illic et tunc erfolgte erste Mahlfeier Christi, sondern vollmächtiges, wirklichkeitsveränderndes Tatwort des gegenwärtigen Herrn ist. Insofern liegt dem innerreformatorischen Sakramentsstreit eine tiefgreifende hermeneutische Differenz in Bezug auf das Verständnis des Wortes Gottes (k C. II. 2.) zugrunde. Dass es angesichts der unvermittelbaren Abendmahlspositionen zwischen Luther und seinen Parteigängern einerseits, Zwingli und seinen Freunden ande-
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rerseits zu einem auf Entschärfung, ja Überwindung der Gegensätze ausgerichteten Religionsgespräch in Marburg kam, war vor allem der Initiative des hessischen Landgrafen Philipp zu verdanken, der – in dieser Einschätzung v. a. von Bucer bestärkt – in der Kontroverse lediglich einen Streit um Worte sah und religiöse und politische Interessen an einem Zusammenschluss aller protestantischen Kräfte im Reich und in der Eidgenossenschaft verfolgte. Der während des zweiten Speyrer Reichstags im Frühjahr 1529 offenkundig gewordene Versuch der altgläubigen Seite, den Abendmahlsstreit zu instrumentalisieren, um die protestantischen Stände politisch zu spalten, verstärkte die Bereitschaft des sächsischen Kurfürsten Johann, sich auf ein politisches Bündnis einzulassen; um diese Option offenzuhalten, veranlasste er seine Theologen, die Einladung des Landgrafen zu einer »freundlich undisputirlich[en] Unterrede« (WAB 5; 108,8) anzunehmen, ihre eigene Position aber zugleich in einem Glaubensbekenntnis niederzulegen (Schwabacher Artikel Juli 1529), das die konfessionstheologische Basis des Bündnisses bilden sollte. Nach Einzelgesprächen zwischen Melanchthon und Zwingli einerseits, Luther und Oekolampad andererseits (1.10.) folgte in Anwesenheit des Landgrafen die gemeinsame Hauptverhandlung der vier Theologen an den folgenden beiden Tagen, die dadurch geprägt war, dass Luther seinen Gegnern vorwarf, dass sie die Gegenwart des Leibes Christi im Abendmahl mit Vernunftgründen bestritten. Mit Kreide schrieb er die Worte »Hoc est corpus meum« auf den Tisch – als Richtschnur und unüberschreitbares Kriterium der Verständigung. Im Verlauf des Gespräches wurden noch einmal alle bereits literarisch ausgetragenen Einzelfragen der Abendmahlstheologie, auch unter Einbeziehung der besonders von Zwingli angeführten patristischen Zeugnisse, behandelt (Verhältnis von manducatio spiritualis und carnalis; Joh 6,63; Präsenzmodi der Person Christi; Wortsinn der Einsetzungsworte). Trotz verschiedener Lösungsformeln scheiterte eine Einigung; der Vorschlag der Schweizer, sich trotz der Lehrdifferenz gegenseitig als Brüder anzuerkennen, erwies sich aufgrund des Widerspruchs Luthers und der Seinen als nicht durchführbar. Die auf Wunsch des Landgrafen von Luther unter Verwendung der Schwabacher Artikel zusammengestellten Marburger Artikel konnten in 14 Lehrfragen reformatorische Gemeinsamkeiten formulieren; Artikel 15 enthielt die basalen antirömischen Übereinstimmungen im Abendmahlsverständnis (communio sub utraque; Verwerfung der Messe; Vorrang der manducatio spiritualis), notierte lediglich in bezug auf die Frage, »[o]b der war Leib und Blut Christi leiblich ym brot und wein sey«, dass man sich »dieser zeyt nicht vergleicht« (WA 30,3; 169 f) habe, und enthielt die gegenseitige Verpflichtung zu »Christliche[r] lieb, so ferr yedes gewissen ymmer leiden kann«. Obschon sich jede Seite nach den Marburger Verhandlungen den Sieg zuschrieb, beendete das einzige Religionsgespräch zwischen den führenden Repräsentanten der sächsischen, der oberdeutschen und der schweizerischen Reformation den offenen literarischen Kampf in der Abendmahlsfrage; es steht damit am Anfang jener Entwicklung, die 1536 zur Wittenberger Konkordie führen sollte – freilich unter Ausscheiden der Schweizer, die 1531 mit Zwingli und Oe-
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kolampad ihre wichtigsten theologischen Führer verloren hatten. Bucer, der der wesentliche Motor der späteren Abendmahlskonkordie werden sollte, wurde – nicht zuletzt aufgrund der politischen Konstellationen, die den Beitritt Straßburgs und anderer oberdeutscher Städte zum Schmalkaldischen Bund und zur CA nahelegten – zu einer immer deutlicheren Distanzierung von Zwingli genötigt, dem er noch im unmittelbaren Vorfeld der Konkordienverhandlungen in Gestalt einer Vorrede zum Briefwechsel des Zürcher und des Basler Reformators seine literarische Referenz erwiesen hatte. In Zwinglis Kriegstod sah Luther ein wegen seines Kriegsdienstes verdientes Gottesgericht, das ihn mit Schrecken erfüllte und an der Seligkeit des Zürcher Reformators zweifeln ließ. Dass man ihn in der Stadt an der Limmat als Märtyrer feierte, hielt er für Blasphemie (WAB 6; 243,9–11. WAT 1; 436 f. WAT 2; 103.216.444.590). Eine kirchliche Gemeinschaft mit Anhängern des Zürcher Reformators hielt Luther vor allem wegen der Abendmahlsfrage für nicht vertretbar (WA 54; 119–167). Z = Zwingli, Huldreich: Sämtliche Werke (CR 88 ff), 1905 ff. Brecht, Martin: Zwingli als Schüler Luthers. Zu seiner theologischen Entwicklung 1518–1522 (in: Ders.: Ausgewählte Aufsätze. Bd. 1: Reformation, 1995, 217–236). Gäbler, Ulrich: Huldrych Zwingli. Eine Einführung in sein Leben und sein Werk, 32004. Grötzinger, Eberhard: Luther und Zwingli. Die Kritik an der mittelalterlichen Lehre von der Messe als Wurzel des Abendmahlsstreits (ÖTh 5), 1980. Kaufmann, Thomas: Die Abendmahlstheologie der Straßburger Reformatoren bis 1528 (BHTh 81), 1992. Köhler, Walther: Zwingli und Luther. Ihr Streit über das Abendmahl nach seinen politischen und religiösen Beziehungen. Bd. 1: Die religiöse und politische Entwicklung bis zum Marburger Religionsgespräch 1529 (QFRG 6), 1924; Bd. 2: Vom Beginn der Marburger Verhandlungen 1529 bis zum Abschluß der Wittenberger Konkordie, hg. v. Ernst Kohlmeyer u. Heinrich Bornkamm (QFRG 7), 1953. Moeller, Bernd: Zwinglis Disputationen, 22011. Thomas Kaufmann
9. Luther und Melanchthon Das Verhältnis Luthers zu Philipp Melanchthon ist ein häufig verhandeltes Thema, das besonderes Augenmaß erfordert. Melanchthon war mehr als 27 Jahre lang der engste und bei weitem produktivste Mitarbeiter Luthers. Nach Luthers Tod fiel ihm die Aufgabe zu, dessen theologisches Erbe zu wahren. Die Dauer und Intensität der Beziehung Luthers zu Melanchthon erklären deren Facettenreichtum und bedingen deren mannigfache Wandlungen. Dabei gestatten es die zahlreichen Quellen zwar, den Gang der Dinge detailliert nachzuzeichnen. Sie zeigen aber auch, wie schwierig es ist, das Wesen dieser Beziehung über einen längeren Zeitraum hinweg präzise zu erfassen. Selbst der zunächst
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sehr offene Terminus »Freundschaft« (Mülhaupt 1982 a) greift an dieser Stelle sichtlich zu kurz. Dazu kommt, dass es sich hier um ein Thema handelt, das seit jeher stark positionell besetzt gewesen ist. Wie man das Verhältnis Luthers zu Melanchthon bestimmte, war nie nur eine Entscheidung der Lutherdarstellung. Es entschied immer auch über das Gesamtbild der Reformation. Dabei wirkten sich oft auch Wertungen und Perspektiven der eigenen Gegenwart aus. Dies galt besonders für die konfessionelle Orientierung der Autoren. Entsprechend groß war die Spannweite der Lösungsvorschläge: Sie reichte, namentlich im Bereich der konfessionell-lutherischen Geschichtsschreibung, von der Leugnung aller Differenzen bis zur Verurteilung Melanchthons als des Verderbers des ursprünglichen Luthertums. Erst mit der Einsicht in die Vielgestaltigkeit der Reformation und ihrer Theologien hat sich das Klima in dieser Hinsicht merklich entspannt. Heute gilt mit Recht: Entscheidend ist, was in den Quellen steht. Und eben hier, im Bereich der Quellen, ist die Basis, gerade was Melanchthon anbelangt, in den letzten Jahrzehnten deutlich breiter geworden. Das Verdienst hierfür gebührt vor allem der Melanchthonforschungsstelle in Heidelberg und ihrer Edition des MelanchthonBriefwechsels (MBW). Hierdurch angeregte Versuche, Melanchthon unabhängig von Luther zu würdigen, haben sich inzwischen als fruchtbar erwiesen. Allerdings sind auch sie nicht ganz unproblematisch. Man gerät hier nämlich in Gefahr, »Melanchthon seine historische Größe zu nehmen«. Die aber bestand »eben darin […], der große Zweite neben einem größeren Ersten zu sein« (Brecht 2000, 83). 9.1. Unterschiedliche Voraussetzungen
Philipp Melanchthon (gräzisiert aus: Schwartzerdt) war über 13 Jahre jünger als Luther und entstammte einem deutlich anderen Milieu (am 16.2.1497 in der Amtsstadt Bretten als Sohn eines im kurpfälzischen Hofdienst stehenden Waffentechnikers und einer wohlhabenden Kaufmannstochter geboren, seit 1508 Schulbesuch in Pforzheim bei G. Simler, Förderung durch seinen Verwandten Johannes Reuchlin, der dem Zwölfjährigen 1509 seinen Humanistennamen verlieh). Weitere Differenzen zeigen sich im akademischen Bildungsweg: Nach seinem philosophischen Studium in Heidelberg (seit 1509; via antiqua) und Tübingen (seit 1512; via moderna; 1514 magister artium) hörte zwar auch Melanchthon theologische Vorlesungen. Diese beeindruckten ihn aber kaum (MBW 171, 2732. 2780). Wichtiger wurden jene humanistischen Studien, die er zusammen mit Johannes Oekolampad betrieb. Außerdem widmete er sich dem Studium der Astronomie (Johannes Stoeffler) und trug sich mit dem Gedanken, eine Gesamtausgabe des griechischen Aristoteles zu veranstalten (MBW 17). Ein Ordenseintritt stand für Melanchthon nie zur Debatte. Der Judenbücherstreit (seit 1510) sah ihn aufseiten Reuchlins (MBW 1). Als Korrektor in der Druckerei Thomas Anshelms lernte er die Weltchronik des Johannes Nauclerus kennen. Seine erste wissen-
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schaftliche Publikation war die Terenzausgabe (MBW 7). Sie trug ihm das Lob des Erasmus von Rotterdam ein. Melanchthon bedankte sich mit einem griechischen Gedicht. Im Mai 1518 erschien seine Griechische Grammatik (MBW 16 f). 9.2. Schüler, Anhänger und Verteidiger Luthers
Dass Melanchthon wenig später auf den neuerrichteten Lehrstuhl für Griechisch an der kursächsischen Universität Wittenberg berufen wurde, verdankte er der Fürsprache Reuchlins (MBW 19 f). Luther, der zunächst einen anderen wollte, hat in dieser Wahl später eine Gnade Gottes gesehen (1545; WA 54; 182). Für Melanchthon stellte sich dies aber noch lange anders dar (1524; MBW 348). Tatsächlich hatte er zunächst kaum Vorstellungen, was ihn in Wittenberg erwartete, und sah in Luther nur einen gelehrten und ungewöhnlich frommen Mann (MBW 25). Am 28.8.1518 hielt Melanchthon seine berühmte Antrittsrede De corrigendis adolescentiae studiis (MBW 30). Sie betonte die Notwendigkeit des Griechischen, der Geschichte und der Mathematik. Allerdings kam auch hier alles auf die Leitung durch den heiligen Geist an. Luther war begeistert (WAB 1; 192). Er lobte Melanchthons sprachliche Fähigkeiten (WAB 1; 203.252) und nannte diesen schon Ende 1518 Reuchlin gegenüber seinen Freund (WAB 1; 269). Welch große Hoffnungen er auf den zierlichen Kollegen setzte, zeigt auch ein Brief, den er im März 1519 an Erasmus richtete. Allerdings machte sich Luther damals bereits Sorgen wegen Melanchthons Arbeitswut (WAB 1; 362). Das war berechtigt, denn dieser legte neben den griechischen Klassikern (Homer, Plutarch und Pindar) von Anfang an auch neutestamentliche Schriften (Tit und Jak) aus. Daneben las er aber auch noch über den hebräischen Psalter und die Genesis, studierte die Sprüche und erteilte Unterricht in hebräischer Grammatik (bis 1521). Auch Melanchthon hat den älteren Kollegen rasch schätzen gelernt. Bereits in seiner Vorrede zu dessen Operationes in psalmos (März 1519) stellte er Luther in die Reihe jener Männer, die durch ihre Konzentration auf die Bibel die Theologie erneuert hätten (Erasmus, Reuchlin, Wolfgang Capito, Oekolampad und Andreas Bodenstein von Karlstadt; MBW 47). Obwohl Melanchthons Vorrede zu Luthers Galaterkommentar vom Frühjahr 1519 zunächst nur unter Pseudonym (»Otho Germanus«) erschien (MBW 54; 65), hat Luther dessen Mitwirkung an seinem Buch bald freimütig eingeräumt (WA 2; 595). Spätestens seit der Leipziger Disputation vom Sommer 1519 konnte kein Zweifel mehr daran bestehen, auf wessen Seite Melanchthon stand (Epistola de Lipsica Disputatione; MBW 59). Obwohl Reuchlin ihn dazu drängte, war er nicht zu bewegen, Wittenberg zu verlassen und nach Ingolstadt überzusiedeln (MBW 77; 130.294): »Ich will lieber sterben, als von Luther getrennt zu werden« (so an Johannes Heß; MBW 84). Ob Melanchthon im Frühjahr 1520 tatsächlich ein Luthers reformatorischer Entdeckung vergleichbares Schlüsselerlebnis gehabt hat (vgl. Neuser 1992), lässt sich zwar nicht sicher erweisen. Es ist aber deutlich, dass er nun mehr und mehr zu einem Verteidiger Luthers wurde. Belege hierfür sind z. B. sein schwärmeri-
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scher Brief an Johannes Schwebel vom August 1520 (der Kampf gegen Rom als gemeinsame Sache; MBW 104) oder seine Äußerungen über Luthers dessen Freiheitstraktat vorangestellten Brief an Papst Leo X. (an Georg Spalatin; MBW 109). Unbedingt als eine Apologie für Luther anzusprechen ist auch Melanchthons im Vorfeld des Wormser Reichstags publizierte Schrift gegen Tommaso Rhadino (vgl. Brecht 2000). Wie Luther später bei Tisch bemerkte, tat sich Melanchthon aber schwer mit solcher Polemik (WAT 1; 443). 9.3. Geschätzter Kollege, Erneuerer der Universität und Mitvisitator
Seitdem Melanchthon am 19.9.1519 den Grad eines baccalaureus biblicus erworben hatte, war er verpflichtet, Vorlesungen nach der Vulgata zu halten. Er las nun zunächst über das Matthäusevangelium und seit April 1520 ein ganzes Jahr lang, aber nicht ohne Unsicherheiten, über den Römerbrief. Während Luthers Reise nach Worms und dessen Aufenthalt auf der Wartburg hielt er die Mehrzahl der biblischen Vorlesungen (1 und 2 Kor, Joh, Erklärungen des Röm und Gal nach dem Urtext). Bei Ausbruch der Wittenberger Unruhen (1521/22) war auch Melanchthon unter denen, die die durch den abwesenden Luther geforderten Reformen in Angriff nahmen: Am 29.9.1521 empfing er im Kreis seiner Schüler erstmals das Abendmahl unter beiderlei Gestalt. Dennoch war er nicht bereit, Luthers Wunsch zu folgen und dessen Wittenberger Predigtauftrag zu übernehmen (MBW 139.141.151). Die Zwickauer Propheten haben ihn nur kurz irritiert (MBW 192 ff). Er hatte damals aber Probleme mit der Begründung der Kindertaufe (MBW 202.332; zur Lösung dann MBW 640). Luther hat dies zwar wahrgenommen, es aber letztlich akzeptiert. Unerträglich war ihm nur, dass Melanchthon seine Vorlesungen ungedruckt lassen wollte. Luther hielt dessen Exegesen nämlich inzwischen für unverzichtbar. Das galt selbst dort, wo diese eigene Wege gingen, wie später im Kolosserkommentar von 1527/29 (MBW 547; WA 30,2; 68 f). Ohne auf den Kollegen Rücksicht zu nehmen, gab Luther dessen Anmerkungen zum Römerbrief, zu den beiden Korintherbriefen (MBW 230) und zum Johannesevangelium (WA 12; 56 f) daher einfach selbst heraus. Noch 1525 (nun bereits im Kontext des Streites mit Erasmus) lobte er Melanchthons aus der Römerbriefexegese entstandene Loci communes von 1521 (WA 18; 601 u. [zu den Loci von 1535] WAT 5; 204). Auch ihre lebenslange Zusammenarbeit bei der Übersetzung der Bibel und deren Revision (ab 1522) muss hier erwähnt werden. Für Luther vollends unverzichtbar wurde Melanchthon dann durch jenes Bildungsprogramm, das dieser der spiritualistischen Kulturfeindlichkeit im eigenen Lager entgegensetzte. Es schlug sich in einer neuen Studienordnung nieder (1523). Diese verpflichtete jeden Studenten, sich vom Rektor der Universität einen Pädagogen zuweisen zu lassen, dem fortan die Aufsicht über seine Studien oblag. Gleichzeitig wurden die traditionellen Disputationes reduziert. An ihrer
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Stelle wurden Declamationes eingeführt, Redeübungen, die nicht nur das formallogische Denken schulen, sondern auch zur klaren und schönen Darstellung eines Themas anleiten sollten. In diesem Zusammenhang konnte Melanchthon sehr wohl auch heftig werden. Dies zeigt seine Vorrede zu Luthers De constituendis scholis vom Juni 1524: »Denjenigen, die hier und dort in der Predigt die unerfahrene Jugend vom Studium der klassischen Literatur abhalten, sollte man die Zunge abschneiden. Denn: Lässt man erst einmal die Barbarei aufkommen, dann wird auch die Religion dahinsinken, wie es früher schon geschehen ist, und ich fürchte, es wird wieder dahin kommen, wenn wir nicht mit Händen und Füßen Gottes schönstes Geschenk, die Wissenschaften, verteidigen« (MBW 330). Bald wurden Melanchthons Verdienste auch offiziell anerkannt: Als der Kurfürst 1525 die Gehälter der Wittenberger Professoren neu festsetzte, wurde er Luther gleichgestellt. Er rangierte nun außerhalb des Stellenplans und durfte seine Lehrgegenstände selbst wählen. Bei aller Einheit im Grundsätzlichen war das Verhältnis beider Männer aber inzwischen nicht mehr spannungsfrei. Luthers Derbheiten (z. B. gegenüber Karlstadt oder Erasmus) veranlassten Melanchthon zu vorsichtigen Distanzierungen (MBW 368. 458.664). Umgekehrt konnte es aber auch gerade Melanchthons lenitas (Sanftheit) sein, die Luther irritierte (WAT 5; 665). Es gab nun sogar Phasen, in denen man nicht mehr miteinander sprach (MBW 382), so vor allem im Juni 1525, als Luther, mitten im Bauernkrieg, Katharina von Bora heiratete (MBW 408). Dennoch trat man füreinander ein: Dies belegen Melanchthons Versuche, den definitiven Bruch zwischen Luther und Erasmus zu verhindern (MBW 597.1421). Dies zeigt sich aber auch daran, wie Luther den Kollegen gegen die Angriffe Johann Agricolas abgeschirmt hat (MBW 612). Verbindend wirkten dabei wohl auch jene Erfahrungen, die man im Kontext des Bauernkrieges (gemeinsame Reise durch das thüringische Aufstandsgebiet: 16.4. – 6.5.1525) und der ersten Visitationen (seit Juli 1527) gemacht hatte. Gegenüber den Bauern war kaum etwas von Melanchthons Milde zu spüren (MSA 1, 190–214). In der Beurteilung Thomas Müntzers stimmte man überein. Dem Schwärmertum als Quelle des Aufruhrs war mit kirchenordnenden Maßnahmen zu begegnen (MBW 399– 401). Dies führte über die lateinischen Visitationsartikel von 1527 zu Melan chthons Unterricht der Visitatoren von 1528. Dieser war durch Luther redigiert worden, gewann damit offizielle Geltung und wurde so zu einer wichtigen Vorarbeit vieler späterer Kirchenordnungen. 9.4. Vertreter Luthers und Wortführer der Wittenberger Reformation
Die einstweilen schwerste Belastungsprobe für das Verhältnis beider Reformatoren wurde dann der Augsburger Reichstag von 1530, an dem Luther selbst nicht teilnehmen konnte (Wormser Edikt 1521). Hier hatte Melanchthon als der wichtigste Theologe der kursächsischen Delegation nicht nur die Politik seines Landesherrn, sondern auch die Grundanliegen der Wittenberger Reformation zu
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verteidigen. Er tat dies auf der Basis der in Abstimmung mit Luther formulierten Confessio Augustana (CA) und im Rahmen zahlreicher Einzel- und Ausschuss gespräche mit den Delegierten und Theologen der altgläubigen Ständemehrheit (Juni bis September 1530). War Luther schnell überzeugt, dass auf diesem Felde nichts zu gewinnen sei, so setzte Melanchthon bis zuletzt alles daran, den endgültigen Bruch zu verhindern. Dabei war er auch zu weitgehenden Zugeständnissen bereit (Anerkennung bzw. Wiederherstellung der bischöflichen Kirchenverfassung gegen Duldung von Laienkelch, Priesterehe und evangelischer Messe; MBW 921). Sowohl Melanchthon als auch Luther gerieten damals an die Grenzen ihrer Möglichkeiten. Dennoch musste man einander in seiner ganzen Unterschiedlichkeit ertragen (MBW 1049.1075). Die damals so exemplarisch zutage getretene Unterschiedlichkeit beider Männer war in den an Luthers Tisch geführten Gesprächen dann noch lange ein wichtiges und häufig variiertes Thema (z. B. WAT 1; 30.140. WAT 3; 460 f. WAT 4; 385 f.637.653. WAT 5; 204 f.231. Mix 1901). Die Protagonisten selbst fanden aber rasch in eine intensive Arbeitsgemeinschaft zurück. Sie bewährte sich in der Entfaltung der Rechtfertigungslehre, bei der sich Luther zeitweise deutlich den Vorstellungen Melanchthons annäherte (Arbeit an den Drucktexten der Apologie [1531–1533], Luthers Galaterkommentar [1531–1533], Melanchthons Römerbriefkommentar [1532]). Selbst der Streit um Conrad Cordatus (1536/37) konnte auf dieser Grundlage dann noch relativ leicht überbrückt werden (MBW 1802). Hatten Luther und Melanchthon noch im März 1530 bestritten, dass es ein Widerstandsrecht der Fürsten gegen den Kaiser geben könne (MBW 872), so ließen sie sich nun durch die Juristen davon überzeugen, dass die Verfassung des Reiches ein solches vorsehe (Torgau Oktober 1530; MBW 1091). Das ermöglichte die Gründung des Schmalkaldischen Bundes (Januar 1531), dessen wichtigster Theologe Melanchthon in den folgenden 15 Jahren werden sollte. Im Einsatz für ein gemeinsames Bekenntnis als Bündnisgrundlage kam ihm dabei mehrfach die Aufgabe zu, konsensfähige Bekenntnistexte zu formulieren (Wittenberger Konkordie, 1536; Tractatus de potestate et primatu Papae, 1537; CA variata, 1540 u. a.). Dass es dabei auch zu Spannungen mit Luther kam, war kaum zu vermeiden. Sie zeigten sich besonders in der Abendmahlslehre: Hier hatte Melanchthon zunächst (1524–1530) durchaus aufseiten Luthers gestanden (klare Voten gegen Karlstadt und […] Schwenckfeld, missbilligende Zurückhaltung gegenüber Huld rych Zwingli). Er hatte Luther in seinem Antizwinglianismus (Angst vor einem Religionskrieg, Bemühen um einen Ausgleich mit den Altgläubigen) zuletzt sogar deutlich übertroffen (Zweiter Reichstag zu Speyer 1529, Marburger Religionsgespräch 1529, Augsburger Reichstag 1530). Seit Anfang 1531 (MBW 1118 ff) öffnete sich Melanchthon dann aber zügig den Positionen Martin Bucers, auf dessen Vermittlungsversuche sich später, eher widerwillig, auch Luther einließ. Reibungen entstanden dabei u. a. bei den Vorverhandlungen zur Wittenberger Konkordie 1536 (MBW 1525), im Umfeld des Tages von Schmalkalden 1537 (MBW 1845) und im Zusammenhang des Schenckschen Streites 1537. Trotz der Proteste
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Nikolaus von Amsdorfs u. a. wollte sich Luther aber nicht von Melanchthon distanzieren. Nur einmal, 1544, schien der Bruch tatsächlich gekommen zu sein: Melanchthon musste sich Luthers Zorn über die Abendmahlslehre der Kölner Reformation anhören und bezog dessen Kritik an Bucer auch auf sich (MBW 3646. 3652 f.). Mehrere Wochen herrschte gespannte Stille. Melanchthon erwog bereits, Wittenberg zu verlassen (MBW 3667 f. 3676. 3689). Dann erschien Luthers Kurzes Bekenntnis vom heiligen Sakrament wider die Schwärmer, das Bucer und ihn ungetadelt ließ (MBW 3695). Zwar kam es zu einem versöhnlichen Gespräch (MBW 3705). Eine echte Bereinigung des Konfliktes gelang aber nicht (MBW 3871. 3885). Auch im Blick auf die mit den Altgläubigen geführten Religionsgespräche (Worms 1540 f, Regensburg 1541) waren sich beide Theologen nicht immer einig (Beurteilung des Regensburger Buches 1541). Man hatte es dabei aber letztlich mit Wiederholungen der Augsburger Erfahrungen von 1530 zu tun (MBW 2744). Unbeschadet dessen hat sich Melanchthon zu allen Zeiten zur Wittenberger Lehrgemeinschaft bekannt (MBW 1802). Hier ist auch auf seine lebenslange Gutachtertätigkeit zu verweisen. 1533 verfasste dann auch er (und nicht etwa Luther oder Justus Jonas) die neuen Statuten der Theologischen Fakultät. Luther hat Melanchthons gelegentliche Einzelgänge gedeckt. Wie belastbar ihr Verhältnis blieb, zeigt sich auch in der Bewältigung gemeinsamer Fehler, wie z. B. der Doppelehe des Landgrafen Philipp von Hessen 1540 (MBW 2385. 2404. 2454; Gebet am Krankenbett Melanchthons in Weimar: WAT 5; 129). Obwohl Melanchthon den alternden Luther mit großer Vorsicht behandelte, hat er seine Position unter diesem doch zeitweise als Knechtschaft empfunden (so 1548 an Christoph von Carlowitz; MBW 5139). Das alte Gefühl der Dankbarkeit gegen Luther blieb dadurch jedoch unberührt: »Ich habe von ihm das Evangelium gelernt« (Melanchthons Testament von 1539; MBW 2302). 9.5. An Luthers Grab
Luthers Tod am 18. Februar 1546 hat Melanchthon tief bewegt. Dies zeigen nicht nur seine Briefe (MBW 4166 ff), sondern auch seine im Auditorium gehaltene Rede vom Folgetag (CR 6, 57–59). Bei der offiziellen Trauerfeier am 22. Februar 1546 (CR 11, 726–734) und nochmals zwei Jahre später in seiner Rede zu Luthers Geburtstag (CR 11, 783–788) rückte er den Kollegen eindrücklich in den Rahmen der Kirchengeschichte ein (Luther als Glied in der Kette der Wahrheitszeugen und Repräsentant des fünften Zeitalters der Kirchengeschichte, »in welchem Gott die Kirche wieder zu ihren Quellen zurückgerufen hat«: CR 11, 786. Vgl. CR 11, 742–746). Melanchthons Vorrede zum zweiten Band von Luthers lateinischen Schriften (MBW 4277) wurde eine Hauptquelle aller späteren Lutherbiographien (erste Erwähnung des Thesenanschlags). Auch seine Vorworte zu den sukzessive erscheinenden späteren Bänden der lateinischen und deutschen Schriften Luthers halten
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die Erinnerung an bestimmte Aspekte von dessen Werk wach (vgl. Brecht 2000). Das Wohl von Luthers Witwe lag Melanchthon am Herzen (MBW 4740). Wie eng man ihn und Luther, allen seit 1546 eingetretenen Irritationen zum Trotz, zumindest in Sachsen beieinander gesehen hat, zeigt auch der Umstand, dass man ihn 1560 direkt an Luthers Seite beigesetzt hat (Wittenberger Schlosskirche). Brecht, Martin: Melanchthon und Luther oder: Samsons Kinnbacke (in: Frank, Günter [Hg.]: Der Theologe Melanchthon [Melanchthon-Schriften der Stadt Bretten 5], 2000, 83–101). Claus, Helmut: Melanchthon-Bibliographie 1510–1560 (Quellen und Forschungen zur Reformationsgeschichte 87), 2014. Mülhaupt, Erwin: Luther und Melanchthon. Die Geschichte einer Freundschaft (in: Ders.: Luther im 20. Jahrhundert. Aufsätze, 1982, 121–134). Neuser, Wilhelm H.: Luther und Melanchthon – Ein Herr, verschiedene Gaben (in: Luthers Wirkung. Festschrift für Martin Brecht zum 60. Geburtstag, hg. v. Wolf-Dieter Hauschild u. a., 1992, 47–61). Scheible, Heinz: Melanchthon. Eine Biographie, 1997. Ders.: Luther und Melanchthon (in: Ders.: Melanchthon und die Reformation. Forschungsbeiträge, hg. v. Gerhard May u. Rolf Decot [VIEG.B 41], 1996, 594–599). Ders.: Melanchthon als theologischer Gesprächspartner Luthers (1998) (in: Ders.: Aufsätze zu Melanchthon [SMHR 49], 2009, 1–27). Wengert, Timothy J.: Melanchthon und Luther/Luther and Melanchthon, (in: Ders.: Philip Melanchthon, speaker of the Reformation: Wittenberg´s other reformer, 2010, 55–88). Christian Peters
10. Luther und Wittenberg Luthers erste Ankunft in Wittenberg fällt in den Herbst des Jahres 1508. Johannes von Staupitz, Generalvikar der observanten Augustinereremiten und Professor an der Universität Wittenberg, hatte ihn dorthin gerufen. Und so unterrichtete Luther ein Jahr lang auf dem Lektorat der Augustinereremiten als magister artium an der Artes-Fakultät (k B. I. 6.) der 1502 durch Kurfürst Friedrich den Weisen gegründeten Leucorea (Eröffnung 18.10.1502). Er behandelte die Nikomachische Ethik des Aristoteles und setzte zugleich seine theologischen Studien fort. Im Herbst 1511, nach Luthers Romreise, versetzte ihn Staupitz erneut und nun endgültig in den Wittenberger Konvent. Luther wurde am 19.10.1512 zum Doktor der Theologie promoviert und Staupitz’ Nachfolger an der Theologischen Fakultät. Die damals ca. 2.000 Einwohner (ohne Studenten) zählende, aufstrebende Stadt Wittenberg, die seit 1293 über das Stadtrecht verfügte und deren Verwaltung durch einen Rat wahrgenommen wurde, war durch die Leipziger Teilung von 1485 zum Mittelpunkt des ernestinischen Landesteils der Wettiner und Residenz der Kurfürsten von Sachsen geworden. Friedrich (reg. 1486–1525) setzte alles daran, sie zu einem glanzvollen Zentrum auszubauen. Dem diente nicht nur
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die Verbesserung der Verkehrsanbindung, sondern auch die Umgestaltung bzw. der Neubau des alten Askanierschlosses (1489–1496) und nicht zuletzt die 1504 erfolgte Berufung Lucas Cranachs als Hofmaler nach Wittenberg. Die neu errichtete Schlosskirche, die 1509 vollendet wurde, beherbergte die reiche Reliquiensammlung Friedrichs des Weisen. Dadurch und durch die zahlreichen kultischen Verrichtungen des Allerheiligenstifts sollte sie zu einem Zentrum der spätmittelalterlichen Frömmigkeit heranwachsen. Darüber hinaus setzte der Kurfürst ein besonderes Augenmerk auf die Leucorea, seine Landesuniversität, die er zu einem Zentrum der Bildung machen wollte. Zur Finanzierung des Lehrbetriebs hatte er die ansässigen Klöster und kirchlichen Einrichtungen in die Pflicht genommen. Eine der Professuren an der Theologischen Fakultät war von den Franziskanern zu besetzen, zwei weitere durch die Augustinereremiten, die zusätzlich ein Lektorat in den artes zu versehen hatten. Außerdem waren die Stiftsherren des Allerheiligenstifts, deren Zahl von sieben auf zwölf erhöht wurde, zur Lehre an der Leucorea verpflichtet. Da diese Universitätslehrer im Rahmen des Allerheiligenstifts oder ihrer Orden ihre Einkünfte bezogen bzw. ihren Lebensunterhalt fanden, war auf diese Weise die Besoldung zumindest eines Teils des Lehrpersonals gesichert. Alles darüber Hinausgehende ging zu Lasten der kurfürstlichen Kasse. Die Schlosskirche diente zugleich als Universitätskirche und Festsaal der Leucorea. Hier wurden auch die regulären und feierlichen Disputationen abgehalten (k C. I. 9.). Mitteilungen schlug man an die Schlosskirchentür an, die als Schwarzes Brett der Universität fungierte. Auf den damals aus dem glanzvollen Erfurt nach Wittenberg kommenden Luther übte die Stadt jedoch keine große Wirkung aus, im Gegenteil. Sie erschien ihm eher schlicht, ja sogar schäbig, und dieser Eindruck änderte sich auch später nicht. Denn der Kontrast zu Erfurt spielte in seiner Einschätzung eine große Rolle und ist deshalb in seinen Äußerungen über Wittenberg stets mitzulesen. Sein ganzes Leben hindurch ist Luthers Urteil über Wittenberg von diesem für die Elbestadt ungünstigen Vergleich bestimmt gewesen. »Wir sitzen alhie Wittenbergae nur in einem schindeleich«, sagte Luther 1532 in einer Tischrede (WAT 2; 669,11) und setzte hier die Stadt, in Anlehnung an ein Diktum Valentin Pollichs aus Mellerstadt, mit jenem erbärmlichen Ort gleich, an dem man verendeten Tieren die Haut abzog und sie verscharrte. »Wittenbergenses sunt in termino civilitatis; si paulo longius progressi fuissent, in mediam barbariam venissent« (aaO 669,12 f). Der Reformator fühlte sich offenbar in Wittenberg am Ende der zivilisierten Welt, hinter dessen Grenzen unmittelbar die in Unbildung versunkene Wildnis begann. Dabei hat Luthers Wirken im Kreise und an der Spitze eines regelrechten Reformatorenkollegiums sowohl für die Entwicklung der Stadt als auch für die Universität große Bedeutung erlangt und zu deren überregionalem, ja sogar internationalem Ruf beigetragen.
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10.1. Stadt und Universität
Luthers Präsenz und Einfluss in und auf die Stadt Wittenberg machten sich zunächst und vor allem durch sein reformatorisches Predigen bemerkbar. Nicht nur vor den Ordensbrüdern predigte er. Vielmehr übernahm er auf Bitten des Rats auch die Predigttätigkeit in der städtischen Pfarrkirche. Spätestens seit 1514 hatte Luther das Amt des Stadtprädikanten inne. Zwar hatte er sich zu Anfang nur mit Zurückhaltung auf diese Verpflichtungen eingelassen (vgl. WAT 3; 187), aber bald war er als Prediger in Wittenberg gar nicht mehr wegzudenken (k C. I. 7.). In der Fastenzeit predigte er jeden Tag, sonst unter der Woche zweimal und sonntags in der Regel zwei- bis drei‑, gelegentlich sogar viermal (vgl. Junghans 1996, 69). Auch in der Schlosskirche stand er auf der Kanzel. Denn wenn Mitglieder des Fürstenhauses anwesend waren, fand der Gottesdienst dort statt. Hinzu kamen Predigten außerhalb und vor den Hausgenossen. Was die Last und Häufigkeit des Predigens anging, so sah sich Luther in eigener rückblickender Einschätzung in einer Linie mit den Kirchenvätern Ambrosius von Mailand und Augustin: »Ich haltte auch, daß in 1000 jaren nicht ein mensch also verflucht sey als ich, der ich nu 30 jar geprediget, manchen tag 3 predigten vnd sonst teglich in der fasten, auch etlich mal 4 predigten einen tag gethan habe, daß ich glaube, daß wol so viel predigten durch mich gescheen sein als durch S. Ambrosium, Augustinum« (WAT 5; 659,24–29). Aus dieser intensiven und jahrelangen Tätigkeit sind zahlreiche Predigten überliefert. Ihre Zahl beläuft sich allein für die Zeitspanne von Februar 1526 bis Dezember 1529 auf 446 und mehr (vgl. Junghans 1983 b, 21). Seit Ende 1523 lag mit der Formula missae et communionis pro Ecclesia Vuittembergensi (WA 12; 205–220) auch ein liturgischer Rahmen für den evangelischen Gottesdienst in der Stadt vor. Umso enttäuschter fielen die Äußerungen Luthers aus, wenn es um die Früchte seiner reformatorischen Predigt in Wittenberg ging. Zwar konnte er die Stadt als neues Jerusalem rühmen, in dem Gott seinem Wort erneut zum Durchbruch verholfen habe (vgl. Luthers Verse unter einer Darstellung Wittenbergs von 1545: WA 35; 594,1–25), er sah aber ebenso das in Zerstörung und Untergang mündende Schicksal Jerusalems für die Elbestadt heraufziehen, und zwar als Strafe Gottes für die Undankbarkeit und Unbelehrbarkeit des Volkes (vgl. WAT 4; 326). Denn dass die Wiederentdeckung des Evangeliums und dessen Verkündigung so wenig praktische Folgen hervorgebracht hatten und das Wort Gottes vielmehr auf hartnäckige Unbußfertigkeit stieß, musste in seinen Augen harte Strafe nach sich ziehen (vgl. WAT 5; 504– 506). Das Land sei ungeeignet für die Saat des Evangeliums, äußerte er einmal resigniert: »Wen man gleich frume, ehrliche leut hiereyn gesehet hett, so weren grobe Sachsen auffgeganngen« (WAT 4; 168,6–8). Dennoch ließ ihn dies nicht an der Berechtigung und Tragweite seiner Aufgabe in Verkündigung und Seelsorge zweifeln, deren Auswirkungen sich im Leben der Stadt deutlich niederschlugen. Dazu gehörte u. a. die grundsätzliche Umgestaltung der Armenfürsorge in Wittenberg. Denn da gute Werke, darunter auch das
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Almosen-Geben, durch die Rechtfertigung allein aus Gnaden vor Gott keine heilssichernde Relevanz mehr haben konnten, gab es auch keine Berechtigung für das Betteln mehr. Auf Luthers Initiative hin richtete der Rat der Stadt deshalb Ende 1520/Anfang 1521 einen »Gemeinen Kasten« ein, aus dem diejenigen, die sich nicht selbst ihren Lebensunterhalt sichern konnten, unterstützt werden sollten. Eine Beutelordnung (WA 60; 62–65) regelte dies, und Luther empfahl die Einrichtung solcher »Gemeindekassen«, in die gegebenenfalls Teile des ehemaligen Kirchenguts einflossen, auch andernorts (vgl. Vorwort zur Leisniger Kastenordnung: WA 12; 11–30, bes. 11–15). Darüber hinaus gerieten die Aktivitäten des Allerheiligenstifts und seiner Stifts herren in die Diskussion. Liturgische Verrichtungen ohne Gemeindebeteiligung, wie sie noch in der Schlosskirche stattfanden, konnten – als frommes Werk – nach reformatorischer Auffassung keinen Sinn mehr haben und sollten eingestellt werden. Seit 1521 drängte Luther auf die Auflösung des Stifts, traf aber noch bei einigen Stiftsherren auf Widerstand. Ihre Rechte bei der Berufung eines neuen Stadtpfarrers konnten sie aber im Jahre 1523 schon nicht mehr ausüben, da Luther auf die Wahl Johannes Bugenhagens durch die Gemeinde und dessen Einsetzung hinwirkte. Außerdem erreichte er, dass die Ausstellung der kurfürstlichen Reliquiensammlung in der Schlosskirche zum Erwerb von Ablasse eingeschränkt und nach einer letzten Exposition im Jahre 1523 schließlich aufgegeben wurde. Das Allerheiligenstift wurde im Oktober 1525 unter Kurfürst Johann dem Beständigen (reg. 1525–1532) aufgelöst. Die Einkünfte des Stifts flossen der Universität zu, zumal die alte Besoldungs- und Beschäftigungsstruktur des akademischen Lehrkörpers durch das Ende dieser Institution und der Klöster in Wittenberg ins Wanken geraten war. Luther, der als Augustinereremit für die vom Orden zu stellende ordinaria lectio in Biblia kein Gehalt bezog, erhielt wohl erst ab 1525 – ebenso wie Melanchthon – 200 Gulden im Jahre aus der kurfürstlichen Kammer, da die Universitätsfinanzen dafür nicht ausreichten (vgl. Junghans 1983 b, 14 f). Die Buchbestände des Allerheiligenstifts und der Klöster gingen in die Schlossbibliothek ein. Das ehemalige Franziskanerkloster wurde 1527 Armenhaus und Hospital. Das Augustinerkloster mit Garten und Hof übereignete Kurfürst Johann am 4.2.1532 Martin Luther und seiner Frau Katharina in Anerkennung für die Predigt- und Vorlesungstätigkeit des Reformators, seinen Einsatz für die Verbreitung des Evangeliums und seine Mitwirkung bei der Visitation in Kursachsen. Mit der Übertragung des Schwarzen Klosters erhielt Luther im Übrigen das volle Bürgerrecht, das Recht, Bier zu brauen und zu verkaufen, Vieh zu halten sowie Steuerfreiheit. Das ehemalige Kloster mit seinen 40 Mönchszellen wurde zu einer regelrechten Burse. Denn hier nahm das Ehepaar, wie für damalige Professoren üblich, Studenten auf und beherbergte und verköstigte sie gegen ein entsprechendes Entgelt, was freilich auch zu einer erfolgreichen Bewirtschaftung des Ganzen durch die aktive und geschäftstüchtige Katharina beitrug. Luthers Tätigkeit als Prediger in der Stadt stand diejenige als Professor an der Universität gegenüber. Seine evangelische Verkündigung erfolgte in enger Rück-
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bindung an die von ihm im akademischen Rahmen entfaltete reformatorische Theologie. Und so hat Luther nicht nur als Prediger, sondern auch als Universitätslehrer entscheidend in Wittenberg und über die Grenzen der Stadt hinaus gewirkt. In seinen Vorlesungen legte er die Bücher des Alten und Neuen Testaments aus und verzichtete von Anfang an auf die sonst übliche Entfaltung scholastischer Theologie. Schon 1505 hatte er in Übereinstimmung mit den Humanisten die Kenntnis der biblischen Ursprachen gefordert und damit auch an der Leucorea Ernst gemacht, an der sich, trotz zunächst noch alter Lehrpläne, sehr früh eine Offenheit für humanistische Tendenzen gezeigt hatte. Unterstützung fand er vor allem bei dem kurfürstlichen Vertrauten und Hofprediger Georg Spalatin, der die Zustimmung Friedrichs des Weisen für die humanistischen Reformvorschläge erwirken konnte, sodass an der Leucorea als erster deutscher Universität wesentliche Komponenten des Studiums der artes in die Hände von Humanisten gelangten. Der später vor allem durch Melanchthon (ab 1518) vorangetriebenen und von Humanistenkreisen erstrebten Universitätsreform hat Luther damit den Weg geebnet und nachhaltige Impulse gegeben. Die enge Wechselwirkung von Reform der Bildung und Reform der Theologie, wie sie an der Leucorea durch Luther Gestalt gewann, verlieh der Universität Wittenberg in kürzester Frist einen über die Grenzen des Kurfürstentums und des damaligen Reiches hinausgehenden Ruhm und große Attraktivität. Die Universität, in der die Theologische Fakultät eine Vorrangstellung einnahm, blühte auf und zog eine wachsende Zahl von Studenten aus allen Himmelsrichtungen in die Stadt an der Elbe, darunter nicht nur Westeuropäer, sondern auch Ungarn, Polen und Balten. Etwa ein Jahrzehnt nachdem Luther sein Lehramt als Professor aufgenommen hatte, war Wittenberg zu einem »Zentrum des europäischen Interesses« geworden und die Leucorea »zur bedeutendsten deutschen Universität aufgestiegen« (Junghans 1983 b, 11), ja sie wurde sogar zum Vorbild für die Reform anderer Universitäten. Der Reformator selbst pflegte insofern engen, sogar regelrecht familiären Kontakt zu den Wittenberger Studenten, als er über die Jahre seiner Lehrtätigkeit nicht wenige von ihnen, darunter auch junge Magister, in seine Hausgemeinschaft aufnahm. Aus ihrem Kreis stammten diejenigen, die seine Äußerungen bei Tisch sowie Gespräche und Worte, die auch bei anderen Gelegenheiten entstanden waren, aufschrieben und sammelten (WAT 1–6). Zu ihnen gehörten Hieronymus Weller, Conrad Cordatus, Johannes Schlaginhaufen, Anton Lauterbach und Ludwig Rabus, außerdem im Jahre 1540 Johannes Mathesius und ab 1545 Johannes Aurifaber, der Luther als Famulus auch auf seiner letzten Reise nach Eisleben begleitete, bevor er als Feldprediger Johann Friedrichs des Großmütigen (reg. 1532–1547) am Schmalkaldischen Krieg teilnahm und schließlich Weimarer Hofprediger wurde (k C. I. 11). Ruf und Anziehungskraft der Universität hatten auch Auswirkungen auf das Erscheinungsbild der Stadt. Der durch Luther ausgelöste Zulauf führte zu einem kontinuierlichen Anstieg der Einwohnerzahl und zahlreichen Neubauten. Eine Berechnung für die Zeit um 1530 hat ergeben, dass die Stadt innerhalb der Mau-
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ern nun 2.821 Einwohner zählte, die Familien der Universitätsangehörigen, die Studenten und Schlossbewohner nicht eingerechnet. Hinzu kamen 1.185 Einwohner in den Vorstädten, sodass – nimmt man alles zusammen – Wittenberg mit seinen über 4.500 Bewohnern zu einer Stadt mittlerer Größe herangewachsen war (vgl. Junghans 1996, 64). Kurfürst Johann ließ zudem die Befestigungsanlage ausbauen, um mögliche militärische Angriffe seitens altgläubiger Gegner abwehren zu können. All dies wirkte sich stimulierend auf das Wirtschaftsleben Wittenbergs aus, in dem auch die Aktivitäten der Druckereien eine nicht unbedeutende Rolle zu spielen begannen. Bereits die Gründung der Universität hatte die Stadt für Drucker attraktiv gemacht. Aber vor allem die Reformation Luthers zog diesen Handwerkszweig an, setzte sie doch eine beachtliche Produktion von Druckschriften in Gang. Herausragend unter den Wittenberger Druckern war Hans Lufft, der 1522/23 nach Wittenberg kam und dessen Erzeugnisse durch die Verwendung qualitätsvollen Papiers, guter Schrifttypen und wertvoller Holzschnitte dem Gewerbe zu hohem Ansehen verhalfen. Im Umfeld der Drucker zogen zugleich Buchbinder und Schriftgießer in die Stadt nach. Erstere schlossen sich 1534 sogar zu einer Innung zusammen. Während für das 16. Jahrhundert allein 84 Buchbinder in Wittenberg nachgewiesen sind, ist das Handwerk der Schriftgießerei allerdings erst seit 1560 in der Elbestadt zu belegen. Dagegen entstand schon sehr früh, nämlich im Jahre 1524, ein Verlagsbuchhandel in Wittenberg, ausgelöst durch die ständig steigende Buchproduktion, in der die theologischen Werke Luthers selbstverständlich einen breiten Raum einnahmen. Die ersten, die ihre Druckerei aufgaben, stattdessen Druckaufträge an andere vergaben, den Druck finanzierten und sich schließlich um den Vertrieb der Bücher kümmerten, waren Lucas Cranach d. Ä., inzwischen zu einem der wohlhabendsten Bürger der Stadt avanciert, und Christian Döring. Der erfolgreichste in diesem neuen Berufszweig war Samuel Selfisch. Dass sich der Wittenberger Buchdruck in jenen Jahren eine führende Rolle erobern konnte, hing in erster Linie mit der Bibelübersetzung Luthers zusammen (WADB 1–12), deren Auswirkung auf die Entwicklung einer deutschen Hochsprache bekannt ist (k B. IV. 4.). Wittenberg wurde zum Zentrum des Bibeldrucks. Hier erschien Mitte September 1522 das Neue Testament deutsch, das sog. Septembertestament, bei dem Drucker Melchior Lotther. Die buchkünstlerische Ausstattung durch Cranach und seine Werkstatt setzte neue Maßstäbe. Bis zu Luthers Tod im Jahre 1546 gingen zehn Gesamtausgaben und ca. 80 Teil ausgaben der deutschen Bibel aus Wittenberger Offizinen hervor (k C. I. 1.). Die Stadt wurde, aufgrund eines kurfürstlichen Privilegs aus dem Jahre 1564, in Kursachsen zum einzigen Ort, an dem die Lutherbibel gedruckt werden durfte. Die durch Hans Lufft herausgebrachte Ausgabe von 1545 wurde schließlich – im Zuge von Streitigkeiten über von Luther erstellte Neufassungen einzelner biblischer Bücher und durch Eingreifen Kurfürst Augusts von Sachsen (1578) – zur »Normalbibel«, an der sich spätere Bibelrevisionen orientierten. Der Theologischen Fakultät der Leucorea kam die Aufsicht über die Bibelproduktion zu, was auf-
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grund der großen Verbreitung der Wittenberger Drucke, im Gegensatz zu den Konkurrenzdrucken, auch eine allmähliche Vereinheitlichung der Orthographie in Gang setzte. Von vergleichbarer, wenn auch nicht ebenso nachhaltiger Ausstrahlung und epochemachender Fernwirkung war die Erstellung einer Gesamtausgabe der Werke Luthers in Wittenberg. An dieser Wittenberger Lutherausgabe, deren erster Band im Jahre 1545 unter der Herausgeberschaft von Georg Rörer (bis 1551) und Caspar Cruciger (bis 1548) erschien, hatte der Reformator zu Anfang noch selbst teilgehabt. Fortgeführt wurde sie nach seinem Tod durch Melanchthon und – ab 1551 – durch dessen Schüler Georg Major. Der letzte Band erschien im Jahre 1559. In dieser Ausgabe hatte man die Schriften des Reformators nach sachlichen Gesichtspunkten – d. h. der Loci-Methode gemäß – zusammengestellt, um so die Theologie Luthers orientiert an einzelnen thematischen Problemstellungen erheben zu können. Dem trat allerdings von 1555 bis 1558 die von den sog. Gnesiolutheranern herausgebrachte Jenaer Lutherausgabe als Konkurrenzunternehmen entgegen, an der u. a. Nikolaus von Amsdorf, Johannes Aurifaber und zunächst noch der aus Dänemark zurückgekehrte Georg Rörer beteiligt waren. Mit ihrer chronologischen Ordnung der Schriften Luthers sollte die Ausgabe eine befürchtete historisch ungerechtfertigte Inanspruchnahme Luthers als reformatorischer Autorität in den innerprotestantischen Streitigkeiten abwehren (vgl. Kolb 1999, 141–150) (k A. I.). 10.2. Das Wittenberger Reformatorenkollegium
Luthers Leben und Wirken in Wittenberg ist nicht nur gekennzeichnet durch die Aufgaben in Predigt und Lehre, sondern auch bestimmt durch die Bezüge innerhalb der Wittenberger Reformatorengruppe, deren Glieder in jeweils unterschiedlichem Einsatz und unter verschiedenen Schwerpunkten, aber in engem Konnex miteinander für die Verbreitung und Konsolidierung der Theologie Luthers sorgten. Freilich bildeten sie dabei auch eigene theologische Profile heraus und entfalteten, wie z. B. Melanchthon (k B. III. 9.), eine durchaus eigenständige und weitreichende Wirkung. Der Maler Lucas Cranach d. Ä. bzw. seine Werkstatt hat dieses »Team« verschiedentlich und in unterschiedlicher Zusammensetzung abgebildet (vgl. z. B. die Abendmahlsszene auf dem 1547 geweihten Altar der Wittenberger Stadtkirche), wobei er sich selbst gern in die als Jünger Jesu dargestellte Gruppe einreihte. Der um 1473 Geborene war schon vor Luther nach Wittenberg gekommen und hat dort als Hofmaler, Verleger, Ratsherr und Bürgermeister eine vielfältige Wirkung entfaltet. In einem seiner Häuser ließ er außerdem eine Apotheke, einen Weinhandel und einen Buchladen betreiben. Cranach hat Luther in der Stadtkirche predigen hören und ist durch ihn zu einem entschiedenen Anhänger der Reformation geworden. Durch sein vielfältiges künstlerisches Schaffen, nicht zuletzt durch sein Passional Christi et Antichristi
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wurde er zu einem frühen »Bildreporter« (Junghans 1996, 116) für die Theologie und Verkündigung Luthers. Bereits seit 1502 hielt sich der aus adligem Hintergrund stammende Nikolaus von Amsdorf in Wittenberg auf, zunächst als Student, dann als Professor der Leucorea. 1510/11 wirkte er als Dekan an der Artes-Fakultät, 1513 und 1522 als Rektor der Universität. Es waren wohl die aus der Römerbriefvorlesung (1515/16) erwachsenen Thesen Luthers für die Promotionsdisputation Bartholomäus Bernhardis aus Feldkirch (1516), die den aus aristotelisch-scotistischem Hintergrund stammenden Amsdorff für die Reformation gewannen (k C. I. 8.). Er wurde zu einem treuen Freund und theologischen Bundesgenossen Luthers, der durch seine verantwortungsvollen Ämter das reformatorische Gedankengut nach außen trug. 1524 verließ er Wittenberg, um – vermittelt durch Luther – auf die Superintendentur und Pfarre an St. Ulrich in Magdeburg zu wechseln. Er blieb aber durch die Patenschaft über Luthers Tochter Magdalena in die familiären Bezüge des Lutherhauses integriert. In Magdeburg wirkte Amsdorff – in ständigem Austausch mit der Wittenberger Reformatorengruppe – bis 1542 im Sinne der Reformation. Er ordnete den Gottesdienst und das Schulwesen neu und stand in den Auseinandersetzungen mit Johann Agricola um Rolle und Funktion des göttlichen Gesetzes in den Jahren 1527 und 1537 (antinomistische Streitigkeiten) unerschütterlich für die Lehre Luthers ein. In seiner Ablehnung der Wittenberger Konkordie, seiner Zustimmung zu den Schmalkaldische[n] Artikel[n] und der strikten Zurückweisung des Regensburger Buches erwies er sich als konsequenter Bewahrer Lutherscher Positionen. Mit seinem Wechsel im Jahre 1542 nach Naumburg-Zeitz, als von Luther am 20.1. im Dom ordinierter evangelischer Bischof, begann für Amsdorff, vor allem nach der Niederlage der Protestanten im Schmalkaldischen Krieg (1547), eine schwierige Zeit in Vertreibung und Not. Als Exul Christi, wie er sich selbst nannte, war er in Ablehnung des kaiserlichen Interims zur kompromisslosen Verteidigung der Rechtfertigungslehre Luthers bereit. Dies führte ihn nicht nur zu theologischen Überzeichnungen (z. B. in Auseinandersetzung mit dem Melanchthonschüler Georg Major), sondern auch dazu, das Verhältnis zur Obrigkeit im Sinne von Gehorsamsverweigerung und Widerstand über Luthers Ansätze hinausgehend zu reflektieren. Nicht zuletzt darin, dass er zusammen mit Johannes Aurifaber die Jenaer Lutherausgabe anregte, spiegelt sich sein Bemühen um das Erbe seines theologischen Vorbilds und Freundes. Er wurde der »Großvater der gnesiolutherischen Bewegung« (Kolb 1999, 146). Zu den Freunden und Kollegen Luthers gehörte auch Johann Agricola, der im Jahre 1515/16 an die Leucorea gekommen war. Seit 1518 stand er theologisch ganz auf der Seite des Reformators, dessen Schüler und Famulus er wurde. Luther fühlte sich ihm in aufrichtiger Freundschaft verbunden. Umso tiefere Enttäuschung empfand er (vgl. WAT 3; 481,5–7), als die freundschaftliche Verbindung schließlich aufgrund des kontrovers vertretenen Antinomismus Agricolas (Ablehnung von Sinn und Nutzen des Gesetzes und der Gesetzespredigt zugunsten einer einseitig betonten Wirkung des Evangeliums) zerbrach. Schon 1527 hatte
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dies zu einer Auseinandersetzung mit Melanchthon geführt, zehn Jahre später mit Luther. Dieser nannte den nach seinem Geburtsort »Islebius« oder »Magister Eisleben« (1520 M. A.) titulierten Agricola auch spöttisch »Grickel« (vgl. z. B. WAT 4; 674,14), was die spätere Polemik gegen Agricola, die auf dessen Mitarbeit am verhassten Augsburger Interim von 1548 zielte, gern aufgriff. Zu Anfang jedoch bestand noch eine enge Verbindung zwischen beiden, die auch deren Familien einschloss. Luther war es denn auch, der Agricolas theologische Laufbahn förderte. Seit den frühen 1520er Jahren hielt er exegetische Vorlesungen. Sein Schwerpunkt aber lag eher auf der katechetischen Unterweisung. Im Wittenberger Kreis galt er als »urbis nostrae κατηχήτη[ς]« (so Melanchthon; zit. nach Rogge 1978, 112). Luther hatte ihn und Justus Jonas im Frühjahr 1525 mit der Abfassung eines catechismus puerorum beauftragt. Aber Agricola wechselte in ein Schulrektorenamt nach Eisleben und wurde dort zugleich Prediger an St. Nicolai. 1527 erschienen katechetische Arbeiten, die für den neu zu konzipierenden evangelischen Unterricht Bedeutung erlangten. Auch als Prediger hat sich Agricola einen Namen gemacht. Auf den Speyerer Reichstagen von 1526 und 1529 sowie auf dem Augsburger Reichstag von 1530 war er als Reichstagsprediger anwesend. Als er jedoch Ende 1536 nach Wittenberg zurückkehrte und kurz nach der Unterzeichnung der Schmalkaldische[n] Artikel seine antinomistischen Lehren wieder öffentlich verbreitete, kam es zum definitiven Bruch mit Luther (k B. III. 4.). Der Reformator sah in Agricolas Sonderweg eine gefährliche Verfälschung der evangelischen Rechtfertigungslehre. Agricola seinerseits fühlte sich ungerecht behandelt. An dem persönlichen Bruch änderte auch die zeitweilige Beruhigung der Auseinandersetzung nichts, die immerhin dazu führte, dass Agricola 1539 in das erste, neugegründete Konsistorium in Wittenberg berufen wurde. 1540 aber ging er nach Kurbrandenburg, wo er als Hofprediger, Generalsuperintendent und Visitator diente. Neben Luther und Melanchthon war Johannes Bugenhagen, nach seiner Herkunft aus Pommern Pomeranus oder Pommer genannt, zweifellos der Prominenteste im Wittenberger Reformatorenkreis. Unter dem Eindruck von Luthers Schriften hatte er sich 1520 der Reformation zugewandt. Er entschloss sich zum Studium an der Leucorea und wurde im April 1521 immatrikuliert. Dort gewann er schnell die Freundschaft der beiden Reformatoren. Luther konnte gegen die Patronatsrechte des altgläubigen Kapitels des Allerheiligenstifts beim Kurfürsten durchsetzen, dass Bugenhagen, der 1522 geheiratet hatte, im Jahr darauf die Stadtpfarre übernahm. Damit wurde Bugenhagen Luthers Pastor und Seelsorger. In der Tat war er ein enger Vertrauter des Reformators. Er war es, der Luther und Katharina von Bora traute. Außerdem stand er bei der Taufe ihres ersten Kindes, Johannes Luther, Pate. Er war als Fachmann für den lateinischen Text an Luthers Bibelübersetzung beteiligt und stand im Abendmahlsstreit mit Zwingli fest auf der Seite des Freundes. Auch in die Beratungen um die Wittenberger Konkordie sowie in die Verhandlungen in Schmalkalden 1537 war er eingebunden. Seit 1536 war in den neuen Statuten der Universität sein städtisches Pfarramt mit der vier-
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ten theologischen Professur an der Leucorea verbunden, die der 1533 Promovierte bis in sein hohes Alter hinein wahrnahm. Luther empfand große Wertschätzung für Bugenhagens universitäre Lehrtätigkeit und qualifizierte ihn sogar als den – nach Melanchthon – »secundus […] in vrbe et orbe Theologiae professor« (WAB 2; 598,10 f). Tatsächlich sind Bugenhagens Schriftkommentare vor allem für den oberdeutschen und Schweizer Raum einflussreich gewesen. Seine Passionsharmonie errang einen solchen Bekanntheitsgrad, dass man sie als »Volksbuch der Reformationszeit« bezeichnet hat (Holfelder 1981, 361). Bugenhagen blieb Wittenberg und dem Wittenberger Kreis treu, obwohl er ehrenvolle Berufungen auf Bischofsämter sowie an die Universität Kopenhagen erhielt und nicht selten außerhalb von Stadt und Land als Botschafter der Theologie Martin Luthers, als Visitator und Kirchenorganisator wirkte. Die Schwerpunkte seiner Aktivitäten lagen ohne Zweifel im Bereich der Kirche. Die auf Bugenhagen zurückgehenden Kirchenordnungen bilden einen eigenen Typus, der auf die Einheit von reformatorischer Theologie und rechtlich geordneter Praxis zielt. Auch auf die Entwicklung des Schulwesens haben seine Ordnungen entscheidenden Einfluss ausgeübt. Zur Wittenberger Reformatorengruppe gehörte darüber hinaus der aus Nordhausen stammende Justus Jonas. Nach dem Beginn seines Jurastudiums in Erfurt, wo er sich dem Humanistenkreis um Eobanus Hessus angeschlossen hatte, kam er 1511–1515 zum Studium an die Leucorea, kehrte aber wieder nach Erfurt zurück. Hier wandte er sich auch der Theologie zu (vgl. WAB 2; 127 f). Dass er den Wittenberger im April 1521 zum Wormser Reichstag begleitete, war, nachdem bereits die Leipziger Disputation von 1519 Eindruck auf ihn gemacht hatte, ein offenes Zeugnis für seine Hinwendung zur Wittenberger Reformation. Mit seinem Amtsantritt als Propst am Allerheiligenstift am 6.6.1521 als Nachfolger des verstorbenen Juristen Henning Goede war Jonas eigentlich zu Vorlesungen über kanonisches Recht verpflichtet, aber er bemühte sich erfolgreich um Entbindung davon, promovierte zum Dr. theol. und rückte nicht nur in die Theologische Fakultät, sondern – nach Luthers Rückkehr von der Wartburg – auch in dessen Kreis ein. Im Hause Luthers war er ein häufiger Gast und gern gesehener Gesprächspartner. Durch sein Amt war Jonas in die Auseinandersetzungen um die Reform des Stifts eingebunden, für das er zusammen mit Bugenhagen 1524 eine neue Gottesdienstordnung erstellte. Seit Oktober 1528 war er darüber hinaus an den kursächsischen Visitationen beteiligt und rückte 1539 in das neugegründete Wittenberger Konsistorium ein. Seine juristische Bildung kam dem Aufbau eines reformatorischen Kirchenwesens zugute. Mitgearbeitet hat er außerdem an Luthers Bibelübersetzung. Aber mehr noch gewann er Profil als Übersetzer der Schriften des Reformators. Weit über einen bloßen Sprachentransfer hinaus hat Jonas durchaus eigene Akzente eingetragen. 1541 wechselte er zunächst vorübergehend, dann auf Dauer nach Halle, um dort die Reformation durchzuführen. Jonas’ schnelle Wiederverheiratungen nach dem Tod seiner ersten und dann auch der zweiten Frau sowie sein Interesse an materiellem Gewinn haben nicht immer ein günstiges Licht auf seine Person geworfen. Er gehörte aber zu denjeni-
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gen, die Luther auf seiner letzten Reise nach Eisleben begleiteten und ihm in der Todesstunde nahe waren. Sein Bericht Vom christlichen Abschied Herrn D. Martini Lutheri wirft ein bewegendes Licht auf die Hochschätzung der Wittenberger Freunde für denjenigen, den sie als aufrichtigen Freund, theologischen Lehrer und unbestechlichen Ratgeber verehrten. Während Amsdorf, Agricola, Bugenhagen und Jonas bereits in den 1520er Jahren zum festen Stamm der Reformatorengruppe um Luther zählten, trat der aus Leipzig gebürtige Caspar Cruciger erst in den dreißiger Jahren hinzu. Zwar hielt er sich schon im Sommer 1521 in Wittenberg auf, studierte an der Leucorea – sein Name findet sich unter dem 13.4.1523 in den Matrikeln – und wurde im Sommer 1524 von Luther mit der ehemaligen Nonne Elisabeth von Meseritz getraut, aber bereits im darauffolgenden Jahr ging er als Prediger und Schulrektor nach Magdeburg. Erst als er 1528 als Prediger und Mitglied der Artes-Fakultät nach Wittenberg zurückberufen wurde, bahnte sich seine Integration in den Kreis der Wittenberger Theologen an. Durch seine Promotion zum Dr. theol. 1533 wurde er zum Mitglied der Theologischen Fakultät. Cruciger ist derjenige aus dem Wittenberger »Team«, an dem sich am deutlichsten die in der frühen Reformation noch als problemlos empfundene Verbindung von lehrmäßiger Treue zu Melanchthon und rückhaltloser Verehrung für Luther zeigt. Denn in der Lehre von den guten Werken, ohne deren Vorhandensein es keine Rechtfertigung geben könne, vertrat er den melanchthonischen Zugang, was 1536 zu einer Auseinandersetzung über die Rechtfertigungslehre führte. Auch in der Abendmahlslehre und in der nach dem Interim 1548 aufbrechenden Frage der adiaphora stand er auf Seiten Melanchthons. Zugleich aber wurde Cruciger zu einem wichtigen Multiplikator der Theologie Luthers. In dessen Auftrag nämlich überarbeitete er die Sommerpostille. Er erstellte Nachschriften von Predigten Luthers und brachte sie heraus. Auch an der Bibelübersetzung und -revision war er beteiligt, ebenso – gemeinsam mit Rörer – an der Herausgabe der ersten Bände der Wittenberger Lutherausgabe. Luther selbst war daran interessiert, den von ihm geschätzten Cruciger in Wittenberg zu halten, der nach seinem sechsmonatigen reformatorischen Wirken in Leipzig eine Berufung auf Dauer dorthin erhalten hatte. Aber Luther riet dem Kurfürsten, jener Wegberufung, auch im Interesse der Universität, nicht stattzugeben. Georg Rörer, aus Niederbayern, war nicht als Mit-Reformator, sondern vielmehr als enger Mitarbeiter Luthers Teil des Wittenberger Kreises. Seit 1522 war er an der Leucorea immatrikuliert. Am 14.5.1525 vollzog Luther an ihm die erste evangelische Ordination zum Pfarrer an der Wittenberger Stadtkirche. Er war es denn auch, der Johannes Luther taufte, dessen Patenschaft Bugenhagen übernahm. Auch wenn Luther Rörer zusammen mit Amsdorff einmal als »bonus et probus theologus« bezeichnete (WAT 2; 95,3 f), lag seine Stärke doch nicht in der theologischen Arbeit als vielmehr in organisierenden Leitungsaufgaben. Rörer wirkte als Protokollant und Korrektor an der Übersetzung und Drucklegung des Alten Testaments mit und nahm auch an den Bibelrevisionen teil (Protokolle in:
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WADB 3). Seit 1537 betreute er die Publikation der Schriften Luthers bei Hans Lufft. Kurfürst Johann Friedrich hatte ihn eigens für diesen Aufgabenbereich freigestellt. So wurde Rörer, der fast täglich im Hause Luthers aus- und einging, zu einem wichtigen Propagator der Wittenberger Reformation. Aus seiner Feder stammen Mitschriften von Predigten und Tischreden Luthers sowie Abschriften von Briefen und Buchinschriften des Reformators. Sowohl bei der Wittenberger, als auch später bei der Jenaer Lutherausgabe hat Rörer als Korrektor gewirkt. Diese Qualifikation des engen Mitarbeiters und Freundes Luthers genoss unter den Zeitgenossen hohe Wertschätzung, was sich nicht zuletzt darin zeigt, dass man Rörer, der nach dem Schmalkaldischen Krieg einer Einladung König Friedrichs III. nach Kopenhagen gefolgt war, für die Betreuung der Werke Luthers nach Jena holte. Dass die Theologie Martin Luthers weit über den Tod des Reformators hinaus eine so nachhaltige, Leben und Frömmigkeit umgestaltende sowie Gesellschaft und Politik beeinflussende Kraft entwickeln konnte, liegt wesentlich an dem Zusammenwirken jenes Wittenberger Reformatorenkollegiums, dessen Mitglieder – durchaus auch in eigener Profilbildung – als Theologen und Schulrektoren die Reformation über die Grenzen Wittenbergs hinaustrugen, sie kirchenordnend in die Praxis umsetzten und ihre Inhalte im gedruckten Wort und Bild propagierten. Dingel, Irene/Wartenberg, Günther (Hg.): Die Theologische Fakultät Wittenberg 1502 bis 1602. Beiträge zur 500. Wiederkehr des Gründungsjahres der Leucorea, 2002. Hasse, Hans-Peter: Luther und seine Wittenberger Freunde. Zum Erscheinungsbild einer Gruppe in der Kunst und Publizistik des 16. Jahrhunderts (Wartburg-Jahrbuch. Sonderband 1996, 84–119). Junghans, Helmar: Luther in Wittenberg (in: Ders.: Leben und Werk Martin Luthers von 1526 bis 1546, 2 Bde., 1983, 11–37. 723–732). Ders.: Martin Luther und Wittenberg, 1996. Kolb, Robert: Martin Luther as Prophet, Teacher, Hero. Images of the Reformer 1520–1620, 1999. Leder, Hans-Günter: Luthers Beziehungen zu seinen Wittenberger Freunden (in: Junghans, Helmar [Hg.]: Leben und Werk Martin Luthers von 1526 bis 1546, 2 Bde., 1983, 419–440. 863–870). Lück, Heiner (Hg.): Das ernestinische Wittenberg. Bd.1: Universität und Stadt (1486–1547), 2011; Bd. 2.1–2.2: Stadt und Bewohner. Text- und Bildbd., 2013. Irene Dingel
11. Luther und Sachsen 11.1. Luther, Sachsen und die Wettiner
In einer Tischrede charakterisiert Luther Sachsen einmal als ein ödes Land (»Saxonia terra deserta« [WAT 3; 649,25]), dessen so qualifizierte Beschaffenheit die Grundvoraussetzung für die Erkenntnis bzw. die Offenbarung des Gotteswortes, also auch für die Reformation, sei (»In illis locis Deus apparet« [aaO 29 f]).
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Viel wichtiger als die Beschaffenheit Sachsens war für das Wirken des Reforma tors jedoch die Art und Weise seines Verhältnisses zu den sächsischen Herrschern, das insgesamt als außergewöhnlich charakterisiert werden kann. Als Landeskind der Mansfelder Grafen kam Luther zur Welt, als das benachbarte Sachsen noch gemeinschaftlich von den Brüdern Ernst und Albrecht regiert wurde. Erst in der Leipziger Teilung 1485 wurde das Territorium des Hauses Wettin geteilt. Die ältere, ernestinische Linie erhielt die Landesteile um Wittenberg und Torgau, den größeren Teil Thüringens, das westliche Erzgebirge und Vogtland sowie die Kurwürde. Die jüngere, albertinische Linie bekam Meißen, das nördliche Thüringen und die Landesteile um Leipzig. Luthers akademische Tätigkeit in Wittenberg – zunächst ab 1508/09 an der Artistischen Fakultät, ab 1511 dann dauerhaft an der Theologischen Fakultät – machte ihn zum Untertan im ernestinischen Kursachsen. Seit 1486 regierte dort Kurfürst Friedrich III. (der Weise, 1463/1486– 1525) gemeinsam mit seinem Bruder Johann (der Beständige, 1468/1525–1532). Friedrichs Universitätsgründung in Wittenberg im Jahr 1502 schuf den Rahmen für das Wirken Luthers und die spätere reformatorische Entwicklung in Kursachsen und über dessen Grenzen hinaus. Nach dem Tod Friedrichs des Weisen im Jahr 1525 regierte Johann als Kurfürst. Nach ihm folgte ab 1532 Johann Friedrich der Großmütige (1503/1532– 1554), der nach seiner Niederlage im Schmalkaldischen Krieg 1547 Teile seines Territoriums und die Kurwürde an den albertinischen Herzog Moritz von Sachsen (1521/1541–1553) verlor. Dieser war der Enkel des Gründers der albertinischen Linie und folgte in der Regierung seinem Vater Heinrich (der Fromme, 1473/1539–1541) nach, der im albertinischen Landesteil die Reformation einführte. Heinrichs Bruder und Vorgänger in der Regierung, Herzog Georg der Bärtige von Sachsen (1471/1500–1539), setzte sich zwar ebenfalls für kirchliche Reformen ein, war aber ein erbitterter Gegner Luthers und der von Wittenberg ausgehenden Reformationsimpulse. Mit den soeben kurz vorgestellten Fürsten ist der Personenkreis umschrieben, der in den folgenden Ausführungen Berücksichtigung finden wird. Zur Bestimmung des Verhältnisses Luthers zu seinen (ernestinischen) Landesherren und den albertinischen Wettinern sind vor allem drei Textgattungen aus Luthers Werk aussagekräftig. Auf ihrer Basis sollen im Folgenden die Beziehungen Luthers zu Sachsens Herrschern illustriert werden und so einen ersten Eindruck zu dieser Fragestellung vermitteln. Unter den Textgattungen sind erstens Luthers Widmungsvorreden zu eigenen Werken mit ihrem öffentlich-appellativen Charakter zu nennen, zweitens ist die Korrespondenz des Reformators mit den Wettiner Fürsten zu berücksichtigen, und drittens sind die in den Tischreden überlieferten, oft launigen Äußerungen Luthers heranzuziehen, die trotz der mit den Tischreden verbundenen Überlieferungsprobleme eine oft sehr persönliche Sicht Luthers zu den Wettiner Fürsten zum Ausdruck bringen. Auf der Basis der erwähnten Quellen wird deutlich werden, wie stark das Thema sowohl biographisch als auch theologisch mit dem gesamten Leben und Werk
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Martin Luthers verwoben ist. Nicht zuletzt deshalb fand dieses Thema auch immer Berücksichtigung in Lutherbiographien, die ohne eine wenigstens punktuelle Würdigung der Wettiner Fürsten nicht vollständig wären. Umgekehrt finden sich in biographischen Studien zu einzelnen ernestinischen bzw. albertinischen Fürsten der Reformationszeit längere Abschnitte über ihr Verhältnis zu Luther, das jeweils mehr besagt als ihr nur kirchenpolitisches Engagement. Zusätzlich ist das Thema aber auch in Spezialstudien behandelt worden. Von den oben genannten Textgattungen ist die Autorschaft Luthers von Widmungsvorreden allgemein und besonders im Hinblick auf die an die Wettiner gerichteten Vorreden von H. Junghans eingehend dargestellt worden. Die Untersuchung des Verhältnisses Luthers zu den Wettiner Kurfürsten und Herzögen berührt im Kern auch die grundsätzliche Sicht Luthers auf die weltlichen Obrigkeiten, das Verhältnis von Untertan und Herrscher, von Glaube und Macht sowie die Hierarchie von Mächten untereinander und in ihrer Beziehung zu Gott. Im Kontext dieses komplexen Sachverhaltes wurden in einer 1999 erschienenen Untersuchung von W. Sommer zum einen drei Situationen in Luthers Leben (Wormser Reichstag 1521, Bauernkrieg 1525, Marburger Religionsgespräch 1529), die das tiefe Hineinwirken theologischer Grundpositionen in politische Herausforderungen dokumentieren, dargestellt. Zum anderen beleuchtet Sommer das Selbstverständnis Luthers als öffentlicher Prediger am Beispiel seiner Beziehung zu den drei ernestinischen Kurfürsten. Auf der Grundlage intensiver Auswertung von Luthers Briefwechsel und Tischreden zeichnet G. Wartenberg in einer Studie von 1983 ein sehr facettenreiches Bild von Luthers Verhältnis zu den Wettinern beider Linien und ihren Frauen ab dem Jahr 1526. In diesen drei genannten Studien (inklusive der dort angegebenen weiterführenden Literatur) sind die Forschungsprobleme und -perspektiven zur Themenkonstellation Luther und Sachsen gebündelt. 11.2. Luther und Kurfürst Friedrich III. der Weise von Sachsen
Friedrich der Weise, der 1502 die Universität in Wittenberg gründete, und sein Theologieprofessor Luther haben sich wahrscheinlich nie aus der Nähe gesehen und gesprochen. Die Zeugnisse für ihren Kontakt sind so rar wie die Art ihrer Beziehung bemerkenswert ist. Der Kurfürst, der nie ein offener Anhänger von Luthers reformatorischer Theologie geworden ist, hat ihn dennoch durch seine Politik geschützt und wesentlich gefördert. Als frühestes Beispiel für die Förderung des jungen Luther kann die Übernahme der Promotionskosten beim Erwerb des theologischen Doktorgrades im Oktober 1512 an der Leucorea (vgl. WAB 12; 402–404) durch den Kurfürsten gelten, der damit half, eine bemerkenswerte akademische Laufbahn zu stiften. Weitere wichtige Quellenzeugnisse zur Beziehung Luthers und Friedrichs des Weisen – die auf der Mittlerstellung Georg Spalatins beruhte – stammen aus der Zeit nach der reformatorischen Wende 1517. Hier ist zunächst an Luthers ersten noch erhaltenen Brief an Friedrich zu erinnern, der vermutlich vom Sommer
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1518 datiert (WAB 1; 119 f) und neben der Bitte um eine neue Kutte, die Luther geschickt mit der Kritik an einer neuen Besteuerung des Landes verbindet, auch eine Versicherung der Hochschätzung des Kurfürsten durch Luthers Ordensvorgesetzten Johannes von Staupitz enthält. Hier schimmert bereits zugleich Luthers Verehrung für Friedrich den Weisen durch. Für die folgenden Jahre, in denen das Verhältnis beider durch die mit der causa Lutheri verbundene schwierige politische Lage eine Bewährung erfuhr, sind einige Widmungsbriefe Luthers an den Kurfürsten von großer Aussagekraft. In der Widmung zu dem Bibelkommentar Operationes in psalmos vom 27. März 1519 (WA 5; 19–23. WAB 1; 361) bezeichnet Luther Friedrich den Weisen als »patronus suus clementissimus« (WA 5; 19,7 f), preist dessen Liebe zur heiligen Schrift und lobt ihn als Vorbild eines wissenschaftsfördernden Fürsten. Die Nachhaltigkeit der Dankbarkeit Luthers gegenüber dem damals erkrankten Landesherrn wird deutlich in der Widmungsvorrede seiner Trostschrift Tessaradecas consolatoria pro laborantis et oneratis, die Ende 1520 erschienen ist (WA 6; 104– 106. WAB 1; 507 f): Neben anderen Würdetiteln rühmt er hier Friedrich als »pater patriae« (WA 6; 105,31). Bereits ein halbes Jahr später widmete Luther dem Kurfürsten die Adventspostille Enarrationes epistolarum et evangeliorum, quas postillas vocant (WA 7; 463–465), die auch auf Anregung Friedrichs entstanden war. Ein Jahr später wünschte der Kurfürst ausdrücklich eine Rechtfertigung Luthers gegen die Bann androhungsbulle (WAB 2; 220,5 f). Diesem Wunsch entsprach der Reformator mit der Assertio omnium articulorum M. Lutheri per bullam Leonis X. novissimam damnatorum (WA 7; 94–151). Im Februar 1522 richtete Luther von der Wartburg, wohin er auf dem Rückweg vom Wormser Reichstag auf Veranlassung des Kurfürsten gebracht worden war, an Friedrich den Weisen einen Brief. In ihm fordert er den Kurfürsten zur Bejahung der reformatorischen Neuerungen in Wittenberg auf und kündigt seine Rückkehr an (WAB 2; 448 f – die zurückhaltende Antwort darauf: WAB 2; 449– 453). Auf der Reise in Richtung Wittenberg verfasste Luther erneut einen Brief an seinen Kurfürsten (WAB 2; 453–457), der »als eines der großartigsten Dokumente aus Luthers Feder« (Sommer 1999, 65) qualifiziert worden ist. In diesem Schreiben vom 5. März 1522 begründet er seine Rückkehr, indem er freimütig sein Vertrauen auf den alleinigen Schutz Christi bekennt und zugleich das Verhältnis von Beschütztem (der in Bann und Acht gesetzte Luther) und Beschützer (der diplomatisch geschickte und im rechten Augenblick politisch inaktive Kurfürst) umkehrt. Aus den herangezogenen Zeugnissen wurde deutlich, »daß Luther schon sehr früh und immer erneut diesem von ihm verehrten Kurfürsten mit einem Freimut entgegentritt, der für den Umgang eines Theologen mit seinem Fürsten nicht nur für das 16. Jahrhundert höchst ungewöhnlich ist« (Sommer 1999, 64). Die dieses Verhalten Luthers duldende Sympathie Friedrichs des Weisen dürfte ein wesent-
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licher Grund für den Erfolg von Luthers Anliegen bis zum Tode des Kurfürsten im Jahr 1525 gewesen sein. 11.3. Luther und Kurfürst Johann der Beständige von Sachsen
Der jüngere Bruder Friedrichs des Weisen war mit gemeinschaftlichen Regierungsaufgaben früh betraut und hatte in Weimar eine eigene Hofhaltung. Schon Anfang der 1520er Jahre zeigte sich Johann Luthers Reformationsanliegen gegenüber offen. Die Schrift Von den guten Werken (WA 6; 202–276), in der Luther am Gegenstand des Dekalogs die Glaubensgerechtigkeit thematisiert, versah er mit einer Widmung an Johann (WA 6; 202–204). Ebenso widmete er ihm die Schrift Von weltlicher Obrigkeit, wie weit man ihr Gehorsam schuldig sei (WA 11; 245– 281), deren Veröffentlichung im Winter 1522/23 zwei Predigten am Weimarer Hof vorangegangen waren und in der Luther die Beziehung von Evangelium und weltlichem Rechtsleben ausleuchtet. Besonders nach dem Beginn der Alleinregierung 1525 intensiviert sich das Verhältnis beider Persönlichkeiten, was sich sowohl in persönlichen Begegnungen als auch in der Dichte der Korrespondenz zeigt. Wenige Tage nach dem Tod Friedrichs des Weisen, mitten in den Wirren des Bauernkrieges, spricht Luther seinem neuen Landesherrn brieflich Trost zu (WAB 3; 496 f). Schon bald darauf werden im Briefwechsel beider die wesentlichen Themen in Johanns Regierungszeit mit Nachdruck artikuliert: Der Aufbau des evangelischen Gemeindelebens und einer reformatorischen Kirchenstruktur mit dem Visitationswesen in Verbindung mit dem Wunsch nach Ausbau der Landesuniversität in Wittenberg findet sich als Thema vor allem in der unmittelbaren Folgezeit (z. B. WAB 3; 594– 596. WAB 4; 133–135). Eine besonders treffende Charakteristik der Persönlichkeit des Kurfürsten nimmt Luther in einem Brief an Georg Spalatin vom 1. Januar 1527 vor, in dem er unter anderem schreibt: »Nam quod tu mones, vt exemplo fratris ductet et imperet, ipse nosti esse insperabile. Homo fidelis est omnium expositus versutiis, Et qui credat homines esse sui similes, bonos et fideles« (Denn wenn Du rätst, dass er nach dem Vorbild seines Bruders befehlen und herrschen soll, weißt du selbst, dass dies nicht zu hoffen ist. Der ehrliche Mann ist den Tücken aller Menschen ausgesetzt, und er glaubt, dass alle Menschen ihm gleich sind: gut und zuverlässig) (WAB 4; 150,51–151,54). Im Kontext eines weiteren wichtigen Themas in Johanns Regierungszeit, nämlich der reichspolitischen Sicherung der Reformation u. a. im Umfeld des Augsburger Reichstages 1530 (z. B. WAB 5; 319 f. Vgl. auch besonders das kurfürst liche Schreiben vom 22. August 1530 und die Antwort Luthers darauf vom 26. August: WAB 12; 124–126. WAB 5; 572–575), zeigt sich Luther ebenfalls als regelmäßiger Berater seines Landesherrn. Sinnfälliger Ausdruck des guten Verhältnisses zwischen beiden ist auch die Übertragung von Gebäude und Grundstück des ehemaligen Wittenberger Au-
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gustinerklosters durch den Kurfürsten an Luther im Februar 1532 (WAB 6; 257 f). Nach nur siebenjähriger Regentschaft als Kurfürst starb Johann der Beständige im August 1532 im Alter von 63 Jahren. Luther hielt zwei Trauerpredigten (WA 36; 237–254. 255–270), in denen er seine Hochachtung vor dem »seer fromme[n], freundliche[n] man« (WA 36; 245,16 f) artikuliert. In einer zeitgleichen Tischrede bedauerte er, dass mit Friedrich die Weisheit und mit Johann die Frömmigkeit gestorben sei (WAT 2; 259,4 f). 11.4. Luther und Kurfürst Johann Friedrich I. der Großmütige von Sachsen
Mit dem 1503 geborenen Johann Friedrich folgte seinem Vater Johann der erste Kurfürst, »der mit Luther ›aufwuchs‹ und in der Tat auch politisch bewusst ›lutherisch‹ wirken wollte« (J. Bauer 2003, 9). Schon als Kurprinz stand er ab 1520 mit Luther in regem Briefwechsel. 1521 widmete Luther ihm Das Magnificat Vorteutschet und außgelegt (WA 7; 544 f. WAB 2; 285), wobei er seine Dankbarkeit für die Unterstützung durch die ernestinischen Wettiner und zugleich seine Untertänigkeit zum Ausdruck brachte. Auch die Danielübersetzung von 1530 eignete Luther ihm zu, wobei der Reformator angesichts des erwarteten Weltendes in der Widmung das Buch Daniel als Fürstenspiegel für den jungen Wettiner interpretierte (WADB 11,2; 380–387). Auf reichs- und bündnispolitischer Ebene gehörte Johann Friedrich bereits 1530 zu den Mitunterzeichnern des Augsburger Bekenntnisses sowie des Schmalkaldischen Bundesvertrages, so dass er als Kurfürst ab 1532 »recht schnell zu einem herausragenden politischen Führer im protestantischen Lager« (J. Bauer 2003, 24) heranwuchs. Ebenso wie an seine Vorgänger richtete Luther auch an Johann Friedrich zahlreiche Briefe, in denen er mit seiner Autorität zugunsten von Bittstellern votierte (zwei anschauliche Beispiele aus dem Jahr 1541: WAB 9; 327 f.468 f). Außerdem korrespondierte er in religions- und reichspolitischen Fragen mit dem Landesherrn. Im Laufe der Zeit entwickelten sich derartige Briefgutachten immer mehr auch zu Gemeinschaftsarbeiten der Wittenberger Theologen um Luther. Dies ging so weit, dass auch nach Luthers Tod der Kurfürst den Wittenberger Ratschlägen eine aus der Autorität Luthers erwachsene Dignität zumaß, die über die Bereiche Theologie und Kirchenpolitik hinausging und sich in der ernestinischen Krise im Schmalkaldischen Krieg 1546/47 zu bewähren hatte (vgl. Wartenberg 1999, 49 f). Nur die ersten konkreten Anzeichen dieser Krise, die 1547 den unterlegenen ernestinischen Herrscher um einen Teil seines Landes und die Kurwürde brachte, hat Luther noch erlebt. Schon zu Lebzeiten des Reformators sorgte sich Johann Friedrich um die systematische Sammlung, Abschrift und Edition von Luthers Werken (Äußerungen hierzu z. B. in der Vorrede zum ersten Band der Gesamtausgabe, Wittenberg 1545: vgl. WA 54; 179,19–21).
III. Beziehungen – 11. Luther und Sachsen
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11.5. Luther und Herzog Georg der Bärtige von Sachsen
Von einer besonderen Feindschaft ist das Verhältnis Luthers zu dem albertinischen Herzog Georg geprägt. Dieser warnte seinen Vetter Friedrich den Weisen schon frühzeitig vor einer Unterstützung des zum Ketzer erklärten Reformators. Dabei setzte sich der seit 1500 in Dresden regierende Herzog Georg durchaus für kirchliche Reformanliegen in seinem Territorium ein. Doch die dynastisch-territorialpolitischen Spannungen zwischen den ernestinischen bzw. albertinischen Wettinern und der sich entwickelnde religiöse Gegensatz zu Luther und der Wittenberger Reformation seitens des albertinischen Herzogs bildeten zwei Seiten einer Medaille. Besonderes Kennzeichen des Verhältnisses zwischen dem ernestinischen Theologieprofessor bzw. Reformator und dem albertinischen Herzog, die sich anlässlich der Leipziger Disputation persönlich begegnet sind, waren heftigste Verbalinjurien, aus deren Fülle nur einige wenige herausgegriffen seien. Luthers Spott über den Herzog als »wasser blaße« (WA 10,2; 55,22) in seiner Schrift Eyn missive allen den, ßo von wegen des wort gottes verfolgung leyden von 1522 (WA 10,2; 53–60. WAB 2; 484 f. 497–502) führte zur ersten direkten Auseinandersetzung und einem Beschwerdebrief des Herzogs an den Verfasser. Die Reaktion Luthers, »von Gottes Gnaden Evangelist zu Wittenberg« (WAB 3; 4 f), hierauf an den »Ungnedige[n] furst[en] und herr[n]« zeigt bereits den tiefen Graben zwischen beiden Kontrahenten. Einen Höhepunkt neben anderen erlebte die Ausein andersetzung in den Jahren nach dem Augsburger Reichstag. Luthers Polemik gegen den Reichsabschied veranlasste Herzog Georg zu einer anonymen Gegenschrift (WA 30,3; 416–438). Hierauf konterte Luther mit der Schrift Wider den Meuchler zu Dresden (WA 30,3; 446–471). Wiederholt forderte Kurfürst Johann deshalb Luther zur Zurückhaltung in seiner Polemik gegen Herzog Georg auf (WAB 6; 154 f. 464 f). Doch flammte die öffentliche Auseinandersetzung immer wieder auf, so auch als 1533 der Leipziger Magistrat im Auftrag Georgs den Bürgern die Kommunion in beiderlei Gestalt verbot und die Beichte einschärfte (WAB 6; 444–446. 448–452. – dazu Luthers Schriften Verantwortung der aufflegten Auffrur von Hertzog Georgen [WA 38; 96–127] und Die kleine antwort auff H. Georgen nehestes buch [aaO 141–170]). Bei den Beschwerden, die Kurfürst Johann Friedrich aus Dresden zu Ohren kamen, deckte dieser Luther immer, wenngleich er wünschte, dass Luther »ein wenig leis ginget« (WAB 7; 139,54 f), d. h. gegen Georg etwas vorsichtiger auftreten sollte. Nach dem Tod Herzog Georgs 1539 führte dessen jüngerer Bruder Heinrich der Fromme im gesamten albertinischen Herzogtum Sachsen die Reformation ein. Eine nachhaltige oder persönliche Beziehung bestand zwischen Luther und Herzog Heinrich jedoch nicht.
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B. Person
11.6. Luther und Herzog/Kurfürst Moritz von Sachsen
Distanziert, aber dennoch von ungleich größerer Bedeutung waren die Verbindungen zwischen dem Wittenberger Reformator und dem 1521 geborenen Moritz von Sachsen, der ab 1541 in Dresden regierte. In der sog. Wurzener Fehde von 1542 bemühte sich Luther zwar öffentlich in einem Sendbrief (WAB 10; 31– 37) an die Konfliktparteien um Ausgleich, nahm aber in persönlichen Dokumenten gegen den jugendlichen Albertiner Stellung (WAT 5; 144). Seither existierten keine direkten bzw. persönlichen Verbindungen mehr zwischen Luther und dem Dresdner Hof. Die Indienstnahme Luthers für die kirchliche Neuorganisation im albertinischen Sachsen ist seitens Herzog Moritz’ allein durch Pragmatismus gekennzeichnet gewesen. So verwundert es auch nicht, dass umgekehrt Luthers Moritzbild im Wesentlichen von »Befangenheit und Vorurteile[n]« (Wartenberg 2003, 69) bestimmt gewesen ist. 11.7. Fazit
Für die Entwicklung der Wittenberger Reformation war das Verhältnis zu den herrschenden Wettinern der ernestinischen Linie von enormer Bedeutung. So unterschiedlich Luthers Verhältnis zum jeweils regierenden Kurfürsten aufgrund der persönlichen Umstände und der (kirchen)politischen Zeitverhältnisse war, als fruchtbar muss man diese Beziehungen zwischen einem außergewöhnlichen Untertan und den ernestinischen Kurfürsten allemal bezeichnen. Die Feindschaft bzw. Distanz Luthers zu den albertinischen Wettinern steht dazu in einem sehr deutlichen Kontrast. Am konkreten Beispiel menschlicher Beziehungen lässt sich somit auch die Umsetzung von Luthers Theologie in die reformatorische Praxis beobachten. Bauer, Joachim: Johann Friedrich I. der Großmütige (1503–1554): Turnierkämpfer – Mäzen – Lutherischer Kurfürst (in: Ders./Hellmann, Birgitt [Hg.]: Verlust und Gewinn: Johann Friedrich I., Kurfürst von Sachsen [Bausteine zur Jenaer Stadtgeschichte 8], 2003, 9–39). Junghans, Helmar: Die Widmungsvorrede bei Martin Luther (in: Hammer, Gerhard/Mühlen, Karl-Heinz zur [Hg.]: Lutheriana. Zum 500. Geburtstag Martin Luthers von den Mitarbeitern der Weimarer Ausgabe [AWA 5], 1984, 39–65). Ludolphy, Ingetraut: Die Ursachen der Gegnerschaft zwischen Luther und Herzog Georg von Sachsen (LuJ 32, 1965, 28–44). Dies.: Friedrich der Weise. Kurfürst von Sachsen 1463–1525, 1984, bes. 383–486. Sommer, Wolfgang: Christlicher Glaube und Weltverantwortung – Martin Luthers Beziehungen zu seinen Landesherren (in: Ders.: Politik, Theologie und Frömmigkeit im Luthertum der Frühen Neuzeit. Ausgewählte Aufsätze [FKDG 74], 1999, 54–73). Syndram, Dirk/Wirth, Yvonne/Zerbe, Doreen (Hg.): Luther und die Fürsten: Selbstdarstellung und Selbstverständnis des Herrschers im Zeitalter der Reformation. Katalog und Aufsatzband, 2015. Wartenberg, Günther: Theologischer Ratschlag in Zeiten politischen Umbruchs. Die Wittenberger Theologen und ihre Landesherrn 1546/1547 (in: Doering-Manteuffel, Anselm/
III. Beziehungen – 12. Luther und die reformatorische Bewegung in Deutschland
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Nowak, Kurt [Hg.]: Religionspolitik in Deutschland. Von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart, 1999, 29–50). Ders.: Luthers Beziehungen zu den sächsischen Fürsten (in: Junghans, Helmar [Hg.]: Leben und Werk Martin Luthers von 1526–1546, 2 Bde., 1983, 549–571. 916–929) (auch in: Ders.: Wittenberger Reformation und territoriale Politik. Ausgewählte Aufsätze, hg. v. Jonas Flöter u. Markus Hein [AKThG 11], 2003, 15–54). Ders.: Martin Luther und Moritz von Sachsen (in: Ders.: Wittenberger Reformation und territoriale Politik. Ausgewählte Aufsätze, hg. v. Jonas Flöter u. Markus Hein [AKThG 11], 2003, 55–67). Andreas Gößner
12. Luther und die reformatorische Bewegung in Deutschland Entstehung und Struktur der reformatorischen Bewegung im deutschen Sprachgebiet sind mit der Produktion und Rezeption reformatorischer Flugschriftenliteratur ursprünglich verbunden. In Bezug auf den Boom dieses auf aktuelle theologische und religionspolitische Fragen bezogenen Schrifttums, das in ungebundenen, zumeist knappen, wenig repräsentativ ausgestatteten und entsprechend billigen Quartdrucken hergestellt und vertrieben wurde und lateinische, seit 1519/20 dann vorrangig deutschsprachige Texte enthielt, kommt den Wittenberger Theologen, vor allem aber Luther, eine hervorragende Initialbedeutung zu. Luther war der einflussreichste Publizist der reformatorischen Bewegung; zwischen 1518 und 1525 erschienen von ihm insgesamt 287 Flugschriften in 1.737 Drucken, wobei 219 Schriften in 1.465 Drucken auf deutsche, 68 Schriften in 272 Drucken auf lateinische Texte entfielen. Luthers publizistischer Erfolg, der ihn zum einflussreichsten Meinungsführer der reformatorischen Bewegung werden ließ, äußerte sich nicht nur in der Masse der Einzelexemplare seiner Flugschriftendrucke, die bis ins Bauernkriegsjahr 1525 bei über zwei Millionen gelegen haben dürfte, sondern auch in der – verglichen mit anderen Publizisten der Zeit – überdurchschnittlich hohen Zahl der Einzelausgaben seiner Werke, die bei den lateinischen Schriften im Durchschnitt ca. vier, bei den deutschen Schriften ca. sieben Drucke erreichte. Luthers eigene Publizistik war ein wesentliches Stimulans für die Entstehung einer »reformatorischen Öffentlichkeit«, die sich in der Artikulation und Manifestation kirchenkritischen Verhaltens, in der Produktion eigener literarischer Werke evangelischen Inhalts und in der agitatorischen und propagandistischen Verbreitung religiöser Gesinnungen und theologischer Überzeugungen äußerte; diese wurden durch Multiplikatoren, die zunächst im städtischen Raum wirkten, bald aber auch in den ländlichen Raum ausstrahlten, weitergetragen und zum Teil spezifisch akzentuiert. Luther sah in dem immensen und analogielosen Erfolg seiner selbst und ihm nahestehender Publizisten in der Zeit der Hochphase der reformatorischen Flugschriftenproduktion (1523/24) einen von Gott herauf-
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geführten ›Siegeslauf des Evangeliums‹, ein einmaliges eschatologisches Zeichen am Ende der Zeiten: »Ich acht, das deutsch land noch nie so viel von Gottis wort gehöret habe als itzt. […] Denn das sollt yhr wissen, Gottis wort und gnade ist ein farender platz regen, der nicht wider kompt, wo er eyn mal gewesen ist« (WA 15; 32,1 f.6–8). Der Erfolg reformatorischer Publikationen nötigte auch die ›altgläubigen‹ Kontroverstheologen wie Emser, Murner, Dietenberger, Eck, Alvelt, Cochlaeus und Schatzgeyer – um nur die publizistisch einflussreichsten zu nennen – dazu, ihre Apologien des bestehenden Kirchentums und seiner theologischen und kirchenrechtlichen Grundlagen vor dem Forum der Öffentlichkeit in Gestalt antireformatorischer Flugschriften vorzutragen. Freilich vollzogen sie den Wechsel in die Volkssprache eher zögerlich und nur teilweise; die genannten altgläubigen ›Erfolgsautoren‹ verfassten zwischen 1518 und 1525 zusammen gerade einmal halb so viele Flugschriften wie allein Luther, nämlich 146, die in insgesamt 234 Druckausgaben verbreitet wurden und von denen etwa die Hälfte in der Gelehrtensprache, dem Lateinischen (69 Schriften in 131 Ausgaben), erschienen ist. In den ersten Jahren der frühreformatorischen Bewegung war die Dominanz evangelischer Autoren, die für die theologischen und kirchenpolitischen Anliegen des Wittenberger Kreises oder der Theologen in den anderen nach und nach entstehenden reformatorischen Strahlungszentren in den oberdeutschen und schweizerischen Städten eintraten und sie vorantrieben, eklatant. Der mit dem Bauernkrieg historisch und sachlich zusammenhängende Rückgang der reformatorischen Flugschriftenpublizistik im Ganzen beendete die eruptive Aufbruchs phase der reformatorischen Bewegung, koinzidierte mit den fortschreitenden rechtlichen und politischen Kanalisierungsversuchen in Form obrigkeitsgeleiteter städtischer oder territorialer Reformationsprozesse und korrespondierte mit den fortschreitenden binnenreformatorischen Differenzierungsprozessen, die über der Deutung der Sakramente Taufe und Abendmahl, der Verhältnisbestimmung von äußerem Schriftwort und innerem Geistzeugnis und der gesellschaftspolitischen und ethischen ›Praxis des Evangeliums‹ aufbrachen. Insofern markiert das Jahr 1525 in den Gebieten des Reiches, in denen es schon zu Beginn der 1520er Jahre zur Entstehung evangelischer Regungen gekommen war, den Übergang der ›reformatorischen Bewegung‹ in die lokalen und territorialen Reformationsprozesse. Die wichtigsten Druckzentren frühreformatorischer Flugschriftenproduktion – in der Reihung ihrer Produktionsvolumina sind dies Augsburg, Wittenberg, Nürnberg, Straßburg, Leipzig, Erfurt, Basel und Zürich – überschneiden sich weitestgehend mit den Aktivitätszentren der reformatorischen Bewegung. Die 1521 als Bestandteil des Wormser Edikts reichsrechtlich eingeführte Vorzensur, die den Einfluss der reformatorischen Publizistik zu brechen versuchte, erhielt nur dort Bedeutung, wo städtische oder territoriale Obrigkeiten sie exekutierten; eine durchschlagende Wirkung blieb ihr versagt.
III. Beziehungen – 12. Luther und die reformatorische Bewegung in Deutschland
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Neben den Druckmedien, vor allem den Flugschriften und den illustrierten Flugblättern, die evangelische Glaubensinhalte und kirchenpolitische Gesinnungen in einer auch illiteraten Rezipienten zugänglichen Form präsentierten, dürfte vor allem der Predigt eine herausragende Bedeutung für die Ausbreitung reformatorischen Gedankenguts und die Formierung der reformatorischen Bewegung zuzuschreiben sein. Zahlreiche reformatorische Flugschriften, auch solche Luthers, waren in formaler oder inhaltlicher Hinsicht Predigten: ein Sachverhalt, der mit der zentralen religiös-theologischen Aufwertung des Wortes Gottes in der reformatorischen Theologie elementar zusammenhing und dem Druckmedium neuartige und vielfältige Rezeptionsformen – durch Eigenlektüre, Vorlesen im kleinen Kreis oder vor einer Gemeinde – eröffnete. Gelegentlich ersetzten gedruckte Predigten oder predigtartige Flugschriften auch personelle Multiplikatoren oder stimulierten Geistliche und Laien dazu, selbst zu Predigern oder gar zu Publizisten reformatorischer Flugschriften zu werden. Die Vielfalt der inhaltlichen Tendenzen der reformatorischen Flugschriftenliteratur, in der seelsorgerlich-erbauliche, katechetisch-doktrinale, kirchenkritisch-polemische, auch gesellschaftskritisch-visionäre und politische Momente sowie tröstende, agitatorische oder propagandistische Artikulationsformen eine mehr oder minder wesentliche Rolle spielten, entspricht der sozialen, kulturellen und politischen Bandbreite der reformatorischen Bewegung. Zwischen 1518 und 1521 avancierte Luther zur Leitfigur kirchlicher und gesellschaftlicher Veränderung; in der Bezugnahme auf ihn entstand die reforma torische Bewegung allererst. Die einzigartige Aufmerksamkeit, die der bis 1517 außerhalb von Gelehrten- und Ordenskreisen völlig unbekannte Bettelmönch aus der namenlosen Universitätsneugründung Wittenberg fand, dürfte eine Reihe von Ursachen haben: Als Mönch und Gelehrter repräsentierte Luther religiöse und kulturelle Lebensordnungen von herausragender Dignität; als religiöser Schriftsteller und legitimierter Bibelausleger sprach er mit theologischer Vollmacht und seelsorgerlicher Einfühlsamkeit, die aus eigener Erfahrung um die menschliche Gewissensnot vor Gott wusste und sich in einer unerhörten sprachlichen Ausdruckskraft, die ihm über der literarischen Produktion der Jahre 1518 und 1519 mehr und mehr zuwuchs, zu artikulieren vermochte; als Gegner der römischen Kurie zog er ›nationale‹ Selbstbehauptungs- und Abgrenzungsbedürfnisse an und bediente sich ihrer selbst; als Kritiker des Ablasshandels griff er ein Thema auf, in dem fundamentale Grundfragen christlichen Buß- und Gnadenverständnisses mit unmittelbaren kirchlichen Praxisvollzügen untrennbar verbunden waren, die die Lebensführung jedes Christen direkt oder indirekt und ein zentrales Sakrament, die Buße, im Kern betrafen; als frommer Asket verkörperte er die heiligmäßigen Ideale des Christentums gegen eine weltförmige Kirche; als unbeugsamer Ketzer, der sich in seinem Gewissen allein an die Wahrheit der Schrift gebunden wusste, lebte er die nüchterne Freiheit eines Christenmenschen gegen die schillernde Macht rechts- und gewaltförmiger politischer und klerikaler Repression. Beides, das, was Luther selbst war, was er sagte und was er tat, auf
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der einen Seite, und das, was ihm zwischen 1518 und 1521 widerfuhr, auf der anderen Seite, machte ihn zu einer Integrations- und Projektionsgestalt vielfältiger Anliegen, Bedürfnisse, Beschwernisse und Hoffnungen und so zur Schlüsselfigur der reformatorischen Bewegung. Die zeitgenössische Ikonographie, die Luther seit der Leipziger Disputation in einer stupenden Vielfalt ins Bild setzte wie nie eine Gestalt der deutschen Geschichte vorher, spiegelt die durchaus heterogenen Motive und Aspekte seiner zeitgeschichtlichen Bedeutung wider. Als gelehrter Doktor, frommer Kirchenlehrer, der in der Tradition der Heiligenikonographie dargestellt wurde, als Märtyrer, als Prophet, der die kleine Schar der Frommen aus dem dem Untergang geweihten Babylon heraus- und dem rettenden Christus zuführte, als Widersacher des Teufels und des Papstes, als willenskräftiger heroischer Asket, als Lehrer und Prediger, als germanischer Herkules, der Deutschland vom drückenden Joch des römischen Papsttums mit Ungestüm befreite, als ›geistlicher Bäcker‹, der das Wort des Evangeliums an das Volk austeilte, wurde er in Flugschriften vorgestellt und auf Titel- und Flugblättern visualisiert. Die im Lichte der standardisierenden Tendenzen der kursächsischen Bildpolitik, die vor allem Luthers enger Freund Lucas Cranach umsetzte, hochgradig disparate Lutherikonographie der früh reformatorischen Bewegung spiegelt die vielfältigen Inanspruchnahmen der projektiven Schlüsselgestalt Luther, der Bürgern und Bauern, Ritterschaft und Reichs adel nahe- und den dekadenten klerikalen Repräsentanten des zeitgenössischen Kirchentums entgegentrat. In dem seit Luthers Rückkehr von der Wartburg im Frühjahr 1522 in verschiedenen Zusammenhängen und mit unterschiedlichen Personengruppen ausgetragenen Klärungsprozess zwischen dem, was man in Luther hineinprojizierte, und dem, was er selbst angesichts immer neuer Herausforderungen wirklich dachte und wollte, erhielt die deutsche Reformationsgeschichte ihr spezifisches Profil. Lutherdarstellungen und -deutungen, die den Wittenberger Theologieprofessor Seite an Seite mit dem propagandistischen Wortführer der ihre alten Rechte und Herrlichkeiten erstreitenden Reichsritterschaft Ulrich von Hutten sahen, ihn mit der literarischen Symbolgestalt des seine Freiheiten gegen die Klerisei erstreitenden Bauerntums, dem Karsthans, in Verbindung brachten oder ihn gemeinsam mit Erasmus oder seinem Fakultätskollegen Karlstadt als Führer der Bewegung darstellten, verloren durch die fortschreitenden Klärungs- und Dissoziationsprozesse zwischen 1522 und 1525 ihre Plausibilität und ihre Suggestionskraft. Angesichts der zentrifugalen Tendenzen, die die reformatorische Bewegung im Laufe der 1520er Jahre entfaltete, indem Luther gegenüber Karlstadt, Müntzer, den schweizerischen und oberdeutschen Reformatoren, gegenüber Erasmus und bestimmten radikalen Tendenzen bäuerlicher und gemeindereformatorischer, schließlich täuferischer Gruppen und der ›Schwärmerei‹ verdächtiger mystischspiritualistischer Einzelpersonen definitive Grenzen markierte bzw. die genannten Personen und Gruppen ihre Abkehr von der Wittenberger Reformation vollzogen und dokumentierten, stellt sich die Frage nach der inneren Kohärenz der
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frühreformatorischen Bewegung und ihrer rezeptionsgeschichtlichen Beziehung zu den theologischen Kernanliegen Luthers. Bei der Beantwortung dieser Frage nach der ›Einheit und Vielfalt‹ der reformatorischen Bewegung ist allerdings methodisch zu berücksichtigen, dass eine Reihe an Themen und Problemen, die sich nach und nach als strittig erweisen sollten, erst im Zuge der frühreformatorischen Kommunikationsdynamik selbst in den Blick gerieten und alternative Deutungsmöglichkeiten allererst im Prozess der produktiven Rezeption insbesondere Lutherscher Schriften hervortraten. Überdies stellt sich Luther als außerordentlich dynamischer, kreativer und produktiver Denker und Schriftsteller dar, der gerade im Horizont der Herausforderungen und Auseinandersetzungen der Jahre 1518 bis 1521 neue, zum Teil bahnbrechende Erkenntnisse gewann und artikulierte und keine abgeschlossene Glaubensdoktrin präsentierte, sondern Grundfragen des christlichen Glaubens und der kirchlichen Praxis in schrift- und situationsgemäßen Traktaten vortrug, die nicht selten durch bestimmte Anlässe und Diskussionslagen provoziert und zum Teil auch bestimmt waren und jeweils ihre aktuelle Gegenwart erreichen wollten. Nur wenn man die innere Dynamik sowohl der reformatorischen Bewegung als auch Luthers in Rechnung stellt, wird man einseitigen Theoriebildungen, die entweder die reformatorische Bewegung primär als Phänomen kongenialer theologischer Lutherrezeption deuten oder aber den Zusammenhang zwischen Luther und der reformatorischen Bewegung als eine Art historisches Missverständnis bewerten, da von Luthers theologischen Kernanliegen herzlich wenig verstanden worden sei, entgehen. In der Tat lassen sich zwischen Luther und der frühreformatorischen Bewegung, insofern sie sich in Flugschriften artikulierte, eine ganze Reihe grundlegender Gemeinsamkeiten nachweisen, die die innere Kohärenz und Durchsetzungsdynamik der kirchlichen und gesellschaftlichen Veränderungen in den 1520er Jahren ausmachten: die Gewissheit, in einer eschatologisch erfüllten Heilszeit zu stehen, in der das wiederentdeckte ›alte‹ Evangelium neu und letztmalig vor dem nahen apokalyptischen Ende der Zeit durch Gott selbst vermittels von ihm auserwählter Prediger und Zeugen bekannt gemacht werde, war ebenso allgemein verbreitet wie die damit untrennbar verbundene Überzeugung, dass die gottfeindlichen, um den Antichrist gescharten Mächte dieses Äons mit einer bisher nie gekannten Grausamkeit gegen das Evangelium und seine Anhänger anstürmen würden. Die frühreformatorische Bewegung war von einer insistenten und vitalen Gottesnähe erfüllt; die Vorstellung, dass Gott sich in der gegenwärtigen geschichtlichen Erfahrung mit unerhörter, an biblische Offenbarungen gemahnender Weise manifestierte und biblische Prophetien wie Joel 3,1 ff bzw. Apg 2,17 ff jetzt einlöste, verband alle maßgeblichen Akteure und Stimmführer innerhalb des evangelischen Lagers ebenso wie die Gewissheit einer Unmittelbarkeit der Gottesbeziehung jedes Christen. Die seit 1520 von Wittenberg aus propagierte Identifikation des Papsttums mit dem Antichristen war ein mentales Gemeingut der frühreformatorischen Bewegung, auch wenn in Bezug auf die Konsequenzen, die aus dieser Offenbarung zu ziehen waren, eine gewisse Bandbreite an Verhal-
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tensoptionen möglich war. Die radikale Ablehnung der Papstkirche, ihres priesterlichen und monastischen Personals, ihrer institutionellen und rechtlichen Herrschaftsmittel und der sie legitimierenden Theologie verband die frühreformatorische Bewegung ebenso wie die Überzeugung, in der heiligen Schrift das geeignete, aber auch das hinreichende Instrument in der Hand zu haben, den Anstürmen der römischen Kirche Paroli bieten zu können. In dem bereits in den frühen 1520er Jahren verbreiteten Parteinamen der ›Evangelischen‹ verdichtete sich das Selbstverständnis und ‑bewusstsein, das Proprium der ursprünglichen Glaubensurkunde der Christenheit nach den Jahrhunderten ihrer Verdunkelung wieder ins rechte Licht zu setzen. Ein breiter Konsens bestand in der frühreformatorischen Bewegung sodann hinsichtlich der Kritik an einzelnen doktrinalen, liturgischen und kirchenrechtlichen Entwicklungen, die unter der Herrschaft des Papsttums eingerissen waren und die von der Bibel her keiner Begründung fähig, vielmehr aller Kritik würdig waren: alle Sakramente außer Taufe und Abendmahl wurden verworfen, der Empfang des Laienkelchs gefordert, die Vorstellung eines Gott in der Messe dargebrachten Sühnopfers bestritten, die Eucharistiefeier ohne Gemeinde abgelehnt; das durch Weihe und character indelebilis vom Laien soziologisch und soteriologisch fundamental unterschiedene Priestertum, der Pflichtzölibat, die Verehrung heiliger Mittler außer dem einzigen Mittler Christus wurden verurteilt; einen kultischen Bezug zu Bildern, Reliquien und anderen Sakralgegenständen, die Wallfahrten und Stiftungen und den diesen Gebräuchen zugrundeliegenden Verdienstgedanken bekämpfte man. Über die für die frühreformatorische Bewegung konstitutive und zunächst integrationsstiftende Absage an das zeitgenössische römische Kirchentum hinaus lassen sich eine ganze Reihe an positiven religiösen und theologischen Gemeinsamkeiten der reformatorischen Bewegung identifizieren: die exklusive, aller menschlichen Tradition und allem Menschenwort kategorial überlegene Bedeutung des biblischen Wortes und die dieser korrespondierende Höchstgeltung der Predigt des Wortes als maßgeblicher religiöser Aktions- und Kommunikationsform gegenüber dem Sakramentsdienst des überkommenen Kirchenwesens; die zentrale Stellung Christi im Hinblick auf das Gottesverhältnis des einzelnen und die Gestaltwerdung seiner Gemeinde; die im zureichenden Verdienst Christi begründete, im Glauben angeeignete Neubestimmung des Gottesverhältnisses, die jede soteriologische Wertung menschlicher Satisfaktions- oder Verdienstleistungen ab ovo ausschloss; ein Verständnis der religiösen Sozialgestalt des Christlichen als Gemeinde der Glaubenden und Getauften, die qua allgemeinem Priestertum und nicht durch die kirchliche Sakralinstitution von Gott selbst zur Partizipation an der endzeitlich erwählten Heilsgemeinschaft berufen waren und in welcher auch Laien beiderlei Geschlechts in geistlicher Hinsicht vor Gott gleichberechtigt waren; die gegenüber der mittelalterlichen Sakramentstheologie und ihrer Abstufung von Taufe und Buße fundamentale Neubestimmung des Taufsakraments als des immerwährenden Bezugspunkts christlicher Existenz; die ›Sa kralisierung‹ der geschöpflichen Lebenswelt und der gesellschaftlichen Ordnung
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als alternativlos gültiger Sphäre sozialer, beruflicher und ethischer Praxis christenmenschlicher Bewährung. Diese prägenden, durch die Dissoziationsprozesse der reformatorischen Bewegung während der 1520er Jahre nicht vollständig aufgelösten Gemeinsamkeiten hatten durchweg in der Theologie Luthers und seiner Wittenberger Kollegen einen Anhalt und einen rezeptionsgeschichtlichen Bezugspunkt, enthielten aber gleichwohl in sich ein theologisches und reformationsstrategisches Differenzpotential, das sich überall dort zeigte, wo über die Negation des Bestehenden hinaus fortgeschritten und der Neubau des Kirchenwesens betrieben wurde. Den jeweiligen Kontexten, in denen diese frühreformatorischen Überzeugungen wirksam wurden, und den konkreten Personen und Gruppen, die dabei agierten, kam eine entscheidende Bedeutung dafür zu, in welcher spezifischen Weise dies geschah. In der reformatorischen Bewegung lässt sich eine große Bandbreite unterschiedlicher Aktions‑, Protest- und Vergemeinschaftungsformen sowie differenter Autorisierungsstrategien wahrnehmen, die sich von Luthers eigenen Inten tionen und den von ihm präferierten Verhaltensweisen zum Teil beträchtlich unterschieden. Über der Frage nach dem angemessenen modus procedendi reformationis und der pastoraltheologischen und reformationsstrategischen Legitimität einer von Luther immer nachdrücklicher favorisierten gemächlichen, in enger Abstimmung mit den politischen Obrigkeiten vollzogenen Veränderung der kirchlichen Verhältnisse trennten sich die Geister innerhalb der Wittenberger Theologengruppe seit der sog. Wittenberger Bewegung: der nach Luthers Rückkehr von der Wartburg zügig isolierte Karlstadt repräsentierte ein kongregationalistisches Reformmodell und sah in der Gemeinde das entscheidende Handlungssubjekt kirchlicher und gesellschaftlicher Veränderung, während Luther und seine sich ihm verpflichtenden Kollegen in Anknüpfung und Weiterführung des vorreformatorischen landesherrlichen Kirchenregiments den fürstlichen Territorialherren und den städtischen Magistraten die maßgebliche Initiativ- und Gestaltungsvollmacht zuerkannten. In den oberdeutschen und schweizerischen Stadtreformationen wirkten Vorstellungen aus dem Kontext der ersten – im Ergebnis gescheiterten – Stadtreformation, derjenigen Wittenbergs von 1521/22, nach, kamen hier aber vor allem deshalb zum Ziel, weil die reichsstädtischen Obrigkeiten über größere rechtliche und politische Handlungsspielräume verfügten als die sächsische Territorial- und Universitätsstadt Wittenberg. Luthers Vorstellungen eines aufrührerischer Tendenzen unverdächtigen Reformationsprozesses basierten insbesondere auf seinem Glauben an die Durchsetzungskraft des Wortes Gottes, das durch von der Gemeinde berufene, gegebenenfalls von der Obrigkeit bestätigte Prediger, nicht aber durch ›selbsternannte‹ Propheten ausgelegt werden sollte und so seine produktive Veränderungsdynamik entfalten werde. Bestehende weltliche Ordnungsstrukturen sollten vom Geist des Evangeliums durchdrungen, geläutert und für den Dienst am Worte Gottes gewonnen, nicht jedoch in Frage gestellt oder bekämpft werden. Allen Aktionsformen, die die Gefahr einer Provokation der weltlichen Herrschaftsträger und einer
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Relativierung der Ordnung in sich bargen, erteilte Luther um des Evangeliums willen eine Absage, auch wenn er die Argumente und Motive des Angriffs auf das Bestehende nicht selten geliefert hatte oder doch teilte. Der Umstand freilich, dass diejenigen Gruppen und Einzelpersonen, die eine zügige Durchsetzung gemeinreformatorischer Überzeugungen, etwa die Forderung nach dem Laienkelch, der Abschaffung der wertlosen und gefahrvollen »Götzen« oder der Einführung einer für die Laien verständlichen Gottesdienstordnung forderten oder betrieben, sich auf Luther beriefen, verstärkte seinen Distanzierungswillen und sein Insistieren auf einem obrigkeitsgeleiteten Reformationsprozess. Gegenüber den stadt- und territorialreformatorischen, obrigkeitlich regulierten Reformationsprozessen und den institutionellen und rechtsförmigen Mitteln ihrer Durchsetzung – etwa Disputationen, Visitationen, Kirchenordnungen, Ratsmandaten, die im Zuge der reformatorischen Bewegung ausgebildet, erprobt und etabliert wurden –, bekundeten Luther und ihm nahestehende Kirchenorganisatoren des Wittenberger Kreises wie besonders Bugenhagen, Melanchthon und Nikolaus von Amsdorf ihre Zustimmung und Mitwirkung. Für Luther, aber auch für die übrigen Reformatoren in städtischen und territorialen Amtsstellungen war zumeist ›die Gemeinde‹ als Ganze die Bezugsgröße, an die das Wort des Evangeliums zu richten und im Hinblick auf welche die kirchlichen Veränderungen zu bedenken und plausibel zu machen waren. Qualitativen Differenzierungen zwischen fortgeschrittenen ›wahren‹ Gläubigen und den noch in traditionellen Vorstellungen befangenen ›Schwachen‹ eine soteriologische Bedeutung oder auch nur eine reformationspraktische Berechtigung zuzuerkennen, versagte er seine Zustimmung. In separatistischen Tendenzen, wie sie seit dem Auftreten der Zwickauer Propheten in Wittenberg während der Wartburgzeit Luthers die reformatorische Bewegung begleiteten und später im Täufertum und im Umkreis Karl stadts und Müntzers stabilere Vergemeinschaftungen erreichten, sah Luther geistlichen Hochmut und Lieblosigkeit. Reformatorisch inspirierten Aktivitäten, die auf die Wahrnehmung bestimmter Gruppeninteressen, etwa der Bergknappen, der Bauern, der Reichsritterschaft, des Adels, der Fürsten oder des Handelskapitals ausgerichtet waren, versuchte er mittels eines integrativen, kommunitären Gemeindeverständnisses zu begegnen, nicht ohne im Interesse der Aufrechterhaltung bestehender Ordnung zu argumentieren. In der reformatorischen Bewegung, im Vorfelde und während des Bauernkrieges auftretende Aktionsformen wie Zehntverweigerungen, Bilder- und Klosterstürme, Gottesdienststörungen, Übergriffe auf Kleriker, karnevaleske, bestehende Herrschaftsverhältnisse rituell ›verkehrende‹ und zu ›Veränderung‹ – ein für Luther und die etablierten Reformatoren zumeist eindeutig negativ konnotierter Begriff – aufrufende Praktiken, die mancherorts reformatorischen Veränderungen wirksam die Bahn brachen und zum Anlass regulierender, konfliktentschärfender Maßnahmen der Obrigkeiten wurden, fanden Luthers Zustimmung nicht. Die eindeutigsten sichtbaren Veränderungen des überkommenen Kirchentums, die Luther selbst zügig vorantrieb und die innerhalb der reformatorischen Bewegung eine durchschla-
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gende Wirkung erzielten, waren der Klosteraustritt und die Priesterehe, die Abschaffung der Stillmesse, der Reliquien- und der Heiligenverehrung, des Stiftungs- und des Ablasswesens, die Einführung volkssprachlicher Predigt und gemeindlicher Armenfürsorge, die Neustrukturierung der Gemeindefinanzen und der Pfarrbesoldung mit Hilfe des ›gemeinen Kastens‹ sowie die Förderung laikaler Bildungskompetenz in Glaubensfragen mit Hilfe volkssprachlicher Texte. In den im Laufe der 1520er Jahre sukzessive zu einem spezifischen Merkmal der in die Separation drängenden oder gedrängten radikalen Reformation avancierenden Autorisierungsstrategien wie Prophetien, Visionen, mystischen Erfahrungen oder Auditionserlebnissen sah Luther gefährliche Manifestationen spiritualistischer Hybris, die die alleinige Geltung des Schriftwortes relativierten und die seines Erachtens für alle Aspekte des christlichen Gottes- und Weltverhältnisses grundlegende theologische Fundamentalunterscheidung von Gesetz und Evangelium im Sinne eines die rechte Beziehung von Gott und Mensch verfehlenden monistischen Schwärmertums verkehrten. Für die kommunikationsgeschichtlich epochale Dynamik der frühreformatorischen Bewegung ist charakteristisch, dass sich eine ganze Reihe an Personen und sozialen Gruppen an dem vor allem in der Flugschriftenliteratur greifbaren Kommunikationsprozess beteiligte, denen nach Maßgabe der geltenden kirchlichen Ordnung eine öffentliche Meinungsäußerung zu Glaubensfragen nicht zustand. In der Initialphase der reformatorischen Flugschriftenpublizistik, besonders in den Jahren 1521/22, spielten anonym veröffentlichte Texte eine nicht unbeträchtliche Rolle; auch wenn hinter vielen dieser vor allem in der Volkssprache abgefassten Schriften gelehrte Verfasser stehen dürften, spiegeln die literarischen Formen und Präsentationsstile, insbesondere die fingierten Laienrollen, die in dieser Literatur begegnen, eine Umsetzung des reformatorischen Priestertums aller Gläubigen und der in diesem Theologumenon begründeten Urteilskompetenz der Laien in Glaubens- und Lehrfragen, die vor allem von Luther mit der größten publizistischen Durchschlagskraft vertreten worden war. Auch reformatorische Flugschriften von Handwerkern, Angehörigen des niederen Adels und Frauen aus den Jahren 1523 und 1524 sind davon bestimmt, dass ihre Autoren sich deshalb öffentlich zu reden und zu schreiben verpflichtet fühlen, weil die Repräsentanten des geistlichen Standes in Irrtum und Lüge befangen seien und die Laien verführten und betrögen; in aller Regel waren sie von dem Bewusstsein einer Übereinstimmung mit Luther und den anderen theologischen Repräsentanten der reformatorischen Bewegung geprägt. Erst im Zuge des Bauernkrieges und der Etablierung kirchlicher Amtsstrukturen in den entstehenden evangelischen Kirchentümern ist ein deutlicher Rückgang öffentlichen laikalen literarischen Engagements und der Verwendung literarischer Formen, in denen Laien besondere ›Rollen‹ spielten, insbesondere der Dialoge, eingetreten. Für viele Angehörige nicht-gelehrter Berufs- und Sozialgruppen dürfte die frühreformatorische Bewegung mit einem sprunghaften Anstieg ihres Lese- und Bildungsbedürfnisses verbunden gewesen sein; die Nötigung, innerhalb der
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Glaubens- und Heilskontroversen der Zeit einen eigenen Standpunkt zu finden, dürfte einen von Luther bejahten Alphabetisierungsschub insbesondere in den städtischen Gesellschaften verstärkt haben. Die qualitativ und quantitativ wichtigste Gruppe unter den frühreformatorischen Publizisten freilich waren außer den Wittenberger Theologieprofessoren Pfarrer und Mönche, die mithin nicht nur durch eigene Predigttätigkeit, sondern auch als Schriftsteller und Multiplikatoren zumeist an Luther gewonnener Erkenntnisse hervortraten. Für die Mehrzahl dieser Parteigänger Luthers aus dem geistlichen Stand waren die Schriften, die sie nun verfassten, ihre ersten Publikationen überhaupt; nicht selten legten sie vor der Öffentlichkeit dar, dass auch sie bisher in dem korrupten Kirchensystem befangen gewesen und durch eine intensive Beschäftigung mit der heiligen Schrift, den Büchlein Luthers und anderer ihrer Irrtümer innegeworden waren. Der Bruch mit dem überkommenen Kirchenwesen, der von den sich der Reformation anschließenden Repräsentanten des geistlichen Standes selbst bekannt gemacht und in seinen individuellen Umständen und in einer auf nachfolgende Parteinahme abzielenden Weise dargelegt wurde, dokumentierte, dass der reformatorische Aufstand der Gewissen im Innersten der Kirche selbst, bei den Priestern und gelehrten Theologen, anhob. In diesen literarischen Akten der Lutherrezeption herrschte die Identifikation mit dem zu Unrecht verfolgten Ketzer, der in seinem Bibelverständnis nicht widerlegt worden sei, vor. Gleichwohl ist in der Retrospektive unverkennbar, dass – wie bei Rezeptionsprozessen gemeinhin üblich – auch im Prozess der frühreformatorischen Lutherrezeption Akzentuierungen und Wertungen vorgenommen wurden, die sich von einer an den ›genuinen‹ theologischen Inhalten Luthers orientierten theologiegeschichtlichen Rekonstruktion her kaum nahelegen. Im Kontext vor allem oberdeutscher stadtreformatorischer Lutherrezeption begegnet vielfach die Vorstellung, dass Luther mit den Intentionen des Erasmus weitgehend konsentiere, obschon für den Wittenberger Bibelprofessor – ungeachtet aller partiellen Wertschätzung des gelehrten Editors aus den Niederlanden – bereits 1516 gerade in Bezug auf das Rechtfertigungs- und Gnadenverständnis tiefgreifende Unterschiede bestanden. Auch in dem Bemühen, den Inhalten der reformatorischen Theologie durch einen Rekurs auf die Kirchenväter besondere Plausibilität und Durchschlagskraft zu verleihen, gingen einige der Anhänger der reformatorischen Bewegung aus dem geistlichen Stand deutlich über Luthers diesbezügliche Ambitionen hinaus. Der Umstand, dass nur wenige der reformatorischen Propagandisten in den oberdeutschen Reformationszentren Wittenberger Studenten gewesen oder in einen direkten persönlichen Kontakt mit Luther getreten waren, ihre Kenntnis der Wittenberger Theologie also primär literarisch vermittelt war, begünstigte, dass die Rezeptionsprozesse den je spezifischen personellen und kontextuellen Situationen, in denen sie vonstattengingen, entsprachen. Überdies erschien die Wittenberger Theologie, die zunächst vor allem durch Luther und Karlstadt publizistisch repräsentiert worden ist, in der Außenperspektive der Druckschriften und im Lichte gemeinsamer Gegnerschaften gegenüber den alt-
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gläubigen Kontroverstheologen als einheitlicher, als dies dem tatsächlichen innerwittenbergischen Diskussionsstand seit 1519, als erste tiefgreifende schrifthermeneutische Spannungen über der Frage nach der Geltung des Jakobusbriefes aufgebrochen waren, entsprach. Die Differenzen in Bezug auf die Begründung der alleinigen Normativität des Schriftkanons, die für Karlstadt in der Vorgegebenheit einer verbindlichen altkirchlichen Lehrentscheidung, für Luther in der rechtfertigungstheologischen Sinnmitte ihr Kriterium hatte, wurden von dem gemeinreformatorischen sola scriptura-Prinzip zunächst überlagert, bildeten aber den Ansatzpunkt unterschiedlicher Konzeptionen reformatorischer Theologie, die in der frühreformatorischen Bewegung seit 1521/22 wirksam wurden. Auch anderen für den Ausbreitungs- und Dissoziationsprozess der reformatorischen Bewegung charakteristischen Akzentdifferenzen zwischen den Wittenberger Meinungsführern Luther und Karlstadt vor ihrem offenen Bruch – z. B. das von Karlstadt stark akzentuierte laikale Engagement, das etwa die communio sub utraque zur Heilsfrage der Laien aufwertete – dürfte für die Frage der ›Einheit und Vielfalt‹ der reformatorischen Bewegung eine Schlüsselbedeutung zukommen. Sofern nicht in obrigkeitlicher Verantwortung stehende Laien bei der Beseitigung kirchlicher Gebräuche, denen eine biblische Grundlage fehlte, eine aktive Rolle spielten, scheinen diese eher von Karlstadt als von Luther beeinflusst gewesen sein. Der »Bruderstreit« zwischen Luther und Karlstadt entfaltete seit 1521/22 eine immense Dissoziationskraft. Für die führenden Theologen der oberdeutschen und deutschschweizerischen Stadtreformationen, die durchweg intensive geistige Bindungen an Erasmus ausgebildet hatten, ehe sie mit Luthers Theologie bekannt wurden oder sich ihr zuwandten, lässt sich ein ausgeprägtes Interesse an den Konsequenzen evangelischen Glaubens- und Heilsverständnisses für die ethische Gestaltung christlicher Kommunen und eine über Luther hinausgehende Bemühung um die sichtbare Umsetzung christlicher Lebensnormen nachweisen. Nicht zuletzt die vitale Präsenz altgläubiger Gegner und die bedrohlichen Gefahren ihrer institutionellen Macht trugen zur dynamischen Entwicklung der Reformationsprozesse in den oberdeutschen Städten bei und erzeugten einen Handlungsdruck, der die reformationsgesinnten Theologen und Magistrate zu Maßnahmen nötigte, wie sie im engeren Umkreis der Wittenberger Reformation kaum vorgesehen oder nötig waren. Die spezifischen personellen, sozialen, rechtlichen und politischen Bedingungen, unter denen die von Luther ausgehenden theologischen Impulse wirksam wurden, trugen zur Ausbildung vielfältiger Auslegungsgestalten evangelischer Theologie bei, ohne dass sich die maßgeblichen theologischen Protagonisten der oberdeutschen Theologie vor 1524 in irgendeinem maßgeblichen Widerspruch zu Luther gesehen hätten. Der Interaktionsprozess zwischen den von Luther ausgehenden Impulsen und den sozio-kulturellen und politischen Kontexten, in denen sie wirksam wurden, forcierte die Ausbildung unterschiedlicher reformatorischer Theologien entscheidend. Gleichwohl hat es in keiner Stadt und in keinem
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Territorium des deutschsprachigen Raumes Ansätze zu einer reformatorischen Bewegung gegeben, die nicht in einem direkten oder indirekten Zusammenhang mit der Person und dem Wirken des Wittenberger Bibelprofessors gestanden hätte. Mit seiner Übersetzung des Neuen Testaments wirkte Luther auch bei denen nach, die sich später von ihm trennten oder ihn offen bekämpften. Luther ist die Schlüsselfigur der reformatorischen Bewegung, sowohl im Hinblick auf ihre Kohärenz als auch in Bezug auf die Pluriformität ihrer Ausprägungen. Martin Luther und die Reformation in Deutschland. Ausstellung zum 500. Geburtstag Martin Luthers veranstaltet vom Germanischen Nationalmuseum Nürnberg in Zusammenarbeit mit dem Verein für Reformationsgeschichte, 1983. Edwards, Mark U.: Printing, Propaganda, and Martin Luther, 1994. Hamm, Berndt/Moeller, Bernd/Wendebourg, Dorothea: Reformationstheorien. Ein kirchenhistorischer Disput über Einheit und Vielfalt der Reformation, 1995. Kaufmann, Thomas: Der Anfang der Reformation. Studien zur Kontextualität der Theologie, Publizistik und Inszenierung Luthers und der reformatorischen Bewegung, 2012. Ders.: An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung (KSLuth 3), 2014. Ders.: Thomas Müntzer, »Zwickauer Propheten« und sächsische Radikale. Eine quellen- und traditionskritische Untersuchung zu einer komplexen Konstellation (Veröffentlichungen der Thomas-Müntzer-Gesellschaft 12), 2010. Moeller, Bernd: Luther-Rezeption. Kirchenhistorische Aufsätze zur Reformationsgeschichte, hg. v. Johannes Schilling, 2001. Ders./Stackmann, Karl: Städtische Predigt in der Frühzeit der Reformation. Eine Untersuchung deutscher Flugschriften der Jahre 1522 bis 1529 (AAWG.PH 220), 1996. Scribner, Robert W.: For the Sake of Simple Folk. Popular Propaganda for the German Reformation, 21994. Thomas Kaufmann
13. Luther und das Reich Luther äußerte sich wiederholt zum Reich, seinen Gliedern und Institutionen, jedoch nie systematisch, sondern meist aus konkretem Anlass. Sein Interesse war das des Theologen und Seelsorgers, nicht des Juristen oder Politikers. Er wollte die Gewissen der Handelnden schärfen mit dem Ziel, ein schriftgemäßes Verhalten zu evozieren. Luthers Stellungnahmen und seine Wahrnehmung des komplizierten politischen Systems des Reiches (k B. I. 8.) sind nur von seinen theologischen, also transpolitischen Voraussetzungen her verständlich; seine »Politik« ist immer ein »Derivat seiner Theologie« (Wolgast 1977, 20). 13.1. Theologische Voraussetzungen
Luthers Bewertung politischer Sachverhalte und Vorgänge beruht zuvörderst auf dem Schriftprinzip. Biblische und aktuelle Situationen werden unbefangen paral-
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lelisiert, die Heilige Schrift dient als Argumentationsbasis und Orientierungshilfe. Immer wieder herangezogen werden Röm 13,1 ff, 1Petr 2,13 und Mt 22,21 für das Verhältnis von Obrigkeit und Untertan, für die Gehorsamsforderung und für das Problem des Widerstandsrechts (s. u. ad 12.3.). Die Petrusklausel (Apg 5,29) bezeichnet die Grenze des Gehorsamsgebots, mit Röm 12,19 wird das Verbot der Selbstjustiz nachgewiesen. Alttestamentliche Stellen werden von Luther häufig als Exempel angeführt, um Handlungsanleitungen für die eigene Gegenwart zu gewinnen und die Politiker auf ihre Verantwortung vor Gott hinzuweisen. Insofern sind Luthers Stellungnahmen und Ratschläge immer ein Stück politische Diakonie. Grundlegend für Luthers Vorstellungen von Staat und Herrschaft ist seine Lehre von der Obrigkeit, die im Rahmen seiner Aussagen über die zwei Reiche oder zwei Regimente (k C. II. 8.) zu verstehen ist. Die Obrigkeitslehre wurde 1523 in der Schrift Von weltlicher Obrigkeit, wie weit man ihr Gehorsam schuldig sei (WA 11; 245–281) ausführlicher entwickelt. Die Lehre, dass Gott seinen Willen in der Welt auf zwei Weisen zur Geltung bringt – durch Verkündigung seines Wortes im geistlichen und durch das Schwert im weltlichen Regiment –, führt zu der Vorstellung von der weltlichen Gewalt als einer von Gott zur Bewahrung der Schöpfung gebrauchten Ordnungsmacht mit klar abgrenzbarem Zuständigkeitsbereich: Durch das Schwert wird regiert »alles was zum weltlichen regiment gehört, als weltliche rechte und gesetze, sitten und gewonheite, geberden, stende, unterscheidene empter, person, kleider, etc.« (WA 23; 514,2–4). Der weltlichen Gewalt wird zugleich eine besondere Dignität und Selbständigkeit neben der geistlichen zuerkannt. Luthers Obrigkeitsbegriff entspricht in etwa dem, was man heute mit »Staat« bezeichnen würde, ohne dass die Begriffe völlig deckungsgleich wären. Denn den modernen abstrakten, transpersonalen Staat hatte Luther nicht vor Augen, sondern sein Bild war bestimmt durch die Wirklichkeit des 16. Jahrhunderts, durch das Reich, die Territorien und Städte. Unter Obrigkeit verstand Luther immer konkret auch die Person (Kaiser, Fürst), die durch Gott in ihr herrscherliches Amt berufen war. Da geistliches und weltliches Regiment nicht vermischt werden durften, kam der weltlichen Obrigkeit bei Luther eine geistliche Aufgabe eigentlich nicht zu. Dennoch nahm er die weltliche, christliche (das heißt evangelische) Obrigkeit auch für die Kirche in Anspruch, wenngleich nur hilfsweise, temporär und durch einen akuten Notstand bedingt, weil die eigentlich zuständige kirchliche Hierarchie sich der Aufgabe der evangelischen Predigt und Kirchenreform entzog. Der Pflicht der weltlichen Obrigkeit, ihre Aufgaben als Werkzeug Gottes sorgfältig zu erfüllen, entsprach die Pflicht der Untertanen zum Gehorsam. Die Usurpation obrigkeitlicher Befugnisse durch die Untertanen ist Aufruhr, der sich gegen Gottes Ordnung selbst richtet. Vom Gehorsamsgebot ist innerhalb der Obrigkeit-Untertan-Beziehung niemand ausgenommen, solange die Obrigkeit den ihr zugewiesenen Bereich des weltlichen Regiments beachtet. Bei Übergriffen in
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das geistliche Regiment wird das Gehorsamsgebot aufgehoben durch die clausula Petri. Die Entscheidung, ob diese Schwelle überschritten ist und der Gottesgehorsam dem Menschengehorsam vorgezogen werden muss, stellt Luther dem Gewissen des Einzelnen anheim. Dieser Fall tritt ein, wenn Befehle der Obrigkeit gegen Gottes Gebote verstoßen; widerchristlichen Befehlen darf der Christ nicht gehorchen (zum Widerstandsrecht s. u. ad 12.3.). 13.2. Kaiser, Reich und Reichsstände bei Luther
Zur genaueren Unterscheidung der politischen und sozialen Gegebenheiten begegnet bei Luther gelegentlich die Trias oeconomia (Ehe, Familie, Beruf und Wirtschaft), politia (Obrigkeits‑, Rechts- und Friedensordnung) und ecclesia (die äußerlich verfasste Kirche) als von Gott gestiftete Ordnungsprinzipien der äußerlichen Welt. Im Bereich der politia bevorzugte Luther keine bestimmte Verfassungsform, auch nicht die monarchische, ging vielmehr von deren Gleichwertigkeit aus, sofern sie geeignet waren, die Erfüllung obrigkeitlicher Aufgaben zu gewährleisten. Allerdings betrachtete Luther das fürstliche Territorium – nach dem Modell Kursachsens – als Regelfall und brachte für Städte und kleinere Herrschaftsträger unterhalb der reichsfürstlichen Ebene ein geringeres Interesse auf. Das Heilige Römische Reich deutscher Nation, über das sich die Herrschaft des Kaisers erstreckte, war für Luther ein Reich der Deutschen, ohne dass er sich jemals zur Frage des territorialen Umfangs und der Zugehörigkeit nichtdeutscher Gebiete näher geäußert hätte (zu den Reichsgrenzen k B. I. 8. ad 1.). Für ihn gab es nicht nur den römischen, sondern daneben einen türkischen, tatarischen und persischen Kaiser. So wenig Luther den Kaisertitel exklusiv gebrauchte, verband er mit ihm die Vorstellung einer universalen Herrschaft, wie es der mittelalterlichen Idee entsprochen hätte. »Ein Kaiser ist zwar ein Großherrscher, aber kein Weltherrscher« (Günter 1976, 37). Den traditionellen Anspruch des Kaisers, Beschirmer des Glaubens und Vogt der Kirche zu sein, wies Luther ebenso zurück wie die in der mittelalterlichen Tradition wurzelnde Vorstellung vom Kaiser als dem weltlichen Haupt der Christenheit. Entsprechend bestand für Luther eine besondere Verpflichtung des Kaisers zum Heiden- oder Türkenkrieg nicht, bedeutete dies doch den Gebrauch des Schwertamts im geistlichen Regiment und damit einen Verstoß gegen Gottes Ordnung durch Vermischung der Reiche. Die mittelalterliche kuriale Translationstheorie (wonach der Papst das Römische Imperium auf die Deutschen übertragen und deshalb ein Recht auf Approbation von Person und Wahl des Römischen Königs habe) kritisierte Luther in der Adelsschrift (k C. I. 2.). Hier stellte er fest, dass das antike Römische Reich untergegangen sei und der Papst nur den Namen und Titel dem byzantinischen Kaiser genommen und an die Deutschen gegeben habe (WA 6; 462–464). Luther akzeptierte die päpstliche Translation als solche, hielt diese aber für ein Unrecht, das keine Ansprüche des Papstes gegenüber dem Kaiser begründen konnte. Gott benutzte vielmehr die unrechte Übertragung durch den Papst, um bei den Deut-
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schen ein neues Römisches Reich zu errichten. Später (1545: WA 54; 295–299) bestritt Luther, dass die Kontinuität zwischen antikem und gegenwärtigem Römischem Reich überhaupt auf eine päpstliche Übertragung zurückging. An der Kontinuitätsthese selbst hielt er aber fest. Im Heiligen Römischen Reich lebte für ihn das vierte danielische Reich (Dan 7,3 ff) weiter. In mittelalterlicher Tradition bedeutete das Ende dieses vierten – des Römischen – Reiches das Ende der Welt (vgl. v. a. WA 30,2; 163–166). Die eschatologische Qualität zeichnete das Heilige Römische Reich für Luther vor anderen Ländern aus. Die Rechtsbeziehungen zwischen Kaiser und Fürsten deutete Luther bis 1530 im Rahmen seines Obrigkeit-Untertan-Schemas als strenge Hierarchie mit dem Kaiser an der Spitze. Die obrigkeitliche Gewalt des Kaisers erstreckt sich auf die Fürsten, die zum Kaiser in einem Untertanenverhältnis stehen, und ebenso auf die reinen Untertanen, die außer dem Kaiser auch ihrem Fürsten Gehorsam schulden. Obrigkeit und mithin Träger der Schwertgewalt sind die fürstlichen Mediatgewalten lediglich im Verhältnis zu ihren Untertanen. Kommt es zum Konflikt zwischen dem Gehorsamsanspruch des Fürsten und dem des Kaisers als dem Oberherrn der Fürsten, hat für die Untertanen der Gehorsam gegenüber dem Kaiser den Vorrang. Diese ständefeindliche Theorie Luthers entsprach aber weder der Verfassungswirklichkeit des Reiches noch dem Selbstverständnis der Landesherren des 16. Jahrhunderts (k B. I. 8. ad 4. u. 5.). Tatsächlich teilte sich der Kaiser die Herrschaft im Reich mit den Reichsständen, die ihrerseits die Landstände, deren Bedeutung Luther nicht zur Kenntnis nahm, in ihrer Herrschaftsübung zu berücksichtigen hatten. 1530 wurde Luther bei einer Zusammenkunft in Torgau von den kursächsischen Politikern und Juristen eines Besseren belehrt. Danach waren die Reichsstände Obrigkeiten aus eigenem Recht. Zwar dauerte es Jahre, bis Luther diese Sichtweise für sich übernahm, seit 1539 war von einem Subordinationsverhältnis zwischen Kaiser und Fürsten aber keine Rede mehr. Wichtige Folgen hatte die »Torgauer Wende« für die Frage des Widerstandsrechts gegen den Kaiser (s. u. ad 12.3.). Luthers generelle Sicht des Territorialfürstentums ist durch seine Obrigkeitslehre hinlänglich charakterisiert. Bezüglich des Sonderfalls der Reichsbischöfe (k B. I. 8. ad 4.) sah er die Problematik der Verbindung weltlicher und geistlicher Funktionen von Anfang an genau. 1530 charakterisierte er den Typus des Reichsbischofs mit der Formel: »persona duplex in eodem homine« (WAB 5; 493,47). Luthers Enttäuschung im Verlauf der 1520er Jahre, dass kein deutscher Bischof sich der Reformation anschloss, brachte ihn zu der Überzeugung, dass die Verbindung von geistlichem Amt und weltlicher Herrschaft aufgelöst werden müsse, weil die Wahrnehmung beider Funktionen nicht möglich sei. Den bestehenden Zustand hielt er zudem für schriftwidrig. Als Alternative schlug er vor, die Bischöfe sollten entweder auf ihr geistliches Amt oder auf die weltliche Herrschaft verzichten. 1523 riet er Albrecht, dem Hochmeister des Deutschen Ordens, sich zu verheiraten und den Ordensstaat in Preußen in ein weltliches Fürstentum umzuwandeln. 1525 gab er Kardinal Albrecht von Mainz einen ähnlichen Rat. Im
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Falle des Ordensstaats ist Luthers Aufforderung zur »Selbstsäkularisierung mit anschließender Dynastisierung« (Wolgast 1995, 33) verwirklicht worden. War Luthers Angebot im Zusammenhang des Augsburger Reichstags von 1530, die Bischöfe sollten ihr geistliches Amt formell beibehalten, aber durch evangelische Prediger ausüben lassen, noch als taktisches Zugeständnis gemeint, rückte er später von der Vorstellung einer Säkularisation der Hochstifte ab, um das Kirchengut weiterhin für eine geistliche Verwendung zu erhalten. Im Zusammenhang mit der Einführung der Reformation im Bistum Naumburg 1541/42 setzte er sich dafür ein, das Hochstift und seine Institutionen zu bewahren und einem evangelischen Bischof zu übertragen, der auch die weltliche Herrschaft in der Hand behalten sollte. Allerdings sollte er sie nicht selbst, sondern durch einen Beamten wahrnehmen. Luthers Vorschlag von 1530 war damit auf den Kopf gestellt: Der Bischof sollte sich nicht in seiner geistlichen, sondern in seiner weltlichen Funktion vertreten lassen. Verheiratung von Bischöfen und Dynastisierung der Hochstifte schloss Luther als Möglichkeit jetzt ausdrücklich aus. 13.3. Das Problem des Widerstandsrechts gegen den Kaiser
Luthers Obrigkeitslehre und sein spezifisches Verständnis der Reichsverfassung schlossen eine theologische Sanktionierung eines Widerstandsrechts der Fürsten gegen den Kaiser (nicht aber gegen andere Mediatgewalten) zunächst aus. Die Frage stellte sich immer dringender, seit am Ende der zwanziger Jahre im Reich die Gefahr eines militärischen Konflikts wegen des Glaubens wuchs und auf evangelischer Seite die Bemühungen um ein Bündnis zum Schutz der Religion intensiviert wurden. Begründeten die evangelischen Politiker das Recht auf Widerstand mit der tyrannischen Herrschaft des Kaisers, mit dem Bruch seiner vertraglichen Verpflichtungen und mit dem Rechtssatz Vim vi repellere licet (Gewalt darf mit Gewalt abgewehrt werden), bestand für Luther ein solches Recht nicht, weil gegen die Obrigkeit keine Gewalt angewandt werden durfte und weil die evangelischen Fürsten als Christen von der Leidenspflicht nicht ausgenommen waren. Die Herrschaft eines Tyrannen war Strafe Gottes, die der Christ auf sich zu nehmen hatte. Wenn man den Fürsten ein Widerstandsrecht einräumte, musste man dies auch den Untertanen zugestehen, was zur Anarchie führen und das Verhalten der Bauern während des Bauernkriegs (k B. III. 5.) im Nachhinein rechtfertigen würde. Selbst ein widergöttlicher Befehl legitimierte keine gewaltsamen Widerstandshandlungen, sondern lediglich seine Nichtausführung. Dem Christen blieben nur der öffentliche Wortprotest, das Gebet oder die Emigration. Die Folgen des Ungehorsams waren aber zu tragen bis zum Martyrium. Auch wenn der Kaiser als Gegner ausgenommen wurde, bestand für Luther das Problem, dass jede Bemühung, den Glauben mit äußerlichen Mitteln zu schützen, von mangelndem Gottvertrauen zeugte. Trotz der Erfahrungen der zurückliegenden Jahre, die an der ablehnenden Haltung Kaiser Karls V. gegenüber der Reformation keinen Zweifel ließen, verwarf Luther im März 1530 erstmals aus-
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drücklich die Meinung, man dürfe dem Kaiser mit gutem Gewissen gewaltsam widerstehen (vgl. Luthers Gutachten WAB 5; 258–261). Einer Bündnispolitik im evangelischen Interesse, die durch den Verlauf des Augsburger Reichstags von 1530 dringend geboten schien, war dadurch der Weg verstellt. Die Rechtsbelehrung durch die sächsischen Juristen über das Verhältnis zwischen Kaiser und Fürsten in Torgau Ende Oktober 1530 (s. o. ad 2) hatte aber zur Folge, dass Luther akzeptierte, dass die Frage der Zulässigkeit von Widerstand gegen den Kaiser in die Kompetenz der Juristen und Politiker und nicht der Theologen fiel. Die Notwehrfrage war damit zur res profana erklärt, ein theologiefreier Raum der Politik war konzediert. Luther ebnete durch seine Neupositionierung den Weg zur Gründung des Schmalkaldischen Bundes. Nicht alle evangelischen Fürsten und Städte (Nürnberg, Brandenburg-Ansbach) folgten der revidierten Haltung Luthers, sondern blieben dem Schmalkaldischen Bund fern. Seit 1536 fanden die Wittenberger Theologen, und mit ihnen auch Luther, zu einer neuen Begründung des Widerstandsrechts, indem sie den Schutz des rechten Gottesdienstes zum Gegenstand der landesherrlichen cura religionis erklärten. An die Stelle von Röm 13 als ausschlaggebender biblischer Weisung trat das zweite Gebot, das Verbot der Gotteslästerung, aus dem der Schutz der Lehre und des Gottesdienstes als fürstliche Aufgaben abgeleitet wurden. Damit akzeptierte auch Luther, dass die weltliche Obrigkeit Verstöße gegen das zweite Gebot abwehren musste, und revidierte seine frühere Auffassung, nach der die cura religionis dem Fürsten nur in außerordentlichen Notfällen zukam. Nicht verändert hat Luther seine Haltung bezüglich des Widerstands der Untertanen gegen ihre Landesherren. Hier blieb es bei der Ablehnung, die er schon in den 1520er Jahren begründet hatte. Der Ernstfall, den die evangelische Widerstandsdiskussion im Blick gehabt hatte, trat mit dem Schmalkaldischen Krieg erst nach Luthers Tod ein. 13.4. Die Reichsentscheidungen in der Glaubensfrage
In unmittelbaren Kontakt mit dem Reich kam Luther erstmals 1521 während des Wormser Reichstags, als er am 17. und 18. April vor Kaiser und Reichsstände trat und den Widerruf seiner Lehre verweigerte. Das Wormser Edikt, mit dem Karl V. am Ende des Reichstags die Reichsacht über Luther verhängte, seine Lehre verbot und die Verbreitung reformatorischer Schriften untersagte, bedeutete für den Kaiser selbst eine definitive, im Laufe seines Lebens nicht mehr revidierte Festlegung. Für die Mehrzahl der Reichsstände bezeichnete der Wormser Reichstag den ersten näheren Kontakt mit der Reformation und den Beginn des Ringens um einen eigenen Standpunkt. Den Wittenberger Mönch einfach preiszugeben, waren die meisten Fürsten nicht bereit. Worms bildete einen Präzedenzfall insofern, als künftig die Religionsfrage zu einem Dauerthema der Reichstage wurde. Für Luther folgte aus dem Wormser Edikt bis zum Ende seines Lebens die Beschränkung seiner Bewegungsfreiheit auf das Gebiet evangelischer Obrigkeiten.
