Lost Cities: Vom Leben mit verlassenen Städten in den Kulturen der Welt 9783110994568, 9783111071848, 9783111071923

Abandoned cities have been a noticeable phenomenon in all historical epochs and in many regions of the world. For 5,000

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German Pages 318 [320] Year 2023

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Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Verzeichnis der Abkürzungen
Verlassene Städte als Kehrseite erfolgreicher Urbanisierung seit der Antike
Rituelles Klagen und öffentliches Trauern. Katastrophenszenarien als Stabilisierungsmechanismen in der altbabylonischen Gesellschaft
Ruinen im Blick: Das Erlebnis Babylons von der römischen Antike bis zur Frühen Neuzeit
Monument und Landwirtschaft. Wahrnehmungen augusteischer Ruinenstädte
Stadtmauern, Ruinen, leere Städte und die Unzulänglichkeiten frühchinesischer Herrscher
Bewusstes Verdrängen? Die verlorene Stadt Cahokia
Dis-Kontinuitäten: Verlorene Städte in Süditalien
Neapel – Refiguration einer verlorenen Stadt
„Und doch stand hier einst eine Stadt“ – Mentale Stadtbilder von Antinoupolis in Mittelägypten in Reiseberichten vor dem 19. Jahrhundert
Verlassene Städte der Steppe. Zu Geschichte, Rollen und Wahrnehmung frühneuzeitlicher urbaner Orte in der Mongolei
Ruinen des technologischen Fortschritts in der viktorianischen Kultur und Literatur
Paris in Ruinen
Vanport, Oregon: Die lange Geschichte einer verlorenen Stadt
Verlorene Städte – Untersuchungen zu den Schtetlech im polnischbelarusisch- ukrainischen Grenzgebiet der Nachkriegszeit
Die verlassenen Lehmziegelsiedlungen im Oman. Über das Werden, Vergehen und den Zustand des Dazwischen
Von verlorenen und wiedergefundenen Städten: Das soziale Leben von Ruinen in Israel/Palästina von 1882 bis zur Gegenwart
Kurzbiografien der Autorinnen und Autoren
Geografisches Register
Personenregister
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Lost Cities: Vom Leben mit verlassenen Städten in den Kulturen der Welt
 9783110994568, 9783111071848, 9783111071923

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Lost Cities Vom Leben mit verlassenen Städten in den Kulturen der Welt

Schriften des Historischen Kollegs Herausgegeben von Hartmut Leppin Kolloquien 110

Lost Cities Vom Leben mit verlassenen Städten in den Kulturen der Welt

Herausgegeben von Martin Zimmermann

Schriften des Historischen Kollegs herausgegeben von Hartmut Leppin in Verbindung mit Florian Albert, Birgit Emich, Ute Frevert, Joël Glasman, Julika Griem, Anke Hilbrenner, ­Bernhard Löffler, Frank Rexroth, Markus Schwaiger, Reinhard A. Stauber und Willibald Steinmetz Das Historische Kolleg fördert im Bereich der historisch orientierten Wissenschaften Gelehrte, die sich durch herausragende Leistungen ausgewiesen haben. Es vergibt zu diesem Zweck jährlich bis zu sechs Fellowships. Darüber hinaus wird alle drei Jahre der „Preis des Historischen Kollegs“ verliehen. Die Fellowships dienen renommierten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern dazu, während eines Kollegjahres frei von anderen Verpflichtungen eine größere Arbeit abzuschließen. Professor Dr. Martin Zimmermann (München) war – zusammen mit Dr. Pascal Firges (DHI Paris), Dr. Fabian Krämer (München), Juniorprofessor Dr. Patrick Merziger (Leipzig), Professor Dr. Ute Schneider (Duisburg-Essen), Professor Dr. Dorothea Weltecke (Frankfurt am Main) – Fellow des Historischen Kollegs im Kollegjahr 2019/2020. Martin Zimmermann hat aus seinem Arbeits­ bereich ein digitales Kolloquium zum Thema „Lost Cities – Wahrnehmung von und Leben mit verlassenen Städten in den Kulturen der Welt“ am 18. und 19. März 2021 gehalten. Die Ergebnisse des Kolloquiums werden in diesem Band veröffentlicht. Der Druck des Bandes wurde von der Gerda Henkel Stiftung unterstützt. Das Historische Kolleg wird seit dem Kollegjahr 2000/2001 – im Sinne einer Public-private-Partnership – in seiner Grundausstattung vom Freistaat Bayern finanziert, die Mittel für die Stipendien kamen bislang unter anderem von der Fritz Thyssen Stiftung, dem Stiftungsfonds Deutsche Bank, der Gerda Henkel Stiftung, der C.H.Beck Stiftung und dem Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft. Träger des Historischen Kollegs, das vom Stiftungsfonds Deutsche Bank und vom Stifterverband errichtet und zunächst allein finanziert wurde, ist die „Stiftung zur Förderung der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften und des Historischen Kollegs“. Martin Zimmermann wurde im Kollegjahr 2019/2020 von der Fritz Thyssen Stiftung gefördert. Historisches Kolleg Kaulbachstraße 15, 80539 München Tel.: +49 (0) 89 2866 380 Fax: +49 (0) 89 2866 3863 E-Mail: [email protected] www.historischeskolleg.de ISBN 978-3-11-099456-8 ISBN (PDF) 978-3-11-107184-8 ISBN (EPUB) 978-3-11-107192-3 Library of Congress Control Number: 2023938208 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://portal.dnb.de abrufbar. © 2024 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Die Bildnachweise zu den Abbildungen in den Beiträgen befinden sich jeweils in der Bildunterschrift. Sollten trotz sorgfältiger Recherche nach den Rechteinhabern berechtigte Ansprüche bestehen, wenden Sie sich bitte unmittelbar an den Autor oder die Autorin des jeweiligen Beitrags. Coverbild: Das Dorf Kayaköy in der Türkei – heute eine Geisterstadt, nachdem die ehemaligen griechischen Bewohner aufgrund der Bestimmungen des Vertrags von Lausanne vertrieben wurden; © Martin Zimmermann (München). Satz: Typodata GmbH, Pfaffenhofen/Ilm Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com

Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII Verzeichnis der Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IX Martin Zimmermann Verlassene Städte als Kehrseite erfolgreicher Urbanisierung seit der Antike . . 1 Nikola Wenner Rituelles Klagen und öffentliches Trauern. Katastrophenszenarien als ­Stabilisierungsmechanismen in der altbabylonischen Gesellschaft . . . . . . . . . . . 15 Giulia Lentini Ruinen im Blick: Das Erlebnis Babylons von der römischen Antike bis zur Frühen Neuzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 Felix Henke/Julian Schreyer Monument und Landwirtschaft. Wahrnehmungen augusteischer Ruinenstädte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 Armin Selbitschka Stadtmauern, Ruinen, leere Städte und die Unzulänglichkeiten frühchinesischer Herrscher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 Michael Hochgeschwender Bewusstes Verdrängen? Die verlorene Stadt Cahokia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 Gabriella Cianciolo Cosentino/Pia Kastenmeier Dis-Kontinuitäten: Verlorene Städte in Süditalien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 Andreas Beyer Neapel – Refiguration einer verlorenen Stadt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127

VI

Inhalt

Alexander Free „Und doch stand hier einst eine Stadt“ – Mentale Stadtbilder von Antinoupolis in Mittelägypten in Reiseberichten vor dem 19. Jahrhundert . . . . 141 Jonathan Ethier/Christian Ressel/Birte Ahrens/Enkhtuul Chadraabal/Sampildondov Chuluun/Martin Oczipka/Henny Piezonka Verlassene Städte der Steppe. Zu Geschichte, Rollen und Wahrnehmung frühneuzeitlicher urbaner Orte in der Mongolei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 Stefanie Fricke Ruinen des technologischen Fortschritts in der viktorianischen Kultur und Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 Paul Mellenthin Paris in Ruinen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 Uwe Lübken Vanport, Oregon: Die lange Geschichte einer verlorenen Stadt . . . . . . . . . . . . . 217 Magdalena Waligórska Verlorene Städte – Untersuchungen zu den Schtetlech im polnischbelarusisch-ukrainischen Grenzgebiet der Nachkriegszeit . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 Thomas Schmidt-Lux/Josephine Kanditt Die verlassenen Lehmziegelsiedlungen im Oman. Über das Werden, Vergehen und den Zustand des Dazwischen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 Daniel Monterescu/Moriel Ram Von verlorenen und wiedergefundenen Städten: Das soziale Leben von Ruinen in Israel/Palästina von 1882 bis zur Gegenwart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 Kurzbiografien der Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 Geografisches Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305