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Die eigentlich intendierte Wirkung, die Ausschaltung seiner Person und die Unterdrückung seiner Lehre, wurde nicht erreicht, weil Kurfürst Friedrich der Weise (k B. III. 11.) an seiner Politik des Lutherschutzes festhielt. Dennoch war das Wormser Edikt eine Weichenstellung, die den Gang der Reformation für über ein Jahrzehnt maßgeblich bestimmte. Die Reichsstände bemühten sich, Alternativen zum Vollzug des kaiserlichen Rechtsgebots zu vereinbaren, ohne dieses förmlich außer Kraft zu setzen. Begünstigt wurde diese Entwicklung durch den Umstand, dass Karl V. sich bis 1530 außerhalb des Reiches aufhielt und die Reichsgeschäfte seinem Bruder Ferdinand und einem ständischen Reichsregiment übertrug (k B. I. 8. ad 5.). Unter den Reichsständen aber bestand nach 1521 ein Konsens darüber, dass eine strenge Anwendung des Wormser Edikts nicht möglich war, sondern zu Aufruhr in der Bevölkerung führen würde. Deshalb begann man unmittelbar nach Worms, das Edikt durch eigene Regelungen zu ersetzen. Folge der Politik der Reichsstände in der Religionsfrage war eine schrittweise Diversifizierung der reichsrechtlichen Lage, da kaiserliche und ständische Rechtssetzungen schon wenige Monate nach Worms in Konkurrenz gerieten. Ein Regimentsmandat von 1522 untersagte eine Reihe von Neuerungen, die dem kirchlichen Brauch widersprachen, ohne das Wormser Edikt auch nur zu erwähnen. Wo das Edikt eine endgültige Verurteilung Luthers und seiner Lehre ausgesprochen hatte, ließ das Reichsregiment ausdrücklich offen, ob eine künftige Prüfung durch die Reichsstände oder ein Konzil die Übereinstimmung der eingerissenen Neuerungen mit dem Glauben erweisen könnte. Der reichsrechtliche Diversifizierungsprozess setzte sich auf den folgenden Reichstagen fort. Der Ende 1522 bis Anfang 1523 tagende 2. Nürnberger Reichstag beschloss, dass binnen Jahresfrist ein freies, christliches Konzil an einen deutschen Ort einberufen werden sollte. Bis dahin durfte »allein das heilig evangelium nach auslegung der schriften von der heiligen cristlichen kirchen approbirt und angenommen« (DRTA.JR 3; 747,18–748,1) gepredigt werden. Die Nürnberger Predigtformel ließ offen, ob unter »Schriften« die Bibel oder die Väterliteratur zu verstehen war. Kompromissformeln wie diese, die den tatsächlichen Dissens dissimulierend überspielten, waren bald das einzige Mittel, mit dem sich ein Konsens unter den in der Religionsfrage uneinigen Reichsständen vortäuschen ließ. Während die Stände vom Wormser Edikt immer weiter abrückten, blieb es für den Kaiser die einzige Rechtsgrundlage für die Behandlung der Reformation. Auf dem 3. Nürnberger Reichstag von 1524 versuchte Karl V. erneut, die Stände auf die Befolgung des Edikts zu verpflichten. Die Stände versicherten, dass sie dem Edikt »sovil inen muglich« (DRTA.JR 4; 603,26) gehorchen wollten. Außerdem wollte man ein Nationalkonzil abhalten, das diejenigen Fürsten, die über eine Universität verfügten, durch Gelehrte vorbereiten lassen sollten. Inzwischen sollte das Evangelium »nach rechtem warem verstand und auslegung der von gemeiner kirchen angenomen lerer on aufrur und ergernus« (DRTA.JR 4; 605,12 f) gepredigt werden. Diese Klausel setzte an die Stelle der Schriften die von der Kirche
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angenommenen Lehrer, was den Einschluss der exegetischen Tradition deutlicher als 1523 hervorheben sollte. Druckexemplare des Wormser Edikts wurden erneut im Reich verschickt. Dennoch war der Kaiser empört über den Versuch der Stände, sich seinem Befehl zu entziehen. Im Edikt von Burgos verbot er am 15. Juli 1524 das für den 11. November in Speyer geplante Nationalkonzil, bestritt den Ständen das Recht, ein allgemeines Konzil zu fordern und verlangte die Befolgung des Wormser Edikts. Wenigstens hinsichtlich des allgemeinen Konzils kam Karl V. wenig später den Reichsständen entgegen. In der Proposition für den Speyerer Reichstag von 1526 verlangte er aber für die Zwischenzeit die Befolgung des Wormser Edikts und verbot alle Änderungen an Glauben und kirchlichen Ordnungen. Die Stände beschlossen eine Gesandtschaft an den Kaiser, der von der Unmöglichkeit der Ausführung des Wormser Edikts in Kenntnis gesetzt und um ein Konzil gebeten werden sollte. Bis dahin wollten es die Stände mit der Ausführung des Wormser Edikts so halten, »wie ein jeder solches gegen Gott und kayserl. Majestät hoffet und vertraut zu verantworten«. Diese Speyerer Verantwortungsformel ließ die Auslegung zu, der Reichstag habe die Befolgung des Wormser Edikts zur Gewissensentscheidung der Reichsstände erklärt. Evangelische Fürsten wie Philipp von Hessen leiteten ein Reformationsrecht aus ihr ab. Um diese Entwicklung umzukehren, erklärte Ferdinand auf dem Speyerer Reichstag von 1529 die Klausel von 1526 für aufgehoben. Jetzt kam es zum Bruch zwischen den religiösen Gruppen. Die altgläubige Mehrheit setzte den Beschluss durch, dass die Stände, die bisher beim Wormser Edikt geblieben waren, auch bis zum Konzil dabei zu bleiben hatten. Wo es die neue Lehre schon gab und wo man sie ohne Aufruhr nicht beseitigen konnte, waren wenigstens künftig alle Neuerungen verboten, und die Messe musste geduldet werden. Die Evangelischen protestierten gegen diese Mehrheitsentscheidung. Mit der Speyerer Protestation war erstmals die Situation eingetreten, dass ein Reichstag im offenen Dissens in der Religionsfrage endete. Die Einigung konnte auch Karl V. selbst nicht herbeiführen, als er 1530 ins Reich zurückkehrte und in Augsburg den Theologen beider Seiten die Gelegenheit zu Gesprächen gab, nachdem die Evangelischen ihr Bekenntnis schriftlich eingereicht hatten. Luther musste das Feld Melanchthon überlassen, da er wegen des Wormser Edikts nicht nach Augsburg reisen konnte. Der Augsburger Konfessionsreichstag endete wie der Speyerer Protestationsreichstag im Dissens. Karl V. erklärte das Augsburger Bekenntnis für widerlegt und schärfte sein Edikt noch einmal ein, die evangelischen Stände verharrten in ihrer ablehnenden Haltung. Der Versuch des Kaisers, seine Position gewaltsam durchzusetzen, hätte zum Religionskrieg gegen die inzwischen im Schmalkaldischen Bund zusammengeschlossenen evangelischen Stände führen können. 1532 anerkannte Karl V. deshalb im Nürnberger Anstand deren politisches Existenzrecht, jedoch nur vorläufig bis zum allgemeinen Konzil oder bis zur nächsten Ständeversammlung. Dies bedeutete zugleich den Verzicht auf die
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Durchsetzung des Wormser Edikts und der auf ihm beruhenden Reichsabschiede von 1529 und 1530, ohne dass man sich in den theologischen Streitfragen geeinigt hatte. Die Intensität der religionspolitischen Auseinandersetzungen auf Reichsebene nahm jetzt für mehrere Jahre ab. 1539 wurde der Nürnberger Anstand verlängert (Frankfurter Anstand), 1541 erzwangen die evangelischen Stände auf dem Regensburger Reichstag mit der Drohung, die Türkenhilfe zu verweigern, eine geheime Religionsdeklaration, die ihnen die bisher eingezogenen Kirchengüter garantierte, eine »christliche Reformation« der landsässigen Klöster und Stifte zuließ und die Einstellung der seit Beginn der dreißiger Jahre anhän gigen Religionsprozesse am Reichskammergericht sowie dessen paritätische Besetzung zusagte. Der Weg, auf dem eine politische Einigung zwischen den Religionsparteien möglich war, zeichnete sich ab, wurde aber erst beschritten, nachdem der Kaiser die lange erwogene Gewaltoption gewählt und die Evangelischen im Schmalkaldischen Krieg besiegt hatte. Nach der Eroberung Wittenbergs stand Karl V. am Grab Luthers. Der politischen Lösung im Augsburger Religionsfrieden verweigerte er sich am Ende doch und übertrug die Verantwortung seinem Bruder. 13.5. Luther als Kommentator der Reichsentscheidungen
und als politischer Berater
Mit den Reichsentscheidungen in der Glaubensfrage setzte sich Luther nur punktuell auseinander, vergleichsweise intensiv bis 1532, später weniger. Die Bedeutung der Reichstage für die Absicherung oder Gefährdung der Reformation auf der politischen und rechtlichen Ebene trat für ihn zurück hinter der Überzeugung, dass die Zukunft in Gottes Hand, nicht in der der Politiker liegt. Die Nuancierungen der reichsrechtlichen Regelungen erschienen ihm aus diesem Blickwinkel als durchaus zweitrangig. Dennoch beobachtete und kommentierte er die Entwicklungen zunächst genau. Den Abschied des 2. Nürnberger Reichstags von 1522 legte er ganz in seinem Sinne aus. Die Predigtklausel verstand er als Aufforderung zur Verkündigung des Evangeliums, und da er davon ausging, selbst nie etwas anderes gepredigt zu haben, hielt er das gegen ihn verhängte Publikationsverbot für obsolet (WAB 3; 75–77). Mitte 1523 wandte er sich mit der Schrift Wider die Verkehrer und Fälscher kaiserlichs Mandats (WA 12; 62–67) an Statthalter und Reichsregiment und wiederholte die Auffassung, der Reichsabschied habe die evangelische Predigt vorgeschrieben. Mit dem Wormser Edikt setzte sich Luther erst 1524 öffentlich auseinander, als es zusammen mit dem Mandat des 3. Nürnberger Reichstags in Kursachsen eintraf (Zwei kaiserliche uneinige und widerwärtige Gebote, den Luther betreffend: WA 15; 254–278). Beide Texte druckte er mit Randglossen nach. Edikt und Beschlüsse des Reichstags hielt er für widersprüchlich, weil man einerseits beschlossen habe, gemäß dem Wormser Edikt gegen ihn vorzugehen, zugleich aber auf dem Nationalkonzil in Speyer erst darüber verhandeln wolle, was gut und was böse sei an seiner Lehre. »Da bin ich zugleich verdampt und auffs kunfftig gericht
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gespart« (WA 15; 254,18–19). Den Anspruch des Kaisers, oberster Beschirmer des christlichen Glaubens zu sein, wies Luther zurück. Zu dem für die rechtliche Absicherung der Reformation wichtigen Speyerer Reichstag von 1526 äußerte er sich nicht, sondern lediglich zu den im Vorfeld des Reichstags geführten evangelischen Bündnisverhandlungen und zum sog. Mainzer Ratschlag (November 1525), mit dem das Mainzer Domkapitel versuchte, den Kaiser zu einem schärferen Vorgehen gegen die Reformation zu bewegen. Luther edierte und kommentierte den Text (WA 19; 260–281). Die Nichtannahme des Abschieds von 1529 durch die evangelischen Stände hielt Luther für gerechtfertigt (WAB 12; 107–109), ohne sich zur Speyerer Protestation näher zu äußern. Besonders intensiv wurde seine Auseinandersetzung mit den religionspolitischen Entwicklungen im Reich im Umfeld des Augsburger Reichstags von 1530, als er sich direkt an die auf dem Reichstag versammelten Geistlichen wandte (Vermahnung an die Geistlichen, versammelt auf dem Reichstag zu Augsburg: WA 30,2; 268–356), um sie aufzurufen, den Reichstag für eine Reformation zu nutzen. Konsequenzen aus dem für die Evangelischen ungünstigen Verlauf zog er in der Warnung an seine lieben Deutschen (WA 30,3; 276–320), wo er dazu aufrief, einen Krieg gegen die Evangelischen nicht zu unterstützen. Schließlich kommentierte er den Augsburger Reichstagsabschied in der Glosse auf das vermeinte kaiserliche Edikt (WA 30,3; 331–388) und kam zu dem Schluss, dass der Abschied keine Legitimation für einen Krieg wegen der Religion biete. Während der wenig später einsetzenden Verhandlungen über den Nürnberger Anstand drängte Luther auf einen Ausgleich. Luthers politische Ratschläge, die er als einzelner und später immer häufiger im Rahmen von Kollektivgutachten der Wittenberger Theologen abgab, waren von einer seelsorgerlich-pastoralen Absicht geleitet. Juristische und politische Aspekte flossen in den 1520er Jahren so gut wie nicht, seit 1530 etwas stärker in seine Urteile ein. Die transpolitischen Voraussetzungen der politischen Ratschläge sind der Grund, warum seine Stellungnahmen besonders in der Zeit vor 1530 (etwa im Bauernkrieg und in der Bündnisfrage) bisweilen als »weltfremd« erschienen und der kursächsischen Politik eher Probleme bereiteten als diese bestätigten. Das Maß des politischen Einflusses der Wittenberger Theologen veränderte sich in den drei Jahrzehnten der öffentlichen Wirksamkeit Luthers erheblich: Kurfürst Friedrich der Weise entschied relativ unabhängig von den Theologen, sein Nachfolger Kurfürst Johann war ein bewusst evangelischer Fürst, der die Theologen zu vielen politischen Fragen hören wollte. In seiner Regierungszeit (1525–1532) war ihr Einfluss am größten. Unter Kurfürst Johann Friedrich wurden sie zur Gewissensentlastung hinzugezogen, ohne dass man ihren Ratschlägen in jedem Fall gefolgt wäre. Diese Entwicklung hatte nicht nur mit den Persönlichkeiten der sächsischen Kurfürsten zu tun, sondern auch mit Veränderungen in der Qualität der politischen Ratschläge der Theologen. Hierfür bedeutete die Torgauer Zusammenkunft von 1530 die entscheidende Zäsur. Von nun an
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akzeptierten Luther und seine Wittenberger Kollegen die fürstliche Autonomie gegenüber dem Kaiser, womit sie den Weg freimachten zu einer evangelischen Bündnispolitik, die kein schlechtes Gewissen mehr zu haben brauchte. Luther, der bis dahin im Vordergrund gestanden hatte, hielt sich in der Folge mehr zurück, und Melanchthon und andere übernahmen die Führung. Nach 1530 war der Höhepunkt ihres politischen Einflusses aber überschritten. Günter, Wolfgang: Martin Luthers Vorstellung von der Reichsverfassung (RGST 114), 1976. Iserloh, Erwin/Müller, Gerhard (Hg.): Luther und die politische Welt (Historische Forschungen 9), 1984. Kohnle, Armin: Reichstag und Reformation. Kaiserliche und ständische Religionspolitik von den Anfängen der Causa Lutheri bis zum Nürnberger Religionsfrieden (QFRG 72), 2001. Kohnle, Armin/Wolgast, Eike: Art. Reichstage der Reformationszeit (TRE 28, 1997, 457– 470). Leonhardt, Rochus/Scheliha, Arnulf von (Hg.): Hier stehe ich, ich kann nicht anders! Zu Martin Luthers Staatsverständnis (Staatsverständnisse 82), 2015. Müller, Gerhard: Luthers Beziehungen zu Reich und Rom (in: Junghans, Helmar [Hg.]: Leben und Werk Martin Luthers von 1526 bis 1546, 2 Bde., 1983, 369–401. 849–860). Wolgast, Eike: Die Wittenberger Theologie und die Politik der evangelischen Stände. Studien zu Luthers Gutachten in politischen Fragen (QFRG 47), 1977. Ders.: Hochstift und Reformation. Studien zur Geschichte der Reichskirche zwischen 1517 und 1648 (BGRK 16), 1995. Armin Kohnle
14. Luther und Europa Am 14. Februar 1519 schrieb der Basler Buchdrucker Johannes Froben an Luther nach Wittenberg, dass er durch den Leipziger Buchhändler Blasius Salomon mehrere seiner Schriften erhalten und sie schnell nachgedruckt habe. »Sechshundert Exemplare haben wir nach Frankreich geschickt und nach Spanien«, so teilte er mit, »nun werden sie zu Paris verkauft und von Professoren der Sorbonne gelesen und gebilligt […]. Auch hat Calvus, der Buchhändler zu Pavia, ein sehr gebildeter und der Gelehrsamkeit zugetaner Mann, ein gut Teil solcher Büchlein nach Italien hinabgeschafft, um sie in allen Städten auszustreuen. […] Außerdem haben wir deine Bücher nach Brabant und England geschickt. […] Unsere Exemplare sind bis auf zehn alle verkauft; einen glücklicheren Verkauf haben wir noch niemals bei irgendeinem Buche erlebt« (WAB 1; 332 f). Luther wurde nach der Veröffentlichung seiner 95 Thesen gegen den Ablass im Oktober 1517 schnell überall bekannt. In kürzester Frist drang sein Ruhm über die Stadt Wittenberg und das Kurfürstentum Sachsen hinaus. Selbst jenseits der Grenzen des damaligen Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation kannte man den Wittenberger Reformator. Seine reformatorischen Ideen blieben keineswegs auf den deutschen Sprachbereich beschränkt. Das Schreiben des Basler Buchdruckers Froben ist ein Zeugnis für die bereits vor 1520 einsetzende europä-
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ische Wirkung der von Luther ausgehenden Reformation, die freilich durch die 1520 erscheinenden großen reformatorischen Hauptschriften Luthers, vor allem durch die Rezeption des Büchleins Von der Freiheit eines Christenmenschen, und durch Übersetzungen in diverse europäische Landessprachen noch entscheidend verstärkt wurde. Darüber hinaus sind aber auch die Veröffentlichung der Bannbulle Decet Pontificem Romanum vom 3. Januar 1521 und das Wormser Edikt in ihrer Wirkung nicht zu unterschätzen. Selbst wenn sie im Reich wenig Beachtung erfuhren, so trugen sie doch nicht unwesentlich dazu bei, allseits auf den Wittenberger Mönch aufmerksam zu machen. Zugleich führte die Bannbulle einen Bruch in der bis dahin überwiegend positiv verlaufenen Rezeption Luthers herauf. Sie wirkte polarisierend auf die in Europa existierenden Trägerschichten der reformerisch gesinnten Kirchenkritik. Denn nun war es nicht mehr möglich, hinter der von Luther in Gang gesetzten Bewegung lediglich eine aus humanistischem Geist hervorgehende kirchenkritische Initiative zu sehen. Hier war die Scheidelinie zwischen Häresie und Rechtgläubigkeit gezogen worden. Die im Gefolge der Bannbulle in einigen Ländern Europas einsetzenden Bücherverbote und -verbrennungen belegen, wie weit das reformatorische Gedankengut Luthers bereits Verbreitung gefunden hatte. Sie zeigen auch, dass der Fortschritt der reformatorischen Bewegung, anders als in vielen deutschen Territorien, nicht mehr unbedingt gewährleistet war, wobei die jeweiligen politischen Voraussetzungen eine entscheidende Rolle spielten. Aber in den auf die 95 Thesen folgenden zwei Jahrzehnten haben die reformatorischen Impulse Luthers weite Teile Europas erobert, mit Ausnahme freilich von Süditalien und Spanien, wo auch Humanismus und Reformation kein großes Echo hervorgerufen hatten. Damit sind bereits wichtige Momente angesprochen, die für die Wirkung Luthers in Europa charakteristisch sind. Zunächst ist jedoch festzuhalten, dass die Frage nach Luther und Europa nur schwer von der Frage nach der Wirkung der generell von Wittenberg ausgehenden Reformation in Europa zu trennen ist. Denn die Verbreitung und Rezeption von Luthers Kritik an der alten Kirche, seiner reformatorischen Anliegen und seines theologischen Gedankenguts vollzogen sich auf weiten Strecken über die Tätigkeit gleichgesinnter Kollegen und Schüler, die als Multiplikatoren eine beachtliche Ausstrahlungskraft haben konnten. Außerdem ist zu beachten, dass man bei der Frage nach Luther und Europa – etwa im Kontrast zu Luther und Deutschland – nicht einen an heutigen nationalen Bedingungen ausgerichteten Europa-Begriff in das 16. Jahrhundert zurückprojiziert. Auf dem Hintergrund des damals existierenden frühmodernen Ständestaats und in Anbetracht der seinerzeit herrschenden politischen Konstellationen muss der Begriff »Europa« anders gefüllt werden. Der im folgenden skizzierte Überblick über die Wirkung Luthers und seine Rezeption in Europa kann sich deshalb nicht an heutigen nationalen Grenzen orientieren, sondern versucht, die historischen Konstellationen zu beachten. Nicht in den Blick kommen also die durch das Heilige Römische Reich Deutscher Nation repräsentierten bzw. in diesem politischen Gebilde zusammengefassten Länder, sondern vielmehr jene
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Reiche, Regionen und Großräume, die jenseits dieser Grenzen von Luther und seiner Wirkung entscheidend, wenn auch manchmal nicht unbedingt dauerhaft geprägt wurden. Eine Ausnahme von der genannten Regel wird insofern in der Behandlung der Niederlande und Böhmens gemacht, als diese Länder durch die geschickte Habsburger Heiratspolitik zwar an das Reich gebunden werden konnten, aber teils recht lose in den Reichsverband integriert waren. Luthers Wirkung in Europa ist nur zu einem geringen Teil auf persönliche Begegnungen und Kontaktaufnahmen, z. B. in Korrespondenzen oder Vorreden, zurückzuführen. Überwiegend handelt es sich um eine vermittelte Lutherrezeption, die auf die Ausstrahlung seiner Schriften, das Wirken von ehemaligen Wittenberger Studenten und die Aktivitäten der von Luther entsandten Prediger zurückgeht. Dabei ist zu beachten, dass eine frühe Rezeption von Schriften Luthers nicht mit der Etablierung des Luthertums gleichzusetzen ist. Denn oft vollzog sich die Rezeption Luthers auf der Grundlage eines bereits vorhandenen humanistisch-kirchenkritischen Substrats, mit dem sich die Wittenberger Theologie eine Zeitlang verbinden konnte, um dann gegebenenfalls durch neue Einflüsse überlagert zu werden, sodass gelegentlich eine schwer überschaubare Gemengelage entstand. Dort aber, wo die reformatorischen Impulse auf ein solches Fundament stießen, war ihnen am ehesten ein entsprechender Erfolg sicher. Dies war vor allem in Zentraleuropa der Fall. Luthers Schriften und Gedanken konnten dabei durchaus auch für regional spezifische Interessen instrumentalisiert werden. Nicht selten setzten sich später von Zürich oder Genf ausgehende reformierte Tendenzen durch. Wo man in der Frühzeit der Reformation von »Lutheranern« sprach, meinte man in der Regel die Mitglieder kirchenkritisch-reforma torisch gesinnter Zirkel schlechthin, denen der Hauch des Sektiererischen anhaftete bzw. von denen man subversive Aktivitäten befürchtete. In den Niederlanden war durch die Tradition der devotio moderna und die humanistischen Strömungen der Weg für die Reformation geebnet, auch wenn sich Erasmus von Rotterdam stets entschieden gegen eine Identifizierung mit der Sache Luthers gewandt hatte. Außerdem besaß der Augustinereremitenorden, dem Luther angehörte, ebenfalls in den Niederlanden Klöster, sodass die Ordensbrüder dort bestens über die Vorgänge in Wittenberg unterrichtet waren. Besondere Bedeutung kam in diesem Zusammenhang dem zu der sächsischen Kongregation gehörenden Augustinerkloster in Antwerpen zu. Verschiedene Mönche dieses Hauses und auch dessen Prior, Jacobus Praepositus, waren zwischen 1516 und 1520 an der Universität Wittenberg immatrikuliert, hatten Luther persönlich kennengelernt und waren Anhänger seiner Theologie geworden. Möglicherweise waren die Antwerpener Augustiner auch für Übersetzungen von Lutherschriften verantwortlich, die zwischen September 1520 und März 1521 gedruckt erschienen. Der Antwerpener Drucker Claes de Grave ließ sich weder von Verboten noch von der öffentlichen Verbrennung von Büchern Luthers in Löwen im Herbst 1520 abschrecken. In Leiden bei Jan Seversz erschien 1520 Luthers Sermo de duplici iustitia (WA 2; 143–152). Und auch Pieter van Baalen sorgte dort für die
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Verbreitung von Schriften Luthers, vor allem der Freiheitsschrift (WA 7; 12–38. 39–73). In Zwolle wirkte die Officina Corveriana (De Corver) im Sinne der Reformation Luthers. Nicht zuletzt dessen Bibelübersetzung fand reißenden Absatz. 1523 brachten Adriaan van Berghen und Doen Pietersz in Amsterdam eine Übersetzung von Luthers Neuem Testament heraus. Und wiederum in Antwerpen wurde im Jahre 1535 durch Jakob Liesvelt eine Vollbibel nach der Übersetzung Luthers gedruckt. Selbst in Löwen und in Brüssel gab es evangelische »Dissidenten«, und man weiß von heimlichen Konventikeln, genannt »Schulen«, die sich 1530 außerhalb der Stadt Leiden, um 1529–1531 in Veere in Zeeland und ebenso in Maastricht trafen. Aber bereits mit der Verbreitung der Bannandrohungsbulle Exsurge Domine durch Aleander im September 1520 begann die repressive Politik der Habsburger und der kirchlichen Autoritäten, nachdem eine Verdammung Luthers durch die Universität Löwen im November 1519 vorausgegangen war. Dies führte schon früh zu Nachstellungen und Martyrien. Als man im Jahre 1522 Schriften Luthers bei dem Genter Bäcker Lieven de Zomere fand, erklärte dieser seinen Richtern: »Ich möchte lieber ins Feuer gehen, als von Luther und seinen Büchern lassen. […] Man kann die Bücher zwar verbrennen, aber man kann nicht das verbrennen, was im Herzen des Menschen bleibt« (zit. nach Visser 1991, 13). Die ersten Märtyrer der Reformation Luthers wurden die Augustinermönche Hendrik Voes und Johannes van den Esschen, die am 1.7.1523 auf dem Grote Markt in Brüssel verbrannt wurden. Luthers tiefe Erschütterung darüber spiegelt sich in seinem daraufhin gedichteten Märtyrerlied Ein neues Lied wir heben an (WA 35; 411–415) und seinem Brief an die Christen im Niederland (WA 12; 73–80). Die Repressionen führten die jungen reformatorischen Gemeinden in den Untergrund. In offiziellen Dokumenten sprach man nicht selten von der »secte vanden Lutranen« (Duke 1992, 153), ohne dass darin eine bereits konfessionelle Festlegung zum Ausdruck kam. Die Entwicklung der späteren Jahrzehnte ebnete dem Calvinismus in den Niederlanden den Weg. Lediglich in Antwerpen konnte sich das Luthertum halten. Die Stellung Skandinaviens gegenüber der von Luther ausgehenden Reformation ist geprägt durch die Auflösung der 1397 geschlossenen nordischen Union, die die drei skandinavischen Königreiche Dänemark, Schweden und Norwegen mit Finnland und den Herzogtümern Schleswig und Holstein einte. Der dänische König Christian II. (reg. 1513–1523) hatte durch die Berufung des Paulus Helie zum Lektor in biblischer Exegese an die Universität Kopenhagen bereits dem Bibelhumanismus Eingang in das akademische Milieu verschafft. Er selbst ging nach der Revolte gegen ihn und dem Zusammenbruch seiner Herrschaft nach Wittenberg, wo er bei Lucas Cranach wohnte und regelmäßigen Kontakt zu Luther und Melanchthon pflegte. Dies begünstigte seine Hinwendung zum evangelischen Glauben. Bald wurde das Neue Testament durch Christiern Winter und Hans Mikkelsen ins Dänische übersetzt und im Jahre 1524 in Wittenberg gedruckt. Der Druck diente insofern als Propaganda gegen den anstelle Christians zum dänischen König gewählten Friedrich I. (reg. 1523–1533), den Onkel Chris-
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tians und Herzog von Schleswig-Holstein, als er einen Brief Mikkelsens enthielt, der im Namen des abgesetzten Königs zur Rebellion aufrief (vgl. Grell 1992, 97). Friedrich I. hatte sich nämlich direkt bei seinem Regierungsantritt ausdrücklich von der »lutherischen Ketzerei« distanziert. In Schleswig-Holstein starb im Dezember 1524 der ehemalige Augustinermönch, Freund und Kollege Luthers, Heinrich von Zütphen, wegen seiner reformatorischen Predigten den Märtyrertod. Freilich blieb dies hier der einzige gewichtige Versuch, die Lehre Luthers und der Wittenberger Reformation in den Herzogtümern zu unterbinden. Auch in Dänemark konnte die evangelische Bewegung schon unter Friedrich I., der seine Tochter 1526 dem Luther zugewandten Herzog Albrecht von Preußen zur Frau gab, weiter Fuß fassen. Neben dem Humanisten Christiern Pedersen, der die Lehre Luthers annahm, war vor allem der 1531–1537 in Wittenberg ausgebildete dänische Reformator Peder Palladius ein Botschafter der dort von Luther und Melanchthon erlernten Theologie und Frömmigkeit. Während Norwegen mit Dänemark in Personalunion verbunden blieb, führte Gustav Wasa im Jahre 1521 mit der Etablierung Schwedens als unabhängiges Königreich das endgültige Zerbrechen der nordischen Union herauf. Unter seinem Schutz konnte Olaus Petri, der Luther während seiner Studienzeit in Wittenberg 1516–1519 kennengelernt hatte, die Reformation im Sinne des Wittenbergers durchführen. Für Finnland, dessen politische Bindung an Schweden maßgeblich war, wurde auf dem Reichstag von Västerås (1527) und der Synode von Örebro (1529) die rechtliche Grundlage für die Einführung der Reformation gelegt. Aber auch hier war schon zuvor reformatorisches Gedankengut über heimkehrende finnische Studenten aus dem deutschsprachigen Raum eingedrungen. Martin Skytte, der altgläubige, aber reformatorischen Tendenzen gegenüber aufgeschlossene Bischof von Turku, hatte bereits junge Leute zum Studium nach Deutschland entsandt, darunter den späteren Reformator Finnlands, Michael Agricola. Agricola hatte 1536–1539 bei Luther und Melanchthon studiert und kehrte mit einem Empfehlungsschreiben beider Reformatoren nach Finnland zurück. Mit seiner Bibelübersetzung (NT 1548, Teile des AT 1551/52), weiteren Übersetzungen von Schriften Luthers und eigenen Werken wirkte er für die finnische Schriftsprache ähnlich normierend wie Luther für die deutsche. Luther hat, vor allem über die auswärtigen Studenten an der Universität Wittenberg, eine bedeutende Wirkung in den skandinavischen Raum hinein ausüben können, die sich auf dem Hintergrund der politischen Bedingungen nahezu ungehindert entfalten konnte. Ähnlich verhielt es sich in Preußen, das ebenfalls zum Einzugsgebiet der Leucorea gehörte. Wichtiger noch aber wurden die persönlichen Begegnungen und Gespräche Herzog Albrechts von Brandenburg, des Hochmeisters des Deutschen Ordens, mit Luther. Im Jahre 1522 durch den Nürnberger Reformator Andreas Osiander für die Reformation gewonnen, suchte er Luthers Rat im Blick auf eine Ordensreform. Dessen Schrift An die Herren deutschs Ordens, das sie falsche Keuschheit meiden und zur rechten ehelichen Keuschheit greifen, Ermahnung (WA 12; 228–244) vom März 1523 gab den Anstoß zur Aufhebung des Ordens und
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zur Säkularisierung des Deutschordensstaats. Dies bekräftigte Luther bei einem Treffen mit Albrecht in Wittenberg am 23.11.1523. Mit der Einführung der Reformation und der politischen Unterwerfung unter die Krone Polens machte Albrecht das Land zu einem weltlichen Herzogtum. Einer Einladung zur Hochzeit mit der dänischen Prinzessin Dorothea im Jahre 1526 kam Luther nicht nach. Aber weitere Begegnungen erfolgten im Mai 1534 und im Dezember 1545, wenige Wochen vor dem Tod des Reformators. Bereits im Sommer 1523, kurz nachdem seine Ermahnung an die Deutschordensherren erschienen war, hatte Luther Johannes Brießmann als evangelischen Prediger nach Preußen entsandt. Er wirkte am Königsberger Dom. 1524 ging Paul Speratus, der ab 1530 als evangelischer Bischof von Pomesanien amtierte, auf Empfehlung Luthers als Schlossprediger nach Königsberg. Zusammen mit dem ebenfalls auf Luthers Rat hin als Pfarrer in die Altstadt berufenen Johann Poliander setzten sie sich für eine Reformation im Sinne des Wittenbergers ein. Herzog Albrecht, der mit diesem eine nahezu freundschaftliche Korrespondenz pflegte, sah in Luther einen »Bischof, Papst und Vater« (zit. nach Małłek 1987, 34). Seine tiefe Verbundenheit spiegelt sich auch darin, dass er nach Luthers Tod für dessen Kinder sorgte. Wie sehr Luthers Einfluss im Herzogtum Preußen präsent war, belegt der hohe Anteil von Schriften des Wittenbergers in der Herzoglichen Bibliothek in Königsberg. Im Bücherverzeichnis der sog. Silbernen Bibliothek Herzog Albrechts sind sechs von den 20 in Silber gebundenen Büchern Werke Luthers. In den Pfarrbibliotheken traf man selbstverständlich auf dessen Postillen. Schwieriger wurde es, wo die Sprachbarriere eine einfache Rezeption Luthers verhinderte und man, wie in Masuren, evangelische Pfarreien mit polnischen Büchern versorgen musste. Diesem Zweck diente der Druck des ins Polnische übersetzten Kleine[n] Katechismus in den Jahren 1531 und 1536. Ende 1544 veranlasster Speratus noch einmal eine neue bzw. verbesserte Übersetzung (vgl. Małłek 1987, 36 f; Wotschke 1901, 213–219). Eine Ausgabe des Kleine[n] Katechismus in litauischer Sprache, übersetzt durch Martin Mossvidius (Maszwidas), erschienen 1547, geht ebenfalls auf die Initiative des Speratus zurück. Preußen wurde für den Osten Europas zu einem reformatorischen Zentrum. So finanzierte der Herzog u. a. dem Litauer Stanislaus Rapagelanus sein Studium in Wittenberg 1542–1544, wo er unter dem Dekanat Luthers zum theologischen Doktor promoviert wurde, bevor ihn Albrecht an der Universität Königsberg installierte. Auch im Bereich des königlichen Preußen hatte, trotz der gegen die Reformation gewandten Edikte Sigismunds I. von Polen und deren blutiger Durchsetzung, der Einfluss Luthers Fuß gefasst. Mitte 1522 predigte Jakob Hegge in Danzig im Sinne der Wittenberger Reformation. Schon 1520 ist ein Danziger Lutherdruck nachweisbar. Danziger studierten in Wittenberg und nahmen nach ihrer Heimkehr nicht selten solche Positionen ein, die sie zu Multiplikatoren für die von Luther ausgehende Reformation machten: Stadtschreiber, Bürgermeister, Lehrer, Prediger. Außerdem wandte man sich direkt an Luther, um geeignete evangelische Prediger, Schulrektoren, Juristen etc. zu erhalten. Auch andernorts ließ sich sein Einfluss nicht eindämmen. Eine öffentliche
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Verbrennung seiner Schriften im Jahre 1521 durch den päpstlichen Legaten beantworteten die Bürger von Thorn mit Steinwürfen. Zwei Jahre später traten die Dominikaner und Franziskaner der Stadt aus ihren Orden aus, um sich der Reformation Luthers zuzuwenden. Dies waren keine Einzelfälle, wobei die Annahme der Reformation nicht zuletzt der Abgrenzung gegenüber Polen dienen konnte. Auch im Baltikum wirkte Luther durch seine Schriften und aus seinem Umfeld stammende evangelische Prediger. Zwar sollten schon durch die Bekanntgabe der Bannandrohungsbulle und später des Wormser Edikts die reformatorischen Strömungen eingedämmt werden, aber bereits 1521 erhielt in Riga durch Andreas Knopken, einen Gehilfen Bugenhagens, das Gedankengut Luthers weiteren Rückhalt. Der Rigaer Stadtschreiber Johannes Lohmüller trat unter dem 20.8.1522 in brieflichen Kontakt mit Luther, der mit seinem Brief an die Christen in Riga, Reval und Dorpat in Livland 1523 (WA 12; 143–150) antwortete. Im Jahr darauf sandte Luther seine Auslegung des 127. Psalms An die Christen zu Riga und Livland (WA 15; 348–378). Die Ausstattung der Rigaer Stadtkirchen mit evangelischen Predigern festigte die Reformation im Sinne Luthers. Über seine Lieder, die im ersten evangelischen Gesangbuch in Riga neben denen einheimischer Reformatoren zu stehen kamen, blieb die Theologie Luthers auch in der Gemeindefrömmigkeit präsent. Die Aufnahme der Lutherschen Reformation in Ungarn und Siebenbürgen, zu dem neben dem siebenbürgisch-sächsischen Teil außerdem Gebiete Ostungarns und der Slowakei zählten, muss auf dem Hintergrund der politischen Konstellationen gesehen werden. Ungarn war nämlich durch Heiratsverbindungen zwischen den Jagiellonen und den Habsburgern – Ferdinand, der Bruder Karls V., hatte Anna, die Schwester des ungarischen Königs Ludwig II. geheiratet, und Ludwig die Schwester Ferdinands, Maria von Habsburg – der Religionspolitik des Reichs nahegerückt. Auf dem Wormser Reichstag von 1521 war auch Ungarn durch den Juristen Stefan Verböczy vertreten gewesen. Er war persönlich mit Luther in Kontakt getreten, um ihn von seinen »Irrtümern« abzubringen. Denn in Ungarn hatte man bereits Kenntnis von seinen Ideen. Erste Berichte über den Wittenberger und seine frühen gedruckten Werke waren durch Kaufleute, die jenseits der Grenzen tätig waren, z. B. in Polen, Böhmen und Schlesien, nach Ungarn gedrungen. Im Jahre 1521 hatte Thomas Preisner in Leibitz (Lubica) bei Kaisersmarkt (Kežmarok) die 95 Thesen öffentlich von der Kanzel herab verlesen. Auch über Privatkorrespondenzen wurden Luthers Schriften verbreitet. Selbst am Hofe von Ofen (Buda) fand die Reformation Unterstützung. Hier wirkten u. a. Simon Grynaeus als Kurator der Bibliotheca Corviniana und Conrad Cordatus als Seelsorger der Königin Maria. Als jedoch die Bannbulle Decet Romanum Pontificem in Ungarn publiziert wurde, sah sich die Königin gezwungen, Cordatus zu entlassen. 1525 beschloss der ungarische Landtag die Verfolgung und Verbrennung aller »Lutheraner«. Das bedeutete die Auflösung des Ofener Humanistenzirkels, der mit der Reformation Luthers sympathisiert hatte. Conrad Cordatus,
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der zu jenen Humanisten gehört hatte, ging 1524/25 zum Studium nach Wittenberg, wohnte im Hause Luthers und begann als erster damit, dessen Tischreden aufzuzeichnen. Auch für die Mittelslowakei gilt er als Vermittler der Reformation Luthers (vgl. Veselý 1999, 117). Wie für Cordatus so wurde auch für ungarische und Siebenbürger Studenten Wittenberg bald zu einem beliebten Studienort. Die hier aufgenommenen reformatorischen Impulse trugen sie wieder in ihr Land zurück. Als König Ludwig in der Schlacht bei Mohács im August 1526 fiel, sandte Luther einen Trostbrief an die verwitwete Königin Maria, der eine Auslegung der Psalmen 37, 62, 94 und 109 enthielt und ihr Eintreten für das Evangelium würdigte, »das von vielen Fürsten ihres Landes verachtet werde« (WA 19; 542–615; zit. nach Hudak 1991, 21). Von den in Ungarn getroffenen Maßnahmen gegen die reformatorische Bewegung war Siebenbürgen zum Teil mit betroffen. Dadurch, dass die siebenbürgischen Städte engen Kontakt mit dem Reich pflegten, hatten die Schriften Luthers hier schnell und früh Verbreitung erfahren können, selbst wenn es nicht zu durchgreifenden Reformen kam. Luthers reformatorische Hauptschriften scheinen bekannt gewesen zu sein. Die Durchführung der Reformation unter den Siebenbürger Sachsen und in Kronstadt durch den vom Humanismus zur evangelischen Lehre gelangten Johannes Honterus zeigt jedoch, mit welchen Reibungen dies verbunden war. Noch kurz vor seinem Tod korrespondierte Luther mit Honterus darüber (WAB 10; 564–566). Als 1550 in Hermannstadt die einheitliche Durchführung der Reformation unter den Siebenbürger Sachsen beschlossen wurde, war dies eine Option für die lutherische Ausprägung. Wenig später aber gewannen, wie in Ungarn, die Zürcher und die Genfer Theologie deutlich größeren Einfluss. In Siebenbürgen kamen antitrinitarische Tendenzen hinzu. In Böhmen traf die Reformation Luthers auf ein hussitisches Substrat, das um 1520 noch in keiner Weise einheitlich stabilisiert war. Während ein Flügel der Utraquisten die Forderung nach einem Abendmahl unter beiderlei Gestalt (sub utraque specie) unter Bewahrung der Romtreue durchzusetzen wünschte, strebte ein anderer Flügel nach weitergehenden Reformen auf biblischer Grundlage, wobei durchaus auch taboritische (radikal hussitische) Züge Eingang fanden und die Bewegung in die Nähe der Böhmischen Brüder rückte. Diese waren dabei, sich unter der Führung des Lukas von Prag zu konsolidieren, während die Monarchie im Sinne Roms gegensteuerte und unter dem neuen König Ferdinand I. ab 1526 eine konservative Religionspolitik durchführte. Auf diesem Hintergrund fanden die Gedanken Luthers zunächst nur zögerlich Aufnahme. Sie bestärkten aber die reformorientierte Gruppierung innerhalb der hussitischen Bewegung, die bald in Luther einen Mitstreiter in ihrem Sinne zu erkennen glaubte. Zahlreiche Übersetzungen von Schriften Luthers ins Tschechische versuchten denn auch, Luther für den radikalen Hussitismus zu instrumentalisieren bzw. seine Theologie für den Aufbau einer entsprechenden Kirche in Dienst zu nehmen (vgl. Rican 1967, 287). Luther selbst hatte sich noch bis 1519 von Johannes Hus und den Böhmischen Brüdern distanziert, war aber auf der Leipziger Disputation, wo er einige
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Sätze des Hus als evangelisch verteidigt hatte, öffentlich auf dessen Seite gerückt. Jan Poduška, Prediger an der Prager Stadtkirche, und Václav Roždalovský, der Vorsteher des Collegium Carolinum an der Universität, traten daraufhin mit Luther in brieflichen Austausch. Zunächst hoffte Luther noch, die Böhmen im Sinne einer anzustrebenden Einigung für seine Sache gewinnen zu können. In diesen Zusammenhang gehören sein Schreiben an die böhmischen Landstände vom 15. Juli 1522 und seine Schrift De instituendis ministris ecclesiae ad clarissimum senatum Pragensem Bohemiae von 1523 (WA 12; 160–196), die er dem utraquistischen Pfarrer Gallus Cahera mitgab. Cahera war als begeisterter Lutheranhänger nach Wittenberg gereist, wandte sich aber später dann doch wieder von ihm ab. Auch mit den radikaleren Böhmischen Brüdern trat Luther in Kontakt, wobei es jedoch in der Lehre von der Realpräsenz Christi im Abendmahl und der ausschließlichen Betonung der iustificatio sola fide gegenüber einer miteinbezogenen Heiligung des Christen in guten Werken zu Reibungen mit Lukas von Prag kam und das Trennende zutage trat. Nach dessen Tod im Jahre 1528 wählten die Böhmischen Brüder Älteste – unter ihnen Jan Augusta –, die mehr zur Wittenberger Theologie tendierten. Dies zeigte sich in der deutschen Übersetzung ihrer Rechenschaft des Glaubens, die 1533, mit einer Vorrede Luthers versehen, in Wittenberg gedruckt wurde (WA 38; 75–80). Auch für die Confessio fidei ac religionis, 1538 ebenfalls in Wittenberg gedruckt, verfasste Luther eine Vorrede (WA 50; 375–380). In den 1540er Jahren jedoch verstärkten sich die von Bucer und Calvin ausgehenden theologischen Einflüsse. Zentrum der lutherischen Reformation in Böhmen wurde die 1516 durch Graf Stephan Schlick gegründete Silber-Minen-Stadt Joachimsthal (Jáchymov). Ausschlaggebend dafür war der starke Zustrom sächsischer Bergleute. Unter ihnen wirkte seit 1532 der Luther-Schüler Johannes Mathesius als Schulrektor und Prediger und damit als erfolgreicher Multiplikator der Theologie seines Lehrers. In Mähren hatten sich die Böhmischen Brüder unter dem Schutz des Adels verbreiten können. Neben ihnen gewann die von Luther ausgehende Reformation den stärksten Einfluss. Wichtige Impulse gingen dafür von Iglau (Jihlava) aus, wo Paul Speratus eine Zeitlang wirkte (1522/23). In Frankreich gab es, auf dem Hintergrund humanistischer Bildung, relativ früh eine Lutherrezeption, auch wenn sich die Reformation später unter Genfer Einfluss konsolidierte. Wir wissen von Peter Tschudi, einem aus der Schweiz stammenden Studenten in Paris, auf welch bemerkenswertes Interesse die Schriften Luthers schon 1519 in Paris stießen. Hier zirkulierten u. a. Mitschriften von der Leipziger Disputation zwischen Luther und Eck vom Juni/Juli 1519 (vgl. McGoldrick 1989, 104 Anm. 13). Aber die Äußerungen Frobens (s. o.) und eine Bemerkung Luthers in einem Schreiben an Johann Lang vom 13.4.1519 zeigen, dass man auch schon von zuvor publizierten Schriften Luthers Kenntnis genommen hatte (vgl. WAB 1; 369). Ab 1520 tauchten sie auch in Lyon auf. Freilich waren Luthers Bücher in der Anfangszeit noch recht dünn gesät. Aber seit 1521 gab es in Frankreich eine von den Gedanken Luthers beeinflusste reformatori-
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sche Bewegung, die durch Humanisten wie Guillaume Briçonnet, den Bischof von Meaux, und Jacques Lefèvre d’Étaples vorbereitet worden war. Man sprach von »luthériens«, wobei man freilich, ohne weiter zu differenzieren, alles Reformatorische in dieser Weise qualifizierte, auch wenn nur entfernt eine Verwandtschaft mit der Theologie Luthers vorlag. Im Jahre 1521 trat ebenfalls die Reaktion deutlich in Erscheinung. Am 15.4.1521 verurteilte die Sorbonne in 100 Sätzen Aussagen Luthers und fand sich mit dem Parlament im Kampf gegen die »lutherische Häresie« zusammen. Dennoch blieben evangelisch gesinnte Drucker aktiv. In Paris z. B. wirkte von 1525 bis 1529 Simon du Bois, unter dessen heimlich gedruckten Schriften sich auch Übersetzungen von Schriften Luthers fanden. Manche aus seiner Druckerei anonym hervorgegangenen evangelischen Erbauungsschriften sind durchdrungen von dem reformatorischen Gedankengut Luthers, gelegentlich sind sogar kurze Übersetzungen integriert, oder die Konzeption einer Schrift lässt auf eine Vorlage Luthers schließen. Luther gewann also über eine solche indirekte Vermittlung, aber auch durch Übersetzungen des dafür hingerichteten Louis de Berquin (1529) Einfluss in Frankreich. Selbst in Schriften der reformgesinnten Schwester des französischen Königs, Marguerite de Navarre, lassen sich Spuren Lutherscher Theologie finden. Die Affaire des placards von 1534 jedoch, ausgelöst durch das Vordringen von Plakaten gegen den Missbrauch der Messe in der römischen Kirche bis vor das Schlafgemach des Königs, war der Auftakt für kontinuierliche Verfolgungswellen und ein Abdrängen reformatorischer Gemeinden in den Untergrund. Erst mit der Erstellung eines Bekenntnisses auf der ersten Nationalsynode des französischen Protestantismus 1559 in Paris setzte die Konsolidierung der Reformation ein, die sich schon zuvor durch den Einfluss Guillaume Farels allmählich der schweizerischen Richtung der Reformation zugewandt hatte. Auch in England hatte der Humanismus, vertreten durch Erasmus und John Colet, der Aufnahme der Wittenberger Reformation den Weg geebnet, die aber nicht nur in gebildeten Kreisen wirkte, sondern auch jene erreichte, die noch älteren lollardischen (wyclifitischen) Strömungen anhingen. Der Einfluss Luthers ist eng mit den Namen Robert Barnes und William Tyndale verbunden. Barnes war Prior der Augustinereremiten in Cambridge. Zusammen mit anderen Reformgesinnten hatte er über die Lektüre von Schriften Luthers im »White Horse Inn« Bekanntschaft mit dessen Theologie gemacht. Ob Tyndale an den Gesprächen des Zirkels, der sich in diesem »Little Germany« (Clebsch 1964, 79) zusammenfand, teilgenommen hat, ist nicht belegt. Deutlich ist aber, dass Cambridge für die frühe Reformation in England und die Verbreitung Lutherscher Gedanken eine entscheidende Rolle gespielt hat, obwohl schon die Promulgation der Bannandrohungsbulle Exsurge Domine noch vor Ende des Jahres 1520 zu Verbrennungen reformatorischen Schrifttums in Cambridge geführt hatte, denen weitere folgten. Dennoch scheinen evangelische Bücher in London, Oxford und Cambridge zirkuliert zu sein. Tyndale übersetzte das Enchiridion militis Christiani des Erasmus und plante, inspiriert von dessen Forderung einer praktischen
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Frömmigkeit, eine Übertragung der Bibel in die Volkssprache. In diesem Zusammenhang ging er 1524 nach Wittenberg. Seine englische Übersetzung des Neuen Testaments (1525/26) aus dem Griechischen lehnt sich denn auch an die Luthers an. Barnes sorgte unter Todesgefahr für deren Verbreitung in England. Der Verfolgung konnte er durch Flucht nach Deutschland entkommen. Wie Tyndale wurde er in Wittenberg zu einem überzeugten Anhänger Luthers. Er versuchte auch König Heinrich VIII., der sich 1521 mit seiner Assertio septem sacramentorum gegen Luther gewandt und vom Papst den Titel des defensor fidei erhalten hatte, zur Annahme des reformatorischen Glaubens zu bewegen (A Supplication unto King Henry VIII, 1530). Um 1535/36 gehörte er zu den einflussreichen, aber erfolglosen Vermittlern zwischen den Wittenbergern und Heinrich VIII. in der Frage eines gemeinsamen reformatorischen Bekenntnisses. Als er nach England zurückkehrte, wurde er auf der Grundlage der 1539 erlassenen Sechs Artikel als lutherischer Häretiker verbrannt. Barnes hatte in England in seinen Predigten und Schriften die Theologie Luthers verbreitet, deren Einfluss in nicht wenigen Bekenntnistexten, bis hin zum Book of Common Prayer, nachhallt, auch wenn sich England nicht auf Dauer einer lutherisch geprägten Reformation anschloss. Schon Tyndale stimmte, obwohl er gegen Angriffe des Thomas Morus für Luther Partei ergriff und für die Verbreitung reformatorischer Schriften in England sorgte, nicht in allen Punkten, z. B. der Abendmahlslehre, mit der Theologie Luthers überein. Heinrich VIII. sowie der päpstliche Legat und Kardinal Thomas Wolsey bekämpften Tyndale aufs heftigste, der schließlich am 6.10.1536 in Antwerpen den Märtyrertod erlitt. Über die schon früh in Paris und in den Niederlanden verbreiteten Schriften Luthers hatten auch schottische Studenten und Kaufleute Kontakt zu den Gedanken Luthers gefunden. Vor allem im Zusammenhang mit der Verbreitung von Tyndales Übersetzung des Neuen Testaments in Schottland wurde heimlich reformatorische und kirchenkritische Literatur in Umlauf gebracht. Der schottische Multiplikator des von Luther ausgehenden reformatorischen Gedankenguts wurde Patrick Hamilton. Während seines Studiums in Paris machte er nicht nur Bekanntschaft mit dem von Erasmus und seinen Gesinnungsgenossen getragenen Humanismus, sondern auch mit den von Luther ausgehenden und kontrovers diskutierten reformatorischen Impulsen. Sein Wechsel an die Universität Löwen muss ihn mit Robert Barnes in Verbindung gebracht haben. Als er 1523 nach Schottland zurückkehrte, um in St. Andrews zu wirken, trat er bereits durch seine Abwendung von der Scholastik und durch entschiedene Kirchenkritik hervor, sodass die Bekämpfung aller reformatorischen Impulse als »lutherische Häresie« auch ihn traf und seine Flucht veranlasste. 1527 hielt er sich für kurze Zeit in Wittenberg auf, wo er wohl in Kontakt mit Luther kam und dessen überzeugter Anhänger wurde. Seine in Marburg abgefassten Loci Communes (Patrick’s Places, gedruckt 1529) spiegeln – im Rahmen der Methodik Melanchthons – die starken Einflüsse der über die Freiheitsschrift vermittelten, in die Hermeneutik von Gesetz und Evangelium eingezeichneten Theologie Luthers. Sein Feuertod am
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29.2.1528 in St. Andrews machte ihn zum ersten schottischen Märtyrer für die Reformation. Die vor allem über Hamilton nach Schottland gebrachten, beachtlichen Einflüsse Luthers wurden allerdings schon in den 1540er Jahren durch zwinglische und calvinische überlagert. Anders als in den genannten Regionen und Ländern Europas traf die Wittenberger Reformation in Italien auf wenig Echo. Die hier existierende reformatorische Bewegung hatte in den Humanisten Marsilio Ficino, Lorenzo Valla und Girolamo Savonarola eine eigenständige Grundlage. Zwar wurden Luthers Schriften An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung (1520, WA 6; 381–469), Von der Freiheit eines Christenmenschen (1520, WA 7; 12–38. 39–73), die Vorrede zum Römerbrief (1522, WADB 7; 2–27) und in Teilen sein Betbüchlein (1525, WA 10,2; 331–501) ins Italienische übersetzt und zum Teil anonym oder unter anderen Namen verbreitet, aber der so präsentierte Luther konnte »in die Tradition der Schriftexegese Vallas und Ficinos eingereiht werden« (Welti 1985, 22). Luthers Kritik an der altgläubigen Sakramentenlehre und sein reformatorischer Gegenentwurf in De captivitate Babylonica ecclesiae praeludium (1520, WA 6; 484–593) wurden nie in einer volkssprachlichen Version bekannt. Reformatorisches Gedankengut rückte zwar in die Nähe der Theologie Luthers, wie z. B. bei dem kastilischen Adligen und Erasmianer Juan de Valdès, der 1534 nach Neapel übergesiedelt war, war aber nicht unbedingt über Luther und seine Schriften vermittelt. Ähnlich verhielt es sich in Spanien. Auch hier hatte der Humanismus, zu dem sich Staatsmänner wie Gattinara und Alfonso Valdès ebenso zählen lassen wie die Erzbischöfe von Toledo und Sevilla, einer reformatorischen Strömung Bahn gebrochen. Schon in der Zeit des Wormser Reichstags 1521 schafften spanischportugiesische Kaufleute, die in Kontakt mit Städten wie Augsburg und Nürnberg standen, über Antwerpen Schriften Luthers, teilweise in spanischer Übersetzung, ins Land. Der Kaiser und die bereits fest etablierte Inquisition schritten jedoch unverzüglich und effektiv ein. Getarnt unter falschen Titelblättern und Verfassernamen verbreitete man zwar das reformatorische Schrifttum weiter, aber eine größere evangelische Bewegung konnte nicht entstehen. Gelegentlich existierten kleine Konventikel, die allerdings in erster Linie von Bibelhumanismus und quietistischer Mystik geprägt waren und Luthersche Einflüsse bestenfalls auf diesem Hintergrund adaptierten, um sich von der herrschenden Kirche abzugrenzen. Die Frage nach der Rolle Martin Luthers für die Reformation in Europa fördert zutage, wie vielfältig die Rezeption seiner Schriften und damit seiner reformatorischen Anliegen und Theologie auf dem Hintergrund des politischen und geistesgeschichtlichen Substrats jeweils verlaufen konnte. Hier zeigt sich zugleich die Internationalität einer reformatorischen Bewegung, die in den überwiegenden Fällen wesentliche Anstöße von Luther erhalten hat und sich in Rezeption von Wittenberger Impulsen weiterentwickeln und eigene theologische Charakteristika und Identitäten herausbilden konnte, selbst wenn man Luthers theologi-
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sche Ansätze in eingeebneter Form lediglich adaptierte. Dass der Reformator direkt und indirekt eine europäische Ausstrahlungskraft ausgeübt hat, steht außer Zweifel. Asche, Matthias/Schindling, Anton (Hg.): Dänemark, Norwegen und Schweden im Zeitalter der Reformation und Konfessionalisierung. Nordische Königreiche und Konfession 1500 bis 1660 (KLK 62), 2003. Beintker, Michael u. a.: Europa Reformata. Reformationsstädte Europas und ihre Reformatoren, 2016. Clebsch, William A.: England’s Earliest Protestants 1520–1535 (YPR 11), 1964. Hutter, Ulrich (Hg.): Martin Luther und die Reformation in Ostdeutschland und Südosteuropa. Wirkungen und Wechselwirkungen (Beihefte zum Jahrbuch für Schlesische Kirchengeschichte 8), 1991. McGoldrick, James E.: Luther’s Scottish connection, 1989. Moeller, Bernd: Luther in Europe: His Works in Translation 1517–1546 (in: Kouri, Erkki I./ Scott, Tom [Hg.]: Politics and Society in Reformation Europe, 1987, 235–251). Moore, Will G.: La Réforme allemande et la Littérature française. Recherches sur la notoriété de Luther en France (Publications de la Faculté des Lettres de l’Université de Strasbourg 52), 1930. Pettegree, Andrew (Hg.): The Early Reformation in Europe, 1992. Irene Dingel
15. Luther und die Juden 15.1. Grundzüge
Luthers Auseinandersetzung mit Juden und Judentum vollzog sich in erster Linie literarisch auf der Ebene der Schriftauslegung. Dabei übernahm er zahlreiche Elemente des traditionellen Antijudaismus, so die Übertragung der biblisch-theologischen Gegensätze von »Fleisch« und »Geist« bzw. »Buchstabe« und »Geist« auf das Verhältnis von Synagoge und Kirche. Die reformatorische Neuorientierung, welche Rechtfertigungslehre und Christologie sowie die Grundunterscheidung von Gesetz und Evangelium zu zentralen Kriterien der Beurteilung anderer Glaubens- und Religionsformen erhob, veränderte die Koordinaten der theologischen Wahrnehmung grundlegend, doch die Konsequenzen blieben spannungsreich und widersprüchlich. Einerseits war Luthers Auslegung des Alten Testaments in besonderer Weise dem mit jüdischer Hilfe vom Humanismus neu erschlossenen hebräischen Urtext und seinem Literalsinn verpflichtet. Andererseits verschärfte eine dezidiert theologisch bestimmte Sprachlehre, welche die Pointe des Literalsinns im Christussinn erblickte, den Gegensatz im Streit um die Wahrheit biblischer Texte. Ein widersprüchliches Verhalten zeigte Luther im Blick auf die praktischen Konsequenzen von Toleranz und Intoleranz. Von den relativ judenfreundlichen, das traditionelle Modell friedlicher Koexistenz in mancher Hinsicht innovativ-emanzipatorisch weiterdenkenden
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Perspektiven der Aufbruchsjahre 1515/16–1523 heben sich die vorausgehenden Polemiken und vor allem die apokalyptischen Radikalisierungen der späten »Judenschriften« mit ihren forcierten Ab- und Ausgrenzungsstrategien deutlich ab. Dabei spielte jüdisches Leben in Luthers unmittelbarem Umfeld so gut wie keine Rolle. Nur in Eisleben wohnten Juden, bis sie 1547 unter dem Einfluss des späten Luther (vgl. WAB 11, Nr. 4195; 275–277) durch ein obrigkeitliches Edikt vertrieben wurden. 15.2. Ambivalenzen der Frühzeit: Polemischer Antijudaismus, Kirchenkritik
und praktische Toleranz (1513–1515)
Schon in der ersten Psalmenvorlesung, den Dictata super Psalterium (1513–1515, WA 55,1–2), zeigen sich die antijüdischen wie kirchenkritischen Implikationen von Luthers Bibelhermeneutik. Die im Psalter genannten »Gottlosen« und »Feinde« wurden nicht nur auf den Verräter Judas und die Juden der Zeit Jesu, sondern – in Aufnahme und Weiterbildung des vierfachen Schriftsinns – zugleich umfassend auf Juden, Häretiker und fragwürdige (»falsche«) Christen aller Zeiten, aber auch auf Aspekte der Anfechtung des einzelnen Christen gedeutet. Gelegentlich kam es zur Selbstkritik, indem Juden und Christen gemeinsam unter dem Gesichtspunkt der Schuld und des Abfalls von Gott angesprochen wurden. Der Schwerpunkt lag aber auf der Distanzierung von den ungläubigen Juden, u. a. durch den traditionellen Vorwurf der fortwährenden Kreuzigung Christi, den Luther vielfältig variierte und zur Dämonisierung der Juden als »Synagoge des Satans« einsetzte. So denunzierte er die jüdische Schriftauslegung als ein Bespucken, Kreuzigen und Töten der heiligen Schrift und die jüdische Frömmigkeit als stetige Aktualisierung ihres Christus- und Christenhasses. Luther folgte der klassischen Enterbungs- und Substitutionsvorstellung, der zufolge den Juden der Ehrentitel des Gottesvolkes ab- und der wahren Kirche zuerkannt worden war. Kirche und Synagoge repräsentierten in dieser Sichtweise den Gegensatz von Glaube (fides) und Unglaube oder Treulosigkeit (perfidia) unter dem Zorn Gottes. Die heilsgeschichtliche Funktion der Juden beschränkte sich in Anlehnung an Augustin auf ihre Zeugenfunktion für Gottes Strafgerechtigkeit in der Geschichte. Insgesamt übernahm Luther zahlreiche klassische antijüdische Stereotypen und passte sie seinen Auslegungsgrundsätzen an, zugleich radikalisierte er aber auch an einzelnen Stellen die antijüdische Linie der Tradition. Im Streit zwischen J. Reuchlin, der Kölner Inquisition und dem Konvertiten J. Pfefferkorn um die Verbrennung des angeblich gotteslästerlichen Talmuds und anderer jüdischer Traditionsliteratur stellte sich Luther 1514 in einem Brief auf die Seite Reuchlins, der einer Verbrennung mangels Beweisen widersprochen hatte (WAB 1; 23 f). Anders als Reuchlin ging Luther davon aus, dass sich die Juden nach biblischem Zeugnis tatsächlich der kontinuierlichen Gotteslästerung schuldig machten. Inquisitorische Konsequenzen sollten nicht gezogen werden, weil in Gottes Souveränität nicht eingegriffen werden durfte. In dieser Perspekti-
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ve ließ sich selbst der schroffe Antijudaismus der Dictata mit der toleranten Praxis des Humanisten J. Reuchlin verbinden. 15.3. Neue erwählungstheologische und apologetische Perspektiven
seit der Römerbriefvorlesung (1515–1523)
In der Römerbriefvorlesung von 1515/16 (WA 56) kam es im Zusammenhang der Auslegung von Röm 9–11 und der Rede von der Liebe des Apostels zu Christus und – aufgrund der ewigen Verheißungstreue Gottes – zu den Juden erstmals zu einer näheren Würdigung des Erwählungsgedankens. Dieser ließ ihn im Anschluss an Röm 12,14 und 1Kor 4,12 f nach einem von Respekt und nicht von Verachtung getragenen Verhalten gegenüber den Juden fragen. Vorsichtig distanziert, weil bei Paulus nicht deutlich genug ausgesprochen, blieb Luther gegenüber der in kirchlicher Tradition genährten Hoffnung auf eine endzeitliche Judenbekehrung nach Röm 11,25 f. In der zweiten Psalmenvorlesung, den Operationes in psalmos von 1519–1521 (WA 5), und der Magnifikatauslegung von 1521 (WA 7; 544–604) setzte sich Luthers veränderte Sicht von Juden und Judentum fort. In der Magnifikatauslegung legte er erstmals deutlich die Verbindung zwischen der Konversion einzelner Juden zum Christusglauben und der bleibend gültigen Abrahamsverheißung (Lk 1,55, vgl. Gen 12,3). Es war die Existenz verborgener »zukünftiger Christen« unter der Mehrheit der »Verstockten«, welche einen erneuerten, »freundlichen« Umgang der Christen mit den Juden einforderte. Dieser Umgang spiegelte sich auch in Predigten, in denen Luther die scharfe Polemik gegen Judas und die Juden in altgläubigen Auslegungen der Passionsgeschichte kritisierte und auf den Christusmord im eigenen Herzen hinwies. Gegenläufige Tendenzen blieben jedoch wirksam. So ging in den Operationes zwar die antijüdische Polemik zurück, doch hielten sich stereotype Vorwürfe wie die des fortdauernden Christushasses der Juden und ihres schädlichen Einflusses auf den »Gemeinen Mann« im Geldund Handelsgeschäft (jede Zinsnahme galt als unstatthafter »Wucher«). Diese Kritik war nicht exklusiv antijüdisch, da sie auch auf entsprechendes christliches Fehlverhalten bezogen wurde. Einen Höhepunkt in Luthers Bemühen um eine Revision des jüdisch-christlichen Verhältnisses stellt die publizistisch ausgesprochen erfolgreiche, weitere Diskussionen anregende apologetische Schrift Daß Jesus Christus ein geborener Jude sei aus dem Jahr 1523 dar (WA 11; 314–336). Darin wies Luther zum einen Gerüchte zurück, er leugne den Glaubensartikel von der Jungfrauengeburt und damit den der Gottessohnschaft Jesu, mache sich also einer typisch jüdischen Ketzerei schuldig, zum anderen verlangte er im Zeichen des reformatorischen Aufbruchs ein tolerantes, der Konversion von Juden förderliches Verhalten von Geistlichkeit und Obrigkeit. Zur traditionellen Behandlung alttestamentlicher Schriftbeweise für Jungfrauengeburt, Gottessohnschaft und Messianität Jesu, die sich wie ein Katechismus für taufwillige Juden lesen lassen, trat die Absage an die
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gängige Judenfeindschaft in Kirche und Gesellschaft und die klare Zurückweisung vormodern-antisemitischer Stereotypen wie des Ritualmordvorwurfs. Die Juden sollten nach dem Gebot der christlichen Nächstenliebe und dem Vorbild der apostolischen Heidenmission »freundlich« und wie Brüder behandelt und unterwiesen werden. Von der weltlichen Obrigkeit erwartete er eine Politik nach den Gleichheitsgrundsätzen des Römischen Bürgerrechts. So sollten den Juden bislang verschlossene Erwerbszweige wie das Handwerk und die Landwirtschaft eröffnet werden, um ihr Geld- und Kleinhandelsgeschäft zurückzudrängen. Auch sollten sie ihren Wohnort frei wählen können. Damit übte Luther deutliche Kritik an der oft willkürlichen Privilegienpraxis der Obrigkeiten. Luthers Vorschläge zielten auf eine weitgehende gesellschaftliche Integration der Juden, verbunden mit der Hoffnung, einige zur Konversion, und damit in seiner Sicht zur Rückkehr zum »wahren« Judentum, bewegen zu können. Anders als in der Spätzeit wurde die Integration nicht von einer Konversion abhängig gemacht. Eine taufunwillig bleibende jüdische Minorität stellte zu diesem Zeitpunkt kein grundsätzliches Problem dar, »sind wyr doch auch nicht alle gutte Christen« (WA 11; 336,34). Selbst die in römisch-katholischer Tradition strikt untersagte Eheschließung zwischen Christen und Juden war aufgrund der reformatorischen Neubestimmung der Ehe als einer »weltlichen« Angelegenheit grundsätzlich denkbar geworden (WA 10, 2; 283). Auch die Hoffnung auf eine baldige Rettung »ganz Israels« im Sinne einer endzeitlichen Judenbekehrung klang in der »Kirchenpostille« von 1522 an (WA 10, 1, 1; 289.5–10; Ph.J. Spener und der Pietismus sollten sich später darauf berufen). Damit waren trotz eschatologischer Unschärfen deutliche Alternativen zur spätmittelalterlichen Marginalisierungs- und Vertreibungspraxis sowie zur restriktiven kanonischen Judengesetzgebung aufgezeigt. Zur Entwicklung eines spezifisch reformatorischen Koexistenzmodells kam es freilich nicht. 15.4. Erneuerung polemisch-apologetischer Abgrenzung (seit 1525/26)
In seiner Auslegung von Ps 109 für die Königin von Ungarn (und Böhmen) aus dem Jahr 1526 (WA 19; 595–615) nutzte Luther die hermeneutischen Grundsätze der ersten Psalmenvorlesung erneut zur Dämonisierung der Juden. Deren gesellschaftliche Diskriminierung war nicht mehr Gegenstand der Selbstbesinnung und Kritik, sondern biblisch vorausgesagte Strafexistenz. Damit verließ Luther seine 1523 formulierte Position. Diesen Umschwung begünstigte offenbar ein gescheitertes Glaubensgespräch mit rabbinischen Gelehrten, die ihn 1525/26 auf gesucht hatten. Luther überraschte und enttäuschte das selbstbewusste, von unbeugsamer Traditionstreue bestimmte Auftreten der Juden. Auch kränkte ihn die Nachricht, diese hätten sich an der Erwähnung des gekreuzigten Christus – in ihren Augen der Tola (Gehängte) – in dem von ihm erbetenen Empfehlungsschreiben zur freien Durchreise gestört. Die Abkehr von den Toleranzperspektiven des Jahres 1523 festigte sich in den 1530er Jahren. Dazu trugen die traditionell inquisitorisch genutzten Denunziationen jüdischer Konvertiten, die das Bild
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eines aggressiv christenfeindlichen Judentums vermittelten (hier vor allem A. Margaritha: Der gantz Jüdisch Glaub, 1530/31 u. ö.), ebenso bei wie die verstärkte Konfrontation mit der von ihm abgelehnten rabbinischen Bibelexegese und dem formal eher dialogisch stilisierten, die jüdische Messiaserwartung einbeziehenden Konversionsbemühen christlicher Hebraisten (S. Münster). Auch die Erfahrung obrigkeitlicher Bereitschaft zu antijüdischer Politik (landesweites Aufenthaltsverbot im Kurfürstentum Sachsen 1536, 1543 verschärft; hessische Judenordnung 1539) und die gewachsene Sorge um die Durchsetzung und den Erhalt der Reformation in endgeschichtlich-apokalyptischer Perspektive spielten eine Rolle. Den Umschwung von Luthers Haltung zeigt die abschlägige Antwort auf das Ansuchen Josels von Rosheim, des Vertreters der deutschen Juden, der 1537 beim Kurfürsten um Unterstützung für die Gewährung freien Durchzugs bat (WAB 8; 89–91). Luther bestätigte zwar theoretisch den Grundsatz der Schrift von 1523, man müsse die bedrängten Juden im Blick auf Gottes künftiges Erbarmen »freundlich halten«, praktisch aber hob er ihn durch den Vorwurf antichristlicher jüdischer Aktivitäten und die Vertauschung der Opferrollen wieder auf. Je enger sich die Sorge um die Sicherung der eigenen Glaubensidentität mit kirchlich-bürgerlichen Einheitsidealen verband, desto schmaler wurde der Spielraum für praktische Toleranz: Aus den Juden als irrenden Glaubensgegnern wurden nun bei Luther zunehmend wider ihr eigenes Gewissen und ihre Vernunft und damit gegen die »Klarheit der Schrift« agierende Glaubensfeinde, welche die Bedingungen friedlicher Koexistenz nicht mehr erfüllten. Toleranz gegenüber Juden bedeutete fortan, an »fremder Sünde« teilhaftig zu werden, also die reformatorische Wahrheitserkenntnis und ihre gesellschaftliche Gestaltungskraft selbst zu »judaisieren« und damit aufzuheben. 15.5. Die Radikalisierungen der Spätphase (1538–1546)
Mit der Schrift Wider die Sabbater an einen guten Freund aus dem Jahr 1538 entsprach Luther nach seinen Angaben einer Bitte des Grafen Schlick zu Falkenau, zur angeblichen jüdischen Mission in Mähren Stellung zu nehmen und bedrängten Christen Argumentationshilfe zu geben (WA 50; 312–337). Tatsächlich waren die Sabbatarier eine kleine, täuferisch inspirierte radikalreformatorische Gruppierung, mit der Luther bereits seit 1532 bekannt war, ohne gegen sie aktiv zu werden. Möglicherweise lieferte die Begegnung mit Josel von Rosheim den Anlass für die Schrift. Luthers Ausführungen zur jüdischen Messiashoffnung und zum Toraverständnis waren überwiegend sachlich gehalten, doch die strikte Antithese von eigener, der göttlichen Wahrheit entsprechender Erkenntnis und der »jüdischen Lüge« zeigte zugleich, wie groß die Angst vor der Überzeugungskraft gegnerischer Gesichtspunkte geworden war. Wichtiges Argument für die Wahrheit des christlichen Glaubens wurde neben dem klassischen Schriftbeweis der u. a. von Nikolaus von Lyra prominent vertretene Geschichtsbeweis, der die Län-
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ge des jüdischen Exils als untrügliches Zeichen für Israels Verwerfung interpretierte. Methodisch auffallend war die demonstrativ-kategorische Gesprächsverweigerung gegenüber den Juden. Gerade in ihrer argumentativen Unerreichbarkeit wurden sie präsent gehalten und der polemisch zugespitzten Häretisierung und Dämonisierung ausgesetzt. Eine verstärkte Polemik und die Zunahme krasser Formen affektiver Distanzierung kennzeichnen die drei großen, von zunehmender Verbitterung geprägten antijüdischen Schriften des Jahres 1543 Von den Juden und ihren Lügen (WA 53; 417–552), Vom Schem Hamphoras und vom Geschlecht Christi (WA 53; 579–648) und Von den letzten Worten Davids (WA 54; 28–100). Diese lassen sich in weiten Teilen als Fortführung der radikalen bettelmönchischen Predigt- und Schriftenagitation des Spätmittelalters lesen. Ihre eigene Prägung erhielten sie durch das veränderte Schrift- und Traditionsverständnis, doch blieben die formalen Grund elemente der Rationalisierung des Schriftbeweises sowie die offensive Häretisierung und Dämonisierung des Gegners erhalten. Die Grundsätze der Schrift von 1523 wurden durch die Alternative von Taufe oder Vertreibung in ihr Gegenteil verkehrt. Die Türkengefahr (k B. III. 16.) und die Sorge um Gottes Beistand trugen offenbar zusätzlich zur Problematisierung der jüdischen Existenz inmitten der Christenheit bei. Die Argumentationsstruktur als solche war auch weiterhin nicht exklusiv antijüdisch, sondern allgemeines Charakteristikum des als Abwehr verstandenen Kampfes gegen alle vermeintlichen Christusgegner (Juden und Türken, »Papisten« und »Schwärmer«). Das Beibehalten der Fürbitte sollte den geistlichen Charakter des Kampfes unterstreichen. Die Schrift Von den Juden und ihren Lügen gibt sich als Reaktion auf eine nicht näher bekannte jüdische Gegenschrift zu Wider die Sabbater. Als »Lügen« bekämpfte Luther das jüdische Erwählungsbewusstsein und die Messiashoffnung sowie die antichristliche Polemik, die Jesus als Zauberer und Verführer, Maria als Hure und die Christen als Feinde und abergläubische Edomiter schalt. Für den Nachweis der aktiven Christenfeindschaft nutzte Luther das breite Arsenal der »Beweise«, wie er es neben Nikolaus von Lyra und Paulus von Burgos bei Antonius Margaritha fand. Luther rezipierte nun auch die 1523 noch ausdrücklich als »Narrenwerk« verworfenen Antisemitismen wie die Vorwürfe des Ritualmords und der Brunnenvergiftung. Die Juden wurden als Gefahr für das Seelenheil des einzelnen sowie das wirtschaftliche und gesamtgesellschaftliche Wohlergehen, kurz: als leibhaftige Teufel dargestellt. Ihre Vertreibung erhielt dadurch den Charakter eines politischen Exorzismus. Die Momente des Erschreckens, selbst wie die Juden unter den Zorn Gottes geraten zu können, blieben gegenüber der ex trem polemischen Verwerfungsrhetorik marginal. Luthers praktische Ratschläge an die Obrigkeiten fielen drastisch aus. Die Judenvertreibung wurde, wenn auch als ultima ratio dargestellt, zum Leitbild obrigkeitlicher Judenpolitik. In deren Vorfeld riet Luther zu den berüchtigten Zwangsmaßnahmen der sog. »scharfen Barmherzigkeit«, die weit über die restriktiven Bestimmungen des kanonischen Rechts hinausgingen und zugleich die Wirkungslosigkeit des Instituts der kaiser-
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lichen Kammerknechtschaft der Juden demonstrierten. Darunter fiel das Verbrennen der Synagogen, das Zerstören der Häuser und die Einweisung in Elendsquartiere, die Konfiszierung von Gebetsbüchern und Talmud, ein Lehrverbot für die Rabbiner, die Aufhebung freien Geleits, das Verbot von Geldleihe und Zinsnahme und die Beschlagnahmung aller Wertsachen sowie die Zwangsverpflichtung junger Menschen zur Handarbeit (hier im bäuerlichen Kontext), um den Lebensunterhalt zu verdienen: Die Juden sollten somit ihrer Religionsausübung beraubt, sozial isoliert und zu einer sklavenähnlichen Existenz gezwungen, also gerade jener Rechte beraubt werden, welche die traditionelle kaiserliche »Kammerknechtschaft« den Juden zugestand. Wenigstens einzelne, so Luthers Hoffnung, würden dadurch zur Einsicht in die wahre Ursache ihrer Lage – die Bestreitung der Messianität Jesu – kommen und aus Überzeugung konvertieren. Einzelne Maßnahmen wie die Bekämpfung des »Wuchers« durch Verpflichtung zur (im besten Falle »ehrlichen«) Handarbeit zählten zu den gängigen antijüdischen Agitationsformen, wie sie auch in die Gesetzgebung Eingang fanden (vgl. die Reichs polizeiordnungen seit 1530), andere wie die Synagogenzerstörung waren oft genug die Folge, nicht aber die Voraussetzung einer Judenvertreibung. Luther entzog seine im Übrigen nicht in eine einheitliche Form gebrachten Ratschläge der politischen Rationalität, indem er sie als obrigkeitliche Analogie zum göttlichen Zorngericht rechtfertigte. Zwar forderte Luther den »geordneten« obrigkeitlichen Vollzug dieser Maßnahmen und damit zumindest den Schutz von Leib und Leben. Auch sollten die Prediger nicht gegen die Juden hetzen oder ihnen persönlich Schaden zufügen, sondern kraft ihres Amtes die Obrigkeiten zum Handeln auffordern. Doch war Luthers aggressive Rhetorik geeignet, Pogromstimmungen anzuheizen. Dramatischer hätte die Absage an das mittelalterliche Koexistenzmodell, wie es noch J. Reuchlin, aber auch dem zeitgenössischen Papst Paul III. vor Augen stand, kaum ausfallen können. Gleichwohl bleibt zu bedenken, dass Luther diese Absage als sein persönliches Urteil ansah und daraus keine Bekenntnisfrage machte. Die beiden folgenden antijüdischen Schriften des Jahres 1543 brachten Ergänzungen bei gleichbleibender Zielsetzung. Vom Schem Hamphoras und vom Geschlecht Christi (WA 53; 579–648) beschuldigte im ersten Teil die Juden der kabbalistisch-magischen Zauberei mit dem Tetragramm (Schem HaMephorasch), während der zweite mittelalterlich-jüdische Polemiken gegen den »Zauberer« Jesus und seinen Messianitätsanspruch zurückwies, u. a. durch eine harmonisierende Lesart der Geschlechtsregister in Mt 1 und Lk 3. Charakteristisch für Luthers derben Rigorismus der letzten Lebensjahre war die offensive Aufnahme des sog. Judensau-Motivs. Dieses war als ikonographisches Mittel öffentlicher Entehrung und des Spotts bekannt (vgl. das Relief an der Wittenberger Stadtkirche, später durch eine Inschrift mit Luthers Schrift Vom Schem Hamphoras in Verbindung gebracht). Luther baute es zu einem verbalen Kampfbild erster Ordnung aus und setzte es mit seinen Negativassoziationen, die vom Epikureischen bis zur dämonischen Besessenheit reichten, vielfältig zur Diffamierung jüdischer
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Schriftauslegung und Glaubenspraxis ein. Von hier ging das Motiv auch in die reformatorische Exempel- und Historienliteratur ein. Von den letzten Worten Davids, am Ende der vorangehenden Schrift angekündigt, bot anhand von 2Sam 23,1–7 in offener Selbstkritik ein Beispiel für die Gefahr, die für die Erfassung der christologischen Sinntiefe des Textes durch die Philologie von Rabbinern und »judaisierenden« christlichen Hebraisten drohte. Der harsche Antirabbinismus zeugte von einer gewachsenen Skepsis gegenüber der christlichen Hebraistik und der Zuverlässigkeit des masoretischen Textes in christologisch relevanten Zusammenhängen (Vorwurf der Schriftfälschung). In den Enarrationes in Genesin, der Genesisvorlesung von 1535–1545 (WA 42–44), kam Luther wiederholt auf ähnliche Probleme zu sprechen. Die theologischen Grundanschauungen vom Judentum als dämonischer Konkurrenz in der Schrift auslegung deckten sich mit denen der antijüdischen Spätschriften, ohne dass es zu einer durchgängigen Polemik mit vergleichbarer Radikalität gekommen wäre. Luthers Haltung veränderte sich in seinen späten Jahren nicht mehr. Seine letzte Predigt in Eisleben am 14. Februar 1546, kurz vor seinem Tod, schloss er mit einer Vermahnung wider die Juden (WA 51; 195 f), in welcher er die Alternative Taufe oder Vertreibung propagierte. 15.6. Wirkungsgeschichte
Die Schärfe der späten »Judenschriften« Luthers wurde im Kreis der führenden Reformatoren, insbesondere der Schweizer, überwiegend kritisch gesehen oder abgelehnt, ohne deren theologischen Kern zu bestreiten. Bei den Obrigkeiten fanden Luthers Ratschläge nicht den erhofften Anklang, auch wenn sie immer wieder zur Unterstützung der Vertreibungspolitik herangezogen wurden. Unter den Anhängern Luthers sympathisierten offenbar nicht wenige mit der toleranten Haltung der Schrift von 1523, andere orientierten sich an den Spätschriften. Dass die Frage der praktischen Toleranz nicht entschieden war, dokumentiert nicht zuletzt Justus Jonas. Für ihn blieb die Hoffnung auf eine allgemeine Judenbekehrung die Grundlage der Duldung der Juden in der christlichen Gesellschaft. Gleichwohl übersetzte er Luthers »Von den Juden und ihren Lügen« ins Lateinische, möglicherweise um den gelehrten Diskurs zu befördern. U. Rhegius sprach sich 1539 und 1540 ausdrücklich gegen die Ausweisung und für eine Duldung der Braunschweiger Juden aus. Er stand dabei allerdings im Gegensatz zur lutherischen Geistlichkeit, welche die Tradition judenfeindlicher Politik fortgesetzt wissen wollte. Im Kurfürstentum Sachsen diente die Berufung auf Luther 1543 mit zur Begründung der Erneuerung des strengen Aufenthaltsverbots für Juden, das 1536 ergangen war. In jedem Fall erweiterten die Spätschriften das Begründungsrepertoire antijüdischer Polemik und Politik, dienten darüber hinaus aber auch zur Stärkung des konfessionellen Sonderbewusstseins, einmal in protestantischer Abgrenzung vom angeblich weniger konsequent vorgehenden Papsttum, sodann in römisch-katholischer Entlarvung der Wankelmütigkeit des »Ketzers«
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Luther. Auch trugen die Schriften immer wieder zur Verunsicherung der Juden bei. So ersuchte Josel von Rosheim 1543 den Straßburger Rat, die Verbreitung der Schmähschriften zu unterbinden. Anzeichen für eine breitere Rezeption der späten »Judenschriften« in den letzten Jahrzehnten des Jahrhunderts fehlen nicht. 1570 warb der lutherische Pfarrer G. Nigrinus mit seinem Judenfeind bei den Obrigkeiten für eine judenfeindliche Politik im Sinne der späten »Judenschriften« Luthers. 1577 besorgte N. Selnecker, Vorkämpfer des strengen Luthertums, eine Neuauflage der Schriften Von den Juden und ihren Lügen, Vom Schem Hamphoras und vom Geschlecht Christi und Wider die Sabbater, um den kleinen Rest wahrhaft Gläubiger vor den endzeitlichen Bedrohungen durch die »verfluchten« Juden, Calvinisten und »Schwärmer« zu warnen, und adressierte dabei mit den »Hausvätern« eine breite Leserschaft. 1613 und 1617, nahe an den vorübergehenden Judenvertreibungen aus Frankfurt/M. und Worms im Zuge von Unruhen, wurden die inzwischen weit verbreiteten Spätschriften ein letztes Mal für lange Zeit herausgegeben. Im 17. und 18. Jahrhundert blieb die Rezeption von Luthers »Judenschriften« selektiv und stark von der jeweiligen Interessenlage abhängig. Lutherische Fakultäten sprachen sich im frühen 17. Jahrhundert in Gutachten unter Berufung auf Luthers Schrift von 1523 mit der gebührenden Rücksicht auf ihre Auftraggeber für eine tolerante Haltung gegenüber ansiedlungswilligen Juden aus (so Frankfurt/O. und Jena 1611 im Falle der in Hamburg um ein Bleiberecht nachsuchenden, vor der Inquisition geflohenen portugiesischen Juden). Die lutherische Orthodoxie folgte weithin dem Modell der bedingten Toleranz im weiteren Gefolge der kanonischen Judengesetzgebung, doch meist unter Verstärkung der Restriktionen (J. Gerhard). In den Forderungen orthodoxer Geistlicher nach Zwangspredigten für die Juden, noch von Ph.J. Spener in seiner Frankfurter Zeit unterstützt, lebte die Hoffnung auf deren wenigstens partielle Bekehrung fort. Unter dem Eindruck der Schrecken des Dreißigjährigen Krieges wurden Luthers späte »Judenschriften« als endzeitliche Kampfschriften gegen die Feinde des Glaubens erneut geschätzt, so bei J.K. Dannhauer und der Straßburger Orthodoxie. Im Spenerschen Pietismus kam Luthers Anliegen von 1523 wieder neu zur Geltung. Entsprechend plädierte man im Pietismus Brandenburg-Preußens für einen toleranten Umgang mit den Juden (vgl. die Gutachten der theologischen Fakultät Halle). Auch im radikalen Pietismus berief man sich auf Luthers Schrift von 1523 (G. Arnold). Luthers späte »Judenschriften« fanden selbst in der dezidiert lutherischen Theologie des 18. und 19. Jahrhunderts keinen Anklang mehr. Der protestantisch geprägten Aufklärungsbewegung galt Luther als Überwinder des Mittelalters und Vorkämpfer der neuen Freiheit des Geistes. Namhafte Vertreter des Reformjudentums öffneten sich dieser Sicht (Saul Ascher). Die jüdische Historiographie des 19. Jahrhunderts sah dagegen die Problematik des Wandels von Luthers Position deutlicher (Heinrich Graetz). Offensiv aufgenommen wurden Luthers Spätschriften erst in der antisemitischen Propaganda seit den 1870er Jahren. Die zunehmend völkische Inanspruchnahme Luthers ver-
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stärkte auf jüdischer Seite die Wahrnehmung eines Bruchs zwischen dem frühen und späten Luther. In der Zeit des Nationalsozialismus steigerte sich die Zahl der judenfeindlichen Publikationen, die sich auf Luther beriefen, beträchtlich. 1933 erschien eine gekürzte Volksausgabe Von den Juden und ihren Lügen, 1936 ein vollständiger, sprachlich modernisierter Abdruck. Noch nicht hinreichend geklärt ist die Frage nach den epochenübergreifenden Zusammenhängen zwischen spätmittelalterlich-reformatorischem Antijudaismus und dem damit wie beim späten Luther verwobenen vormodernen (Proto‑) Antisemitismus auf der einen und dem eliminatorisch angelegten Rassenantisemitismus auf der anderen Seite. Auch wenn keine ungebrochene Linie vom einen zum anderen führt, blieb doch ein erhebliches Potential an mentalen Begünstigungen wirksam, welche die Transformation des primär theologisch motiviertem Antijudaismus und des primär auf gesellschaftliche Marginalisierung und Vertreibung gerichteten vormodernen Antisemitismus in die (quasi-)säkularen Gestalten des modernen Antisemitismus möglich machten. Dies näher zu erkunden, zählt mit zu den noch nicht erledigten Aufgaben einer umfassenden Rezeptions- und Interpretationsgeschichte von Luthers »Judenschriften«. Erst nach der Schoa wurde nach und nach eine dialogorientierte, die bleibende Erwählung Israels betonende Neubestimmung des jüdisch-christlichen Verhältnisses in Angriff genommen und in Kirchenordnungen verankert. An ihr war und ist auch das weltweite Luthertum beteiligt. Dies zeigt sich etwa in den (selbst-)kritischen Distanzierungen von Luthers späten »Judenschriften« und dem Bekenntnis zur Mitverantwortung für Judenverfolgung und -vernichtung, aber auch im Bemühen, Luthers Theologie immer neu in der nötigen Differenziertheit wahrzunehmen und die späten »Judenschriften« nicht zum Beurteilungskriterium reformatorischer Theologie schlechthin zu machen. Bering, Dietz: War Luther Antisemit? Das deutsch-jüdische Verhältnis als Tragödie der Nähe, 2014. Kaufmann, Thomas: Luthers Juden, 22015. Ders.: Luthers »Judenschriften«. Ein Beitrag zu ihrer historischen Kontextualisierung, 22013. Kirn, Hans-Martin: Martin Luthers späte Judenschriften – Apokalyptik als Lebenshaltung? Eine theologische Annäherung (in: Korsch, Dietrich/Leppin, Volker [Hg.]: Martin Luther – Biographie und Theologie, 2010, 271–285). Probst, Christopher J.: Demonizing the Jews. Luther and the Protestant Church in Nazi Germany, 2012. Schubert, Anselm: Fremde Sünde. Zur Theologie von Luthers späten Judenschriften (in: Korsch, Dietrich/Leppin, Volker [Hg.]: Martin Luther – Biographie und Theologie, 2010, 251–270). Wallmann, Johannes: The Reception of Luther’s Writings on the Jews from the Reformation to the End of the 19th Century (LuthQ 1, 1987, 72–97). Wendebourg, Dorothea: »Gesegnet sei das Andenken Luthers!« Die Juden und Martin Luther im 19. Jahrhundert (in: ZRGG 65, 2013, 235–251). Dies.: Ein Lehrer, der Unterscheidung verlangt. Martin Luthers Haltung zu den Juden im Zusammenhang seiner Theologie (ThLZ 140, 2015, 1034–1058).
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Wiese, Christian: »Auch uns sei sein Andenken heilig!« Idealisierung, Symbolisierung und Kritik in der jüdischen Lutherdeutung von der Aufklärung bis zur Schoa (in: Schmidt, Peer/ Medick, Hans [Hg.]: Luther zwischen den Kulturen. Zeitgenossenschaft – Weltwirkung, 2004, 215–259; vgl. LBI Year Book 54, 2009, 93–126). Hans-Martin Kirn
16. Luther und die Türken 16.1. Einleitung
»Bapst Leo der zehende ynn seiner Bullen, darynn er mich verbannet, unter andern artickeln verdammet er auch diesen das ich gesagt hatte: Widder den Türcken streiten ist eben so viel als Gott widder streben, der mit solcher ruten unser sünde heimsucht. Aus solchem artickel mügen genomen haben, die von mir sagen das ich weren und widder raten solle, zustreiten widder den Türcken« (WA 30,2; 108,19–24). Diese Zeilen aus Luthers wichtigster Publikation zu den von ihm »Türken« genannten Osmanen, der im April 1529 veröffentlichten Schrift Vom Kriege wider die Türken (WA 30,2; 107–148), verdeutlichen den spezifischen Kontext seiner Ausführungen. Zum einen wurde in der Bannandrohungsbulle Exsurge Domine 1520 der Vorwurf erhoben, Luther habe grundsätzlich davon abgeraten, gegen die Türken zu kämpfen. Dabei seien, so Luthers Replik in der Kriegsschrift, frühere Aussagen von ihm gegen ihre eigentliche Aussageabsicht verfälscht und ihr damaliger Kontext außer Acht gelassen worden (vgl. WA 30,2; 108,24–109,3). Der gegen Luther und seine Anhänger in der Folge kursierende Vorwurf, sie würden einem Krieg gegen die Türken widersprechen, konnte sich überdies auf vereinzelte Stimmen protestantischer Devianten wie Thomas Müntzer oder die Täufer berufen, die in der Tat in den Türken göttliche Werkzeuge zur Vernichtung der christlichen Funktionseliten zu erkennen meinten, deren Zerstörungswerk deshalb zu begrüßen sei. Zum andern riefen die militärisch unbezwingbar erscheinenden Truppen des osmanischen Sultans Süleyman II. (um 1495/1520– 1566) unter Luthers Zeitgenossen massive Befürchtungen vor einem vernichtenden Angriff auf das Reich hervor. Vor diesem Hintergrund gewinnt das Thema der »Türkenfrage« für Luther besondere Brisanz. Mit dem Begriff »Türkenfrage« ist dabei die Existenz einer nachchristlichen, militärisch erfolgreichen und einen religiösen Überbietungsanspruch erhebenden islamischen Religionsgemeinschaft gemeint. Luther und seine Anhänger schienen somit 1529, im Jahr des II. Speyrer Reichstags, bezüglich der »Türkenfrage« zwischen die Fronten zu geraten. Im Hinblick auf diese Situation im April 1529 und nicht erst angesichts der im Oktober desselben Jahres erfolgten Belagerung Wiens durch die Osmanen sind Luthers Aussagen über die Türken demnach zu kontextualisieren.
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Die Rekonstruktion der Auseinandersetzung Luthers mit den Türken, die er u. a. als »Gottes rute und des Teuffels diener« (WA 30,2; 116,16 f) bezeichnet, zeigt, wie außenpolitische Entwicklungen mithilfe biblischer Lektüre, vorwiegend des Danielbuches, und vor dem Hintergrund grundlegender reformatorischer Überzeugungen insbesondere zur Buße und Apokalyptik gedeutet wurden. Dabei wurde ein Türkenbild konstruiert, welches über Generationen hinweg verbindliche Maßstäbe für die lutherische Wahrnehmung des Islams setzte. Die Relevanz des Themas besteht deshalb auch in der nachhaltigen Rezeption der Aussagen Luthers über die Türken – der Terminus »Türke« hatte den vormals verwendeten Begriff der »Sarazenen«, der sich als Sammelbegriff für die Anhänger des Islams im Mittelalter ausgebildet hatte, zunehmend ersetzt. Luthers Kritik an der »türkischen« Religion – das Wort Islam verwendet er wie seine Zeitgenossen nicht – bleibt in theologischer Hinsicht einerseits traditionell, indem er konsequent christozentrisch argumentiert und den Muslimen insbesondere vorwirft, die entscheidende Mittlerrolle Christi mutwillig zu verkennen. Andererseits geht seine Islamkritik über die vorreformatorische Tradition hinaus, indem sie Altgläubige und Osmanen in mehrfacher Hinsicht parallelisiert. Vor diesem Wahrnehmungshorizont stellt Luther den Islam als eine Religion der Werkgerechtigkeit dar, in der vor allem Kriegstaten als Ausweis besonderer Frömmigkeit angesehen würden. Diese Argumentation zeigt, wie Luthers Kritik der altgläubigen Religionspraxis seine Perspektive bezüglich des Islams nachhaltig beeinflusst hat. In einem von Luther behaupteten, vermeintlichen Zusammenspiel von Papsttum und Türken, welches er aufdecken will, lässt sich ein beiden gemeinsames Primärziel, die Zerstörung der wahren Kirche, erkennen. Aufs Ganze gesehen zeigt sich, dass die Beschäftigung mit der »Türkenfrage« insbesondere deshalb für Luther interessant war, weil er damit zugleich seine Kritik am Papsttum verschärfen konnte. Theologische Innovationen lassen sich in diesem Zusammenhang nicht nachweisen. Allerdings hat Luther bei seiner denkerischen Auseinandersetzung mit der »Türkenfrage« und unter Mitarbeit Philipp Melanchthons die Theorie des bikephalen Antichristen seit 1529 weiter entwickelt und alsbald auf Türken und Papsttum bezogen. Indem er dieses Interpretationsmuster zu Grunde legte, schien der apokalyptische Fahrplan eine weitere Bestätigung zu erhalten, denn nunmehr konnten die Osmanen als militärisch mächtiger Handlanger gedeutet werden, der dem päpstlichen Antichristen hilft, sein Zerstörungswerk zu vollenden. Da die militärische Expansion des Osmanischen Reichs in den ersten Jahrzehnten des 16. Jahrhunderts den entscheidenden realpolitischen Rahmen für Luthers Auseinandersetzung mit den Osmanen und ihrem Glauben dargestellt hat, soll diese kurz nachgezeichnet werden (2.). Anschließend wird ein Überblick zu den wichtigsten Aussagen Luthers über die Türken geboten (3.) und abschließend ein kurzes Fazit gezogen (4.).
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16.2. Historischer Kontext
Das Osmanische Reich war zu Luthers Zeit eine mit dem Habsburger Reich konkurrierende Supermacht. Bereits seit der Eroberung Konstantinopels 1453 unter Mehmet II., in deren Folge die »Türkenfurcht« in Europa um sich griff, besaß das christliche Abendland in den Osmanen einen militärisch mächtigen Gegner. Nach der Eroberung von Kairo 1517 nahm das Osmanische Reich überdies innerhalb der islamischen Welt eine Vormachtstellung ein. Auf die Eroberung von Belgrad 1521 folgte 1522 die Okkupation von Rhodos, in deren Folge die osmanische Thalassokratie im östlichen Mittelmeer auf Dauer Bestand erhielt. In der Schlacht von Mohács 1526 eroberte Süleyman II. Ungarn, sodass künftig ein weitgehend osmanisch besetzter Staat im Südosten Europas unmittelbar an habsburgisches Kernland grenzte. Da Habsburg im Namen Ferdinands (1503/1558– 1564) Ansprüche auf Ungarn erhob, entwickelte sich die Auseinandersetzung in Ungarn in den Folgejahren zu einem permanenten Grenzkrieg zwischen Osmanischem und Habsburger Reich. Zu Luthers Lebzeiten gestaltete sich die Auseinandersetzung zwischen dem Osmanischen Reich und Habsburg aufs Ganze gesehen als eine Abfolge osmanischer Offensivaktionen, die insbesondere der Besetzung und Sicherung des Donauraumes und des östlichen Mittelmeers dienten. Die vor den Osmanen aus Ungarn fliehenden und zum Studium nach Wittenberg ziehenden Personen stellten für Luther wichtige Informationsquellen dar. Grundlegende schriftliche Quellen Luthers waren u. a. die islamkundlichen Werke Improbatio Alcorani des Ricoldus de Montecrucis sowie Nikolaus von Kues` Cribratio Alcorani. Die im Herbst 1529 erfolgte Belagerung Wiens, die nach wenigen Wochen wegen schlechter Witterungsverhältnisse abgebrochen werden musste, geriet zum Kulminationspunkt osmanischer Bedrohung im 16. Jahrhundert. Ständige Aus einandersetzungen an der ungarischen Grenze hielten fortan die Erinnerung an die bedrohliche Präsenz der Truppen Süleymans lebendig, wobei solche Grenzverletzungen von den Osmanen nicht als casus belli angesehen wurden, sondern als Teil praktizierter Besatzungspolitik. Unter Aktualisierung der klassischen Flagellum-Dei-Argumentation wurden die Osmanen als Strafe Gottes für die in Sünden gefangene christianitas gedeutet. Diese Interpretation wurde im Zeitalter der Reformation von protestantischer wie altgläubiger Seite vertreten, wobei altgläubige Theologen behaupteten, die Ketzerei Luthers und seiner Anhänger sei die zugrundeliegende Sünde; auf protestantischer Seite verwies man dagegen auf die sittlichen und theologischen Verfehlungen der Altgläubigen und zumal des Papsttums. Luther stand für diese Sichtweise mit seinen Türkenschriften als prominentester, aber beileibe nicht einziger Vertreter. Denn auch Bullinger, Calvin, Jonas, Melanchthon, Zwingli und viele weitere protestantische Autoren haben sich zu den Türken und ihrer Expansion geäußert. Türkenkundliche Schriften und »Türkenlieder« nahmen insgesamt seit den 1520er Jahren signifikant zu, und die Auseinandersetzung mit der
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»Türkenfrage« entwickelte sich zu einem Topos zeitgenössischer Welt- und Geschichtsdeutung. Dafür stehen Luthers Aussagen in exemplarischer Weise. 16.3. Grundzüge
Bei seinen Ausführungen über die Türken greift Luther auf verschiedene theologische Grundüberzeugungen zurück, auf deren Basis er die Bekenner des Islams als Geißel Gottes zur Bestrafung der in Sünde gefallenen christianitas und zugleich als Helfershelfer des Papsttums deutet. In seiner Kriegsschrift erläutert er, es sei zunächst eine innere Buße notwendig, bevor man gegen den äußeren Feind, die Türken, ins Feld ziehen solle. Denn die Machtposition der Türken ist in Luthers Augen nur deshalb gegeben, weil Gott durch sie die Sünden der Christenheit bestrafen will. Insofern sind die Türken »Gottes rute und des Teuffels diener« (WA 30,2; 116,16 f). Sollten innere Buße und Besserung und damit die Durchsetzung zentraler reformatorischer Anliegen gelingen, gilt für Luther: Mehr Reformation – weniger Türken. Dieser Grundgedanke zieht sich durch die umfangreicheren Publikationen Luthers zur »Türkenfrage«, wobei im Folgenden v. a. auf seine zwei Türkenschriften, die Kriegsschrift sowie auf die diese ergänzende und nach der Belagerung Wiens erschienene Heerpredigt wider den Türken (WA 30,2; 160–197), näher einzugehen ist. Obwohl sich Luther bereits vor 1529 mehrfach über die Türken geäußert hat (vgl. z. B. WA 1; 535,35–39), ist eine solche Beschränkung zweckmäßig. Denn beide Schriften bündeln die wesentlichen inhaltlichen Sachgesichtspunkte und Argumentationslinien, die Luther bezüglich der »Türkenfrage« artikuliert hat. Die Bedeutung der Kriegsschrift liegt darin, dass durch ihre Publikation die »Türkenfrage« von Luther im Frühjahr 1529 publizistisch eingeholt und öffentlichkeitswirksam beansprucht wurde. In der Folge sollte die Kriegsschrift für die Zeitgenossen sowie für die nachfolgenden Generationen lutherischer Autoren eine Publikation von besonderer Autorität zum Thema darstellen. Die osmanische Expansion dient Luther in der Kriegsschrift als argumentativer Aufhänger, um die falschen Verhaltensweisen derjenigen christlichen Geistlichen anzuprangern, die ihr Amt nicht in der gebotenen Weise wahrnehmen. Ihr Amtsmissbrauch sowie die allgemeine Sündenverstricktheit der christianitas seien als eigentliche Ursache anzusehen für die militärische Stärke der Türken. Deshalb ruft Luther zur Verhaltensänderung auf: »Denn wo nicht zuvor des Türcken Gott (das ist der Teüffel) geschlagen wird, ist zu besorgen, der Türcke werde nicht so leichtlich zu schlahen sein« (WA 30,2; 116,32–34). Auch die militärische Abwehr werde nur gelingen, wenn die dazu eingesetzte Obrigkeit, hier Karl V. (1500/1530– 1558), ihrerseits ihr Amt erfülle: »Denn der Turcke greifft seine unterthanen und sein Keyserthum an, welcher schuldig ist die seinen zuverteydingen als eine ordenliche Oberkeit von Gott gesetzt« (WA 30,2; 129,18–20). Dabei ist dem Reichsoberhaupt seitens der obrigkeitlichen Funktionseliten Hilfestellung zu leisten, denn die Angriffe der Türken, die er auch als »mörder odder strassen reuber«
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(WA 30,2; 123,23 f) bezeichnet, daran lässt Luther keinen Zweifel, müssen, zur parallel zu leistenden Gewissens- und Verhaltensänderung, abgewehrt werden. In Friedenszeiten, so Luthers wichtige Einschränkung, gebe es keine Berechtigung, die Türken anzugreifen. »Las den Turcken gleuben und leben wie er wil, gleich wie man das Bapstum und ander falsche Christen leben lest. Des Keisers schwerd hat nichts zuschaffen mit dem glauben, Es gehört ynn leibliche, weltliche sachen« (WA 30,2; 131,6–9). Die Forderung nach einem Kreuzzug gegen die Muslime lässt sich aus Luthers Ausführungen jedenfalls nicht ableiten. Die Behauptung der Osmanen, ihr Erfolg im Krieg beweise die Wahrheit islamischer Glaubensvorstellungen, wird von Luther mit Nachdruck bestritten. Die Türken sind Diener des Teufels und erfüllen letztlich einen göttlichen Zweck, indem sie die Christenheit für ihre Sünden bestrafen, wobei sie in ihrer Aggression verblendet seien: Ihr »glück […] ym kriegen widder die Christen […] macht auch die Türcken so stoltz, verstockt und sicher ynn yhrem glauben, das sie gar nicht zweifeln, yhr glaube sey recht und der Christen falsch, als den Gott so viel sieg gibt und die Christen also verlesst, Wissen aber nicht, das hie ym Daniel also zuvor verkündigt ist, das die Christen umb yhrer sunde willen hie auff erden gestrafft und die unschüldigen zu Merterer gemacht werden« (WA 30,2; 170,14– 21). Diese Darstellung der Osmanen erinnert an Luthers frühere Aussagen über die aufständischen Bauern. In diesem Zusammenhang hat Luther zwei »heubtstücke des Türckisschen glaubens« (WA 30,2; 122,22) ausgemacht: Eine auf Mohammed zurückgehende Lehre von den eigenen Werken und eine Missionierung durch das Schwert (vgl. z. B. WA 30,2; 122,11 f. 20–22). Während der zweite Aspekt einen klassischen Topos der vorreformatorischen Islamwahrnehmung tradiert, verbindet die Mohammed nachgesagte Lehre von den eigenen Werken sich mit Luthers Kritik am Papsttum. Luther führt in diesem Zusammenhang aus: »Er [der Türke] ist auch Papistissch, Denn er gleubt durch werck heilig und selig zu sein Und helts fur keine sunde Christum verstören, Oberkeit verwüsten, die ehe vernichten, Welche drey stuck der Bapst auch treibt, doch mit anderley weise, nemlich mit heucheley, wie der Turcke mit gewalt und schwerd« (WA 30,2; 129,1–5). Weitere Elemente dieses Türckisschen glaubens, der »zu samen geflickt aus der Juden, Christen und Heiden glauben« (WA 30,2; 122,29 f) sei, werden unter Abgrenzung vom christlichen benannt. So verleugneten die Türken die Gottessohnschaft Christi, sodass sein Tod für sie kein Erlösungswerk, sondern irrelevant sei (vgl. WA 30,2; 122,5–8. 13–15). Theologiehistorisch werden die Türken als Wiedergänger des Erzketzers Arius charakterisiert. »Turca hodie adhuc est Arrianus, quamvis iactat in suis iuramentis quatuor chronographos, creatorem coeli et terrae, resurrectionem mortuorum, sed suum Mahomet summum prophetam iactat« (WAT 5; 695,21–23). Dabei, so gibt Luther zu bedenken, übten einzelne ihrer Glaubensvorstellungen offenbar eine gewisse Attraktionskraft aus: »Denn es gefelt der vernunfft aus der massen wol das Christus nicht Gott sey, wie die Juden auch gleuben, Und sonderlich das werck, das man herrschen und das schwerd
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furen und ynn der welt oben schweben sol« (WA 30,2; 122,26–28). Die schriftliche Grundlage islamischer Glaubensvorstellungen, den Koran, charakterisiert Luther in diesem Zusammenhang als Ausgeburt überheblicher, menschlicher Vernunftschlüsse, »on Gottes wort und geist« (WA 30,2; 168,17). Auch um die darin enthaltenen Lehrvorstellungen argumentativ zu widerlegen, sollte Luther in späteren Jahren die Drucklegung einer lateinischen Koranübersetzung sehr unterstützen, die 1543 durch Bibliander in Basel realisiert werden sollte. Luther verweist mehrfach darauf, dass einige Elemente der islamischen Glaubenspraxis durchaus zu würdigen seien. Insbesondere in der Heerpredigt lobt er die muslimischen Geistlichen, die ein frommes und sittsames Leben führten, gerade im Gegensatz zu den christlichen (vgl. WA 30,2; 187,1–4). Ihre Gottesdienste verliefen andächtig und seien schön anzusehen, auch wenn sie theologisch irrelevant blieben (vgl. WA 30,2; 187,18–24). Ferner habe die Lebensweise der Türken durchaus ihre Vorzüge, gerade im Vergleich zu so manchen christlichen Zeitgenossen. »Sie trincken nicht wein, sauffen und fressen nicht so, wie wir thun, kleiden sich nicht so leichtfertiglich […] fluchen nicht so« (WA 30,2; 189,27–30). Auch eine gewisse Grundehrlichkeit spricht Luther den Türken zu. »Das man aber sagt, wie die Turcken untereinander trew und freundlich sind und die warheit zu sagen sich vleyssigen, das wil ich gerne gleuben Und halt, das sie noch wol mehr guter feiner tugent an sich haben« (WA 30,2; 127,19–21). Allerdings schränkt Luther sogleich ein, dies sei letztlich nur ein schöner Schein (vgl. WA 30,2; 127,24–27). Im Grunde dienen diese Positivzuschreibungen Luther dazu, Missstände unter seinen eigenen Zeitgenossen anzusprechen. Auch auf den Sultan, der sich in seiner Herrschaftspraxis durchaus positiv von manchem christlichen Fürsten unterscheide, geht Luther mehrfach ein. »[W]ie wol ettlich sein regiment darynn loben, das er yederman lest gleuben was man wil, allein das er weltlich herr sein will« (WA 30,2; 120,29 f). Damit spielt Luther auf zeitgenössische Aussagen an, unter osmanischer Herrschaft würde eine größere Toleranz in Glaubensangelegenheiten gewährt. Luther kritisiert, dass die Abhaltung christlicher Gottesdienste aber nicht gestattet sei. Insbesondere diejenigen Zeitgenossen, die »des Türcken zukunfft und seines regimentes begeren, als die lieber unter dem Türcken denn unter dem Keiser odder fürsten sein wollen« (WA 30,2; 137,21–23), ermahnt er nachdrücklich, indem er zu bedenken gibt, wo man kein Recht habe, Christus zu verkündigen, existiere keine Glaubensfreiheit (vgl. WA 30,2; 120,31–34). Hier zeigt sich deutlich, dass trotz einiger positiver Vorurteilsbildungen für Luther die islamische Auffassung von Christus entscheidend ist, um den Türckisschen glauben zu bewerten. Ausführlich erläutert Luther dieses entscheidende Manko des Islams. So stellten die Türken Mohammed über Christus und verbreiteten ihre Lehren nicht mit Worten, sondern mit Gewalt (vgl. WA 30,2; 122,11 f). Damit spielen sie in gewisser Hinsicht eine Vorbildrolle für den Papst. »[D]as beste am Bapstum ist, das es das Schwerd noch nicht hat wie der Türcke, sonst wurde er sich gewislich auch unterstehen alle welt unter sich zu bringen Und brechte sie doch nirgent hin denn zu seines Alkorans (das ist seiner
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Decretalen) glauben« (WA 30,2; 143,3–7). Aber auch ohne diese militärische Macht komme dem Papst in der gegenwärtigen Auseinandersetzung die Rolle als kongenialer Partner der Türken zu, der im Inneren die Kirche zerstöre, so wie die Türken sie von außen angreifen. »Ich und die meinen halten und leren friede, Der Bapst mit den seinen kriegt, mordet, raubet nicht allein seine widderwertigen, sondern brennet, verdampt und verfolget auch die unschuldigen, frumen, rechtgleubigen, als ein rechter Endechrist. Denn er thut solchs sitzend ym tempel Gottes als ein heubt der kirchen, welchs der Türck nicht thut. Aber wie der Bapst der Endechrist, so ist der Turck der leibhafftige Teuffel. Widder alle beyde gehet unser und der Christenheit gebet« (WA 30,2; 125,27–126,3). Ihre gemeinsame Gegnerschaft gegen die Gemeinschaft der Gläubigen schweiße sie zusammen (vgl. WA 30,2; 144,4–7), sodass Luther angesichts der päpstlichen und türkischen Interessenskoalition den Schluss zieht: »Es ist die grundsuppe da aller grewel und yrthum« (WA 30,2; 129,5 f). Ein von Luther erhoffter, endzeitlich avisierter Sieg über beide darf freilich in der Gegenwart nicht zu einem phlegmatischen Indifferentismus führen. Jeder, betont Luther mehrfach, habe sein Amt, in das er von Gott eingesetzt wurde, sachgerecht wahrzunehmen, um auf seine Weise zur Abwehr der Türken beizutragen (vgl. z. B. WA 30,2; 131,18–31). Insofern inhäriert Luthers Auseinandersetzung mit der »Türkenfrage« eine gesellschaftsstabilisierende Komponente. Seine eigene Aufgabe als Theologe war dabei die ausführliche Informationsversorgung der Zeitgenossen bezüglich der Türken und ihres päpstlichen Partners. 16.4. Fazit
Luthers Deutung der Osmanen vor dem Hintergrund seiner reformatorischen Grundüberzeugungen illustriert, wie außenpolitische Entwicklungen von ihm interpretiert und geschichtstheologisch aufgeladen wurden. Insbesondere die Doppelperspektive Türken-Papsttum avancierte in der Folge zu einem wirkmächtigen Interpretationsmuster der protestantischen Wahrnehmung des Islams. Auf Luthers Spuren wandelnd, nutzte man noch lange über das 16. Jahrhundert hinaus die »Türkenfrage« als Diskursmittel, um Türken, Altgläubige und später auch Reformierte als gemeinsame Gegnerfront darzustellen und sich von diesen öffentlichkeitswirksam abzugrenzen. Nicht zuletzt in dieser polemischen Ausdrucksmöglichkeit lag die Attraktionskraft einer Beschäftigung mit der »Türkenfrage« für nachfolgende Generationen lutherischer Theologen, die freilich noch einer intensiven Erforschung harrt. Luthers Auseinandersetzung mit der »Türkenfrage« kann als Teil einer protestantischen Identitätsbildungsstrategie sachgerecht verstanden werden. Indem die Türken als Partner des Papsttums dargestellt werden, die überdies hinsichtlich ihrer Glaubensvorstellungen wesentliche Parallelen zu diesem aufweisen, sollen die Protestanten von beiden umso deutlicher abgegrenzt werden. Bezieht man die Publikationskontexte der beiden Türkenschriften Luthers wie den II. Speyrer
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Reichstag, die Belagerung Wiens und den Augsburger Reichstag von 1530 mit ein und beachtet, dass die Bezeichnung der Anhänger Luthers als »Lutherische« im selben Zeitraum zu einer Selbstbezeichnung der Protestanten avancierte (vgl. Beutel 2013), zeigt sich, dass eine weitere Abgrenzung von den Altgläubigen auch mithilfe der »Türkenfrage« von Luther geführt worden ist. Dabei erschien es für Protestanten argumentativ attraktiv, die Altgläubigen als eigentliche Häretiker darstellen zu können. Denn indem Luther den Islam als eine Religion beschreibt, welche anscheinend die Werkgerechtigkeit propagiert und auf militärische Missionierung setzt und sie zugleich als Häresie kennzeichnet, unterstützt er die Annahme, aufgrund der Ähnlichkeit muslimischer und altgläubiger Religionspraxis seien beide als häretisch anzusehen. Auf diese Weise sollten primär die Altgläubigen weiter in einen Bereich außerhalb des Akzeptablen gedrängt werden. Der in diesem Argumentationszusammenhang dem Islam nachgesagte synkretistische Grundbestand seiner Glaubensvorstellungen sollte überdies verdeutlichen, dass dessen theologische Attraktivität aus seiner Nähe zum Christentum erwuchs. Insofern bot es sich argumentationsstrategisch in mehrfacher Hinsicht an, den Islam als eine – arianische – Häresie darzustellen. Am deutlichsten illustriert Luthers konsequent christologische Kritik, dass er den Islam nicht als einen theologischen Gesprächspartner in den Blick genommen hat. Vor diesem Wahrnehmungshintergrund besitzen auch die von Luther benannten Positivzuschreibungen bezüglich der Türken wenig Wert, da es ihnen an theologischer und zumal christologischer Substanz mangelt. Ohne ein Bekenntnis zu Christus seien selbst die Vorzüge ihres Lebenswandels wie beispielsweise Alkoholabstinenz ein Muster ohne Wert: »Es ist ia beser ynn Christo messig wein trincken und frölich sein, Denn ausser Christo solch trefflich saur ding für geben« (WA 30,2; 190,23 f). Beutel, Albrecht: »Wir Lutherischen«. Zur Ausbildung eines konfessionellen Identitätsbewusstseins bei Martin Luther (ZThK 110, 2013, 158–186). Ehmann, Johannes: Luther, Türken und Islam. Eine Untersuchung zum Türken- und Islambild Martin Luthers (1515–1546) (QFRG 80), 2008. Hagemann, Ludwig: Christentum contra Islam. Eine Geschichte gescheiterter Beziehungen, 1999. Kaufmann, Thomas: »Türckenbüchlein«. Zur christlichen Wahrnehmung »türkischer Reli gion« in Spätmittelalter und Reformation (FKDG 97), 2008. Raeder, Siegfried: Luther und die Türken (in: Beutel, Albrecht [Hg.]: Luther Handbuch, 2 2010, 224–231). Segesvary, Victor: L’Islam et la réforme. Étude sur l’attitude des réformateurs zurichois envers l’Islam (1510–1550), 1978. Malte van Spankeren
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IV. Prägungen 1. Bildung Der sachlich enge Zusammenhang von Theologie und Pädagogik ist in der Forschung unumstritten. Dennoch wurde die Relation beider Bereiche zueinander in der Reformationsgeschichtsforschung bisher selten thematisiert. Zahlreiche Bücher zur Pädagogik der Reformatoren und zum bildungspolitischen Impetus der Reformation sind bereits geschrieben worden. Mehrfach wurden die Schriften Luthers unter pädagogischem Aspekt zusammengestellt (vgl. Beck 1883; Keferstein 1888; Endermann 2006). Freilich blieben zahlreiche Arbeiten auf systematische Themen beschränkt und bevorzugten aktuelle Fragestellungen (vgl. Hammerstein 1996; Asheim 1961, Kaufmann 1954). Damit wird man dem zeitbedingten Anliegen der Reformatoren nicht gerecht (vgl. Bruce 1928, Denef 1991, Edwards 1991, Reimers 1958, Reist 1994, Schwab 1983, Schwarz 1990, Seebass 1992, Tokuzen, 1983, Harran 1985, Harran 1997). Neuere historische Arbeiten hingegen wandten verstärkt sozialgeschichtliche und quantitative Untersuchungsmethoden an und legten so den Akzent stärker auf Fragestellungen, die das eigentlich theologische Anliegen der Reformatoren zu verdrängen drohen (vgl. Strauss 1978, Strauss 1988, Karant-Nunn 1990, Kittelson 1982). In diesen Arbeiten werden die geistesgeschichtliche Herkunft sowie die konkrete religionspolitische Auseinandersetzung weitgehend ausgeblendet. Das theologische Anliegen der Reformatoren im Allgemeinen und Martin Luthers im Besonderen im Kontext ihrer Äußerungen zur Bildungsreform ist nach wie vor ein Desiderat. Von diesem Ansatz herkommend eröffnen sich Wege zur Interpretation konkreter Einzelforderungen der Wittenberger. Zugleich kann stärker als in bisherigen Arbeiten das Herkommen Luthers aus den unterschiedlichen Traditionen der mittelalterlichen Bildungskultur berücksichtigt werden (vgl. Wriedt 1996). Luthers theologisch begründete in der Regel höchst praxisorientierte Reformanliegen verweigern sich wegen ihres stark situativen und kontextbezogenen Ansatzes einer systematischen Zusammenfassung. Aufgrund aktueller Herausforderungen hat er sein bildungsreformerisches Konzept in zwar in zwei programmatischen Schriften zusammengefasst. Gleichwohl müssen die systematischen Grundaussagen aus diesen Schriften her rekonstruiert und auf die jeweiligen Kontexte bezogen werden. Unter dem Eindruck des verfallenden Schulwesens in Wittenberg und zahlreicher bildungskritischer und zuweilen -feindlicher Aussagen unterschiedlicher Gruppen wandte sich Luther im Januar/Februar 1524 An die Ratherren aller Städte deutsches Lands, daß sie christliche Schulen aufrichten und halten sollen (WA 15; 27–53). Luthers Schrift wurde zunächst in deutscher Sprache von Lucas Cranach d. Ä. in Wittenberg gedruckt und fand dann rasch Verbreitung in zahlreichen
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Nachdrucken sowie einigen Übersetzungen (WA 15; 15–21; Albrecht 1897, Benzing 1966 VD 16 L 3785 – L 3800). Im Hintergrund der Schrift Luthers steht der eigentümliche Niedergang des Bildungswesens im ganzen Reich zu Beginn der zwanziger Jahre (vgl. Asche 2001). Das gilt auch für Wittenberg. Freilich lassen sich weitere einflussreiche Faktoren benennen: Nach dem reformatorisch-humanistischen Aufbruch, in dessen Zusammenhang auch die Universitätsreform von 1518 stand (vgl. Bauer 1928; Kruse 2002, Wriedt 2005), gingen Schüler- und Studentenzahlen deutlich zurück. Hinzu kamen radikalreformerische und spiritualistische Gruppen sowie ihnen nahestehende evangelische Prediger, mit denen sich eher bildungskritische Tendenzen durchsetzten (Förstemann/Hartwig/Gerhard, Leipzig 1841, Naetebus/Gerhard 1905, Eulenburg 1904; Frijhoff 1979, Frijhoff 1986, Paulsen 1919, Friedensburg 1917; Scheible 1978). Ihre Predigt stieß parallel zur humanistischen Kritik am scholastischen Bildungswesen und wegen eines weitverbreiteten utilitaristischen Zugs des Zeitgeistes auf fruchtbare Resonanz. In seiner Reaktion auf die zahlreichen, höchst unterschiedlichen Angriffe gegen seine reformatorischen Überlegungen wie gegen seine Person begründet Luther seine Vorschläge zur Schul- und Universitätsreform theologisch: Zunächst beruft er sich auf das Gebot Gottes (WA 15; 32,15–26), dem die mit der Bildungsaufgabe betrauten, von Gott eingesetzten weltlichen Obrigkeiten Folge zu leisten haben. Kirche und zu einem nicht geringen Teil auch Eltern haben diesen Auftrag nicht erfüllt. Luther korrigiert damit stillschweigend eine frühere Aussage, nach der die Hauptaufgabe der Erziehung von den Elternhäusern geleistet werden muss (WA 2; 169,38–170,34, 6, 252,28–32; Strauss, 108–131 und Fraas 1989). Wenn Luther an anderer Stelle die Pflichten des Hausvaters mit denen eines Bischofs vergleicht (WA 30,1; 58,8 f; 23 f; WA 27; 444,20), bietet sich hier erneut die Möglichkeit einer harschen Kritik am Versagen der kirchlichen Amtsträger, insbesondere als Vorbilder. Einen weiteren Grund für die Übertragung der elterlichen Erziehungs- und Bildungspflicht kann man in dessen Ablehnung des freien Willens erkennen (vgl. Nipkow 1982, 240). Inwieweit schließlich die Inanspruchnahme der weltlichen Obrigkeit für die Erziehung analog zu Luthers Verständnis des Notbischofs (WA 53; 255,6–8; 256,1–3) verstanden werden kann, wäre in einer eigenen Untersuchung zu klären (vgl. Brecht/Holl 1932, 326–380, Krummwiede 1967). Sodann sind auch die Bildungsinhalte theologisch begründet: Alle Wissenschaft, in erster Linie die Philologie und die Grammatik, dient dem einen Ziel, der Auslegung der heiligen Schrift im Blick auf die Orientierung aller Lebensvollzüge nach dem Willen und Gebot Gottes. Darum sind zahlreiche Reformvorschläge, insbesondere die Neugestaltung der akademischen curricula, aufgrund der reformatorischen Einsichten mit theologischer Akzentsetzung formuliert. Die Pläne zur Abschaffung oder zumindest zeitweisen Verdrängung der aristotelischen Philosophie haben ebenso wie die Intensivierung der exegetischen Fächer und das Studium der altkirchlichen Autoritäten sowie der Kirchengeschichte ih-
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ren Grund in der reformatorischen Gnaden- und Rechtfertigungslehre und deren prinzipieller Bedeutung für Theologie und Frömmigkeit. Luther sieht im Licht des Wortes Gottes den Streit um die Notwendigkeit der Schulbildung als Folge des tiefen Gegensatzes von Fleisch und Geist (WA 15; 29,5–7). Die paulinische Terminologie von Fleisch und Geist, derer Luther sich hier bedient, macht die Dimension der Auseinandersetzung deutlich: Solche Menschen, die ihren Kindern die notwendige Ausbildung versagen, werden zum Werkzeug des Satans. Für Luther ist die rechte Bildung schlechterdings der Schlüssel zum Erhalt und zur Fortentwicklung des gesamten Gemeinwesens. Zugleich betont er auch die Gunst der Stunde. Ein »gülden jar« der Bildung für Deutschland ist angebrochen, das nicht ungenutzt verstreichen darf (WA 15; 31,8 f., 18 f). Der weitere Verlauf der Schrift zeigt, dass hier das zentrale Anliegen des Reformators und seiner Aufforderung zur Bildungsreform liegt. Allerdings ist das »goldene Jahr« für Deutschland nicht erst durch die verbesserte Ausbildung an Schulen und Universitäten angebrochen, sondern vielmehr durch die wieder möglich gewordene, sachgemäße Verkündigung des Evangeliums (WA 15; 32,1 f). Die Nachlässigkeit in Erziehungsfragen ist freilich nicht allein ein Verstoß gegen natürliches Recht, sondern auch gegen die göttliche Ordnung; und als Sünde darum so gefährlich, weil sie als solche nicht erkannt und geahndet wird. Damit stellt sich die Frage nach der Verantwortung des Menschen angesichts seiner prinzipiellen Sündhaftigkeit und Unfähigkeit, dem Gebot Gottes Gehorsam zu leisten. Auch das pädagogische Handeln des Menschen steht für Luther in der Spannung des simul iustus et peccator. Das bildende Wirken des Menschen verdankt sich allein der gnädigen Zuwendung Gottes und steht unter der Verheißung gelingenden Gehorsams aus der Gnadenzusage Gottes. Scharf trennt Luther darum zwischen den beiden Reichen, dem der Welt und dem Gottes. Es ist des Menschen Pflicht und Aufgabe, die nötigen Maßnahmen für die Regelung seiner weltlichen Dinge verantwortlich zu ergreifen und zu koordinieren. Ihr Gelingen steht jedoch allein unter dem Vorbehalt der gnädigen Zuwendung Gottes. Sie manifestiert sich in der von Luther fraglos akzeptierten mittelalterlichen Gesellschaftsordnung. Darum ist es für Luther schlechterdings undenkbar, dass ein Gemeinwesen ohne obrigkeitliche Lenkung gedeihen kann (WA 15; 35,26–28). Zugleich nimmt Luther aber diesen Ansatz zum Anlass einer scharfen Kritik an jenen Obrigkeiten, die ihr Amt für eigene Zwecke missbrauchen und das Eigeninteresse über die Sorge für das Gemeinwohl stellen (WA 15, 35,30–36,2). So sehr der Wittenberger Theologe also einerseits einer konservativen Ethik des Politischen im Sinne eines obrigkeitlich gelenkten Staatswesens und der strengen Loyalität der Untertanen gegenüber der von Gott verordneten Herrschaft das Wort redet, so sehr nimmt er andererseits für sich als Theologe das Recht zu scharfer Kritik und damit letztlich auch eine Kontrollfunktion in Anspruch. Umso mehr bedarf es einer geregelten Erziehung und Ausbildung des geeigneten Nachwuchses für die verantwortliche Übernahme der verschiedenen obrigkeitli-
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chen Funktionen und Ämter. In der Folge entwickelt sich aus dieser programmatischen Initiative ein erheblicher Professionalisierungsschub mit Blick auf die Heranbildung eines gelehrten Standes der Theologen (vgl. Nieden 2006; Dixon, Schorn-Schütte 2003, Schorn-Schütte 2010; Schorn-Schütte 2012). Hier dürfte unter anderem der Schlüssel für das persönliche Engagement des Reformators liegen. Insofern die von Gott eingesetzte Obrigkeit als sein Werkzeug wirkt, wird die Erziehungs- und Bildungspflicht nicht aus dem theologischkirchlichen Zusammenhang entlassen. Zugleich begrenzt diese Bindung den weltlichen Bildungsauftrag. Faktisch wird einerseits der Lehrende von der Selbst überforderung befreit und der Schüler andererseits von der pädagogischen Besetzung seiner Seele durch den Erzieher. An ihr zu handeln, den Glauben und die biblische Sicht der Realität zu vermitteln, bleibt Gott vorbehalten (vgl. Nipkow 1982, 241). Erziehung zielt im Allgemeinen auf die moralisch-ethische Einbindung des Heranwachsenden in den bestehenden gesellschaftlich-politischen Verband und als christliche Unterweisung im Besonderen auf die Kenntnis des Wortes Gottes. Die führt den Glauben nicht herbei, sondern bereitet Gottes Handeln den Weg (vgl. Asheim 1961, 263 f.). Zum Schluss seiner Schrift wendet sich Luther den Konkretionen seiner Pläne zu. So plädiert er etwa für eine Schulform, die der Entwicklung der Kinder angemessen ist und ihnen genügend Zeit für ihre persönliche Entwicklung lässt (WA 15; 46,1–6.15–18; WA 19; 73,17–25; Sander-Gaiser 1996). Diese Schulform soll ein Basisniveau von Bildung vermitteln, die allen Kindern – Jungen wie Mädchen – mit Blick auf ihre Umgebung bei der Wahrnehmung ihrer Dienstpflichten behilflich ist. Darüber hinaus sollen Begabte besonders gefördert werden (WA 15; 47,13–16). Luther nimmt hier einen zeitgenössischen Trend auf, der allerdings durch die evangelischen Reformen noch verstärkt wird (vgl. Asche 2013). In seiner ersten, programmatischen Bildungsschrift vollzieht Luther eine Abgrenzung nach mehreren Seiten: a) Die alte Schule scholastischer Prägung lehnt Luther aus vielerlei Gründen ab, wobei das entscheidende theologische Argument, die Verkehrung des Evangeliums, von ihm nur in Verbindung mit anderen Vorwürfen, vor allem falscher Exegese oder mangelnder Sachkenntnis, genannt wird. Häufiger und ausdrücklich kritisiert er das ineffektive, aufgeblähte und vielfach unsinnige Unterrichtswesen (WA 15; 31,14–20. 46,26 f. 50,25–51,10). Auch wenn diese Kritik quantitativ überwiegt, zielt das Hauptgewicht der Argumentation Luthers gegen b) die zeitgenössische Bildungskritik spiritualistischer Gruppen einerseits und utilitaristischer Strömungen andererseits. Bei seinen spiritualistischen Gegnern sieht Luther in erster Linie die Gefahr einer willkürlichen, keinerlei überprüfbaren Norm oder Autorität unterworfenen Schriftauslegung (WA 15; 37,3–8. 46,22 f. 47,9–12). In diesem Zusammenhang dienen auch die von Luther sonst so geschätzten altkirchlichen Autoritäten als negatives Beispiel einer zwar geistlichen, dennoch aber irreführenden Schriftauslegung (vgl. Wriedt 2015). Die utilitaristische Bildungsfeindlichkeit bürgerlicher Gruppen ist für Luther demge-
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genüber das charakteristische Beispiel einer allein auf »den bauch« (WA 15; 28,18) gerichteten, pragmatischen Lebensorientierung. Sie verfehlt den göttlichen Schöpfungsauftrag. Insbesondere wendet sich Luther gegen die Verkürzung des Bildungsideals auf lebenspraktische Fragen und die Ablehnung weiterführender Kenntnisse (WA 15; 36,6–20). Auch wenn Luther sich nicht ausdrücklich damit auseinandersetzt, vollzieht er in seiner Schrift eine Abgrenzung von c) bestimmten Reformansätzen und Bildungsvorstellungen aus dem Kreise der Humanisten. Luthers Kritik wird stets dort erkennbar, wo das Ziel der Bildung definiert wird. So übernimmt Luther gerade nicht das weitverbreitete, u. a. in der Terminologie von »bilden« und »Bildung« manifeste, humanistische, insbesondere von Erasmus und seinen Anhängern vertretene Erziehungskonzept der Freilegung der urständlichen imago Dei des Menschen. Das widerspricht seiner Anthropologie sowie den Grundüberzeugungen seines Verständnisses von Sünde, Gnade und Rechtfertigung. Erziehung und Ausbildung, d. h. vor allem die Kenntnis der klassischen Sprachen und Texte, dient für Luther ausschließlich der Erfüllung des von Gott mit der Elternschaft oder der Übertragung obrigkeitlicher Funktionen gegebenen Standes innerhalb der Schöpfung und der damit verbundenen Lebensaufgaben. Das hindert ihn freilich nicht, sinnvolle und nützliche Elemente der jeweiligen Bildungsansätze, insbesondere der Pädagogik einzelner humanistischer Denker, zu übernehmen. Dazu zählen die Forderung des Sprachenstudiums und der Vorordnung der Rhetorik vor die Logik im Kontext des scholastisch geprägten Triviums (vgl. Junghans 1998 b), die Erweiterung des artistischen Studiums – der septem artes liberales – um die Geschichte (vgl. Wriedt 1996 a) sowie der didaktische Hinweis auf das spielerische Lernen einerseits und die Methode der Nachahmung (imitatio) andererseits. Das Versagen der Eltern im Blick auf eine christliche Erziehung treibt Luther weiter um (WA 30,2; 60–63). Die erzwungene Ruhe auf der Coburg während des Augsburger Reichstages nutzte er, um den offenbar schon länger gehegten Plan einer programmatischen Schrift zur Erziehung in die Tat umzusetzen. Die Veit Dietrich gewidmete, im August 1530 über Philipp Melanchthon und Lazarus Spengler versandte Predigt, daß man Kinder zur Schulen halten solle (WA 30,2; 517–588), ist eine lockere Zusammenstellung von Stellungnahmen zu den Luther bedrängenden Fragen der schulischen Erziehung nach Maßgabe des Evangeliums, wie er sie schon mehrfach – u. a. in zahlreichen Predigten zum Ausdruck gebracht hatte – und wiederholt weitestgehend die oben genannten Argumente. Aufgrund aktueller Entwicklungen verschiebt sich der Akzent freilich im Ausbildungsziel ein wenig zugunsten der kirchlichen Ausbildung. Nach den kursächsischen Kirchen- und Schulvisitationen 1526/27 und in Folge des auf dem Augsburger Reichstag behaltenen status quo in der Religionsfrage wurde der Ruf nach ausreichend ausgebildeten, evangelischen Predigern und Lehrern stärker. Das Genre einer Predigt bzw. einer ihrer Vorbereitung dienenden Vorlage ruft Luther zum Widerstand gegen den Satan auf, vor dessen Ränken zu warnen zur Pflicht eines jeden Seelsorgers und Predigers gehört. Die weitverbreitete Bildungsunwil-
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ligkeit bis hin zur -feindlichkeit ist als Verführung des Teufels zu entlarven (WA 30,2; 525 f). Sie führt zum Niedergang des Gemeinwesens und der Kirche. Luther spricht in dieser Stellungnahme vermehrt die reformatorischen Pfarrer als Vermittler der evangelischen Wahrheit an, die in dieser Funktion gleichermaßen für Kirche und Gemeinwesen Verantwortung tragen. Darin dokumentiert sich die ekklesiologische Wurzel des reformatorischen Bildungsreformanliegens, die durchaus auch auf altkirchliche und mittelalterliche Vorbilder zurückgeführt werden kann. Trotz dieser Akzentverschiebung bleibt Luthers Anliegen einer umfassenden Bildung zugunsten der säkularen Verwaltung und Entwicklung des Gemeinwesens, der Gesellschaft und der politischen Einheiten erhalten. Hierbei betont er ebenfalls stärker als in der ersten Schrift die individuellen Aspekte der Ausbildung und ihres Nutzens für die Gesellschaft. Die Erziehung zur Befähigung zur Übernahme eines Amtes ist ein »gottgefälliges Werk« und steht damit nach Luther im Gesamtzusammenhang des Gehorsams gegen Gott und sein Gebot. Zusammenfassend lässt sich sagen: Das pädagogische Handeln des Menschen steht nach Luther in der Spannung des simul iustus et peccator, also von Sünde und Vergebung, von Rechtfertigungsverheißung (Evangelium) und weiterhin gültigem Gebot Gottes (Gesetz). Diese theologische Begründung entfaltet Luther in einer Zahl von Einzelforderungen, die sich höchst unterschiedlichen Kontexten und mannigfaltiger Kritik verdanken. In ihnen sieht er freilich nicht allein die tagesaktuelle Kontroverse, sondern die prinzipielle Infragestellung einer evangeliumsgemäßen Umsetzung des Willens Gottes. Die theologische Begründung der Bildung ist für Luther wesentlich von ihrem Nutzen für den einzelnen Glaubenden, sowie dessen Berufsausübung in der christlichen Kirche und dem politischen Gemeinwesen bestimmt; – hat also einen denkerischen Hintergrund, der von der Gefahr des Utilitarismus nicht ganz frei ist. Gemeinsam mit anderen Wittenberger Reformatoren instrumentalisiert Luther die Wissenschaft und formuliert das Erziehungsziel pragmatisch. Jegliche Bildung und damit auch alle Ansätze zu ihrer Reform stehen in Funktion zum Nutzen und damit zum praktischen Ziel der Reformation. Damit unterscheidet sich der Ansatz der Wittenberger Bildungsreform im Blick auf die Inhalte von spätmittelalterlichen, ›scholastischen‹ Reformvorschlägen einerseits und andererseits in seinen Grundlagen von der humanistischen Bildungsreform, da sie weder die Idealgestalt einer zweckfreien Bildung noch das theologisch-anthropologische Modell der Erziehung als Herausbildung der durch den Sündenfall verderbten, urständlichen imago Dei übernimmt. Zugleich entfalten die Bildungsreformgedanken Luthers in ethischer Perspektive seine evangelischen Grundüberzeugungen und tragen damit entscheidend zum Proprium der Wittenberger Reformation und ihrer Wirkungen über Kursachsen hinaus bei (vgl. Wriedt 2015). Asheim, Ivar: Glaube und Erziehung bei Luther. Ein Beitrag zur Geschichte des Verhältnisses von Theologie und Pädagogik (PF 17), 1961.
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B. Person
Harran, Marilyn J. (Hg.): Martin Luther: Learning for Life, 1997. Karant-Nunn, Susan: The Reality of Early Lutheran Education. The Electoral District of Saxony: A Case Study (LuJ 57, 1990, 128–148). Schwarz, Reinhard: Luther als Erzieher des Volkes. Die Institutionalisierung der Verkündigung (LuJ 57, 1990, 114–127). Strauss, Gerald: Luther’s House of Learning. Indoctrination of the Young in the German Reformation, 1978. Wriedt, Markus: »Dass man Kinder zur Schule halten soll«. Reformatorische Impulse zum kirchlichen und staatlichen Bildungswesen (in: Ebernburg-Hefte 48, 2014, 11–35; zugleich Blätter für Pfälzische Kirchengeschichte und religiöse Volkskunde, 2014, 251–274). Ders.: Humanistische Reform – evangelische Reformation. Melanchthons Beiträge zu den Reformen der Wittenberger Universität zwischen 1518 und 1536 und deren theologische Begründung (in: Asche, Heiner/Lück, Heiner u. a. [Hg.]: Die Leucorea zur Zeit des späten Melanchthon. Institutionen und Formen gelehrter Bildung um 1550 [LStRLO 26], 2015, 117–148). Markus Wriedt
2. Musik Luther hat die Musik immer geliebt (WAT 5; 557,18–21: »Musicam semper amavi«), sie hochgeschätzt, als optima ars (WAT 2; 434,8–11) und optima scientia (WAT 2; 518,6–14) gerühmt, als »maximum, immo divinum […] donum« (WAT 1; 490,1 f), »donum […] diuinum et excellentissimum« (WA 50; 368,4 f) bezeichnet, das man nicht genug und doch nicht hinreichend loben könne und das der heilige Geist selbst ehre (aaO 371,9), und sie nach der Theologie über alle anderen Künste und Wissenschaften erhoben: »Proximum locum do Musicae post Theologiam« (WA 30,2; 696,12. Vgl. WAT 1; 490 f. WAT 3; 636,3–7. WAT 6; 348,17–26), ja, er bekennt, »post theologiam esse nullam artem, quae musicae possit aequari« (WAB 5; 639,12 f). Eine zusammenfassende Darstellung Luthers über die Musik haben wir nicht; zahlreiche Aussagen zur Musik in Schriften und in den Tischreden lassen aber die Grundzüge seiner Musikanschauung deutlich erkennen. Luthers Verhältnis zur Musik und seine Musikanschauung gehören freilich, entgegen den Ansichten der älteren Forschung, weder in den privaten und häuslichen Bereich, noch sind sie enthusiastische Äußerungen eines musikalischen Dilettanten. Luther äußert sich über die Musik im Zusammenhang von Gott, Mensch und aller Kreatur, von Theologie und Kirche, und er nimmt sie als Kunst, als ars und scientia, wahr, die bestimmten Regeln folgt, eine Geschichte hat und Wirkungen auf den Menschen hervorbringt. Die Musik ist nach Luthers Anschauung eine gute Schöpfung Gottes und allen Kreaturen eingegeben (»Primum, si rem ipsam spectes, inuenies Musicam esse ab initio mundi inditam seu concreatam creaturis vniuersis, singulis et omnibus«: WA 50; 368,10–369,2), sie gehört damit in den Bereich dessen, was Luther in der Auslegung des Ersten Artikels im Kleine[n] Katechismus bekennt: »Ich gleube,
IV. Prägungen – 2. Musik
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das mich Gott geschaffen hat sampt allen Creaturn« (WA 30,1; 363,2). Luthers Hochschätzung der Musik beruht auf dieser Wertschätzung des Kreatürlichen und auf der Erkenntnis, dass allein der Mensch mit der göttlichen Gabe der Sprach- und Singfähigkeit begabt ist und so das gesungene Wort in besonderer Weise geeignet ist, Gott zu loben und die Mitmenschen zu erfreuen, damit wir »durch sein heiliges wort, mit süssem Gesang jns Hertz getrieben, gebessert und gesterckt werden im glauben« (WA 35; 480,7–9). Und so ist es folgerichtig, wenn er die Schöpfung Musik in ein besonderes Verhältnis zu ihrem Schöpfer rückt: »Deinde assuescas in hac creatura Creatorem agnoscere et laudare« (Du sollst dich daran gewöhnen, in dieser Schöpfung den Schöpfer zu erkennen und zu loben) (WA 50; 373,10 f). Dieser Gott, der sich durch sein Wort hören lässt, hat auch durch die Musik sein Wort ergehen lassen: »Sic Deus praedicavit euangelium etiam per musicam« (WAT 2; 11,24–12,2). Luther erklärt deshalb auch: »ich wollt alle künste, sonderlich die Musica gerne sehen ym dienst des, der sie geben und geschaffen hat« (WA 35; 475,4 f). Die musica zählte zu den septem artes liberales, den sieben freien Künsten. Innerhalb derselben ist sie dem Quadrivium zugeordnet, in dem sie neben Arithmetik, Geometrie und Astronomie ihren Platz hat. Gerade um 1500 aber findet ein Wandel in der Musikanschauung statt: Die musica wird nicht mehr wie bisher als ars im Sinne von scientia verstanden, sondern als ars musica im Sinne der musica practica, ihr quadrivialer Charakter tritt hinter dem trivialen zurück, die Musik rückt näher an Grammatik und Rhetorik heran. Dieser Wandel zeigt sich auch in den bildlichen Darstellungen der sieben freien Künste: So wird die Musik etwa von Hans Sebald Beham um 1535 nicht mehr mit einem Monochord dargestellt, sondern als weibliche Gestalt an einem Portativ mit Labialpfeifen und mit einer Viola zu ihren Füßen. Dieser Wandel in der Auffassung der Musik zeigt sich auch an den zeitgenössischen Traktaten. Gerade Wittenberg hatte in dem ehemaligen Thomaskantor, Komponisten und Musikverleger Georg Rhaw einen der bedeutendsten Musiker der Reformationszeit, der schon 1517 sein Enchiridion utriusque musicae practicae veröffentlicht hatte. Neben ihm wirkte vor allem Nicolaus Listenius durch seine Musiktraktate (Rudimenta Musicae, 1533; Neuausgabe 1537 unter dem Titel Musica), in denen die Musik in musica theoretica, practica und poetica eingeteilt wird. Listenius’ Werke, die bis zum Ende des 16. Jahrhunderts mehr als 40 Auflagen erlebten, wurden in vielen Städten zur verbindlichen Grundlage des Musikunterrichts. Innerhalb der Ausbildung in den sieben freien Künsten hat Luther als Schüler Elementarunterricht auch in der musica gehabt; über Einzelheiten haben wir indes keine Quellen. Daneben wird er am Chordienst teilgenommen und so das kirchliche Repertoire für die Gottesdienste kennengelernt haben. In seinen Vorlesungen und auch in den Tischreden erwähnt er Gesänge zu den kirchlichen Hochfesten, die er von Jugend auf kannte; besonders liebte er das Lied Ein Kindelein so löbelich (WA 9; 518,23 f. WA 10,3; 433,2 u. ö.) und das Osterlied Christ
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ist erstanden (WAT 4; 517 f); auch hat er damals in der Weihnachtszeit einen vierstimmigen Satz von Puer natus in Bethlehem gesungen (WA 44; 548,16–29). Christum wir sollen loben schon diente ihm als Trost in Anfechtung (WAT 1; 243 f). Eine besondere Vorliebe hat er von Jugend an auch an dem Tenor In pace in id ipsum gehabt, über den er sich von Ludwig Senfl eine mehrstimmige Komposition erbat (WAB 5; 639,25–30). Was Luther an Musik an der Erfurter Artistenfakultät gelernt und welche Lehrbücher er gegebenenfalls studiert hat, entzieht sich ebenfalls unserer Kenntnis. Musikalische Kenntnisse bezog er vielleicht aus dem Rationale divinorum officiorum des Guilelmus Durandus und aus Gabriel Biels Canonis Misse Expositio, einem Buch, das er eine Zeitlang besonders liebte (WAT 3; 192,23–25,33 f. 564,5– 8. 565,22–24) und zu dem seine Randbemerkungen erhalten sind (WA 59; 51– 53). Jedenfalls bezeichnete ihn Crotus Rubeanus 1520 im Rückblick auf die gemeinsame Studienzeit als »musicus et philosophus eruditus« (WAB 2; 91,142). In diesen Jahren soll Luther auch das Spiel der Laute und Tabulieren gelernt haben (»didicit sua sponte in testudine vnd auch abesetzen«: WAT 5; 657,10–13). Und wenn gar Luthers Gegner Cochlaeus berichtet, dieser habe auf der Reise nach Worms durch sein Lautenspiel »velut Orpheus quidam« die Aufmerksamkeit auf sich gezogen, mag an einer solchen Nachricht etwas dran sein. Unter den zeitgenössischen Komponisten schätzte Luther insbesondere Pierre de la Rue, Heinrich Finck, den kursächsischen Sangmeister Konrad Rupsch, dessen Motette Haec dicit dominus er in seiner kompositorischen Struktur beschrieb (WAT 4; 215,21–216,13), vor allem aber Josquin Desprez. In einer Tischrede bezeichnet er dessen Kompositionen als Predigt des Evangeliums: »Lex et euangelium. Was lex ist, gett nicht von stad; was euangelium ist, das gett von stadt. Sic Deus praedicavit euangelium etiam per musicam, ut videtur in Iosquin, des alles composition frolich, willig, milde heraus fleust, ist nitt zwungen vnd gnedigt per regulas, sicut des fincken gesang« (WAT 2; 11,24–12,2). Daneben galt Ludwig Senfl und seinen Werken seine besondere Wertschätzung (WAT 5; 557,11 f). Luthers Arzt Matthäus Ratzeberger und Johannes Mathesius in seinen Lutherpredigten wissen über die Musikpraxis in Luthers Haus zu berichten. Ratzeberger erzählt, dass Luther sowohl mit seinen Söhnen als auch abends mit Studenten in seinem Hause mehrstimmig zu singen pflegte – und dass Luther »in cantu figurali den Alt mit sang« –, und zwar ältere und zeitgenössische Kompositionen, die er gegebenenfalls auch nach den Regeln der Kunst zu bessern wusste. Auch der Konstanzer Musiker, Musiktheoretiker und Komponist Sixt Dietrich berichtete 1543 aus Wittenberg: »D. M. Luther hat sonderlich grosse liebin zuo der music, mit dem ich vil vnd oft gesungen«. Gesungen wurden Motetten (WAT 3; 536,1– 537,3), Hymnen, Responsorien und gregorianische Gesänge. Freilich waren die Möglichkeiten der Sänger in Luthers Haus offenbar begrenzt; nicht immer gelang es ihnen, den Notentext korrekt wiederzugeben. »Darumb müßt Ihr Componisten uns auch zu gut halten, ob wir Säue [Fehler] machen in Euren Gesängen. Denn wir wollen’s wohl lieber treffen denn fehlen« (WAB 7; 154,18–20). Wie eine
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Summe dieser Musikpraxis liest sich Johann Walters Bericht: »So weiß und zeuge ich wahrhafftig, daß der heilige Mann Gottes Lutherus […] zu der Musica in Choral- und Figuralgesange große Lust hatte / mit welchem ich gar manche liebe Stunde gesungen / und offtmals gesehen / wie der teure Mann vom Singen so lustig und fröhlich im Geist ward / daß er des singens schier nicht könnte müde und satt werden/ und von der Musica so herrlich zu reden wußte« (zit. nach Gurlitt 1933, 98). Innerhalb der Musik nimmt das Singen eine herausgehobene Stellung ein: »Canticum et cantus ex abundantia gaudentis cordis oritur« (WA 3; 253,8. WA 55,2; 239,4). Singen ist für Luther eine Form der Kommunikation des Evangeliums, Musik eine Gestalt der viva vox evangelii. So kommt es etwa in seinem Weihnachtslied zum Ausdruck: »Vom Himel hoch, da kom ich her, ich bring euch gute neue mehr, der guten mehr bring ich so viel, davon ich singen und sagen will« (AWA 4; 287). Die Musik ist geeignet, einen Text in seiner Wirkung zu stärken, »Schöner text und Schöne noten« (WA 54; 33,33) vermögen zusammen betrübte Gewissen aufzurichten. »Solchen hertzen ist der Psalter, weil er den Messia singet und predigt, ein süsser, tröstlicher, lieblicher gesang, wenn man gleich die blossen wort, on noten daher lieset oder saget. Doch hilfft die Musica, oder noten, als ein wunderliche Creatur und gabe Gottes seer wol dazu, sonderlich wo der hauffe mit singet, und fein ernstlich zu gehet« (WA 54; 33,36–34,2). Durch die Dichtung geistlicher Lieder soll das Evangelium auch durch den Gesang unter die Leute kommen (WAB 3; 220). In der Tat ist die frühe Reformationsbewegung immer wieder auch als – z. T. polemische – Singbewegung hervorgetreten. Singen gehört zu den Kennzeichen der Kirche, das heilige christliche Volk erkennt man an öffentlichem Gebet, Lob und Dank, da wo man »Psalmen oder Geistliche lieder singet« (WA 50; 641,22 f). »Auff ein gute predigt sol man ein starck gebet thun vel ein gut Lobgesang« (WA 49; 286,16 f). Und so bestimmt Luther den Gottesdienst in seiner Predigt zur Einweihung der Schlosskapelle in Torgau programmatisch als ein Geschehen, in dem »unser lieber Herr selbs mit uns rede[t] durch sein heiliges Wort, und wir widerumb mit jm reden durch Gebet und Lobgesang« (WA 49; 588,16–18). 2.1. Luthers Musikanschauung
Grundsätzliche Äußerungen zur Musik finden sich in Luthers Vorreden zu den Gesangbüchern von 1524, 1528, 1542 und 1545 (WA 35; 474–483) und in der Vorrhede auff alle gute Gesangbücher 1538 (aaO 483 f). Schon in der Vorrede zum Wittenberger Chorgesangbuch (1524) aktualisiert er 1Kor 14,15.26 und Kol 3,6 und ermuntert zum Singen geistlicher Lieder und Psalmen, »Auff das da durch Gottes wort und Christliche leere auff allerley weyse getrieben und geübt werden« (aaO 474,8–10). In der Vorrede zu den Begräbnisgesängen führt er 1542 aus, er habe »die schönen Musica oder Gesenge« aus dem vorreformatorischen Gottesdienst beibehalten und neu textiert, denn »Der Gesang und die Noten sind
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köstlich, Schade were es, das sie solten untergehen« (aaO 479,19 f.25 f). Den alten abgöttischen Texten sei »die schöne Musica abgestreifft, und dem lebendigen heiligen Gottes wort angezogen, dasselb damit zu singen, zu loben und zu ehren«. Dabei gehen Gotteslob und Stärkung des Glaubens miteinander: »Das also solcher schöner schmuck der Musica in rechtem Brauch jrem lieben Schepffer und seinen Christen diene, Das er gelobt und geehret, wir aber durch sein heiliges wort, mit süssem Gesang jns Hertz getrieben, gebessert und gesterckt werden im glauben« (aaO 480,3–9). Luthers Überlegungen zur Musik verdichten sich insbesondere in vier erhaltenen Texten: 1. In einer knappen Aufzeichnung aus dem Jahre 1530 Περì τῆς μουσικῆς (WA 30,2; 695 f). Diese Überlegungen haben eine gewisse Nähe zu Luthers Brief an Ludwig Senfl vom 1. (4.) Oktober 1530 (WAB 5; 635–640); als Entwurf für eine selbständige Schrift waren sie wohl nicht gedacht. Der kurze Text lautet: »Пερì τῆς μουσικῆς. μουσικῆν ἐράω Eciam damnantes non placent Schwermerii, Quia 1. Dei donum non hominum est, 2. Quia facit letos animos 3. Quia fugat diabolum 4. Quia innocens gaudium facit, Interim pereunt irae libidines Superbia Proximum locum do Musicae post Theologiam. Hoc patet exemplo David et omnium prophetarum, qui sua omnia metris et cantibus mandaverunt. 5. Quia pacis tempore regnat. Durate ergo et erit melius arti huic post nos, Quia pacis sunt. Duces Bavariae laudo in hoc, quia Musicam colunt. Apud nos Saxones arma et Bombardae praedicantur« (Über die Musik. Ich liebe die Musik. Auch die Schwärmer gefallen mir nicht, weil sie die Musik verdammen. Denn sie ist 1. ein Geschenk Gottes und nicht der Menschen; 2. sie macht fröhliche Herzen; 3. sie verjagt den Teufel; 4. sie bereitet unschuldige Freude. Darüber vergehen Zorn, Begierden, Hochmut. Den ersten Platz nach der Theologie gebe ich der Musik. Das wird klar aus dem Beispiel Davids und aller Propheten, die alles, was sie zu sagen hatten, in Metren und Gesängen ausdrückten. 5. Weil sie in Friedenszeit regiert. Bleibt also fest, und es wird nach unserer Zeit besser für diese Kunst sein. Denn sie sind des Friedens. Die Herzöge von Bayern lobe ich darin, dass sie die Musik pflegen. Bei uns Sachsen werden Waffen und Kanonen gepredigt) (vgl. WAT 6; 348,17–26). 2. In dem Brief an Senfl, den Hofkapellmeister der bayerischen Herzöge und einen der berühmtesten Komponisten seiner Zeit, charakterisiert Luther die Wirkungen der Musik auf das menschliche Gemüt: »Viele Samen guter Eigenschaften stecken in den Gemütern, die von der Musik ergriffen werden; die aber nicht von ihr ergriffen werden, sind, denke ich, Stümpfen und Steinen gleich. Denn wir wissen, dass die Musik auch den Dämonen verhasst und unerträglich ist. Und ich urteile frei heraus und scheue mich nicht zu behaupten, dass nach der Theologie keine Kunst [ars] sei, die der Musik gleichzustellen wäre, weil sie allein nach der Theologie das schenkt, was sonst allein die Theologie schenkt, ein ruhiges und fröhliches Herz.« Beweis dafür sei, dass der Teufel die Musik ebenso fliehe wie das Wort der Theologie. Daher hätten die Propheten ihre Theologie in die Musik
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und in keine andere ars gefasst, »damit sie Theologie und Musik in engster Verbindung hätten, wenn sie die Wahrheit in Psalmen und Liedern verkündigten« (WAB 5; 639,9–15.20 f). 3. Den konsolatorischen Charakter der Musik stellt Luther insbesondere in einem Brief an den Freiberger Kantor Matthias Weller (WAB 7; 104–106) heraus. Mit ihr und durch sie kann der Mensch fröhlich werden, ja den Teufel selbst vertreiben. Gegen böse Gedanken und Anfechtungen empfiehlt er ihm zu musizieren und zu singen: »Darumb, wenn Ihr traurig seid, und will uberhand nehmen, so sprecht: Auf! ich muß unserm Herrn Christo ein Lied schlagen auf dem Regal [kleine Tastenorgel] (es sei Te Deum laudamus oder Benedictus etc.); denn die Schrift lehret mich, er höre gern fröhlichen Gesang und Saitenspiel. Und greift frisch in die Claves [Tasten] und singet drein, bis die Gedanken vergehen, wie David und Elisäus taten. Kommet der Teufel wieder und gibt Euch ein Sorge oder traurige Gedanken ein, so wehret Euch frisch und sprecht: Aus, Teufel, ich muß itzt meinem Herrn Christo singen und spielen […] Darumb nicht besser, denn flugs im ersten auf die Schnauzen geschlagen« (WAB 7; 105,26–33.37 f. Vgl. auch WAT 1; 86 f. 490 f. WAT 2; 441,11–443,14. WAT 4; 25,20–27,8. WAT 6; 348,17–26). 4. Am ausführlichsten hat Luther die Grundzüge seiner Musikanschauung in einer lateinischen Vorrede zu den Symphoniae iucundae des Wittenberger Buchdruckers und ehemaligen Thomaskantors Georg Rhaw 1538 formuliert (WA 50; 368–374); aus diesem Text übernahm Johann Walter zahlreiche Gedanken in sein Lehrgedicht Lob vnd preis der löblichen kunst Musica (Wittenberg um 1538) und stellte die Vorrede 1564 seinem Lob vnd Preis Der Himlischen Kunst MVSICA (Faksimileausgabe Kassel 1938) in deutscher Übersetzung voran. Luther bezeichnet (in Übereinstimmung mit Boethius und Augustin) die Musik als Teil der Schöpfung: »Primum, si rem ipsam spectes, inuenies Musicam esse ab initio mundi inditam seu concreatam creaturis vniuersis, singulis et omnibus.« Sie ist »donum […] diuinum et excellentissimum«, nichts ist ohne Klang (»nihil […] sine sono«), so ist etwa die Luft von Klang erfüllt; wunderbarer aber ist die Musik der belebten Geschöpfe, insbesondere der Vögel, wie schon David wusste (Ps 104). Im Verhältnis zur menschlichen Stimme aber ist alles andere beinahe »Unmusik« (»Verum ad humanam vocem omnia sunt prope immusica«), und so ist sie ein Geschenk des Schöpfers, das auch die Philosophen bei aller Anstrengung nicht werden ergründen können. Nach dem Wort Gottes ist sie als »domina et gubernatrix affectuum humanorum« (Herrin und Herrscherin über die menschlichen Affekte) zu rühmen, und dieses Lob der Musik ist nicht zu steigern. Gegen alle menschlichen Affekte gibt es nichts Wirkungsvolleres als die Musik. Daher hätten auch schon die Väter und Propheten eine enge Verbindung zwischen dem Wort Gottes und der Musik gesucht. Das größte Wunder der Schöpfung aber sei, dass nicht zwei Menschen die gleiche Stimme hätten. In der musica artificialis, die die musica naturalis »polirt«, schätzt Luther die Komposition über einen gegebenen Tenor über alles – die davon nicht affiziert
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werden, hält er für »amusi« und würdig, »porcorum Musicam« (WA 50; 373,5 f) zu hören. Am Ende empfiehlt Luther die Musik als edle, heilsame und fröhliche Schöpfung gegen schändliche Leidenschaften und schlechte Gesellschaft. 2.2. Luthers Musikpraxis
Luther kannte nicht nur die Musiktheorie seiner Zeit, er wies sich auch als handwerklich-praktisch kundiger musicus aus. Freilich waren ihm die Grenzen seiner Möglichkeiten bewusst; eine Motette wie Senfl vermöge er nicht zu komponieren, auch »wan ich mich tzureißen soltte« (WAT 5; 557,11–16). Dass er aber etwa über die Fähigkeit verfügte, zu einem vorhandenen dreistimmigen Satz eine vierte Stimme zu komponieren, beweist ein launiger Brief Luthers an Johann Agricola (WAB 5; 320 f). Zu einigen seiner geistlichen Lieder hat er auch die Melodien verfasst; sicher bezeugt ist diese Autorschaft jedenfalls für Jesaja, dem Propheten, das geschah (AWA 4; 97–99. 243–245); auch andere Teile der Deutsche[n] Messe sind von ihm musikalisch gefasst. Überkommene Melodien hat er z. T. bearbeitet; zu Vater unser im Himmelreich (AWA 4; 114–116. 295–298. 345–351 und Faksimilebeilage) gibt es eine autographe Aufzeichnung einer (dann wieder verworfenen) ionischen Melodie. Luthers wichtigster musikalischer Partner im Hinblick auf die Neugestaltung des Gottesdienstes war Johann Walter, der als Torgauer Kantor (1526–1548) zum »Kantor der lutherischen Reformation« wurde. Mit ihm beriet sich Luther 1526 drei Wochen lang über die Neueinrichtung der Deutschen Messe; es ging dabei einerseits um das Verhältnis von lateinischen und deutschen Texten, andererseits um die Zuordnung von bestimmten Tönen (Tonarten) zu den Epistel- und Evangelienlesungen. Nach Walters Bericht hat Luther dabei erklärt: »Christus ist ein freundlicher Herr und seine Reden sind lieblich, darum wollen wir sextum tonum zum Evangelium nehmen, und weil S. Paulus ihm ein ernster Apostel ist, wollen wir octavum tonum zur Epistel verordnen« (WA 35; 82 f. Über die claves vgl. auch WAT 1; 396,27–39. WAT 3; 136,13–17. WAT 4; 596,17–20). Textgebundene Musik wollte Luther nach den Gegebenheiten der Zielsprache eingerichtet wissen: »Ich wolt heute gerne eyne deutsche Messe haben […] Aber ich wolt ja gerne, das sie eyne rechte deutsche art hette […] Es mus beyde text und notten, accent, weyse und geperde aus rechter mutter sprach und stymme komen, sonst ists eyn nachomen [Nachahmen], wie die affen thun« (WA 18; 123,19–24. Vgl. auch WA 35; 82 f). Diese Absicht, die rechte Beziehung zwischen Text und Singweise, hat er auch in seinen eigenen Liedern verwirklicht. Eine mehrstimmige Komposition ist von ihm überliefert: die kurze vierstimmige Motette über die Worte »Non moriar sed viuam« (»et narrabo opera domini« [Ich werde nicht sterben, sondern leben und des Herrn Werke verkündigen]; Ps 118,17. WA 35; 537). Vielleicht geht auch eine Vertonung von Ps 64 (WA 35; 542–544) auf ihn zurück.
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Luther wollte die Musik in den Kanon der Unterrichtsfächer in der Schule einbezogen wissen. Gegenüber Ansichten von »abergeystlichen« (WA 35; 475,3 f) hielt er am überlieferten Bildungskanon fest, ja, er wollte »alle künste, sonderlich die Musica gerne sehen ym dienst des, der sie geben und geschaffen hat« (aaO 475,4 f). Neben den »sprachen und historien« hält er das »singen und die musica mit der gantzen mathematica« (WA 15; 46,14 f) für unverzichtbare Bestandteile des schulischen Unterrichts (vgl. auch WA 35; 474,19 f), auch im Unterricht der Visitatoren ist ausdrücklich vom Unterricht in der Musik die Rede (WA 26; 237. 239). Entsprechend gilt ihm: »Man muß musicam necessario in der schulen behaltten. Ein schulmeister muß singen können, sonst sehe ich ihn nicht an« (WAT 5; 557,18–21. WAT 1; 490 f). Luthers Hochschätzung der musica als erklingender Musik hat mit seinem Verständnis des Evangeliums als eines mündlichen Wortes zu tun und mit der Überzeugung, dass der Glaube aus dem Hören des Wortes Gottes kommt. Schon in der Vorlesung über den Hebräerbrief vermerkt er in der Auslegung von Hebr 10,18: »solae aures sunt organa Christiani hominis, quia non ex ullius membri operibus, sed de fide iustificatur et Christianus iudicatur« (WA 57; 222,7–9). Luthers Verständnis der Musik ist nicht zu lösen von seinem Verständnis der Sprache: Wie die Sprache, so schafft auch die Musiksprache eine neue Wirklichkeit, sie kann und soll viva vox evangelii sein. Luther unterscheidet Sprechen und Singen durch die Zuordnung des Wortes zum intellectus und der Stimme des Gesangs zum affectus (WA 55,2; 779,444–448). Musik, insbesondere das Singen, ist für Luther Kommunikation des Evangeliums, Gotteslob der gerechtfertigten Sünder und freien Christenmenschen. Solche Musik, solches Singen kommt aus dem Glauben: »Gott hat unser hertz und mut frölich gemacht, durch seinen lieben Son, welchen er für uns gegeben hat zur erlösung von sunden, tod und Teuffel. Wer solchs mit ernst gleubet, der kans nicht lassen, er mus frölich und mit lust dauon singen und sagen, das es andere auch hören und herzu komen« (WA 35; 477,6–9). Als am 17. Dezember 1538 in Luthers Haus Motetten gesungen wurden, bemerkte er voll Bewunderung für die Musik: »So vnser Her Gott in diesem leben in das scheißhauß solche edle gaben gegeben hat, was wirdt in jhenem ewigen leben geschehen, ubi omnia erunt perfectissima et iucundissima? Hic autem tantum est materia prima« (WAT 4; 191,31–34). Johann Walter hat unter Aufnahme von Gedanken Luthers in seinem Lobgedicht Lob vnd preis der löblichen kunst Musica (um 1538) ausgeführt, warum Gott die Musik gesandt habe: um des Lobpreises des Schöpfers und seiner Gnade und um des Fröhlichseins im Geist der Menschen willen. Walter war es auch, der die evangelische Kantorei schuf und eine, insbesondere in Mitteldeutschland, über Jahrhunderte lebendige Pflege evangelischer Kirchenmusik begründete. Es ist daher kein Wunder, dass lutherische Frömmigkeit ihren Ausdruck gerade in der Musik und in geistlichen Liedern gefunden hat – neben zahlreichen anderen in
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den Werken von Michael Praetorius, Paul Gerhardt, Heinrich Schütz, Johann Sebastian Bach, Felix Mendelssohn-Bartholdy und Jochen Klepper. Quellen: WA 35 – AWA 4 – Martin Luther: Die deutschen geistlichen Lieder, hg. v. Gerhard Hahn, 1967. Blankenburg, Walter: Art. Luther, Martin (MGG 8, 1960, 1334–1346). Ders.: Johann Walter. Leben und Werk, hg. v. Friedhelm Brusniak, 1991. Gurlitt, Wilibald: Johannes Walter und die Musik der Reformationszeit (LuJ 15, 1933, 1–112). Kurzschenkel, Winfried: Die theologische Bestimmung der Musik. Neuere Beiträge zur Deutung und Wertung des Musizierens im christlichen Leben, 1971, bes. 151–184. Luther, Martin: Geistliche Lieder, hg. v. Johannes Schilling und Jürgen Heidrich, 2016. Johannes Schilling
3. Bildende Kunst »Bilder, glocken, Messegewand, kirchenschmück, allter liecht und der gleichen halt ich frey, Wer da wil, der mags lassen, Wie wol bilder aus der schrifft und von guten Historien ich fast [i. e. sehr] nützlich, doch frey und wilkörig halte. Denn ichs mit den bildestürmen nicht halte« (WA 26; 509,9–12). Mit dieser wohl bekanntesten Aussage zum Thema ordnete Luther 1528 das, was wir heute als kirchliche Kunst und Ausstattung bezeichnen würden, den adiaphora zu, d. h. denjenigen Dingen, deren Gebrauch in der Kirche weder ge- noch verboten ist. Wenn der Theologe Luther sich zu Kruzifixen, Madonnenstatuen, Glas- und Wandmalerei, Altarretabeln, Epitaphien und Ähnlichem äußerte, fasste er sie unter dem Oberbegriff ›Bilder‹ zusammen. Die eingangs zitierte Aussage zu Bildern und kirchlicher Ausstattung zeigt, dass die Frage, welches Verhältnis Luther zur Bildenden Kunst hatte, anachronistisch ist. Das hat zunächst sprachliche Gründe: Wenn Luther von den Künsten sprach, meinte er – wie damals üblich – die sieben artes liberales, die er zu studieren empfahl. Im weiteren Sinne galt als ›Kunst‹ jede Art von Kunstfertigkeit, auch die handwerkliche, die sich in künstlerischen Objekten oder Gemälden äußern konnte. ›Bild‹ meinte dagegen etwas, was durch Ähnlichkeit etwas anderes bedeutet, z. B. ein Gemälde, eine Skulptur, aber auch Christus im Verhältnis zu Gott. Der Theologe Luther sprach deswegen von Kirchen, deren Ausstattung und kirchlichem Gerät, nicht aber von Kunst. Sprach er von Bildern, spielten die formalästhetischen Qualitäten keine Rolle, sondern lediglich die Inhalte der Darstellung und der Gebrauch, den man von ihnen machte. Dabei bezieht sich Gebrauch auf das Bild, z. B. eine Darstellung des Johannes, nicht auf den Bildträger wie z. B. Retabel, Kanzeln, Emporen usw. Dem entspricht weitgehend auch noch die heutige theologische Perspektive (vgl. Weimer 1999). Die Forschung der Nachkriegszeit hat zwischen beidem, Bild und Kunst, selten klar unterschieden mit der Folge, dass die Rolle, die der Theologe und Reforma tor Luther für die Entstehung und Eigenart einer protestantischen Kunst spielte,
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oft überschätzt wurde. Man unterstellte, seine Äußerungen zu den Bildern seien als Normen befolgt worden. Begünstigt wurde diese Vorstellung durch die Rezeption der ikonographisch-ikonologischen Methode durch die deutsche Kunstgeschichte der Nachkriegszeit. Man konzentrierte sich in der Folge auf die Frage nach einer protestantischen bzw. lutherischen Ikonographie. Die konfessionell gespaltene Forschung projizierte den späteren Gegensatz zurück in die Zeit der Reformation und konstruierte eine Tradition, die mit der Kunst Lucas Cranachs d. Ä. begonnen haben sollte. Dieses Bild ist erst in den letzten Jahrzehnten korrigiert worden: Seit Ernst Walter Zeeden wiesen Historiker darauf hin, dass der konfessionelle Gegensatz sich erst um 1570 auszuprägen begann. Theologen richteten ihre Aufmerksamkeit verstärkt auf Reformatoren neben Luther. Kunsthistoriker berücksichtigten nicht nur die Inhalte der Bilder, sondern vermehrt die praktischen und sozialen Funktionen der Objekte sowie die baulichen Kontexte und Auftragsgeschichten (so z. B. Scharfe 1968; Wex 1984). 3.1. Luthers Erfahrungen mit Kunst
Luther äußerte sich erstmals 1520 zum Kirchenbau, 1521 und anlässlich des Wittenberger Bildersturms zum Missbrauch von Bildern (WA 10,3; 35. Schnitzler 1996). Daher kann man ihm nicht mehr unterstellen als das konventionelle Kunsterlebnis eines Menschen seiner Zeit, seiner Herkunft und seines Standes. In seinem Elternhaus, als nicht-adeliger Student und als Augustinermönch lernte Luther ›Kunst‹ nur sehr selektiv kennen. Er entstammte einer durch den Ehrgeiz seines Vaters zu Wohlhabenheit gekommenen Familie, deren Lebensstil asketisch und hart war. Der Kunstbesitz in privater, bürgerlicher Hand beschränkte sich damals im Wesentlichen auf religiöse Gemälde, Devotionalien, Bildnisse Angehöriger, Flugblätter und Graphiken überwiegend religiösen Inhalts sowie Buchillustrationen und künstlerisch gestaltete Gebrauchsgegenstände entsprechend den wirtschaftlichen Möglichkeiten. Luther dürfte Kunst also vor allem als kirchlicher Kunst und Ausstattung begegnet sein, wie sie sich jedem Gläubigen seiner Zeit an und in den Kirchen darbot: als Bauplastik, als Glas- und Wandmalerei, in geschnitzten und gemalten Retabeln und Epitaphien, Grabmälern, Madonnen- und Heiligenstatuen sowie Reliquiaren, Monstranzen und allem, was den Kirchen seit Mitte des 14. Jahrhunderts in immer größerem Umfang zugeflossen war. Finanziert wurde sie vor allem durch Stiftungen und Ablässe. Die Motive der Stiftungen waren vielfältig. Sie waren nicht nur Ausdruck der Frömmigkeit in einem allgemeinen Sinne, sondern dienten sehr konkreten Zwecken und das nicht nur als liturgisches Gerät. Da Stiftungen als gute Werke galten, hoffte man mit ihnen die Sündenstrafe im Fegefeuer zu ermäßigen. Wurde ein Retabel auf einem Altar aufgestellt, der einem bestimmten Patron geweiht war, so wurde dieser meist dargestellt, in der Hoffnung, er werde sich als Fürbitter vor Gott für den Stifter und seine Familie einsetzen (intercessio). Kapellen- und Altarstiftungen samt Totenmesse waren ebenso teuer wie Grabmäler und Epitaphien
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(z. B. Diesbachkapelle im Berner Münster. Vgl. Jezler 2000; Schleif 1990). Sie waren zudem Kunst im öffentlichen Raum, weshalb sie auch der Repräsentation dienen konnten. Durch den Aufwand, den ein Stifter oder Auftraggeber trieb, demonstrierte er seine soziale Position. Neben der himmlischen war es die soziale Ordnung, die sich in Bau und Ausstattung der Kirchen immer aufwendiger materialisierte. Seit der Jahrhundertwende nahm die Kritik am Luxus, an der Verweltlichung der Kirche und des Klerus stetig zu. Luther muss all dies bemerkt haben, ohne dass er sich damals kritisch geäußert hätte. Höhepunkt seiner Eindrücke war eine Reise nach Rom im Winter 1511/12, während der er das übliche Programm der Pilger absolvierte, um Ablass seiner Sündenstrafen zu erreichen. Dabei muss er auch den künstlerischen Reichtum Roms zur Kenntnis genommen haben, der unter Julius II. einem Höhepunkt zustrebte. Nichts deutet darauf hin, dass er anders reagiert hätte als andere deutsche Rompilger, nämlich gläubig, beeindruckt und staunend. Was den Stiftungseifer der Lutheraner später nahezu zum Erliegen brachte, war weder Kunstfeindschaft noch Luxuskritik (vgl. Christensen 1979; kritisch: Strecker 1998), sondern Mangel an Interesse. Die theologischen Kernaussagen Luthers zerstörten die Motivationen der potentiellen Stifter: Wer sola gratia und sola fide gerechtfertigt wird, fürchtet kein Fegefeuer mehr, kann und braucht Verdienste vor Gott nicht zu erwerben, glaubt nicht mehr an die intercessio Marias und der Heiligen und stiftet also nur noch aus praktischen Gründen, zum Gedächtnis oder zum Zwecke der Repräsentation. Damit versiegten gleich zwei der wichtigsten Quellen, aus denen kirchliche Kunst vor der Reformation finanziert wurde (vgl. Göttler/Jetzler 1987; Strecker 1997). Der Theologe Luther hat die kirchliche Kunst also am stärksten durch diejenigen Theologeme beeinflusst, die mit Kunst und Bildern nur indirekt zu tun haben. 3.2. Luthers theologische Äußerungen zur kirchlichen Kunst
und Kirchenausstattung
Luthers Äußerungen zu den Bildern werden in der Regel im Kontext der theologischen Diskussion um die Verehrung und Ablehnung der Bilder gesehen, die seit dem byzantinischen Bildersturm im 8. Jahrhundert bis zum Tridentinischen Konzil immer wieder auflebte (vgl. Stirm 1977; Feld 1990; Köpf 1990; Michalski 1993). Die Debatte entzündete sich am Widerspruch zwischen dem Bilderverbot des Dekalogs (Ex 20,4; Dtn 4,15–18. 27,15) und der kirchlichen Praxis, wie sie sich spätestens ab dem 4. Jahrhundert entwickelte (vgl. Belting 1990). Basilius verknüpfte die Ähnlichkeit der Bilder mit dem Dargestellten mit der Lehre von den zwei Naturen Christi und dadurch mit dem platonischen Gegensatz von Geist und Materie bzw. Fleisch (vgl. Feld 1990). Noch Erasmus von Rotterdam folgte in seinem 1503 erschienenen Enchiridion militis christiani diesem Gegensatz, ebenso Zwingli und Calvin. Wie sie und Karlstadt beruft Erasmus sich auf das Bilderverbot des Alten Testaments und setzt damit dessen Gültigkeit auch für die Gegenwart voraus.
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Auch Luthers Äußerungen stehen zunächst im Kontext der Kritik an der kultischen Praxis der Kirche seiner Zeit. Als er sich 1520 und 1522 gegen aufwendige Kirchenbauten wandte, ging es ihm allerdings nicht nur um die guten Werke, sondern bereits um die alte und neue Gesetzlichkeit, in der sich Bilderkult und Bildersturm ähnlich seien. Seine Argumentation hebt sich damit deutlich von der westlichen Tradition ab und vermeidet die Fallstricke früherer Bildtheologien (vgl. Campenhausen 1960; Wirth 2000). Sie lässt alle Möglichkeiten offen, vorausgesetzt man betet Bilder nicht an. Entscheidend ist für Luther – wie für die meisten nachtridentinischen altgläubigen Theologen (vgl. Hecht 1997) – allein der Gebrauch der Bilder. Die scholastische Unterscheidung zwischen dem Bild als Zeichen und dem Bild als Ding (Artefakt) übergeht er – wohl, weil sie ihm selbstverständlich schien. Bilder können verschiedenen Zwecken dienen: »zum ansehen, zum zeugnis, zum gedechtnis, zum zeychen« und v. a. als Gedächtnisstütze. Hierfür bieten sich v. a. diejenigen ›Historien‹ an, die schriftgerecht sind wie Christus am Kreuz, Maria und die Heiligen, Johannes mit dem Lamm. Einige Bildtypen des Mittelalters lehnt Luther explizit ab: Christus als Richter mit Lilie und Schwert und den knienden Fürbittern Maria und Johannes und die Schutzmantelmadonna, verschiedene Heiligenbilder, die Maria lactans und das Kirchenschiff. Darstellungen der Höllenfahrt Christi schreibt Luther die Fähigkeit zu, dem Betrachter das Verständnis des entsprechenden Artikels des Bekenntnisses zu erleichtern (Stellennachweise zu einzelnen Themen bei Weimer 1999). Er geht sogar so weit zuzugestehen, dass der Mensch nichts ohne Bild denken und verstehen und daher auf innere Bilder nicht verzichten könne. An die Überlegungen früherer Bildtheoretiker knüpft er dort an, wo es um die didaktische Funktion der Bilder geht (vgl. Weimer 1999). Neben der Ähnlichkeit und der daraus abgeleiteten Urbild-Abbild-Theorie war dies die wichtigste Rechtfertigung der Bilder seit Gregor I. Die Forschung zur protestantischen Kunst hat dieses Postulat meist übernommen. Man unterstellte allen Bildern in den protestantischen Kirchen didaktische Zwecke, ohne die Aufgaben der jeweiligen Bildträger (Altarbilder, Epitaphien, Emporenbilder usw.: z. B. Schwebel 2002; dagegen z. B. Cieslak 1998) und den wichtigsten Indikator der didaktischen Intention zu berücksichtigen, nämlich das gemalte Bibelzitat im Bild oder auf dem Rahmen, das ein Bild zur Illustration des authentischen und vermeintlich eindeutigen Wortes Gottes werden ließ (vgl. Wohlfeil 1986). 3.3. Luther und Cranach
Lucas Cranach d. Ä. gilt als der lutherische Künstler schlechthin, der durch seine bildlichen Darstellungen die Verbreitung der lutherischen Lehre und die Entstehung einer neuen protestantischen Kunst am deutlichsten mitbestimmt hat (vgl. Koepplin/Falk 1974/1976; Andersson 1981). Als Hofmaler des sächsischen Kurfürsten Friedrich (ab 1505) arbeitete Cranach jedoch weiterhin für Auftrag-
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geber beider Konfessionen (vgl. Tacke 1992; Thümmel 1998). Cranachs künstlerisches Engagement für die reformatorische Bewegung umfasste verschiedene Bereiche: Titelholzschnitte und Illustrationen für Schriften Luthers und anderer Reformatoren (z. B. Passional Christi und Antichristi 1521; Druck, Verlag, Holzschnitte zu Luthers September- und Dezembertestament 1522, 1524), polemische Flugblätter (z. B. Das Papsttum und seine Glieder 1526, Papstesel und Mönchskalb 1523; Harms 1983), religiöse Gemälde mit reformatorischer Thematik (Christus und die Ehebrecherin, Christus segnet die Kinder) sowie Retabel für lutherisch gesinnte Auftraggeber in Schneeberg 1539, Wittenberg 1547 und Weimar 1552– 1555 (vgl. Thulin 1955). Dass Cranach mit Luther befreundet war, genügte oft, um einen direkten Einfluss Luthers auf seine bildlichen Formulierungen zu unterstellen. Da der Nachweis direkter Einflussnahme selten zu erbringen ist, hängt die Bewertung meist von der Vorstellung ab, die der jeweilige Autor sich vom Arbeitsprozess Cranachs macht. 3.4. Luther-Porträts
Cranach schuf in den Jahren 1520–1522 drei Porträts Luthers als Kupferstich und Holzschnitt, die durch ihre unterschiedlichen Stilisierungen sein Image in der Öffentlichkeit prägten und von anderen Künstlern übernommen wurden (vgl. Warnke 1984). Als Figur der Zeitgeschichte taucht Luther auch in den Flugblättern auf, mittels derer der publizistische Kampf geführt wurde (z. B. Hans Holbein d. J.: Luther als Herkules Germanicus, 1522). 1525 malte Cranach anlässlich der Heirat Luthers mit Katharina von Bora ein Bildnispaar, das bald in Serie kopiert wurde. Ab 1532 stellte Cranach Luther in bürgerlicher Kleidung mit Buch dar. Als Reformator erscheint Luther auch mit den sächsischen Kurfürsten (z. B. Croy-Teppich von Peter Heymann 1554) oder im Kreis seiner Freunde und Kollegen (Abendmahl der Dessauer Schlosskirche, Lucas Cranach d. J. 1565). 3.5. Die Darstellung der Rechtfertigung (›Gesetz und Gnade‹)
Die bedeutendste ikonographische Neuschöpfung der lutherischen Kunst ist die Darstellung der Rechtfertigungslehre, die Cranach in zwei Fassungen entwickelte (vgl. Koepplin 2003; Emmendörffer 1997; Amon 1994; Büttner 1994; Koepplin 1992; Urbach 1989 [Lit.]; Ohly 1985). Die erste Fassung (›Prager Typus‹) im Titelholzschnitt zu Luthers Auslegung der Evangelien von 1528 basiert auf einem von Geoffroy Tory herausgegebenen Holzschnitt und zeigt Adam zwischen Jesaja und Johannes, zwischen dem (alttestamentlichen) Gesetz und der (neutestamentlichen) Gnade. Die zweite Fassung von 1529 (›Gothaer Typus‹) zeigt Adam in beiden Hälften des durch den Baum symmetrisch geteilten Bildfeldes. Links – sub lege – wird der Sünder unter einer Deesis-Gruppe vom Tod in die Flammen gejagt, aufgrund des im Hintergrund dargestellten Sündenfalls und des Gesetzes, auf das Moses zeigt. Rechts – sub gratia – weist Johannes der Täufer den gläubi-
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gen Adam auf den Gekreuzigten, das Lamm Gottes, hin, von dem der Blutstrahl der Gnade ausgeht. Die Szenen wurden oft durch die entsprechenden Bibelzitate unterhalb des Bildfeldes kommentiert (v. a. Röm 3,28). Während die erste Fassung den humanistisch-moralphilosophischen Gedanken der Wahl noch andeutete (Herkules am Scheideweg), betont die zweite kompositionell mit der typologischen Gegenüberstellung der Zeitalter die Rechtfertigung durch die göttliche Gnade, die man gläubig anzunehmen hat (sola fide). Fazit: Luthers Einfluss auf die neue, lutherische Kirchenkunst war begrenzt, wurde erst nach 1560 identitätsstiftend und beschränkte sich im Wesentlichen auf die Ikonographie (vgl. Harasimowicz 1991; Koepplin 1992; Poscharsky 1998). Martin Luther und die Reformation in Deutschland. Ausstellung zum 500. Geburtstag Martin Luthers veranstaltet vom Germanischen Nationalmuseum Nürnberg in Zusammenarbeit mit dem Verein für Reformationsgeschichte, 1983. Michalski, Sergiusz: The Reformation and the visual arts. The Protestant image question in Western and Eastern Europe, 1993. Weimer, Christoph: Luther, Cranach und die Bilder. Gesetz und Evangelium – Schlüssel zum reformatorischen Bildgebrauch (AzTh 89), 1999. Freya Strecker
4. Sprache Als ein Mann des Wortes wird Luther bis heute erinnert. Das verweist nicht nur auf seine Lebensaufgabe, das Wort Gottes zu predigen und zu lehren. Auch das menschliche Wort stand ihm in seltener Vollmacht zu Gebote. Wie kaum einer neben ihm hat Luther das Instrument menschlicher Rede beherrscht und den Zielen, die er verfolgte, dienstbar gemacht. Auffallend ist dabei nicht zuletzt die ungewöhnlich große Zahl der Register, über die er verfügte, von verhaltenster Zartheit bis hin zu ganz unglaublichen Grobheiten wie etwa dieser: »Du […] weissest, das du ein vnuerstendiger narr hie zu bist«, heißt es in der Antwort auf eine Schrift des Herzogs von Braunschweig-Wolfenbüttel, »Du soltest nicht ehe ein buch schreiben, du hettest denn einen fortz von einer alten saw gehoret, Da soltestu dein maul gegen auffsperren vnd sagen[:] Danck habe Du Schone Nachtigal, da hore ich einen text der ist fur mich« (WA 51; 561,7–12). In Luthers Verhältnis zur Sprache sind drei Aspekte zwanglos zu unterscheiden: zunächst der allgemeine Sprachbestand, den er übernommen und fortgeführt hat (4.1.), sodann sein individueller gestalterischer Umgang mit Sprache (4.2.), schließlich die sprachphilosophische und -theologische Reflexion, von der seine Spracharbeit zeitlebens begleitet gewesen ist (4.3.).
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4.1. Sprachbestand
In Grammatiklehrbüchern des 16. Jahrhunderts wird bisweilen die »perfecta et absoluta linguae Germanicae cognitio« Luthers gerühmt (H. Wolf 1980, 28). Allerdings stellen solche Urteile, in denen die Uneinheitlichkeiten und Inkonsequenzen der Luthersprache schematisierend ausgeblendet sind, ungeschichtliche Idealisierungen dar. Da es zur Zeit Luthers erst Ansätze einer muttersprachlichen Normierung gegeben hat, konnte dessen Sprachform noch gar kein homogenes Strukturgepräge aufweisen. Die Sprechsprache Luthers verbindet die ostmitteldeutsche Prägung des Elternhauses mit regionalen Einflüssen des niederdeutschen Randgebiets. Sprachgeographisch repräsentierten der Vater, in Möhra bei Eisenach geboren, und die aus Neustadt an der Saale stammende Mutter den thüringisch-mainfränkischen Grenzraum. Mansfeld und Magdeburg, wo Luther prägende Jugendjahre verbrachte, zählten damals noch zum niederdeutschen Sprachgebiet. Selbst in Wittenberg, dem Hauptschauplatz von Luthers Leben, war das Niederdeutsche zwar vor dem Mitteldeutschen im Rückzug begriffen, jedoch in breiten Schichten der Bevölkerung noch durchaus präsent. So ist Luther in sprechsprachlicher Hinsicht dem ostmitteldeutschen Sprachraum des Thüringisch-Sächsischen zuzuordnen, verbunden mit einem namhaften passiven und aktiven (z. B. WAB 3; 552) Anteil am Niederdeutschen. Deutschsprachige Schriftlichkeit gab es zu Beginn des 16. Jahrhunderts nur in regionaler Begrenzung; wegen ihrer Abhängigkeit von dialektalen Regionalsprachen kam sie über eine mittlere Reichweite zunächst nicht hinaus (Besch 2001, 73 f). Allerdings haben sich die damaligen Schreibsprachen bzw. -dialekte durch ihren Einfluss auf die jeweiligen Druckersprachen dann zunehmend entgrenzt. Von überregionaler Bedeutung waren namentlich das von der kaiserlichen Kanzlei und den Augsburger Druckern verbreitete Oberdeutsche sowie, noch stärker, das in der Kanzlei der sächsischen Kurfürsten gebrauchte, Luther prägende Ostmitteldeutsche, das Elemente verschiedener (auch süddeutscher) Territorialdialekte in sich aufgenommen hatte und eine relativ einheitliche, großflächige Schreiblandschaft darstellte. Diese sprech- und schreibsprachlichen Voraussetzungen hat Luther ohne größere eigene Akzente repräsentiert. So ist bei ihm in phonologischer Hinsicht z. B. die ostmitteldeutsche Mono- und Diphthongierung ebenso nachzuvollziehen wie die Bevorzugung der Präfixform zu- und zur- vor zer- (zubrochen, zurstrewet). Auch in der Graphematik – von Orthographie zu sprechen wäre anachronistisch – zeigt sich bei Luther die zeittypische Varianz (z. B. 17 verschiedene Schreibweisen für Wittenberg [H. Wolf 1980, 31]). Allerdings lässt sich seit der Mitte der 1520er Jahre, veranlasst durch den intensiven schriftlichen Kontakt mit anderen Sprachregionen, eine zunehmende graphematische Stabilisierung beobachten, etwa im Rückgang der phonologisch irrelevanten Konsonantenhäufung (gepott, essenn, langk), in der zunehmenden Großschreibung von Substantiven oder in
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der gezielten graphematischen Kennzeichnung von Homonymen (Rad/Rat – Weise/Waise – fiel/viel). Interessanterweise hat Luther die Interpunktion ungewöhnlich konsequent zur Kennzeichnung von Sinn- und Atempausen verwendet und damit am sprechsprachlichen Duktus orientiert. In Morphologie und Syntax übernahm Luther ebenfalls die typischen Eigenarten und Tendenzen, so wenn er Adverbien gern das Morphem ‑lich anfügte (ewiglich, gewißlich, schwerlich) oder die Satzgestaltung dynamisierte (zu Fall bringen > fällen). Insgesamt lassen sich in Luthers deutschem Sprachbestand drei Etappen seiner schriftsprachlichen Entwicklung ausmachen. Während bis etwa 1524, entsprechend der ostmitteldeutschen Schreibtradition, starke formale Schwankungen zu beobachten sind, werden danach regionale Eigenheiten zunehmend durch großräumige, aus der Kanzlei- und Druckersprache übernommene Ausgleichserscheinungen verdrängt; seit 1531/32 hat sich diese Stabilisierung dann noch einmal spürbar verstärkt (H. Wolf 1980, 54 f). Seine eigene sprachgeschichtliche Stellung war Luther durchaus bewusst. »Ich habe keine gewisse, sonderliche, eigene Sprache im Deutschen, sondern brauche der gemeinen Sprache, dass mich beide, Ober- und Niederländer verstehen mögen. Ich rede nach der sächsischen Canzeley, welcher nachfolgen alle Fürsten und Könige in Deutschland; alle Reichsstädte, Fürsten-Höfe schreiben nach der sächsischen […] Canzeley, darum ists auch die gemeinste deutsche Sprache. Kaiser Maximilian, und Kurf. Friedrich, H. zu Sachsen etc. haben im römischen Reich die deutschen Sprachen also in eine gewisse [sc. einzige] Sprache gezogen« (WAT 1;524,40–525,3). Aus diesem Urteil spricht die reflektierte Kenntnis der Brückenfunktion, die der ostmitteldeutschen Kanzleisprache seinerzeit zukam. Allerdings hat Luther den Kommunikationsradius der von ihm rezipierten Sprachform weit überschätzt (beispielsweise erforderte seine Übersetzung des Neuen Testaments in Oberdeutschland die Beigabe eines ausführlichen – angehängten oder integrierten – Glossars). Gleichwohl bedeutet die sprachgeographische Einbettung Luthers einen »Glücksfall von wahrhaft historischer Bedeutung: […] Ein Luther aus dem hohen Norden oder aus südlicher Randlage wäre mit ziemlicher Sicherheit sprachlich gescheitert« (Besch 2001, 76). 4.2. Sprachgestaltung
Die Ausdrucksmittel, die ihm aus sprachgeschichtlicher Tradition und individueller Begabung verfügbar waren, hat Luther intensiv zum Einsatz gebracht. Seine daraus resultierende stilistische Kenntlichkeit war ihm bewusst: »Wehr es lieset«, bemerkte er im Blick auf einen der anonymen Drucke seiner Schriften, »so Jhmands meyne fheder vnd gedancken gesehen, muss sagen: Das ist der Luther« (WAB 10; 175,6–8). Als Leitmotiv der sprachlichen Gestaltung galt ihm das quintilianische Ideal der perspicuitas (Deutlichkeit): »Viel mit wenig Worten fein kurz anzeigen können, das ist Kunst und große Tugend« (WAT 3; 428,17 f). Seine verbositas (Weitschweifigkeit), von Luther oft selbstkritisch beklagt, empfand er als
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schmerzliche Abweichung vom erstrebten Stilideal, doch gewährte sie seinem schöpferischen Ausdrucksreichtum und lebhaften Temperament ein reiches Gestaltungsfeld. Immer wieder hat Luther die rhetorische Figur der expolitio (Ausmalung) zur variierend-eindringlichen Darlegung eines Sachverhalts gebraucht und damit als ein Hilfsmittel der perspicuitas dienstbar gemacht. Zumal in seinen deutschsprachigen Schriften wusste sich Luther der Stilebene des genus humile verpflichtet. Statt umständlicher theoretischer Begründungen pflegte er dabei auf die rhetorische Praxis Christi zu verweisen, der die Tugend der schlichten, unprätentiösen Rede meisterhaft repräsentiert habe: »Christus hat am aller einfeltigsten geredt vnd war doch eloquentia selbst. […] Drumb ists am besten vnd die hochste eloquentia simpliciter dicere« (WAT 4; 664,22–24). In solcher Weise von Gott zu reden, galt Luther nicht als eine zwar angenehme, aber sachlich irrelevante sprachliche Form, vielmehr als der authentische Ausdruck dessen, dass man überhaupt erst bei der Sache ist. Das fleischgewordene Wort Gottes war für Luther immer auch normatives Exempel dafür, wie das Wort Gottes in menschlichen Worten angemessen zur Sprache kommt. Hinter der Schlichtheit seines muttersprachlichen Stils ist die rhetorische Kompetenz Luthers oft übersehen oder geringgeschätzt worden. Dabei war ihm das Bildungsgut der klassischen Rhetorik selbstverständlich vertraut. Seine eigene Sprachgestaltung zielte auf eine »Rhetorik des Herzens« (Stolt 2000), die nicht bloß eine affektorientierte Ausdrucksweise kultivieren, sondern das gesamte, alle menschlichen Seelenvermögen umfassende Personenzentrum erreichen sollte. Quintilian war ihm dabei ein maßgebendes Vorbild, denn »er dringt einem ins hertz hinein« (WAT 2; 411,20 f). Das stilistisch-rhetorische Instrumentarium, das Luther in dieser Hinsicht zum Einsatz brachte, war ungewöhnlich vielfältig und variantenreich. Insbesondere manifestierte es sich in seiner virtuos gestalteten Vorliebe für tropisches wie überhaupt für bildhaftes Reden (Wolff 2005), auch übrigens in seinem bemerkenswert facettenreichen Einsatz von humoristischen, ironischen, sarkastischen und zynischen Stilmitteln. Die bei Luther allgegenwärtige Neigung zu Wort‑, Klang- und Satzfiguren (H. Wolf 1980, 99–101) sowie die von ihm souverän beherrschte Semantik des Rhythmus lassen den hörerbezogenen, sprechsprachlichen Duktus seiner Sprachgestaltung deutlich hervortreten. Besonderen Nachdruck legte Luther auf das aptum, also die sachliche Angemessenheit der gewählten sprachlichen Mittel. Gern hat er dafür den Cato d. Ä. zugeschriebenen Leitsatz »Rem tene, verba sequentur« (Halte dich an die Sache, dann folgen die Worte [von selbst]) angeführt und variiert. Verbum und res, Sprache und Sache sah er in einem unumkehrbaren Subsidiaritätsverhältnis. In seiner Auslegung von Tit 1,9 (1527) hat Luther diesen oft thematisierten Zusammenhang (Beutel 1991 a, 196–205) vielleicht am klarsten zum Ausdruck gebracht: »Qui bene scit aliquid, bene potest docere. Verba non iniustam rem sequentur. Eloquentia coniuncta est cum sapientia. Deus, qui dat sapientiam, dat et verbum, ut loqui possimus« (Wer etwas gut versteht, kann es auch gut lehren. Die Worte
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folgen zu Recht auf die Sache. Beredsamkeit ist mit Weisheit verbunden. Gott, der die Weisheit gibt, gibt [dann] auch das Wort, damit wir reden können) (WA 25; 27,15–17). Für die sprachgestalterische Relevanz dieser Verhältnisbestimmung von verbum und res stellt Luthers jahrzehntelang betriebene Arbeit an der Deutsche[n] Bibel (k C. I. 1.) ein kaum erschöpfbares Anschauungsfeld dar. Erst der gehörige biblische Sachverstand vermag für Luther die Einsicht zu erschließen, dass der modus loquendi scripturae in seiner Sachnähe unübertroffen ist. Kann doch niemand von einer Sache besser reden als der, der sich am besten auf sie versteht. Darin gründet für Luther die unübertreffliche Kongruenz von Sprache und Sache der Bibel: »Gott […] allein weis, wie von Gott recht zu reden sey« (WA 41; 275,3 f). In dieser unüberbietbaren Nähe von res scripturae und modus loquendi scripturae sah Luther zugleich den entscheidenden Fingerzeig für eine sachgemäße Sprache des Glaubens: »Scriptura ita loquitur, cur non nos?« (WA 47; 699,15). 4.3. Sprachverständnis
Die Sprachfähigkeit galt Luther als differentia specifica des Menschen schlechthin. Während mittelalterliche Anthropologien neben der Sprache auch andere Vermögen, etwa die Fähigkeit zu schreiben oder den aufrechten Gang, als das kennzeichnend Menschliche ansahen, beharrte Luther auf der exklusiven definitorischen Sonderstellung der Sprache für das Menschsein des Menschen (WAT 1; 565,22–26). Durch ein argumentum per negationem oppositionis sah er sich darin bestärkt: »Es ist ia ein stummer mensch gegen einem redenden, schier als ein halb todter mensch zu achten« (WADB 10,1; 100,10 f). Derselbe Gesichtspunkt bestimmte auch seinen Kommentar zur Heilung des Stummen, der, als Jesus den Teufel aus ihm getrieben hatte, wieder reden konnte (Lk 11,14 f): Er wurde wieder ein richtiger Mensch (WA 32; 19,11–13)! Die Sprache sei der beste Teil des Menschen, und der Nutzen, vor allem aber der Schaden, der von ihr ausgehen kann, entsprechend extrem: Ein böses Wort, meint Luther, könne bei Kindern die Erziehung von Jahren verderben (WA 36; 620,1–6). Ausdrücklich hat er das Tötungsverbot des fünften Gebots auch auf den Rufmord bezogen (WA 30,1; 74,9 f). Doch das böse Wort desavouiert nicht das gute Werk Gottes. Böse wird die Sprache des Menschen erst dadurch, dass er sie schöpfungswidrig gebraucht (WA 37; 19,16–24). Auf die Frage nach dem rechten, schöpfungsgemäßen usus verborum hat Luther in souveräner Monotonie stets nur das eine geantwortet: Mit seiner Sprache soll der Mensch Gott loben und ehren – »wotzu ist die tzung, stym, sprach und der mundt anders geschaffen?« (WA 6; 218,16 f). Dass die Sprachlichkeit des Menschen auch noch in anderen Hinsichten nötig und nützlich ist, ja daß sie beispielsweise seine Sozialität überhaupt erst ermöglicht, hat Luther weder pro blematisiert noch bestritten – es hat ihn nur nicht interessiert.
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In aller Defizienz ist ihm das menschliche Wort doch immerhin analogiefähig für das Wort Gottes. Das hat Luther immer wieder ausdrücklich betont, sei es in sprichwörtlichen Wendungen wie ›geringes Wort, riesige Wirkung‹ oder durch den Hinweis auf das Befehlswort eines Fürsten, Hauptmanns oder Bürgermeisters, von dem, dem Schöpfungswort Gottes (Gen 1) entsprechend, ja ebenfalls gesagt werden kann: »Er sprach, und es ward« (Beutel 1991 a, 181 f). Diese Analogiefähigkeit kommt aber auch in einer interessanten sprachgestalterischen Eigenart Luthers zum Ausdruck: seinen vielfältigen Formen der aktionalen Differenzierung bei Verben wie sagen, sprechen und reden. Wenn ein Pfarrer die Sünde weg- oder zuspricht, wenn jemand dem Teufel oder aber der Gnade Gottes entsagt, wenn einer dem andern den Glauben abspricht, eine Überzeugung ausredet oder das diesem zustehende Erbe versagt: Immer ist darin die reale Macht abgebildet, die von menschlichen Worten ausgehen kann und die sie zum kreatürlichen Gleichnis für die Allmacht des Wortes Gottes tauglich sein lässt (Beutel 1991 a, 182–184). Das Wort gilt Luther als ein Spiegel des Herzens. Könne auch nicht jede Herzensregung ausgesagt werden, so stehe doch hinter jedem Wort ein Gedanke des Herzens. Diese Grundauffassung führte Luther zu einer ganz neuartigen Definition von Wahrheit und Lüge. Während Wahrheit in philosophischer Tradition als Übereinstimmung von innerer Auffassung und äußerer Wirklichkeit (adaequatio intellectus ad rem), deren fehlende Übereinstimmung entsprechend als Irrtum oder, sofern bewusst vollzogen, als Lüge definiert worden ist, hat sich Luther an dem Verhältnis von Herz und Mund orientiert: Deren Konvergenz gilt ihm als Wahrheit, deren Divergenz hingegen als das Indiz einer Lüge. Insofern sieht Luther auch denjenigen als Lügner, der in verleumderischer Absicht eine Wahrheit sagt (WA 1; 472,40–473,11). Erst recht ist ihm der Schönredner ein Lügner, weil dieser nicht allein anders redet, als er handelt, sondern dazu auch anders redet, als er denkt und fühlt (WA 43; 681,20–22). Was er spricht, sind tote Worte – sie »stüncken […] vor lugen« (WA 15; 767,23 f). Diese wahrheitstheoretische Reflexion war für Luther keine zweckfreie Erwägung, sondern eine gezielt eingesetzte Waffe im kontroverstheologischen Kampf: Der Papst lehre zwar Gottes Gebot, trete es aber mit Füßen. Und auch die Priester glaubten nicht, was sie sagen, sondern sprächen ihre Gebete für Geld. Darum würden die Worte ihres Mundes durch die »gegenwortte« (WA 10,1, 1; 722,8) ihres Herzens als Lügen entlarvt. Ein Lügner vermag die Menschen zu täuschen, weil diese nur sein Wort hören, ihm aber nicht ins Herz sehen können (WA 3; 247,15–17). Gott aber sieht dem Lügner ins Herz und weiß, dass dessen Wort, das gegenüber den Menschen eine Lüge ist, eben darin die Wahrheit sagt über ihn selbst (WA 55,2,1; 153,14–20). Herz und Mund in Übereinstimmung zu halten – das ist für Luther der Schlüssel zu einem Gott gemäßen Gebrauch menschlicher Sprache. Diese und andere Äußerungen Luthers zur Sprache des Menschen sind über sein ganzes schriftliches Œuvre verstreut. Aus ihnen wird sich schwerlich eine konzise Sprachlehre destillieren lassen, erst recht nicht eine Sprachphilosophie.
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Wohl aber zeigen sie, dass Luther sein Leben lang das Wunder der Sprache bestaunt und bedacht hat. Vergleichsweise gering ist sein Interesse am empirischen Sprachenvergleich. Immerhin ist ihm die Vielfalt der deutschen Sprachlandschaft deutlich bewusst. Oft könne man sich bereits auf eine Distanz von 30 Meilen nicht mehr verstehen (WAT 5; 511,25 f). Unter den deutschen Mundarten hob er abwechselnd die sächsische, hessische und märkische hervor. Die oberdeutschen Dialekte klangen ihm hart, weil sie sämtliche Diphthonge verschmähten (Beutel 1991 a, 191). Ungleich wichtiger als solche Beobachtungen war ihm der kommunikative Charakter der Sprache: »Natura enim verbi est audiri« (WA 4; 9,18 f). Die darin markierte Prävalenz des gesprochenen Wortes kommt in dem sprechsprachlichen Duktus seiner Schriften und Briefe unüberhörbar zum Ausdruck: Sie sind voller Musik und verlangen danach, laut gelesen und gehört zu werden. Dieses kommunikativ orientierte, relationale Verständnis von Sprache hat Luther davor bewahrt, den inneren Gedanken des Menschen für das Urbild des Wortes zu nehmen. Nicht das verbum cordis, auf das sich die »Schwärmer« beriefen, sondern das äußere, gesprochene, hörbare und Antwort erheischende Wort wird der natura verbi gerecht. Den Vorrang der gesprochenen Sprache – »cum vox sit anima verbi« (WA 5; 379,6 f) – hat Luther auch pädagogisch wahrgenommen. Dass seiner vierjährigen Tochter Magdalene aus dem täglichen Umgang eine Sprachkompetenz erwachsen ist, die sie nicht in zehn Jahren aus Büchern hätte erlernen können, galt ihm als paradigmatisch: »Es lernet ein jderman gar viel besser Deudsch oder ander sprachen aus der mundlichen rede, im Hause, auff dem marckt und in der Predigt [!], denn aus den Büchern, Die buchstaben sind todte wörter, die mundliche rede sind lebendige wörter, die geben sich nicht so eigentlich [i. e. treffend] und gut in die schrifft, als sie der Geist oder Seele des Menschen durch den mund gibt« (WA 54; 74,15–19). Erst recht habe das göttliche Wort darin sein Wesen, mündlich anredendes, Antwort forderndes Wort zu sein: »gut gerucht, rede, geschrey von Christo« (WA 17,2; 73,35). Die Zunge war für Luther ein Abbild des Herzens. Das galt ihm für jede einzelne Regung, erst recht aber dann, wenn das ganze Herz des Menschen durch den Glauben erneuert wird: »Dem Glauben quellen die Worte aus dem Herzen wie aus einem Faß der übergärende Most« (WA 16; 203,3 f.17 f). Gleichwie die Sprache unter allen Lebewesen die Menschen kenntlich mache, so entsprechend unter allen Menschen die Christen: »Wenn man die zungen und ohren hinweg thut, so bleibt kein merckliche unterscheid zwisschen dem Reich Christi und der welt. Denn ein Christ gehet jnn eusserlichem leben daher wie ein ungleubiger. […] Allein diese zwey gliedmas machen einen unterscheid unter Christen und unchristen, das ein Christ anderst redet und höret« (WA 37; 513,20–26). Diese Sprache des Glaubens einzuüben und im Schwange zu halten, war für Luther der genuine Auftrag christlicher Predigt. In unermüdlicher Variationskraft suchte er auf der Kanzel die biblische Sprachwelt als einen aus dem Glauben
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erwachsenen unendlichen Reichtum neu zu erschließen. Das lässt sich an dem paulinischen Vergleich des menschlichen Sterbens mit dem Aussäen eines Samens (1Kor 15,36 f) exemplarisch erweisen. In einer Predigt griff Luther dieses Bild auf und spann es noch fort, indem er Gott selbst zum Sämann werden ließ, der »dich, me bey kopff« greift und auswirft. Wir sind »sein kornlin, quando me heut, morgen ergreift, so ghe ich hin« (WA 36; 642,1–3). Die Predigthörer, von Luther unmittelbar einbezogen, sehen sich dadurch genötigt, mit der Einübung dieser nova sprach sogleich zu beginnen. Wird der eigene Tod als Saatwurf Gottes verstanden, so lernt man auch, in der scheinbaren Verwesung des Saatkorns die göttliche Verheißung zu sehen. Gegen die Meinung der Welt das Urteil Gottes zu übernehmen: Dies hat Luther als die Grundbewegung christlicher Sprache bestimmt. Weil die Christen »ander leut sind, die nicht mehr jrdisch leben noch reden, sondern himlisch als Gottes kinder und der Engel gesellen, so mussen sie auch […] diese sprache verstehen und reden, die man jm himel redet« (WA 36; 644,15–19). So dass man die Menschen, die begraben werden, nicht länger als ein »stinckend, verfaulet ass odder todten bein« verstehen wird, sondern als »eitel körnlin, die da bald sollen daher wachsen, unsterblich und unverweslich, viel schöner denn die grüne saat auff dem felde, wenn es somer wird« (WA 36; 644,21–25). »Das ist nova sprach de resurrectione mortuorum« (WA 36; 647,2). In seinem fast zeitlebens wahrgenommenen Predigtamt sah Luther die beste Möglichkeit, die Menschen immer wieder in diese neue, himmlische Sprache einzuüben und sie dadurch zu dem zu machen, was sie sein sollen, nämlich zu Theologen in des Wortes eminenter Bedeutung, also zu Menschen, die nicht nur von Gott, sondern wie Gott zu reden wissen. »Omnes sumus Theologi, heisst ein iglicher Christ. Theologia: Gottes wort, Theologus: Gottes worter redet. Das sollen alle Christen sein« (WA 41; 11,9–11). Predigt und Gottesdienst waren für Luther die Sprachschule des Glaubens. Besch, Werner: Luther und die deutschen Sprache. 500 Jahre deutsche Sprachgeschichte im Lichte der neueren Forschung, 2014. Beutel, Albrecht: In dem Anfang war das Wort. Studien zu Luthers Sprachverständnis (HUTh 27), 1991; Studienausgabe 2006. Stolt, Birgit: Martin Luthers Rhetorik des Herzens (UTB 2141), 2000. Wolf, Herbert: Martin Luther. Eine Einführung in germanistische Luther-Studien, 1980. Ders. (Hg.): Luthers Deutsch. Sprachliche Leistung und Wirkung (Dokumentation germanistischer Forschung 2), 1996. Albrecht Beutel
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I. Gattungen 1. Bibelübersetzung Luthers ungewöhnliche Hochschätzung der Bibel als des zentralen und fundamentalen Wortes Gottes (k C. II. 2.) zeigt sich auch darin, dass er seine Bibelübersetzung mit lebenslanger Hingabe und penibler sprachlicher Sorgfalt bearbeitet und begleitet hat. Dass dieses besondere persönliche und innige Verhältnis zur Bibel (»meine Bibel«, »die liebe Biblia«) auch auf Einflüsse in seiner Kinderund Jugendzeit zurückgeht (Einfluss der »devotio moderna« und des »Bibelhumanismus« k B. I. 5; B. I. 7), ist wahrscheinlich. Erst für die Zeit nach seinem Klostereintritt (1505) liegen eigene Zeugnisse vor (k C. III. 1). »Tandem in bibliotheca inveni bibliam, et quamprimum me in monasterium contuli, incepi legere, relegere et iterum legere bibliam« (Endlich habe ich in einer Bibliothek eine Bibel gefunden, und sobald ich im Kloster war, begann ich die Bibel zu lesen, wieder zu lesen und nochmals zu lesen) (WAT 3; 598,13–15). Das Theologiestudium (ab 1507) brachte eine weitere intensive Beschäftigung mit der Bibel und mit der auslegungsgeschichtlichen Tradition der Kirche. Darüber hinaus förderte der Einfluss humanistischer Kreise in Erfurt (hier insbesondere seines Ordensbruders Johann Lang) das Interesse für die biblischen Urtexte und für die biblischen Sprachen Hebräisch und Griechisch. Seine Griechisch-Kenntnisse befähigten Luther später bei den Vorlesungen über neutestamentliche Bücher (Röm, Gal, Hebr) 1516–1518, den kurz zuvor von Erasmus veröffentlichten griechischen Urtext zu benutzen. Grundlegend für seine Hebräisch-Kenntnisse war der von dem Humanisten Johannes Reuchlin verfasste Sprachführer De rudimentis hebraicis (1506), den er noch während seines Aufenthalts in Erfurt erwarb und in den folgenden Jahren durcharbeitete, so dass er zumindest Grundelemente der hebräischen Sprache beherrschte und diese in der ersten Psalmenvorlesung 1513–1515 anwenden konnte. 1.1. Revision der lateinischen Übersetzung
Als Professor der Theologie in Wittenberg (ab 1512) ließ Luther für seine ersten Vorlesungen den lateinischen Text des jeweils behandelten biblischen Buches drucken. Textgrundlage war aber nicht einfach der Vulgata-Text, sondern dieser war literar- und textkritisch überarbeitet und darüber hinaus ergänzt durch Summarien und Tituli bei den Psalmen bzw. bei den Kapiteln der Paulusbriefe. Auch für die Vorlesungen der folgenden Jahre waren lateinische Textausgaben »ad utilitatem discentium sacras literas« (WADB 5; 1,31) erwünscht und geplant, und zwar in textkritisch überarbeiteter und bereinigter Fassung, um die durch die Überlieferung entstandenen Fehler und Verderbnisse zu beseitigen. Diese Bearbeitung verzögerte sich aber, und erst 1529 erschienen Teile einer solchen Vulgata-Revision, und zwar die geschichtlichen Bücher des Alten Testaments sowie das
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Neue Testament (WADB 5). Ebenfalls 1529 erschien als separater Druck ein revidierter Text des Psalters (WADB 10,2; 189–289) für die liturgische und private Nutzung als Gesang- und Gebetbuch und zum besseren Verständnis der lateinischen Liturgie. 1537 folgte eine Neuauflage des Psalters mit einer eigenen neuen Vorrede Luthers (aaO 185–188). Die noch ausstehenden Teile des AT sind nicht mehr erschienen. Dies lag wohl auch am Erfolg der nach dem Urtext neu übersetzten »besseren« deutschen Bibel, die zunehmend in den Vorlesungen herangezogen wurde (z. B. WA 14; 592,2 f. WA 25; 210,24 f. WA 31,2; 451,28 f: »Respicite ad nostram translacionem«). Hier wie auch sonst wurde das Latein als Normalsprache in Theologie und Liturgie (Deutsche Messe 1523) zunehmend durch die deutsche Sprache verdrängt. 1.2. Anstoß zur deutschen Bibelübersetzung
Spätestens mit dem öffentlichen Aufsehen, das die Ablassthesen 1517 erregten (k C. I. 2.), hatte Luther den akademischen Bereich eines Universitätstheologen überschritten und begann zunehmend auch für das nicht-akademische, mit dem Lateinischen nicht vertraute Publikum (den »gemeinen Mann«) deutsche Schriften zu veröffentlichen. Neben polemischen und programmatischen Schriften und Sermonen in deutscher Sprache erschienen in den folgenden Jahren auch – im Zusammenhang mit Auslegungen – die ersten Übersetzungen biblischer Texte ins Deutsche. Die erste dieser Veröffentlichungen, Die sieben Bußpsalmen (1518), richtete sich an die Adresse: »Allen lieben glidmaßen Christi«, was in einer brieflichen Äußerung erläutert wurde: »Sunt enim non pro delicatis ingeniis, Sed pro rudissimis, quales patior multos, editi ideo enim sunt tam inermes et sine testimoniis scripturae« (Sie sind nicht für gelehrte Geister herausgegeben, sondern für die Ungebildeten, deren ich viele habe, denn diese sind so kenntnislos und ohne Zeugnisse der Schrift) (WAB 1; 96,14 f). Ein Vergleich dieser frühen Übersetzungen (1518/1521) mit der späteren Bibelübersetzung 1521/1524 zeigt, dass im Laufe dieser wenigen Jahre bemerkenswerte Fortschritte in der Übersetzungskunst hinsichtlich Grammatik, Stilistik und Wortwahl stattgefunden haben. Das auch sonst in humanistischen Kreisen (z. B. bei Erasmus) stark verbreitete Interesse an erbaulichen religiösen Texten in deutscher Sprache ließ auch bald die Überlegung entstehen, die Bibel ins Deutsche zu übersetzen. Solche Pläne im Wittenberger Umkreis sind zum ersten Mal 1520 bezeugt. Und dass auch in diesem Fall der interessierte fromme Laie der Hauptadressat der deutschen Übersetzung war, zeigt Luthers Vorrede zu seiner im September 1522 erschienenen ersten Übersetzung des Neuen Testaments. Neben einer entsprechend angemessenen Übersetzung wird hier den beigefügten Vorreden zu den einzelnen biblischen Büchern und den Randglossen ausdrücklich die »Funktion eines populartheologischen Kommentars« (Beutel 2002, 51) zugewiesen, »da mit der eynfelltige man, aus seynem allten wahn, auff die rechte ban gefuret vnd vnterrichtet werde, wes er ynn disem buch gewartten solle« (WADB 6; 2,8–10).
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Unmittelbarer Anlass, mit der Bibelübersetzung während des Wartburg-Aufenthalts 1521/22 zu beginnen, war Anfang Dezember 1521 ein Gespräch mit Melanchthon, der auf unbefriedigende Übersetzungsvorhaben anderer Autoren und auf die Notwendigkeit, insbesondere die Paulusbriefe von den »Verdunklungen« der Tradition zu befreien, verwies (WA 48; 448,2–5). Die innerhalb von drei Monaten entstandene Übersetzung des Neuen Testaments wurde nach der Rückkehr von der Wartburg gemeinsam mit den Wittenberger Freunden (v. a. dem Gräzisten Melanchthon) überarbeitet. Nach Erscheinen des Neuen Testaments 1522 folgten in relativ rascher Folge in den Jahren 1522–1524 die Übersetzungen der ersten Teile des Alten Testaments (Gen-Cant). Die Übersetzung der Propheten und der Apokryphen verzögerte sich wegen Krankheit und Arbeitsüberlastung, so dass die vollständige Bibelübersetzung erst 1534 erscheinen konnte, insbesondere auch durch Mitarbeit anderer Wittenberger Theologen bei der Übersetzung der Apokryphen (WADB 12). Auch in den Folgejahren wurde an der Verbesserung der Übersetzung gearbeitet, bis hin zur Ausgabe letzter Hand 1545/46. 1.3. Quellen und Hilfsmittel
Für die Übersetzung des Neuen Testaments benutzte Luther den von Erasmus erstmalig 1516 herausgegebenen griechischen Urtext bzw. eine darauf beruhende Ausgabe des Nikolaus Gerbel. Eine wesentliche Hilfe bei der Übersetzung war die von Erasmus seiner Ausgabe beigegebene lateinische Übersetzung nebst philologischen Annotationes sowie Luthers eigene intensive Kenntnis der Vulgata. Sprachliche Untersuchungen (in WADB 6; 595–637. WADB 7; 555–660 und von H. Dibbelt) zeigen, dass Luther nicht durchgängig dem Urtext folgt, sondern gelegentlich einer der beiden lateinischen Übersetzungen den Vorrang gibt. Welche hebräische Textausgabe Luther für die Übersetzung des Alten Testaments benutzt hat, ist – den Psalter ausgenommen (WADB 10,2; 290–349) – nicht bekannt; entsprechende sprachliche Untersuchungen fehlen. Er besaß zwar eine hebräische Bibel im Oktavformat (gedruckt in Brescia 1494), die eine Reihe von handschriftlichen Eintragungen von ihm aus verschiedenen Epochen seines Lebens enthält (WA 60; 240–307). Jedoch sind selbst an den Stellen, wo Luther abweichende Lesarten dieser Brescia-Bibel angestrichen oder am Rand notiert hat, diese nicht Grundlage der endgültigen Druckfassung geworden. Zwar begleitete diese kleinformatige hebräische Bibel Luther auf seinen Reisen (1521 auf die Wartburg, 1530 auf die Coburg), aber für die eigentliche Übersetzungsarbeit ab 1522 dürfte eine der beiden hebräischen Bibeln, die Melanchthon 1518 für die Universität erworben hatte, benutzt worden sein. Aber auch bei der Übersetzung aus dem Hebräischen waren die lateinische Vulgata-Version und die Kenntnisse der exegetischen Literatur präsent und wurden in gleicher Freiheit wie beim Neuen Testament benutzt und eingesetzt. Dass Luther als Übersetzungshilfe auch deutsche Übersetzungen anderer Autoren herangezogen und benutzt hat, gilt als unwahrscheinlich. Lebendige Über-
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lieferung der »Kirchensprache in Perikopen, Plenarien und Predigten, gemeinsamer häufiger Anschluss an die Vulgata und schließlich die immerhin begrenzte Auswahl von Übersetzungsmöglichkeiten« (H. Bornkamm 1975, 73) bedingen Berührungen mit früheren deutschen Übersetzungen (sog. Mentelin- oder Zainerbibel). Ähnlich muss man über die Frage urteilen, ob Luther andere zeitgenössische Übersetzungen benutzt hat, seien es die Wormser Propheten, eine Übersetzung der alttestamentlichen Propheten durch die Täufer Ludwig Hätzer und Hans Denck (1527), oder seien es die Teile der Zürcher Bibel (1529), die vor Luthers eigener Übersetzung erschienen waren. Er hat sie gekannt und wohl auch gelegentlich – insbesondere bei schwierigen Textstellen – eingesehen (z. B. WADB 2; 156 zu Hos 10,14: »Vide hetzer«); es besteht aber Konsens darin, dass von größerer durchgehender Abhängigkeit keine Rede sein kann. Eine nicht zu unterschätzende Hilfe war aber die exegetische und philologische Kompetenz der Wittenberger Freunde und Kollegen. Luther hatte auch bei anderer Gelegenheit immer wieder betont, dass die Übersetzungsarbeit von einem allein nicht zu leisten sei (»Unus vir, Nullus vir«: WADB 5; 1,25), sondern der gemeinsamen Anstrengung vieler bedürfe (WA 48; 448,7). Bei allen Übersetzungen der biblischen Texte wurde jeweils der erste Entwurf Luthers zusammen mit Kollegen (vor allem Melanchthon und dem Hebraisten Matthäus Aurogallus) überarbeitet. Neuauflagen einzelner biblischer Bücher oder der ganzen Bibel wurden ebenfalls einer mehr oder weniger intensiven gemeinsamen Überarbeitung unterzogen. Seit 1531 hatte sich diese Revisionsarbeit institutionalisiert in einem bei Bedarf regelmäßig tagenden »Collegium Biblicum«, dem neben den schon vertrauten Mitarbeitern Melanchthon und Aurogallus weitere Theologen der Universität angehörten (Caspar Cruciger, Justus Jonas, Johannes Bugenhagen). Von der Psalter-Revision 1531 sowie von den Bibel-Revisionen 1539/41 und 1544 gibt es (von Georg Rörer geschriebene) Protokolle (WADB 3 und 4). Diese Team-Arbeit kam nicht nur der theologischen und exegetischen Qualität der Übersetzungsarbeit zugute, sondern die Beteiligung von Mitarbeitern aus den verschiedenen ober- und niederdeutschen Sprachregionen hat auch die Verständlichkeit der Texte im ganzen deutschen Sprachbereich befördert. 1.4. Zur Sprache der Übersetzung
Nicht nur wegen der traditionskritischen Vorreden und der papstkritischen Holzschnitte zur Johannesoffenbarung, sondern auch wegen der Übersetzung selber wurde die Bibelübersetzung von altgläubiger Seite heftig angegriffen, bis hin zum Verbreitungsverbot im Herzogtum Sachsen. Luther sah sich veranlasst, die Gründe für die Art seiner Übersetzung zu erklären: in gelegentlichen Äußerungen in Tischreden, aber v. a. in zwei Schriften, dem Sendbrief vom Dolmetschen (1530) (WA 30,2; 632–646) und den Summarien über die Psalmen und Ursachen des Dolmetschens (1531/33) (WA 38; 9–69). Diese Äußerungen zeigen die sehr sorgfältigen hermeneutischen Reflexionen, die den Kreis der Wittenberger
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Übersetzer bewegten und deren Ziel es war, für die Sache des Quellentextes die angemessenen Worte der Zielsprache zu finden und so beiden Seiten gerecht zu werden. Diese beiden Schriften waren vielfältig Gegenstand eingehender Analysen, und es zeigt sich, dass Luthers Überlegungen auch nach dem Stand der heutigen Sprachwissenschaft nicht überholt sind (vgl. Stolt 2000, 85 ff; 2012, 251 ff). Luther kennt und beruft sich auf die klassische Übersetzer-Regel: »Wie denn alle Schulmeister leren, das nicht der sinn den worten, sondern die wort dem sinn dienen und folgen sollen« (WA 38; 11,15–17). Es kommt darauf an, nicht am Buchstaben des Quellentextes haften zu bleiben, sondern den Sinn zu erfassen und mit Worten und Wendungen der eigenen Sprache wiederzugeben. Hierfür muss man beide Sprachen gut kennen, um die gemeinte Sache und die angesprochene Situation in die eigenen Worte fassen zu können. Das gelingt nicht immer, und man muss gelegentlich die biblische, sehr bildhafte und sakrale Sprache doch eher wörtlich wiedergeben und den dabei entstehenden Verfremdungseffekt gelten lassen. Der Dolmetscher muss sich dieser Grenze bewusst sein und wissen, was er seinem Leser zumuten kann. Im Nachwort zur Psalter-Ausgabe 1531 zeigt Luther selber, wie man dabei zu verschiedenen Lösungen kommen bzw. im Prozess der Adaption vorankommen kann, »wie man mit Dolmetschen neher vnd neher kompt, Denn der vorige deudsche Psalter [1528], ist an viel orten dem Ebreischen neher, vnd dem deudschen ferner, Dieser ist dem deudschen neher, vnd dem Ebreischen ferner« (WADB 10,1; 590,45–48). Allerdings gibt es Situationen, wo der Sinn des Quellentextes nicht offen zutage liegt und deshalb die Übersetzung fraglich wird. Hier gibt Luther die Empfehlung: »cum est obscurus aliquis locus, considero, an sit de gratia vel lege, an ira vel remissio peccatorum, wazu es sich am besten reyme. Hac ratione saepe obscurissimos locos intellexi, das es vel lex vel euangelion vns in die hend getriben hat« (Wenn irgendeine Schriftstelle dunkel ist, dann prüfe ich, ob sie von der Gnade oder vom Gesetz handelt, ob vom Zorn [sc. Gottes] oder der Vergebung der Sünden, wozu es sich am besten reimt. Auf diese Weise habe ich oft die dunkelsten Stellen verstanden, so dass es uns entweder das Gesetz oder das Evangelium in die Hände getrieben hat) (WAT 1; 128,5–8). Insbesondere hilft eine christologische Deutung, denn »die Ebreische sprache ligt leyder zu gar darnidder, das auch die Juden selbs weniggnug dauon wissen, […] sol die Bibel erfur komen, so mussen wyrs thun, die Christen sind, als die den verstand Christi haben, on wilchen auch die kunst der sprache nichts ist« (WADB 8; 30,32–36). Wenn es beim Übersetzen darum geht, die biblischen Texte in der Zielsprache zum Sprechen zu bringen, bedeutet dies auch, eine bestehende, möglichst überall verständliche Sprache zu verwenden und nicht etwa eine neue Sprache zu schaffen. Er selbst urteilt: »Ich habe keine gewisse, sonderliche, eigene Sprache im Deutschen, sondern brauche der gemeinen deutschen Sprache, dass mich beide, Ober- und Niederländer verstehen mögen« (WAT 1; 524,40–42). Die Tendenzen zur Verbreitung einer solchen »gemeinen deutschen Sprache« sind aber andererseits durch Luthers Bibelübersetzung stark befördert worden (k B. IV. 1.).
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1.5. Anleitung zum Verstehen der Bibel (Vorreden, Randglossen)
Die Vorreden zum Alten und Neuen Testament sowie zu einzelnen biblischen Büchern haben den Zweck, den Zugang zur Bibel als Ganzer und zu ihren einzelnen Schriften zu bereiten und den Leser von bisherigen Missdeutungen abzubringen und auf den Kern der biblischen Botschaft, das Evangelium von Christus, hinzuleiten. »Es were wol recht vnd billich, das dis buch on alle vorrhede vnnd frembden namen außgieng«, aber es sei doch notwendig, »eyn antzeygen vnd vorrhede zu stellen, da mit der eynfelltige man, aus seynem allten wahn, auff die rechte ban gefuret vnd vnterrichtet werde« (WADB 6; 2,2 f.7–9). Als konkrete Verständnishilfe sind diese Vorreden situationsbedingt, bezogen auf die jeweilige Schrift wie auch auf Luthers eigene geschichtliche Situation, sofern die Vorreden zu unterschiedlichen Zeiten und unter unterschiedlichen Bedingungen entstanden sind. Es gibt keine einheitliche »Form« der Vorrede, sondern sie spiegeln – je nach Schrift und Luthers eigenem Anliegen – ein ganzes Spektrum unterschiedlicher Formen. Programmatisch für Luthers Gesamtverständnis der Bibel sind die den Erstdrucken 1522/23 beigefügten großen Vorreden zum Neuen und Alten Testament, die das Kriterium der ganzen Schrift, die Dialektik von Mose und Christus, Gesetz und Evangelium, Werk und Glaube, dem Leser deutlich machen wollen. Ebenso gewichtig ist die Vorrede zum Römerbrief als dem »rechten Hauptstück des Neuen Testaments«, die die tragenden paulinischen Begriffe analysiert: »Darumb es auch scheynet, als habe Sanct Paulus ynn diser Epistel wollen eyn mal ynn die kurtz verfassen, die gantz Christliche vnd Euangelische lere, vnd eyn eyngang bereytten ynn das gantze allte testament« (WADB 7; 26,12–15). Die übrigen Vorreden in den Veröffentlichungen 1522/23 sind relativ kurz gehalten – insbesondere die unter großem Zeitdruck entstandenen Vorreden zu den übrigen neutestamentlichen Büchern – und variieren in knappen (Inhalts‑)Übersichten die in den großen Vorreden gesetzten Themen. Am Ende der Vorrede auf das Neue Testament steht der Unterricht, »wilchs die rechten vnd Edlisten bucher des newen testaments sind« (WADB 6; 10,7 f), in dem das Johannesevangelium, die Paulusbriefe (v. a. Röm) und der erste Petrusbrief als »der rechte kern vnd marck vnter allen buchern« herausgestellt werden, »die dyr Christum zeygen, vnd alles leren, das dyr zu wissen nott vnd selig ist« (aaO 10,12 f.31 f). Trotz der unterschiedlichen Gewichtung der biblischen Bücher und gelegentlich abwertender oder sogar ablehnender Bewertung einzelner Schriften im Neuen Testament (Hebr, Jak, Apk) wird der überlieferte Schriftenkanon aber beibehalten. Allerdings werden die Schriften neu angeordnet und die zweifelhaften Schriften ans Ende gestellt; dies wird in den einzelnen Vorreden weiter begründet. Das christozentrische Kriterium zur Beurteilung aller Schrift wird besonders deutlich formuliert in der Vorrede zur »stro[h]ern Epistel« (aaO 10,33 f), dem Jakobusbrief: »Auch ist das der rechte prufesteyn alle bucher zu taddelln, wenn man sihet, ob sie Christum treyben […]. Was Christum nicht le-
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ret, das ist nicht Apostolisch, wens gleich Petrus odder Paulus leret« (WADB 7; 384,26–30). Die Vorrede zum Psalter 1524 fiel aus Zeitgründen relativ kurz aus und beschränkte sich auf die Erläuterung einiger zentraler Wörter im Psalter, deren richtige Übersetzung Schwierigkeiten bereitet hatte. In einem kurzen Nachwort zur Ausgabe 1525 wird der Psalter beschrieben als »eyne rechte schule, darynne man den glauben vnd gut gewissen zu Gott, lernt, vbet vnd sterckt« (WADB 10,1; 588,16–18). Diese knappen Angaben werden seit der Ausgabe 1528 in einer ausführlicheren Vorrede dargestellt, in der der Psalter als »kleine Biblia« gelobt wird, »darynn alles auffs schonest vnd kürtzest, so yn der gantzen Biblia stehet, gefasset vnd zu einem feinen Enchiridion odder handbuch gemacht vnd bereitet ist« (aaO 98,22–24). Auch in den Vorreden zu den prophetischen Büchern (1528–1532) werden die zentralen Themen von Glaube und Unglaube behandelt und die Propheten auf das Zentrum der Schrift hin verstanden und gedeutet: »Denn also thun alle Propheten, das sie das gegenwertige volck leren vnd straffen, daneben Christus zukunfft vnd reich verkündigen, vnd das volck drauff richten vnd weisen« (WADB 11,1; 18,33–35). Daneben finden sich aber auch ganz praktische Bemerkungen zur historischen Epoche der Propheten, um ihre Droh- und Heilsworte verständlicher zu machen, zur Form der prophetischen Worte und zur Gestalt der vorliegenden Bücher als »Sammlungen«, womit dann z. B. die »vnordnung« im Jesajabuch (aaO 22,13) erklärt wird. Eine besondere Schwierigkeit zum Verständnis der prophetischen Bücher bilden die häufig gebrauchten Bilder (»verblümete wort, die man figuras nennet«; WADB 10,1; 94,9) und Visionen (in Hes und Dan). Insbesondere zur Veröffentlichung des Danielbuches 1530 werden in einer ausführlichen Vorrede die Visionen Dan 7–12 historisierend ausgedeutet als Schilderung der auf ihr Ende zustrebenden Weltgeschichte. Mit gleicher Tendenz erscheint etwa gleichzeitig die Johannesoffenbarung mit einer neuen ausführlichen Vorrede. 1522 hatte Luther noch scharf geurteilt: »Myr mangellt an disem buch [der Johannes-Offenbarung] nit eynerley, das ichs wider Apostolisch noch prophetisch hallte, Auffs erst vnnd aller meyst, das die Apostell nicht mit gesichten vmbgehen, sondern mit klaren vnd durren wortten weyssagen« (WADB 7; 404,5–8). Jetzt bemüht er sich um ein rechtes Verständnis der Visionen und deutet sie auf den Verlauf der Kirchengeschichte, die mit dem großen Weltgericht enden wird. Als Grund für diese Sicht der apokalyptischen Visionen bei Johannes und Daniel wird gern auf Luthers gesteigerte Naherwartung um 1530 verwiesen, wie sie besonders in seinem Widmungsbrief an den sächsischen Kurprinzen zum Ausdruck kommt (WADB 11,2; 381–387). Ein weiterer Grund wird deutlich in der Vorrede zur Sacharja-Auslegung 1528, die veröffentlicht wurde »umb der leichtfertigen geister willen, so ynn die allegorien fallen und gar meisterlich auch feylen«. Denn jetzt wolle »ein iglicher ein newer deutel meister sein, dieser nympt Daniel, jhener Apocalypsin fur und so fortan […], was am aller meisten allegoryen hat« (WA 23; 487,4 f. 485,17–
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20. Ähnlich WADB 7; 408,12 ff). Die Vorreden zum Danielbuch und zur Apokalypse 1530 haben offenbar auch den Sinn, diese Bücher durch eine möglichst nüchterne historisierende Ausdeutung der Visionen vor ausufernden allegorischen Auslegungen zu bewahren. In diesem Sinne sind auch die 1541 neu geschriebenen Teile der Vorreden zu Hesekiel und Daniel historisierende Deutung. Sie spiegeln aber auch die scharf antipäpstliche (Dan) und antijüdische (Hes) Polemik der 1540er Jahre. Die schließlich 1532/1534 übersetzten »Apokryphen«, die nicht in der hebräischen Bibel, sondern nur in der griechischen Septuaginta überliefert sind und deren Kanonizität von jeher angezweifelt wurde, werden von Luther ganz ans Ende des Alten Testaments gestellt. In Vorreden wird im Einzelnen begründet, inwieweit sie »doch nützlich vnd gut zu lesen sind« (WADB 12; 2,3 f). Unter diesem Kriterium erscheinen als besonders zweifelhaft die Bücher Baruch und das zweite Makkabäerbuch. Das dritte und vierte Esrabuch werden ganz ausgeschieden. Neben allen diesen inhaltlichen Ausführungen und Bewertungen in den biblischen Vorreden finden sich – insbesondere in den alttestamentlichen Büchern – im einzelnen weitere Verständnishilfen für den Leser, so zur historischen Situation des biblischen Autors, zu literarischen Gattungen, zur Literarkritik und schließlich auch Wort- und Sacherklärungen (z. B. in der Römer- und der Psalter-Vorrede 1524), die sich im Einzelfall auch in allen Büchern in den beigefügten Randbemerkungen finden. Über die eigenen Übersetzungsschwierigkeiten redet Luther in den Vorreden nur gelegentlich (Hiob, Ps, Jes, Weish, Sir). Die Vorreden und Randbemerkungen Luthers zu seiner Bibelübersetzung sind bis ins 18. Jahrhundert hinein in den vielfachen Nachdrucken der Lutherbibel mit abgedruckt worden und dürften – neben dem Katechismus und den Liedern – zu den am häufigsten gedruckten (und hoffentlich auch gelesenen) originären Luthertexten gehören. Während die sprachliche Wirkungsgeschichte in ihrer Bedeutung unbestritten ist, ist die theologische und religiöse Wirkungsgeschichte der Lutherbibel aufgrund der immer wieder mit abgedruckten pointierten Kommentare in den Vorreden und sonstigen Beigaben nicht ganz so offensichtlich, kann aber wohl nicht hoch genug eingeschätzt werden. Dahlgrün, Corinna/Haustein, Jens (Hg.): Anmut und Sprachgewalt. Zur Zukunft der Lutherbibel, 2013, 17–67. Kaufmann, Thomas: Vorreformatorische Laienbibel und reformatorisches Evangelium (ZThK 101, 2004, 138–174). Stolt, Birgit: Martin Luthers Rhetorik des Herzens (UTB 2141), 2000, 84–126. Dies: »Laßt uns fröhlich springen!«. Gefühlswelt und Gefühlsnavigierung in Luthers Reformationsarbeit (Studium Litterarum 21), 2012, 175–306. Volz, Hans: Einleitung zu: D. Martin Luther, Die gantze Heilige Schrifft Deudsch, Wittenberg 1545, Bd. 1, 1972, 33*–144*. Heinz Blanke
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2. Programmschriften 2.1. Die 95 Thesen im Ablassstreit
Luther ruft in seinen wahrscheinlich zuerst am 31. Oktober 1517 in Plakatform an die Tür der Schlosskirche zu Wittenberg gehefteten 95 Ablassthesen (Disputatio pro declaratione virtutis indulgentiarum, d. h. Disputation zur Erläuterung der Kraft des Ablasses: WA 1; 233–238) zu inneruniversitärer Diskussion über das Ablasswesen auf. Seine Kritik mittelalterlicher Ablasstheorie und -praxis gründet sich auf die biblische These, dass Christus uns in Mt 4,17 zur Buße bringen will. Sie darf weder rein innerlich bleiben, noch ist sie ein punktueller, im Bußsakrament zu vollziehender Beichtakt. Buße meint vielmehr die gesamte christliche Existenz. Kirchenkritisch formuliert: Das päpstliche, sich im Ablasshandel manifestierende Bußwirken hat für die Glaubenden vor Gott keine rekonziliatorische Wirkung, kirchenrechtliche Bußbestimmungen haben für Verstorbene keine Gültigkeit, eine Bußstrafe (poena) darf der Papst laut altkirchlicher Canones höchstens für Lebende festsetzen, und die durch Gott ohnehin vergebene Schuld (culpa) kann der Papst höchstens bestätigen. Die mittelalterlich-thomistische Lehre vom Schatz der Kirche, laut welcher der Papst den durch das Verdienst Christi erworbenen Ablass austeilt, ist als Legitimation von Ablasskampagnen nicht plausibel. Das Überangebot von Ablässen erschwert Christen aufrichtige Reue und Gottesfurcht. Die hohe Gewinne erzielende Geschäftspraxis der Ablass prediger ist untragbar (ähnlich schon P. Abaelard), denn der wahre Schatz der Kirche ist das Evangelium von der Herrlichkeit und Gnade Gottes. Jeder Christ partizipiert an allen Gütern Christi und der Kirche ohne Ablassbriefe. Verglichen mit der Barmherzigkeit des Kreuzes verblasst die Kraft des Ablasses. Die Schätze des Ablasses fischen nur die Reichtümer der Menschen, die Schätze des Evangeliums aber sind Netze, mit denen man nach Mt 4,19 reiche Menschen fischt. Die 95 Ablassthesen waren Anlass zur Einleitung des Ketzerprozesses gegen Luther. Der Sermon von Ablaß und Gnade (1517: WA 1; 243–246) popularisiert die Grundgedanken der lateinischen Ablassthesen für die deutschsprachigen Laien. Demnach lassen sich die drei traditionellen Elemente der Buße, d. h. Reue (contritio cordis), Beichte (confessio oris), Genugtuung (satisfactio operum), nicht in der Bibel nachweisen, und die Annahme, der Ablass habe angesichts der Sünde satisfaktorische Wirkung, ist schriftwidrig, da Gott selbst die Sünder absolviert und entlastet aus Gnade allein. 2.2. Die drei Hauptschriften von 1520
Öffentlichkeitswirksam entfaltet Luther sein kirchlich-politisches Reformprogramm in den sog. Hauptschriften von 1520, beginnend mit An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung (WA 6; 404–469). Die Adelsschrift, gerichtet an die weltliche Obrigkeit und den Kaiser, nimmt mit-
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telalterliche Reformforderungen des Konziliarismus und der Gravamina nationis germanicae auf und verschärft sie. Die römische Kirche ist aus Luthers Sicht dreifach vermauert. Damit verschließt sie sich jeglichem Reformansinnen. Erstens werden Kleriker und Laien durch die Priesterweihe streng voneinander geschieden. Dies bedeutet, da alle Christen in Gottunmittelbarkeit leben, eine unbegründbare Privilegierung der Priester. Zweitens nehmen der Papst und die »Romanisten« das Monopol der Schriftauslegung für sich in Anspruch, obwohl jeder Christ theologische Urteilskraft hat und die Schrift auslegen kann. Und drittens darf allein der Papst ein Konzil einberufen. Stattdessen soll nach Luthers Sicht ein freies Konzil die Verweltlichung des Papsttums eindämmen, die Kardinäle in die Schranken weisen und den Pfründenmissbrauch, Wallfahrten nach Rom und öffentlichen Bettel unterbinden. Das Verhältnis beider Universalgewalten ist so zu gestalten, dass der Papst keine Macht über den Kaiser hat. Lediglich im Predigen und Freisprechen von Sünden steht er über ihm. Einen Modernisierungsschub bedeutet Luthers Auffassung, dass die Entscheidung, sich zu verheiraten, jedem Priester freigestellt wird, denn der Papst hat kein Recht, Geistlichen den Zölibat abzufordern. Luthers Bestreitung des Unterschieds von Priestern und Laien ist inner- wie außerkirchlich von hoher Sprengkraft. Das Postulat des allgemeinen Priestertums gründet sich auf 1Petr 2,9, wonach alle Christen Könige und Priester sind. Die innerkirchliche Hierarchie, gesichert durch die sakramentale Weihe der Priester, ist aufzulösen, denn »alle Christen sein warhafftig geystlichs stands, unnd ist unter yhn kein unterscheyd« (WA 6; 407,13 f). Die geweihten Priester, die Luther als »olgotzen« abwertet (WA 6; 407,21), dürfen keine juristischen Privilegien, z. B. die Exemtion von weltlicher Rechtssprechung, beanspruchen. Die von Luther angestrebte Universitätsreform umfasst überdies die Abschaffung des geistlichen Rechts, der Aristoteles-Lektüre und scholastischer Sentenzen sowie eine Intensivierung des Schrift-Studiums. Die für die lateinische Fachwelt verfasste zweite Hauptschrift von 1520 heißt De captivitate Babylonica ecclesiae praeludium (Vorspiel von der babylonischen Gefangenschaft der Kirche: WA 6; 497–573). Der beißend-ironische Titel ist als Anspielung auf den von Luther erwarteten Widerruf zu verstehen und bedeutet inhaltlich eine Konfrontation mit den Altgläubigen und ihrem mittelalterlichen Sakramentsverständnis. Die Siebenzahl der Sakramente, zu der neben der Taufe, dem Abendmahl und der Buße traditionell die Firmung, die Ehe, die Priesterweihe und die letzte Ölung von Sterbenden gehören, ist mit der Bibel unvereinbar, wie Luther in seiner Neubegründung der Sakramente durch minutiöse Schrift auslegung und Einzelkritik erweist. Nur noch Taufe, Abendmahl und Buße sind als Sakramente biblisch begründbar. Sie sind im Grunde ein Sakrament (WA 6; 501,33–38), das aus drei sakramentalen Zeichen besteht (signa sacramentalia). Die Firmung unter Auflegung der Hände hingegen ist ein bloßer Kirchenbrauch (Mk 16,18), es ist eine Fehlinterpretation von Eph 5,31 f, die Ehe sakramental zu verstehen, eine spezielle Priesterweihe wird im gesamten Neuen Testament nicht
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mit einem einzigen Wort erwähnt, da nach 1Petr 2,9 alle Christen Priester sind, und die sogenannte »letzte« Ölung ist nach Jak 5,14 f in Wahrheit kein Sakrament, sondern eine Krankensalbung nur für diejenigen, die im Glauben schwach sind. Gegen Ende der Schrift erwägt Luther, ob die Buße tatsächlich zu den Sakramenten gehört, da ihr, anders als bei Taufe und Abendmahl, der Zeichencharakter fehlt (WA 6; 572,10–22). Mit seiner Reduktion der Siebenzahl der Sakramente greift Luther das lehramtliche und kirchenrechtliche Fundament der römischen Kirche an. Ähnlich wie bei den drei Mauern aus der Adelsschrift redet er in De captivitate von den drei Gefangenschaften der Kirche. Erstens hält die Kommunion unter einerlei Gestalt das Abendmahl gefangen, da den Laien der Abendmahlskelch entzogen wird. Christus hat im letzten Abendmahl Brot und Wein eingesetzt. Zweitens ist die aus aristotelisch-thomistischer Philosophie entwickelte Transsubstantiationslehre, wie sie das Laterankonzil von 1215 voraussetzt, eine scholastische Überformung der schlichten, von Christus selbst gesprochenen Einsetzungsworte des Neuen Testaments. Es ist daher unnötig anzunehmen, dass sich Brot und Wein in eine andere Substanz verwandeln, Christus unter die Akzidentien einschließend. Die dritte Gefangenschaft ist der Missbrauch der Messe, von der geglaubt wird, sie sei ein gutes Werk und eine Opferhandlung. Das in der Messe gefeierte Abendmahl ist vielmehr eine sich durch Christi Tod vollziehende Testamentshandlung, welche den Glaubenden die Sündenvergebung als Erben testamentarisch zusagt. Ein Christ antwortet auf diese Zusage im Glauben. Es bedeutet eine Verfälschung des Abendmahls, wenn in der Messe die Einsetzungsworte nur leise auf Latein gesprochen werden. Die meritorische Stiftung von Messen, wenn z. B. der Priester von einem Stifter den Auftrag erhält, Gott das Messopfer darzubringen, ist überdies abzulehnen. Das Abendmahl als Testamentshandlung ist allein als Gabe Christi recht zu verstehen. Wie das gottesdienstlich gefeierte Abendmahl, so hat das Sakrament der Taufe unmittelbaren Lebensbezug. Ihre Wirksamkeit beruht auf der Relation von Wort und Glaube, wie Luther unter Berufung auf Mk 16,16 (»Wer da glaubt und getauft wird, der wird selig werden«) ausführt. Auf diesem Taufglauben beruht die Freiheit der Christen. Er macht frei von kirchlichen Rechtssatzungen, die mit dem Schein von Heilsnotwendigkeit ausgestattet sind. Das Freiheitsthema verfolgt Luther weiter in seiner wohl populärsten und wirkmächtigsten dritten Hauptschrift aus diesem Jahr mit dem Titel Von der Freiheit eines Christenmenschen (WA 7; 20–38): »Es ist eyn kleyn büchle, ßo das papyr wirt angesehen, aber doch die gantz summa eyniß Christlichen leben drynnen begriffen, ßo der synn vorstandenn wirt« (WA 7; 11,8–10). Luther hat vermutlich erst nach der deutschen Fassung die lateinische mit dem Titel Tractatus de libertate Christiana ausgearbeitet (WA 7; 49–73). Der thetisch vorangestellte Grundgedanke, welcher die Gesamtschrift in zwei Teile gliedert, beruht auf 1Kor 9,19 und ist paradoxal formuliert: »Eyn Christen mensch ist eyn freyer herr über alle ding und niemandt unterthan. Eyn Christen mensch ist eyn dienstpar knecht aller ding und yderman unterthan« (WA 7; 21,1–4). Dieser doppelten These von
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der Freiheit eines Christen und seiner Bindung an den Nächsten korrespondiert die theologische Unterscheidung von innerlichem und äußerlichem Menschen und die Differenz von Glauben und Liebe. Jeder Christ, dessen Christsein in Christus gründet, lebt gleichzeitig in zwei differenten Bereichen. Das Zentrum des innerlich-geistlichen Menschen ist die Seele. Sie kann durch nichts als durch Gottes Wort, das von Christus gepredigt wird, frei werden. Diese Freiheit ist im Glauben zugänglich: »glaubstu, so hastu, glaubstu nit, so hastu nit« (WA 7; 24,13 f). Das Wort Gottes in der heiligen Schrift ist in zwei unterschiedliche Worte geteilt: Gebote oder Gesetze und Verheißungen oder Zusagen. Am Wort des Gebots erkennt ein Christ sein Unvermögen zum Guten. Und im Glauben an die Zusage wird die Seele durch das Zusagewort heilig, gerecht, wahrhaftig und frei. Dieser Glaube ist kein kognitives Fürwahrhalten, sondern ein Vertrauensverhältnis zum Christus-Wort. In Anlehnung an die mittelalterliche Brautmystik formuliert Luther, dass sich die Seele mit Christus wie eine Braut mit ihrem Bräutigam vereint. Christus und Seele werden in dieser Ehe ein Leib (Eph 5,30). Der Bräutigam hat alle Güter und Seligkeit. Diese werden der Seele zu eigen. Umgekehrt hat die Seele alle Gottferne und Sünde auf sich. Sie wird Christus zu eigen, womit der berühmte »frölich wechßel und streytt« einsetzt (stupendum duellum: WA 7; 25,34. 55,16). Dieses vertrauliche Tauschverhältnis zwischen Christus und der Seele wird vom Christen geglaubt. Christus selbst macht sich die Sünde der glaubenden Seele »durch yhren braudtring, das ist der glaub«, zu eigen (WA 7; 25,37). Der zweite Teil der Freiheitsschrift handelt vom äußerlichen Menschen, der sich vom innerlichen Menschen des Glaubens unterscheidet. Der Glaube ist das Zentrale am Christsein. Ein Christ bedarf keiner Werke und keines Gesetzes. Der Glaube trägt aber Früchte. Er treibt den äußerlichen Christenmenschen dazu, am Nächsten so zu handeln, wie ihm Gott selbst Liebe durch Christus erwiesen hat. Jeder Christ findet an sich den Eigennutz der Sünde vor, der ihn hindert, sich seinem Nächsten zuzuwenden. Der Glaube, der den Primat vor den Werken einnimmt, setzt aber die Liebe zum Nächsten frei: »allweg [muss] die person zuvor […] gut und frum sein vor allen gutten wercken, und gutte werck folgen […] von der frumen gutten person« (WA 7; 32,7–9). Die christliche Freiheit macht mich frei von aller Sünde, von allen Gesetzen und Geboten. Die Schlusspointe der Freiheitsschrift bekräftigt die theologischen Differenzierungen zwischen Christperson und Weltperson, Glauben und Werken, Freiheit und Bindung: Ein Christenmensch fährt »durch den glauben […] uber sich yn gott, auß gott feret er widder unter sich durch die liebe« (WA 7; 38,8 f). 2.3. Die Erneuerung christlichen Lebens
Die reformatorische Bewegung begründet die Umformung der mittelalterlichen Gesellschaft theologisch unter Einhaltung der Differenz von Gottes- und Weltreich. Dies hat eine Erneuerung christlichen Lebens im Bereich des Mönchtums, der politischen Herrschaft, des Gottesdienstes und der Bildung zur Folge. Luthers
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Schrift De votis monasticis iudicium (Urteil über die Mönchsgelübde, gedruckt 1522: WA 8; 573–669) ist auf der Wartburg verfasst. Sie traktiert Fragen der Umgestaltung und Neubegründung des christlichen Mönchtums. Seit 16 Jahren Angehöriger des Ordens der Augustinereremiten, setzt Luther in dem berühmten Widmungsbrief an seinen Vater, gegen dessen Willen er Mönch geworden war, autobiographisch ein. Nach seinem Selbstverständnis bleibt für ihn das Freiheitsthema bestimmend: Christus hat ihn von den Mönchsgelübden erlöst und ihn mit großer Freiheit beschenkt (WA 8; 576,14–16). Diese Freiheit soll für andere Mönche sichtbar werden, zumal die Mönchsgelübde dem neutestamentlichen Rechtfertigungsverständnis zuwiderlaufen. Der erste Abschnitt der Schrift attackiert die beiden Hauptprinzipien des Mönchtums: die Unterscheidung eines monastischen Standes der Vollkommenheit von einem gemeinchristlichen Stand der Unvollkommenheit und die damit verbundene, zweistufenethische Aufspaltung der Schrift in für alle Christen verbindliche Gebote (praecepta) und nur für Mönche geltende Ratschläge (consilia). Keineswegs steht das Klosterleben, das kein heiliger Stand ist, über dem alltäglichen Leben der Christen. Die Gebote gelten unterschiedslos für alle Christen in jedem Lebensstand. Die Mönchsgelübde (vota) Keuschheit, Armut und Gehorsam sind gegen Gottes Wort, und sie widerstreiten, wie der weitere Aufbau der Schrift zeigt, dem Glauben, christlicher Freiheit, Gottes Geboten und menschlicher Vernunft und Erfahrung. Es ist besser, ein einfacher Christ als ein Mönch zu sein. Der Zölibat darf nicht im Streben nach Frömmigkeitsleistungen gesetzlich verkehrt werden. Obwohl Luther der Lebensform des Mönchtums das allgemeine Priestertum aller Glaubenden im Alltag und in der Berufsausübung vorzieht, warnt er die Mönche vor dem Verlassen ihres Standes, sofern sie im Gewissen noch keine Freiheit gewonnen haben. Historisch brachte die Reformation dem Mönchtum schwere Verluste. Seine eigene Mönchskutte legt Luther, sein Mönchtum in freier Form beibehaltend, erst 1525 ab. Die Mönchsgelübde, die evangelisch umformuliert allen Christen gelten, spiritualisiert er aber schon ab 1521. Aktueller Anlass der dreiteiligen Schrift Von weltlicher Oberkeit, wie weit man ihr Gehorsam schuldig sei von 1523 war das im Nachbarterritorium erlassene Kauf- und Verkaufsverbot des von Luther übersetzten Neuen Testaments durch Herzog Georg von Sachsen (WA 11; 245–281). Erstens setzt sich die Obrigkeit mit dieser Zensurmaßnahme an Gottes Stelle, da sie das Gewissen und den Glauben ihrer Untertanen beherrschen will, den Glauben vertilgt und Gottes Wort verleugnet. Das weltliche Recht, d. h. die Obrigkeit, ist durch Gottes Willen von Anfang an in der Welt (vgl. Röm 13,1 f), und sie ist Gott untertan. Er verordnet die beiden zu unterscheidenden Regimente. Im geistlichen Regiment macht er die Menschen fromm durch den heiligen Geist, im weltlichen Regiment wehrt er den Nicht-Christen, damit sie äußerlich Frieden wahren. Beide Reiche müssen unterschieden werden. Durch das weltliche Regiment kann niemand fromm werden. Und Christus selbst hat keine obrigkeitliche Gewalt ausgeübt. Sein Königsein über alle Christen manifestiert sich ohne Gesetz und ohne Zwang allein
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durch den heiligen Geist. Christen sind nicht davon freigestellt, der Obrigkeit untertan zu sein. Dies macht Luther gegenüber utopischen und schwärmerischen Theologiekonzepten, die Weltliches und Geistliches vermischen, geltend. Trotz der Aufforderung, Untertan zu sein, hat Luthers Text eine obrigkeitskritische Pointe. Denn zweitens darf die Obrigkeit bestimmte Grenzen nicht überschreiten: »wo welltlich gewallt sich vermisset, der seelen gesetz zu geben, do greyfft sie Gott ynn seyn regiment« (WA 11; 262,10 f). Sie hat nicht das Recht, sogenannte Ketzer mundtot zu machen und sie zu verbrennen. Die Schrift endet drittens mit einem an die Obrigkeit gerichteten Abschnitt, der die konkrete Ausübung von Herrschaft beschreibt. Ein Fürst muss sich durch den Willen zum Regieren auszeichnen, vernünftig das geltende Recht anwenden, seinen Untertanen nutzen und ihnen dienen, einen jeden hören, sich nicht mit Schmeichlern umgeben und sich nicht von seinen Räten zum Krieg aufhetzen lassen. Wie der Eheist der Fürstenstand »eyn ferlich standt« (WA 11; 272,27). Ein Fürst ist daher aufgefordert, niemandem ganz zu vertrauen, sondern sein Vertrauen auf Gott allein zu setzen. Die Erneuerung des kirchlich-gottesdienstlichen Lebens thematisiert Luther in der Schrift Von Ordnung Gottesdiensts in der Gemeine (WA 12; 35–37), die er 1523 verfasst, nachdem durch den reformatorischen Umbruch in der Wittenberger und Leisniger Gemeinde konkrete Gestaltungsfragen akut geworden waren. Es ist Missbrauch des Gottesdienstes, Gottes Wort zu verschweigen und es durch Fabeln und Legenden zu ersetzen. Dies hat zur Folge, dass der Glaube untergeht, insbesondere dann, wenn der Gottesdienst als meritorisches Werk gefeiert wird. Stattdessen fordert Luther, »das man teglich des morgens eyne stunde frue umb vier odder funffe tzu samen keme« (WA 12; 35,27 f), um die neue Form des Gottesdienstes, die einfach sein soll und aus Schriftlesung, Schriftauslegung, Psalmengesang und Fürbittengebet besteht, zu feiern. Am Abend soll sich wieder eine gottesdienstliche Gemeinschaft versammeln. Die morgendliche Schriftlesung soll aus dem Alten, die abendliche aus dem Neuen Testament stammen. Obwohl dieser tägliche Gottesdienst nicht von allen Christen besucht werden kann, sollten sich wenigstens die Prediger, Priester, Seelsorger und Schüler zu ihm einfinden. Am Sonntag soll die gesamte Gemeinde zur gottesdienstlichen Feier zusammenkommen. Von täglich gelesenen Messen bzw. Stundengebeten ist Abstand zu nehmen, da nicht deren bloßer Vollzug wichtig ist, sondern alles an Gottes Wort liegt: »das selb sollt ym schwang unter den Christen gehen« (WA 12; 37,30 f). Die Erneuerung der Bildung durch Einführung eines allgemeinen Schulwesens setzt sich Luther zum Ziel in der Schrift An die Ratherren aller Städte deutsches Landes, daß sie christliche Schulen aufrichten und halten sollen von 1524 (WA 15; 27–53). Ähnlich wie die Adelsschrift ist die Ratsherrenschrift, durch welche die allgemeine Schulpflicht vorbereitet wurde, an politische Entscheidungsträger adressiert. Das mittelalterliche Schulwesen hat sich aus Luthers Sicht überlebt. Klöster und hohe Schulen erfüllen schon lange nicht mehr ihre Funktion, die Jugend recht zu lehren und zu unterrichten. Das Bürgertum investiert einen Großteil
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seines Reichtums in die Stiftung von Messen und den Ablasshandel, statt seine Finanzkraft für die Erziehung der Jugend einzusetzen. Den reformatorischen Aufbruch und die Entdeckung des Wortes Gottes betrachtet Luther als günstigen Zeitpunkt für eine Wiederbelebung des Bildungswesens (k B.IV.1.), denn »Gottis wort und gnade ist ein farender platz regen, der nicht wider kompt, wo er eyn mal gewesen ist« (WA 15; 31,8–20. 32,7 f. Vgl. 2Kor 6,1 f). Es ist Gottes Gebot, dass die Eltern ihre Kinder lehren sollen, obwohl sie dies aufgrund von Pflichtvergessenheit, Unfähigkeit oder Zeitmangel vernachlässigen. Deshalb ist Bildung eine Aufgabe politischer Obrigkeit. Zum Gebildetsein gehört das Erlernen von Hebräisch und Griechisch, damit Altes und Neues Testament nicht in Vergessenheit geraten und ihr Sinn nicht unter der zum Teil fehlerhaften Auslegung der Kirchenväter verborgen bleibt: »Die sprachen sind die scheyden, darynn dis messer des geysts stickt« (WA 15; 38,8 f). Wo die alten Sprachen verlorengehen, geht das Evangelium unter. Nicht nur die Kirche, auch die Welt bedarf der Bildung. Ohne sie entstünde im weltlichen Regiment Unordnung. Luther intendiert mit seiner Bildungsreform keine Neuauflage eines veralteten Schulwesens, sondern entdeckt erstaunlich modern anmutende Zusammenhänge zwischen schulischer Aneignung und Spiel: Es ist »itzt von Gottis gnaden alles also zugericht […], das die kinder mit lust und spiel leren [lernen] kunden« (WA 15; 46,4–6). Zugleich tritt er für die Mädchen-Bildung und für den Aufbau eines Bibliotheksnetzes vor allem in größeren Städten ein. Stadtbibliotheken sollen ihre Buchbestände durch eine wohlüberlegte Anschaffungspolitik erweitern. 2.4. Verdichtungen reformatorischer Lehre
Seit 1524 kommt es zu einer schrittweisen Ausdifferenzierung der Abendmahls auffassung zwischen den Schweizer Theologen und Luther. Sie geht mit einer konfliktreichen Grundlagenkrise des entstehenden Protestantismus einher und führt zur allmählichen Ausbildung der reformierten und der lutherischen Konfession. Luthers Schrift Vom Abendmahl Christi. Bekenntnis von 1528 stellt den Endpunkt dieses seit 1524 währenden Abendmahlsstreites zwischen Zwingli, den Oberdeutschen und Luther dar (WA 26; 261–509). Auf weitere Streitschriften antwortete Luther nicht mehr. In der Abendmahlsschrift führt er aus, dass das Sakrament als Gabe zu glauben ist. Es verleiht nichts anderes als das mündliche Wort, jedoch auf andere Weise. Die Grammatik, d. h. die Sprachlehre, hat innerhalb seiner Abendmahlsauffassung eine höhere Priorität als die Logik. Die Abendmahlshandlung begreift Luther als Verkündigungshandlung. Die verba testamenti zeichnen sich durch eine außerordentlich hohe autoreferentielle Präsenzqualität aus. Das im Sakrament in Brot und Wein Dargereichte ist nichts anderes als das, was Gottes Wort zu geben vermag: Evangeliumsverheißung, in der Christus sich selbst für die an ihn Glaubenden im Rede- und Abendmahlsvollzug gibt. Deshalb lehnt Luther die mittels aristotelischer Kategorien formulierte Transsubstantiationslehre, die auf das logische Prinzip der praedicatio identica rekurriert,
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als unzulässige Logifizierung des Abendmahls ab (WA 26; 437,30–445,17). Unzureichend ist auch eine signifikative Interpretation des Abendmahlsgeschehens, weil dann der wahre Sinn der neutestamentlichen Einsetzungsworte Christi verlorengeht. »Dies ist mein Leib, der für Euch gegeben wird zur Vergebung der Sünden« – diese Worte, welche »Tätel‑« und nicht »Heisselworte« sind (WA 26; 282,10–284,4), wurden tatsächlich »von Gott selbst aus seinem eigen munde mit solchen buchstaben und worten gesprochen und gesetzt« (WA 26; 446,2 f). Eine minutiöse Auslegung der neutestamentlichen Abendmahlstexte aus Mt 26,26 f, Mk 14,22–24, Lk 22,19 f und 1Kor 11,27–29 schließt sich an. Die Überzeugung von der Schriftgemäßheit seiner Abendmahlslehre führt Luther dazu, die von Zwingli postulierte alloiosis, d. h. das Verständnis der Idiomenkommunikation als bloßer Redefigur, anzugreifen. Nicht nur von der einen Natur Gottes in den Begriffen der anderen zu sprechen, sondern die tatsächliche unio sacramentalis zwischen Gott und Mensch in der Feier zu glauben, ist Luthers Zentralanliegen. Die Personeinheit von Gott und Mensch in Christus ist so eng, dass die menschliche Natur Christi alle Eigenschaften Gottes annimmt, auch die Allgegenwart. Daraus folgt, dass die Ubiquität, d. h. Christi Allgegenwart, zu behaupten ist: »Christus leib allenthalben sey, weil Gotts rechte hand allenthalben ist« (WA 26; 318,1 f). Diese Präsenzform, dass Christus zugleich im Himmel und im Brot ist, bekräftigt Luther nicht zuletzt mit philosophischen Gründen: Es gibt die drei Präsenzmodi localiter bzw. circumscriptive (örtlich), definitive (begreiflich) und repletive (unbegreiflich) (vgl. WA 26; 326,29–330,28). Christus ist im Abendmahl definitive präsent. Die dreifache Unterscheidung kann auf Gott und Christus angewendet werden und eröffnet die Möglichkeit einer christologischen Multipräsenz (WA 26; 330,28–332,11). Berühmt geworden ist Luthers separat nachgedrucktes, ursprünglich am Ende der Abendmahlsschrift stehendes Bekenntnis (WA 26; 499,15–509,28). Es ist für Luther so zentral, dass er es schon im Titel der weitestgehend polemisch argumentierenden Abendmahlsschrift nennt. Es bietet eine kurze, Testamentscharakter tragende Zusammenfassung von Luthers gesamter Theologie. Luther glaubt unter Abgrenzung gegenüber den altkirchlichen Häresien des Arianismus, des Modalismus und des Nestorianismus an die Trinität und an die Gottmenschheit Jesu Christi, der gekommen ist, uns zu retten. Als Lehrirrtum betrachtet Luther den freien Willen, die neopelagianische Abschwächung der Sündenlehre, die Wiedertaufe und das Mönchtum. Von Gott eingesetzte Stände sind das Predigtamt, der Ehestand und die weltliche Obrigkeit: »Das ist mein glaube, denn also gleuben alle rechte Christen, Und also leret uns die heilige schrifft« (WA 26; 509,19 f). Ähnlich kurz und prägnant sind Die Schmalkaldische[n] Artikel (WA 50; 192– 254), die Luther 1537 in Vorbereitung des Konzils von Mantua, welches von Papst Paul III. ausgeschrieben worden war, verfasst. Auch sie tragen Bekenntnischarakter, befinden sich in scharfer systematischer Frontstellung gegen die römisch-katholische Lehre, und sie finden Aufnahme in die symbolischen Bücher der lutherischen Kirche. In der dreiteiligen Schrift bekräftigt Luther erstens kurz seine
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Auffassung der Trinitätslehre. Zweitens widmet sich ein längerer Abschnitt mit vier Unterartikeln dem Amt und Werk Jesu Christi und unserer Erlösung. Er beginnt mit dem sogenannten articulus stantis et cadentis ecclesiae, dem Glaubensartikel, mit dem die Kirche steht und fällt: Allein der Glaube an Christus macht gerecht (WA 50; 199,8–17. Vgl. Röm 3,26). Dieser Artikel begründet alles andere, was gegen das Papsttum vorgebracht werden kann. Darauf aufbauend folgt der zweite Artikel gegen die päpstliche Messe, da sie die Einsetzungsworte verkehrt und durch das Stiften von Messen den Gottesdienst kauft und verkauft. Dies bedeutet eine Selbstversöhnung der Menschen mit Gott. Luthers Angriff trifft das frömmigkeitspraktische Zentrum des katholischen Glaubens: »wo die Messe fellet, so ligt das Bapstüm« (WA 50; 204,16 f). Die Kritik zieht nach sich, dass die Idee eines Purgatoriums und Seelenmessen für die Verstorbenen abzulehnen sind. Der dritte Artikel befasst sich erneut mit dem Mönchtum. Die Klöster sind, statt sie als Mittelpunkt monastischen Lebens beizubehalten, in evangelische Bildungszentren umzuwandeln. Und viertens hat der Papst als Haupt der ganzen Christenheit sein Amt nicht iure divino oder aufgrund von Gottes Wort inne. Er hat keine Sonderstellung, darf sich nicht über Christus setzen oder sich als irdischer Gott rühmen lassen, sondern ist Bruder aller Christen. Mit dem existierenden Papsttum ist diese Auffassung nicht vereinbar. Ohnehin lebt die Kirche nicht unter dem Papst, sondern unter Christus als ihrem Haupt. Deshalb scheut Luther nicht davor zurück, den Papst als Antichrist zu bezeichnen (WA 50; 217,23–26). Nach Abschluss dieser vier Unterartikel unterstreicht Luther im dritten und letzten Abschnitt seiner Schrift abermals die theologische Notwendigkeit einer protestantischen Hamartiologie, die alle Menschen als dem Tod unterworfene Sünder, die Gott nicht zu erkennen vermögen, betrachtet. Das Gesetz hat die theologische Funktion, die Wirklichkeit der Sünde anzuzeigen, da Gottes Gottheit von niemandem geachtet wird. Es bewirkt, dass ein Glaubender »erschreckt, gedemütigt, verzagt, verzweivelt« werde und er »gern [wolte] das yhm geholffen wurde« (WA 50; 225,1–3). Das Gesetz ist die »Donneraxt Gottes, damit er [Gott] beide, die offenberlichen Sunder und falschen Heiligen ynn einen hauffen schlegt« und sie zur Buße führt (WA 50; 225,25–27). Letztere ist von der falschen Buße der Altgläubigen, die auf menschliches Werk vertraut, strikt zu unterscheiden. Das Amt des Gesetzes darf nie vollzogen werden ohne das des Evangeliums, denn das Neue Testament fügt der Predigt des Gesetzes stets »die trostliche verheissüng der gnaden durchs Euangelion« hinzu (WA 50; 226,21 f). Sie wird »durchs mundlich wort« zugesagt (WA 50; 240,31 f). Der dritte und letzte Teil der Schrift bietet eine kurze Tauflehre, welche die Kindertaufe fordert, und eine antidonatistische Abendmahlslehre, die von Christi Realpräsenz ausgeht. Der Kirchenbann ist abzuschaffen, ebenso die Priesterweihe, der Zölibat, die Klöstergelübde und alle menschlichen Satzungen. Die Einsetzung von Pfarrern soll durch Ordination geschehen. Das Amt der Schlüssel ist der Kirche von Christus verliehen zur Vergebung der Sünden, und Gottes Wort ist verbum externum. Ähnlich wie in seinem Bekenntnis von 1528 erklärt Luther diese Eckpunkte der Theologie für unver-
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rückbar: »Dis sind die Artikel darauff ich stehen mus, und stehen wil, bis inn meinen tod, ob Gott wil« (WA 50; 252,10–12). Etwa ein Jahrzehnt später gibt Luther den Gedanken eines freien und allgemeinen Konzils, den er seit der Adelsschrift von 1520 verfolgt hatte, endgültig auf. In der Schrift Von den Konziliis und Kirchen von 1539 verleiht er seiner Enttäuschung über das seit Jahren ausbleibende Reformkonzil Ausdruck, das durch päpstliche Hinhaltetaktik immer weiter hinausgezögert wird (WA 50; 509–653). Seine Christenheit wird Christus jedoch auch ohne Papst erhalten (WA 50; 511,3 f). Er, nicht der Papst, ist der allererste Bezugspunkt für eine grundlegende Umgestaltung der Kirche: »wir […] müssen […] bey unserm Herrn Christo ein Reformation suchen und bitten« (WA 50; 512,16–18). Durch ihn allein, nicht durch konziliaristische Reformversuche, ist der Untergang der Kirche aufzuhalten. Vergebliche Mühe ist es, die höchst differenten Auslegungen der Kirchenväter und die komplexe Geschichte der Konzilien auf einen Nenner bringen zu wollen (WA 50; 520,22–521,6). Kirchenväter und Konzilien haben für die eigene Gegenwart keine normative Geltung. Die theologische Leistung der vier großen altkirchlichen Hauptkonzilien von Nizäa (325), Konstantinopel (381), Ephesus (431) und Chalcedon (451) ist anzuerkennen in dem Wissen, dass sie nicht von einer römischen Zentralgewalt einberufen worden sind. Sie dürfen genauso wie das schriftstellerische Werk der altkirchlichen Väter nicht überschätzt werden, da der heilige Geist zuallererst nicht durch die Tradition, sondern durch die Schrift zu den Christen spricht und Konzilien irren können (WA 50; 544,13–546,13). Der zweite Teil der Konzilsschrift würdigt die vier Konzilien mittels sorgfältiger historischer Analyse. Die theologisch-dogmatischen Entscheidungen der Konzilien sind anzuerkennen, während zeitbedingte Tagesfragen heute keine Geltung mehr beanspruchen können: Nizäa bewahrt die Gottheit Christi gegenüber der arianischen Ketzerei aufgrund der Bibel, Konstantinopel befasst sich mit der Gottheit des heiligen Geistes, Ephesus hält die Zusammengehörigkeit von göttlicher und menschlicher Natur gegenüber dem Erzbischof und Trennungschristologen Nestorius fest, und Chalcedon verteidigt die Einheit von Gott und Mensch in der Person Jesu Christi (WA 50; 605,15–20). Von Luther wird Gottes Tod mittels der Sprachregeln der Zweinaturenlehre reformuliert. Das Wort vom gekreuzigten Gott ist nicht, wie bei Nestorius, abzuschwächen: »Christus ist gestorben, Und Christus ist Gott, drumb ist Gott gestorben, Nicht der abgesonderte Gott, sondern der vereinigte Gott mit der Menscheit« (WA 50; 589,24–26). Gottes Menschlichkeit zeigt sich nicht erst am Kreuz, sondern schon in seiner Geburt. Über Maria, die Gottesgebärerin, sagt Luther, dass sie »Gott seuget, Gott wiget, Gotte brey und suppen macht« (WA 50; 587,14). Die Anerkennung der theologischen Leistung von Konzilien bei gleichzeitiger Relativierung ihrer normativen Geltung kulminiert bei Luther in der These, dass falsche Lehre wie auf einem Konzil überall dort abgewehrt wird, wo die Kirche »die heilige Schrifft predigt, gleubt und bekennet« (WA 50; 615,23 f). Dies hat eine weitreichende Regionalisierung der Weitergabe von theologischer Lehre zur Folge: »So sind die Pfarrhen
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und Schulen, wiewol kleine, doch ewige und nützliche Concilia« (WA 50; 617,23 f). Der dritte und letzte Teil der Schrift skizziert Luthers Ekklesiologie. Kirche – »dis blinde wort« (WA 50; 625,16) – meint die Christen als sancta Catholica Christiana ecclesia, d. h. als ein besonders berufenes, christliches, heiliges Volk, »das da gleubt an Christum […], und hat den Heiligen Geist, der sie teglich heiligt […] durch die vergebung der sunden« (WA 50; 624,29–31). Dieses Volk ist mit der institutionellen Verfasstheit der römisch-katholischen Kirche nicht identisch, sondern hat sieben Merkzeichen: das mündliche Wort Gottes, die Taufe, das Abendmahl, die Schlüsselgewalt zum Binden und Lösen von Sünden, die von Pfarrern, Bischöfen oder Predigern versehenen Dienste der Kirche, der in der Öffentlichkeit gefeierte Gottesdienst sowie die im Kreuz Christi gründende Ohnmacht aller Christen gegenüber der Welt. Im Vorfeld des Regensburger Reichstages legt Luther abermals seine Auffassung der wahren Kirche dar. Unmittelbarer kirchen- und tagespolitischer Anlass ist der eskalierende Streit zwischen den zu dieser Zeit mächtigsten evangelischen Fürsten, Landgraf Philipp von Hessen und Kurfürst Johann Friedrich, und dem altgläubigen Herzog Heinrich von Braunschweig-Wolfenbüttel. Dieser bezichtigt seine politischen Gegner der Ketzerei, der Untreue zum Kaiser und des Abfalls von der Kirche. Er wird in der hochpolemischen, ihn schon im Titel demaskierenden Schrift Wider Hans Worst von 1541 zur Zielscheibe von Luthers Spott (WA 51; 469–572). Der Konflikt zwischen Herzog Heinrich und den evangelischen Fürsten beruht in Wahrheit auf dem unüberwindbaren Gegensatz zwischen Christi und des Teufels Kirche. Luther dämonisiert den altgläubigen Herzog, da er den Teufel selbst aus ihm sprechen und lügen hört. Er, Luther, habe seinen eigenen Landesherrn Kurfürst Johann Friedrich nicht als Hanswurst verunglimpft (WA 51; 470,12–30) – das Schimpfwort, das Luther sonst nie auf Einzelpersonen anwendet, passt aber gut auf den lügnerischen und Gott lästernden »Hans Worst von Wolffenbuttel« (WA 51; 471,17). Der Vorwurf der Ketzerei und der Gründung einer neuen Kirche ist den Evangelischen gegenüber unzutreffend. Es ist gerade ein Zeichen der wahren Kirche, dass sie von den Papsttreuen verlästert wird (WA 51; 474,3–7). Für Luther steht fest, dass »wir die rechte alte Kirche sind, jr [sc. die Papsttreuen] aber von uns, das ist, von der alten Kirchen abtrünnig worden, ein newe Kirchen angericht habt« (WA 51; 479,17–19). Es gibt unter Berufung auf Augustin zwei Kirchen vom Anfang der Welt bis an ihr Ende: die Kirche Kains und die Kirche Abels. Christus warnt davor, der falschen Kirche anzuhängen. Dass evangelische Christen der wahren alten Kirche anhängen, ist offensichtlich, da bei ihnen Taufe, Abendmahl, das Schlüsselamt, Gottes Wort, das apostolische Glaubensbekenntnis und das Vaterunser, die Obrigkeit und die Ehe anerkannt sind. Ihre Verfolgung durch die sogenannten Altgläubigen und ihr Festhalten an einer weltlichen Friedensordnung sind weitere Kennzeichen, dass sie der wahren Kirche angehören. Als Kontrast unterstreicht Luther, dass die Merkmale der wahren Kirche auf das papsttreue Lager nicht zutreffen, da dort das Mönchtum als zweite Taufe gilt,
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Werke satisfaktorische Wirkung haben, der Ablasshandel floriert, Wallfahrten an die Stelle wahrer Sündenvergebung treten, Brüderschaften soteriologischen Charakter annehmen, das Sakrament unter einerlei Gestalt vollgültig ist, auf den Gewissen trotz der Vergebung der Sünden kirchliche Gesetze lasten, geistloses Predigen dominiert und Heiligenverehrung den religiösen Alltag bestimmt. Überdies werden Ehe und Obrigkeit verachtet. Mittels eingängiger Rhetorik fragt Luther wieder und wieder: »Wer hat euch befolhen? oder wo stehets geschrieben?« (WA 51; 488,34). Mit ihrer religiösen Praktik und ihrer Lehre verlassen die sogenannten Altgläubigen, wie Luther im Stil des Propheten Hosea bemerkt, »die alte Kirche und jren alten Breutgam als ein Ertzteufelshure« (WA 51; 498,23 f). Die sich allmählich als eigene Konfessionskirche herauskristallisierende Gemeinde der Evangelischen weiß, dass sie nicht sündlos ist. Sie lebt von der Sündenvergebung und erlangt Sündlosigkeit nur, indem Gottes Wort in ihr gepredigt und geglaubt wird (WA 51; 518,23–25). Wer dies wie Herzog Heinrich, den Luther aus gegebenem Anlass grob als Bluthund und Erzmeuchelmörder tituliert, nicht zuletzt auf strategisch-militärischem Wege mit Gewalt behindert, muss mit Gottes Gericht rechnen. Für Luther ist es folgerichtig, seine absichtlich grobe Schrift mit einer Auslegung von Ps 64 zu beschließen, »den wir predigen und singen sollen […] wider solche Meuchelmördische Heintzen« (WA 51; 565,16 f). Beutel, Albrecht: Biblischer Text und theologische Theoriebildung in Luthers Schrift »Von weltlicher Obrigkeit, wie weit man ihr Gehorsam schuldig sei« (1523) (in: Chapman, Stephen u. a. [Hg.]: Biblischer Text und theologische Theoriebildung [BThS 44], 2001, 77–104). Bornkamm, Heinrich: Thesen und Thesenanschlag Luthers. Geschehen und Bedeutung (TBT 14), 1967. Ebeling, Gerhard: Die königlich-priesterliche Freiheit (in: Ders.: Lutherstudien. Bd. 3: Begriffsuntersuchungen – Textinterpretationen – Wirkungsgeschichtliches, 1985, 157–180). Falk, Friedrich: Luthers Schrift an die Ratsherren der deutschen Städte und ihre geschichtliche Wirkung auf die deutsche Schule (LuJ 19, 1937, 55–114). Jüngel, Eberhard: Zur Freiheit eines Christenmenschen. Eine Erinnerung an Luthers Schrift (1978) (in: Ders.: Indikative der Gnade – Imperative der Freiheit. Theologische Erörterungen IV, 2000, 84–160). Kaufmann, Thomas: An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung (KSLuth 3), 2014. Moeller, Bernd: Die frühe Reformation in Deutschland als neues Mönchtum (in: Ders. [Hg.]: Die frühe Reformation in Deutschland als Umbruch [SVRG 199], 1998, 76–91). Schwarz, Reinhard: Der hermeneutische Angelpunkt in Luthers Meßreform (ZThK 89, 1992, 340–364). Schwarzwäller, Klaus: Rechtfertigung und Ekklesiologie in den Schmalkaldischen Artikeln (KuD 35, 1989, 84–105). Jens Wolff
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3. Streitschriften 3.1. Streittheologie und literarische Polemik
»Streitschriften« lassen sich im Gesamtwerk Luthers nicht leicht abgrenzen. Von der Veröffentlichung der Ablassthesen an war Luther mit seinem öffentlichen Wirken in den Streit um seine Theologie und um die aus ihr zu ziehenden Konsequenzen verstrickt. Im Zuge dieser Auseinandersetzung vertiefte er seine theologischen Einsichten, führte sie zu anderen Themen weiter und verband sie mit polemischen Zuspitzungen. In einem beträchtlichen Teil seiner Publikationen gehen daher Polemik und Programmatik, Streit und Ermahnung ineinander über. Der Streit war geradezu der Nährboden für Luthers öffentlich vorgetragene Theologie, und seine theologischen Aussagen weisen auf diesen Entstehungskontext zurück. Von diesem größeren polemischen Horizont von Luthers literarischer Produktion können als »Streitschriften« im engeren Sinn solche Publikationen abgehoben werden, bei denen die Situation des Konflikts die Anlage der Schrift und die Durchführung des Gedankengangs im Ganzen bestimmt. Solche Streitschriften können sich auf gegnerische Publikationen, auf Vorgänge der Kirchenpolitik oder auf Themen des gerade aktuellen Streits beziehen. Das schließt nicht aus, dass sie zugleich theologische Lehrschriften sind, in denen Luther seine Gedanken weiterführt. Die polemischen Schriften dienten immer auch der religiösen Belehrung und Bewusstseinsbildung im eigenen Lager. Die Rolle des Streittheologen, die ihm durch die geschichtlichen Umstände zuteil geworden war, prägte auch Luthers Selbstbild. 1529 schrieb er: »Ich bin dazu geboren, das ich mit den rotten und teuffeln mus kriegen und zu felde ligen, darumb meiner bücher viel stürmisch und kriegisch sind. Ich mus die klötze und stemme ausrotten, dornen und hecken weg hawen, die pfützen ausfullen und bin der grobe wald rechter [i. e. Holzfäller], der die ban brechen und zurichten mus« (WA 30,2; 68,12–16). Luther füllte die Rolle des Streittheologen, indem er sich der Stilmittel der literarischen Polemik bediente. Dazu gehörte der Einsatz gezielter Grobheiten und Verunglimpfungen, wie er in der zeitgenössischen Streitliteratur an der Tagesordnung war. Luther hob sich dabei durch den Erfindungsreichtum seiner polemischen Sprache und die Bewusstheit ihres Einsatzes von der Norm ab. Zum festen Repertoire des literarischen Streits der Reformationszeit gehörte der Vorwurf, Luther sei übermäßig grob. Luther nahm ihn 1531 mit trotzigem, prophetisch getöntem Selbstbewusstsein auf: »Das sol mein rhum und ehre sein, wils auch so haben, das man von mir hinfurt sagen solle, wie jch vol böser wort, scheltens und fluchens uber die Papisten sey. […] Ich wil jn mit meinem donnern und blitzen also zum grabe leuten« (WA 30,3; 470,8–10.17 f). Der die Fronten klärende Streit stand für Luther im Dienst der Wahrheit, die zu bezeugen er als seinen göttlichen Auftrag ansah. Die Intensität des Schimpfens steigerte sich mit den Jahren infolge der immer deutlicher werdenden Verhärtung der Fronten zur Spaltung von
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»wahrer« und »falscher« Kirche: Während Luther in den ersten Jahren seines öffentlichen Wirkens noch damit rechnete, seine Gegner durch Argumente überzeugen und bezwingen zu können, betrachtete er sie in späterer Zeit als Verstockte, deren sich die Christenheit durch Spott und Verachtung erwehren musste. Der Streit, der im akademischen Milieu unter dem Vorzeichen eines geordneten Disputationswesens begonnen hatte, steigerte sich in Luthers Wahrnehmung zu einer Auseinandersetzung mit den Mächten der Finsternis. Insbesondere das Papsttum identifizierte Luther immer wieder mit Teufel oder Antichrist: Der in der Anfangsphase des Streits noch – zumindest rhetorisch – festgehaltene Abstand zwischen dem realen Gegner und der widergöttlichen Macht war verschwunden, als Luther den Papst schon 1521 wegen des Eheverbots für Priester als »teuffels Apostell und Endchrist« bezeichnete (WA 7; 675,14) und ihn am Ende seines Lebens gar als »aller Hellischt Vater« und »Ewer Hellischeit« anredete (WA 54; 206,3. 207,7 u. ö.). Teuflisches Wirken erkannte Luther dort, wo die heilige Schrift als Basis der christlichen Lehrbildung in Zweifel gezogen oder in ihrer Klarheit beeinträchtigt wurde. Dagegen sah sich Luther selbst als Streiter für ein die Mitte der Schrift zur Geltung bringendes Christentumsverständnis: Wir haben »fur war mit grosser sawrer erbeit die schrifft widder erfur bracht und menschen gebotten urlaub [i. e. den Abschied] gegeben, uns frey gemacht und [sind] dem teuffel entlauffen, wie wol er sich redlich geweret [hat] und auch noch weret« (WA 23; 69,13–15). Neben der groben Beschimpfung bediente sich Luther der Ironie und des Sarkasmus. Schon seine ersten Gegner behandelte er mit Herablassung, z. B. indem er Hieronymus Emsers von ihm theologisch kaum ernstgenommenen Angriff auf die Adelsschrift als »ubirchristlich, ubirgeystlich und ubirkunstlich Buch« (WA 7; 621,1 f) titulierte. In ähnlicher Weise apostrophierte er Augustin von Alvelt als »hochberumpten Romanisten zu Leiptzck« (WA 6; 285,2) oder sprach von »Magistri nostri« im Blick auf das Lehrurteil der Kölner und Löwener Theologen (WA 6; 174,8). Gerne verballhornte Luther auch die Namen seiner Kontrahenten: Johannes Cochlaeus redete er aufgrund der Namensetymologien als »arme schneck« (cochlea: WA 11; 297,21) und als »sordidum et popinarium Coclear« (schmutziger Kochlöffel: WA 11; 303,28) an, dazu als »Doctor Rotzleffel« und – lautspielerisch – als »Doctor Gauch« [i. e. Kuckuck, Narr] (WA 38; 141,8). Den schlesischen Spiritualisten Kaspar von Schwenckfeld nannte er mit Vorliebe »Stenckefeld« (z. B. WA 54; 141,20). Hieronymus Emser bezeichnete er nach dem Steinbock in dessen Wappen durchweg als »Bock Emser« (z. B. WA 7; 621,2). Gelegentlich verstärkte Luther den Wortstreit durch die Verwendung von Bildern: Die Kritik am Mönchtum gestaltete er 1523 als Deutung des Bildes vom »Mönchskalb« (WA 11; 373. 380–385). Steuerte er 1526 zu der polemischen Bild- und Textfolge Das Papsttum mit seinen Gliedern gemalet und beschrieben (WA 19; 7–43) nur ein Vorwort bei, so gab er 1545 zu der ausgesprochen groben Abbildung des Papsttums der Cranach-Werkstatt mit den erläuternden Spottversen eine präzise Anweisung für die Motive der Holzschnitte (WA 54; Bilder nach 530).
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Trotz seiner Selbstwahrnehmung als Streittheologe stritt Luther mit seinen Gegnern nicht wahllos, sondern bedachte den Sinn und das Ziel einer literarischen Auseinandersetzung genau. Auch Verweigerung, Marginalisierung und einseitige Beendigung einer Kontroverse konnten für ihn Mittel einer wirkungsvollen Polemik sein. Vielfach widerlegte er gegnerische Texte nicht im Einzelnen, sondern druckte sie unverändert ab und ließ sie für sich selber sprechen – freilich mit bissigen Kommentaren seinerseits. Insbesondere mit amtlichen Texten setzte sich Luther in dieser Weise ironisch-distanziert auseinander: U. a. übersetzte und kommentierte er 1522 die päpstliche Abendmahlsbulle, in der er als Ketzer genannt wurde, als »bulla vom Abentfressen des allerheyligsten hern, des Bapsts« (WA 8; 691,1 f). 1524 publizierte er die Reichstagsabschiede von Worms 1521 und Nürnberg 1524 (WA 15; 254–278) und wies in Einleitung und Randglossen auf die Widersprüche in der Kirchenpolitik hin. Die Verschiebung des nach Mantua einberufenen Konzils durch Paul III. und das Reformgutachten der Kardinalskommission (1537/38) gehörten zu den Texten, die er in späteren Jahren übersetzte und mit spitzer Feder kommentierte (WA 50; 92–95. 288–308). Mehrfach nahm Luther den Streit nicht selbst auf, sondern autorisierte die Antworten anderer, so wenn er 1521 das Lehrurteil der Pariser Theologen mit Melanchthons Gegenschrift veröffentlichte und dem Ganzen selber nur Vor- und Nachwort beigab – mit deutlich verschärfender Tendenz (WA 8; 267–312). Immer wieder brach Luther den publizistischen Streit einseitig ab, wenn er der Meinung war, er habe alles Notwendige gesagt, ein weiterer Austausch von Polemik könne also zur Sachklärung nichts mehr beitragen: Die Auseinandersetzung mit Emser beendete Luther 1521 und ließ die weiteren Streitschriften seines Gegners ins Leere laufen. Auch Erasmus von Rotterdam erwiderte er auf dessen 1526/27 erschienene Antwortschrift Hyperaspistes nicht mehr. 1528 wies er in einer Schrift gegen das Verbot des Laienkelchs (Bericht an einen guten Freund von beider Gestalt des Sakraments aufs Bischofs zu Meißen Mandat: WA 26; 560–618) ausdrücklich darauf hin, dass er sich eigentlich vorgenommen hatte, »hinfurt widder keinen Papisten zu schreiben, sondern allein die unsern zu trösten und zu stercken« (aaO 560,18 f), und markierte so den Übergang von der Streitschrift zur Trostund Erbauungsschrift. Auch die publizistische Abendmahlskontroverse mit Zwingli brach Luther 1528 mit seiner Schrift Vom Abendmahl Christi. Bekenntnis (WA 26; 261–509) dezidiert ab. Mit Streitschriften in deutscher Sprache zielte Luther auf eine nicht bloß akademische Öffentlichkeit. Anfangs benutzte er die lateinische Gelehrtensprache noch zur Reaktion auf Vertreter der Papstkirche wie Prierias, Emser und Ambrosius Catharinus sowie in der sich in den Bahnen akademischen Disputierens bewegenden Auseinandersetzung mit Johannes Eck. Auch die Lehrverurteilungen von Köln und Löwen beantwortete er 1520 auf Latein und würdigte 1521 den Löwener Theologen Jacobus Latomus einer ausführlichen lateinischen Erwiderung. Die Verurteilung durch die Pariser Theologen übersetzte er 1521 freilich ins Deutsche und sprengte damit den gelehrten Rahmen. Heinrich VIII. von
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England antwortete Luther 1522 lateinisch und bezeugte damit seinem Gegenüber den gebührenden Respekt; zugleich ließ er aber auch eine deutsche Fassung – gegen die deutsche Übersetzung der Schrift des Königs – erscheinen, so dass sich auch diese Auseinandersetzung vor dem Forum einer weiteren christlichen Öffentlichkeit abspielte. Der besondere Rang der Kontroverse mit dem Humanistenfürsten Erasmus zeigt sich auch daran, dass Luther sie als Gelehrtenstreit in lateinischer Sprache aufnahm. Nur einmal, 1523 gegen Cochlaeus, verfasste Luther eine lateinische Spottschrift in humanistischer Manier (Adversus armatum virum Cokleum [Wider den gewappneten Cochlaeus]: WA 11; 295–306). Im Übrigen war die deutsche Sprache Luthers Streitsprache. Mit Hilfe seiner souveränen Beherrschung dieses polemischen Handwerkszeugs brach er die akademische und amtskirchliche Begrenzung des Streits um sein Verständnis von christlicher Religion auf und machte ihn zu einer Auseinandersetzung in der ganzen Christenheit. Seine Gegner fasste Luther im Zuge der literarischen Polemik in Gruppen zusammen bzw. bezeichnete sie mit Sammelnamen. Das diente der theologischen Strukturierung von Positionen und damit zugleich der Klarheit im publizistischen Streit. Die erste große Front bildete die Papstkirche mit ihrem kirchlichen Personal und ihren theologischen und politischen Vertretern, die Luther als »Romanisten« oder »Papisten« kennzeichnete. Gegen diese Front richtete Luther die große Mehrzahl seiner Streitschriften, geballt in den Jahren des Ketzerprozesses, dann mit unterschiedlichen Schwerpunkten bis ans Lebensende. Je länger je mehr diente die Polemik dabei der Identitätssicherung im eigenen Lager und traten die politischen Bezüge des Streits in den Vordergrund. Eine zweite Front baute sich Mitte der zwanziger Jahre im Lager der Gegner der Papstkirche selber auf: Für Luther waren es die »himmlischen Propheten«, »Schwärmer« und »Rottengeister«, zu denen er neben Karlstadt und Müntzer auch die Gegner im Abendmahlsstreit rechnete. Im Folgenden werden die wichtigsten Schriften des Streits an beiden Fronten vorgestellt. 3.2. Der Streit mit der Papstkirche und ihren Vertretern
Der Prozess gegen Luther bildete in den Jahren 1518 bis 1521 den Rahmen für die intensivste Phase der Auseinandersetzung. Luther war zur Rechenschaft gezwungen und setzte sich in Streitschriften sowohl mit einzelnen Gegnern wie mit theologischen Fakultäten und mit der päpstlichen Lehrverurteilung auseinander. In den folgenden Jahren trat der Streit publizistisch etwas in den Hintergrund, weiterhin wurden aber sowohl einzelne Kontroverstheologen als auch die Struktur und Lehre der Papstkirche im Allgemeinen zu Luthers polemischen Zielscheiben. Theologisch hatte die Auseinandersetzung mit Erasmus von Rotterdam 1524/25 besonderes Gewicht. Ab 1531 verschob sich die Zielrichtung von Luthers Streitschriften ins Politische. Er reagierte mit ihnen auf die Verfestigung der kirchenpolitischen Fronten zu »Religionsparteien« im Reich und stritt um die Behaup-
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tung der Reformation angesichts der Gefahr eines Religionskrieges. Die Polemik verband sich daher mit Stellungnahmen zur politischen Strategie, vor allem zur Frage des Widerstandsrechts gegen den Kaiser, und mit dem Bemühen um die Stabilisierung der Grundlagen »evangelischen« Glaubens (k B.III.2.). a) Nach dem Vorgeplänkel der Auseinandersetzung mit Johann Tetzel (Eine Freiheit des Sermons päpstlichen Ablass und Gnade belangend: WA 1; 383–393) reagierte Luther mit der Schrift Ad dialogum Silvestri Prieratis de potestate papae responsio (WA 1; 647–686) auf die Veröffentlichung der ersten offiziösen Auseinandersetzung mit seinen Ablassthesen. Den Basissätzen des Prierias über die unbeschränkte päpstliche Lehrgewalt stellt Luther eigene »fundamenta« (WA 1; 647,18) aus der Bibel, den Kirchenvätern und dem Kirchenrecht gegenüber, die der heiligen Schrift die letztgültige Autorität in Lehrfragen zusprechen, ohne dass er explizit zur Lehrvollmacht des Papstes Stellung nimmt. Aufgrund dieser fundamenta erklärt Luther die gesamten Ausführungen des Prierias für hinfällig, weil sie nur – von Luther als scholastisch, thomistisch und aristotelisch kritisierte – Worte enthalten, aber keine echten Autoritäts- und Sachgründe bieten. Dennoch setzt er sich mit ihnen im Einzelnen auseinander, wobei er mit besonderem Nachdruck darauf beharrt, dass das kirchliche Bußverfahren sich nicht auf die göttlichen Strafen, z. B. auf das Fegefeuer, bezieht. In diesem Zusammenhang weist Luther auf die Irrtumsfähigkeit von Papst und Konzilien hin und setzt dem papalistischen Kirchenverständnis ein konziliaristisch akzentuiertes entgegen. Die weiteren Schriften des Prierias würdigte Luther keiner ausführlichen Entgegnung mehr. Dessen Epitome gab er allerdings im Sommer 1520 mit bissigen Glossen und einem scharfen Vorwort heraus (WA 6; 328–348). Die Überordnung der Lehrvollmacht des Papstes über die Autorität der Schrift weckte in Luther nun den expliziten Verdacht, in Rom regiere der Antichrist, und veranlasste ihn dazu, sich von der römischen Kirche loszusagen – wenn Papst und Kardinäle nicht gegen dieses »os Satanae« (Satansmaul: WA 6; 329,9) vorgehen. b) Dass der durch die Ablassthesen ausgelöste Streit sich mehr und mehr, erst recht nach der Leipziger Disputation, um die Frage der Lehr- und Disziplinargewalt des Papstes drehte, zeigte sich auch in Luthers Auseinandersetzung mit Augustin von Alvelt, dessen Schrift über den Apostolischen Stuhl er im Juni 1520 mit Von dem Papsttum zu Rom wider den hochberühmten Romanisten zu Leipzig (WA 6; 285–324) beantwortete. Den polemischen Anlass nutzte Luther zu einer den Laien zugedachten Unterweisung über das Wesen der Christenheit; die Streitschrift wurde zur ekklesiologischen Lehrschrift. Während Alvelt ganz auf die im Papst gipfelnde hierarchische Struktur der Kirche abhebt, sieht Luther in der Institutionalität nur ein sekundäres Merkmal der Gemeinschaft aller Christen. Primär ist deren Konstituierung als »vorsamlung der hertzen in einem glauben« (WA 6; 293,4). Weder kann die Anerkennung der päpstlichen Jurisdiktion zum Christen machen noch deren Nichtanerkennung zum Ketzer. In der äußeren Kirche existieren Glaubende und Nichtglaubende, aber die »zeichenn, da bey man euszerlich mercken kan, wo die selb kirch in der welt ist, sein die tauff, sacra-
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ment [des Abendmahls] und das Evangelium« (WA 6; 301,3 f). Das Haupt der Christenheit ist allein Christus, kein irdischer »Stellvertreter«. Auch die Petrusverheißung Mt 16,18 f gibt für eine Vorrangstellung des Papstes als eines Petrusnachfolgers nichts her, weil Petrus seine Vollmacht stellvertretend für die gesamte Gemeinde empfangen hat und überdies von einer gesamtkirchlichen Leitungsgewalt gar nicht die Rede ist. Luther ist bereit, den Papst als menschliche Obrigkeit zu dulden, solange er alle seine Setzungen der höchsten Autorität in der Christenheit unterwirft: »Er sol mir unter Christo bleyben unnd sich lassen richtenn durch die heyligen schrifft« (WA 6; 322,8 f). Sollte er sich aber über die Schrift erheben und ohne Schriftgrundlage verbindliche Glaubensartikel aufstellen, erwiese er sich als der Antichrist. c) Die Bannandrohungsbulle Exsurge Domine, von Johannes Eck seit September 1520 in Deutschland publiziert, löste eine vielfältige publizistische Reaktion Luthers aus; die in diesem Zusammenhang entstandenen Schriften bilden einen eigenen Komplex polemischer Veröffentlichungen. Zunächst behandelte Luther Johannes Eck als Verfasser der Bulle und wandte sich mit der Schrift Von den neuen Eckischen Bullen und Lügen (WA 6; 579–594) zugleich gegen eine von diesem verfasste Verteidigung des Konstanzer Konzils, die auffällige Parallelen zur Bulle aufwies. Luther kommentiert einige der strittigen Aussagen und unterstreicht seine Vorordnung der heiligen Schrift vor alle anderen Autoritäten. Auch in der folgenden ausführlichen Auseinandersetzung mit dem Text der Bulle, die Ende Oktober 1520 in zwei Fassungen lateinisch (WA 6; 597–612) und deutsch (WA 6; 614–629) erschien, gibt Luther vor, die päpstliche Verfasserschaft der Bulle anzuzweifeln, und spielt so den Papst gegen seine Umgebung aus. Wer immer freilich die Bulle zu verantworten hat, gilt Luther als der ausgemachte Antichrist. Die römischen Verwerfungen beantwortet Luther mit einem sehr speziellen »Widerruf «, der das dort Zurückgewiesene zu Pflichtsätzen des christlichen Glaubens erklärt. Diese polemische Entgegensetzung der Positionen gipfelt in der Parodie des Lehrurteils, mit der Luther den Spieß umkehrt und ihn gegen Papst und Kurie – sollten sie tatsächlich hinter der Bulle stehen – wendet: Aufgrund der in der Taufe übertragenen Vollmacht, gegründet auf Christus, den unüberwindlichen Felsen, spricht Luther eine feierliche Verurteilung des Papsttums als des Stuhles des Antichrist aus und kündigt ihm jeglichen Gehorsam auf: »si perseveraveritis in furore isto, vos damnamus et una cum Bulla ista omnibusque Decretalibus Satanae tradimus in interitum carnis, ut spiritus vester in die domini nobiscum liberetur. In nomine, quem vos persequimini, Ihesu Christi domini nostri, Amen« (Wenn ihr mit eurem Wüten fortfahrt, verdammen wir euch und übergeben euch mit dieser Bulle und allen Dekretalen dem Satan zur Vernichtung des Fleisches, damit euer Geist am Tag des Herrn mit uns befreit werde. Im Namen unseres Herrn Jesus Christus, den ihr verfolgt. Amen) (WA 6; 604,34– 38). Dieses Urteil vollstreckten Luther und andere Angehörige der Wittenberger Universität am 10. Dezember 1520 in Gestalt der Verbrennung des Corpus Iuris Canonici und einiger anderer papstkirchlicher Bücher sowie der Bannandro-
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hungsbulle selbst. Die taktische Differenzierung zwischen Bulle und Papst war inzwischen für Luther auch in der öffentlichen Auseinandersetzung erledigt. Er rechtfertigte die Verbrennungsaktion in der Schrift Warum des Papstes und seiner Jünger Bücher von D. M. Luther verbrannt sind (WA 7; 161–182). Darin beruft er sich auf seine Pflicht, als Lehrer der Theologie falscher Lehre zu wehren, und nennt 30 »häretische« Artikel aus dem kanonischen Recht, insbesondere zur Stellung des Papstes. Anfang 1521 nahm Luther in lateinischer und deutscher Sprache im einzelnen Stellung zu den verurteilten Aussagen (Assertio omnium articulorum […] per bullam Leonis X. novissimam damnatorum: WA 7; 94–151; Grund und Ursach aller Artikel […], so durch römische Bulle unrechtlich verdammt sind: WA 7; 308–457). d) Mit Hieronymus Emser hatte Luther schon 1519 Streitschriften ausgetauscht, in denen es um seine Stellung zur »böhmischen Häresie« ging (Ad aegocerotem Emserianum additio [Ergänzung zum Emserschen Steinbock]: WA 2; 658–679). Anfang 1521 kam es, ausgelöst durch Emsers Polemik gegen Luthers Adelsschrift, zu einem lebhaften publizistischen Hin und Her. Ausführlich antwortete Luther Ende März mit der Schrift Auf das überchristlich, übergeistlich und überkünstlich Buch Bock Emsers zu Leipzig (WA 7; 621–688). Luther nimmt Emsers Kampfmetaphorik auf und konfrontiert dessen Ankündigung, mit dem Schwert der geistlich verstandenen Schrift, mit dem langen Spieß der kirchlichen Tradition und mit dem kurzen Degen der Kirchenväter streiten zu wollen, mit der geistlichen Waffenrüstung aus Eph 6,11–17, aus der er für sich den Helm des Heils, den Panzer der Gerechtigkeit und den Schild des Glaubens in Anspruch nimmt. Damit widerspricht er Emsers Behauptung, nur die im Sinne der kirchlichen Tradition ausgelegte Bibel tauge als Waffe und Luther fechte mit der leeren Scheide, wenn er nur den Wortsinn der Schrift gelten lasse. Dieser ist vielmehr, so Luther, klar und deutlich, so dass die Bibel weder allegorisch ausgelegt noch durch kirchliche und theologische Autoritäten ergänzt werden muss; Buchstabe und Geist gehören zusammen. Daher beharrt Luther auf seiner in der Adelsschrift vorgetragenen Deutung von 1Petr 2,9 auf das allgemeine Priestertum aller Getauften und weist Emsers Unterscheidung von innerlich-geistlichem Priestertum und kirchlichem Weihepriestertum zurück. Die Schrift kennt im einheitlichen Christenstand nur verschiedene gemeindliche Funktionen. Die von Emser auf die Schriftauslegung angewandte Unterscheidung von tötendem Buchstaben und lebendigem Geist (2Kor 3,6) bezieht Luther auf Gesetz und Gnade, die aufeinander verweisen: Das Gesetz tötet den alten Menschen und bereitet ihn so vor auf das lebenschaffende Evangelium: »die gnade wirt nit geben denn allein wilchen noch yhr dürstet: das leben hilfft nur den todten, die gnade nur den sunden, der geyst nur dem buchstaben, und eynß on das ander mag niemant habenn« (WA 7; 656,29–31). Die Predigt von Gesetz und Evangelium wird damit für Luther zur zentralen Funktion der priesterlichen Christenheit. e) Ebenfalls im Frühjahr 1521 nahm Luther das Thema der päpstlichen Amtsgewalt wieder auf in der die scholastisch-dialektische Argumentationsweise sei-
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nes Gegners parodierenden Schrift Ad librum eximii Magistri Nostri Magistri Ambrosii Catharini, defensoris Silvestri Prieratis acerrimi, responsio (Antwort auf das Buch unseres vorzüglichen Lehrers Magister Ambrosius Catharinus, des äußerst scharfsinnigen Verteidigers des Silvester Prierias) (WA 7; 705–778). Die früher noch vorsichtig eingeschränkte Identifizierung des Papstes als Antichrist bildet jetzt – nach der definitiven Verurteilung als Ketzer – bereits den Ausgangspunkt der Erörterung. In einer ausführlichen Auslegung von Dan 8,23–25 arbeitet Luther heraus, dass nicht der Papst als Person, sondern das geschichtlich gewordene papstkirchliche System die Erfüllung der Antichristprophetie darstellt. In diesem System sind die Zeremonien an die Stelle des Christusglaubens getreten und die Menschentraditionen an die Stelle des Geistes. Es ist geprägt von Besitzund Herrschaftsansprüchen, Prunk und Verschwendung, veräußerlichter Frömmigkeit und vor allem von falscher Lehre, die durch die scholastische Theologie gestützt wird. Das Wesen der wahren Kirche ist nicht durch die institutionelle Außenseite bezeichnet wie die »Synagoga Papistarum et Thomistarum« (WA 7; 721,5), sondern durch Taufe, Abendmahl und Evangelium, d. h. durch die lebendige Predigt der Zusage Christi: »cum per solum Euangelium concipiatur, formetur, alatur, generetur, educetur, pascatur, vestiatur, ornetur, roboretur, armetur, servetur, breviter, tota vita et substantia Ecclesiae est in verbo dei« (da sie allein durch das Evangelium empfangen, gestaltet, ernährt, geboren, erzogen, geweidet, gekleidet, geschmückt, gestärkt, gewappnet, erhalten wird, liegt, kurz gesagt, das ganze Leben und Wesen der Kirche im Wort Gottes) (WA 7; 721,10–13). Die päpstliche Kirche des Antichrist wird, so Luthers Ausblick, nicht durch äußere Gewalt vernichtet, sondern durch den wiederkommenden Christus selbst. Luther verbindet also sein worthaftes Kirchenverständnis in der Kritik am Papsttum mit einer – nicht militanten – apokalyptischen Situationsdeutung. f) Luthers Rationis Latomianae pro incendiariis Lovaniensis scholae sophistis redditae Lutheriana confutatio (Widerlegung der Begründung, die Latomus für die brandstifterischen Sophisten der Universität Löwen gegeben hat: WA 8; 43– 128), im Juni 1521 auf der Wartburg niedergeschrieben, gehört noch in den Zusammenhang des römischen Prozesses. Der Titel nimmt Bezug auf die Verbrennung von Luthers Schriften in Löwen im Oktober 1520. Latomus hatte sich in der Absicht, die Verurteilung Luthers durch die Löwener Theologen zu untermauern, dessen Aussagen über die im Gerechtfertigten verbleibende Sünde vorgenommen. Luther begegnete bei Latomus den biblischen Belegstellen, die er selbst 1519 in den Erläuterungen zu der entsprechenden These der Leipziger Disputation behandelt hatte. Er nutzt seine Entgegnung dazu, drei von ihnen (Jes 64,6; Koh 7,20; Röm 7,19.22) genauer zu analysieren und von ihnen aus sein Sünden- und Gnadenverständnis systematisch zu entfalten. Luther insistiert darauf, dass die in den Glaubenden anzutreffende böse Neigung als Sünde im Vollsinn zu gelten habe und diese deshalb zugleich als Sünder und als Gerechte qualifiziert werden müssen. Sünde definiert Luther dabei als alles, was Gottes Willen widerspricht. Dass Christus die Macht der Sünde gebrochen hat, befähigt die Glaubenden dazu,
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ihrem von der Gnade bestimmten Gottesverhältnis im lebenslangen Kampf gegen die Sünde Gestalt zu geben. Der Anti-Latomus, wie Melanchthon die Schrift nannte, war die einzige Streitschrift dieser Jahre, in der Luther das theologische Zentrum seines Christentumsverständnisses darstellen konnte und nicht auf die Kritik an Papst und kirchlicher Institution festgelegt war. g) 1522 reagierte Luther darauf, dass sich keine Bischöfe für seine Lehre gewinnen ließen, indem er mit der Schrift Wider den falsch genannten geistlichen Stand des Papstes und der Bischöfe (WA 10,2; 105–158) die hohe Geistlichkeit insgesamt angriff. Er tritt den Bischöfen als »Ecclesiastes [i. e. Prediger] von Gotis gnaden« (WA 10,2; 105,6 f) entgegen und tadelt ihr tyrannisches, ungeistliches Regiment. Statt Gottes Wort predigen sie Bullen und Ablässe und zeichnen sich durch eine verweltlichte und veräußerlichte Amtsführung aus. Den schlimmsten Missbrauch des bischöflichen Amtes erkennt Luther darin, dass die Frömmigkeit von der göttlichen Vergebung auf die kirchliche Heilsvermittlung gelenkt wird, »das die eynfelltigen hertzen sollen lernen, nit auff gottis gnade ßondernn auff yhr eygen werck bauwenn« (WA 10,2; 138,7 f). Gegen die Bischöfe, die in Wahrheit »des teuffels botten unnd statt halter« (WA 10,2; 138,36) sind, verkündet Luther eine eigene »Bulla und Reformation« (WA 10,2; 140,1), die den Widerstand gegen ihr Regiment zum christlichen Werk erklärt. Luther erläutert, dass er nicht an gewaltsame Auflehnung denkt, sondern an einen Bewusstseinswandel, der der bischöflichen Tyrannei Grenzen setzt. Dazu gehört für ihn auch die Freiheit von erzwungenen Zölibats- und Klostergelübden. In Luthers Hervorhebung der bischöflichen Funktionen der Wortverkündigung und Sakramentenspendung deutete sich an, dass das Bischofsamt im Bereich der Reformation im Pfarramt aufgeht. Mit der vom Klerus getragenen, aus seiner Sicht von einem christlichen Leben abführenden Religiosität setzte sich Luther auch 1524 anlässlich der feierlichen Erhebung der Gebeine des im Vorjahr heiliggesprochenen Benno von Meißen auseinander (Wider den neuen Abgott und alten Teufel, der zu Meißen soll erhoben werden: WA 15; 183–198). h) König Heinrich VIII. von England hatte 1521 gegen Luthers De captivitate Babylonica seine Assertio septem sacramentorum (Bekräftigung der sieben Sakramente) erscheinen lassen, 1522 besorgte Hieronymus Emser eine deutsche Übersetzung. Daraufhin entgegnete Luther lateinisch und deutsch mit Contra Henricum regem Angliae bzw. mit der Antwort deutsch auf König Heinrichs Buch (WA 10,2; 180–222. 227–262). Den höchstgestellten seiner Gegner schont Luther in der Polemik nicht, tituliert ihn wiederholt als »lügenkönig von Engelland« (WA 10,2; 237,18 u. ö.) und resümiert: »Du bist eyn grober heyntz unnd bleybst eyn heyntz« (WA 10,2; 241,11 f). Luther sieht sich durch die Argumentation des Königs nicht getroffen, da dieser sich nur auf die Lehre und die Gewohnheit der Kirche beruft, nicht aber auf die Schrift, und so den Beweis, dass »menschen spruch und brauch artickel des glaubens machen« (WA 10,2; 261,25), schuldig bleibt. Inhaltlich setzt sich Luther nur mit Heinrichs Behandlung des Altarsakraments auseinander. Die Verteidigung der Messopfervorstellung hält er für miss-
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lungen, weil der König Luthers Ansatz beim Verständnis des Abendmahls als Testamentshandlung bewusst auf sich beruhen lässt. Dem Opfergedanken setzt Luther erneut die göttliche Verheißung als zentrales Moment des Sakraments entgegen: »Ich aber setze widder aller veter spruch, widder aller Engel, menschen, teuffel kunst und wort die schrifft und das Euangelion, darynnen die Meß klarlich erkennet wirt, das sie eyn wort und werck gotis sey, darynnen unß got verheysset und tzeychnet seyne gnade« (WA 10,2; 256,26–29). Die Auseinandersetzung mit Heinrich VIII. hatte in den Jahren 1525/26 ein Nachspiel, als Luther sich aus politischen Gründen in devotem Ton von der Polemik seiner Streitschrift distanzierte, der König dies als vermeintlichen »Widerruf« mit einer Entgegnung publizierte und Luther sich in seiner Auf des Königs zu England Lästerschrift Titel Antwort (WA 23; [17] 26–37) erneut zu seiner Lehre bekannte und sich dem Streit stellte. i) Der Streit mit Erasmus von Rotterdam 1524/25 (k B. III. 7.) sprengte angesichts des Rangs des Gegenübers den Rahmen der Luther wenig fordernden Kontroversen. Luther selbst lobte Erasmus dafür, dass dieser mit dem Problem des freien Willens ins Zentrum des theologischen Dissenses vorgestoßen sei. Dennoch begegnete ihm auch in Erasmus’ Argumentation ein Ansatz, der in seiner Tendenz zum Harmonisieren von Gegensätzen, zur Anerkennung der kirchlichen Tradition und zu einem moralischen Christentumsverständnis die Position der Papstkirche stützte. Luthers Antwortschrift De servo arbitrio (WA 18; 600– 787) erschien erst Ende 1525, über ein Jahr nach Erasmus’ De libero arbitrio diatribe sive collatio (Gespräch oder Vergleichung vom freien Willen), nicht zuletzt, weil Luther sich vom Widerspruch zwischen geistreichem Stil und – aus seiner Sicht – dürftigem Inhalt abgestoßen fühlte. Luthers Argumentation lehnt sich in ihrem Aufbau eng an die des Erasmus an, behandelt aber den Schlussteil von dessen Buch nicht mehr. Erhebliches Gewicht liegt auf den Bemerkungen zur Methode: Luther bekennt sich zu einer Theologie, die auf feste Behauptungen zielt, weil es ihr um existentielle Gewissheit geht. Er hält Erasmus, der für eine erkenntnistheoretische Skepsis plädiert hat – und im Zweifelsfall die Autorität der Kirche akzeptiert –, entgegen: »Spiritus sanctus non est Scepticus« (Der heilige Geist ist kein Skeptiker) (WA 18; 605,32). Anders als Erasmus rechnet Luther mit der Klarheit des Schriftsinns, der sich auf dem Weg über die Verkündigung dem Glaubensbewusstsein zu innerer Klarheit erschließt. Es ist daher unzulässig, wie Erasmus eine vergleichende Position oberhalb der heiligen Schrift einzunehmen. Als vollends unerträglich bezeichnet Luther Erasmus’ Meinung, dass es sich bei der Frage nach dem hinsichtlich der Gottesbeziehung freien Willen um ein akademisches Problem ohne Relevanz für die gelebte christliche Religion handle. Ob der Mensch in seinem Willen über die Möglichkeit verfügt, zu seinem Heil beizutragen oder nicht, ist für Luther von existentiellem Rang: »Oportet igitur certissimam distinctionem habere inter virtutem Dei et nostram, inter opus Dei et nostrum, si volumus pie vivere« (Es muss also deutlich unterschieden werden zwischen Gottes Kraft und unserer, zwischen Gottes Werk und unserem, wenn
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wir fromm leben wollen) (WA 18; 614,15 f). Angesichts dessen kann sich Luther anders als Erasmus nicht mit dem Zeugnis der Väter und der Kirchenlehre zufriedengeben. Die methodischen Differenzen prägen auch die Durchführung der Sachdiskussion, die von der Definition des freien Willens ausgeht, dann die von Erasmus angeführten Bibeltexte behandelt und sie durch weitere biblische Belege ergänzt. Um der Alleinwirksamkeit der in Christus offenbarten Gnade Gottes willen hält Luther an seiner Auffassung von der Unfreiheit des Willens in Bezug auf Gott dezidiert fest. Die sich daraus ergebenden Schwierigkeiten, wie die Fragen nach dem Ursprung des Bösen und der Theodizee, lässt er als Rätsel stehen und lenkt statt einer rationalen theologischen Lösung den Blick auf die in Christus greifbare Zuwendung Gottes. Luthers Argumentation in De servo arbitrio ließ seinen Kontrahenten als einen nur oberflächlich christlichen Denker ohne existentielle Konsequenz erscheinen, als »de grege Epicuri porcum« (ein Schwein aus der Herde Epikurs: WA 18; 605,28 f). Luther sah in Erasmus’ humanistischem Skeptizismus den Gegenpol zu seiner eigenen bekenntnishaften Erfahrungstheologie. Während er die Erwiderungsschrift des Erasmus (Hyperaspistes, 1526/27) nicht mehr beachtete, erneuerte er sein Urteil über ihn 1534 in einem offenen Briefwechsel mit Nikolaus von Amsdorf (WAB 7; 28–40) und prangerte ihn als epikureischen Lehrer der Ungewissheit an. Der mit dem Austausch der Streitschriften von 1524/25 definitiv gewordene Bruch zwischen Luther und Erasmus bedeutete keine Absage des Reformators an den christlichen Humanismus als ganzen, wohl aber an eine kirchenfromme Intellektualität, die sich – in Luthers Augen – der Schrift verweigerte und existentiellen Entscheidungen auswich. j) Während seines Aufenthalts auf der Veste Coburg im Sommer 1530 begleitete Luther die Verhandlungen auf dem Augsburger Reichstag mit Schriften, die Streitfragen aufnahmen und seine eigene Lehrmeinung – auch als »Ergänzung« zur Confessio Augustana – erläuterten, insbesondere den Widerruf vom Fegfeuer (WA 30,2; 367–390) und die Schrift Von den Schlüsseln über die kirchliche Strafgewalt (WA 30,2; 435–507). In der Gestalt eines Sendbrief[s] vom Dolmetschen und Fürbitte der Heiligen (WA 30,2; 632–646) reagierte er auf die in Augsburg durch Johannes Eck vorgetragene Kritik an seiner Bibelübersetzung, insbesondere an der Einfügung von »allein« in Röm 3,28 (»dass der Mensch gerecht wird ohne des Gesetzes Werke, allein durch den Glauben«). Seine Entgegnung ist vom Bewusstsein der eigenen Übersetzungsleistung getragen und von der Geringschätzung der papstkirchlichen Gegner bestimmt. Ihnen war nichts Besseres eingefallen, als Luthers Übersetzung mit ihren Korrekturen als eigenes Werk zu veröffentlichen und zu empfehlen – so Hieronymus Emser 1527, den Luther nun als »Sudler zu Dres[d]en« (WA 30,2; 634,13) tituliert. Solchen Gegnern verweigert er die Diskussion – der Hinweis auf seine Kompetenz muss ihnen genügen. Für die eigenen Anhänger rechtfertigt er aber doch seine Fassung von Röm 3,28 als sprachlich klare und theologisch angemessene, die Intention des Paulus aufnehmende Übersetzung. In seinem Übersetzen sieht Luther sich sowohl der sprachlichen Verständigung – sie fordert, den Menschen »auff das maul [zu] sehen«
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(WA 30,2; 637,21) – als auch der Wahrheit der Aussagen verpflichtet. In einer Art Anhang spricht sich Luther – deutlicher als Melanchthon in Artikel 21 der Confessio Augustana – gegen die Anrufung der Heiligen als eine vom Vertrauen auf Christus ablenkende Frömmigkeitsübung aus. Luthers Sendbrief lässt deutlich erkennen, wie seine Polemik, bedingt durch den Fortgang der Reformation, kaum noch auf den Gegner zielt, sondern die Identitätsstärkung der »Evangelischen« in den Blick nimmt. k) Diese Tendenz und die seit 1530 immer deutlicher werdende Verschiebung des Streits ins Politische zeigen sich klar in der im Frühjahr 1531 als Reaktion auf den Augsburger Reichstagsabschied erschienenen Warnung an seine lieben Deutschen (WA 30,3; 276–320). Für Luther stellt sich die Situation so dar, dass die Gegner auf Konfrontationskurs gegangen sind und Krieg und Aufruhr in Kauf nehmen, um die Macht der Papstkirche wiederherzustellen. Sollte der Kaiser den Einflüsterungen der papstkirchlichen Scharfmacher folgen und zur Gewalt greifen, rät Luther nach wie vor nicht zum Widerstand. Als »der Deudschen Prophet« (WA 30,3; 290,28) warnt er aber eindringlich davor, dem Kaiser in diesem Fall Gehorsam zu leisten. Zur Begründung dieser Warnung resümiert Luther sämtliche Missstände der Papstkirche, an denen ein solcher falscher Gehorsam mitschuldig würde: die Gräuel in der Lebensführung und der Kirchenpolitik, vor allem aber in der falschen Lehre, die mit Ablass, Fegefeuer, Messe, Heiligenverehrung, Pflichtbeichte, Kirchenstrafen und Reliquienkult die Gewissen von Christus abführt. Ein Krieg aus dem Geist des Reichstagsabschieds würde nicht nur diese Gräuel stärken, sondern zugleich die Errungenschaften des Evangeliums bei den Protestanten zunichtemachen, wo doch jetzt »man und weib, jung und alt, den Catechismum weis, Und wie man gleuben, leben, beten, leiden und sterben sol, Und […] wie man sol Christen sein und Christum erkennen« (WA 30,3; 317,32–35). Das Vorgehen der papstkirchlichen Gegner zielt im Kern auf den »heubt artickel, Das unser hertz seinen trost und zuversicht nicht auff unser werck, sondern allein auff Christo setzen sol, das ist: allein durch den glauben von sünden frey und gerecht werden« (WA 30,3; 319,26–28), und damit zugleich auf die wahre christliche Kirche. Die prophetisch akzentuierte Streitschrift entwickelte also politische Handlungsorientierung aus der reformatorischen Rechtfertigungsbotschaft und ihrem Kontrast zu Leben und Lehre der Papstkirche. Damit gab sie das Programm für Luthers weitere Streitschriften vor. Im Blick auf die Gestalt der kirchlichen Praxis führte er die Gegenüberstellung von falscher und wahrer Kirche 1533 weiter in Von der Winkelmesse und Pfaffenweihe (WA 38; 195–256). l) Mit Herzog Georg von Sachsen, seit der Leipziger Disputation sein erbitterter Gegner, war Luther schon 1529 im Zusammenhang mit den Packschen Händeln in eine literarische Fehde geraten (Von heimlichen und gestohlenen Briefen: WA 30,2; 25–48). In den dreißiger Jahren kam es zu einem mehrfachen Hin und Her von Streitschriften zwischen dem anonym publizierenden Herzog und dem Reformator. Georg beschuldigte Luther, mit der Warnung an seine lieben Deut-
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schen dem Aufruhr den Weg zu bahnen. Luther antwortete noch im Frühjahr 1531 mit der Schrift Wider den Meuchler [i. e. Verleumder] zu Dresden (WA 30,3; 446–471) und nutzte schon mit dem Titel die Anonymität seines Gegners, dessen Identität er bewusst im Unklaren ließ, um sich keine diplomatische Zurückhaltung auferlegen zu müssen. Während Luther den Vorwurf der Anstiftung zum Aufruhr auf den papistischen Lügengeist zurückführt, gibt er der Gegenseite die Schuld an der Eskalation des Konflikts, auf die die Protestanten mit ihren vom »Meuchler« getadelten Plänen für ein Defensivbündnis reagieren. Die bei den Gegnern offenbar ausgebrochene Angst konstatiert Luther freudig: »unser[e] Mörder, welche so viel unschüldig blut vergossen und noch gern vergiessen wolten, sollen die plage haben, das sie sorgen und fürchten müssen, Es werde ein auffrur« (WA 30,3; 448,27–29). In der Konfrontation von »Papisten« und »Lutherisschen« (WA 30,3; 468,2 f u. ö.) erkennt er das die gesamte Geschichte durchziehende Gegeneinander von Teufels- und Gotteskindern. In diesem Kampf greift Luther bewusst zum Schimpfen und Fluchen als seiner geistlichen Waffe. Auch in weiteren Publikationen aus dem Jahr 1533 (Verantwortung der aufgelegten Aufruhr von Herzog Georg: WA 38; 96–107; Die kleine Antwort auf Herzog Georgs nächstes Buch: WA 38; 141–170) ging es um die Zurückweisung des Aufruhrvorwurfs und um die Unterdrückung des Evangeliums durch Herzog Georg, den Luther nun beim Namen nannte und wegen seiner Kirchenpolitik als »Teuffels Apostel« (WA 38; 99,20.29) titulierte. m) Nach dem Tod Herzog Georgs 1539 war Herzog Heinrich von Braunschweig-Wolfenbüttel der aggressivste politische Vertreter des antireformatorischen Lagers im Reich. Zwischen ihm und den Führern des Schmalkaldischen Bundes entspann sich eine heftige Streitschriftenfehde, in die sich Luther im März 1541 mit Wider Hans Worst (WA 51; 469–572) einschaltete. Die Unterstellung, er habe seinen Landesherrn öffentlich als »Hanswurst« bezeichnet, gibt er dem Braunschweiger mit dem Titel der Schrift zurück. Insgesamt will er Heinrichs Beschimpfungen mit einem einfachen »Teuffel, du leugest« (WA 51; 470,2) entgegnen; wie seit dem Beginn des Konflikts mit der Papstkirche vermisst er eine Begründung des Ketzervorwurfs. Die Polemik des Herzogs veranlasst Luther, das Selbstverständnis der Evangelischen als wahrer Kirche ins Zentrum seiner Ausführungen zu rücken: Sie haben die echten Traditionen der Kirche des Ursprungs bewahrt, Taufe, Abendmahl und Buße, Predigtamt, Glaubensbekenntnis und Gebet, die Respektierung der Obrigkeit und der Ehe, und werden wie die frühe Kirche trotz ihrer Friedensliebe verfolgt. Daher sind sie »gewislich die rechte alte Kirche, on alle Hurerey und Newerey« (WA 51; 498,30 f). Die Papstkirche hingegen hat diese Traditionen durch ihr Pochen auf fromme Kirchenwerke, Gelübde, Ablässe, Messopfer, Papsttum usw. entstellt und verdeckt, so »das sie die alte Kirche und jren alten Breutgam als ein Ertzteufelshure verlassen« hat und nun »des Teufels letzte und schendlichste braut ist« (WA 51; 498,23 f.27 f). Den Kern der Trennung der beiden Kirchen macht Luther in den zwei Wegen der Religiosität aus: »Einer, der auff Gottes gnaden sich verlesst, Der ander, so auff
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unser verdienst und werck bawet« (WA 51; 512,21 f). Zwischen diesen Positionen kann es für Luther keinen Kompromiss geben. Er schließt mit einer parodistischen Umdichtung des Passionsliedes »Ach du armer Judas« auf Herzog Heinrich und – als zweite Strophe – auf die gesamte Papstkirche: »AH verlorn Papisten, Was habt jr gethan, / Das jr die rechten Christen nicht kundtet leben lan?« (WA 51; 571,17 f). Der Konflikt der Religionsparteien im Reich stellt sich für Luther dar als Gegeneinander zweier Kirchen; dabei stehen auf der einen Seite Christus und seine evangelischen Gefolgsleute, auf der anderen die Verräter Christi in der Papstkirche. n) Die politische Konstellation im Reich veranlasste auch Luthers letzte große Streitschrift gegen die Papstkirche. Das gegen den protestantenfreundlichen Reichstagsabschied von Speyer 1544 gerichtete päpstliche Tadelsbreve an Karl V. vom 24. August 1544 (und dessen noch schärferen Entwurf) beantwortete er mit seiner wohl derbsten Schrift Wider das Papsttum zu Rom vom Teufel gestiftet (WA 54; 206–299), deren grobe Redeweise er an seinem Widerpart misst: »Wer mein gedancken weis, der mus sagen, das ich jm viel, viel, viel zu wenig thu, und mit keinen worten noch gedancken erlangen kan die schendliche, verzweivelte lesterung, die er treibt mit dem Wort und Namen Christi« (WA 54; 261,15–18). Luther nimmt die Stellung des Papstes ausgehend von dem Verlangen nach einer konziliaren Lösung der Kirchenspaltung in den Blick: Sie ist unmöglich, weil der Papst als Partei zugleich Richter sein will. Im Hauptteil der Schrift weist Luther den päpstlichen Anspruch auf universale Herrschaft sowohl mit einer geschichtlichen wie mit einer biblischen Argumentation zurück: Das solche Ansprüche erhebende Papsttum ist aus dem römischen Bischofsamt erst nach Gregor I. (590–604) entstanden und hat sich als teuflische Usurpation durchgesetzt: »Also hat der Bapst auch sein Bapstum in des Teufels namen mit allerley lügen und Gottslesterung angefangen und bis auff die Hellische grundsuppe aller laster und schande bracht, die wir jtzt zu Rom sehen öffentlich am tage« (WA 54; 235,7–10). Mit einer weit ausgreifenden Auslegung von Mt 16,18 f und einer kürzeren von Joh 21,15 f will Luther nachweisen, dass die Stiftung des Papsttums durch Christus ein Hirngespinst ist; an beiden Stellen ist vom Christusglauben als dem Fundament der Kirche die Rede. Der Papst erweist sich als Fälscher der heiligen Schrift und als geistlicher Verführer, der mit angeblich frommen Werken die Gewissen verunsichert und die Frömmigkeit von Christus ablenkt. Seine teuflische Abkunft zeigt sich darin, dass er sich mit seinem Herrschaftsanspruch außerhalb des weltlichen und des geistlichen Regiments stellt. Nur kurz verhandelt Luther die Behauptungen, der Papst könne von niemandem gerichtet werden und er habe seine Oberhoheit durch die Übertragung des Kaisertums von den Römern auf die Deutschen (translatio imperii) unter Beweis gestellt. Die christlichen Obrigkeiten sieht Luther in der Pflicht, dem antichristlichen Treiben dieses »Satanissimus« (WA 54; 288,36) Einhalt zu gebieten. Gerade diese letzte gegen Rom gerichtete Schrift verdeutlicht den Weg, den Luther im Konflikt mit der Papstkirche zurückgelegt hat: Von der zuerst zögernden Identifizierung des Papsttums als Antichrist
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ist er fortgeschritten zur Deutung der sich verfestigenden Kirchenspaltung als einer Manifestation des Gegensatzes von civitas diaboli und civitas dei. 3.3. Die Auseinandersetzung mit Gegnern im reformatorischen Lager
»Da geht eyn new wetter her«, schrieb Luther 1524 gegen Karlstadt (WA 18; 62,2) und artikulierte damit seine Wahrnehmung einer zweiten Front im Streit um das rechte Verständnis der christlichen Religion und um die Gestaltung des kirchlichen Lebens. Luther hatte Differenzen im eigenen Lager seit den Wittenberger Unruhen und dem Auftreten der »Zwickauer Propheten« beobachtet und war ihnen mahnend (Eine treue Vermahnung zu allen Christen, sich zu hüten vor Aufruhr und Empörung, 1522: WA 8; 676–687) und predigend (Invocavit-Predigten, bearbeitet zu Von beider Gestalt des Sakraments zu nehmen und anderer Neuerung, 1522: WA 10,2; 11–41) entgegengetreten. Erst ab 1524 führte er die Ausein andersetzung mit eigenen Streitschriften; die Kontroverse um Müntzers und Karlstadts spiritualistischen Ansatz ging über in den Abendmahlsstreit mit den Schweizern und Oberdeutschen. Luther sah sich dabei einer gemeinsamen Front von »Schwärmern« und »Sakramentierern« gegenüber (k B.III.4.). a) Gegen Thomas Müntzer wandte sich Luther im Juli 1524 mit dem offenen Brief an die Fürsten zu Sachsen von dem aufrührerischen Geist (WA 15; 210–221). Er reagierte damit sowohl auf Müntzers Schriften, in denen dieser seine mystische Vorstellung vom Christwerden entfaltet hatte, als auch auf den durch seine Predigten ausgelösten reformatorischen Aktionismus, der sich im März 1524 in der Zerstörung einer Marienkapelle manifestiert hatte. Luther geht nicht ausführlich auf Müntzers Lehren ein; wegen dessen Argumentation mit einer unmittelbaren Geistbelehrung wirft er ihm vor, das Wort der Schrift und die Verkündigung des Evangeliums zu missachten und die subjektive Gotteserfahrung zum Maßstab von Lehre und Leben zu erheben. So kommt es – wie in anderer Weise in der Papstkirche –, dass »wyr mit eygen wercken und freyem willen Gott versuchen und seyns wercks warten [i. e. sein Werk ausführen] sollen« (WA 15; 216, 31–217,1). Ausdrücklich bekennt sich Luther zur Notwendigkeit des Streits um die rechte Lehre: »Man lasse die geyster auff eynander platzen und treffen« (WA 15; 219,1). Abspaltungen müssen hingenommen werden, und dem »ampt des worts« (WA 15; 218,18 f) soll die Obrigkeit nicht wehren. Sie ist allerdings gefordert, gegen Tendenzen zu Gewaltanwendung und Aufruhr einzuschreiten, wie Luther sie bei dem »welltfressergeyst« (WA 15; 214,16) von Allstedt wahrnimmt. An diese Mahnung knüpfte Luther im Folgejahr bei seiner Stellungnahme zum Thüringer Bauernkrieg an, den er Müntzers Lehre zur Last legte. b) Grundsätzlicher trat Luther dem spiritualistischen Christentumsverständnis 1524/25 mit der zweiteiligen Schrift Wider die himmlischen Propheten (WA 18; 62–125. 134–214) entgegen, in der er die Summe des seit 1522 andauernden Konflikts mit dem früheren Weggenossen Andreas Bodenstein von Karlstadt zog und sich polemisch von ihm distanzierte (k B.III.4.). Im ersten Teil geht es um das
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Bilderverbot, um Karlstadts Ausweisung aus Sachsen und um den Messritus, im zweiten um die Präsenz von Leib und Blut Christi im Abendmahl. Beide Male setzt Luther mit seinem Hauptvorwurf an »die Propheten« ein: Sie kümmern sich nicht um die »Hauptstücke«, nämlich um die Veränderung des Menschen durch das äußere Wort der Verkündigung von Gesetz und Evangelium und die damit verbundenen leiblichen Zeichen, sondern setzen bei Forderungen an Religiosität und Verhalten an. Gegen die äußere Vermittlung des Glaubens verweisen sie auf den Geist und auf mystisches Erleben. Darin sieht Luther den Teufel als »feynd göttlicher ordenung« am Werk, »wie er dyr mit den worten geyst, geyst, geyst das maul auff sperret und doch die weyl […] alles umbreysst, dadurch der geyst zu dyr kommen soll, nemlich, die eusserlichen ordnung Gotts ynn der leyplichen tauffe zeychen und mündlichen wort Gottes und will dich leren, nicht wie der geyst zu dyr, sondern wie du zum geyst komen sollt« (WA 18; 137,11–16). Diesen Grundkonflikt weist Luther bei den strittigen Einzelfragen auf: Er wirft Karlstadt vor, mit der Verabsolutierung des Bilderverbots, das eigentlich auf die Herzen und nicht auf die Augen zielt, die Bilderzerstörung zum guten Werk zu machen und so zur papstkirchlichen Lehre von den Werken und vom freien Willen zurückzulenken. Karlstadts Ausweisung aus Kursachsen richtet sich nicht gegen dessen Lehre, sondern gegen die von ihm ausgehende Unruhe, die zum Aufstand tendiert und die Luther eine Geistesverwandtschaft mit Müntzer erkennen lässt. An der Frage der Elevation im Messritus zeigt Luther noch einmal die Strukturverwandtschaft von Papstkirche und Schwarmgeist: »Sie brechen beyde die Christliche freyheyt und sind beyde widderchristisch, Aber der Bapst thuts durch gepot, D. Carlstad durch verbot«. »Und Christliche freyheyt eben so wol untergehet, wenn sie lassen sol, das sie nicht lassen mus, als wenn sie thun sol, das sie nicht thun mus« (WA 18; 111,14 f.22–24). Karlstadts Abendmahlsauffassung weist Luther mit einer minutiösen Auslegung der Einsetzungsworte zurück. Er sieht seinen Gegner die eigene Meinung und den eigenen vernünftigen Zweifel an die Stelle des Schriftzeugnisses setzen. Luther insistiert auf der Wirkung des mit den äußeren Zeichen verbundenen Verheißungswortes, das die von Christus am Kreuz erworbene Sündenvergebung den Glaubenden zuspricht. Karlstadt zeichnet Christus nur als »exempel und gepieter«, nicht aber, »wie er unser schatz und Gottes geschencke ist, daraus der glaube folget, wilchs das höhest stuck ist« (WA 18; 196,36–197,3). c) Als Zwingli und Oekolampad die leibliche Präsenz Christi im Abendmahl mit anderen Argumenten als Karlstadt bestritten, betrachtete Luther seine Ausführungen in Wider die himmlischen Propheten weiterhin als maßgeblich. Die neuen Gegner reihte er in die gleiche Front ein und deutete ihr Auftreten als Folge teuflischer Verwirrung im Blick auf den Schriftsinn. Erst 1527 griff er selbst mit einer umfangreichen Streitschrift in den Abendmahlsstreit ein. Der Titel Dass diese Worte ›Das ist mein Leib etc.‹ noch fest stehen wider die Schwarmgeister (WA 23; 64–283) gibt das Beweisziel vor. Der für Luther klare Wortsinn der Einsetzungsworte soll gegen die Unterschiebung eines übertragenen Sinnes gesichert werden. Um deren Beliebigkeit aufzuweisen, greift Luther sogar zum Mittel der
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Parodie und schlüpft selber in die Rolle des »Schwärmers« (WA 23; 109,11– 113,25). Neben der Behandlung der verba testamenti geht Luther ausführlich auf zwei von Zwingli und Oekolampad angeführte Argumente für die Unmöglichkeit ihres wörtlichen Verständnisses ein: Zum einen unterstreicht er, dass der erhöhte Leib Christi sehr wohl gleichzeitig zur Rechten Gottes (»nicht […] eyn sonderlicher ort, […] sondern […] die gewalt Gotts selbs« [WA 23; 143,11 f]) und im Abendmahl sein kann. Zum andern weist er die Deutung von Joh 6,63 (»das Fleisch ist nichts nütze«) auf das Abendmahl zurück, in dem der Leib Christi mit dem Wort der Verheißung verbunden ist (»Ich las mir den leib Christi vom wort nicht scheiden« [WA 23; 257,15 f]), weswegen es sich um ein geistliches Geschehen handelt. Luther beharrt darauf, dass Christus Subjekt und Gabe der Abendmahlshandlung ist: »Denn der Herr hats nicht alleine eingesetzt, sondern machts und helts auch selbs und ist der koch, kelner, speise und tranck selbs« (WA 23; 271,9–11). Weil es für Luther im Abendmahlsstreit nicht um ein akademisches Problem, sondern um den Kern des Evangeliums geht, muss er streiten und kann dem Appell der Gegner zu »Christliche[r] einickeit, liebe und friede[n]« (WA 23; 79,20 f) nicht Folge leisten. Zugleich warnt Luther auch davor, dass bei den »Schwärmern« der Geist Müntzers lebendig sei, der für die Zukunft nichts Gutes ahnen lasse. Mit einem Sinneswandel der »lerer einer ketzerey odder schwermerey« (WA 23; 73,31 f) mag der Wittenberger ohnehin nicht rechnen; das liegt auch daran, dass er die Gegner durch den »groll und eckel natürlicher vernunfft« (WA 23; 127,5 f) getrieben sieht. Auf Entgegnungen Zwinglis und Oekolampads erwiderte Luther 1528 noch einmal mit Vom Abendmahl Christi. Bekenntnis (WA 26; 261–509); seine abschließende Stellung zum Abendmahlsstreit verband er mit einem theologischen Vermächtnis und ordnete damit das Abendmahlsthema dem Ganzen des Christentumsverständnisses zu. Luther geht zuerst im Einzelnen an den Äußerungen der Gegner – neben den Schweizern auch die schlesischen Spiritualisten Kaspar von Schwenckfeld und Valentin Krautwald sowie John Wyclif als spätmittelalterlicher Vorläufer – entlang und entfaltet dabei ausführlich seine christologische Theorie von der Ubiquität der Menschheit Christi. Anschließend stellt er sein eigenes Verständnis der Einsetzungsworte in ihren verschiedenen biblischen Fassungen dar und plädiert erneut dafür, diese ihrem Wortsinn nach als wirksame Zusage Christi zu verstehen. Die Schärfe seiner Polemik, vor allem im ersten Teil, rechtfertigt Luther damit, dass er sich gegen den teuflischen Versuch, die Verheißung und damit das Heilswerk Christi zu entkräften, zur Wehr setzen müsse. Erst 1544 nahm Luther den Abendmahlsstreit dann noch einmal auf und schrieb ein Kurzes Bekenntnis vom heiligen Sakrament (WA 54; 141–167), mit dem er seine eigene Position gegen die Zürcher und gegen Schwenckfeld noch einmal in scharf abgrenzender, die Gegner verketzernder Form wiederholte. Damit wollte er auch Aufweichungen im eigenen Lager, z. B. bei Melanchthon, entgegentreten. d) Gleichzeitig mit dem Abendmahlsstreit trat mit den Täufern eine weitere Gruppe von »Schwärmern« in Luthers Blickfeld. Auf Anfrage aus einem papst-
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kirchlichen Territorium wandte er sich 1528 gegen sie mit der Schrift Von der Wiedertaufe an zwei Pfarrherrn (WA 26; 144–174). Genaues über die Lehre der Täufer und ihre Schriften wusste Luther nicht. Hauptsächlich setzt er sich mit der Meinung auseinander, die Kindertaufe sei unwirksam, weil der Taufe ein bewusster Glaube vorangehen müsse. Luther weist darauf hin, dass es überhaupt keine Gewissheit über den Glauben geben kann, weder über den eigenen noch über den eines andern, und dass auch das persönliche Bekenntnis den Herzensglauben nicht verlässlich anzuzeigen vermag. Luther hält es außerdem für möglich, dass auch die kleinen Kinder durch Gottes Wort in der Taufe zum Glauben gebracht werden und dass ihr Glaube vielleicht reiner ist als der der Erwachsenen. Im Übrigen müsste eine Taufe, die vom subjektiven Glaubensbewusstsein abhängt, auf beliebige Wiederholbarkeit angelegt sein. Die Täufer, so Luthers Eindruck, zielen gar nicht auf den unüberprüfbaren Herzensglauben als Taufbedingung, sondern auf ein bestimmtes religiöses Verhalten. Darin erkennt er den aus der Papstkirche bekannten »werck teuffel« (WA 26; 161,35), der die Glaubensgerechtigkeit durch die Werkgerechtigkeit ersetzt. Die vermeintlich »frommen« Werke der Täufer manifestieren sich in deren sozialer Absonderung: »das etliche […] von weib und kind, von haus und hoff lauffen, keine öberkeit haben wollen, und so fortan« (WA 26; 162,39–163,2). Die Täufer machen schließlich den Glauben selbst zu einem Werk, indem sie sich auf ihn verlassen statt auf die Zusage Christi. Als Gründe für die Kindertaufe nennt Luther u. a. die Erzählung von der Kindersegnung durch Jesus (Mt 19,13–15) und weist auf das Alter und die Allgemeinheit des Brauchs hin – das unterscheidet ihn von den von ihm bestrittenen Bräuchen der Papstkirche. Luther schließt mit dem Vorwurf an die Täufer, dass sie die Taufe als bloße Menschensatzung und nicht als im Wort Gottes gründende Ordnung behandeln – und »so lestern und verleucken sie auch Gottes gebot und werck« (WA 26; 172,9). Gewaltanwendung gegen die Täufer – sofern sie nicht öffentlich Unruhe stiften – lehnt Luther ab: »Man solt ia einen iglichen lassen gleuben, was er wolt, Gleubet er unrecht, so hat er gnug straffen an dem ewigen fewr ynn der hellen« (WA 26; 145,23–146,2). Die Schrift fand keine Erwiderung, und deshalb entfiel die eigentlich geplante Weiterführung. 1532 erschien noch ein kleines Sendschreiben Von den Schleichern und Winkelpredigern (WA 30,3; 518–527), eine Warnung vor den heimlichen Umtrieben der Täufer, die zugleich die ordentliche Berufung zum Predigtamt herausstreicht. Die »schleichenden« täuferischen »Teuffels boten« (WA 30,3; 518,9) stören die religiöse und die öffentliche Ordnung, so dass ihnen geistliche und weltliche Gewalt wehren müssen. e) Von den Differenzen, die im Wittenberger Mitarbeiter- und Schülerkreis Luthers auftraten, hat sich nur die Auseinandersetzung mit dem Antinomismus Johann Agricolas in einer Streitschrift niedergeschlagen. Nach einigen fruchtlosen Disputationen zum Verhältnis von Gesetz und Evangelium veröffentlichte Luther im Januar 1539 die Schrift Wider die Antinomer (WA 50; 468–477) in der Form eines offenen Briefes an den Eislebener Prediger Kaspar Güttel. Er will klarstellen, dass Agricola sich für seine Auffassung, das Gesetz gehöre nicht in den
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Rechtfertigungsvorgang und sei daher nicht zu predigen, nicht auf ihn berufen kann. Vielmehr bleibt er dabei, dass Gesetz und Sündenerfahrung für das christliche Glaubensbewusstsein ebenso unentbehrlich sind wie die Vergebungserfahrung. Der vom Gesetz ausgelöste Schrecken der Gottesferne und die im Christus evangelium zugesagte Anerkennung des Sünders, die Rechtfertigung, bedingen einander. Auch das Auftreten der Antinomer ordnet Luther seiner Erfahrung mit den gegen das Wort Gottes gerichteten Umtrieben des Teufels zu: Nach Papisten und Schwärmern folgen die »newen geister« (WA 50; 468,6). Im Blick darauf schließt Luther die polemische Schrift mit dem Ausblick, dass auch künftig Streitigkeiten den Lauf des Evangeliums begleiten werden: »Und wenn ich noch hundert jar solt leben, und hette nicht allein die vorigen und itzigen Rotten und stürmwinde (durch Gottes gnaden) gelegt [i. e. zur Ruhe gebracht], Sondern kundte auch alle künfftige also legen, So sehe ich doch wol, das damit unsern nachkomen kein ruge [i. e. Ruhe] geschafft were, weil der Teuffel lebt und regirt« (WA 50; 476,7–11). Dagegen hilft nur geistliche Wachsamkeit und ein nüchternes Vertrauen darauf, dass sich letztlich die Macht Christi durchsetzen und das menschliche Streiten relativieren wird: »Denn wir sind es doch nicht, die da kündten die Kirche erhalten, unser Vorfarn sind es auch nicht gewesen, Unser nachkomen werdens auch nicht sein, Sondern der ists gewest, Ists noch, wirds sein, der da spricht [Mt 28,20]: Ich bin bey euch bis zur welt ende« (WA 50; 476,31–35). Brecht, Martin: Der Streiter Martin Luther (Wartburg-Jahrbuch. Sonderband 1996, 120–148). Buchholz, Armin: Schrift Gottes im Lehrstreit. Luthers Schriftverständnis und Schriftauslegung in seinen drei großen Lehrstreitigkeiten der Jahre 1521–1528 (EHS.T 487), 1993. Edwards, Mark U.: Luther’s Last Battles. Politics and Polemics, 1531–1546, 1983. Ders.: Luther on His Opponents (LQ 16, 2002, 329–348). Stolt, Birgit: Wortkampf. Frühneuhochdeutsche Beispiele zur rhetorischen Praxis (Stockholmer germanistische Forschungen 13), 1974. Hellmut Zschoch
4. Erbauungsschriften Luther war als Schriftsteller in erster Linie Erbauungsschriftsteller. Dieser Satz gilt insofern, als die Masse von Luthers Schriftstellerei geistliche Gebrauchsliteratur ist, Schriften, die der Lehre und dem Trost dienen sollten und gedient haben. Mit solchen Schriften beginnt Luthers Schriftstellerei, mit ihnen steht er in der Kontinuität spätmittelalterlicher aszetischer Literatur, geistlicher Gebrauchsliteratur, die er fortsetzt und reformatorisch transformiert. Solche reformatorisch transformierte Literatur sollte der Erbauung der Kirche und der einzelnen Christenmenschen dienen. Sie war das Werk eines geistlichen Verfassers, aber eines in der Welt wirkenden Universitätsprofessors; sie entstand, wie die Masse der mittelalterlichen geistlichen Literatur, nicht im Kloster oder Stift, sondern in einer
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Universitätsstadt; sie richtete sich, wie es auch in etlichen Titeln heißt, nicht an Gelehrte und Priester, sondern an die »einfältigen Laien«, also an eine nicht einschlägig gebildete, an theologischen Kontroversen nicht primär interessierte Leserschaft. Mit dem Wechsel der Adressaten geht der Wechsel der Sprachen einher: Diese Schriften waren in der Volkssprache geschrieben, also deutsch, und sie waren kurz; etliche Schriften umfassen in den zeitgenössischen Drucken nur vier Blätter. Die »Erbauungsschriften« wurden verfasst, »das Gewissen zu unterrichten« (so im Titel eines Sermons: WA 7; 795–802) und den Gläubigen zu helfen, sich im Leben der Kirche recht zu orientieren und zu verhalten – so z. B. der Sermon von der würdigen Empfahung des heiligen wahren Leichnams Christi (WA 7; 692–697). Die Laienadressaten nahmen auch die zeitgenössischen Drucker und Verleger in den Blick: Bereits im Mai 1520 brachte der Basler Drucker Andreas Cratander eine Sammelausgabe von »mancherley büchlin vnd tractetlin. In welchen ein yegklicher auch einfaltiger Lay / vil heylsamer Christlicher lere vnd vnderweisung findet« (WA 60; 611. Vgl. aaO 450–460) heraus. Unter Erbauungsliteratur wird häufig alle Literatur verstanden, die auf »Frömmigkeit als die Gesamtheit des religiösen Verhaltens« (Mohr 1982) abzielt und insbesondere zum christlichen Leben anleitet. Im Bereich der mittelalterlichen Literatur würde man hier von aszetischer Literatur sprechen, auch der Begriff der geistlichen Gebrauchsliteratur trifft die Sache. Das Deutsche Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm gibt für erbauen an später Stelle auch die Bedeutung »besonders fromme gedanken wecken, das gemüt erheben, gleichsam höher bauen« (Grimm 3, 706) an. Schon diese Interpretation trifft die Situation Luthers nicht mehr recht, insofern sie allzu stark auf die Innerlichkeit des Menschen abzielt. Für ein angemessenes Verständnis der Literaturproduktion Luthers und seiner Zeitgenossen ist es gut und erforderlich, vom gegenwärtigen Gebrauch des Wortes Abstand zu gewinnen. Während der Gebrauch des Nomens derzeit stark geschwunden ist und über seine Bedeutung keine rechte Klarheit besteht, wird dem Adjektiv erbaulich – im Unterschied zu der älteren Auffassung im Sinne von »salutaris, heilsam, nützlich« (aaO 707) – eher pejorative Bedeutung beigemessen, oder es wird ironisch gebraucht. Erbauliche Schriften in der Gegenwart zeichnen sich eher oder ausdrücklich durch ein Defizit an Theologie aus – in der Erbauungsliteratur des späten Mittelalters und der Reformationszeit dagegen kommt nach Ansicht und Absicht ihrer Verfasser die Theologie in gewisser Hinsicht zu ihrer eigentlichen Bestimmung. »Erbauung« (aedificatio) gibt den neutestamentlichen Begriff οἰκοδομή wieder und wird von Paulus durchgängig in übertragenem, ekklesiologischem Sinn gebraucht. Für das Verständnis zentral sind v. a. Röm 14,19 und Röm 15,2, Verse, in denen die ἐκκλησία Objekt der Bautätigkeit ist. Luther betont in deren Auslegung: »Et id notandum, Quod Apostolus familiare habet, Vt Edificationem opponat scandalisationi et econtra, […] Pax contra offensionem, Edificatio contra Schandalum, assumptio infirmorum contra infirmationem« (WA 56; 518,35– 519,5).