Vorwort Es ist eine besondere Freude, für ein Jahr als Fellow in der wunderbaren KaulbachVilla des Historischen Kollegs in München arbeiten zu können. Deshalb bin ich der Fritz Thyssen Stiftung für die Förderung dieses Aufenthaltes sehr verpflichtet. Das Haus ist ein idealer Ort, um von den Lasten des universitären Alltags befreit zu forschen und ein Buchmanuskript voranzubringen und im Idealfall abzuschließen. Die besondere Aura und Qualität des Hauses erschließt sich freilich erst, wenn man im Haus residiert, da in den großartigen Räumlichkeiten ein eingespieltes Team von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern unter der Geschäftsführung von Karl-Ulrich ­ ellows mit groGelberg im Alltag geräuschlos eine wunderbare Arbeit macht, die F ßer Aufmerksamkeit umsorgt und sich um alles Nötige kümmert. Hierfür verdienen sie alle ein großes Kompliment, ihnen gilt daher mein besonderer Dank! Das Kollegjahr 2019/20 war freilich ein sehr denkwürdiges Jahr, da mit Jahres­ beginn 2020 die Covid 19-Pandemie eine besondere Herausforderung für alle ­darstellte. Geschlossene Bibliotheken, verwaiste Universitäten und die sich daraus ergebende Notwendigkeit, neue Formen digitaler Kommunikation auszuprobieren, prägten unvermittelt den Alltag. Hinzu kam für Fellows mit schulpflichtigen Kindern die Aufgabe, neben der Forschungsarbeit auch den schulischen Alltag zuhause zu bewältigen, angesichts mangelnder Vorbereitung der Schulen auf digitalen Unterricht eine besonders zeitintensive und nervenaufreibende Aufgabe, unter der auch die Forschung und das Buchmanuskript zwangsläufig leiden mussten. Im Kolleg konnten in dieser schwierigen Situation zudem keine Vorträge über die Forschungsprojekte gehalten werden und die mit dem Aufenthalt eigentlich verbundenen Tagungen der Fellows mussten verschoben oder in online-Formaten abgehalten werden. Immerhin konnte ich mein Projekt im Kreis der Fellows in sehr freundschaft­ licher und zugewandter Atmosphäre vorstellen und die Tagung, deren Ergebnisse in diesem Band präsentiert werden, im März 2021 digital nachholen. Dass neben den verlassenen Städten der Antike auch die lost cities in den Kulturen der Welt bis in die heutige Zeitgeschichte Thema der Tagung waren, lag nahe, da ich einen Förderschwerpunkt der Gerda Henkel Stiftung zum Thema mitbetreue und mit großem Gewinn über den Tellerrand antiker Kulturen hinausschaue. Der Stiftung sei für dieses Programm wie für die Unterstützung der Tagung durch einen Druckkostenzuschuss gedankt. Elisabeth Hüls hat die Redaktion des Bandes in bewährter Weise ausgezeichnet betreut, Julia Hornung und Julia Staska haben als studentische Hilfskräfte das Register erstellt, wofür ihnen ebenfalls Dank gebührt. Alle an diesem Band Beteiligten hoffen sehr, mit ihren Beiträgen zur dunklen Seite der Stadtgeschichte nicht nur Interesse zu finden, sondern auch Impulse für weitere Forschungen zu geben. Martin Zimmermann  https://doi.org/10.1515/9783111071848-201

München, im Februar 2023

Verzeichnis der Abkürzungen AiD AJA ANRW AntTard APCG BASP BullCom

Archäologie in Deutschland American Journal of Archaeology Aufstieg und Niedergang der Römischen Welt Antiquité Tardive Association of Pacific Coast Geographers Bulletin of the American Society of Papyrologists Bullettino della Commissione Archeologica Comunale di Roma CPR Corpus Papyrorum Raineri. Wien DNP Der Neue Pauly EEPS East European Politics and Societies Greek, Roman, and Byzantine Studies GRBS GRF Geography Research Forum GSA Geological Society of America Historia Historia. Zeitschrift für Alte Geschichte HJAS Harvard Journal of Asiatic Studies Harvard Studies in Classical Philology HSCPh IJAS International Journal of Asian Studies Inv. inventory number/Inventarnummer JBS Journal of Black Studies JCS Journal of Cuneiform Studies The Journal of Egyptian Archaeology JEA JESHO Journal of the Economic and Social History of the Orient The Journal of Roman Studies JRS JSAH Journal of the Society of Architectural Historians K.M.T. K.M.T. A Modern Journal of Ancient Egypt Literary London The Literary London. Interdisciplinary Studies in the Representation of London ND Nachdruck/Neudruck o. A. ohne Autor o. O. ohne Ort o. S. ohne Seitenzählung OHQ Oregon Historical Quarterly OLH Open Library of Humanities P. Berl.Arab. Arabische Briefe des 7. bis 13. Jahrhunderts aus den ­Staatlichen Museen zu Berlin

https://doi.org/10.1515/9783111071848-202

X P. Köln P. Mich. P. Mil. P. Panop. Beatty P. Philad.Arab. P. Stras. P. Vind.Arab. II P. Vind.Arab. III PERF PNQ PSI SB SOAS Tyche VBP ZAA ZDMG ZPE

Verzeichnis der Abkürzungen

Kölner Papyri Michigan Papyri Papiri Milanesi Papyri from Panopolis in the Chester Beatty Library Dublin Arabic Papyri in the University Museum in Philadelphia (Pennsylvania) Griechische Papyrus der Kaiserlichen Universitäts- und Landesbibliothek zu Strassburg Arabische Privatbriefe des 9. bis 15. Jahrhunderts aus der Österreichischen Nationalbibliothek in Wien Arabische amtliche Briefe des 10. bis 16. Jahrhunderts aus der Österreichischen Nationalbibliothek in Wien Papyrus Erzherzog Rainer: Führer durch die Ausstellung. Wien The Pacific Northwest Quarterly Papiri greci e latini (Pubblicazioni della Società Italiana per la ricerca dei papiri greci e latini in Egitto). Firenze Sammelbuch griechischer Urkunden aus Ägypten School of Oriental and African Studies Tyche. Beiträge zur Alten Geschichte, Papyrologie und Epigraphik Veröffentlichungen aus den badischen Papyrus-­ Sammlungen Zeitschrift für Anglistik und Amerikanistik Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft Zeitschrift für Papyrologie und Epigraphik

Martin Zimmermann Verlassene Städte als Kehrseite erfolgreicher ­Urbanisierung seit der Antike Städte stehen, um unterzugehen (Seneca)1

Die Stadtgeschichte ist seit ihren Anfängen durch eine ungeheure Dynamik ­geprägt.2 Seit dem 4. Jahrtausend v. Chr. gab es in verschiedenen Teilen der Mittelmeerwelt mit Blick auf städtische Zentralisierungsprozesse eine regelrechte Planungs­euphorie, die sich im Zuge einer Intensivierung von Landwirtschaft, Verwaltung und Institutionalisierungsprozessen ausbildete. Diese „urban revolution“3 galt zunächst für den Nahen Osten einschließlich Ägypten und beispielsweise für das Hethiterreich. Hier wurden mit ungeheurem Aufwand und unter Einsatz beachtlicher Ressourcen regelrechte Großstädte gebaut, deren Größe und Umfang in späteren Perioden der Antike bis auf wenige Ausnahmen nicht erreicht, jedenfalls letztlich nur durch die Ausnahmefälle Rom und Alexandria übertroffen und erst im China des 8. Jahrhunderts n. Chr. von der Metropole Chang’an überflügelt wurden, die eine Million Einwohner hatte.4 Einige wenige Schlaglichter auf diese antiken Urbanisierungsprozesse mögen genügen: Entlang des Euphrat und Tigris lassen sich bereits 3000 v. Chr. eine Reihe von Städten studieren, unter denen 1 Seneca,