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Luther kennt Wort und Sache (vgl. WA 64; 56 s. v.), gebraucht den Begriff bei der Charakterisierung der Aufgabe zur Ausübung von potestas im Gegensatz zu destructio (WA 56; 160,27 f. WA 57,1; 131,7 f) und legt den Frieden in Röm 14,17 als einen solchen aus, »Quae habetur per satisfactionem et aedificationem charitatis mutuae« (WA 56; 510,29 f). Legt man insbesondere die Auslegungen der beiden einschlägigen Verse aus dem Römerbrief zugrunde, so kann man aus den authentischen Auslegungen Luthers in seinem Gebrauch von aedificatio im Sinne von Auferbauung bzw. Erbauung der einzelnen Christen in ihrem Verhältnis untereinander und zu sich selbst festhalten: Wer zur Erbauung, ad aedificationem, schreibt, dient dem Frieden des Einzelnen und der Gemeinschaft; er vermeidet daher (unnötige) Polemik und richtet sein Interesse darauf, die Schwachen zu schonen und aufzurichten. Erbauungsliteratur in diesem Verständnis dient der Stärkung der einzelnen Christen und ihrer Gewissen, der Förderung des Verständnisses untereinander und der gegenseitigen Wahrnehmung in der Liebe Christi und zielt auf die Überwindung von Streit, Spaltung und Ärgernis, in welcher Form auch immer. Inhaltlich präzisiert Spalatin das Anliegen dieser Schriften, wenn er in seinem Widmungsbrief anlässlich der Herausgabe von Luthers Auslegung des 109. (110.) Psalms bemerkt, er habe die Schrift drucken lassen in »der hoffnung, er werd vil leüten zu besserung ires irrigen wesens und fürnemens raichen, und sy bewegen, got allain die eer und inselb [sich selbst] alle gebrechlichait zu zuschreiben« (WA 1; 690,6–8). In solchem Verständnis von Erbauung kommt auch ein paulinischer Zug der reformatorischen Theologie zum Ausdruck. Man kann aus der Zweckbestimmung dieser Schriften herleiten, welche Genera von Texten der Erbauungsliteratur zuzurechnen sind. Freilich ist die Abgrenzung gegenüber anderen Gattungen und Textsorten nicht ganz einfach, und eine hinreichende wissenschaftliche Diskussion über »Luther als Erbauungsschriftsteller« gibt es bisher nicht. Erbaulich sind selbstverständlich auch die Lieder, durch die das Evangelium auch durch den Gesang unter die Leute kommen sollte, und mit ihnen die Gesangbücher, die neben Bibel und Katechismen den Kernbestand evangelischer Frömmigkeitsliteratur ausmachen. Unter diesem Gesichtspunkt sind andere Gattungen von Schriften hier nicht zu berücksichtigen: die Vorlesungen (k C. I. 8.), die Erbauung nicht ausschließen, aber grundsätzlich einem anderen Zweck dienen; die Disputationen (k C. I. 9.), die ihren Ort im universitären Unterricht und in den Qualifikationsverfahren haben; die Streitschriften (k C. I. 3.), die zu theologischen Klärungen kommen sollen und deren Ergebnisse dann gewiss auch der Erbauung dienen können und sollen; die Predigten (k C. I. 7.), die als mündliche Rede je und je hier und jetzt ihren Ort haben. Gerade im Fall der Predigten scheint eine Differenzierung jedoch erforderlich: Manche von ihnen wurden von Luther selbst oder von anderen in den Druck gegeben und wirkten so, neben ihrem ursprünglichen Ort und unabhängig von diesem, als Erbauungsschriften. Freilich war Luther der Unterschied zwischen mündlicher Rede und literarischer Fassung wohl bewusst; ange-
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sichts der unautorisierten Ausgabe einer Predigt erklärte er im Vorwort zu seiner eigenen Fassung (»vorendert vnd corrigiret«): »Es ist ein groß unterscheyt, etwas mit lebendiger stymme adder mit todter schrifft an tag zubringenn« (WA 2; 166,10 f). Einige Hinweise in Hinsicht auf die Bestimmung der »Gattung« lassen sich etwa der Charakterisierung entnehmen, die Luther auf dem Wormser Reichstag am 18. April 1521 im Hinblick auf seine Schriften öffentlich vorgenommen hat. An erster Stelle nannte er dort »etliche [bucher], in welchen ich die gute des glaubens und der siten so Ewangelisch und schlechtlich gehandelt hab, das auch mein widerwertigen mussen bekennen fur nutzbar und unschedlich und allenthalben wirdig, das sie von Cristlichen leuten gelesen werden« (WA 7; 869,12–870,3). Weitere Gesichtspunkte liefert der Catalogus oder Register aller Bücher und Schriften Luthers, der zuerst 1528 und in zweiter Auflage mit einer Vorrede 1533 erschien. In dieser Vorrede erklärte Luther, er habe mit seinen Schriften nichts anderes gewollt, »denn das die heilige schrifft und Göttliche warheit an den tag keme« (WA 38; 134,1 f). Dieses Hervorbringen der göttlichen Wahrheit hat sich im Lauf seiner schriftstellerischen Arbeit in unterschiedlichen Formen vollzogen – Luther selbst erkennt eine Entwicklung von seinen ersten, noch dem »Bapstum« verhafteten Büchern hin zu den (damals) letzten, »welche Christum allein und rein handeln« (aaO 134,12). Das Verzeichnis von 1533 selbst unterscheidet zwischen lateinischen und deutschen Büchern; »Erbauungsschriften« sind dabei unter den Rubriken Sermones und Libelli aufgeführt, im Deutschen unter Auslegung, Sermon, Lere bucher und vermane bücher, Vermanung und Nachgeschriebene Sermon und auslegung zu Wittemberg gedruckt. Eine klare Gattungsbestimmung gibt es also nach dem zeitgenössischen Register nicht – immerhin enthält die Gruppe der Streitbücher keine Schriften, die als ganze und ausdrücklich zu den Erbauungsschriften zu rechnen wären. Anders gewendet: Auslegung im Sinne von Schriftauslegung – hier nehmen die Auslegungen der Psalmen von Anfang an eine herausragende Stellung ein –, Sermon, Lehre und Ermahnung sind die Kategorien und Typen von Schriften, die »erbaulichen« Charakter und »erbauliche« Ziele haben. Als Erbauungsschriftsteller tritt Luther mit der Herausgabe der Theologia Deutsch 1516 literarisch auf den Plan (WA 1; 152 f); der ersten unvollständigen Ausgabe lässt er 1518 eine zweite Ausgabe folgen (WA 1; 375–379). Luther hat den Franckforter, eine Schrift des 14. Jahrhunderts, deren theologische Beziehungen zu Meister Eckhart, Tauler und der deutschen Mystik unverkennbar sind, neu entdeckt und dessen spätere Wirkungsgeschichte beflügelt; gegenüber Spalatin pries er sie gleichsam als Auszug aus den Schriften Taulers. »Neque enim ego vel in latina vel nostra lingua theologiam vidi salubriorem et cum Euangelio consonantiorem« (Und ich habe weder in lateinischer noch in unserer Sprache eine heilsamere und mit dem Evangelium besser zusammenstimmende Theologie gesehen) (WAB 1; 79,61–63).
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Seine erste Auslegung ist die der Sieben Bußpsalmen 1517 (WA 1; 158–220) mit einer knappen Vorrede, in der er seine Quellen und den Zweck des Buches angibt. Der programmatische erste Satz der Einleitung lautet: »In allem leiden und anfechtung sal der mensch zu aller ersten zu got lauffen, und [es] erkennen und auffnemen, als von got zugeschickt werde, es kom von teuffel ader von menschen« (aaO 159,16–18). Dieser ersten deutschsprachigen Psalmenauslegung folgten im Zusammenhang mit Luthers Vorlesungs- und Predigttätigkeit bis in die späten Jahre zahlreiche weitere nach (vgl. WA 61; 23–25. 65 f). Luthers erster großer literarischer Erfolg wurde der Sermon von Ablaß und Gnade (WA 1; 243–246), dessen Erstausgabe im Februar 1518 in Wittenberg erschien. Es handelt sich um eine kurze, in zwanzig Punkte gegliederte Darlegung von Elementarfragen und -problemen der Beichte und des Ablasses. Obwohl nicht unpolemisch in der Argumentation, zielt er doch durch argumentative Unterweisung darauf, dass die Leser ihr Handeln ändern: »Ja das ich euch recht underweyße, ßo merckt auff: du salt vor allen dingen […] deynem nechsten armen geben, wiltu etwas geben« (aaO 245,39–246,1). Der Sermon wurde nach seiner Erstausgabe alsbald so etwas wie ein »Bestseller«; auch und gerade von ihm nahm das »Berühmtwerden« Luthers seinen Ausgang, auf ihn könnte man am ehesten die Äußerung beziehen, die 95 Thesen – deren deutsche Kurzfassung der Sermon darstellt – seien innerhalb von vierzehn Tagen durch Deutschland geflogen, »als ob Engel sie getragen hätten«. In enger Verbindung mit dem deutschen Sermon steht der wenig später entstandene lateinische Sermo de poenitentia (WA 1; 319–324), und in der Schrift Eine Freiheit des Sermons päpstlichen Ablaß und Gnade belangend (WA 1; 383– 393) sah sich Luther genötigt, gegen die ebenfalls deutschsprachige Gegenschrift Johann Tetzels gegen den Sermon von Ablaß und Gnade Stellung zu beziehen. Der Erbauung, der Einübung in den christlichen Glauben dienten Luthers frühe Sermone, die er in den Jahren 1518 bis 1520 veröffentlichte. Sie sind gekennzeichnet durch ihre Konzentration auf das jeweilige Thema, durch die – überwiegend – deutsche Sprache und durch einen schlichten, kunstlosen Aufbau der Reihung; in der Regel handelt Luther verschiedene Aspekte des Themas in numerischer – freilich auch sachlich hierarchischer – Reihenfolge ab (»zum ersten …, zum zweiten …«). Es handelt sich um theologisch anspruchsvolle Elementarisierungen zentraler Themen der christlichen Lehre und Lebensführung, die teilweise in späteren Schriften fortgesetzt und zu einem Abschluss gebracht werden – so etwa die Sermone über die Sakramente durch die Schrift De captivitate Babylonica ecclesiae praeludium (WA 6; 497–573). Drei dieser Sermone des Jahres 1519 gehören durch die gemeinsame Thematik und durch die gemeinsame Widmung an die Herzoginwitwe Margarethe von Braunschweig-Lüneburg eng zusammen: der Sermon von dem Sakrament der Buße (WA 2; 713–723), der Sermon von dem heiligen hochwürdigen Sakrament der Taufe (WA 2; 727–737) und der Sermon von dem hochwürdigen Sakrament des heiligen wahren Leichnams Christi und von den Bruderschaften (WA 2; 742–758).
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In ihnen behandelte Luther diejenigen Sakramente, die nach seinem Verständnis als solche gelten konnten, nämlich insofern sie eine göttliche Verheißung (promissio divina) haben, »cum sine verbo promittentis & fide suscipientis nihil possit nobis esse cum Deo negotii« (da ohne das Wort des Verheißenden und den Glauben des Empfangenden keine Kommunikation zwischen uns und Gott möglich ist) (WAB 1; 595,23 f). Zugleich bestreitet Luther mit dieser Bestimmung die Definition der Siebenzahl der Sakramente durch die römische Kirche. In der Vorrede an die Herzogin erklärt Luther, er sei der Anregung gefolgt, »ettwas geystlichs und Christenlichs« (WA 2; 713,9 f) über die Sakramente zu schreiben angesichts der Tatsache, »das ßovil betrubt und beengstet gewissen erfunden« (aaO 713,20 f) werden, und er selbst habe erfahren müssen, dass es viele Menschen gebe, die sich angesichts ihrer fehlgeleiteten Religiosität nicht auf die Sakramente als Mittel und Zeichen der Gnade verließen, sondern »sich leyder mit yhren wercken mehr vormessen zu stillen« (aaO 713,23). Damit ist die programmatische Richtung der Sermone bezeichnet: Sie dienen der Unterscheidung von göttlicher Verheißung und Menschenlehre, der Unterrichtung und der Tröstung der Gewissen. Ihr Ziel finden sie darin, den Lesern religiöse Erkenntnis und den rechten Gebrauch der Sakramente zu vermitteln und dazu beizutragen, dass die Gewissen Frieden in Gott und in seinem Wort finden. Der lateinische, freilich alsbald ins Deutsche übersetzte und mit mehr als zwanzig Drucken ebenfalls sehr erfolgreiche Sermo de digna praeparatione cordis pro suscipiendo sacramento eucharistiae (WA 1; 329–334) wurde in einigen Ausgaben durch eine Predigt Quomodo Christi passio sit consideranda (WA 1; 339 f) bereichert. Der meditatio passionis Christi (vgl. WAB 1; 359,26 f) widmete Luther in der Passionszeit 1519 den Sermon von der Betrachtung des heiligen Leidens Christi (WA 2; 136–142). Entgegen der Feststellung, dass das Leiden Christi in der Vergangenheit »alleyn auff die brieff und an die wend gemalet« (aaO 142,8) sei, hält Luther fest: »was hilfft dichs, das gott got ist, wan er dier nit eyn got ist?« (aaO 137,6). Der Nutzen des Leidens Christi liegt darin, dass der Mensch zur Erkenntnis seiner selbst kommen und Christus »gleych formig« werden soll – und daher »mussen wir auch ym nach alßo gemartert werden im gewissen von unßernn sunden« (aaO 138,20–22). Freilich kommt es dann darauf an, nicht in Verzweiflung zu verfallen, sondern wie Christus seinen Ostertag und durch ihn die Befreiung von der Sünde zu erfahren. Im Mai 1519 veröffentlichte Luther seinen Text einer zuvor unautorisiert veröffentlichten Predigt unter dem Titel Ein Sermon von dem ehelichen Stand – ein Thema, das, wie die zahlreichen Ausgaben in rascher Folge beweisen, auf breite Resonanz stieß (WA 2; 166–171). Luther handelt in knapper Form von der Ehe als Sakrament, als Bündnis der Treue und als Gemeinschaft zur Hervorbringung von Kindern. Gerade der letzte Punkt liegt ihm besonders am Herzen: »Es ist auch keyn großer schad der Christenheit, dan der kinder vorseumen. Dan soll man der Christenheit widder helffen, ßo muß man furwar an den kindern anhe-
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ben, wie vortzeyten geschach« (aaO 170,14–16). Kinder sind den Eltern als ein kostbarer Schatz von Gott anvertraut, und vor ihm werden sie im Gericht Rechenschaft über ihr Tun und Lassen an den Kindern zu geben haben. Ebenfalls auf eine gehaltene Predigt geht zurück Ein Sermon von dem Gebet und Procession in der Kreuzwoche (WA 2; 175–179), der in Auszügen in einige Ausgaben des Betbüchlein[s] (WA 10,2; 375–501) und in die Kirchenpostille (WA 10,2; 263–266. WA 17,2; 516) aufgenommen wurde. Der Sermon von der Bereitung zum Sterben (WA 2; 685–697) steht in der Tradition der ars moriendi, die Anleitungen zu einem seligen Sterben und Sterbens trostbücher bereitstellt, die als reine Textbücher oder auch als Bilderfolgen mit einem weitgehend normierten Programm im späteren Mittelalter sehr beliebt waren. Vor allem Jean Gersons Schrift De arte bene moriendi gehörte als Teil seines Opus tripartitum (vor 1404) zu den durch den frühen Buchdruck am stärksten verbreiteten Schriften. Luther verfasste seinen Sermon am Ende des Jahres 1519 auf Bitten des kursächsischen Rates Marx (Markus) Schart; ursprünglich hatte er ihm die Lektüre von Staupitz’ Büchlein von der Nachfolge des willigen Sterbens Christi empfohlen. Bis 1525 erschienen 21 Ausgaben des Sermon[s], dazu zwei Übersetzungen ins Lateinische. Luther beginnt seine Schrift mit dem Hinweis auf die Notwendigkeit, seine zeitlichen Güter zu ordnen, weil der Tod Abschied von dieser Welt ist und weil Verstorbene keinen Anlass zu Streitigkeiten hinterlassen sollen. Geistlich Abschied nehmen heißt: Versöhnt verscheiden, mit sich selbst, mit seinen Mitmenschen und mit Gott im Reinen sein. Der Weg des Sterbens führt zu Gott. Sterben ist der Weg zu einem neuen Leben, ja gleichsam eine neue Geburt, die Luther mit der ersten Geburt des Menschen aus dem Leib seiner Mutter vergleicht: Sterbetage sind Geburtstage zu einem neuen Leben. Zur Vorbereitung auf die neue Geburt empfiehlt Luther die Beichte und den Empfang des Abendmahls, vor allem aber das Vertrauen auf Gott und sein Wort. Die Kunst des Sterbens liegt darin, Tod, Sünde und Hölle keinen Raum zu lassen und peinlich darauf zu achten, »das man dyßer dreyer bild keyns zu hauß lade, noch den teuffell ubir die thur male« (WA 2; 688,24 f), da man ihre Kraft nicht unterschätzen dürfe. »Die kunst ists gantz und gar, sie fallen lassen unnd nichts mit yhn handeln. Wie geht aber das zu? Es geht alßo zu, Du must den tod yn dem leben, die sund yn der gnadenn, die hell ym hymell ansehen, und dich von dem ansehen odder blick nit lassen treyben« (aaO 688,33–37), der ihnen nicht gebührt. Im Tod soll der Mensch nur Leben, Gnade und Seligkeit vor Augen haben, und zwar in der Gestalt und im Bild Jesu Christi: »Der gnaden bild ist nit anders, dan Christus am Creutz und alle seyne lieben heyligen« (aaO 689,28 f). – Von Sterben, Tod und Begräbnis handelt auch die 1527 angesichts der Pest in Breslau entstandene Schrift Ob man vor dem sterben fliehen möge (WA 23; 338–386). Die bedeutendste aller Erbauungsschriften ist das »tractatell unnd Sermon« (WA 7; 20,19) Von der Freiheit eines Christenmenschen (WA 7; 20–38), in Aufbau
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und Argumentation den übrigen Sermonen entsprechend, in der argumentativen Stringenz und definitorischen Kraft sie übertreffend, mit der Bestimmung der christlichen Freiheit als Glaubensfreiheit, die nicht durch rationalen Diskurs oder durch Intuition erworben werden kann, sondern durch das Wirken Gottes, welches in der Schlusswendung erbeten wird: »Wilch geb uns gott recht zuvorstehen und behaltenn, AMEN « (aaO 38,15). Luthers Auslegung des Magnificat (Das Magnificat verdeutschet und ausgelegt: WA 7; 544–604) ist im Sommer 1521 auf der Wartburg entstanden. Die mit einer Widmungsvorrede an den damals achtzehnjährigen Kurprinzen Johann Friedrich von Sachsen eingeleitete Auslegung des Lobgesangs der Maria aus Lk 1,46– 55 lässt sich als Fürstenspiegel lesen; sie handelt vornehmlich von Gottes verborgenem Handeln in der Geschichte. Als Erbauungsschrift über den individuellen Adressaten hinaus ist die Schrift Zeugnis der reformatorischen Transformation des Verständnisses von und des Verhältnisses zu Maria – sie wird nun nicht mehr als regina coeli, als Himmelskönigin und Heilsmittlerin verstanden und verehrt, sondern als demütige junge Frau, die sich in den Willen Gottes ergeben hat und ihm nachgefolgt ist, und damit für die Leser als ein Exempel des Glaubens. Zur Erbauungsliteratur sind auch die katechetischen Schriften zu rechnen, die um ihrer Eigenart und Bedeutung willen gesondert behandelt werden (k C. I. 5.). Begonnen wurden sie mit einer kurzen Erklärung der zehn Gebote (WA 1; 250– 256); als Beichtspiegel diente der Dekalog in der vielleicht von Spalatin veröffentlichten Schrift Eine kurze Unterweisung, wie man beichten soll (WA 2; 59–65). Auf Predigten beruhen die Decem praecepta Wittenbergensi praedicata populo (WA 1; 398–521), die 1520 ins Niederländische und Tschechische und von Sebastian Münster ins Deutsche übersetzt wurden. In seiner Vorrede führte Münster aus, Luther erkläre die zehn Gebote »also geistlich, christlich und evangelisch […], daß man desgleichen nicht finde, wiewohl viele Lehrer darüber geschrieben« (WA 1; 394). In der Auslegung deutsch des Vaterunsers für die einfältigen Laien (WA 2; 80–130) formuliert Luther 1519, allen Kontroversen zum Trotz, in der Vorrede seine Absicht: »mein syn ist yhe, das ich yderman nutzlich, nyemant schedlich were« (aaO 80,11 f). Der Erbauung dient auch eine kurze Zusammenfassung, mit der Luther unter der Überschrift »Kurtz begreiff und ordenung aller vorgeschrieben« die Schrift beschließt (aaO 128–130). Eine nach Umfang und Bedeutung besondere Stellung und einen besonderen Rang innerhalb der Erbauungsschriften nehmen die Trostschriften ein. In ihnen kommt ein charakteristischer Zug von Luthers Theologie überhaupt zur Geltung, ja, wäre der Titel nicht schon an Jean Gerson vergeben, könnte man Luther mit besonderem Recht den Ehrentitel Doctor consolatorius verleihen. Von den Sieben Bußpsalmen an hat Luther die consolatio in einem umfassenden Sinne als delectatio und gaudium an Gottes Wort und durch dasselbe verstanden und gepflegt, bis ungefähr 1530 in gedruckten Schriften, so etwa 1520 in der dem Kurfürsten Friedrich dem Weisen gewidmeten und von Spalatin ins Deutsche übersetzten Schrift Tessaradecas consolatoria pro laborantibus et oneratis (WA 6; 104–134), in
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Trostbriefen an die Christen in Augsburg (WA 12; 224–227) oder Miltenberg (WA 15; 69–78) oder 1527 in der Tröstung an die Christen zu Halle über Herrn Georgs, ihres Predigers, Tod (WA 23; 402–431). Nach 1530 wandte er sich überwiegend in seelsorgerlichen Briefen an einzelne Personen, die nur in Auswahl und erst später in gedruckter Form verbreitet wurden. Die Hochschätzung der konsolatorischen Schriften lässt sich teilweise sowohl an deren Erfolg als Einzelpublikationen als auch an den Sammelausgaben erkennen: Etliche Trostschrifften vnd predigten / fur die so in tods vnd ander not vnd anfechtung sind (1545; Benzing 1989, 26) gehören zu den frühen Sammlungen. Wieweit gerade die Aufnahme dieser Schriften nach Luthers Tod eine charakteristische Grundströmung seiner Rezeption darstellt, bedürfte genauerer Studien. Gebete hat Luther selbst nicht in den Druck gegeben. Aber schon 1522 veröffentlichte Spalatin eine Sammlung von Gebeten Luthers im Druck, und nach seinem Tod wurde nicht nur Ein kurzer Trostzettel für die Christen, daß sie im Gebet sich nicht irren lassen (WA 51; 454–457) publiziert, sondern es wurden auch Luthers Gebete aus seinen Schriften herausgezogen. Eine erste Sammlung ließ Anton Otho 1565 erscheinen, der bis in die Gegenwart zahlreiche weitere folgten. Luther selbst brachte erstmals 1522 ein Betbüchlein heraus, das in seinen zahlreichen Ausgaben eine Sammlung seiner erbaulichen Schriften wurde. Das Buch gehört über Luthers Tod hinaus zu seinen wirkungsvollsten und am häufigsten gedruckten Schriften (WA 10,2; 375–501. WA 59; 70–78. Benzing 1989, 1273– 1318). Zwischen 1522, dem Jahr, in dem die erste Ausgabe bei Johann Grunenberg in Wittenberg herauskam, und 1604 erschienen insgesamt 51 noch heute nachweisbare Ausgaben. Gebete enthält es nicht; vielmehr handelt es sich um ein katechetisches Buch, findet man hier doch die erste katechetische Hauptschrift Luthers gedruckt: Eine kurze Form der zehn Gebote, des Glaubens, des Vaterun sers, dazu die Auslegung des Ave Maria. Noch im selben Jahr erschienen in Wittenberg drei weitere Ausgaben, außerhalb druckte man es in Nürnberg, Erfurt, Grimma und Augsburg nach. 1525 erschien ebenfalls zunächst in Wittenberg eine neue Ausgabe. Sie enthielt Luthers Sermone über das Gebet, die Taufe und die Bereitung zum Sterben (1519) sowie die Sermone über die Beichte und über das Abendmahl (1524). Der Vielzahl der Erscheinungsorte entspricht ein je unterschiedlicher Bestand an Texten und Bildern. Etlichen Ausgaben steht ein Kalender voran, Vorreden erläutern den Zweck der Büchlein. Besonders ansehnlich ausgestattet sind die Ausgabe Hieronymus Formschneiders, Nürnberg 1527 (WA 10,2; 358: X. Benzing 1989, 1294; einziges erhaltenes Exemplar im Lutherhaus in Wittenberg, Faksimile 1983), die Ausgabe Erfurt 1528 (WA 10,2; 359: Y. Benzing 1989, 1259) mit neun Holzschnitten und die Wittenberger Ausgabe Hans Luffts von 1529 (WA 10,2; 359: Z. Benzing 1989, 1260; einziges erhaltenes Exemplar in Lindau, Faksimile 1929 und 1982) mit 50 ganzseitigen Holzschnitten und Kalenderbildern sowie die Nürnberger Ausgabe von 1536 (WA 10,2; 360: b. Benzing 1989,
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1298), die sich auch im Textbestand durch die Aufnahme zahlreicher Gebete Kaspar von Schwenckfelds von den übrigen Ausgaben abhebt. Die Überlieferung dieser Büchlein ist angesichts ihres Gebrauchs besonders schlecht: Von manchen Ausgaben ist kein einziges Exemplar erhalten, von anderen nurmehr eines (Nürnberg 1527, Wittenberg 1529). Die Wittenberger Ausgabe von 1529 (WA 10,2; 359: Z) wurde für die weiteren Ausgaben maßgeblich. Sie umfasst nach dem Kalenderteil mit einem immerwährenden Kalender (Cisiojanus) eine Vorrede Luthers, in der er gegen die verbreiteten Betbücher Hortulus animae und Paradisus animae, das Passional und andere Legendenbücher polemisiert – die seiner Ansicht nach allesamt einer starken, guten Reformation bedürfen oder verschwinden sollten (WA 10,2; 375). An ihrer Statt solle man sich vielmehr wieder an das Vaterunser als das »gemeyne eynfelltige Christlich gepett« (vgl. aaO 376,7) gewöhnen. In einer zweiten Vorrede entwickelt Luther das Modell von Geboten, Glaubensbekenntnis und Vaterunser als Wahrnehmung der Krankheit, Erkenntnis der Arznei und Vollzug der Erkenntnis. Entsprechend folgt die Auslegung der zehn Gebote, des Glaubens und des Vaterunsers, Luthers erste katechetische Schrift von 1519/20. Danach nimmt er eine Auslegung des Ave Maria auf, die das bisherige Vertrauen auf die Verdienste Mariens zurückweist und sie stattdessen als Vorbild einer Frau vor Augen stellt, »die von gott solche gütter auß lautter gnaden on verdienst erlanget hatt, wie sie selb bekennet ym Magnificat« (WA 10,2; 407,13 f). Es folgt eine Auswahl thematisch geordneter verdeutschter Psalmen (Ps 12, 67, 51, 103, 20, 79, 25, 10), angefangen von Psalm 12 »czu beten umb erhebung des heyligen Euangelion« über Psalm 51 (»Von der gantzen, das ist, von der wesentlichen und erbsunde sampt yhren früchten«) bis zu Psalm 10 (»widder den Antichrist und seyn reych zu beten«). Danach folgen die Sermone von der Betrachtung des heiligen Leidens Christi, vom Sakrament der Taufe, von der Beichte und vom Sakrament, von der Bereitung zum Sterben, das Gebet Manasses und ein mit fünfzig Holzschnitten bebildertes Passional, das Luther »umb der kinder und einfeltigen willen« (aaO 458,17) beigibt, da die Bilder und Gleichnisse stärker als bloße Worte im Gedächtnis hafteten. Von anderen Erbauungsschriften ist die Schrift Eine einfältige Weise zu beten für einen guten Freund (WA 38; 358–375) durch ihren konkreten seelsorgerlichen Anlass unterschieden. Sie entstand 1535 und ist an einen alten Freund Luthers, Peter Beskendorf, »Peter Balbirer«, gerichtet, der im Affekt einen Verwandten erschlagen hatte und zu Gefängnisstrafe verurteilt worden war. In dieser Schrift gibt Luther eine eindrückliche und feine Anleitung zum Beten und berichtet auch über seine eigene Gebetspraxis: »Ich gebs euch so gut als ichs habe und wie ich selber mich mit beten halte« (aaO 358,2 f). Luther ermutigt zur Meditation biblischer Texte, insbesondere des Psalters, und zur Disziplin, bestimmte Zeiten am Tag für das Beten zu reservieren, er unterscheidet in dem kleinen Büchlein das Beten von den »gescheffte[n]« (aaO 358,5), er mahnt, dem
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Gebot Gottes zum Beten zu folgen, das »rechte gebet« (aaO 359,32) über aller Arbeit nicht zu vernachlässigen und damit dem Teufel nicht anheimzufallen. Den Hauptteil bildet eine ausführliche Auslegung des Vaterunsers, die jeweils in die Bitte an Gott »Bekehre und wehre« mündet. Auch der Dekalog wird stückweise ausgelegt, und zwar indem Luther »aus einem jglichen Gebot ein gevierdes [i. e. Quadrat] oder ein vierfaches gedrehetes krentzlin« (aaO 364,30 f) macht, ohne dieses Verfahren zum Gesetz erheben zu wollen: »Ich neme ein jglich Gebot an zum ersten als eine lere, wie es denn an jm selber ist, Und dencke, was unser Herr Gott darinn so ernstlich von mir fordert, Zum andern mache ich eine danck sagung draus, Zum dritten eine beicht, Zum vierden ein gebet« (aaO 365,1–4; Hervorhebung von mir. Vgl. auch aaO 372,26 f). Einer vermehrten Ausgabe noch im gleichen Jahr hat Luther eine kurze Auslegung des Apostolischen Glaubensbekenntnisses nach demselben Muster hinzugefügt. Insgesamt geht es ihm darum, dass der Mensch sein Herz für das Gebet erwärme – den Rest mag dann der heilige Geist geben. Eine einzigartige Stellung kommt Luthers Bekenntnis am Ende seiner Schrift Vom Abendmahl Christi von 1528 zu (WA 26; 261–509, hier 499–509). Es ist ein persönliches Bekenntnis in der Ich-Form, das sich am Apostolikum orientiert, sich vor allem aber durch seinen Vermächtnischarakter auszeichnet. Luthers Bekenntnis ist ein Testament, »darauff ich gedencke zu bleiben bis ynn den tod« (aaO 499,21), an dem er selbst keine Änderung vornehmen wolle und an dessen Endgültigkeit auch künftig niemand anders irgendeinen Zweifel hegen solle: »Es ist mir ernst« (aaO 500,23). Die Sonderstellung dieses Textes kommt auch darin zum Ausdruck, dass er noch 1528 und auch danach in mehreren Ausgaben als selbständige (Bekenntnis‑)Schrift erschien (vgl. Benzing 1989, 2507–2515). Entsprechend seinem eigenen Bekenntnis gab Luther 1534 der Ausgabe von Lazarus Spenglers Bekenntnis eine Vorrede bei (vgl. WA 38; 313 f), in der er auf das Verhältnis von heiliger Schrift und Geschichte rekurriert: »Denn wo man allein die schrifft on exempel und historien der heiligen [im Sinne von Zeugen des Glaubens in Wort und Tat] leret, ob wol jnnwendig der geist das seine reichlich thut, so hilffts doch trefflich seer, wo man von auswendig auch die exempel der andern sihet odder horet. Sonst denckt ymer ein schwach hertz also: Sihe, du bist alleine, der also gleubet und solchs bekennet, thut und leidet etc. Darumb auch Gott selbs jnn der heiligen schrifft neben der lere beschreibet der lieben patriarchen und Propheten leben, glauben, bekentnis und leyden« (aaO 313,16–314,3). Zur Erbauungsliteratur gehören schließlich auch diejenigen Texte, in denen Ansätze einer evangelischen Erinnerungskultur zu fassen sind. »Hagiographisch« wird man sie nicht nennen wollen, insofern Begriff und Sache der Hagiographie unevangelisch sind. Die memoria aber im Sinne eines frommen Andenkens an Vorbilder im Glauben hat sehr wohl ihren Platz im evangelischen Christentum. In Artikel 21 der Confessio Augustana heißt es dazu, »daß man der Heiligen gedenken soll, auf daß wir unsern Glauben stärken, so wir sehen, wie ihnen Gnad widerfahren, auch wie ihnen durch Glauben geholfen ist; darzu, daß man Exem-
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pel nehme von ihren guten Werken […]. Durch Schrift mag man aber nicht beweisen, daß man die Heiligen anrufen oder Hilf bei ihnen suchen soll« (BSLK 83 b, 3–16), da allein Jesus Christus als Versöhner und Mittler zwischen Gott und die Menschen gesetzt ist (vgl. 1Tim 2,5). Als Inkunabel der Texte, die solchem Gedächtnis dienen, gilt das Lied von den Brüsseler Märtyrern, mit dem Luther 1523 zum Liederdichter wurde (AWA 4; 217–222. WA 35; 411–415) – ein Erzähllied, das bald nach der Hinrichtung zweier Augustinereremiten auf dem Brüsseler Marktplatz am 1. Juli 1523 entstand und dessen älterer Schluss lautet: »Wir sollen dancken Got daryn; seyn wort yst wydderkommen […]. Der das hat angefangen, der wirt es wol volenden« (AWA 4; 220. WA 35; 414). Auch die Berichte über Heinrich von Zütphen, der 1524 in Heide in Holstein den Tod fand (Von Bruder Henrico in Ditmar verbrannt […]: WA 18; 224–250), und über Leonhard Käser (Von Herrn Lenhard Keiser in Baiern, um des Euangelii willen verbrannt: WA 23; 452–476), der 1527 als evangelischer Märtyrer in Schärding starb und dessen Namen Luther um seines Martyriums willen in »Keiser« änderte, dienen der kollektiven Erinnerung und Selbstvergewisserung der Evangelischen und sind Teil einer im Entstehen begriffenen Bekenntnisgemeinschaft und Bekenntniskultur. Nach Luthers Tod entwickelte sich dann freilich doch so etwas wie eine evangelische Hagiographie, die sich insbesondere an seiner Person selbst entzündete. Die Berichte von seinen letzten Tagen, von seinem Sterben und seinem Tod, Bugenhagens Leichenpredigt und Melanchthons Rede bei der Trauerfeier in Wittenberg dienten als Mittel der Autoritätsstiftung und legten auf protestantischer Seite den Grund für ein langandauerndes Gedächtnis. Arnold, Matthieu/Decot, Rolf (Hg.): Frömmigkeit und Spiritualität. Auswirkungen der Reformation im 16. und 17. Jahrhundert (VIEG.B 54), 2002. Burschel, Peter: Sterben und Unsterblichkeit. Zur Kultur des Martyriums in der frühen Neuzeit (Ancien Régime. Aufklärung und Revolution 35), 2004. Hamm, Berndt: Was ist Frömmigkeitstheologie? Überlegungen zum 14. bis 16. Jahrhundert (in: Nieden, Hans-Jörg/Nieden, Marcel [Hg.]: Praxis pietatis. Beiträge zu Theologie und Frömmigkeit in der frühen Neuzeit, 1999, 9–45). Köpf, Ulrich u. a.: Art. Erbauungsliteratur (RGG4 2, 1999, 1386–1392). Mennecke-Haustein, Ute: Erbauungsliteratur (in: Literaturlexikon. Bd. 13: Begriffe, Realien, Methoden, hg. v. Volker Meid, 1992, 233–239). Dies.: Luthers Trostbriefe (QFRG 56), 1989. Moeller, Bernd: Luther-Rezeption. Kirchenhistorische Aufsätze zur Reformationsgeschichte, hg. v. Johannes Schilling, 2001. Mohr, Rudolf: Art. Erbauungsliteratur II/III (TRE 10, 1982, 43–80). Ottmers, Martin: Art. Erbauungsliteratur (HWRh 2, 1994, 1347–1356). Schulz, Frieder: Die Gebete Luthers. Edition, Bibliographie und Wirkungsgeschichte (QFRG 44), 1976. Stolt, Birgit: Zum Katechismusgebet in Luthers »Betbüchlein« (1522): Pensumaufsagen oder »Gespräch des Herzens mit Gott«? (in: Scharbau, Friedrich-Otto [Hg.]: Das Gebet [VLAR 33], 2002, 67–83). Johannes Schilling
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5. Katechismen Das Reformationszeitalter könnte man auch als das katechetische Zeitalter der Kirchengeschichte bezeichnen. In keiner anderen Epoche hat es derart zahlreiche und vielfältige Versuche gegeben, die christliche Lehre neu zu formulieren, wie in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts. Luthers Einfluss ist dabei bei den meisten Katechismusversuchen unverkennbar. Sehr viele dieser Katechismen wurden im Druck veröffentlicht, etliche sind nur handschriftlich überliefert oder, da sie nicht im Druck erschienen, überhaupt verlorengegangen. Manche erreichten, auch über die eigene Zeit hinaus, langfristig Bedeutung und Geltung, so im reformierten Bereich vor allem der Heidelberger Katechismus (1563). Unter allen Katechismen aber waren diejenigen Luthers die erfolgreichsten und wirkungsvollsten, insbesondere sein Kleiner Katechismus (1529), an dem seit seinem Erscheinen nicht nur Schüler Lesen und Schreiben gelernt, sondern auch Generationen von Menschen Einübung in das Christentum erfahren haben bis auf den heutigen Tag. Der Kleine Katechismus wurde zum Grundbuch des evangelischen Glaubens, im Luthertum und weit darüber hinaus. Unterweisung ist Aufgabe der Kirche von Anfang an (Mt 28,19). Ein Taufbekenntnis, das Vaterunser und das Doppelgebot der Gottes- und Nächstenliebe gehören seit alters zum Grundbestand des Katechumenenunterrichts. Der Begriff catechismus begegnet im 4. Jahrhundert in Nordafrika zur Bezeichnung des mündlichen Taufunterrichts. Augustin verfasste um 400 sein Buch De catechizandis rudibus als erste Einführung in das Christentum. Bei Luther klingt dieser Ursprung noch nach, wenn er in der Vorrede zur Deutsche[n] Messe definiert: »Catechismus aber heyst eyne unterricht, damit man die heyden, so Christen werden wollen, leret und weyset, was sie gleuben, thun, lassen und wissen sollen ym Christenthum« (WA 19; 76,2–5). In der Karolingerzeit sollte die Kenntnis der Zehn Gebote, des Vaterunsers und des Apostolischen Glaubensbekenntnisses zum verbindlichen Glaubensgut der Christen werden, auf dessen Erlernen die Geistlichen hinwirken sollten. Im späteren Mittelalter wurden die Anstrengungen um die Verbreitung der Kenntnis dieser christlichen Grundtexte vermehrt; lehrhafte Bildtafeln in Kirchen sollten die Aneignung der christlichen Hauptstücke ermöglichen bzw. vertiefen. So ließ etwa Nikolaus von Kues die Katechismusstücke auf Tafeln in Kirchen anbringen. Im Zusammenhang des Beichtinstituts erlangte der Dekalog immer stärkere Bedeutung; unter den bildlichen Darstellungen des Dekalogs ragt die Zehngebotetafel des Frankfurter doctor decem praeceptorum dei Johannes Lupi (Frankfurt am Main, Historisches Museum) heraus. Besondere Gottesdienste galten schon vor der Reformation der Einübung und Auslegung der Katechismusstücke. Als Buchtitel begegnet Katechismus zuerst 1528 bei Johannes Brenz und Andreas Althamer; seit dem 18. Jahrhundert wird er als Bezeichnung für alle möglichen Einführungen und Handreichungen üblich.
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Luther hat sich seit den Anfängen seiner Schriftstellerei um die Unterweisung der Laien in den Katechismusstücken bemüht. Dabei behandelte er die Stücke, die die Kirche seit alters lehrte: den Dekalog, das Credo und das Vaterunser sowie die beiden Sakramente Taufe und Abendmahl und stellte sich damit in die Kontinuität der ganzen Christenheit auf Erden. Entsprechend verzichtete er auf denjenigen Bestand an Stücken, der sich diesen christlichen Hauptstücken im Laufe der Zeit angegliedert hatte: insbesondere auf das Ave Maria, das noch in der ersten Ausgabe des Betbüchlein[s] von 1522 enthalten war. Der Katechismus wird ihm zur »leien biblia, darin der gantze inhalt christlicher lehre, so einem iden christen tzur seligkeit tzu wissen notig, begrieffen« (WAT 5; 581,30–32) (vgl. auch die Epitome, Von dem summarischen Begriff 3; BSLK 769, 7–10). Wie das Hohelied canticum canticorum, so sollen der Dekalog doctrina doctrinarum, das Credo »historia historiarum […], darinnen vns die vnermeßlichen wunderwergk gottlicher maiestet von anfang bis in ewigkeit furgetragen werden«, das Vaterunser oratio orationum und die Sakramente ceremoniae ceremoniarum sein, »welche Gott selbest gestiefftet vnd eingesetzt vnd vns darinnen seiner gnaden versichert. Derhalben sollen wir ja den catechismum lieb vnd werdt haben vnd der jugent mit fleiß einbilden, dan dorinne die rechte, ware, alte, reyne gottliche lehre der heiligen christlichen kirchen tzusammen gefasset, vnd was dem entgegen ist, fur neuerung vnd falsche, irselige lehre tzu halten, es hab auch so lange geweret, wie es wolle, vnd darfur vns hütten sollen« (WAT 5; 581,32–582,11). Seinen ersten literarischen Niederschlag hat dieser katechetische Impuls Luthers 1520 in der Schrift Eine kurze Form der zehn Gebote, eine kurze Form des Glaubens, eine kurze Form des Vaterunsers (WA 7; 204–229) gefunden. Diese kleine Schrift ist so etwas wie die Keimzelle seiner katechetischen Literaturproduktion. Hier bestimmt Luther auch das Ziel des Katechismus: »drey dingk seyn nott eynem menschen zu wissen, das er selig werden muge: Das erst, das er wisse, was er thun und lassen soll. Zum andernn, wen er nu sicht, das er es nit thun noch lassen kan auß seynen krefften, das er wisse, wo erß nehmen und suchen unnd finden soll, damit er dasselb thun und lassen muge. Zum drittenn, das er wisse, wie er es suchen und holen soll« (aaO 204,13–18). Die Kurze Form hat auch Justus Jonas, Urbanus Rhegius und andere Autoren zur Abfassung eigener Katechismen inspiriert. Dass es in den Katechismen nicht (nur) um die Vermittlung der christlichen Lehre in doktrinärem Sinne ging und geht, beweist die Aufnahme der Katechismusstücke in Luthers Betbüchlein, als »eynfeltige Christliche form und spiegel die sund tzuerkennen unnd tzu beten« (WA 10,2; 375,16 f). Es erschien zuerst 1522 und wurde zu Luthers Lebzeiten in vielfach geänderten und bereicherten Auflagen, teilweise auch mit Bildern (so in der schönen Ausgabe Wittenberg 1527) häufig gedruckt. So erschien etwa 1529 bei Hans Lufft eine Ausgabe unter dem Titel Ein betbüchlin, mit eym Calender vnd Passional, hubsch zu gericht (WA 10,2; 359).
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Schon zwischen Juni 1516 und Fastnacht 1517 hatte Luther in Wittenberg Predigten über den Dekalog gehalten, die 1518 unter dem Titel Decem praecepta Wittenbergensi praedicata populo im Druck erschienen (WA 1; 398–521). 1519 erschien Eine kurze Form, das Paternoster zu verstehen und zu beten (WA 6; 11– 19. Vgl. auch Eine kurze und gute Auslegung des heiligen Vaterunsers vor sich und hinter sich: WA 6; 21 f. WA 59; 22–24). In der Fastenzeit 1523 hielt Luther Predigten über die Gebote, den Glauben und das Vaterunser, dazu eine über das Ave Maria (WA 11; 30–62). Nach Rörers Mitschrift galt ihm der Glaube an Gott den Vater und Schöpfer als »articulus […] altissimus, ad quem nos Christus per spiritum ducit. […] Quid est credere in deum patrem? est cordialis zuversicht et tota fiducia in dei gratiam« (höchster Artikel, zu dem uns Christus durch den Geist führt […] Was ist das: an Gott den Vater glauben? Es ist eine herzliche Zuversicht und ein vollständiges Vertrauen in die Gnade Gottes) (aaO 49,4–8). In den Reihenpredigten, die Luther 1528 als Vertreter des seit Herbst 1523 tätigen Stadtpfarrers Johannes Bugenhagen in der Wittenberger Stadtkirche hielt, verdichtete er die Behandlung des Katechismus. »Das sol heissen die kinder predigt oder der leyen biblia, quae conducit pro simplici turba. Qui ergo ista nescierit, ut recensere et intelligere possit, non est habendus pro Christiano. Ideo etiam dicitur Catechismus i. e. ein unterweisung oder Christlicher unterricht, das yhn alle Christen zum allerwenigsten wissen sollen, post hoc sollen sie weiter ynn die schrifft gefurt werden. Ideo omnes pueri richten sich dar nach, ut discant. Und yhr Eltern seid schuldig, ut liberi vestri ista discant. Similiter vos, heri, date operam, ut familia etc. qui ignorat ista, indignus est, ut edat panem. In istis 5. [nämlich den fünf Hauptstücken] ist kurtzlich begrieffen, was ein Christliche lere ist« (WA 30,1; 27,26–34). Aus diesen Predigten gingen 1529 die beiden Katechismen Luthers hervor – der Große (Deudsch Catechismus) und der Kleine Katechismus. Anfang Januar 1529 erschien der Kleine Katechismus zunächst in Tafeldrucken in der Druckerei von Nikolaus Schirlentz, der die autorisierten Ausgaben des Kleine[n] Katechismus herstellte. Von den ursprünglich sieben Tafeln, die jeweils eines der Katechismusstücke enthielten, hat sich nur je ein einziges Exemplar mit den Texten des Morgen- und Abendsegens und mit dem des Altarsakraments in niederdeutscher Sprache erhalten (vgl. WA 30,1; 241). Die erste Buchausgabe, eine Zusammenfassung der aus Wittenberg nach Hamburg gelangten Tafeldrucke, kam durch Bugenhagens Mitwirken 1529 in Hamburg in niederdeutscher Sprache heraus (aaO 668). Im Mai 1529 erschien dann die erste hochdeutsche Ausgabe, von der sich kein Exemplar erhalten hat (aaO 669); eine zweite, mit zwanzig Bildern illustrierte und mit einer Vorrede versehene Wittenberger Ausgabe kam unter dem Titel Enchiridion. Der kleine Catechismus für die gemeine Pfarher vnd Prediger, Gemehret vnd gebessert ebenfalls 1529 heraus (aaO 670 f: B). Weitere von Luther autorisierte Ausgaben erschienen zwischen 1531 und 1543 in Wittenberg. Der Erstdruck des Große[n] Katechismus, den Luther 1537 neben De servo arbitrio als ein akzeptables Buch gelten lassen wollte (WAB 8; 99,7 f), erfolgte im
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April 1529 ebenfalls in Wittenberg. Bis zu seinem Tod wurde der Kleine Katechismus das am häufigsten gedruckte (Benzing 1989, 2593–2666) – und in lateinischen, deutschen und lateinisch-deutschen Ausgaben auch am häufigsten gelesene, gelernte und angeeignete – Buch Luthers. Die Ausarbeitung der Katechismen steht im Zusammenhang mit den Visitationen in Kursachsen, die seit 1528 verstärkt durchgeführt wurden. Nach den Besuchen der kurfürstlichen Visitationskommission (Hans von Planitz, Hieronymus Schurff, Asmus von Haubitz und Melanchthon) in den Gemeinden, bei denen sie auf erhebliche Defizite in der Kenntnis des christlichen Glaubens, ein falsches Verständnis der christlichen Freiheit und auf unchristliche Lebensführung gestoßen waren, verfasste Melanchthon den Unterricht der Visitatoren (WA 26; 195–240), den Luther mit einer Vorrede versah (aaO 195–201). Luther gibt den Unterricht freilich »nicht als strenge gebot […], auff das wir nicht newe Bepstliche Decretales auffwerffen, sondern als eine historien odder geschicht, dazu als ein zeugnis und bekendnis unsers glaubens« aus, allerdings in der Erwartung, dass die Pfarrer sich »nach der liebe art solcher visitation unterwerffen« und nicht widersetzen werden. Die weltliche Obrigkeit, der »zu leren und geistlich zu regirn nicht befolhen ist«, stehe in der Pflicht, »darob zu halten, das nicht zwitracht, rotten und auffrhur sich unter den unterthanen erheben« (aaO 200,11– 13.18 f.29.30 f). Die Tafeldrucke waren insbesondere für den Gebrauch des ganzen Hauses bestimmt, und die Hausväter nahm Luther in die Pflicht zur religiösen Erziehung. Die Vorrede zum Kleine[n] Katechismus richtete Luther an die Pfarrer und Prediger. Diese sollen die Hauptstücke des christlichen Glaubens in einheitlicher Textfassung unter die Leute, insbesondere unter die jungen, bringen und ihnen den Katechismustext wörtlich einprägen, damit sie ihn auswendig können und danach durch die Auslegungen verstehen, was sie gelernt haben. Wer den Katechismus nicht beherrscht, soll weder zum Abendmahl noch zum Patenamt noch zur Ehe zugelassen werden; ja, Luther meint, wer sich der Lerngemeinschaft des Katechismus entziehe, kündige damit die Lebensgemeinschaft in einem Gemeinwesen auf und habe die Folgen zu tragen. »Denn wer inn einer Stad wonen wil, der sol das Stadrecht wissen und halten, des er geniessen wil, Gott gebe er gleube odder sey im hertzen für sich ein schalck odder bube« (WA 30,1; 349,20–22). Insbesondere legt Luther den Pfarrern ans Herz, die Gemeindeglieder durch die Predigt zum Abendmahl und damit zur Gemeinschaft mit Christus und untereinander einzuladen. Der Kleine Katechismus enthält in der ersten niederdeutschen Buchausgabe »de Teyn gebade« [die zehn Gebote], »De Ghelove« [das (apostolische) Glaubensbekenntnis], »Dat Vader unse« [das Vaterunser], »Dat Sacramente der hylligen Döpe«, »Dat sacrament des altars«, »Dat Benedicite«, »Dat Gratias«. Dazu kamen später der Morgen- und Abendsegen, die Haustafel und »Eine kurze Weise zu beichten für die Einfältigen, dem Priester«. Das beigedruckte Tauf- und das Traubüchlein dürften von den Druckern hinzugefügt worden sein.
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Vielfach diente der Kleine Katechismus auch überhaupt als erstes – und häufig einziges – Elementarbuch. An ihm lernte man lesen und schreiben, und zahlreichen Ausgaben wurden neben Alphabeten in lateinischer und Frakturschrift auch das kleine Einmaleins oder andere Stücke der Elementarlehre beigedruckt. Neben seiner Verbreitung als selbständiges Buch ging er vielfach in die Kirchenund Schulordnungen des 16. Jahrhunderts ein oder wurde in diesen, so etwa in der Schleswig-Holsteinischen Kirchenordnung von 1542 (Van den Böken der Kerckhern vp den dörpern der Se nicht entberen können),– neben einer Bibel, den Postillen Luthers, den Loci communes und der Apologie Melanchthons, dem Unterricht der Visitatoren u. a. – zum unverzichtbaren Grundbestand einer Pfarrbibliothek gezählt. In der kurzen Vorrede zum Große[n] Katechismus von 1529 (WA 30,1; 129 f) betont Luther gleichfalls die Pflicht der Hausväter zur Katechismusunterweisung; in der kräftigen, vollmundigen Vorrede von 1530 (aaO 125–129) geißelt er die lässigen Christen, Pfarrer und Prediger, die »faule[n] wenste odder vermessene[n] heiligen« (aaO 126,28), ob ihrer Faulheit und ihres geistlichen Hochmuts und fordert sie zu täglicher Einübung des Katechismus auf. Gerade hier wird erkennbar, dass Luther den Katechismus als einen aszetischen Text versteht, wenn er dessen tägliche Übung anstelle des vorreformatorischen Stundengebets empfiehlt. Ergänzend bemerkte Luther einmal gegenüber dem Markgrafen Georg von Brandenburg, es wäre »fein, das E. f. g. aus weltliche oberkeit gebotte beyde pfarherrn vnd pfarkindern, das sie alle bey einer straffe musten den Catechismum treiben vnd lernen, auff das, weil sie Christen sein vnd heissen wollen, auch gezwungen wurden zu lernen vnd wissen, was ein Christ wissen sol, got gebe, Er gleube darnach oder nit. Mus doch ein handwercksman oder baur sein thun wissen, Gott gebe, er sey from oder brauche des recht oder nicht« (WAB 6; 193,49– 194,56). Luthers Kleiner Katechismus erschien bis zu seinem Tode 1546 in mehr als sechzig Ausgaben, und er war bis zu diesem Zeitpunkt ins Lateinische (zwei Übersetzungen 1529), Dänische (Erstdruck 1532, 1537 und 1538 [?]), Französische (ca. 1533/34), Polnische (1530, 1533) und Niederländische (nicht vor 1539) übersetzt. Übersetzungen in andere europäische Sprachen, darunter ins Slowenische, Litauische, Altpreußische und Italienische, und ins Arabische erfolgten noch während des 16. Jahrhunderts (vgl. WA 30,1; 782–800). Die Zahl der Ausgaben seit dem 16. Jahrhundert allein in deutscher Sprache ist Legion – eine im Entstehen begriffene Bibliographie von Reinhard Junghans vermerkt für die Jahre 1750 bis 1850 an selbständigen Ausgaben, Abdrucken in Epistel- und Evangelienausgaben, Gesangbüchern und Bekenntnisschriften bisher etwa 3.000 Titel. Der Große Katechismus selbst ist Luthers zentrale theologische Schrift in deutscher Sprache. Bernhard Lohse charakterisierte ihn als »die umfassendste Übersicht aus Luthers eigener Feder über Grundfragen der Dogmatik«; er könne »in gewisser Weise als Ersatz für eine von Luther nicht geschriebene Dogmatik gelten« (Lohse 1997, 154). Luther selbst bezeichnet den Große[n] Katechismus 1529
I. Gattungen – 5. Katechismen
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als »predigt« (WA 30,1; 129,12) und damit allererst als Verkündigung zum »unterricht«, als »kinderlere, so ein yglicher Christ zur not wissen sol« (aaO 129,12.14 f). Nötig, also unersetzbar und unverzichtbar zu wissen aber ist dem Christen der Glaube an das Evangelium von Christus und von unserer Erlösung, von dem man nicht weichen und nichts nachgeben könne (vgl. WA 50; 198 f). Und so kann auch der Zweite Artikel der Credoauslegung der Katechismen als das Kern- und Herzstück des Glaubens angesehen werden, wie es prononciert am Ende seiner Auslegung im Große[n] Katechismus heißt: »Auch stehet das gantze Euangelion, so wir predigen, darauff, das man diesen artikel wol fasse, als an dem alle unser heil und selickeit ligt und so reich und weit ist, das wir ymer gnug daran zulernen haben« (WA 30,1; 187,14–16). Die Anordnung der drei Hauptstücke Zehn Gebote – Glaube – Vaterunser wird in der Forschung seit langem kontrovers beurteilt. Während die Anhänger einer ›dogmatischen‹ These die Reihenfolge als sachlich notwendig ansehen und im Sinne eines trinitarisch-heilsgeschichtlichen Duktus den Weg vom Gesetz über das Heil in Christus zur Gemeinschaft in der Liebe aus dem Geist bestimmen, lautet die ›katechetische‹ Gegenthese, jedes Stück enthalte auf seine Weise jeweils das Ganze und führe je und je zum Zentrum: dem in Christus gratis pro nobis geschenkten Heil der Gnade. Vier der fünf Hauptstücke des Katechismus hat Luther auch in geistliche Lieder gefasst: Dies sind die heilgen zehn Gebot (AWA 4; 149–153. EG 231), Wir glauben all an einen Gott (AWA 4; 238–241. EG 183), Vater unser im Himmelreich (AWA 4; 295–298. EG 344) und Christ unser Herr zum Jordan kam (AWA 4; 299–301. EG 202). Ein Abendmahlslied fehlt bemerkenswerterweise, ohne dass bisher eine plausible Erklärung gegeben wurde, warum Luther ein solches nicht dichtete. Sollte er etwa angesichts der Sakramentsfrömmigkeit und -verehrung seiner Zeit auf die Abfassung eines solchen Liedes verzichtet haben? Eine Form der Aneignung des Katechismus entwickelte Luther in der Vorrede zur Deutsche[n] Messe 1526 (WA 19; 72–78, v. a. 76,1 ff). Es geht hier darum, die drei Hauptstücke nach dem Betbüchlein oder einer anderen Vorlage so in Fragen und Antworten zu fassen, »bis das man die gantze summa des Christlichen verstands ynn zwey stucke als ynn zwey secklin fasse ym hertzen, wilchs sind glaube und liebe. Des glauben secklin habe zwey beutlin [nämlich den Glauben an das sündige Wesen des Menschen und die Erlösung von demselben durch Christus] […]. Der liebe secklin habe auch zwey beutlin [nämlich Dienen und Leiden]« (aaO 77,13–20). Luther zeigt sich überzeugt, dass solches »kinderspiel« (aaO 78,15) nützlich und nötig sei und aus ihm christliche Leute erwachsen können: »Es steht ynn buchern gnug geschrieben. Ja, es ist aber noch nicht alles ynn die hertzen getrieben« (aaO 78,23 f). Die Katechismusunterweisung sah Luther, vor allem im Gegensatz zu selbsternannten Schriftauslegern, als die zentrale Aufgabe theologischer Lehrer an: »Die besten und nützlichsten lerer aber und den ausbund halte man die, so den Catechismus wol treiben können […]: das sind seltzame vogel« (WA 23; 486,28–30).
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C. Werk
Als den besten Weg für die Aneignung sah Luther das häusliche Erlernen desselben an (WAT 3; 679,4–22); der Hausvater, von dem Luther auch sagen kann, er sei »Episcopus et dominus Pastor illorum [nämlich des ganzen Hauses] constitutus« (WA 27; 444,20), steht deshalb in besonderer Verantwortung gegenüber Kindern und Gesinde (WA 30,1; 20–23). In einer Tischrede bemerkte Luther 1531 einmal: »Sancti quidem intelligunt verbum Dei, konnen auch dauon reden, aber mit der practica wil es nit hernach; da bleybt man ymmer dar schuler […]. Ego quidem quanquam magnus doctor nondum excessi puerilem doctrinam decalogi et symboli et orationis dominicae, sed adhuc quotidie illa disco et oro mit meinem Hansen vnd meinem Lenichen« (WAT 1; 30,22–31,2). Dem entsprechen Luthers Worte in der Vorrede zum Große[n] Katechismus, er müsse selbst, obschon ein Doktor der Theologie, »ein kind und schüler des Catechismus bleiben und bleibs auch gerne« (WA 30,1; 126,20 f), da doch der Katechismus »der gantzen heiligen schrifft kurtzer auszug und abschrifft ist« (aaO 128,29 f). Luthers Katechismen wurden Bücher der Kirche. Das geht aus der Schrift Eine Predigt, das man Kinder zur Schulen halten solle (WA 30,2; 517–588) ebenso hervor wie aus der Warnung an seine lieben Deutschen (WA 30,3; 276–320), den Schriften Von der Winkelmesse und Pfaffenweihe (WA 38; 195–256) und Wider Hans Worst (WA 51; 469–572). Ja, der Katechismusunterricht gehört zu den notae ecclesiae (WA 30,3; 317 f). Schon seit 1532 wurde der Kleine Katechismus selbst Gegenstand der Auslegung; mehr und mehr verdrängte er lokale Katechismen. Im Prozess der Bekenntnisformulierung und Bekenntnisbildung wurden die beiden Katechismen Luthers Bestandteil des Konkordienbuchs (1580) und damit Bekenntnisschriften der lutherischen Kirchen. Sie änderten damit ihren Charakter – aus dem katechetisch-seelsorgerlichen Buch, das ursprünglich nicht als ein zusammenhängendes Lehrsystem entworfen war, wurden ein dogmatisches Kompendium und eine verbindliche Lehrnorm. Gleichwohl haben sie auch nach 1580 im Gebrauch ihren ursprünglichen Sitz im Leben nicht eingebüßt. Luther, Martin: Der Kleine Katechismus in niederdeutscher Sprache. Die Hamburger Drucke von 1529, hg. v. Johannes Schilling, 2000. Albrecht, Otto: Luthers Katechismen (SVRG 30), 1915. Fraas, Hans-Jürgen: Katechismustradition. Luthers kleiner Katechismus in Kirche und Schule (APTh 7), 1971. Peters, Albrecht: Die Theologie der Katechismen Luthers anhand der Zuordnung ihrer Hauptstücke (LuJ 43, 1976, 7–35). Ders.: Die theologische Konzeption des Kleinen Katechismus (PTh 73, 1984, 340–353). Ders.: Kommentar zu Luthers Katechismen, 5 Bde., hg. v. Gottfried Seebass, 1990–1994. Weismann, Christoph: Eine kleine Biblia. Die Katechismen von Luther und Brenz. Einführung und Texte, 1985. Johannes Schilling
I. Gattungen – 6. Dichtungen
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6. Dichtungen Luthers dichterische Vielseitigkeit und Ausdrucksfähigkeit kommen in Liedern, Fabeln und in dem von ihm gesammelten Spruchgut volkstümlicher Prägung zur Geltung. Wie zentral der Gesang der Gemeinde für Luthers reformatorische Auffassung von Leben und Lehre ist, zeigt das wahrscheinlich von Luther herausgegebene erste Wittenberger Gemeindegesangbuch von 1525 (AWA 4; 25–30). Luthers Lieddichten setzt erst nach der Übersetzung des Neuen Testaments auf der Wartburg ein. Aktueller Anlass seines allerersten Liedes ist 1523 der Tod der ersten beiden protestantischen Märtyrer »zu Brussel von den Sophisten zu Louen verbrant«. Es gehört der Gattung des Erzähl- bzw. Zeitlieds an und dient der eigenen Verarbeitung und propagandistischen Weitergabe dieses Ereignisses (AWA 4; 76.217). Ihm folgt im gleichen Jahr Nun freudt euch, lieben Christengmayn (AWA 4; 154.57), ein hochpoetisches, trinitarisch strukturiertes Glaubenszeugnis. Überdies erfindet Luther die Gattung der Psalmenlieder. Die beiden berühmtesten Vertonungen sind die von Ps 46 Ein feste burg ist unser Gott und von Ps 130 Auß tieffer not schrey ich zu dir (AWA 4; 247.188). Vertont werden überdies Ps 12, 14, 67, 124 und 128. Bei seinen Nachdichtungen lateinischer Hymnologie erreicht Luther, da die Vorlage zum Teil in den Vordergrund gerät und die Zielsprachenkohärenz vernachlässigt wird, das poetische Niveau seiner sonstigen deutschen Lieddichtungen nicht immer, z. B. bei der Übertragung von Nu kom, der Heyden heyland, die auf den Hymnus Veni redemptor gentium zurückgeht (AWA 4; 202). Aus dem Lateinischen stammen noch Christum wir sollen loben schon, Kom Gott, schepfer heiliger geyst, Myt frid und freud ich far do hyn und Der du bist drey in einigkeit (AWA 4; 210.214.229.311). Der ambrosianische Hymnus Veni redemptor gentium ist abermals Melodiegrundlage des Kinderliedes ERhalt uns, HErr, bey deinem Wort, eines hervorragenden Beispiels von Luthers Melodiegestaltungsfähigkeit bei gleichzeitiger Perfektionierung der Wort-Ton-Relation, und von Verley uns fryden gnediglich, einem Bittlied angesichts der Bedrohung durch das Vorrücken der Türken (AWA 4; 304.274) (k B. III. 16.). Letzteres formt Luther zu einer litaneiartigen Liedstrophe um, die von der deutschsprechenden Gemeinde gesungen wird. Zu dieser Umformungsarbeit zählen andere aus dem Lateinischen stammende liturgische Stücke, wie das deutsche Sanctus, eine mit der Zeile Jesaia, dem propheten, das geschach einsetzende Reimfassung von Jes 6,1–4, das zu Herr Gott, dich loben wir umgeformte Te Deum Laudamus und die in der Ursprungs- und in der Zielsprache von Luther musikalisch bearbeitete deutsche Litanei, die von der Gemeinde doppelchörig gesungen werden soll (AWA 4; 243.276.250). In etwa zwölf Fällen macht Luther dichterische und musikalische Anleihen beim volkssprachlich-geistlichen Lied des Mittelalters, wie z. B. bei der Weihnachtsleise Gelobet seystu Jhesu Christ, bei dem Lobgesang Nu bitten wyr den heyligen geyst und bei dem Kinderlied Vom himel hoch, da kom ich her, welches ursprünglich ein weltliches Tanzlied war (AWA 4; 165.223.287.110). Wahrschein-
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C. Werk
lich angelehnt an das Hoflied oder die Gesellschaftslyrik seiner Zeit, dichtet Luther über die Kirche Sie ist mir lieb, die werde magd (AWA 4; 292.111 f). Durch sieben Katechismuslieder schließlich soll der Glauben junger Christen lebendig bleiben, wenn die Jugend die zehn Gebote, das apostolische Glaubensbekenntnis, das Vaterunser und die Bedeutung der Taufe singend erlernt. Zu Luthers Begräbnisgesängen von 1542, die er weder als »Trawrlied noch Leidegesang«, sondern als »tröstliche Lieder von vergebung der sunden, von Ruge, Schlaff, Leben und Aufferstehung« verstanden wissen will (WA 35; 478,31–479,1), zählen z. B. Mytten wir ym leben synd, Mit frid und freud ich far dahin und Nu last uns den leib begraben (AWA 4; 160.229.342). Abschließend sei erwähnt, dass Luther für eine große Anzahl der von ihm gedichteten Lieder die Melodien komponiert hat. Seine dichterische Vielseitigkeit und Treffsicherheit kommen zweitens zum Ausdruck in Umgestaltungen und Umdichtungen von Fabeln Äsops. Ein newe fabel Esopi, newlich verdeudscht gefunden, vom Lawen und Esel (WA 26; 547–554) lehnt sich nahe an die deutsche Tierfabel an. »Dem hochgelertisten Collegiat vnd vermeyneten Poeten zu Leiptzig, Johan. Myritionus [i. e. Heideesel]« (aaO 545,20 f), einem aus Friesland stammenden, jungen Leipziger Magister, der in einer Schmähschrift Katharina von Bora als ehemalige Nonne angegriffen hatte, widmet Luther spöttisch als Geschenk eine Gegenerzählung: Nach dem Tod des alten Löwen gelangt als sein Nachfolger dessen junger Sohn ins Amt. Ein schlauer Fuchs schlägt als Gegenkandidaten ein anderes Tier vor: Einen Esel mit einem Kreuz auf dem Rücken, im damaligen Volksmund die typische Karikatur für das von Priestern getragene, auf dem Rücken ebenfalls ein Kreuz aufweisendes Messgewand. Das gesamte Tierreich lässt sich dadurch, dass der Fuchs den Esel beharrlich lobt, überzeugen: »Da war nichts am gantzen esel, das nicht königlicher und Bepstlicher ehren werd were«. Es »leuchtet das creutze auff dem rücken, Also ward der Esel zum könige unter den thieren erwelet« (WA 26; 548,20–23). Im Wettkampf soll die Legitimität dieses neuen Königreichs erwiesen werden. Dreimal gewinnt der Esel auf betrügerische, heuchlerische und zufällige Weise den Sprung über den Bach, die Jagd nach dem schnellen Tier und den Lauf zur Mühle und zeigt damit seine Überlegenheit über den jungen Löwen. Der Schlusssatz dieser Fabel: »Also bleyb der Esel könig und regieret sein geschlecht bis auff diesen tag gewaltiglich ynn der welt unter den THIEREN « (WA 26; 550,32 f). Ordnende, korrigierende und gestalterische Absichten verfolgt Luther als Schriftsteller mit seiner Sammlung Etliche Fabeln aus Esopo (WA 50; 440–460), die er 1530 während seines Aufenthaltes auf der Veste Coburg nach einer Vorlage des Humanisten Heinrich Steinhöwel umschreibt. Luther bezweifelt Äsops Verfasserschaft. Er hält die Fabeln für eine im Laufe von Jahren von Gelehrten zusammengestellte und von einem anonymen antiken Autor vollendete Textsammlung: es »bleibt also dis Buch eines unbekandten und unbenanten Meisters« (WA 50; 453,8 f). In seiner Vorrede »von rechtem Nutz und Brauch desselben Buchs, jederman wes Standes er auch ist« (WA 50; 452,10 f) betont Luther, dass er »aus-
I. Gattungen – 6. Dichtungen
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ser der heiligen Schrifft nicht viel Bücher [wüsste], die diesem uberlegen sein solten« (WA 50; 452,17 f). Die Fabeln unterscheiden sich von anderen, durch wohlüberlegtes Wichtigtun gekennzeichneten Texten, sagen die Wahrheit auf anschauliche und gefällige Weise weiter und zeichnen sich durch Nutzen, Weisheit und Kunst aus. Ihre Funktion besteht in Lehre, Warnung und Unterricht: »niemand [wil] die Warheit hören […], und man kan doch der Warheit nicht emberen, So wöllen wir sie schmücken und unter einer lüstigen Lügenfarbe und lieblichen Fabeln kleiden« (WA 50; 453,26–29). Eingekleidet in schlichte Erzählungen aus dem Tierreich ist die Wahrheit, »das unleidlichste ding auff Erden« (WA 50; 454,7), optimal kommunizierbar. Die Fabeln erzählen vom Hahn und den Perlen, von Wolf und Lamm, Frosch und Maus, Hund und Schaf, vom Hund im Wasser, vom räuberischen Löwen, der die Mitjäger um ihren Anteil an der Beute betrügt, vom Dieb, vom Kranich und vom Wolf, vom Hund und der Hündin, vom höhnisch grüßenden Esel und vom Löwen, von der Stadtmaus und der Feldmaus und zuletzt vom Raben und vom Fuchs. Themen sind Dummheit und Hass, Untreue und Neid, Geiz und Gewalt, Undank und Diebstahl, der Umgang mit Hohn, Armut und Reichtum, Eitelkeit und Schmeichelei. Fabelartige Elemente sind überdies in anderen Texten Luthers zu identifizieren, z. B. in seinen Coburger Briefen an Justus Jonas und Georg Spalatin von dem Reichstag der Krähen und Dohlen (WAB 5; 289–291) und in seiner Klageschrift der Vögel über seinen Diener Wolf Sieberger (WA 38; 292,22–293,36). Luthers Sprichwörtersammlung ist, wie der Autograph ausweist, über einen längeren Zeitraum vermutlich ab etwa 1535 entstanden und wurde vom Autor mehrmals überlesen, ergänzt und nachgebessert (WA 51; 645–662). 1530 äußert Luther in der Vorrede zu den Fabeln Äsops den Wunsch, dass deutsche Sprichwörter, die derzeit in Gebrauch sind, gesammelt werden mögen (WA 50; 452,28– 31). Er bittet 1535 den Nürnberger Wenzeslaus Linck, volkstümliche Sprüche, Reime und Gesänge für ihn aufzubewahren (WAB 7; 163,20–164,28. Vgl. WAT 3; 344,14–17). Luthers erfahrungsbezogenes Interesse an volkstümlicher Spruchweisheit ist theologisch grundiert und erschöpft sich nicht in antiquarischer Sammlertätigkeit. Die Sprichwörter erscheinen mit bestätigender, bekräftigender oder ironischer Intention eingeflochten in die Schriftauslegung. Ein herausragendes Beispiel ist der Kommentar zu Ps 101, in dem allein etwa 170 Sprichwörter nachweisbar sind (WA 51; 200–264). Zu Luthers Quellen gehört neben der lebendigen Sprache des Volksmunds der Unterricht junger Christen. Eine direkte literarische Abhängigkeit von Heinrich Bebels, Johann Agricolas oder Sebastian Francks Sprichwort-Sammlungen oder den Adagia des Erasmus ist nicht nachweisbar. Wo Überschneidungen auftreten, ist dies auf gemeinsames humanistisches Schulgut zurückzuführen. Die von Luther gesammelten 489 Sprichwörter, unter denen sich sprichwörtliche Redensarten, erfahrungsgesättigte Urteile, Lebensmaximen, Vorschriften und Rätsel befinden, umfassen alle Lebensbereiche und werden im Folgenden
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C. Werk
nur ausschnitthaft anhand von Beispielen dargestellt: »Trew erbeiter, beten zwifeltig« heißt, dass Arbeit Gottesdienst ist, »Er Reyt« ist vermutlich von einem hochmütigen Menschen gesagt, der auf einem hohen Ross sitzt, »Ein guter anheber ist aller ehren« lobt denjenigen, der die Initiative ergreift, und »Ein boser ris ynn ein gut tuch« bedeutet Rücksichtslosigkeit im Umgang mit wertvollem Gut (WA 51; 645). »Es gillt vber redens« macht auf die Wirkmächtigkeit persuasiver Rhetorik selbst bei einer fest überzeugten Person aufmerksam, er »reücht den braten« kommt aus dem Tierreich und meint das Unheil, das jemand wittert, »Es schmeckt nach dem fasse« verrät die Herkunft und den Ursprung eines Menschen oder einer Sache, »Er hat den schnuppen« ist einer, der nichts wahrnimmt von dem, was um ihn herum vorgeht, und »Heilige leute mussen viel leiden« lautet eine sprichwörtliche Umformung von Ps 34,20, wonach fromme Christen in Anfechtung leben (WA 51; 648). »Tantz iglicher auff seinen fussen / Stosst er sich / wirds wol fulen« meint, dass jeder für sein Tun Verantwortung übernehmen muss, »Wer sich vnter die trebern menget / den fressen die sew« erzählt von jemandem, der sich in unsaubere Gesellschaft begibt und umkommt, »Gelt ist sein herr« redet von der Macht des Monetären, welche das Denken der Menschen bestimmt, »Das ist sein hertz« meint – ähnlich wie im Katechismus – metaphorisch jemanden, der an einer Sache mit ganzem Herzen hängt (WA 51; 657–659). Luther, Martin: Luthers Sprichwörtersammlung, hg. v. Ernst Thiele, 1900. Ders.: Luthers geistliche Lieder und Kirchengesänge. Vollständige Neuedition in Ergänzung zu Band 35 der Weimarer Ausgabe, bearbeitet von Markus Jenny (AWA 4), 1985, 3–52. Beutel, Albrecht: Art. Lied V. Kirchenlied (HWRh 5, 2001, 270–275). Burger, Christoph: Marias Lied in Luthers Deutung. Der Kommentar zum Magnifikat (Lk 1, 46b–55) aus den Jahren 1520/21 (SMHR 34), 2007. Hahn, Gerhard: Evangelium als literarische Anweisung. Zu Luthers Stellung in der Geschichte des deutschen kirchlichen Liedes (MTUDL 73), 1981. Jens Wolff
7. Predigten 7.1. Überblick
Seit er 1511 als künftiger Doktor der Theologie nach Wittenberg gekommen war, predigte Luther regelmäßig, zunächst im Augustinerkloster, spätestens ab 1514 auch in der Stadtkirche. Mit Luthers Berühmtwerden kamen weitere Predigtaufgaben hinzu: in der Schlosskirche, wenn Mitglieder der kurfürstlichen Familie oder deren Gäste sich in Wittenberg aufhielten, und an anderen Orten. An Sonnund Feiertagen predigte Luther im Hauptgottesdienst meist über die Evangelien der altkirchlichen Perikopenordnung. Im Nachmittagsgottesdienst predigte er in den zwanziger Jahren über Texte aus den Mosebüchern, ab 1530 häufig über die Epistel des Sonntags; manchmal setzte er auch die Evangelienpredigt vom Vormittag fort oder legte zusammenhängende Texte in Reihenpredigten aus. Mehr-
I. Gattungen – 7. Predigten
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fach hatte Luther den Stadtpfarrer Johannes Bugenhagen für längere Zeit zu vertreten, wenn dieser für die Einführung der Reformation in Norddeutschland oder Dänemark beurlaubt war. Dann musste er außer zusätzlichen Sonntagspredigten auch die Wochenpredigten am Mittwoch- und am Samstagnachmittag übernehmen. Über 2.000 Predigten Luthers sind überliefert, vielleicht zwei Drittel der tatsächlich von ihm gehaltenen. Bis 1521 ist die Überlieferung zufällig und lückenhaft und bietet keine sehr zuverlässige Textgrundlage. 1522 wurden erstmals in beträchtlicher Anzahl Bearbeitungen von Lutherpredigten aufgrund – nicht erhaltener – Mit- oder Nachschriften außerhalb von Wittenberg gedruckt, die das Interesse an Luthers Predigten und ihre Bedeutung für die reformatorische Bewegung dokumentieren. Ab 1523 liegen die Nachschriften von Georg Rörer vor, der – seit 1525 als Diakon an der Stadtkirche – bis Januar 1546 fast alle Predigten Luthers aufzeichnete. Da Luther seine Predigten nicht vorab ausformulierte und nur ganz wenige seiner Konzeptnotizen erhalten sind, kommen Rörers Nachschriften, von denen nur wenige verloren sind, dem gesprochenen Wort am nächsten. Den genauen Wortlaut der Kanzelreden bieten freilich auch sie nicht, weil Rörer ein von ihm weiterentwickeltes lateinisches Kürzelsystem benutzte, Luthers Worte also beim Mitschreiben ins Lateinische übertrug und nur besonders markante Formulierungen auf Deutsch notierte. Dabei entging ihm manches, anderes hielt er nicht für wichtig, z. B. die – gelegentlich von anderen überlieferten – konkreten Ermahnungen am Ende der Predigten. Luther selbst formte zuweilen seine Predigten für den Druck zu Traktaten um, die oft mit dem Titel »Sermon« oder »Predigt« an den ursprünglichen Sitz im Leben erinnern (z. B. 1522 Ein Sermon von dem unrechten Mammon: WA 10,3; 283–292), oder er benutzte sie als Grundlage für umfangreichere Publikationen (z. B. 1523 Von weltlicher Obrigkeit [WA 11; 245–281] aufgrund zweier 1522 gehaltener Weimarer Predigten [WA 10,3; 371–385). Weitere Predigtpublikationen entstanden auf der Basis von Nachschriften Rörers und anderer: Die – oft nicht bekannten – Bearbeiter mussten dabei einen flüssig lesbaren Text herstellen, dessen Formulierungen nicht wörtlich als die Luthers gelten können und von diesem auch nicht autorisiert waren. Luther selbst hat nur Caspar Cruciger zu solchen Bearbeitungen angeregt, wie seine Vorrede zur Publikation der Reihenpredigten über Joh 17 ausweist (WA 28; 70,11–16). Cruciger bearbeitete u. a. auch Reihenpredigten über die Bergpredigt von 1530 bis 1532 (WA 32; 299–544) und zu 1 Kor 15 von 1532/33 (WA 36; 478–696). Besonders hoch schätzte Luther Crucigers Bearbeitung der Predigten über Joh 14 f (WA 45; 465–733), die 1538 im Druck erschien. Dank Rörers Nachschriften lässt sich für die Jahre ab 1523 gut nachvollziehen, wie oft Luther gepredigt hat. Seine Predigttätigkeit war beträchtlichen Schwankungen unterworfen: beispielsweise zählt die WA für 1523 137 oder 138 Predigten – darunter zahlreiche Reihenpredigten – an 86 Tagen (WA 11; L), für 1524 »nur« 93 Predigten an 59 Tagen (WA 15; 403). Den absoluten Höhepunkt er-
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reichte Luthers Predigttätigkeit 1528 infolge der ersten längeren Abwesenheit Bugenhagens und zusätzlicher Katechismuspredigten: Luther predigte 195-mal an 145 Tagen (WA 27; XXIV)! An Neujahr 1530 kündigte er der Wittenberger Gemeinde an, er werde das Predigen wegen unzureichender Wirkung einstellen. Er hielt den »Predigtstreik« trotz Vorhaltungen des Kurfürsten bis zur Abreise auf die Coburg im April – mit wenigen Ausnahmen – durch. In den dreißiger Jahren fiel Luther öfter wegen Krankheit aus; meist predigte er dann im Lutherhaus statt in der Stadtkirche. Von Mitte 1540 bis Ende 1543 konnte Luther infolge körperlicher Schwäche nur wenige Predigten halten; 1545 predigte er wieder regelmäßig, und auch auf seiner letzten Reise nach Eisleben bestieg er noch mehrfach die Kanzel, zuletzt drei Tage vor seinem Tod. Als Hilfen für die durch sein Verständnis des Evangeliums ins Zentrum der kirchlichen Praxis gerückte Aufgabe der Predigt publizierte Luther Postillen mit theologisch gehaltvollen, teilweise sehr umfangreichen Auslegungen der Sonntags- und Festperikopen. 1521 erschienen zuerst lateinische Enarrationes epistolarum et evangeliorum (Auslegungen der Episteln und Evangelien) für die Adventszeit (WA 7; 463–537). Auf der Wartburg ging Luther dazu über, deutschsprachige Perikopenauslegungen für die Advents- und Weihnachtszeit niederzuschreiben. Sie erschienen 1522 (Wartburgpostille; WA 10,1,1 und WA 10,1,2; 1–208) und wurden 1525 durch die Fastenpostille mit durchweg knapperen Auslegungen, darunter bereits gehaltene Predigten, ergänzt (WA 17,2; 1–247), mit der zusammen sie die Kirchenpostille bildeten. Damit war Luthers eigene Postillenarbeit beendet. Ergänzungen für den Rest des Kirchenjahres ab Ostern (Sommerpostille: WA 10,1,2; 209–441) und für die kleineren Feste (Festpostille: WA 17,2; 249–516) sowie eine zweite Winterpostille (WA 21; 1–193) erschienen 1526 bis 1528 und boten Bearbeitungen von Lutherpredigten durch Stephan Roth. 1544 erschienen eine von Luther angeregte Neubearbeitung der Sommerpostille von Caspar Cruciger (WA 21; 197–551 und WA 22; 3–447), sowie die von Veit Dietrich sehr großzügig bearbeitete Zusammenstellung von Hauspredigten (Hauspostille: WA 52; 1–842). Die 1521 bis 1525 entstandenen Texte der Kirchenpostille sind authentische Luthertexte, freilich keine wirklich gehaltenen Predigten. Zwar gestaltete Luther sie predigtartig, füllte sie aber auch mit Informationen zum biblischen Originalwortlaut oder mit thematischen Exkursen, die nicht für den Kanzelvortrag geeignet waren. Insbesondere die Wartburgpostille stellte mit ihren zum Teil sehr umfangreichen Auslegungen eine theologische Programmschrift dar, die im Vollzug der Auslegung die Aktualität des Evangeliums in seiner aufbauenden wie in seiner kritischen Funktion demonstrierte. Luther nahm den Wortreichtum (das »geschwetz«: WA 10,1,1; 728,11) seiner Auslegung als Hinweis auf den unausschöpflichen Reichtum des Gotteswortes und gab der Hoffnung Ausdruck, in seiner Postille sei »eyn Christlich leben ßo reychlich furgepildet, das eynem Christenmenschen ubrig gnug gesagt sey, was yhm tzur selickeytt nott ist« (WA 10,1,1; 728,7 f). In der Deutsche[n] Messe von 1526 empfahl Luther die gottesdienstliche Lesung von Postillenpredigten, um willkürlicher Auslegung
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zu wehren (WA 19; 95,3–14). 1527 bezeichnete er sein Postillenwerk als »mein aller bestes buch, das ich yhe gemacht habe« (WA 23; 279,13 f). Der Weihnachtspostille schickte Luther 1522 als Vorrede einen »kleyn[en] unterricht, was man ynn den Euangelijs suchen und gewartten soll« (WA 10,1,1; 8,12 f), voraus. Mit der Konzentration auf das eine Evangelium präzisierte er zugleich sein Predigtverständnis: Gegenstand des Evangeliums ist, »das du Christum […] auffnehmist unnd erkennist alß eyn gabe und geschenck, das dyr von gott geben und deyn eygen sey« (WA 10,1,1; 11,13–15). Alle biblischen Zeugen können nicht genug von dieser überschwenglichen Liebe Gottes reden: »dauon wirt das hertz unnd gewissen fro, sicher unnd tzufriden, das heyst den Christlichen glawben [ge]predigt. Dauon heyst solch predigt Euangelium« (WA 10,1,1; 11,22–12,1). Luther versteht das Evangelium als Predigt, die aus der Bibel heraus laut wird – es ist »eygentlich nitt schrifft, ßondern mundlich wort« (WA 10,1,1; 17,8) –, und die Predigt tut nichts anderes, als dieses Wort aufzunehmen und weiterzutragen. Luthers Predigtprogramm lautete ganz schlicht: das Evangelium. Mit anderen Worten: »Man kan sonst nicht[s] predigen quam de Iesu Christo et fide« (als von Jesus Christus und vom Glauben) (WA 36; 180,10). Formal bevorzugte er die den Aussagen des Bibeltextes folgende Homilie; dabei erschloss der Text als Anrede die konkrete Situation der hörenden Gemeinde und des Predigers, zumeist in dem existentiellen Doppelschritt von Ermutigung zum Glauben und Anstachelung zur Liebe. Luthers Predigt zielte auf die Vermittlung der christlichen Grundwahrheit an die schlichten Christenmenschen: »Man sol auff der cantzel die zitzen herauß ziehen vnd daß volck mit milch trencken, den eß wechst alle tage eine newe kirch auff, quae indiget primis principiis [der es an den Grundlagen fehlt]. Drumb sal man nur den catechismum vleisig treiben vnd die milch außteylen; dj hohen gedancken […] soll man fur dj kluglinge privatim behalten« (WAT 3; 310,5–9). Lucas Cranachs Darstellung des predigenden Luther auf der Predella des Altars der Wittenberger Stadtkirche bringt das Predigtverständnis des Reformators – Christus im Angesicht der Gemeinde – kongenial zum Ausdruck. 7.2. Beispiele
a) Aufgrund der durch die kirchlichen Reformen im Winter 1521/22 in Wittenberg entstandenen Unruhen von der Wartburg zurückgekehrt, predigte Luther am 9. März 1522, dem Sonntag Invocavit, und an den folgenden sieben Tagen zu den Fragen der kirchlichen Erneuerung (WA 10,3; 1–64. Zur Überlieferung s. Bei der Wieden 1999, 112–152). Er stellt der Gemeinde zunächst den existentiellen Ernst der Entscheidungssituation vor Augen, in der es gilt, die »hauptstück so einen Christen belangen« (WA 10,3; 2,2) richtig zu erfassen. Luther attestiert seinen Hörern ein fundiertes Glaubensbewusstsein, rügt aber den Mangel an Liebe und an Geduld mit den glaubensschwächeren Nächsten. Das reformerische Handeln empfängt sein Maß aber nicht vom religiösen Recht zur Veränderung und
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von der eigenen Glaubensstärke, sondern von der Belastbarkeit der anderen. Daher müssen Unterweisung und Gewissensbildung einer Reform mittels verbindlicher Ordnungen vorangehen. Luther drängt auf die Unterscheidung dessen, was um des Heils willen sein muss, von dem, was freigestellt ist. Als wirklich unumgänglich sieht er nur die Eliminierung des Opfergedankens aus der Messliturgie an; alle anderen – auch von ihm selbst gewünschten – Änderungen sollen sich nach dem Fassungsvermögen der »Schwachen« richten und Provokationen vermeiden. Auf diese in den beiden ersten Predigten vollzogene Grundlegung bezieht Luther dann die konkreten Fragen von Zölibat und Klostergelübden, Bilderverehrung, Fasten, Abendmahlsriten und Beichte; das Stichwort »Freiheit« kehrt in allen Predigten wieder. Inhalt und Tendenz der berühmten Invocavit-Predigten stehen außer Frage; die in ihnen entwickelte Reformstrategie setzte sich in Wittenberg alsbald durch. Die Überlieferung der Predigten vermittelt aber gerade in diesem Fall einen nur begrenzt authentischen Eindruck vom Prediger Luther: Die maßgebliche Druckbearbeitung ist erst ein Jahr später in Straßburg erschienen; daneben existieren nur fragmentarische handschriftliche Notizen unklarer Herkunft und ein knapper Augenzeugenbericht. Es scheint, dass die Drucke sowohl die konkrete Polemik gegen die Wittenberger Gegner als auch Luthers Selbstaussagen zurücknahmen, weil es ihnen auf eine situationsübergreifende Rezeption der Inhalte ankam. Auch die Druckbearbeitung lässt aber erkennen, wie stark Luther in diesen Predigten mit seiner eigenen Erfahrung argumentiert, seine reformatorische Priorität ins Feld führt und Gefolgschaft fordert. Er illustriert die Kraft des Wortes Gottes humorvoll mit dem Hinweis, es habe erfolgreich gegen das Papsttum gearbeitet, »wenn ich geschlafen han, wenn ich wittenbergisch bier mit meynem Philipo [Melanchthon] und Amßdorff getruncken hab« (WA 10,3; 18,15 f). Er kann aber auch voller Grimm mit seinem Weggang drohen, falls die Gemeinde seine Belehrung nicht annimmt (WA 10,3; 46,16–47,2). Dass Luther die konkreten Fragen immer wieder auf die »Hauptstücke« bezog, dass er bildhaft zu reden vermochte und seine Gemeinde direkt anredete, Argumente und Gegenargumente in den Predigten konfrontierte, lässt sich auch den Druckbearbeitungen entnehmen. Wie Luther als Prediger wirkte, hielt ein Augen- und Ohrenzeuge fest: »Vir est quantum ex vultu apparet, benignus, mansuetus et hilaris. Vox eius suavis et sonora atque etiam ita, ut admirer suavem eloquentiam hominis« (Er ist von Angesicht freundlich, gelassen und heiter. Seine Stimme klingt angenehm und voll und lässt mich die liebliche Beredsamkeit des Mannes bewundern) (Albert Burer an Beatus Rhenanus, 27. März 1522: WA 10,3; LIII). b) Von Luthers Aufenthalt auf der Veste Coburg (April bis Oktober 1530) sind zehn Predigten erhalten, alle als handschriftliche Bearbeitungen des selbst in Wittenberg zurückgebliebenen Georg Rörer, vermutlich nach Mitschriften von Veit Dietrich. Die letzte dieser Predigten, gehalten am 2. Oktober in Gegenwart des sächsischen Kurfürsten, verbindet in eindrücklicher Weise die Auslegung des Sonntagsevangeliums mit einer Bewertung des gerade zu Ende gegangenen Augs-
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burger Reichstags (WA 32; 121–126). Die Erzählung vom Jüngling zu Nain (Lk 7,11–17) zielt nach Luther auf den Glauben, dass Christus auch gegenwärtig Tod unverhofft in Leben verwandeln kann. Der Gott Jesu Christi »hat zu thun da mit das nichts ist« (WA 32; 122,31), er zerbricht das, was selbst etwas ist, um Neues zu schaffen. Im Gegensatz dazu leitet der Teufel als Gott der Welt dazu an, das Vorfindliche zu verherrlichen und auf eigene Kraft, Macht und Weisheit zu vertrauen. Die Lebensaufgabe des Glaubens besteht darin, das Vertrauen auf den Gott, der aus dem Nichts Leben erweckt, zu lernen und zu üben, worin auch Luther selbst »noch ein student und schuler« (WA 32; 123,19) ist. Die mystische Terminologie vom »Nichts« interpretiert Luther unmystisch durch das äußere Wort des Evangeliums: Dieses Wort ist nach Weltmaßstäben »nichts«, enthält aber die ganze Kraft eines neuen Lebens. Den Gegensatz von Gott und Welt überträgt Luther dann auf das Reichstagsgeschehen: Dort hat sich das machtlose, »nichtige« Wort Gottes gegen Gepränge und Macht des Teufels behauptet. Was zählt, ist nicht ein handfestes politisches Ergebnis, sondern die Kraft Gottes, die sich darin erwiesen hat, »das das wort blieben ist und wir bey dem wort« (WA 32; 124,31). Daraus leitet Luther schließlich die Zuversicht ab, dass Gott auch weiterhin die Sache der Bekenner seines Wortes stützen wird. Die Predigt zeigt, dass Luther die aktuelle Situation nicht in ihrer politischen Bedrohlichkeit analysiert, sondern das Evangelium als hoffnungsstiftende Gegenbewegung zum Vorfindlichen ins Spiel bringt. c) Am 5. Oktober 1544 predigte Luther zur Einweihung der Torgauer Schlosskirche, des ersten reformatorischen Kirchenbaus in Sachsen (WA 49; 588–615). Predigt und Gebet der Gemeinde sollen an die Stelle der papstkirchlichen Kirchweihriten treten, denn der Kirchenraum dient funktional dem Reden Gottes durch sein Wort und der Antwort der Gemeinde in Gebet und Lobgesang (WA 49; 588,4 f). Das Sonntagsevangelium Lk 4,1–11 (Heilung am Sabbat mit Streitgespräch und Bildrede über die Rangfolge der Gäste beim Hochzeitsmahl) nimmt Luther zum Anlass einer Lehrpredigt. Im ersten Teil handelt er vom Sinn des Sabbatgebots, d. h. von Christus als dem Lehrer der Sabbateinhaltung für die eigene Gegenwart. Da die Christen von ihm zu Herren über den Sabbat gemacht werden, können sie ihre Religionsausübung pragmatisch gestalten und theoretisch einen beliebigen Tag für den Gottesdienst festsetzen. Feste Zeiten und Räume bieten aber einen sinnvollen Rahmen für die gemeinsame Feier des Gottesdienstes. Das Sabbatgebot erläutert Luther im Laufe der Predigt mehrfach im Bild der Kirchweihe mit Weihwasser und Weihrauch: Die Heiligung des Sabbats geschieht mit dem »Weihwassersprengel« des Wortes Gottes; die Gemeinde antwortet mit dem »Weihrauch« ihrer Gebete und Danksagungen (WA 49; 599,1–7). Subjekt dieser Sabbatheiligung im evangelischen Gottesdienst ist nicht allein der Prediger, sondern die Gemeinde als ganze, denn ihr Hören, Beten und Singen hat gleichfalls Verkündigungscharakter (WA 49; 600,1–4). Polemisch wendet sich Luther gegen einen ritualisierten Umgang mit heiligen Zeiten und Orten, wie er ihn – außer bei Juden und Türken – in der Papstkirche findet. Während sonst die
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Person des Predigers im Hintergrund bleibt, verweist er hier auf seine eigene Erfahrung von 15 Jahren im Papsttum (WA 49; 602,11) – wohl vom Klostereintritt 1505 bis zur Exkommunikation 1520/21 gerechnet. Im zweiten Teil der Predigt überträgt Luther das Motiv der besseren und schlechteren Plätze beim Hochzeitsmahl auf die nach Ständen geordnete Gesellschaft, angeregt vielleicht durch die Verteilung der Stände der Torgauer Schlossgemeinde auf das Schiff und die Emporen der neuen Kirche. Die Angehörigen aller Stände sollen ihren Stand dankbar aus Gottes Hand nehmen und in ihrem Stand das Richtige tun, sich nicht über andere erheben, sondern sich der Gleichheit im Verhältnis zu Gott bewusst sein. Das gilt ausdrücklich auch für das Verhältnis von Männern und Frauen (WA 49; 612,8–11). Luthers Torgauer Kirchweihpredigt dokumentiert die konsequente reformatorische Ablösung des Ritus durch das Wort. Der 1546 von Caspar Cruciger veranstaltete Druck der Predigt fasste den Neuansatz in Verse: »Doctor Martin, der Gottes Man, / Die erst Predigt darinne that, / Damit dis Haus geweyhet hat, / Kein Cresam [i. e. Salböl], Weyhwasser er braucht, / Kein Kertzen, Fahnen noch Weyrauch, / Das Göttlich Wort und sein Gebet / Sampt der Gleubigen dazu thet« (WA 49; XLI). d) Die Kanzel der Wittenberger Stadtkirche bestieg Luther am 17. Januar 1546 zum letzten Mal. Es ist zugleich die letzte von Rörer mitgeschriebene Lutherpredigt (WA 51; 123–134); die Predigten in Eisleben und auf der Reise dorthin sind nur in Druckbearbeitungen überliefert. Die Predigt über Röm 12,3 thematisiert den Übergang von den in Röm 1–11 entfalteten »heubstuck[en] Christianae doctrinae, nempe de lege, peccato, fide [der christlichen Lehre, also von Gesetz, Sünde, Glauben], wie man sol gerecht werden für Got und ewiglich leben« (WA 51; 123,9 f), zu den ermahnenden Partien ab Röm 12. Indem Luther die Vertrautheit der Gemeinde mit den »Hauptstücken« voraussetzt (WA 51; 123,10 f), parallelisiert er die paulinische Vermittlung des Evangeliums mit der reformatorischen Verkündigung. Auf dieser Linie fasst Luther den Kampf gegen die im Glaubenden verbleibende Sünde als Grund der Mahnrede ins Auge: Er gilt in erster Linie den von der natürlichen Vernunft ausgehenden Versuchungen, den »hohen lüsten«, denen die Christen »das wort vom Glauben an hals hengen« sollen (WA 51; 134,6). Luther hat dabei die »rationalen« Motive der papstkirchlichen wie der schwärmerischen Religiosität im Blick, die er u. a. mit Hinweisen auf das spätmittelalterliche Bildmotiv der »Heilstreppe« (WA 51; 128,12–14) und auf seine eigenen Erfahrungen mit »mehr denn 30 Rottengeister[n]« (WA 51; 131,6 f) illustriert. Er nimmt den Kampf als Streitgespräch mit der ratio auf und empfiehlt biblische Kernstellen als Waffen, weil Christus der einzige Lehrer des Glaubens ist und mit seinem zuverlässigen Wort den Kampf für sich entscheidet. Drastisch fordert er: »wirff ir [= der Vernunft] ein dreck ins angesicht« (WA 51; 129,14); der »Sakramentierer« wird nicht minder grob mit einem »Troll dich […] auff das heimlich gemach« bedacht (WA 51; 133,15 f). Luther verhehlt seine Sorge um den Bestand der durch die evangelische Lehre bezeichneten Kirche nicht: Der Teufel kann auch die eigenen Glaubensgenossen als Werkzeuge der Spaltung gebrauchen (WA 51; 131,14–
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17). Die Bitte um Lehrer des reinen Evangeliums in der Verbindung mit der Warnung vor falscher Nachgiebigkeit in Lehrfragen (WA 51; 131,17–132,2) trug durchaus den Charakter eines Vermächtnisses; Luther rechnete nicht erst im Januar 1546 mit seinem baldigen Tod. Dass das Vertrauen auf Christus den einzigen Grund christlicher Religiosität bildet und dass dieser Glaube sich im lebenslangen Kampf gegen die Sünde zu bewähren hat, war der Tenor seines gesamten Lehrens und Predigens – auch in der letzten Wittenberger Predigt. Bei der Wieden, Susanne: Luthers Predigten des Jahres 1522. Untersuchungen zu ihrer Überlieferung (AWA 7), 1999. Beutel, Albrecht: Verdanktes Evangelium. Das Leitmotiv in Luthers Predigtwerk (in: LuJ 74, 2007, 11–28). Ebeling, Gerhard: Evangelische Evangelienauslegung. Eine Untersuchung zu Luthers Hermeneutik, 1942, ³1991. Herms, Eilert: Das Evangelium für das Volk. Praxis und Theorie der Predigt bei Luther (in: Ders.: Offenbarung und Glaube. Zur Bildung des christlichen Lebens, 1992, 20–55). Wiemer, Axel: »Mein Trost, Kampf und Sieg ist Christus«. Martin Luthers eschatologische Theologie nach seinen Reihenpredigten über 1. Kor 15 (1532/33) (TBT 119), 2003. Zschoch, Hellmut: Theologie des Evangeliums in der Zeit. Martin Luthers Postillenwerk als theologisches Programm (in: Beutel, Albrecht/Rieger, Reinhold [Hg.]: Religiöse Erfahrung und wissenschaftliche Theologie. Festschrift für Ulrich Köpf zum 70. Geburtstag, 2011, 575– 599). Hellmut Zschoch
8. Vorlesungen Nachdem Luther den akademischen Grad des baccalaureus biblicus erlangt hatte, lehrt er zwischen 1509 und 1511 in Erfurt als baccalaureus sententiarius. In dieser Phase hatte er die Pflicht, sich mit der theologischen Tradition des Mittelalters zu beschäftigen. Luthers frühe Vorlesungstätigkeit setzt ein mit der Kommentierung der ersten beiden Bücher der Quattuor libri sententiarum des Petrus Lombardus. Luthers umfangreiche handschriftliche Randbemerkungen zum dogmatischen Lehrbuch des Lombarden traktieren altkirchliche Autoren wie Augustin, Hilarius, Johannes Damascenus und Ambrosius und nehmen Bezug auf scholastische Systemdenker wie Wilhelm von Ockham und die Skotisten (WA 9; 29–94). Die in den kommenden Jahren folgenden exegetischen Vorlesungen füllen, abgesehen von kurzen, situationsbedingten Unterbrechungen, von 1513 bis 1546 Luthers akademisches Berufsleben als Professor und Ausleger der heiligen Schrift aus. Ab Ende 1512 übernimmt er, aufgrund seines Doktorgrades zur selbstständigen theologischen Arbeit eines Professors berechtigt, die Lectura in Biblia in der Nachfolge seines Lehrers Johannes von Staupitz. Luthers beinahe vollständig überlieferte erste exegetische Vorlesung sind die kürzlich als abgeschlossene Neuedition erschienenen Dictata super psalterium von 1513–1515 (WA 55,1–2). Es ist kein Zufall, dass Luther zuerst dieses biblische Buch in Vorlesungen trak-
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tiert, da es schon im gesamten Mittelalter zu den am häufigsten kommentierten gehört und er es seit seiner Zeit als Mönch aus dem Stundengebet kennt. Seine Arbeitsmethode besteht darin, in sein eigenes Exemplar des Psalterdrucks, das als »Wolfenbütteler Psalter« erhalten und als Faksimile publiziert ist, handgeschriebene Interlinearglossen und Marginalglossen zwischen die Zeilen des Bibeltexts bzw. an dessen Rand zu setzen und sie dann in der Vorlesung den Studenten zu diktieren. Im Unterschied zu diesen kürzeren oder längeren Glossen stehen die Scholien, d. h. längere Kommentarstücke zu einem oder mehreren Versen bzw. Teilversen. Sie sind als »Dresdner Scholien-Handschrift« erhalten. Zur Exegese verwendet Luther die damals neuesten wissenschaftlichen Hilfsmittel: Johannes Reuchlins Lehrbuch und Lexikon der hebräischen Sprache De rudimentis Hebraicis und das von dem französischen Humanisten Jacobus Faber Stapulensis stammende Psalterium quincuplex. Gallicanum, Romanum, Hebraicum, Vetus, Conciliatum. Luther legt den Psalter wie die Tradition vor ihm auf Christus bezogen aus, verstärkt aber die christozentrische Tendenz und überwindet mit seiner Auslegung den schematischen vierfachen Schriftsinn und damit die Pluralisierung von sensus literalis, allegoricus, tropologicus und anagogicus, ohne jedoch die Allegorese jemals ganz preiszugeben. Denn in den Dictata super psalterium wird der Christussinn der Psalmen von Luther mit ihrem Literalsinn gleichgesetzt. Auch als Luther sich nach der Psalterauslegung planmäßig Paulus zuwendet, behält er seine Auslegungsmethode mit Scholien und Glossen bei, so in der Römerbriefvorlesung von 1515/16 (WA 56), in der ersten Vorlesung über den Galaterbrief von 1516/17 (WA 57,3; 5–108) und 1517/18 im Kolleg über den Hebräerbrief, welcher Luther als paulinisch gilt (WA 57,3; 3–238). Sein Werden zum Reformator ist ohne diese Paulusexegese nicht nachvollziehbar. Zu Gal 3,17 z. B. legt Luther die zentrale Kategorie der promissio als Christustestament aus (WA 57,2; 82,2–8), und zu Hebr 10,19 unterscheidet er in bezug auf das Christusereignis wie Augustin zwischen sacramentum und exemplum (WA 57,3; 222,12– 223,23). In intensiver Auseinandersetzung mit dem Schriftwort und unter steter Lektüre der antipelagianischen Schriften Augustins gelangt Luther zu einer neuen, biblisch-antischolastischen, sich einem längeren Erkenntnisprozess verdankenden Theologie. Aus der Vorlesung über den Galaterbrief geht 1519 Luthers erster Kommentar zu diesem Brief hervor (In epistolam Pauli ad Galatas commentarius: WA 2; 443–618). Im Laufe seiner frühen Vorlesungstätigkeit dringt Luther nicht zuletzt zu einer innovativen Deutung von Ps 71,2 und Röm 1,17 vor: iustitia dei ist Gottes Gerechtigkeit nicht als richterliche Instanz, sondern meint Gottes Zuvorkommen, welches uns im Glauben an Christus als Gottes Gerechtigkeit zuteil wird. Ähnliche Gottesattribute der Bibel, wie z. B. veritas dei oder iudicium dei, sind analog zu deuten. Gottes Gerechtigkeit, als Gnade geglaubt, rechtfertigt jeden Menschen. Diese Gerechtigkeit ist aber nicht fester Besitz der Glaubenden, sie bleibt extra nos (WA 56; 158,10–14).
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Nach mehrjähriger Paulusexegese kehrt Luther 1518 zu den biblischen Anfängen seines exegetischen Verstehens zurück. Abermals widmet er sich in Vorlesungen dem Psalter, diesmal unter dem die Bescheidenheit des Autors andeutenden Titel Operationes in psalmos, da die Überschrift »Kommentar« zu hoch gegriffen wäre (WA 5; AWA 2 als Neuedition von Ps 1–10). Neben den zur ersten Psalmenvorlesung genannten philologischen, exegetischen und lexikalischen Hilfsmitteln benutzt Luther zusätzlich die Biblia cum Glossis, das Quadruplex Psalterium aus dem achten Band der großen Basler Hieronymus-Ausgabe von 1516 und die Interpretationes Hebraicorum nominum aus dem vierten Band dieser Edition. Ohnehin greift er jetzt verstärkt zu hebraistischen Hilfsmitteln, z. B. zu einem hebräischen Taschenpsalter und zu diversen anderen hebräischen Bibeln (AWA 1; 27.378 f.376). Dies hat unmittelbare Auswirkungen auf den Inhalt seiner Exegese, denn nun gewinnt er neue Autonomie und Distanz zur altkirchlichen und mittelalterlichen Auslegung. Sie äußert sich darin, dass er die traditionelle Aufteilung der Kommentierung in Glossen und Scholien fallenlässt und fast jeden Vers einer Einzelkommentierung unterzieht. Obwohl die unmittelbare christozentrische Auslegung aufgrund einer präziseren Philologie in den Hintergrund gerät und viele Psalmenverse stattdessen auf die Kirche und die in ihr lebenden Frommen gedeutet werden, bleibt das Christusereignis nicht unberücksichtigt. Luther bricht seine Vorlesungstätigkeit zu Ps 22 ab, da er sich zur Abreise nach Worms aufmachen muss. Die Auslegung von Ps 22 stellt er erst auf der Wartburg fertig. Hätte er den Psalter in der begonnenen Weise weiterkommentiert, wäre sein Text der umfangreichste aller bisher erschienenen Psalmenkommentare geworden. Von 1519 bis 1521 erscheint der Vorlesungstext in Einzellieferungen im Druck. Nach seiner zweiten Psalmenvorlesung bleibt Luther mit der Vorlesung über das Fünfte Buch Mose im Alten Testament. Diese Wahl ist bezeichnend: von dem Gesamt seiner über dreißig Jahre währenden Vorlesungstätigkeit widmet Luther nur drei bis vier Jahre dem Neuen, die Restzeit aber dem Alten Testament (bei den Predigten kehrt sich dieses Verhältnis um). Die Vorlesung über das Deuteronomium hält Luther 1523/24 für einen kleinen Kreis von Bekannten und Mönchen im Wittenberger Augustinerkloster, die sich zu einem Vorlesungskolloquium einfinden, zu dem Studierende nicht zugelassen sind (WA 14; 545–625). 1525 erscheint aus dieser Vorlesung auf der Grundlage von Luthers eigenhändigem Druckmanuskript das Deuteronomion Mosi cum annotationibus (WA 14; 497– 744. WA 59; 189–191). Dieses biblische Buch ist für Luther geradezu ein Kompendium des Mose, eine Zusammenfassung des ganzen Gesetzes und eine Erläuterung des Dekalogs (WA 14; 545,17–27). Die Fokussierung weiter Teile dieser Vorlesung auf das erste Gebot »Ich bin der Herr, dein Gott« bereitet die Formulierungen des Kleine[n] Katechismus vor, Gott zu fürchten und zu lieben (WA 14; 634,30–637,21. Beutel 1998). Im Sommer 1524 beginnen die im Sommer 1526 abgeschlossenen Vorlesungen über die Kleinen Propheten. Diese Praelectiones in prophetas minores sind in
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Nachschriften erhalten und sollen den Hörern das lebensnotwendige Wort Gottes in der Gegenwart nahebringen. Für Luther stellt es keinen Widerspruch dar, dabei genau auf historische Details und zeitgeschichtliche Hinweise des betreffenden Buches zu achten. Hosea ruft ein gelehrtes und kluges Volk, das dennoch von Dummheit beherrscht wird, zur Buße. Ihr Götzendienst besteht in der Hurerei des Unglaubens, d. h. in ihrer Sünde gegen das erste Gebot (WA 13; 2–66). Ähnlich beklagt Maleachi, dass Gottes Wort nicht um seiner selbst willen beachtet wird (WA 13; 676–703). Joel, Obadja, Zephanja und Sacharja prophezeien den kommenden Christus und sein Reich (WA 13; 68–122. 208–223. 450–509. 546– 674). Amos, für Luther ein Zeitgenosse des Hosea, erzählt von der Verachtung des Propheten durch ein Volk, das predigtresistent ist (WA 13; 124–206). An Jona wird deutlich, dass Gott sich um die Heiden in Ninive kümmert und seinem Propheten den großen Auftrag gibt, dieser Stadt zu predigen (WA 13; 225–258). Wie vor ihm Amos und Hosea versucht Micha, Gottes Menschen zur Buße zu bewegen. Er predigt das Ende des alten und den Beginn eines neuen Volkes und sagt das Licht des Evangeliums nicht umsonst weiter (WA 13; 260–343). Habakuk macht die Erfahrung, dass seine Predigt, die Ungerechtigkeiten im Leben seiner Hörer aufdecken soll, wirkungslos bleibt (WA 13; 396–423), während der unter dem König Darius etwa zeitgleich mit Sacharja predigende Haggai entdeckt, dass Gottes Wort immer dann geradezu allmächtig wird, wenn sich im Leben die allergrößten Schwierigkeiten einstellen (WA 13; 511–544). Die Prophetie des Nahum schließlich gibt ihre Botschaft an den verzweifelten Stamm Juda schon im Namen des Propheten, der »Tröster« bedeutet, etymologisch zu erkennen (WA 13; 345–394). Nach dem Abschluss der Vorlesungen über die Kleinen Propheten wendet sich Luther dem Prediger Salomo zu. Ecclesiastes Salomonis cum annotationibus (1526, gedruckt 1532: WA 20; 7–203) ist eine Vorlesung, in der es Luther gelingt, zu einem Gesamtverständnis dieses biblischen Buches zu gelangen. Dass laut dem Prediger Salomo alles seine Zeit hat, ist nach Luther gegen den freien Willen gesagt, denn alles menschliche Mühen gerät an eine ihm gesetzte Zeitgrenze (WA 20; 58,2–14). Gott alle Dinge zu überlassen und in der eigenen Gegenwart intensiv zu leben, bedeutet zugleich, dass es sinnlos ist, sich innerhalb der Gefangenschaft in der Zeit nach einer unverfügbaren Zukunft zu sehnen. Die gesamte menschliche Existenz ist extern bestimmt: Geburt und Tod hat kein Mensch in der Hand. Sie sind existentielle Vorgegebenheiten eines jeden von Gott begrenzten Daseins (WA 20; 59,11–61,4). Salomo predigt weltliche Gelassenheit. Das Praktisch-werden-Können dieser Predigt lässt sich, wenn Luther Salomo als nüchternen Menschen voller Weisheit darstellt, bis hin zur Berufsethik und zum konkreten Berufsethos verfolgen. Nach einer mehrmonatigen Unterbrechung seiner Vorlesungstätigkeit aufgrund von Krankheit setzt Luther erst im Sommer 1527 wieder mit kleineren Vorlesungen ein. Die Universität Wittenberg ist wegen des Ausbruchs der Pest geschlossen und nach Jena verlegt. In dieser Notsituation widmet sich die vor
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einem kleinen Zuhörerkreis weitergeführte Lehrtätigkeit der Auslegung des Neuen Testaments. Die Vorlesung über 1Joh redet zu den trotz der Epidemie in Wittenberg Bleibenden (WA 20; 599–801): Auch wenn die Welt, der Teufel, das eigene Herz und der eigene Körper gegen uns ankämpfen, gibt Gott uns sein Wort, damit es gepredigt werde. Speziell in der Situation der Seuchengefahr, meint Luther zu seinen Hörern, »setzt er [Gott] uns hin«, damit wir erfahren, wie mächtig sein Wort ist, das mehr vermag als Tod und Sünde (vgl. WA 20; 599,3– 7). Luther hält im gleichen Jahr anschließend Vorlesungen über den Titus- und den Philemonbrief (Annotationes Lutheri in epistolam Pauli ad Titum, Annotationes in epistolam Pauli ad Philemonem: WA 25; 6–78). Es sind hier die sog. »Schwärmer«, die Häretiker, die Gegner seiner Abendmahlslehre, die Wiedertäufer und die Mönche, welche aufgrund des lehrhaften Charakters der zugrunde gelegten Briefe immer wieder ins Visier genommen werden. Frömmigkeit (pietas) heißt positiv formuliert, an Christus zu glauben und den Nächsten zu lieben (WA 25; 11,16 f). Die Vorlesung über den ersten Timotheusbrief von 1528 schließlich trägt erneut Spuren des parallel sich abspielenden Abendmahlsstreits (Annotationes in priorem Epistolam ad Timotheum: WA 26; 4–120). Als Abschluss der Reihe der kleinen Vorlesungen setzt auch sie ein mit dem Hinweis auf Gottes Wort, das der Reichtum der Christenheit ist (WA 26; 4,4–8). Der Brief ist nicht didaktisch und beschäftigt sich nicht mit den Fundamenten der Lehre, sondern praktisch mit der Kirchenordnung, dem Bischofsamt, der Neuordnung der Gemeinde und dem Verständnis von Obrigkeit. Gegen Ende des Kollegs wird der normale Vorlesungsbetrieb, da die Universität nach Wittenberg zurückkehrt, wieder aufgenommen. Krönender Abschluss von Luthers neutestamentlicher Lehrtätigkeit ist die im Neuen Kollegiengebäude gehaltene zweite Vorlesung über den Galaterbrief von 1531 (In Epistolam S. Pauli ad Galatas Commentarius, gedruckt 1535: WA 40,1; 15–688. WA 40,2; 1–184). Um ihn auszulegen, zieht Luther gelegentlich seinen ersten Kommentar zum Galaterbrief von 1519 heran. Für diesen Brief empfindet Luther besondere Liebe: »Epistola ad Galatas ist mein epistelcha, der ich mir [mich] vertrawt hab. Ist mein Keth von Bor« (WAT 1; 69,18 f). Erneut bekräftigt er den Artikel der Rechtfertigung. Zu Gal 1,3 wird Christus dargestellt als eine Person, die von mir keine Rechnung haben will, sondern sich für mich auslöschen lässt (WA 40,1; 91,1–4). Er nimmt meine Entfremdung und Gottferne auf sich und ist, wie Gal 3,13 sagt, der Verleugner Petrus, der Christenverfolger Paulus und der Gotteslästerer und Ehebrecher David (WA 40,1; 437,7 f). Sünde und Gerechtigkeit, Tod und Leben laufen zusammen, und Christus nimmt »mich auff sein hals«. Auf dieses Bild soll der Glaubende hinsehen. Wer dies glaubt, hat (WA 40,1; 443,1.12 f). Der Glaube ist eine gänzlich unvergleichliche Sache, ja, sogar der Schöpfer der Gottheit (WA 40,1; 360,5 f). Ins Alte Testament geht Luther 1530/31 erneut mit seiner Vorlesung über das Hohelied der Liebe (In Cantica Canticorum brevis enarratio, gedruckt 1539: WA
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31,2; 586–769). Er legt es dem Literalsinn nach aus und hält es für ein Buch, in dem der König Salomo Gott lobt und ihm für die Bewahrung seines Königreichs dankt. Den erotischen Sinn dieses Liebesliedes nimmt Luther nicht wahr. Seine Kommentierung wird von grundsätzlichen Erwägungen zur Hermeneutik begleitet. Sie widersprechen gängigen Deutungen, wonach das Hohelied ein Liebeslied sei oder auf die Verbindung von Christus und Kirche gedeutet werden müsse (WA 31,2; 588,2–589,13). Die Psalmen haben für Luther mehr als zehn Jahre nach Beendigung der Operationes in psalmos nichts an Anziehungskraft eingebüßt. Aus diesem Geist erwächst von 1532 bis 1535 die dritte Psalmenvorlesung. Sie ist konzipiert als Vorlesung über einzelne Psalmen, und zwar über Ps 2, der vom Reich Gottes und vom Reich der Welt handelt, über Ps 51, der von der von Gott geschenkten Buße redet und damit nicht die Buße der Papisten meint, und über den fröhlichen Ps 45, welcher den heiligen Geist als wortreichen Redner einführt, der die eine Sache des Glaubens mit unterschiedlichen Metaphern darstellt (WA 40,2; 193–610). Die Lesung der Schrift ist für Luther nichts anderes als Predigt von Gottes Barmherzigkeit und gleichzeitig Danksagung (WA 40,2; 193,2–4. 194,9–13). Die genannten Vorlesungen sind als rechtfertigungstheologisch grundierter Dank- und Bittgebetsvollzug zu verstehen. Nach Abschluss der Auslegung von Ps 45 wird das Kolleg am folgenden Tag fortgesetzt mit den Vorlesungen über die Stufenpsalmen 120–134 (In quindecim psalmos graduum commentarii, 1532/33: WA 40,3; 9–475). Nach einjähriger Unterbrechung vollendet Luther die Vorlesungsreihe über den Psalter 1534/35 mit der Vorlesung über Ps 90 (Enarratio psalmi XC, gedruckt 1541: WA 40,3; 484– 594). Moses redet in diesem Gebet zu Gott nicht mit menschlichen Worten, sondern benutzt eine neue Rhetorik, wenn er den Tod Gottes Zorn nennt (WA 40,3; 487,2 f). Für Gott sind Menschen wie vorüberrauschendes Wasser (WA 40,3; 527,8–10). Durch sein Werk allein, das wir nur passiv empfangen können, rettet er sie. Gott ist zugleich als Lachender vorzustellen. Er freut sich an den Menschen und erhält uns in der Freude des heiligen Geistes (WA 40,3; 588,11–590,2). Denn es gibt nach diesem Leben ein anderes Leben. Mose sagt gerade den Menschen, die Gottes Zorn fühlen, ewiges Leben, Heil und ewigen Trost zu (WA 40,3; 576,11–577,5). Wieder unmittelbar nach Abschluss der Auslegung von Ps 90 setzt Luther seine akademische Lehrtätigkeit fort mit der von 1535 bis 1545 dauernden und vielfach unterbrochenen Vorlesung über die Genesis (WA 42–44. WA 59; 389–401). Der Abschluss dieser ursprünglich nicht zur Veröffentlichung bestimmten Vorlesung drei Monate vor seinem Tod bildet zugleich das Ende seiner universitären Lehrtätigkeit. Luther nimmt den biblischen Text teilweise als Sprungbrett für Exkurse vielfältigster Art. Der Vorlesungscharakter der Auslegung ist bestimmt durch die homiletische und praktisch-ethische Aspektierung der biblischen Vorlage. Eine Vorrede leitet das Werk ein. Mit gewinnender Bescheidenheit, die sich nicht nur dem üblichen rhetorischen Bescheidenheitstopos verdankt, behauptet
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Luther, dass nicht derjenige der beste Ausleger ist, der alles versteht, sondern der Gottes Texte liebt (WA 42; 2,10–17). In diesem Alterswerk tendiert Luther stilistisch zur Einfachheit. Auffällig ist, dass er in seiner letzten Vorlesung entgegen einem oft nachgeschriebenen Vorurteil keineswegs auf Allegorien verzichtet. In seinem großen Exkurs im Anschluss an die Auslegung von Gen 9,12–16 spricht er von seinem Hass gegen die Allegorien, wenn sie, wie z. B. bei Origenes, Bernhard von Clairvaux und Erasmus von Rotterdam, falsch verwendet werden (WA 42; 368,23–377,9). Gleichzeitig toleriert er aber ihren durch theologisches Urteil kontrollierten Gebrauch (WA 43; 668,13–21). Während der Arbeit an der Genesisvorlesung hält Luther zwei eingeschobene kleinere Vorlesungen über Jesaja. Mit diesem Propheten hatte er sich bereits 1527 bis Februar 1530 vorlesungshalber vertraut gemacht (In Esaiam Prophetam Enarraciones: WA 25; 87–401. WA 31,2; 1–585. WA 59; 385–388). Dort ermuntert er die jüngeren Theologen, Gott nicht in Spekulationen, sondern im menschgewordenen Christus zu suchen (WA 31,2; 38,21–25). Die Vorlesung über Jes 9,1–6, in der Weihnachtszeit 1543/44 gehalten, behandelt vertiefend die messianische Weissagung des Propheten (Enarratio capitis noni Esaiae, gedruckt 1546: WA 40,3; 597–682). Hier zeigt sich Gottes Menschenfreundlichkeit, durch die Gott selbst, der Schöpfer des Himmels und der Erde, hinabsteigt und uns in Christus ähnlich wird (WA 40,3; 597,20–27). In der Passions- und Osterzeit 1544 kommentiert Luther dann aus aktuellem Anlass Jes 53 (WA 40,3; 685–746; gedruckt 1550). Diese Vorlesung (re‑)metaphorisiert die bildergeladene Sprache des Propheten. Christus ist mit dem »Arm des Herrn«, von dem der Prophet in Jes 53,1 redet, identisch. Zugleich ist Christus persona divinitatis und wahrer Mensch. Luthers gewaltige Arbeitsleistung als Professor und Doktor und die Fülle seiner Einsichten, wie sie sich nicht zuletzt in den späteren akademischen Vorlesungen zeigen, sind von der Luther-Forschung bis heute noch nicht vollständig gewürdigt und differenziert erschlossen worden. Erst in jüngster Zeit wird zunehmend erkannt, dass die Vorlesungen Überlieferungsprobleme aufweisen. Dass es lohnend ist, dieser Frage weiter nachzugehen, zeigt exemplarisch die kritische Analyse der Überlieferungssituation bei der Römerbriefvorlesung. Der Vergleich von Luthers Manuskript mit den studentischen Kollegheften ergibt, dass Luther seinen Text für den Hörsaal umformulierte und ihm eine kürzere und kompaktere Darstellung des biblischen Kommentars gelingt. Die vorlesungsdidaktische Reduktion der Gedanken auf das Wesentliche verbindet er mit einer strengen Disposition. Eine umfassende historisch-kritische Aufarbeitung des überlieferungsgeschichtlichen Problemfeldes steht trotz der Einführung zu den Vorlesungen, welche die WA-Editoren beigesteuert haben, noch aus. Bornkamm, Heinrich: Luther und das Alte Testament, 1948. Bornkamm, Karin: Luthers Auslegungen des Galaterbriefs 1519 und 1531. Ein Vergleich, 1963. Delius, Hans-Ulrich: Die Quellen von Martin Luthers Genesisvorlesung (BEvTh 111), 1992. Krause, Gerhard: Studien zu Luthers Auslegung der Kleinen Propheten (BHTh 33), 1966.
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Mikoteit, Matthias: Theologie und Gebet bei Luther. Untersuchungen zur dritten Psalmenvorlesung 1532–1535 (TBT 124), 2004. Schmidt-Lauber, Gabriele: Luthers Vorlesung über den Römerbrief 1515/1516. Ein Vergleich zwischen Luthers Manuskript und den studentischen Nachschriften (AWA 6), 1994. Schubert, Hans von/Meissinger, Karl: Zu Luthers Vorlesungstätigkeit (SHAW.PH 9), 1920. Thyen, Dietrich: Luthers Jesajavorlesung, Diss. theol., 1964. Ders.: Martin Luthers Hohelied-Vorlesung von 1530/31 (Siegener Pädagogische Studien 23, 1977/78, 62–77). Wieneke, Josef: Luther und Petrus Lombardus. Martin Luthers Notizen anläßlich seiner Vorlesung über die Sentenzen des Petrus Lombardus Erfurt 1509/11, 1995. Wolff, Jens: Metapher und Kreuz. Studien zu Luthers Christusbild (HUTh 47), 2005. Jens Wolff
9. Disputationen Vorbemerkung: Luthers Disputationen werden nach der Zählung der nachstehend gebotenen zweiteiligen Liste angeführt. Die Abkürzung Benzing mit folgender Ziffer bezieht sich auf Benzing, Josef/Claus, Helmut: Lutherbibliographie. Verzeichnis der gedruckten Schriften Martin Luthers bis zu dessen Tod (BBAur 19/143), 2 Bde., 21989/1994. 9.1. Luthers Disputationen im Allgemeinen
Die akademische Lehrtätigkeit Luthers als Doctor theologiae umschloss nach mittelalterlichem Brauch neben Vorlesungen auch Disputationen. Beim Aufstellen von Disputationsthesen konnte der Professor seine Lehrmeinung noch schärfer zuspitzen als in den Vorlesungen. Er verfasste die Disputationsthesen, während unter seinem Vorsitz bei den Disputationen Studierende oder Promovenden ihre theologische Argumentationsfähigkeit zu üben oder zu beweisen hatten, einerseits im Verteidigen der Thesen, andererseits im Vorbringen von kritischen Einwänden. Die Möglichkeit, die reformatorische Lehre in akademischen Disputationen argumentativ zu bewähren, haben Luther und seine Wittenberger Universitätskollegen bewusst genutzt. Aufs Ganze gesehen sind Luthers Disputationsthesen besser überliefert als seine Vorlesungen, da im Allgemeinen Thesen, über die disputiert werden sollte, vor der Disputation für die akademische Öffentlichkeit gedruckt wurden. Das geschah zur Zeit Luthers meist in Form von Plakatdrucken, die im Universitätsbereich angeschlagen, unter den Universitätsangehörigen verteilt und gegebenenfalls nach auswärts verschickt werden konnten. Im regulären Universitätsleben kannte man zum einen die disputatio circularis, die im regelmäßigen Turnus der Lehrveranstaltungen gehalten werden musste, zum anderen die disputatio pro gradu, die obligatorisch mit dem Erwerb eines akademischen Grades verbunden war. Die Promotionsdisputation hatte im All-
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gemeinen einen höheren Grad von Öffentlichkeit. Der Promovend hatte als defensor oder respondens gegenüber kritischen Argumenten der anwesenden Akademiker die Thesen zu verteidigen, die in der Regel derselbe Professor aufgestellt hatte, der als praeses die Disputation leitete und sich selbst in die Disputation einschalten konnte. Neben diesen beiden Arten von Disputationen konnte gelegentlich eine außerordentliche Disputation veranstaltet werden, wie sie Luther mit seinen Thesen über den Ablass (Nr. 3) herbeiführen wollte. Ein außerordentlicher Anlass war z. B. auch gegeben, wenn ein Bettelorden ein Provinzialkapitel in einer Universitätsstadt abhielt, wo der Orden selbst an der Universitätslehre beteiligt war, weil dann der Orden zu einer Disputation einladen konnte. Auf diese Weise kam es 1518 zu Luthers Heidelberger Disputation (Nr. 4) und am 4.10.1519 in Wittenberg zu einer von den dortigen Franziskanern veranstalteten Disputation, bei der unter anderen Universitätsangehörigen auch Luther und Melanchthon kritische Einwände vorbrachten (vgl. den knapp gehaltenen, im niederländischen Leiden gedruckten Bericht, mit einer instruktiven Einleitung hg. v. G. Hammer: WA 59; 678–697). Die Leipziger Disputation 1519 (Nr. 7) zwischen deren Initiator Johannes Eck, Professor an der Universität Ingolstadt, und den beiden Wittenberger Professoren Andreas Bodenstein gen. Karlstadt und Martin Luther ist allein formal insofern singulär, als Eck entweder nur mit Karlstadt (27./28.6., 1.7., 7.7., 14./15.7.) oder nur mit Luther (4. – 14.7.) ein Streitgespräch führte, an dem sich keiner der anwesenden Akademiker beteiligte, das jedoch protokolliert wurde. Auf den Thesendrucken nannte ein Präskript bei den Promotionsdisputationen sowohl den praeses der Disputation als auch den defensor der Thesen, meistens auch den Disputationstermin. Bei den Zirkulardisputationen kündigte das Präskript in der Regel nur den Disputationsleiter und den Disputationstag an, und zwar den Tag lediglich mit der Angabe des Wochentages; denn – so ist daraus zu schließen – diese Disputationen wurden erst wenige Tage zuvor, vermutlich am Wochenbeginn, bekanntgegeben. Der Gegenstand der Disputationen wurde, ausgehend von der scholastischen Grundform der Problemerörterung, in der traditionellen Praxis meist als quaestio formuliert; zur Lösung des Problems wurden mehrere conclusiones – conclusio im Sinne von These – formuliert; einzelne Thesen konnten gegebenenfalls noch durch ein corollarium (oder mehrere corollaria) ergänzt werden. Noch in dieser Form ist die älteste Disputation Luthers (Nr. 1) konzipiert, bei der drei conclusiones mit je drei corollaria das Problem behandeln. Die beiden Thesenreihen Nr. 10 und 19, die ebenfalls mit einer quaestio beginnen, haben eine weniger strenge Form, während bei der Thesenreihe Nr. 9 die thematische Frage offensichtlich nicht zur ursprünglichen Thesenpublikation gehörte, sondern erst sekundär als Inhaltsangabe hinzugefügt wurde. In freierer Form konnte, ohne einleitende quaestio, eine beliebige Anzahl von Thesen (unter den Begriffen conclusio, propositio, positio, disputatio) zu einem Leitgedanken zur Diskussion gestellt werden. Thesenreihen dieser Art können nicht als eigentümlich reformatorisch bezeich-
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net werden, sondern begegnen gleichzeitig auch auf Ingolstädter Thesenblättern (vgl. z. B. Schwarz 1997, 131 f). Im Präskript des Thesendruckes hat Luther in den seltensten Fällen den Gegenstand der Disputation genannt. Die heute üblichen thematischen Bezeichnungen sind erst in der Überlieferung eingeführt worden, in manchen Fällen auf Kosten des originalen Präskriptes. Nach traditioneller Ansicht konnten Universitätsdisputationen zu zwei ideellen Zwecken veranstaltet werden: exercitii causa oder inquirendae veritatis causa, d. h. einerseits sollten sie der Übung im Argumentieren mit Einwand und begründender Antwort, andererseits dem Aufspüren, Begründen und Verteidigen theologischer Wahrheit dienen. Nur selten wurde einer dieser Zwecke im Präskript des Thesendruckes erwähnt; z. B. nannte Johannes Eck exercitii causa als Zweck seiner Disputation vom 18. August 1516 in der Universität Wien, über die er mit einer Publikation 1517 berichtete (vgl. Virnich 1923, 26,7 f). Und in der Ankündigung einer Ingolstädter Universitätsdisputation unter seinem Vorsitz im Juni 1518 kombinierte er beide Zwecke: inquirendae veritatis et simul scholastici exercitii gratia. Selbst wenn in der Ankündigung der Disputation eine dieser Zweckbestimmungen nicht ausdrücklich genannt wurde, dienten die Disputationen innerhalb des akademischen Lehrbetriebes doch mehr oder weniger jedem der beiden Zwecke. Dass bei den überlieferten Disputationen Luthers in zwei Fällen die Wahrheitssuche als Zweck genannt wird (Nr. 3, 5), hat im Präskript noch formelhaften Charakter, während erst die Thesen die Formel in neuem Licht erscheinen lassen. Hat Luther im Präskript der Thesenreihe Nr. 5 (Pro veritate inquirenda et timoratis conscientiis consolandis) die traditionelle Formel durch einen Zusatz erweitert, so ist auch das noch kein eindeutiger Ausdruck reformatorischen Geistes und kann nicht als förmlicher Disputationstitel gewertet werden. Deshalb wird für Thesenreihe Nr. 5, bei der bisher ein sachgemäßer Kurztitel fehlte, dafür De remissione peccatorum vorgeschlagen. Luther nennt zwar in den Ankündigungen der von ihm geleiteten Disputationen nie ausdrücklich den Zweck exercitii causa. Die Unterscheidung der beiden Zwecke könnte jedoch bei der Disputation Nr. 20 im Präskript zur zweiten Thesenreihe durchschimmern. Wie stark Luther stets daran lag, in der akademischen Lehre die Argumentationsfähigkeit im Umgang mit der theologischen Wahrheit zu fördern und zu erproben, ist bekannt. In Wittenberg verzeichnete der Dekan der theologischen Fakultät Promotionsdisputationen und den im Allgemeinen bald darauf – meist einige Tage später – folgenden förmlichen Promotionsakt in einem Amtsbuch, dem Liber Decanorum (Foerstemann 1838). Die von Luther stammenden Einträge aus den Jahren 1515, 1517 f und 1520 sind in WA 9; 306–309 zu finden, seine Einträge der Jahre 1535–1545, als er ständiger Dekan der theologischen Fakultät gewesen ist, stehen in WAB 12; 441–446. Bei den von Luther geleiteten Disputationen pro gradu handelt es sich in der Zeit bis 1522 noch um traditionelle Grade unterhalb des Doktorgrades, in einem Fall (Nr. 1) um den Grad des sententiarius und in zwei weiteren Fällen (Nr. 2, 11) um den Grad des baccalaureus biblicus, wie ihn auch Melanchthon im September 1519 (Foerstemann 1838, 23) erworben hat. Hingegen
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kommt später in der Zeit der erneuerten Wittenberger Disputationen für Promotionsdisputationen nur noch der Doktorgrad in Betracht, weil die niederen theologischen Grade wertlos geworden waren (vgl. Friedensburg 1917, 186 f). Welche wichtige Rolle für die Verbreitung der reformatorischen Theologie die Sammeldrucke Wittenberger Disputationsthesen spielten, ist daran zu erkennen, dass die ersten Sammeldrucke außerhalb Wittenbergs erschienen sind. Die ersten zwei Sammlungen von einigen Thesenreihen Luthers, Karlstadts und Melan chthons wurden bereits Ende 1520 bzw. Anfang 1521 gedruckt. Als Drucker sind Jan Seversz in Leiden (vgl. Benzing 85) und Pierre Vidoué in Paris ermittelt worden (vgl. Benzing 86). Derselbe niederländische Drucker veröffentlichte wohl wenig später (vgl. Benzing *210 a) eine Kombination von zwei Thesenreihen Luthers (Nr. 13 und Nr. 5) mit einem Stück aus Luthers zweiter Psalmenvorlesung, dem Exkurs zu Ps 13,1 (WA 5; 392,26–408,12); auch davon erfolgte 1521 in Paris ein Nachdruck (Benzing 211. Vgl. WA 59; 610 f). Ebenfalls 1521 erschien eine kleine Sammlung von Thesen Luthers, Karlstadts und Melanchthons bei Adam Petri in Basel (vgl. Benzing 819), in derselben Offizin 1522 eine viel reichhaltigere Thesensammlung der drei bekannten Wittenberger Autoren, von denen Melanchthon nun im Titel an zweiter Stelle genannt wurde (vgl. Benzing 59). Erst 1530 wurde in Wittenberg von Joseph Klug eine Sammlung von Disputa tionsthesen sowohl von Luther – dazu ein Vorwort Melanchthons (WA 39,1; 1 f. CR 2, 455 Nr. 952; MBW 1 Nr. 1107) – als auch von Melanchthon und Amsdorf herausgebracht (vgl. Benzing 60), ein Jahr später ergänzt durch einige neueste Thesenreihen Melanchthons (vgl. Benzing 61 und *61 a). Ein Wittenberger Sammeldruck desselben Druckers 1534 war ausschließlich auf Thesen Melanchthons beschränkt, jedoch mit einem Vorwort Luthers versehen (WA 39,1; 2–4) (vgl. Benzing 3111). Thomas Platter in Basel druckte 1538 eine Thesensammlung (vgl. Benzing 62), bei der er Luthers vier erste Thesenreihen gegen die Antinomer an den Anfang stellte und im Titel als Haupttext nannte. Welche Thesen reihen Luthers in den Wittenberger Sammelausgaben von 1538 (vgl. Benzing 63 f) und 1558 sowie in der Wittenberger und der Jenaer Gesamtausgabe von Luthers lateinischen Werken enthalten waren, ist in WA 59; 724–726 zusammengestellt. Zwei kleine Sammlungen von Disputationsthesen Luthers und Melan chthons hat Georg Spalatin in einer von ihm selbst besorgten Übersetzung herausgegeben; die eine erschien in Erfurt 1538 (vgl. Benzing 3182. WA 39,1; 128) und enthielt Luthers Thesenreihe Nr. 26; die andere mit der Thesenreihe Nr. 29 wurde in demselben Jahr in Magdeburg gedruckt (Benzing 3199. WA 39,1; 183). 9.2. Luthers Disputationen der Jahre 1516–1522
Die Liste von Luthers Disputationsthesen bis zum Jahre 1522 übernimmt die Chronologie von WA 61; 38–40, obwohl eine kritische Prüfung der Datierung an einigen Stellen angezeigt wäre. Sofern das Präskript überliefert und nicht in den frühen Sammeldrucken eliminiert worden ist, wird es in Anlehnung an die WA
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wiedergegeben. Auf Benzings Lutherbibliographie (2. Aufl.) wird verwiesen, wenn dort ein früher Einzeldruck verzeichnet ist. Andernfalls lässt sich die Textüberlieferung nur bis zu den Sammeldrucken zurückverfolgen. 1. De viribus et voluntate hominis sine gratia, 19.9.(?)1516, WA 1; 145–151. WA 9; 768. Promotionsdisputation des Bartholomäus Bernhardi aus Feldkirch, Promotion zum Sententiar 25.9.1516; vgl. Foerstemann 1838, 19. Präskript: Sub eximio viro Martino Luthero Augustiniano, artium ac Theologiae magistro, proxima die Veneris hora Septima quaestio subscripta disputabitur. 2. Contra scholasticam theologiam, 4.9.1517; WA 1; 224–228. WA 9; 768 f. Präskript: Ad subscriptas conclusiones respondebit Magister Franciscus Guntherus Nordhusensis pro Biblia, Praesidente Reverendo patre Martino Luthero Augustiniano, Sacrae Theologiae Vuittenberg[ae] Decano, loco et tempore statuendis. Vgl. Luthers Eintrag im Liber Decanorum WA 9; 307,25–29. 308,4– 10. Zum Versand von Thesenblättern vgl. WAB 1; 103,4–15. 106,35–38. 107,22–24. 3. Pro declaratione virtutis indulgentiarum, 1517; WA 1; 233–238. WA 9; 769; Versand von Thesenblättern ab 31.10.1517; vgl. WAB 1; 112,66 f. Präskript: Amore et studio elucidande veritatis hec subscripta disputabuntur Wittenberge, Presidente R. P. Martino Lutther [sic!], Artium et S. Theologie Magistro eiusdemque ibidem lectore Ordinario. Quare petit, ut qui non possunt verbis presentes nobiscum disceptare agant id literis absentes. In nomine domini nostri Hiesu Christi. Amen. – Benzing 87–89. Luthers Resolutiones, 1518; WA 1; 525–628. – Benzing 205–208. 4. Heidelberger Disputation, 26.4.1518; WA 1; 353–355. Präskript: F. Martinus Lutherus, S. Theologiae Magister, praesidebit, F. Leonardus Beier, artium et Philosophiae Magister, respondebit, apud Augustinianos huius inclytae civitatis Heidelbergensis, loco solito, VI. Cal. Maii. MDXVIII. – Benzing *818 d. Bucers Bericht WA 9; 161–169; eine Äußerung Luthers WA 9; 170. 804. WA 48; 265 Anm. 1. Probationes zu den theologischen Thesen WA 1; 355–365. 365–374 (WA 9; 779), zu den philosophischen Thesen WA 59; 409–426. 5. [De remissione peccatorum] 1518; WA 1; 630–633. WA 9; 781 f. Präskript: Pro veritate inquirenda et timoratis conscientiis consolandis hec sub R. P. Martino Luther Augustiniano disputabuntur per vices circulares pro nostro more. 1518. – Benzing 209–210. 6. De excommunicatione, [1519]; WA 9; 311 f. 7. Leipziger Disputation, Juli 1519; Luther reagierte am 4./5.2.1519 zunächst mit 12 Thesen auf Ecks ersten Thesendruck (12 Thesen): WA 9; 210–212. WAB 1; 315–319. – Benzing 347–350. Ecks zweiten Thesendruck (13 Thesen) beantwortete Luthers zweite Publikation (13 Thesen) im Mai 1519: WA 2; 158–161 (WA 9; 789). – Benzing 351–357.
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Präskript (in Luthers erster und zweiter Publikation): Contra novos et veteres errores defendet Martinus Luther has positiones sequentes in Studio Lipsensi. Disputationsprotokoll: WA 59; (427) 433–605 ersetzt WA 2; 254–383 (759) (WA 9; 790); Benzing 405–407 a. Resolutio zur 13. These 1519, 1. Aufl. vor der Disputation, Benzing 392–395, 2. vermehrte Aufl. nach der Disputation: WA 2; 183–240. Benzing 396–397. Resolutiones zu allen Thesen, 1519: WA 2; 391–435. Benzing 408–415. 8. De lege et fide, 1519; WA 6; 24. Präskript: R. P. Martinus Luther subiectas sententias disputabit Die Iovis proxima. Anno M. D. XIX. 9. An libri philosophorum sint utiles aut inutiles ad theologiam, [1519]; WA 6; 29 (WA 9; 798). Präskript: Pro futura Sexta Feria. Ad Circulum. – Benzing 557. 10. De naturali potentia voluntatis hominis, [1519]; WA 6; 32. 11. De fide infusa et acquisita, 3.2.1520; WA 6; 85 f. 88–98 die handschriftlich überlieferte Resolutio zu allen Thesen. Präskript: Ad subscriptas propositiones praesidente R. P. Martino Luthero Augusti. respondebit venerabilis pater Henricus Greiff, Cistercien. Zinnen., artium et Philosophiae Magister, pro Biblia. (Foerstemann 1838, 23). 12. De circuncisione, 1520; WA 6; 31 (630). 13. De fide et ceremoniis, 27.7.1520; WA 6; 379 f. Präskript: Conclusiones xvi Reverendi patris domini M. L. de fide et ceremoniis disputate Wittemberge ipso praesidente Anno xx. Feria vi. post Iacobi. 14. De sacramentis in dist. 2 lib. 4 sententiarum, [1520]; WA 9; 313. 15. De signis gratiae, 1520; WA 6; 471. Präskript: Quaestio circularis. Sexta feria, D. M. Luth. 16. De baptismate legis, Iohannis et Christi, [1520]; WA 6; 473. Präskript: Disputatio Doct. Mar. Lutheri, Deo favente, Feria sexta futura. 17. De excommunicatione, [1520]; WA 7; 236. Präskript: Disputatio D. Marti. Luthe. de excommunicatione etc. ad futuram feriam sextam. 18. De non vindicando, 1520; WA 6; 575. 19. Utrum opera faciant ad iustificationem, 1520; WA 7; 231 f. 20. Themata de votis, September 1521 (vgl. WAB 2; 382 ff. 390 f); zwei Thesenreihen; WA 8; 323–335 (WA 8; VII. WA 9; 803). – Benzing 976–979 (Benzing 980–984 deutsche Übersetzungen der 1. Thesenreihe); Präskript: Episcopis et Diaconis Ecclesiae Vuittembergensis de voto religionum disputantibus Martinus Lutherus servus haec mittit. – Postskript zur 1. und zugleich Präskript zur 2. Thesenreihe: Haec sic disputari volo, ut certa et vera teneantur. Quae sequuntur, simpliciter propono disputanda et inquirenda. Auszuscheiden ist die Thesenreihe WA 6; 26 f: De Christi incarnatione et humani generis reparatione, 1519, da sie von Karlstadt stammt, vgl. WA 60; 313. Sie war
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bestimmt für eine Disputation am 26.8.1519, auf Grund deren Nicasius Claji aus Hertzberg am 19.9. zum sententiarius promoviert wurde (Foerstemann 1838, 23). In der Zeit bis 1522 hat Luther zu fünf Thesenreihen Erläuterungen (resolutiones oder probationes) verfasst, die er in zwei, den internen akademischen Bereich sprengenden Fällen selbst publiziert hat. Das waren zum einen die resolutiones zu seinen Thesen gegen den Ablass (Nr. 3), zum anderen zu seinen Thesen für die Leipziger Disputation (Nr. 7), und zwar zunächst zu der heißumstrittenen 13. These eine umfangreiche resolutio, die unmittelbar vor der Disputation gedruckt erschien und hinterher in erweiterter Fassung erneut publiziert wurde, sodann nach dem Leipziger Ereignis resolutiones zu allen 13 Thesen. – Bei Thesenreihe Nr. 1, die ursprünglich offensichtlich in der üblichen Form als Plakatdruck vorlag (WAB 1; 66,57 f), haben die Erläuterungen auf dem gedruckten Thesenblatt sicherlich noch gefehlt und sind erst in den Sammeldrucken mit den Thesen verbunden worden. Obgleich in diesem Fall nach einem Brief Luthers (WAB 1; 65,18–66,58) die Wahl des Disputationsthemas und damit auch die Formulierung der Thesen und der Erläuterungen auf den im Präskript nicht genannten Promovenden – Bartholomäus Bernhardi, M. A., mit Luther ungefähr gleichaltrig – zurückgehen, ist doch Luther der geistige Vater dieser Thesen und ihrer Erläuterungen, wie aus deren engem Anschluss an Luthers Römerbriefvorlesung nachgewiesen worden ist. Nur handschriftlich überliefert sind die Erläuterungen (probationes) zu den Thesen der Heidelberger Disputation (Nr. 4) sowie zu der Thesenreihe Nr. 7, die von einem Promovenden aus dem Zisterzienserorden verteidigt werden sollte. Bei der Thesenreihe Nr. 1 waren die Erläuterungen den Entstehungsumständen entsprechend für den Promovenden bestimmt als Vorbereitung auf die Disputation oder zur Verwendung in deren Verlauf. Bei den beiden anderen Thesenreihen (Nr. 4, 7) ist offen, ob Luther die Erläuterungen für seinen eigenen Gebrauch als Disputationspräses verfasst hat oder als Argumentationshilfe für den Promovenden (Nr. 7) bzw. für seinen Ordensbruder Leonhard Beier, der bei der Heidelberger Disputation (Nr. 4) nach dem Präskript als defensor vorgesehen war. Mit den auf der Wartburg ausgearbeiteten zwei Thesenreihen Themata de votis (Nr. 20) schaltete sich Luther in die theologische Diskussion über die Gelübde des geistlichen Standes ein, die Karlstadt in Wittenberg ausgelöst hatte (WAB 2; 370 ff. Ergänzend Barge 1905, 476–479). Wenngleich Luther damals nicht daran denken konnte, in Wittenberg selbst seine Ansicht zu vertreten, waren seine Thesen doch für das Universitätsforum bestimmt und müssen, allerdings als Grenzfall, wie schon in der älteren Überlieferung zu seinen Disputationsthesen gerechnet werden. In seiner Schrift De votis monasticis (WA 8; 573–669) hat er dann noch auf der Wartburg das Problem mit ausführlicher theologischer Argumentation behandelt. Nach seiner Rückkehr von der Wartburg hat er sich zunächst auch in Vorlesungen aus dem öffentlichen Universitätsleben herausgehalten. Noch bis in das Jahr
I. Gattungen – 9. Disputationen
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1525 verzeichnet der Liber Decanorum (Foerstemann 1838, 27 f) einige, von Jahr zu Jahr weniger werdende Promotionsdisputationen ohne Luthers Beteiligung, bis das Disputationswesen an der Wittenberger Universität allgemein im Umbruch der Zeit zum Erliegen kam (WA 39,2; XIII zu Nr. 23 mit Nachtrag S. 429). Dass Luther im September 1529 im Vorfeld des Marburger Religionsgespräches eine Disputation über die Abendmahlsfrage abhalten ließ, wird nur von Johannes Mathesius in seinen Predigten über Luthers Leben behauptet (vgl. Mathesius 1906, 171. Vgl. WA 39,2; XIII f). Da keine Dokumente diese Disputation direkt belegen, ist sie in die Liste oben nicht aufgenommen worden. Möglicherweise hat Luther damals im Blick auf das Marburger Religionsgespräch noch einmal in einem internen Gespräch mit seinen Kollegen die Wittenberger Abendmahlslehre abgesteckt. Neben den vielbeachteten Thesenreihen (Nr. 2–5, 7) kreisen mehrere weniger bekannte Thesenreihen der Jahre bis 1522 um das Vermögen des menschlichen Willens (Nr. 1, 10) und um den Begriff des Glaubens (Nr. 8, 11) oder beschäftigen sich mit dem reformatorisch grundlegenden Verhältnis von Glauben und Sakrament (Nr. 12–16) sowie Glauben und Rechtfertigung (Nr. 19). In anderen (Nr. 6, 17, 18) wird der Christ in seinem Christ-Sein so streng zu Christus in Beziehung gebracht, dass die Zugehörigkeit zur Kirche und deren Auftrag in neuem Licht erscheint. 9.3. Luthers Disputationen der Jahre 1533–1545
Zu dem Wittenberger Entschluss, die theologischen Disputationen wieder einzuführen, trug von auswärts der aus Hamburg kommende Wunsch bei, dass der dortige Superintendent Johannes Äpinus, der Höchstverantwortliche für die öffentliche Lehre in der Freien Hansestadt, in Wittenberg zum D. theol. promoviert werden möge (WAB 6; 459 ff. 471 f. 478 f). Bei einem Aufenthalt Mitte Juni in Wittenberg wünschte der sächsische Kurfürst am 16.6.1533, dass die Promotion, für die man im Wittenberger Universitätskollegium auch Caspar Cruciger sowie Johannes Bugenhagen vorgesehen hatte, umgehend vollzogen werde. Der Disputationsvorgang ist nicht durch Nachschriften dokumentiert, doch hat Justus Jonas als Dekan der theologischen Fakultät im Liber Decanorum ungewöhnlich ausführlich davon berichtet (Foerstemann 1838, 28–30, mit zwei Schreibfehlern in den Daten). Noch am 16.6. verfasste Melanchthon drei Thesenreihen für die Promotionsdisputation am folgenden Tag, bei der – in Anwesenheit des Kurfürsten und anderer hochgestellter Personen – Luther den Vorsitz hatte. Zu den Opponenten gehörten u. a. Melanchthon, der Engländer D. theol. Robert Barnes und der Schotte Alexander Alesius. Ort des feierlichen Promotionsaktes am 18.6. war wie gewöhnlich die Schloss- und Universitätskirche; Jonas hielt die von Melanchthon verfasste Promotionsrede De gradibus in theologia (CR 11, 227–231). Luther hatte eine Promotionsformel aufgesetzt (WA 48; 701), konnte jedoch wegen geschwächter Gesundheit an dem Festakt nicht teilnehmen.
380
C. Werk
Von den Einblattdrucken der Jahre 1535–1545, auf denen die Disputationsthesen bekanntgegeben wurden, sind nur wenige erhalten geblieben; etliche, die für WA 39 noch bibliographisch erfasst und deswegen in Benzings Lutherbibliographie aufgenommen werden konnten, sind im Zweiten Weltkrieg vernichtet worden, vor allem die relativ zahlreichen Exemplare der Hamburger Staats- und Universitätsbibliothek (die Notiz WA 60; 231 Anm. 10 gilt für alle einstigen Hamburger Exemplare). In der folgenden Liste werden alle von Benzing notierten Drucke der Disputationsthesen Luthers angeführt, selbst wenn die einst bekannten Exemplare nicht mehr existieren. Die Liste erfasst alle unter Luthers Vorsitz durchgeführten Disputationen, obwohl für einige Melanchthon die Thesen verfasst hat (siehe Fundort im CR). Die Chronologie wird bei Nr. 26 und 44 gegenüber WA 61; 40 f korrigiert. Alle Promotionsdisputationen der Jahre 1535 ff hat Luther als ständiger Dekan im Dekanatsbuch festgehalten (WAB 12; 440–444). Der Vermerk »Zirkulardisputation« steht für die Art der Disputation nur dann, wenn das durch das Präskript in einem der frühen Drucke bezeugt ist. Die Form der Zirkulardisputation ist allerdings auch bei allen anderen Disputationen, die nicht Promotionsdisputationen gewesen sind, vorauszusetzen. Der Umfang dieser Thesenreihen ist auffallend ungleich. Nr.
Datum
Titel bzw. Thema
Art der Disputation
Thesen in WA/CR Disp.-Ns. in WA // Benzing-Nr. + Zusatzstücke
21
17.6.1533
a) De iustificatione b) De ecclesia c) De traditionibus humanis
a) Prom. Caspar Cruciger b) Prom. Joh. Bugenhagen c) Prom. Joh. Äpin
CR 12, 517–520 Nr. 48–50
Kein Disp.-Dokument
22
1535
Contra Concilium Constantiense / Wider das Conc. Obstant.
Zirkulardisputation
39,1; 13/14–38 Benzing 3176–3178
39,1; 39
23
11.9. 1535
1. u. 2. ThR zu Röm 3,28 a) De fide b) De lege
a) Prom. Hieronymus Weller b) Prom. Nikolaus Medler
39,1; 44–48 39,1; 48–53 Benzing 3179
39,1; 53–59 + 59; 702–705 39,1; 59–62 Promotionsrede
24
16.10.1535
Dan 4,24 »Redime peccata tua eleemosynis«
39,1; 64 f
39,1; 66–75 (Praefat.) + 59; 705–707
25
Okt. 1535
1Kor 13,2.13 »Si fidem habuero« etc. »Maior horum caritas«
39,1; 77
59; 708–711
26
1535 (1536?) Lk 7,47 »Dimittuntur ei peccata«
39,1; 128–132 Benzing 3180–3182
39,1; 132 f
27
14.1.1536
39,1; 175–177
39,1; 177–180
De homine
381
I. Gattungen – 9. Disputationen Nr.
Datum
Titel bzw. Thema
Art der Disputation
Thesen in WA/CR Disp.-Ns. in WA // Benzing-Nr. + Zusatzstücke
28
29.1.1536
Contra missam privatam; vgl. WAB 7; 316,12 ff. 352,11 ff
39,1; 138
39,1; 139–173 (Praefat.) + 39,2; 402–407
29
1536 vor 10.4.
De potestate concilii/Von Vermögen u. Gewalt eines Concilii
39,1; 184–187 Benzing 3196–3199
39,1; 188–197 (Praefat.) + 59; 712–716
30
10.10.1536
3. u. 4. ThR zu Röm 3,28
Prom. a) Jakob Schenck b) Philipp Motz
39,1; 82 f. 84–86
39,1; 87–126 (Praefat.)
31
1.6.1537
5. ThR zu Röm 3,28: De operibus legis et gratiae
Prom. Petrus 39,1; 202–204 Palladius und Benzing 3219 Tilemann von Hussen
32
15.6.1537
De veste nuptiali (Mt Zirkulardisputation 22,1–14)
39,1; 265
39,1; 266–333 (Praefat.) +39,2; 407–414
33
18.12.1537
1. ThR gegen die Antinomer
39,1; 345–347 Benzing 3220 f
39,1; 360–417 (Praefat.) + 39,2; 414–419
34
12.1.1538
2. ThR gegen die Antinomer
39,1; 347–350 Benzing 3222
39,1; 419–485 (Praefat.) + 39,2; 419–425
39,1; 205–257 (Praefat.) 258/260–263 Promotionsrede
35
3. ThR gegen die Antinomer
nicht disputiert
39,1; 350–352 Benzing 3223
36
4. ThR gegen die Antinomer
nicht disputiert
39,1; 352–354 Benzing 3224
Prom. Cyriacus Gerichius
39,1; 354–357 Benzing 3225 f
39,1; 489–584 (Praefat.) + 39,2; 428 f
39,2; 3–5 Benzing 3308–3309 a
39,2; 6–33 (Praefat.)
39,2; 39–51 Benzing 3310–3317
39,2; 52–91 + 429 f (Praefat.)
39,2; 93–96 Benzing 3346
39,2; 97–121 (Praefat.)
37
6.9.1538
5. ThR gegen die Antinomer (3. Disp. contra Antinomos)
38
11.1.1539
Joh 1,14 »Verbum caro factum est«
39
9.5.1539
Mt 19,21 »Vade, vende omnia« (De tribus hierarchiis)/V. d. drei … Erzgewalten
40
28.2.1540
De divinitate et humanitate Christi
41
10.9.1540
6. ThR gegen die Antinomer (4. Disp. contra Antinomos)
Prom. Joachim Mörlin
39,1; 358 Benzing 3227
39,2; 124–144
42
3.2.1542
De ecclesia
Prom. Joh. Macchabäus Scotus
39,2; 146–148 CR 12, 526 ff
39,2; 149–184 + 430 (Praefat.)
43
7.7.1542
Hebr 13,8 »Dominus Prom. Heinrich Iesus heri et hodie, Schmedenstede ipse et in saecula«
39,1; 187–190 Benzing 3392
39,2; 191–203 (Praefat.)
44
[1542]
Contra Satanam et synagogam ipsius
59; 720–723
Kein Disp.-Dokument
Zirkulardisputation
382
C. Werk
Nr.
Datum
Titel bzw. Thema
Art der Disputation
Thesen in WA/CR Disp.-Ns. in WA // Benzing-Nr. + Zusatzstücke
45
16.2.1543
De ecclesia
Prom. Johannes Marbach
39,2; 206–208 CR 12, 524 ff Benzing 3415
39,2; 209–232 (Praefat.)
46
24.4.1543
De fide iustificante
Prom. a) Friedrich Bachofen b) Hieronymus Nopp
39,2; 235–237. 237–239 Benzing 3416–3417
39,2; 239–251 (Praefat.)
47
24.8.1543
De unitate essentiae divinae
Prom. Erasmus Alber
39,2; 253–255
39,2; 255 f; ebd. 257 Q. academica
48
23.5.1544
a) De invocatione dei b) De poenitentia
Prom. a) Theodor Fabricius b) Stanislaus Rapagelanus
39,2; 260–262. 262–265 CR 12, 529 ff. 520 ff
39,2; 266–283 (Praefat.)
49
12.12.1544
De trinitate a) Th. 1–26 b) Th. 27–47
Prom. a) Georg Maior 39,2; 287 f. 288 f b) Johannes Faber Benzing 3450
39,2; 290–320,12 (+ 320,13–336,27) (Praefat.)
50
3.7.1545
De distinctione personarum in divinitate
Prom. Petrus Hegemon
39,2; 343–398 (+ 399–401) (Praefat.)
39,2; 339–342 Benzing **3523 a
Einige Thesenreihen, die in der älteren Überlieferung (WA 59; 724–726) in die Gruppe der akademischen Disputationsthesen eingereiht wurden, müssen aus dieser Gruppe ausgeschieden werden, weil sie nicht für eine Universitätsdisputation gedacht waren. Dazu gehören die Thesen De digamia episcoporum, 1528 (WA 26; 517–527), die sich gegen Thesen richteten, mit denen Willibald Pirckheimer den Ehestand der evangelischen Geistlichen kritisiert hatte. – Als sich Luther 1530 während seines Aufenthaltes auf der Veste Coburg mit Fragen der Ekklesiologie beschäftigte (WA 30,2; 435–507. 681–690), fasste er seine Ansicht in 30 polemischen Propositiones adversus totam synagogam Satanae et universas portas inferorum zusammen; von diesen Thesen – nicht zu verwechseln mit der unter irreführendem Titel tradierten Thesenreihe Nr. 44 – wurde zuerst in Nürnberg je ein Plakatdruck sowohl der lateinischen als auch einer deutschen Fassung publiziert (WA 30,2; 420–427). Dass die Thesen trotz dieser Publikationsform nicht für eine akademische Disputation bestimmt waren, ergibt sich aus den Entstehungsumständen und aus dem Fehlen des für Universitätsdisputationen charakteristischen Präskriptes. – Auf eine antireformatorische Aufstellung von 32 verbindlichen Lehrsätzen der Löwener Theologen, auf Wunsch des Kaisers 1544 verfasst und 1545 primär für die habsburgischen Niederlande publiziert, entgegnete Luther mit seiner letzten theologischen Publikation noch 1545 sowohl lateinisch als auch deutsch: Contra 32 articulos Lovaniensium theologistarum/Wider die 32 Artikel der Theologisten von Löwen (WA 54; 425–430 lat., 430–443 dt.). – Ein Irrläufer in den Thesensammlungen ist die Publikation Duodecim consilia evangelica papistarum [1540/41]; sie enthält aus Luthers Feder nur einige kritische Bemerkungen zu der traditionellen Aufzählung der für das monastische Leben konstitutiven sog. »evangelischen Ratschläge« (WA 51; 458. 459 f).
I. Gattungen – 9. Disputationen
383
Abgesehen von der großen Dreierpromotion im Juni 1533 haben danach in den Jahren 1535 bis 1545 unter Luthers Vorsitz im Ganzen 13 Promotionsdisputationen stattgefunden. Für drei dieser Disputationen (Nr. 43, 45, 48) hat Melanchthon die Thesen verfasst. Fünf Disputationen (Nr. 23, 30, 46, 48, 49) waren mit Doppelpromotionen verbunden. Bei einer sechsten (Nr. 31) wird im Präskript nur Petrus Palladius als Respondent genannt, während Luthers Eintrag im Dekanatsbuch (WAB 12; 441,25 f) außerdem noch einen Thilomannus N. Licentiatus Louaniensis erwähnt. Entweder wurde Tilemann von Hussen als zweiter Respondent erst zugelassen, als das Thesenblatt bereits gedruckt war, oder er wurde als Sonderfall behandelt, weil er bereits den Grad des Licentiatus besaß (zu seiner Person vgl. RGG³ 3, 1959, 493). Zu diesem Promotionsverfahren ist außer der Promotionsrede Luthers (WA 39,1; 260–263) auch eine von Melanchthon verfasste Rede De dignitate studiorum theologicorum (CR 11, 324–329) überliefert, die Caspar Cruciger »in promotione M. Petri Palladii« gehalten haben soll; eine ungeklärte Duplizität der Promotionsrede. Von den meisten Disputationen sind ungleich ausführliche Nachschriften bzw. deren Abschriften überliefert (oben in der Liste in der rechten Spalte unter Disp.Ns.). Es sind weder Protokolle noch Nachschriften von der guten Qualität jener Nachschriften erhalten, die Georg Rörer von Predigten und Vorlesungen Luthers hinterlassen hat. Im Prozess des Abschreibens der Nachschriften ist dieses Material so vielfältig geworden, dass die editorische Aufgabe in WA 39 nicht befriedigend bewältigt worden ist. Für drei Disputationen hat R. Mau 1992 eine durchgreifend verbesserte Edition vorgelegt (Nr. 23 StA 5; 104.118–125; zu Nr. 30 aaO 134.153–219; zu Nr. 33 aaO 220.245–325). Wenn in den Disputationsnachschriften die einleitende, wiederholt theologisch grundsätzliche Praefatio Luthers als des praeses bezeugt ist, ist das in der Liste angemerkt. Verstreut enthalten die Nachschriften auch einzelne Äußerungen Luthers, die er bei der Disputation zur Verteidigung der Thesen beigesteuert hat. Nicht alles, was die Nachschriften festgehalten haben, kann Luther zugeschrieben werden. Für den feierlichen Promotionsakt ist in zwei Fällen (Nr. 23, 31) eine Promotionsrede Luthers erhalten. Zu den groß aufgezogenen Doktorpromotionen dieser Zeit gehörte auch eine sog. Quaestio academica, das Exposé eines Problems, vorgetragen von einem der jüngsten Studenten im Knabenalter; dazu gab der Promovend eine Antwort. Ist dieses literarische Genus unter Melanchthons Werken reichlich vertreten (CR 10, 689–904), so ist immerhin eine von Luther formulierte Quaestio academica (Nr. 47) in eigenhändiger Aufzeichnung überliefert. Für sieben Promotionsfeiern der Jahre 1542 bis 1545 (Nr. 42, 43, 45, 47–50) kennen wir die von Melanchthon verfassten, inhaltlich gar nicht belanglosen Einladungen des Dekans, die in der Universität angeschlagen wurden (vgl. WAB 12; 435– 440 mit 10; 268 f. 583–585 u. 11; 175 f). Gleichfalls von Melanchthon formuliert sind die Promotionszeugnisse des Dekans, d. h. Luthers, die für vier in jenen Jahren zum D. theol. Promovierte (Nr. 43, 45, 46 a.b) überliefert sind (WAB 10; 92– 95. 270 f. 429–431. 431–434). Von denen, die unter Luthers Vorsitz sich der Pro-
384
C. Werk
motionsdisputation gestellt haben, haben sich einige in der Geschichte der Reformation hervorgetan. Unter den von Luther selbst verfassten Disputationsthesen der Jahre 1535–1545 zeichnen sich thematisch zwei große Blöcke ab, zum einen fünf Thesenreihen über Röm 3,28, alle für Promotionsdisputationen bestimmt, zum anderen sechs Thesenreihen der Auseinandersetzung mit den Antinomern, von denen nur vier zur Disputation kamen (Nr. 33, 34, 37, 41), die beiden letzten bei Promotionsdisputationen. Die ältere Überlieferung hat jeden der beiden Blöcke als thematische Einheit behandelt. Hat Luther die evangelische Rechtfertigungslehre in den gewichtigen fünf Disputationen zu Röm 3,28 in großem Duktus reflektiert, so hat er in einigen kleineren Disputationen (Nr. 24, 25, 26, 32) das Kernstück der reformatorischen Lehre in der Weise behandelt, dass er Schriftstellen, die bisher die traditionelle Rechtfertigungslehre zu stützen hatten, nun in reformatorischem Sinn beleuchtete. Die Glaubensgerechtigkeit behandeln in einem eigenen Wurf zwei Thesenreihen einer Doppelpromotion (Nr. 46). Der Heilsbedeutung des Glaubens im Wandel der Geschichte gilt eine Thesenreihe im Anschluss an Hebr 13,8 (Nr. 43). Einige Thesenreihen widmet Luther Themen der Ekklesiologie (Nr. 22, 29, 44), der Christologie (Nr. 38, 40) und schließlich gegen Ende seiner Lehrtätigkeit der Trinitätslehre (Nr. 49, 50). Wie hoch das systematisch-theologische Gewicht der von Luther verfassten Thesenreihen – nicht nur der ungewöhnlich weit gespannten Thesenreihe De homine (Nr. 27) – einzuschätzen ist, haben in der neueren Forschung v. a. die tiefschürfenden Analysen von Gerhard Ebeling gezeigt. Ebeling, Gerhard: Lutherstudien. Bd. 2: Disputatio de homine. Teil 1: Text und Traditionshintergrund, 1977; Teil 2: Die philosophische Definition des Menschen. Kommentar zu These 1–19, 1982; Teil 3: Die theologische Definition des Menschen. Kommentar zu These 20–40, 1989. Ders.: Die Rechtfertigung vor Gott und den Menschen. Zum Aufbau der dritten Thesenreihe Luthers über Rm 3,28 (1536) (in: Ders.: Lutherstudien. Bd. 3: Begriffsuntersuchungen – Textinterpretationen – Wirkungsgeschichtliches, 1985, 223–257). Ders.: Sündenblindheit und Sündenerkenntnis als Schlüssel zum Rechtfertigungsverständnis. Zum Aufbau der vierten Thesenreihe Luthers über Rm 3,28 (1536) (in: Ders.: Lutherstudien. Bd. 3: Begriffsuntersuchungen – Textinterpretationen – Wirkungsgeschichtliches, 1985, 258– 310). Lohse, Bernhard: Luther als Disputator (in: Ders.: Evangelium in der Geschichte. Studien zu Luther und der Reformation, hg. v. Leif Grane u. a., 1988, 250–264). Reinhard Schwarz
10. Briefe Luther gehört zu den großen Briefschreibern in deutscher Sprache, und sein Briefwechsel ist in biographischer, historischer, theologischer und literarischer Hinsicht ein erstrangiges Zeugnis seines Lebens und seines Werks. Kein deutscher Autor vor Luther hat einen vergleichbaren Briefwechsel hinterlassen, und
I. Gattungen – 10. Briefe
385
neben den bedeutenden anderen Briefwechseln seiner Zeitgenossen, des Erasmus von Rotterdam etwa oder Philipp Melanchthons, hat der Briefwechsel Luthers ein ganz eigenes, unverwechselbares Gesicht. Überliefert ist der Briefwechsel nur unvollständig, da insbesondere Luther selbst die an ihn gerichteten Briefe häufig nicht aufbewahrte. Innerhalb der Weimarer Ausgabe umfasst der Briefwechsel ca. 3.600 Stücke, darunter ca. 2.600 von Luther allein verfasste echte Briefe. Der früheste unzweifelhaft echte überlieferte Brief datiert vom 22. April 1507 (WAB 1; 10–13), der älteste im Autograph erhaltene Brief vom 5. August 1514 (WAB 1; 27–29), der erste deutschsprachige aus dem November 1517 (WAB 1; 119 f). Seine letzten Briefe hat Luther am 14. Februar 1546 aus Eisleben an seine Frau und an Philipp Melanchthon geschrieben (WAB 11; 299–302) – vier Tage später, am 18. Februar, ist er gestorben. Zwischen den ersten und letzten Briefen liegen Jahrzehnte intensiver Korrespondenz. Luther hat seine Briefe an Adressaten aller Stände der Gesellschaft gerichtet: An Päpste, Kardinäle, Bischöfe, Kleriker und Mönche hat er ebenso geschrieben wie an den Kaiser, an Könige und andere Herrscher, Städte und Räte, Bürger und Bauern bis hin zu schlichten Leuten und Kindern – sein Brief an den vierjährigen Sohn Johannes dürfte der früheste deutschsprachige Brief eines Vaters an sein kleines Kind und damit eines der ersten Zeugnisse für die Wahrnehmung der Kindheit der Kinder sein (vgl. WAB 5; 377 f). So befinden sich unter den Korrespondenten Papst Leo X., Kardinal Cajetan, der Erzbischof von Mainz, Kardinal Albrecht von Brandenburg, aber auch Kaiser Karl V., die Könige Christian II. und Christian III. von Dänemark, die sächsischen Kurfürsten Friedrich der Weise, Johann und Johann Friedrich, Landgraf Philipp von Hessen, Herzog Albrecht von Preußen, die Fürsten Georg und Joachim von Anhalt, die Grafen von Mansfeld, Bürgermeister und Räte von Augsburg, Basel, Braunschweig, Erfurt, Naumburg, Riga, Ulm und Zwickau – um nur einige zu nennen (Korrespondentenverzeichnis [KV] zu Luthers Briefwechsel in WAB 16; 115–149). Unter den Korrespondenzen ragen einige durch ihren Umfang oder ihre Bedeutung besonders hervor: so der Briefwechsel mit Georg Spalatin, jene mit Melanchthon, Nikolaus von Amsdorf, Justus Jonas, Wenzeslaus Linck und Jakob Propst und – nicht zuletzt – derjenige mit seiner Frau Katharina. Insgesamt 21 Briefe Luthers an seine Frau sind erhalten geblieben; Katharina Luther bewahrte sie also, anders als ihr Mann die ihren, auf, und über die jüngste Tochter Margarete Luther sind sie dann zum großen Teil weiter überliefert worden. Zwei Zeiträume zeugen von besonders intensiver Korrespondenztätigkeit: die beiden »Exile« auf der Wartburg zwischen Mai 1521 und März 1522 (WAB 2; 330–453, davon 44 Briefe Luthers einschließlich der im Druck erschienenen Widmungsbriefe und der gedruckten Sendbriefe) und auf der Veste Coburg von April bis Oktober 1530 (WAB 5; 275–649, darunter 117 Briefe Luthers). Diese Zeiten des erzwungenen Alleinseins, während sich in Wittenberg bzw. in Augsburg dramatische Entwicklungen vollzogen, in die Luther zutiefst involviert war, ohne leiblich präsent sein zu können, zählen auch ansonsten zu Luthers litera-
386
C. Werk
risch produktivsten Zeiten; sie sind zugleich Zeiten besonders häufigen, ja gelegentlich geradezu manischen Briefschreibens – und des Verlangens nach Antwort in Briefen. In der Regel schrieb Luther seine Briefe mit eigener Hand; nur in besonderen Fällen, etwa von Krankheit, diktierte er sie einem Schreiber (ein Brief Luthers an Spalatin von Bugenhagens Hand WAB 6; 311 f). Auch im Falle der zahlreichen von den Wittenberger Theologen verfassten gemeinsamen Gutachten in Form von Briefen wurde ein Schreiber tätig; Luther hat dann, wie die anderen Mitverfasser, solche Schreiben eigenhändig unterzeichnet. Luther standen für die Abfassung seiner Briefe die zeitgenössischen rhetorischen Kenntnisse des Briefformulars zu Gebote. Ein Brief, so lehren die Handbücher, besteht aus folgenden Teilen: salutatio, exordium, narratio, petitio und conclusio. So disponiert auch Luther seine Briefe, und die Souveränität im Umgang mit dem Formular erlaubt ihm manche Freiheit, die sich dann freilich auch nur in der Kenntnis um die Kunst der Abweichung erschließen lässt. Ebenso ist es mit der Abfassung der Adressen bestimmt: Die zeitgenössischen Formularbücher bieten den Briefschreibern ein vielfältiges Repertoire an Anreden, damit diese die Adressaten entsprechend ihrer gesellschaftlichen Stellung angemessen titulieren können. Luther erlaubt sich auch auf diesem Feld einige Freiheiten, etwa in dem scharfen Schreiben vom 1.12.1521 an den Kardinal Albrecht von Mainz über den »Abgott« zu Halle (WAB 2; 405–409). Aus den jeweiligen Briefwechseln lässt sich das persönliche Verhältnis der Korrespondenzpartner mehr oder weniger gut erschließen. Denn Luther macht, bei aller Beherrschung des Formulars, in besonderer Weise von der Freiheit des Briefschreibers Gebrauch, indem er mit dem gebotenen Formular auf souveräne Weise spielt. So schreibt er etwa dem alten Freund Wenzeslaus Linck als dem rechtesten Theologen der Nürnberger Kirche (»Theologo dexterrimo Ecclesiae Nurmbergensis«: WAB 11; 20,1 f). Am schönsten aber lässt sich dieses Spiel in den Adressen, Anreden und Schlusswendungen der Briefe an Katharina Luther beobachten, wenn er ihr als »Meinem freundlichen lieben Herrn« (WAB 5; 154,1) aus Marburg (4.10.1529) oder mit der gleichen Anrede aus Dessau schreibt (WAB 7; 91 f) oder ihr einen Brief »Zu handen und fussen« (WAB 11; 286,2) schickt – keine Adresse in diesen Briefen gleicht der anderen. In der Wahl der Sprache richtete sich Luther nach den Empfängern seiner Briefe: An Kleriker und Gelehrte schrieb er lateinisch, an Fürsten und »Laien« auf Deutsch. In den Kontroversen der frühen Jahre der Reformation war ihm auch bewusst, dass er mit dem Gebrauch der lateinischen Sprache die Öffentlichkeit begrenzte, und in dieser Hinsicht ist er auch in seinem Sprachgebrauch verantwortungsvoll verfahren. Aber es mochte wohl auch sein, dass er durch die Wahl der lateinischen Sprache unerwünschte Leser vom Verständnis des Textes ausdrücklich ausschließen wollte – so enthält ein Brief an Hieronymus Baumgartner in Nürnberg einen lateinischen Absatz, der ausschließlich für den Empfänger bestimmt ist (vgl. WAB 9; 527–529).
I. Gattungen – 10. Briefe
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In zahlreichen Fällen mischt Luther in seinen Briefen die Sprachen. Einen wirklichen Mischtext stellt der Brief an Johann Rühel vom 29.6.1534 dar (WAB 7; 81–83) – in ihm wird geradezu die Unverzichtbarkeit beider Sprachen für das Denken und Reden und damit auch für das Briefeschreiben unter Beweis gestellt. In einem lateinischen Brief formulieren deutsche Partien bisweilen inhaltliche Pointen, sie können aber auch Ausdruck von Emotionen und Affekten sein, so in einem Brief an Melanchthon aus den letzten Tagen in Eisleben: »Wenn das Juristen kunst ist, So were nicht not, das ein Jurist so stolz sein solt, wie sie alle sind« (WAB 11; 285,24 f. Vgl. auch WAB 4; 504 f und WAB 7; 181–183). In einen deutschsprachigen Brief an seine Frau, in dem er von den Gesprächen mit Zwingli und den anderen Reformatoren in Marburg berichtet, fügt er dagegen lateinische Partien ein: »Sage dem Herrn Pommer [i. e. Bugenhagen], daß die besten Argument seind gewesen des Zwinglii, daß corpus non potest esse sine loco, ergo Christi corpus non est in pane, des Oecolampadii: dies Sacramentum est signum corporis Christi« (WAB 5; 154,13–16). Als Papier wählte Luther häufig Bögen in einer Größe von 20/21 x 30/31 cm (die dem gegenwärtig in Deutschland gebräuchlichen Format DIN A 4 ungefähr entspricht), bei umfangreicheren Schreiben gelegentlich auch Bögen doppelter Größe. Sie wurden nach dem Beschreiben mit in der Regel braunschwarzer Tinte gefaltet, auf der Außenseite mit der Adresse versehen und auf der Rückseite mit Siegel verschlossen. Boten überbrachten die Briefe an den Adressaten; die Zustellung konnte in wenigen Tagen, manchmal aber auch nur in größeren Zeiträumen erfolgen. So brauchte etwa die Zustellung eines Briefes von Eisleben nach Wittenberg im Februar 1546 zwei Tage; zwischen Augsburg und Coburg konnten die Briefe im Sommer 1530 dagegen länger unterwegs sein und Luthers Geduld erheblich in Anspruch nehmen (vgl. WAB 5; 350–352. 354 f) – so bestätigte Kurfürst Johann am 1. Juni 1530 den Eingang eines Schreibens Luthers vom 20. Mai (WAB 5; 324–328). Über eigene Boten verfügte Luther nicht, deshalb gab er den Überbringern von Briefen seiner Korrespondenzpartner häufig die Antworten an die Absender sogleich mit; manchmal fungierten die Boten auch, über die schriftlichen Mitteilungen hinaus, als »lebendige Briefe«, d. h. als Überbringer mündlicher Nachrichten. Die Themen von Luthers Briefwechsel umfassen nahezu alle Bereiche seines persönlichen Lebens und seines reformatorischen Wirkens und die Angelegenheiten, Sorgen und Nöte seiner Briefpartner. Im Einzelnen geht es da um Geburt und Taufe, Kindererziehung und Schule, um Verlöbnisse und Hochzeiten, um Sterben, Tod und Begräbnis. Besonders ergreifend sind Luthers Briefe um den Tod seiner Tochter Magdalene am 20. September 1542 (WAB 10; 146 f.149 f) – Ausdruck tiefer elterlicher Liebe und starken Glaubens an die Barmherzigkeit Gottes. Vielfach verhandeln die Briefe auch Verlöbnisse, Eheschließungen, -streitigkeiten und -scheidungen; als besonders intrikates Problem erwies sich die Dop-
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pelehe des Landgrafen Philipp von Hessen (1539/40) (vgl. Ebeling 1997, 78– 103). Daneben stellt der Schutz von Frauen und Männern gegenüber dem Anspruch und Bemächtigungswillen von Obrigkeiten ein häufiges Thema dar; ein besonders eindrucksvolles Beispiel ist etwa Luthers Brief an den Grafen Albrecht von Mansfeld vom 24. Mai 1540, in dem er um »gnadenn vnd gunste« für dessen Untertanen eintritt, zu denen auch Verwandte Luthers gehören. »Den suchen wir vnser recht zugestrenge an vnserm negsten vnd lassen nicht gnade scheinen, So wirdt warlich gott sein recht gegen vns auch suchen vnd die gnade finster lassen werden« (WAB 9; 116,30.31–34). »Ihr wisset«, schrieb er ein andermal, am 13. Juni 1538, an den Torgauer Richter Anton Unruhe, »Doctor Martinus ist nicht Theologus und Verfechter des Glaubens allein, sondern auch Beistand des Rechts armer Leute, die von allen Orten und Enden zu ihn [!] fliehen, Hilfe und Vorschrift an Obrigkeiten von ihm zu erlangen, daß er genung damit zu tun hätte, wenn ihm sonst keine Arbeit mehr auf der Schulter drückte« (WAB 8; 237,10– 14). Aber auch um Empfehlungsschreiben für die verschiedensten Zwecke und Adressaten wurde Luther immer wieder gebeten (z. B. WAB 7; 183. WAB 10; 365–367). Manche Briefe tragen eher den Charakter eines Gutachtens oder einer Stellungnahme zu an Luther herangetragenen Fragen, und einige dieser Gutachten sind dann auch nicht nur von ihm allein bearbeitet und unterzeichnet worden, sondern Gemeinschaftswerke der Wittenberger Theologen, in der Regel Luthers, Bugenhagens und Melanchthons. In anderen Fällen gehörten auch Nikolaus von Amsdorf, Caspar Cruciger, Justus Jonas oder Georg Major zu den Verfassern solcher gutachterlichen Äußerungen (vgl. WAB 16; 136 f). Luthers Briefe handeln von der Genese seiner Theologie und von den Kontroversen um sie, von der Hochschätzung der Bildung durch die Wittenberger Reformation (vgl. WAB 3; 48–51), von dem Plan, geistliche Lieder zu dichten, damit das Wort Gottes auch durch den Gesang unter den Leuten bleibt (vgl. WAB 3; 220 f), vom Katechismusunterricht (vgl. WAB 6; 192–194) und von der ars musica (vgl. WAB 5; 635–640), von Kirchenordnungen (vgl. WAB 4; 157 f) und Pfarrstellenbesetzungen; in einem Falle schickt er Lazarus Spengler eine Beschreibung und Deutung seines Siegels als eines »Merkzeichen[s] meiner Theologie« und als sein »Compendium Theologiae« (WAB 5; 445,4. WAB 13; 155 z. St.). Zu den schönsten und bedeutendsten Texten – das haben schon die Zeitgenossen bemerkt – gehören Luthers Trostbriefe. In ihnen verdichten sich seine theologische Rede und seine Beziehungen zu den Briefpartnern, seinem Vater (vgl. WAB 5; 238–241), seiner Mutter (vgl. WAB 6; 103–106), zu Freunden und Leidtragenden in der Nähe und Ferne. An ihnen und in ihnen wird auch der seelsorgerliche Grundzug von Luthers Theologie ansichtig – dass die Theologie eine scientia eminens practica ist, kann man kaum besser erfahren als eben in diesen Briefen. Wenn er etwa an den schwermütigen, suizidgefährdeten Jonas von Stockhausen einen kerygmatischen Trostbrief schreibt und dessen Frau zugleich ermahnt, ihren Mann nicht aus den Augen zu lassen, so kommt hier das Miteinander von Verkün-
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digung und Einfühlung exemplarisch zur Geltung (vgl. WAB 6; 386–389). Und aus dem Kondolenzschreiben an Justus Jonas zum Tode seiner Frau kann man ermessen, dass die Beziehungen unter den Wittenberger Reformatoren nicht nur als Arbeitsgemeinschaft sehr eng waren, sondern sich auch auf menschliche Nähe und Gemeinschaft im Glauben stützten (vgl. WAB 10; 226–228). Zwei Schreiben Luthers schließlich sind auf je besondere Weise einzigartig: der Brief an den Erzbischof Albrecht von Mainz vom 31. Oktober 1517, mit dem Luther diesem seine Thesen über die Kraft der Ablässe übersandte und in dem er erstmals mit seinem neuen Namen »Martinus Luther« unterschrieb (WAB 1; 108–113), und der am 5. März 1522 ausgestellte Brief an den Kurfürsten Friedrich den Weisen von Sachsen (WAB 2; 453–457), von dem Luther angeblich meinte, er habe »sein lebenlang keinem großen Herrn so hart geschrieben, als eben Hertzog Fridrich Kurfursten, der es ihm doch alles zu gut gehalten« habe (WAB 2; 453 f Anm. 1). Zahlreiche Schreiben Luthers sind im Autograph erhalten. Die Überlieferung in den fürstlichen und städtischen Kanzleien ist hier besonders günstig. Aber auch Briefe an Privatpersonen sind in etlichen Fällen in Luthers eigener Hand überliefert, darunter elf autographe Briefe an seine Frau. Die Mehrzahl von Luthers Schreiben ist allerdings nur in Abschriften überliefert. Solche Abschriften wurden bereits von den Zeitgenossen angefertigt, auch die frühesten Sammlungen gehen noch auf Luthers Lebzeiten zurück. Luther selbst hatte dagegen an einer Sammlung oder gar an einer Veröffentlichung seiner Briefe kein Interesse, ja, eine Publikation lehnte er einmal sogar ausdrücklich ab: »Traun nein! Das solt keiner thun! Wiewol mir kein ding mehr muhe vnd gedancken macht«, erklärte er im Sommer 1540 bei Tische (WAT 4; 692,1 f). Zu den wichtigsten Sammlern von Briefen Luthers in der ersten Generation gehören sein Mitarbeiter Georg Rörer, daneben Georg Spalatin sowie seine Freunde und Schüler Nikolaus von Amsdorf, Veit Dietrich und Johannes Auri faber. Bereits 1545 brachte Caspar Cruciger eine erste gedruckte Ausgabe mit Trostbriefen heraus, weitere Ausgaben von Matthias Flacius Illyricus, Aurifaber und Rörer folgten. Aurifaber war es auch, der die erste nicht erbaulichen oder polemischen Zwecken dienende Sammelausgabe von Briefen Luthers in zwei Bänden (1556/1565) veröffentlichte. Seit dem späten 16. Jahrhundert wurden dann zahlreiche Auswahlausgaben von Briefen Luthers veranstaltet, von deren jeweiliger Konzeption, Absicht und Wirkung wir bislang keine rechte Vorstellung haben – hier liegt eine interessante Forschungsaufgabe. Seit dem 19. Jahrhundert bemühte man sich verstärkt und planmäßig um eine vollständige Erfassung des gesamten Briefwechsels, nunmehr in biographischer, historischer und philologischer Absicht. Am weitesten gediehen war in dieser Hinsicht die Ausgabe der Briefe von Ernst Ludwig Enders, die von 1884–1932 in neunzehn Bänden erschien. Den vorläufigen Abschluss der wissenschaftlichen Bemühungen um den Briefwechsel Luthers stellt die Abteilung »Briefwechsel«
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der Weimarer Ausgabe dar. Seit deren Abschluss sind einige wenige Briefe Luthers neu gefunden worden, die im Lutherjahrbuch veröffentlicht wurden. Eine Geschichte der handschriftlichen und gedruckten Überlieferung der Briefe Luthers sowie deren Zuordnung zu den Originalen untereinander ist bisher nicht wirklich als Forschungsaufgabe angegangen worden; sie ist bei der Breite der Überlieferung erheblich schwierig, aber wohl nicht unlösbar. Freilich erfordert sie das Studium dieser gesamten Überlieferung, der Entstehung und Geschichte der einzelnen Handschriften und Sammlungen, und es wird dann nicht nur darum gehen, deren Zuverlässigkeit in Hinsicht auf das Ziel, einen authentischen Luthertext zu gewinnen, zu untersuchen. Eine solche Aufgabe würde vielmehr zugleich die unterschiedlichen Handschriften und Sammlungen in ihren Eigenheiten zu bestimmen und – neben den philologischen Konsequenzen für die Edition der Briefe Luthers – auch eine Textgeschichte dieses Corpus im Blick haben müssen. Dem Fehlen einer Überlieferungsgeschichte entsprechend haben wir auch keinen philologisch angemessen erarbeiteten authentischen Text von Luthers Briefwechsel – was die Weimarer Ausgabe bietet, ist ein textus receptus, der nicht auf einem für eine kritische Ausgabe erforderlichen Studium und einer entsprechenden Aufarbeitung der Überlieferung beruht. Gleichwohl hat dieser Text bis auf Weiteres als Grundlage aller Arbeit an Luthers Briefen zu dienen. Luther hat zeitlebens immer wieder über die Belastungen geklagt, die ihm das Briefschreiben bereitete. Das gilt schon für die frühen Jahre, in denen er in beredten Worten und kräftigen Bildern seine Überlastung darstellt. Plausibler wird diese Selbsteinschätzung in der letzten Lebenszeit, wenn er etwa an Wenzeslaus Linck schreibt: »Primum praesumo valde tibi esse notissimum, me non tanto otio frui, quanto tu frueris. Enecor epistolis scribendis, simul Senex, piger et frigidus; diem cupio extremum, ut requiescam a laboribus. Non video alias finem scribendi et vitam inquietam vivendi« (Erstens vermute ich, dass Dir sattsam bekannt sein dürfte, dass ich nicht so viel Zeit habe wie Du. Ich sterbe noch vor lauter Briefschreiben und bin doch zugleich alt, faul und kalt; mein letztes Stündlein wünsche ich mir, um von diesen Mühen auszuruhen. Anders sehe ich kein Ende des Schreibens und dieses ruhelosen Lebens) (WAB 11; 20,7–11). Aber Luther war sich auch seiner Fähigkeiten und Qualitäten als Briefschreiber sehr wohl bewusst. Vor allem meinte er, im Gegensatz zu seinen theologischen Gegnern wirklich etwas zu sagen zu haben (vgl. WAT 3; 460 f). Die Veröffentlichungen auch seiner Briefe zeigen, dass spätere Sammler, Herausgeber und Lutherfreunde daran interessiert waren, die literarische Hinterlassenschaft Luthers vollständig zu publizieren und damit auch Luthers Briefe als Zeugnisse seines privaten Lebens und seines öffentlichen Wirkens in dieses Corpus einzubeziehen. Der Kulturhistoriker Georg Steinhausen rühmte Luther in seiner Geschichte des deutschen Briefes als den »erste[n] Klassiker des deutschen Briefes, hier ist jemand, der den Brief zum vollkommenen Ausdruck seiner Gedanken und Empfindungen zu machen versteht […]. Hier ist der erste eigentlich indivi-
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duelle Briefschreiber, der nichts Traditionelles und Konventionelles braucht, der sich selbst giebt und niemand anders« (Steinhausen 1889, 112 f). Dieses Urteil beruht auf einer angemessenen Wahrnehmung. Luther hat seine Korrespondenz in vielfältiger Weise als Medium seiner persönlichen Beziehungen zu den Menschen seiner Welt und als Mittel zur Verbreitung und Durchsetzung seines Wirkens genutzt. In seinem Briefwechsel spiegeln sich die Fähigkeiten, die ihn auch sonst auszeichnen: die Unmittelbarkeit der Rede, die geistliche Zuwendung zu seinen Briefpartnern, das Leben in der Sprache aus der Kraft der heiligen Schrift. Quellen: WAB 1–18, 1930–1985, Nachdruck 2002 (mit einem Begleitheft). – In WAB 14 finden sich ein »Beschreibendes Handschriftenverzeichnis« und eine »Geschichte der Lutherbriefeditionen nebst Bibliographie«. Auch die ältere Literatur bis zu diesem Zeitpunkt ist in den Anmerkungen weitgehend erfasst. – Neuere wissenschaftliche Literatur wird laufend im LuJ, im ARG.L und in der Germanistik angezeigt. Auswahlausgaben: Martin Luther, Briefe. Auswahl, Übersetzung und Erläuterungen von Johannes Schilling, 1982 u. ö., zuletzt 1999 (insel taschenbuch) (= Martin Luther, Ausgewählte Schriften, hg. v. Karin Bornkamm u. Gerhard Ebeling, Bd. 6). – Martin Luther, Briefe an Freunde und an die Familie, hg. v. Albrecht Beutel, 1987. Arnold, Matthieu: La Correspondance de Luther. Étude historique, littéraire et théologique (VIEG 168), 1996. Ebeling, Gerhard: Luthers Seelsorge. Theologie in der Vielfalt der Lebenssituationen an seinen Briefen dargestellt, 1997. Mennecke-Haustein, Ute: Luthers Trostbriefe (QFRG 56), 1989. Schilling, Johannes: Luthers Briefe und die Abteilung ›Briefwechsel‹ in der Weimarer Lutherausgabe (in: D. Martin Luthers Werke. Sonderedition der kritischen Weimarer Ausgabe. Begleitheft zum Briefwechsel, 2002, 25–53). Johannes Schilling
11. Tischreden Mit der Bezeichnung Tischreden wird eine der bekanntesten und zugleich kompliziertesten Gattungen der mehrhundertjährigen literarischen Lutherüberlieferung durchaus zutreffend und zugleich missverständlich umschrieben. Aufzeichnungen von Gesprächen an Luthers Tisch – und zwar nicht nur seiner Gesprächsbeiträge – bzw. deren erste Sammlungen sind der historische Quellgrund der Gattung. Unter Luthers Tischreden läuft jedoch ebenfalls eine von Luther nicht autorisierte, weil erst im zweiten Jahrzehnt nach seinem Tod begonnene und zuerst 1566 gedruckte Edition auf der Grundlage einer bewusst vorgenommenen, systematisierenden Redaktion jenes Quellgrundes. Bis ins 19. Jahrhundert hinein stand sie mit einigen Modifikationen bzw. deren Rücknahme für Luthers Tischreden überhaupt und gelangte sogar bis zu einer eigenen kritischen Editionsstufe. Parallel dazu wurde seit dem 19. Jahrhundert auf den beinahe unüberschaubaren Quellgrund des 16. Jahrhunderts zurückgegriffen, wobei es zunächst zu Vermi-
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schungen mit der alten Editionsfamilie und schließlich zur modernen kritischen Edition kam, die heute als Tischreden eine eigene Abteilung der Weimarer Luther ausgabe (WAT) bildet. Einem eher abkürzenden als wortgetreuen Nachschreiben von Gesprächen an Luthers Tisch, das zunächst beabsichtigte, Denkwürdiges für die private Erinnerung festzuhalten, und darum bemüht war, neben kurzen, überlieferungswürdigen Worten auch Themen und Problemlösungen sinngemäß zu erfassen, folgte eine erste Bearbeitung des Nachschreibers aufgrund dieser Notizen und der unmittelbaren Erinnerung. Zusammen mit bereits vorliegenden analogen Stücken entstanden bei den Nachschreibern erste Sammlungen. Dieser Vorgang hat Ähnlichkeit mit dem auch heute üblichen Verfassen von Ergebnisprotokollen. Kurze zusammenfassende Notizen, teilweise auch wörtliche Wiedergaben von Zitaten aus einer Besprechung werden in relativ kurzem Abstand zum Zeitpunkt ihrer Entstehung zu einem Text ausgearbeitet, der zumindest dem Teilnehmerkreis verständlich sein muss und infolgedessen die Eckpunkte des Gesprächsverlaufs und inhaltlich wichtige Passagen bis hin zu prägnanten Zitaten enthält. So weist die Überlieferung der Tischreden auch gewisse Ähnlichkeiten mit der von Luthers Predigten (k C. I. 7.) auf. Es gibt allerdings deutliche Unterschiede zwischen einem modernen Protokoll und der Predigt- bzw. Tischredenüberlieferung Luthers. Die Gedächtnisleistung der alten Nachschreiber wird in der Regel weit höher gewesen sein als bei heutigen. Und das Verhältnis der alten Nachschreiber zur genauen Wiedergabe – bzw. zu der sie überfordernden Frage, was »genaue Wiedergabe« in Bezug auf historische Perspektivenverschiebung und den historisch-kritischen Anspruch der späteren Rezeption hätte leisten müssen – war ebenfalls ein anderes. Situationsgemäß gab es keine reguläre »Protokollkontrolle«. Die Nachwelt verfügt jedoch über einen Ersatz dafür. Die Überlieferung einzelner Redesituationen durch mehrere Nachschreiber bildet in vielen Fällen den Ansatz für modernes text- und überlieferungskritisches Arbeiten. Darüber hinaus wurden die Mitschriften von Luthers Tisch unter den Nachschreibern und anderen Interessierten häufig ausgetauscht, was auf die Länge der Zeit gesehen zu recht umfangreichen Sammlungen – aber auch zu Überlieferungsfehlern bzw. Korrekturen sowie ersten thematischen Systematisierungen – führte. Innerhalb derselben Sammlung konnte es zur Mehrfachüberlieferung kommen, weil das unterschiedliche Interesse mehrerer Nachschreiber an speziellen Themen innerhalb ein und derselben Gesprächsrunde mehr oder weniger voneinander abweichende Ergebnisse in ihren Texten hervorbrachte. Erst diese Überlieferungsstufe ist auf uns gekommen. Sie ist der erwähnte, inzwischen kritisch edierte »Quellgrund« (WAT) und bildet damit eine relativ sichere Grundlage für die Beantwortung biographischer, theologischer und philologischer Teilaspekte von Luthers Leben, Lehre und Persönlichkeit innerhalb seines unmittelbaren Umfeldes. Nicht zuletzt findet sich hier auch eine Menge durchaus echter Lutherworte.
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Wie erwähnt ging diese Überlieferungsstufe bereits im 16. Jahrhundert in noch umfangreichere Sammlungen und Bearbeitungen ein. Aus ihr entstand – insbesondere verbunden mit dem Namen des ersten Herausgebers, Johannes Aurifaber, und in der Auseinandersetzung mit ihm – eine ganze Editionsfamilie mit wechselvoller Geschichte. Wenn man die Nachdrucke einbezieht, dauert sie sogar bis heute an, hat über Jahrhunderte das Lutherbild geprägt und gab unter vor-historistischer Voraussetzung eine wichtige Quelle für die erbauliche wie wissenschaftliche Beschäftigung mit Luther ab. Mit dem Bewusstsein, dass man es auf dieser Stufe zwar mit Luther zu tun hat, aber nicht mit genau abgrenzbaren Stücken, schon gar nicht mit Luthers eigener Sprache und nicht zuletzt auch mit einer gewissen Fehlerquote bei der Interpretation der ursprünglichen Vorlagen, sind Aurifabers deutsche Redaktion und seine systematische Anordnung des Stoffes auch heute noch von Nutzen. In WAT ist sie gut erschlossen und den Stücken der einzelnen Vorgängersammlungen zugeordnet. Der Beginn der gesamten Tischreden-Überlieferung wird mit dem Namen des Zwickauer Predigers Conrad Cordatus verbunden. Nach eigenem Zeugnis schrieb er bei seinem Wittenbergaufenthalt Anfang der 1530er Jahre als erster mit Luthers Einverständnis, wenngleich unter gelegentlichen Kontrollversuchen Melanchthons, Passagen aus den Gesprächen nach, die sich an Luthers Tisch bei Gelegenheit kleinerer oder größerer gemeinsamer Mahlzeiten ergaben. Teilnehmer dieser Tisch- und Gesprächsgemeinschaft waren häufig die Wittenberger Kollegen Luthers, etwa Melanchthon, Johannes Bugenhagen, Justus Jonas, Caspar Cruciger, aber auch Angehörige des kurfürstlichen Hofes, auswärtige Gäste oder Studenten, die im Lutherhaus Kost und Logis erhielten. Nachschreiber waren meist Angehörige des Wittenberger Schülerkreises wie z. B. Veit Dietrich – seine Überlieferung reicht bis 1529 zurück –, Johann Schlaginhaufen, Georg Rörer, Anton Lauterbach, Johannes Mathesius und schließlich auch für kurze Zeit Johannes Aurifaber, der letzte Famulus Luthers und spätere – bis heute umstrittene – erste Editor der Tischreden. Ihre Sammlungen decken zusammen mit anderen kürzere oder längere Zeiträume gemeinsam oder sich überschneidend ab, so dass sich in der Summe ein buntes Bild der Gesprächskultur im Lutherhaus für die letzten anderthalb Jahrzehnte vor Luthers Tod ergibt. Das folgende Beispiel der relativ unkomplizierten Überlieferung einer kurzen Tischrede verdeutlicht ansatzweise die Überlieferungssituation zwischen 1. dem »Quellgrund«, wie ihn die moderne kritische Ausgabe in WAT bietet, 2. der Editionsfamilie nach Aurifaber und 3. einer beide Gruppen mischenden Überlieferung, die Albert Friedrich Hoppe am Ausgang des 19. Jahrhunderts in W2 geboten hat: 1. Cordatus schrieb zwischen dem 1. und 9. Januar 1532 u. a. folgendes nach: »Corporalia vitia et externa peccata Deus facile remittit; sed resistere Spiritui et Deum mendacem facere, da wird sich Gott sperren« (WAT 2; 434,22–24). Schlaginhaufen überliefert aus der Zeit zwischen 1. Januar und 23. März des gleichen Jahres folgenden Text, wobei auffällig ist, dass er seiner Fassung eine Überschrift
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verleiht, mit der die Tischrede einem bestimmten locus theologicus, nämlich der Sünde, und noch genauer: der unvergebbaren Sünde, zugeordnet wird: »Peccatum irremissibile. Morderei, dieberei, liegen, triegen wirt Gott leicht vergeben, sed resistere Spiritui Sancto et facere Deum mendacem, da wirt sich Gott sperren« (WAT 2; 34,16–18). 2. Aurifabers gedruckte Fassung bietet seit 1566 seinen Kritikern, die er von Anfang an hatte, fast alles, wessen man ihn wegen seines amplifikatorischen Übersetzens samt seinem deutschen Ausdruck und der Art seiner Systematisierung anklagt, die oft auf Kosten der ursprünglichen Zusammenhänge in seinen Vorlagen geht. Unter dem zweiten seiner 80 Loci umfassenden Ausgabe, der die Überschrift »Von Gottes Werken« trägt, ist zu lesen: »Gott Lügen strafen, das kann er nicht leiden. Mord, Ehebruch, Dieberei, Lügen, Trügen und was wider die ander Tafel der zehen Gebot geschieht, das wird Gott leichtlich vergeben denen, die es erkennen und bekennen. Aber dem heiligen Geist widerstehen und Gott zum Lügener machen wollen, das kann er nicht leiden« (WAT 2; 34,20–24). 3. Während Johann Georg Walch 1743 die Tischreden (und zwar in Aurifabers Fassung) als erster in eine Gesamtausgabe der Schriften Luthers übernahm und sie beinahe unverändert abdruckte, stellte Hoppe in W2 solche Stücke in neuerer deutscher Übersetzung mitten unter diejenigen Aurifabers sowie unter dessen Überschriften, die mittlerweile durch die ersten kritischen Editionen des »Quellgrundes« bekannt geworden waren; in unserem Fall handelt es sich um die oben (unter 1.) zitierte Mitschrift des Cordatus: »GOtt Lügen strafen, das kann er nicht leiden. Grobe Fehltritte und äußerliche Sünden vergibt GOtt leicht, aber dem [heiligen] Geiste widerstehen und GOtt zum Lügner machen, da wird sich Gott sperren.« Die einzelnen Stücke interpretieren sich wechselseitig. Cordatus und Schlaginhaufen überliefern möglicherweise eine Art ipsissima vox Lutheri, vielleicht aber auch die Quintessenz eines gemeinsamen Gesprächs, das sich am Ende auf die Sünde wider den heiligen Geist zuspitzte. Die von beiden unterschiedlich wiedergegebene lateinisch-deutsche Mischsprache wurde zwar an Luthers Tisch gesprochen, aber entsprechend dem Vermögen der Nachschreiber in einer je eigenen lateinisch-deutschen Fassung aufgezeichnet bzw. im Nachhinein (Schlaginhaufen) bearbeitet. Aurifaber hat den durchaus naheliegenden Systematisierungshinweis Schlaginhaufens in Bezug auf die unvergebbare Sünde nicht aufgenommen; er wies diese prägnante Aussage – theologisch gesehen nicht zu Unrecht – seinem Abschnitt über das grundsätzliche Handeln Gottes zu, und zwar so, dass er der Übersetzung ins Deutsche einige kleine, seiner Meinung nach hilfreiche Interpretationshilfen beigab. Johannes Mathesius, Pfarrer in St. Joachimsthal in Böhmen und einflußreicher Lutherbiograph (Luther-Historien, 1566) hatte während eines Studienaufenthaltes in Wittenberg Anfang der 1540er Jahre Gelegenheit, einige Zeit als Logiergast im Lutherhaus zu verbringen und somit ein Tischgenosse Luthers zu sein. Er wurde selbst einer der Nachschreiber bzw. Sammler von Luthers Tischreden und
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berichtete seinen Predigthörern insbesondere in der zwölften Lutherpredigt von Luthers Tafelrunde und den dort besprochenen Themen: Häufig sei Luther gedankenversunken zu Tisch gekommen und habe nur wenig gesprochen. Manchmal habe er seine Mahlzeit nach altem Klosterbrauch mit allen anderen schweigend eingenommen und sich dann nach Neuigkeiten erkundigt. Darauf hätten Gäste oder ältere Teilnehmer, später auch die Jüngeren, das Wort ergriffen, wobei sich das allgemeine Tischgespräch – von einzelnen Gesprächspartnern einschließlich des Hausherrn durchaus beabsichtigt – auf eines oder mehrere Themen zuspitzte, deren sich Luther schließlich annahm, manches abschließend beantwortete, anderes weiter diskutieren ließ. Theologische Fragen standen ebenso zur Debatte wie historische, politische und kirchenpolitische Probleme. Alltägliche Ereignisse wechselten mit Wirtschaftsfragen, Problemen aus der kirchlichen und schulischen Praxis und Ehesachen. Alte und neue Geschichten von Menschen, Tieren, Missgeburten, Geistern und Hexen kamen zur Sprache. Gelegentlich zog man einander auf oder klatschte über Abwesende. Nachvollziehbar ist das Interesse der Jüngeren am Lebensgang des Reformators, ebenso dessen Erinnerung an Lehrer, Förderer und bestandene alte Kämpfe. Mathesius, der aus eigenem Erleben und den Sammlungen anderer schöpfte, nahm in seinen Predigten bzw. der daraus entstandenen Biographie naturgemäß deutlich adressatenbezogene Zuordnungen vor. Doch er beschrieb eine lebendige Tischgemeinschaft, als deren Zentrum er wohl mit vollem Recht Luther sah, zugleich aber dessen Gesprächspartnern mehr als nur den Status von Stichwortgebern zumaß. Zusammengenommen weist auch das nicht auf einen gänzlich herrschaftsfreien Diskurs an Luthers Tisch, relativiert aber den Eindruck eines solus Lutherus als eines Orakels für alles und jedes, ein Eindruck, der sich während der fortlaufenden Lektüre auch der modernen kritischen Edition der einzelnen frühen Tischredensammlungen schnell einstellen kann, ganz zu schweigen von den nach Luthers Tod einsetzenden systematisierenden Bearbeitungen und Editionen. Die Geschichte der kritischen Editionen der ursprünglichen Einzelsammlungen von Tischreden seit dem Beginn der 1530er Jahre, die sich Zeitgenossen Luthers zusammengestellt hatten, begann in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit der Herausgabe einer Sammlung des Anton Lauterbach durch Johann Carl Seidemann. Nach weiteren Teilausgaben schuf Ernst Kroker am Anfang des 20. Jahrhunderts im Rahmen einer eigenen Abteilung der Weimarer Lutherausgabe die bis heute gültige kritische Edition der Tischreden (WAT). Bereits im Erscheinungszeitraum kam es zu methodischen und quellenkritischen Neubewertungen sowie später auch innerhalb der WA zu umfangreichen Ergänzungen. Dieser Befund führt gegenwärtig zu Überlegungen, die Tischreden erneut zu edieren. Krokers Edition ging zwischen 1566 und dem Ende des 19. Jahrhunderts eine große Anzahl von Tischredenausgaben voraus. Fast alle nehmen sie ihren Ausgangspunkt in der Sammel- und Herausgebertätigkeit Aurifabers. Das Titel blatt seiner »Tischreden Oder COLLOQVIA Doct. Mart: Luthers / So er in vielen Jaren / gegen gelarten Leuten / auch frembden Gesten / vnd einen Tischgesellen
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gefuret / Nach den Heubtstucken vnserer Christlichen Lere / zusammen getragen. Johan. 6. Cap. Samlet die vbrigen Brocken / Auff das nichts vmbkome. Gedruckt zu Eisleben / bey Vrban Gaubisch. 1566« gibt in mehrfacher Hinsicht Auskunft über den Gestaltungswillen Aurifabers. Der ließ ihn eines der erfolgreichsten deutschen Hausbücher hervorbringen, setzt ihn aber wie erwähnt bis heute zum Teil scharfer Kritik aus. Die betrifft seinen Umgang mit den Quellen, seine Systematisierung mit den entsprechenden Inhaltsdoppelungen sowie vor allem seine bearbeitenden Übersetzungen aus dem Lateinischen. Es muss an dieser Stelle angemerkt werden, dass hier weiterer Forschungsbedarf besteht, da, wie ich meine, diese Vorwürfe Aurifaber weniger treffen als diejenigen, die sein Werk – gewiss ebenso unbeabsichtigt – unter falschen Voraussetzungen rezipiert haben. Aurifaber sagt nämlich sowohl im Titel als auch im Vorwort eindeutig, worum es sich bei diesem Werk handelt. Auffällig ist im Titel erstens die Festlegung des Inhalts auf »Colloquia oder Tischreden«; zweitens die eindeutige Zuordnung zur Hauptperson Luther, der mit seinen Tischgesellen und anderen diese »colloquia« führt bzw. »Tischreden« hält; drittens der Hinweis, dass die einzelnen Rede-Brocken von Luthers Tisch gemäß Joh 6,12 gesammelt werden mussten und entsprechend ihren jeweiligen Aussagen systematisch, und zwar »nach den Heubtstücken unserer christlichen Lehre« zusammengestellt wurden. Das umfangreiche Vorwort des Aurifaber zur Erstausgabe (Abdruck in W1 22,40–54 [erste Zählung]) – eine Widmungsvorrede an glaubenstreue lutherische Magistrate von nord- und süddeutschen Reichsstädten – informiert im Rahmen eines gewaltigen, die Zeitgeschichte in die Heilsgeschichte ziehenden Panoramas über die Reformation, ihre Freunde und ihre äußeren wie inneren Feinde bis hinein in die von dem Gnesiolutheraner Aurifaber als besonders unruhig empfundene Gegenwart. Seine Absicht sei es, mit diesem »Tomus Colloquiorum«, der ein »ganz herrlicher Bericht« ist »von allen Artikeln und Hauptstücken unserer Christlichen Religion, Lehre und Glaubens […] auch von hohen und nothwendigen Stücken, Fragen und Antwort; dergleichen viel schöner Historica, und darinnen sonst allerley Unterricht, Lehre, Trost, Rath, Weissagung, Warnung und Vermahnung zu finden, und gewißlich eine nöthige und nützliche gute Arbeit ist, und zu lesen lustig, und niemandes nicht beschwerlich seyn wird«, bei den Widmungsempfängern »als besondern Liebhabern und Schutzherrn der Lehre Lutheri« dahin zu wirken, damit diese »durch fleißige Lesung dieses Tomi der Lehre Lutheri desto günstiger und geneigter seyn möchten, und in ihren Kirchen solche selige Lehre und Schriften Lutheri schützen und handhaben, und ihren Unterthanen und Bürgern ein Vorbild seyn und gut Exempel geben, die Tomos und Bücher Lutheri fleißig zu lesen« (W1 22, 53). Luthers Tischreden erscheinen hier als ein Medium, das Glaubenslehre mit Erbauung gewissermaßen in der kleinen Form anbietet. Einmal soll diese die Schutzwürdigkeit von Luthers Lehre eindrücklich machen, zum anderen soll sie auf eine intensive Lektüre von Luthers Werken in allen Ständen hinwirken. Die »übrigen Brocken« verweisen auf das – ebenfalls gedruckt vorliegende – Gesamt-
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werk des »Propheten« Luther, dessen gnesiolutherische Jenaer Variante Aurifaber übrigens selbst mit herausgegeben hatte. In diesem Zusammenhang verdient eine Bemerkung des Johannes Mathesius zum Sammeln reformatorischer dicta bei Tische besondere Beachtung: Er bemerkte, ehe er die zwölfte Lutherpredigt selbst aus solchen dicta anordnete, dass es gut wäre, wenn einmal »Dies et noctes Albiaci« zusammengestellt würden. Das heißt, man sollte jenen weithin bekannten und einflussreichen Attische[n] Nächte[n] des spätrömischen Dichters Aulus Gellius ein analoges Werk von den Ufern der Elbe an die Seite stellen. Die Noctes atticae boten in bunter Abfolge Sinnsprüche bedeutender Männer des Altertums sowie Geschichten neben anderen literarischen Formen, sammelten also allerlei Überlieferungswürdiges. Auch Mathesius hat in den Passagen seiner Predigten, in denen er Tischreden bringt, das ganze Umfeld und die anderen Tischgenossen zu Wort kommen lassen; Luther ist bei ihm, wie bereits erwähnt, unzweifelhaft der Mittelpunkt der Runde, auch andere Wittenberger Theologen spielen bei ihm durchaus eine eigenständige Rolle, und zuweilen kann auch einmal einer der anderen Tischgenossen etwas sagen, was Luthers Aussagen korrigiert oder modifiziert. Eine der beiden handschriftlichen Tischredensammlungen Lauterbachs, sein »Tagebuch«, trug den Titel: Apo phthegmata. Die beiden gedruckten Bände des Pfarrers Peter Rebenstock, die eine gemeinsame lateinische Version auch der deutschen Stücke auf der Grundlage einer weiteren, bereits systematisierten Sammlung Lauterbachs vorlegten, führten im Titel direkt im Anschluss an den bereits von Aurifaber durch den Druck eingeführten Gattungsbegriff colloquia folgende Begriffe gleichwertig hinzu: meditationes, consolationes, consilia, iudicia, sententiae, narrationes, responsa. Analoge Begriffshäufungen in den Titeln von ebenfalls systematisch anordnenden Sammlungen, die Aurifaber als Grundlage seiner Arbeit dienten, weisen darauf hin, dass gleichzeitig von vielen Interessierten eine neue Gattung von besonders eingängiger reformatorischer Literatur auf die Bahn gebracht wurde, die im Verständnis der Zeit ebenso legitim wie nutzbringend schien. Gewiss bestehen hier auch Verbindungen zu den Adagia, Apophthegmata oder den Colloquia familiaria des Erasmus von Rotterdam. Innerhalb dieser Gattungsentwicklung – und das ist bereits im »Quellgrund«, also bei den ersten Nachschreibern deutlich zu beobachten – vollzog sich eine immer stärkere Konzentration auf die Gestalt Luthers, die mit einer Systematisierung nach theologischen wie lebensweltlichen Loci im Sinne der Dreiständelehre einherging und sich der Nötigung aussetzte, die eigentlichen colloquia aus anderen Lutherquellen – seinen Schriften, Briefen, Predigten – aufzufüllen. Aurifaber war schlicht der erste, der eine in diesem Sinne erstellte, noch dazu mittels der deutschen Sprache optimierte Sammlung durch den Druck 1566 an die Öffentlichkeit brachte. Den Erfolg dieser neuen Gattung in der Fassung Aurifabers zeigte die sich anschließende Druck- und Editionsgeschichte. Zwar kam es zu formalen Modifikationen und einer Vereinfachung der Systematik, zu sprachlichen Korrekturen und zum Ausschluss einzelner Stücke, die zu deutlich keine Tischreden waren. Gelegentlich sind dabei auch
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religionspolitische Gesichtspunkte im Spiel gewesen. Aber grundsätzlich blieb die aus den Bemühungen vieler entstandene Gestalt der Tischreden Luthers erhalten, und zwar in jener wirkmächtigen deutschsprachigen Fassung, die Aurifaber ihr gegeben hatte. WAT (6 Bde., 1912–1921, Sonderedition 2000, mit umfangreichen Einleitungen, sprachlichen Hilfen und Registern). – WA 48; 371–719 (Paralleltexte und neue Tischreden). – WA 59; 729–746 (Nachgetragene Texte). – WA 59; 747–780 (Bibliographie der [selbständigen] Tischreden-Ausgaben [16. – 18. Jahrhundert]). – W1 22 (1743). – W2 22 (1897, Nachdruck 1987). – Wissenschaftliche Auswahlausgaben im Anschluß an WAT z. B. in BoA 8 und LD 9. – Luthers Tischreden, hg. v. Jürgen Henkys, 22003. Bärenfänger, Katharina/Leppin, Volker/Michel, Stefan (Hg.): Martin Luthers Tischreden. Neuansätze der Forschung (SMHR 71), 2013. Bartmuss, Alexander: Tischreden (in: Leppin, Volker/ Schneider-Ludorff, Gury [Hg.]: Das Luther-Lexikon, 2014, 688–696). Junghans, Helmar: Die Tischreden Martin Luthers (in: Ders.: Spätmittelalter, Luthers Reformation, Kirche in Sachsen. Ausgewählte Aufsätze, hg. v. Michael Beyer u. Günther Wartenberg, 2001, 154–176). Michael Beyer
II. Themen 1. Theologische Prinzipienfragen 1.1. Christliche Religion und Theologie
Zur christlichen Religion gehört seit Anbeginn die Theologie als Form ihrer intellektuellen Selbstauslegung. Damit wird dem Umstand Rechnung getragen, dass sich der christliche Glaube nicht nur als Eingliederung in eine gemeinsame rituelle Lebensform versteht, sondern als selbstverantwortete und verstandene individuelle Existenzbestimmung. Dies wiederum hat mit der zentralen Bedeutung der Vergebung der Sünden und der Befreiung von der Schuld zu tun, als die sich der Glaube realisiert. In dem Zusammenhang von Glaube und Vergebung kommt nichts anderes als die heilsame Wirkung der vermittelten Unmittelbarkeit zu Gott oder die im Glauben gewährte Teilhabe am Leben Gottes zur Geltung. Die Gestaltung der Theologie variiert jedoch nach unterschiedlichen sachlichen und historischen Schwerpunkten, die innerhalb des Gesamtrahmens von Religion und Theologie gesetzt werden. Schon in neutestamentlicher Zeit ist es die Theologie gewesen, die zur Identitätsstiftung der frühen Christenheit als Kirche im Kontrast zur eigenen Herkunft aus dem Judentum beigetragen hat. Diese Funktion einer kirchenbezogenen Theologie hat sich bis ins Mittelalter kontinuierlich fortgesetzt. Man kann die bedeutende Leistung nicht überschätzen, dass die Theologie im Hochmittelalter die Institution der europäischen Universität mit ausgeprägt hat und darin zugleich eine konstruktiv-begleitende wie kri-
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tisch-reflektierende Position zur Kirche eingenommen hat. Für alle diese Formationen gilt, dass sie die eigentümliche Leistung des christlichen Glaubens in der Weise zur Vorstellung bringen, dass sie die Individualität des Heils in der Gottesbegegnung als Eingliederung in die Kirche verstehen, ja, dass es bereits die Kirche ist, die die jeweilige Personbezogenheit des Heils vermittelt. Insofern bleibt die Theologie eine reflektierende, aber begleitende Instanz der Kirche. Die Bedeutung Luthers für das Verständnis christlicher Theologie besteht darin, dass, entsprechend seiner religiösen Leitidee (k B. II. 2.), die primäre Bezugsbasis der Theologie auf die durch den Glauben gegebene Gemeinschaft mit Gott als die Realisierung individuellen Heils umgestellt wird. Damit wird im Gesamtgefüge von Theologie und Kirche eine bis dahin nicht denkbare Akzentsetzung vorgenommen, die die theologischen Anschauungen, Lehren und Argumente neu perspektiviert, ohne freilich den Zusammenhang insgesamt zu zerstören. Aus dieser Einsicht folgt, dass eine schlichte traditionsgeschichtliche Auffassung von Luthers Theologie, die diese im Strom einer grundsätzlich identischen Lehrentwicklung versteht, ebenso unzureichend ist wie die positionelle Alternative, durch die Veränderung der Perspektive die Kontinuität des Christlichen zerbrochen zu sehen. Von dem Sinn und der Reichweite dieser Umstellung handelt das folgende Kapitel. 1.2. Das heilsgeschichtliche Schema der Theologie
Die christliche Theologie hat sich seit ihren Anfängen als Schriftauslegung verstanden, zunächst und anfänglich als Auslegung des jüdischen Tenach, der als Altes Testament den ersten Teil und konstanten Hintergrund der christlichen Bibel bildet, sodann aber vor allem und entscheidend als Interpretation des Christuszeugnisses durch das Neue Testament. Schriftlesung in kirchlicher Kommunikation und Schriftauslegung in theologischer Reflexion treten stets zusammen auf; darin manifestiert sich der Zusammenhang von Religion und Theologie auf pragmatischer Ebene. Die Bindung der Theologie an die Bibel hat sich über Jahrhunderte hinweg als die Rezeption eines biblischen Weltbildes gestaltet, das mit der Schöpfung der Welt durch Gott beginnt und das, nach der letztgültigen Orientierung durch den Erlöser Christus, auf das künftige Ende der Welt hinläuft. Dieses dem Glauben vertraute Schema ist auch für die theologische Reflexion zum Muster geworden, seit Petrus Lombardus es verwendete, um die exegetischen Aussprüche der Kirchenväter für das systematische Bedenken der Theologie zu ordnen. Insbesondere die Tatsache, dass sich die Sentenzen des Petrus bis ins Spätmittelalter hinein als Grundlage der systematischen Vorlesungen an den Universitäten zu behaupten vermochten, hat die tiefe heilsgeschichtliche Prägung der Theologie bestimmt. Sie fügt sich vollkommen ein in die Funktionsbestimmung der Theologie, ein Werk der Kirche zu sein, wie auch in die Auffassung, dass der Glaube in der und durch die Kirche vermittelt werde. Die Kirche stellt demnach – theologisch abgesichert – den historischen Raum des Heils dar
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auf dem Weg zur endgültigen Vollendung der Welt. Ihr anzugehören, in sie inkorporiert zu sein und ihren Weg durch heiligmäßiges Leben mitzugehen, darin besteht die Vollkommenheit des Glaubens. Luthers Theologie hat sich aus diesem Gesamtzusammenhang herausgearbeitet und eine Alternative vorstellig gemacht. 1.3. Biblische Theologie als Fundamentaltheologie
Dies geschah so, dass Luther die in der Theologie prinzipiell verpflichtende Orientierung an der Bibel aus der weltanschaulich-systematisch überformenden Lehrtradition gelöst hat. Dazu hat einerseits – nachdem er als baccalaureus sententiarius die Sentenzen des Petrus Lombardus zu kommentieren hatte (1509– 1511) – seine Stellung als Doktor der Theologie und Professor für die lectura in Biblia den Anstoß gegeben; andererseits hat dafür die – durch den Humanismus geförderte – Kenntnis der biblischen Ursprachen die Möglichkeit geschaffen. Bereits im universitären Trivium, der sprachlich-logischen Grundausbildung, hat Luther in der Trias von Rhetorik, Grammatik und Dialektik der Grammatik, dem Sinnerschließen der Texte, das größte Gewicht verleihen wollen (z. B. WA 5; 27,8). Seine eigene Anschauung von der fundamentalen Bedeutung der Bibel selbst hat er seit seiner ersten Vorlesung, den Dictata super psalterium (1513– 1515), entwickelt. Darin verbindet sich der religiöse Gebrauch des Psalters im klösterlichen Chorgebet mit einer philologisch bedachten Aneignung zu einer Bevorzugung des sensus tropologicus unter den Stufen des vierfachen Schriftgebrauchs, also derjenigen Sinnrichtung der allegorischen Methode, die (nach dem historisch-wörtlichen und dem semantisch-allegorischen und vor dem endgeschichtlich-apagogischen Schriftsinn) die Beziehung des Bibelwortes auf die Existenz des Menschen bedenkt (vgl. Ebeling 1971 c). In dieser Form der Exegese, später in weiteren Vorlesungen über den Römer‑, den Galater- und den Hebräerbrief sowie in einer zweiten Psalmenvorlesung ausgebaut, befestigt sich das Verständnis des biblischen Textes als Anrede Gottes an den Menschen. Im Wort der Bibel spricht Gott den Menschen an. »Es ist«, wie er 1520 in der Schrift Von der Freiheit eines Christenmenschen formuliert, »nit anders, denn die predigt von Christo geschehen, wie das Evangelium ynnehelt. Wilche soll seyn, und ist alßo gethan, das du hörist deynen gott zu dir reden« (WA 7; 22,24–26). Dieser Sinn von »Evangelium« als Anrede Gottes ist die Mitte der Bibel und damit der Kern aller Theologie: Gottes Wort hören. Die Bibel selbst so zu verstehen und darüber zum Glauben zu kommen als der individuellen Gestalt des Heils, das ist nicht nur das Ziel der Bibelübersetzung Luthers, darauf hat er auch in verschiedenen Vorreden zur Bibel hingewiesen. »Das hewbtstuck und grund des Euangelij ist, das du Christum […] auffnehmist unnd erkennist alß eyn gabe und geschenck, das dyr von gott geben und deyn eygen sey, […] das ist das grosse fewr der liebe gottis tzu unß, dauon wirt das hertz unnd gewissen fro, sicher unnd tzufriden, das heyst den Christlichen glawben predigt« (WA 10,1,1; 11,12–
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12,1). Die sprachliche Form dieser Gabe des Evangeliums ist die Verheißung oder Zusage; darin leuchtet die theologische These bereits grammatisch hervor. Diese unmittelbare Annahme und Entgegennahme Christi als Gegenwart Gottes bei uns kann aber nur so erfolgen, dass zugleich alles eigenmächtige, vermittelnde Tun ausgeschaltet wird. Darum ergeht die Anrede Gottes nicht nur als Evangelium, sondern auch als Gesetz: »das du hörist deynen gott zu dir reden, Wie alle deyn leben und werck nichts seyn fur gott, sondern müßsist mit allen dem das ynn dir ist ewiglich vorterben« (WA 7; 22,26–28). Auch dafür gibt es einen grammatischen Anhalt in der Bibel: alle Redeformen, die den Charakter der Forderung tragen. Gesetz und Evangelium stellen sich so als unerlässliche Konkretion des Wortes Gottes dar; ja, es selbst existiert nur in dieser Form. Dabei entsprechen sprachliche Gestalt und sachlicher Gehalt einander vollkommen. In dieser doppelten Anrede Gottes vollzieht sich die Rechtfertigung des Menschen. Diese für die Gestalt der Theologie Luthers grundlegende Figur ist in drei Hinsichten näher zu bedenken. Erstens – und das ist ein neuer Schwerpunkt in der Theologie – verdankt sich diese alternativ-antithetische Zuordnung von Gesetz und Evangelium der Absicht, die unmittelbare Begegnung von Gott und Mensch heraufzuführen, also der Einstellung der Theologie Luthers auf das Heil im Glauben, ja: als Glaube. Über Gott und Mensch kann man richtig gar nicht anders reden als nach dieser Maßgabe. Das betrifft den Gegenstand der Theologie. Sodann gilt, dass dieser Grundform alle theologisch-semantischen Gehalte entsprechen können und müssen. Daraus folgt das Bestreben, den gesamten theologisch-weltanschaulichen Rahmen der hergebrachten Dogmatik mit Bezug auf die Heilsfrage zu reformulieren. Schließlich überzeugt diese Konstellation der christlichen Theologie dann und genau dann, wenn sich die Menschen selbst als solche deuten lassen und verstehen, die der Anrede bedürftig und fähig sind – und die daraufhin mit der Bibel als mit der Anrede Gottes selbst Umgang pflegen. Diese Konsequenzen hat Luther aus seinem Verständnis der Bibel präzise gezogen – und genau darin bewährt sich die biblische Theologie als Fundamentaltheologie. 1.4. Der Gegenstand der Theologie
Eine berühmte Definition der Theologie bei Luther lautet: »Cognitio dei et hominis est sapientia divina et proprie theologica, Et ita cognitio dei et hominis, ut referatur tandem ad deum iustificantem et hominem peccatorem, ut proprie sit subiectum Theologiae homo reus et perditus et deus iustificans vel salvator« (Die Erkenntnis Gottes und des Menschen ist die göttliche und eigentlich theologische Erkenntnis, und zwar Erkenntnis Gottes und des Menschen so, dass sie endlich auf den rechtfertigenden Gott und den Menschen als Sünder bezogen wird, so dass der eigentliche Gegenstand der Theologie der angeklagte und verlorene Mensch und der rechtfertigende und rettende Gott ist) (WA 40,2; 327,11–328,2). Hierin zeigt sich – durchaus im Unterschied zu anderen Reformatoren (vgl. Ebeling 1971 d) –, dass Luther eine Erkenntnis Gottes und des Menschen gar nicht
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abgesehen von der richtenden und rettenden Begegnung von Gott und Mensch und also unabhängig von der Ereignung des Heils für zulässig hält. Jede bloß beschreibende Sichtweise, jede distanziert reflektierende Haltung Gott gegenüber verfehlt Gott selbst, weil sie die Situation des Menschen vor Gott verkennt. Damit wird deutlich, dass »der rechtfertigende Gott« und »der sündige Mensch« nicht Näherbestimmungen von »Gott« und »Mensch« sind, sondern gerade die jeweilige Wesensbestimmung ausmachen. Die Verschränkung der Sichtweise zeigt sich insbesondere darin, dass auch vom sündigen Menschen nicht als solchem, sondern nur vor Gott die Rede sein kann – so wie umgekehrt vom rechtfertigenden Gott nicht ohne den Menschen als sein Gegenüber gesprochen werden kann. Indem aber der Gottesgedanke über die göttliche Rechtfertigung definiert wird (und also der Mensch als Sünder zur konkreten Bestimmung Gottes hinzugehört), verändert sich die Perspektive der Theologie gründlich. Alles, was über Gott, die Welt, den Menschen und die Geschichte zu sagen ist, ergibt sich von diesem Quellpunkt der Theologie aus bzw. ist auf ihn hin auszurichten. 1.5. Kirchliche Lehre in theologischer Perspektive
Eine Skizze der Grundanlage von Luthers Theologie lässt sich an seinem Bekenntnis studieren, das er seiner Schrift Vom Abendmahl Christi (1528) angefügt hat (WA 26; 499–509). In den scharfen Debatten um das rechte Verständnis des Abendmahls will dieses Bekenntnis zugleich die Kontinuität zur christlichen Theologie aller Zeiten wahren wie andererseits gerade die neue Perspektive als für den christlichen Glauben maßgeblich dartun. Dass hier ein individuelles Bekenntnis als theologisch vorbildlich vorgestellt wird, passt insofern exakt zum Inhalt des Textes; dieser verlangt dann aber auch aus der je individuellen Sicht des eigenen Glaubens angeeignet zu werden. Dem christlichen Lehrbestand entsprechend nennt Luther Trinitätslehre, Christologie und Pneumatologie als entscheidende Gesichtspunkte. Sofern er in der Wiedergabe dieser Lehrstücke den bereits in der Alten Kirche vorgenommenen Abgrenzungen von Häresien folgt, kann die Behauptung der Rechtgläubigkeit erhoben werden. Jedoch nicht im korrekten orthodoxen Lehrinhalt besteht die Eigenart der hier vertretenen Theologie. Sie zeigt sich vielmehr in den konkreten Auslegungen und Schwerpunktsetzungen. So fällt auf, dass die Trinitätslehre nur äußerst knapp und summarisch referiert wird (vgl. WA 26; 500,27–32), wobei dem Dreieinigen als Vater die Schöpfung attribuiert wird – verbunden mit dem Hinweis auf die Unstreitigkeit dieses Artikels. Interessant ist nun aber, dass sich die Wiedergabe der Christologie nicht in der Zusammenstellung des korrekten Lehrbestandes erschöpft, sondern dass die Pointe in der zusammenfassenden Aussage liegt: »Das ist mein und aller herr« (WA 26; 501,34). Ganz analog verfährt der Kleine Katechismus, der in seinen Vorformen aus demselben Jahr stammt, wenn er die Zweinaturenlehre in der Auslegung des 2. Artikels summiert: »daß Jesus Christus, wahrhaftiger Gott […] und auch wahrhaftiger Mensch […] sei mein HERR« (BSLK 511,23–26) –
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um dann die Rettung durch Christus auszuführen. Dieses Herrsein Jesu Christi wirkt sich darin aus, dass alle später in der Kirche hinzugefügten Umstände des Heils aufs schärfste kritisiert werden. Entsprechend wird der Sinn des heiligen Geistes über seine Wirkung in uns bestimmt: »das ist unser trotz [trost], so wir solchs geists zeugnis ynn unserm hertzen fulen, das Gott wil unser Vater sein, sunde vergeben und ewiges leben geschenckt haben« (WA 26; 505,35–37). Dass in diesen Zuspitzungen der Sinn des Ganzen besteht, verdeutlicht auf unüberbietbare Weise der sich daran anschließende Abschnitt, der mit den Worten beginnt »Das sind die drey person und ein Gott, der sich uns allen selbs gantz und gar gegeben hat mit allem, das er ist und hat« und der zusammenhängend zitiert sei: »Der Vater gibt sich uns mit hymel und erden sampt allen creaturen, das sie dienen und nütze sein müssen. Aber solche gabe ist durch Adams fal verfinstert und unnütze worden, Darumb hat darnach der son sich selbs auch uns gegeben, alle sein werck, leiden, weisheit und gerechtickeit geschenckt und uns dem Vater versunet, damit wir widder lebendig und gerecht, auch den Vater mit seinen gaben erkennen und haben möchten. Weil aber solche gnade niemand nütze were, wo sie so heymlich verborgen bliebe, und zu uns nicht komen kündte, So kompt der heilige geist und gibt sich uns auch gantz und gar, der leret uns solche wolthat Christi, uns erzeigt, erkennen, hilfft sie empfahen und behalten, nützlich brauchen und austeilen mehren und foddern« (WA 26; 505,38–506,7). Gott ist der, der sich gibt – das ist die Grundbestimmung, die in maßgeblicher und unwiderruflicher Weise im Sich-Geben des Sohnes manifest und verwirklicht und im Sich-Geben des Geistes erkannt wird. Dem vorbehaltlosen Sich-Geben Gottes entspricht das »Nützen« des Menschen – der Mensch, der Gottes Sich-Geben empfängt, erhält alles, was ihm nötig ist, im Glauben und im Handeln, für sein eigenes Leben und das aller Menschen. Dieser Gehalt des christlichen Glaubens wird von Luther als allezeit, weil allein von Gott her, verwirklicht angesehen; dies ist seine innerliche Wahrheit. Doch sofern es zu dieser innerlichen Wahrheit nur durch das äußere Wort kommt (darin vollendet sich ja das Sich-Geben Gottes!), ist die Gestalt des äußeren Wortes, also die Wahrnehmung der Bibel in der Predigt und in dem richtigen Gebrauch der Sakramente, nicht unerheblich. Die Kritik Luthers richtet sich diesbezüglich gegen diejenige kirchliche Praxis, die durch die Vermehrung der Sakramente und die Einführung des Ablasses, durch Sitten und Gebräuche das klare Sich-Geben Gottes verdunkelt (WA 26; 506,10–509,12). »Das ist mein glaube, denn also gleuben alle rechte Christen, Und also leret uns die heilige schrifft« (WA 26; 509,19 f). In dieser Reihenfolge spricht sich das Gefälle der Prinzipienlehre in der Theologie Luthers aus. Das pointierte Bekenntnis des einzelnen über die unmittelbare Zuwendung des sich gebenden Gottes steht nicht auf seiner individuellen Einzelheit, seiner privaten Erfahrung, sondern formuliert, was der Gehalt des Glaubens, das Wesen des Christentums überhaupt ausmacht – und dass es sich so verhält, das ist durch die jeweilige Aneignung der Bibel nachzuvollziehen und zu verifizieren.
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Für die Auffassung dieses Bekenntnisses kommt alles darauf an, sich die leitende Einsicht der Theologie Luthers gegenwärtig zu halten, nämlich die entschlossene Zuspitzung des wahren Gehaltes des Glaubens auf das allein und unmittelbar von Gott kommende, aus seinem vorbehaltlosen Sich-Geben entspringende Heil des Menschen. Dann wird klar, dass es sich bei Luthers Theologie nicht um eine bloße Akzentsetzung innerhalb eines traditionellen Rahmens handelt, sondern dass der herkömmliche Lehrbestand neu – und damit seine tiefste Wahrheit entbergend – auf diese heilschaffende Begegnung mit Gott in seinem Wort eingestellt wird. Insofern kann dann auch das Formulieren des individuellen Bekenntnisses in der Konsequenz des Glaubens als Ziel der Theologie angesehen werden. 1.6. Glaube und Vernunft
Es fällt auf, dass in der bekenntnismäßigen Darstellung der Grundlagen von Luthers Theologie das Verhältnis von Glaube und Vernunft, wie es in der Scholastik Gegenstand fundamentaltheologischer Erörterung ist, keine Rolle spielt. Allerdings spricht sich das Bekenntnis entschieden gegen den freien Willen aus. Dies ist die Sichtweise, unter der das Thema Glaube und Vernunft bzw. Vernunft und Offenbarung zu betrachten ist. Ein überaus aufschlussreicher Text dafür ist die Disputatio de homine von 1536 (WA 39,1; 175–177), die nach ihren wichtigsten Einsichten den folgenden Überlegungen zugrunde liegt (vgl. Ebeling 1977/ 1982/1989). Die Definition der Theologie, die Luther gegeben hat, schließt die Bestimmung des Menschen ein: Das Wesen des Menschen wird durch die Anrede Gottes in Gesetz und Evangelium konstituiert. Diese Definition des Menschen zwingt zu einer Differenzierung der alten Auffassung, der Mensch sei als animal rationale zu beschreiben. Nach diesem klassischen Verständnis des Menschen bezeichnet die ratio das geistige Orientierungsvermögen des leiblichen Menschen als Teil der natürlichen Welt. Schon bald ist gesehen worden, dass das Weltverhältnis allein nicht den hinreichenden Maßstab für diese Orientierung abgeben kann. Daher legte sich eine Unterscheidung zwischen höherem rationalem Vermögen, nämlich Prinzipien des Handelns zu erfassen, und niederem rationalem Vermögen, durch das die Bestimmung des Handelns in konkrete Handlungen überführt werden konnte, nahe. Analog verhält es sich mit der Unterscheidung von syntheresis und conscientia als zwei Dimensionen des Gewissens, das sich hinsichtlich der Vorzüglichkeit des Handelns wählend entscheidet. Durch diese innere Struktur der ratio organisiert sich der orientierte Wille als frei, also als liberum arbitrium. Mit diesem Gefüge, das in seinen Grundzügen aus der griechischen Antike stammt, wird in der christlichen Theologie die Gotteserkenntnis so verbunden, dass sie dem oberen Vernunftvermögen zu der Klarheit und Stabilität der Erkenntnis verhilft, die ohne Gotteserkenntnis nicht zu haben wäre. Entsprechend gestaltet sich das menschliche Handeln als durch die Gotteserkenntnis belehrtes
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kooperatives Tun des Guten und insofern als Vollendung menschlichen Seins. Liberum arbitrium und bona opera gehören untrennbar zusammen. Nun ist es offenkundig, dass das Verhältnis zwischen oberem Vernunftvermögen und Gotteserkenntnis unterbestimmt bleibt, solange man sich in diesem Modell bewegt. Denn der theologisch unbestreitbare Primat Gottes kommt nur als anknüpfende Überbietung in den Blick. Das ist der Punkt, an dem Luthers Kritik und Alternative einsetzen. Die Kritik besagt, dass die höhere Vernunft von der niederen Vernunft nicht zu trennen ist, wenn anders sie orientierende Funktion für das leibliche Leben übernehmen soll. Insofern bleibt auch die prinzipienbezogene Vernunft auf das leibliche Selbst bezogen, dient ihm geradezu in prinzipiellem Sinn. Selbstbezug als Selbst-Suche ist daher ein strukturelles Merkmal der Vernunft; Selbstsucht als moralisch verwerfliches Verhalten ist davon abkünftig. Damit aber erweist sich die Vernunft insgesamt als unfähig zu einer über die Steigerung der Selbstsucht hinausgehenden Orientierung des Menschen, so wenig die Funktion der Vernunft, menschliches Handeln in der Welt zu ordnen, damit bestritten werden kann – im Gegenteil: gerade die erfolgreiche Umsetzung von (falschen) Handlungsimpulsen in konkrete Handlungen macht die Vernunft gefährlich. Die Alternative dazu ist die theologische Definition des Menschen durch die Anrede Gottes vermittels seines Wortes als Gesetz und Evangelium. Unter dem Stichwort des Gesetzes ist einmal die Notwendigkeit festgehalten, dass das menschliche Leben der orientierten Selbstbestimmung bedarf. Es ergibt sich aber nach dem Dargelegten sofort, dass es unmöglich ist, zu einer den eigenen Selbstbezug überschreitenden Selbstbestimmung zu gelangen. Insofern führt die Forderung des Gesetzes ins Leere. Darum tritt im Evangelium die Zusage des Gottesverhältnisses als Orientierung des Selbstverhältnisses ein; sie ist unbedingt erforderlich, wenn es eine Bestimmung des menschlichen Seins im konsequenten Unterschied zur Welt geben soll; sie ist unerschwinglich, wenn man nur den Abstand zur Welt zu vergrößern sucht; sie ist und wird konkret gegeben, indem sich Gott im Evangelium auf den Menschen bezieht, der an der im Gesetz ausgesprochenen Bestimmungsbedürftigkeit seiner selbst scheitert. Wenn aber das Evangelium im Glauben des Menschen präsent ist – und darin die Gottesgemeinschaft –, dann ist das Wesen des Menschen prinzipiell definiert, sein Handeln prinzipiell orientiert und die Umsetzung in tatsächliche Handlungen garantiert. So sehr also der Glaube im strengen Sinne irrational ist, weil er sich nicht aus der gesteigerten Selbstreflexion der Vernunft ergibt, so wenig schließt er den Gebrauch der Vernunft zur Orientierung in der Welt aus. Darum kann Luther in der Disputatio de homine einerseits die ratio preisen als das entscheidende Unterschiedskriterium des Menschen von der Welt (Thesen 4–9) und seiner Definition als animal rationale doch andererseits die theologische Definition entgegensetzen: »Paulus […] breviter hominis definitionem colligit, dicens, Hominem iustificari fide« (Paulus fasst die Definition des Menschen kurz zusammen, wenn er sagt: Der Mensch wird gerechtfertigt durch den Glauben) (These 32).
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Nun darf man sich nicht verhehlen, dass Luther mit dieser Zuordnung von Glaube und Vernunft selbst ein neues Modell der Vernunft auf den Plan geführt hat; eine theologische Polemik gegen die Vernunft überhaupt, wie man sie im 20. Jahrhundert in der evangelischen Theologie finden konnte, ist also fehlgeleitet. Dieser neue Rationalitäts-Typ konzipiert das menschliche Wesen als prinzipiell bestimmungsbedürftig. Seine Bestimmung aber kann es nur in intersubjektiver Kommunikation erfahren, nicht in bloß reflexiver Selbstbezogenheit. Menschen sind grundsätzlich angewiesen auf ihnen widerfahrende Anrede und selbst vorgenommene Aussprache, um im Medium des Sprechens ihre Selbstbestimmung vorzunehmen. Diese Verfasstheit menschlichen Wesens realisiert sich in prinzipieller Hinsicht dann, wenn die Forderung nach notwendiger Selbstbestimmung und die Gewährung von freiwilliger Ansprache sowohl kategorial unterschieden wie aufeinander bezogen werden. Genau das leisten die Kategorien Gesetz und Evangelium im Blick auf die menschliche Vernunft als Vermögen der Selbstbestimmung. Vernunft erscheint demnach als ein Sich-Bestimmen auf dem Grunde des Unverfügbaren. Und genau das geschieht, wenn gesagt wird, dass das in der Form von Forderung und Zusage artikulierte biblische Wort als Wort Gottes ergeht und verstanden wird. In gewisser Hinsicht ist damit eine Form von Rationalität präludiert, wie sie gegenwärtig im Anschluss an die Philosophie Kants und Hegels unter dem Namen Subjektivität erörtert wird. Sowohl für die theologisch begründete Auffassung von der Vernunft des Menschen wie für die Lehre von der Subjektivität gilt aber, dass sich deren prinzipielle Fassung nur dann zur Einsicht bringt, wenn sie faktisch vollzogen wird. Das kann ohne Anrede und ohne Aneignung nicht geschehen. 1.7. Theologie und Leben
Eben die Aneignung des von der Theologie bezeichneten religiösen Gehaltes, also des Wortes Gottes als Gesetz und Evangelium, ist nun freilich auch unerlässlich. Insofern ist die Theologie nach reformatorischem Verständnis ein integraler Teil des Glaubens. Luther selbst hat zu dieser Aneignung in der Vorrede zum ersten Band der Wittenberger Ausgabe seiner deutschen Schriften (1539) eine Anleitung gegeben, die sich ihrerseits an einem biblischen Vorbild orientiert, nämlich an der Einstellung auf das Wort Gottes, die Ps 119 zur Vorstellung bringt (WA 50; 657–661). Die bekannte Trias der geistlichen Einstellungen in der Aneignung der Theologie als Umgang mit der Bibel lautet (in charakteristischer Aufnahme und Abwandlung mönchischer Praxis): oratio, meditatio, tentatio. »Erstlich soltu wissen, das die heilige Schrifft ein solch Buch ist, das aller ander Bücher weisheit zur narrheit macht, weil keins vom ewigen leben Leret on dis allein« (WA 50; 659,5–7). Der Anfang der Lehre in der Theologie ist also Erwartung – Erwartung ewigen Lebens. Das steht nicht schon zur Verfügung, sondern erschließt sich nur denen, die sich auf die Bibel einlassen. Dieses Sich-Einlassen aber besitzt die Form des sprachlich artikulierten Gebets als der Bitte um die Er-
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schließung des Gehalts, nämlich der Begegnung des Wortes Gottes. Das Gebet ist aktive Passivität der Erwartung. »Zum andern soltu meditirn, das ist: Nicht allein im hertzen, sondern auch eusserlich die mündliche rede und buchstabische wort im Buch jmer treiben und reiben« (WA 50; 659,22–24). Meditation heißt hier nicht, wie im modernen Verständnis, Spiritualisierung, sondern im Gegenteil: Konzentration auf die Bibel als Medium, auf den Gehalt in der sprachlichen Gestalt. Erst durch sie werden Forderung und Zusage als die Form von Gottes Anrede erschlossen; nicht im wortlosen Inneren, sondern in der Äußerlichkeit der Sprache. Dabei kommt es zur Einprägung des Inhalts, zur Befestigung der Anschauung, zur Einigung von faktischer Anrede und prinzipiellem Selbstverstehen. »Zum dritten ist da Tentatio, anfechtung. Die ist der Prüfestein, die leret dich nicht allein wissen und verstehen, sondern auch erfaren, wie recht, wie warhafftig, wie süsse, wie lieblich, wie mechtig, wie tröstlich Gottes wort sey, weisheit uber alle weisheit« (WA 50; 660,1–4). Wo die Aneignung geschieht, findet die individuelle Positionierung des eigenen Lebens statt, ein Verhältnis zu sich selbst und zu seinen Gefühlszuständen; ein solches Selbstverhältnis dann freilich auch, das standfest wird, weil es sich im Gottesverhältnis begründet erlebt. Ganz auf sich selbst zurückgeworfen durch die Beziehung zu Gott – und gerade darin ein eigenes Leben in der Welt führend, auch gegen Widerstand und Unheil. Der angeeignete Gehalt des Wortes Gottes realisiert sich im Glauben als Erfüllung der Person. Die von Luther empfohlene Übung in der Theologie wird identisch mit der Aneignung der Religion. Die theologische Prinzipienlehre Luthers entlässt aus sich zwei gewichtige praktische Konsequenzen, die in der weiteren Geschichte des Protestantismus zu verantworten sind. Zum einen führt sie eine neue Einheit von Religion und Theologie herauf. Das macht den Protestantismus zu einer gleicherweise reflektierten wie anfälligen Gestalt des Christentums. Glauben ist bleibend mit dem Anspruch auf Verstehen verbunden; nur ein richtiges Verstehen des Glaubens versichert seines wahren Gehaltes. Dadurch wird der Protestantismus vielfältigen Schwankungen der Geistesgeschichte unterworfen. Sodann gewinnt die Theologie eine wesentlich rhetorische Gestalt, und zwar in einem nachklassischen Sinne. Denn es geht nicht mehr um die Anpassung vorgegebener Sachverhalte an das so oder so beschränkte menschliche Auffassungsvermögen, sondern um die allein sprachliche Repräsentanz von Sichtweisen, die ihren Realitätsgehalt im Hören und im Glauben allererst gewinnen – so wie Gott selbst sich in seinem Wort ganz und gar dem Menschen im Glauben hingibt. Beide Konsequenzen zeichnen den Protestantismus als eigentümliche Gestalt des Christentums aus und stellen ihn vor neue Anforderungen. Bayer, Oswald: Theologie (HST 1), 1994, 35–126. Ebeling, Gerhard: Fides occidit rationem. Ein Aspekt der theologia crucis in Luthers Auslegung von Gal 3,6 (in: Ders.: Lutherstudien. Bd. 3: Begriffsuntersuchungen – Textinterpretationen – Wirkungsgeschichtliches, 1985, 181–222). Herms, Eilert: Gewißheit in Martin Luthers »De servo arbitrio« (LuJ 67, 2000, 23–50).
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Lohse, Bernhard: Luthers Theologie in ihrer historischen Entwicklung und in ihrem systematischen Zusammenhang, 1995, 204–223. Schwarz, Reinhard: Martin Luther. Lehrer der christlichen Religion, 2015, 187–262: Die Befreiung des Menschen vom Unheil zum Heil durch das Evangelium; aaO 263–324: Jesus Christus in seinem Dienst zum Heil der Menschen; aaO 325–389: Die Lebensmacht des christlichen Glaubens. Dietrich Korsch
2. Wort Gottes 2.1. Deus loquens
Wort Gottes – das war für Luther zugleich Medium und Gegenstand der Offenbarung schlechthin. In ihr erzeige sich Gott den Menschen als ein worthafter Gott (verbatus deus: WA 31,1; 511,29). Die Fülle des Offenbarungsgeschehens findet nach Luther darin ihr einheitsstiftendes Motiv, dass es die kommunikative Relationalität Gottes den Menschen zum Heil werden lässt. Gemäß der von ihm schon früh formulierten Einsicht, das Wort sei wesenhaft darauf aus, gehört zu werden (WA 4; 8,18 f) (k B.IV.4), markiert bei ihm die Begegnung des deus loquens mit dem homo audiens das Fundament der gesamten Theologie (WA 44; 574,35–37). »Quo modo […] extra verbum Dei Deus cognosceretur?« (WA 39,2; 321,1). Allein im Wort rechtfertigt und verdammt er die Menschen (WA 31,1; 511,28 f), allein im Wort will er sich erkennen (WA 31,1; 333,6 f) und begreifen lassen (WA 42; 625,22–25). »Wer einen Gott hat on sein wort, der hat keinen Gott, […] Denn er wil von uns ausser seinem wort mit unserm tichten und nach dencken unbegriffen, ungesucht, ungefunden sein« (WA 30,3; 213,34–39). Diese Fundamental unterscheidung hatte Luther in der Auseinandersetzung mit Erasmus (k B.III.7.) und im Streit um das Abendmahl (vgl. WA 19; 492,19–26) (k B.III.8.) systematisch entfaltet. »Relinquendus est […] Deus in maiestate et natura sua« (WA 18; 685,14), lautet eine bekannte, viel traktierte Stelle aus De servo arbitrio (1525), gleichsam als Erläuterung des kurz zuvor zitierten Dictum Socraticum »Quae supra nos, nihil ad nos« (WA 18; 685,6 f), in das Luther seine Unterscheidungslehre von deus absconditus und deus revelatus zusammengefasst hat. Mit dem in seiner Majestät verborgenen Gott haben wir nichts zu schaffen, weil er nicht wollte, dass wir so mit ihm zu schaffen haben. »Aber soweit er sich durch das Wort, durch das er sich uns darbietet, umkleidet und bekannt gemacht hat, haben wir mit ihm zu schaffen« (WA 18; 685,16 f). Diese Unterscheidung zwischen dem worthaften und dem verborgenen Gott versäumt zu haben, wurde für Luther zu einem entscheidenden Einwand gegen Erasmus: Auf Gottes Wort soll man achten, seinen unerforschlichen Willen hingegen auf sich beruhen lassen (WA 18; 685,29–31). Das äußere, gepredigte Wort ist die Larve, in der Gott den Menschen erträglich und heilsam ist. Was geschehen würde, wenn Gott in maiestate mit uns reden würde, erörterte Luther nicht aus spekulativer Neugier, sondern nur, um auf die-
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ser Folie den einzigartigen Schatz des Wortes Gottes umso heller leuchten zu lassen. Beispielsweise kam er in einer Predigt über die Posaune des Endgerichts (1Kor 15,52) darauf zu sprechen: »Quando Deus loquitur in loquela maiestatis suae, ist starck. Christi vox suavis. Dei vox ist ein ander posaun, die schlegt ein haus in momento darnider erden, das staub eitel. Da kirrets daher et fit in momento« (WA 49; 736,6–737,3). Immer wieder hat Luther in diesem Zusammenhang an die Bitte des Volkes am Sinai erinnert, Mose solle Gott nicht mit ihnen reden lassen, damit sie nicht sterben (Ex 20,18 f). Auch in der Auslegung des Sinaigeschehens ist bei Luther das christologische Motiv unübersehbar. Der Mund Christi ist die präziseste Beschreibung des Ortes, an dem sich der deus nudus wie in einer Larve verbirgt. Schon Mose habe seinerzeit darauf verwiesen (Dtn 18,15): »Gott wird euch einen andern Propheten geben, dem sie solten anhangen, das ist: Christum, dem wolle er seine wortt in den mund legen, der solle freundlich mit uns reden« (WA 47; 37,29–31). Nicht anders, meinte Luther, solle man die Worte verstehen, die bis heute in Predigt, Taufe und Abendmahl laut werden: als freundliche Larven, in denen Gott selbst mit uns spricht (WA 45; 522,7–12). »Also kondte ich den frolich sein und sagen: Gott, der himmel und erden geschaffen hat, der do ist die gottliche Maiestet, hat geredet mitt mir. Wie? Durch meinen mittbruder. Ehr thuts uns zu gutth, item zur liebe und freundtschafft« (WA 47; 213,26–29). Das Wort Gottes war für Luther Ort und Inbegriff der ganzen, ungeteilten Gegenwart Gottes (WA 16; 491,5). In der Larve seines Wortes kommt er den Menschen näher, als sie sich selber nahe sind (WA 9; 103,23–25). Wer sein Wort hört, also von ihm sich im Herzen als dem innersten Ort des Menschen berühren und treffen lässt, dem will auch Gott sein Innerstes öffnen: »Qui audit verbum meum, intuetur cor meum« (WA 11; 225,27 f). Was Gott in seinem Wort derart eröffnet, überschreitet nun allerdings Vernunft und Erfahrung (WA 19; 394,22 f). Dass es im Wort Gottes um res spirituales geht, macht ja die Selbstmitteilung Gottes überhaupt erst notwendig. Wären sie der Vernunft fassbar und verständlich, »so hette unser herr Gott sein maul wol konnen zu halten, Sed es heisst supra et contra racionem« (WA 37; 296,37–297,1). Supra rationem heißt es, weil die Vernunft das Wort Gottes nicht wahrnehmen kann. Contra rationem aber heißt es, weil die Vernunft auch ihre eigene Begrenztheit nicht wahrnehmen kann und darum nicht wahrhaben will (WA 16; 143,3 f.17–19). In anmaßender, weil ihre Kompetenz überschreitender Weise stelle die Vernunft törichte Fragen und rede albern daher, indem sie etwa die Notwendigkeit der Menschwerdung Gottes bezweifle (WA 19; 495,17–21). Angesichts solcher pseudovernünftigen Fragen verwies Luther die streunende Vernunft in ihre Schranken: »Was ligt mir dran, ob es von noten sey odder nicht. Gott weis es wol, wie oder warumb es so sein sol und musse. Wenn er sagt, das es not ist, so schweigen alle creaturn« (WA 19; 496,13–15). Ist doch die Zunge des heiligen Geistes ein »grifel, quae nicht falsch schreibt« (WA 41; 367,5). In dieser Gewissheit findet der Glaube sein Genüge (vgl. WAB 10; 492,124–134).
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2.2. Verbum aeternum
Zwanglos lassen sich bei Luther vier Gestalten des Wortes Gottes unterscheiden (Beutel 1991 a, 95–126. 235–252). Mit ihnen wollte er nicht etwa den biblisch-dogmatischen Stoff schematisieren, sondern die Verbindlichkeit des gepredigten Wortes als einer vollgültigen Gestalt des Gotteswortes untermauern. Die Pointe seiner Unterscheidung göttlicher Wortgestalten liegt denn auch in der Einsicht, dass es dasselbe Wort ist, das Gott von Ewigkeit her ist, durch das er die Welt erschaffen hat und erhält, das in Christus Fleisch geworden ist (Joh 1,14) und durch das er mich in der Predigt lehren und trösten und im Sterben bewahren will. Luthers Auffassung vom ewigen Wort Gottes ist am Johannes-Prolog orientiert, der seinerseits, wie Luther immer wieder hervorhebt, im ersten Kapitel der Genesis gründet. Das aller Kreatur vorausliegende, ursprüngliche Wort Gottes sei von Ewigkeit her »in Creatore et in nuda essentia Dei« gewesen (WA 42; 14,34 f). Hinsichtlich des in Gen 1 berichteten Schöpfungswortes lag Luther daran, Gott dabei als beides zu verstehen: als Sprecher sowie als Spruch (WA 47; 629,24 f). Wenn auch »der, so das wort redt, und das wort, das geredt wird, zwo unterschidliche personen« seien, so müsse doch »ein Göttliches wesen sein zwischen Gott und dem wort, Denn sie beyde ewig und almechtig sind« (WA 52; 338,35–37). Das ex substantia Patris geborene Wort (WA 42; 45,7) benenne Gott bei seinem Wesen (WA 36; 410,8 f), weil er selbst, indem er es spricht, sein Wesen in das Wort transfusioniert (WA 39,2; 322,14 f). Nicht als protologische Spekulation, sondern im Sinne einer Fortführung des modus loquendi scripturae wollte Luther seinen Rekurs auf das Gespräch verstanden wissen, das Gott, bevor die Welt erschaffen wurde, in und mit sich selbst geführt habe (WA 9; 239,28–31). Schon Mose habe dieses ewige Wort des Vaters zwar nicht »nach der Grammatica«, aber doch der Sache nach als Sohn benannt und bekannt (WA 54; 67,31–38). Und aus Joh 16 nahm Luther zu diesem »gesprech, so gehalten wird in der Gottheit (ausser allen Creaturn)« (WA 46; 59,17 f), noch den »Zuhörer«, den heiligen Geist. In solcher Weise hat Luther die Teilnehmer des göttlichen Trialogs freilich nie unterschieden, ohne zugleich den exklusiv immanenten Charakter dieses Gesprächs zu betonen: »Dieses alles, sprechen, gesprochen werden und zu hören geschicht alles jnnerthalb der Göttlichen natur und bleibet auch allein jnn der selben, da gar keine Creatur nicht ist noch sein kan, sondern beide, sprecher und Wort und Hörer, mus Gott selbs sein« (WA 46; 59,35–60,1). Was hingegen das Sprechen Gottes zu den Menschen betrifft, so konnte Luther durchaus von »drey redener« sprechen (WA 54; 35,31): Der von Luther rezipierte trinitarische Lehrsatz opera ad extra sunt indivisa galt auch hier. Im Unterschied etwa zu Melanchthon mochte sich Luther nicht mit ökonomischen Trinitätsaussagen begnügen, weil er deren theologische Plausibilität nur von der immanenten Trinitätslehre her gewährleistet sah: Erst so werde klar, »daß das heilsame Wirken Gottes nur zum Ausdruck bringt, was Gott von Ewigkeit her
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ist, nämlich eine Wechselwirkung zwischen Vater, Sohn und Heiligem Geist« (Lienhard 1980, 239). Gleichwohl hat sich Luther niemals in bloßen Gottesspekulationen verloren, weil er das Sein Gottes niemals anders als von Gottes Wirken her zu denken vermochte. So zielten auch seine Äußerungen zum innertrinitarischen Selbstgespräch letztlich darauf ab, die Dignität und Effizienz desjenigen Wortes, durch das Gott an uns handelt, zu untermauern. Das verbum dei internum steht dafür gut, dass Gott substantialia zu uns spricht (WA 39,2; 20,5–8), die ebenso verlässlich und ewig sind wie er selbst. »Wo got in einem wort wurd erfunden unbestendig, szo gienge unter glaub, warheit, schrifft unnd got selbs« (WA 6; 315,36 f). Im verbum aeternum lag für Luther die systematische Gewähr dessen, dass es der homo audiens wirklich mit dem deus loquens zu tun bekommt. »Ubi verbum suum est, ibi ipse Christus est« (WA 12; 663,14 f) – darauf läuft es am Ende hinaus. »Dancke du, das du mein wort hast und durchs wort mich selbs. […] Lieber, las dir mein wort als mich selber auch ein schatz, auch ein Königreich, auch ein himelreich sein jnn deinem armut, elend und iamer. Mein wort bleibt ewig und du auch im wort« (WA 31,1; 456,1 f.6–8). In dem Wort Gottes, das wir sehen (verbum creatum), lesen (verbum scriptum) und hören können (verbum praedicatum), begegnet uns dessen verbum aeternum und also Gott selbst. 2.3. Verbum creatum
Eine der signifikantesten Besonderheiten der Schöpfungslehre Luthers besteht darin, dass er die Schöpfungswerke Gottes durchweg als dicta dei begriff: »Loqui et facere idem est deo. […] Non verba sunt, sed facta, quae deus loquitur« (WA 14; 306,10 f.29). Hinter dieser Auffassung der kreatürlichen Welt als einer Ansammlung von vocabula oder dictiones dei steht die überkommene, von Luther neu begründete Tradition des liber naturae. Ihr gilt die Schöpfung als ein neben der Bibel stehendes zweites Buch Gottes, in dem man ebenso lesen kann wie in der Schrift. Als unerlässliche Voraussetzung solcher Lesbarkeit der Kreatur hat Luther allerdings den Glauben geltend gemacht: Erst wenn ich glaube, was Gott in der Bibel von sich gesagt hat, vermag ich ihn dann auch in der Schöpfung lesend zu finden. Das Buch der Natur eignet sich darum keinesfalls als Grundlage einer natürlichen Theologie, weil es nicht etwa eine zweite Quelle der Offenbarung bereithält, sondern die erste und einzige Offenbarungsquelle Gottes für den Glauben anschaulich macht. Durch das Sprechen Gottes, meint Luther, sei alles geschaffen. Trotz der Naivität, die seiner ungebrochen bildhaften Schöpfungsauffassung anhaften mag, ist sie von beeindruckender theologischer Stringenz. Gott ruft durch sein Wort die Kreaturen ins Leben, so dass sie vor ihm stehen und sagen: »Hie sind wir« (WA 48; 38,4 f). Wie anschaulich Luther diese Lehre gepredigt hat, zeigt etwa seine Auslegung von Ps 147,15 (»Er sendet seine rede zur erden, Sein wort leufft schnel«): »Hie zeiget er an die gülden kunst, durch welche Got alle solche wolthat
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ausrichtet und gibt, spricht: Es koste Gott nicht mehr denn ein wort, das heißt ›Fiat‹, Gene. 1. Denn er [be-]darff keiner essen [i. e. eisen], hamer, ambos noch zangen dazu, das er die riegel feste mache. Er darff keines stein noch kalck dazu, das er frieden schaffe. Er darff auch keiner frawen […], das er die kinder drinnen reich und glückselig mache. Also darff er auch keines pfluges noch ege dazu, das er uns settige mit weitzen, sondern er spricht zun riegeln: seid feste, So sind sie feste. Und zun burgern: Seid reiche und glückselig, so sind sie reich und glückselig. Und zu den grentzen: der friede sey bey euch, So ist friede da. Und zur erden: trage weitzen, So tregt sie weitzen« (WA 31,1; 445,1–13). Für Luther standen die Schöpfungsworte bleibend in Kraft (WA 42; 57,6–14). Am siebten Tag habe Gott zwar von der Erschaffung der Welt geruht, nicht aber von deren Erhaltung (WA 42; 57,15–20). Denn die Schöpfungsworte dauerten fort; mit ihnen erhalte und regiere Gott die ganze Kreatur (WA 42; 57,20–33). Unter Rekurs auf Gen 1,26 hat es Luther am eigenen Beispiel erläutert: Er selbst sei, nach dem Urteil der Welt, noch vor 60 Jahren ein Nichts gewesen. Gott hingegen habe ihn samt allem, was er schaffen wollte, bereits »in principio mundi« erschaffen, auch wenn das erst nach und nach ans Licht getreten sei. Das in Gen 1 dokumentierte Schöpfungswort Gottes gleiche einem ins Ziel fliegenden Pfeil, dessen Flug die ganze Weltzeit von Anfang bis Ende durchmesse (WA 42; 57,34– 58,2). Entsprechend konsequent hob Luther hervor, dass Gott die Welt keineswegs, wie Augustin meinte, »auff ein huy geschaffen [hat], sondern zeit und weil dazu genomen und damit umbgangen ist« (WA 24; 25,26 f). Sähen wir doch täglich vor Augen, wie immerdar etwas Neues erschaffen wird (WA 24; 61,21). Es sei das Sprechen Gottes, das Feuer, Hagel, Sturm und Wind heraufbringe (WA 31,1; 445,19–21), das die Erde grünen und den Weizen wachsen mache (WA 31,1; 445,37–446,3), das die Kirschen reifen und die Henne brüten lasse (WA 49; 433,19–39) und mit dem Gott »den winter so verwandeln und weg thun [kann] und den Sommer widderbringen, das man des Winters gar vergessen mus« (WA 31,1; 447,30 f). Auch unter den Menschen gedeihe das Leben nur durch das schöpferische Crescite (Gen 1,26) Gottes. Selbst wenn sich alle Menschen zusammenschlössen, brächten sie doch kein einziges Kind zustande. Vielmehr sei es allein das Wort Gottes, das alles schwängert und ins Leben ruft (WA 20; 427,26–30): »Omnes sumus verbo« (WA 45; 172,21). Aber wir sind nicht nur durch Gottes Wort, sondern leben auch fortwährend von ihm (WA 24; 322,6–323,2): als Gottes Gefäße und Instrumente, durch die er selbst alles wirkt (WA 5; 258,34–41). So wenig darum Gottes Wesen aufhöre, so wenig höre sein Sprechen auf (WA 24; 37,24 f). Müsse doch das schöpferische Wort Gottes um derer willen, die nach uns geboren werden und heranwachsen, beständig im Schwange bleiben. »Dar ümb so lang ein Creatur weret, so lang weret das wort auch, so lang die erde tregt odder vermag zu tragen, so gehet ymmer das sprechen on auffhören« (WA 24; 37,27–29).
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Es ist eine wenig beachtete, aber entscheidende Pointe der Schöpfungslehre Luthers, dass er immer wieder dazu angehalten hat, auf die verba creata zu hören und diese Quelle des Wortes Gottes nicht zu verschütten: »Stecket brillen auff die nasen und sehet Gottes wort an, was Gott in der ersten Schöpffung […] geredet hab« (WA 47; 315,12–14). Weil alle Dinge in der Welt als verba creata zu verstehen sind, kann Gott, der nur in seinem Wort zu erkennen ist, auch in der Schöpfung erkannt werden (WA 32; 327,12 f). Die Worthaftigkeit der Kreaturen macht sie gleichnisfähig, so dass man in ihrer sichtbaren Gestalt das verborgene Wort Gottes wahrnehmen kann. Wenn wir uns dieser grammatica divina öffneten, so würden wir in allem, was wir haben, die Güte Gottes erkennen und es nicht als Habe, sondern als Gabe wertschätzen (WA 31,1; 70,15–71,10). Darum mahnte Luther für alles, was einem eigen ist: »Las ein donum bleiben […], schreib drann: ›Dedit‹ « (WA 40,3; 250,1 f. 251,5). 2.4. Verbum scriptum
Die Bibel war für Luther das hinreichende, ja das vollständige Offenbarungswort Gottes. Insofern konnte er sogar zuspitzend sagen, die heilige Schrift sei Gott selbst (WA 50; 657,26 f) und darum für den Glauben nicht nur die oberste, sondern die einzige Autorität: sola scriptura. Mehrfach hat Luther in den Auseinandersetzungen mit altgläubigen Theologen seine Bereitschaft bekundet, aus der Bibel sich eines Besseren belehren zu lassen. Weil er sich der unbedingten Autorität der Bibel verpflichtet wusste, konnte er jedoch keinesfalls akzeptieren, dass man stattdessen die Autorität des Papstes, der Konzilien oder der kirchlichen Lehrtradition gegen ihn in Anschlag gebracht hat. Die aus sich selbst verständliche Schrift war für Luther ihr eigener Hermeneut: »sui ipsius interpres« (WA 7; 97,23 f). Wer andere Auslegungsinstanzen für notwendig erachte, bestreite damit nur die Suffizienz der in der Bibel niedergelegten göttlichen Offenbarung. Zur Frage der claritas scripturae hat sich Luther in De servo arbitrio (1525) grundsätzlich geäußert. Dass es in der Bibel auch dunkle Stellen gebe, räumte er ohne Weiteres ein. Doch sah er darin lediglich ein philologisches, nicht aber ein sachliches Problem. Habe man sich erst einmal der biblischen Sprachen kundig gemacht – eine für Luther nicht zu ermäßigende Voraussetzung verantwortlicher Exegese! (z. B. WA 13; 265,4) –, so lägen die res scripturae in vollkommener Klarheit vor Augen. Von dieser äußeren unterschied Luther die innere Klarheit der Schrift, die in der Erkenntnis des Herzens bestehe und darum nicht durch philologisch-exegetische Professionalität, sondern allein durch den Geist Gottes erlangt werden könne. Der Geist freilich, der dem Glauben die Klarheit der Bibel erschließe, sei weder aus den Traditionen der Kirche noch aus innerer Erleuchtung zu schöpfen, sondern allein aus der heiligen Schrift (Beutel 1991a, 246–250). Diese claritas scripturae interna sah Luther zugleich christologisch garantiert. Weil jedes Wort der Bibel seinen Skopus darin habe, auf Christus zu weisen (WA
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10,2; 73,15 f), sei alles, was die Bibel sagt, auf ihn als ihre sachliche Mitte hin zu beziehen (WA 18; 606,29). Tatsächlich hat Luther die ganze Bibel, auch das Alte Testament, in einer heute theologisch nicht mehr zu billigenden, aber im Horizont seines Wahrheitsbewusstseins durchaus stringenten Weise konsequent christologisch gedeutet. Die Erstarrung des sola scriptura zu einem Formalprinzip und der Irrweg einer mechanistisch verstandenen Inspirationslehre blieben ihm damit erspart. Mit seinem Prinzip der christologischen Interpretation hatte Luther zugleich das Kriterium benannt, von dem aus biblische Sachkritik nicht nur möglich, sondern auch nötig erschien. Indem er Christus als das Ziel, auf das jeder Text der Bibel hinauslaufe, identifizierte, wusste sich Luther mitunter zu einem erstaunlich freien Umgang mit den biblischen Texten autorisiert (Beutel 1991 a, 250–252). Überhaupt kulminierte die Worttheologie Luthers in seiner Christologie. Für ihn war der inkarnierte logos (Joh 1) Wort Gottes in Person. Der Sohn, von Ewigkeit her beim Vater gewesen, wisse nicht allein am besten, wie von Gott zu reden sei, sondern rede selber als Gott. Dass der biblische Christus oft genug in menschlicher Weise spricht – etwa indem er zu Gott betet –, galt Luther als ein Erweis seiner Menschlichkeit, die seine Göttlichkeit keinesfalls konterkariert. Der duplex modus loquendi Christi, demgemäß er einmal in menschlicher Ohnmacht, ein andermal in göttlicher Vollmacht redet, war für Luther die worttheologische Variante der von ihm uneingeschränkt rezipierten Zweinaturenlehre (Beutel 1991 a, 320–344. Vgl. Nicol 1984). In soteriologischer Hinsicht galt Luther die Schöpfermacht Gottes, die in den Worten Christi am Werk war, als konstitutiv: Was Christus verheißt, trägt die Kraft der Erfüllung immer schon in sich. Dergestalt komme »dir Christus durch sein wortt neher, den wen du deinen Sohn am halse tregst« (WA 33; 60,1–3). Indem das Wort Christi in unserem Innersten wirke, gebe es uns, seinem Wesen entsprechend, an allem teil, was es ist (WA 17,2; 234,3–19). Selbst wenn mir die Not der Sünde unerträglich wird, ist es ihm nur um ein Wort zu tun, und alle Last muss von mir weichen (WA 15; 724,7 f). Diese Vergebungserfahrung hatte für Luther insofern eschatologische Qualität, als das Wort, mit dem uns Christus im Gewissen tröstet, wesenseins ist mit dem, das am Ende »widder aus der erden bringen [wird] alles, was von Adam her komen und jhe auff erden geboren ist« (WA 37; 37,9 f). Dass das Wort Gottes, das doch seinem Wesen nach Ruf und Anrede ist, in der Bibel verschriftlicht wurde, hat Luther mit einem dreifachen Grund plausibilisiert. Der erste argumentierte historisch: Als die Lehre Jesu durch aufkeimende Irrlehren verfälscht zu werden drohte, musste sie, damit ihre ursprüngliche Reinheit bewahrt bliebe, literal fixiert werden. Ein systematisches Argument trat hinzu: Wir brauchen die Schrift, um das, was wir aus dem Munde des Predigers oder Bruders mit dem Anspruch, Wort Gottes zu sein, hören, als christlich zu verifizieren. Schließlich aber und allem zuvor sah Luther einen seelsorgerlichen Grund: Die Schriftlichkeit der Schrift war für ihn die Bedingung der Möglichkeit bibli-
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scher Meditation. Die meditative Versenkung in das Wort der Bibel stand für Luther, entgegen landläufigem Urteil, durchaus gleichberechtigt neben ihrer homiletischen Verlautbarung: Beide Male sprächen Matthäus, Johannes oder Paulus zu mir und aus diesen Gott selbst (Beutel 1992, 73–76. 86–88). 2.5. Verbum praedicatum
Das Vertrauen in die Wirkmächtigkeit des Predigtworts begründete Luther gern mit dem Rekurs auf das Schöpfungswort Gottes, mit dem es identisch sei (WA 10,3; 18,8–10). Wenn auch das Wort Gottes in unterschiedlicher Gestalt ergehe, sei es doch, wie Gott selbst, immer dasselbe (WA 40,2; 253,1). Diese Auffassung war für Luthers Predigtverständnis von ausschlaggebender Relevanz. Von Anfang an habe sich Gott durch das äußere, menschliche Wort vernehmbar gemacht. Bereits die Frage von Gen 4,9 »Kain, wo ist dein Bruder Abel?« habe Gott selbstverständlich nicht vom Himmel, sondern durch den Mund des Vaters an Abel gerichtet: »Deus hoc locutus est per Adam […]. Unser Herr Gott redet nicht wie die menschen, hat kein maul, sed loquitur per homines« (WA 48; 688,2–4). Dadurch wurde Adam der Prototyp des Predigers schlechthin. Ihm habe Gott als erstem sein verbum externum anvertraut. Immer wieder begegnet diese Erklärungsfigur in Luthers Auslegung der heiligen Schrift. Aufschlussreich ist seine Erklärung zu Gen 7,1 (Und der Herr sprach zu Noah: Geh in die Arche …). Da Methusalem, der Großvater Noahs, im Jahr der Flut gestorben sei, könne dieser Satz durchaus dessen testamentarisches Vermächtnis an den Enkel gewesen sein, das er ihm vielleicht sogar auf dem Sterbelager hinterlassen habe. Diese Deutung, meinte Luther, sei glaubwürdig und nützlich obendrein. Ihren homiletischen Nutzen sah er zumal darin, dass man mit diesem Exempel die Predigthörer dazu anhalten kann, das Wort Gottes nicht aus einer besonderen Offenbarung, sondern aus dem Mund der dazu bestellten Diener zu erwarten, nämlich der Eltern – so im Falle Noahs und Kains – sowie der Prediger und der Obrigkeit (WA 42; 320,3–321,2). Unüberbietbar sei dann aber das Gotteswort im Munde Jesu laut geworden. Die Hochzeit zu Kana, der Jüngling zu Nain, die Einsetzungsworte und viele weitere Beispiele zeigten, dass Jesus an der Kraft des Wortes Gottes partizipierte: Seine Worte bewirkten, was sie sagten, und es ward, was er sprach. Die Geschichte von der Auferweckung des Jünglings (Lk 7,11–17) wurde Luther zum Musterfall evangelischer Predigt schlechthin. So wenig sich der Knabe selbst aus dem Tod habe befreien können, so wenig könnten sich Vernunft und freier Wille aus der Verzweiflung erretten (WA 11; 183,8–14). Das Wort hingegen habe es vollbracht, und die Person Christi repräsentiere darum in dieser Geschichte das Predigtamt (WA 11; 183,16–21). Das kleine Wörtlein surge, mit dem Christus hier alles zum Guten wendet, war für Luther der Inbegriff dessen, dass das gesprochene äußere Wort von der Kraft des Wortes Gottes durchwaltet wird: »Quae natura verbi sit, hic videtis« (WA 11; 183,15).
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Nun gehört es zu den signifikantesten Zügen von Luthers Theologie, dass er für das Wort Gottes durchgehend zwei Erscheinungsweisen unterschieden hat: Es trage entweder Gebots- oder Verheißungscharakter, sei entweder Gesetz oder Evangelium. Gerade um der Reinheit des Evangeliums willen sei es notwendig, das eine fortwährend vom andern zu unterscheiden. Hingen doch nahezu die gesamte Bibel und alle theologische Einsicht an der rechten Erkenntnis von Gesetz und Evangelium (WA 7; 502,34 f). Luther zielte dabei nicht etwa auf ein schematisches Ordnungsprinzip. Vielmehr wollte er damit zu einem Unterscheidungsvermögen anleiten, mit dessen Hilfe das Evangelium in Reinheit erhalten und vor seiner jederzeit drohenden gesetzlichen Umdeutung bewahrt werden kann. Darum: »Wer das Evangelium recht vom Gesetz zu unterscheiden weiß, der danke Gott und darf wissen, dass er ein Theologe ist« (WA 40,1; 207,17 f). Gesetz und Evangelium bezeichneten für Luther die beiden Wirkweisen, in denen Gott am Menschen handelt. Das Gesetz fordert den Menschen, das Evangelium beschenkt ihn. Das Gesetz spricht den Menschen als Handelnden, das Evangelium hingegen auf Glauben hin an (WA 49; 652,5–10). Insofern lässt sich im strengen Sinn doch nur das Evangelium als Wort Gottes bezeichnen. Denn während das Evangelium, sofern es nur als solches gehört und also geglaubt wird, wirken kann, was es sagt, birgt das Gesetzeswort seine Erfüllung niemals schon in sich. Nur wenn das Verheißungswort, in dem sich Gott zusagt, fortwährend von dem Wort des Gesetzes, durch das er zur Buße ruft und die Welt regiert, unterschieden werde, lasse sich sagen, dass, »wo gott […] gibt, […] ßo gibt er eyttel gnaden wort« (WA 8; 13,1–3). Nichts sei darum der Christenheit nötiger als das Wort (WA 2; 114,11–16). Gebe es für sie doch kein Leben, wenn nicht in ihm (WA 47; 397,14). Dass Gott zu uns redet, nahm Luther als Indiz seiner Gnade – selbst dann noch, wenn er im Zorn redet, weil sich die Menschen, solange Gott zu ihnen spricht, noch bessern könnten aus seinem Wort (WA 43; 117,26–31). Umgekehrt könne es nichts Schrecklicheres geben, als dass Gott das Wort in sein Schweigen zurücknimmt. Selbst Pest und Türken, meinte Luther, wären noch der privatio verbi dei vorzuziehen (WAT 4; 487,42–488,3), denn ist die Predigt des Wortes Gottes erst einmal unterbunden, »so wird ein solcher jamer, trübsal und plage uber das Deudschland komen, das man sagen wird: hie hat Deudschland gestanden« (WA 46; 717,20–22). Im Predigtwort bewährte sich für Luther die wichtigste, im verbum creatum anschaulich gewordene Eigenschaft des Wortes Gottes: seine Omnipotenz. Das Wort Gottes sei allmächtig, weil es die Macht habe, selbst die größte Anfechtung zu besiegen (WA 40,3; 299,3). Wer darum das Wort in sich aufnehme, habe nicht weniger als das ewige Leben gewonnen (WA 34,2; 386,28–40): »Ein wort kans thun, da du ewig durch selig wirst, wenn unser herr Gott kompt und rurt dich 1 mal, tum eternum es genesen« (WA 41; 461,38–462,2).
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2.6. Homo audiens
Dass Gott zu den Menschen spricht, ist nun freilich kommunikativ, nicht deklaratorisch gemeint: als die intensivste Gestalt seiner Zuwendung. Dem Sprechen Gottes kann der Mensch nur dadurch entsprechen, dass er glaubt, was gesagt ist (WA 23; 267,20–22). Denn das Wort Gottes hat den Glauben, den es wirken will, zu seinem Ziel. Wollte der Mensch dem Wort, das er hört, den Glauben verweigern, so machte er Gott zu einem Lügner, verleugnete dessen Wahrheit und sündigte damit gegen das erste Gebot (WA 6; 88,31–89,4). Für Luther konnte es auf das Wort Gottes nur zwei Antworten geben: Nein oder Ja, Unglaube oder Glaube. Während der Unglaube dem Wort, das er hört, dessen göttliche Urheberschaft bestreitet, lässt es der Glaube sein, was es ist: verbum efficax (wirksames Wort). Allerdings werde die Kraft des Wortes Gottes auch an denen, die es verleugnen, zur Wirksamkeit kommen. Werde doch jeder, der die göttliche Natur des Wortes – dies also, dass jedes dictum zugleich ein factum ist – nicht gelten lässt, diesen unauflöslichen Zusammenhang in letzter Konsequenz an sich erfahren und erleiden müssen: dann nämlich, wenn Gott über ihn das Urteil der Verdammnis und des ewigen Todes spricht (WA 21; 357,35) und ihm damit »den Himel zu schleusst und ab spricht« (WA 46; 42,9). Dagegen kann das Wort Gottes an dem Glaubenden schon jetzt wirken, was es verspricht. Darin gibt es ihm teil an Gott selbst. In deutlichem Anklang an mystische Denk- und Sprachtradition betonte Luther immer wieder die conformitas, participatio oder sogar unio des Glaubens mit Gott. Besonders anschaulich ist es in einer Predigt des Jahres 1530 zum Ausdruck gebracht: »Ex verbo dei et corde tuo una res fiat« (WA 32; 151,19). Dieser Gedanke war für Luther keineswegs Ausdruck metaphysischer Spekulation, vielmehr die für die Gottesbeziehung des Menschen notwendige und zugleich hinreichende Gewähr dessen, dass ich auch im Sterben una res mit dem Wort bin und darum, wie das Wort selbst, in Ewigkeit nicht vergehen kann (WA 26; 160,24–34). Dasselbe Wort Gottes, dem ich hier glaube, wird mich am Jüngsten Tage aus dem Tod ins Leben rufen (WA 17,1; 223,33–224,24). Wobei Luther nicht ausschließen mochte, dass dieses letzte Wort Gottes dereinst auf Hebräisch ergeht (WA 36; 268,6 f). Althaus, Paul: Die Theologie Martin Luthers, 71994, 99–118. Beutel, Albrecht: In dem Anfang war das Wort. Studien zu Luthers Sprachverständnis (HUTh 27), 1991; Studienausgabe 2006. Ders.: Erfahrene Bibel. Verständnis und Gebrauch des verbum dei scriptum bei Luther (1992) (in: Ders.: Protestantische Konkretionen. Studien zur Kirchengeschichte, 1998, 66–103). Jansen, Reiner: Studien zu Luthers Trinitätslehre (BSHST 26), 1976. Markschies, Christoph: Luther und die altkirchliche Trinitätstheologie (in: Ders./Trowitzsch, Michael [Hg.]: Luther – zwischen den Zeiten, 1999, 37–85). Ringeleben, Joachim: Gott im Wort. Luthers Theologie von der Sprache her (HUTh 57), 2010. Albrecht Beutel
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3. Glaube und Rechtfertigung 3.1. Luthers Theologie als Rechtfertigungslehre?
Die Bewertung der Rechtfertigungslehre als »Mitte und Grenze« der Theologie Luthers (E. Wolf 1965 a) ist eine Einsicht, die sich im Gefolge der Theologie A. Ritschls und vor allem der Schule K. Holls erst im 20. Jahrhundert gefestigt hat. Diese Sichtweise geht einher mit der Beobachtung, dass es sich bei Luthers Theologie um eine neue, perspektivische Konstellation der Theologie handelt – und setzt also ein historisches Verständnis von Theologie überhaupt voraus. Eben diese Einschätzung der Rechtfertigungslehre hat dann freilich auch für Irritationen gesorgt bzw. nach neuen Deutungen der Rechtfertigungslehre verlangt. Denn einerseits konnte eingewendet werden, die Vorstellung von einer Rechtfertigung des Sünders durch Gott setze ein vergangenes Weltbild voraus, in dem mit einem Richtergott im Endgericht gerechnet werde. Daraus ergaben sich andererseits Versuche, den Vorgang der Rechtfertigung mit eher psychologischen Kategorien zu deuten, also etwa als leistungsunabhängiges Gefühl des Angenommen seins. Mit dieser Abflachung des Verständnisses von Rechtfertigung geriet deren mustergültige Bestimmungsfunktion aus dem Blick, so dass man in ökumenischen Dialogen vor allem zwischen lutherischen Kirchen und der römisch-katholischen Kirche den notwendig scheiternden Versuch unternehmen konnte, über den Sinn der Rechtfertigungslehre unabhängig von deren theologischer Systemstelle Einigkeit zu erzielen. Im Folgenden wird versucht, jenseits solcher Unterbestimmungen über die fundamentaltheologische Bedeutung des Rechtfertigungsgedankens in der Theologie Luthers Auskunft zu geben. Dazu ist freilich nicht nur eine genaue Bestimmung des Ortes der Rechtfertigungslehre nötig, sondern auch eine Erweiterung ihres Verständnisses, die den ursprünglichen Reichtum der Entfaltungen wahrnimmt. 3.2. Der Ort der Rechtfertigungslehre in der altgläubigen Theologie
Die Luther vorliegende Auffassung von Rechtfertigung sah diese als Teilmoment in einem umfassenden Heilprozess. In dem großen Rahmen der Heilsgeschichte, die von der Schöpfung bis zum Weltende reicht, hat Gott durch Christus gegen die Macht der Sünde die Kirche gegründet als diejenige Personengemeinschaft, in der Christus weiter lebt und wirkt. Sie ist nicht nur das Bollwerk gegen den Teufel als die personhafte Macht des Bösen, sie ist vor allem die Wegweisung in das Gott wohlgefällige, die Sünde überwindende und die menschliche Bestimmung erfüllende Leben. Diese Wegweisung vollzieht sich durch die Inkorporation der von der Sünde tödlich geschwächten Menschen in die Kirche durch die Taufe, sodann durch die Zurechtbringung und Stärkung der Gläubigen durch die Sakramente, vor allem die Buße und das Abendmahl. Die Zuwendung dieser Gnade Gottes geschieht durch die geweihten Priester als Beauftragte der Kirche. So bildet sich
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für jeden Gläubigen ein eigener Heilsweg in der Form einer individuellen, aber im Schoß der Kirche auch gehaltenen Lebensführung aus, in der das geschwächte natürliche Vermögen durch die übernatürliche Macht der Gnade zu einem gottgemäßen Wandel befähigt wird. Glaube ist die durch die Gnade eingegossene richtige Orientierung auf diesem Weg. Er bewährt sich durch die Liebe als die ausgeübte religiöse Sittlichkeit – und zwar so intensiv, dass er erst durch die Liebe seiner selbst inne und anderen anschaulich wird. Die Liebe formt den Glauben, der durch ihre wirkende Macht weiter an Zielsicherheit und Stabilität gewinnt. Nicht auszuschließende Rückfälle bei diesem geistlich-moralischen Fortschritt können und müssen durch erneute Teilgabe an Gottes Gnade durch die Sakramente behoben werden. Dieser gesamte Vorgang auf dem Weg ins ewige Leben heißt nun Rechtfertigung. Die Rechtfertigung gilt also keineswegs allein dem Glauben, sondern dem gesamten Leben im Glauben, der in der Liebe tätig ist. Es ist klar, dass danach die endgültige Rechtfertigung erst dann erfolgen kann, wenn die Möglichkeit eines Rückfalls oder Nachlassens nicht mehr gegeben ist, weil alles Handeln ein Ende hat, mithin am Ende der Welt im letzten Gericht. Bis dahin freilich kann sich kein Mensch dessen sicher sein, die Rechtfertigung auch tatsächlich zu erlangen. Auf dem Weg zum Endgericht kann ihn darum allein die Hoffnung auf eine übermäßige Güte Gottes, die nicht nur nach der im Glauben vollbrachten Lebensleistung urteilt, vor der Verzweiflung der Vergeblichkeit bewahren – und das geschichtliche Unterpfand dieser Hoffnung ist die Kirche als die weltliche Präsenzgestalt Christi. Dieses in sich sehr geschlossene Modell besitzt nun freilich drei eminente Schwachstellen. Die erste besteht in der auf dem geistlichen Lebensweg unüberwindlichen Ungewissheit des Urteils Gottes über das eigene Leben. Diese Schwäche lässt sich auch in die Frage fassen, wozu denn die gesamte religiöse Lebensgestaltung nötig sei, wenn am Ende doch alles von Gottes Gnade abhängt. Es entsteht ein eigentümliches Missverhältnis zwischen der im Glauben angenommenen Gnade Gottes als dem Motiv des religiösen Lebensweges und der endgültigen Gnade Gottes im letzten Gericht; dabei relativiert die im Endgericht nicht auszuschließende scharfe Gerechtigkeit Gottes, die eben exakt und unnachsichtig nach der Lebensleistung abrechnet, die Zuwendung der Gnade im Leben auf eine nachgerade tödliche Weise. Allein die Zugehörigkeit zur Kirche vermag vor der völligen Verzweiflung zu bewahren. Diese Schwäche geht nun aber zweitens darauf zurück, dass der Lebensweg zum Heil vorgestellt wird als eine gemeinsame Bewegung des Glaubens, der Gottes Gnade annimmt, und der in Handlungen sich ausdrückenden Liebe. Da, wo dieses Zusammenwirken von Glauben und Tun der Fall ist, stellt sich immer und unvermeidlich Ungewissheit über den Handlungserfolg ein, die zur Ungewissheit über den Wert des eigenen Lebens überhaupt wird. Auch hier tritt wieder die Kirche ein, die versichert, die möglichen Misserfolge kompensieren zu können. Aber gerade indem zum Ausgleich beider Schwächen dieses Modells jeweils die Kirche herangezogen werden muss, offenbart sich die dritte und nicht mehr behebbare Schwäche, nämlich dass sich
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das Gottesverhältnis überhaupt und insgesamt, nach Grundlegung, Vollzug und Vollendung, allein durch die Vermittlung der Kirche aufbaut. Es ist also a priori eine Zuständigkeit der Kirche dafür und eine Zuverlässigkeit der Kirche darin zu unterstellen – und zwar bevor das Gottesverhältnis überhaupt akut ist. 3.3. Der Grundgedanke in Luthers Rechtfertigungs-Verständnis
Luthers Verständnis von Rechtfertigung ist aus der Teilhabe an der kirchlichen Praxis sowie den darin gesammelten Erfahrungen erwachsen und nimmt gerade darum eine systematische Umstellung größten Ausmaßes vor. Die Umstellung bezieht sich auf die entschlossene Einsicht, die Gnade Gottes als eine einheitliche Kraft zu verstehen, die, indem sie wirkt, ganz und gar verändert. Die Rechtfertigung, die im altgläubigen Modell in eine den Glauben weckende und eine den religiösen Lebensweg vollendende Gnade Gottes auseinandergezogen war, wird eindeutig in den Akt der anfänglichen Gerechtsprechung konzentriert, die keiner Erweiterung oder Vertiefung mehr bedürftig ist. Gott begegnet dem Menschen als er selbst und vorbehaltlos so, dass er das Verhältnis des Menschen zu sich ein für allemal zurechtbringt. Die ins Endgericht verschobene endgültige und vollkommene Anerkennung des Menschen geschieht bereits in der Geschichte. Das kann natürlich nur dann der Fall sein, wenn der diese Gerechtsprechung hörende und gelten lassende Glaube selbst schon das gesamte Gottesverhältnis ausmacht. Alles leibliche Handeln, sowenig darauf verzichtet werden kann, solange wir leben, kommt nur als nachlaufende Darstellung der Wirklichkeit der Gnade, nicht als Realisierung derselben zur Anschauung. Damit scheidet die bleibende Quelle der Ungewissheit aus, nämlich die Unüberschaubarkeit unserer moralischen Handlungen, also die zweite Schwäche des vorgegebenen Vorstellungszusammenhangs. Darum hebt sich auch die dritte auf, nämlich die Unklarheit hinsichtlich der Vermittlung des Heils durch die Kirche. Nur dann, wenn Gott selbst die Anerkennung des Menschen vornimmt, ist die Einheit und Ganzheit seiner Gnade so gewiss wie die Ergänzung durch unser Handeln überflüssig und ausgeschlossen. Das bedeutet aber, dass die Kirche als der kommunikative Raum, in dem Gottes Wort laut wird, sich ganz auf das Geschehen und Ergehen dieses Wortes zu konzentrieren und sich ihm mit ganzer Hingabe unterzuordnen hat. Das gelingt nur, wenn sich die Kirche selbst als Geschöpf des göttlichen Wortes und nicht als Vermittlerin göttlicher Gnade verstehen lernt. Mit dieser systematischen Umstellung löst Luther exakt die manifesten Schwierigkeiten des altgläubigen Modells auf. Er ist dahin aber nicht durch äußerliche Beobachtung, sondern durch eigene Teilnahme am kirchlichen Leben gelangt – und zwar in der religiös elitären Form strengster mönchischer Selbstprüfung als dauernder Buße (k B. II. 2.). In der äußersten Konzentration auf den Heilsgewinn aus der kirchlich angebotenen Gnade ist er über die tiefste Verzweiflung angesichts der konstitutionell bleibenden Ungewissheit des Heils auf die biblische Bezeugung der unmittelbar rechtfertigenden Gnade Gottes gestoßen. In einem
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langwierigen Erkenntnisprozess hat er sich in fortwährender Beschäftigung mit der Bibel die Grundlagen, Ausgestaltungen und Schlussfolgerungen aus dieser Grundeinsicht klargemacht. Die Rechtfertigungslehre ist so auf alle Fälle der Entdeckungsort des neuen, vertieften Gottesverständnisses. Sie ist auch, über die gesamte theologische Entwicklung Luthers hinweg (die ja erheblich auch durch kirchliche, politische und gesellschaftliche Rahmenbedingungen und Veränderungen beeinflusst wurde), ein dauernder Gegenstand der Bearbeitung und Präzisierung gewesen. Sie ist aber, wenn man ihre Bedeutung richtig einschätzen will, stets im systematischen Zusammenhang der neuen Konstellation des Gottesverhältnisses des Menschen zu beurteilen. 3.4. Gottes Gerechtigkeit und menschlicher Glaube
In der berühmten Vorrede zum ersten Band der Wittenberger Ausgabe seiner lateinischen Schriften (1545) hat Luther seiner Erkenntnis vom richtigen Verständnis der Gerechtigkeit Gottes eine maßgebliche Bedeutung für seinen weiteren religiösen und theologischen Weg beigemessen. Dabei wird Gottes Gerechtigkeit als iustitia passiva charakterisiert – im Unterschied zur iustitia activa, der aktiven Gerechtigkeit, die wir durch eigenes, sich selbst zur konstanten ethischen Haltung ausformendes Handeln erwerben. Was iustitia passiva heißen soll, lässt sich nur aus dem Zusammenhang mit dem Glauben verstehen, ging Luther doch, wie er dort selbst sagt (WA 54; 185,12–20), diese Erkenntnis aus dem paulinischen Satz iustus ex fide vivit (Röm 1,17) auf. Nach herkömmlichem Verständnis würde der Satz besagen, dass der Glaube insofern zum (ewigen) Leben beiträgt, als er den Anfang eines geistlichen Lebens darstellt; ex fide vivere würde sich dann auf einen erheblichen Moment, aber nicht auf den ganzen Weg zum ewigen Leben beziehen. Fasst man jedoch iustus ex fide zusammen, dann fällt die Gerechtigkeit mit dem Glauben unmittelbar zusammen; sie ist im Glauben voll und uneingeschränkt da. Das aber kann nur geschehen, wenn die Gerechtigkeit ganz allein von Gott gegeben wird – ohne alle Mitwirkung unsererseits. Erst und genau dann aber werden Luthers Analogien zum Ausdruck »Gerechtigkeit Gottes« klar, wie Werk Gottes, Kraft Gottes, Weisheit Gottes usw., die alle als unmittelbares (Sich‑) Geben Gottes zu verstehen sind. Insofern gehört zum Verständnis der Gerechtigkeit Gottes das Verständnis des Glaubens notwendig hinzu; beide Begriffe erläutern sich nur mit- und durcheinander. Man kann sagen, dass alles das, was Luther zur Erörterung der Rechtfertigungslehre weiter beigetragen hat, dem Verständnis des Sinnes dieser Einheit von Gerechtigkeit und Glauben dient, die die Herstellung und unverbrüchliche Beständigkeit des Gottesverhältnisses des Menschen meint. Denn mit dem Aufblitzen dieser Einsicht ist die Durchsichtigkeit auf die Bedingungen ihrer Wahrheit noch nicht gegeben. Insofern verlangt die Erörterung der Rechtfertigungslehre nach weiteren Auslegungen, innerhalb derer sie als in der Tat maßgebliche Zuspitzung, nicht aber als das Ganze der Theologie Luthers erwiesen wird. Diese Voraussetzungen treten als Motive bereits recht
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früh und in unterschiedlicher Akzentuierung in Erscheinung, wie sich auf knappstem Raum in der Freiheitsschrift von 1520 zeigt (WA 7; 20–38), die insoweit als Ausgangspunkt des Lutherstudiums angesehen werden kann. Sie sollen hier in einem systematischen Gedankengang entfaltet werden, der nur in lockerer Weise einem historischen Leitfaden folgt. 3.5. Verheißung und Glaube
Der Gewinn der Einsicht in den wahren Charakter der iustitia Dei aus dem Zusammenklingen von Heilsinteresse und Bibelstudium bringt es mit sich, dass zunächst der Charakter des vergebenden Wortes als eines autoritativen Wortes Gottes unterstrichen wird, also einer von Menschen ausgesprochenen Absolution, in der Gott selbst redet. Hier ist es vor allem der Begriff promissio, der als Merkzeichen für das schlechthinnigen Glauben verdienende, weil gewißmachende Wort hervortritt (aus der Freiheitsschrift WA 7; 24,5–21). In den – auch sprachlich als solchen kenntlichen – promissiones verheißt Gott selbst seine Gnade. Dieser Gedanke durchzieht insbesondere die Schriften zur Frage des rechten Verständnisses der Sakramente in den Jahren 1519 und 1520. Weil in der promissio ausgesagt und festgestellt wird, dass allein Gott erfüllt, was er verheißt, ist jede Mitwirkung an der Erfüllung durch menschliches Handeln ausgeschlossen. Weil Gott sein vergebendes Wort selbst spricht, vermag jeder Christenmensch die Rolle des Priesters einzunehmen; dadurch begründet sich das Priestertum aller Gläubigen (WA 7; 28,6). Damit das Wort der Verheißung aber so vorbehaltlos gehört und geglaubt werden kann, muss die Verzweiflung über die eigene Unfähigkeit zum Guten vorausgehen. Sie erwächst aus dem Wort des Gesetzes, das vermittels der Forderung nach gerechtem Handeln auf die Selbstsucht oder Begierde des Herzens zielt. Die Einsicht in diese Verfasstheit des menschlichen Herzens wird aber nur dann gewonnen, wenn das Wort des Gesetzes selbst Wort Gottes ist (WA 7; 23,30). Bereits die Figur der promissio setzt der Sache nach das Gesetz voraus, auch wenn diese Präzisierung von Luther nicht an allen Orten vorgenommen wird. Allerdings stellt sich dann die Frage, wie es – über die formale Behauptung der Autorität des Wortes Gottes hinaus – zu verstehen ist, dass sich gerade in diesem Gegensatz von Gesetz und Verheißung bzw. Evangelium Gott selbst ausspricht. 3.6. Rechtfertigung und Stellvertretung
Das ist nur möglich, wenn Gott selbst in der Person Jesu Christi am Ort des von uns Menschen nicht zu bewältigenden Gegensatzes von Gesetz und Evangelium präsent ist. Das ist der Sinn des pro nobis, wie er von Luther vielleicht am schärfsten in der Auslegung von Gal 3,13 in der Große[n] Galatervorlesung von 1535 (1531) durchdacht wurde (WA 40,1; 432–452). »Non debemus […] fingere Christum innocentem et privatam personam […] quae pro se tantum sit sancta
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et iusta. […] Sed tunc vere habes eum, cum credis hanc purissimam et innocentissimam personam tibi donatam a Patre, ut esset Pontifex et Redemptor, imo Servus tuus« (Wir dürfen uns nicht Christus als eine unschuldige und für sich seiende Person vorstellen, die nur für sich selbst heilig und gerecht wäre. […] Sondern so hast du ihn wahrhaft, wenn du glaubst, daß diese reinste und unschuldigste Person dir vom Vater gegeben ist, damit sie Priester und Versöhner, ja allzumal dein Knecht sei) (WA 40,1; 448,17–23). Diese Stellvertretung Christi zeigt sich nun gerade darin, daß er unsere Sünden auf sich nimmt: »Christus in sese recepit omnia peccata nostra et pro illis in cruce mortuus est« (Christus hat alle unsere Sünde auf sich genommen und ist für sie am Kreuz gestorben) (WA 40,1; 437,25 f). Die Übernahme der Sünden kann nicht etwa wie eine äußerliche Ersatzleistung vorgestellt werden; sie ist nur dann schlüssig, wenn Christus die Person der Sünder selbst wird. Das ist sein ihm von Gott gegebener Auftrag: »In Summa, tu sis omnium hominum persona qui feceris omnium hominum peccata« (In Summa: Sei du die Person aller Menschen, der du die Sünde aller begangen hast) (WA 40,1; 433,23 f). Weil Christus aber unsere Person wird, indem er Gottes Auftrag erfüllt, also in Gottes Namen unsere Sünde trägt und dafür stirbt, überwindet er den Tod zugleich auch, der sich, bildlich geredet, die Zähne an ihm ausbeißt. »Ideo necesse est in hoc duello vinci et occidi Peccatum et Iustitiam vincere et vivere« (Darum ist es notwendig so, dass in diesem Streit die Sünde besiegt und getötet wird und die Gerechtigkeit siegt und lebt) (WA 40,1; 439,25 f). Sofern aber Christus unsere Person übernommen hat, in der und als die er Sünde und Tod besiegt, insofern macht dieser Sieg uns zu neuen Menschen: »Sic feliciter commutans nobiscum suscepit nostram peccatricem et donavit nobis suam innocentem et victricem personam« (Indem er glücklicherweise so mit uns tauschte, hat er unsere sündige Person hinweggenommen und uns seine unschuldige und sieghafte Person gegeben) (WA 40,1; 443,23 f). Dieses Motiv des Tausches, das zum Aufbau einer neuen Person dient, findet sich in poetischer Dichte bereits in der Figur des fröhlichen Wechsels von Bräutigam (Christus) und Braut (Seele oder Mensch) in der Freiheitsschrift (WA 7; 25,26– 26,12). Es zeigt zugleich die eindeutige und unverrückbare Sinnrichtung an, in der Luther das Kreuz Jesu Christi deutet: Es geht um eine fundamentale Neubestimmung des Menschen durch Gott, in der der negative Aspekt der Überwindung der Sünde durch den Tod Jesu nichts anderes als die genaue Art und Weise ist, wie der positive Sinn, nämlich die durch seine Person uns eröffnete Gottesgemeinschaft, realisiert wird. Vom locus iustificationis heißt es darum pünktlich im Zusammenhang der Auslegung von Gal 3,13: »In eo […] comprehenduntur omnes alii fidei nostrae articuli […]. Quare cum docemus homines per Christum iustificari, Christum esse victorem peccati, mortis et aeternae maledictionis, testificamur simul eum esse natura Deum« (In ihm sind alle anderen Sätze unseres Glaubens enthalten. Darum, wenn wir lehren, dass die Menschen durch Christus gerechtfertigt werden, dass Christus der Sieger über Sünde, Tod und ewige Verdammnis ist, so bezeugen wir zugleich, dass er von Natur aus Gott ist)
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(WA 40,1; 441,30–33). Das christologische Vorstellungsinventar besitzt demnach kein gegenständliches Eigenleben, sondern dient sehr genau der Erklärung der Möglichkeit und Wirklichkeit des reinen, unmittelbaren Gottesverhältnisses im Glauben als Grund des menschlichen Selbstseins. Oder: Der rechtfertigende Glaube ist die Gestalt der Präsenz Christi in uns als vermittelte Unmittelbarkeit Gottes selbst. 3.7. Rechtfertigung, Glaube und Gottesgemeinschaft
Gottes eigenes Wort hören heißt, dieses Geschehen des Sieges Christi über den Tod als die dem Gesetz gemäße Konsequenz der Sünde anerkennen. Genau und nur darin aber wird Gott selbst erkannt. Denn Gott so erkennen, bedeutet ihm die realen Attribute zuzuerkennen, die sein eigenes Leben ausmachen. Diese Anerkenntnis Gottes ist der Glaube. Davon spricht schon die Freiheitsschrift, wenn sie von den Worten Gottes sagt: »wer yhn [ihnen] mit eynem rechten glauben anhangt, des seele wirt mit yhm [sc. dem Wort Gottes] voreynigt, ßo gantz und gar, das alle tugent des worts auch eygen werden der seelen, Und alßo durch den glauben die seele von dem gottis wort heylig, gerecht, warhafftig, fridsam, frey, und aller gütte voll, eyn warhafftig kind gottis wirt« (WA 7; 24,23–27). Der Glaube ist Gottesgemeinschaft als von Gott gestiftete Teilnahme an Gottes Leben selbst: »das die seel dem gottlichen wort gleych wirt« (WA 7; 25,26 f). Diesen Zusammenhang von Glauben und Gott hat Luther in der Auslegung von Gal 3,6 in der Große[n] Galatervorlesung noch intensiviert (WA 40,1; 360,17– 35). Der Glaube gibt Gott die Ehre, heißt es dort wie schon in der Freiheitsschrift (WA 7; 25,5–25). »Tribuere autem Deo gloriam est credere ei, est reputare eum esse veracem, sapientem, iustum, misericordem, omnipotentem« (Gott die Ehre geben, heißt ihm glauben, heißt ihn ansehen als wahrhaftig, weise, gerecht, barmherzig und allmächtig) (WA 40,1; 360,21–23). Gott im Glauben so ehren und anerkennen, heißt ihn als Gott anerkennen (man beachte die Reihenfolge der Adjektive; sie ist eine knappe Umschreibung der Christusgeschichte – und der Glaube ist ihr Inbegriff!). Darum gilt von der fides: »consummat divinitatem et, ut ita dicam, creatrix est divinitatis, non in substantia Dei, sed in nobis. Nam sine fide amittit Deus in nobis suam gloriam, sapientiam, iustitiam, veritatem, misericordiam etc. In summa: nihil maiestatis et divinitatis habet Deus, ubi fides non est« (Der Glaube vollendet die Gottheit und ist, dass ich mich so ausdrücke, Schöpferin der Gottheit, nicht im Wesen Gottes, sondern in uns. Denn ohne Glauben verliert Gott in uns seine Ehre, Weisheit, Gerechtigkeit, Wahrheit, Barmherzigkeit usw. In summa: Es ist nichts mit der Majestät und Gottheit Gottes, wo der Glaube nicht ist) (WA 40,1; 360,24–28). Angesichts dieses Zusammenhangs hilft es nichts, die divinitas in substantia Dei der divinitas in nobis entgegensetzen zu wollen: Gott ist Gott eben dann und darin, dass er im Glauben gegenwärtig ist. Ohne diesen Endpunkt seines eigenen Seins ist er gar nicht Gott. Freilich ist die religionskritisch angehauchte Interpretation ebenso wenig schlüs-
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sig, nach der die Gottheit Gottes durch den Glauben erzeugt worden wäre: Glaube ist nur dann und darin Glaube, dass Gott sich in ihm vergegenwärtigt. »Ex his intelligi potest, quanta iustitia sit fides« – so schließt diese Auslegung zum Zusammenhang von Gott und Glauben ab (WA 40,1; 360,34). Das heißt: Die Rechtfertigungslehre ist ein Instrument, um zu verstehen, wie die von Gott ausgehende und die Sünde der Menschen in der Person Christi überwindende Bewegung, die Gott selbst ist, die Menschen in unmittelbare Gemeinschaft, ja Einigkeit mit Gott aufnimmt. Wenn man will, kann man in diesem Ziel ein mystisches Element feststellen – nur dass sein Zustandekommen von Gott selbst ausgeht und im Medium des Wortes geschieht, so dass auch am Ende der Glaube als Gottesverhältnis erhalten bleibt. Von einer Vergottung des Menschen als zentralem Muster des Heilsgeschehens zu sprechen, erscheint allerdings fraglich. Dieser Grundeinsicht dient der Vorstellungszusammenhang der Rechtfertigungslehre; nur aus dieser Perspektive wird sie vollständig und schlüssig. Als unmittelbar vorausgesetztes Begriffsschema ist sie jedoch unzureichend. Das zeigt sich darin, dass sich zwei klassische, oftmals und gegensätzlich diskutierte Konsequenzen der Rechtfertigungslehre erst von hier aus befriedigend verstehen lassen. 3.8. Rechtfertigung und Werke
Wenn der Glaube das eine und ganze Gottesverhältnis ist – wozu braucht es dann noch Werke, also unser menschliches Handeln? Diese Frage enthält unterschiedliche Einwände gegen die Rechtfertigungslehre in sich. Einmal die Unterstellung eines Heilsegoismus und sozialen Quietismus; weil der Glaube alles ist, könne oder brauche es gar kein Handeln mehr zu geben. Der Einwand lässt sich bis in die absurde Annahme steigern, durch diese Rechtfertigungslehre werde das menschliche Dasein überhaupt verfehlt, weil die Notwendigkeit leiblichen Handelns missachtet werde. Als gemäßigter, aber als nicht weniger vernichtend versteht sich der zweite Einwand. Wenn der Glaube alles ist, dann bleibt das äußere Handeln unbestimmt; der Glaube hat ja keine das Handeln normierende Funktion; dann aber verbreiten sich Amoralismus und Faulheit. Luther hat diesen Einwänden immer, aber mit unterschiedlichen Argumentationsstrategien widersprochen. Beliebt und oft gebraucht ist sein Bild von Baum und Frucht: Ein guter Baum bringt (von selbst, sachgemäß) gute Früchte. Es kommt also darauf an, den Baum – durch die Rechtfertigung – zu einem guten Baum zu machen, dann ergibt sich alles weitere von selbst (als ein Beispiel für viele: WA 7; 32,35–33,28). Dieses Bild ist darin zutreffend, dass es Glauben und Leben zusammenhält, darin aber unvollständig, dass es nur einen natürlichen Folgezusammenhang benennt, der gerade für zweckorientiertes, sinngebundenes menschliches Handeln nicht zutrifft. Der Sache näher kommt die einmal geäußerte Auffassung, im Glauben könnten neue Dekaloge erzeugt werden, also solche Gesetzmäßigkeiten für menschliches Verhalten und Handeln, die von geradezu göttlichem Wert sind, dass aber hier Gesetzgeber und dem Gesetz Unterworfene identisch sind (WA
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39,1; 47,25–28). Hier wird die Regelbedürftigkeit des Handelns genauer wahrgenommen, aber auch die Ursprünglichkeit dieser Regeln für das Handeln aus Glauben. Die Analogie zum Dekalog überzeugt aber erst dann, wenn verstanden wird, dass das menschliche Handeln in seiner für Sinn offenen Regelhaftigkeit, aber auch Bestimmungsbedürftigkeit sich daraus ergibt, dass der Mensch ganz und gar (als Wesen mit Leib und Seele) in die von Gott selbst ausgehende Bewegung seiner Gemeinschaft hineingenommen wird, so dass er seinerseits seine private Beschränktheit aufgibt und ein gemeinschaftliches Leben im Ausgleich der Bedürfnisse sucht – in einem solchen Ausgleich allerdings, der selbst Annehmen und Wiedergeben kennt und der sich darum von einem bloßen Müssen unterscheidet. Diese aus der Gottesgemeinschaft hervorgehende Bestimmung des Handelns leuchtet bereits am Ende der Freiheitsschrift hervor: »Sihe also mussen gottis gutter fliessen auß eynem yn den andern und gemeyn werden, das ein yglicher sich seynis nehsten also annehm, als were erß selb. Auß Christo flissen sie yn uns […]. Auß uns sollen sie fliessen yn die, so yr bedurffen« (WA 7; 37,32–36). Diese scheinbar (nur) ethische Konsequenz ist aber selbst von soteriologischer Dignität: »Auch so gar, das ich muß auch meynenn glaubenn und gerechtickeyt fur meynenn nehsten setzen fur gott, seyne sund zu decken, auff mich nehmen und nit anders thun, denn als weren sie meyn eygen, eben wie Christus uns allen than hatt« (WA 7; 37,37–38,2). Der Zusammenhang von Glaube und Liebe lässt sich nicht allein anthropologisch dartun, er wird erst aus der Gegenwart Gottes im Glauben schlüssig, der alles in allem wirkt. Der Streit zwischen einem deklaratorisch-forensischen und einem verwirklichend-effektiven Verständnis der Rechtfertigungslehre erübrigt sich damit. 3.9. Das Bleiben des Gesetzes
Wenn die Rechtfertigung, wie es sich nach dem Bild einer Gerichtsszene nahelegt, als Freispruch vorgestellt wird, entsteht unweigerlich die Frage, ob das Gesetz als überführendes Medium noch nötig bleibt. Hat es sich nicht in seiner Funktion des Gerichts, aus dem die Menschen gerettet werden, erfüllt? Und muss nicht, wenn es denn aus menschlicher Schwäche zu einer Minderung der Festigkeit des Glaubens oder gar zu einem Verschwinden desselben kommt, die Rückholung in die Gerechtigkeit durch Christus selbst erfolgen, so dass eine spezielle Buße für die Glaubenden gedacht werden muss? In der Tat ist das von einem juridischen oder psychologischen Standpunkt aus nahezu unvermeidlich. Dagegen behauptet Luther: »Est igitur legis doctrina in ecclesiis necessaria et omnino retinenda, sine qua Christus retineri non potest« (Also ist die Lehre vom Gesetz in den Kirchen notwendig und gänzlich zu halten, ohne die Christus nicht behalten werden kann) (WA 39,1; 357,29 f). Warum? Dafür lassen sich drei Argumente anführen. Wenn man, erstens, eine Buße konstruieren wollte, die aus dem Evangelium entspringt, dann wäre das Evangelium wie eine Forderung verstanden, der man zu entsprechen hätte. Gerechtigkeit des Menschen aber kommt nur im
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Sich-Geben Gottes in Christus zustande. Genau dieser Charakter würde negiert, wenn man vom Evangelium gesetzlichen Gebrauch machen wollte. Diese Reinheit des Evangeliums freilich, das ist das zweite Argument, setzt die Schärfe des Gesetzes voraus, nämlich die uns abgenötigte Einsicht in die prinzipielle Unfähigkeit zum Guten; erst diese Einsicht lehrt das Evangelium als reines Sich-Geben Gottes anzunehmen. Es gibt darum aus unserer menschlichen Perspektive keine Möglichkeit, über den Zwiespalt von Gesetz und Evangelium, Forderung und Zusage, hinauszukommen; die Möglichkeit einer Synthese ist uns verwehrt. Um diesen Zwiespalt unverrückbar zu markieren, muss das Gesetz erhalten bleiben. Das dritte Argument ist das schlüssigste. Es operiert mit dem Sinngefälle von Gottes Handeln: Gott sucht die unmittelbare Gemeinschaft mit dem Menschen gerade dadurch, dass er alle Vermittlungsversuche des Menschen negiert. Für Gott gibt es, im Unterschied zu uns selbst, so etwas wie eine Teleologie zwischen Gesetz und Evangelium. Diese dokumentiert sich darin, dass das Leiden Christi der Weg ist, auf dem die Gottesgemeinschaft mit uns entsteht. Und zwar nicht nur in einer historischen Vergangenheit, sondern ein für allemal. Luther selbst hat in den Disputationen gegen die Antinomer 1537–1540 (WA 39,1; 342–358) diese Sinnrichtung nicht immer eingehalten und unterschiedliche Argumentationsstrategien eingesetzt (freilich alle zu demselben Zweck, nämlich das Bleibenmüssen des Gesetzes darzutun). Darum muss seine Lehre vom Gesetz weiter geklärt werden. Im 20. Jahrhundert hat Karl Barth mit seinem Aufsatz Evangelium und Gesetz (1935) einen Beitrag dazu geleistet. 3.10. Die Objektivität der Rechtfertigung
Sowenig die Vorstellung von einem Gerichtsverfahren als solche den hinreichenden Grund für das Verständnis der Rechtfertigung abgeben kann, sowenig lässt sich freilich umgekehrt eine vorausgesetzte Objektivität der Versöhnung konstatieren, die erst im Nachhinein zugeeignet werden müsste und dann angeeignet werden könnte. Vielmehr setzt der Zusammenhang von Rechtfertigung und Glaube Reflexionen auf das zutreffende Verständnis der Objektivität Gottes selbst frei. Danach wird man sagen müssen, dass Gott seine Substantialität und Wahrheit, wie sich im Verhältnis von Wort Gottes und Glaube zeigt, gerade darin wahrt, dass er sich selbst hingibt und im Glauben nicht nur beim Menschen ist, sondern in ihm seine Gottheit zur Geltung bringt. Die in dieser Herausforderung enthaltenen Konsequenzen kann man bei Hegel auf den Begriff gebracht finden. Ihre Bedeutung für den gelebten Glauben und die kirchliche Verkündigung von der Rechtfertigung allein im Glauben ist noch nicht ausgeschöpft. Holl, Karl: Was hat die Rechtfertigungslehre dem modernen Menschen zu sagen? (in: Ders.: Gesammelte Aufsätze. Bd. 3: Der Westen, 1928, 558–567). Schwarz, Reinhard: Gott ist Mensch. Zur Lehre von der Person Christi bei den Ockhamisten und bei Luther (ZThK 63, 1966, 289–351). Schwarz, Reinhard: Martin Luther. Lehrer der christlichen Religion, 2015, 187–262: Die Be-
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freiung des Menschen vom Unheil zum Heil durch das Evangelium; aaO 263–324: Jesus Christus in seinem Dienst zum Heil der Menschen; aaO 325–389: Die Lebensmacht des christlichen Glaubens. Wolf, Ernst: Die Rechtfertigungslehre als Mitte und Grenze reformatorischer Theologie (in: Ders.: Peregrinatio II. Studien zur reformatorischen Theologie, zum Kirchenrecht und zur Sozialethik, 1965, 11–21). Dietrich Korsch
4. Christus Dass die Christologie im Zentrum der Theologie Luthers steht, bedarf keiner Belege; er selbst hat die Überwindung seiner Anfechtungen durch den richtenden Christus in den Klosterjahren darauf zurückgeführt, dass er von seinem Lehrer und Seelsorger Staupitz auf Christus, und zwar den gekreuzigten, hingewiesen worden sei (WAT 1; 59,7–60,12 u. ö.). Es ist von daher eine durchgehende Besonderheit der Lutherschen Christologie, dass sie auf die Soteriologie konzentriert ist in dem Sinne, dass alle traditionellen christologischen Aussagen soteriologisch plausibilisiert und aus dem Zentrum der Soteriologie reformuliert werden (4.1.). Dabei arbeitet Luther keine eindeutige Theorie darüber aus, in welcher Weise nun genau das Werk Christi das Heil des Menschen darstellt, sondern bedient sich einer Fülle von traditionellen Bildern und Metaphern, um diesen Zusammenhang zur Sprache zu bringen (4.2.). Seit seiner reformatorischen Entdeckung zieht sich allerdings wie ein roter Faden ein Interesse an der Zweinaturenlehre durch die Theologie Luthers, das bereits in De captivitate (1520) greifbar ist; die Auseinandersetzung mit Zwingli und Oekolampad um das Abendmahl zwang Luther, diesen Ansatz auszuarbeiten; in der Auseinandersetzung mit Schwenckfeld in der großen christologischen Disputation De divinitate et humanitate Christi von 1540, in der Disputation über Joh 1,14 von 1539, in den dogmengeschichtlichen Partien der Schrift Von den Konziliis und Kirchen (1539) und in einem Exkurs in der Schrift Von den letzten Worten Davids (1543) hat Luther die Grundlinien dieser eigentümlichen Christologie noch einmal vorgetragen (4.3.). Auch diese Zweinaturenlehre Luthers ist soteriologisch motiviert und konzen triert; und die soteriologische Pointe dieser Zweinaturenlehre bringen die theologia crucis der Frühzeit (bes. Heidelberger Disputation, 1518) und die spätere, damit verwandte Unterscheidung von deus absconditus und deus revelatus (De servo arbitrio, 1525; Genesisvorlesung, 1535–1545) zur Sprache (4.4.). 4.1. Soteriologische Konzentration
In dem ausführlichen Bekenntnis, das Luther seiner großen Abendmahlsschrift von 1528 anfügt, ordnet er die traditionellen christologischen Sätze und die entsprechenden Abgrenzungen nach dem Schema von Person (WA 26; 50,34–
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501,35) und Werk (WA 26; 502,18–34), das er etwa auch in den Schmalkaldische[n] Artikel[n] oder in den Katechismen einhält. Dabei sind aber die Aussagen zur Person einem Verlaufsschema der Menschwerdung und Geburt eingeordnet, das sich dann in den Aussagen über das Werk Christi im Weg ans Kreuz fortsetzt; auch inhaltlich sind die Ausführungen zur Person Christi auf das Erlösungswerk bezogen: Luther geht wie Anselm davon aus, dass in Jesus ein Unschuldiger die Strafe trägt bzw. die Schuld der Menschheit stellvertretend einlöst. Diese Sündlosigkeit des Menschen Jesus führt Luther in den Ausführungen zur Person Jesu auf die Geburt von der Jungfrau zurück (WA 26; 501,28 f); die Geburt von der Jungfrau ist auch darüber hinaus das die Lehre von der Person Christi strukturierende Prinzip, von dem zuvor schon die ›wahre Menschheit‹ abgeleitet wird (WA 26; 501,20–28), während im auf die Feststellung der Sündlosigkeit folgenden Satz die Einheit der Person aus Gottheit und Menschheit durch das Shibboleth der ›Gottesmutterschaft Mariens‹ bekräftigt wird (WA 26; 501,31–33). Die Ausführungen über die Person Christi zielen insgesamt darauf ab, festzuhalten, dass nicht nur der Mensch, sondern die Person aus Gott und Mensch und damit eben auch Gott das Subjekt des Heilswerkes ist (WA 26; 502,28). Dass nicht nur ein Mensch, sondern Gott am Kreuz gestorben ist, betrachtet Luther als die Grundvoraussetzung dafür, dass dieses Werk tatsächlich ein Heilswerk ist: Nur weil der Mensch Jesus von Nazareth eins ist mit Gott, ist er selbst nicht angewiesen auf Erlösung, sondern Grund der Erlösung für alle (WA 26; 319,33–40): Ein bloßer Mensch – wie heilig auch immer – bedürfte selbst eines Erlösers. Luther kann dabei das Motiv der stellvertretenden Genugtuung Jesu für die Sünden aller Menschen verbinden mit dem klassischen Bild der Gerichtswaage, in der das Gewicht des Menschen Jesus von Nazareth den Sünder darum in den Himmel hebt, weil auf der gegenseitigen Waagschale eben nicht nur ein Mensch, sondern Gott liegt; andererseits fährt der Gottmensch dadurch in die Tiefe des Todes, die ihn – weil er eins mit Gott ist – auch nicht halten kann (WA 50; 590,13–22). 4.2. Werk Christi und das Heil des Menschen
Dass die Person und das Werk Christi das Heilmittel gegen ›Tod, Hölle und Teufel‹ sind und in den Anfechtungen durch diese Mächte und durch das Gesetz Gottes, das dem Sünder den Tod androht, der einzig haltbare Trost, ist ein durchgehendes Motiv der Christologie Luthers; das genaue Verhältnis des Werkes Christi und seiner Heilswirkung ist dabei allerdings jeweils sehr unterschiedlich gedeutet und akzentuiert. Das Werk der Versöhnung am Kreuz erscheint in vielen Aussagen Luthers zunächst als ein Vollzug exklusiver Stellvertretung; Luther nimmt dabei in vielen Texten die Grundlinien der Anselmischen Satisfaktionslehre auf, nach der das Opfer Christi dem göttlichen Zorn genugtut: Christus in leidendem Gehorsam trägt die Strafe und erwirbt durch diesen Gehorsam ein Verdienst, das dann
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C. Werk
durch das Sakrament ausgeteilt und im Glauben angeeignet wird; in diesem Sinn kann Luther die klassische Unterscheidung von meritum und distributio meriti aufnehmen (WA 26; 294,23 ff) – allerdings ist bei Luther im Unterschied zu Anselm das Werk Christi durchgehend nicht ein Werk der menschlichen Natur, sondern zugleich auch der göttlichen: Gott vollzieht selbst das Werk und stirbt für die Sünde (s. u.). An anderen Stellen kann Luther die soteriologische Wirkung des Werkes Christi unter Aufnahme des altkirchlichen Kampfmotivs so beschreiben, dass die Sünde aller Menschen, in die Christus ›eingehüllt‹ ist, versucht, Christus wie alle übrigen Sünder zu verschlingen; dabei scheitert die Sünde und wird in diesem Kampf (duellum) mit der unbesiegbaren und ewigen Gerechtigkeit besiegt (WA 40,1; 439,21 ff). Im Kleine[n] Katechismus fasst er das Werk Christi unter die Metapher des ›Loskaufes‹ und verbindet das Heilswerk so mit der Zueignung an den geretteten Menschen, der folgeweise in den Besitz Christi übergeht. Damit erschließt Luther etwa im Kleine[n] und Große[n] Katechismus den auch ethischen Sinn der Soteriologie, denn das durch den ›Loskauf ‹ durch das Blut Christi begründete Eigentumsverhältnis zwischen Christus und dem erlösten Glaubenden schließt ein, dass der Glaubende ihm dient und unter ihm lebt in ewiger Gerechtigkeit, Unschuld und Seligkeit (WA 30,1; 366,3–7) – das ist eine eschatologische Aussage mit einem deutlichen ethischen Beiklang. Daneben stehen dann allerdings für Luther spezifische Aussagen, in denen er das Werk Christi unter das Vorzeichen der Selbstgabe Christi an den Glaubenden und der Aneignung Christi im Glauben so stellt, dass die Pointe des Werkes Christi darin liegt, dass es dem Glaubenden zugesprochen wird: Die Momente des Lebensgehorsams Christi werden dem Menschen im Evangelium als Urteil Gottes zugeeignet. Glaube bedeutet entsprechend, dass der Mensch dieses Urteil Gottes in das eigene Selbstverständnis übernimmt, indem er sich kontrafaktisch als Christus weiß und das Werk Christi als eigenes Werk aneignet; umgekehrt wird die Sünde des Menschen im Urteil Gottes Jesus von Nazareth zugeeignet und ›liegt auf ihm‹. In der berühmten Zuordnung der Betrachtung Christi als exemplum und sacramentum in der Passage der Kirchenpostille (1522) Eyn klein unterricht, was man ynn den Evangelijs suchen und gewartten soll führt er im Grunde genommen die Bezeichnung der Berichte vom Leben Jesu als ›Evangelium‹ darauf zurück, dass diese nicht (nur) die Funktion haben, das Leben Jesu etwa als Vorbild eines Christenlebens zu beschreiben, sondern zunächst und vor allem die Funktion, jedes Moment des Lebens Jesu dem Glaubenden als eigene Identität zuzusprechen, so dass, »wenn du yhm tzusihest odder hörist, das er ettwas thutt odder leydet, das du nit tzweyffellst, er selb Christus mit solchem thun und leyden sey deyn, darauff du dich nit weniger mügist vorlassen, denn alß hettistu es than, ia alß werist du der selbige Christus« (WA 10,1,1; 11,15–18. Vgl. WA 40,1; 285,24–286,17. 282,18–22). Das rechte Verständnis der Person Christi als Gabe an den Menschen (Christus pro me) realisiert die fides apprehensiva, der
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ergreifende Glaube, während der historische Glaube (fides historica acquisita) die Aneignung Christi verweigert (WA 39,1; 45,31–46,4). In der Fluchtlinie dieser Aussagen spricht Luther dann nicht nur von einer Übertragung und Zueignung von Eigenschaften Christi an den Glaubenden, sondern in einer an Tauler oder an die Brautmystik bei Bernhard von Clairvaux erinnernden Weise von einer Einheit des Glaubenden mit Christus, für die er nicht nur einmal das auch in der Mystik geläufige Bild der Ehe zwischen Christus und dem Glaubenden heranziehen und die er zugleich als Gegenwart Christi ›im Glauben‹ bezeichnen kann (WA 40,1; 229,24 f). Dabei ist deutlich, dass hier Christologie und Soteriologie in einer ganz eigentümlichen Weise miteinander verbunden sind, die am besten in der Zusammenschau der Auslegung von Gal 2,19 und Gal 3,13 im großen Galaterkommentar erkennbar wird; hier wird auf der einen Seite (zu Gal 3,13) Christus als derjenige gezeichnet, der die Sünden aller Menschen trägt und darüber als Fluch bezeichnet wird; und Luther bezeichnet dieses Tragen als eine Appropriation der Sünden der Menschheit in dem Sinne, dass die Sünden Christus eigen werden, ›als ob er sie getan habe‹ (WA 40,1; 435,17 im Kontext), und als eine Tat der göttlichen Liebe (WA 40,1; 436,17 ff), in der Gott Christus mit dem Sünder identifiziert (WA 40,1; 437,20 ff); in der Auslegung von Gal 2,19 liegt die Pointe wiederum darin, dass durch den Glauben der Mensch mit Christus identifiziert wird (WA 40,1; 285,24–286,21). Hier sind das Kreuz als Übernahme der Identität des Sünders durch Christus einerseits und der Ort des gegenwärtigen Glaubens als Zuspruch der Identität Christi an den Menschen und als Selbstbeurteilung gemäß diesem Zuspruch andererseits so miteinander verbunden, dass deutlich ist, dass sie nicht als zwei gegeneinander selbständige oder kausal verbundene Akte auseinanderfallen, sondern als zwei Pole eines Kommunikationsgeschehens verbunden sind, die in der Rede Luthers vom ›fröhlichen Wechsel oder Streit‹ gefasst sind. Dass die Sünde auf Christus liegt und vom Menschen die Identität Christi gilt, gehört in einen Prozess der Zueignung: zwischen dem Kreuz und dem gegenwärtigen Glauben vermittelt die promissio, die darauf zielt, dass der Mensch sich selbst als denjenigen weiß, dem das Leben Christi gehört und dessen Leben auf Christus liegt: Glaube und promissio gehören in der Tat untrennbar zusammen (vgl. WA 6; 513–520). Dieses Motiv – nach der berühmten Passage aus der Freiheitsschrift als ›fröhlicher Wechsel‹ bezeichnet (WA 7; 35,24–36,12, v. a. 35,34) – stellt das eigentliche Zentrum der Lutherschen Verbindung von Christologie und Soteriologie dar und ist selbst eine Analogiebildung zur christologischen Idiomenkommunikation, deren besondere Ausprägung bei Luther den soteriologischen Sinn seiner Lehre von der Person und dem Werk Christi erschließt.
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4.3. Zweinaturenlehre 4.3.1. Der Ausgangspunkt
In der Auseinandersetzung mit Luther über die Möglichkeit der Realpräsenz des Leibes und Blutes Christi unter Brot und Wein hatte Zwingli 1527 darauf verwiesen, dass die Menschheit Christi nach der Auffahrt in den Himmel dort, zur Rechten Gottes, sei und daher nicht auf den Altären beim Abendmahl gegenwärtig sein könne, denn – so das Argument – die Lokalisierung an einem Ort gehört zum Wesen eines Leibes (CR 92, 653.689 ff.788) (k B. III. 7.). Entsprechend sei dies der entscheidende Grund dafür, dass ein wörtliches Verständnis der Einsetzungsworte sich mit den Vorgaben des christlichen Glaubens nicht vertrage und diese Worte in übertragenem Sinn verstanden werden müssten. Luther hatte dagegen argumentiert, dass die Rechte Gottes kein certus locus in coelis sei, sondern die allgegenwärtige Macht und Wirksamkeit Gottes bezeichne (WA 23; 131,7–143,22. WA 26; 326,32); entsprechend zeuge gerade das Sitzen Christi zur Rechten Gottes für die Allgegenwart des Leibes Christi und damit für die Realpräsenz (WA 23; 143 f). Luther nimmt dann zum Ausweis der Möglichkeit einer solchen vielfältigen Gegenwart eines Leibes die altkirchliche Figur der Idiomenkommunikation in Anspruch, nach der aufgrund der Verbindung von Gottheit und Menschheit in der Person Christi alle Eigentümlichkeiten der Gottheit auch vom Menschen Jesus von Nazareth gelten und umgekehrt; entsprechend sei die Menschheit Christi – damit auch sein Leib und sein Blut – nach der unitio naturarum omnipräsent wie die göttliche Natur. Allerdings verselbständigt sich die Auseinandersetzung zwischen Zwingli und Luther gegen die Abendmahlslehre bzw. gegen die doch recht begrenzte Problematik der Omnipräsenz Christi und wird zu einer eigenständigen christologischen Debatte, in der es um die Frage geht, wie und unter welchen Prämissen die Aussagen der Schrift, in denen in der Rede über die Person Christi göttliche Prädikate vom Menschen (Lk 1,35) und Niedrigkeitsaussagen von Gott (1Kor 2,8) prädiziert werden, zu verstehen sind und wie darüber hinaus die Identifikationen Gottes und des Menschen (Gott ist Mensch et vice versa) zu deuten sind; beides sind klassische Themen der Christologie, die in der vorreformatorischen Theologie gemeinhin im Rahmen der Kommentierung von dist 6 p III des Sentenzenwerkes des Lombarden diskutiert wurden. Zwingli geht davon aus, dass solche Aussagen der Schrift – etwa 1Kor 2,8 – als uneigentliche Rede zu deuten und unter Wahrung der Immutabilität Gottes und der Endlichkeitsattribute des Menschen so zu übersetzen sind, dass die Prädikate auch gegen den Wortlaut der Schrift jeweils den Naturen zugewiesen werden, von denen sie gelten können; im Zentrum steht dabei seine Theorie der alloiosis (CR 92, 679–701). Für Luther bedeutet diese Verweigerung der Idiomenkommunikation eine (wenn auch möglicherweise unbeabsichtigte) Auflösung der Personeinheit; die Einheit der Person schließt nach Luther selbst die Kommunikation und Gemeinsamkeit der Idiomata beider Naturen in sich (WA 50; 586,23–591,21).
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4.3.2. Die These und ihr Problem
Luther betrachtet Wendungen der Schrift, in denen die Attribute des Menschen Jesus von Nazareth Gott zugeschrieben werden und umgekehrt (vgl. WA 39,2; 98,15–21. WA 50; 591,28–592,15), als die Art und Weise, in der der heilige Geist das Geheimnis der Person Christi erschließt: »kürtzlich lasse yhm ein einfeltiger Christ daran benügen: Das der heilige geist wol hat wissen uns zu leren, wie wir reden sollen und dürffen keiner troppeler [Lehrer von Tropoi]« (WA 26; 320,26– 28). Um der Einheit der Naturen in einer Person willen werden jeweils der Person die Attribute der die Person konstituierenden Naturen zugeschrieben: »die Gottheit kan nicht leiden noch sterben, Soltu antworten: Das ist war, Aber dennoch, weil Gottheit und menscheit ynn Christo eine person ist, so gibt die schrifft umb solcher personlicher einickeit willen auch der Gottheit alles, was der menscheit widderferet und widderumb, Und ist auch also ynn der warheit. Denn das mustu ia sagen: Die person (zeige Christum) leidet, stirbet, Nu ist die person warhafftiger Gott, drumb ists recht gered: Gottes son leidet, Denn ob wol das eine stück (das ich so rede) als die Gottheit, nicht leidet, so leidet dennoch die person, welche Gott ist, am andern stücke, als an der menscheit« (WA 26; 321,20–28). Der Satz gibt Probleme auf: Auf der einen Seite hält Luther am Impassibilitätspostulat (Leidensunfähigkeit Gottes) fest, und seine Aussagen scheinen darauf abzuzielen, dass es darauf ankommt, dass die mit der Gottheit Gottes oder der Menschheit des Menschen nicht vereinbaren Aussagen gerade nicht der Natur zugeschrieben werden, sondern der Person zukommen; die Formulierungen Luthers haben sich zunächst in dem Genus der Idiomenkommunikation gehalten, das seit Chemnitz das genus idiomaticum genannt wird und das die späteren Gnesiolutheraner als unzureichend betrachteten: das Leiden betrifft ausdrücklich nur die Menschheit (die Person leidet ›am andern stücke‹, an der Menschheit), wird damit nicht der Gottheit, wohl aber der Person, die nach ihrer anderen, vom Leiden nicht betroffenen Natur Gott ist, zugeeignet: es ist das Leiden des ›andern stücks‹, der Menschheit, die nun nicht (wie im später von einigen Lutheranern gelehrten genus tapeinoticum) der göttlichen Natur, sondern der Person, die mit einer göttlichen Natur ausgestattet und insofern Gott ist, zugeeignet wird. Luther weist allerdings ausdrücklich darauf hin, dass es sich nicht um eine nur verbale Attribution handelt, sondern dass der sprachlichen Zueignung (›geben‹) eine Bewegung in der bezeichneten Sache entspricht (›und ist ja in der Wahrheit so‹), so dass die Pointe der Ausführungen nicht in der säuberlichen Scheidung der Naturen liegt, sondern darin, festzuhalten, dass in Christus tatsächlich die göttliche Person Subjekt des Leidens ist, das dem Menschen Jesus von Nazareth widerfährt, und dass dieser Mensch die Welt regiert.