Epistulae morales ad Lucilium XIV, 91, 11 f.: „Ipsius naturae opera vexantur et ideo a­ equo animo ferre debemus urbium excidia. Casurae stant […].“; deutsch: Die Werke der Natur selbst werden geplagt, und deswegen müssen wir mit Gleichmut den Untergang der Städte ertragen. Sie stehen, um zu fallen. 2  Siehe für die Antike die besonders instruktiven Überblickswerke von Frank Kolb: Die Stadt im Altertum. München 1984; Xavier Lafon/Jean-Yves Marc/Maurice Satre: La ville antique. Paris 2003; Karen Radner: Die Frühen Hochkulturen Ägyptens und Vorderasiens. In: Hans-Joachim Gehrke (Hg.): Die Welt vor 600. Die Frühen Hochkulturen. München 2017, S. 263–416; Greg Woolff: The Life and Death of Ancient Cities. A Natural History. Oxford 2020. 3  V. Gordon Childe: The Urban Revolution. In: Town Planning Review 21 (1950), S. 3–17. Siehe auch Norman Yoffee (Hg.): Early Cities in Comparative Perspective, 4000 BCE–1200 CE. Cambridge 2015. 4  Siehe auch Thomas Thilo: Chang’an: Metropole Ostasiens und Weltstadt des Mittelalters, 583– 904. Teil 1: Die Stadtanlage. Wiesbaden 1997; ders.: Chang’an: Metropole Ostasiens und Weltstadt des Mittelalters, 583–904. Teil 2: Gesellschaft und Kultur. Wiesbaden 2006; Michael Nylan/ Griet Vankeerberghen (Hg.): Chang’an 26 BCE. An Augustan Age in China. Seattle 2015; Mark Edward Lewis: Das Alte China. In: Gehrke (Hg.): Welt (wie Anm. 2), S. 672–687. Zu den Großstädten auch die Beiträge in Claude Nicolet/Robert Ilbert/Jean-Charles Depaule (Hg.): Méga­ poles méditerranénnes. Géographie urbaine retrospective. Rom 2000. https://doi.org/10.1515/9783111071848-001

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Uruk und Ur herausragten.5 Im 2. Jahrtausend v. Chr. erreichte in Syrien Ugarit den Höhepunkt seiner Stadtgeschichte. Im Nildelta Ägyptens entstand ungefähr zur gleichen Zeit um 1278 v. Chr. mit Pi-Ramesse neben Theben, Memphis und Achet-Aton (Amarna) eine Residenzstadt beeindruckender Größe. In Zentralanatolien setzte ab dem 16. Jahrhundert v. Chr. die Hauptstadt des Hethiterreiches Hattusa neue Maßstäbe, nachdem im späten 7./frühen 6. Jahrtausend mit Çatal Hüyük eine erste Siedlung protourbanen Charakters entstanden war. Der mit diesen Städten verbundene erste Höhepunkt antiker Stadtgeschichte setzte sich zu Beginn des 1. Jahrtausends auch in anderen Regionen der Mittelmeerwelt fort und erhielt durch die Phönizier sowie die griechische Kolonisation eine zusätzliche Dynamik, in deren Kontext etwa im Schwarzmeergebiet, in Nordafrika, auf Sizilien und in Unteritalien archaische Großstädte in neuem urbanen Design entstanden. Während im griechischen Mutterland Städte größeren Formats bis in klassische Zeit weitgehend fehlten, entstanden im Zuge der griechischen Kolonisation hunderte neue Siedlungen unterschiedlicher Größe. Unter den vielen kleineren Neustädten ragten einige heraus, die gute Beispiele dafür sind, wie im Zuge ­griechischer Stadtplanung beachtliche Stadtanlagen entstanden, die man im griechischen Mutterland vergeblich sucht. Mit Metapont und Tarent in Unteritalien, Selinunt und Syrakus auf Sizilien sowie Massilia in Südfrankreich seien nur einige Orte genannt, die eine beachtliche urbane Entwicklung aufwiesen. Der ungeheure Erfolg der archaischen Stadtplanung strahlte in klassischer Zeit in die alte Poliswelt zurück. Mit dem Hafen Piräus und Milet seien zwei Beispiele umfassender Planung genannt, die man mit dem Stadtplaner Hippodamos verband, dem man später auch die 408/7 v. Chr. erfolgte Neugründung von Rhodos zuschrieb. Dies ist chronologisch unmöglich, belegt aber ein zeitgenössisches Bewusstsein für den innovativen Charakter solcher Stadtanlagen, den im 4. Jahrhundert v. Chr. Aristoteles treffend in seiner „Politeia“ beschrieb.6 Angeregt durch die Stadtgründungen Alexanders des Großen setzte sich mit den hellenistischen Reichen und schließlich mit den Eroberungen durch die Römer ein Urbanisierungsprozess fort, der den gesamten Mittelmeerraum er­ ­ fasste.7 Mit Alexandria in Ägypten, Seleukeia am Tigris und Antiochia entstanden beispielsweise blühende Residenzstädte, von denen vor allem Alexandria neue Maßstäbe setzte. Zugleich wurden mehrere hundert neue Städte gegründet, ­wobei sich insbesondere die Seleukiden und Ptolemäer im östlichen Mittelmeerraum mit Schwerpunkten in Kleinasien und dem Nahen Osten hervortaten.8 5 Gebhard

J. Selz: The Uruk Phenomenon. In: Karen Radner/Nadine Moeller/Daniel T. Potts (Hg.): The Oxford History of the Ancient Near East. Bd. I: From the Beginnings to Old Kingdom Egypt and the Dynasty of Akkad. Oxford 2020, S. 163–244. 6  Kolb: Stadt (wie Anm. 2), S. 113–120. Aristoteles, Politeia 1331a-b (VII, 11  f.). 7  Zu Alexanders Gründungen siehe Peter M. Fraser: The Cities of Alexander the Great. Oxford 1996. Zu den „Alexandreias“ siehe Getzel M. Cohen: The Hellenistic Settlements in the East from Armenia and Mesopotamia to Bactria and India. Berkeley 2013, S. 47–52. 8  Getzel M. Cohen: The Hellenistic Settlements in Europe, the Islands and Asia Minor. Berkeley 1995; ders.: The Hellenistic Settlements in Syria, the Red Sea Basin, and North Africa. Berkeley

Verlassene Städte als Kehrseite erfolgreicher Urbanisierung seit der Antike

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­ ichard E. Wycherley nannte dieses Phänomen die „mass production of the R ­Hellenic city“.9 Das spätrepublikanische und kaiserzeitliche Rom knüpfte an ­diese Gründungspolitik an und wurde Zentrum eines Reiches, das schließlich im 2. Jahrhundert n. Chr. nach Auffassung von Aelius Aristides von einer zuvor nie erreichten Blüte der Stadtkultur geprägt war, die das gesamte Imperium Romanum umfasste.10 Bei den vielen hundert neuen Städten handelte es sich um gezielte Gründungen, Ergebnisse von Zentralisierungsprozessen und urbane Zeugnisse ­eines zunehmenden Wohlstandes, die auf der Grundlage umfangreicher Land­ erschließung, zunehmenden Handels und einer erfolgreichen Geldwirtschaft entstanden waren. Wie im Titel des Bandes und dieses Beitrags bereits angedeutet, soll es hier jedoch nicht um einen Überblick über die Erfolgsgeschichte urbanen Wandels und eine unaufhaltsame Verstädterung der Weltkulturen gehen, sondern ausgehend vom Beginn urbaner Erfolgsgeschichte in der Antike die zugleich immer vorhandene Schattenseite der Stadtgeschichte thematisiert werden.11 Der seit dem 3. Jahrtausend beobachtbaren Planungseuphorie und dem in den folgenden Jahrtausenden bis in die heutige Zeit zu verzeichnenden Boom des Städtewesens steht ein anderes Phänomen gegenüber, das diese Urbanisierungsprozesse begleitete und auch aktuell in der Konzentration der Weltbevölkerung in Städten zu beobachten ist: die verlassenen Städte (lost cities).12 Schon die gesamte antike Mittelmeerwelt wies seit den Stadtkulturen Mesopotamiens eine Vielzahl verlassener Städte auf. 2006; ders.: The Hellenistic Settlements in the East from Armenia and Mesopotamia to Bactria and India. Berkeley 2013; Katja Müller: Settlements of the Ptolemies. City Foundation and New Settlement in the Hellenistic World. Leuven 2006; Ryan Boehm: City and Empire in the Age of the Successors. Urbanization and Social Response in the Making of the Hellenistic Kingdoms. Oakland 2018; Rinse Willet: The Geography of Urbanism in Roman Asia Minor. Sheffield 2020, S. 52–67.  9  Richard E. Wycherley: How the Greeks Built Cities. London 21962, S. 35. 10 Aelius Aristides, Romrede 94 und die Beiträge in Sofia Greaves/Andrew Wallace-Hadrill (Hg.): Rome and the Colonial City. Rethinking the Grid. Oxford 2022. 11  Diese ist auch das Thema einer derzeit vom Autor verfassten Monografie, die in der Historischen Bibliothek der Gerda Henkel Stiftung des Beck-Verlags (München) erscheinen wird. 12  Instruktiv zur Wahrnehmung von Ruinen seit ihrer Entstehung in antiken Hochkulturen sind die Beobachtungen von Alain Schnapp: Die Entdeckung der Vergangenheit. Ursprünge und Anfänge der Archäologie. Stuttgart 2011; ders.: Was ist eine Ruine? Entwurf einer vergleichenden Perspektive. Frankfurt a. M. 2014; ders.: Une histoire universelle des ruines. Des origines aux ­Lumières. Paris 2021. Ferner Massimiliano Papini: Città sepolte e rovine nel mondo greco e ­romano. Rom/Bari 2011; Klaus Freitag: Zum Problem der ‚schrumpfenden Stadt‘ in der griechischen Antike. In: Angelika Lampen/Armin Owzar (Hg.): Schrumpfende Städte. Ein Phänomen zwischen Antike und Moderne. Köln/Weimar/Wien 2008, S. 1–15. Siehe mit weiteren Hinweisen Christian Witschel: Sterbende Städte? Betrachtungen zum römischen Städtewesen. In: Lampen/ Owzar (Hg.): Schrumpfende Städte (diese Anm.), S. 17–78; Neil Christie/Andrea Augenti (Hg.): Urbes Extinctae. Archaeologies of Abandoned Classical Towns. Farnham 2012; Martin Zimmermann: Lost cities, urban explorers und antike Landschaften. Vom Leben mit Ruinen. In: Shing Müller/Armin Selbitschka (Hg.): Über den Alltag hinaus. Festschrift für Thomas O. Höllmann zum 65. Geburtstag. Wiesbaden 2017, S. 297–311; Martin Devecka: Broken Cities. A Historical Sociology of Ruins. Baltimore 2020.