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4.3.3. Natur
Der Ursprung und der genaue Sinn, den die chalcedonensische Unterscheidung und Zuordnung von Natur und Person bei Luther gewinnt, ist noch nicht aufgeklärt; es ist grundsätzlich anzunehmen, dass Luther das Verhältnis in der Linie der Tradition von Johannes Duns Scotus und Gabriel Biel bestimmt, nach der der Begriff der Person nicht realiter von dem der Natur differiert, sondern lediglich das Faktum der inkommunikablen Subsistenz eines Exemplars rationaler Natur beschreibt, die dem Faktum entspricht, dass dieses Exemplar Subjekt aller Attribute, nicht aber selbst Attribut von etwas anderem ist (G. Biel, Collectorium III dist 1 q 1 a 1 not 1 und 2). Die Naturbegriffe bezeichnen für Luther eine Summe bestimmter Fähigkeiten oder Eigenschaften: humanitas ist der konkrete Mensch daraufhin, dass er wie alle Menschen zum Denken, Lachen, Sprechen und planvollen Verhalten befähigt und mit bestimmten Eigenschaften und einem bestimmten Geschick ausgestattet ist bzw. bestimmte Verhaltensweisen und Eigenschaften ihm unmöglich sind (WA 50; 587,22–28); Vergleichbares gilt von deitas (WA 50; 587,30 f). Die ›Natur‹ ist, als Quellort der von etwas prädizierbaren Eigenschaften, das Korrelat des Begriffs und seines semantischen Gehaltes. ›Person‹ bedeutet, dass ein Subjekt mit solchen Eigenschaften auftritt. Strenggenommen gelten die Eigenschaften und Vollzüge, die der Begriff eines Seienden bestimmter Art in sich schließt, nicht von der Natur, sondern vom Individuum aufgrund seiner Natur; entsprechend werden die Attribute, in denen der semantische Gehalt des Abstraktbegriffes besteht, vom Einzelexemplar (Person) prädiziert. Wenn ein beliebiger Mensch leidet, leidet nicht die (seine) Menschheit, sondern der Mensch. Dass er leiden kann, liegt an seiner Natur; ihr entsprechend wird das Einzelexemplar mit dem konkretiven oder individuierenden Allgemeinbegriff bezeichnet: Ein Mensch ist ein Exemplar der Art Mensch – und das heißt, dass er die Eigenschaften aufweist, die einem Menschen durchschnittlicherweise zukommen. Der Begriff der Natur gibt die Grenzen dessen, was bezüglich bestimmter Exemplare zu erwarten ist, an und zugleich die Regeln, nach denen über die Exemplare gesprochen wird. 4.3.4. Abstrakt und konkret – das christologische Verhältnis von Natur
und Person
Diese Unterscheidung von Abstraktbegriff und Konkretem ist nun für Luther christologisch entscheidend; er stellt sie programmatisch an den Anfang seiner großen christologischen Disputation von 1540 (De divinitate et humanitate Christi: WA 39,2; 93–96). Dabei hält er zunächst fest, dass ein konkreter Sachverhalt nie mit dem Begriff, der seine Natur benennt, identifizierend bezeichnet wird (z. B. ›Jesus von Nazareth ist die Menschheit [humanitas]‹). Diese Unterscheidung hat nicht die Pointe, Jesus von Nazareth von dem Kollektiv der Menschheit
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zu unterscheiden, sondern zielt auf die Differenzierung von abstraktem (Menschheit) und individuiertem (Mensch) Allgemeinbegriff ab; genauer schließt sie mehrere Pointen ein: Zunächst die, dass die Person nicht mit der Natur identifiziert werden darf – das würde in der Tat christologische Zuschreibungen darüber hinaus (die Bezeichnung als ›Gott‹) unmöglich machen: Nur etwas, was durch seine Natur zwar bestimmt, mit ihr aber nicht identisch ist, kann Prädikate, die in seinen Wesensbegriff nicht eingeschlossen sind, aufnehmen (vgl. WA 39,2; 93,7 f mit 99). Diese Unterscheidung von Natur und Person zielt aber nun christologisch nicht darauf, in Christus gleichsam drei Momente – Naturen und Person – gegenständlich zu unterscheiden und die Idiomenkommunikation nach dem Modell der Übertragung gegenständlich verstandener Eigenschaften von gegenständlich verstandenen Naturen an eine gegenständlich verstandene Person zu etablieren; es geht vielmehr darum, die individuelle Person als die Subsistenz der Naturen und damit als den Ort zu beschreiben, an dem die Eigentümlichkeiten, die die Naturen aus sich heraussetzen, verwirklicht sind. Entsprechend ist die Person (und nicht etwa die Naturen) das Attributionssubjekt, von dem der semantische Gehalt des jeweiligen Naturbegriffes prädiziert wird bzw. von dem nach den Regeln, die im Naturbegriff angelegt sind, gesprochen wird. Luthers Redeweise, nach der es einen ›abstrakten‹ Begriff der Natur gibt, hebt darauf ab, dass von der Natur zum einen im Blick auf ihre Realisation in einer konkreten Person die Rede sein kann, zum anderen abgesehen davon; humanitas ist der Begriff für die Natur ohne Rekurs auf ein konkretes Exemplar und damit auch ohne Rekurs auf die Einheit von Gott und Mensch in Christus, homo hingegen die Bezugnahme auf die Natur in ihrer Konkretion und entsprechend – christologisch – die Bezugnahme auf die mit Gott verbundene Menschheit Christi. Der abstrakte Begriff der Natur sieht damit immer von dem Faktum der Realisation in einem konkreten Exemplar ab, indem er für alle Exemplare gültige Regeln vorgibt; christologisch bedeutet das, dass der abstrakte Begriff der Naturen immer ein Begriff ist, der die Wahrheit Gottes und des Menschen abgesehen vom Geschehen der Inkarnation zur Sprache bringt. ›Abstrakt‹ hat dabei den Sinn von ›abgesondert‹ (von der Einheit mit der Menschheit): »Christus ist Gott und mensch in einer Person, darumb, was von jm gered wird als menschen, das mus man von Gott auch reden, Nemlich, Christus ist gestorben, Und Christus ist Gott, drumb ist Gott gestorben, Nicht der abgesonderte Gott, sondern der vereinigte Gott mit der Menscheit, Denn vom abgesonderten Gott ists beides falsch, Nemlich, das Christus Gott sey, und Gott gestorben sey, Beides ists falsch, denn da ist Gott nicht mensch« (WA 50; 589,22–28). Die Naturbegriffe bezeichnen also einerseits gleichsam den Ausgangspunkt des Inkarnationsgeschehens und die Wahrheit Gottes und des Menschen abgesehen von der Christologie. Und hier gilt in der Tat – das Zitat aus der Abendmahlsschrift von 1528 aufnehmend: »die Gottheit kann nicht leiden noch sterben«, wie entsprechend von der Menschheit gilt, dass sie nicht allgegenwärtig sein kann.
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Der Begriff der Natur und das jeweils mit humanitas und deitas Bezeichnete sind im Rahmen der Christologie nicht ein gegenständliches Moment in Christus, sondern Hinweis auf die Ursprünglichkeit und (bleibende) Wahrheit des Unterschiedes von Gott und Mensch. 4.3.5. Die Neubestimmung Gottes und des Menschen
Das Individuum und in diesem Sinne die Person ist der Ort der Realisation der Eigenschaften, Fähigkeiten und entsprechenden Prädikate, die der Naturbegriff in sich schließt, wobei durchschnittlicherweise gilt, dass einem individuellen Exemplar auch nur die Prädikate eines Naturbegriffes zukommen. Das christologische Bekenntnis, dass in der Person Jesu Christi Gott Mensch geworden ist, bedeutet nun aber: Das individuelle Exemplar Jesus Christus schließt den individuierenden Allgemeinbegriff und alle Eigentümlichkeiten und Möglichkeiten, die der abstrakte Naturbegriff umfasst, so in sich, dass es der Ort der Verwirklichung der Eigenschaften und das Attributionssubjekt aller dieser Begriffe ist. Das bedeutet nun, dass mit Bezug auf dieses individuelle Exemplar Aussagen möglich werden, die durchschnittlicherweise – das heißt: im Bereich der ›abstrakten‹ Naturen – ausgeschlossen sind: der ›konkrete‹ Gott und der ›konkrete‹ Mensch schließen die Eigentümlichkeiten einer anderen Natur ein, weil und sofern die Person zugleich der Ort der Verwirklichung derselben ist – genau das meint in diesem Zusammenhang im Unterschied zu ›abstrakt‹ der Begriff ›konkret‹. Das bedeutet, dass die Person Jesu Christi nicht nach den Regeln, die der abstrakte Begriff der Natur für die Verwendung des Begriffes ›Gott‹ und ›Mensch‹ vorgibt, bezeichnet werden darf, sondern dass der Begriff ›Gott‹ und der Begriff ›Mensch‹ einen erweiterten semantischen Gehalt gewinnen, nachdem sie über die semantischen Gehalte des jeweiligen Naturbegriffes hinaus die einer weiteren Natur und den Regelzusammenhang der Rede über die Exemplare dieser Natur einschließen (v. a. WA 39,2; 101,4–102,6). Die Unterscheidung von Natur und Person und die Feststellung, dass unbeschadet der im Naturbegriff aufbewahrten Regeln für die Rede von Gott und Mensch im Allgemeinen (die Gottheit kann nicht sterben) im Blick auf die Person neue und unerhörte Aussagen bezüglich der konkreten Naturen möglich sind, hebt also in der Tat nicht darauf ab, dass in der Person Christi gleichsam zwei Naturen und eine Person vorhanden sind, sondern darauf, dass in der Person Christi etwas ursprünglich und sonst in allen anderen Exemplaren Getrenntes sich verbunden hat. Das chalkedonensische ›unvermischt und unvereint‹ wird zum Indiz für die bleibende Wahrheit der allgemein und in abstracto von Gottheit und Menschheit geltenden Sprachregeln, das ›ungetrennt und ununterschieden‹ zur Ansage der kontrollierten Vereinigung beider Regelkomplexe in der konkreten Person Jesu Christi. Das bedeutet eben, dass – wie Luther in der Latomusschrift sagt – anders von der humanitas und der deitas außerhalb der Person Christi und in der Person Christi zu sprechen ist.
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4.3.6. Nova lingua spiritus sancti
Dies ist nach Luther der Hintergrund der ungewöhnlichen Aussagen der Schrift und der Kirchenväter, eine ›neue Sprache‹ des heiligen Geistes, die es erlaubt festzuhalten, dass Gott nicht sterben kann, dass er aber in seiner konkreten Verbindung in Jesus von Nazareth die Sterblichkeit des Menschen und den Tod Jesu von Nazareth in sich so aufgenommen hat, dass sie von Gott prädiziert werden können und in dieser Person von Gott gelten in dem Sinne, dass die Menschheit und ihre Attribute hier und nur hier von Gott angeeignet werden. Gott und Mensch werden gleichsam durch das je andere und in der Einheit mit dem je anderen mehr und anderes, als sie in abstracto sind. Der Begriff Gott und entsprechend der Begriff Mensch wird, so Luther, durch diesen semantischen Zugewinn ein ›neuer‹ Begriff – nicht in dem Sinne, dass er regellos äquivok wird, sondern so, dass er über den üblichen semantischen Gehalt hinaus die Sinnmomente eines anderen Begriffes und Sachverhaltes in sich aufnimmt. Luther analogisiert in der Latomusschrift diese Unterscheidung einer ›neuen‹ von einer ›alten‹ Sprache und eines ›neuen‹ Begriffs vom ›alten‹ Begriff ausdrücklich der Unterscheidung des ›neuen‹ vom ›alten‹ Menschen (WA 8; 126,15–32). Diese Regeln der ›neuen Sprache‹ kann Luther mit einem nicht ganz glücklichen Griff als ›synekdochische‹ Rede bezeichnen (WA 26; 437,30–445,17, hier 444,1–20), die seiner Meinung nach dann vorliegt, wenn Christus mit den individuierenden Begriffen der jeweiligen Natur bezeichnet wird: Die Wendung ›Christus ist Gott‹ oder ›Christus ist ein Mensch‹ schließt jeweils die Attribute der anderen Natur nicht aus, sondern ein und bezeichnet somit die Person parte pro toto – missverständlich, wenn man die Naturen und ihre Attribute als ›Teil‹ der Person versteht (vgl. WA 26; 321,19–322,22). Nach der positiven Aussageabsicht gedeutet besagt die Anwendung des Begriffes Synekdoche eine Erweiterung des semantischen Gehaltes des Begriffes Gott ebenso wie des Begriffes Mensch mit der Folge, dass die Begriffe mehrdeutig werden: Auf der einen Seite gilt der durchschnittliche Gebrauch des Begriffes, nach dem der Begriff Gott beispielsweise das Leiden und der Begriff Mensch die Herrschaft über alle Kreatur und die Allgegenwart ausschließen. In diesem Sinne ist es auch unmöglich, beide Begriffe jeweils voneinander zu prädizieren (›Gott ist Mensch‹). Dieser Sinn des Begriffes ist auch christologisch in der Unterscheidung der Naturen in Christus aufbewahrt, die eben festhält, dass nicht einfachhin Gott sterblich und der Mensch allgegenwärtig ist, sondern dass Gott durch die Menschheit leidensfähig und der Mensch kraft der Gottheit allmächtig ist (wie in der Analogie zur Rechtfertigung der Gerechtfertigte immer und bleibend nur durch Christus, mit dem er im Glauben verbunden ist, gerecht ist). Auf der anderen Seite dienen die Begriffe zur Bezeichnung der Person Jesu Christi, bezeichnen damit eine subsistente Natur, die jeweils ihr Gegenteil einschließt, mit dem sie zur Einheit verbunden ist, so dass nun der Begriff Gott den semantischen Gehalt des Begriffes Mensch mitbezeichnet und umgekehrt; das hat zur Folge, dass beide
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Begriffe, die den jeweils anderen und seinen semantischen Gehalt mit einschließen, auch voneinander prädiziert werden können; damit ist die Aussage möglich, dass Gott Mensch und dieser Mensch Gott ist. Beide Begriffe bezeichnen dann gleichsam Aspekte der einen Person unter stillschweigendem Einschluss des je anderen Aspektes (WA 26; 324,20–23). 4.4. Der soteriologische Gehalt der Zweinaturenlehre: Gott im Kreuz
Luthers Interesse an den durch die Idiomenkommunikation ermöglichten Aussagen hat seinen eindeutigen Schwerpunkt auf der Übertragung von Niedrigkeitsaussagen auf Gott (etwa WA 50; 598,21 ff und 591,28–592,15). Das erschließt noch einmal den soteriologischen Gehalt dieser Christologie; denn diese Unterscheidung der Naturen und die Zuordnung in der Einheit der Person bilden die Unterscheidung von deus absconditus und deus revelatus ab: »Und wo du kanst sagen: Hie ist Gott, da mustu auch sagen: So ist Christus der mensch auch da. Und wo du einen ort zeigen wurdest, da Gott were und nicht der mensch, so were die person schön zurtrennet, weil ich als denn mit der warheit kund sagen: Hie ist Gott, der nicht mensch ist und noch nie mensch ward, Mir aber des Gottes nicht […]. Und es solt mir ein schlechter Christus bleiben, der nicht mehr denn an einem eintzelen ort zu gleich eine Göttliche und menschliche person were, Und an allen andern orten muste er allein ein blosser abgesonderter Gott und Gottliche person sein on menscheit« (WA 26; 332,31–333,6). Die Ablehnung eines mit der Menschheit nicht verbundenen Gottes hebt darauf ab, dass der Umgang mit der abstrakten Gottheit, die nicht in der beschriebenen Weise christologisch definiert ist, heillos ist – eine deutliche Anspielung auf die Unterscheidung des offenbaren Gottes, der sich in Christus zum Heil des Menschen bestimmt hat, von dem verborgenen Gott, der sich nicht durch sein Wort begrenzt hat, sondern sich die Freiheit vorbehalten hat über alles (WA 18; 685,23 f). In ganz entsprechender Weise hatte Luther zur Zeit der Heidelberger Disputation (WA 1; 19–36) eine auf den ›Gott im Kreuz‹ gegründete Theologie, die den Ort des Leidens und der Anfechtung kontrafaktisch als den Ort Gottes identifiziert, von der theologia gloriae unterschieden, die abgesehen von Christus und an der Niedrigkeitsgestalt vorbei Gott erkennen zu können glaubt. Das weist nun auf eine entscheidende soteriologische Pointe der Zweinaturenlehre hin: Sie ist eigentlich keine Theorie eines bestimmten gottmenschlichen Exemplars, und es ist kein Zufall und auch nicht nur der scholastischen Tradition verdankt, dass Luther praktisch ausschließlich an den sprachlichen Aspekten und den Redeweisen interessiert ist, die sich mit der Neubestimmung Gottes und des Menschen ergeben: Diese Neubestimmungen haben als Erschließungen dessen, was Gott und Mensch nun sind, selbst den Charakter des Zuspruchs; sie sind die Ansage und Zusage eines neubestimmten Gottes, der des Menschen Leiden und Schuld auf sich nimmt, in der Situation der Erfahrung des ›abgesonderten‹ Gottes; das heißt zugleich, dass die Unterschiedenheit zweier Naturen nicht seit der
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Geburt Christi erledigt und die Allgegenwart des Menschen mit dem Logos nicht eine seitdem objektiv verwirklichte Gegebenheit ist, sondern dass in der christologisch festgehaltenen Unterschiedenheit der Naturen die Wirklichkeitserfahrung des Menschen aufbewahrt ist, die in der Verbindung zu einer Person als überwunden ausgesagt wird: ›Gott ist im Fleische‹. Baur, Jörg: Luther und seine klassischen Erben. Theologische Aufsätze und Forschungen, 1993. Lienhard, Marc: Martin Luthers christologisches Zeugnis. Entwicklung und Grundzüge seiner Christologie, 1980. Schwarz, Reinhard: Gott ist Mensch. Zur Lehre von der Person Christi bei den Ockhamisten und bei Luther (ZThK 63, 1966, 289–351). Wolff, Jens: Metapher und Kreuz. Studien zu Luthers Christusbild (HUTh 47), 2005. Notger Slenczka
5. Mensch 5.1. Die sapientialen Möglichkeitsbedingungen aller menschlichen Selbstbestimmung
Luther beginnt die wichtigste zusammenhängende Darlegung seines Menschenverständnisses – die Disputationsthesen De homine von 1536 (WA 39,1; 175–177. Vgl. die maßgebliche, intensiv kommentierte Ausgabe von Ebeling 1977/1982/ 1989) – mit der Auskunft über die Bedingung der Möglichkeit dafür, dass er überhaupt etwas vom Menschen wissen und sagen kann, und über die Perspektivität seiner (und jeder möglichen) Sicht auf das Menschsein. Möglich sind solche Einsichten und Aussagen nur aufgrund von Anteilhabe an der »sapientialen« Grundverfassung des Menschseins (vgl. Ebeling 1989, 64– 75), d. h. an der Präsenz, der Erschlossenheit, des leibhaften Menschseins-in-derWelt für sich selber, manifest im »Fühlen« (WA 10,2; 22 f. WA 17,2; 203 f) und im Geschmack (sapere) (vgl. WA 40,3; 327,12–329,4) des eigenen Personseins als solchem, dessen Ort von Luther als »Herz« (WA 2; 576,24 ff. Metzger 1964, 86 f) bzw. »Gewissen« (WA 5; 525,11 ff. Joest 1967, 212 ff) zur Sprache gebracht wird. Diese Möglichkeitsbedingung – das Präsentsein des leibhaften, also auch immer individuell-sozialen In-der-Welt-Seins des Menschen – schließt ein, dass menschliche Selbsterkenntnis unvermeidlich perspektivisch ist, nämlich gebunden an je eine geschichtliche Bestimmtheit der Welt und an die Weise, in der das Individuum an ihr teilhat. Die für Luthers Sicht maßgebliche Bestimmtheit der Welt ist dadurch ausgezeichnet, dass in ihr das Evangelium ergangen ist, und Luthers persönliche Teilhabe an dieser Situation ist die eines Christen, also einer Person, welcher die Wahrheit des Evangeliums bezwingend evident geworden ist (WA 10,2; 90. Herms 1987, bes. 53–64), dann näherhin des Theologen, der in der Christenheit mit dem besonderen Amt betraut ist (WAB 1; 110–112. WA 6; 480 f. WAB 2; 175–178), das gegenwärtige christliche Zeugnis (die viva vox evangelii im
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Munde aller Christen und der Kirche [WA 10,1,1; 626,15. WA 12; 259,8 ff]) von der die Gewissheit des christlichen Glaubens schaffenden Selbstvergegenwärtigung des Schöpfers in seinem inkarnierten Sohn durch den heiligen Geist (vgl. Herms 2004) in Übereinstimmung mit dem biblischen Kanon dieses Zeugnisses zu halten (WA 18; 653 f. Goertz 1997). Was Luther vom Menschsein weiß und zu sagen hat, weiß er und sagt er aus dem Horizont derjenigen sapientia des durch die Offenbarung geschaffenen Glaubens heraus, deren nachdenkende Entfaltung der Theologie aufgetragen ist (WA 39,1; 176,5 f). Mit der Benennung dieser Möglichkeitsbedingung seiner Sicht und Beschreibung des Menschseins bringt Luther etwas zur Sprache, was für ihn persönlich gilt, nämlich dass er aus dem Horizont der ihm im Laufe seines Lebens und Arbeitens persönlich zuteil gewordenen Präsenz des Menschlichen spricht; aber darüber hinaus auch etwas, was für alle Christen gilt, nämlich dass er das Menschsein aus demjenigen Horizont sieht und zur Sprache bringt, der für jeden von ihnen eröffnet ist durch ihr Ergriffensein von der Selbstvergegenwärtigung des Schöpfers im inkarnierten Sohn durch den heiligen Geist; und schließlich darüber hinaus auch etwas, was ausnahmslos für alle Menschen gilt, nämlich dass sie das Ganze ihres eigenen Könnens – und darunter auch die Fähigkeit, sich selbst zu erkennen und zur Sprache zu bringen – nur vermöge ihrer schlechthin vorgängigen Erschlossenheit, Präsenz für sie selbst besitzen, also auch nur auf dem Boden des durch diese Selbsterschlossenheit jeweils begründeten Gefühls bzw. Geschmacks (sapientia) für das Ganze ihres Daseins, das ihnen unmittelbar präsent ist als der Inbegriff aller eigenen Möglichkeiten, über die sie verfügen. Nicht nur für Luther, nicht nur für die Christen, sondern für jedermann gilt, dass er nur auf dem Boden einer ihm vorgängig gewährten sapientia Aussagen über den Menschen machen kann. Die Besinnung auf den vorgängigen Grund der Möglichkeit einer christlichen Selbstbeschreibung (und Selbstbestimmung) des Menschen bekommt zugleich in den Blick, dass schlechthin jede Selbstbeschreibung und Selbstbestimmung von Menschen abhängig ist von einer solchen ihr vorangehenden Bedingung ihrer Möglichkeit. Indem sie damit jedoch die Gleichheit ihrer Situation mit derjenigen aller Menschen in den Blick bekommt (eben die Abhängigkeit aller Möglichkeiten der menschlichen Selbstbestimmung von ihrem sapientialen Fundament), bekommt sie zugleich auch den Unterschied und die Eigenart des sapientialen Möglichkeitsgrundes christlicher Aussagen über den Menschen gegenüber dem sapientialen Möglichkeitsgrund allen sonstigen Redens über den Menschen zu Gesicht: eben die Tatsache, dass ihr eine einzigartige Vertiefung der menschlichen Selbsterschlossenheit zugrunde liegt, nämlich genau diejenige, die aus der Selbstvergegenwärtigung des Schöpfers im inkarnierten Sohn durch den heiligen Geist resultiert. Diese Hinweise auf Luthers Bewusstsein von den Möglichkeitsbedingungen menschlicher Selbstbestimmung und -beschreibung sind für den Inhalt der von ihm gegebenen Beschreibung des Menschseins keineswegs nebensächlich, son-
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dern grundlegend. Denn der Inhalt kann überhaupt nur konkret – dem Gegenstand der Beschreibung angemessen – sein, wenn er eben diesen Sachverhalt des Fundiertseins aller Möglichkeiten menschlicher Selbstbestimmung in vorgängiger Selbsterschlossenheit und deren sapientialer Gestimmtheit erfasst als hinzugehörig zum wirklichen Wesen des Menschen. Und zwar hinzugehörig nicht als irgendeine Marginalie, sondern hinzugehörig als dasjenige Grundgeschehen, welches die personale Lebensgegenwart des Menschen mit allen ihren Selbstbestimmungsmöglichkeiten – einschließlich der Möglichkeit der Selbsterkenntnis und Selbstbeschreibung – allererst konstituiert und dauernd gewährt. Das aber heißt: Aus diesem Geschehen, das alle menschliche Lebensgegenwart konstituiert und ihren sapientialen Horizont eröffnet, ergibt sich auch die Weite und der Umfang dessen, was auf dem Boden eines jeweils gegebenen sapientialen Fundaments menschlichen Lebens an Selbstbestimmung und Selbstbeschreibung möglich ist. 5.2. Der Grund der Fülle des sapientialen Grundes christlicher Selbsterkenntnis
Derjenigen sapientia, die der theologisch entfalteten Sicht des Glaubens auf das Menschsein zugrunde liegt, spricht Luther innergeschichtlich unüberbietbare Weite und Fülle (plenitudo) zu. Diese Behauptung kann nicht bewiesen, nicht begründet, aber sie muss expliziert werden. Es muss gesagt werden, warum sich der Glaube genötigt sieht, für seine sapientia diese plenitudo in Anspruch zu nehmen. Dafür kommt nur die Herkunft, das Zustandekommen, die Konstitution eben dieser sapientia – dieses Daseinsgefühls und dieser Daseinsgewissheit – des Glaubens in Betracht. Sie kommt zwar in den Thesen De homine nicht eigens zur Sprache, ist aber anderwärts von Luther als die Selbstvergegenwärtigung des Schöpfers im inkarnierten Sohn durch den heiligen Geist beschrieben worden – etwa in der Darstellung des dreifachen sich Gebens Gottes im Bekenntnis von 1528 (WA 26; 499– 509) oder in der Credoauslegung des Große[n] Katechismus, die beide den Gegenstand des Glaubens als dessen ihn schaffenden Grund beschreiben. Die beiden wesentlichen Elemente des Vorgangs sind: erstens das leibhafte Getroffenwerden von Menschen durch das Evangelium mit seinem Anspruch, das wahre Zeugnis über den Ursprung ihrer Lebensgegenwart in dem auf versöhnte und vollendete Gemeinschaft zielenden Wesen, Wollen und Wirken des Schöpfers zu sein, und zweitens die vom heiligen Geist durch dieses von ihm inspirierte äußere Wort dessen Adressaten frei (CA 5: ubi et quando visum est Deo) gewährte Erleuchtung des Herzens, die dem Menschen einen unverstellten Durchblick auf seine Existenz gewährt, so dass er sie so sieht, wie sie im Evangelium bezeugt ist, und er also von der Evidenz der Wahrheit des Evangeliums bezwungen wird. Die »äußere Klarheit« des Evangeliums wird zur »inneren Klarheit«. Dadurch wird der Mensch »wesentlich« – in seinem Herzen – gewandelt: Ihm
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wird eine neue Gewissheit über sein Dasein zuteil, eine Gewissheit über seinen Ursprung und sein Ziel, die daher auch seinen Affekt (Angezogensein vom wahren Guten) und amor (Aussein auf das wahre Gute) aus dem amor sui et mundi (gen. obj.) verwandelt in den amor Dei (gen. obj.). Mit dem allen stellt das Geschenk dieser Gewissheit das Leben des Christen auf den Boden der sapientia spiritualis (Ebeling 1989, 68 f) des Glaubens. 5.3. Das Zustandekommen des sapientialen Fundaments der christlichen
Existenz begründet seine innergeschichtlich unüberholbare Tiefe und Weite
Weil auf die angedeutete Weise zustande gekommen, sind Selbsterschlossenheit und sapientiales Fundament des menschlichen Lebens jetzt (also im Fall des Glaubens) spezifisch vertieft. Erschlossen und zum Inhalt unmittelbarer Daseinsgewissheit geworden ist derjenige Horizont (vgl. zum Folgenden WA 39,1; 175,36 f), in welchem der Mensch sich in dem ewigen Ursprung (fons) seiner innergeschichtlichen Lebensgegenwart zu sehen bekommt, in welchem auch schon deren ewiges Ziel begründet ist und in welchem daher dem Glauben zugleich auch – eben weil es sich um den ewigen Ursprung und Zielgaranten aller möglichen menschlichen Lebensgegenwart handelt – Ursprung und Ziel allen möglichen Menschseins präsent sind. Diese Tiefe menschlicher Selbsterschlossenheit, die den Glauben begründet, macht zugleich die unüberbietbare Weite seines sapientialen Fundaments, seines Gewissheitshorizontes aus. In ihm – und erst in ihm – ist der »homo totus et perfectus« (WA 39,1; 176,5 f) präsent und beschreibbar: nämlich erstens die conditio, die für alle möglichen und jeden einzelnen Menschen gilt, und zweitens auch alle konstitutiven Aspekte dieser conditio – nicht nur die innerweltliche, weltzeitliche Verfassung dieser conditio (in scholastischer Terminologie: ihre causa materialis und formalis), sondern auch deren ewiger Ursprung und Ziel (in scholastischer Terminologie: deren causa efficiens und finalis) im ewigen Wesen und Leben des Schöpfers (WA 39,1; 175,26–35). 5.4. Die auf dem Boden der sapientia des Glaubens von der Theologie
aussagbare conditio des homo totus et perfectus
Auf dem Boden der sapientia des Glaubens wird die conditio des homo totus et perfectus aussagbar, weil diese sapientia die menschliche Lebensgegenwart nicht als Gegenwart eines in sich selbständigen Seienden im Blick hat, sondern nur als den einen Term einer Relation: nämlich derjenigen Relation, in welcher die menschliche Lebensgegenwart sich zu ihrem sie zielstrebig gewährenden Ursprung vorfindet. Ausschließlich in der Einheit dieser Relation ist dem Glauben menschliche Lebensgegenwart präsent und darum auch ausschließlich in der in der Einheit dieser Relation gesetzten Differenz zwischen dem weltzeitlichen Leben des Menschen und dem ewigen weltschöpferischen Wesen Gottes. Und zwar
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ist dem Glauben dieses Verhältnis als das asymmetrische Verhältnis zwischen zwei verschiedenen Machtverhältnissen gegenwärtig: zwischen dem Verhältnis der Macht des Menschen zur Macht Gottes (b) und dem Verhältnis der Macht Gottes zur Macht des Menschen (c). Dabei ist wohl zu bemerken, dass es hier nicht um das mögliche Verhältnis zwischen möglicher Macht Gottes und möglicher Macht des Menschen geht, sondern um das dauernde wirkliche Verhältnis zwischen wirklicher Machtausübung Gottes und wirklicher Machtausübung des Menschen, also um die – wie Luther in De servo arbitrio ausführt – radikal asymmetrische cooperatio des geschaffenen, innerweltlichen operari des Menschen mit dem heilszielstrebig weltschaffenden operari des Schöpfers und zugleich umgekehrt dieses göttlichen operari mit dem menschlichen (vgl. Herms 2011) (a). a) Diese Thematisierung der Wirklichkeit der Möglichkeiten, die im Verhältnis Gottes zu den Menschen und im Verhältnis der Menschen zu Gott beschlossen ist, verlangt besondere Beachtung. Sie erlaubt nämlich, den Streit der Interpreten zu schlichten, ob Luther nach Verabschiedung der aristotelisch gefassten Kategorie der »Substanz« als Leitbegriff des christlichen Menschenverständnisses überhaupt noch mit einer festen ontologischen Struktur des Menschseins rechne oder das Menschsein ganz in die Dynamik des von Gott ausgehenden Welt- und Heilsgeschehens – und sofern man Gottes Wirken grundsätzlich als sein schaffendes »Reden« konzeptualisiert, eben in die schöpferische Dynamik des »Wortes Gottes« – aufgelöst habe. Dazu ist zu sagen: Indem Luther die Glaubensgewissheit über das wirkliche Verhältnis der wirklich ausgeübten Macht Gottes gegenüber der des Menschen und der wirklich ausgeübten Macht des Menschen gegenüber Gott theologisch entfaltet, kann in seiner theologischen Anthropologie tatsächlich von nichts anderem die Rede sein als von der prozessualen Struktur dieses Verhältnisses. Aber eben dieser Prozess ist begründet im und getragen von dem ewigen Willen des Schöpfers, in dem sich das ewige Wesen des Schöpfers manifestiert. Deshalb hat dieser Prozess allerdings eine unbeirrt zielstrebige und deshalb auch selbst dauernde Struktur. Folglich bringt auch Luthers prozessuale Sicht des wirklichen Werdens keineswegs alle dauerhaften Strukturen zum Verschwinden. Auch Luther kann durchaus von der »Natur« des Menschen reden; gemeint sind damit die »konstanten« (Homo est creatura Dei carne et anima spirante constans: WA 39,1; 7 f) Züge des menschlichen Lebens, die diesem durch das konstante Wesen, Wollen und Wirken des Schöpfers gewährt werden (insofern spricht Joest zu Recht von einer »Ontologie der Person« bei Luther [Joest 1967]). Allerdings sind alle diese dauerhaften und darum auch universal gültigen Züge des Menschseins nichts anderes als die dauerhaften Züge, die dem Prozess des menschlichen Lebens zukommen innerhalb der dauerhaften Züge des Weltgeschehens, die ihrerseits allein innerhalb und vermöge der verlässlich zielstrebigen Weise von Gottes Schaffen zuverlässig er- oder besser gesagt unterhalten werden (Gottes creare ist ein semper novum facere: WA 46; 556,26). b) Nun zur christlichen Sicht der Macht des Menschen im Verhältnis zur Macht des Schöpfers. Das Gewissheitsfundament, das die Lebensgegenwart des
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Glaubens bestimmt, ist gegenüber dem Gewissheitsfundament des Lebens außerhalb des Glaubens vertieft; alle Wahrheitsmomente jener älteren Daseinsgewissheit sind in ihm festgehalten, jedoch in die Tiefe und Weite des sapientialen Horizonts des Glaubens gestellt und dadurch zu neuem – eben tieferem und weiterem – Verständnis gebracht. Das gilt auch für den Machtcharakter des Menschseins. Auch die außerchristliche Sicht auf den Menschen ist der einzigartigen Machtstellung gewahr geworden, die der Mensch im Kosmos innehat, und sie hat diese Machtstellung in den Begriff des Menschen aufgenommen, ja in ihr sein Wesen gesehen, was exemplarisch greifbar wird in der Definition des Menschen als animal rationale (WA 39,1; 175,3 f. Ausführlich kommentiert bei Ebeling 1977). Diese vor- und außerchristliche Sicht der innerweltlichen Stellung des Menschen als einzigartiges Machtwesen wird in der christlichen festgehalten, dabei allerdings in das dem Glauben durch die Selbstvergegenwärtigung des Schöpfers im inkarnierten Logos durch den heiligen Geist erschlossene und ihm gewisse Verhältnis der aktuellen Machtausübung des Menschen aufgrund und innerhalb der aktuellen Machtausübung des Schöpfers eingeordnet und dadurch im wahrsten Sinn des Wortes »relativiert«. Eindrucksvoll greifbar ist dieser Vorgang in Luthers Umgang mit den – zwar in der Schultheologie gebrauchten und von ihr überlieferten, aber ihrem Gehalt nach aus der vorchristlichen Philosophie stammenden – anthropologischen Strukturdicho- bzw. -trichotomien (vgl. Joest 1967, 137–232): Die in der Überlieferung dominierende philosophische Dichotomie fasst den Menschen als compositum aus Körper und Seele. Dabei wird die Einheit dieses Kompositums dadurch ausgesagt, dass der Körper als die Materie (causa materialis) und die Seele als Form (causa formalis) dieser so aus Materie (etwas Bestimmbarem) und Form (einer bestimmenden, Möglichkeiten verwirklichenden Aktivität) bestehenden Substanz ausgesagt wird (vgl. Ebeling 1977, 136–183; Ebeling 1982, 87–90. 434 ff). An diese Dichotomie knüpfen die in der Tradition gängigen Trichotomien an, die sich alle daraus ergeben, dass auf Seiten der Seele zusätzlich differente Funktionen unterschieden werden, die sich aus ihrem Zusammensein mit dem Körper ergeben. Das ist zunächst die Unterscheidung zwischen der vegetativen (anima vegetativa), der sensitiven (anima sensitiva) und der intellektiven (anima intellectiva) Seelenfunktion (aus Aristoteles; dazu Ebeling 1977, 142 ff.173 ff). Durch Zusammenfassung der beiden ersten Funktionen und eine zusätzliche Unterscheidung auf Seiten der letzten kommen neue Unterscheidungen in der Hierarchie der Seelenfunktionen – jetzt zunächst einmal nur als Erkenntnisfunktionen verstanden – zustande, etwa die Unterscheidung zwischen sensus auf der einen, intellectus und ratio auf der anderen Seite: Der sensus erfüllt die Funktion sinnlicher Wahrnehmung, der intellectus die Funktion der ganzheitlichen Gegenstandsschau und die ratio die Funktion der diskursiven Entfaltung des Verstandenen. Insofern ist die ratio dem intellectus nach- und untergeordnet. Andererseits ist eben sie es, die durch das Verfahren des Schließens zum bewiesenen Wissen führt, eine Leistung, die ihr dann zunehmend zur dominierenden
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Stellung verhilft (vgl. HWPh 11, 2001, 780–793). Innerhalb dieser Höchstfunktion kann je nach den Gegenständen, denen sie sich widmet, an der ratio eine aufs Zeitliche gerichtete inferior pars von einer aufs Ewige gerichteten superior pars unterschieden werden. Auf Ewiges richten kann sich aber die Aktivität der ratio natürlich nur, wenn ihr auch dieses, das Ewige – wie das Weltzeitliche durch den sensus – irgendwie gegeben (erschlossen, für sie »da«) ist. Als Organ dafür bringt die Tradition den spiritus in Anschlag. Dann kann sich im Blick auf den ganzen Menschen die Trichotomie corpus – anima (sensus, intellectus und ratio umfassend) – spiritus (Joest 1967, 164 ff) ergeben und im Blick auf die seelische Seite seines Seins die Trichotomie sensus – ratio – spiritus (Joest 1967, 175 ff). Inwiefern begründet die so verfasste anima rationalis den Machtcharakter des Menschseins? Insofern, als die anima erstens nicht nur die bisher allein betrachtete Erkenntnisfunktion (intellektive Funktionen) ausübt, sondern zugleich auch Strebefunktionen (appetitive Funktionen) (exemplarisch Thomas von Aquin, STh I q 79 f). Die Hierarchie von sensus – intellectus/ratio – spiritus prägt nicht nur das Erkennen, sondern ebenso das Streben (sinnlicher Wille, rationaler Wille). Die Höchststellung, die der spiritus als Ort der Präsenz des Ewigen für die Seele im Erkennen innehat, hat für das Streben die synderesis inne (vgl. Hirsch 1954 a, 109 ff; Ebeling 1989, 316 ff): die immer schon gegebene Vertrautheit der Seele mit der lex aeterna (sofern Zumutung an den Menschen: lex naturale). Dazu kommt als entscheidendes zweites Moment das Zusammenspiel von intellektiver und appetitiver Seelenfunktion: Die appetitive Funktion kann die intellektiven Funktionen in Dienst nehmen (was gewollt wird, kann klug verfolgt und erreicht werden), und umgekehrt können die intellektiven die appetitiven kontrollieren (aus dem bloßen Trieb wird der vernünftige Wille). Das ist es, was die Machtstellung des Menschen ausmacht: Er kann vernünftig wollen und die Ziele seines vernünftigen Wollens unter Einsatz seiner Vernunft erreichen. Dies alles ist Luther als Tradition vorgegeben. Er sieht nun keinen Anlass, im Horizont der Glaubensgewissheit etwa die dichotomische Verfassung des Menschseins zu bestreiten. Aus der Sicht des Glaubens ist nicht zu bestreiten, daß der Mensch als Einheit von Körper und einer Seele existiert, die als menschliche Seele spezifisch verschieden ist von der Seele anderer Lebewesen. Es ist auch nicht zu bestreiten, dass zu dieser spezifisch menschlichen Seele sensus und ratio im Zusammenspiel ihrer intellektiven und appetitiven Funktionen hinzugehören, und zwar – was die ratio betrifft – durchaus als ein spezifisches Wesensmoment nur der menschlichen Seele. Ferner ist nicht zu bestreiten, dass eben dieses Ausgezeichnetsein der menschlichen Seele durch die ratio die einzigartige Machtstellung des Menschen begründet (WA 39,1; 175,9–21). Worauf die Sicht des Glaubens allerdings insistiert – und zwar vermöge ihrer vertieften Selbsterschlossenheit und ihres dadurch ebenfalls vertieften und erweiterten sapientialen Horizontes, innerhalb dessen der Mensch sich in seinem ewigen Ursprung und Ziel sieht –, ist dieses: Die Machtausübung des Menschen nimmt eine Bedingung in Anspruch, die ihr vorgegeben ist, eben die Bedingung der spezifisch mensch-
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lichen Machthabe. Und deren Bedingung ist das Faktum, dass den Menschen, und nur ihnen, personhafte Lebensgegenwart gewährt ist, Lebensgegenwart in unmittelbarer Erschlossenheit eigener Lebensmöglichkeiten, über die sie im Horizont unmittelbarer Daseinsgewissheit, also in sapientialem Horizont, zu verfügen haben. Die Bedingung menschlicher Machtausübung und Machthabe ist, dass sie ihnen aus der Machthabe und Machtausübung des Schöpfers zielstrebig gewährt sind und gewährt werden. Die vertiefte und erweiterte Sicht der das Wesen des Menschen ausmachenden Dichotomie spricht daher das Wesen der spezifisch menschlichen Seele als derjenigen aus, die ihre eigentümliche Mächtigkeit besitzt kraft Gewährung von – bedingter, begrenzter, endlicher – Anteilhabe an der Macht des Schöpfers selbst: Im Unterschied zu allen anderen Geschöpfen ist dem Menschen der Schöpfergeist eingehaucht (Gen 2,7), so dass die menschliche Seele auch selbst in der Weise des Schöpfergeistes wirkt (selbst anima spirans ist: WA 39,1; 176,5 f). Demgemäß werden die überlieferten Beschreibungen von sensus und ratio im Zusammenspiel von Erkennen und Streben der menschlichen Seele in den Rahmen einer Beschreibung gestellt, die deren spezifisch menschlichen Machtcharakter nun nicht mehr nur hinsichtlich seiner Art (Vernünftigkeit), sondern auch hinsichtlich seines Grundes durchsichtig macht: hinsichtlich seines Gewährtseins und -werdens durch die Macht Gottes. Schon die scholastische, insonderheit aber die mystische Theologie hatte diese Grundschicht der Seele unter den Titeln spiritus und synderesis angesprochen. Damit meinten auch sie schon die fundamentale, konstitutive Ebene des Menschseins aus und vor Gott. Diese Ebene spricht Luther nun unter Übernahme des biblischen Sprachgebrauchs als »Herz« (genauer: des »Herzens Grund«) und »Gewissen« an und macht damit deutlich: Diese Ebene besteht in nichts anderem als in dem radikalen Erlittenwerden desjenigen Geschehens, welches die Lebensgegenwart des Menschen in ihrer spezifischen Mächtigkeit als Gegenwart einer Person konstituiert, die also im Erleiden des Gewährtwerdens von personaler Lebensgegenwart in unmittelbarer Selbsterschlossenheit gründet und darum auf dem Boden unmittelbarer Daseinsgewissheit zu führen ist – verantwortlich vor Gott, vor sich selbst und vor den Menschen. Soweit die christliche Sicht der spezifisch menschlichen Macht in ihrem Verhältnis zur Macht des Schöpfers, aus der sie sich gewährt findet. An diesem ihrem ihr Gewährtsein ist zugleich das Verhältnis der Macht des Schöpfers zur Macht des Menschen manifest. c) Die Macht des Schöpfers im Verhältnis zur Macht der Menschen: Die christliche Daseinsgewissheit, die aus der Selbstvergegenwärtigung des Schöpfers im inkarnierten Logos durch den heiligen Geist resultiert, findet sich als vertiefte menschliche Daseinsgewissheit vor: Ihr ist nicht nur wie allen Menschen, auch außerhalb des Glaubens, das Faktum ihres ihr Gewährt‑, ihr Zugemutet- und ihr Aufgenötigtseins erschlossen, sondern auch die heilvolle Zielstrebigkeit dieser actio Dei (Belege bei Althaus 1994, 27–33).
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Wie jeder Mensch findet sich auch der Christ unter der ihm auferlegten Notwendigkeit, in personaler Lebensgegenwart mit ihren spezifischen Freiheits- und Machtpotentialen existieren zu müssen. Die Gewissheit, dieser Notwendigkeit unterworfen zu sein, ist Teil jeder menschlichen sapientia, auch schon vor und außerhalb des Glaubens (WA 18; 617 ff). Die Christusoffenbarung vertieft diese Gewissheit, indem sie dem Glauben ermöglicht, in dieser Notwendigkeit nicht die Manifestation eines blinden Schicksals, sondern das Werk des Schöpfers zu sehen, der in absolut freier Ausübung seiner schöpferischen Macht Welt und Mensch aus Nichts ins Dasein ruft und im Dasein erhält. Im Licht der Christusoffenbarung sieht der Mensch sein Dasein in seinem Ursprung (WA 39,1; 175,36 f), und das heißt grundlegend: Er sieht sich selbst als Geschöpf (aaO 176,7–9), als geschaffene Macht aus der Machtausübung des Schöpfers. Die Christusoffenbarung erlaubt aber dem Glauben, nicht nur das Faktum zu sehen, dass die Notwendigkeit, der das Dasein unterliegt, Manifestation der Machtausübung des Schöpfers ist, sondern auch den Charakter dieser Machtausübung zu sehen: nämlich ihre Zielstrebigkeit. Das Dasein von Mensch und Welt ist durch das Machtwirken des Schöpfers nicht nur faktisch aus Nichts (ex nihilo) gewährt, sondern es ist faktisch auf ein ganz bestimmtes Ziel hin gewährt: nämlich auf das Ziel hin, als geschaffenes Ebenbild des Schöpfers, das unter den Bedingungen der Welt existiert und in der Welt dominiert (»fruchtbar« ist), vor Gott ewig zu leben. Der Mensch, dessen Wesen als Einheit von caro und anima spirans ihn als creatura Dei ausweist, ist als diese »ab initio ad imaginem Dei facta, sine peccato, ut generaret et rebus dominaretur, nec umquam moreretur« (WA 39,1; 176,7– 9). Entscheidend ist: Diese Zielstrebigkeit eignet dem schöpferischen Gewähren der menschlichen Lebensgegenwart von Anfang an. Sie kommt zum schöpferischen Wirken Gottes nicht irgendwann sekundär hinzu, sondern ist dessen ursprüngliche und darum ewige Weise. Und eben deshalb ist die Ausübung schöpferischer Macht, die sich als Gewährung der geschaffenen Macht des Menschen vollzieht, in sich selbst auch versöhnendes Tragen dieser schöpferisch gewährten geschaffenen Macht. Die mögliche und im Fall des Menschen wirklich gewordene Selbstverkennung der geschaffenen Macht und die entsprechende Selbstverkehrung ihres Gebrauchs ändern nichts an der Zielstrebigkeit der Ausübung der sie gewährenden schöpferischen Macht. Diese Zielstrebigkeit reicht über die sich verkennende und verkehrende geschaffene Machtausübung hinaus, sie nimmt diese Verkennung und Verkehrung der geschaffenen Macht mit, sie trägt sie (Hebr 1,4). Freilich so, dass die Verkennung und Verkehrung nicht vergleichgültigt, sondern gerichtet und überwunden werden: Die zur Überwindung der Folgen ihrer Selbstverkennung und Selbstverkehrung aus eigenen Kräften unfähige, vielmehr an diese Folgen für immer gebundene geschaffene Macht wird durch die Selbstvergegenwärtigung des Schöpfers im inkarnierten Logos durch den heiligen Geist dazu befreit, sich aus ihrer »Quelle« zu verstehen, d. h. sich zu verstehen als aus der Heilszielstrebigkeit
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schöpferischer Macht gewährt, und sich dieser Wahrheit über sich selbst entsprechend auszurichten und zu wirken. Wie die Heilszielstrebigkeit das uranfängliche Wesen des schöpferischen Gewährens der geschaffenen Macht des Menschen ist, so ist dieses versöhnende Tragen der geschaffenen Macht des Menschen über ihre Selbstverkennung und Selbstverkehrung hinaus von Anfang an hinzugehörig zum Wesen der Heilszielstrebigkeit des schöpferischen Gewährens menschlicher Macht; und es gehört daher auch zum uranfänglichen Wesen der durch dieses heilszielstrebige Schöpferwirken gewährten geschaffenen Macht, dass sie, »post lapsum […] Adae subiecta potestati diaboli, peccato et morti, utroque malo suis viribus insuperabili et aeterno« »per filium Dei Iesum Christum liberanda« ist (WA 39,1; 176,10–13). Schließt der heilszielstrebige Charakter der schöpferischen Machtausübung dieses versöhnende Tragen der durch sie gewährten geschaffenen Macht des Menschen ein, so erst recht die tatsächliche Verwirklichung des von Anfang an angestrebten Ziels: das ewige Leben der Menschen als geschaffener innerweltlicher Machtträger vor Gott. Indem der Glaube seine geschaffene Lebensgegenwart mit den ihr eigentümlichen Machtpotentialen im Lichte der Christusoffenbarung aus ihrer Quelle heraus zu sehen bekommen hat, sie also zu sehen bekommen hat als konstituiert durch die schöpferisch gewährende Machtausübung Gottes in deren wesentlicher Heilszielstrebigkeit, ist sie ihm auch präsent als diejenige, an der der Schöpfer weiterhin zielverwirklichend arbeitet: Die schon aus schöpferischer Machtausübung gewährte geschaffene Lebensgegenwart des Menschen mit ihren spezifischen Machtpotentialen ist insgesamt nichts anderes als die – scholastisch geredet – materia, die sich der Schöpfer selbst vorgegeben hat, um sie auf die von ihm von Anfang an angestrebte Zielverfassung hin zu gestalten: »homo huius vitae est pura materia Dei ad futurae formae suae vitam« (der Mensch dieses [vergehenden] Lebens ist nichts als die Materie Gottes für das Leben seiner zukünftigen Gestalt) (WA 39,1; 177,3 f). d) Das Qualifiziertsein der menschlichen Lebensgegenwart durch die Heilszielstrebigkeit der sie gewährenden Machtausübung des Schöpfers: Die Christus offenbarung gibt dem Menschen die radikal passive Konstitution seiner Lebensgegenwart als die Manifestation der Heilszielstrebigkeit ihres Gewährtwerdens aus der Macht des Schöpfers zu sehen. Damit gibt sie ihm nicht nur eben diese Heilszielstrebigkeit des Schöpferwirkens zu sehen, sondern zugleich mit dem Gewährtsein der menschlichen Lebensgegenwart durch dieses göttliche Wirken auch das Qualifiziertsein der menschlichen Lebensgegenwart durch dieses. Das bedeutet: Diese durch die Heilszielstrebigkeit ihres Gewährtwerdens aus der Macht des Schöpfers begründete Qualität menschlicher Lebensgegenwart ist universal. Im Licht der Christusoffenbarung gilt nicht nur für den Christen, sondern für alle Menschen aller Orte und Zeiten: Sie existieren im Prozess des Gebildetwerdens der endgültigen Gestalt ihres zukünftigen Lebens durch Gott, und d. h. sie existieren als geschaffene Machtträger, deren Wesen es ist, auf dieses Ziel hinbewegt zu werden. Ihr Wesen ist also, gerechtfertigt zu werden, zur richtigen
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Gestalt ihres Lebens befördert zu werden, durch den Glauben (WA 39,1; 176,33 f. Dalferth 1979). Der Glaube sieht: Weil gewährt und darum auch qualifiziert durch die Heilszielstrebigkeit der Machtausübung des Schöpfers, ist menschliche Lebensgegenwart von Anfang an – und darum stets und überall – ihr Bewegtund Mitgenommenwerden durch die Machtausübung Gottes in das von dieser von Anfang an und infallibiliter angestrebte Ziel: in das ewige Leben, in dem sie als vollendetes Ebenbild des Schöpfers ewig mit ihm verbunden ist. Auf diese Weise von der Macht des Schöpfers mitgenommen wird die menschliche Lebensgegenwart einschließlich des ihr eigentümlichen Machtpotentials und seiner Ausübung, also einschließlich seines ihm aufgenötigten Kooperierens (WA 18; 753 ff. Seils 1962; Ebeling 1989, 581 ff). Dieses Kooperieren vollzieht sich unter den Bedingungen seiner innerweltlichen Existenz als ein Wesen »carne et anima spirante constans« (WA 39,1; 176,7–9), also unter den Bedingungen des leibhaften Personseins. Die Leibhaftigkeit des Menschseins schließt ein: das Unterworfensein unter die Bedingungen des physischen, biotischen, sozialen Lebens, also unter die Bedingung der Endlichkeit, d. h. der Sterblichkeit, der Sozialität und der Individualität. Die Personalität des Menschseins schließt ein: das Existieren in Selbsterschlossenheit, d. h. im wirkmächtigen Verfügen über eigene Seinsmöglichkeiten – innerhalb und nach Maßgabe des jeweils erschlossenen Horizonts sapientialer Daseinsgewissheit. Dieser Horizont entscheidet darüber, wie die geschaffene Macht des Menschen unmittelbar für sich selbst präsent ist, sich selbst empfindet (fühlt, schmeckt) und sich solchem Selbstgefühl entsprechend vollzieht. Im Licht der Christusoffenbarung sieht der Glaube, dass dieser Horizont sapientialer Daseinsgewissheit über die Weise der menschlichen Machtausübung entscheidet, ohne dass diese seiner mächtig wäre. Vielmehr gehören diese Horizonte zur erlittenen Konstitution des Personenzentrums, des Herzens und Gewissens, durch das Wirken des Schöpfers. Dieses ist es, welches in seiner Heilszielstrebigkeit der menschlichen Lebensgegenwart die Horizonte eröffnet, die »Lichtungen« gewährt, innerhalb deren die Menschen jeweils im Ganzen der heilszielstrebigen actio Dei kooperieren können. Nun sind für das heilszielstrebige Wirken des Schöpfers drei Momente wesentlich, von denen – wie der Glaube durch die Christusoffenbarung zu sehen bekommen hat – jedes der menschlichen Lebensgegenwart die für es eigentümliche »Lichtung« gewährt: Zunächst – durch die bloße Gewährung menschlicher Lebensgegenwart – stets und überall das lumen naturale. Dieses ist konstitutiv für die Rationalität des Menschen, also für seine innerweltliche Machthabe und Machtausübung. Auch der externen Konstitution seiner Machthabe, der ihm von außen auferlegten Notwendigkeit seines Freiseins, ist dieses lumen inne. Aber »sich selbst überlassen« (WA 18; 709.711.719.735. Ebeling 1989, 321 ff) vermag es das Wesen der Notwendigkeit, der es unterliegt, nicht zu erfassen und führt daher zu einem Machtgebrauch ohne Rücksicht auf bzw. gegen das Wesen dieser Notwendigkeit – der nichtsdestoweniger, eben als negative Kooperation, vom heilszielstrebigen Wir-
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ken der Schöpfermacht mitgenommen wird (WA 18; 753 f. Exemplarisch Pharao: WA 18; 711–714). Aber das von Anfang an zur Heilszielstrebigkeit des Schöpferwirkens hinzugehörige versöhnende Tragen des geschaffenen Personlebens auf das für es angestrebte Ziel hin schließt ein: die Vertiefung des lumen naturale durch die Selbstvergegenwärtigung des Schöpfers im inkarnierten Logos durch den heiligen Geist. Durch dieses Ereignis wird der sapientiale Horizont des lumen gratiae erschlossen. In diesem Horizont ist der menschlichen Person in ihrem Herzen und Gewissen nicht nur das Faktum der kreatürlichen Notwendigkeit, der sie unterliegt, präsent, sondern auch das Wesen dieses Faktums als Effekt des heilsziel strebigen Wirkens des Schöpfers. Damit ist das lumen naturale in seiner zur Vervollkommnung bestimmten »Primitivität«, in der es Quelle verkehrter Macht ausübung wird, durchschaut; aber zugleich ist es auch durchschaut als zum Überwundenwerden bestimmt, nämlich dazu, von der Geduld Gottes getragen und daher auch im Glauben als ein Moment der Heils- und d. h. der Rechtfertigungsgeschichte ertragen zu werden. Zugleich mit dieser Aufklärung über das lumen naturale schafft das lumen gratiae aber auch die gewisse Erwartung des lumen gloriae, d. h. des Lichtes, in dem die Zielgestalt des ewigen Lebens als vollendetes Ebenbild Gottes vor Gott geführt werden wird. Denn als diejenige Vertiefung und Erweiterung des lumen naturale, die dem Menschen sein Dasein in seiner Quelle zu sehen gibt, gibt sie ihm auch sein Dasein als das Werk dieses Ursprungs und seines heilszielstrebigen Wollens und Wirkens zu verstehen. Sie gibt ihm zu verstehen, dass dieses zeitliche Leben nichts anderes ist als das Heranreifen zur endgültigen Geburt ins ewige Leben (WA 2; 685 f), dass es nichts ist als der reale transitus ad patriam (WA 6; 543), dass »haec vita« nichts anderes ist als der »praecursus aut initium potius futurae vitae« (WA 18; 785). Denn »qualis fuit terra et coelum in principio ad formam post sex dies completam, id est, materia sui, […] Talis est homo in hac vita ad futuram formam suam, cum reformata et perfecta fuerit imago Dei« (WA 39,1; 177,7–10). So sieht sich der Mensch in der Helligkeit des lumen gratiae ausgeliefert an das Erschließungshandeln des Schöpfers, das sein Personsein mit allen seinen Selbstbestimmungsmöglichkeiten ex nihilo schafft und das von diesem Setzen des lumen naturae (Gen 1,2) reicht über das lumen gratiae hinaus bis zum Setzen des lumen gloriae (WA 18; 785). Indem das lumen gratiae die Gewissheit dieses Ausgeliefertseins begründet, begründet es einerseits die Gewissheit der Unfähigkeit des Menschen, von sich aus frei Gott und sein Gnadenhandeln ergreifen zu können. Nichts anderes als diese Gewissheit, dass alles eigene Wollen- und Handelnkönnen des Menschen schon kraft seines Ursprungs im schöpferischen Gewährungshandeln Gottes (also »ontologisch«) und nicht etwa erst durch den Fall radikal abhängig ist von Gottes erschließendem Schöpfungshandeln, ist der Kern der Gewissheit vom servum arbitrium. Aber weil es sich hierbei um die Gewissheit des Ausgeliefertseins an dieses – eben heilszielstrebige – schöpferische Offen-
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barungswirken handelt, begründet diese Gewissheit damit auch zugleich die Gewissheit, in der – Gottes ewigem Wesen und seiner ewigen Liebe entsprechenden – Heilszielstrebigkeit seines Schöpferwirkens, das sich-selbst uns und damit auch uns-selbst uns offenbar macht, in Ewigkeit geborgen zu sein (WA 18; 783). Ebeling, Gerhard: Lutherstudien. Bd. 2: Disputatio de homine. Teil 1: Text und Traditionshintergrund, 1977; Teil 2: Die philosophische Definition des Menschen. Kommentar zu These 1–19, 1982; Teil 3: Die theologische Definition des Menschen. Kommentar zu These 20–40, 1989. Herms, Eilert: Luthers Auslegung des Dritten Artikels, 1987. Ders.: Opus Dei gratiae: Cooperatio Dei et hominum. Luthers Darstellung seiner Rechtfertigungslehre in De servo arbitrio (LuJ 78, 2011, 61–135). Hirsch, Emanuel: Lutherstudien, Bd. 1, 1954. Joest, Wilfried: Ontologie der Person bei Luther, 1967. Eilert Herms
6. Kirche Die Kirche war für Luther nicht das Thema, das im Mittelpunkt seines Interesses stand. Weder galt der Ekklesiologie seine theologische Leidenschaft. Noch war das Ziel, um das seine Reflexionen und Aktivitäten kreisten, die Kirchenreform, die allenthalben diskutierte reformatio ecclesiae. Im Mittelpunkt stand für ihn vielmehr die Rechtfertigung, die Zuwendung des Heils durch das Evangelium von Jesus Christus allein im Glauben. Nur von hier aus kam die Kirche in den Blick. Er fragte, was das richtige Verständnis der Rechtfertigung für Verständnis, Gestalt und Leben der Kirche bedeute. Von hier aus kam sie aber auch in den Blick. Denn für ihn stand außer Frage, dass es Rechtfertigung, Heil und christlichen Glauben nicht ohne die Kirche gibt. Nur durch die Kirche kann ein Mensch überhaupt das Evangelium von Jesus Christus hören. Und wenn er dem Evangelium glaubt, wird er selbst ihr Glied. So spricht derselbe Luther, für den die Kirche nie das Erste, sondern immer das Zweite ist, emphatisch: »Ecclesia soll mein burg, mein schloß, mein kamer sein« (WA 44; 713,1). Außer ihr »ist keyn warheytt, keyn Christus, keyn selikeyt« (WA 10,1,1; 140,17). Auf diesem Hintergrund erklärt sich die Quellenlage. Es gibt von Luther viele Aussagen über die Kirche, aber nur wenige Schriften, die ausdrücklich diesem Thema gelten. Meist geht er auf die Kirche im Zusammenhang anderer theologischer Fragen ein, oder er erörtert institutionelle Teilaspekte, die für den Aufbau eines evangelischen Kirchenwesens von Bedeutung sind. Außerdem wechseln die Anliegen, die in seinen Aussagen über die Kirche vorherrschen, nach dem Stand der theologischen Auseinandersetzungen und der historischen Situation. Die theologischen Grundlinien sind dabei, seit die Rechtfertigungslehre ihre feste Gestalt gewonnen hat, gleichwohl konstant. In seiner frühen Zeit, d. h. in den Vorlesungen aus den Jahren vor dem Ablassstreit, finden sich Aussagen über die Kirche bei Luther nur gelegentlich und am
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Rande; ausführlicher wird er nur, wenn er die zeitgenössische Kirche kritisiert, wobei er nicht so sehr einzelne Missstände wie schwere geistliche Mängel im Auge hat. Nach dem Ausbruch des Konfliktes mit Rom wird die Kritik, eingebettet in eine umfassend negative Beurteilung des Zustandes der gegenwärtigen Kirche, ihrer »Babylonischen Gefangenschaft«, konkret und mit großer Schärfe gegen die kirchlichen Autoritäten, insbesondere das Papsttum, gerichtet; in diesem Zusammenhang entsteht die erste ekklesiologische Schrift Luthers, der Traktat Vom Papsttum zu Rom wider den hochberühmten Romanisten zu Leipzig (1520) (WA 6; 285–324). Die Notwendigkeit, in den von der Reformation erfassten Gebieten die Kirche entsprechend den reformatorischen Einsichten zu reformieren, veranlasst Luther dann schon bald und immer wieder, sich zu Einzelfragen der institutionellen Gestalt der Kirche konstruktiv zu äußern und dabei implizite oder explizite ekklesiologische Aussagen zu machen. Das beginnt mit der Schrift Daß eine christliche Versammlung oder Gemeine Recht und Macht habe, alle Lehre zu urteilen von 1523 (WA 11; 408–416), geht über die Schriften zur Gottesdienstreform aus der Mitte der zwanziger Jahre (v. a. WA 12; 35–37. 205–220. WA 19; 72–113) und die Wittenberger Ordinationsliturgie von 1535 (WA 38; 423– 433; erläutert WA 41; 457,33–459,11. 762,18–763,18) und reicht bis zu dem im Zusammenhang der Bemühungen um ein evangelisches Bischofsamt verfassten Exempel, einen rechten christlichen Bischof zu weihen (WA 53; 231–260) von 1542. In jenen späten Jahren legt Luther auch mehrere dem theologischen Verständnis der Kirche gewidmete Schriften vor, herausgefordert nicht zuletzt durch das sich immer stärker abzeichnende Nebeneinander zweier in Gegensatz stehender kirchlicher Institutionen. Zu nennen sind hier insbesondere die zu weiten Teilen ekklesiologische Schrift Von der Winkelmesse und Pfaffenweihe von 1533 (WA 38; 195–256), die 1539 veröffentlichte wichtigste unter all seinen Abhandlungen zum Thema Kirche mit dem Titel Von den Konziliis und Kirchen (WA 50; 509–653) und die in einen polemischen Schlagabtausch gehörige Schrift Wider Hans Worst von 1541 (WA 51; 469–572). Eine Aussage zieht sich wie ein Cantus firmus durch alle Ausführungen Luthers über die Kirche von der frühen Zeit bis zum Ende: die Aussage, dass die Kirche die Gemeinschaft derer ist, die das Wort Gottes hören und die dem Evangelium glauben. Diese Aussage ist geradezu die Definition der Kirche, wie es in den Schmalkaldische[n] Artikel[n] heißt: »Es weyß Gott Lob eyn kind von VII Jaren Was die Kirche sey. Nemlich, die heyligen gleubigen und ›die schefflin, die yres Hirten stymme hören‹. Denn also beten die kinder, Ich gleube eyne heylige Christliche kirche« (WA 50; 250,1–7. Vgl. WA 50; 624,14–18). Das bedeutet zum einen, die Kirche ist ihrem Wesen nach Gemeinde – die »Sammlung« (WA 7; 219,3. WA 26; 506,31. WA 50; 624,17) oder der »Haufen christgläubiger Leute« (WA 10,1,1; 140,14 f. Vgl. WA 50; 624,17 f), die »Christenheit« (WA 26; 506,35. 507,7. WA 30,1; 250,9.12), das »christliche, heilige Volk« (WA 50; 624,29. 625,21) oder »Volk Gottes« (WA 40,3; 505,1), die »Gemeine der Heiligen« (WA 30,1; 189,28 f) oder communio sanctorum (WA 7; 712,39), wie
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Luther in immer neuen Variationen sagt, während er das Wort »Kirche« als schwer verständlich und wenig sachgerecht vermeidet (WA 30,1; 189,9–22. Vgl. WA 50; 624,18–20). In seiner Übersetzung des Neuen Testaments hat Luther demgemäß das griechische Wort ἐκκλησία durchweg mit »Gemeine« wiedergegeben, worunter freilich nicht immer die Ortsgemeinde zu verstehen ist, wie wir das Wort heute gebrauchen, sondern vielfach die Christenheit als die Gesamtheit der Christen. Als Gemeinde aber ist die Kirche in erster Linie eine Gemeinschaft von Personen, nicht eine Institution. Sie ist an keinen Ort und kein einzelnes Kirchtum gebunden, sondern lebt »ynn aller welt« (WA 26; 506,31), wie in Wittenberg so auch »unter Bapst, Türcken, Persen, Tattern und allenthalben« (WA 26; 506,38 f). Mit jener Definition ist zum zweiten gesagt, dass es sich bei der Kirche nicht um irgendeine Gemeinschaft handelt, sondern um die Gemeinschaft der – an Christus – Glaubenden (WA 50; 624,29. Vgl. WA 6; 300,35 f). Das aber ist sie nicht aus eigenen Kräften, sondern sie verdankt es dem heiligen Geist. Er ist es, der die »Christenheit […] berüfft, samlet, erleucht, heiliget und bey Jhesu Christo erhelt jm rechten einigen glauben« (WA 30,1; 368,1–3). Freilich ist diese, die eine, heilige, katholische und apostolische Kirche, wie alle Werke des heiligen Geistes, keine jedermann evidente, sondern eine verborgene Wirklichkeit. »Abscondita est Ecclesia, latent sancti« (Verborgen ist die Kirche, die Heiligen sind nicht offenbar) (WA 18; 652,23). Das heißt nicht, sie sei keine empirische Größe in Raum und Zeit (vgl. WA 7; 683,8–26) – ein Missverständnis, dessentwegen Luther den traditionellen Begriff »unsichtbare Kirche« (ecclesia invisibilis) weniger schätzt und lieber von »verborgener Kirche« (ecclesia abscondita) spricht. Als Gemeinschaft leibhafter, sichtbarer und hörbarer Menschen ist die Kirche vielmehr durchaus sichtbar und hörbar. Doch das Eigentliche an ihr, das, was ihr Wesen als Kirche ausmacht, ist den menschlichen Sinnen nicht zugänglich. Das gilt deshalb, weil sie als Gemeinschaft der Glaubenden nur Gott offenbar ist – kann doch nur er ins Herz der Menschen sehen (WA 17,2; 501,32–35. Vgl. WA 21; 332,37–333,2) und feststellen, wer zu den Glaubenden (WA 6; 298,2 f) und damit zur Kirche gehört: »Concubitum enim suum cum ecclesia sponsa illa exoptatissima vult celari a mundo« (Gott will es vor der Welt verborgen halten, wenn er mit der Kirche, jener seiner allerbegehrtesten Braut, schläft) (WA 17,2; 510,37 f). Das gilt aber auch deshalb, weil die Kirche hier auf Erden armselig, ohnmächtig, töricht und ärgerlich erscheint, vielfachem Spott und Verfolgung ausgesetzt – so ist ihr eigentliches Leben wie das ihres gekreuzigten Herrn unter dem »Gegenteil« (contrarium) verborgen, bis es im Himmel in Herrlichkeit offenbar wird (WA 4; 450,39–451,27. Vgl. WA 5; 285,35 f. WA 42; 187,14–16). Mehr noch, es ist auch verborgen unter der Sünde, die der Kirche in dieser Welt anhaftet; ist sie doch als Gemeinschaft der Glaubenden Gemeinschaft der Gerechtfertigten, die auf Erden zugleich noch Sünder sind. So verdeckt sie ihre geistliche Wirklichkeit durch eigenes Versagen, Missbräuche, Ärgernisse, Spaltungen, unter denen allein die Augen des Glaubens dennoch die Kirche Jesu Christi wahr-
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zunehmen vermögen (WADB 7; 418,9–13. 418,36–420,4. Vgl. WA 7; 710,1 f). Ja, diese Sünde kann sich derart steigern, Lehre und Gestalt der Kirche ergreifen und in einen solchen Gegensatz zu ihrem Wesen bringen, dass hier falsche Kirche erscheint; dann ist der Antichrist am Werk, von dem die Bibel nicht umsonst sagt, dass er in der Kirche Christi selbst sein unheilvolles Wesen treibt – inmitten der Gemeinschaft der Gläubigen, die auch unter diesen Umständen, wenngleich verborgen, vom heiligen Geist erhalten wird (s. u.). All diese Aussagen über die Verborgenheit der Kirche setzen voraus, dass das Sichtbare, worunter sie verborgen ist, doch etwas mit ihr zu tun hat, sonst ließe sich nicht sagen, dass sie gerade darunter und dass darunter gerade sie verborgen ist. Das heißt, die Kirche hat auch eine sichtbare Seite, sie ist auch »leibliche, äußerliche« Kirche (WA 1; 639,3. WA 6; 297,2). So stellt sie sich dar als identifizierbare Zahl von Menschen, deren Zusammengehörigkeit institutionelle Gestalt hat, die einen gemeinsamen Glauben vertreten und bestimmte Dinge gemeinsam tun. M. a. W., so hat sie eine Reihe von äußeren Kennzeichen (notae), durch die sie sichtbar, hörbar, erfahrbar ist: »Erstlich ist dis Christlich heilig Volck dabey zu erkennen, wo es hat das heilige Gotteswort […]. Zum andern kennet man [es] an dem heiligen Sacrament der Tauffe.« Zum dritten »an dem heiligen Sacrament des Altars«, zum vierten »an den schlüsseln«, zum fünften »da bey, das [es] Kirchen diener weihet […] oder empter hat«, zum sechsten »am gebet, Gott loben und dancken öffentlich«, zum siebten »bey dem Heilthum des heiligen Creutzes, das es mus […] leiden, damit es seinem Heubt Christo gleich werde« (WA 50; 628,29–642,4). Die Zahl der Kennzeichen der Kirche, die Luther zusammenstellt, kann kleiner und größer sein (vgl. WA 51; 479,4–487,2). Allerdings sind nicht alle von gleichem Gewicht. Sie sind nämlich nicht alle gleichermaßen eindeutig, so dass mit Gewissheit gesagt werden könnte, wo sie sind, dort ist die christliche Kirche. Das gilt nur von jenem Charakteristikum, das die zitierte Definition der Kirche in den Schmalkaldische[n] Artikel[n] als dritte Implikation enthält: Die Kirche ist dort, wo das Wort Gottes, genauer, das Evangelium zu hören ist. Dabei kommt für die Funktion des Wortes, äußeres Kennzeichen der Kirche zu sein, alles darauf an, dass hier wirkliche, sinnliche Hörbarkeit gemeint ist, äußerlicher »Schall und Worte« (WA 56; 426,1), verkündigt durch menschliche Münder: »Wir reden aber von dem eusserlichen wort, durch menschen, als durch dich und mich mündlich gepredigt, Denn solchs hat Christus hinder sich gelassen als ein eusserlich zeichen, dabey man solt erkennen seine Kirchen oder sein Christlich heilig Volck in der welt« (WA 50; 629,16–20. Vgl. WA 11; 408,8–10). Was vom mündlich gepredigten Evangelium gilt, gilt auch von den anderen sinnlichen Gestalten, die das Wort Gottes hat, von den Sakramenten, so dass zusammenfassend gesagt werden kann: »Die zeichenn, da bey man euszerlich mercken kan, wo die selb kirch in der welt ist, sein die tauff, sacrament [sc. Abendmahl] und das Evangelium« (WA 6; 301,3 f). Im eigentlichen, eindeutigen Sinne sind notae ecclesiae nur sie. Denn wo das Evangelium gepredigt, getauft und Abendmahl gehalten wird,
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kann es nicht anders sein, als dass Menschen zum Glauben kommen oder im Glauben gehalten werden, Gemeinde entsteht oder ist: »Gottes wort kan nicht on Gottes Volck sein« (WA 50; 629,34 f). Hat doch Gott selbst verheißen (Jes 55,11): »Mein Wort […] soll nicht leer widder zu myr komen« (WA 11; 408,13. WA 50; 629,31). Darum gilt: »Wo du nu solch wort hörest odder sihest predigen, gleuben, bekennen und darnach thun, da habe keinen zweivel, das gewislich daselbs sein mus ein rechte Ecclesia sancta Catholica, ein Christlich heilig Volck, wenn jr gleich seer wenig sind, Denn Gottes wort gehet nicht ledig abe« (WA 50; 629,28– 31). Kurz, das Wort Gottes in seinen verschiedenen Gestalten ist deshalb eindeutiges äußeres Kennzeichen der Kirche, weil es die Kirche schafft, und es schafft die Kirche, weil es den Glauben und somit auch die Gemeinschaft der Glaubenden schafft. Die Aussage, dass Gottes Wort die Kirche schafft, steht nicht in Konkurrenz zu der Feststellung, dass die Kirche Werk des heiligen Geistes ist. Vielmehr vollbringt der heilige Geist sein verborgenes Werk, die Gemeinschaft der Glaubenden zu schaffen und zu erhalten, nur so, dass Menschen des »Hirten Stimme hören«, dass sie zum Glauben an das äußerliche, vernehmbare Evangelium kommen: »Durch den Heiligen geist [bin ich] dahyn gebracht und [sc. der Kirche] eingeleibet, dadurch das ich Gottes wort gehört habe und noch höre« (WA 30,1; 190,9–11). Das heißt umgekehrt: »Wo man nicht von Christo predigt, da ist kein heiliger geist, welcher die Christliche kyrche machet, berüffet und zusamen bringet« (WA 30,1; 189,1 f). Nichts schärft Luther seinen Lesern und Hörern mit solchem Nachdruck ein wie diese Abhängigkeit der Kirche von Gottes Wort: »Allein durch das Evangelium wird sie empfangen, geformt, großgezogen, hervorgebracht, erzogen, genährt, bekleidet, geschmückt, gestärkt, bewaffnet und bewahrt« (WA 7; 721,10–12). Anders gesagt, die Kirche ist »Geschöpf des Evangeliums« (creatura Euangelii: WA 2; 430,6 f). Nicht in dem Sinne, als sei sie einmal vom Wort Gottes hervorgebracht worden und laufe seither kraft des ihr nun innewohnenden Lebens weiter, sondern so, dass sie bleibend darauf angewiesen ist, durch das Handeln Gottes im Evangelium mit Leben erfüllt zu werden: »tota vita et substantia Ecclesiae est in verbo dei« (Das ganze Leben und Wesen der Kirche ist in Gottes Wort) (WA 7; 721,12 f). Damit aber ist nichts anderes gesagt, als dass sie ihrem Wesen nach die Gemeinschaft der Glaubenden ist, die zu solchen Glaubenden durch eben das Wort werden, an das sie glauben. Die Vorordnung des Evangeliums vor die Kirche ist unüberholbar. Das gilt, obwohl es die Kirche ist, die das Evangelium verkündigt, und Menschen zum Glauben nur unter der Voraussetzung kommen, dass sie das tut. Luther kann diesen Gesichtspunkt, unter dem die Kirche dem Glauben vorausgeht, mit starken Worten hervorheben. So nennt er die christliche Gemeinde »die mutter, so ein yglichen Christen zeugt und tregt durch das wort Gottes« (WA 30,1; 188,24 f). Doch er umschreibt ihre Rolle genau: Zum einen beschränkt sich die mütterliche Funktion auf die Weitergabe des – äußerlichen – Wortes in Predigt und Sakramentsverwaltung; dass es den Hörern »offenbart« wird, so dass es ihre Herzen
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entzündet und sie Gläubige und Glieder der Gemeinschaft der Glaubenden werden und bleiben, tut Gott selbst, der heilige Geist (WA 30,1; 188,25–27). Zum anderen ist die Kirche auch, indem sie das Wort Gottes weitergibt, diesem untergeordnet, untergeordnet in ihrem Sein wie in der Norm ihres Tuns: Sie kann es nur weitergeben, weil sie sich ihm, Geschöpf des Wortes, das sie ist, selber verdankt: Mutter der Gläubigen, ist sie doch gegenüber dem Wort »nicht Mutter«, sondern »Tochter«, selbst »aus dem Wort geboren« (WA 42; 334,12: Ecclesia enim est filia, nata ex verbo, non est mater verbi. Vgl. WA 6; 560,33–561,2). Und sie kann es nur weitergeben, ohne eigene Zusätze oder Veränderungen, gehorsam gegen die Christusoffenbarung, die ihr vorausgegangen ist: »Unser ampt heisst und sol sein nicht machen noch Wandlen, sondern allein reichen odder geben, Als ein Pfarrher odder Prediger macht nicht das Euangelion, und durch sein predigen odder ampt wird sein wort nicht zum Euangelion […], Sondern er reicht allein und gibt durch sein predigen das Euangelion. Denn das Euangelion ist zuvor da und mus zuvor da sein, das hat unser HERr Christus gemacht« (WA 38; 239,1–7). Maßstab ihres Gehorsams ist das Zeugnis der heiligen Schrift. So vollzieht sich die gehorsame Weitergabe des Evangeliums durch die Kirche in der rechten Auslegung der Schrift und in der schriftgemäßen Darreichung der Sakramente (WA 51; 481,7 f. WA 50; 630,22 f. 631,7 f). Wort und Sakrament als äußere Wirkmittel und Kennzeichen der Kirche sind das Scharnier, in dem ihre Sichtbarkeit und ihre Verborgenheit zusammenhängen. Den äußeren Mitteln entspricht zunächst einmal die Gemeinschaft, die sie, ebenso äußerlich wahrnehmbar, gebraucht, die der Hörer, Getauften und Kommunikanten. Doch stellt diese »leibliche«, sichtbare Kirche keine zweite Kirche neben der verborgenen dar. Deren Glieder, die Glaubenden, gehören ja, da sie nur mittels Wort und Sakrament Gläubige geworden sind und bleiben, selbst zu den Hörern des Evangeliums und den Empfängern der Sakramente. So sind sichtbare und verborgene Kirche zwei Dimensionen derselben Sache (vgl. WA 1; 639,2–4). Zugleich unterscheidet sich die sichtbare aber auch in mehreren Hinsichten von der verborgenen Kirche: In ihr gibt es eine Reihe von Differenzen, die in der verborgenen Kirche ausgeschlossen sind, nämlich – erstens – die Differenz zwischen Gläubigen und Ungläubigen, sodann – zweitens – die von Amtsträgern und übrigen Christen und – drittens – die von wahrer und falscher Kirche. Nicht alle Glieder der sichtbaren Kirche gehören – erstens – zur Gemeinschaft der Glaubenden. Sie ist also mit der verborgenen Kirche nicht deckungsgleich. Denn nicht alle, die das Evangelium hören und die Sakramente empfangen, werden dadurch oder sind gläubige Christen; unter ihnen gibt es auch Menschen, die von diesen äußerlichen Mitteln innerlich nicht berührt werden. Doch zur sichtbaren Kirche gehören sie beide. Wo in dieser die Grenze zwischen Gläubigen und Ungläubigen verläuft, weiß nur Gott, der die Herzen kennt (WA 21; 31–39). Der Christ wird gemäß dem »Maßstab der Liebe«, die von jedem das Beste annimmt, jeden Getauften, also jeden Menschen, der zur sichtbaren Kirche gehört, auch als Glied der Gemeinschaft der Glaubenden betrachten (WA 18; 651,34–652,4).
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Unter den Gliedern der sichtbaren Kirche stehen einander – zweitens – Amtsträger und übrige Christen gegenüber. In der Gemeinschaft der Glaubenden gibt es dieses Gegenüber nicht, hier sind alle, die dazugehören, gleich, nämlich »warhafftig geystlichs stands« (WA 6; 407,13 f). D. h. sie haben alle gleichermaßen unmittelbare Gemeinschaft mit Gott, sie sind, da ein Stand solcher Gottunmittelbarkeit Kennzeichen des Priesters ist (WA 41; 153,30 f), allesamt Priester, teilhabend an Christi eigenem Priestertum (WA 12; 179,15–21. WA 41; 207,20 f. WA 45; 683,20 f). Tatsächlich allesamt – es »seyn all Christen man pfaffen, alle weyber pffeffyn, es sey junck oder alt, herr oder knecht, fraw oder magd, geleret oder leye« (WA 6; 370,25–27). Begründet wird dieser allgemeine priesterliche Stand der Christen durch die Taufe, ihre »Priesterweihe« (WA 6; 408,11 f), die Salbe dabei ist der – durch das äußere Mittel den Glauben bewirkende – heilige Geist (WA 17,2; 6, 12 f.17). Freilich empfangen sie ihren neuen Stand nicht nur für sich selbst. Darin eingeschlossen ist vielmehr eine Verpflichtung (WA 11; 412,5–13. WA 12; 181,17–19) im Blick auf andere Menschen: die priesterliche Aufgabe, anderen zu einem ebensolchen Verhältnis zu Gott zu verhelfen oder dazu beizutragen, dass sie darin bleiben (WA 45; 540,17–19). Sie wird wahrgenommen durch die Gabe jener Mittel, durch die Gott den Glauben schafft, sowie durch das fürbittende Gebet. Und dabei entspricht demselben priesterlichen Stand auch dieselbe priesterliche Vollmacht: Die, die »alle gleichermaßen Priester« sind, haben auch »dieselbe Vollmacht in Bezug auf das Wort und jedwedes Sakrament« (WA 6; 566,27 f. Vgl. WA 8; 273,12 f. WA 10,3; 395,3–9), dazu zu lehren, »Gottes Wort zu predigen und verkündigen, zu taufen, zu konsekrieren oder das Abendmahl zu halten, das Schlüsselamt zu verwalten, für andere zu bitten, zu opfern und über aller Lehre und Geister zu richten« (WA 12; 180,2–4). Von Christus selbst gesandt, steht der Christ, wo er priesterlich handelt, seinen Mitmenschen in Christi eigenem Namen und mit dessen Autorität gegenüber (WA 49; 139,3–7. WA 10,3; 394,32). Die Wahrnehmung der priesterlichen Aufgabe spielt sich insbesondere als Gabe der äußeren Gnadenmittel und damit in der sichtbaren Kirche ab. Das geschieht nun aber in einer festen Ordnung, die eine Differenzierung unter den Priestern mit sich bringt. So fügt Luther, wie sehr er die Allgemeinheit des den Christen eignenden Priestertums auch betont und wie umfassend er die Vollmachten bestimmt, die mit diesem Priestertum gegeben sind, oft eine Klausel an: »Ob wir wol alle gleych priester seyn, ßo kunden wir doch nit alle […] predigen« (WA 7; 28,34 f). Oder, alle Christen seien wahrhaftig geistlichen Standes, es bestehe unter ihnen kein Unterschied – »denn des ampts halben allein« (WA 6; 407,14 f). Unter diesem Gesichtspunkt des Amtes gilt: »Es mus einem allein befolhen werden, und allein lassen predigen, Teuffen, Absolvirn und Sacrament reichen, die andern alle des zufrieden sein und drein willigen« (WA 50; 633,8–10). Die Einschränkung in der Wahrnehmung der Vollmachten des allgemeinen Priestertums und die Differenz unter den Priestern, die hier ausgesprochen wird, hat allein einen Grund: die Notwendigkeit öffentlicher Verkündigung, d. h. der
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Übermittlung des Wortes Gottes nicht bloß »von Bruder zu Bruder«, zu der jeder Christ bevollmächtigt und verpflichtet ist, sondern der Verkündigung an die ganze Gemeinde und im Namen der ganzen Gemeinde. Sie ist von einzelnen, mit diesem Amt betrauten Christen wahrzunehmen: »Man mus Bisschove, Pfarrher oder Prediger haben, die öffentlich und sonderlich die obgenanten vier stück odder heilthum [sc. Predigt, Taufe, Abendmahl, Absolution] geben, reichen und uben, von wegen und im namen der Kirchen, viel mehr aber aus einsetzung Christi, wie S. Paulus Ephe. 4. sagt: ›Dedit dona hominibus.‹ Er hat gegeben etlich zu Aposteln, Propheten, Evangelisten, Lerer, Regirer etc.« (WA 50; 632,36–633,5). Wie diese Stelle zeigt, gibt Luther für die Bindung der öffentlichen Verkündigung an besondere Amtsträger zwei, auf den ersten Blick widersprüchliche, Gründe an, das allgemeine Priestertum und die Einsetzung durch Christus. So heißt es zum einen: »Von wegen und im Namen der Kirche« (vgl. auch WA 49; 600,12 f) müssen einzelne, damit Beauftragte die öffentliche Verkündigung des Wortes Gottes wahrnehmen, gerade weil alle Christen die Vollmacht zur Verkündigung haben. Denn so muss »einer […] sein, der da redet und das wort füret aus befehl und verwilligung der andern« (WA 49; 600,13 f. Vgl. WA 38; 227,20 ff. 247,10–31. WA 50; 633,4–6. WA 54; 251,31–34). Gäbe es doch sonst ein »schändliches Durcheinander« in der Gemeinde (WA 12; 189,23. Vgl. WA 50; 633,6–8). Oder es würden sich einzelne anmaßen, die Verkündigung in der Gesamtgemeinde wahrzunehmen, obwohl sie nicht mehr Vollmacht haben als ihre Mitchristen (WA 12; 189,17–23). So würde beides beschädigt, Gottes Wort käme nicht mehr als – an alle gerichtetes – Wort Gottes, sondern als Wort einzelner Menschen zur Sprache, und das allgemeine Priestertum verlöre seine Allgemeinheit. Nur die Übertragung der öffentlichen Verkündigung in Wort und Sakrament auf einzelne Christen durch die Gesamtheit der Gemeinde, für die und zu der sie sprechen sollen, kann diesen Schaden verhüten. Folglich steht es der Gemeinde auch keineswegs frei, solche Übertragung vorzunehmen oder nicht, sie »mus Bisschove, Pfarrher oder Prediger haben« (WA 50; 633,1). An dieser Stelle fügt sich die andere Begründung für das Amt der öffentlichen Verkündigung ein: Noch »viel mehr« müsse man solche Amtsträger haben »aus einsetzung Christi« (aaO 633,3. Vgl. auch WA 6; 441,24 f). Luther spricht nicht von einer Einsetzung des Amtes, wie er vom Befehl der Evangeliumsverkündigung oder von der Stiftung der Sakramente durch Christus spricht. Für die konkrete Einrichtung einer Amtsordnung verweist er vielmehr auf die nachösterliche Gemeinde (WA 50; 633,4 f [s. o.]; ferner 634,11 f). Wenn er darin gleichwohl den Gehorsam gegen eine Einsetzung Christi sieht, dann deshalb, weil das, was durch das Amt geschieht, die öffentliche Verkündigung, notwendig in Christi Auftrag zur Verbreitung des Evangeliums mitgegeben ist. So »müssen Apostel, Evangelisten, Propheten bleiben, sie heissen auch, wie sie wollen oder können, die Gottes wort und werck treiben« (WA 50; 634,13–15. Vgl. WA 11; 411,22–24). Das Amt der öffentlichen – mündlichen und sakramentalen – Verkündigung ist eines und wird übertragen in der Ordination, der Berufung (vocatio) zu eben
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diesem Auftrag (WA 38; 228,27–29). Sein primärer Ort ist die um eine Kanzel, einen Taufstein und einen Tisch versammelte Gemeinde, sein primärer Träger deren Pastor, den Luther wegen der Identität seines Amtes mit dem ursprünglichen Bischofsamt programmatisch »Bischof « nennt (z. B. WA 6; 440,21 f. WA 12; 205,3 f). Gleichwohl ist Luther kein Kongregationalist, der die vollständige Selbständigkeit der Einzelgemeinde vertritt. Dass die Christenheit ihrem Wesen nach eine ist über die Grenzen der Ortsgemeinden hinweg, soll sich vielmehr auch in der sichtbaren Kirche niederschlagen. So sieht er regelmäßige Visitationen der einzelnen Gemeinden vor. Außerdem strebt er die Ausbildung eines evangelischen übergemeindlichen Bischofsamtes an, wodurch dieses Amt entgegen aller mittlerweile eingetretenen politischen Entstellung wieder zu einem geistlichen werden soll. Während es gelingt, auf Bezirksebene mit dem des Superintendenten ein solches Amt zu schaffen, ist das auf der Ebene der bisherigen Diözesen nur außerhalb des Heiligen Römischen Reiches möglich – im Falle Preußens ist Luther selbst daran beteiligt (vgl. WA 12; 232–244. WA 18; 408–411) – und scheitert im Reich an den politischen Bedingungen. Luthers starke persönliche Bemühungen gerade an dieser Stelle, die ihren Höhepunkt in zwei von ihm vorgenommenen Bischofseinsetzungen haben – nämlich in Naumburg 1542 und Merseburg 1544 –, zeigen, wie sehr ihm an einer selbständigen übergemeindlichen Ordnung der evangelischen Kirchen gelegen war. Das sich stattdessen herausbildende Landesherrliche Kirchenregiment betrachtete er dagegen mit unverhohlenem Misstrauen (z. B. WAB 10; 436). Was die überterritoriale, weltweite Zusammengehörigkeit der christlichen Gemeinde betrifft, so äußert Luther sich selten zu der Frage, ob und, gegebenenfalls, wie sie in der sichtbaren Kirche zum Ausdruck zu bringen sei. Wo er darauf eingeht, spricht er sich für eine konziliare Form aus: Die Bischöfe, alle mit gleicher Autorität ausgestattet, sollten zusammen die Kirche leiten, wie das bei den Aposteln und zunächst bei den Bischöfen der Alten Kirche gewesen sei (WA 50; 217,5– 17). Als Haupt darüber gibt es nur den, der nicht selbst zur sichtbaren Kirche gehört, Jesus Christus (WA 50; 217,7. WA 51; 494,10 f). Damit ist der Anspruch des Papstes, sichtbares Haupt der Kirche zu sein, abgelehnt. Irgendeine Überordnung über die Kirche nach göttlichem Recht kommt ihm nicht zu, sie zu behaupten, ist Ausdruck antichristlicher Vermessenheit (WA 50; 217,23–218,18). Aber auch eine Überordnung des Papstes über die Kirche nur nach menschlichem Recht um der Einigkeit der Christenheit willen lehnt Luther ab (WA 50; 215,14– 216,15). Denn eine solche Überordnung ohne die Verbindlichkeit eines – nun einmal nicht gegebenen – göttlichen Befehls wäre gar nicht zu halten; sie würde nur zu Konkurrenz und so gerade zu neuen Spaltungen führen (WA 50; 216,23– 28). Folglich wäre mit einer derartigen bescheideneren Begründung der päpstlichen Position »der Christenheit nichts geholffen« (WA 50; 216,22 f). Zu helfen ist der Christenheit nicht durch Ausübung innerkirchlicher Macht, sondern nur durch ein Regiment geistlicher Eintracht – in dem »wir alle unter einem heubt Christo leben, und die Bisschove alle gleich nach dem ampt […] vleissig zu sa-
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men halten ynn eintrechtiger lere, glauben, sacramenten, gebeten und wercken der liebe etc.« (WA 50; 217,7–12). Schließlich gibt es in der sichtbaren Kirche noch einen dritten Unterschied, der bei der verborgenen Kirche ausgeschlossen ist, die schon berührte Differenz zwischen »wahrer« und »falscher Kirche« (ecclesia vera et falsa). Er hat seinen Grund darin, dass die Heilsmittel durch Menschen mitgeteilt werden, Menschen aber, auch Christenmenschen, nicht gegen Irrtum und Sünde gefeit sind. So werden nicht nur Predigt und Mitteilung der Sakramente von Amtsträgern vollzogen, die Sünder, ja bisweilen sogar ungläubig sind – eine Situation, der Luther mit dem klassischen antidonatistischen Hinweis auf die Wirksamkeit der Heilsmittel unabhängig von der Würdigkeit des Vermittlers begegnet (z. B. WA 38; 241,6–23). Sondern vor allem kommt es auch zu falscher Verkündigung und evangeliumswidriger Verwaltung der Sakramente. Ja, die Verkehrung kann so weit gehen, dass dies nicht nur in Einzelfällen, sondern in gewohnheitsmäßiger und sogar in offizieller kirchlicher Lehre und Praxis geschieht, so dass man feststellen muss: Hier ist falsche Kirche. Hinter solcher Verkehrung sieht Luther nicht allein die beteiligten Menschen, sondern hier handelt es sich um eine dämonische Pervertierung, die auf niemand Geringeres zurückgeht als den in der heiligen Schrift angekündigten Gegenspieler Jesu Christi, den Antichrist (WA 26; 147,27 f. WA 38; 232,15–17. WA 51; 505,11 f). Umso dringlicher ist es für den Christen, ein Kriterium zu haben, das ihm festzustellen erlaubt, wo die Kirche ist, an die er sich zu halten hat und in der er wirklich die Heilsmittel empfängt. Das Kriterium liegt in jenem Kennzeichen, woran die Kirche überhaupt zu erkennen ist: daran, dass hier in Predigt und Sakramentsfeier das Evangelium verkündigt wird – die Kennzeichen der Kirche sind ihrem Wesen nach die Kennzeichen der wahren Kirche (WA 43; 388,7– 9. WA 51; 479,1 ff). Luther sieht die evangeliumswidrige Kirche insbesondere in der päpstlichen Kirche verwirklicht, sie »ist nicht die wahre Kirche« (WA 43; 386,21), sondern »falsche« (WA 42; 193,4), ja, die Kirche des Antichrist (WA 26; 28 f. WA 50; 217,23–31), die in ihrer Lehre (WA 43; 22. WA 51; 493,8–16) und in ihrem Umgang mit den Sakramenten (WA 6; 501,35 f. 527,25 f. 543,12 f. WA 39,2; 160,13 f u. ö.) sowie in den Ansprüchen der Hierarchie und zumal des Papstes (WA 51; 494,24–26) dem Evangelium widerspricht und insofern gar nicht beanspruchen kann, Kirche zu sein (WA 43; 157,9 f.34). Die reformatorischen Gemeinden hingegen, die sich der evangeliumsgemäßen Verkündigung und Sakramentsverwaltung zugewandt und die ihr widersprechenden Verkehrungen bei sich beseitigt haben, geben sich damit als wahre Kirche zu erkennen (WA 43; 387,21–24. Vgl. WAT 4; 179,9–11). Allerdings lassen sich wahre und falsche Kirche nicht einfach auf zwei Körperschaften verteilen. Von derselben päpstlichen Kirche, die Luther als die Kirche des Antichrist charakterisiert und über die er schreibt: »Wyr gestehen yhn nicht, das sie die kirche seyn und sinds auch nicht« (WA 50; 249,24 f), sagt er zugleich: »Es bleiben in der Stadt Rom, obgleich sie schlimmer ist als Sodom und Gomorrha, Taufe, Abendmahl, Verkündigung und Text des Evangeli-
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ums, Heilige Schrift, Ämter, der Name Christi, der Name Gottes« (WA 40,1; 69,23–26. Vgl. WA 38; 221,18–31). Und er ist sicher: »Wo nun solche Stücke noch blieben sind, da ist gewißlich die Kirche und etliche Heiligen geblieben« (WA 40,1; 69,31 f). Ja, Luther gesteht freimütig zu, dass er und die anderen Reformatoren wie die evangelischen Gemeinden all jene Güter selber der Kirche unter dem Papsttum verdanken: »Wil euch noch höher loben, und bekennen, das wir aus der Kirchen unter euch (nicht von euch) alles empfangen haben. « (WA 51; 501,23–25. Vgl. WA 26; 147,13–15). Wenn aber beides zugleich gilt, dann heißt das: Die falsche ist mit der wahren Kirche verschränkt, die »heilige Kirche ist […] die heilige stette des grewels« (WA 38; 221,18), der Antichrist ist eine innerkirchliche Erscheinung (WA 51; 505,10–12. Vgl. WA 26; 147,29–35) und bringt durch die Verfälschung des Evangeliums Christen um das Heil (WA 51; 505,16–506,1). Wenn die Kirche, in der er sitzt, dennoch die Kirche bleibt und dort Evangelium und Sakramente weitergegeben werden und Gläubige sind, dann ist es Christus selbst, der dafür sorgt: Er hat die Heilsmittel »gewaltig […] müssen erhalten«, und ebenso »gewaltig hat er müssen erhalten die hertzen, das sie jre Tauffe, Euangelion etc. nicht verloren noch vergessen haben bey so viel ergerlichem wesen« (WA 38; 222,1–6). Christus setzt das alles gegen das Wirken seiner Gegner in der Kirche durch, die als Getaufte »ynn der kirchen« sind und bleiben, aber nicht mehr »von der kirchen oder gelieder der kirchen« sind (WA 51; 505,10.13). Wenn Luther diese Gedanken in der Auseinandersetzung mit dem Papsttum entwickelte, hieß das für ihn nicht, das Ineinander von wahrer und falscher Kirche, der Kampf von Christus und Antichrist hätte sich auf diese Institution beschränkt. Vielmehr sah er auch bei den sog. Schwärmern den Antichrist am Werk (WA 50; 646,27–647,5). Und er warnte die evangelischen Gemeinden davor, selbst zu dessen Feld zu werden: Wohl ist hier aus der wahren Kirche, die sich, von Christus durchgesetzt, unter dem offiziellen Regiment der falschen gehalten hat, eine solche geworden, in der auch die offizielle Lehre und Praxis den Kriterien evangeliumsgemäßer Verkündigung und Sakramentsverwaltung entspricht; gleichwohl dürfen auch sie sich nicht »vermessen« und einbilden, der Antichrist sei »so fern von uns« (WA 50; 468,10–469,5. Vgl. WA 43; 428,42). Der Kampf zwischen wahrer und falscher Kirche, zwischen Christus und dem Antichrist ist kein gelegentliches Widerfahrnis. Er begleitet vielmehr die christliche Gemeinde von ihrem Anfang bis zum Jüngsten Tag (vgl. WA 51; 477,30 f). So zwingt er die Gläubigen zu stetiger Wachsamkeit und unablässigem Gebet (WA 50; 468,10–469,1). Wer aus diesem Kampf als der Stärkere hervorgeht, kann gleichwohl nicht zweifelhaft sein: Es ist die wahre Kirche, die »den sieg bis auff den jüngsten tag« davonträgt (WA 51; 291,20 f. Vgl. WA 5; 493,12 f). Das aber verdankt sie, die selber Schwache (WA 51; 291,1–5), Christus, dem »Sieger über die Welt« (victor mundi: WAB 5; 412,38). Er »bleibt bei seiner Kirche bis zur Vollendung der Welt« (WA 18; 649,31–650,1). Das tut er, indem er selbst Wort und Sakrament und mit ihnen die Gemeinschaft der Glaubenden bewahrt. So erhält er sie irrtumslos in
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der Wahrheit (WA 51; 515,30), obwohl ihre Lehre oft genug unrein ist (WA 42; 423,30 f). So erhält er sie in ungebrochener geistlicher Kontinuität (WA 50; 593,7–14. 628,16–19), obwohl ihre äußerliche, institutionelle Kontinuität, die Abfolge (successio) ihrer Repräsentanten, weit entfernt davon, die Kirche in der Kontinuität des Evangeliums zu halten (WA 43; 387,14–19), dieser oft und oft zuwiderlief (WA 43; 157,9–14), so dass er institutionelle Neuanfänge mit ihr machen und die wahre Kontinuität durch den äußeren Bruch bewahren musste und vielleicht wieder muss (vgl. WA 42; 332,35–37. 333,30–34). Und so erhält er sie in der Einheit, obwohl ihre Glieder sich überall in der Welt und in verschiedenen Kirchentümern befinden (WA 26; 506,38 f). Bis am Jüngsten Tag die Verborgenheit der Kirche enden und sie frei von aller Sünde, Bedrückung und Schwäche in ihrem Wesen selbst offenbar sein wird (WA 30,1; 191). Goertz, Harald: Allgemeines Priestertum und ordiniertes Amt bei Luther (MThSt 46), 1997. Höhne, Wolfgang: Luthers Anschauungen über die Kontinuität der Kirche (AWTL.NF 12), 1963. Kinder, Ernst: Der evangelische Glaube und die Kirche. Grundzüge des evangelisch-lutherischen Kirchenverständnisses, 21960. Lienhard, Marc: L’Évangile et l’Église chez Luther (CFi 153), 1989. Wendebourg, Dorothea: Die Reformation in Deutschland und das bischöfliche Amt (in: Dies.: Die eine Christenheit auf Erden, 2000, 195–224). Dorothea Wendebourg
7. Taufe und Abendmahl Martin Luthers reformatorische Grunderkenntnis, dass die Beziehung zwischen Gott und Mensch zur Erfüllung kommt in der Beziehung zwischen Gottes heilvollem, im Evangelium gegebenem Wort und des Menschen Glauben, hätte ihn, wie er selbst einmal bekannte (WA 15; 394,12–20), dazu führen können, den Weg der sog. Schwärmer und Zwinglis zu gehen und die Sakramente als Mittel des Heils abzulehnen. Er schlug diesen Weg nicht ein, vielmehr lernte er, dass die Sakramente als Heilsmittel selbst im Rahmen jener Grunderkenntnis zu verstehen und entsprechend zu vollziehen seien. Dafür gab es eine Voraussetzung, die ihm immer festgestanden hatte und an der er immer festhielt: Gott wendet sich dem Menschen nicht unvermittelt zu, in der direkten Berührung von Geist zu Geist, sondern er tut das durch äußere, leibliche, sinnliche Vermittlung. So begegnet Gottes Zuwendung als von außen kommende Gabe, die der Mensch nur empfangen kann, und löst sich nicht in dessen eigene Regungen oder Taten auf. Und so ist der Glaube auf etwas bezogen, das ihm vorausliegt und damit allererst Gewissheit möglich macht: »Der glaube [mus] etwas haben […] das er glaube, das ist daran er sich halte und darauff stehe und fusse« (WA 30,1; 215,24–26). Diesen leiblich-sinnlichen Charakter der Zuwendung Gottes hebt Luther zunächst im Blick auf das mündlich verkündigte Evangelium hervor, wenn er in
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seiner Römerbriefvorlesung von 1515/16 das Wort Gottes als – in der Predigt der Kirche erklingende – »Laute und Worte« (voces et verba) charakterisiert (WA 56; 426,1). Das Medium, um das es hier geht, ist das hörbare Wort, der Sinn, den es anspricht, das Ohr. So kommt den Menschen das Evangelium nah. Aber so sehr das hörbare Wort für Luther, zumal in der Frühzeit der Reformation, die erste Stelle innehat, steht ihm doch auch fest, dass es daneben noch andere sinnliche Weisen gibt, in denen, verbunden mit dem Wort, Gott die Gabe des Evangeliums dem Menschen nahebringt – das sichtbare und fühlbare Zeichen der Taufe und die sichtbaren und schmeckbaren Zeichen des Abendmahls. Ebenso wie das hörbare Evangelium zielen sie allerdings nicht auf die Sinne. Was über sie erreicht werden soll, ist vielmehr das Herz – das hörbare Wort und die sichtbaren Zeichen wollen das Herz zum Glauben führen, der allein sie mit heilvoller Wirkung empfängt. Ohne den Glauben haben sie keine heilvolle Wirkung. Dass diese äußeren Dinge aber zum Glauben führen oder den Glauben nähren, dazu bedarf es der Wirksamkeit, die Gott, der heilige Geist, im Inneren des Menschen entfaltet. Beide Aussagen, dass Taufe und Abendmahl Gabe des Evangeliums in unterschiedlicher leiblicher Gestalt sind und dass diese Gabe im Glauben empfangen werden will, stehen für Luther von der Frühzeit der Reformation bis an sein Lebensende fest. In der näheren Durchführung gibt es allerdings eine Entwicklung, insbesondere was das Abendmahl betrifft. Sie wird dadurch ausgelöst, dass Luther sich über Taufe und Abendmahl mit verschiedenen Gegnern auseinandersetzt, in deren Lehre und Praxis er unterschiedliche Irrtümer zu bekämpfen hat. Bis ins zweite Drittel der 1520er Jahre hinein ist der vorrangige Gegner die zeitgenössische Kirche. Ihr hält Luther vor, dass sie den wesenhaften Bezug beider Sakramente auf den Glauben leugne. Diese elementare Fehlorientierung habe sie im Fall der Taufe mit einer verhängnisvollen Unterschätzung der hier zugeeigneten Gnade wie ihrer Funktion für das ganze Leben des Christen verbunden, die sich in den Verkehrungen der Buße und des Mönchtums zeige (WA 6; 527,9–529. WA 34; 538,36–542,38), und im Fall des Abendmahls mit dem schlimmsten aller sakramententheologischen und -praktischen Irrtümer, es handle sich hier primär um ein Gott darzubringendes Opfer und nicht eine zu empfangende Gabe, ein zu empfangendes Mahl (WA 6; 365,23–25. 512,7–9. 520,13–19. 523,8–10). Dagegen könne man nur immer wieder betonen, in diesem Sakrament ist »lauter genieß und nhemen« (WA 6; 365,13). Bevor Luther allerdings an dieser Front 1520 seine vollentwickelte Gegenposition erreicht hat, bringt er 1519 in den in seelsorgerlicher Absicht verfassten Sermonen Von dem heiligen hochwürdigen Sakrament der Taufe (WA 2; 727–737) und Von dem Hochwürdigen Sakrament des Heiligen Wahren Leichnams Christi und von den Bruderschaften (WA 2; 742–758) Aussagen vor, die bereits deutlich kritisches Gepräge tragen, sich aber von jener Position unterscheiden. Das gilt zumal von dem zweiten Sermon, der die ekklesiologische Bedeutung des Abendmahls in einer Weise in den Mittelpunkt rückt, wie Luther das später nicht mehr tun wird. 1520 ist dann, zunächst wieder in einem Sermon, nämlich Von dem neuen Testament, das ist von der heiligen Messe (WA 6; 353–
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378), der Standpunkt erreicht, der nicht allein die systematische Auseinandersetzung mit der kirchlichen Lehre und Praxis, sondern auch die positive Neugestaltung erlaubt. Erstere unternimmt Luther noch im selben Jahr in der Schrift De captivitate Babylonica ecclesiae praeludium (WA 6; 497–573), der programmatischen Abrechnung mit der gesamten Sakramentenlehre und -praxis der zeitgenössischen Kirche, letztere in den Gottesdienstordnungen Formula Missae et Communionis (WA 12; 205–220) von 1523 und Deutsche Messe (WA 19; 72–113) von 1526. Rückgrat des in diesen Schriften entfalteten oder vorausgesetzten Sakramentsverständnisses ist die rechtfertigungstheologische Grundaussage: »Neque enim deus […] aliter cum hominibus unquam egit aut agit quam verbo promissionis. Rursus, nec nos cum deo unquam agere aliter possumus quam fide in verbum promissionis eius« (Gott handelte oder handelt […] mit den Menschen niemals anders als durch das Wort seiner Zusage. Wiederum können wir mit Gott niemals anders handeln als durch den Glauben an das Wort seiner Zusage) (WA 6; 516,30–32). Taufe und Abendmahl sind nichts anderes als Gottes Zusage (promissio), sein Evangeliumswort, in dem er dem Menschen die Vergebung, das ewige Leben, kurz, das in seinem Sohn gegebene Heil zuspricht, verbunden mit sichtbaren Zeichen (signum, sacramentum) (WA 6; 531,26). Urheber der Verbindung ist kein Geringerer als Christus selbst, der Taufe und Abendmahl eingesetzt hat, und nur deshalb können die Zeichen ihre Rolle bei der Vermittlung des Heils spielen. Diese drei Charakteristika aber, göttliche Heilszusage, sichtbares Zeichen und Einsetzung durch Christus, gelten nur für Taufe und Abendmahl und zeichnen diese beiden Riten vor allen anderen, die es möglicherweise noch in der Kirche gibt, aus. Darum können auch nur diese beiden als Sakramente gelten. Allen anderen rituellen Vollzügen, die die zeitgenössische Kirche als Sakramente betrachtet, kommt diese Einstufung nicht zu (WA 6; 550,7–16.22–29. 560,20–24. 568,11–14). Schwankend ist Luther zunächst im Blick auf die Absolution (WA 6; 501,33 f und 529,5 neben 572,12 f). Denn diese Form der Heilszusage ist zwar einerseits von Christus eingesetzt, entbehrt aber andererseits eines beigegebenen Zeichens. Deshalb kommt er zu dem Schluss, dass die – keineswegs in Frage gestellte – Absolution im eigentlichen Sinne kein Sakrament sei (WA 6; 572,15 f) – ein Befund, der ihm auch sachgerecht erscheint, da die Absolution der Taufe zuzuordnen und die immer neue Zueignung des hier mitgeteilten Heiles ist (WA 6; 572,16 f. 528,13–16. WA 30,1; 221,12–222,6). Was die Taufe selbst betrifft, so liegt ihre Zusage in Christi Wort: »Wer da glaubt und getauft wird, der wird selig werden« (Mk 16,16). Sie gilt dem Getauften ein für allemal, sein Leben lang – »wenn diese göttliche Zusage einmal über uns gebracht worden ist, währt ihre Geltung bis in den Tod« (WA 6; 528,10 f). So kann der Getaufte sich immer, auch wenn er gesündigt hat, darauf verlassen (WA 6; 529,11 f). Ja, selbst wenn er sich von ihr abgewandt hat, bleibt sie bestehen, »bereit, uns mit ausgestreckter Hand aufzunehmen, wenn wir nur zurückkehren« (WA 6; 529,17). Das mit der Zusage verbundene Zeichen ist die – von Christus
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selbst durch den Täufer vollzogene (WA 6; 530,22–24) – Untertauchung in Wasser (mersio in aquam) (WA 6; 531,27); bezeichnet wird dadurch das Sterben und Auferstehen mit Christus, das Wiedergeborenwerden, das das Leben des Getauften prägt (WA 6; 534,3–14). Wichtiger als das Zeichen ist allerdings die Zusage (WA 6; 533,29). Denn der Zusage korrespondiert das, worauf das ganze Sakrament zielt: der Glaube – »es kann nicht geglaubt werden, wenn die Zusage nicht da ist«. Und sie geht ohne den Glauben ins Leere – »die Zusage hingegen kommt nicht zur Geltung, wenn sie nicht geglaubt wird. « D. h., »beide […] machen, wenn sie aufeinander bezogen da sind, den Sakramenten die wahre und allergewisseste Wirksamkeit [efficatia]« (WA 6; 533,32–34). Denn im – von Gott selbst gewirkten (WA 6; 530,16 f) – Glauben eignet der Täufling sich an, was die Zusage ihm gibt, wird er gerechtfertigt, empfängt er die Seligkeit (WA 6; 532,36 f). Das ist auch nicht anders, wenn der Täufling ein Säugling ist. Dann wird ihm der das Heil empfangende Glaube auf das Gebet der Gemeinde hin, die ihn zur Taufe bringt und aus ihrem »fremden Glauben« (fides aliena) heraus darum bittet, von Gott »eingegossen« (WA 6; 538,6–11). Die Zusage im Abendmahl sind die Worte, mit denen Christus den Jüngern dies Sakrament bei dessen Einsetzung austeilte (WA 6; 515,17–26); sie teilt den Kommunikanten die Vergebung der Sünden und das ewige Leben mit (WA 6; 358,14–20. 515,6–21) und ist »die Summe und Zusammenfassung des Evangeliums« selbst (WA 6; 525,36. 374,4 f). Am Vorabend der Kreuzigung eingesetzt, ist sie Christi Testament, das dann durch seinen Tod in Geltung trat (WA 6; 357,10– 18. 513,14–26). Das Zeichen, das er der Heilszusage als sichtbare Gabe hinzufügte, um zu bekräftigen, dass sie wirklich gewiss sei, und das Testament zu besiegeln, sind sein eigener Leib und sein eigenes Blut, die er am Kreuz für die Menschen hingab (WA 6; 515,22 f. 518,10–12. 359,4–6). Dieser Leib und dieses Blut werden den Kommunikanten ausgeteilt »in« oder »unter« Brot und Wein (WA 6; 518,2. 359,6), wobei ihr genaues Verhältnis zu diesen Elementen sich nicht erklären lässt, aber auch nicht erklärt zu werden braucht (WA 6; 508,1–512,6). Wie bei der Taufe ist aber auch hier die Zusage wichtiger als das Zeichen – »es ligt alles an den worten dißes sacraments« (WA 6; 360,29 f. S. a. WA 6; 373,32–374,1). Sie sind »lebendig wort«, die Christus – durch den Mund des Zelebranten – selber spricht (WA 6; 361,9). Und zwar spricht er sie zugleich zu den Kommunikanten, indem er ihnen die Vergebung zusagt und seinen Leib austeilt, und über den Elementen, mit denen er sich leiblich zur Gabe verbindet; d. h. sie sind zugleich Zusage‑, Distributions- und Konsekrationswort, was in der Deutsche[n] Messe auch liturgisch umgesetzt ist (WA 19; 99,5–11). Ihre entscheidende Dimension ist freilich die, dass sie Zusage sind. Denn so bringen sie den Kommunikanten nahe, dass es hier um sie geht, dass Christus »tzu dir und allen sagt, ›das ist meyn blüt, eyn news testament, damit ich dir bescheyde vorgebung aller sund unnd ewiges leben‹ « (WA 6; 360,22–24). So wollen sie den Empfänger dazu bringen, dass er sie »war seyn [läßt]«, dass er ihnen glaubt (WA 6; 360,22). Ohne den Glauben nützt das Sakrament nichts, ja, bringt es Gericht (WA 6; 517,32 f). Im Glauben
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empfangen aber teilt es mit, was es zusagt (WA 6; 365,6 f). Denn es ist der Glaube, dem Gott »hie eyne weyde, tisch und maltzeyt bereyt« hat (WA 6; 363,27 f). Hatte Luther in der ersten Phase seiner reformatorischen Sakramententheologie betont, dass Taufe und Abendmahl Gnadenmittel sind, die nur im Glauben heilswirksam empfangen werden, sah er sich vom zweiten Drittel der 1520er Jahre an herausgefordert, an einer zweiten Front zugleich zu verteidigen, dass hier tatsächlich Gnadenmittel empfangen werden. Diese zweite Front wurde von Leuten eröffnet, die den Glaubensbezug der Sakramente mit ihm, ja wesentlich unter seinem Einfluss vertraten, die aber meinten, gerade von hier aus in der Erneuerung der Lehre und Praxis der Sakramente noch weiter gehen zu müssen. Es waren zum einen Männer wie die »Zwickauer Propheten« und die von Zürich ausgehenden (Wieder‑)Täufer, die die Taufe von Säuglingen ablehnten, weil hier von einem Glauben der Empfänger nicht die Rede sein könne. Zum anderen waren es Theologen wie die sog. Spiritualisten Thomas Müntzer und Kaspar Schwenckfeld, aber auch Luthers Wittenberger Kollege Andreas Karlstadt und die Schweizer Reformatoren Huldrych Zwingli und Johannes Oekolampad, die feststellten, dass äußerlich-sinnliche Elemente keine Heilsmittel seien, da der geistige Gott sich solcher Medien zur Gabe der göttlichen Gnade nicht bediene und der Glaube, der seinerseits ein geistiges Geschehen sei, solche Medien auch nicht brauche; von Karlstadt und den Schweizern wurde dies Argument besonders im Blick auf das Abendmahl ausgeführt und mit der Aussage verbunden, dass von einer Gegenwart des Leibes Christi in Verbindung mit Brot und Wein keine Rede sein könne. Wenn Luther nun hervorhob und argumentativ verteidigte, dass die Sakramente in ihrer leiblichen Gestalt durchaus Gnadenmittel seien, dann musste er zugleich seine eigene Auffassung weiterentwickeln. Offensichtlich wies das Sakramentsverständnis, das er in den vergangenen Jahren vorgebracht hatte, eine Schwäche auf, die eine wirksame Verteidigung an der neuen Front erschwerte, ja die zur Ausbildung der Position jener neuen Gegner selbst beigetragen hatte. Diese Schwäche betraf die Einbindung der leiblichen Zeichen; dass sie, einschließlich des Herrenleibes, nur als von Christus gegebene Bekräftigung im Rahmen der eigentlich entscheidenden Beziehung von Zusage und Glauben galten, brachte ihre heilsmittlerische Funktion nicht hinreichend zur Geltung. So konzentrierte Luther sich nun darauf, genauer darzulegen, was Taufe und Abendmahl als Vollzüge, die neben dem mündlichen Wort sichtbare Zeichen umfassen, sind; dabei machte die Reflexion über den äußerlich-leiblichen Charakter der Zeichen auch den des mündlichen Wortes verstärkt bewusst und zeigte, dass mit ersterem auch letzterer verteidigt wurde. Hinsichtlich des Abendmahls rückte die Gegenwart des Leibes Christi mehr und mehr in den Mittelpunkt. Dass beide Sakramente auf den Glauben zielen, blieb selbstverständlich, brauchte aber, da in der neuen Debatte unstrittig, nicht mehr ausführlich behandelt zu werden. Literarisch ist die weiterentwickelte Position im Blick auf das Abendmahl erheblich breiter belegt als im Blick auf die Taufe. Zu diesem Sakrament sind nur
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die Schrift zur Verteidigung der Kindertaufe Von der Wiedertaufe an zwei Pfarrherrn von 1528 (WA 26; 144–174) und die Taufabschnitte des Kleine[n] und des Große[n] Katechismus zu nennen (WA 30,1; 212–222. 379–383), abgesehen von einer großen Zahl von Taufpredigten und der im Taufbüchlein niedergelegten Taufliturgie (WA 19; 537–541). Zum Abendmahl liegen hingegen mehrere, sehr ausführliche Abhandlungen vor, so nach dem Vorspiel Vom Anbeten des Sakraments des heiligen Leichnams Christi von 1523 (WA 11; 431–456) die gegen Karlstadt gerichteten Schriften Wider die himmlischen Propheten von den Bildern und Sakrament von 1524/25 (WA 18; 62–125. 134–214) und die beiden Traktate gegen Zwingli Daß diese Worte Christi ›Das ist mein Leib‹ noch fest stehen, wider die Schwarmgeister von 1527 (WA 23; 64–322) und Vom Abendmahl Christi. Bekenntnis von 1528 (WA 26; 261–509). Nicht abgrenzend, sondern rein darlegend sind die Abendmahlsteile der beiden Katechismen (WA 30,1; 125–238. 243–345). Gott handelt mit uns nicht nur »ynnerlich […] durch den heyligen geyst und glauben«, sondern auch »eusserlich […] durchs mündliche wort des Euangelij und durch leypliche zeychen, alls do ist Tauffe und Sacrament [sc. Abendmahl]« (WA 18; 136,10–13. S. a. WA 26; 506,8–11). In ihnen hat der Glaube seinen Gegenstand, so dass er »daran […] hafftet und gebunden ist«; dass sie äußerlich sind, ist ihm nicht hinderlich, sondern vielmehr notwendig: »das ding, daran der glaube hafftet […], sol und mus eusserlich sein, daß mans mit synnen fassen und begreiffen und dadurch yns herz bringen könne, wie denn das gantze Euangelion ein eusserliche mündliche predigt ist« (WA 30,1; 215,32–36). Als die äußerlichen Bezugspunkte des Glaubens aber sind mündliche Verkündigung, Taufe und Abendmahl zugleich die »drey mittel oder weise« (WA 26; 506,11), die »brucken, steg und weg« oder auch die »leytter«, mittels deren der heilige Geist kommt und den Glauben schafft, so dass der Mensch des Heils teilhaftig wird (WA 18; 137,13); ohne sie will Gott »niemant den geyst noch glauben geben« (WA 18; 136,17 f). So lautet der cantus firmus, den Luther seinen neuen Gegnern entgegenhält. Neu ist dabei, wie Sakramente und mündliche Verkündigung einander zugeordnet werden: Taufe und Abendmahl stehen mit ihr auf einer Ebene, und das gerade im Blick auf ihr »leibliches Zeichen«. Umgekehrt wird dadurch der sinnlich-äußerliche Charakter des – mündlichen – Wortes unterstrichen. Als Hintergrund dieser Natur der Gnadenmittel aber kommt neben dem Willen Gottes, der sie eingesetzt hat, die Natur des Menschen in den Blick, zu der auch die Sinne gehören und die nicht auf die Dimension des Geistigen reduziert werden darf. Was das konkret heißt, zeigt die Taufdefinition der Katechismen. Dort wird nicht mehr gesagt, die Taufe sei Gottes Heilswort in Verbindung mit einem sichtbaren Zeichen, sondern umgekehrt: Sie »ist das wasser ynn Gottes gebot gefasset und mit Gottes wort verbunden« (WA 30,1; 309,24–26). Das Wasser der Taufe und das Bad darin ist jetzt selbst von Interesse. Allerdings ist es das nicht als »schlecht [sc. bloßes] wasser« (WA 30,1; 309,23 f). Vielmehr ist das Wasser der Taufe »geheiligt«, ist es »ein Göttlich, selig, fruchtbarlich und gnadenreich wasser«, kurz, ein »Gottes wasser« (WA 30,1; 213,31. 215,17 f. 213,31), und ist das
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Bad darin ein »hyemlische[s] bad« (WA 19; 539,15). Das aber ist es allein durch Gottes Gebot und Wort. Gemeint ist hiermit zum einen die Einsetzung der Taufe, wie sie im Taufbefehl Mt 28,19 (WA 30,1; 255,27–256,4. 212,15–18), zuvor aber auch schon in Jesu eigener Taufe (WA 19; 539,23–25) gegeben ist; nur weil Gott beschlossen hat, sich des Elementes Wasser als Heilsmittel zu bedienen, kann es mehr sein als bloßes Wasser und ist das Vertrauen auf die Taufe folglich kein Vertrauen auf menschliche Erfindung (WA 30,1; 212,24). Gemeint ist zum andern das Wort, das bei der Taufe gesprochen wird, nämlich dass sie »ynn Gottes namen« geschieht; dadurch wird sie zu Gottes eigener Taufe, in der der Täufling, wiewohl »durch des menschen hand«, doch »nicht von menschen sondern von Gott selbs getaufft« wird (WA 30,1; 213,12–14). Und gemeint ist zum dritten die Zusage, die Christus nach Mk 16,16 mit der Taufe verbunden hat, nämlich die Zusage der ewigen Seligkeit (WA 30,1; 256,9– 18. 217,9 f.17). In dieser mehrdimensionalen Bedeutung als Einsetzungs‑, Mitteilungs‑, Zusage- und in gewisser Weise auch Konsekrationswort ist »Gottes wort oder gepot und Gottes namen« der »kern ynn dem wasser« (WA 30,1; 214,4 f), der bewirkt, dass die Taufe geben kann, »was sie zusagt und bringet«, nämlich »uberwindung des Teuffels und tods, vergebung der sunde, Gottes gnade«, ja, nicht einzelne, noch so große Heilsgüter, sondern die eine Gnade Gottes: »den ganzen Christum und Heiligen geist mit seinen gaben« (WA 30,1; 217,17–19). Darin eingeschlossen ist die Gemeinschaft mit allen anderen zu Christus Gehörigen, »aller heiligen gemeinschafft« oder »Christenheit«, in die der Täufling hier aufgenommen wird (WA 19; 538,33. WA 30,1; 212,8 f. 220,16). Freilich, so groß der »Schatz« der Taufe ist – empfangen wird er nicht einfach durch den Vollzug des Wasserbads. Sondern weil »das Wort Gottes, so mit und bei dem Wasser ist«, daraus ein gnadenreiches Wasser macht, wird das, was dies Wasser zu geben hat, empfangen von dem »glaub so solchem wort Gottes jm wasser trauwet« (WA 30,1; 256,22–25. S. a. WA 30,1; 216,11–13). »On glauben ist es [sc. das Taufwasser] nichts nütz«, stellt Luther wie schon 1520 fest (WA 30,1; 216,13 f). Und er hält auch daran fest, dass das für jeden Täufling gilt, auch für kleine Kinder. Dabei zeigt er sich nach wie vor überzeugt, dass Gott auch diese Täuflinge zum Glauben bringt. Vor allem aber betont er nun, dass die Taufe, so sehr sie auf den Glauben zielt, nicht erst durch ihn zu einer gültigen, verlässlichen Taufe wird (WA 26; 164,40–165,9). Falls der Glaube in einem Säugling nicht sogleich in der Taufe entsteht – was aber keinesfalls auszuschließen ist, weshalb die Taufe nicht verschoben werden darf –, sondern erst später, verhält es sich nicht grundsätzlich anders, als es im weiteren Christenleben oft genug geschieht, wenn der Glaube schwächer wird oder gar vergeht und die Taufe trotzdem gültig ist und ihn zurückerwartet. Dann gilt: »Wenn ich auff meinen glawben getaufft wurde, solt ich morgen wol ungetaufft funden werden, wenn mir der glawbe entfiele, odder ich angefochten wurde, als hette ich gestern nicht recht gegleubt […]. An der tauffe feilet nichts, am glawben feilets ymer dar […]. Und er kan fallen, das man sagt: Sihe, da ist glawbe gewesen und ist nicht mehr da, Aber von der tauffe
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kan man nicht sagen: Sihe, da ist tauffe gewesen und ist nu nicht mehr tauffe. Nein, sie stehet noch […] und wird auch bleiben« (WA 26; 165,25–166,8). Gerade weil die Taufe in ihrer Verlässlichkeit ein für allemal steht, bestimmt sie, wo der Glaube »dem Wort Gottes im Wasser vertraut«, das ganze Leben des Christen. Sie tut es grundlegend, indem sie ihn mit Christus verbindet, ihm Vergebung und Seligkeit schenkt. Sie tut es aber auch in der Lebensführung, dadurch nämlich, dass sie den Getauften, laut Röm 6, dazu bringt, immer wieder mit Christus zu sterben und aufzuerstehen, den alten Adam in sich zu töten und ein erneuertes, immer gerechteres und reineres Verhalten an den Tag zu legen. Das ist die »Bedeutung« der Taufe, der Grund, warum Gott gerade »zeichen und geberde« des Untergetauchtwerdens und Wiederauftauchens ins und aus dem Wasser gewählt hat (WA 30,1; 257,16–258,4. 220,14–30). Es bringt die »tägliche Taufe« zur Anschauung, die sich im christlichen Leben vollzieht – »ein mal angefangen und ymmer daryn gegangen« (WA 30,1; 220,22 f). So kommen bei der Taufe die beiden Aspekte der Rechtfertigung zusammen: Mit ihrer Gabe macht sie den Getauften ganz gerecht. Mit ihrer Bedeutung hält sie ihn dazu an, sich, der auf dieser Welt immer auch noch Sünder ist, unaufhörlich zu bessern – bis, am Jüngsten Tag, der alte Adam in ihm ganz und gar untergegangen ist (WA 30,1; 221,3–9). Wie bei der Taufe, so heißt es in den Katechismen auch beim Abendmahl, dies Sakrament sei »brod und wein, aber nicht schlecht brod noch wein […], sondern brod und wein ynn Gottes wort gefasset und daran gebunden« (WA 30,1; 223,26– 28). Zugleich wird aber gesagt und erheblich stärker betont, das Sakrament sei »der ware leib und blut des HERRN Christi ynn und unter dem brod und wein durch Christus wort uns Christen befohlen zu essen und zu trincken« (WA 30,1; 223,22–24. 260,1–4). Daran zeigt sich, dass Taufe und Abendmahl nur bedingt zu parallelisieren sind, dass das Abendmahl mit der Realpräsenz eine Eigentümlichkeit hat, die sich gegen einen gemeinsamen Oberbegriff sperrt. Das Wort, in das die Elemente gefasst und durch das Essen und Trinken von Leib und Blut Christi befohlen sind, ist ein und dasselbe wie die bei jeder Abendmahlsfeier durch menschlichen Mund von Christus selbst als dem lebendigen Geber des Mahls gesprochenen Einsetzungsworte (WA 30,1; 260,1–24. 222,29– 223,6). Wie in den Schriften der frühen 1520er Jahre bestimmt Luther sie als Stiftungs- und als Zusage‑, Distributions- und Konsekrationsworte. Allerdings liegt auf der Konsekrationsfunktion nun ungleich größeres Gewicht, was sich auch auf die inhaltliche Bestimmung der Zusage auswirkt. Dass Christus sich durch die Einsetzungsworte leiblich mit Brot und Wein verbindet, dass sein Leib und Blut kraft ihrer »in und unter«, den Elementen da sind, wird immer wieder und mit größtem Nachdruck betont (WA 30,1; 223,37–224,12. WA 19; 493,1 f. WA 26; 287,27–29). Dabei liegt ein neuer Akzent auf den Sätzen »Dies ist mein Leib, mein Blut«, die wörtlich zu verstehen und so Beleg und Begründung der Realpräsenz sind, wie Luther es Zwingli beim Marburger Religionsgespräch vorhält: Weil jene Sätze Christi dastehen, »mus [ich] bekennen und gleuben, das der Leib Christi da sey« (WA 30,3; 137,12 f). D. h., Christus macht sich im Sakrament
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gegenwärtig nicht nur nach seiner göttlichen Natur, sondern in seiner ganzen gottmenschlichen Wirklichkeit, wie er »leiblich empfangen wird und geborn, ynn die krippe gelegt, ynn die arm genomen, ym abendmal uber tissch sitzt, am creutze henget etc.« (WA 23; 177,27–29). So schlägt sich in der Realpräsenz die christologische und soteriologische Grundwahrheit nieder, dass, »wo du mir Gott hinsetzest, da mustu mir die menscheit mit hin setzen, Sie lassen sich nicht sondern und von einander trennen, Es ist eine person worden« (WA 26; 333,6–8). Freilich geht es nicht um die Präsenz an sich. Sondern Christus verbindet seinen Leib mit den Speisen, um sich in und mit ihnen zu geben – das Konsekrations- ist auch Austeilungswort, das »Das ist« nicht von dem »Nehmt, eßt, trinkt!« zu trennen, und in einer Feier, die nicht auf das Mahl der Gemeinde zielt, macht sich Christus nicht im Brot gegenwärtig (WA 38; 235,27–30. 244,8–15. WA 39,1; 144,18–20. WAB 12; 400,12–21.25). Selbstvergegenwärtigung in Brot und Wein und sakramentale Selbstgabe an die Kommunikanten sind im Grunde ein und dieselbe Bewegung. In ihr wird jene Selbsthingabe, die Christi ganze Gegenwart auf Erden kennzeichnete und am Kreuz ihren Höhepunkt erreichte, fruchtbare Gegenwart für die, die da essen und trinken: »myr wirds [sc. Christi Blut] vergossen, wenn myrs ausgeteylet und zugeteylet wird, das fur mich vergossen sey« (WA 18; 205,26 f). Damit kommt die Frage in den Blick, was »denn sollch essen vnd trincken [nutzet]« (WA 30,1; 260,25). Die Antwort geben die Einsetzungsworte in ihrer letzten Funktion, nämlich indem sie Zusage sind (WA 30,1; 225,2 f). Deren Inhalt bestimmt Luther wie zuvor: Zugesagt wird, wie die Worte »für Euch gegeben, vergossen« und »zur Vergebung der Sünden« zeigen, »vergebung, leben und seligkeyt« (WA 30,1; 260,25–31. WA 2; 226,23 f). Doch unversehens gleitet diese Auskunft über in die andere: Zugesagt wird, dass die Essenden im Mahl den Leib Christi zu ihrem Heil empfangen. Christi Leib erscheint also nicht mehr nur, wie 1520, als Bekräftigung der zugesagten Seligkeit, sondern ist selbst der zugesagte Gegenstand: In dem Wort »für Euch gegeben« »hastu beides, das es Christus leib und blut ist und das es dein ist als ein schatz und geschenke« (WA 30,1; 225,31 f). Doch stehen die beiden Inhalte der Zusage nicht unverbunden nebeneinander; ist doch Christi Leib »eben das selbige gut, so fur mich gesetzt ist wider meine sunde, tod und alle unglück« (WA 30,1; 225,5 f). Gerade weil Christi Zusage dem Kommunikanten sagt, was das Abendmahl ihm nützt, kommt auch dies Sakrament ans Ziel nicht durch das Essen und Trinken allein, sondern erst dort, wo die Essenden und Trinkenden dieser Zusage glauben. Dass er seinen Leib und sein Blut gibt in Brot und Wein, beruht zwar ganz auf seinem Wort und ist von ihrem Glauben unabhängig (WA 30,1; 224,16.27), so dass die, die ohne Glauben kommunizieren, Christi Leib auch empfangen, aber nicht als ihren »Schatz«, sondern zum Gericht (WA 23; 179,31– 34. WA 26; 353,27–29). Doch dass die Gabe den Empfängern Vergebung, Leben und Seligkeit bringt, ist ausgeschlossen, wo sie Christi Worten nicht vertrauen, die ihnen sagen »FUR EUCH gegeben«. Nur wer »yhm solchs lesset gesagt sein
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und gleubt, das war sey, der hat es« (WA 30,1; 226,25.27 f). Und in dessen Leben wird sich auch die »Bedeutung« des Abendmahls niederschlagen, die sich in der Verwendung des aus vielen Körnern gemachten Brotes und aus vielen Trauben gekelterten Weines sowie im Akt des Essens zeigt: Gemeinschaft – »quando sacramentum Christi accipio, fit communio« (WA 30,1; 27,18). Zum einen Gemeinschaft mit Christus: »Wenn man das Sakrament isset, leiben wir uns Christum ynn und er sich ynn uns« (WA 30,1; 27,6 f). So vollzieht sich in sakramentaler Form der fröhliche Wechsel zwischen dem – kommunizierenden – Sünder und dem – sich im Mahl gebenden – sündlosen Erlöser (WA 30,1; 27,7–9). Zum anderen Gemeinschaft mit den übrigen Christen: »significatio eius [sc. des Abendmahls] est, quod in Christianitate sit unitas, lieb und gemeinschafft« (WA 30,1; 26,24). Die dies Mahl gemeinsam essen, teilen auch ihre Not, Sünde und Trauer und helfen einander mit ihren Gütern, mit dem Evangelium und mit ihrer Freude (WA 30,1; 26,31–33. 27,11–16). »Sic kommen wir auch ynn einen kuchen […]. Das heisst denn ein geist und ein leib« – die Kirche, die communio sanctorum (WA 30,1; 26,34–27,2). »Sic edimus Sacramentum leiblich et geistlich, unsern glauben zu stercken und zu erfullen die deutung hernacher« (WA 30,1; 27,16 f). Grönvik, Lorenz: Die Taufe in der Theologie Martin Luthers (AAAbo. H 36,1), 1968. Schwab, Wolfgang: Entwicklung und Gestalt der Sakramententheologie bei Martin Luther (EHS.T 79), 1977. Schwarz, Reinhard: Der hermeneutische Angelpunkt in Luthers Meßreform (ZThK 89, 1992, 340–364). Wendebourg, Dorothea: Den falschen Weg Roms zu Ende gegangen? Zur gegenwärtigen Diskussion über Martin Luthers Gottesdienstreform und ihr Verhältnis zu den Traditionen der Alten Kirche (in: Dies.: Die eine Christenheit auf Erden, 2000, 164–194). Dies.: Essen zum Gedächtnis. Der Gedächtnisbefehl in den Abendmahlstheologien der Reformatoren (BHTh 148), 2009. Dorothea Wendebourg
8. Leben in der Welt 8.1. Der Horizont der christlichen Sicht auf das Leben in der Welt
Die Christusoffenbarung ist Offenbarung des Wesens und der Heilsabsicht des Schöpfers sowie der Heilszielstrebigkeit des geschaffenen Weltgeschehens (BSLK 660,27–47). Sie begründet den Glauben als innergeschichtlich unüberholbar konkrete, umfassende und vollkommene Gewissheit über die conditio humana als innerweltliches Leben, das aus und in dem heilszielstrebigen Wirken des Schöpfers existiert. Und zwar als die allen anderen Gestalten des Lebens gegenüber ausgezeichnete Gestalt des Lebens. Nämlich ausgezeichnet dadurch, dass ihm durch »Inspiration« (Gen 2,7) am Geist des Schöpfers selbst Anteil gegeben ist, so dass es nun – »carne et anima spirante constans« (WA 39,1; 176,7–9) – als
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innerweltliches Ebenbild des Schöpfers auch der innerweltliche Kooperator des Schöpfers ist (WA 18; 753 f), befähigt und genötigt zu vernünftiger und deshalb auch verantwortlicher Machtausübung (k C. II. 5.) im erkennenden Erfassen des Werdens seiner innerweltlichen Lage und zum gestaltenden Eingreifen in dieses Werden. Diese aus der Selbstvergegenwärtigung des Schöpfers im inkarnierten Logos durch den heiligen Geist stammende christliche Daseinsgewissheit weiß sich selber als Vertiefung der allen Menschen schon immer eignenden Daseinsgewissheit. Auch diese ist Gewissheit darüber, dass der Mensch eine gegenüber allen Weisen des innerweltlichen Lebens ausgezeichnete und über sie alle hinausgehobene Gestalt des Lebens ist und dies just kraft der unverwechselbaren Eigenart seiner anima. Allerdings sieht die vorchristliche, natürliche Daseinsgewissheit dieses Ausgezeichnetsein der menschlichen anima ausschließlich in deren Charakter als anima rationalis, und das heißt, sie erfasst dieses Ausgezeichnetsein ausschließlich als ein solches, welches den Menschen in ein innerweltlich einzigartiges Verhältnis der Machthabe gegenüber allen Prozessen in der Welt versetzt (WA 39,1; 175,11–13). Hingegen nicht erfasst der »sich selbst überlassene« Mensch (WA 18; 708–711.719.735) dieses Ausgezeichnetsein der menschlichen anima aus demjenigen Geschehen, durch welches diese in ihrem einzigartigen Ausgezeichnetsein allererst zustande kommt; nicht versteht er die Herkunft und Konstitution des durch einzigartige Machthabe in der Welt ausgezeichneten Wesens der menschlichen anima. Das hängt damit zusammen, dass diese vorchristliche Daseinsgewissheit zwar Gewissheit des Faktums ist, dass dem Menschen seine eigentümliche anima und damit sein eigentümlich machthabendes Leben durch ein allmächtiges Geschick, welches das gesamte Geschehen der Welt und alles Geschehen in ihr bestimmt, aufgenötigt ist (vgl. WA 18; 618 f. 712–722), jedoch keineswegs Gewissheit über das Wesen dieses allmächtigen weltschöpferischen Geschicks. Genau diese Unklarheit wird durch die Christusoffenbarung – also kraft Selbstvergegenwärtigung des Schöpfers im inkarnierten Logos durch den heiligen Geist – zum Verschwinden gebracht. Jetzt ist dieses allmächtige Geschick als das heilszielstrebige Wirken des Schöpfers erschlossen und gewiss. Und jetzt kann daher auch das Ausgezeichnetsein der menschlichen anima – und damit des Menschseins überhaupt – aus demjenigen Geschehen heraus verstanden werden, welches es gewährt und konstituiert. Der Rationalitätscharakter der menschlichen anima, ihre innerweltliche Machthabe gründet in dem Faktum, dass es zum heilszielstrebigen Wirken des Schöpfers hinzugehört, dem Menschen in der geschaffenen Welt am Geist des Schöpfers selbst Anteil zu geben: den Menschen zu inspirieren, so dass nun seine Seele eine inspirierte und darum auch selbst die Macht des Geistes ausübende (»anima spirans«) ist. Weil somit die christliche Daseinsgewissheit das Ausgezeichnetsein der menschlichen Seele aus dem schöpferischen Ursprung allen Geschehens erfasst, erfasst sie auch die Verfassung, den »Aufbau« der menschlichen Seele genauer als die vorchristliche. Sie erfasst, dass die wesentliche Rationalität der menschlichen
II. Themen – 8. Leben in der Welt
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Seele, ihr Genötigtsein zu rationaler Aktivität, fundiert ist in einer radikalen Passivität, in der sie das Vor-die-eigenen-Möglichkeiten-Gebrachtwerden erleidet und deren Effekt die unmittelbare Selbsterschlossenheit ist, manifest als der sich selbst fühlende »Geist« des Menschen (spiritus) bzw. dessen sein ganzes Dasein unmittelbar präsent habendes, fühlendes »Herz« und »Gewissen«. Die christliche Daseinsgewissheit leugnet nicht die Rationalität der menschlichen Seele und des menschlichen Lebens, aber sie sieht diese Rationalität fundiert in dem durch Gottes schaffendes Erschließungshandeln konstituierten Herzen und Gewissen des Menschen als der Sphäre seiner unmittelbaren Selbsterschlossenheit, des unmittelbaren Gefühls seines ganzen ungeteilten Daseins. Damit aber ist sie auch abhängig von der Art und Weise, wie dem Menschen in dieser Sphäre unmittelbarer Selbsterschlossenheit der Ursprung und das Ziel des allmächtigen Geschicks, in das er sich eingesenkt und von dem er sich mitgenommen findet, präsent ist; sie ist abhängig von dem, was ihm damit präsent und gewiss ist als das absolute, ursprüngliche (will sagen: schon im Ursprung des Daseins gesetzte) Ziel seines Daseins, als sein höchstes Gut, was ihn damit letztlich anzieht und worauf sein innerstes Streben ausgerichtet ist, worauf er letztlich aus ist, woran »sein Herz hängt« (BSLK 560,22–24); kurz, sie ist abhängig von der inhaltlichen Bestimmtheit seiner unmittelbaren Daseinsgewissheit. Ebenfalls gewiss geworden ist durch die Christusoffenbarung, dass diese inhaltliche Bestimmtheit der Daseinsgewissheit nicht der menschlichen ratio und ihrer Machtausübung unterliegt, sondern umgekehrt deren Vollzügen samt und sonders vorausgeht und sie steuert, indem sie durch das Gefühl des wahren höchsten Gutes festlegt, was ein Mensch überhaupt als im Bereich des wahrhaft Guten liegend rational wollen und anstreben kann. Und ferner ist durch die Christusoffenbarung gewiss geworden, dass für diese sapientiale (k C. II. 5.) Grundgewissheit und Grundausrichtung des rationalen Lebens des Menschen eine radikale Alternative besteht: Diese Grundausrichtung ist entweder die innergeschichtlich unüberholbar konkrete der aus der Christusoffenbarung stammenden Daseinsgewissheit des Glaubens, oder sie ist eine vorchristliche, der diese Konkretheit noch fehlt und die darum das menschliche Herz noch nicht auf das in Wahrheit Gute ausrichtet, noch nicht auf den Willen des Schöpfers und dessen Heilsziel, nämlich auf die durch dieses zeitliche Leben zu erreichende Vollendungsgestalt unseres zukünftigen Lebens in ewiger Gemeinschaft mit Gott, sondern auf irgendwelche innergeschichtlichen Befriedigungslagen als höchstes Gut zielt. Folglich sieht der Glaube im Horizont seiner aus der Christusoffenbarung stammenden Daseinsgewissheit, dass sich das menschliche Leben in der Welt in »zwei Reichen« vollzieht, im »Reich der Welt« und im »Reich Christi« (8.2.), dass die Menschen außerhalb des Glaubens im Reich der Welt leben, aber dabei schon zum Leben auch im Reich Christi bestimmt sind (8.3.), dass die Christen im Reich Christi leben – umgeben vom Reich der Welt und in ständiger Auseinandersetzung mit ihm (8.4.).
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8.2. Die zwei Reiche
Der aus der Dogmengeschichtsschreibung stammende Ausdruck »Zwei-ReicheLehre« begegnet bei Luther nicht. Er ist eine dogmengeschichtliche Bezeichnung, die sich erst der Rückbesinnung auf die Theologie Luthers in der Zeit zwischen Erstem und Zweitem Weltkrieg verdankt (vgl. Birkner 1980). Aber der Ausdruck bezeichnet einen Sachverhalt, der in der Tat für Luthers Nachzeichnung der christlichen Sicht des Lebens in der Welt grundlegend und bestimmend ist. Gemeint ist der Sachverhalt, dass durch die Christusoffenbarung rückblickend zwei grundverschiedene Bedingungen des menschlichen Lebens in der Welt sichtbar werden: einerseits das Leben in der Welt im Licht der Christusoffenbarung und auf dem Boden der durch sie geschaffenen Daseinsgewissheit des Glaubens, andererseits das Leben in der Welt nur im Licht des lumen naturale und auf dem Boden der nur durch es geschaffenen Daseinsgewissheit (grundlegend für diese Unterscheidung ist Luthers Obrigkeitsschrift: WA 11; 245–281). Dieser Unterschied betrifft die nicht in der Macht des Menschen stehende, sondern seine Machtausübung inhaltlich qualifizierende Ursprungs- und Gütergewissheit des Menschen, die als solche auch seinen Affekt und sein Streben (heute würden wir sagen: seine Präferenzen) bestimmt. Man kann auch sagen: Der Unterschied betrifft das Gebildetsein des menschlichen Herzens, muss dann aber damit ernst machen, dass es sich hier um ein Gebildetsein handelt, das nicht planmäßig durch die Bildungsaktivitäten von Menschen erzeugt werden kann, sondern sich eben einer bestimmten Aktivität Gottes verdankt, nämlich der Selbstvergegenwärtigung des Schöpfers im inkarnierten Logos durch den heiligen Geist, durch welche Gott selbst das allen Menschen als solchen gewährte lumen naturale zum lumen gratiae vertieft. In Zusammenfassung der bisherigen Diskussion (vgl. Schrey 1969) hat W. Härle diesen Interpretationsansatz konsequent durchgeführt (vgl. Härle 1987). In der Abfolge der Interpretationsversuche wurde klar, dass Luther ausgehend von der augustinischen Unterscheidung zweier civitates (terrena und caelestis) im geschichtlichen Zusammenleben der Menschen fortschreitet zur Fundierung dieser Differenz in der fundamentalanthropologischen Unterscheidung des Lebens außerhalb der Gnade und unter ihrer Wirkung und dann wiederum zur Fundierung dieses Unterschieds in der theologischen Unterscheidung zwischen zwei Weisen des Handelns Gottes, die jedoch beide je ein wesentliches Moment in dem dem einheitlichen Wesen Gottes entsprechenden, einheitlich heilszielstrebigen Schöpferwirken Gottes sind (was ausschließt, dass der Herrschaft Satans irgendeine Selbstständigkeit zukommt). Soweit ich sehe, wurde allerdings bisher noch nicht beachtet, dass Luther in De servo arbitrio die Rede von den »zwei Reichen« schließlich auch noch in einer weiteren, abermals erweiterten Bedeutung verwendet, nämlich zur Bezeichnung des Unterschieds zwischen dem universalen Bereich dessen, was Gott kann und tut, und dem von Gott darin dem Menschen eingeräumten Bereich der beschränkten, geschaffenen Macht des
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Menschen. So führt Luther zu Sir 15,14 b (et reliquit illum in manu consilii sui) aus: »Per Ecclesiasticum intelligamus hominem [gemeint ist nicht das Wesen, sondern die Wirklichkeit des Menschen] in duo regna distribui. Uno, quo fertur suo arbitrio et consilio […] puta in rebus sese inferioribus. Hic regnat et est dominus, ut in manu consilii sui relictus. […] Altero vero regno non relinquitur in manu consilii sui, sed arbitrio et consilio Dei fertur et ducitur« (WA 18; 672,8– 17). Diese Unterscheidung fällt sachlich offensichtlich zusammen mit der dem Glauben durch dies Christusgeschehen offenbaren Unterscheidung zwischen dem, was Gott im Verhältnis zu uns kann und was wir im Verhältnis zu Gott können (WA 18; 614). Dann aber bilden alle hier einschlägigen Unterscheidungen Luthers, die auf den ersten Blick so verwirrend wirken, in Wahrheit ein luzides System: Grundlegend ist die Unterscheidung zwischen dem Können und Wirken Gottes und dem durch dieses Wirken Gottes innerhalb seiner selbst dem Menschen eingeräumten Können und Wirken. Auf der ersten Seite, also auf der Seite des Wirkens Gottes, ist zu unterscheiden zwischen den zwei Regierweisen Gottes, die ihrerseits den Unterschied der beiden innergeschichtlichen Formen des menschlichen Zusammenlebens (»Reich der Gnade« und »Reich der Welt«) begründen. Aufgrund dieser Unterscheidung ist dann auch auf Seiten des menschlichen Könnens und Wirkens zu unterscheiden zwischen diesen Regierweisen des Menschen, die diesen beiden verschiedenen Regierweisen Gottes entsprechen. Und zwar ist hier mit sachlogischer Konsequenz auf Seiten des menschlichen Regierens eine doppelte Unterscheidung erforderlich: erstens die Unterscheidung zwischen derjenigen menschlichen Regierweise, die sich auf das durch Gottes Regiment zur Linken unterhaltene rein geschöpfliche Zusammenleben richtet (weltliches Regiment), und der menschlichen Regierweise, die sich auf das durch Gottes Regiment zur Rechten unterhaltene Zusammenleben im Licht der Christusoffenbarung richtet (geistliches Regiment). Zu unterscheiden ist aber dann zweitens auch zwischen denjenigen menschlichen Regierweisen, deren Ausübungsbedingung lediglich das Leben unter dem göttlichen Regiment zur Linken, und denjenigen menschlichen Regierweisen, deren Ausübungsbedingung darüber hinaus auch das Leben unter dem göttlichen Regiment zur Rechten ist (es macht einen Unterschied, ob geistliches und weltliches Regiment von Christen, also Geschöpfen des göttlichen Wirkens zur Rechten, oder von Nichtchristen, also Geschöpfen des göttlichen Wirkens zur Linken, ausgeübt werden: Nur von den ersten, nicht von den zweiten kann dem Unterschied der menschlichen Regierweisen konsequent Rechnung getragen werden). Im Rahmen dieses Distinktionsgefüges sieht also der Glaube diese zwei Reiche des Lebens im lumen naturale und des Lebens im lumen gratiae begründet im Handeln Gottes selber, und zwar in seinem Handeln in derjenigen Heilszielstrebigkeit, die dem Glauben durch die Christusoffenbarung erschlossen ist. Für diese Heilszielstrebigkeit des Schöpferwirkens sind von Anfang an drei Momente wesentlich (k C. II. 5.): a) das Gewähren der spezifisch menschlichen Lebens-
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form (in Selbsterschlossenheit und Machthabe) auf das vom Schöpfer uranfänglich gewollte Ziel hin, b) das Tragen des so gewährten menschlichen Lebens auf das Ziel hin, und zwar ein dieses Leben mit seinem Ursprung und Ziel versöhnendes, nämlich über beides durch die Christusoffenbarung aufklärendes Tragen und c) im Zusammenspiel von beidem die Verwirklichung des Heils, die Erreichung des Ziels der Vollendungsgestalt des menschlichen Lebens. Dies letztere erreicht der Schöpfer nur durch die beiden zuerst genannten Momente seines Wirkens. Sie werden von Luther angesprochen als zwei Weisen des schöpferischen Allmachtswirkens Gottes, als zwei Regimente: das »mit der linken Hand« (die natürlichen Lebensbedingungen des Menschen setzend und tragend auf Versöhnung und Vollendung hin) und das mit seiner Rechten, d. h. durch Christus ausgeübte Weltregiment (das Gesetzte und Getragene versöhnend und vollendend, aufklärend und schließlich verklärend). Durch diese zwei Regimente Gottes sind die beiden Reiche in der Geschichte begründet. Oder: Die beiden Reiche sind nichts anderes als der Effekt der beiden Regimente Gottes. Dabei ist festzuhalten: Beide Regierweisen Gottes stehen nicht unverbunden nebeneinander. Sie gehören ursprünglich zusammen. Sie sind die beiden wesentlichen Vollzugsmomente des von Anfang an einheitlich heilszielstrebigen Schöpferwirkens Gottes. Ihre Unterschiedenheit ändert nichts daran, dass sie von Anfang an aufeinander bezogen und aneinandergebunden sind: das Regiment mit der linken Hand wird ausgeübt in Absicht auf das Wirksamwerden auch des Regimentes zur Rechten, und das Regiment zur Rechten wird ausgeübt nicht in der Weise der Beseitigung des Regimentes zur Linken, sondern in der Weise der Vertiefung des Reiches zur Linken, in der Weise der Verwirklichung seines Ziels. Dementsprechend ist auch das Leben in dem nur durch das lumen naturale erleuchteten Reich von Anfang an hingeordnet auf das Leben in dem durch die Christusoffenbarung, dem lumen gratiae, erleuchteten Reich; und vor allem: das Leben im Reich der Gnade vollzieht sich nicht als Leben in einem anderen Reich als dem zur Linken, sondern lediglich als Leben im Licht der Wahrheit über das Reich der Natur: nämlich in sich selbst durch Gottes Schöpferhandeln (sein Regiment zur Linken) schon auf Versöhnung und Vollendung hin gewährt und erhalten zu sein, allerdings vor dem Aufgehen des lumen gratiae (der Selbstvergegenwärtigung des Schöpfers im inkarnierten Logos durch den heiligen Geist) in diesem seinem ursprünglichen und heilszielstrebigen Charakter vom Menschen nicht voll erkannt, daher verkannt und daher auch missbraucht zu sein. Der Effekt von Gottes Regiment zur Rechten verwirklicht das Ziel seines Regiments zur Linken, indem es dessen Missverstanden- und Missbrauchtwerden durch die Menschen überwindet, die in der durch das Schöpferhandeln heraufgeführten Situation des Sichselbstüberlassenseins (vgl. WA 18; 709–711.719.735) der Menschen unvermeidlich waren (vgl. WA 18; 719). Die Überwindung der Verkehrtheit, der Sünde, die im Reich des lumen naturale herrscht, geschieht nicht dadurch, dass der Mensch aus dem Regiment des Schöpfers herausgenommen würde, sondern dadurch, dass er das Regiment des Schöpfers als das des Versöhners
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zu sehen bekommt. Damit ist die Sicht des Glaubens auf das Reich der Natur (8.3.) und auf das der Gnade (8.4.) vorgezeichnet. 8.3. Das Leben des Unglaubens in der Welt aus der Sicht des Glaubens
Der Glaube sieht (8.3.1.) das menschliche Leben in der Welt unter den Bedingungen des Reiches der Natur als ein solches, das die aufgrund der geschöpflichen Konstitution des Menschseins unabweisbaren Zumutungen des innerweltlichen Personlebens übernimmt (8.3.1.1.), freilich in radikal und total verkehrter, nämlich Ursprung und Ziel des geschaffenen Personlebens verkennender und verfehlender Weise (8.3.1.2.); er sieht, dass er dieses innerlich missleitete Leben selbst gelebt hat, aber er lebt es jetzt selbst nicht mehr (8.3.2.). 8.3.1. Die aus der Christusoffenbarung stammende Daseinsgewissheit des Glaubens schließt die Sicht auf die Daseinsgewissheit aus dem lumen naturale und auf das Leben in diesem Licht, also auf das Leben im Reich der Natur ein. Dieses Leben kennt der Glaubende als sein eigenes Leben vor der Erleuchtung durch die Christusoffenbarung, und er findet es als das Leben der Nichtglaubenden in seiner Umwelt. 8.3.1.1. Er sieht und kennt dieses Leben als ein solches, das die in der geschöpflichen Konstitution des Menschseins begründeten und deshalb für den Menschen unabweisbaren Zumutungen übernimmt, oder: die Lösung der dem Menschen aufgenötigten Aufgaben einer verantwortlichen rationalen Lebensführung in Angriff nimmt. Diese Aufgaben sind: das Leben in Ehe und Familie, die Friedenssicherung durch politische Herrschaft, Sicherung des Lebensunterhalts durch Ökonomie, Kommunikation der das Leben in der Welt steuernden Leitgewissheit über den Ursprung und das Ziel des Daseins, also Kult dessen, was jeweils für Gott (will sagen: das höchste Gut) gehalten wird; dazu kommt die Kultivierung der ratio selbst in Formen der schulischen Bildung. Weil den Menschen durch die geschöpfliche Konstitution seines Personseins erreichend, müssen diese Zumutungen als Zumutungen des Schöpfers selbst an das geschaffene Menschsein verstanden werden. Sie sind die in der Heilszielstrebigkeit, die das Schöpferhandeln selbst bestimmt (also in dem, was der Schöpfer für die Geschöpfe tun will und tut), selbst enthaltene Zumutung an das Leben der geschaffenen Personen (das, was der Schöpfer in der Heilszielstrebigkeit seines Wirkens von seinen geschaffenen Kooperatoren [WA 18; 753 f] getan haben will). Also die lex naturalis, die als solche (als bloßer Inbegriff der genannten Zumutungen) jedem Menschen ins Herz geschrieben (WA 2; 580), zu Kommunikationszwecken aber auch in sprachliche Form gegossen ist und in dieser Gestalt im Dekalog vorliegt. Der für das Zusammenleben der Menschen grundlegende Kult ihres Gottes, d. h. ihres höchsten Gutes, wird von den Geboten der ersten Tafel gefordert. Auf die Geschlechterfolge in Ehe und Familie, auf Friedenssicherung durch politische Herrschaft, Bildung durch Erziehung, Erhalt des Lebensunterhalts durch Ökonomie richten sich die Gebote der zweiten Tafel.
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Obwohl in der mosaischen Form an das jüdische Volk gerichtet, enthalten diese Gebote nichts als die der Sache nach an alle Menschen gerichteten Forderungen des allen Menschen ins Herz geschriebenen Naturgesetzes. Der Sachsenspiegel enthält dieselben Forderungen des Naturgesetzes (WA 14; 822,3–7. WA 28; 677,2–678,8). Die Unabweisbarkeit dieser Forderungen wird auch darin sichtbar, dass sich in allen Gesellschaften Formen der Kooperation herausbilden, die der Lösung dieser Grundaufgaben des Daseins dienen. Luther greift sie auf in dem für ihn schon traditionellen Schema der natürlichen »Stände«: Wehrstand, Nährstand, Lehrstand (letzterer ausdifferenziert in Kirche und Schule) (vgl. W. Maurer 1970; Schwarz 1978). Sicher nimmt diese Tradition jeweils Gegebenheiten des zeitgenössischen Lebens auf als die konkrete soziale Manifestation der Bearbeitung jener Grundaufgaben des menschlichen Personlebens, die in seiner geschöpflichen, also universalen Konstitution begründet sind. Das kann jedoch auf zwei Weisen geschehen. Entweder werden diese »Stände« nur als die geschichtlich besonderen Exemplare für einen Sachverhalt genommen, der in den universalen Bedingungen des Menschseins verankert ist und in variierter Form in jeder Gesellschaft angetroffen wird. So verstanden haben wir in der Ständelehre den Keim einer Theorie der aufgrund der universalen Bedingungen des Menschseins in jeder menschlichen Gesellschaft in jeweils geschichtlich bedingt unterschiedlicher Form anzutreffenden Funktionssysteme. Aber das Schema ist auch so verstanden worden, dass die besondere geschichtliche Ausprägung dieser universalen Funktionssysteme in der damaligen Zeit in Gestalt der Stände als die direkt vom Schöpfer verlangte aufgefasst wird. So verstanden läuft sie auf eine Heiligung einer bestimmten geschichtlichen Ordnung hinaus und muss dann auf die Verurteilung jedes Versuchs der Veränderung dieser bestehenden Ordnung als Verstoß gegen die gottgewollte Ordnung hinauslaufen. Mag Luther das Ständeschema gegen dieses Missverständnis nicht nachdrücklich genug abgesichert haben, so hat er selbst es doch nicht in diesem Sinne verstanden – was sein eigenes Eintreten für bestimmte Verbesserungen der gesellschaftlichen Ordnung beweist (etwa: Unterstützung des staatlichen Gewaltmonopols, Unterscheidung von weltlichem und geistlichem Regiment, Kirchenreform, Engagement für Verbesserung des öffentlichen Bildungswesens). 8.3.1.2. Dass diese durch die geschöpfliche Konstitution des Menschen gestellten Aufgaben in Angriff genommen werden, heißt nicht sofort, dass sie auch im rechten Verständnis der geschöpflichen Konstitution des Menschen und in der Ausrichtung auf das in Wahrheit Gute ausgeübt werden. Vielmehr werden sie überall da, wo noch nicht die Heilszielstrebigkeit des Schöpferhandelns offenbar geworden und gesichtet ist, in Ausrichtung auf ein unwahres Letztziel, also statt in der Haltung des amor Dei in der Haltung des amor mundi bzw. amor sui ausgeübt. Die Folge ist eine Fehleinschätzung der innerweltlichen Machtausübung des Menschen in mehrfacher Hinsicht. Erstens wird verkannt, dass die Zumutung
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des Daseins, das Gesetz, Ausdruck des Heilswillens des Schöpfers und Implikat der Heilszielstrebigkeit des geschaffenen Weltgeschehens ist. Das derart verkannte Gesetz stößt daher auf Hass und Widerwillen, schlimmstenfalls erzeugt es zunehmende Verstockung (wie bei Pharao: WA 18; 713 ff), und seiner wahren Intention nach kann es jedenfalls gar nicht erfüllt werden (vgl. WA 1; 227,27 f. WA 1; 147,10). Zweitens wird damit auch das Verhältnis der innerweltlichen menschlichen Machtausübung zur Heilszielstrebigkeit von Gottes Wirken verkannt. Während die innerweltliche Machtausübung des Menschen, also die Werke des Menschen, in Wahrheit nur dazu da sind, vom heilszielstrebigen Wirken Gottes mitgenommen zu werden (Apk 14,13), erscheinen die Werke des Menschen jetzt selbst als der Weg zur Verwirklichung seines Heils oder zumindest als Beiträge dazu. Drittens werden innerweltliche Ziele, die in Wahrheit nur Stationen auf dem Weg zum ewigen Ziel und von Gott zu gebrauchende Bedingungen seines Wirkens sind, selbst zu Letztzielen erklärt und als solche angestrebt. Viertens werden solche innerweltlichen Ziele angestrebt, die der wahren Heilszielstrebigkeit des Schöpferwirkens entgegenstehen. Diese kritische Sicht auf die Erfüllung des Naturgesetzes in der Blindheit des lumen naturale ändert jedoch nichts daran, dass auch dieses verkehrte Leben in der Welt de facto eingeordnet bleibt in die Heilszielstrebigkeit des Schöpferwirkens und von ihr für ihre Zwecke gebraucht wird (WA 18; 753 ff). 8.3.2. Der Glaube sieht dieses Leben, aber er führt es selbst nicht mehr. Zwar führt auch er sein Leben in der Welt, aber er führt es in der Gewissheit, dass es eingebettet ist in die Heilszielstrebigkeit des Schöpferwirkens, die ihm durch die Christusoffenbarung erschlossen ist. Daher führt er sein Leben in der Welt anders, nämlich in einem anderen Verständnis seines Zumutungscharakters und in einer anderen Zielperspektive. 8.4. Das Leben des Glaubens in der Welt aus der Sicht des Glaubens
Der Glaube sieht auch sein eigenes Leben (8.4.1.) als ein vernünftiges Leben in der Welt (8.4.1.1.), freilich als vernünftiges Leben auf dem Boden des aus der Christusoffenbarung stammenden Verständnisses des Zumutungscharakters des Lebens (des Gesetzes des Daseins) und in der aus der Christusoffenbarung erschlossenen Perspektive auf Ursprung und Ziel des irdischen Lebens (8.4.1.2.); und er sieht dieses sein Leben in der Welt in dauernder Auseinandersetzung mit dem Leben des Unglaubens: Er achtet es, er erträgt es, und er widersteht ihm (8.4.2.). 8.4.1. Die Christusoffenbarung (die Selbstvergegenwärtigung des Schöpfers im inkarnierten Logos durch den heiligen Geist) bringt nicht die schon im lumen naturale gewisse allen Menschen aufliegende Notwendigkeit zum Verschwinden, in der Welt ein leibhaftes Leben in personaler Lebensgegenwart und verantwortlicher Machtausübung führen zu müssen. Die Christusoffenbarung erschließt
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nur den Ursprung und das Ziel dieser Notwendigkeit: das heilszielstrebige Wirken der allmächtigen Gnade und Wahrheit. Der Inhalt dieser Offenbarung schließt ein, dass er die Wahrheit nicht bloß über das Leben des einzelnen Glaubenden und aller anderen Glaubenden ist, sondern auch die Wahrheit über den Ursprung, die Verfassung und die Bestimmung aller Menschen. Alle verdanken ihr Dasein der das Wirken des Schöpfers – entsprechend seinem Wesen als schöpferische Gnade und Wahrheit – »ab initio« (WA 39,1; 176,7–9. Vgl. BSLK 660,32) prägenden Heilszielstrebigkeit seines Wirkens, sind also Materie Gottes zur Bildung der zukünftigen Gestalt ihres vollendeten Lebens (WA 39,1; 177,7– 10). Die Glaubenden wissen sich von den Nichtglaubenden nur dadurch unterschieden, dass sie bereits dieser Wahrheit und der daraus fließenden Freude teilhaftig sind, die »allem Volke widerfahren soll« (Lk 2,10). 8.4.1.1. Daher bleibt auch für den Glauben sein Leben in der Welt ein Leben unter der Zumutung, die den Menschen mit ihrem Dasein selbst auferlegt ist. Das allen ins Herz geschriebene und exemplarisch im Dekalog schriftlich fixierte Naturgesetz bleibt auch für ihn in Geltung. Die Zehn Gebote bleiben Inhalt des an Christen adressierten Katechismus (BSLK 661,36), sie bleiben Inhalt der Predigt. Nicht nur bei Melanchthon und Calvin gibt es einen Brauch des Gesetzes in renatos, sondern auch bei Luther; nur spricht er ihn nicht als den »dritten«, sondern als den »adhortativen« usus des Gesetzes an (Joest 1968; Herms 1987, 89 f). Aber durch die Christusoffenbarung ist dem Glauben das Wesen, Wollen und Wirken des Schöpfers als schöpferische Liebe und damit auch die Heilszielstrebigkeit des geschaffenen Lebens erschlossen. Der Glaube versteht also auch das Gesetz des Daseins als Ausdruck des göttlichen Liebeswillens und als Implikation der Heilszielstrebigkeit des geschaffenen Lebens. Folglich hat er Lust und Liebe zu diesem Gesetz, dessen Intention er versteht, mit dem sein Herz versöhnt ist (WA 1; 227,33 f) und das er erfüllen kann (BSLK 661,36). Demgemäß sieht der Glaube, dass auch für sein Leben in der Welt die mit dem menschlichen Dasein gestellten Grundaufgaben gestellt bleiben. Auch dem Glauben bleibt auferlegt, an der Arbeit der diesen Grundaufgaben gewidmeten Funktionssysteme mitzuwirken. Der Christ hat sein Leben zu führen in Ehe und Familie (WA 10,2; 265–304) sowie in der Teilnahme an den Aufgaben eines der Stände – am Wirtschaftsleben (WA 15; 293–332), an der Fürsorge für die Schwachen und Armen (WA 12; 11–30), an der Friedenssicherung mit politischen Mitteln (WA 11; 245–280. WA 19; 623–662), an der Erziehung (WA 15; 27–53. WA 30,2; 517–588), an der Evangeliumsverkündigung (BSLK 572–586). Dabei sieht Luther, dass die Stände Aufgaben lösen, die das Zusammenleben im Ganzen betreffen, so dass auch jeder an jeder Aufgabe teilnimmt, freilich in unterschiedlicher Verantwortung: sei es als Käufer oder Verkäufer, sei es als Schüler oder Erziehungsperson, sei es als Untertan oder im Amt der Obrigkeit, sei es als Gemeindeglied oder im kirchlichen Amt. Dies alles ergibt sich aus der Tatsache, dass die aus der Christusoffenbarung stammende Glaubensgewissheit vertiefte Gewissheit über den jedem Menschen
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gewissen Zumutungscharakter des Lebens ist. Sie enthält kein Motiv, das Leben unter diesen Zumutungen zugunsten eines Lebens, das anderen, vermeintlich höheren Aufgaben gewidmet ist, zu verlassen, sie enthält kein Motiv, diesen allen Menschen auferlegten Zumutungen nach Möglichkeit auszuweichen, vielmehr ist sie als vertieftes Verständnis eben dieser Zumutungen in sich selbst ein Motiv, sich eben diesen Zumutungen zuzuwenden. Aufgrund seiner Gewissheit ist es dem Glauben verboten, diese allen auferlegten Zumutungen des Lebens in der Welt herabzusetzen gegenüber angeblich höherstehenden Aufgaben jenseits dieser allen Menschen vom Schöpfer selbst auferlegten Aufgabenbereiche. Wenn es überhaupt »gute Werke« gibt, dann nur in ihnen (grundlegend Luthers Schrift Von den guten Werken: WA 6; 202–276. Zur Kritik an der Zwei-Stufen-Ethik vgl. v. a. WA 8; 573–669. Holl 1921 c). Freilich heißt das keineswegs, dass im Lichte der Glaubensgewissheit die Arbeit in diesen Aufgabenfeldern per se gut wäre. Vielmehr ist die Pointe der Glaubensgewissheit gerade die, dass die menschliche Übernahme dieser Aufgaben und die menschliche Arbeit an ihnen sich nur im Lichte der durch die unmittelbare Selbsterschlossenheit gestifteten unmittelbaren Daseins- und d. h. zugleich Ursprungs- und Gütergewissheit vollziehen kann, also nur entweder im Leithorizont der aus der Christusoffenbarung stammenden unüberbietbaren Klarheit über den in der Heilszielstrebigkeit des Wollens und Wirkens des Schöpfers beschlossenen Ursprung und finis der Daseinszumutung oder außerhalb dieses Leit horizontes und dann jedenfalls in verkehrter Zielausrichtung, also in Sünde. Der Glaube sieht, dass die Aufgabenfelder durch den Schöpfer gesetzt sind, und deshalb auch, dass das die Arbeit in ihnen zumutende Gesetz dasselbe ist für Nichtglaubende und Glaubende; er sieht aber auch, dass es aufgrund der conditio humana unmöglich ist, dass der Mensch diese Aufgaben und das sie zumutende Gesetz verstehen und aktiv lösen kann jenseits des Beherrschtseins seines Herzens und Gewissens durch die ihm jeweils vorreflexiv gewährte Gewissheit, und deshalb auch nur entweder innerhalb der konkreten, innergeschichtlich unüberholbar weiten und tiefen Daseinsgewissheit des Glaubens oder außerhalb ihrer. Beide Bereiche sieht der Glaube im heilszielstrebigen Schöpferwirken begründet, dies aber so, dass es für den Menschen keine Möglichkeit gibt, anders als im einen oder anderen Gewissheitshorizont wirksam zu werden: Der Glaube sieht, dass es für die Menschen keinen neutralen Boden zwischen diesen beiden möglichen Weisen, das Dasein zu fühlen, es zu schmecken (sapere) und seiner gewiss zu sein, gibt. 8.4.1.2. Der Glaube sieht also: Die Nichtglaubenden übernehmen die Daseinszumutung entsprechend ihrer eingeschränkten Gewissheit nur über das Faktum, dass diese Zumutung für uns notwendig ist und von uns nicht abgewiesen werden kann. Die Glaubenden hingegen übernehmen sie entsprechend der ihnen zuteil gewordenen vertieften Gewissheit über das Eingebettetsein dieser Zumutung in die Heilszielstrebigkeit des Schöpferwirkens. Sie verstehen dieses Wirken hinsichtlich seines Sinnes, seines Ursprungs und Ziels und erfüllen das Daseins-
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gesetz als umfasst und bestimmt durch das ihnen offenbar gewordene Evangelium von dieser Heilszielstrebigkeit des Wollens und Wirkens Gottes selbst. Daher fasst sich für sie die Daseinszumutung zusammen in der Zumutung, ihr Daseinsziel allein in dem vom Schöpfer selbst angestrebten Ziel zu sehen und die Verwirklichung dieses Zieles, d. h. ihres Heils, auch allein dem heilszielstrebigen Wirken des Schöpfers zu überlassen. Für die christliche Übernahme und Erfüllung der Daseinszumutung ist grundlegend die Erfüllung des ersten Gebots durch das Sich-Verlassen auf die Wahrheit des Evangeliums, die ihnen durch die Selbstvergegenwärtigung des Schöpfers im inkarnierten Logos durch den heiligen Geist evident geworden ist. Die Erfüllung dieser Grundzumutung (dieses erste und umfassende gute Werk) umfasst die qualifizierte Erfüllung aller anderen (also alle anderen guten Werke). Sie umfasst also erstens, dass die innerweltliche Arbeit des Glaubens grundsätzlich nicht mehr als Verwirklichung oder Beitrag zur Verwirklichung des eigenen Heils oder des Heils anderer Menschen in Betracht kommt. Deshalb wird diese Arbeit jedoch nicht bedeutungslos. Vielmehr liegen ihr Ernst und ihre Bedeutung darin, dass sie sich als Kooperation mit der heilszielstrebigen operatio der schöpferischen Allmacht vollzieht (k C. II. 5.): also als geschöpfliche Machtausübung zum Lobe Gottes und zum Nutzen des Nächsten, die sich Gott als Mittel für seine Verwirklichung des Heils aller Menschen zur Verfügung stellt und als diese individuelle Lebensgestalt des Glaubens mitgenommen wird in die Ewigkeit (Apk 14,13). Dementsprechend verfolgt der Glaube dann auch in den Grundaufgabengebieten des Lebens (also in den »Ständen«) keine innerweltlichen Ziele ohne Rücksicht auf die ihm gewisse wahre Bestimmung des Menschen. Und er verfolgt auf keinem Gebiet Ziele, die der wahren Bestimmung des Menschen widersprechen. Er verfolgt z. B. auf politischem Gebiet niemals das Ziel, mehr als »Frieden äußerlich« zu sichern (WA 11; 261–272); er verfolgt wirtschaftliche Ziele nicht als Selbstzweck, sondern als Mittel zum Gelingen des Lebens; er beurteilt Bildungsarbeit nicht nach ihrem ökonomischen Nutzen, ordnet sie nicht dem Bauch unter; er bemisst alle innerweltlichen Ziele danach, wie sie sich zur Erreichung des Letztziels (vgl. WA 7; 194–229) des menschlichen Lebens verhalten: der sterbenden Preisgabe an das Heilswirken des Schöpfers in der Gewissheit des Glaubens (WA 2; 685–697. WA 10,3; 1–13). 8.4.2. Der Glaube sieht aber auch, dass er diese seine Erfüllung des Daseinsgesetzes und der Grundaufgaben des Daseins im Licht seiner Leitgewissheit nur erbringen kann in derselben Welt, in der auch der Unglaube im Licht seiner Leitgewissheit das Daseinsgesetz und die Grundaufgaben des Daseins zu erfüllen sucht. Daher sieht der Glaube auch, dass er nur zusammen mit den Nichtglaubenden und in ständiger Auseinandersetzung mit ihnen seine Arbeit an den Grundaufgaben des Daseins leisten kann. Das heißt dreierlei: Der Glaube sieht auch das menschliche Leben vor und außerhalb des Glaubens eingebettet in die Heilszielstrebigkeit des Schöpferwirkens. Daher achtet der
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Glaube die Existenz im lumen naturale und ihre Arbeit an der Lösung der Daseinsaufgaben, auch wenn er sie als unverständig und verkehrt durchschaut. Trotz dieses erkannten Mangels erträgt der Glaube das Wirken und die Werke des Unglaubens. Denn er weiß: Das Leben im lumen naturale ist vom Schöpfer dazu bestimmt, zum Leben im lumen gratiae zu werden. Und auch das in verkehrter Absicht Gewirkte wird von der Heilszielstrebigkeit des Schöpfers seinem Ziel dienstbar gemacht. Das aber heißt nicht, dass der Glaube in das als verkehrt durchschaute Wirken und Werk des Unglaubens einstimmt, sich von ihm in Dienst nehmen lässt und es fördert. Vielmehr widersteht er solchem als verkehrt durchschauten Tun nach Kräften: Wenigstens benennt er das Verkehrte, nach Möglichkeit sucht er es auch zu verhindern oder zu bessern (exemplarisch dafür: WA 18; 291–334. 357–361). Solcher Widerstand ist unabdingbarer Bestandteil der Aufgabe, die das Reich der Gnade inmitten des Reiches der Natur und ihm zugute zu erfüllen hat: die Bezeugung der evident gewordenen Wahrheit des Evangeliums durch Tat und Wort. Dieses Zeugnis steht unter der untrüglichen Verheißung, dass Gott auch denen, die es erleben, das Herz öffnen und die Gewissheit des Glaubens schenken wird. Wichtiges Ergebnis: Die beiden Unterscheidungen – der »Stände« (die in der Faktizität des menschlichen Daseins begründeten Grundaufgabenbereiche) auf der einen und der beiden »Reiche« auf der anderen Seite – stehen für Luther quer zueinander. Es ist nicht in seinem Sinne, die als Sozialgebilde für jedermann erfahrbare Kirche mit dem Reich der Gnade zu identifizieren und dementsprechend dann Staat und Ökonomie mit dem Reich der Natur. Das christliche Leben im Reich der Gnade schließt einen durch die Daseinsgewissheit des Glaubens erleuchteten und geleiteten Umgang mit allen kreatürlichen Aufgaben, also mit der Aufgabe der Kommunikation von Ursprung, Wesen und Bestimmung des Menschseins, des Lebens im Generationenzusammenhang, des Wirtschaftens und des Herrschens mit ein. Dementsprechend wird in der Christenheit – nun nach christlichen Grundsätzen – auch nicht nur die Pflege der in der christlichen Daseinsgewissheit begründeten Glaubensgemeinschaft durch das geistliche Amt ausgeübt sine vi sed verbo, sondern auch das weltliche Amt zur Sicherung von »Frieden äußerlich« durch Handhabung des Schwertes. Die Christlichkeit der Gewissheitsgemeinschaft und der Handhabung des geistlichen Amtes zeigt sich darin, dass hier die schon durch die Schöpfung begründete Gewissheitsgemeinschaft aller Menschen als der schon durch ihr geschaffenes Personsein durch ihren Schöpfer angeredeten Geschöpfe (WA 42; 79,3–13. Bayer 1986, 9 ff) im Licht der durch die Christusoffenbarung beseitigten Verblendung erfolgt; und die Christlichkeit der Ausübung des weltlichen Amtes in Wirtschaft und Politik zeigt sich darin, dass sie ihre Schranken wahrt (also nicht ins geistliche Amt eingreift) und ihre Relativität (also auch Ausgerichtetheit) auf Ursprung und Letztziel des Daseins anerkennt. Daher ist für den Glauben zwar die Perspektive auf eine Menschheit wesentlich, in der die Gemeinschaft der Glaubenden überwiegt und gestaltende Macht
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besitzt, nicht aber die Perspektive auf eine »christliche Gesellschaft« in dem Sinne, dass erst und nur das Bekenntnis des Glaubens volles Bürgerrecht im Staat gewährt und in der das Bekenntnis des Unglaubens oder die Äußerung von Häresie als Verstoß gegen das staatliche Recht mit dem Schwert verfolgt werden. So lebt der Glaube sein Wesen als Gewissheit des eigenen Begründet‑, des Gehalten- und des Geborgenseins in der dem Wesen Gottes entsprechenden Heilszielstrebigkeit seines schöpferischen Wirkens (k C. II. 5.) aktiv aus durch die Übernahme und Erfüllung der den Willen Gottes ausdrückenden Zumutung des Daseins in guten Werken, »nur dem nehisten tzu nutz und got zu ehren« (WA 10,1,1; 108,4 f). Härle, Wilfried: Luthers Zwei-Regimenten-Lehre als Lehre vom Handeln Gottes (MJTh 1, 1987, 12–32). Heckel, Martin: Rechtstheologie Luthers (in: Ders.: Gesammelte Schriften. Staat, Kirche, Recht, Geschichte, Bd. 1, 1989, 324–365). Herms, Eilert: »Der Glaube ist ein schäftig, tätig Ding«. Luthers »Ethik«: sein Bild vom christlichen Leben (in: Leppin, Volker u. a. [Hg.]: Luther heute, 2016, im Druck). Schrey, Heinz-Horst (Hg.): Reich Gottes und Welt. Die Lehre Luthers von den zwei Reichen (WdF 107), 1969. Eilert Herms
9. Christliche Hoffnung 9.1. Hoffnung und Zukunft
Die Hoffnung »fit ex amatae rei desiderio« (entsteht aus dem Verlangen nach einer geliebten Sache) (WA 56; 374,8). Hoffnung setzt voraus, dass die ›geliebte Sache‹ abwesend, aber möglicherweise gegenwärtig ist; die zeitliche Dimension der Hoffnung ist die Zukunft, christlich ist sie nach Petrus Lombardus »certa expectatio futurae beatitudinis« (die gewisse Erwartung der künftigen Seligkeit) (Sent III dist 26 cap 1). Gegenstand der Hoffnung sind zunächst rein äußerlich die Inhalte, zu denen sich Luther in der an die letzte große Abendmahlsschrift angehängten Darlegung seines Glaubens bekennt: die Auferstehung aller Toten am Jüngsten Tag, das Gericht mit zweifachem Ausgang – das Ewige Leben für die Frommen und das Ewige Sterben für die Bösen »mit dem teuffel und seinen engeln«; er lehnt dann ausdrücklich eine auch den Teufel einschließende Allversöhnung ab (WA 26; 509,13–18). Dieser Grundbestand der gegenständlichen Aussagen der eschatologischen Tradition ist bei Luther durchgängig festgehalten, wie beispielsweise die Auslegung von 1Kor 15,24 ff in der Predigtreihe von 1532 (WA 36; 478–696, hier 567,32 ff) zeigt. Allerdings wird diese Tradition einer höchst originellen aneignenden Interpretation unterworfen. Der Grundzug dieser Aneignung besteht darin, dass die eschatologischen Aussagen konsequent und facettenreich zur Deutung der gegenwärtigen Existenz im Glauben und für die Bewältigung der dort aufbrechenden
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Probleme funktionalisiert werden. Das ist schon darin erkennbar, dass Luther in den Katechismen – gerade im Vergleich mit den im Bekenntnis vorausgehenden Aussagen über das Wirken und die Medien des Geistes sowie die Kirche – in ganz eigentümlicher Weise desinteressiert ist an einer Entfaltung der materialen Aussagen über die künftige Vollendung. Durchgängig bezieht er diese Aussagen auf die gegenwärtige Existenz, in der diese eschatologischen Aussagen ihre Realität haben – so etwa in der Auslegung von Röm 8,23: »dicit […] Quod Creatura Liberabitur scil. a vanitate, quando Impii damnati fuerint et sublati Vel vetus homo abolitus, Quae Liberatio fit nunc quottidie in sanctis« (er sagt, dass die Schöpfung befreit werden wird, nämlich von der Sinnlosigkeit, wenn die Gottlosen verdammt sein werden und unterworfen bzw. der Alte Mensch abgetan sein wird – und diese Befreiung geschieht in den Heiligen täglich) (WA 56; 373,23–25). 9.2. Die künftige Seligkeit als Sinn des Leidens
Zunächst erscheint diese beständige Beziehung ganz äußerlich darin, dass Luther die gegenständlichen Aussagen des Bekenntnisses mit der Erwartung verbindet, dass dem mit dem Glauben verbundenen Leiden ein Ausgleich in der Seligkeit des Ewigen Lebens entspricht. Dieses Leiden besteht zum einen in der ›von der Welt‹ erlittenen Anfeindung und Verfolgung, zum anderen aber in der gerade für den Christen eigentümlichen Anfechtung in der Erkenntnis der eigenen Sünde: Während der Nichtchrist diesen Anfechtungen entgeht und ohne Angst und ohne sich Gedanken um sein künftiges Geschick zu machen stirbt (WA 36; 537,18–544,35, v. a. 537,18–539,29), zeichnet gerade den Christen eine Unbehaustheit aus, die in der Bezugnahme auf ein künftiges, d. h. nach dem Tod liegendes Gericht mit ungewissem Ausgang – d. h. in der mit dem Evangelium unlöslich verbundenen Erfahrung des Gesetzes – gründet. Diese gegenwärtige Anfechtung und die Verfolgungsleiden gewinnen nur darin ihren Sinn, dass die Christen die Misere der angefochtenen Gegenwart in der Gewissheit und damit im Sinnhorizont ihres künftigen Heils verstehen und ertragen. Schon in diesen zunächst ganz traditionellen Aussagen ist deutlich, dass die Hoffnung nicht nur ein kognitives Orientiertsein hinsichtlich ausstehender und über das vom Tod begrenzte Leben hinausgehender Wirklichkeit bedeutet, sondern eine Funktion für die Deutung und Erschließung der jeweiligen Gegenwart hat. 9.3. Hoffnung und Liebe in der Scholastik
In der scholastischen Diskussion wird die Hoffnung als Tugend, d. h. als in die Seele eingegossene inclinatio (anlageartige Neigung) zu bestimmten Akten gefasst. Die Hoffnung ist nach Gabriel Biel (Collectorium III dist 26 q 1 not 2 notnd C–F) als Bestimmtheit des Willens engstens mit der Tugend der Liebe verwandt; sie unterscheidet sich von ihr dadurch, dass der Hoffende Gott nicht als in sich höchstes Gut liebt, sondern als Quelle des Guten für den Menschen unter Ein-
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schluss der Bedingung, dass der Mensch durch Verdienste dieses Gutes würdig ist; ähnlich bestimmt Thomas von Aquin die Hoffnung als Bezugnahme auf ein mögliches künftiges Gut (die Seligkeit), das durch die Hilfe Gottes (und nicht durch eigene Anstrengung und somit durch natürlichen Zusammenhang) ein mögliches Gut ist; insofern ›rührt die Hoffnung an Gott‹ (STh II–II q 17 a 2 resp und 3 resp). Dabei hat die Hoffnung als exspectatio der künftigen Seligkeit (Petrus Lombardus, Sent III dist 26 cap 1) zwei Aspekte, nämlich erstens den Gegenstand, in dem der Hoffende selig zu sein wünscht, und zweitens den subjektiven Zustand der Seligkeit in demselben (Biel, aaO). Für die meisten scholastischen Theologen gilt diese Deutung der Hoffnung als Willensakt (desiderium), die dazu führt, dass sie der Liebe näher ist als dem Glauben, der durchgehend als Gestalt des Erkennens gefasst ist (etwa STh II–II q 17 a 6 resp und Biel, Collectorium III dist 26 q un a 2 concl 2 und 3 [G/H]). 9.4. Hoffnung und Glaube bei Luther
Luther profiliert sich vor diesem Hintergrund dadurch, dass er an der Trennung der theologischen Tugenden wenig interessiert ist; erkennbar ist das schon daran, dass er die bei Biel (loc. cit.) der Hoffnung zugeschriebene Bezugnahme auf Gott als Quelle des Guten in der Auslegung des ersten Gebotes im Große[n] Katechismus gerade dem Glauben zuschreibt (WA 30,1; 132,33–133,16). Durchgehend und nach dem Vorbild des Petrus Lombardus (Sent III dist 26 cap 2 f) stellt er die Hoffnung mit dem Glauben als fides promissionis zusammen; anders als der Lombarde unterscheidet Luther fides und spes praktisch nicht mehr, indem er wie Petrus Lombardus den Glauben als bezogen auf kontrafaktische Aussagen betrachtet und dies durch den Zukunftsbezug des Glaubens, seinen Charakter als Hoffnung begründet – so etwa in der hier einschlägigen Auslegung von Röm 4,18 (er [sc. Abraham] hat wider alle Hoffnung auf Hoffnung hin geglaubt; vgl. WA 56; 295,14–296,2), die von einer Unterscheidung der natürlichen von der christlichen Hoffnung ausgeht: Die menschliche Hoffnung richtet sich natürlicherweise auf die mögliche Zukunft, die sich in der Gegenwart als Horizont abzeichnet – und Luther leitet daraus ab, dass der Gegenstand der natürlichen Hoffnung negativ ist: Der natürliche Mensch hofft, dass kein Hindernis eintritt für die Realisierung des Hoffnungsgutes, ist sich aber darüber hinaus aufgrund des berechenbaren Zusammenhangs zwischen natürlicher Gegenwart und natürlicher Zukunft des Eintretens des Erhofften gewiss. Die christliche Hoffnung hingegen ist auf etwas ausgerichtet, was der Gegenwart und den darin sich abschattenden Horizonten widerspricht und sich auf etwas richtet, dessen Gegenteil gegenwärtig verwirklicht ist; der Gegenstand der christlichen Hoffnung ist ausschließlich künftig, gegenwärtig kontrafaktisch, in diesem Sinne verborgen. Auf dieses verborgene, weil zukünftige Gut richtet sich das ›Herz‹, und diese Ausrichtung auf etwas nicht Sinnenfälliges, nur durch die göttliche promissio Verbürgtes kann Luther gleichermaßen Glaube wie Hoffnung nennen.
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9.5. Die Gegenwart des Erhofften
Hoffnung hat ihren Ort nun aber nicht in einem Fürwahrhalten und Sich-Sehnen nach einer ausstehenden Zukunft, sondern das eigentliche Interesse Luthers haftet an der dadurch begründeten Beurteilung der Gegenwart, und zwar genauer an einer Selbstbeurteilung des Hoffenden; und damit wird näher deutlich, dass und wie für Luther der Begriff der Hoffnung unlöslich mit dem Verständnis der Rechtfertigung als kontrafaktisches Urteil verbunden ist. Er geht im Rahmen der berühmten Formulierung, nach der der Glaubende ›peccator in re, iustus in spe‹ (faktisch Sünder, auf Hoffnung hin gerecht) ist, davon aus, dass das im Zuspruch der Rechtfertigung ergehende Urteil Gottes darin sachentsprechend ist, dass es vorgreift auf den künftig durch das Wirken Gottes realisierten Zustand der Gerechtigkeit; der Glaube ist eben darin Hoffnung, dass er wie Gott und im Vertrauen auf die Zusage Gottes die Zukunft als Gegenwart behandelt: »Nunquid ergo perfecte justus? Non, Sed simul peccator et Iustus; peccator re vera, Sed Iustus ex reputatione et promissione Dei certa, quod liberet ab illo [i. e. peccato], donec perfecte sanet. Ac per hoc sanus perfecte est in spe, In re autem peccator« (Ist er etwa vollkommen gerecht? Nein, sondern zugleich Sünder und Gerechter; Sünder in Wirklichkeit, aber Gerechter aus der Einschätzung und gewissen Zusage Gottes, dass er ihn von der Sünde befreien wolle, bis er ihn endgültig heilt. Dadurch ist er vollkommen gesund in der Hoffnung, de facto aber ein Sünder) (WA 56; 272,16–20). Diesen Gedanken eines vorausgreifenden Urteils Gottes und eines entsprechend vorausgreifenden Selbsturteils des Glaubenden auf die künftige effektive Gerechtmachung des Sünders hin hat Karl Holl zum Zentrum seiner Vermittlung von imputativem und effektivem Verständnis der Rechtfertigung gemacht; dieses Verhältnis wird allerdings immer wieder konterkariert durch Aussagen, die den Gedanken einer freilich verborgenen Gegenwart des Hoffnungsgutes nahelegen und das Verhältnis von Gegenwart und Zukunft als Verhältnis von Verborgenheit und Offenbarung fassen, so dass Gegenstand der Hoffnung das unangefochtene Offenbarwerden des verborgen gegenwärtigen Heils wäre; so kann Luther das bonum, auf das der Glaubende als künftiges Gut hofft, zusammenfassen in der Wendung, dass Christus dieses Gut, und zwar als außerhalb gelegenes (also künftiges) sei, so aber, dass Christus durch den Glauben in den Glaubenden ist: »[…] sciunt in se esse peccatum, Sed propter Christum tegi et non imputari, Vt omne suum bonum extra se in Christo, qui tamen per fidem in ipsis est, protestentur« (Sie wissen, dass in ihnen die Sünde ist, aber um Christi willen bedeckt ist und nicht angerechnet wird, so dass sie bezeugen, dass all ihr Gut außerhalb von ihnen in Christus ist, der dennoch durch den Glauben in ihnen wohnt) (WA 56; 280,2–4; vgl. 279, 22 ff). Eben diese christologische Konzentration des beschriebenen Phänomens findet sich einerseits in einer der frühesten Predigten Luthers, wo er 1514 [?] den Glauben an das Wort als »fides futurorum« (Vertrauen auf Zukünftiges) kennzeichnet: »Oportet autem, quando verbum assumimus, nos
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ipsos deserere et exinanire, nihil de nostro sensu retinendo, sed totum abnegando, et sic sine dubio efficimur illud, quod assumimus, et ita portat Dominus in hac vita omnes verbo virtutis suae, nondum reipsa. Nulli enim credenti hic dantur quae credit, sed verbum fides futurorum, et in hoc suspensi et captivi totum verbum sumus« (Es ist notwendig, wenn wir das Wort aufnehmen, dass wir uns selbst verlassen und entleeren und nichts nach unserem Sinn zurückbehalten, sondern ihn ganz ablegen, und so werden wir ohne Zweifel das, was wir aufgenommen haben, und so trägt der Herr in diesem Leben alle durch das Wort seiner Kraft, noch nicht aber in Wirklichkeit. Keinem Glaubenden wird hier schon gegeben, was er glaubt, sondern das Wort ist ein Glaube an Künftiges, und daran hängend und darin gefangen sind wir ganz Wort) (WA 1; 29,6–12); das dort apostrophierte Wort ist, wie Luther gleich im Folgenden expliziert, nicht nur das Wort der Verheißung, sondern als solches das Ewige Wort, die zweite Person der Trinität; der Gegenstand des Glaubens bzw. der Hoffnung ist also christologisch präzisiert. Aber auch hier ist der kontrafaktische Charakter des Glaubens gekennzeichnet durch den Gegensatz von ›Wirklichem‹ und ›bloß Verbalem‹ einerseits und durch den Gegensatz von Gegenwart und Zukunft. Es ist das Wort der Verkündigung, in dem die Zukunft Gegenwart ist, und weil der Glaube Vertrauen auf dies Wort ist, ist er nach Luther zugleich auf die Zukunft ausgerichtet und insofern Hoffnung. 9.6. Hoffnung als Einssein mit dem Erhofften
Das Zugleich von Zukünftigkeit und Gegenwart des Gegenstandes der Hoffnung ist bei Luther nun nicht ein willkürliches Nebeneinander, sondern hängt mit dem Grundzug der subjektiven Intentionalität zusammen, nach dem sie jeweils das wird, worauf sie sich ausrichtet. Die Hoffnung ist nach Luther in dem Sinne Gegenwart des Erhofften, dass der Mensch hoffend in der Zukunft ist und selbst das erhoffte Zukünftige wird, wie er in der Auslegung von Röm 8,24 (Hoffnung aber, die man nicht sieht, ist nicht Hoffnung) schreibt – und zwar in ausdrücklichem Anschluss an Aristoteles, den er in der zitierten Predigt in genau demselben Kontext heranzieht: »Et Aristoteles […] dicit, Quod ex intellectu et intelligibili […] fit vnum […] Sic amor transfert amantem in amatum. Ergo spes transfert in speratum, Sed speratum non apparet […] Sic ergo Anima facta est spes et speratum simul, quia in eo versatur, quod non videt, i. e. in spe. Quae spes si videretur […] iam non sic transferretur in speratum i. e. in spem et ignoratum, Sed in visum raperetur et cognito frueretur« (Und Aristoteles sagt, dass aus dem Verstehen und dem Verstandenen eins wird […]. So versetzt die Liebe den Liebenden in das Geliebte. Daher versetzt die Hoffnung in das Erhoffte, aber das Erhoffte tritt nicht in Erscheinung […]. So ist also die Seele Hoffnung und Erhofftes zugleich geworden, weil sie sich in dem aufhält, was sie nicht sieht, d. h. in der Hoffnung. Wenn diese Hoffnung gesehen werden könnte […], dann wäre sie nicht so ins Erhoffte versetzt, d. h. in die Hoffnung und ins Nichterkannte, sondern sie wäre ins Schau-
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en entrückt und würde das Erkannte genießen) (WA 56; 374,12–21. Vgl. WA 1; 29,15–31). Das eigentümliche Verhältnis von ›schon und noch nicht‹, das im Verhältnis von Wort und Erfüllung bzw. von Glauben und Hoffnung aufbewahrt ist, erschließt eine ›Durchdringung der Zeiten‹, die nicht gegenständlich gedacht ist, sondern am antizipatorischen Moment des christlichen Selbstverständnisses hängt: Der Glaube, der wesentlich Hoffnung – Aussein auf Zukunft – ist, versteht sich gegenwärtig und kontrafaktisch aus dieser Zukunft und ist so einerseits bei ihr, hat sie andererseits darin gegenwärtig. Wie der Christ im Glauben zugleich in sich und außerhalb seiner selbst in Christus ist und auf genau diese Weise selbst der Ort der Gegenwart Christi ist, so ist er in der Hoffnung zugleich in der Gegenwart und in der Zukunft und ist dabei selbst der Ort der Gegenwart der Zukunft. Eben diesen Zusammenhang profiliert Luther noch einmal in der Disputatio de homine (1536), in der er die Rechtfertigung sola fide in die Definition des Menschen aufnimmt und – unter Aufnahme der Zuordnung von Leib und Seele als Form und Materie bei Aristoteles – den Menschen als Einheit von gegenwärtiger Materie (Leib und Seele) und zukünftiger Form, nämlich des wiederhergestellten Ebenbildes Gottes, versteht (WA 39,1; 176,33–177,14). 9.7. Der Zusammenhang von individueller und universaler Erlösung:
Kosmologische Ontologie
Diese Auslegung des individuell vollzogenen Selbstverständnisses des Menschen im Glauben bildet nun das Grundmodell und den beständigen Bezugspunkt der Reformulierung der kollektiven und kosmologischen Aussagen der christlichen Tradition. Das hängt zum einen damit zusammen, dass Luther die Erlösungsbedürftigkeit der außermenschlichen Kreatur auf den Fall des Menschen zurückführt, die dadurch der Nichtigkeit unterworfen ist, dass der Mensch sich ihrer in falscher Weise so bedient, dass er die Kreatur zum Gegenstand des Genusses macht, der eigentlich nur Gott ist. Mit der Erlösung des Menschen ist die Erlösung der Kreatur vom Missbrauch aufgehoben (WA 56; 372,27–373,6). Zum anderen aber legt Luther etwa in den Predigten über 1Kor 15 alle kosmologischen Aussagen des Paulus auf den Trost hin aus, der dem angefochtenen Glaubenden daraus erwächst (etwa: WA 36; 579,26–591,23). Drittens aber verallgemeinert Luther die Aussagen der Disputatio de homine über den Christen als Einheit aus gegenwärtiger Materie und künftiger Form so, dass er daraus in einigen andeutenden Sätzen die Skizze einer theologischen Ontologie entwirft, die sich darin von einer philosophischen unterscheidet, dass sie das Wesen aller Dinge nicht in ihrer gegenwärtigen Erscheinung, sondern im Ausgriff auf die Zukunft, die sie durch das verheißene Handeln Gottes gewinnen und in dieser Verheißung schon haben, bestimmt: »Aliter Apostolus de rebus philosophatur et sapit quam philosophi et metaphysici. Quia philosophi oculum ita in presentiam rerum immergunt, vt solum quidditates et qualitates earum spe-
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culentur, Apostolus autem oculos nostros reuocat ab intuitu rerum praesentium, ab essentia et accidentibus earum, et dirigit in eas, secundum quod futurae sunt. Non enim dicit ›Essentia‹ Vel ›operatio‹ creaturae […] Sed nouo et miro vocabulo et theologico dicit ›Expectatio Creaturae‹, Vt eoipso, cum animus audit Creaturam expectare, non ipsam creaturam amplius, Sed quid creatura expectet, intendat et quaerat« (Anders philosophiert und weiß der Apostel von den Dingen als die Philosophen und Metaphysiker. Denn die Philosophen versenken ihr Auge so auf die Gegenwart der Dinge, dass sie allein deren Wesenheiten und Eigenschaften bedenken, der Apostel aber ruft unsere Augen weg von der Betrachtung der gegenwärtigen Dinge, von ihrem Wesen und ihren Eigenschaften, und lehrt, darauf zu achten, dass sie künftig sind. Er sagt nämlich nicht: das ›Wesen‹ oder das ›Wirken‹ der Kreatur […], sondern mit einem neuen und wundersamen und theologischen Wort sagt er: ›Das Sehnen der Kreatur‹, damit dadurch, dass der Geist hört, dass die Kreatur sich sehnt, er nicht mehr auf die Kreatur selbst, sondern das, was die Kreatur ersehnt, abzielt und danach fragt) (WA 56; 371,2– 10). Die Kreatur ist, wie der gerechtfertigte Sünder, mehr, als sich dem gegenwärtigen Erkennen erschließt; die Hoffnungsstruktur des Glaubens bleibt also nicht auf das Selbstverständnis des Sünders beschränkt, sondern erschließt mit der Erwartung eines Endes der Sünde auch die Erwartung einer Zukunft der Kreatur, die durch die Sünde des Menschen der Sinnlosigkeit (vanitas) (WA 56; 372,28 ff) unterworfen ist. 9.8. Das Reich Gottes als Verwandlung durch Aufdeckung
des schon Gegenwärtigen
Auch dieser künftige Zustand der gesamten Welt ist gedacht in strikter Analogie zur Erlösung des Menschen in individueller und kollektiver Hinsicht, und zwar insofern, als Luther auch hier die Erlösung als das unwidersprechliche Offenbarwerden des Zustandes der Welt, der in der Verborgenheit der Kirche bereits besteht, fasst, so nämlich, dass die sichtbaren Ordnungen, durch die Gott die Welt unter den Bedingungen der Sünde regieren lässt und durch die er den Glauben erhält, ein Ende haben und ein Verhältnis der Unmittelbarkeit zwischen Gott und Menschen eintritt, in dem Gott nicht mehr im Modus der Verborgenheit und durch äußere Mittel sich gibt: »Und ist also eben das Reich hie auff erden, das hernach wird sein im himel, on das es jtzt zugedeckt und nicht fur augen ist« (WA 36; 569,33–35. Vgl. den Fortgang, v. a. 571,30–574,18 u. 591 f). Dabei legt Luther äußersten Wert darauf, dass diese Überwindung der Strukturen, unter denen die Welt unter den Bedingungen der Sünde existiert, gebunden ist an die endgültige und universale Aufhebung der Sünde durch Gott; den Versuch, die Hoffnungsstruktur des Glaubens in der Existenz zwischen der noch ausstehenden Erlösung und der verborgenen Gegenwart der Erlösung zu einem Programm der Verwirklichung des Verborgenen umzumünzen, wirft Luther dem ›linken Flügel‹ der Reformation vor.
II. Themen – 9. Christliche Hoffnung
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9.9. Spiritualisierung der Eschatologie und
apokalyptische Gegenwartsdeutung
Diese Überzeugung von der von Gott heraufgeführten Erlösung, die nichts anderes ist als das Offenbarwerden dessen, was der Christ gegenwärtig und verborgen bereits hat, bietet Luther einerseits die Handhabe für eine scharfe Kritik eines überrealistischen Verständnisses des Reiches Gottes, in der er das Reich Gottes deutet als den Zustand, in dem der Erlöste in der unmittelbaren Schau Gottes vollkommene Erfüllung hat: »Summa: was wir itzt bey allen Creaturn hin und her einzelen und stücklicht mussen nemen, wie wol es auch von jm her kompt und gegeben wird, dafur werden wir on mittel jn allein haben, on allen mangel und auffhören. Das verstehet aber die welt und grobe leut nicht […] und dencken, das der bauch warlich mus gessen und getruncken und der leib seine notdurfft haben, sol er anders leben, konnen das nicht begreiffen, das Gott besser kan neeren allein durch seinen anblick denn alle brod und speise auff erden, dadurch er doch auch itzt selbs das leben gibt« (WA 36; 594,15–24). Er seinerseits beschränkt sich auf die biblisch verbürgten Aussagekontexte unter dem Interesse einer seelsorgerlichen Applikation; entsprechend lehnt er die Vorstellung eines Fegefeuers oder Überlegungen zum Zustand der Seelen zwischen Tod und Auferstehung ab. In einigen Aussagen geht er aus von einem Seelenschlaf – geleitet von dem Gedanken, dass nach der Auferstehung Christi für den Christen der Tod den Schrecken verloren und den Charakter des Schlafes gewonnen hat (WA 10,3; 76,1 f). Die verstorbenen Christen sind vor der Auferstehung aufgehoben im Wort der Verheißung (s. u.); Luther geht in einigen Aussagen davon aus, dass der Zustand zwischen dem Sterben des Einzelnen und der Auferstehung nicht der Zeit unterliegt, so dass die allgemeine Totenauferstehung sich für jeden Verstorbenen nach seinem Tod ereignet (WA 14; 71,10–19. WA 36; 349,8–12). Auf diesen vorstellungshaften Aussagen liegt kein Gewicht, und ein eigentliches Interesse an der Apokalyptik als Ausmalung künftiger Schrecken des Weltuntergangs oder der Seligkeit des Paradieses findet sich bei Luther nicht – allerdings: Luther unterhält eine aufs Äußerste angespannte Naherwartung, die ihn nun aber zur Gegenwartsdeutung führt, in der er in äußerstem Realismus die Gegenwart auf die Zeichen des hereinbrechenden Reiches Gottes hin betrachtet (etwa in der Auslegung von 1Kor 15: WA 36; 574,20–579,25. Vgl. die Aufnahme der Daniel-Weissagung aaO 561,31–562,22); das führt dazu, dass er im Papsttum, in den aufständischen Bauern, in der Sakramenten- und Obrigkeitskritik der ›Schwärmer‹ ebenso wie in Erasmus, Zwingli und den Antinomern nur Masken des Kampfes des Teufels gegen das am Ende der Zeiten wiederentdeckte Evangelium sehen kann (z. B. WA 50; 475,7–476,37). Dies ist die Kehrseite des Vertrauens auf die verborgene Gegenwart der Zukunft: dass sich die Verborgenheit dieser Zukunft gerade darin manifestiert, dass ihr widersprochen wird und sich darin der Streit zwischen dem Reich Gottes und dem Teufel realisiert, der dann aufgehoben sein wird – und dies weist auch wieder darauf hin, dass für Luther
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der Ausgriff auf die Zukunft in der Hoffnung immer an der Deutung und Bewältigung der Gegenwart orientiert ist. 9.10. Gericht, Hölle, Gewissen
Eine der interessantesten Reformulierungen eschatologischer Aussagen durch Luther ist die Deutung des Gewissens als Ort des Jüngsten Gerichtes und der Hölle, die Luther insbesondere in einer Predigt über die Perikope vom armen Lazarus vornimmt; Luther deutet hier – unbeschadet des festgehaltenen Rahmens einer künftigen Auferstehung und ganzheitlichen Seligkeit bzw. Qual – den Schoß Abrahams und den Ort, an dem der (noch nicht auferstandene) Reiche leidet, als unkörperliche Orte, als den Zustand des durch das Wort getrösteten und des in der Selbstanklage leidenden Gewissens: »Es muß aber eyn ortt seyn, da die seele seyn kan unnd keyne ruge hatt, der selbe kan nicht leyplich seyn. Darumb achten wyr, dieße helle sey das böße gewissen, das on glawbe und Gottis wortt ist, ynn wilchem die seele vergraben ist unnd verfasset biß an iungsten tag, da der mensch mit leyb und seele ynn die rechte leypliche helle verstossen wirtt. Denn gleych wie Abrahams schoß Gottis wort ist, darynnen die glawbigen durch den glawben rugen, schlaffen und bewaret werden biß an den iungsten tag, Also muß yhe widderumb die helle seyn, da Gottis wort nicht ist, darynnen die unglewbigen durch den unglawben verstossen sind biß an iungsten tag: Das kan nicht anders denn eynn leer, unglewbig, sundig, böße gewissen seyn« (WA 10,3; 192,13–23. Vgl. WA 44; 617,29–34. WA 19; 225,12–226,5). Diese Deutung des Gerichtes und der Seligkeit einerseits, der Höllenqual andererseits als Endgültigkeit der gegenwärtigen Selbsterfahrung zwischen Gesetz und Evangelium macht noch einmal deutlich, in welchem Maße Luther das Eschaton und die gegenwärtige Existenz aufeinander durchsichtig macht und wechselseitig erschließt. Der Ermöglichungsgrund dafür ist die skizzierte Struktur des Hoffnungsbegriffes bzw. die Hoffnungsstruktur des Glaubensbegriffes als Gegenwart der ersehnten Zukunft. Auf der anderen Seite ist deutlich, dass sich diese neuzeitlich anmutenden Aussagen profilieren auf dem Hintergrund eines selbstverständlichen eschatologischen Realismus, den der eingangs zitierte Passus aus dem Bekenntnis von 1528 markiert. Asendorf, Ulrich: Eschatologie bei Luther, 1967. Beisser, Friedrich: Hoffnung und Vollendung (HST 15), 1993, bes. 19–76. Holl, Karl: Die Rechtfertigungslehre in Luthers Vorlesung über den Römerbrief mit besonderer Rücksicht auf die Frage der Heilsgewißheit (in: Ders.: Gesammelte Aufsätze zur Kirchengeschichte. Bd. 1: Luther, 1921, 71948, 111–154). Oberman, Heiko A.: Luther. Mensch zwischen Gott und Teufel, 21987. Slenczka, Notger: Entzweiung und Versöhnung. Das Phänomen des Gewissens und der Erlösung in Shakespeares ›King Richard III.‹ als Hintergrund eines Verständnisses der »imputativen Rechtfertigung« bei Luther (KuD 50, 2004, 289–319). Notger Slenczka
III. Strukturen – 1. Theologie als Schriftauslegung
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III. Strukturen 1. Theologie als Schriftauslegung 1.1. Luther und die Bibel
Die Bibel ist das konstitutive ikonographische Attribut des Reformators. Bei allen Lutherdenkmälern, die das 19. Jahrhundert hervorgebracht hat – vom ersten, monumentalen Standbild, das Johann Gottfried Schadow 1821 in Wittenberg errichtete, bis zu Jakob Brüllmanns Stuttgarter Reformationsdenkmal von 1917 –, hält Luther das Buch der Bücher in Händen. Bereits in den zeitgenössischen Lutherbildnissen, zumal des älteren und jüngeren Lucas Cranach, lässt sich seit 1521 die zunehmende Etablierung der Bibel als des für Luther entscheidenden Erkennungszeichens verfolgen (Beutel 1992, 66 f). Die Bibel sei die regula Lutheri, höhnten die Gegenspieler des aufbegehrenden Mönches auf dem Reichstag zu Worms (WA 15; 266,7–21). Was als Diffamierung gemeint war, kam mit Luthers theologischem Selbstverständnis punktgenau überein: »Mein ding«, rief er, »[ist] eyttel schrifft« (WA 8; 341,21 f)! Aus dem Zuschnitt des Lehrstuhls, den Luther innehatte, ist diese programmatische Fixierung nicht zu erklären. Hartnäckig hat sich bis heute die Ansicht erhalten, Luther sei »Professor der heiligen Schrift« gewesen, zuständig für »biblische Auslegung« oder »biblische Exegese«, näherhin »Dozent für das Alte Testament« (Köpf 2002 a, 71 f). In Wirklichkeit hat die – heute selbstverständliche – Ausdifferenzierung der theologischen Disziplinen erst im Lauf des 16. Jahrhunderts zaghaft begonnen. Das Missverständnis dürfte dadurch entstanden sein, dass die Bezeichnung von Luthers Lehrstuhl als lectura in biblia aufgrund unzureichender Kenntnis der mittelalterlichen Wissenschaftsgeschichte anachronistisch rezipiert worden ist. Im Sprachgebrauch des Spätmittelalters galten biblia, sacra scriptura, sacra doctrina und theologia als synonym (Köpf 2002 a, 81–83). Demgemäß war der Lehrstuhl Luthers eine ganz normale, noch nicht spezifizierte theologische Professur. Die semantische Äquivalenz von biblia und theologia dokumentiert sich beispielsweise darin, dass Luther in der lateinischen Fassung seiner Schrift Warum des Papstes und seiner Jünger Bücher von D. M. Luther verbrannt sind (1521) die Wendung »JCh Martinus Luther, genant Doctor der heyligen schrifft« mit »EGo Martinus Luther, dictus Doctor Theologie« wiedergegeben hat (WA 7; 161,8.18). Allerdings ging Luther dann in der Wahrnehmung seiner theologischen Professur insofern eigene Wege, als er »mit der Tradition der Ausarbeitung eines Sentenzenkommentars gebrochen und sich in seinen Vorlesungen ausschließlich der Schriftauslegung gewidmet hat« (Köpf 2002 a, 85). Die Frage, wie Luther die Bibel eingeschätzt und gebraucht hat, betrifft nicht ein einzelnes Lehrstück seiner Theologie, sondern deren Struktur: Sein ganzes theologisches Denken vollzog sich als vielgestaltige Auslegung der heiligen Schrift. Dadurch erwies er sich insgesamt – ob als Prediger oder Professor, als
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Lehrer oder Seelsorger, als Übersetzer, Brief- oder Gesprächspartner – und in einem ganz grundsätzlichen (also diesseits der heute gängigen Klassifikation liegenden) Sinn als biblischer Theologe. Fraglos hat Luther die Differenz, die darin aufscheint, bisweilen polemisch überspitzt. Dass es keinen einzigen scholastischen Theologen gebe, der auch nur ein Kapitel des Evangeliums oder der Bibel verstehe (WAB 1; 158,38 f), ist in solcher Pauschalisierung selbstverständlich ebenso haltlos wie jenes andere, von Luther öfter geäußerte Urteil, im Papsttum habe die Bibel »unter der banck« gelegen (Nachweise bei Kaufmann 2004, 139 f). Doch auch abgesehen von solcher hyperbolischen Selbststilisierung dürfte die Konzentration, in der Luther seine Theologie von Anfang an aus der Bibel bezogen und an ihr bewährt hat, einen schlechterdings neuen theologischen Denk- und Sprachstil begründet haben. Die Bibel war sein Zuhause: Schon im Kloster hat er, über sich selbst verzweifelnd, um eine Bibel gebeten und »sie gelesen, wieder gelesen und nochmals gelesen« (legere, relegere et iterum legere) (WAT 3; 598,14). Im Frühjahr 1532 äußerte er über Tisch: »Ich hab nu etlich jar, alle jar zwier die biblia ausgelesen, vnd wenn die bibel ein grosser mechtiger baum were vnd alle wort estlin, so hab ich an alle estlin angeklopfft vnd gern wollen wissen, was es were vnd vermocht« (WAT 2; 244,20–23). Die ganz exorbitante, bereits von Staupitz bewunderte (WAT 3; 598,14) Bibelkenntnis, die Luther auszeichnete, durchtränkte sein theologisches Denken und lässt die Möglichkeit, für seine Werke, Tischreden und Briefe ein vollständiges Register aller biblischen Zitate und Anspielungen zu erstellen, unerschwinglich erscheinen. 1.2. Christozentrisches Bibelverständnis
»Scriptura […] sui ipsius interpres« (WA 7; 97,21–23): Prinzip und Struktur von Luthers Denken könnten nicht knapper zusammengefasst werden. Einer als konsequente Schriftauslegung verstandenen Theologie kommt dadurch die Aufgabe zu, der Selbstauslegung der Schrift ungehinderten Raum zu geben und also den eigenen Geist mitsamt dessen Neigung, die Bibel proprio spiritu zu glossieren, vom Geist der Schrift überwinden zu lassen. Dieser Geist ist nach Luther schlechterdings unentbehrlich – nicht um die Schrift für uns, sondern um unsere vom sensus proprius überwucherten Augen für die Selbstauslegung der Schrift aufzuschließen. »Denn die schrifft ist offen, unßer augen sind nit gar offen« (WA 10,1,1; 180,3. Weitere Nachweise bei Beutel 1992, 77–81). Gegen das Traditionsprinzip der römischen Kirche findet Luther in der Bibel die vollständige Darstellung aller credenda (WA 7; 131,35 f). Allerdings muss, was in der Bibel steht, auch geglaubt sein: Während die Vernunft das, was ihre Einsicht übersteigt, »begriffig« zu machen sucht, lässt sich der Glaube »nit von dem text treyben« (WA 10,1,1; 193,11. 192,1 f). »Das die lere sey lautter schrifft« (WA 10,1,1; 605,7 f), war die Richtschnur seiner theologischen Arbeit. So dass
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Luther das, was er lehrte, »mit unwiddersprechlicher schrifft« meinte beweisen zu können (WA 8; 495,10–12). Die res scripturae hat Luther stets als ein unteilbar Ganzes bestimmt: »Tolle Christum e scripturis, quid amplius in illis invenies?« (WA 18; 606,29). Christus war für ihn die Sache der Schrift in Person. Unbeschadet ihrer thematischen, sprachlichen und gattungsspezifischen Vielfalt und nicht minder ihrer dualen Erscheinungsweise – als Altes und Neues Testament sowie, damit nicht übereinstimmend, als Gesetz und Evangelium – war es für Luther doch »ungetzweyfflet, das die gantze schrifft auff Christum allein ist gericht« (WA 10,2; 73,16). Indem er Christus als den sensus principalis scripturae erkannte, hat Luther die Einheit der Schrift weder durch harmonisierende Verflachungen noch mit spekulativen Uniformitätskonstruktionen sicherzustellen versucht. Für ihn war die Einheit nicht eine Summe, zu der man die einzelnen Schriften der Bibel addiert, sondern »die Spitze, in der alles zusammentrifft, das Ziel, auf das alles hinausläuft« (Ebeling 1971 b, 293). Die Einsicht, dass alles, was die Schrift sagt, auf Christus als deren sachliche Mitte zu beziehen ist, gab Luther zugleich das Kriterium an die Hand, von dem aus biblische Sachkritik nicht nur möglich, sondern auch nötig erscheint. An dem Prüfstein, »ob sie Christum treyben, odder nit« (WADB 7; 384,27), hat er die einzelnen biblischen Schriften und Schriftsteller gemessen. So dass er nicht allein, dem Beispiel Christi folgend, »schrifft gegen schrifft« (WA 45; 35,28), sondern notfalls sogar »Christum contra scripturam« ins Feld führen konnte (WA 39,1; 47,19 f. Weitere Nachweise bei Beutel 1992, 82–85). Durch die christologisch qualifizierte Einheit der Schrift sah sich Luther zu erstaunlicher semantischer Freiheit ermächtigt. So war ihm etwa der Psalter »ein kleine Biblia«, »auff das, wer die gantzen Biblia nicht lesen kündte, hette hierin doch fast die gantze Summa verfasset in ein klein Büchlin« (WADB 10,1; 99,24– 101,2). Sogar einzelne Verse wie Gen 24,7 oder Lk 2,11 können »totam scripturam in ein beutel« ziehen (WA 37; 237,34. WA 43; 316,26–28). Daneben gilt ihm auch der die Schrift summierende Katechismus als »der leyen biblia« (WA 30,1; 27,26), desgleichen die Schöpfung (WA 48; 201,5 f) oder das Apostolikum: »Das Credo […] ist meine Bibel« (WA 37; 55,13). Die Bibel war für Luther das Lebensbuch par excellence. Deshalb solle ein Christ »ditz buch teglich ym brauch haben« (WA 10,1,2; 73,28 f), es »treiben und reiben, lesen und widerlesen« (WA 50; 659,23 f) – so, als sei es allein um seinetwillen geschrieben (WA 16; 433,23–27). Erst recht aber solle ein Theologe »tag und nacht mit dem kopff in der Bibel stecken« (WA 7; 250,23 f). Er selbst, bekennt Luther, entdecke noch immer täglich etwas Neues in ihr (WAT 5; 4,3–11), weshalb er der Bibel gegenüber sein Leben lang ein Schüler (WA 34,2; 167,11– 15), ja ein Bettler geblieben sei (WAT 5; 317,11–318,5). Handelte es sich bei der meditativen Aneignung der Bibel nur um einen kognitiven Rezeptionsprozess, so wäre es bald getan. Indessen: »Wen man meinet, man habs ausgelernet, so mus man erst anfahen« (WA 49; 223,8 f). Die Bibel ist erst dann recht verstanden, wenn sie nicht nur kognitiv, sondern auch applikativ rezipiert worden ist. »Was
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hilffts, das wir die schrifft so reichlich haben und hören, und nichts davon lernen noch uns nütze machen, wie eine magd, die mitten yn blumen sösse, und keine wolt abbrechen, ein krantz zu machen?« (WA 17,2; 319,14–17). Weil die applikative Konkretion der biblischen Sätze so wenig abschließbar ist wie die Erfahrung des Lebens, werden wir »wol schuler in der heiligen schriefft bleiben« (WAT 4; 27,10 f). Wer sie nur »oben hyn« liest, so »alß rede klauß schmid mit hans Michell« (WA 14; 245,30 f), verkennt ihre Tiefe und erst recht ihren Grund. Denn die Bibel enthält »doch ja nicht Lesewort, wie sie meinen, Sondern eitel Lebewort […], die nicht zum speculiren und hoch zu tichten sondern zum leben und thun dargesetzt sind« (WA 31,1; 67,24–27). Eine als konsequente Schriftauslegung vollzogene Theologie sucht die Bibel jederzeit von ihrem einheitsstiftenden sensus principalis her zu verstehen: »Du must scripturam sacram nicht stückweise ansehen, sed integram« (WA 47; 681,1 f). Wer aus ihr lediglich einzelne Worte »eraus zwacken« will (WA 18; 69,9), verfällt einer Methode, mit deren Hilfe auch der Teufel sein diabolisches, den Sinn der biblischen Worte durcheinanderwirbelndes Wesen treibt (WA 45; 619,7–14). Wenn es denn gelte, »vil schrifft rips raps zusammenn werffen, es reyme sich odder nit«, dann, spottet Luther, könne er ohne weiteres aus der Bibel beweisen, »das rastrum besser sey dan malmesier« (WA 6; 301,19–21) – wobei man wissen muss, dass Malvasier ein süßer, teurer Südwein ist, rastrum hingegen der studentische Spottname für das billige Leipziger Schankbier, das in Bauch und Gedärm den namengebenden Effekt ausgelöst haben soll. Theologie als Schriftauslegung zu vollziehen bedeutet für Luther nichts anderes, als die Menschen über alle Schwierigkeiten hinweg in die Schrift zu führen (WA 10,3; 176,7–17), ja in sie hineinzujagen (WA 29; 525,14 f). »Ein prediger soll mitten in der schrifft siczen« (WA 9; 664,17). So dass Luther nicht der Bibel einen Sitz im Leben zuweisen wollte, sondern ihrem Ausleger einen Sitz in der Bibel. Solches Leben in der Schrift vollzieht sich als die lebenslange Einübung in den modus loquendi scripturae, der in seiner Sachnähe nicht zu übertreffen ist (k B. IV. 4.). Von allen Gott betreffenden Dingen sollen wir »reden, ja davon stamlen, wie uns die heilige Schrifft vorsagt« (WA 41; 271,14): »Scriptura ita loquitur, cur non nos?« (WA 47; 699,15). Unermüdlich verweist Luther auf den usus, mos, die phrasis, locutio und oratio scripturae (Nachweise bei Beutel 1992, 93 f). In dieser Ausrichtung wird Schriftauslegung zu einer Sprachschule des Glaubens. Indem wir Christen »unserm HErrn Jhesu Christo […] nachreden, wie er uns vorredet« (WA 45; 205,31 f), werden wir zu Theologen in des Wortes eminenter Bedeutung – nämlich zu Menschen, die nicht nur von Gott, sondern auch wie Gott zu reden wissen (WA 41; 11,9–11). Seine hermeneutische Weisung, als Christ und Theologe solle man sich nicht nur an die Schrift halten, sondern in der Schrift bleiben (WA 10,1,1; 233,11–17), hat Luther in einer vielfältigen, jedoch stets präzise gebrauchten Schutzraum-Metaphorik anschaulich werden lassen. Die Bibel, heißt es im Anschluss an Jes 46,3, sei der Mutterleib Gottes: »Uterus dei est Verbum divinum« (WA 31,2; 370,21).
III. Strukturen – 1. Theologie als Schriftauslegung
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»Euangelium est mamma, alvus dei« (WA 40,3; 386,11 f), es ist »gottis uter […] darynnen [er] unß empfehet, tregt und gepiertt, wie eyn weyb eyn kind ynn yhrem uter empfeht, tregt und gepiertt« (WA 10,1,1; 232,13–15). In die Bibel soll man darum hineinkriechen wie ein Hase in seine Steinritze (WA 10,1,1; 193,11– 16) und wie Mose, als Gott an ihm vorüberging, in seine Felsenkluft (WA 16; 644,14–23). 1.3. Argumentationsstrategischer Bibelgebrauch
Wie sich der von Luther erhobene Anspruch, seine theologische Theoriebildung vollziehe sich darin, dass er im eigenen geschichtlichen Kontext den Geist der Bibel ungehindert zu Wort kommen lässt, in der konkreten theologischen Arbeit umgesetzt hat, ist bislang erst für die Schrift Von weltlicher Oberkeit, wie weit man ihr Gehorsam schuldig sei (1523) eingehend untersucht worden (Beutel 2001 c). Einstweilen dürften die dabei gewonnenen Einsichten als exemplarisch eingeschätzt werden. In Luthers Obrigkeitsschrift finden sich insgesamt 123 biblische Zitate bzw. Paraphrasen, die sich auf 101 Stellen aus 16 alt- und zwölf neutestamentlichen Büchern verteilen und sich zu annähernd gleichen Teilen auf das Alte Testament, die Evangelien sowie die von Luther als paulinisch angesehenen Briefe beziehen. Aufschlussreich sind insbesondere die im Argumentationsduktus abnehmende Dichte und der damit einhergehende Funktionswandel des direkten Bibelbezugs. Im ersten, prinzipiellen Teil der Obrigkeitsschrift werden die biblischen Sätze zumeist nur zitiert, weil Luther der ihnen zugedachten Begründungsfunktion unmittel bare Evidenz beimisst und darum die eigene Theoriebildung ohne umständliche exegetisch-hermeneutische Vermittlung daraus hervorgehen lässt. Demgegenüber fällt auf, dass Luther im zweiten, die politische, ethische und seelsorgerliche Konkretion vollziehenden Teil die wichtigsten Bibelstellen einer relativ breiten Auslegung unterzieht, weil für ihn offenbar die Selbstauslegung der Schrift zwar nicht hinsichtlich ihres theologischen Lehrgehalts, wohl aber für dessen lebenspraktische Umsetzung eine aktive hermeneutische Applikationsarbeit erforderlich macht. Im dritten Teil (»Fürstenspiegel«) dienen die Bibelzitate dann überhaupt nicht mehr zur Legitimation der eigenen Argumente, sondern nur noch zur nachträglichen Bestätigung oder Veranschaulichung dessen, was ohne sie genauso plausibel gemacht werden könnte. Damit ergibt sich für den Argumentationsgang der Obrigkeitsschrift ein komplementäres Gefälle: Je weiter der Text von den prinzipiellen zu praktischen, ja sogar kasuistischen Fragen fortschreitet, desto stärker tritt die der Bibel zuerkannte Begründungsfunktion zugunsten eigener theologischer Urteilskraft und menschlicher Erfahrungsklugheit zurück. Darüber hinaus ist der hier untersuchte applikative Bibelgebrauch Luthers v. a. von drei Besonderheiten geprägt. Für alttestamentliche Worte, die im Neuen Testament zitiert werden (z. B. Lev 24,20/Mt 5,38; Dtn 32,35/Röm 12,19), pflegt Luther nur deren neutestamentlichen Ort anzugeben. Und wenn sich für eine
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eigene theologische Lehraussage kein unmittelbarer biblischer Quellort aufweisen lässt, kann Luther diesen Mangel durch eine Häufung von annähernd passenden Schriftworten neutralisieren und damit gleichsam die unzureichende Qualität des Schriftbeweises durch Quantität aufwiegen. Schließlich führt der von Luther exklusiv reklamierte Anspruch, in seiner Theologie allein dem Wort und Geist der Bibel Ausdruck zu geben, zu der meist nicht argumentativ be gründeten, sondern nur thetisch postulierten Konsequenz, dass er den abweichenden theologischen Auffassungen jeden Schriftgrund bestreitet (Beutel 2001 c, 94–96). Nun hat Luther in der Obrigkeitsschrift die biblische Botschaft aber nicht nur auf die von ihm verhandelten Problemkonstellationen appliziert, sondern sie mitunter auch für die eigene Theoriebildung adaptiv in Anspruch genommen. Das kann sich in der kontextwidrigen Interpretation einzelner Verse manifestieren, in Einzelfällen sogar in echten Auslegungsfehlern (Nachweise bei Beutel 2001 c, 96–98). Augenscheinlich konnte Luther eine bewusste Umdeutung einzelner Bibelverse in Kauf nehmen, um damit eine eigene theologische Entscheidung, deren Übereinstimmung mit dem Geist der Bibel für ihn außer Frage stand, selbst durch gewaltsam anmutende Exegese zu legitimieren. Die subjektive Aufrichtigkeit seines Bibelgebrauchs wird man dem Reformator schwerlich bestreiten können. So erweist die argumentationsstrategische Analyse der Obrigkeitsschrift, dass Luther darin durchaus, seinem Anspruch gemäß, der Bibel Raum und Ausdruck gegeben hat. Der Raum und Ausdruck freilich, in denen er die Botschaft der Bibel laut werden ließ, war der Denk- und Sprachraum seiner eigenen Theologie. Indem die Bibel seinem theologischen Denken Gehalt und Gestalt gab, kam sie darin auf unverwechselbar eigene Weise zur Sprache. Damit ist die heilige Schrift für Luther nicht allein, wie eingangs zitiert, »mein ding« geworden, sondern, durchaus konsequent, auch »meyne Bibel« (WADB 7; 386,17). Seinem Freund Georg Friedlaender schrieb Theodor Fontane am 29. November 1893: »An die Stelle bestimmter Dogmen, die Produkte der Kirche waren, hat Luther Dogmen gesetzt, die seiner persönlichen Bibelauslegung entsprachen«. Dass dieses Urteil eine particula veri aufweist, wird kaum zu bestreiten sein. Und vielleicht kann die Bibel überhaupt auf theologische Theoriebildung nicht anders einwirken als so, dass sie im Horizont der jeweils eigenen, durch sie gewirkten Glaubenserfahrung sowie des eigenen, im Umgang mit ihr entwickelten Wahrheitsbewusstseins zur Sprache gebracht wird. Beutel, Albrecht: Erfahrene Bibel. Verständnis und Gebrauch des verbum dei scriptum bei Luther (1992) (in: Ders.: Protestantische Konkretionen. Studien zur Kirchengeschichte, 1998, 66–103). Ders.: Biblischer Text und theologische Theoriebildung in Luthers Schrift »Von weltlicher Oberkeit, wie weit man ihr Gehorsam schuldig sei« (1523) (in: Chapman, Stephen u. a. [Hg.]: Biblischer Text und theologische Theoriebildung [BThSt 44], 2001, 77–104). Ebeling, Gerhard: Luther und die Bibel (in: Ders.: Lutherstudien. Bd. 1, 1971, 286–301).
III. Strukturen – 2. Theologie als Unterscheidungslehre
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Kaufmann, Thomas: Vorreformatorische Laienbibel und reformatorisches Evangelium (ZThK 101, 2004, 138–174). Köpf, Ulrich: Martin Luthers theologischer Lehrstuhl (in: Dingel, Irene/Wartenberg, Günther [Hg.]: Die Theologische Fakultät Wittenberg 1502 bis 1602. Beiträge zur 500. Wiederkehr des Gründungsjahres der Leucorea [LStRLO 5], 2002, 71–86). Albrecht Beutel
2. Theologie als Unterscheidungslehre Luthers theologische Äußerungen sind von früh an durch schroffe Antithetik geprägt. Seine Neigung zu hyperbolischer Zuspitzung, seine Vorliebe für paradoxale Denk- und Aussageformen, sein bisweilen zur Monotonie sich verdichtender Hang, eine positive Sachaussage durch gleichzeitige Negation ihres Gegenteils (»nicht …, sondern …«) zu profilieren: Das alles markiert für Luther – weit davon entfernt, nur eine eigentümliche stilistisch-rhetorische Marotte zu sein – nicht weniger als die sachnotwendige Denk- und Sprachform der Theologie. »In Scripturis Sanctis optimum est Spiritum a litera discernere, hoc enim facit vero theologum« (In Sachen der heiligen Schrift ist es unübertreffbar, den Geist vom Buchstaben zu unterscheiden, denn das macht in Wahrheit zum Theologen) (WA 55,1,1; 4,25 f). Oder hinsichtlich der Distinktion von Gesetz und Evangelium: »Haec qui bene novit distinguere, bonus est theologus« (Wer das gut zu unterscheiden weiß, ist ein guter Theologe) (WA 39,1; 552,12 f). »Qui istas 2 distinctiones bene novit, gratias agat deo et sciat se Theologum« (Wer sich auf dieses Unterscheiden versteht, der danke Gott und darf wissen, dass er ein Theologe ist) (WA 40,1; 207,3 f). Dass sich für Luther die Theologie im Vollzug rechten Unterscheidens konstituiert, ist vielleicht die folgenreichste, da strukturprägende Konsequenz aus seiner Einübung in den modus loquendi scripturae. In der Bibel fand Luther das Prinzip einer antithetischen Wirklichkeitswahrnehmung paradigmatisch verkörpert. »Scriptura habet modum, quod plena antithesibus; et est quoddam genus fecundum, interpretari scripturam per Antitheses et eas videre« (Die Bibel hat die Eigenart, dass sie voller Antithesen ist; und es ist ganz fruchtbar, die Antithesen wahrzunehmen und die Bibel von ihnen her zu interpretieren) (WA 40,1; 391,3– 5). »Nisi per contentionem dicerentur omnia, quae de Christo et gratia dicuntur, ut opponantur contrariis […], Quid, rogo, efficerent universi sermones Apostolorum et tota scriptura?« (Wenn [sc. in der Bibel] nicht alles streitweise gesagt würde, was von Christus und der Gnade gesagt wird, so dass es dem entgegengesetzt wird, was ihm widerspricht […], was, frage ich, würden alles Predigen der Apostel und die ganze Schrift bewirken?) (WA 18; 779,17 f.21 f). Wenn Luther den Vollzug fundamentalen Unterscheidens als das Kennzeichen rechter, biblischer Theologie fortwährend einschärft und praktiziert, ist damit mehr und anderes intendiert als nur die rational-kognitive Aufklärung eines
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durch Begriffsstutzigkeit verursachten Scheinproblems. Vielmehr macht Luthers Unterscheiden »einen Gegensatz, der normalerweise völlig verborgen ist, überhaupt erst kund« (Ebeling 1995 a, 423) – nicht als logische Paradoxie, sondern als die prinzipielle Strittigkeit menschlichen Lebens »zwischen Gott und Teufel« (Oberman 1987 b). Dass auf die Unterscheidungslehre Luthers neben dem biblischen modus loquendi auch die zentralen Distinktionen der altkirchlichen Lehrbildung, namentlich in der Trinitätslehre (ein göttliches Wesen in drei Personen) und Christologie (göttliche und menschliche Natur Christi), von prägendem Einfluss gewesen sind, ist kaum zu bezweifeln, wenn auch im Einzelnen schwer zu ermessen. Jedenfalls besteht in der Einsicht, dass rechtes Unterscheiden das Unterschiedene nicht auseinanderreißt, sondern das wahre Verständnis der Einheit erst sicherstellt, eine deutliche Analogie (Ebeling 1995 a, 426–431). Ausdrücklich distanzierte sich Luther hingegen von der filigranen Unterscheidungskunst der Scholastik, weil deren hamartiologische und soteriologische Partialdistinktionen – teils lässliche, teils Todsünden; teils Glaube, teils Liebe –, wie Luther meinte, das biblische Wirklichkeitsverständnis in fataler Weise verfehlten, da doch Sünde und Glaube jeweils ein wesenhaft Ganzes, den totus homo Umfassendes darstellten – der ganze Mensch ist Sünder vor Gott und zugleich gerechtfertigt allein aus Gnade und allein durch den Glauben (Ebeling 1995 a, 432–441). Den Inbegriff theologischer Unterscheidungspflicht fand Luther zunächst in der Dialektik von Buchstabe und Geist. Von ihr war die traditionelle, aus 2Kor 3,6 abgeleitete hermeneutische Weisung bestimmt, durch die Hülle des buchstäblich verstandenen biblischen Textes hindurch in den geheimnisvollen Kern seiner wahren, geistlichen Bedeutung vorzudringen. Die Erprobung und zunehmende Problematisierung dieses überkommenen Auslegungsschemas bestimmte die frühen exegetischen Arbeiten Luthers (Ebeling 1971 c), so dass sich dessen erste Psalmenvorlesung (1513–1515) treffend als »eine gewaltige Fuge über dieses Thema ›Buchstabe und Geist‹ « (Ebeling 1995 a, 444) verstehen lässt. Im Zuge seiner intensiven Beschäftigung mit Paulus etablierte sich bei Luther dann aber zunehmend die Distinktion von Gesetz und Evangelium als theologische Fundamentalunterscheidung. Allerdings sind dadurch andere Gestalten der Fundamentalunterscheidung nicht einfach verdrängt worden. Und auch für »Gesetz und Evangelium« bietet Luther eine breite lexische Varianz, die sich in Begriffspaaren wie Mose und Christus, Altes und Neues Testament, Gebot und Verheißung, Werke und Glaube manifestiert. Aufschlussreich ist die Beobachtung Gerhard Ebelings, wonach bei Luther »die definitive Einübung des Sprachgebrauchs ›Gesetz und Evangelium‹ « erst in den 1530er Jahren »im Zusammentreffen erneuter Paulus- und Psalmenexegese mit der Wiederherstellung des Disputationswesens und mit der Bekämpfung der Antinomer« erfolgt ist (Ebeling 1995 a, 445 f). In der Kennzeichnung von Gesetz und Evangelium als Gebot und Verheißung erkannte Luther die beiden Erscheinungsweisen des Wortes Gottes: einerseits als
III. Strukturen – 2. Theologie als Unterscheidungslehre
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unbedingte Forderung, der seitens des Menschen tätiger Gehorsam bzw. ohnmächtiges Versagen entspricht, andererseits als unbedingte, schenkende Zusage, die sich allein als Glaube und im Glauben empfangen lässt. Diese theologische Fundamentalunterscheidung hat der Prediger Luther in ganz trivialen, lebenspraktischen Analogien zu plausibilisieren vermocht: »Wann ich in die Apetecken [i. e. Apotheke] gee: da ist ain ander kunst zu sagen, was die kranckhait sey, und ain ander kunst sagen, was man dartzu haben sol, das manß loß werde. So ist es hye jnnen auch: das gesetz endeckt die kranckhait, das Euangelium gibt die ertzney« (WA 10,3; 338,7–10). Im sachgemäßen Vollzug dieser Unterscheidung konstituiert sich für Luther die Theologie: »Pene universa scriptura totiusque Theologiae cognitio pendet in recta cognitione legis et Euangelii« (Schlechterdings die gesamte Bibel und alle theologische Erkenntnis haben ihren Angelpunkt in der rechten Erkenntnis von Gesetz und Evangelium) (WA 7; 502,34 f). An dem Beispiel von Gesetz und Evangelium zeigt sich zugleich, dass die antithetische Denkstruktur Luthers nicht dualistisch, sondern dialektisch qualifiziert ist: Sie zielt nicht auf ein Trennen und Auseinanderreißen der Gegensätze, sondern auf die distinkte Wahrnehmung ihres strittigen Beieinanders. »Das bloße Evangelium wäre […] nicht das reine Evangelium. Als durch Christus erfülltes Gesetz – gesühnt und zum Schweigen gebracht – ist das Evangelium unverständlich ohne die Präsenz des Gesetzes« (Ebeling 1995 a, 448). Auch andere Erscheinungsweisen des die rechte Theologie konstituierenden Unterscheidens hat Luther als unauflösliche Gegensätze kenntlich gemacht. Selbst der Teufel gehört für ihn so unabdingbar ins Evangelium »wie die Schlange ins Paradies« (WA 46; 114,16). Wenn Luther den Teufel als den eigentlichen Antipoden des Evangeliums ausweist, ist damit, diesseits jeder naiv-erbaulichen Metaphorik, zum Ausdruck gebracht, dass die von Luther geforderte Unterscheidungskunst nicht etwa auf einmalige analytische Operationen abzielt, sondern das irdische Leben insgesamt als ein eschatologisches Kampfgeschehen markiert. Der Teufel, so Luther, entspreche seinem griechischen Namen, indem er mit seiner ars diaboli (z. B. WA 36; 158,8) alles, was Gott unterschieden hat, heillos durcheinanderwerfe und sich in diesem schöpfungs- und evangeliumswidrigen Tohuwabohu als »Rex et dominus confusionis« erweise (WA 49; 223,30). Das sachgemäße Unterscheiden – zwischen Gott und Mensch, Gesetz und Evangelium, Person und Werk, Glaube und Liebe oder anderen Gegensätzen – gilt Luther als Ausweis situationsgemäßer Urteilskraft und theologischer Kompetenz, weil erst im Vollzug dieses Unterscheidens das Wesen des Unterschiedenen erkannt und zur Wahrheit gebracht wird. Insofern ist die antithetische Denkstruktur Luthers von ontologischer Relevanz. Sein Wirklichkeitsverständnis ist relational bestimmt, zwar im Widerspruch zur herkömmlichen aristotelischen Substanzontologie, jedoch im Einklang mit der Denk- und Redeweise der Bibel (Ebeling 1995 b). Vor allem in anthropologischer Hinsicht hat Luther die relatio nale Struktur seines Denkens nachhaltig zur Geltung gebracht: Was der Mensch ist, definiere sich aus den drei Relationen, in denen er steht, und von den drei
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Foren her, deren Urteil ihm sagt, was er ist – als Mensch vor Gott (coram deo), vor der Welt bzw. den Mitmenschen (coram mundo/hominibus) sowie vor dem Spruch seines Gewissens (coram seipso). Die relationale Denkweise Luthers erstreckt sich auf das gesamte Themenspektrum seiner Theologie. Zumal in der Erfassung des Rechtfertigungsgeschehens hat sie sich in großer, mitunter verwegen anmutender, jedoch durchweg stringenter Vielfalt niedergeschlagen. »Sicut de deo cogito, ita fit mihi« (Wie ich von Gott denke, so geschieht mir) (WA 40,2; 343,2), konnte Luther zuspitzend sagen, oder auch: »Gleubstu, ßo hastu. Zweyffelstu, ßo bistu vorloren« (WA 2; 733,35 f). Denn »Fides est creatrix divinitatis, non in persona [sc. dei], sed in nobis« (Der Glaube ist die Mutter der Gottheit, nicht in der Person [sc. Gottes], aber in uns) (WA 40,1; 360,5 f). Recht bedacht, verdichtet sich in diesen Formeln die ganze Weite und Fülle von Luthers Theologie. Dank ihrer antithetisch-relationalen Denkstruktur ist die Theologie Luthers denn auch wahrhaft konkret: weil sie ihre Gegenstände innerhalb des Lebenszusammenhanges versteht, in den sie jeweils eingebunden sind und der ihr Wesen bestimmt. Nun hat Luther die Theologie aber nicht nur nach innen als Unterscheidungslehre gesehen. Vielmehr schien ihm, um deren Sachgemäßheit zu gewährleisten, zugleich auch die nach außen zielende Unterscheidung unabdingbar zu sein: einerseits von wahrer und falscher Theologie, andererseits von Theologie und Philosophie. Falsche oder, wie Luther gern sagte: Pseudotheologie unterscheidet sich eben darin von der rechten, biblischen Theologie, dass sie den binnentheologischen Unterscheidungsvollzug nicht als das konstitutive Strukturprinzip anerkennt und darum die aus der Dialektik von Gesetz und Evangelium sich speisende Gewissheit (certitudo) des Glaubens in eindimensionale metaphysische oder moralische Sicherheit (securitas) meint aufheben zu können. Für die andere Unterscheidung, die Luther ad extra geltend gemacht hat, lässt sich an der Differenz von philosophischem und theologischem Menschenbild paradigmatische Einsicht gewinnen. Die Antwort des Aristoteles auf die Frage, was der Mensch sei, lautete bekanntlich: ein Lebewesen, das logos hat. Wobei das griechische Wort logos im Sinne einer umfassenden kommunikativen Sprachlichkeit zu verstehen ist. Insofern lässt sich der Mensch nach Aristoteles nicht als ein Einzelnes, sondern nur – gleichsam per definitionem – in seiner Sozialität zureichend begreifen. Die aristotelische Formel unterlag beim Übertritt in den lateinischen Sprachund Denkraum einer folgenschweren Transformation. Der Mensch, definierte Boethius, ist ein vernünftiges Lebewesen (animal rationale). Gegenüber der aristotelischen Definition wird der Mensch damit in zweifacher Weise abstrakt: Weder seine Sozialität noch seine Individualität sind mehr im Blick. Der Mensch ist vielmehr darauf reduziert, ein Exemplar der Gattung zu sein. Jahrhundertelang galt die lateinische Rede vom Menschen als dem vernünftigen Lebewesen als unbestrittene anthropologische Basisdefinition.
III. Strukturen – 3. Theologie als Erfahrungswissenschaft
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Auch Luther sah die Definition des Menschen als animal rationale in philosophischer Hinsicht durchaus im Recht. Ausdrücklich bestätigte er, dass die Vernunft »omnium rerum res et caput et prae caeteris rebus huius vitae optimum et divinum quiddam« sei (WA 39,1; 175,9 f). Luther unterstrich die philosophische Hochschätzung der Vernunft sogar noch durch Hinweise auf die heilige Schrift. So sei etwa das Herrschaftsgebot des Schöpfungsberichts (Gen 1,28) zur Vernunft gesprochen (WA 39,1; 175,16 f). Selbst nach dem Sündenfall habe Gott den Herrschaftsauftrag der Vernunft nicht sistiert, sondern vielmehr bekräftigt (WA 39,1; 175,20 f). Gleichwohl hat Luther die theologische Definition des Menschen nicht im Rahmen dieser philosophischen Definition entwickelt. Denn während die philosophische Betrachtung den Menschen zu Recht von seinem vornehmsten Vermögen aus definiert, zielt die theologische Definition auf den vor Gott (coram deo) stehenden Menschen und thematisiert damit nicht nur, wie die Philosophie, den sterblichen und irdischen Menschen (»mortalem et huius vitae hominem«), vielmehr den ganzen und vollkommenen Menschen (»hominem totum et perfectum«) (WA 39,1; 175,7 f. 176,5 f). Die abstrakte Definition der Philosophie wandelt sich dabei zu einer narrativen Definition: Die ganze Heilsgeschichte wird zum Horizont dessen, was der Mensch in theologischer Hinsicht ist – von Gott erschaffen und zu seinem Ebenbild bestimmt, danach aber durch Adams Fall der Macht des Teufels unterworfen, mithin zur Sünde und zum Tod bestimmt, jedoch durch Christus davon befreit und mit ewigem Leben beschenkt (WA 39,1; 176,7–13). Die Unterscheidung von homo huius vitae und totus homo, von Vernunft und Glaube, von Philosophie und Theologie lässt nach Luther den Menschen auch schon im irdischen Leben zu seiner Wahrheit kommen. Durch diese Wahrheit wird die Erkenntnisfähigkeit der Philosophie nicht bestritten, wohl aber verwiesen in die Grenzen der bloßen Vernunft. Oder, wie Luther im Sommer 1530 an Spalatin schrieb: »Wir sollen menschen und nicht Gott sein. Das ist die summa« (WAB 5; 415,45). Ebeling, Gerhard: Luther. Einführung in sein Denken, 52006. Ders.: Das rechte Unterscheiden. Luthers Anleitung zu theologischer Urteilskraft (in: Ders.: Theologie in den Gegensätzen des Lebens. Wort und Glaube, Bd. 4, 1995, 420–459). Ders.: Luthers Wirklichkeitsverständnis (in: Ders.: Theologie in den Gegensätzen des Lebens. Wort und Glaube, Bd. 4, 1995, 460–475). Albrecht Beutel
3. Theologie als Erfahrungswissenschaft »Sola […] experientia facit theologum« (Allein die Erfahrung macht den Theologen) (WAT 1; 16,13). In dieses Fazit mündet eine kurze Tischrede vom Sommer 1531, in der Luther die erforderlichen Kompetenzen eines doctor bibliae umrissen hat. Angesichts der ihn prägenden Traditionen ist die zentrale Bedeu-
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tung, die Luther dem Erfahrungsbezug beimisst, kaum verwunderlich. Die nominalistische Ausrichtung des Erfurter Philosophiestudiums hat darin ebenso ihre Spuren hinterlassen wie die Erfahrungsorientiertheit der monastischen Theologie, die für Luther namentlich in Gestalt des Zisterzienserabtes Bernhard von Clairvaux bedeutsam geworden ist. Indem Luther die individuelle Erfahrung als Quelle und Ziel aller theologischen Erkenntnis freilegte, hat er die entsprechenden »monastischen Anregungen für das allgemeine Erfahrungsverständnis fruchtbar gemacht« und »der Wortfamilie ›erfahren usw.‹ endgültig Heimatrecht im religiös-theologischen Sprachgebrauch verschafft« (Köpf 1982, 114). Insbesondere aus der Opposition gegen einen sich absolut gebärdenden, spekulativen Vernunftgebrauch gewinnt der Erfahrungsbegriff Luthers Kontur. Rechte theologische Erkenntnis, definierte er in Auslegung von Ps 18,6, ist in der Erfahrung gegründet, nicht in der Spekulation (WA 5; 497,30 f). Erfahrung gilt ihm als sinnliche Verifikation, sie ist zu spüren (z. B. WA 10,3; 427,25) und zu fühlen (z. B. WA 10,1,1; 115,5). Theologisches Erkennen vollzieht sich nicht bloß als ein rationales Begreifen, sondern als Erfahren im Gefühl (WA 40,2; 360,1 f). Der Ausdruck Glaubenserfahrung dürfte von Luther geprägt worden sein (WA 19; 489,15 f). Die Exklusivität, in der Luther den Erfahrungsbezug als Konstitutionsprinzip der Theologie in Anspruch nimmt, mag überraschen. Doch steht bei ihm das sola experientia nicht etwa in Konkurrenz zum reformatorischen Prinzip des sola scriptura, sondern markiert vielmehr, recht besehen, dessen sachgemäße hermeneutische Anwendung. Zwar streicht Luther mitunter die Überlegenheit der Bibel gegenüber jeder menschlichen Erfahrung heraus, so wenn er hinsichtlich der christlichen Ehe bekennt: »Ich rede davon nach der schrifft, die myr gewisser ist denn alles erfaren und leugt myr nicht« (WA 10,2; 299,10 f). Ganz überwiegend bringt er jedoch die elementare Zusammengehörigkeit beider Größen zum Ausdruck, etwa durch die kopulative Verknüpfung »schrifft und erfarung« (z. B. WA 18; 330,28) bzw. »die erfarung und die schrifft« (z. B. WA 24; 515,7), die gelegentlich noch attributiv ergänzt – etwa: »die schrifft sampt der teglichen erfarung« (WA 10,2; 126,30 f) – oder präpositional determiniert werden kann (z. B. WA 53; 530,17). Aufschlussreich sind zumal die gelegentlich aufscheinenden verbalen Näherbestimmungen des Verhältnisses von Schrift und Erfahrung: »Experientia cum scriptura concordat« (WA 28; 644,4), kann es heißen, oder »[…] consentit« (WA 42; 352,14 f) oder »[…] congruit« (WA 43; 685,26 f). Die Kongruenz von Schrift und Erfahrung zeigt sich zunächst auf äußerliche Weise: anhand einer langen Reihe von Lebensweisheiten, die Luther beiderseits bezeugt findet. Dass des Menschen Herz böse ist von Jugend auf (WA 42; 352,12– 17), dass unser irdisches Leben elend ist (WA 12; 117,6–8) und es den Gottlosen am besten ergeht (WA 48; 6,8 f), dass Rotterei kein gutes Ende nehmen (WA 18; 330,28–37) und das Keuschheitsgebot unter tausend Menschen kaum von einem erfüllt werden kann (WAB 3; 327,21–27): Dies alles und vieles mehr gilt Luther als lebenspraktischer Ausweis des Satzes, dass »die Erfarung trifft jmerdar mit der
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heiligen Schrifft uberein« (WA 28; 644,21 f). Zuweilen rekurriert er dabei auch ausdrücklich auf die Erfahrung der Heiden (z. B. WA 19; 372,15–19). In seiner Auslegungspraxis (k C. III. 1.) hat Luther fast durchgehend mit der Dualität von (profaner) Erfahrung und Schriftzeugnis operiert und dabei in konkreten Applikationsfragen den argumentativen Akzent nicht selten auf die allgemeine menschliche Evidenz des Gesagten gelegt. In solchen Fällen bestätigt für ihn die Bibel nur eine Erfahrung, die sich unabhängig von ihr eingestellt hat. Nicht zuletzt daraus dürfte auch Luthers Vorliebe für sprichwörtliche Redensarten zu erklären sein: Sie sind ihm geronnene, zu Spruchweisheit verdichtete Menschheitserfahrung. Neben dem antiken und deutschen Sprichwortschatz dienen ihm vor allem Geschichten und Geschichte als ein schier unerschöpfliches Reservoir von Erfahrung (z. B. WA 6; 353,5–8. WA 22; 70,38–71,3). Wie realistisch er damit rechnet, dass in der Larve der geschichtlichen Mächte Gott selbst am Werk ist, zeigt etwa eine Bemerkung aus der Schrift Vom Kriege wider die Türken (1529): »Wollen wir es nicht aus der schrifft lernen, so mus uns der Türck aus der scheiden leren bis wirs erfaren mit schaden, das Christen nicht sollen kriegen noch dem ubel widder stehen« (WA 30,2; 113,16–18). Nicht ohne Genugtuung vermerkt Luther, dass auch Gott in der Bibel die Lehre durch Geschichten und Legenden ergänzt hat (WA 38; 313,2–314,6). Doch muss neben die überlieferte Erfahrung immer auch die eigene treten, weil sich erst in ihr die Lehre der Schrift vollgültig verifiziert. Wer das Evangelium predigt, der sehe zu, dass er neben dem Zeugnis der Bibel stets auch das eigene Erfahrungszeugnis vorweisen kann (WA 36; 504,10– 505,4): »Darumb sollen wir solche wort S. Pauli an nemen als eine vermanung, das wir feste bey der selben lere und predigt bleiben, der wir beide, gewisse Schrifft und auch erfarung haben, Das sollen zwey zeugnis und gleich als zween prufestein sein der rechten lere« (WA 36; 506,18–21). So bleibt für Luther die Kongruenz von Schrift und Erfahrung nicht auf allgemeine Lebensweisheiten beschränkt, sondern betrifft zugleich das ganze christliche Leben. Dass in Sachen des Glaubens die Vernunft stillhalten soll (WA 14; 402,3–33), dass der freie Wille zur Sünde führt (WA 7; 145,15–20), dass der Teufel nicht müde wird, uns zu schaden (WA 53; 530,16 f), dass Gott, was er erschaffen hat, noch täglich erhält (WA 46; 560,35–561,5): Das alles »gibt scriptura et experientia« (WA 14; 402,24 f). Diese Konvergenz von Schrift und Erfahrung ist für Luther von fundamentaltheologischer Relevanz. Wenn Paulus selbst den Glauben an die Auferstehung Jesu Christi zwiefach bezeugt sieht – nämlich durch alttestamentliche Verheißung und die verschiedenen Erscheinungen des Auferstandenen, kurz: durch »die Schrifft […] [und] die erfarung vieler leute« (WA 36; 522,25 f) –, dann seien entsprechend auch wir gehalten, den Artikel von der Auferstehung der Toten in der Erfahrung des eigenen Lebens gespiegelt zu finden. »Sic Rusticus ex suo agro posset ein solch bibel machen, ut Euangelium legeret in agro. Sic hoc korn wird sein wesen amittere, sed sol werden ein halm« (WA 34,2; 124,4–6). Dabei dient
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der Bauer nur als Beispiel für eine Glaubenshaltung, die Luther jedem Christen zugemutet hat: »Also ist unser Haus, Hoff, Acker, Garten und alles vol Bibel, Da Gott durch seine Wunderwerck nicht allein prediget, Sondern auch an unsere Augen klopffet, unsere Sinne rüret und uns gleich ins Hertz leuchtet, so wirs haben wöllen, Auff das wir söllen auffmercken und warnemen, wie dieser Artickel von der todten Aufferstehung in den Creaturn gebildet und fürgemalet ist« (WA 49; 434,16–20). Alle diese Gestalten einer Erfahrung, durch die das Zeugnis der Bibel ergänzt, bestätigt oder appliziert wird, kommen nun aber darin überein, dass sie dem äußeren Menschen widerfahren; sie sind, wie man sagen könnte, Erscheinungsformen der experientia externa. Von ihr soll die experientia interna unterschieden sein. Sie verleiht der Dialektik von Schrift und Erfahrung bei Luther erst ihr eigentliches theologisches Gewicht. Ihren anthropologischen Ort hat diese experientia interna im Herzen und im Gewissen. Hier lässt sich, was Gott dem Menschen zusagt, erfahren. Eine der bündigsten Äußerungen, die es dazu gibt, findet sich in der Präparationsnotiz zu der geplanten, aber niemals ausgeführten Schrift De loco iustificationis (WA 30,2; 672,37–673,17). Er habe gelernt, notiert Luther 1530, dass man den Namen Christi ergreifen müsse, um wirklich ein Christ zu werden; andernfalls blieben nur Irrtum, Sünde und Tod. Dafür, fährt Luther fort, habe er zwei ganz und gar zuverlässige, unbesiegbare, wenn auch nicht gleichgewichtige Zeugen: »Habeo duos testes fidelissimos et invictos scil. scripturam et conscienciam, quae est experiencia. Consciencia enim mille testes, scriptura infiniti testes« (WA 30,2; 673,15–17). Bereits während der ersten Psalmenvorlesung (1513–1515) hebt Luther hervor, dass die Bibel erst dann wirklich gehört wird, wenn dem äußeren Wort ein inneres Fühlen entspricht: »Nullus enim loquitur digne nec audit aliquam Scripturam, nisi conformiter ei sit affectus, ut intus sentiat, quod foris audit et loquitur, et dicat: ›Eia, vere sic est‹ « (WA 3; 549,33–35). Bis an sein Ende hat er daran festgehalten, zwar in unterschiedlicher Ausdrucksweise, jedoch der Sache nach unverändert. »Sacra scriptura«, heißt es 1528, »non vult sola cogitatione comprehendi, sed per experientiam prorsus inculcari« (Die heilige Schrift will nicht nur im Denken erfasst, sondern durch Erfahrung ganz und gar eingeprägt werden) (WA 26; 55,35–56,1). Oder in einem Gespräch über Tisch: »Die schrifft versteht khein mensch, und ist unmuglich, es kom im den hinhein, id est, experiatur« (WAT 2; 84,19 f). Das Wort der Bibel, das man hört oder liest, bleibt bloßes, äußeres Wissen, wenn nicht Gott »einen rechten verstand und erfarung ym hertzen« dazugibt (WA 24; 18,15 f). Was wäre nun aber diese experientia interna anderes als der Glaube! Der Glaube ist für Luther die dem Wort Gottes einzig angemessene Weise des Hörens. Er lässt das Wort sein, was es ist – verbum efficax –, indem er es wirken lässt, was es verheißt. Dass das Wort wirkt, was es zusagt, ist die Erfahrung des Glaubens (vgl. z. B. WA 52; 165,21–29). Was Gott spricht, ist wahr, ob
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man es glaubt oder nicht (WA 30,2; 453,25). Aber nur der, der es in sich aufnimmt und glaubt, erfährt an sich selbst dessen Wahrheit (WA 48; 67,1–10). Die Unterscheidung von experientia externa und experientia interna indiziert nicht etwa einen doppelten Erfahrungsbegriff, sondern drückt im Gegenteil einen untrennbaren Zusammenhang aus. Diese Verschränkung von äußerer und innerer Erfahrung, von sinnenfälliger Evidenz und Herzensglauben nicht allein aufzuweisen, sondern ihrerseits erfahrbar zu machen, bildet gleichsam das strukturelle Leitmotiv von Luthers theologischer Lebensarbeit. Naturgemäß hat es sich in der Bestimmung der Predigtaufgabe – dort also, wo das Praktisch-Werden, genauer: das Praktisch-werden-Können der Theologie auf dem Spiel steht – in besonderer Weise verdichtet. Als Erfahrungswissenschaft verstandene und vollzogene Theologie konkretisiert die Botschaft des Evangeliums in der Individualität menschlichen Lebens. Eine der prägnantesten Äußerungen, die es dazu gibt, findet sich in einer in den 1530er Jahren bei Tisch aufgezeichneten Bemerkung über Sinn und Aufgabe evangelischer Predigt. »Tria praedicanda. Primo est deicienda conscientia, secundo erigenda, tertio resolvenda seu evolvenda ex his, quae ei dubia sunt, primo per legem, secundo per euangelium, tertio per expositionem illorum, quae est sententia et quid continetur in toto verbo Dei, etiam in exemplis, similitudinibus, primum ex scriptura, alia duo ex rebus, quas ipsi vidimus aut experti sumus« (Dreierlei ist zu predigen. Zuerst ist das Gewissen niederzuwerfen, zweitens aufzurichten, drittens zu befreien und hinauszutreiben aus den Dingen, die ihm zweifelhaft sind; das erste durch das Gesetz, das andere durch das Evangelium, das dritte durch Darlegung dessen, was die Lehre ausmacht und im gesamten Wort Gottes enthalten ist, außerdem mit Beispielen und Gleichnissen, das erste durch die Schrift, die andern beiden aus den Dingen, die wir selbst gesehen und erfahren haben) (WAT 4; 479,1–6). Als Adressat der Predigt hat Luther hier – wie auch sonst – das Gewissen bestimmt (zum Folgenden vgl. Rössler 1983). Bei Luther ist damit nicht allein die Mitte der menschlichen Existenz bezeichnet, sondern zugleich der einzelne Mensch in seiner unverwechselbaren Individualität. Die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium als den zwei Weisen, in denen das Wort Gottes erscheint, kann insofern nicht überraschen, als sie bei Luther ein Konstitutionsmerkmal der Lehre vom Wort Gottes (k C. II. 2.) zur Geltung bringt: Es »ist wol und mit vleyß tzu mercken, das gott tzweyerley wortt oder predigt ynn die wellt hat von anbegynn alltzeyt gesandt: Gesetz und Euangelion, diße tzwo prediget mustu wol unterscheyden und erkennen« (WA 10,1,2; 155,21–24). Überraschend ist allerdings, dass Luther nun darüber hinaus noch einen dritten Aspekt ins Spiel bringt: Das Niederwerfen des Gewissens durch das Gesetz und seine Wiederaufrichtung durch das Evangelium soll in die Befreiung aus dem, was dem Gewissen zweifelhaft ist und es in Anfechtung fallen lässt, fortgesetzt werden. Offenbar sieht Luther diese Befreiung durch die Dialektik von Gesetz und Evangelium allein noch nicht gewährleistet. Vielmehr sollen gegen die Glaubenszweifel und -an-
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fechtungen neben dem Wort Gottes auch Beispiele und Gleichnisse, die wir selbst gesehen und erlebt haben, ins Feld geführt werden – nicht als Überbietung der biblischen Wahrheit, sondern als Anschauungsmaterial ihrer lebenspraktischen Verifikation. Dieser dritte Schritt ergänzt das Zeugnis der Bibel durch Zeugnisse der eigenen Erfahrung. Wer sich diesem doppelten Nachweis verweigert, »den lassen wir faren zum Teuffel, als der keine gemeinschafft mit uns haben sol, die wir gleuben und das Wort angenomen haben und dazu durch erfarung gesehen, das er sein wort bestetigt« (WA 36; 528,22–25). Für Luther kennzeichnet der Erfahrungsdefekt denn auch das tertium seines geschichtlichen Zwei-FrontenKampfs: »Denn ausser solcher erfarung verstehet man doch nicht, was des Glaubens krafft sey, Wie man sihet beide, an den Papisten und allen andern Rotten« (WA 21; 400,25–27). Anders als das Zeugnis der Bibel ist die Glaubens- und Gewissenserfahrung nicht einfach verfügbar. Oft genug wird sie durch die die Glaubensgewissheit sistierende Anfechtungserfahrung konterkariert. Der Kampf zwischen Unglauben und Glauben, der sich im Gewissen des Christen zeitlebens vollzieht, markiert den Zielpunkt der das Denken Luthers auszeichnenden Erfahrungsorientiertheit. In dieser Konzentration auf die Schärfung und Stärkung des Gewissens manifestiert sich der seelsorgerliche Grundzug von Luthers Theologie (Ebeling 1997). Die Einsicht freilich, dass die Gewissensorientierung der Theologie nicht als eine probate Seelsorgetechnik verfügbar ist, sondern immer wieder von neuem gegen die einbrechende Erfahrung der Ohnmacht und Glaubensschwachheit erkämpft oder vielmehr erbeten sein muss, begleitet den theologischen Denkweg Luthers von Anfang an bis zum Ende. Zwei Tage vor seinem Tod hat er diese Einsicht noch einmal bündig zusammengefasst: »Wir sein pettler. Hoc est verum« (WAT 5; 318,2 f). Das ist nicht etwa der Ausdruck düsterer theologischer Resignation, vielmehr das christologisch konnotierte Sinnbild christlicher Existenz: »Betler sind wir auff erden (wie Christus auch selbs gewest ist), aber fur Gott sind wir uberschüttet mit allen gütern, das die welt gegen uns elend und blos ist« (WA 45; 537,26–28). Beutel, Albrecht: Erfahrene Bibel. Verständnis und Gebrauch des verbum dei scriptum bei Luther (1992) (in: Ders.: Protestantische Konkretionen. Studien zur Kirchengeschichte, 1998, 66–103, v. a. 97–103). Ebeling, Gerhard: Luthers Seelsorge. Theologie in der Vielfalt der Lebenssituationen an seinen Briefen dargestellt, 1997. Köpf, Ulrich: Art. Erfahrung III. Theologiegeschichtlich 1. Mittelalter und Reformationszeit (TRE 10, 1982, 109–116). Müller, Hans Michael: Erfahrung und Glaube bei Luther, 1929. Rössler, Dietrich: Beispiel und Erfahrung. Zu Luthers Homiletik (in: Müller, Hans Martin/ Rössler, Dietrich [Hg.]: Reformation und Praktische Theologie. Festschrift für Werner Jetter zum siebzigsten Geburtstag, 1983, 202–215). Albrecht Beutel
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I. Im Zeitalter der lutherischen Bekenntnisbildung und Orthodoxie Mit dem Tod Luthers am 18. Februar 1546 waren die Evangelischen ihrer führenden Autorität beraubt. Der »hohe Lehrer«, »Prophet« und von »Gott gesandte Reformator der Kirche« – so Johannes Bugenhagen in Luthers Leichenpredigt am 22. Februar (W2 21b; 3415) – hatte eine eklatante Lücke hinterlassen. Innerhalb der Wittenberger Reformatorengruppe übernahm Philipp Melanchthon, Luthers langjähriger Freund und Mitstreiter, dessen Stelle. Bereits zu Luthers Lebzeiten hatte es theologische Differenzen zwischen ihm und Melanchthon gegeben, die allerdings durch das Band der persönlichen Freundschaft nicht zum Bruch führten. Zudem hatte Luther seine Theologie nie als abgeschlossen verstanden, sondern sie aufgrund zahlreicher Herausforderungen und Fragestellungen bis zuletzt weiterentwickelt. Dieser Weiterentwicklung sah sich Melanchthon verpflichtet und interpretierte Luthers Theologie nun auf seine Weise, d. h. melanchthonisch. Demgegenüber suchten verschiedene Lutherschüler die reformatorische Theologie in »strenger« Orientierung an Luther selbst fortzuführen, um so das ihrer Meinung nach »wahre« Erbe Luthers zu erhalten. Der Streit um die »lutherische« Lehre war hierdurch vorprogrammiert. I.1. Schmalkaldischer Krieg und Interim Schon bald drängten richtungsweisende – theologische wie kirchenpolitische – Fragen auf Antworten, zumal seit Winter 1545/46 das Konzil von Trient tagte und der altgläubige Kaiser Karl V. nach dem erfolglosen Regensburger Religionsgespräch 1546 eine militärische Operation gegen die evangelischen Reichsstände vorbereitete, die im Schmalkaldischen Krieg 1546/47 mündete. Mit der vernichtenden Niederlage des seit 1531 bestehenden Schmalkaldischen Bundes in der Schlacht bei Mühlberg durch das kaiserliche Heer am 24. April und der Wittenberger Kapitulation am 19. Mai 1547 endete der Krieg. Der Sieg der protestantischen Stände am 23. Mai 1547 in der Schlacht bei Drakenburg an der Weser änderte am Ausgang des Krieges nichts mehr. Der Schmalkaldische Bund wurde zerschlagen. Dessen Hauptleute, Kurfürst Johann Friedrich von Sachsen und Landgraf Philipp von Hessen, gerieten in kaiserliche Gefangenschaft, in der sie bis 1552 ausharren mussten. Der ernestinischen Linie der Wettiner wurden die Kurwürde und ein Großteil ihrer Gebiete, zu denen auch Wittenberg gehörte, genommen und der albertinischen Linie – d. h. dem lutherischen Herzog und kaiserlichen Verbündeten Moritz von Sachsen – zugesprochen, welcher nun auch der neue Landesherr der Wittenberger Universität war. Trotz ernestinischer Bemühungen, Melanchthon für den Aufbau der Universität in Jena zu gewinnen, blieb er an der Leucorea.
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Weil weder Religionsgespräche noch das von 1547 an suspendierte Trienter Konzil eine Überwindung der Glaubensspaltung im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation ermöglichten, nutzte Karl V. seine kaiserliche Prärogative. Auf dem »geharnischten« Reichstag von Augsburg 1548 legte er den Ständen theologische Bestimmungen vor, die sowohl in der Lehre als auch in den Zeremonien mit Ausnahme von Priesterehe und Laienkelch eine Rückkehr zum römisch-katholischen Glauben bedeuteten. Dieses unter dem Namen Augsburger Interim (vgl. Mehlhausen 1996) bekannt gewordene kaiserliche Religionsgesetz sollte eigentlich in allen Städten und Territorien des Reiches eingeführt werden. De facto wurde es aber größtenteils nur in den evangelischen Städten und Territorien Süddeutschlands (z. B. Konstanz, Straßburg, Nürnberg, Herzogtum Württemberg) gültig, in denen die kaiserliche Macht präsent war. Von dort mussten zahlreiche evangelische Prediger wie Andreas Osiander aus Nürnberg oder Martin Bucer aus Straßburg fliehen, wenn sie sich nicht dem Interim fügten. Den jungen Protestantismus stürzte das Interim in eine Existenzkrise, stand doch hiermit die Integrität von Lehre und Bekenntnis auf dem Spiel. Als Reaktion auf diese vielfach als Endzeit und Kampf des Antichristen gegen die evangelische Wahrheit wahrgenommene Entwicklung entfesselten lutherische Theologen eine mediale Kampagne, die sich in verschiedenen Stellungnahmen, kontroverstheologischen Flugblättern, Spottliedern und Trostschriften wiederspiegelt. Die Evangelischen sahen sich zum Bekenntnis aufgerufen. Magdeburg entwickelte sich zu einem zentralen lutherischen Druckort und publizistischen Widerstandszentrum gegen das Interim und seine abschätzig als »Interimisten« bezeichneten Anhänger (vgl. Kaufmann 2003). Gleichzeitig versuchten Städte und Territorien in der Mitte und im Norden des Reiches die Umsetzung des Interims zu verzögern oder durch Alternativvorschläge zu umgehen. So ließ beispielsweise Kurfürst Moritz von Sachsen unter Mitwirkung von Melanchthon und anderen Theologen eine Vorlage für den Leipziger Landtag erarbeiten, welche die Beibehaltung der reformatorischen Lehre bekräftigte, altgläubige Riten und Zeremonien aber aus Rücksicht auf die kaiserliche Interimspolitik wieder einführte (vgl. Wartenberg 2006, 15–32). Melanchthon, der wie seine Wittenberger Universitätskollegen das Interim ablehnte, sah in der Mitwirkung an der Leipziger Landtagsvorlage – von den Kritikern Leipziger Interim genannt – eine Chance, die evangelische Lehre zu bewahren. Ihm galten die äußeren Zeremonien und rituellen Praktiken als »Adiaphora«, d. h. als »wertneutral« oder »freigelassene Mitteldinge«. Für den Glauben und das Seelenleben des einzelnen seien sie weder zuträglich noch abträglich. Obgleich die Annahme des Leipziger Alternativentwurfs in Kursachsen am Widerstand der Landstände scheiterte, regte sich gegen die Kombination von evangelischer Lehre mit altgläubigen Zeremonien unter den »strengen« Anhängern Luthers heftiger Widerstand, der zu anhaltenden Streitigkeiten führte. Zu denen, die bereits früher Melanchthons innerprotestantische Ausgleichgleichbemühungen, religionspolitische Aussöhnungsversuche mit der Papsttum und
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theologische Akzentsetzungen wie z. B. in der Abendmahlslehre oder der Lehre vom unfreien Willen kritisiert hatten, gehörte der 1547 von Moritz’ Truppen vertriebene lutherische Bischof von Naumburg-Zeitz, Nikolaus von Amsdorf. Er lehnte den Leipziger Kompromiss als der evangelischen Lehre zuwiderlaufend ab, weil u. a. im Rechtfertigungsartikel eine klare Aussage über das »allein aus Glauben« fehle. Luthers theologisches Erbe sah er verraten und beklagte, Melanchthon sei dem Antichrist anheimgefallen. Scharfe Kritik z. B. an der Wiedereinführung der liturgischen Gewänder formulierten auch der gebürtige Kroate Matthias Flacius Illyricus und der im Zuge des Interims aus Regensburg vertriebene Super intendent Nikolaus Gallus, die sich in Magdeburg um Amsdorf sammelten. In ihren Streitschriften vertraten sie den Grundsatz: In einer Situation, in der es um das Bekenntnis des Glaubens gehe, könne nichts gleichgültig sein (»nihil esse adiaphoron in casu confessionis et scandali« BSELK 1167). Unterstützung erhielten sie von den Hamburger Pfarrern Joachim Westphal und Johannes Aepinus, die sich an der mittlerweile öffentlichen Diskussion um die kursächsischen Religionsfragen beteiligten. Melanchthon und seine Wittenberger Universitätskollegen galten den Magdeburger und Hamburger Theologen als »Adiaphoristen« und Verräter der evangelischen Wahrheit. Zwar setzte sich Melanchthon gegen die Vorwürfe zur Wehr, doch hatte seine Autorität durch die Angriffe dauerhaft Schaden genommen. Obwohl durch den Passauer Vertrag 1552 die Rechte der Protestanten wieder hergestellt waren und durch den Augsburger Religionsfrieden 1555 das Interim letztgültig außer Kraft gesetzt wurde, hielt der Konflikt an, in dem es neben den zu klärenden theologischen Prinzipien stets auch um Kirchenpolitik und Personen ging (vgl. Kolb 2006, 191–209). Insgesamt bildeten die Streitigkeiten um das Augsburger Interim (»Interimistischer Streit«) und um die Leipziger Landtagsvorlage (»Adiaphoristischer Streit«) den Auftakt für grundlegende Auseinandersetzungen um Luthers Erbe, die sich mit territorialpolitischen Interessen verbanden und zu einer theologischen Differenzierung und Pluralisierung der Wittenberger Reformation führten. I.2. Ausweitung der innerlutherischen Lehrstreitigkeiten In den kommenden Jahren weiteten sich die theologischen Streitigkeiten aus und beeinflussten die konfessionspolitische Richtung zahlreicher Territorien und Städte. Amtsenthebungen, Verhaftungen und Vertreibungen andersdenkender lutherischer Theologen und Prediger waren die Folge. Tendenziell standen sich zwei Lager gegenüber, die sich aber je nach Thema in unterschiedlichen Personenkonstellationen zusammenfanden oder auch Sonderpositionen hervorbrachten. Eine einfache Zuschreibung, nach welcher die »strengen« Lutheranhänger als »Gnesiolutheraner« gegen die Melanchthonschüler als »Melanchthonianer« kämpften, wird den historischen Gegebenheiten nicht gerecht (vgl. Kaufmann 2003, 74–76 Anm. 123). Stattdessen ordneten sich die Streitlinien häufig wieder
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neu. Die Weiterentwicklung der Lehren brachte z. B. hinsichtlich der Erbsündenlehre des Flacius die »Flacianer« und hinsichtlich der Abendmahlslehre und Christologie Melanchthons die »Philippisten«, auch als »Kryptocalvinisten« verschrien, hervor. Der sogenannte »Majoristische Streit« entzündete sich zwischen den einstigen Magdeburger Weggefährten, dem Wittenberger Theologieprofessor Georg Major (als Namensgeber) und dem Lutherfreund Nikolaus von Amsdorf. Gegenstand des sich von 1552 bis 1570 hinziehenden Streites war das Verhältnis von Glaube und Werke, das für die evangelische Rechtfertigungslehre seit Beginn der Reformation von grundlegender Bedeutung war. Genauer ging es um die Frage, ob gute Werke zur Seligkeit notwendig seien. In Anlehnung an die Leipziger Landtagsvorlage hatte der Melanchthonschüler Major 1551 diese These bekräftigt und hinzugefügt, ohne sie könne niemand selig werden. Amsdorf sah darin eine Erneuerung der von Luther bekämpften Lehre von der Mitwirkung und dem Verdienst des Menschen zur Seligkeit und warf Major katholisierende Tendenzen vor. Während Major unter »guten Werken« aber den neuen, aus dem Glauben kommenden Gehorsam verstand, meinte Amsdorf, dass hierdurch den »äußeren Werken« das Wort geredet werde. Um zu unterstreichen, dass keinerlei Werke den Menschen selig machen könnten, formulierte Amsdorf die radikale Gegenthese, gute Werke seien zur Seligkeit schädlich. Sowohl Majors als auch Amsdorfs extreme Positionen weckten unter den durch das Interim sensibilisierten lutherischen Theologen Mittel- und Norddeutschlands heftige Proteste, die im sogenannten »Zweiten Antinomistischen Streit« fortgesetzt wurden. In dieser von 1556 bis 1571 dauernder Auseinandersetzung stand die Frage im Mittelpunkt, welche Rolle das Gesetz im Leben eines Christen spiele. Auslöser war eine These der Eisenacher Synode von 1556, durch die sie eine Vermittlung der konträren Positionen im »Majoristischen Streit« herzustellen suchte: Der Satz, gute Werke seien notwendig zum Heil, könne in der Lehre vom Gesetz abstractive et de idea ertragen werden. Hierdurch war die Funktion des Gesetzes als Anleitung für die christliche Lebensgestaltung thematisiert und somit der von Melanchthon gelehrte dritte Gebrauch des Gesetzes, der tertius usus legis, aufgegriffen worden. Hatten schon in den späten 1520er und 1530er Jahre Luther und Melanchthon mit Johann Agricola über die Funktion des Gesetzes gestritten und hierbei neben dem ersten Gebrauch des Gesetzes, dem usus politicus, an dem zweiten Gebrauch des Gesetzes, dem usus theologicus, festgehalten (k B. III. 9. 2), verteidigten nun Flacius und seine Mitstreiter den tertius usus als dem christlichen Leben Orientierung gebenden usus paedagogicus gegen die Kritik des Nordhäuser Pfarrers Anton Otho und des Erfurter Andreas Poach, beide »strenge« Lutheraner. Ähnlich konfrontativ verlief der Streit zwischen dem Theologieprofessor Andreas Musculus und dem Hebräischlehrer Abdias Praetorius in Frankfurt an der Oder. Während Musculus die Funktion des Gesetzes auf den usus theologicius beschränkt wissen wollte und einen den Christen belehrenden tertius usus verwarf, widersprach Praetorius mit Unterstützung
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Melanchthons und verteidigte die Notwendigkeit des Gesetzes im Leben der Christen. Der sogenannte »Synergistische Streit« fokussierte die Bedeutung und Funktion des freien Willens im Rechtfertigungsgeschehen. Näherhin ging es um das menschliche Kooperieren (Synergismus) mit dem Heiligen Geist im Bekehrungsvorgang. Bereits in der Leipziger Landtagsvorlage und in Melanchthons Loci praecipui (1553) war die Thematik enthalten gewesen. Aber erst eine Thesenreihe des Leipziger Theologieprofessors, Johannes Pfeffinger, von 1555 führte zum Konflikt. Hierin griff er Melanchthons Willenslehre auf und betonte bezüglich der Bekehrung des Menschen drei Faktoren: den Heiligen Geist, das Wort Gottes und den Willen des Menschen, der Gottes Gnade zustimmend ergreift oder zurückweist. Gegen die Thesen des albertinischen Universitätslehrers wandten sich nun vornehmlich ernestinische Theologen. So reagierte beispielsweise der mittlerweile in Eisenach wirkende Amsdorf 1558 mit harscher Kritik. In Pfeffingers Thesen sah er eine Beschränkung des rechtfertigenden Handeln Gottes und eine Rückkehr zur altgläubigen Lehre. Eine irgendwie geartete menschliche Mitwirkung beim Übergang vom Unglauben zum Glauben dürfe nicht einmal gedacht werden. Wie eng die Konflikte mit der Konfessionspolitik der beteiligten Territorien verquickt waren, hatte der für die Augsburger Konfessionsverwandten schismatische Ausgang des Wormser Religionsgesprächs 1557 deutlich gemacht. Dort hatten die ernestinischen Theologen, gestützt durch die dynastische Rivalität ihres Herzogs Johann Friedrich II. gegen Kursachsen, ihre unnachgiebige Haltung gegenüber den verschiedenen »Irrtümer« unterstrichen und jeglichen innerevangelischen Kompromiss abgelehnt. Aber auch zwischen den ernestinischen Theologen kam es zum Bruch, wie der »Streit um die Erbsünde« zeigt. 1557 war Flacius von den ernestinischen Herzögen an die 1548 gegründete Hohe Schule und spätere Universität Jena berufen worden. Die sich als Beschützer des wahren Luthertums stilisierenden Ernestiner hatten nicht nur 1547 das Archiv und die fürstliche Bibliothek aus Wittenberg in ihre thüringischen Stammländer mitgenommen, sondern auch Konkurrenzprojekte wie die Jenaer Lutherausgabe gegenüber der Wittenberger Lutherausgabe (k A.I.1.) angeregt. In Jena als neuem Wittenberg sollte jetzt das »reine« Evangelium nach dem unverfälschten Luther gelehrt und alle Irrtümer bekämpft werden (vgl. Gerth 2011, 149–155). Gleichwohl gerieten die Theologieprofessoren Victorin Strigel und Flacius u. a. über die Willensfreiheit in Streit, mit der Folge, dass Strigel, der das Weimarer Konfutationsbuch von 1559 als verbindliches Landesbekenntnis ablehnte, verhaftet wurde. Zur Beilegung des Streits fand 1560 in Weimar eine Disputation zwischen den Kontrahenten statt. Indem Flacius die erbsündliche Verderbnis des Menschen unterstreichen wollte, formulierte er die These, dass die Erbsünde die Substanz bzw. das Wesen des Menschen sei. Dies lehnte Strigel durch die Gegenposition, die Erbsünde sei lediglich eine Akzidenz des Menschen, vehement ab. In dem Streit um die Erbsünde isolierte sich Flacius zunehmend. 1561 wurde er schließlich aus Jena vertrieben.
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Zu diesen aus dem Interim hervorgegangenen Streitigkeiten traten weitere Konflikte. 1550 kam es zur öffentlichen Kontroverse um die spiritualisierende Rechtfertigungslehre des infolge des Interims aus Nürnberg ins Herzogtum Preußen geflohenen Reformators Andreas Osiander. Der an der 1544 gegründeten Universität Königsberg wirkende Theologe kritisierte in einer Disputation Melanchthons forensische Rechtfertigungslehre und betonte die Integration von Rechtfertigung und Heiligung. In Gott sei alles wesenhaft und zur Rechtfertigung gehöre die Heiligung, die im Menschen durch die Einwohnung der göttlichen Natur Christi als wesentlicher Gerechtigkeit bewirkt werde. Während Herzog Albrecht von Preußen Osianders Position verteidigte, lehnten sowohl die »strengen« Lutheraner als auch die Melanchthonanhänger den »Osiandrismus« (vgl. Kolb 2011, 106 f) ab. Im »Osiandrischen Streit« zog der aus Mantua stammende Francesco Stancaro ebenfalls Kritik auf sich, nachdem er gegen Osiander behauptet hatte, dass Christus die Sünder nur durch das Werk seiner menschlichen Natur errette. In diesem Klima der kontroverstheologischen Polarisierung war es nur eine Frage der Zeit, wann die einst heftig geführten innerprotestantischen Streitigkeiten zwischen schweizer und lutherischen Theologen (k B.III.7) neu ausbrachen. Dreh- und Angelpunkt war seit Mitte der 1520er Jahren der Streit ums Abendmahl, der trotz Wittenberger Konkordie (1536) zwischen Luther und einigen süddeutschen Reichsstädten und Melanchthons Confessio Augustana Variata (1540), die von Johannes Calvin unterschrieben worden war, weiterhin schwelte. 1549 einigten sich Calvin und Zwinglis Nachfolger Heinrich Bullinger im Consensus Tigurinus auf ein Abendmahlsverständnis, das die lutherische Realpräsenzlehre zusammen mit der römischen Transsubstantiationslehre verwarf. Hierdurch wurde die dogmatische Einheit des Reformiertentums unter Einschluss des Calvinismus zwar eingeleitet, der Gegensatz zur lutherischen Lehre aber verstärkt. 1552/53 brach der sogenannte »Zweite Abendmahlsstreit« aus, nachdem Joachim Westphal aufgrund der Ausbreitung des Calvinismus in Westeuropa die Lehre der »Sakramentierer« attackiert und die Lutheranhänger zur Verteidigung aufgerufen hatte. Der Hamburger Pfarrer verteidigte die Realpräsenz Christi und lehrte die manduactio fidelium et infidelium, d. h. auch die Ungläubigen genössen das Mahl – allerdings zum Gericht. Calvin griff 1555 schließlich selbst in den Streit ein. Anlass war der schroffe Umgang mit der calvinistischen Flüchtlingsgemeinde um Johann von Laski, welcher im Winter 1553 das Asyl in norddeutschen lutherischen Städten und Territorien verwehrt worden war. Der neue Abendmahlsstreit rief alle namhaften lutherischen und calvinistischen Theologen auf den Plan. Konfessionspolitische Konsequenzen hatte der Heidelberger Abendmahlsstreit von 1559/60 zwischen lutherischen und zwinglisch-calvinistischen Vertretern für die Kurpfalz. Von Melanchthon erbat Kurfürst Friedrich III. ein Gutachten zur strittigen Abendmahlsfrage, das eine zu Calvins Abendmahlsverständnis tendierende Kompromissformel enthielt. Nach einer ergebnislos verlaufenden Dis-
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putation zwischen Heidelberger und sächsischen Theologen leitete der Kurfürst den Übergang seines bedeutenden Territoriums vom noch nicht gefestigten lutherischen Glauben zum reformierten Bekenntnis (Heidelberger Katechismus 1563 u. a.) ein. Von einigen philippistischen Anhängern Melanchthons in Kursachsen wurde dieses Abendmahlsverständnis in calvinistischer Richtung weiterentwickelt. Infolge der Bartholomäusnacht 1572 änderte Kursachsen seine Konfessionspolitik. Kurfürst August von Sachsen sah in den Calvinisten nun Staatsfeinde und förderte die Rezeption genuin lutherischer Lehre. 1574 wurden zahlreiche Philippisten, denen man »Kryptocalvinismus« vorwarf, in Kursachsen verhaftet und zur Unterschrift der Torgauer Artikel gezwungen, andernfalls ausgewiesen oder – wie Melanchthons Schwiegersohn Caspar Peucer – in Kerkerhaft gelegt. Weniger spektakulär verlief der »Streit um die Prädestinationslehre« zwischen dem Lutheranhänger Johannes Marbach und dem Italiener Hieronymus Zanchi in Straßburg, in welcher der calvinistischen Lehre von Erwählung und Verwerfung Luthers Erwählungsgedanken gegenübergestellt wurden. 1563 klärte eine Vergleichsformel den Streit ohne alle Differenzen zu beseitigen. Die Abgrenzung des Luthertums vom Calvinismus schritt voran. I.3. Einigungsbemühungen und Konkordienbuch Kurz nach Ausbruch der Streitigkeiten begannen sowohl auf Seiten der Theologen als auch auf Seiten der Fürsten Bemühungen, die Einheit der Augsburger Konfessionsverwandten in Lehre und Bekenntnis wieder herzustellen. Mehrere Versuche von Herzog Christoph von Württemberg, zu denen die 1558 auf dem Frankfurter Fürstentag angenommene Konsensformel (Frankfurter Rezess) und die 1561 auf dem Naumburger Fürstentag gebilligte Interpretation des Abendmahlsartikels der CA Invariata (1530) durch Melanchthons CA Variata (1540) zählten, sollten am Widerstand vornehmlich der sächsischen Herzöge und ihrer Theologen, allen voran Flacius, scheitern. Stattdessen konzentrierten sich die weltlichen Obrigkeiten nun auf die Herstellung der Glaubenseinheit im eigenen Territorium. Sie approbierten spezifische Bekenntnistexte von ihren führenden Geistlichen wie das bereits erwähnte Weimarer Konfutationsbuch für das Herzogtum Sachsen (1559) oder Sammlungen autoritativer Schriften wie Melanchthons 1560 erstelltes Corpus doctrinae Philippicum für Kursachsen (1566). Je nach theologischer Ausrichtung der Stadt oder des Territoriums wurden bei der Zusammenstellung normativer Lehrschriften entweder Melanchthons oder Luthers Schriften bevorzugt. Im Zusammenhang mit den anhaltenden Lehrstreitigkeiten beförderten die Corpora Doctrinae den territorialen Konfessionalisierungsprozess und schufen eine protestantische Bekenntnispluralität. In dieser verfahrenen Situation kam aus dem lutherischen Württemberg erneut eine Konsensinitiative, die letztlich Erfolg hatte. Seit Sommer 1568 suchte der
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Tübinger Theologieprofessor und Universitätskanzler Jakob Andreae mit Unterstützung seines Herzogs Christoph und dessen Sohn Herzog Ludwig von Württemberg und weiterer Herzöge die innerprotestantischen Streitigkeiten durch eine Konkordie zu überwinden. Es bedurfte verschiedener Konkordienvorschläge (u. a. Schwäbisch-Sächsische Konkordie, Maulbronner Formel) und des Engagements Kurfürst August von Sachsen, bis ein Theologenkonvent im kursächsischen Torgau das Torgische Buch 1576 erstellte (vgl. BSELK.QuM 2), das durch die Pfarrerschaft der evangelischen Kirchen im Reich diskutiert und im Kloster Berge bei Magdeburg 1577 zum Bergischen Buch erweitert wurde. Damit war die Solida Declaratio der Konkordienformel (Formula Concordiae) geschaffen, der die von Andreae verfasste Epitome, d. h. ein »Summarischer Begriff« bzw. Auszug der strittigen Artikel, vorangestellt wurde. Die FC beginnt mit Ausführungen über die Heilige Schrift als »Regel und Richtschnur« alles Glaubens, Lehrens und Bekennens, woraufhin folgende Themen in der Dreiteilung von Hauptfrage des Streites, Affirmation und Negation verhandelt werden: 1. Von der Erbsünde, 2. Vom freien Willen, 3. Von der Gerechtigkeit des Glaubens vor Gott, 4. Von den guten Werken, 5. Vom Gesetz und Evangelium, 6. Vom dritten Gebrauch des Gesetzes, 7. Vom heiligen Abendmahl Christi, 8. Von der Person Christi, 9. Von der Höllenfahrt Christi, 10. Von den Kirchengebräuchen, »so man Adiaphora oder Mitteldinge nennet«, 11. Von der ewigen Vorsehung und Wahl Gottes. Der 12. Artikel bot eine Zusammenstellung der Irrtümer »anderer Rotten und Secten«, d. h. der Wiedertäufer, Schwenckfeldianer, neue Arianer und Antitrinitarier (BSELK 1216–1302). Insgesamt suchte die FC einen Mittelweg zwischen den extremen Positionen zu beschreiten, wofür sie wieder deutlich an Luther selbst – allerdings mit dem einschränkenden Hinweis, dass Luthers Lehre an Gottes Wort zu messen sei – anknüpfte. Gleichzeitig beschleunigte die FC die Abgrenzung gegenüber dem Calvinismus und dem reformierten Philippismus und schuf die Lehrgrundlage für die sogenannte lutherische Orthodoxie. 1579 wurde dem Konkordienwerk eine »Fürstenvorrede« vorangestellt, welche zahlreiche evangelische Städte und Territorien unterzeichneten und sich somit auf die FC verpflichteten. Um die territorialen Sammlungen autoritativer Lehrschriften zu vereinheitlichen, erstellten die Konkordisten eine Dokumentensammlung, die mit den drei altkirchlichen Symbolen (Apostolicum, Nicaeno-Constantinopolitanum, Athanasium) und der CA begann, welche in allen lutherischen Reichsständen als Maßstab für das kirchliche Leben galten. Ebenfalls aufgenommen wurden Melanchthons Apologie der CA, Luthers Schmalkaldische Artikel, Melanchthons Traktat De potestate et primatu papae, Luthers Kleiner und Großer Katechismus und die FC. Dieses Konkordienbuch wurde am 25. Juni 1580, fünfzig Jahre nach der Überreichung der CA, veröffentlicht. Damit war ein »Corpus Doctrinae« geschaffen, das diejenigen Bekenntnisse und Schriften enthielt, welche auf der Grundlage der Heiligen Schrift nun normierend und orientierend in Glaube, Lehre und Leben wirken sollten. Der Prozess der lutherischen Konfessionsbildung fand in diesem Werk seinen Abschluss. Obwohl einige
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innerlutherische Streitigkeiten fortbestanden, hatte das Konkordienluthertum seine Bekenntnis- und Lehrgrundlage gefunden. Mit der Wittenberger »Normalbibel« (1581) beendete Kurfürst August von Sachsen zudem einen Streit, der nach Luthers Tod um dessen authentische deutsche Bibelübersetzung (k C.I.1.) entbrannt war. Während die Bibelausgabe von 1545 noch zu Luthers Lebzeiten erschienen war und somit als von Luther autorisiert galt, hatte Georg Rörer in der nach Luthers Tod 1546 besorgten Bibelausgabe die Wittenberg Revisionsergebnisse vom Spätherbst 1544 eingearbeitet. Dies galt (zu Unrecht) als eine Verfälschung des »wahren« Luthertextes und wurde vielerorts abgelehnt. Kursachsen entschied sich für die 1545er Bibel als Ausgabe letzter Hand und erhob sie 1581 zur Norm. I.4. Orthodoxer Lehrgehalt und lutherische Frömmigkeitskultur In der Frühen Neuzeit fand insgesamt eine vielschichtige, multimediale und bisweilen europäische – d. h. Skandinavien, Baltikum und Südosteuropa erfassende – Rezeption Luthers statt, die in ihrer Vielgestaltigkeit hier nicht dargestellt werden kann. Folgt man dem Konfessionalisierungsparadigma der jüngeren Geschichtswissenschaft, die den engen Zusammenhang zwischen der Formierung der frühneuzeitlichen Konfessionen und den territorialen Staatsbildungsprozessen hervorhebt, so entwickelten die lutherischen Territorien und Städte im späteren 16. und frühen 17. Jahrhundert eine spezifisch evangelische Konfessionskultur, die alle Lebensbereiche umfasste und keineswegs nur auf den Bereich der Theologie und Kirche beschränkt war (vgl. Kaufmann 2006, 3–26). Der universitären Theologie des konfessionellen Zeitalters galt Luther als Garant der Orthodoxie (= Rechtgläubigkeit). Einer ihrer bedeutendsten Vertreter, der Jenaer Theologieprofessor Johann Gerhard, fasste die vocatio de beati Lutheri in seinem Werk Loci theologici (1610–1625) innerhalb des Locus de ministerio ecclesiastico (VI,8) auf dreifache Weise: Der Beruf des geweihten Priesters, Doktors der Theologie und Professors an der Universität. Von dieser vocatio ordinaria unterschied Gerhard Luthers vocatio extraordinaria als dem officium reformandi et Antichristum revelandi. Mit dem Nachweis, dass Luther ein legitimer Amtsträger der Kirche war, meinten die lutherisch-orthodoxen Theologen gegenüber den römisch-katholischen Kontroverstheologen den Anspruch der lutherischen Kirche auf wahre Katholizität untermauern zu können. Gleichwohl zeigten sich auch Differenzen zu Luthers Theologie. So hatte die lutherische Orthodoxie beispielsweise ein Schriftprinzip entwickelt, das nicht mit Luthers Schriftlehre (k C.II.2.4.) verwechselt werden darf. Zugleich war Luthers Bibelübersetzung von einzigartig kultureller Prägekraft, beförderte sie doch die Entwicklung einer einheitlichen deutschen Sprache. Die Lutherbibel avancierte nicht nur zur Sprache der Prediger und Schriftsteller, sondern gewann auch auf die Volkssprache mit ihrer Alltagskultur Einfluss. Dem
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Bendelebener Pfarrer Johann Clajus diente die Lutherbibel beispielsweise als Vorbild für seine Grammatica germanicae linguae (1578), die im 17. Jahrhundert führende deutsche Sprachgelehrte wie den Wolfenbütteler Prinzenerzieher Justus Georg Schottel anregte. Verse der Lutherbibel zierten bereits im 16. Jahrhundert als Inschriften die Fassaden zahlreicher Fachwerkhäuser Mittel- und Norddeutschlands (hier vornehmlich in der niederdeutschen Fassung der Lutherbibel) und verkündeten an Kanzeln, Emporenbalken, Epitaphien u. a. das Wort Gottes. Neben Luthers Kirchenlieder beeinflusste die Sprache seiner Bibel die reichhaltige lutherische Kirchenliederdichtung z. B. Paul Gerhardts oder fand Eingang in die Werke der lutherischen Choral- und Figuralmusik, wie sie durch Michael Praetorius und Heinrich Schütz repräsentiert wurde. Überhaupt zeugt das konfessionelle Zeitalter von einer lebendigen lutherischen Frömmigkeitskultur, die neben der gottesdienstlichen Passions- und Sa kramentsfrömmigkeit durch Bücher geprägt war. Im Gebrauch waren Luthers Postillen (besonders die Hauspostille), die zum Vorbild zahlreicher Predigt- und Postillenwerke avancierten und mit Erklärungen der gottesdienstlichen Sonnund Festtagslesungen oder des Katechismus von den Gemeindegliedern studiert und meditiert wurden. Zu dieser für das Luthertum charakteristischen Erbauungsliteratur zählten zudem Gebetbücher, Gebetsanleitungen, Erbauungs- und Trostbücher wie Philipp Nicolais Freudenspiegel des ewigen Lebens (1599). Seit ca. 1650 wurden Gesangbücher auch für die Hand der Gottesdienstbesucher bestimmt. Um 1600 begannen sich in der Erfahrungstheologie verstärkt Einflüsse der Mystik bemerkbar zu machen, die das persönliche Verhältnis des Gläubigen zu Christus zu fördern suchten. Einen ersten Höhepunkt dieser Richtung bildeten Johann Arndts Vier Bücher vom wahren Christentum (1605–1610). I.5. Lutherbilder und Memorialkultur Für eine intensive Lutherrezeption sorgten verschiedene Erinnerungsformen, die zur »Historisierung und Monumentalisierung« Luthers beitrugen (Wolgast 1993, 42) wie Melanchthons und Bugenhagens Leichenreden 1546, Melanchthons Historia Lutheri (1546), illustrierte Flugblätter oder Konfessionsbilder. Zu den zwei in mehreren Auflagen verlegten Lutherausgaben, seinen Katechismen, den Schmalkaldischen Artikeln und Postillen traten die von Johann Aurifaber erstmals 1566 veröffentlichten Tischreden oder Colloquia (k C.I.11.), die zahlreiche Auflagen erlebten. Das in 80 thematischen Kapiteln gebotene Bild zeichnete Luther als Kämpfer für das Evangelium gegen die Finsternis der spätmittelalterlichen Kirche, gegen Scholastiker und Papst. Zeitgleich erschienen erste Lutherbiographien, die neben memorialen, auch didaktischen und paränetischen Zwecken dienten. Ein Zyklus von 17 Predigten aus der Feder des Joachimsthaler Pfarrer Johannes Mathesius trug den Titel Historien von des Ehrwirdigen in Gott Selingen thewren Manns Gottes, Doctoris Martini Luthers anfang, lehr, leben und sterben
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(1566). In dieser das ganze Leben Luthers umfassenden Biographie bot Matthesius ein lebhaftes Bild von »dem großen Mann«, dem er 1540–1542 in Wittenberg begegnet war. Die Zuschreibung Luthers als Prophet – genauer als »deutscher Prophet« oder »Prophet deutschen Landes« – und der Vergleich mit Mose waren charakteristisch für sein Lutherbild, welches aufgrund des anschaulich aufbereiteten und anekdotenhaft dargebotenen Materials das populäre Lutherbild der evangelischen Kirche prägen sollte und Biographien Nikolaus Selneckers (1576), Georg Gloccers (1586) oder Cyriakus Spangenbergs (1589) in seiner Wirkung weit übertraf. Demgegenüber zeichnete die Lutherbiographie des Kontrovers theologen Johannes Cochläus von 1549 im Stil einer negativen Heiligenvita das Bild eines vom Teufel getriebenen Luthers und bestimmte fortan das katholische Lutherbild. Verschiedene Erzählungen wie die seit dem ausgehenden 16. Jahrhundert in Wittenberg, seit ca. 1650 auch für die Wartburg tradierte Legende vom Tintenfasswurf festigten die Luthermemoria und verknüpfte sie mit einzelnen Orten. Zu den frühen, bereits in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts besuchten Erinnerungsorten zählten die Lutherstube im Wittenberger Augustinerkloster, die Wartburg und Eisleben mit Luthers Geburtshaus. Zu einer Quasi-Reliquie entwickelte sich im 17. Jahrhundert u. a. Luthers Sterbebett, dessen Splitter angeblich gegen Zahnschmerzen halfen. Ikonographisch fand im 17. und 18. Jahrhundert der um 1600 erstmals belegte Bildtyp »Luther mit Schwan« weite Verbreitung, der an einen angeblich von Jan Hus stammenden, von Luther 1531 tradierten Vergleich Gans (Hus) und Schwan (Luther) anknüpfte. Zur festen Institution der lutherischen Memorialkultur avancierten nach einzelnen Erinnerungstagen im 16. Jahrhundert schließlich auch der 31. Oktober, welcher erstmals 1617 als Reformationstag im großen Stil gefeiert wurde. Dingel, Irene (Hg.): Controversia et Confessio. Theologische Kontroversen 1548–1577. Kritische Auswahledition, 9 Bde., 2008 ff. Kaufmann, Thomas: Konfession und Kultur. Lutherischer Protestantismus in der zweiten Hälfte des Reformationsjahrhunderts (SuR.NR 29), 2006. Koch, Ernst: Das konfessionelle Zeitalter – Katholizismus, Luthertum, Calvinismus (1563– 1675) (KGE II/8), 2000. Kolb, Robert: Die Konkordienformel. Eine Einführung in ihre Geschichte und Theologie (OUH.E 8), 2011. Christopher Spehr
II. Im Zeitalter der Aufklärung II.1. Konturen Das Zeitalter der Aufklärung überführte die Rezeption Luthers in signifikant neue, zukunftsweisende Bahnen: Das konfessionskirchlich kultivierte Ehrenge-
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dächtnis begann sich in die geistesgeschichtliche Würdigung des Reformators zu weiten. Davon war 1717, im Jubeljahr der Reformation, einstweilen noch wenig zu spüren. Aus Rücksicht auf den Kaiser und die katholischen Stände hatte das Corpus Evangelicorum jede machtvolle reichsweite Demonstration des protestantischen Bekenntnisses untersagt und lediglich territorial eigenständige Feierlichkeiten gestattet. Wie die Memorialfeiern insgesamt, so blieb auch die damit verbundene Lutherehrung durchweg den altprotestantischen Mustern verhaftet: Daseinsentrückt erstrahlte der Reformator in der Gloriole des apokalyptischen Engels (vgl. Apk 14,6 f), als tadelloses Werkzeug Gottes im letzten Kampf mit den Mächten der Finsternis. Der Pietismus prolongierte die altprotestantischen Deutungsmuster insofern, als er Luther ebenfalls als den Garanten der reinen evangelischen Lehre, die nun in Gestalt eines wahren christlichen Lebens praktiziert werden müsse, in Anspruch nahm. Philipp Jakob Spener suchte sich gegen die von der orthodoxen Schultheologie artikulierten Zweifel an seiner Rechtgläubigkeit dadurch zu wehren, dass er den mit zahlreichen Quellenbelegen herbeizitierten Reformator als Kronzeugen seiner eigenen theologischen Theoriebildung auswies. August Hermann Francke zollte dem Vater des unverfälschten evangelischen Glaubens und namentlich dessen konsequenter biblischer Fundierung aller Theologie ebenfalls durchaus Respekt, sah sich zugleich aber auch dazu legitimiert, in seinen Observationes biblicae (1695) der Lutherbibel etliche philologische und hermeneutische Verbesserungen angedeihen zu lassen. Seit den 1730er Jahren hat sich in der Lutherrezeption dann freilich ein epochaler, über die lutherischen Konfessionskirchen in das allgemeine frühbürgerliche Bildungsbewusstsein hinausgreifender Paradigmenwechsel vollzogen. Der 1738 publizierte 18. Band des von Johann Heinrich Zedler verlegten »Universal[-] Lexicon[s] Aller Wissenschafften und Künste« – es war die umfangreichste Enzyklopädie, die während des 18. Jahrhunderts in Europa erschien – präsentierte in einem 70 Spalten umfassenden Artikel gedrängte Informationen zu Martin Luther. Sie ergingen als ein ausführlicher, durchweg apologetisch orientierter und weithin sachgemäßer Abriss der Biographie, der den äußeren Lebenslauf in unermüdlicher Detailfreude nachzeichnete, dabei aber die inneren religiösen Kämpfe sowie die theologischen Entscheidungen und Entwicklungen Luthers allenfalls sporadisch andeutend einbezog. Die Absicht des außergewöhnlich breiten Artikels war unverkennbar: Nicht als ein Mann der Kirche, sondern als deutscher Sprachschöpfer, genialer Bibelübersetzer und mutiger Freiheitskämpfer, kurzum: als kulturgeschichtlicher Heros sollte Luther dem Publikum nahegebracht werden. Auch sonst wurden nun große Mühen auf eine Verbesserung der Lutherkenntnis verwandt. Zahlreiche, oft sehr ausführliche biographische Darstellungen beförderten die Popularisierung, zeittypische Anthologien präsentierten, bisweilen in alphabetischer Ordnung, »Kern- und Kraftstellen« aus den Schriften des Reformators und suchten dergestalt dessen Erbe handlich und nutzbar zu portionieren.
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Was sich im Zedler, durchaus exemplarisch, bereits abzeichnete, begann seit der Jahrhundertmitte das Geschichtsbild zu dominieren. Tatsächlich wurde die Reformation erstmals in der reifen Aufklärung als eine nicht nur kirchen-, sondern auch geistesgeschichtliche Schlüsselepoche erkannt und gewürdigt. War sie doch, wie Friedrich der Große befand, »ein Segen für die Welt und allgemein für den Fortschritt des menschlichen Geistes« (Zeeden II, 337). Und Luther hätte es, auch wenn er den beschränkten Horizont seiner Zeit nicht zu durchbrechen vermochte, in den Augen des Preußenkönigs durchaus verdient, »daß man ihm als dem Befreier des Vaterlandes Altäre errichtete« (Zeeden I, 292). Rasch avancierte Luther, was nicht zuletzt in den Bildnissen jener Zeit anschaulich wird, zum Urbild der eigenen aufklärerischen Identität. Dabei berief man sich freilich kaum einmal auf seine theologischen Einsichten und Schriften, umso emphatischer hingegen auf seinen Charakter und seinen reformatorischen Mut. In monotoner Einseitigkeit pflegte man an ihm zu rühmen, was aufklärerischem Denken als anschlussfähig erschien: Luther als Vorkämpfer für Gewissens- und Glaubensfreiheit, als lauterer, wissbegieriger, verstandeskräftiger Wahrheitsfreund, als tapferer Streiter gegen religiöse Heteronomie und für ein entklerikalisiertes Christentum. Insbesondere waren es die tiefe innere Frömmigkeit und der Sinn für die praktische Abzweckung der Religion, die den Aufklärern aller Konfessionen an Luther imponierten und die ihn auf katholischer Seite mitunter als einen Vorläufer Josephs II. erscheinen ließen. »Unser Luther«, bilanzierte der Berliner Neologe Friedrich Germanus Lüdke, »war ein ganz vortrefflicher Mann, ein wahrer Schutzengel für die Rechte der Vernunft, der Menschheit und christlichen Gewissensfreiheit« (Beutel 2015, 169). Die der Aufklärung gegenläufigen Züge – Luthers anthropologischer Pessimismus, die Lehre vom unfreien Willen, seine Erfahrung der Verborgenheit Gottes oder seine Bestreitung der Möglichkeit rationaler Gotteserkenntnis – blieben demgegenüber weithin außer Acht. Das Bild, in welchem sich die deutsche Aufklärung den Reformator vergegenwärtigte, war durchweg eklektisch, nicht selten oberflächlich und stets vom Selbstverständnis des Zeitalters präfiguriert. Interesse verdient es zumal in seinen Ambivalenzen. Zwar ist die ästhetische Aburteilung der Luthersprache, die etwa Johann Christoph Gottsched, Johann Jakob Bodmer oder Johann Christoph Adelung als barbarisch empfanden, schon bald in ihr Gegenteil umgeschlagen: Luther habe, so das Urteil Johann Gottfried Herders, »die Deutsche Sprache, einen schlafenden Riesen, aufgewecket und losgebunden« (ebd.). Doch was sich durchhielt, war die Kritik an Luthers ungebühr licher Heftigkeit sowie die Relativierung seiner etwa im Vergleich mit Erasmus doch nur mittelmäßigen Bildung. Charakterzüge, die dem zeitlos erscheinenden Erbe des Reformators zuwiderliefen, pflegte man durch punktuelle Historisierung zu depotenzieren. Selbst der biedere Matthias Claudius, der sich in seinem Luther wohl auskannte, verhehlte nicht, wo es nötig schien, die Kritik: »Keck und heftig, und mehr als nötig gewesen wäre, war er denn auch im Sakramentstreit. […] Und wäre Luthern, bei seiner Kraft und Fülle, das gegeben gewesen, was
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niemand oder wenigen gegeben ist, wäre er nur sanft und sinnig gewesen, als Melanchthon war, […] so hätte vielleicht manches anders werden, und, auch in diesem Streit, die Einheit erhalten werden können. […] Aber Luther war kein Heiliger« (Beutel 2015, 169 f). Tatsächlich stand Philipp Melanchthon bei der Mehrzahl der theologischen Aufklärer deutlich höher im Kurs. Auch Ulrich Zwingli, der ungleich stärker als Luther humanistisch geprägt war, schätzten die Aufklärer als einen Vorläufer aus ihrem Geist. Am wenigsten vermochten sie sich, kaum überraschend, für Johannes Calvin zu erwärmen. Die bereits in der ersten reformatorischen Generation auszumachenden Ambivalenzen ließen mit der Würdigung jener »Revolution« zugleich die Frage, wieweit diese hinter den von ihr geweckten Erwartungen zurückgeblieben sei, untrennbar verbunden sein. Dadurch wurde den Aufklärungstheologen der ideengeschichtliche Kontinuitätserweis zur Grundlage ihrer Identitätsvergewisserung sowie zum Motor der eigenen geschichtlichen Gestaltungsaufgaben. Im Rückgang auf die Ursprünge des Protestantismus fand sich die theologische Aufklärung zum Testamentsvollstrecker ermächtigt: »Nicht lange mehr«, frohlockte die Allgemeine Deutsche Bibliothek, »so wird das himmlische Licht, das Luther nur noch im Traume sehen konnte, uns lieblich umströmen!« (Beutel 2015, 171). II.2. Fallstudien Im Zeitalter der Aufklärung lässt sich bei allen namhaften Literaten, Historikern und Theologen eine zugleich zeittypische und spezifische Lutherrezeption nachweisen. Angesichts solcher phänomenologischen Fülle und Vielfalt mag es sachdienlich sein, dieses Feld nicht in enzyklopädieträchtiger Abstraktion, sondern in exemplarischen Zugriffen zu erschließen. Lediglich in der Philosophie der Zeit scheint Luther weniger Interesse gefunden zu haben. Immerhin gab sich bei Gottfried Wilhelm Leibniz eine konstruktive Transformation lutherischer Einflüsse zu erkennen. Dagegen war Immanuel Kant mit der Textwelt des Reforma tors fast gar nicht vertraut; das seit dem 19. Jahrhundert viel traktierte Thema »Kant und Luther« ließ sich darum allein durch systematische Strukturanalyse sinnvoll erörtern. II.2.1. Literatur
Für die deutschen Schriftsteller des 18. Jahrhunderts war Luther eine durchweg respektvoll bedachte historische Größe. Der Umstand, dass nicht wenige von ihnen einem evangelischen Pfarrhaus entstammten, mag dabei als ein zwar nicht ursächlicher, aber doch begünstigender Faktor in Rechnung zu stellen sein. Allerdings zielte das Interesse der Literaten kaum auf die theologischen Anliegen und Kämpfe des Reformators, umso mehr hingegen auf Luthers »Charakter«. In
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diesem sah Johann Wolfgang von Goethe »das Einzige, was der Menge eigentlich imponiert. Alles Übrige ist ein verworrener Quark, wie er uns noch täglich zur Last fällt« (Beutel 2015, 164). Gleichwohl ist die Hochschätzung, die Goethe dem Reformator aus olympischer Distanz zubilligte, vielfach dokumentiert: »Luther arbeitete uns von der geistlichen Knechtschaft zu befreien, […] er gab dem Herzen seine Freiheit wieder, und machte es der Liebe fähiger«, hieß es im Pastorbrief von 1773, und ein halbes Jahrhundert später geradezu vermächtnishaft: »Wenn wir trachten, daß Gesinnung, Wort, Gegenstand und That immer möglichst als Eins erhalten werde, so dürfen wir uns für ächte Nachfolger Luthers ansehen, eines Mannes, der in diesem Sinne so Großes wirkte und, auch irrend, noch immer ehrwürdig bleibt« (aaO 164 f). Ungleich substanzhaltiger erscheint demgegenüber die von Gotthold Ephraim Lessing und Herder vollzogene Rezeption. Durchweg hat sich Lessing mit der Theologie seiner Zeit und darum auch mit der dort vollzogenen Rezeption Luthers produktiv auseinandergesetzt. Bereits während der frühen 1750er Jahre trat seine emphatische Hochschätzung allenthalben hervor. »Unser Vater der gereinigtern Lehre« galt ihm als »eine[r] der größten Männer, die jemals die Welt gesehen hat« (Lessing, Werke III 244; II 658). Allerdings war Lessing zugleich darauf bedacht, in solcher Verehrung nicht mit den Berufslutheranern verwechselt zu werden. Das dort gesungene Lutherlob missbilligte er als professionsbedingte Heuchelei. Demgegenüber suchte er sich eines aufgeklärten, kritischen, aus Überzeugung geborenen Lutherbildes zu vergewissern, das sich allein durch die konsequente Historisierung des Reformators gewinnen lasse. »Dankbarkeit, wenn man sie übertreibt«, werde »zu einer Idola trie […]. Billig bleibt Luthers Andenken bei uns in Segen; allein die Verehrung so weit treiben, daß man auch nicht den geringsten Fehler auf ihn will haften lassen, als ob Gott das, was er durch ihn verrichtet hat, sonst nicht würde […] haben verrichten können, heißt meinem Urteile nach, viel zu ausschweifend sein« (aaO III 257 f). An solchen Mängeln, die ihm als »Spuren der Menschheit« willkommen waren, fehlte es nicht. Zwei Gebrechen hob Lessing dabei besonders hervor. Zum einen missbilligte er Luthers cholerisches Temperament, die »blinde Hitze«, in die er geraten konnte, und »seine Niederträchtigkeiten«, die daraus hervorgingen: »Wie tief erniedriget Zorn und Rache, auch den redlichsten, den heiligsten Mann!« Zum anderen tadelte Lessing die harte theologische Intoleranz Luthers, die er weiterhin vom Geist des Papsttums durchweht sah und die sich zumal im ersten protestantischen Abendmahlsstreit höchst fatal manifestiert habe: »Welch feindseliges Schicksal mußte zwei Männer über Worte, über ein Nichts uneinig werden lassen, welche am geschicktesten gewesen wären, die Religion in ihrem eigentümlichen Glanze wieder herzustellen, wenn sie mit vereinigten Kräften gearbeitet hätten?« (aaO I 941). In alledem verblieb der junge Lessing auf der im Zedler gewiesenen Spur. Ein Vierteljahrhundert später war das Bedürfnis nach differenzierender Abstands-
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wahrung dann längst einer freien, selbstgewissen Bezugnahme gewichen. Lessings Wertschätzung der vom Reformator erwiesenen Sprachkraft konkretisierte sich in dem Plan eines Luther-Wörterbuchs, das freilich über die ersten Vorarbeiten niemals hinausgelangt ist. Im Fragmentenstreit mit Johann Melchior Goeze fand Lessing polemisches Vergnügen daran, sich als den wahren Sachwalter der Lutherischen Kirche zu inszenieren: »Sie, Herr Pastor, Sie hätten den allergeringsten Funken Lutherischen Geistes? – Sie? der Sie auch nicht einmal Luthers Schulsystem zu übersehen im Stande sind?« (aaO IX 50). Dabei wusste Lessing durchaus, dass er seinerseits weder zureichend fähig noch auch nur willens war, »Luthers Schulsystem« fachmännisch zu rekonstruieren. Indessen markierte ihm dieser Umstand nicht etwa peinliches Defizit, sondern programmatische Aufklärung: »Der wahre Lutheraner will nicht bei Luthers Schriften, er will bei Luthers Geiste geschützt sein« (aaO IX 95). Auch in der Hochachtung Luthers stimmte Herder mit Lessing weithin überein. Das Leitinteresse an der Persönlichkeit präzisierte er nun aber durch die Verbindung mit dem neuen Geniebegriff: Luther war ihm »großer Geist, und würkliches Genie« (Herder, Werke 5, 350). Anders als bei Lessing kam bei ihm ein wesentlich tieferes, dabei nicht unkritisches Verständnis der Theologie noch hinzu. In dieser Hinsicht galt ihm Luther als »lebendige[r] Glaubensmann und ächte[r] Sohn Paulus« (aaO 10, 357). Jedoch in der Geringschätzung des Jakobusbriefs mochte Herder dem Reformator nicht folgen: Luther habe sich dabei zu stark und eng auf seine »Lieblingslehre« der Rechtfertigung sola fide fixiert, wohingegen »die Sphäre des Geistes Gottes« doch wesentlich »größer [ist], als der Gesichtskreis Luthers« (aaO 7, 500). Den entscheidenden Geschichtsimpuls erkannte Herder in der durch Luther bewirkten Rationalisierung und Individualisierung des geistigen Lebens. Er habe »in einer männlichen Verstandessprache […] der Philosophie Raum« verschafft und die Gewissensfreiheit als das »Principium der Reformation« (aaO 21, 268; 11, 203) etabliert. Darum: »Laßet uns seine Denkart […] und die von ihm eben so stark als naiv gesagten Wahrheiten für unsre Zeit nutzen und anwenden!« (aaO 17, 87). Im Übrigen wurde Herder nicht müde, die urwüchsige Sprachkraft des Reformators und namentlich seine Dichtkunst zu rühmen. Dass der 1792 gefasste Plan einer großen Lutherbiographie im Entwurf stecken blieb, ist von manchen Zeitgenossen der seinerzeit in Weimar herrschenden Atmosphäre zur Last gelegt worden. Der dafür vorgesehene Titel Luther, ein Lehrer der Deutschen Nation bietet gleichwohl einen wichtigen Fingerzeig. Tatsächlich hat der späte Herder den Reformator zum vaterländischen Mythos verklärt: »Luther war ein patriotischer großer Mann […] und gab ganzen Völkern, und zwar zuerst in den schwersten, den geistlichen Dingen den Gebrauch der Vernunft wieder« (aaO 17, 87). Insonderheit aber wurde Luther zum Sprachlehrer seiner Nation: »Er hat die classische Büchersprache der Deutschen zuerst fixiert. Alle seine Schriften […] athmen Deutsche Kraft« (aaO 16, 230). Dadurch sei »zuerst ein populares literarisches
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Publikum in Deutschland« entstanden, und nun müsse »jeder Deutsche, wenn er vom beßern Theil der Nation gelesen seyn will, evangelisch, protestantisch, lutherisch, schreiben« (aaO 17, 87; 24, 48). In dem Umstand, dass Luthers Absicht, »die reine, freie Religion der Gewißenhaftigkeit des Verstandes und Herzens […] seinen Deutschen [zu] geben«, selbstverständlich den Maßgaben der Zeit unterlag, erkannte Herder zukunftsträchtiges Potential: »Edler Schatten, […] werde nochmals der Lehrer Deiner Nation, ihr Prophet und Prediger; vielleicht hört Deutschland […] Deine Stimme, deren Wahrheit hell wie der Mittag, deren Ton und Laut so eindringend ist, als zuweilen furchtbar und schrecklich« (aaO 24, 47 f; 18, 512 f). Dergestalt war Luther nicht erst im zweiten deutschen Kaiserreich, sondern bereits bei Herder zum Patron protestantischer Nationalreligion und zu einem kraftvoll inspirierenden Urbild des Deutschen geworden. II.2.2. Historiographie
Die wissenschaftliche Kirchengeschichtsschreibung des Protestantismus vollzog während des 18. Jahrhunderts einen entscheidenden, modernitätsbegründenden Wandel. In unaufhaltsamer Dynamik war sie insgesamt darum bemüht, die von Jean Bodin in Fortführung der pragmatisch-pädagogischen Geschichtsauffassung des Humanismus programmatisch geleistete Überwindung eines doppelten, historia sacra und historia humana seu profana unterscheidenden Geschichtsbegriffs historiographisch einzuholen und fruchtbar zu machen. Dieser tiefgreifende Umbruch prägte selbstverständlich auch die Wahrnehmung Luthers. Diesbezüglich mag es erhellend sein, die in der Wende zum 18. Jahrhundert entstandene Darstellung Gottfried Arnolds mit dem Lutherbild des neologischen Historiographen Johann Matthias Schroeckh knapp und pointiert zu vergleichen. Das bekannte Diktum Goethes, »die ganze Kirchengeschichte« sei ein »Mischmasch von Irrthum und von Gewalt« (Beutel 2015, 177), brachte den Gesamt eindruck, den er aus der Lektüre von Arnolds »Unpartheyische[r] Kirchen- und Ketzer-Historie« gewonnen hatte, in provokanter Zuspitzung auf den Punkt. Auch sonst hat dieses Hauptwerk des gelehrten Radikalpietisten breite, anhaltende Beachtung erfahren. Das Titelwort »unpartheyisch« sollte den transkonfessionellen, kirchlich ungebundenen Standort des Verfassers kennzeichnen und benannte zugleich das entscheidende Wahrheitskriterium: Weil Arnold alle institutionellen Objektivationen des Glaubens als Verfallserscheinungen qualifizierte, galten ihm allein die weltabgewandt lebenden einzelnen Frommen als Zeugen der wahren, lauteren Religion. Im fünften Kapitel des 16. Buches berichtet Arnold »vom zustand des Pabstthums vor Luthero und denen werckzeugen und beförderern der reformation« und »insonderheit von Luthero« (Arnold, Kirchen- und Ketzer-Historie II 490). Das erste Wort des ihm gewidmeten Teils lautet »anfänglich« und signalisiert damit gleich das Entscheidende: Wie die Kirchengeschichte insgesamt, so ist auch der Reformator nur im Modus des Verfallstheorems recht zu verstehen. »Anfäng-
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lich« war Luther ein tadelloses Werkzeug der Gnade Gottes, »ein vortrefflich bildnüß eines evangelischen wahren Christen und Lehrers […] voller krafft« (aaO II 499). Harmonisch kamen in ihm äußere Gottesgelehrsamkeit und innere Gottes erfahrung überein. Die Dauer dieser anfänglichen Idealität bezifferte Arnold auf sieben Jahre. Der Zeitpunkt ihres Zerbrechens war damit unausgesprochen, doch eindeutig konnotiert: Er fiel in die Mitte der 1520er Jahre und manifestierte sich einerseits in der nach dem Bauernkrieg konsequent betriebenen Inanspruchnahme der weltlichen Obrigkeit, andererseits, parallel dazu, im Übertritt aus dem Mönchs- in den Ehestand. Sieht man genauer zu, so findet sich allerdings auch schon die Schilderung des goldenen Aufbruchs durchgehend von retardierenden Elementen begleitet. Die Gnadenwirkung des jungen Luther würde »überall […] ihre macht bewiesen haben, wo sie in gleicher krafft blieben, und nicht durch die unten folgenden hindernüssen« (aaO II 499), durch aufkeimende eigene Kleinmütigkeit und die Provokation seiner Feinde gehemmt worden wäre. Im Fortgang treten dann die Mängel, die Luther anhafteten, zusehends deutlich hervor. Die hagiographische Verehrung, die ihm schon zu Lebzeiten und erst recht nach seinem Tode zuteil wurde, kontrastiert Arnold mit zwei gegenläufigen Hinweisen. So habe es nicht allein vor, sondern auch neben und nach Luther etliche »zeugen der warheit« gegeben, die »ohne seine anweisung oder autorität, dennoch rechtschaffen gewesen« (aaO II 503). Und auch hinsichtlich der von ihm vertretenen Lehre sei, ausweislich seines Fehlurteils über den Jakobusbrief und die biblische Apokalypse, »auch bey ihm in vielen wichtigen puncten irren menschlich gewesen« (ebd.). Zudem hätten »viele von seinen liebhabern« in dem »feurigen, hefftigen gemüth […] lieber wollen nachfolger seyn, als in seinen tugenden oder in der sanfftmuth und liebe Christi« (aaO II 504). Tatsächlich habe Luther sein hitziges Temperament immer weniger zu beherrschen vermocht, »gleichwie auch in seinen schrifften nicht wenig örter stehen, von denen zu wünschen wäre, daß sie wären ausgelassen worden« (aaO II 505). Als weitere Gebrechen identifiziert Arnold Luthers zunehmenden Hochmut, seine ausgelassene, selbst dem »sauffen, tantzen und spielen« nicht abgeneigte Lebensart sowie, die Klimax vollendend, seine Heirat, die ihn nicht nur prinzipiell falsch handeln, sondern dazu auch die falsche Frau auswählen ließ (aaO II 506). Die Beteuerung Arnolds, er hege mit alledem keinerlei »absicht dieses herrliche werckzeug zu schwärtzen« (aaO II 501), dürfte glaubhaft und aufrichtig sein. Schließlich sei auch Luther nur dem der Kirchengeschichte eingeschriebenen Naturgesetz unterlegen, das in der Konstantinischen Wende global hervorgetreten war und sich in seinem Schicksal nun privatisierte. Insofern »lehret an ihm auch die erfahrung, daß es um die leute, sonderlich lehrer, nie besser stehe, als wenn sie unter creutz und verfolgung stecken […]. Denn da hat das hertz […] nichts worauf es sich verlassen könne, und muß fein in der noth allein zu Gott lauffen […]. So bald es aber eine sichtbaren schutz und trost mercket, so bald will es oben aus und kennet sich mitten in dem ausbruch des hochmuths selber nicht«
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(aaO II 500). Dergestalt war für Arnold die individuelle Persönlichkeit Luthers letztlich doch nur als bevorzugtes Verifikationsobjekt seiner generellen kirchengeschichtlichen Verfallstheorie von Belang. Die von Schroeckh vorgelegte Lutherdarstellung ist gänzlich anderer Art. Das tritt bereits in der einleitenden Absichtserklärung unübersehbar hervor. Während er die Luther gewidmete historische Detailforschung als zureichend gesättigt empfindet, erkennt Schroeckh hinsichtlich der durch Luther hervorgerufenen Wirkungen noch erheblichen Nachholbedarf: »Wir brauchen […] Gemählde von ihm, die man zum Nutzen unserer und jeder künftigen Welt aufstellen könnte« (Schroeckh 2). So bietet Schroeckh in zwei gleich großen Teilen zunächst eine Lebensbeschreibung und dann eine Darstellung dessen, »was er wirklich gethan hat, wovon wir nach zweyhundert Jahren die Früchte noch lebhafter genießen als unsere Vorfahren, und die Nachwelt sie noch stärker als wir genießen dürfte« (aaO 3). Der erste, biographische Teil ist solide, umsichtig und durchweg auf Quellen gestützt, dabei aber fast ausschließlich an der äußeren Geschehensfolge, hingegen kaum an Luthers Schriften und Theologie interessiert. Dass der historische Luther, der hier präsentiert wird, unmittelbar aus der Werkstatt des Neologen hervorging, liegt offen zutage, so etwa in der Erläuterung der Invocavit-Predigten, mit denen Luther den »Grundsatz« verfolgt habe: »Die Verbesserung der Religion muß nicht von den äußerlichen Dingen, sondern von der Aufklärung des Verstandes ihren Anfang nehmen« (aaO 33). Weit aufschlussreicher erscheint demgegenüber der zweite Teil, der Luthers Wirkungsgeschichte nicht etwa in linearer Abfolge bietet, sondern sich dezidiert auf die Frage beschränkt, welche auf ihn zurückweisenden Folgen sich in der eigenen Gegenwart ausmachen lassen. Luther war, heißt es zunächst summarisch, »ein große[r] Wohlthäter des menschlichen Geschlechts«, weil er die Verstand und Gewissen versklavenden Ketten zerbrach und den Menschen »das Recht des Nachdenkens und der eignen Untersuchung« (aaO 64 f) zurückgab. Dadurch befreite er zumal die weltliche Obrigkeit aus aller kirchlichen Prädominanz, so dass man »nunmehro in ganz Europa« zu sehen vermöge, »daß die Regierung unsrer Fürsten, frey von den Befehlen und Drohungen […] eines italiänischen Bischofs, zur ungestörten Wohlthat für die Unterthanen werden kann« (aaO 69). Ebenso seien auch die wiedergewonnene Freiheit der Wissenschaften, der Aufschwung des Schulwesens und die allgemeine sittliche Besserung »ohne Zweifel Luthers Werk« (aaO 69). Indessen markiere der »Glaubensfortschritt«, der selbst in der katholischen Kirche nicht mehr zu übersehen sei, »das vornehmste […] von Luthers Verdiensten« (aaO 74). Insgesamt würdigte Schroeckh die geschichtliche Bedeutung des Reformators als unüberbietbar: Gleichwie die Reformation »die größte und wunderbarste Revolution, die seit den Tagen Christi und der Apostel in der Kirche vorgefallen ist«, darstellte, so wisse er »nach den Stiftern des Christenthums, unter den Christen aller Zeiten niemanden, der sich um die Ausbrei-
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tung, Empfehlung und Erklärung des göttlichen Wortes mehr verdient gemacht […] hätte, als Luther« (aaO 9. 76). Immerhin, räumt Schroeckh ein, habe Luther »nicht alles allein gethan«; dies festzuhalten und aufzudecken gebiete die »historische Gerechtigkeit« (aaO 86). So erkennt er in Erasmus einen direkten Vorläufer. Zudem gebe es eine – wohl als Klimax geordnete – Reihe von Kirchenlehrern, aus denen Luther bevorzugt geschöpft habe: Bernhard von Clairvaux, Wilhelm Ockham, Johannes Gerson, Johannes Tauler und schließlich Augustin. Auch der Buchdruck und die ruhige politische Großwetterlage seien erleichternd hinzugetreten. Das geschichtsprägende Hauptverdienst lag für Schroeckh nicht in der Wahrheit, die Luther erkannt hatte, sondern in der unbedingten »Entschlossenheit«, für das, was er, durchaus zeitgebunden, als Wahrheit erkannt hatte, »allein zu leben« (aaO 101). Durch diese Haltung gewann er den »größten und seltensten Ruhm, daß er sein Jahrhundert und alle künftige aufgekläret, und in Freyheit gesetzt, daß er einen Saamen ausgestreuet hat, der, so lange es Menschen giebt, fruchtbar seyn wird«. So sei es auch erst und allein durch diese Haltung Luthers ermöglicht worden, dass das Christentum »alle funfzig Jahre, und zuweilen noch öfter, einer Reformation« unterzogen werde und, auf die aktuelle Schicksalsbestimmung der Neologie bezogen, »daß wir Muth, Kräfte, gute Vorschriften, es zu verbessern haben« (aaO 89 f). II.2.3. Theologie
Selbstverständlich hat Luther auch in der systematischen Reflexion der Aufklärungstheologie als Bezugpunkt der konfessionellen Identitätsvergewisserung eine bedeutende Rolle gespielt. Die dabei geleistete Theoriearbeit suchte einerseits den geschichtlichen Ort des Reformators tiefenscharf zu bestimmen und dadurch eine kritische Anverwandlung seines Vermächtnisses möglich zu machen, ging andererseits aber auch weit über die ausdrückliche Zitation seines Namens und erst recht seiner Schriften hinaus. Für den exemplarischen Zugriff mag es wohl förderlich sein, die explizite Lutherrezeption des Hallenser Theologieprofessors Johann Salomo Semler mit der impliziten Adaption des Berliner Propstes und Oberkonsistorialrats Johann Joachim Spalding andeutend zu kontrastieren. Im zweiten Band der Lebensbeschreibung (1782) legte Semler von seiner Einschätzung Luthers zusammenhängende Rechenschaft ab. Dass ihm Erasmus und Melanchthon ungleich näher standen, verhehlte er dabei nicht. Abgesehen davon erscheint zumal zweierlei signifikant: einerseits die konsequent immanente, also nicht mehr heils-, sondern streng profangeschichtliche Darstellungsweise, andererseits die Applikation der von Semler eingeführten Unterscheidung zwischen öffentlicher und privater Religion (vgl. Beutel 2009, 240–246) auf die Beurteilung Luthers. Zunächst vollzog Semler eine kräftige historische Relativierung der Reformation. Im Grunde seien »alle [!] Wahrheiten«, für die sie eintrat, schon vorher »ein-
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gesehen und ehrlich herausgesagt« (Semler 179) worden. »Das gröste Verdienst« an jenem frühneuzeitlichen Umbruch gebühre Erasmus, wohingegen »weder Zwingli noch Luther einen einzigen ganz neuen Saz oder Hauptbegriff, entdeckt und zuerst gefunden haben« (ebd.). Was ihm Luther gleichwohl interessant bleiben lässt, ist namentlich dessen Persönlichkeit, kaum seine Lehre. Schätzenswert erschien Semler zumal Luthers »redliche Gesinnung, seine Kentnis und heilige Uebung der innern Religion« sowie »sein wahre[r] Umgang mit Gott« (aaO 180. 192). Unentschuldbar sei hingegen die »heftige Schreibart«, die er pflegte, und erst recht die heftige, grobe Parteilichkeit seines Urteils. Auch »Eigenliebe« und »zu grosses Selbstgefül« (aaO 186) seien ihm vorzuwerfen; selbst die Eheschließung des Einundvierzigjährigen erschien Semler suspekt. Was die Theologie Luthers betrifft, so habe er zwar »die practischen [!] Lehrsätze« (aaO 181) durchweg aus der Bibel geschöpft, doch die metaphysischen Konsequenzen, die er daraus zog, galten Semler weithin als obsolet, weshalb er von der Schrift De servo arbitrio ebenso abrückte wie von Luthers Erbsünden-, Zwei-Naturen- und Trinitätslehre. Erstaunlich ist nun bei alledem, was er als »den wahren Vorteil Lutheri« (aaO 182) ausmachte. Semler erkannte ihn in der doppelten Freiheit, die Luther eröffnet habe, indem er die Christen negativ von allen »Plakereien« der Papstkirche entband und sie positiv dazu ermächtigte, »über die christliche[n] Begriffe und Wahrheiten, selbst zu denken, und seinem Gewissen zu folgen« (aaO 183). Den aus diesem Geist christlicher Freiheit geborenen Anfang religiöser Toleranz und glaubensautonomer Individualität sah Semler keineswegs dadurch beschränkt oder beschädigt, dass Luther seinerseits, um dem Vorwurf wilder theologischer Pluralisierung zu wehren, mitunter höchst intolerant auftrat und sich etwa mit der Behauptung, »die römische und schweizerische Kirche, habe keine wahre christliche Religion« (aaO 186), in offenkundiges Unrecht setzte. In Wahrheit, urteilte Semler, dürfe keine der im Zeitalter der Reformation vertretenen Abendmahlslehren den Anspruch erheben, ein unentbehrlicher »Theil der algemeinen Glaubenslehre« zu sein, da sie doch lediglich ein Statut der öffentlichen Religion darstellten, indem sie jeweils einer bestimmten Kirche »zur äusserlichen Verbindung ihrer so vielen Mitglieder zu Einer Kirchengeselschaft« (aaO 185) verhalfen. Und selbst in der lutherischen Kirche habe man zwischen öffentlichen Religionssätzen und Luthers Privatmeinung sorgfältig zu unterscheiden. Insofern komme weder Luthers Invektiven gegen Schwenckfeld noch selbst den Schmalkaldischen Artikeln irgendeine kirchenparteiliche Verbindlichkeit zu. Die wahre Bedeutung Luthers erkannte Semler insgesamt darin, dass er die Christen zu einer selbstbestimmten Gestaltung ihres Glaubenslebens befreit habe. Daraus erwachse nunmehr die Verbindlichkeit, weder »die Privatkentnissen und Privaturtheile durch äusserliche Vorschriften über öffentliche Lehrform und öffentliche Religionshandlungen« (aaO 189) einzuschränken noch irgendein religiöses Privaturteil in den Rang eines kirchlichen Lehrsatzes zu hypostasieren. Wie weit er jedoch die eigene Gegenwart von der Fähigkeit, in Luthers Vermächt-
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nis Geist und Buchstaben zu unterscheiden, noch entfernt wähnte, machte Semler in einem Schlussseufzer deutlich: »Seine grosse gemeinnützige Gesinnung, seine Uebungen im Gebet, solten wir nachamen; wir lerneten aber seine Worte« (aaO 191). Der resignative Befund Semlers galt nun freilich nicht uneingeschränkt, und am allerwenigsten galt er für Spalding. Als der ranghöchste kirchliche Repräsentant des preußischen Luthertums war Spalding selbstverständlich auch mit dem Leben und Werk Luthers eingehend vertraut. An seiner aufrichtigen Verehrung des Reformators, »dessen freyer und heller Geist, mitten unter den dicksten Finsternissen seiner Zeit und seiner Kirche, dennoch in so vielen Stücken bis zur Wahrheit hindurch drang« (Spalding 2005, 147), kann kein Zweifel bestehen. Erstaunlicherweise nannte ihn Spalding in seinem gesamten Werk aber nur dreimal, Melanchthon lediglich einmal und andere Reformatoren überhaupt nicht beim Namen. Offenbar wollte er den Verdacht, er fröne reformationsgeschichtlicher Heldenverehrung oder trachte nach ungeschichtlicher Repristination ihrer Lehre, gar nicht erst aufkeimen lassen. Spaldings Bestreben zielte allein darauf ab, im Zuge einer authentischen, zugleich traditions- und zeitgemäßen Verantwortung des christlichen Glaubens die lutherischen Basisimpulse zu aktualisieren und dergestalt in der eigenen Anverwandlung lutherischer Strukturmomente elastische Identität zu erweisen. An einem einzigen Beispiel sei der Vollzug solcher theologischen Umformung rasch illustriert. Bekanntlich erhob Luther die Lehre von der Rechtfertigung zum Strukturprinzip seiner Theologie. Um einer zeitgemäß nutzbaren Anwendungsmöglichkeit dieser Doktrin auf die Spur zu kommen, unterzog sie Spalding einer konsequenten Historisierung. »Die Kirchenverbesserer des sechszehnten Jahrhunderts« (Spalding 2002, 183), befand er, hätten sich insofern in einer zu Paulus analogen Situation vorgefunden, als sie nicht etwa die in christlicher Liebestätigkeit sich manifestierende Lebensgestalt des Glaubens in Abrede stellten, sondern lediglich die damals gängige Auffassung bestritten, durch »leere äusserliche Handlungen der willkührlichen Andacht, abergläubige Kasteyungen, vermeinte heilige Stiftungen« lasse sich »ein Recht des Himmels« (ebd.) erwerben. Demgegenüber suchte Spalding die geschichtlichen Bedingungen, unter denen der Religionsunterricht seiner eigenen Zeit stand, zu bestimmen. Dabei diagnostizierte er nirgendwo die Gefahr, dass der wahre Glaube in Werkgerechtigkeit abgleitet, umso drängender hingegen die Verwechslung von wahrem und eingebildetem Glauben als das Hauptproblem seiner Zeit. Weil diese religiöse Bedarfslage durch ein »übel verstandenes Berufen« auf Luthers Rechtfertigungslehre nur verfehlt werden könne, gelte es jetzt, dem Unterschied der Zeiten Rechnung zu tragen, um nicht in fehlgeleitetem lutherischen Identitätsstreben »gegen eine Denkungsart [zu] streiten, die in unsern Gemeinden vielleicht gar nicht vorhanden ist« (aaO 186 f). Angesichts der als akut erkannten Gefahr, dass sich die Menschen seines Umgangs viel eher »aus dem Glauben ein Verdienst machen, als aus der Frömmigkeit« (ebd.), sollte die Mahnung zur Behutsamkeit, anstatt die Wahrheit der
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lutherischen Rechtfertigungslehre schlechterdings in Abrede zu stellen, lediglich vor deren ungeschichtlicher, die gegenwärtige religiöse Lage verfehlender Anwendung warnen. Evangelische Glaubenslehre, hielt Spalding fest, beziehe sich niemals nur auf partikulare Handlungsfelder, vielmehr auf die allem rechten Handeln vorausund zugrundeliegende Ausrichtung der Seele auf Gott: »Wir sollten den Menschen erst lehren, gut zu seyn, ehe wir ihm Vorschriften geben, Gutes zu thun« (aaO 243). Dass sich diese Maxime in Luthers Freiheitsschrift von 1520 nicht gerade wörtlich, aber doch sachidentisch vorgeprägt findet (WA 7; 32,4–9), schließt jeden Plagiatsverdacht aus: nicht nur, weil sich für Spalding keine direkte Rezeption dieser Schrift nachweisen lässt, sondern erst recht darum, weil beide, Luther und Spalding, dabei ganz unmittelbar das Bildwort der Bergpredigt vom guten und faulen Baum (Mt 7,17 f) applizierten. II.3. Aneignungen Die Urteile, die das 18. Jahrhundert über Luther gefällt, und die Bilder, die es von ihm gemalt hat, sind vielfältig, durchgehend zweckorientiert und nicht allesamt kompatibel. Allerdings dürfte sich für die deutschen Aufklärer doch ein übereinstimmender Gesamteindruck festhalten lassen: Sie fokussierten ihre Aufmerksamkeit zusehends auf die Persönlichkeit und den Charakter des Reformators, während die materialtheologischen Schriften und Entscheidungen Luthers in demselben Maße an aktueller Bedeutung verloren. Dieser Umbruch zeitigte eine doppelte, beiderseits folgenträchtige Wirkung. Durch ihn erweiterte sich der Vater des Protestantismus zu einem Heros der deutschen Geistesgeschichte. Indem die Gestalt Luthers nun aber dergestalt in das Zentrum des bürgerlichen Bildungskanons aufrückte, erlebten nicht allein das Interesse und bisweilen auch die Freude an ihm eine nachhaltige Vitalisierung, sondern wurde zugleich eine Voraussetzung dafür geschaffen, dass dann auch die Theologie des Reformators, übrigens schon geraume Zeit vor der sogenannten Lutherrenaissance, als erkundens- und diskussionswürdig wieder entdeckt worden ist. Signifikant erscheint die von der deutschen Aufklärung vollzogene Akzentuierung allem zuvor darin, dass sie sich gerade durch den Rekurs auf Luther ihrerseits ausdrücklich legitimiert sah. Bereits zur Jahrhundertmitte erkannte der spätere Berliner Neologe Anton Friedrich Büsching die eigentliche Größe Luthers in dessen Entschiedenheit, »in Religionssachen schlechterdings von keines andern Menschen, sondern blos von seiner eigenen Einsicht, Überzeugung und Entscheidung abhangen« (Beutel 2015, 188) zu wollen. Dergestalt war Luthers Freiheitsdrang, den der Pietismus noch weitgehend auf den Kampf gegen die Papstkirche fixiert hatte, von den Aufklärern zu einem Verdikt gegen jedwede Bevormundung des Glaubens und Gewissens entgrenzt worden. Insofern konnte es kaum verwundern, dass sich das Luther zugewiesene Freiheitspathos am Ende
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auch gegen dessen eigene, zeitverhaftete Lehrbildung wandte und »der wahre Lutheraner«, wie es Lessing, stellvertretend für viele, ausgedrückt hatte, »nicht bei Luthers Schriften«, sondern »bei Luthers Geiste« identitätsstiftende Heimat fand. Diese Orientierung hat sich in einer bemerkenswerten, weit verbreiteten Denkfigur manifestiert. In kritischer Absicht wurde dabei die Frage erörtert, was wohl geschehen würde, wenn Luther in der eigenen Gegenwart wiederkehren und leben würde. Bis in das erste Drittel des 18. Jahrhunderts fiel die Antwort durchweg negativ aus, nämlich als tadelnde Zurechtweisung der Spätorthodoxie, und dies nicht allein bei Spener und anderen Pietisten, sondern beispielsweise, in beißender Ironie, auch noch beim jungen Gottsched. Später freilich wurde die Antwort ausnahmslos affirmativ: Heutzutage, beteuerten die Aufklärer nun einhellig, würde Luther lehren und streben – wie wir! Nicht die Sachentscheidungen, die er einstens getroffen hatte, waren dabei im Blick, sondern allein die Effekte, die sie erzielten. Im Zeitalter der Aufklärung, war man überzeugt, würde Luther jede konfessionalistische Engstirnigkeit geißeln; er würde, wie es Karl Friedrich Bahrdt drastisch ausdrückte, »seine dummen Nachbeter anfahren und gegen eben die eifern, die sich frommer und weiser dünken, als andre, indem sie seinen Kehricht fressen« (Stephan 1951, 46). Indessen reklamierte man Luther nun nicht allein als Gewährsmann der eigenen theologischen Selbstbestätigung, sondern darüber hinaus auch als prophetischen Mahner, um den anhaltenden Prozess der Aufklärung kraftvoll zu beschleunigen und zu vollenden. »Wollen wir«, fragte Friedrich Nicolai, »auf einem gleichen Wege nicht weiter fortgehen?« Und Lessing flüchtete sich vor den »kurzsichtigen Starrköpfen«, die den Reformator fortwährend im Munde führten, direkt zu Luther: »Wer bringt uns endlich ein Christentum, wie du es itzt lehren würdest?« (Lessing, Werke IX 50). Dort freilich, in Luthers Armen, fand Lessing nicht die geschichtliche Gestalt des Reformators, sondern, zu neuem Kampfesmut ertüchtigt, sich selbst. Dergestalt avancierte Luther »zum Zeugen absolut freier Wahrheitsforschung auch gegen die Autorität seiner eigenen Lehre« (Mostert 1991, 571). Denn während er uns seinerzeit »von dem Joche der Tradition erlöset« habe, gelte es jetzt, »uns von dem unerträglichern Joche des Buchstabens« (Lessing, Werke IX 50) – man beachte den von Lessing gesetzten Komparativ! – zu erlösen; und das hieß doch: von Luthers Prinzip des sola scriptura, das wohl seine historische Berechtigung hatte, nun aber, wie Lessing forderte, durch das Prinzip einer strikten Vernunftreligion abgelöst werden müsse. Schärfer ist die aufklärerische Maxime »Lutherus contra Lutherum« wohl von niemandem formuliert worden. Der Paradigmenwechsel, den das Zeitalter in seiner Wahrnehmung Luthers vollzog, ist von epochaler Bedeutung. Indem sich das Rezeptionsinteresse vom Werk auf die Person, vom Buchstaben auf den Geist des Reformators verschob, wandelte sich die bis dahin übliche positionelle in eine strukturelle Schülerschaft Luthers. Das schloss selbstverständlich nicht aus, dass einzelne materiale Einsichten und Entscheidungen sich auch weiterhin als plausibel erwiesen. Gleichwohl
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hatte sich die Art des Zugriffs auf Luther nun grundlegend verändert: Nicht mehr in unbedingter Parteilichkeit, sondern in kritischer Prüfung suchte man jetzt das Erbe des Reformators zu pflegen und fruchtbar zu halten. Beutel, Albrecht: Martin Luther im Urteil der deutschen Aufklärung. Beobachtungen zu einem epochalen Paradigmenwechsel (ZThK 112, 2015, 164–191). Bornkamm, Heinrich: Luther im Spiegel der deutschen Geistesgeschichte. Mit ausgewählten Texten von Lessing bis zur Gegenwart, 21970. Mostert, Walter: Art. Luther, Martin III. Wirkungsgeschichte (TRE 21, 1991, 567–594). Stephan, Horst: Luther in den Wandlungen seiner Kirche, 21951. Zeeden, Ernst Walter: Martin Luther und die Reformation im Urteil des deutschen Luthertums. Studien zum Selbstverständnis des lutherischen Protestantismus von Luthers Tode bis zum Beginn der Goethezeit, 2 Bde., 1950/1952. Albrecht Beutel
III. Im 19. Jahrhundert III.1. Luther als Freiheits- und Nationalheld Im 19. Jahrhundert avancierte Luther zum Symbol und Mythos, zum Helden und Befreier, zum Volksgeist und Kulturträger. Keine Epoche vorher und nachher entwickelte ein derart populäres und wirkmächtiges Lutherbild. Jetzt wurde der Gelehrte zum Tatmenschen, dessen ikonographische Inszenierungen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zum Allgemeingut zählten. Der hammerschwingende Luther von 1517, der die Bannandrohungsbulle verbrennende Luther von 1520 oder der standhafte Luther von Worms 1521 veranschaulichten den für Freiheit und Nation streitenden Gottesmann. Zugleich erhielt Luther als Lautespieler seinen Platz im Kreis der Familie unter dem Weihnachtsbaum und wurde in protestantischen Kreisen zum Vorbild des evangelischen Pfarrhauses und des bürgerlichen Familienideals stilisiert. Schon zu Beginn des Jahrhunderts hatte der Dresdener Oberhofprediger Franz Volkmar Reinhard in seiner Reformationsfestpredigt vom 31. Oktober 1800 zeitdiagnostisch beklagt, Luthers theologisches Grundanliegen werde in der evangelischen Kirche kaum noch gepredigt. Er plädierte daher für eine Neuentdeckung der reformatorischen Rechtfertigungslehre, genauer: der Lehre von der »freien Gnade Gottes in Christus«, wodurch der gefeierte Kanzelredner zahlreiche rationalistische Theologen gegen sich aufbrachte und somit zur Etablierung der supranaturalistischen Theologie beitrug (vgl. Spehr 2012/13, 283–306). Im Zuge der Auseinandersetzung um die obrigkeitlich verbreitete Reformationsfestpredigt Reinhards kam es zwar zu einer kontroversen Auseinandersetzung über den Kern reformatorischer Theologie, doch blieb dieser Diskurs in der ersten Hälfte des Jahrhunderts eher die Ausnahme.