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Martin Zimmermann

Diese lost cities fanden sich nahezu überall und begleiteten kontinuierlich sowie überregional die antike Wahrnehmung urbanen Wandels. Bereits in Mesopota­ mien war die Entstehung neuer politischer Zentren und Residenzen, die im Zuge der Reichsbildungen zu beobachten ist und eine allmähliche Verlagerung der politischen Schwerpunkte von den südlichen Städten Eridu, Uruk und Ur nach Norden zur Folge hatte, von der gänzlichen oder teilweisen Aufgabe oder Zerstörung von Städten begleitet. Die Urstadt Eridu am Persischen Golf wurde beispielsweise verlassen und lebte wegen ihrer einstmaligen sakralen Bedeutung als Stadtteilname von Babylon fort.13 Die großen sumerischen Zentren im Süden wurden nach dem Ende der Ur III Zeit im ersten Viertel des 2. Jahrtausends v. Chr. von altbabylonischen Herrschern zerstört und erst viele Jahrhunderte später wiederbesiedelt.14 Klagelieder über untergegangene Städte legen davon ebenso eindrucksvoll Zeugnis ab wie die späteren Texte nachfolgender Herrscher, die sich damit rühmten, die alten Städte und Heiligtümer wieder aufgebaut zu haben, nachdem sie den Staub und Schutt der Ruinen beseitigt hatten.15 Während in Mesopotamien mit seinen Lehmziegelbauten der Verfall sehr sichtbar war, baute man zwar in Ägypten mit langlebigerem Material. Aber auch aus Stein gebaute Städte ereilte das­ selbe Schicksal wie die Lehmziegelstädte. So gab Tutanchamon (ca. 1332– 1323 v. Chr.) das gerade von Echnaton (ca. 1351–1334 v. Chr.) erbaute Achetaton (Amarna) auf, das dauerhaft Ruine wurde, und zog nach Memphis. Pi-Ramesse wurde als Stadt, die mit ungeheurem Aufwand besonders unter Ramses II. (1279–1213 v. Chr.) errichtet worden war, 150 Jahre später wieder verlassen, als der östliche Nilarm seinen Lauf veränderte und die Residenz vom Meer abschnitt. An seine Stelle und an die Stelle des ebenfalls wüsten Auaris (Hut-waret) trat das nordwestlich gelegene Tanis als neues Zentrum, für das die beiden verödeten Städte als Steinbruch genutzt wurden.16 Zerstörung und Aufgabe von Siedlungen infolge des sogenannten Seevölkersturms finden sich von Griechenland über Kleinasien bis in den Nahen und Mittleren Osten.17 Während aber im griechischen Mutterland in der Späten Bronzezeit die Stadtkultur zusammenbrach, blieben weiter im Osten in den frühen Reichsbildungen der Assyrer, der Babylonier und schließlich Perser (wie später der Parther oder Sassaniden) die Verlegungen von Residenzen und die Entstehung neuer Zentren, die mit der Aufgabe alter Orte einherging, wenn auch mit Unterbrechungen verbreitet. Die wechselvolle Geschichte von Orten wie Assur, Ninive, Babylon oder Persepolis steht hier exemplarisch für die Blüte und das Ende von Reichen und deren Visualisierung in großen Stadtanlagen. Griechen und Römer konnten sich schließlich solche Städte nur als komplett verlassene Ruinen vorstellen, standen sie doch symbolisch für das Ende der zugehörigen ehemaligen Reiche, die 13 

Karen Radner: A Short History of Babylon. London u. a. 2020, S. 128. Schnapp: Entdeckung der Vergangenheit (wie Anm. 12), S. 21 f. 15  Sylvie Lackenbacher: Le palais sans rival. Le récit de construction en Assyrie. Paris 1990, S. 32. 16  Edgar B. Pusch/Helmut Becker: Fenster in die Vergangenheit. Einblicke in die Struktur der Ramses-Stadt durch magnetische Prospektion und Grabung. Hildesheim 2017. 17  Eric H. Cline: 1177 B.C. The Year Civilization Collapsed. Princeton 2014. 14 

Verlassene Städte als Kehrseite erfolgreicher Urbanisierung seit der Antike

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man besiegt hatte und an deren Stelle man sich selbst getreten sah. Während archäologische Forschungen eine Weiterbesiedlung von Persepolis nahe der zerstörten Stadt belegen und auch in Babylon eine beachtliche Siedlungskontinuität konstatiert werden kann, behaupten griechische und römische Autoren die komplette Aufgabe der Orte. Für Pausanias etwa sind sie Beispiel für das wechselvolle Schicksal von Städten, weshalb Ninive, aber auch Babylon für ihn nur unbewohnte Ruinen sein konnten.18 Neben verlassenen Ruinen in den ehemaligen östlichen Reichen standen im Bewusstsein der Griechen untergegangene Orte, welche die eigene Urgeschichte symbolisierten. So wurden einige der auch in Kleinasien und im griechischen Mutterland ubiquitären Ruinenstädte als materielle Zeugnisse von mythischen Völkern der Frühzeit gedeutet, die man in den Zeitkontext des 2. Jahrtausends datierte.19 Zumindest in Griechenland besuchte man die alten Ruinenstädte wie etwa Mykene, Tiryns, Pylos oder Knossos, um an der mythischen Frühgeschichte, die diese Ruinen repräsentierten, teilzuhaben.20 Gleiches gilt für die Ruinen von Ilion, welche ihre Bewohner mit den homerischen Epen verknüpften und wegen der außerordentlichen Prominenz ihres Autors für die zahlreichen Touristen als Museum der Frühgeschichte ausgestalteten.21 Alte Städte oder auch nur archäologische Überreste, die man in der Landschaft sah und über deren frühere Bewohner man nichts wusste, wurden einerseits in die mythische Konstruktion der Frühgeschichte von Migrationen und gottgesandten Katastrophen wie Weltenbränden oder Sintfluten integriert. Diese Untergangsszenarien waren ein geeignetes Mittel, mit dem die Existenz so vieler Ruinenstädte, deren Geschichte unbekannt war, erklärt werden konnte.22 Bewohner existierender Städte selbst nutzten andererseits schon früh die Sintflutsagen, um zu behaupten, ihr Heimatort hätte bereits vor der Flut existiert und besäße folglich ein unge­heures und besonders ehrwürdiges Alter.23 Dass man die städtische Frühgeschichte zugleich als erste kulturelle Blüte verstand, verdeutlicht die Behauptung des assyrischen Königs Assurbanipal im 7. Jahrhundert v. Chr., er könne noch die Schriften aus der Zeit vor der Flut lesen und verstehen.24 Eine Ausnahme bildet 18 

Pausanias, Beschreibung Griechenlands VIII, 33, 1–4. Vgl. zu Babylon auch Lukian, Charon 23. Zwingmann: Antiker Tourismus in Kleinasien und auf den vorgelagerten Inseln. Bonn 2012, S. 235–309. 20  Thukydides, Geschichte des Peloponnesischen Krieges I, 10, 1–3. 21 Andrew Erskine: Troy between Greece and Rome. Local Tradition and Imperial Power. ­Oxford 2001; Martin Zimmermann: Troia – eine unendliche Geschichte? In: Martin Zimmermann (Hg.): Der Traum von Troia. Geschichte und Mythos einer ewigen Stadt. München 2006, S. 9–25; Zwingmann: Antiker Tourismus (wie Anm. 19), S. 29–106. 22 Claus Wilcke: Weltuntergang als Anfang. Theologische, anthropologische, politisch-historische und ästhetische Ebenen der Interpretation der Sintflutgeschichte im babylonischen Artramhasīs-Epos. In: Adam Jones (Hg.): Weltende. Wiesbaden 1999, S. 63–112. 23  Siehe hierzu ferner Frans von Koppen: The Scribe of the Flood Story and his Circle. In: Karen Radner/Eleanor Robson (Hg.): The Oxford Handbook of Cuneiform Culture. Oxford 2011, S. 140–166. 24  Schnapp: Ruine (wie Anm. 12), S. 41; Eckart Frahm: Keeping Company with Men of Learning. The King as Scholar. In: Radner/Robson (Hg.): Handbook of Cuneiform Culture (wie Anm. 23), S. 508–532. 19  Nicola

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die Sintflutsage des Alten Testaments, denn hier sind es erst die drei Söhne Noahs, die nach der Flutkatastrophe mit der Hilfe Gottes als Stadtgründer wirken können. Erst in einem christlichen Europa wird die Behauptung, man sei als Stadt von einem der Söhne Noahs gegründet worden, prestigeträchtig. Bei den Griechen hingegen wird wie im Nahen Osten die Vorstellung selbstverständlich, man habe bereits vor der Flut, die nach der griechischen Mythentradition einst Zeus als Bestrafung der Menschheit sandte, existiert.25 So opferte man – um nur ein Beispiel zu nennen – jährlich in Athen in einen Erdspalt, in welchen einst das Wasser der Flut abgeflossen sein sollte.26 Auch die aufwendige Erfindung des Mythos vom untergegangenen Atlantis durch Platon gehört in diesen Kontext einer mythischen Frühgeschichte des Urba­nismus, denn schließlich ist ja ein fiktives Ur-Athen der Gegner des Insel­ reiches. Der Philosoph verfolgte nicht nur den Plan, ein noch gewaltigeres Epos als die „Ilias“ Homers zu verfassen, sondern auch das hohe Alter der städtischen Kultur im griechischen Mutterland in diesem fiktiven Szenario herauszustellen.27 In dieser Urgeschichte lag zugleich die abstrakte Basis des platonischen Idealstaats. Während die Megacity Atlantis im Meer versunken war, hatte Athen überlebt und zu neuer Größe gefunden. Platon liefert auch eine Erklärung für das Fehlen anderer Überlieferungen zur Urgeschichte Athens, um seine fiktive Kon­ struktion zu untermauern. Bei Platon sind es einzig die ägyptischen Priester, welche die Erinnerung an die frühen Stadtkulturen bewahrt haben, während die Griechen als Opfer von regelmäßig eintretenden Katastrophen keinerlei Erinnerung an die Frühgeschichte der städtischen Kultur besitzen könnten. Während die gebildeten Stadtbewohner den Naturgewalten zum Opfer gefallen seien, hätten die überlebenden Hirten in den Bergen nichts von der alten Stadt erzählen können.28 Ein kollektives Gedächtnis für die untergegangenen Städte habe, so die weisen Priester Ägyptens, deswegen nicht entstehen können. Es ist bemerkenswert, dass der Atlantismythos in der Antike keine nennenswerte Resonanz fand und bereits Plutarch ihn mit den mythischen Erzählungen um Troia gleichsetzte und im Reich der Fiktion ansiedelte.29 Untergegangene und verlassene Städte waren in einem derartigen Umfang im Alltag präsent, dass das Untergangsszenario um Atlantis bei den Zeitgenossen und noch während des 25 

Gian Andrea Caduff: Antike Sintflutsagen. Göttingen 1986; Martin Mulsow/Jan Assmann (Hg.): Sintflut und Gedächtnis. Erinnern und Vergessen des Ursprungs. München 2006. 26  Pausanias, Beschreibung Griechenlands I, 18, 7  f. Vgl. auch die Vorstellung von in der Sintflut untergegangenen Städten bei Ovid, Metamorphosen I, 301: „Die Nereiden staunen über Wälder, Städte und Gebäude unter dem Wasser […]“. 27 Platon, Timaios 20d–25d; Platon, Kritias. Heinz-Günther Nesselrath: Platon und die Erfindung von Atlantis. München 2002; zum Ziel, den Troiamythos durch ein neues Epos zu ersetzen, siehe Thomas Alexander Szlezák: Platon. Meisterdenker der Antike. München 2021, S. 140, S. 405–407. 28  Platon, Timaios 22a–23c. 29  Plutarch, Moralia (non posse suaviter vivi secundum Epicurum) 9  f.; Plutarch, Solon 32. Vgl. Strabon, Geographika II, 3, 6 (Poseidonios); Plinius, Naturgeschichte II, 90; Philon, De aeterni­ tate mundi I, 26.

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Mittelalters bis in das 16. Jahrhundert hinein, als schließlich von Thomas Morus eine Gegenutopie entworfen wurde, keine weitergehende Beachtung fand.30 Die große Resonanz des Mythos „Atlantis“ ist letztlich ein genuines Produkt der Neuzeit, während sich die antiken Zeitgenossen nicht sonderlich für den Entwurf Platons interessierten. Das mythische Troia, das als Ur-Ruine in den angeblichen Stadtgründungen der troianischen Flüchtlinge wie heimkehrenden Sieger weiterlebte, war für die antiken Zeitgenossen schlicht nicht zu übertreffen, so sehr ­Platon auch seine Fantasie spielen ließ und versuchte, einen anderen Mythos zu schaffen. Neben der Wahrnehmung verlassener Städte aus der mythischen Frühgeschichte beschreibt Strabon in der „Geographika“ oder etwa Plinius in den geografischen Büchern der „Naturgeschichte“ vielfältige Ursachen städtischen Niedergangs in der eigenen Zeit.31 Neben den uralten Ruinen mythischer Städte oder aufgegebenen Residenzstädten gab es durch Krieg zerstörte Städte oder Orte, die verlassen wurden, weil die politische Landkarte sich verändert hatte. Andere Städte scheiterten, weil der politisch-soziale Desintegrationsprozess so weit fortgeschritten war, dass die Gemeinschaft kollabierte. Anderen war die wirtschaftliche Lebensgrundlage durch Naturkatastrophen oder Misswirtschaft entzogen. Wiederum ­andere mussten unter militärischem Druck aufgegeben werden oder wurden auf gemeinschaftlichen Beschluss verlassen und andernorts neu gegründet.32 Die ­Attraktivität von Großstädten beschleunigte ihrerseits Zentralisierungsprozesse, in deren Folge kleinere Nachbarstädte aufgegeben wurden.33 Es war den antiken Kulturen jedenfalls sehr vertraut, dass einige Städte untergingen, während andere erblühten.34 So ist es folgerichtig, dass Strabon in der Vorrede zu seiner „Geographika“ verlassene Städte, auch solche mythischer Provenienz, ausdrücklich thematisiert und betont, dass sie in einer geografischen Synopse der bekannten bewohnten Welt nicht fehlen dürften.35 Und der Geograf steht mit der Sichtweise, dass Ruinenstädte ein markanter Bestandteil jeder Stadtgeschichte wie jedes geografischen Überblickswerks sind, nicht allein. Seneca nutzt eine Brandkatastrophe im galli30  Reinhold

Bichler: Die Position von Atlantis in der Geschichte der Utopie. In: Götz Pochat/ Brigitte Wagner (Hg.): Utopie. Gesellschaftsformen – Künstlerträume (= Kunsthistorisches Jahrbuch 26). Graz 1996, S. 32–44. 31  Zimmermann: Lost cities (wie Anm. 12), S. 305–310. Vgl. auch zu den verschiedenen Ursachen für den Untergang von Städten Seneca, Epistulae morales ad Lucilium XIV, 91, 12: „enumerare omnes fatorum vias longum est.“; deutsch: Alle Wege des Schicksals aufzuzählen führt zu weit. 32  Nancy H. Demand: Urban Relocation in Archaic and Classical Greece. Flight and Consolidation. Norman 1990; Christof Schuler/Andreas Victor Walser: Sympolitien und Synoikismen. Gesellschaftliche und urbanistische Implikationen von Konzentrationsprozessen in hellenistischer Zeit. In: Albrecht Matthaei (Hg.): Urbane Strukturen und bürgerliche Identität im Hellenismus. Heidelberg 2015, S. 350–359. 33 Emily Mackil: Wandering Cities. Alternatives to Catastrophe in the Greek Polis. In: AJA 108 (2004), S. 493–516. 34  Siehe schon Herodot, Historiae I, 5, 3  f. 35  Strabon, Geographika II, 5, 17.