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Während Luthers Theologie auffällig in den Hintergrund rückte, trat in Weiterführung aufklärerischer Zuschreibung Luther als Persönlichkeit, als Genie – vor allem in seinen kulturellen Leistungen – und als Nationalheld in den Mittelpunkt. Luther wurde als Phänomen der Moderne vereinnahmt und entsprechend der politisch-gesellschaftlichen Lage als Referenzgestalt profiliert. Folglich erstaunt es nicht, dass auch alle bedeutenden (nicht nur deutschen) Dichter und Denker des 19. Jahrhunderts sich zu Luther in positiver oder negativer Weise verhielten. Seine Leistungen interpretierten sie im Horizont der eigenen Problemstellungen und machten ihn zum festen Bestandteil der geistesgeschichtlichen Entwicklung. Je nach Position oszillierte die Inanspruchnahme zwischen »Luther-Enthusiasmus« und »Luther-Fremdheit« (Ebeling 1983, 9). III.2. Luther bei den Dichtern und Denkern Hatte Johann Gottfried Herder Luther wirkmächtig als jemanden gewürdigt, der »durch seine Reformation eine ganze Nation zum Denken und Gefühl erhoben« habe (Herder: Ueber die neuere Deutsche Litteratur, 1767), blieb die Rezeption Luthers bei den anderen Vertretern der Weimarer Klassik hinter Herders Enthusiasmus zurück. So rühmte Johann Wolfgang Goethe zwar Luthers Bibelübersetzung und -sprache, indem er z. B. behauptete: »so sind denn die Deutschen erst ein Volk durch Luthern geworden« (Goethe: Werke IV Bd. 31, 160,7 f). Auch lobte er »Luthers Charakter« (Goethe: Werke IV Bd. 28, 227,25), honorierte ihn als »trefflichen Mann« (Goethe: Werke IV Bd. 27, 236,16) und pries dessen Reformation als Befreiung »von den Fesseln geistiger Borniertheit« (Eckermann: Gespräche mit Goethe). Über die allgemeine Begeisterung für das Genie und für die befreienden Taten Luthers ging der Weimarer Dichterfürst, der im Vorfeld des Reformationsjubiläums 1817 immerhin einen Entwurf für eine Reformations-Kantate entwickelte (Goethe: Werke IV Bd. 27, 235 f) und eine Skizze für ein Reformationsdenkmal anfertigte, jedoch nicht hinaus. Die historischen Ereignisse der Reformation waren ihm nebensächlich und die theologische Würdigung Luthers im Umfeld des Reformationsjubiläums »verworrener Quark« (Goethe: Werke IV Bd. 28, 227,27; vgl. Baur 2010, 3–17). Auch Friedrich Schiller stimmte in die Verehrung Luthers als deutschen Freiheitshelden ein, der »der Wahrheit Blitz geschwungen, der die Geister selbst befreit« (Schiller: Deutsche Größe. Gedichtfragment, 1801). In einem Brief an Goethe verglich er die theologische Revolution der Reformation mit der »neuesten« philosophischen Revolution, indem er kritisch anmerkte: »In beiden war etwas sehr bedeutend reales, dort der Abfall von Kirchensatzungen und die Rückkehr zu den Quellen, Bibel und Vernunft: hier der Abfall vom Dogmatismus und der Empirie. Aber bei beiden Revolutionen sieht man die alte Unart der menschlichen Natur, sich gleich wieder zu setzen, zu befangen und dogmatisch zu werden.« (Briefwechsel Schiller-Goethe Bd. 6, 200).
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Nach der Französischen Revolution waren es die napoleonischen Eroberungen, die zum politischen Widerstand reizten und somit das Bild Luthers als deutschen Nationalhelden verfestigten. Dieses überaus populäre Lutherbild, welches durch die Aufklärung vorbereitet worden war, sollte seine Wirkungsgeschichte im 19. Jahrhundert entfalten und sich mit dem Gründungsmythos deutscher Nation und Kultur verbinden. In seinen Reden an die deutsche Nation (1808) beschrieb Johann Gottlieb Fichte die Reformation als »letzte große und in gewissem Sinne vollendete Welttat des deutschen Volkes« und interpretierte Luther von einem allmächtigen Antrieb her: der »Angst um das ewige Heil«. Dieses »ward das Leben in seinem Leben und setzte immerfort das letzte in die Waage und gab ihm die Kraft und die Gaben, die die Nachwelt bewundert.« Weil Luther »durch das Ewige begeistert wurde«, konnte er das Christentum aus äußeren Zwängen befreien und in die Freiheit führen (Fichte: Werke Bd. 7, 344–350). Nahm Fichte Luther zudem für die Entwicklung eines deutschen Nationalgefühls in Anspruch, fand diese Verbindung seit 1806 ihren sinnenfälligen Ausdruck in Poesie und Prosa. Das vielfach aufgelegte Drama Martin Luther oder die Weihe der Kraft. Eine Tragödie (1806/7) von Friedrich Ludwig Zacharias Werner stellte Luthers Eheschließung ins Zentrum und betonte Luther in seiner vaterländischen Sendung als Inkarnation der »Freyheit«. Das kurze Zeit später erschienene Schauspiel von Ernst August Friedrich Klingemann, Martin Luther. Ein dramatisches Gedicht (1808), identifizierte ihn ebenso als Freiheitsbringer wie Heinrich Schorchs nationales Drama Luthers Entscheidung (1817). Dass zeitgleich auch andere Luthercharaktere entwickelt werden konnten, belegt der ordnungsliebende, aber barmherzige Martin Luther in Heinrich von Kleists Novelle Michael Kohlhaas (1808). Zu einem Hauptmotiv der nationalen Dichtung wurde der Lutherchoral Ein feste Burg ist unser Gott, der in den Fassungen Ernst Moritz Arndts u. a. als Hymne in den antinapoleonischen Befreiungskriegen Verbreitung fand (vgl. Fischer 2014, 29–35). Als Freiheitskämpfer und nationaler Sprachschöpfer stand Luther beim Wartburgfest der Burschenschaften am 18. Oktober 1817, dem vierten Jahrestag der Leipziger Völkerschlacht, im Fokus. In seiner Festrede bezog sich der Jenaer Theologiestudent und Burschenschaftler Heinrich Herrmann Riemann auf Luther und würdigte die »Freiheit und Reinheit des Glaubens«, die der Mann »voll Gottvertrauen und Gottesfurcht, ohne Menschenfurcht« uns wiedergegeben habe (Riemann: Rede im Minnesängersaale der Wartburg gehalten am 18.10. 1817). Tragische Züge nahm die Lutherverehrung bei dem radikalen Burschenschaftler Carl Ludwig Sand an, der 1819 den Schriftsteller August von Kotzebue ermordete. Die aufgrund dessen Kritik an den liberalen Ideen der Burschenschaft vollzogene Mordtat rechtfertigte Sand mit den Worten »Die Reformation muss vollendet werden« (zit. nach Mostert 1991, 572). Eine davon gänzlich zu unterscheidende Lutherrezeption bot die Philosophie des Deutschen Idealismus. In Aufnahme von Fichtes Überlegungen, der neben den äußerlich-freiheitlichen Aspekten der Reformation auch das Bemühen der
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Reformatoren zur Erfassung des Wesens von Religion betonte, entwickelte Georg Wilhelm Friedrich Hegel eine höchst wirkmächtige Lutherinterpretation. In seinen Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie (1822–1831) bezog er sich an Kernstellen immer wieder auf die Reformation und Luther und betonte, dass mit ihm die Freiheit des Geistes begonnen habe. Hierbei verstand er die Freiheit des Individuums nicht nur als Loslösung von äußerlichen Zwängen, sondern in erster Linie als Idee der Subjektivität, als das Zusichselbstkommen des Geistes: »Das Princip der Reformation nun ist gewesen das Moment des Insichseins des Geistes, des Freiseins, des Zusichselbstkommens; eben die Freiheit heißt, in dem bestimmten Inhalt sich zu sich verhalten, – die Lebendigkeit des Geistes, in dem, was als Anderes erscheint, in sich zurückgekehrt zu sein. […] Also die Bestimmung, daß der Geist wesentlich in sich selbst frei, bei sich selbst sei, – dies abstrakte Moment macht die Grundbestimmung aus.« (Hegel: Werke Bd. 20, 57). Für Hegels geschichtsphilosophisches sowie philosophiegeschichtliches Verständnis der Reformation war vor allem Luthers Gewissensbegriff der Anknüpfungspunkt, um ihn als den eigentlichen Entdecker des Wesens von Subjektivität zu deuten. Mit seiner Idee der Unmittelbarkeit des Einzelnen vor Gott habe der lutherische Glaube das Geheimnis von Subjektivität und Absolutem begriffen, so dass Hegel zuspitzte: »Der tätige, subjektive Geist, der den göttlichen Geist vernimmt, – […] ist der göttliche Geist selber.« (Hegel: Werke Bd. 18, 93). Zudem würdigte er Luthers Bibelübersetzung in der Religionsphilosophie (1832) als »Volksbuch«, worin sich »das Gemüt, der Geist auf die höchste, unendliche Weise zurechtfinden« könne (Hegel: Werke Bd. 16, 282). In seiner Berliner Gedächtnisrede auf das Augsburgische Bekenntnis 1830 konnte Hegel gar – trotz aller innerprotestantischen Streitigkeiten – die Einheit des evangelischen Glaubens und des bürgerlichen Freiheitsgedankens feiern. Insgesamt waren für Hegel die prägenden Merkmale der Reformation demnach die Fassung der Freiheit als das Zusichselbstkommen des Individuums, die angemessene Formulierung des Gewissensbegriffs und die Entdeckung des Wesens von Subjektivität. Aufgrund dieser drei Merkmale gelangte er zu der Überzeugung, die Reformation bedeute zugleich Ursprung und Beginn der Neuzeit. Die idealistische Schülergeneration knüpfte an Hegels Lutherinterpretation an. Aber anders als die sog. Rechtshegelianer, die Hegels Deutung folgten, interpretierten die sog. Linkshegelianer Hegels Geistverständnis radikal anthropologisch. Ludwig Feuerbach beschäftigte sich mit Luther in der Absicht, den illusionären Charakter der Religion herauszuarbeiten und Gott als menschliche Projektion zu beschreiben. In seiner Schrift Das Wesen des Glaubens im Sinne Luther’s (1844) meinte Feuerbach daher Luthers Theologie und Christologie dechiffrieren zu können, indem er betonte: »Glauben heißt nichts anderes als das: Es ist ein Gott, ein Christus in das: Ich bin ein Gott, ein Christ, verwandeln« (Feuerbach 1844, 68). Friedrich Engels und Karl Marx, die an Feuerbachs Religionskritik anknüpften, sahen hingegen in der Reformation als »erste[r] gesamteuropäische[r] Revolution« ein rein politisches Ereignis. Luther, dessen Verhalten im Bauernkrieg
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kritisiert wurde, konnte im Streit gegen Papst und Kaiser als früher Revolutionär gewürdigt werden. Auch lobte Marx Luther aufgrund dessen Schrift gegen den Wucher als ersten Nationalökonom. Hingegen schätzte Søren Kierkegaard, dessen Lutherdeutung und Lutherkritik erst im 20. Jahrhundert wirksam werden sollte, zwar Luthers Gewissenskampf. In seinem Streit gegen eine verbürgerlichte Kirche identifizierte der dänische Philosoph den Wittenberger Reformator aber als Repräsentant einer mit der Obrigkeit verbundenen Religion und kritisierte dessen Berufs- und Eheverständnis. Einen folgenreichen Gegenentwurf zum idealistischen Lutherbild entfaltete die Romantik. In seinem Essay Die Christenheit oder Europa (1799, gedruckt 1826) hatte Novalis dieses Bild vorgezeichnet, indem er die Reformation für die Spaltung der Christenheit verantwortlich machte. Luther habe den einheitsstiftenden Geist des Christentums verkannt und eine neue Religion eingeführt, »nämlich die heilige Allgemeingültigkeit der Bibel«, wodurch die Philologie, eine »höchst fremde irdische Wissenschaft«, »in die Religionsangelegenheiten gemischt« worden sei. »Mit der Reformation war’s um die Christenheit getan.« (Novalis: Schriften Bd. 2, 29 f). Novalis’ Urteil über Luther speiste sich aus der Begeisterung für das christliche Mittelalter und folgte der katholischen Lutherdeutung, in der Luther als Zerstörer der kirchlichen und weltlichen Einheit galt. Dass Novalis zudem die Aufklärung und die Französische Revolution als Folgen der Reformation kritisierte, waren weitere Facetten seiner negativen Deutung des Protestantismus. Friedrich und August Wilhelm Schlegel griffen das katholisch-romantische Luther- und Reformationsbild auf. Andere Romantiker wie Wilhelm Heinrich Wackenroder oder Achim von Arnim würdigten Luther hingegen als Ahnherr für die Religion der reinen Kunst. In der Kontroverse um Verfall oder Beginn der Kunst infolge der Reformation hob Joseph von Eichendorff in seiner Geschichte der poetischen Literatur Deutschlands (1857) Luthers hohe Wertschätzung der Kunst – vornehmlich der Musik – hervor. Die hintergründige Frage betraf das Verhältnis Luthers zu Mittelalter oder Neuzeit, die von Novalis und Hegel gegensätzlich beantwortet worden war. Heinrich Heine griff in seinem Aufsatz Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland (1835) diese Problematik auf und interpretierte Luthers »religiöse Revolution« gegen Novalis als Vorgeschichte der Aufklärung und der Geistesfreiheit. III.3. Luther in der Geschichtsschreibung Romantik und Idealismus regten mit ihren Geschichtsbegriffen nicht nur politische und soziale Lutherbetrachtungen wie bei Marx und Engels an, sondern bereiteten auch der historischen Lutherforschung den Weg. Bereits 1817 befasste sich der Leipziger Student Leopold (von) Ranke, der später zu den Gründungsvätern der modernen Geschichtswissenschaft zählte, intensiv mit Luther und dessen Schriften. Die Lesefrüchte seines Quellenstudiums notierte er im sog. Luther-
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fragment (veröffentlicht 1926), das eine Sammlung von Exzerpten aus Lutherschriften und anderen Quellen des 16. Jahrhunderts sowie eigener Gedichte und Tagebucheinträge bildete. Die Ansätze seines späteren Wissenschaftskonzepts des Historismus, welches die Geschichte selbstständig aus den Quellen und nicht allein aus philosophischen Konzepten zu gewinnen suchte, nahm er hier bereits vorweg. Mit Fichtescher Sprache interpretierte er Gottes Wirken in den individuellen Ereignissen der Geschichte, so dass er 1820 formulieren konnte: »In aller Geschichte wohnt, lebet, ist Gott zu erkennen. Jede That zeuget von ihm, jeder Augenblick prediget seinen Namen, am meisten aber, dünkt mich, der Zusammenhang der großen Geschichte.« (Ranke: Sämmtliche Werke Bd. 53/54, 89). In seinem epochalen Werk Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation (1839– 1847) zeichnete er Luther in die Gesamtgeschichte der Reformation ein und ordnete ihn facettenreich in die Entwicklung des Übergangs vom Mittelalter zur Neuzeit ein. Jetzt gewann die Erforschung Luthers als historische Gestalt unter Berücksichtigung seines Werdegangs, seiner persönlichen Anfechtungen und Entdeckungen sowie seiner reformatorischen Aktionen eine neue Basis. Durch diese aus den literarischen und archivalischen Quellen geschöpfte, möglichst vorurteilsfreie Lutherdarstellung überwand Ranke die prinzipiengeleiteten Luther interpretationen von Idealismus und Romantik und schuf eine wissenschaftlich fundierte Reformationsgeschichte, hinter die nicht mehr zurückgegangen werden konnte. Die Theologie tat sich anfangs schwer, Rankes Lutherdeutung aufzunehmen, obwohl durch neue, kritische Quelleneditionen – beispielsweise die Erlanger Lutherausgabe seit 1826 (k A. I. 2.) oder das seit 1834 durch Karl Gottlieb Bretschneider herausgegebene Corpus Reformatorum – der Zugang zu Schriften der bedeutendsten Reformatoren eine neue Qualität erreichte. Im dritten Band seiner populären Bilder aus der deutschen Vergangenheit (1859) folgte der Schriftsteller Gustav Freytag der Deutung Rankes und intensivierte moderat ein nationales Lutherbild, während er die romantische Kritik von Luthers Spaltung deutlich zurückwies. Johann Gustav Droysens gelegentliche Ausführungen zu Luther betonten z. B. in seiner Geschichte der Preußischen Politik II/2 (1859) deutlicher als Ranke den Zusammenhang von Luther und der weiteren Entwicklung des Protestantismus. Eine Generation später verfasste Friedrich von Bezold seine Geschichte der deutschen Reformation (1890), in der er Luthers prophetisches Bewusstsein als »vielleicht die kühnste Verkörperung des germanischen Individualismus, welche die Geschichte kennt«, beschrieb (Bezold: Geschichte, 1890, 448). Die historischen Forschungen wurden zugleich durch zwei entgegenlaufende Richtungen konterkariert. Ignaz von Döllinger verfasste aus katholischer Per spektive das Werk Die Reformation, ihre Entwicklung und ihre Wirkungen (1846– 1848), in dem er Luther als Zerstörer der christlichen Einheit charakterisierte. In Anlehnung an den frühen Döllinger entwarf der katholische Historiker Johannes Janssen als Hauptvertreter der ultramontanen Geschichtsschreibung seine achtbändige Geschichte des deutschen Volkes seit dem Ausgang des Mittelalters (1876–
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1894). In ihr zeichnete er in negativer Analogie zum Persönlichkeitskult einen Luther, den er als krankhaft sowie sittlich minderwertig identifizierte und den er für die Krisen des 16. und 17. Jahrhunderts verantwortlich machte. Janssens Lutherbild wurde im frühen 20. Jahrhundert in den Lutherdarstellungen Heinrich Denifles (1904) und Hartmann Grisars (1911) quellengesättigt vertieft. Dagegen griff die nationale Historiographie der deutschen Einigungsbewegung und des neuen Kaiserreichs im Horizont des Kulturkampfes auf die Deutungen des Volksgeistgedankens von Herder, Fichte und Arndt zurück und erklärte – anders als Ranke – Luthers Gestalt und Werk aus dem deutschen Wesen heraus. So deutete der nationalliberale Historiker Heinrich von Treitschke Luther in seiner Rede anlässlich des 400. Geburtstags 1883 als Verkörperung des deutschen Volksgeists und erhob ihn zum Gegenstand nationalen Selbstruhms. In Anlehnung an Treitschke verband Adolf Hausrath in seiner populären Lutherbiographie (1904) das religiöse und nationale Lutherbild. Letzteres hatte sich im Laufe des 19. Jahrhunderts verdichtet und war um 1883 nationalprotestantisch geradezu übersteigert worden. Ein eigentümliches, verschiedene Metamorphosen durchlaufendes Lutherbild bot Friedrich Nietzsche, der sich u. a. von Jacob Burckhardt und Janssens Geschichtsdarstellung inspirieren ließ (vgl. Beutel 2013 c). Für Nietzsche hatte bereits die Renaissance die Freiheit des Geistes bzw. des Gewissens erkannt, während die Reformation ein Unglück und ein Werk zurückgebliebener Geister war. Trotz seines negativen Lutherbildes bewunderte er zeitlebens Luther als Künstler, vornehmlich dessen Sprache und Bibelübersetzung: Das »Meisterstück der deutschen Prosa ist […] billigerweise das Meisterstück ihres größten Predigers: die Bibel war bisher das beste deutsche Buch. Gegen Luthers Bibel gehalten ist fast alles Übrige nur ›Literatur‹« (Nietzsche: Sämtliche Werke Bd. 5, 191,8–12). III.4. Luther in der Memorialkultur Mit dem Wandel des Lutherbildes vom Kirchenvater zum deutschen Nationalhelden entstand bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts das Bedürfnis, dem Reformator ein plastisches Denkmal im öffentlichen Raum zu setzen. Ein Bürgerverein der Grafschaft Mansfeld schrieb 1803 einen Wettbewerb zur Gestaltung eines solchen Monuments aus, was sogleich Kritik hervorrief. Beispielsweise äußerte sich Franz Volkmar Reinhard zu den Denkmalplänen: »Luthern ein Denkmal zu setzen, scheint mir noch etwas weit ungereimteres, als die Ilias nach dem Homer. Was würde der Gottesmann selbst gegen diese Götzenbilder sagen?« (zit. nach Spehr 2012/13, 306). Demungeachtet unterbreiteten Künstler wie Leo von Klenze, Karl Friedrich Schinkel oder Johann Gottfried Schadow Entwürfe, von denen Schadows Entwurf 1806 ausgewählt, aber erst 1816 durch Intervention des preußischen Königs Friedrich Wilhelm III. realisiert wurde. 1821 wurde Schadows bronzene Skulptur, die Luther mit der Bibel in der Hand darstellt, und durch ei-
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nen Baldachin von Schinkel gerahmt wird, als erstes Lutherdenkmal auf dem Wittenberger Marktplatz eingeweiht. Schon 1817 hatte es Überlegungen gegeben, auch in Worms ein Denkmal zu errichten. 1868 wurde das von Ernst Rietschel entworfene Reformationsdenkmal, in deren Mitte Luther im Predigergewand dargestellt und von Vorreformatoren, politischen Förderern und Mitstreitern umgeben wird, im Rahmen eines großen Bürgerfests eingeweiht. Rietschels Lutherfigur wurde um 1883 zum Vorbild zahlreicher weiterer Lutherdenkmale z. B. in Dresden, Annaberg oder Washington (vgl. insgesamt Kammer 2004). Dass Luther und die Reformation nicht nur bürgerlich vereinnahmt werden konnten, sondern auch weiterhin der fürstlichen Repräsentation dienten, lässt sich in Wittenberg, das seit dem Wiener Kongress 1815 zu Preußen gehörte, mit seinen zu Gedenkstätten entwickelten Lutherorten veranschaulichen. Das Lutherhaus wurde durch Friedrich August Stüler im neugotischen Stil umgestaltet und 1883 als Museum »Lutherhalle« durch den preußischen Kronprinz eröffnet. 1858 erhielt die Schlosskirche eine Thesenanschlagstür aus Bronze und wurde von 1885 bis 1892 als Gedächtnishalle der Reformation neu errichtet. Auch in Eisleben, das seit 1815 ebenfalls zu Preußen gehörte, engagierte sich das preußische Herrscherhaus, um anfangs Luthers Geburtshaus und seit 1862 auch Luthers vermeintliche Sterbehaus zu Memorialorten umzugestalten (vgl. Steffens 2008, 59–144). Die zum Großherzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach gehörende Wartburg, deren Lutherstube 1817 in einen musealen Gedenkraum umgewandelt worden war, wurde seit 1838 unter dem Erbgroßherzog Carl Alexander ausgebaut und die Vogtei mit der Lutherstube zu einem Reformationsdenkmal profiliert. Für die Reformationszimmer wurden durch Künstler der Weimarer Schule großformatige Historiengemälde mit Szenen aus Luthers Leben angefertigt, die – an Gustav Königs Zeichnungen angelehnt – der Luthervisualisierung dienen sollten (vgl. Jacobs 2012, 67–143). Wie bereits seit zwei Jahrhunderten kam den Reformationsjubiläen 1817 und 1830 für die gesellschaftliche Wahrnehmung Luthers und der Reformation große Bedeutung zu. Gefeiert wurden außerdem lokale und regionale Gedenktage, die an die Einführung der Reformation in Städten und Territorien erinnerten wie 1839 in Sachsen und Brandenburg. Zum genuinen Lutherjubiläum avancierte der 400. Geburtstag Martin Luthers, der zu einem gesellschaftlichen und nationalen Großereignis ausgestaltet wurde (vgl. Wendebourg 2011, 272 f). Insbesondere dieses Jubiläum förderte die Personenmemoria und verlieh der Verehrung Luthers als frommen Bibeltheologen, deutschen Nationalhelden, gottgesandten Propheten oder christlich-bürgerlichen Hausvater (vgl. Lehmann 2012, 60–73) in vielfältigen sprachlichen, visuellen, auditiven und performativen Formen Ausdruck. Theaterstücke wie z. B. Hans Herrigs Luther. Ein kirchliches Festspiel (1883) oder Otto Devrients Luther. Historisches Charakterbild in sieben Abtheilungen (1883) knüpften an die Lutherdichtung des frühen 19. Jahrhunderts an, setzen im Gegenüber zu den Oberammergauer Festspielen eigene Akzente und fanden als auflagenstarke Werke weite Verbreitung. In Jena wurde z. B. ein Lutherfestspiel-
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verein gegründet, der 1885 400 Mitglieder umfasste, und bis 1924 Devrients Luther anfangs jährlich, später im zwei- oder dreijährigen Turnus auf die Bühne brachte (vgl. Gerber 2013, 223–254). Ebenfalls dienten der bildungsbürgerlichen Unterhaltung zahlreiche Schriften zu Luther, die sich als Trivialliteratur seit 1840 wachsender Beliebtheit erfreuten und um 1883 ihren Höhepunkt erreichten. Das Lutherjubiläum 1883 war aber zugleich wissenschaftlich bedeutsam: Es erschien der erste Band der sog. Weimarer Ausgabe der Werke Martin Luthers, die als historisch-kritische Ausgabe in vier Reihen zu den bedeutendsten Editionen Deutschlands heranwuchs (k A. I. 2.) und der genuinen Lutherforschung zum Durchbruch verhalf. Im gleichen Jahr wurde auch der Verein für Reformationsgeschichte gegründet. III.5. Luther in Theologie und Kirche Die sich in wissenschaftliche Disziplinen ausdifferenzierende evangelische Theologie des 19. Jahrhunderts fand ihre Gestalt mehr noch als im 18. Jahrhundert in positionellen Theologien. Wie in der Auseinandersetzung um Reinhard als Vertreter des Supranaturalismus einleitend angedeutet, spielten Luther und die Reformation in diesen Theologien eine höchst unterschiedliche Rolle, wobei ein Anschwellen des kirchlichen und theologischen Umgangs mit Luther im Laufe des 19. Jahrhunderts unverkennbar ist. Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher rezipierte weder als Romantiker noch als Berliner Professor Luthers Theologie. Auch gegenüber der Person blieb der reformierte Prediger, der sich Zwingli, Calvin und Melanchthon näher als Luther fühlte, zeitlebens auf Distanz. Anregungen suchte er bei Luther keine, zumal sein anthropologischer und ekklesiologischer Ansatz ein fundamental anderer als beim Wittenberger Reformator war. Demgegenüber bildeten Schleiermachers Wiederentdeckung der Selbstständigkeit der Religion, die Romantik und die Erweckungsbewegung die Grundlagen für den lutherischen Konfessionalismus im 19. Jahrhundert. Insbesondere die von Schleiermacher unterstützte preußische Union zwischen Lutheranern und Reformierten, zu deren Bildung am Reformationstag 1817 König Friedrich Wilhelm III. die Kirchen aufgerufen hatte, weckte ein neues Bewusstsein für konfessionelle Identität. Der Kieler Pfarrer Claus Harms plädierte in seinen an Luther angelehnten 95 Thesen 1817 vehement gegen die geplante Kirchenunion und für die Bekenntnisbindung lutherischer Geistlicher. Die Einführung der Unionsagende und die Inkraftsetzung der einheitlichen Kirchenverfassung 1830 in Preußen provozierte schlesische Lutheraner, die sich als sog. Altlutheraner von der Landeskirche separierten. Innerhalb der Landeskirchen entstand in Neuendettelsau unter Wilhelm Löhe ein Zentrum des sog. Neuluthertums. Der vom Erfahrungstheologen Adolf von Harleß beeinflusste Pfarrer strebte eine liturgische und theologische Erneuerung der Kirche an und berief sich wie August Friedrich Christian Vilmar in Hessen
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mit seinem hochkirchlichen Amtsverständnis auf Luther. Die lutherische Kirche sei, »weil sie Wort und Sakrament in reinem Bekenntnis« halte, »die Brunnenstube der Wahrheit« (Löhe: Gesammelte Werke Bd. 5/1, 135). Zum Mittelpunkt des die bayrische Landeskirche prägenden Neuluthertums wurde die Erlanger Universitätstheologie, zu der neben Harleß u. a. Johann Christian Konrad von Hoffmann und Theodosius Harnack zählten. Für Harleß und Hoffmann vergewisserte sich die Erfahrung des gläubigen Subjekts an den objektiven Vorgaben von Schrift und Bekenntnis. Die Annahme, dass die lutherischen Bekenntnisschriften daher Ausdruck religiöser Erfahrung seien, eröffnete verschiedene Anknüpfungspunkte. So richtete Gottfried Thomasius sein Augenmerk auf die dogmatische Weiterentwicklung der Bekenntnisschriften und Franz Hermann Reinhold Frank auf die historische Erforschung der Bekenntnistraditionen. Im Widerspruch zur neulutherischen Theologie bahnte Albrecht Ritschl, der zum Begründer der liberalen Theologie in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde, einen bis in die Gegenwart hinein wirkenden Zugang zu Luther. In seinem Hauptwerk Die christliche Lehre von der Rechtfertigung und Versöhnung (1870– 1874) und in seiner Geschichte des Pietismus (1880–1886) zeichnete er Luther und die Reformation in die Theologiegeschichte des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit ein und gewann so ein theologisch-kontextuelles Lutherbild. Religionsphilosophisch Kant und nicht Hegel folgend sah er Luthers Leistung in der Befreiung des Glaubens aus der spekulativen Metaphysik sowie der Mystik und griff auf Luthers Verständnis von Rechtfertigung und Versöhnung als Ausdruck göttlicher Liebe zurück, die er als Inbegriff des Reiches Gottes verstand und innerweltlich als Freiheitsgewinn für den Menschen deutete. Die Rechtfertigung des Sünders und die Versöhnung mit Gott befreiten den Menschen zur geistig-sittlichen Herrschaft über die Welt und zur Bewährung in Beruf und Stand. In seinem ebenfalls auf der Liebe Gottes basierenden Ethikverständnis war Ritschl von Luthers Standes- und Berufsverständnis beeinflusst. Dagegen interpretierte er die Rede vom Deus absconditus in Luthers De servo arbitrio als metaphysisches Relikt nominalistischer Einflüsse des Reformators. Die neben Ritschl bedeutendste theologische Lutherinterpretation des 19. Jahrhunderts bot Theodosius Harnack mit seinem zweibändigen Werk Luthers Theologie mit besonderer Beziehung auf seine Versöhnungs- und Erlösungslehre (1862–1886). Gegenüber Ritschl hob der Vertreter der Erlanger Theologie den Glauben als das Sein coram Deo hervor. Als Zentrum der Theologie Luthers stellte er das Gottesverständnis heraus, wonach Gott sowohl als zorniger und verborgener Richter als auch als Versöhner und Erlöser wirke. Außerdem kritisierte Harnack im zweiten Band seines Werkes, dass Ritschl zentrale Gedanken von Luthers Theologie wie Gericht und Zorn Gottes, Gesetz und Evangelium oder die radikale Sünden- und Gnadenlehre nur unzureichend bedenke oder gar übergehe. Anders als Ritschl verortete er Luther aber nicht in der Theologiegeschichte und beachtete kaum den historischen Kontext der interpretierten Schriften, so dass Harnacks Luther geradezu etwas Monolitisch-überzeitliches erhielt. Wäh-
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rend Ritschls Lutherinterpretation von seinen Schülern Wilhelm Herrmann und Adolf von Harnack weiterentwickelt wurde, fand Theodosius Harnacks Lutherwerk lediglich in konservativ-konfessionellen Kreisen Aufnahme. Erst 1927 sollte es durch die Dialektische Theologie neu aufgelegt werden. Parallel zu den systematisch-theologischen Lutherinterpretationen entdeckte die kirchenhistorische Forschung im ausgehenden 19. Jahrhundert zahlreiche bis dahin unbekannte Quellen in europäischen Archiven und Bibliotheken und beförderte hierdurch die historisch-kritische Luther- und Reformationsforschung, die im 20. Jahrhundert zur Blüte gelangen sollte. Bornkamm, Heinrich: Luther im Spiegel der deutschen Geistesgeschichte. Mit ausgewählten Texten von Lessing bis zur Gegenwart, 21970. Kammer, Otto: Reformationsdenkmäler des 19. und 20. Jahrhunderts. Eine Bestandsaufnahme, 2004. Moeller, Bernd (Hg.): Luther in der Neuzeit. Wissenschaftliches Symposion des Vereins für Reformationsgeschichte (SVRG 192), 1983. Schuffenhauer, Werner/Steiner, Klaus (Hg.): Martin Luther in der deutschen bürgerlichen Philosophie 1517–1845. Eine Textsammlung, 1983. Steffens, Martin: Luthergedenkstätten im 19. Jahrhundert. Memoria – Repräsentation – Denkmalpflege, 2008. Wendebourg, Dorothea: Die Reformationsjubiläen des 19. Jahrhunderts (ZThK 108, 2011, 270–335). Christopher Spehr
IV. Luther in der Literatur Die Literatur der Frühen Neuzeit reagiert gespalten auf Luther. Harsche Gegner finden sich ebenso unter den Autoren wie euphorische Befürworter. Die heroisierenden Darstellungen in der Literatur und Publizistik beginnen bereits 1518. Die Schützred und christenliche antwurt […] mit antzaigunge/warumb Doctor Martini Luthers leer nitt samm unchristenlich verworffen / […] werden soll (1519) des Lazarus Spengler (1479–1534) gilt als der erste volkssprachliche Text über Luther, der von einem Laien geschrieben und weit verbreitet war. Thomas Murners (1475–1537) Von dem grossen Lutherischen Narren (1522) ist eine der bekanntesten Schmähschriften dieser Zeit. Die in Latein geschriebenen Elegien (1521) auf Luther von Eobanus Hessus (1488–1540) sind eine literarische Reaktion auf Luthers Aufenthalt in Erfurt vom 6. bis zum 8.4.1521 auf dem Weg zum Wormser Reichstag. Der anonym erschienene Karsthans (1521), ein Gespräch zwischen fünf Personen, gehört zu den wirkungsvollsten und am meisten gelesenen Flugschriften der Reformation und stellt ein Verbindungsglied dar zwischen den in Latein geschriebenen gelehrten Dialogen der Humanisten und dem volkssprachlichen Gespräch.
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Der Abendmahlsstreit ab Herbst 1524 und Luthers Stellung zum Bauernkrieg ab 1525 führen zu einer entscheidenden Veränderung im literarischen LutherBild. Die Monumentalisierung durch seine Anhänger mit den Möglichkeiten zur politischen Funktionalisierung beginnt. Das Narrativ aus Held, Märtyrer und Denkmal wird nun gesponnen. Von diesem Prozess berichtet die Literatur. Sie prägt jene literarischen Embleme und Bilder, die den historischen Wirkungsprozess der lutherischen Theologie begleiten, steuern, ihn feiern oder ihm widersprechen. Dies setzt ein mit dem ersten literarischen Luther-Bild, das Meisterlied Das walt Got und das Gedicht Die Wittenbergisch Nachtigall (1523) von Hans Sachs (1494–1576). Dieser ist ein begeisterter Befürworter der Reformation und nimmt Luther gegen öffentliche Angriffe in Schutz; er verfolgt die erklärte Absicht, reformatorisches Gedankengut weiter zu verbreiten. Lessing wird später die literaturgeschichtliche Bedeutung von Hans Sachs als ein »ganz sonderbares Monument in der Reformationsgeschichte« (vgl. Brief an Herder vom 10.1.1779) nennen. Die literarischen Angriffe auf Luther hören aber nicht auf. Simon Lemnius (1511–1550) veröffentlicht seine Epigramme (1538/39), worin er Luther in skatologischer Weise verunglimpft. Dieser antwortet mit der nicht minder derben Schrift Dysenteria Lutheri in merdipoetam Lemchen (1538). Lemnius’ Monachopornomachia (1539) folgt, worin er Luther und seine Frau in bekannter Manier angreift. Neben den (hoch-)literarischen Texten sind im volksliterarischen Bereich schon unmittelbar nach Luthers Tod zahlreiche Rezeptionszeugnisse vorhanden. Auch sogenannte Luther-Sagen entstehen (vgl. Brückner, Gruppe 1974, 261– 294). Die Kanonisierung Luthers als theologischer Heilsbringer, als Reformator und Prophet Deutschlands (›Propheta Germaniae‹) beginnt schon zu Lebzeiten. Luther wird in den protestantischen Textzeugnissen als Apostel, als Paulus, als Evangelist, als Engel der Offenbarung des Johannes, als David, Mose, Elia und schon 1518 als Daniel tituliert. Auch die Bildpublizistik zu Beginn der Reformation unterstützt angesichts der mangelhaften Alphabetisierung der Gesellschaft maßgeblich die Verbreitung dieses Luther-Bilds. Die Literatur ist dabei das wichtigste Medium, diesen Kanonisierungsprozess zu festigen und zu steuern. Die Luther-Dramen des späten 16. und des frühen 17. Jahrhunderts sind nicht gut erschlossen (vgl. Metz 2013, 637 ff.). Dabei sind diese Dramen Teil einer Erinnerungskultur, sie betrauern die Abwesenheit Luthers und suchen die Selbstvergewisserung in der Erinnerung an sein Werk. Die Literaturgeschichte kennt für den Zeitraum 1580 bis 1624 nur zwölf Luther-Dramen. Der Theologe, Dichter und Komponist Martin Rinckart (1586–1649) ist Autor von insgesamt sieben Luther-Dramen, von denen drei gedruckt sind. Der Eißlebische Christliche Ritter (1613) ist das bedeutendste, gleichwohl bleibt es ohne Wirkung. Die mangelnde Beteiligung der Literatur an einem öffentlichen Diskurs über Luther setzt sich bis weit in das 18. Jahrhundert hinein fort. Christoph Friedrich von Derschau (1714–1799) publiziert zwar ein Versepos mit dem Titel Lutheriade (1760), doch erst mit Johann Andreas Cramers (1723–1788) Ode auf D. Mar-
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tin Luther (1770) kommt Bewegung in die literarischen Luther-Darstellungen. Cramer bedient den Zeitgeschmack. Der Stil ist deklamatorisch und appellativ, Literatur hat zur moralischen Besserung des Menschen beizutragen. Konfessionelle und politische Freiheit werden zusammengeführt, Wegmarken aus Luthers Leben werden hervorgehoben, um in der Überzeugung zu enden, fromm ist, was Gott gefällt und den Völkern nützt. Die Reformation ist ein politisches Großereignis und Luther ein politischer Führer. Das Luther-Bild der Literatur des 18. Jahrhunderts bewegt sich im Spannungsfeld von Desakralisierung und Neuentdeckung Luthers (k D. II.). Die lutherische Orthodoxie dieser Zeit hat eine Art informelles literarisches Bilderverbot ausgesprochen. Dieses Darstellungstabu ist bis in die frühe zweite Jahrhunderthälfte hinein zu beobachten und ändert sich erst mit dem jungen Johann Wolfgang Goe the (1749–1832). In einer Regieanweisung in seinem Drama Götz von Berlichingen (1773) nennt Goethe den inzwischen nahezu sakrosankt gewordenen Reformator ›Bruder Martin‹. Damit wird einem neuen Luther-Bild in der Literatur des 18. Jahrhunderts die Tür geöffnet, ein Perspektivenwechsel wird eingeleitet. Eine kritische Neubeurteilung, entfernt von den Auratisierungen der Vergangenheit, ist nun auch in der Literatur möglich. Luther muss nicht mehr Repräsentant geistiger und geistlicher Größe sein und als Heldenfigur eines Dramas dienen (vgl. Luserke-Jaqui 2016, 69 ff.). Das ist ein konsequenter Versuch, sich der Dominanz der Orthodoxie und den Erwartungen des Pietismus zu entziehen, so auch in Goethes Schriften Zwo wichtige bisher unerörterte biblische Fragen (1773) und den Brief des Pastors zu *** an den neuen Pastor zu *** (1773). Matthias Claudius (1740–1815) wird in Das Heilige Abendmahl (1812) ebenfalls einen unerschrockenen Umgang mit der großen historischen Symbolfigur Luther zeigen. Schon 1753 hebt Gotthold Ephraim Lessing (1729–1781) die menschlichen Seiten des Reformators als liebenswerte Charakterzüge durchaus kritisch hervor, später auch in seiner ersten Anti-Goeze-Schrift Eine Parabel (1778). In den Axiomata (1778) führt er seine Kritik fort in der Analogie, dass sich Buchstaben zu Geist wie Buchstaben der Bibel zu Geist der Bibel als Wort Gottes verhalten. Mit seinem Drama Nathan der Weise (1779) gelingt es ihm, den Blick wieder zu öffnen für die eigentliche Frage, die den Menschen gestellt ist: Wie verhält es sich mit der Religion? Seine Nathanfigur kann durchaus als ein ›Wunsch-Luther‹ gelesen werden. Insgesamt ebnet Lessings Luther-Bild den Weg für eine moderne, eine entkrampfte Befassung mit der Person und dem Werk Luthers. Johann Gottfried Herder (1744–1803) hat sich zeitlebens mit Luther beschäftigt, u. a. in seinen Briefen an Theophron (1781). Er wollte eine Luther-Biographie mit dem Arbeitstitel Luther ein Lehrer der Deutschen Nation schreiben, kam aber über einige Notizen nicht hinaus. Das macht das grundsätzliche Dilemma für einen Literaten und Theologen des ausgehenden 18. Jahrhunderts deutlich, Herder kann keine dichterische, letztlich also fiktionale Biographie oder Darstellung von Luthers Leben und Wirken verfassen, sondern nur als wissenschaftlich interessierter Theologe zur Feder greifen. Dieses Dilemma wird erst im 19. Jahrhun-
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dert überwunden, wenn sich die Darlegung eines Luther-Bildes der epischen Aussageform bemächtigt und triviale Erzählungen und Romane über Luther in Fülle zu erscheinen beginnen. Der ›Eichbaum‹ in Herders Gedicht Mächtige Eiche (1774) ist die Kontrastfigur zu Goethes ›Bruder Martin‹. Das nationale Pathos, das sich darin ausdrückt, ist kaum camoufliert. Bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts bleibt dies im Luther-Bild noch wie in einer Zeitkapsel eingeschlossen und überdauert die Jahre bis zur endgültigen Entfaltung des nationalen und nationalistischen Luther-Bildes. Goethe und Lessing können als Wendepunkt in der dramatischen und essayistischen Darstellung des literarischen Luther-Bildes gesehen werden. Anders sieht es in der Lyrik des 18. Jahrhunderts aus. Der Reformator ist nur gelegentlich Gegenstand lyrischer Darstellung. Am Ende des 18. Jahrhunderts ist Luther sowohl von den Gegnern der Französischen Revolution wie beispielsweise August Hennings (1746–1826) Doctor Martin Luther! (1792) oder Novalis’ (1772–1801) Die Christenheit oder Europa (1799) als auch von deren Befürwortern wie Friedrich Christian Laukhard (1757–1822) in seiner Ode auf Luther (1799) vereinnahmt. Der Mensch Luther ist in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts durch den Pietismus gegen das informelle ›Beschreibungsverbot‹ des orthodoxen Luthertums entdeckt worden. Die Literatur reagiert darauf mit zwei Entwicklungen, einmal beginnt sie das Luther-Bild zu trivialisieren (dies wird bis in unsere Gegenwart hinein fortgesetzt) und festigt damit eine massenorientierte Rezipierbarkeit, da sie jedem Leser eine Identifikationsmöglichkeit bietet. Zum anderen reagiert die Literatur radikal und minimalisiert den Heros Luther auf ein eben noch vertretbares Mindestmaß. Der historische Koloss wird zum ›Bruder Martin‹. Das Luther-Bild zu Beginn des 19. Jahrhunderts bewegt sich im Spannungsfeld von Hymnik und Trivialität (zu denken ist hier auch an die zahlreichen Luther-Festspiele im Umfeld der Jubiläumsfeiern). 1803 wird ein öffentlicher Wettbewerb um die beste Idee für ein Luther-Denkmal mit Blick auf das Reformationsjubiläum 1817 ausgeschrieben. Eine breite publizistische Diskussion beginnt, an der sich u. a. auch Jean Paul (1763–1825) beteiligt. Über die Art der Ausführung, ob Standbild oder symbolisches Denkmal wie etwa ein nach Luther benanntes Bildungsinstitut, wird heftig debattiert. Auch Friedrich Hölderlin (1770–1843) notiert sich zwischen 1802 und 1806 Brocken zu einer Luther-Hymne. Diese bleibt Fragment, wie auch die dramatische Skizze Luthers Monolog, eh’ er in die Reichsversammlung geht (1812) von Theodor Körner (1791–1813). Zacharias Werner (1768–1823) huldigt Luther mit seinem Drama Martin Luther oder Die Weihe der Kraft (1807). Das Stück ist sehr erfolgreich, eine Liebesgeschichte in die Reformationsgeschichte einzuflechten und so die welthistorische Bedeutung der Reformation in der kammerspielartigen Szenerie einer Liebesgeschichte zu spiegeln trifft den Zeitgeschmack. Mit Werner, der 1810 zum Katholizismus konvertiert und in der Palinodie Die Weihe der Unkraft (1814) sein Luther-Drama widerruft, erreicht die literarische Trivialisierung allerdings auch einen frühen Höhepunkt. Von den Tumulten anlässlich der Berliner Urauffüh-
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rung 1806, bei der Iffland die Hauptrolle des Luther übernommen hat, berichtet der Augenzeuge Carl Friedrich Zelter (1758–1832) in einem Brief an Goethe vom 11.6.1806. Über die Frage, ob eine halbreligiöse Figur wie Martin Luther auf die Bühne gebracht werden dürfe, wird heftig öffentlich gestritten. Noch Theodor Fontane (1819–1898) nimmt in seiner Erzählung Schach von Wuthenow (1883) darauf Bezug. August Klingemann (1777–1831) beteiligt sich an der Suche nach einem literarischen Luther-Denkmal mit dem Drama Martin Luther (1808). Heinrich Schorch (1777–1822) will auch an den Jubiläumsdichtungen teilhaben und veröffentlicht in Weimar das Drama Luthers Entscheidung (1817). Die Luther-Dramen von Klingemann und Werner können als Versuch verstanden werden, Luther ein literarisches Denkmal zu schaffen. Luther wird damit endgültig der bürgerlichen Öffentlichkeit einverleibt, er gilt nun als eine historische Präfiguration politischer Willensbildung und politischer Faktizität. Das kulturelle Emblem Luther wird zu einem integralen Moment identitätsstiftender Nationenbildung. Werner und Klingemann liefern dieses politisch gewollte ›Denkmal Luther‹ als literarischen Text. Sie reagieren damit auf eine offensichtliche politische und gesellschaftliche Stimmung. Heinrich von Kleist (1777–1811) ist in seiner Novelle Michael Kohlhaas (1810) nicht an einer wahrheitsgemäßen historischen Abbildung interessiert, sein Luther steht in der Traditionslinie des minimalisierten Luther-Bildes. Goethe plant mit dem Berliner Komponisten Zelter für das Reformationsjubiläum 1817 eine Reformationskantate (1816). Auch sie bleibt Fragment. In der Skizze Zum Reformationsfest löst sich Goethe von der Konfessionsfrage, die Reformationsfeier soll ein ›Weltfest‹, ein ›Fest der reinsten Humanität‹ ohne Ansehen der Religion werden. Aber auch diese Pläne bleiben unausgeführt. Johann Peter Hebel (1760–1826) implementiert in seinem Schatzkästlein des rheinischen Hausfreundes (1811) Luther wieder im bürgerlichen Lesekanon. Heinrich Heine (1797–1856) mit seiner Darstellung Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland (1834) und Ludwig Börne (1786–1837), Conrad Ferdinand Meyer (1825–1898) mit den Gedichten Luther und Lutherlied (1883) und andere sind maßgeblich an der Prägung eines bürgerlichen literarischen Luther-Bildes beteiligt, das Friedrich Nietzsche (1844–1900) einer radikalen Kritik unterzieht, u. a. in der Fröhlichen Wissenschaft (1882). Darin attestiert er Luther eine ›Geschwätzigkeit des Zorns‹. In Jenseits von Gut und Böse (1886) lobt er zwar Luthers Bibelübersetzung als ein ›Meisterstück der deutschen Prosa‹, zugleich aber sei er auch ein ›Barbar des Geistes‹. Nietzsches Einfluss reicht weit ins 20. Jahrhundert hinein, u. a. bis zu Hugo Ball, Gottfried Benn und Thomas Mann. August Strindberg (1849–1912) schreibt 1903 ein Luther-Drama, das 1914 in Deutschland uraufgeführt wird. Reinhard Johannes Sorge (1892–1916) verfasst 1914 das expressionistische Drama Martin Luther, der in diesem katholisierenden Stück als abtrünniger Mönch und Unseliger dargestellt wird. Ricarda Huch (1864–1947) veröffentlicht 1916 ihr Buch Luthers Glaube. Briefe an einen Freund. 1917 erscheint ihr Gedicht Martin, steh auf! in der Anthologie Was Luther uns
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heute noch ist. Mit ihrem Luther-Buch will sie Luther in die Sprach- und Denkform des 20. Jahrhunderts übersetzen. Ihr Sprachduktus changiert dabei zwischen expressionistischer Mystifikation und neuromantischer Schwärmerei. Die nationalsozialistischen Luther-Festspiele sind tendenziös und literaturgeschichtlich ohne Belang (vgl. von der Lippe 1996, 27–53). Johannes R. Becher (1891– 1958) schreibt 1939 im Moskauer Exil ein Luther-Gedicht über den ›verfluchten Fürstenknecht‹ (vgl. Luserke-Jaqui 2016, 166). Das Luther-Bild der DDR-Literatur exponiert insgesamt Thomas Müntzer als Antipoden Luthers (vgl. von der Lippe 1996, 119–127). In Vorbereitung des Jubiläums 1983 verfasst die DDR-Autorin Helga Schütz (geb. 1937) das Skript Martin Luther – Eine Erzählung für den Film. Gottfried Benn (1886–1956) begreift am 17.11.1935 Luther als ›Zerstörer mittelalterlicher Kultur‹. Erst 1950 gelangt er zu einem differenzierteren Bild in dem Gedicht Was meinte Luther mit dem Apfelbaum? Thomas Mann (1875–1955) beschäftigt sich wiederholt mit Luther. Das reicht von Tagebucheintragungen über Deutschland und die Deutschen (1945), den Doktor Faustus (1947), Die drei Gewaltigen (1949) bis hin zu dem Dramenentwurf Luthers Hochzeit (1954/55). Es bleibt ein ambivalentes Verhältnis, auch wenn sich Mann nahezu ausschließlich an dem negativen Luther-Bild Nietzsches orientiert. Jochen Klepper (1903–1942) hat das Romanfragment Die Flucht der Katharina von Bora hinterlassen. 1951 wird der Text publiziert. Obwohl historisierend, gelingt Klepper eine eigene stilistische und narrative Darstellung Luthers, die sich von anderen Luther-Romanen deutlich abhebt. Thorsten Becker (geb. 1958) unternimmt 2009 den Versuch, Kleppers Roman zu Ende zu schreiben unter dem Titel Das ewige Haus. 1961 erscheint das englische Drama Luther des Dramatikers und Drehbuchautors John Osborne (1929–1994). Es wirft die Frage auf, ob es einen Zusammenhang zwischen der Entstehung des Protestantismus und der Entstehung des Kapitalismus gibt. Dieter Forte (geb. 1935) exponiert diesen Aspekt weiter in dem Theaterstück Martin Luther & Thomas Münzer oder Die Einführung der Buchhaltung (1971). Einen Luther-Roman ganz eigener Diktion schreibt 1982 (veröffentlicht 1996) Detlef Opitz (geb. 1956) mit Klio, ein Wirbel um L. Am Rande experimenteller Prosa ist es ein aberwitziges Spiel mit historischer Sprache und Fakten. Rolf Hochhuth (geb. 1931) greift mit seinem Stück 9 Nonnen fliehen (2014) wieder auf eine dramatische Darstellungsmöglichkeit zurück. Sein Luther ergeht sich in Selbstmitleid. Die Luther-Gedichte von Christian Lehnert (geb. 1969) in Windzüge (2015) heben die ungebrochene Bedeutung Luthers für Sprachsensibilität und Glaubensspiegelung hervor (weitere Gedichtsammlungen von Böhner 1967 und Block 2013). Unter den Bedingungen der Gegenwart über Luther zu schreiben bedeutet, die historischen Luther-Bilder kritisch zu reflektieren. Literaturhistorisch gesehen entwickelt sich das Wort ›Luther‹ mit all seinen Bedeutungseinschließungen von einem Begriff zu einem kulturellen Denkbild, das der Selbstreflexion und der Selbstverständigung der Protestanten ebenso dient wie der Konstituierung einer bürgerlichen Öffentlichkeit (vgl. Luserke-Jaqui 2016).
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Aland, Kurt: Martin Luther in der modernen Literatur. Ein kritischer Dokumentarbericht, 1973. Block, Johannes (Hg.): Die wittenbergische Nachtigall. Luther im Gedicht, 2013. Brückner, Wolfgang/Gruppe, Heidemarie: Luther als Gestalt der Sage (in: Brückner, Wolfgang [Hg.]: Volkserzählung und Reformation. Ein Handbuch zur Tradierung und Funktion von Erzählstoffen und Erzählliteratur im Protestantismus, 1974, 261–294). Laufhütte, Hartmut: Martin Luther in der deutschen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts (in: Ingen, Ferdinand van/Labroisse, Gerd [Hg.]: Luther-Bilder im 20. Jahrhundert, 1984, 27–57). Lippe, George B. von der: The Figure of Martin Luther in Twentieth-Century German Literature. The Metamorphosis of a National Symbol. Lewiston, 1996, 27–53. Luserke-Jaqui, Matthias: »Ein Nachtigall die waget«. Luther und die Literatur, 2016. Metz, Detlef: Das protestantische Drama. Evangelisches geistliches Theater in der Reforma tionszeit und im konfessionellen Zeitalter, 2013. Matthias Luserke-Jaqui
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren Beutel, Albrecht (geb. 1957), Dr. theol., ist o. Professor für Kirchengeschichte an der Universität Münster. Beyer, Michael (geb. 1952), Dr. theol., ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter des Instituts für Kirchengeschichte an der Universität Leipzig. Blanke, Heinz (geb. 1940), war Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Forschungsstelle »Lutherregister« der Heidelberger Akademie der Wissenschaften in Tübingen. Bubenheimer, Ulrich (geb. 1942), Dr. theol., ist em. Professor für Kirchengeschichte an der Universität Göttingen. Burger, Christoph (geb. 1945), Dr. theol., ist em. Professor für Kirchengeschichte an der Freien Universität Amsterdam. Dingel, Irene (geb. 1956), Dr. phil., ist o. Professorin für Kirchengeschichte an der Universität Mainz und Direktorin des Leibniz-Instituts für Europäische Geschichte, Abteilung für Abendländische Religionsgeschichte in Mainz. Gössner, Andreas (geb. 1967), Dr. theol. Dr. phil., ist apl. Professor für Kirchengeschichte an der Universität Göttingen. Herms, Eilert (geb. 1940), Dr. theol., ist em. Professor für Systematische Theologie an der Universität Tübingen. Kaufmann, Thomas (geb. 1962), Dr. theol., ist o. Professor für Kirchengeschichte an der Universität Göttingen. Kirn, Hans-Martin (geb. 1953), Dr. theol., ist o. Professor für Kirchengeschichte an der Universität Groningen. Köpf, Ulrich (geb. 1941), Dr. theol., ist em. Professor für Kirchengeschichte an der Universität Tübingen. Kohnle, Armin (geb. 1960), Dr. phil., ist o. Professor für Kirchengeschichte an der Universität Leipzig. Kolb, Robert (geb. 1941), Dr. theol., ist em. Professor für Systematische Theologie am Concordia Seminary in St. Louis (Missouri). Korsch, Dietrich (geb. 1949), Dr. theol., ist em. Professor für Systematische Theologie an der Universität Marburg. Leppin, Volker (geb. 1966), Dr. theol., ist o. Professor für Kirchengeschichte an der Universität Tübingen. Luserke-Jaqui, Matthias (geb. 1959), Dr. phil., ist o. Professor für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Technischen Universität Darmstadt. Moeller, Bernd (geb. 1931), Dr. theol., ist em. Professor für Kirchengeschichte an der Universität Göttingen. Peters, Christian (geb. 1961), Dr. theol., ist apl. Professor für Kirchengeschichte an der Universität Münster. Posset, Franz (geb. 1945), Dr. theol., ist em. Professor für Kirchengeschichte an der Marquette University in Milwaukee (Wisconsin). Saarinen, Risto (geb. 1959), Dr. theol., ist o. Professor für Ökumenische Theologie an der Universität Helsinki. Schilling, Johannes (geb. 1951), Dr. theol. Dr. phil., ist em. Professor für Kirchengeschichte an der Universität Kiel. Schwarz, Reinhard (geb. 1929), Dr. theol., ist em. Professor für Kirchengeschichte an der Universität München.
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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
Slenczka, Notger (geb. 1960), Dr. theol., ist o. Professor für Systematische Theologie an der Humboldt-Universität Berlin. Spankeren, Malte van (geb. 1979), Dr. theol., ist Privatdozent für Kirchengeschichte an der Universität Münster. Spehr, Christopher (geb. 1971), Dr. theol., ist o. Professor für Kirchengeschichte an der Universität Jena. Strecker, Freya (geb. 1960), Dr. phil., ist o. Professorin für Kunstgeschichte an der Universität Tübingen. Wendebourg, Dorothea (geb. 1952), Dr. theol., ist o. Professorin für Kirchengeschichte an der Humboldt-Universität Berlin. Wolff, Jens (geb. 1968), Dr. theol., ist Privatdozent für Systematische Theologie an der Universität Rostock. Wriedt, Markus (geb. 1958), Dr. theol., ist o. Professor für Kirchengeschichte an der Universität Frankfurt/Main. Zschoch, Hellmut (geb. 1957), Dr. theol., ist o. Professor für Kirchengeschichte an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal/Bethel.
Quellen- und Literaturverzeichnis Das nachstehende Quellen- und Literaturverzeichnis beansprucht nicht, eine repräsentative Lutherbibliographie zu bieten, sondern registriert lediglich die in den Beiträgen dieses Bandes benutzte und durch Kurztitel ausgewiesene Literatur. Ausgenommen sind solche Quellenschriften zu Luthers Traditions- und Wirkungsgeschichte, die nur an einer Stelle erwähnt und dort bibliographisch zureichend ausgewiesen sind. Eine annähernd vollständige Titelschau findet sich in der jährlich fortgeschriebenen Lutherbibliographie des Lutherjahrbuchs. Die Abkürzungen folgen Siegfried M. Schwertner: Internationales Abkürzungsverzeichnis für Theologie und Grenzgebiete, 21993.
1. Quellen Allen s. Erasmus von Rotterdam, Opus epistolarum. Arnold, Gottfried: Unpartheyische Kirchen- und Ketzer-Historie. Vom Anfang des Neuen Testaments Biß auf das Jahr Christi 1688, 2 Bde., 1699/1700, Nachdruck 21999. Bezold, Friedrich von: Geschichte der deutschen Reformation (Allgemeine Geschichte in Einzeldarstellungen 3/1), 1890. Die Bekenntnisschriften der Evangelisch-Lutherischen Kirche. Vollständige Neuedition, hg. v. Irene Dingel, 2014. Die Bekenntnisschriften der Evangelisch-Lutherischen Kirche. Quellen und Materialien Bd. 2: Die Konkordienformel, hg. v. Irene Dingel, 2014. Clemen, Otto (Hg.): Handschriftenproben aus der Reformationszeit. 1. Lieferung: 67 Handschriftenproben nach Originalen der Zwickauer Ratsschulbibliothek, 1911. Eck, Johannes: Disputatio Viennae Pannoniae habita (1517), hg. v. Therese Virnich (CCath 6), 1923. Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens 1823– 1832, hg. v. Christoph Michel (in: Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. II, 12 [39]), 1999. Erasmus von Rotterdam: Opus epistolarum, hg. v. Percy Stafford Allen u. a., 12 Bde., 1906– 1958. — Ausgewählte Werke in acht Bänden, hg. v. Werner Welzig, 21990. Fabisch, Peter/Iserloh, Erwin (Hg.): Dokumente zur Causa Lutheri (1517–1521) (CCath 41/42), 2 Bde., 1988–1991. Fast, Heinold (Hg.): Der linke Flügel der Reformation. Glaubenszeugnisse der Täufer, Spiritualisten, Schwärmer und Antitrinitarier (KlProt 4), 1962. Feuerbach, Ludwig: Das Wesen des Glaubens im Sinne Luther’s. Ein Beitrag zum »Wesen des Christenthums«, 1844. Ficker, Julius (Hg.): Liber Decanorum. Das Dekanatsbuch der theologischen Fakultät zu Wittenberg. In Lichtdruck nachgebildet. Mit einem Vorwort von Johannes Ficker, 1923. Fichte, Johann Gottlieb: Sämmtliche Werke, hg. von Immanuel Hermann Fichte, 1845/46. Foerstemann, Carl Eduard (Hg.): Liber Decanorum Facultatis Theologicae Academiae Vitebergensis, 1838. Franck, Sebastian: Sämtliche Werke, hg. v. Hans-Gert Roloff, 14 Bde., 2005 ff. Franz, Günther (Hg.), s. Thomas Müntzer. Friedensburg, Walter (Hg.): Urkundenbuch der Universität Wittenberg. Teil 1 (Geschichtsquellen der Provinz Sachsen und des Freistaats Anhalt, NR 3), 1926.
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— L’homme du commun entre 1525 et 1555 (in: Cahn, Jean-Paul/Schneilin, Gérard [Hg.]: Luther et la Réforme 1525–1555. Le temps de la consolidation religieuse et politique, 2001, 151–161). Wolgast, Eike/Volz, Hans: Geschichte der Luther-Ausgaben vom 16. bis zum 19. Jahrhundert, (WA 60; 427–637), 1980. Wotschke, Theodor: Andreas Samuel und Johann Seklucyan, die beiden ersten Prediger des Evangeliums in Posen. Ein Beitrag zur polnischen Reformationsgeschichte (Zeitschrift der Historischen Gesellschaft für die Provinz Posen 16, 1901, 169–244). Wriedt, Markus: Gnade und Erwählung. Eine Untersuchung zu Johann von Staupitz und Martin Luther (VIEG 141), 1991. — Luther’s Concept of History and the Formation of an Evangelical Identity (in: Gordon, Bruce [Hg.]: Protestant History and Identity in Sixteenth-Century Europe. Bd. 1: The medieval Inheritance, 1996 a, 31–45). — Die theologische Begründung der Bildungsreform bei Luther und Melanchthon (in: Beyer, Michael/Wartenberg, Günther [Hg.]: Humanismus und Wittenberger Reformation, 1996 b, 155–184). — Erneuerung der Frömmigkeit durch Ausbildung: zur theologischen Begründung der evangelischen Bildungsreform bei Luther und Melanchthon (in: Arnold, Matthieu/Decot, Rolf [Hg.]: Frömmigkeit und Spiritualität. Auswirkungen der Reformation im 16. und 17. Jahrhundert [VIEG.B 54], 2002, 59–71). — »Dass man Kinder zur Schule halten soll«. Reformatorische Impulse zum kirchlichen und staatlichen Bildungswesen (in: Ebernburger Hefte 48, 2014,11–35; zugleich Blätter für Pfälzische Kirchengeschichte und religiöse Volkskunde, 2014, 251–274). — Humanistische Reform – evangelische Reformation. Melanchthons Beiträge zu den Reformen der Wittenberger Universität zwischen 1518 und 1536 und deren theologische Begründung (in: Asche, Mattthias/Lück, Heiner u. a. [Hg.]: Die Leucorea zur Zeit des späten Melanchthon. Institutionen und Formen gelehrter Bildung um 1550 [KStRLO 26], 2015, 117–148). Zeeden, Ernst Walter: Martin Luther und die Reformation im Urteil des deutschen Luthertums. Studien zum Selbstverständnis des lutherischen Protestantismus von Luthers Tode bis zum Beginn der Goethezeit, 2 Bde., 1950/1952. Zickendraht, Karl: Der Streit zwischen Erasmus und Luther über die Willensfreiheit, 1909. Zorzin, Alejandro: Karlstadt als Flugschriftenautor (GTA 48), 1990. Zschoch, Hellmut: Theologie des Evangeliums in der Zeit. Martin Luthers Postillenwerk als theologisches Programm (in: Beutel, Albrecht/Rieger, Reinhold [Hg.]: Religiöse Erfahrung und wissenschaftliche Theologie. Festschrift für Ulrich Köpf zum 70. Geburtstag, 2011, 575–599). Zumkeller, Adolar: Erbsünde, Gnade, Rechtfertigung und Verdienst nach der Lehre der Er furter Augustinertheologen des Spätmittelalters (Cass. 35), 1984.
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Register Die nachstehenden Register sollen den selbstständigen Gebrauch des Handbuchs erleichtern. Das Verzeichnis der in diesem Band genannten Werke Luthers arbeitet mit leicht modernisierten, eindeutig verständlichen Kurztiteln. Die im Text aufscheinenden Personen – also nicht die Verfasser von Sekundärliteratur – sind in erstrebter Vollständigkeit erfasst und, soweit möglich, mit ihren Lebensdaten versehen. Adjektivische Verwendungen (wie anselmisch, augustinisch u.ä.) wurden in der Regel nicht berücksichtigt. Anders als die Personen werden die Sachen nur in strenger, pragmatischer, auf die Kernstellen beschränkter Auswahl verzeichnet. Hier finden sich auch einige Länder- sowie Ortsnamen, die Teil von Ereignisbezeichnungen sind (z.B. Wittenberger Konkordie). Es dürfte ratsam sein, das Sachregister zusammen mit dem Inhaltsverzeich nis und dem Personenregister in kreativer Kombinatorik zu nutzen.
Werke Ablassthesen s. Disputatio pro declaratione virtutis indulgentiarum Ad aegocerotem Emserianum, 1519 (WA 2; 658–679) 324 Ad dialogum Silvestri Prieratis, 1518 (WA 1; 782–786) 322 Ad librum eximii magistri nostri Magistri Ambrosii Catharini, 1521 (WA 7; 705–778) 325 Adelsschrift s. An den christlichen Adel deutscher Nation Adversus armatum virum Cocleum, 1523 (WA 11; 295–306) 321 An den christlichen Adel deutscher Nation, 1520 (WA 6; 404–469) 73, 88, 95, 137, 142, 147, 149, 232, 251, 306 f, 311, 315, 319 An die Herren deutschen Ordens, 1532 (WA 12; 232–244) 244 An die Ratherren aller Städte deutschen Lands, 1524 (WA 15; 27–53) 129, 270–274, 311 f Annotationes in priorem epistolam ad Timotheum, 1528 (WA 26; 4–120) 369 Annotationes in epistolam Pauli ad Philemonem, 1527 (WA 25; 6–78) 369 Annotationes in epistolam Pauli ad Titum, 1527 (WA 25; 6–78) 369 Antwort deutsch auf König Heinrichs Buch, 1522 (WA 10,2; 227–262) 326 f Assertio omnium articulorum, 1520 (WA 7; 94–151) 177, 214, 324 Asterisci, 1518 (WA 1; 281–314) 146 Auf das überchristlich, übergeistlich und überkünstlich Buch Bock Emsers, 1521 (WA 7; 621–688) 324 Auf des Königs zu England Lästerschrift, 1526 (WA 23; 26–37) 327 Auslegung deutsch des Vaterunsers für die einfältigen Laien, 1519 (WA 2; 80–130) 186, 343 Bericht an einen guten Freund von beider Gestalt des Sakraments, 1528 (WA 26; 560– 618) 320 Betbüchlein, 1522 (WA 10,2; 376–501) 251, 342, 344, 349, 353 Bibelübersetzung s. Deutsche Bibel Brief an die Christen im Niederland, 1523 (WA 12; 77–80) 243 Brief an die Christen in Riga, Reval und Dorpat, 1523 (WA 12; 147–150) 246 Brief an die Fürsten zu Sachsen von dem aufrührerischen Geist, 1524 (WA 15; 210–221) 172, 332 Briefe (WAB) 22–26, 384–391 Contra Henricum regem Angliae, 1522 (WA 10,2; 180–222) 326 f
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Register
Dass diese Worte Christi ‚das ist mein Leib etc.’ noch fest stehen, 1527 (WA 23; 64–283) 190, 333 f, 467 Dass eine christliche Versammlung oder Gemeine Recht und Macht habe, 1523 (WA 11; 408–416) 452 Dass Jesus Christus ein geborener Jude sei, 1523 (WA 11; 314–336) 142, 254 f De captivitate babylonica ecclesiae, 1520 (WA 6; 497–573) 73, 142, 144, 149 f, 177, 187, 251, 307 f, 326, 340, 428, 464 De instituendis ministris ecclesiae, 1523 (WA 12; 169–196) 248 De servo arbitrio, 1525 (WA 18; 600–787) 69, 181–183, 327 f, 408, 413, 428, 443, 474 f, 530, 543 De votis monasticis, 1522 (WA 8; 573–669) 111, 310, 378 Decem praecepta Wittenbergensi praedicata populo, 1518 (WA 1; 398–521) 343, 350 Der 127. Psalm ausgelegt an die Christen zu Riga und Livland, 1524 (WA 15; 360–378) 246 Der 82. Psalm ausgelegt, 1530 (WA 31,1; 189–218) 158 Deuteronomion Mosi cum annotationibus, 1525 (WA 14; 497–744) 367 Deutsche Bibel (WADB) 111, 205, 293, 298–305 Deutsche Messe und Ordnung Gottesdiensts, 1526 (WA 19; 72–113) 282, 299, 348, 353, 360, 464 f Dictata super psalterium, 1513–1515 (WA 55,1–2) 77, 92, 253 f, 365 f, 400, 506 Die kleine Antwort auf Herzog Georg nächstes Buch, 1533 (WA 38; 141–170) 217, 330 Die sieben Bußpsalmen, 1517/25 (WA 1; 158–222. WA 18; 479–530) 108 f, 143, 162, 299, 340 Disputationes 372–384 – contra scholasticam theologiam, 1517 (WA 1; 224–228) 87 f – de divinitate et humanitate Christi, 1540 (WA 39,2; 93–121) 155, 428, 434 f – de homine, 1536 (WA 39,1; 175–180) 89, 384, 404–406, 439–451, 489, 502 f – de viribus et voluntate hominis sine gratia, 1516 (WA 1; 145–151) 67 – gegen die Antinomer, 1537/38 (WA 39,1; 360–584) 162 f, 427 – Heidelbergae habita, 1518 (WA 1; 353–374) 52, 81, 109, 154, 378, 428, 438 – pro declaratione virtutis indulgentiarum, 1517 (WA 1; 233–238) 36, 72, 109, 118, 306 – pro veritate inquirenda et timoratis conscientiis consolandis conclusiones, 1518 (WA 1; 629–633) 118, 374 – Themata de votis, 1521 (WA 8; 323–335) 378 Ecclesiastes Salomonis cum annotationibus, 1526/32 (WA 20; 7–203) 368 Ein klein Unterricht, was man in den Evangelien suchen und gewarten soll, 1522 (WA 10,1,1; 8–18) 430 f Ein Missive allen denen, so von wegen des Wortes Gottes Verfolgung leiden, 1522 (WA 10,2; 53–60) 217 Ein Sendbrief von dem harten Büchlein wider die Bauern, 1525 (WA 18; 384–401) 167 Ein Sermon ...: s.a. Sermon ... Ein Sermon von dem ehelichen Stand, 1519 (WA 2; 166–171) 341 Ein Sermon von dem Gebet und Prozession in der Karwoche, 1519 (WA 2; 175–179) 342 Ein Sermon von dem unrechten Mammon, 1522 (WA 10,3; 283–292) 359 Eine einfältige Weise zu beten für einen guten Freund, 1535 (WA 38; 358–375) 345 f Eine Freiheit des Sermons päpstlichen Ablass und Gnade belangend, 1518 (WA 1; 383– 393) 322, 340 Eine kurze Form der zehn Gebote, des Glaubens, des Vaterunsers, 1520 (WA 7; 205– 229) 344, 349 Eine kurze Form, das Paternoster zu verstehen und zu beten, 1519 (WA 6; 11–19) 350
Werke
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Eine kurze und gute Auslegung des Vaterunsers, 1519 (WA 6; 21 f) 350 Eine kurze Unterweisung, wie man beichten soll, 1519 (WA 2; 59–65) 343 Eine neue Fabel Aesopi, 1528 (WA 26; 539–545) 356 Eine Predigt, dass man Kinder zur Schulen halten solle, 1530 (WA 30,2; 517–588) 274, 354 Eine schreckliche Geschichte und Gericht Gottes, 1525 (WA 18; 367–374) 167, 173 Eine treue Vermahnung sich zu hüten vor Aufruhr und Empörung, 1522 (WA 8; 676– 687) 128, 332 Enarratio capitis noni Esaiae, 1546 (WA 40,3; 597–682) 371 Enarratio psalmi XC, 1541 (WA 40,3; 484–594) 370 Ermahnung zum Frieden, 1525 (WA 18; 291–334) 166 Etliche Fabeln aus Aesop, 1530 (WA 50; 440–460) 356 f Exempel, einen rechten christlichen Bischof zu weihen, 1542 (WA 53; 231–260) 452 Formula missae et communionis, 1523 (WA 12; 205–220) 171, 202, 464 Freiheitsschrift s. Von der Freiheit eines Christenmenschen Galaterkommentar, Großer, s. In epistolam S. Pauli ad Galatas commentarius, 1531/35 Galaterkommentar, Kleiner, s. In epistolam Pauli ad Galatas commentarius, 1519 Genesisvorlesung, 1535–1545 (WA 42–44) 259, 370 f, 428 Glosse auf das vermeintliche kaiserliche Edikt, 1531 (WA 30,3; 331–388) 239 Grund und Ursach aller Artikel, 1521 (WA 7; 308–457) 324 Heerpredigt wider den Türken, 1529 (WA 30,2; 160–197) 265–268 Heidelberger Disputation s. Disputatio Heidelbergae habita In Cantica canticorum brevis enarratio, 1539 (WA 31,2; 586–769) 369 f In epistolam Pauli ad Galatas commentarius, 1519 (WA 2; 443–618) 195, 366 In epistolam S. Pauli ad Galatas commentarius, 1531/35 (WA 40,1–2) 75, 198, 369, 422–424, 431 In Esaiam Prophetam Enarraciones, 1527–1530 (WA 25; 87–401. WA 31,2; 1–585) 371 In quindecim psalmos graduum commentarii, 1540 (WA 40,3; 9–475) 370 Invocavit-Predigten, 1522 (WA 10,3; 1–64) 111, 332, 361 f, 528 Iudicium de votis, 1521 (WA 8; 323–335) 73 Katechismen, 1529 112, 348–354, 429 f, 517 – Großer (WA 30,1; 125–238) 152, 348–354, 441, 467, 486 – Kleiner (WA 30,1; 243–425) 48, 245, 276 f, 348–354, 367, 402 f, 430, 467 Kurzes Bekenntnis vom heiligen Sakrament, 1544 (WA 54; 141–167) 199, 334 Lieder (WA 35. AWA 4) 7, 243, 276–283, 353, 355 f Magnificat verdeutscht, 1521 (WA 7; 544–604) 111, 216, 343 Ob man vor dem Sterben fliehen möge, 1527 (WA 23; 338–379) 342 Obrigkeitsschrift s. Von weltlicher Oberkeit Operationes in psalmos, 1518–1521 (WA 5. AWA 2) 7, 78, 127, 137, 162 f, 195, 214, 254, 367, 370 Passional Christi und Antichristi, 1521 (WA 9; 701–715) 139, 206, 288
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Register
Postillen 111, 157, 214, 342, 360 f, 519 Praelectiones in prophetas minores, 1524–1526 (WA 13) 367 f Predigten 113, 358–365 Pro veritate inquirenda et timoratis conscientiis consolandis conclusiones, 1518 (WA 1; 629–633) 118, 374 Rationis Latomianae confutatio, 1521 (WA 8; 43–128) 325 f, 437 Resolutiones disputationum de indulgentiarum virtute, 1518 (WA 1; 525–628) 81, 378 Römerbrief-Vorlesung, 1515/16 (WA 56) 80, 162, 366, 378, 463 Schmalkaldische Artikel, 1536/38 (WA 50; 192–254) 114, 139, 152, 207 f, 313–315, 429, 452, 454, 517, 519 Sendbrief vom Dolmetschen, 1530 (WA 30,2; 632–646) 128 f, 148, 301 f, 328 f Sendschreiben an die Christen in Livland, 1525 (WA 18; 412–430) 158 Sermo de digna praeparatione cordis pro suscipiendo sacramento eucharistiae, 1518 (WA 1; 329–334) 341 Sermo de duplici iustitia, 1520 (WA 2; 143–152) 242 Sermo de poenitentia, 1518 (WA 1; 319–324) 340 Sermon …: s. a. Ein Sermon … Sermon von Ablass und Gnade, 1518 (WA 1; 243–246) 126, 145, 306, 340 Sermon von dem heiligen hochwürdigen Sakrament der Taufe, 1519 (WA 2; 727–737) 340, 463 Sermon von dem hochwürdigen Sakrament des Leichnams Christi, 1519 (WA 2; 742– 758) 191, 340, 463 Sermon von dem Neuen Testament, 1520 (WA 6; 353–378) 187, 463 f Sermon von dem Sakrament der Buße, 1519 (WA 2; 713–723) 118, 340 Sermon von der Bereitung zum Sterben, 1519 (WA 2; 685–697) 342 Sermon von der Betrachtung des heiligen Leidens Christi, 1519 (WA 2; 136–142) 341 Sermon von der würdigen Empfahung des heiligen wahren Leichnams Christi, 1521 (WA 7; 692–697) 337 Summarien über die Psalmen und Ursachen des Dolmetschens, 1531/33 (WA 38; 9–69) 301 f Supputatio annorum mundi, 1544 (WA 53; 22–184) 124 Tessaradecas consolatoria, 1520 (WA 6; 106–134) 214, 343 Tischreden (WAT) 113, 211, 391–398, 519 Tröstung an die Christen zu Halle, 1527 (WA 23; 402–431) 344 Ursach und Antwort, dass Jungfrauen Klöster göttlich verlassen mögen, 1523 (WA 11; 394–400) 74 Verantwortung der aufgelegten Aufruhr von Herzog Georg, 1533 (WA 38; 96–107) 217, 330 Vermahnung an die Geistlichen, versammelt auf dem Reichstag zu Augsburg, 1530 (WA 30,2; 268–356) 239 Vermahnung wider die Juden, 1546 (WA 51; 195 f) 259 Vertrag zwischen dem löblichen Bund zu Schwaben, 1525 (WA 18; 336–343) 167 Vom Abendmahl Christi. Bekenntnis, 1528 (WA 26; 261–509) 190, 312 f, 320, 334, 346, 402, 428 f, 441, 467, 492 Vom Anbeten des Sakraments des heiligen Leichnams Christi, 1523 (WA 11; 431–456) 187, 189, 467
Werke
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Vom Kriege wider die Türken, 1529 (WA 30,2; 107–148) 262, 265–268, 505 Vom Papsttum zu Rom wider den hochberühmten Romanisten zu Leipzig, 1520 (WA 6; 285–324) 322, 452 Vom Schem Hamphoras und vom Geschlecht Christi, 1543 (WA 53; 579–648) 257 f, 260 Von beider Gestalt das Sakrament zu nehmen, 1522 (WA 10,2; 11–41) 331 Von Bruder Henrico in Ditmar verbrannt, 1524 (WA 18; 224–250) 347 Von den guten Werken, 1520 (WA 6; 202–276) 215, 481 Von den Juden und ihren Lügen, 1543 (WA 53; 417–552) 257, 260 f Von den Konziliis und Kirchen, 1539 (WA 50; 509–653) 68, 139, 315 f, 428, 452 Von den letzten Worten Davids, 1543 (WA 54; 28–100) 257, 259, 428 Von den neuen Eckischen Bullen und Lügen, 1520 (WA 6; 579–594) 142, 323 Von den Schleichern und Winkelpredigern, 1532 (WA 30,3; 518–527) 335 Von den Schlüsseln, 1530 (WA 30,2; 367–390) 328 Von der Freiheit eines Christenmenschen, 1520 (WA 7; 20–38) 79, 81, 196, 241, 243, 250 f, 308 f, 342 f, 400, 422–424, 426, 431, 532 Von der Wiedertaufe an zwei Pfarrherrn, 1528 (WA 26; 137–174) 157 f, 335, 467 Von der Winkelmesse und Pfaffenweihe, 1533 (WA 38; 195–256) 329, 354, 452 Von heimlichen und gestohlenen Briefen, 1529 (WA 30,2; 25–48) 329 Von Herrn Lenhard Keiser in Baiern, 1527 (WA 23; 452–476) 347 Von Ordnung Gottesdiensts in der Gemeine, 1523 (WA 12; 35–37) 311 Von weltlicher Oberkeit, 1523 (WA 11; 245–281) 112, 215, 231 f, 310 f, 359, 497 f Vorlesungen 28 f, 108, 113, 365–372 – Gen s. Genesisvorlesung – Dtn s. Deuteronomion Mosi cum annotationibus – Jes s. In Esaiam Prophetam Enarraciones – Jes 9 s. Enarratio capitis noni Esaiae – Kleine Propheten s. Praelectiones in prophetas minores – Pss I (erste Psalmenvorlesung) s. Dictata super psalterium – Pss II (zweite Psalmenvorlesung) s. Operationes in psalmos – Ps 90 s. Enarratio psalmi XC – Hhld s. In Cantica canticorum brevis enarratio – Pred s. Ecclesiastes Salomonis cum annotationibus – Röm s. Römerbrief-Vorlesung – Gal I (erste Galatervorlesung) s. In epistolam Pauli ad Galatas commentarius – Gal II (zweite Galatervorlesung) s. In epistolam S. Pauli ad Galatas commentarius – 1Tim s. Annotationes in priorem epistolam ad Timotheum – Tit s. Annotationes in epistolam Pauli ad Titum – Phlm s. Annotationes in epistolam Pauli ad Philemonem Warnung an seine lieben Deutschen, 1531 (WA 30,3; 276–320) 129, 239, 329 f, 354 Warum des Papstes und seiner Jünger Bücher verbrannt sind, 1520 (WA 7; 161–182) 324 Wider das Papsttum zu Rom vom Teufel gestiftet, 1544 (WA 54; 206–299) 139, 331 f Wider den falsch genannten geistlichen Stand des Papstes, 1522 (WA 10,2; 105–158) 129, 326 Wider den Meuchler zu Dresden, 1531 (WA 30,3; 446–471) 217, 330 Wider den neuen Abgott und alten Teufel, 1524 (WA 15; 183–198) 326 Wider die Antinomer, 1539 (WA 50; 468–477) 335 f Wider die himmlischen Propheten, 1524/25 (WA 18; 62–214) 189, 332 f, 467 Wider die räuberischen und mörderischen Rotten der Bauern, 1525 (WA 18; 357–361) 166
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Register
Wider die Sabbater an einen guten Freund, 1538 (WA 50; 312–337) 256 f, 260 Wider die Verkehrer und Fälscher kaiserlichs Mandats, 1523 (WA 12; 62–67) 238 Wider Hans Worst, 1541 (WA 51; 469–572) 316 f, 330 f, 354 Widerruf vom Fegfeuer, 1530 (WA 30,2; 367–390) 27, 328 Zwei kaiserliche uneinige und widerwärtige Gebote, den Luther betreffend, 1524 (WA 15; 254–278) 238
Personen Abaelard, Petrus (1079–1142) 68, 306 Abel 415 Abraham 123, 486, 492 Adam 81, 123, 288 f, 414 f, 503 Adelmann von Adelmannsfelden, Bernhard (1459–1523) 141 Adelung, Johann Christoph (1732– 1806) 522 Aegidius Romanus (um 1245–1316) 76 Aegidius von Viterbo (1469–1532) 72, 142 Aepinus, Johannes (1499–1553) 512 Agricola, Johann (1492/94–1566) 25, 161–163, 173, 197, 207 f, 210, 335 f, 357, 513 Agricola, Michael 1509–1557) 244 Agricola, Rudolf (1444–1485) 18, 91 Aland, Kurt (1915–1994) 6, 14 f, 34 f, 40 Alber, Matthäus (1495–1570) 189 Albertus Magnus (um 1200–1280) 85 Albrecht VII. von Mansfeld, Graf (1480– 1560) 156, 212, 388 Albrecht von Brandenburg, Erzbischof von Mainz (1490–1656) 25, 109, 126, 145, 177, 233, 385 f, 389 Albrecht von Brandenburg-Ansbach, Herzog in Preußen (1490–1568) 156, 233, 244 f, 385, 515 Alesius, Alexander (1500–1565) 379 Alfsvåg, Knut (*1955) 46 Althamer, Andreas (um 1500–1539) 348 Althaus, Paul (1888–1966) 30, 32, 39, 50 Alvelt, Augustin von (gest. nach 1535) 148 f, 220, 319, 322 Ambrosius von Mailand (333/34–397) 65, 68, 175, 202, 365 Amerbach, Johannes (um 1445–1513) 66 Amman, Caspar (ca. 1450–ca. 1524) 142 f Amos 368
Amsdorf(f), Nikolaus von (1483–1565) 20, 25, 108, 159, 182, 199, 206 f, 210, 226, 328, 362, 375, 385, 388 f, 512–514 Andreae, Jakob (1528–1570) 517 Anna von Ungarn (1503–1547) 246 Anna, heilige 71, 107 Anselm von Canterbury (1033–1109) 44, 429 f Anshelm, Thomas (um 1460–1522) 194 Äpinus, Johannes (1499–1553) 379 Aquila, Caspar (1488–1560) 163 Arffman, Kaarlo (*1950) 47 Aristoteles (385–322 v. Chr.) 67 f, 71, 84, 89 f, 107, 194, 200, 307, 444, 488 f, 502 Arius (um 280–336) 266 Arndt, Ernst Moritz (1769–1860) 536, 540 Arndt, Johann (1555–1621) 519 Arnim, Achim von (1781–1831) 538 Arnold, Gottfried (1666–1714) 152, 173, 260, 526-528 Arnoldi von Usingen, Bartholomäus (um 1464–1532) 84, 92, 106 Ascher, Saul (1767–1822) 260 Äsop (6. Jh. v. Chr.) 356 f Athanasius von Alexandrien (um 299–373) 37, 70 August I. von Sachsen, Kurfürst (1526/53– 1586) 205, 516–518 Augusta, Jan (1500–1572) 248 Augustin (354–430) 38, 65–70, 76, 80 f, 86, 88, 107 f, 123, 143, 174 f, 179, 186, 202, 281, 348, 365 f, 412, 474, 529 Aulén, Gustaf (1879–1977) 43 f, 46, 48 Aulus Gellius (2. Jh.) 397 Aurifaber, Johannes (1514–1559) 3 f, 81, 204, 206 f, 389, 393–398, 519 Aurogallus, Matthäus (um 1490–1543) 301
Personen
Baalen, Pieter van (16. Jh.) 242 Bach, Johann Sebastian (1685–1750) 284 Baczko, Ludwig von (1756–1823) 169 Bahrdt, Karl Friedrich (1741–1792) 533 Bainton, Roland (1894–1984) 49 Ball, Hugo (1886–1927) 548 Barnes, Robert (1495–1540) 249 f, 379 Barth, Hans-Martin (*1939) 50 Barth, Karl (1886–1968) 30–32, 37, 39, 44 f, 427 Basilius von Caesarea (329/30–379) 286 Batka, Lubomír (*1974) 50 Baumgartner, Hieronymus (1498– 1565) 386 Bayer, Oswald (*1939) 34, 50 Bebel, Heinrich (1473–1518) 357 Becher, Johannes R. (1891–1958) 549 Beck, Friedrich (*1927) 21 Becker, Thorsten (*1958) 549 Beham, Hans Sebald (1500–1550) 277 Beier, Leonhard (um 1495–um 1553) 378 Bell, Theo (*1945) 76, 82 Benn, Gottfried (1886–1956) 548 f Benno von Meißen, Bischof (1010– 1106) 326 Benzing, Joseph (1904–1981) 10 Ber, Ludwig (um 1490–1554) 178 Berger, Peter L. (*1929) 51 Berghen, Adriaan van (16. Jh.) 243 Bernhard von Clairvaux (1090/91– 1153) 68, 77 f, 80–83, 107, 132, 143, 371, 431, 504, 529 Bernhardi, Bartholomäus (1487–1551) 67, 207, 378 Berquin, Louis de (1490–1529) 249 Beskendorf, Peter (gest. 1538) 345 Beutel, Albrecht (*1957) 16 Bezold, Friedrich von (1848–1929) 539 Bibliander, Theodor (1504/09–1564) 267 Biel, Gabriel (um 1413/14–1495) 38, 51, 86–88, 107, 278, 434, 485 f Bielfeldt, Dennis (*1953) 53 Bild, Vitus (1481–1529) 141 f Birgitta von Schweden (1303/04–1373) 64 f Bizer, Ernst (1904–1975) 33 f Blanke, Fritz (1900–1967) 32 Blarer, Ambrosius (1492–1564) 154 Bodenstein, Andreas, gen. Karlstadt (1480–1541) 22 f, 26, 67, 108, 111 f, 140,
593
146 f, 151–154, 157–159, 162 f, 171, 175, 179, 181, 184, 188–190, 195, 197 f, 222, 225 f, 228 f, 286, 321, 332 f, 373, 375, 377 f, 466 Bodin, Jean (1530–1596) 526 Bodmer, Johann Jakob (1698–1783) 522 Boehmer, Heinrich (1869–1927) 170 Boethius (um 480–um 524) 281, 502 Bois, Simon du (gest. um 1530) 249 Bolliger, Daniel (*1965) 85 Bonhoeffer, Dietrich (1906–1945) 32 Bonifatius (Bonifaz) VIII., Papst (um 1235/94–1303) 60 Bora, Katharina von (1499–1552) 74, 112 f, 115, 127, 197, 200, 203, 208, 288, 356, 369, 385–387 Börne, Ludwig (1786–1837) 548 Börner, Christian Friedrich (1683–1753) 4 Bornkamm, Heinrich (1901–1977) 30, 32, 34, 50 Braaten, Carl (*1929) 51 Bradwardine, Thomas (1290–1349) 66, 86 Bräuer, Siegfried (*1930) 13, 168 Brecht, Martin (*1932) 18, 39 f Brenner, Oskar (1854–1920) 21 Brenz, Johannes (1499–1570) 158, 190, 348 Bretschneider, Karl Gottlieb (1776–1848) 539 Briçonnet, Guillaume (1470–1534) 249 Brießmann, Johann(es) (1488–1550) 149, 245 Bring, Ragnar (1895–1988) 44 Brisger, Eberhard (gest. 1545) 74 Brüllmann, Jakob (1872–1938) 493 Bubenheimer, Ulrich (*1942) 170 Bucer, Martin (1491–1551) 109, 114, 154 f, 161, 176, 184, 190, 192 f, 198 f, 248, 511 Bugenhagen, Johannes (1485–1558) 26, 115, 154, 158 f, 190, 203, 208–210, 226, 246, 301, 347, 350, 359, 379, 386–388, 393, 519 Bullinger, Heinrich (1504–1575) 264, 515 Bünderlin, Johannes (um 1500–nach 1539) 156 Burckhardt, Jacob (1818–1897) 90, 540 Burer, Albert (16. Jh.) 362 Büsching, Anton Friedrich (1724–1793) 532
594
Register
Cahera, Gallus (gest. 1545) 248 Cajetan(us), Thomas (Giacomo de Vio), Kardinal (1469–1534) 109, 134 f, 141, 145 f, 148, 385 Calvin, Johannes (1509–1564) 4, 29, 248, 264, 286, 515, 523, 542 Calvus, Franciscus (gest. nach 1545) 240 Campanius, Johann (1601–1683) 48 Campanus, Johannes (um 1500–nach 1574) 161 Capito, Wolfgang (1478–1541) 109, 154, 159, 176, 184, 195 Carl Alexander von Sachsen-Weimar, Großherzog (1818–1901) 541 Catharinus, Ambrosius (1484–1553) 145 f, 320, 325 Cato d.Ä. (243–149 v. Chr.) 292 Celtis, Conrad (1459–1508) 91 Chemnitz, Martin (1522–1586) 433 Christian II. von Dänemark, König (1481/1513–1523/59) 243 f, 385 Christian III. von Dänemark, König (1503/34–1559) 385 Christoph von Württemberg, Herzog (1515/50–1568) 516 f Christus s. Jesus Christus Chrysostomus (354–407) 68 Cicero (106–43 v. Chr.) 19, 130 Claji (Clajus), Nicasius (Johann) (1535–1592) 378, 519 Clajus s. Claji, Nicasius Claudius, Matthias (1740–1815) 522 Clichtoveus, Jodocus (um 1472–1543) 149 Cochlaeus, Johannes (1479–1552) 74, 127, 148, 160, 180, 220, 278, 319, 321, 520 Coelius, Michael (1492–1559) 115 Colet, John (um 1467–1519) 249 Conze, Werner (1910–1986) 38 Cordatus, Conrad (1476–1546) 198, 204, 246 f, 393, 394 Cramer, Johann Andreas (1723–1788) 545 Cranach, Lucas, d.Ä. (1472–1553) 73, 127, 201, 205 f, 222, 243, 270, 285, 287 f, 319, 361, 493 Cranach, Lucas, d.J. (1515–1586) 288, 493 Cranz, Ferdinand Edward (1914–1998) 51 Cratander, Andreas (gest. 1540) 337 Crotus Rubeanus, Johannes (1480–ca. 1540) 91, 140, 278
Cruciger, Caspar (1504–1548) 3, 206, 210, 301, 359 f, 364, 379, 383, 388 f, 393 Cruciger, Elisabeth, geb. von Meseritz (1505–1535) 210 Daniel 545 Dannhauer, Johann Konrad (1603–1666) 260 David 123, 280 f, 369, 545 Denck, Hans (um 1500–1527) 155–157, 159, 301 Denifle, Heinrich (1844–1905) 29, 35, 49, 540 Derschau, Christoph Friedrich von (1714–1799) 545 Desprez, Josquin (um 1475–1530) 278 Devrient, Otto (1838–1894) 541 Diefenbach, Lorenz (1806–1883) 17 f Dietenberger, Johann(es) (um 1475–1537) 148, 220 Dietrich, Sixt(us) (1492/94–1548) 278 Dietrich, Veit (1506–1549) 25, 360, 362, 389, 393 Dingel Irene (*1956) 50 Dionysios Areopagita (5./6. Jh.) 80 Döllinger, Ignaz von (1799–1890) 539 Döring, Christian (gest. 1566) 205 Dorothea von Dänemark, Herzogin in Preußen (1504–1547) 245 Drechsel, Thomas (16. Jh.) 151 Droysen, Johann Gustav (1808–1884) 539 Duffy, Eamon (*1947) 56 Dülmen, Andrea van (*1940) 17 Dungersheim, Johannes (Hieronymus) (1465–1540) 148 Duns Scotus, Johannes (1265/66–1308) 85, 434 Durand(us), Guillaume (Guilelmus), d. J. (um 1275–1334) 61, 278 Ebeling, Gerhard (1912–2001) 17, 32 f, 37, 41, 384, 444, 500 Eber, Paul (1511–1569) 20 Eberlin von Günzburg, Johann (ca. 1465–1533) 141 Eck, Johann(es) (1486–1543) 109, 133, 136 f, 140 f, 143, 145–148, 153, 220, 248, 320, 323, 328, 373 f
Personen
Eckhart, Meister (um 1260–1328) 31, 79 f, 83, 339 Edwards, Mark U. 52 Egranus, Johannes Sylvius (vor 1500–1535) 170 f Eichendorff, Joseph von (1788–1857) 538 Elert, Werner (1885–1954) 30 Elia 124, 545 Elisa 281 Elliger, Walter (1903–1985) 170 Emser, Hieronymus (1477–1527) 129, 147–149, 180, 220, 319 f, 324, 326, 328 Enders, Ernst Ludwig (1833–1906) 5, 389 Engels, Friedrich (1820–1895) 169, 537 f Entfelder, Christian (gest. nach 1547) 156 Erasmus von Rotterdam, Desiderius (1466/69–1536) 69, 92 f, 141, 143, 157, 173–183, 186, 195–197, 222, 228, 242, 249, 274, 286, 298–300, 320 f, 327 f, 371, 385, 397, 408, 491, 529 f Erikson, Erik (1902–1994) 38, 50 Ernst von Mansfeld, Graf (1479–1531) 171 f, 212 Esschen, Johannes van den (gest. 1523) 243 Eucken, Rudolf (1846–1926) 30 Eugen IV., Papst (1383/1431–1447) 62 f Eutyches (um 378–um 454) 163 Faber Stapulensis s. Lefévre d’Etaples, Jacques Faber, Johannes (um 1470–1530) 141 Fabri, Johann(es) (1478–1541) 149, 187 Farel, Guillaume (1489–1565) 249 Fast, Heinold (1929–2015) 152 Fausel, Heinrich (1900–1967) 8 Felix V., Papst (1383/1439–1449/51) 62 Ferdinand I., König und Kaiser (1503/58– 1564) 100 f, 154, 236 f, 246 f, 264 Feuerbach, Ludwig (1808–1872) 537 Fichte, Johann Gottlieb (1762–1814) 536, 540 Ficino, Marsilio (1433–1499) 251 Finck, Heinrich (1444–1527) 278 Fisher, John (1459–1535) 150 Flacius Illyricus, Matthias (1520– 1575) 156, 389, 512–514, 516 Fontane, Theodor (1819–1898) 498, 548 Forde, Gerhard (1927–2005) 52 Forell, George W. (1919–2011) 51, 53
595
Formschneider, Hieronymus (gest. 1556) 344 Forte, Dieter (*1935) 549 Franck, Sebastian (1499–1542/43) 154 f, 357 Francke, August Hermann (1663–1727) 521 Frank, Franz Hermann Reinhold (1827–1894) 543 Frecht, Martin (1494–1556) 154 f Freytag, Gustav (1816–1895) 539 Friedlaender, Georg (1843–1914) 498 Friedrich I. von Dänemark, König (1471/1523–1533) 243 f Friedrich II. (der Große) von Preußen, König (1712/40–1786) 522 Friedrich II. von Liegnitz-Brieg-Wohlau, Herzog (1480–1547) 154 Friedrich III. (der Weise) von Sachsen, Kurfürst (1463/86–1525) 21–23, 109 f, 130, 177, 200 f, 204, 211, 213–216, 236, 239, 287, 291, 343, 385, 389, 515 Friedrich III., Kaiser (1415/62–1493) 62 f, 95, 211 Friedrich IV. von Wied, Bischof (um 1518–1568) 160 Friedrich Wilhelm III. von Preußen, König (1770/97–1840) 540, 542 Froben, Johann(es) (1460–1527) 174, 177, 179, 186, 240, 248 Gallus, Nikolaus (um 1516–1570) 512 Gattinara, Mercurino de (1465–1530) 251 Gebauer, Johann Justinus (1710–1772) 4 Geiler von Kaysersberg, Johannes (1445–1510) 59 Georg (der Bärtige) von Sachsen, Herzog (1471/1500–1539) 144, 147 f, 178, 211, 217, 310, 329 f Georg (der Fromme) von Brandenburg- Ansbach, Markgraf (1484–1543) 352 Georg III. (der Gottselige) von Anhalt- Dessau, Fürst (1507–1553) 385 Gerbel, Nikolaus (um 1485–1560) 300 Gerhard, Johann (1582–1637) 260, 518 Gerhardt, Paul (1607–1676) 284, 519 Gerson, Jean (Johannes) (1363–1429) 58, 64, 87, 342, 529 Glaser, Martin (gest. 1553) 24 f
596
Register
Gloccer, Georg (16. Jh.) 520 Goede, Henning (um 1450–1521) 209 Goertz, Hans-Jürgen (*1937) 170 Goethe, Johann Wolfgang von (1749– 1832) 524, 526, 535, 546–548 Goeze, Johann Melchior (1717–1786) 525 Gottschalk von Oldenstadt, Heino (16. Jh.) 75 Gottsched, Johann Christoph (1700–1766) 522, 533 Graetz, Heinrich (1817–1891) 260 Grane, Leif (1928–2000) 45, 87 Grave, Claes de (16. Jh.) 242 Green, Lowell C. (1925–2014) 49 Gregor I. (der Große), Papst (um 540/90–604) 65, 69, 124, 287, 331 Gregor von Rimini (um 1300–1358) 38, 66, 76, 86 f Greiff, Johann Jakob (1699–1767) 4 Grimm, Harold J. (1901–1983) 50 Grimm, Jacob (1785–1863) 18, 337 Grimm, Sigmund (um 1480–vor 1530) 142 Grimm, Wilhelm (1786–1859) 18, 337 Grisar, Hartmann (1845–1932) 29, 35, 49, 540 Gritsch, Eric (1931–2012) 49 Gropper, Johann(es) (1503–1559) 161 Grote, Geert (1340–1384) 59 Grundtvig, Nicolaj Frederik Severin (1783–1872) 45 Grunenberg, Johann (16. Jh.) 344 Grynaeus, Simon (1493–1541) 246 Günther, Franz (nach 1490–1528) 88, 170 Gustav I. Wasa von Schweden, König (1496/1523–1560) 244 Gutenberg, Johann (1394/99–1468) 39 Güttel, Kaspar (1471–1542) 335 Habakuk 368 Haga, Joar (*1973) 46 Hagen, Kenneth (1936–2014) 52 Hägglund, Bengt (1920–2015) 44 Haikola, Lauri (1917–1987) 46 Haile, Harry G. (*1957) 50 Hamilton, Patrick (um 1504–1528) 250 f Hamm, Berndt (*1945) 87 Härle, Wilfried (*1941) 474 Harleß, Adolf von (1806–1879) 542 f Harms, Claus (1778–1855) 542
Harnack, Adolf von (1851–1930) 28, 30, 544 Harnack, Theodosius (1817–1889) 543 f Harran, Marilyn (*1948) 52 Haslach, Kaspar (ca. 1485–ca. 1540) 143 Hätzer, Ludwig (um 1500–1529) 157, 159, 301 Haubitz, Asmus von (16. Jh.) 351 Hausrath, Adolf (1837–1909) 540 Hebel, Johann Peter (1760–1826) 548 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (1770– 1831) 537 f, 427, 543 Hegge, Jakob (* um 1490) 245 Heine (1797–1856) 538, 548 Heininen, Simo (*1943) 47 Heinrich (der Fromme) von Sachsen, Herzog (1473/1539–1541) 211, 217 Heinrich II. von Braunschweig-Wolfenbüttel, Herzog (1489/1514–1568) 316 f, 330 f Heinrich VIII. von England, König (1491/1509–1547) 56, 144, 150, 177 f, 250, 320, 326 f Heinrich von Zütphen (1488–1524) 244, 347 Helie, Paul(us) (um 1485–um 1535) 243 Hendrix, Scott (*1942) 49 f, 52 Henning, August (1746–1826) 547 Herder, Johann Gottfried (1744–1803) 522, 524–526, 535, 540, 546 f Hermann von Wied, Erzbischof (1477– 1552) 161 Herrig, Hans (1845–1892) 541 Herrmann, Wilhelm (1846–1922) 544 Heß, Johann(es) (1490–1547) 190 Hessus, Helius Eobanus (1488–1540) 91, 93, 209, 544 Heymann, Peter (16. Jh.) 288 Hieronymus (340/50–420) 65, 67–69, 107, 174 f, 367 Hilarius von Poitiers (um 315–um 366) 365 Hinlicky, Paul R. (*1952) 53 Hinrichs, Carl (1900–1962) 170 Hirsch, Emanuel (1888–1972) 30 f, 33 Hochhuth, Rolf (*1931) 549 Hoen, Cornelisz (gest. 1524) 189 f Hoffman, Melchior (um 1500–1543) 158– 161
Personen
Hoffmann, Johann Christian Konrad von (1810–1877) 543 Holbein, Hans, d.Ä. (um 1460–1524) 59 Holbein, Hans, d.J. (1497–1543) 288 Hölderlin, Friedrich (1770–1843) 547 Holl, Karl (1866–1926) 28–34, 37, 40, 42, 66, 170, 418, 487 Holm, Bo Kristian (*1970) 45 Homer (um 800 v. Chr.) 195 Honterus, Johannes (1498–1549) 247 Hoppe, Albert Friedrich (1828–1911) 48 f, 393 f Hosea 317, 368 Hubmaier, Balthasar (1485–1528) 157, 159 Huch, Ricarda (1864–1947) 548 f Huovinen, Eero (*1944) 47 Hus, Johann(es) (Jan) (1369–1415) 61, 124, 136 f, 143, 145, 147, 171, 247 f, 520 Hussen, Tilemann von (1497–1527) 383 Hut, Hans (um 1490–1527) 156, 157, 159, 172 Hutten, Ulrich von (1488–1523) 91, 109, 178, 222 Iffland, August Wilhelm (1759–1814) 548 Innocenz III., Papst (um 1160/98– 1216) 124 Irmischer, Johann Konrad (1797–1857) 5 Iserloh, Erwin (1915–1996) 35 f, 53 Iwand, Hans Joachim (1899–1960) 32 Jacobs, Henry Eyster (1844–1932) 48 Jan van Leiden (1509–1536) 160 Janssen, Johannes (1829–1891) 539 f Janz, Denis (*1949) 53 Jensen, Robert (*1958) 51 Jesaia 288 Jesus Christus 59, 62, 64, 75, 78, 81, 87, 116 f, 120, 123–133, 136, 138 f, 146, 153, 156, 159–161, 171, 176, 181, 183 f, 187–189, 191 f, 206, 214, 222, 224, 248, 254 f, 258, 266 f, 269, 281 f, 284, 286–288, 292 f, 295, 302–304, 306, 308–310, 312–315, 323, 325, 328 f, 331, 333 f, 336, 338, 341 f, 345, 353, 361, 363, 365, 368–371, 379, 399–403, 409–411, 413–415, 418, 422–439, 447–449, 451, 453–461, 464–477, 479–481, 487, 489, 495, 499 f, 503, 505 f, 508, 515, 517, 527 f, 534
597
Joachim I. von Anhalt, Fürst (1509–1561) 385 Joest, Wilfried (1914–1995) 32, 37, 443 Johann (der Beständige) von Sachsen, Kurfürst (1468/1525–1532) 21, 74, 171, 192, 203, 211, 215 f, 239, 385, 387 Johann Friedrich I. (der Großmütige) von Sachsen, Kurfürst (1503/32–1554) 3, 158, 171, 204, 211, 216 f, 239, 316, 343, 385, 510 Johann Friedrich II. von Sachsen, Herzog (1529–1595) 514 Johann(es) von Mecheln (16. Jh.) 72, 108 Johannes 284, 287 f, 415 Johannes Damascenus (um 650–vor 754) 365 Johannes der Täufer 130 f, 288 Johannes XXI., Papst (um 1205/76–1277) 85 Jona 368 Jonas, Justus (1493–1555) 20, 91, 115, 154, 181, 199, 209 f, 259, 264, 301, 349, 357, 379, 385, 388 f, 393 Joris, David (um 1501–1556) 156 Josel von Rosheim (1478–1554) 256, 260 Joseph II., Kaiser (1741/65–1790) 522 Jost, Lienhard (gest. nach 1549) 159 Jost, Ursula (gest. vor 1539) 159 Jud, Leo (1482–1542) 188 f Julius II., Papst (1443/1503–1513) 63, 286 Junghans, Helmar (1931–2010) 14, 213 Junghans, Reinhard (*1960) 352 Juntunen, Sammeli (*1964) 47 Kain 415 Kant, Immanuel (1724–1804) 523, 543 Kärkkäinen, Pekka (*1975) 47 Kärkkäinen, Veli-Matti (*1958) 47 Karl V., Kaiser (1500/19–1558) 24, 95, 98, 100 f, 110, 127, 182, 234–238, 246, 265, 331, 385, 510 f Karlstadt s. Bodenstein, Andreas Käser, Leonhard 1480–1527) 347 Kautsky, Karl (1854–1938) 169 Kemener, Timann (vor 1503–1526) 161 Kierkegaard, Søren (1813–1855) 538 Kittelson, James M. (1941–2003) 50, 52 Kjeldgaard-Pedersen, Steffen (*1946) 45 Kleist, Heinrich von (1777–1811) 536, 548
598
Register
Klenze, Leo von (1784–1864) 540 Klepper, Jochen (1903–1942) 284, 549 Kliefoth, Theodor (1810–1895) 48 Klingemann, Ernst August Friedrich (1777–1831) 536, 548 Klug, Joseph (gest. 1552) 375 Knopken, Andreas (um 1468–1539) 246 Kolb, Franz (1564–1535) 188 f Kolb, Robert (*1941) 50 König, Gustav (1808–1869) 541 Konstantin I. (der Große), Kaiser (um 280–337) 90 Köpf, Ulrich (*1941) 76 Körner, Theodor (1791–1813) 547 Korsch, Dietrich (*1949) 17 Köstlin, Julius (1862–1902) 49 Kotzebue, August von (1761–1819) 536 Krautwald, Valentin (um 1470–1545) 154, 334 Kroker, Ernst (1859–1927) 395 Küng, Hans (*1928) 37 Lang, Johann(es) (um 1487– 1548) 26, 68, 72, 108, 126, 248, 298 Laski, Johann(es) von (a Lasco) (1499–1560) 515 Latomus, Jacobus (1475–1544) 111, 149 f, 320, 325 f Lau, Franz (1907–1973) 169 Laukhard, Friedrich Christian (1757–1822) 547 Lauterbach, Anton (1502–1569) 204, 393, 395, 397 Lefévre d’Etaples, Jacques (1450/55–1536) 92, 249, 366 Lehmann, Helmut (1914–1998) 49 Lehnert, Christian (*1969) 549 Leibniz, Gottfried Wilhelm (1646–1716) 523 Leiden, Jan van s. Jan van Leiden Lemnius, Simon (1511–1550) 545 Lenker, John Nicholas (1858–1929) 48 Leo X., Papst (1475/1513–1521) 63, 132, 134 f, 150, 196, 262, 324, 385 Leo, Heinrich (1799–1878) 169 Leppin, Volker (*1966) 14 Lessing, Gotthold Ephraim (1729–1781) 524 f, 533, 545–547 Liesvelt, Jakob (gest. 1545) 243
Lilje, Hanns (1899–1977) 16 Linck, Wenzeslaus (1483–1547) 73, 136, 158, 357, 385 f, 390 Lindberg, Carter (*1937) 53 Listenius, Nicolaus (16. Jh.) 277 Loewenich, Walther von (1903–1992) 51 Løgstrup, Knut Eiler (1905–1981) 45 Lohmüller, Johann(es) (gest. vor 1560) 246 Lohse, Bernhard (1928–1997) 16, 32, 39, 50, 76, 352 Lönning, Inge (1938–2013) 46 Lönning, Per (*1928) 46 Lortz, Joseph (1887–1975) 35 f, 53 Lotther, Melchior (1490–1545) 205 Luder, Hans (1458–1530) 106 f Luder, Margarethe (um 1463–1531) 106 Lüdke, Friedrich Germanus (1730–1792) 522 Ludwig II. von Ungarn, König (1506/22–1526) 246 f Ludwig von Württemberg, Herzog (1554/68–1593) 517 Lufft, Hans (1496–1584) 205, 211, 344, 349 Lukas von Prag (1460–1528) 247 Lupi, Johannes (1506–1539) 348 Luther, Elisabeth (1527–1527) 113 Luther, Johannes (1526–1575) 113, 208, 210, 354, 385 Luther, Katharina s. Bora, Katharina von Luther, Magdalene (1529–1542) 113, 207, 295, 354, 387 Luther, Margarete (1534–1570) 113, 385 Luther, Martin, d.J. (1531–1676) 113 Luther, Paul (1533–1593) 13 Major, Georg (1502–1574) 3, 20, 69, 206 f, 388, 513 Mani (216–277) 180 Mann, Thomas (1875–1955) 548 f Mannermaa, Tuomo (1937–2015) 37, 46 f, 51 Manns, Peter (1923–1991) 46, 76 Mantuanus, Baptista (1447–1516) 22 Marbach, Johannes (1521–1581) 516 Margarethe von Braunschweig-Lüneburg (1573–1643) 340 f Margaritha, Anton(ius) (1522–1561) 257 f Marguerite de Navarre (1492–1549) 249 Maria 59, 124, 286 f, 315, 343, 345
Personen
Maria von Habsburg (1505–1558) 246 f Marius, Richard (1933–1999) 50 Maron, Gottfried (1928–2010) 170 Marschalk, Nikolaus (um 1470–1525) 91 Marx, Karl (1818–1883) 537 f Mathesius, Johannes (1504–1565) 20, 204, 248, 278, 379, 393 f, 397, 519 f Mattes, Mark (*1958) 51 Matthäus 415 Matthys, Jan (gest. 1534) 160 Mau, Rudolf (*1927) 383 Maurer, Ernstpeter (*1957) 16 Maurer, Wilhelm (1900–1981) 70, 79 Maximilian I., Kaiser (1459/1508– 1519) 63, 95, 105, 291 McSorley, Harry 53 Mehmet II., Sultan (1432–1481) 264 Melanchthon, Philipp (1497–1560) 3 f, 12, 18, 26, 36, 68 f, 88 f, 91 f, 108, 115, 127, 158–162, 167, 171, 173, 176, 183, 192–200, 203 f, 206, 208–210, 226, 237, 240, 243 f, 263 f, 274, 300 f, 320, 326, 329, 347, 351 f, 362, 374 f, 379 f, 383, 385, 387 f, 393, 410, 510–517, 519, 523, 528, 531, 542 Mendelssohn-Bartholdy, Felix (1809–1847) 284 Meseritz, Elisabeth von s. Cruciger, Elisabeth Methusalem 415 Meusel, Alfred (1896–1960) 170 Meyer, Conrad Ferdinand (1825–1898) 548 Micha 368 Mikkelsen, Hans (gest. 1532) 243 f Modalsli, Ole (1913–2006) 45 Moeller, Bernd (*1931) 39, 41 Mohammed (um 570–632) 266 f Moritz von Sachsen, Herzog/Kurfürst (1521/41–1553) 211, 218, 510–512 Morus, Thomas (1478–1535) 150, 176, 250 Mose 178, 288, 367, 370, 400, 409 f, 497, 545 Mossvidius (Maszwidas), Martin (um 1520–1563) 245 Mühlen, Karl-Heinz zur (1935–2012) 34, 79 Münster, Sebastian (1489–1552) 256, 343 Müntzer, Thomas (vor 1490–1525) 40, 112, 129, 151–153, 157–159, 162 f, 166 f, 169–173, 197, 222, 226, 262, 321, 332–334, 466, 549
599
Murner, Thomas (1475–1537) 149, 156, 220, 544 Musculus, Andreas (1514–1581) 163, 513 Nathin, Johannes (um 1450–1529) 88 Nauclerus, Johannes (1430–1510) 194 Nestorius von Konstantinopel (um 381–451/53) 163, 315 Nevin, John Williamson (1803–1886) 49 Nicol, Martin (*1943) 77 Nicolai, Friedrich (1733–1811) 533 Nicolai, Philipp (1556–1608) 519 Nietzsche, Friedrich (1844–1900) 43, 540, 548 f Nigrinus, Georg (1530–1602) 260 Nikolaus V., Papst (1397/1447–1455) 63 Nikolaus von Kues (1401–1464) 46, 64, 264, 348 Nikolaus von Lyra (um 1270–1340) 143, 256 f Nikolaus von Tudeschi (1386–1445) 134, 137 Nipperdey, Thomas (1927–1992) 170 Noah 123, 415 Novalis (1772–1801) 538, 547 Nygren, Anders (1890–1978) 42–45, 48 Oberman, Heiko Augustinus (1930–2001) 38–41, 50 f, 76, 85–87, 89 Ockham s. Wilhelm von Ockham Oekolampad, Johannes (1482–1531) 178, 154, 190, 192–195, 333 f, 428, 466 Opitz, Detlef (*1956) 549 Origenes (185–254) 69, 180, 371 Orosius, Paulus (gest. nach 418) 123 Osborne, John (1929–1994) 549 Osiander, Andreas (1498–1552) 244, 511, 515 Ostermayr, Wolfgang (16. Jh.) 71 Oswald, Hilton C. (1907–1998) 49 Otho, Anton (1505–1583) 163, 344, 513 Palladius, Petrus (Peder) (1503–1560) 244, 383 Paltz, Johannes von (1444/47–1511) 57, 78 Panormitanus s. Nikolaus von Tudeschi Paul III., Papst (1468/1534–1549) 258, 313, 320 Paul, Jean (1763–1825) 547
600
Register
Paulus 81, 132, 136, 282, 296, 303 f, 366, 369, 405, 415, 458, 489, 500, 505, 525, 545 Paulus von Burgos (um 1352–1435) 257 Pedersen, Christiern (um 1480–1554) 244 Pelagius (um 250–nach 480) 86 Pelikan, Jaroslav (1923–2006) 49 Pellikan, Konrad (1478–1556) 178 Pesch, Otto Hermann (1931–2014) 34, 36 Petri, Adam (1454–1527) 375 Petri, Olaus (1493–1552) 244 Petrus 136, 304, 323, 369 Petrus Lombardus (um 1100–1160) 26, 66, 88, 107, 365, 399 f, 432, 484, 486 Peucer, Caspar (1525–1602) 516 Peura, Simo (*1957) 47 Peutinger, Conrad (1465–1547) 141 Pfefferkorn, Johannes (1469–nach 1521) 91, 253 Pfeffinger, Johann(es) (1493–1573) 514 Pfeiffer, Heinrich (vor 1500–1525) 172 Philipp I. (der Großmütige) von Hessen, Landgraf (1504/18–1567) 114, 155, 160 f, 192, 199, 237, 316, 385, 388, 510 Philips, Obbe (um 1500–1568) 156 Piccolomini, Enea Silvio s. Pius II. Pico della Mirandola, Giovanni (1463–1494) 90, 143 Pierre d’Ailly (1350–1420) 64 Pietersz, Doen (um 1479–um 1532) 243 Pindar (522/18–nach 446 v. Chr.) 195 Pinomaa, Lennart (1901–1996) 46 Pirckheimer, Willibald (1467–1532) 140 f, 143, 382 Pius II., Papst (1405/58–1464) 62 f Planitz, Hans von der (1473/74–1535) 351 Platter, Thomas (1499–1582) 375 Plutarch (50–um 125) 195 Poach, Andreas (1516–1585) 163, 513 Poduška, Jan (16. Jh.) 248 Poliander, Johann (1487–1541) 245 Porète, Marguerite (um 1250/60–1310) 80 Posset, Franz (*1945) 82 Praepositus, Jacobus s. Propst, Jakob Praetorius, Abdias (1524–1573) 513 Praetorius, Michael (1571–1621) 284, 519 Preisner, Thomas (16. Jh.) 246 Prenter, Regin (1907–1990) 45, 51 Preus, James S. (1933–2001) 52 Prierias, Silvester Mazzolini (1456–1527) 133, 142, 145, 148, 320, 322, 325
Propst (Praepositus), Jakob (Jacobus) (gest. 1562) 27, 242, 385 Quintilian (um 30–um 96) 18, 291 f Rabus, Ludwig (1524–1592) 204 Rahner, Karl (1904–1984) 46 Ranke, Leopold von (1795–1886) 538 f Rapagelanus, Stanislaus (um 1485–1545) 245 Rasmussen, Tarald (*1949) 45 f Ratzeberger, Matthäus (1501–1559) 278 Raunio, Antti (*1976) 47 Rebenstock, Peter (16. Jh.) 397 Reinhard, Franz Volkmar (1753–1812) 534, 540 Reuchlin, Johannes (1455–1522) 91, 194 f, 253 f, 258, 298, 366 Rhadino, Tommaso (16. Jh.) 196 Rhaw, Georg (1488–1548) 277, 281 Rhegius, Urbanus (1489–1541) 160, 173, 259, 349 Rhenanus, Beatus (1485–1547) 186 Ricoldus de Montecrucis (um 1243–1320) 264 Riemann, Heinrich Herrmann (1793–1872) 536 Rietschel, Ernst (1804–1861) 541 Rinck, Wilhelm (1527–1545) 157 Rinckart, Martin (1586–1649) 545 Ritschl, Albrecht (1822–1889) 418, 543 f Rode, Hinne (gest. 1535) 189 Rörer, Georg (1492–1557) 3, 27, 206, 210 f, 301, 350, 359, 362, 383, 389, 393, 518 Rosenberg, Alfred (1893–1946) 31, 79 Rosenkranz, Karl (1805–1879) 80 Rosheim, Josel von s. Josel von Rosheim Roth, Stephan (1493–1546) 360 Rothmann, Bernhard (um 1495–1535) 159–161 Roždalovský, Václav (16. Jh.) 248 Rubeanus s. Crotus Rubeanus Rückert, Hanns (1901–1974) 30, 32 Rue, Pierre de la (gest. 1518) 278 Rufus, Conradus Mutianus (ca. 1470–1526) 140 Rufus, Mutianus (1471–1526) 91 Ruh, Kurt (1914–2002) 79, 83 Rühel, Johann (1518–1543) 287 Rupsch, Konrad (um 1475–1530) 278
Personen
Saarinen, Risto (*1959) 47 f Saarnivaara, Uuras (1908–1998) 51 Sachs, Hans (1494–1576) 127, 545 Sagittarius, Johann Christfried (1617–1689) 3 Salomo 368 Sand, Carl Ludwig (1795–1820) 536 Savonarola, Girolamo (1452–1498) 251 Schadow, Johann Gottfried (1764–1850) 493, 540 Schaff, Philip (1819–1893) 49 Schalbe, Familie 106 Schart, Marx (Markus) (gest. 1529) 342 Schatzgeyer, Kaspar (1463/64–1527) 149, 220 Schenck, Jakob (um 1508–1546) 163 Scheurl, Christoph (1481–1542) 140 Schiller, Friedrich (1759–1805) 535 Schilling, Johannes (*1951) 17 Schinkel, Karl Friedrich (1781–1841) 540 Schirlentz, Nikolaus (1521–1545) 350 Schlaginhaufen, Johann(es) (gest. um 1560) 204, 393 f Schlegel, August Wilhelm (1767–1845) 538 Schlegel, Friedrich (1772–1829) 538 Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst (1768–1934) 542 Schlick zu Falkenau, Stefan, Graf (1487–1526) 248, 256 Schorch, Heinrich (1777–1822) 536, 548 Schottel, Justus Georg (1612–1676) 519 Schroeckh, Johann Matthias (1733–1808) 526, 528 f Schumacher, William (*1957) 51 Schurf(f), Hieronymus (1481–1554) 351 Schütz, Heinrich (1585–1672) 284, 519 Schütz, Helga (*1937) 549 Schwarz, Reinhard (*1929) 39 f, 76, 170 Schwarzenberg, Johann von (1463–1528) 114 Schwebel, Johannes (um 1490–1540) 196 Schwenckfeld von Ossig, Kaspar (1489–1561) 152, 154 f, 190, 198, 319, 334, 345, 428, 466, 530 Schwiebert, Ernes (1895–2000) 49 Seebaß, Gottfried (1937–2008) 170 Seeberg, Erich (1888–1945) 31, 33 Seeberg, Reinhold (1859–1935) 38 Seidemann, Johann Carl (1807–1879) 169, 395
601
Selfisch, Samuel (1529–1615) 205 Selnecker, Nikolaus (1530–1592) 260, 520 Semler, Johann Salomo (1725–1791) 529–531 Senfl, Ludwig (1492–um 1555) 278, 280, 282 Servet, Michael (1511–1553) 154 Seversz, Jan (gest. 1524) 242, 375 Shirer, William (1904–1993) 51 Sieberger, Wolf (gest. 1547) 357 Siemon-Netto, Uwe (*1936) 51 Siggins, Ian D.K. 53 Sigismund I. von Polen, König (1467–1548) 61, 245 Silvester I., röm. Bischof (gest. 335) 90 Simler, Georg (1480–1535/36) 194 Sixtus IV., Papst (1414/71–1484) 133 Skytte, Martin (um 1460–1550) 244 Smirin, Moissej Mendeleewitsch (1895–1975) 170 Smith, Preserved (1880–1941) 49 Sommer, Wolfgang (*1939) 213 Sorge, Reinhard Johannes (1892–1916) 548 Spalatin, Georg (1484–1545) 69, 73 f, 91, 141, 174 f, 181, 204, 213, 215, 343 f, 357, 375, 385 f, 389, 503 Spalding, Johann Joachim (1714–1804) 529, 531 f Spangenberg, Cyriakus (1528–1604) 520 Spener, Philipp Jakob (1635–1705) 255, 260, 521, 533 Spengler, Lazarus (1479–1534) 274, 346, 388, 544 Speratus, Paul (1484–1551) 245, 248 Spitz, Lewis W. (1922–1999) 49, 51 f Stadion, Christoph von (1478–1543) 141 Stancaro, Francesco (1501–1574) 515 Stapulensis, Jacobus Faber s. Lefévre d’Etaples, Jacques Staupitz, Johann(es) von (um 1469–1524) 57, 71–73, 80 f, 107 f, 141, 200, 214, 342, 365, 428, 494 Steinhausen, Georg (1866–1933) 390 Steinhöwel, Heinrich (1412–1483) 356 Steinmetz, David (1936–2015) 50, 52 Stifel, Michael (1487–1567) 127, 129, 155 f Stjerna, Kirsi (*1963) 47 Stöckhardt, Georg (1842–1913) 48 Stockhausen, Jonas von (16. Jh.) 388 Stoeffler, Johannes (1452–1531) 194
602
Register
Stolt, Birgit (*1927) 44 Storch, Nikolaus (vor 1500–um 1536) 151 Strauss, Gerald (1922–2006) 52 f Strigel, Victorinus (1524–1569) 514 Strindberg, August (1849–1912) 548 Stüler, Friedrich August (1800–1865) 541 Sturm, Hans (1507–1589) 158 Süleyman II., Sultan (um 1495/1520–1566) 262, 264 Süße, Lorenz (16. Jh.) 171 Tauler, Johannes (um 1300–1361) 80 f, 83, 153, 157, 163, 170, 339, 431, 529 Terenz (gest. 159 v. Chr.) 195 Tetzel, Johann (um 1465–1519) 133, 145, 322 Thomae, Markus, gen. Stübner (gest. 1522) 151 Thomas von Aquin (um 1225–1274) 36, 53, 84, 86, 146, 445, 486 Thomasius, Gottfried (1802–1875) 543 Tiililä, Osmo (1904–1972) 46 Tortsch, Johannes (vor 1400–1445/46) 64 Tory, Geoffroy (um 1480–1533) 288 Träger (Treger), Konrad (ca. 1480–1542) 141 Treitschke, Heinrich von (1834–1896) 540 Troeltsch, Ernst (1865–1923) 29, 152 Truttfetter, Jodokus (um 1460–1519) 84, 92, 106 Tschudi, Peter (gest. 1532) 248 Tyndale, William (1494–1536) 249 f Unruhe, Anton (16. Jh.) 388 Vainio, Olli-Pekka (*1976) 47 f Valdès, Alfonso de (um 1490–1532) 251 Valdès, Juan de (um 1500–1541) 251 Valla, Lorenzo (1407–1457) 90, 180, 251 Verböczy, Stefan (16. Jh.) 246 Vergil (70–19 v. Chr.) 130 Vidoué, Pierre (gest. 1543) 375 Vilmar, August Friedrich Christian (1800–1868) 542 Vind, Anna (*1970) 45 Voes, Hendrik (gest. 1523) 243 Vogelsang, Erich (1904–1944) 80
Wackenroder, Wilhelm Heinrich (1773–1798) 538 Walch, Johann Georg (1693–1775) 4, 48, 394 Wallmann, Johannes (*1930) 167 Walter, Johann (1496–1570) 279, 281–283 Walther, Carl Ferdinand Wilhelm (1811–1887) 48 Wartenberg, Günther (1943–2007) 213 Watson, Philip (1909–1983) 51 Weller, Hieronymus (1499–1572) 204 Werner, Friedrich Ludwig Zacharias (1768–1823) 536, 547 f Westphal, Joachim (um 1510–1574) 512, 515 Wicks, Jared (*1929) 53 Wilhelm von Ockham (um 1285–1349) 85–89, 107, 365, 529 Wimpfeling, Jakob (1450–1528) 63 Wimpina, Konrad (um 1460–1531) 133, 145 Wingren, Gustaf (1910–2000) 44, 51 Winter, Christiern (16. Jh.) 243 Witzel, Georg (1501–1573) 161 Wolf, Ernst (1902–1971) 31 Wolsey, Thomas (um 1474–1530) 250 Wulff von Kampen, Johann (gest. 1535) 161 Wyclif, John (um 1320–1384) 61, 145, 180, 334 Zanchi, Hieronymus (1516–1590) 516 Zasius, Ulrich (1461–1535) 186 Zedler, Johann Heinrich (1706–1751) 4, 521 Zeeden, Ernst Walter (1916–2011) 285 Zell, Matthäus (1477–1548) 154 Zelter, Carl Friedrich (1758–1832) 548 Zerbold von Zutphen, Gerhard (1367–1398) 83 Zomere, Lieven de (16. Jh.) 243 Zumkeller, Adolar (1915–2011) 76 Zwilling, Gabriel (um 1487–1558) 73 Zwingli, Ulrich (Huldrych, Huldreich) (1484–1531) 4, 70, 85, 89 f, 113 f, 154, 157, 159, 176, 184–193, 198, 208, 264, 286, 312 f, 333 f, 387, 428, 432, 466, 491, 515, 523, 530, 542
Sachen
603
Sachen Abendmahl 113 f, 187, 308, 327, 462–471 Abendmahlskelch 308 Abendmahlslehre 198 f, 313, 379 Abendmahlslehre, spiritualistische 159 Abendmahlsstreit 153, 184 f, 187–192, 312, 333 f, 369, 514 Ablass 116, 118, 132–134, 134 Ablassfrage 127 Ablasskritik 144 f, 176 Ablassstreit 109 Ablassthesen 318, 322 Ablasswesen 306 Absolution 464 Adiaphora 210, 284, 511 f Allegorese 366 Allegorien 371 Allgegenwart 191, 313 allgemein – Schulpflicht 311 – Priestertum 83, 165, 307, 310, 324, 457 f Allmacht Gottes 86 Altarsakrament 326 Amtsgewalt, päpstliche 324 f Amtsträger 458 Amtsvollmacht, päpstliche 147 Anfechtung 281, 407, 429, 485 Anrede Gottes 400 f, 404 f Anrufung der Heiligen 329 Anthropologie 274, 439–451 Antichrist 136 f, 223, 268, 314, 319, 323, 325, 331, 460 f – bikephaler 263 Antiklerikalismus 58, 64 Antinomer 161–163, 336 Antinomismus 207 f, 335 Antipapalismus 139 Antithetik 499 Antitrinitarier 161 aptum 292 f Argumentationsfähigkeit 374 Armenfürsorge 202 f Artes-Fakultät 84, 88 Auferstehung – aller Toten 484, 505 f – Christi 491 – Tod und 491 Aufklärung 520–534
Aufruhrvorwurf 330 Augsburger Reichstag 197 Augustinereremiten 57, 71, 76, 86, 92, 107, 200 Auslegung der Schrift 124, 137 – christozentrische 367 äußere – Klarheit 441 – Wort 403 Autorität der Schrift 179, 322 Autoritätsfrage 145 Baltikum 246 Bann 137 f Bannandrohungsbulle 109 f, 137, 141, 153, 243, 249, 323 f Bannbulle 73, 137 f, 241 Bauern 165–169 Bauernkrieg 113, 166–169, 173, 197, 226 f Bauernschaft 165 Beichtspiegel 343 Bekenntnisbildung 354 Berufsethik 368 Beten 345 f Bettelorden 58, 65, 373 Bewegung, reformatorische 223–227 Bibel 108, 155 f, 322, 324, 400, 403, 413 f, 493–398, 504, 506 (s. a. Schrift) – als Lehrnorm 145 – Gesamtverständnis der 303 – hebräische 300 – Konzentration auf die 195 – Mitte der 319, 400 – Übersetzung der 196 – Verständnis der 150, 401 – Zürcher 301 Bibelauslegung 148 (s. a. Schrift, Auslegung der) Bibeldruck 205 Bibelgebrauch 497 f Bibelhermeneutik 253 Bibellektüre 92 Bibelübersetzung 196, 298–306, 328, 400, 518 Bibelzitat, gemaltes 287 Bibelzitate 497 biblische Sachkritik 495
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Register
Bier 203 bikephaler Antichrist 263 Bilder 284 f, 287 Bilderverbot 286, 333 Bildung 270–276, 311 – Mädchen 312 Bildungsfeindlichkeit 273, 275 Bildungsgang Luthers 106 Bildungskritik 273 Bildungspflicht 271, 273 Bildungsreform 270, 272, 275 Bildungsunwilligkeit 274 f Bildungswesen 271, 312 Bischofsamt 326, 459 Böhmen 247 f Böses, Ursprung des 328 Briefe Luthers 384–391 Briefgutachten 216 Buch der Natur 411 Buchdruck 2, 66 Bücherverbote 241 Buchstabe und Geist 324, 500 Bündnispolitik 240 Buße 81, 92, 116–120, 175, 306, 308, 314, 368, 463 christlich – Freiheit 151, 309, 343 – Mönchtum 310 Christologie 32, 120, 155, 402 f, 414, 428 f, 432, 435 f – und Soteriologie 431 christologische Deutung 302, 414 christozentrische Auslegung 367 Christozentrismus 44 Christusnachfolge 156 Christusoffenbarung 447, 449, 471–477, 479–481 claritas externa und interna 181 (s. a. Klarheit) cooperatio 443, 449 coram 502 Dänemark 243 f Darstellung der Rechtfertigungslehre 288 Daseinsgewissheit 446, 449, 472 f, 477 Daseinszumutung 481 f Dekalog 350, 367 Demut 82
Demütigung 81 deutsche Schriftentwicklung 21 Deutung, christologische 302, 414 devotio moderna 59, 83, 106, 242 f Disputation 109 – Leipziger 68, 136 f Disputationen Luthers 372–384 Doktoreid 108, 128 Dolmetscher 302 Doppelehe 199, 387 f Dreiständelehre 168 Druckereien 205 Druckersprachen 290 Dunkelmännerbriefe 91 f, 140 Durchbruch, reformatorischer 34, 117 Ehe 341, 431 eigene Sprache 302 Einheit der Schrift 495 Ekklesiologie 139, 184, 316, 451–462 Eltern 271, 274, 342 Endchrist s. Antichrist Ende der Geschichte 122 f England 249 f Erbauung 336–338, 340, 343 Erbauungsschriften 109, 320, 336–348 Erbsünde 159 Erfahrung 75, 78, 122, 221, 364, 438, 496, 503–508 – geschichtliche 168, 223 Erfahrungstheologie 328 Erinnerungskultur, evangelische 346 f Erkenntnis, reformatorische 33 Erlösung 489 f Erwählungsgedanken 254 Erziehung 57, 271, 273, 275 – schulische 274 Erziehungskonzept 274 Ethik 120 – des Politischen 272 europäische Universität 398 evangelisch – Erinnerungskultur 346 f – Glaubensbewusstsein 150 Evangelium 133, 314, 363, 400, 439, 451 f, 455 f, 461–463 – Gabe des 401 – Gesetz und 30, 52, 81, 83, 118 f, 151, 162, 227, 252, 324, 333, 335, 401, 404–406, 416, 422, 427, 499–502, 507
Sachen
– Wahrheit des 441 – Wiederentdeckung des 122, 202 ewiges Leben 485 Exegese 367 Exkommunikation Luthers 110, 147 Fabeln 355–357 Fegefeuer 133 Finnland 243 f Finsternis, Mächte der 319 Fleisch und Geist 272 Flugschriften 219–223, 227 Frankreich 248 f freier Wille 180 f, 313, 327, 404, 513 (s. a. Willensfreiheit) Freiheit, christliche 151, 309, 343 Freiheitsthema 308–310 freundliche Larve 409 fröhlicher Wechsel 309, 423, 431 Frömmigkeitskultur, lutherische 518 f Fühlen 439 Fürbitte 257 Fürstenrat 101 f Fürstenspiegel 343 Gabe des Evangeliums 401 ganzer Mensch 500 Gebet 344, 346, 406 f, 457 Gefühl 440 Gehorsam 231, 458 Geist – Buchstabe und 324, 500 – Fleisch und 272 – heiliger 151, 439–442, 452–456 geistliches Lied 279, 283, 353, 355 Gelassenheit, weltliche 368 Gelehrtenstreit 321 gemaltes Bibelzitat 287 Gemeinde 452 f, 455, 458 – Neuordnung der 369 Gemeiner Kasten 203 Gemeinschaft der Glaubenden 120 f, 461 – mit Gott 399 Genugtuung, stellvertretende 429 Gerechtigkeit Gottes 119, 366, 421 f Gerechtsprechung 420 Gericht, Jüngstes 484 f, 492 Gesamtverständnis der Bibel 303 Geschichte 122, 125
605
– Ende der 122 f geschichtliche Erfahrung 168, 223 Geschichtstabelle 124 Geschöpf 475 Gesetz 314, 425–427 – und Evangelium 30, 52, 81, 83, 118 f, 151, 162, 227, 252, 324, 333, 335, 401, 404–406, 416, 422, 427, 499–502, 507 – Lehre vom 162 f, 427 Gesetzesgerechtigkeit 174 Gesetzespredigt 207 Gewissen 112, 118, 221, 230, 232, 310, 331, 338, 404, 414, 439, 446, 450, 473, 481, 492, 507 – gutes 166 – Tröstung der 341 Gewissensbildung 362 Gewissenserfahrung 508 Gewissensnot 221 Gewissheit 440, 442, 447, 462, 484 – des Glaubens 483 (s. a. Glaubensgewissheit) Glaube 118, 191, 309, 365, 369, 401–405, 417, 421–425, 441 f, 444–447, 462 f, 470, 477, 506 – Gewissheit des 483 – Leben des 479–484 – Sprachschule des 296, 496 – und Gott 424 f – und Liebe 426 – und Rechtfertigung 418–428 – und Vergebung 398 – und Vernunft 404–406 – Verheißung und 422 – Wort und 308 Glaubende, Gemeinschaft der 120 f, 461 Glaubensbewusstsein 336 – evangelisches 150 Glaubenserfahrung 504, 508 Glaubensgerechtigkeit 185, 335 Glaubensgewissheit 146, 181, 191, 443–445, 480 f (s. a. Gewissheit des Glaubens) Glaubensspaltung 56 Glossen 366 f Gnade Gottes 420, 466 Gnadenlehre 86, 88 Gnadenmittel 466 f Gnadentheologie 92
606
Register
Gnadenverständnis 186, 325 Gott – Allmacht 86 – Anrede 300 f, 404 f – Gemeinschaft mit 399 – Gerechtigkeit 119, 366, 421 f – Glaube und 424 f – Gnade 420, 466 – Handeln 120, 125 – Macht 443 – Reich 491 – Relationalität 408 – Strafe 264 – Tod 315 – und Mensch 401 f, 429, 435–437 – verborgener 120, 408, 438 – Wirken 411 – Wort 33, 52, 119, 127, 130, 133, 191, 225, 268, 272, 289, 294, 335, 406, 408–418, 452, 455–458 – Zorn 253, 257 – Zusage 464 f, 468 – zwei Regierweisen 475 f Gottesbegriff 181 Gottesbeziehung 119, 223, 327, 417 Gottesdienst 311 Gottesdienstordnung 226 Gotteserfahrung 182, 332 Gotteserkenntnis 404 Gottesgemeinschaft 405, 424–426 Gotteslehre 89 Gottesverhältnis 117 f, 121, 180 f, 224, 421, 425 göttlich – Gnade 466 – Recht 165 Grammatik 312 Gutachten 386, 388 gut – Gewissen 166 – Werke 159, 210, 513
heilig – Geist 151, 439–442, 452–456 – Schrift 271, 456 Heiligung 156 Heilmittel 460, 462, 468 Heilsgeschichte 418 heilsgeschichtliche Prägung der Theologie 399 f Heilstreppe 59, 364 Heilsungewissheit 60 Heilszielstrebigkeit 447–451, 475, 478–482 Heilszueignung 120 Heilszusage 464 f Heirat Luthers 112 Hermeneutik 42, 370 hermeneutische Reflexionen 301 Herrschaft Christi 171 Herz 294 f, 439, 446, 450, 473 Historisierung Luthers 38–40 Hoffnung 484–493 Hölle 492 Humanismus 22, 66, 90–93, 144, 173, 175, 182, 328 humanistische Wissenschaften 177 Hussiten 62
Hamartiologie 314 Handeln Gottes 120, 125 Handschrift 21–28 Hausvater 352–354 hebräische Bibel 300 Heilige 59 – Anrufung der 329
Kaiser 95–98, 100–102 Kanonfrage 153 Kanonisierungsprozess 545 Kasten, Gemeiner 203 Katechismen 348–355 Katechismuslieder 356 Kennzeichen der Kirche 454 f
Idiomenkommunikation 191, 313, 431–433, 438 Ikonographie 222 innere Klarheit 441 innerlutherische Lehrstreitigkeiten 512– 516 Ironie 319 Islam 263–269 Italien 251 Juden 252–262 jüdische Schriftauslegung 253 Jüngster Tag 129 f, 462, 484 Jüngstes Gericht 484 f, 492 Jurisdiktion, päpstliche 322
Sachen
Ketzer 160 Kinder 342 Kindertaufe 156–158, 196, 314, 335 Kindheit, Wahrnehmung der 385 Kirche 120 f, 140, 322, 399, 420, 451–462 – Kennzeichen der 454 f – sichtbare 456–459 – verborgene 453 f, 460 – wahre 155, 316, 325 – wahre und falsche 329 f, 456, 460 f Kirchenausstattung 286 f Kirchenbau 285 Kirchenbau, reformatorischer 363 Kirchengeschichte 136 Kirchenkritik 241 Kirchenkunst, lutherische 289 Kirchenrecht 110 Kirchenreform 60–65 Kirchenreformprogramm 177 Kirchenspaltung 182, 332 Kirchenstruktur, reformatorische 215 Kirchenväter 65–71, 92, 107 f, 315 Klarheit – äußere und innere 441 – der Schrift 181, 256, 413 – des Schriftsinns 327 Kollektivgutachten 239 Königswahl 100 Konsistorium, Wittenberger 208 f Kontroverstheologen 147, 229, 321 Konversionsbemühen 256 Konzentration auf die Bibel 195 Konzil 137 Konziliarismus 58, 61 f, 307 Konzilien 315 Koran 267 Körper und Seele 444 Krankheiten Luthers 114 Kreaturen, Worthaftigkeit der 413 Kreatürliches, Wertschätzung des 277 Kreuz 423, 429, 431 Kreuzestheologie 109 Kreuzzug 266 Kulturfeindlichkeit 196 Kunst 284–289 – des Sterbens 342 Kurfürsten 98 f Kurfürstenrat 101 kurialer Zentralismus 61
607
Laienbibel 176 Laienfrömmigkeit 108 Laienkelch 320 Landstände 100 Larve 409 Leben – des Glaubens 479–484 – ewiges 485 Lebensführung, rationale 477 Lehrautorität 184 Lehre – reformatorische 372 – vom Gesetz 162 f, 427 Lehrnorm, Bibel als 145 Lehrstreitigkeiten, innerlutherische 512– 516 Lehrvollmacht des Papstes 322 Leiblichkeit 151 Leiden Christi 341 Leipzig – Disputation 68, 136 f – Teilung 200, 212 Leucorea 200 f, 204 f, 208 Liebe, Glaube und 426 Lied 277 f, 355 – geistliches 279, 283, 353, 355 Literalsinn 255, 370 Lüge, Wahrheit und 294 Lutherautographen 27 Lutherbild 28 f Lutherbilder 519 f Luther-Dramen 545, 548 Luther-Festspiele 549 Luther-Gesellschaft 19, 30 lutherisch – Frömmigkeitskultur 518 f – Kirchenkunst 289 Luther-Portraits 288 Luther-Renaissance 28–31 Lutherrezeption 228, 242 Luther-Sagen 545 Luthersprache 290 Macht 447–449 – des Menschen 443 – Gottes 443 Mächte der Finsternis 319 Mädchen-Bildung 312 Majoristischer Streit 513
608 Marburger Religionsgespräch 379 Meditation 407 Memorialkultur 540–542 Mensch 439–451, 502 f – ganzer 400 – Gott und 401 f, 429, 435–437 – Macht des 443 – Natur des 443 – Würde des 120 menschliche Selbstbestimmung 440 f Messe – Missbrauch der 308 – päpstliche 314 Messopfer 187, 326 f Missbrauch der Messe 308 Mitte der Bibel 319, 400 modus loquendi scripturae 293, 410, 496, 499 f modus loquendi theologicus 181 Mönchsgelübde 73, 310 Mönchtum 71–78, 310, 314, 463 Monopol der Schriftauslegung 307 Motivforschung 43 Musik 276–284 Mystik 78–84 Naherwartung 304 Nationalkonzil 236, 238 Natur 434–436 – Buch der 411 – des Menschen 443 Naturgesetz 479 f neue Sprache 295 f, 437 Neuordnung der Gemeinde 369 Niederlande 242 f Nominalismus 84 f Nordamerika 48–54 Norwegen 243 f notae ecclesiae s. Kennzeichen der Kirche Obrigkeit 231–235, 255, 273, 310 f – weltliche 213 öffentliche Verkündigung 458 Öffentlichkeit 321 – reformatorische 219 Omnipräsenz 432 Ordination 458 f Osiandrischer Streit 514
Register
Pädagogik 270, 274 Pantheismus 155 Papst 138 f, 268, 307, 323, 459 – Lehrvollmacht des 322 Papstautorität 136 Papstgeschichte 136 Papstkirche 321, 327–331 päpstlich – Amtsgewalt 324 f – Amtsvollmacht 147 – Jurisdiktion 322 – Messe 314 Papsttum 131–140, 314, 319 Parodie 334 Patenamt 351 Personalität 449 Philologie 271 Polemik 318–322, 329 Polen 245 Politisches, Ethik des 272 Postillen 360 f Prädestinationslehre 86 Präsenz Christi 424 Predigt 221, 224, 403, 460 Predigten Luthers 202, 358–365 Predigtstreik 113, 360 Predigtverständnis 415 Predigtwort 415 f Preußen 244–246 Priester 457 Priestertum, allgemeinés 83, 165, 307, 310, 324, 457 f Promotionsakt 383 Promotionsdisputation 372 f Propheten, Zwickauer 151 Psalmenlieder 355 Psalter 366 f, 370, 400 Randbemerkungen 305 rationale Lebensführung 477 Realpräsenz 188, 314, 432, 470 Recht, göttliches 165 Rechtfertigung 451 – Glaube und 418–428 – und Stellvertretung 422–424 – und Werke 425 f Rechtfertigungslehre 32 f, 36, 198, 208, 210, 272, 384, 418–421, 425 – Darstellung der 288
Sachen
Reformationsjubiläum 5, 8 Reformatorengruppe, Wittenberger 206– 211 reformatorisch – Bewegung 223–227 – Durchbruch 34, 117 – Erkenntnis 33 – Kirchenbau 363 – Kirchenstruktur 215 – Lehre 372 – Öffentlichkeit 219 – Wende 116 Regierweisen Gottes, zwei 475 f Reich – der Welt 93 – Gottes 491 Reiche, zwei 474–477 Reichsabschied 103 Reichsbischöfe 233 Reichskammergericht 105 Reichsreform 95 Reichsstädte 99 Reichsstände 98 f, 236 Reichstag 94, 101–104 – Augsburger 197 Relationalität Gottes 408 Religionsgespräch, Marburger 379 Religionsgespräche 114, 199 Religiosität 56–60 Reliquien 58 Reliquiensammlung 201, 203 Renaissance 90 Reue 81, 118 Revisionsarbeit 301 Rhetorik 123, 292, 317 – Christi 292 Rhythmus, Semantik des 292 Richtstuhl Christi 172 Rufmord 293 Sabbatarier 256 Sachkritik, biblische 495 Sakramente 120, 224, 403, 456, 460, 462–471 Sakramentenlehre 86 Sakramentsverständnis 307 Sarkasmus 319 Säuglingstaufe 465 f, 468 Schlüsselgewalt 139
609
Schmalkaldisch – Bund 114, 198 – Krieg 510–512 Scholastik 67, 87 f, 109, 145 Scholien 366 f Schöpfer 440, 443, 446–450, 472, 476 Schöpfung 30, 44 f, 166 Schöpfungslehre 411, 413 Schöpfungswort 410, 412 Schottland 250 f Schreibsprache 290 Schrift (s.a. Bibel) – Auslegung der 124, 137 – Autorität der 179, 322 – Einheit der 495 – heilige 271, 456 – Klarheit der 181, 256, 413 – Wortsinn der 324 – Zentrum der 304 Schriftauslegung 252, 273, 399, 493–498 – jüdische 253 – Monopol der 307 Schriftbeweis 254, 498 Schriftbild 24 Schriftentwicklung, deutsche 21 Schriftgebrauch, vierfacher 300 Schriftprinzip 68, 176, 182, 229–231 Schriftsinn – Klarheit des 327 – vierfacher 32, 366 Schule 283 Schülerschaft, strukturelle 533 schulische Erziehung 274 Schulpflicht, allgemeine 311 Schulreform 273 Schulwesen 207, 270, 311 f Schwan 124, 520 Schwärmer 151 f Schweden 243 f Seele 445 f, 472 f – Körper und 444 Selbstbestimmung, menschliche 440 f Selbstjustiz 166 Selbstsucht 405 Selbstverständnis Luthers 122–130, 319 Semantik des Rhythmus 292 Sermon 340–342 sichtbare Kirche 456–459 Siebenbürgen 246
610
Register
Siebenkopf 127, 148 Siegel Luthers 388 Singen 278 f Singfähigkeit 277 Skandinavien 42–48, 243 f Skeptizismus 182, 327 f sodalitates 90 f, 93 Soteriologie 51, 428–430 – Christologie und 431 Spanien 251 Spätscholastik 67 Spiritualismus 157 Spiritualisten 152–156 spiritualistische Abendmahlslehre 159 Sprache – eigene 302 – Luthers 18, 289–296 – neue 295 f, 437 – Verständnis der 283 Sprachfähigkeit 293 Sprachschule des Glaubens 296, 496 Sprechsprache 290 Sprichwörtersammlung 357 Sprichwortschatz 505 Städte 90 f Städterat 102 Stadtreformation 225, 229 Stände 478, 480, 483 stellvertretende Genugtuung 429 Stellvertretung 423, 429 – Rechtfertigung und 422–424 Sterben, Kunst des 342 Stiftungen 285 f Strafe Gottes 264 Streit – Majoristischer 513 – Osiandrischer 514 – synergistischer 513 Streitschriften 145 Streittheologe 318–320 strukturelle Schülerschaft 533 Studienordnung 196 f Sünde 119, 179, 325 f, 365, 368, 425, 430 f, 453, 476, 490, 500 Sünden, Übernahme der 423 Sündenerfahrung 336 Sündenvergebung 308, 333 Sünder 402 Synekdoche 437
synergistischer Streit 513 Tag, Jüngster 129 f, 462, 484 Taufe 308, 323, 462–471 Täufer 155–161, 334 f Täufertum 154 Tauflehre 314 Täufling 465, 468 Testament Luthers 130 Teufel 172, 316, 319, 491, 496, 501 Theodizee 328 Theologie, heilsgeschichtliche Prägung der 399 f Theosis 47, 70, 82, 425 Thesenanschlag 36, 41, 126 Tischreden 391–397 Tod 342 – Gottes 315 – Jesu 423 – und Auferstehung 491 Todesstrafe 158 Toleranz 252, 267 Tote, Auferstehung der 484, 505 f Traditionsprinzip 494 Translation 123, 232 f, 331 Transsubstantiationslehre 308, 312 Trinität 313 Trinitätslehre 314, 402, 500, 510 f Tropus 189 Trostbriefe Luthers 388 f Trostschriften 343 f Tröstung der Gewissen 341 Türken 262–269 Übernahme der Sünden 423 Übersetzung der Bibel 196 (s. a. Bibelübersetzung) Übersetzungen 3, 299 Übersetzungskunst 299 Ubiquität 313, 334 Unfreiheit des Willens 328 Ungarn 246 f Unglaube 368, 417, 477–479 unio 82 f, 313, 417 Universalien 84 f Universität 84–90 – europäische 398 Universitätsreform 204, 271, 307 Unruhen, Wittenberger 111, 196
Sachen
Unterrichtswesen 273 Unterscheidungslehre 499–503 Urkirche 157 Ursprung des Bösen 328 verborgen – Gott 120, 408, 438 – Kirche 453 f, 460 Vergebung 117 – Glaube und 398 Vergebungserfahrung 414 Vergottung 47, 70, 82, 425 Verheißung und Glaube 422 Verkündigung 467 – öffentliche 458 Vernunft 409, 494, 503 – Glaube und 404–406 Vernunftgründe 190 Versöhnung 427–429 Versöhnungslehre 43 Verständnis – der Bibel 401 – der Sprache 283 Verstehen der Bibel 150 via moderna 84 f, 87, 89, 92 vierfach – Schriftgebrauch 300 – Schriftsinn 32, 366 Visitationen 112, 197, 351, 459 Volkssprache 220, 337, 518 Vorlesungen Luthers 365–372 Vorreden 303–305 Vulgata 298–300 wahr – Kirche 155, 316, 325 – und falsche Kirche 329 f, 456, 460 f Wahrheit – des Evangeliums 441 – und Lüge 294 Wahrheitssuche 374 Wahrnehmung der Kindheit 385 Wechsel, fröhlicher 309, 423, 431 Welt 447, 471–484 – Reich der 93 weltlich – Gelassenheit 368 – Obrigkeit 213 Wende, reformatorische 116
611
Werke – gute 159, 210, 513 – Rechtfertigung und 425 f Werkgerechtigkeit 75, 269, 335 Wertschätzung des Kreatürlichen 277 Widerstandsrecht 198, 234 f, 322 Wiederentdeckung des Evangeliums 122, 202 Wiederkunft Christi 159 Wille – freier 180 f, 313, 327, 404, 513 – Unfreiheit des 328 Willensfreiheit 178 f, 182 (s. a. freier Wille) Wirken Gottes 411 Wirklichkeitserfahrung 439 Wirklichkeitsverständnis 191, 501 Wissenschaften, humanistische 177 Wittenberg – Konkordie 192 f, 198, 514 – Konsistorium 208 f – Reformatorengruppe 206–211 – Unruhen 111, 196 Wormser Edikt 101 f, 114, 220, 235–238 Wort – äußeres 403 – Gottes 33, 52, 119, 127, 130, 133, 191, 225, 268, 272, 289, 294, 335, 406, 408–418, 452, 455–458 – und Glaube 308 – und Zeichen 187 Worthaftigkeit der Kreaturen 413 Wortsinn der Schrift 324 Wortstreit 319 Würde des Menschen 120 Zeichen, Wort und 187 Zentralismus, kurialer 61 Zentrum der Schrift 304 Zielsprache 302, 355 Zirkulardisputation 373 Zölibat 310 Zorn Gottes 253, 257 Zürcher Bibel 301 Zusage Gottes 464 f, 468 zwei – Regierweisen Gottes 475 f – Reiche 474–477 Zweinaturenlehre 414, 428, 432–439 Zwickauer Propheten 151