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schen Lugdunum, um den Untergang von Städten durch Naturkatastrophen als gängige Erscheinung zu beschreiben. Für ihn sind Städte wie Menschen dazu ­bestimmt zu sterben, ja sie existieren überhaupt nur, um unterzugehen.36 Daher überrascht es nicht, dass auch Pausanias in seiner „Beschreibung Griechenlands“ zahllose verlassene Städte erwähnt, die eine Vielzahl von Untergangsgeschichten und -ursachen repräsentieren.37 Die von Pausanias erwähnten Stadtruinen stehen für eine griechische Frühzeit, deren Kenntnis durch die Erwähnung untergegangener Orte erhalten bleiben soll. Mit dieser Form der urbanen Wissenskultur soll nicht in erster Linie Kritik an den aktuellen Machthabern geübt werden. Auch sollen nicht Verantwortliche für den Niedergang benannt werden. Verlassene Städte sind bei Pausanias kein eindeutiges Indiz für den Untergang der archaischklassischen griechischen Stadtkultur infolge der Entstehung hellenistischer Großreiche und römischer Eroberungen, wie dies später Jakob Burkhardt in seiner Kulturgeschichte Griechenlands kulturkritisch im Geist des 19. Jahrhunderts ­annahm.38 Verlassene Städte waren bei Pausanias eben nicht Sinnbild des Preises, den die griechische Kultur für die im Zuge des Alexanderzuges erfolgende Ex­ pansion nach Osten zu zahlen hatte, wie Burkhardt pessimistisch herausstrich.39 Letzterer folgt allzu vorschnell antiker Untergangsrhetorik, die trotz besseren Wissens seit hellenistischer Zeit und mit Höhepunkt im 2. Jahrhundert n. Chr. einen allgemeinen Niedergang der Städte unter römischer Herrschaft konstatiert.40 Verlassene Städte waren ein von solchen Reichsbildungsprozessen durch hellenistische Könige oder die Römer unabhängiges Phänomen, das die Jahrtausende antiker Stadtgeschichte als Dystopie kontinuierlich begleitete. Bezeichnendes Charakteristikum antiker Stadtgeschichte über viele Jahrhunderte ist gerade das Nebeneinander von Untergang und Neugründung. Trotz der Präsenz von lost ­cities und lost places blieb daher eine Planungseuphorie über viele Jahrhunderte 36 Seneca,

Epistulae morales ad Lucilium XIV, 91, 11 f. Ähnlich urteilt der spätantike Rutilius Namatianus, De reditu suo I, 414. Vgl. allgemein zur Ruinenwahrnehmung der Römer Charles Davoine: La ville défigurée. Gestion et perception des ruines dans le monde romain (Ier siè­ cle a.C.–IVe siècle p.C.). Bordeaux 2021; ders.: Les ruines contre la ville. L’idéal urbain à l’épreuve des destructions dans le monde roman. In: Histoire urbaine 58 (2020), S. 15–28. 37 Zuletzt umfassend Julian Schreyer: Zerstörte Architektur bei Pausanias. Phänomenologie, Funktionen und Verhältnis zum zeitgenössischen Ruinendiskurs. Turnhout 2019. 38  Zimmermann: Lost cities (wie Anm. 12), S. 304–307. 39  Siehe die Publikation einer Sammlung von untergegangenen und verödeten Orten sowie Notizen durch den Gelehrten in: Jacob Burckhardt: Werke. Kritische Gesamtausgabe. Bd. 22: Griechische Culturgeschichte. Band IV: Der hellenistische Mensch in seiner zeitlichen Entwicklung. München/Basel 2012, S. 661–680 und S. 598: „Man kann auf die Anschauung kommen, daß in der ganzen Weltgeschichte keine Potenz ihr Leben so furchtbar theuer bezahlt haben möchte wie die griechischen poleis. […] Die Heimath […] geht nun unter.“ Die Poleis führten ein „Höllenleben“ (ebd., S. 642), aber „an den Anblick von Ruinen war man ja gewöhnt“ (ebd., S. 675). 40  Die klassischen Passus sind Polybios, Historiae XXXVI, 17, 5  f.; Plutarch, De defectu oraculorum 413 F–414 A; Seneca, Epistulae morales ad Lucilium XIV, 91, 7; vgl. Dion Chrysostomos, Orationes XXXI, 159 f. und XXXIII, 25; Plinius, Epistulae VIII, 24, 1–4; Cicero, Ad familiares IV, 5, 4. Siehe dagegen Susan E. Alcock: Graecia Capta. The Landscapes of Roman Greece. Cambridge 1993, S. 24–32, S. 145–151 (zum demografischen Wandel).

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erhalten, sie ist geradezu historische Konstante antiker Urbanisierung. Ein trial and error der Stadtgründung war gewissermaßen ebenso Signatur antiker Stadtgeschichte wie die Neugründungen, mit denen politische Umwälzungen symbolisiert werden sollten. Erfolgreiche Reichsbildungen, prosperierende Gesellschaften und Migrationsbewegungen mit Neuansiedlungen versuchten die Menschen zu allen Zeiten in urbanen Strukturen zu spiegeln. Städtische Siedlungen scheinen besonders geeignet, das eigene Selbstverständnis, politische Macht und lokale Identität zu repräsentieren. Um verlassene Städte als antikes Kulturphänomen zu verstehen, sollte man sie nicht allein als Indikatoren historischer Umbrüche wie in der Spätantike interpretieren, sondern vielmehr als in allen Altertumsepochen charakteristische Begleiterscheinung des ständigen und äußerst dynamischen Wandels der Stadtkultur wie allgemein der Siedlungsstrukturen betrachten und als charakteristisches Element einer antiken Lebenskultur verstehen, die gleichermaßen von ungeheurer Dynamik wie von prekären und ständig existenziell bedroh­ lichen Lebensverhältnissen geprägt war. Angesichts dieser langen Geschichte eines kontinuierlichen Nebeneinanders von Neugründung und Untergang ist auch die antike Wahrnehmung von Transformationsprozessen urbaner Strukturen neu zu bedenken und in guten Teilen als zeittypische Form der Resilienz zu lesen.41 Mit Blick auf die globale und auch mittelalterliche wie neuzeitliche Stadtgeschichte ist es von hohem kulturhistorischen Interesse, dass bereits die antiken Kulturen auch in ihren Zeiten der höchsten Blüte urbaner Standards vor Augen führen, dass die Ruine und der verlassene Ort seit Beginn des Städtebaus fester Bestandteil aller urbanen Geschichte sind. Das Nebeneinander von bewohnten und verlassenen Orten war nämlich auch später in vielen Regionen während des Mittelalters und der Frühen Neuzeit charakteristisch und verdient als typisches Element der Stadtkultur daher bis in unsere Zeit Aufmerksamkeit. Trotz der seit mehreren Jahrtausenden beobachtbaren Präsenz von verlassenen Städten blieben auch in diesen Epochen Planungseuphorie und Optimismus erhalten, sind geradezu eine anthropologische Konstante, die sich bis in die heutige Zeitgeschichte beob­ achten lässt. Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts zeigt der Prozess der Verstädte­rung eine historisch besonders ausgeprägte Dynamik, die schließlich im 20. Jahrhundert Städte dramatisch wachsen lässt.42 In keiner anderen Zeit der ­Geschichte sind derart explosionsartig Großstädte oder Megacities gebaut worden wie heute.43 Sie verändern nicht nur markant das zahlenmäßige Verhältnis der 41 

Siehe z. B. Ryan Boehm: Catastrophe or Resilience? Destruction and Synoikismos in the Mak­ ing of the Hellenistic Kingdoms. In: Jan Driessen (Hg.): Destruction. Archaeological, Philological and Historical Perspektives. Louvain-La-Neuve 2013, S. 319–327. 42  Siehe z. B. Andrew Lees/Lynn Hollen Lees: Cities and the Making of Modern Europe, 1750– 1914. Cambridge 2007; Richard Dennis: Cities in Modernity. Representations and Productions of Metropolitan Space, 1840–1930. Cambridge 2008; Friedrich LÜenger: Metropolen der Moderne. Eine europäische Stadtgeschichte seit 1850. München 2013; Eric Mumford: Designing the Modern City. Urbanism since 1850. New Haven/London 2018. 43  Jerzy Kleer/Katarzyna A. Nawrot (Hg.): The Rise of Megacities. Challenges, Opportunities and Unique Characteristics. London 2018.

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Stadt- zur Landbevölkerung, sondern führen bei Soziologen, Architekten, Stadtplanern und Politikern nicht zuletzt angesichts der Geschwindigkeit ihrer Ent­ stehung zu einem verstärkten Forschungsinteresse. Es wird bisweilen bezweifelt, dass es sich bei diesen neuen Metropolen von einer oder mehreren Millionen Einwohnern überhaupt um Städte traditioneller Signatur handelt beziehungsweise die Kategorie „Stadt“ überhaupt dazu taugt, diese zu beschreiben. Die Zunahme und das ständige Wachstum der Städte galten und gelten als universelles Element der neuzeitlichen Stadtgeschichte, zu der eben auch ein steter prozentualer Anstieg der Stadtbevölkerung gehört. Und dieser Prozess scheint unaufhaltsam fortzuschreiten. Während heute die Hälfte der Weltbevölkerung in Städten lebt, wird für das Jahr 2025 eine Quote von 61 % prognostiziert. Auch der ungeheure Verstädterungsprozess seit dem 19. Jahrhundert wird ­geprägt von jener auf den ersten Blick paradox anmutenden Begleiterscheinung antiker Stadtkulturen, nämlich dem Entstehen von Bauruinen, Wüstungen, schrumpfenden und gänzlich verlassenen Städten. Darüber hinaus hält das Landleben Einzug in Städte oder es nimmt zumindest in Nordamerika und Nordwesteuropa im Zuge der Suburbanisierung der Gegensatz zwischen Land und Stadt ab.44 Bisweilen erscheint gar das Dorf als neuer Motor der Industrialisierung.45 Das Phänomen der lost cities zeigt sich regional und zeitlich wie schon in der ­Antike in sehr unterschiedlichen Formen. Demografische Veränderungen, kriegerische Konflikte, Naturkatastrophen, Epidemien, Suburbanisierung, Wandel von Wirtschaft und Infrastruktur oder Verlagerung politischer Zentren und anderes mehr führen weltweit zu einer sich ständig wandelnden städtischen Struktur.46 Mit diesen Faktoren ist angedeutet, dass es sich um sehr dynamische historische Prozesse handelt, die in konkreten politischen Kontexten stattfinden oder/und über längere Zeiträume beobachtbar sind. Die moderne Stadtgeschichtsforschung hat daher in unterschiedlichen Wellen spätestens seit den 60er-Jahren des 20. Jahrhunderts immer wieder die Krise der modernen Stadt thematisiert.47 Damit sollte 44  Sigrun Langner/Maria Frölich-Kulik (Hg.): Rurbane Landschaften. Perspektiven des Ruralen in einer urbanisierten Welt. Bielefeld 2018; Friedrich Lenger: Stadt-Geschichten. Deutschland, Europa und die USA seit 1800. Frankfurt a. M. u a. 2009, bes. S. 251–332. 45  AMO/Rem Koolhaas (Hg.): Countryside. A Report. Köln 2020. 46  Siehe den wegen der systematischen Ordnung nach Ursachen besonders instruktiven Überblick von Philipp Oswald/Tim Rieniets (Hg.): Atlas of the Shrinking Cities/Atlas der schrumpfenden Städte. Ostfildern 2006; Lampen/Owzar (Hg.): Schrumpfende Städte (wie Anm. 12); ­Harry W. Richardson/Chang Woon Nam (Hg.): Shrinking Cities. New York 2014; Alice Giulia dal Borgo/Emanuele Garda/Andrea Marini: Sguardi tra i residui. I luoghi dell’abbandono tra ­rovine, utopie ed eterotopie. Mailand 2016; Uwe Prell: Die Stadt. Eine Einführung in die Sozialwissenschaften. Opladen/Toronto 2020, S. 111–114. 47  Siehe z. B. Peter Hall: Good Cities, Better Lives. How Europe Discovered the Art of Urbanism. London u. a. 2014; siehe auch den Überblick bei Shane Ewen: What is Urban History? Cambridge 2016 oder Renee Mallet: Lost Towns of New England. Charleston, SC 2021. Zu Perspektiven der Stadtforschung siehe auch Friedrich Lenger/Klaus Tenfelde (Hg.): Die europäische Stadt im 20. Jahrhundert. Wahrnehmung – Entwicklung – Erosion. Köln/Weimar/Wien 2006; Lenger: Stadt-Geschichten (wie Anm. 44).

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der Stadtplanung zugearbeitet werden, deren Entwürfe durch die Erforschung gescheiterter Städte ständig neu justiert werden sollten. Verlassene Städte sind fester Bestandteil der Geschichte aller Kulturen, die ­urbane Siedlungen haben entstehen lassen. Neben der Ursachenforschung, welche die Gründe für urbanen Niedergang erkunden möchte, lohnt auch die wissenschaftliche Erkundung, wie Zeitgenossen die Ruinenstädte, antike wie moderne, wahrgenommen, gedeutet und in ihre Lebenswelt eingebettet oder aus ihr abgesondert haben. Die überzeitliche Omnipräsenz der Ruinen erfordert jedenfalls eine über die bloße Wahrnehmung hinausgehende Deutung, man muss sich der Ruine stellen, auch wenn am Ende der Entschluss stehen kann, sie einfach zu igno­rieren. Wie bereits geschildert, haben sich schon in der Antike bemerkenswerte Interpretationsmuster etabliert. In der Neuzeit lässt sich ein Interesse an der Ruine zunächst mit Blick auf ­antike Überreste in Rom und andernorts beobachten. Dies hängt mit konkreten Rahmenbedingungen zusammen, welche zunächst die Epoche der Renaissance geschaffen hat und die seit dem Spätmittelalter von einer ungeheuren Verbreitung antiker Texte geprägt waren. Archäologische Zeugnisse unterschiedlicher Art waren die ersten materiellen Überreste, welche vor dem Hintergrund einer speziellen Antikenrezeption zu Stellungnahmen aufforderten. Wahrnehmung und Deutung von Ruinen unterliegen einem dynamischen historischen Wandel, da sie immer innerhalb spezifischer historischer und kultureller Rahmenbedingungen aktiviert werden.48 Untergegangene Städte können schlicht in ihrer reinen Materialität als Zeichen vergangener Kulturen oder Zeiten angesehen werden. Sie können „die Eselsohren im großen Buch der Geschichte“  (Johann Peter Hebel) genannt werden.49 Zugleich ist ihre Deutung aber immer im historischen Kontext ihrer Betrachtung verankert, was in der Regel zur Folge hat, dass sie mit einer ihnen eigentlich fremden und ursprünglich nicht eigenen Bedeutung aufgeladen werden. Sie stellen „den Einschuss einer Vergangenheit in die Textur der Gegenwart“ (Walter Benjamin) dar und erfahren historisch sich verändernde Semantisierungen.50 Ruinenstädte können der Rekonstruktion einer Vergangenheit dienen, aber auch in neue historische Kontexte jener Zeit eingebunden werden, in denen sie wahrgenommen werden. Dies eröffnet den Weg, sie als Allegorie der Vergänglichkeit alles Irdischen zu verstehen, in ihnen eine vergangene Vollkommenheit und verlorene Größe zu identifizieren oder sie gar als Hybris menschlichen Handelns zu sehen. Im Zuge eines sich ausprägenden Geschichtsbewusstseins lassen sich seit dem 18. Jahrhundert neben solchen allegorischen Sichtweisen an Ruinenstädten auch 48 Zur

Deutung von Ruinen siehe Peter Geimer: Die Vergangenheit der Kunst. Strategien der Nachträglichkeit im 18. Jahrhundert. Weimar 2002 und die Beiträge in Aleida Assmann/Monika Gomille/Gabriele Rippl (Hg.): Ruinenbilder. München 2002. 49  Hebels Werke. Bd. IV. Hg. von Adolf Sütterlin. Berlin u. a. 1910, S. 278. 50 Walter Benjamin: Gesammelte Schriften. Bd. II. Frankfurt a. M. 1991, S. 479. Siehe Chris­ tian J. Emden: Walter Benjamins Ruinen der Geschichte. In: Assmann/Gomille/Rippl (Hg.): Ruinen­bilder (wie Anm. 48), S. 61–87.

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Kulturwandel, Zeitbrüche und Anachronismen erkennen. Auf diese Weise wurde die Zeit der betrachtenden Person von den Zeugnissen der Vergangenheit geschieden und historisches Bewusstsein wie Identität generiert. Die spezifische und unver­wechselbare Historizität der verlassenen Orte wurde zunehmend in den Vordergrund gestellt. Zugleich registrierte man seit der Aufklärung einen weiter fortschreitenden Zerfall und forderte, die bedrohten Zeichen der Vergangenheit zu erhalten und zu dokumentieren. Ihre vergängliche Existenz wurde in Stichen, Gemälden, Reiseberichten und schließlich Fotografien festgehalten. Bücher wurden der Hort der vor aller Augen vergehenden Materie und Medien ästhetischer Erfahrung. Die wissenschaftliche Archäologie wurde geboren. Neben einer solchen Wahrnehmung alter verlassener und längst verschwundener Orte steht die Betrachtung von Ruinen der eigenen Zeit. Sie werden weniger mit antiquarischem Interesse angeschaut, sondern in ihrer Wahrnehmung und in der Kommunikation über die Orte laufen weitere politische, religiöse, soziale und kulturelle Deutungsmuster und Intentionen zusammen.51 Aktuell ist die Wahrnehmung von verlassenen Städten, vor allem aber von verlassenen Orten, den soge­nannten lost places, eine regelrechte Modeerscheinung, die starke Präsenz im Internet zeigt und für viele Verlage ein einträgliches Geschäft ist.52 Hierzu gehört sogar eine touristische Erschließung solcher Orte.53 Folge ist geradezu eine Enthistorisierung der Ruinen. Kennzeichen dieser zahlreichen Publikationen, die sich lost places/lost cities/abandoned places widmen, sei es, dass die „narratives […] little more than impressionistic collage of observations and feelings“ seien, die oft komplizierte Geschichte der Orte hingegen gar nicht thematisiert werde, 51 Siehe für die Kunstgeschichte etwa bereits Paul Zucker: Fascination of Decay. Ruins: Relic – Symbol – Ornament. Ridgewood, N.J. 1968 oder den Ausstellungskatalog Monica Preti/ Salvatore Settis (Hg.): Villes en ruine. Images, mémoires, metamorphoses. Paris 2015; Susan ­Stewart: The Ruins Lesson. Meaning and Material in Western Culture. London/Chicago 2020; Lucio Altarelli: L’immaginario delle rovine: da Piranesi al Moderno. Siracusa 2022. 52  Siehe aus der Vielzahl von Publikationen nur Charlie Dombrow: Shooting Lost Places. Fotografie an verlassenen und mystischen Orten. Haar 2014; Aude de Tocqueville: Atlas der verlorenen Städte. München 2015; Marc Mielzarjewicz/Peter Traub: Die Welt der verlassenen Orte: Urbex Fotografie/World’s Lost Places: Urban Exploration Photografie. Halle a. d. S. 2014; Dora Apel: Beautiful Terrible Ruins. Detroit and the Anxiety of Decline. New Brunswick, NJ 2015; Kate Brown: Dispatches of Dystopia. Histories of Places Not Yet Forgotten. Chicago 2015; Travis Elborough: Atlas der verschwundenen Orte. Gestern – heute – morgen. Stuttgart 2019; Annalee Newitz: Four Lost Cities. A Secret History of the Urban Age. New York 2021; Matthew Green: Shadowlands. A Journey through Britain’s Lost Cities and Villages. New York 2022. ­Siehe in den einschlägigen Buchkatalogen die Vielzahl von Titeln mit den Worten lost city/lost place/abandoned und unter den vielen Webseiten nur http://infiltration.org; http://www.ruinenland.de/urbex.htm; http://americanurbex.com; https://www.rottenplaces.de (letzter Zugriff jeweils am 7. 2. 2023). Vgl. zum Phänomen Siobhan Lyons (Hg.): Ruin Porn and the Obsession with Decay. Cham 2018; Tanya Whitehouse: How Ruins Acquire Aesthetic Value. Modern ­Ruins, Ruin Porn, and the Ruin Tradition. Cham 2019. 53  J. John Lennon/Malcolm Foley: Dark Tourism. The Attraction of Death and Disaster. London 2000; Roger A. Salerno: Landscapes of Abandonment. Capitalism, Modernity, and Estrangement. Albany 2003; Steven C. High/David W. Lewis: Corporate Wasteland. The Landscape and Memory of Deindustrialization. Ithaca/London 2007, S. 41–63.

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die Ruinen vielmehr umgemünzt würden in „a wild zone of strange noises, darkness, and hidden danger“: „The allegorical representation of remembered loss is evidenced in temporal flux of urban explorer narratives.“54 Die Geschichte solcher unwissenschaftlichen, persönlich gefärbten Erkundungen, bei denen weniger Information und tatsächliche Geschichte als vielmehr emotionale Berührung im Vordergrund steht, hat eine längere Tradition, die sich auch in Reiseführern zu antiken Ruinen findet.55 Neben solche ahistorische Universalisierung treten divergierende Funktionalisierungen und Instrumentalisierungen für verschiedene Interessen und Botschaften. Es gibt keinen eindeutigen diachronen Wandel in der Wahrnehmung verlassener Städte, sondern einige der genannten Aspekte (Ästhe­ tisierung, Symbolisierung, Funktionalisierung, Musealisierung, Universalisierung usw.) treten häufig synchron auf. Stadtgeschichten in Form von Biografien, die alle Lebensalter bis zum Tod durchlaufen, sind von der Antike bis in die Neuzeit präsent. So finden sich früh und selbst mit Blick auf heutige Städte antizipierende Untergangsszenarien als Mahnungen eines urbanen memento mori.56 Auch die mahnende Erinnerung an die Auslöschung von Städten in den Kriegen des 20. und 21. Jahrhunderts, für die der Osteuropahistoriker Karl Schlögel den Begriff „Urbizid“ geprägt hat, gehört in diesen Zusammenhang.57 In diesem Band sollen diese vielfältigen Aspekte in verschiedenen Zeiten, Kulturen und Weltregionen betrachtet und einige zur Darstellung dieser Kontexte aufgrund der Überlieferungslage besonders geeignete lost cities vorgestellt werden. Im Mittelpunkt soll nicht in erster Linie die Frage stehen, wie die verlassenen Städte entstanden und welche Faktoren zur Aufgabe der Siedlungen führten. Von besonderem Interesse sind die zeitgenössischen Reflexionen über die Ruinen selbst und die unterschiedlichen Spielarten ihrer Instrumentalisierung wie dis­ kursiven Deutung und semantischen Belegung in verschiedenen Kulturen. Ruinenstädte konnten und können buchstäblich als Steinbruch geplündert und entsorgt werden. Sie lassen sich aber auch (wie heutzutage) als Medien deuten, die Inhalte sehr unterschiedlicher Art transportieren. Sie stehen für eine Phase der ­eigenen Geschichte, historisches Versagen, einstige Größe, menschliche Hybris, zwischenstaatliche Konflikte, wirtschaftliches Versagen, Nostalgie, Melancholie und haben in ihrer architektonischen Textur sogar poetische Qualitäten, welche sie der Dichtung und Literatur an die Seite stellen. Verschiedentlich ist zeit­ übergreifend zu beobachten, wie lost cities mythologisch aufgeladen werden und 54 

High/Lewis: Corporate Wasteland (wie Anm. 53), S. 41–63, bes. S. 55–57. z. B. Reiseführer zu antiken Orten wie James Wellard: The Search for Lost Cities. London 1980, S. 12. 56  Siehe auch im Verlag Carpet Bombing Culture in Durham die Bände von Andre Govia: Abandoned Planet. Durham 2014; Romanywg: Beauty in Decay. The Art of Urban Exploring. Bd. I und Bd. II. Durham 2010/2012; Rebecca Litchfield: Soviet Ghosts. The Soviet Union Abandoned. Durham 2014 sowie Daniel Barter/Daniel Marbaix: States of Decay: Urbex New York. Durham 2013. 57 Karl Schlögel: Marjampole oder Europas Wiederkehr aus dem Geist der Städte. München 2005, S. 171–182; Lenger: Metropolen der Moderne (wie Anm. 42), S. 420–439. 55  Vgl.

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regelrechte Mythologien untergegangener Orte entworfen werden. Die historisch und kulturell divergenten und variablen Blicke auf den verlassenen Ort sind daher ein vielversprechendes Forschungsfeld. Deutung und Wahrnehmung der Ruinen­ städte spiegeln auch die Reflexion beispielsweise über den Untergang der Orte oder etwa über die Krisen menschlicher Gesellschaft und die Wirkung göttlicher Mächte. Die antike Literatur wie die modernen Medien bieten folglich vielfältige Wahrnehmungs- und Deutungsmuster.

Nikola Wenner Rituelles Klagen und öffentliches Trauern Katastrophenszenarien als Stabilisierungsmechanismen in der altbabylonischen Gesellschaft O city, the wail is bitter, the wail set up for you! Your wail is bitter, city, the wail set up for you! His righteous, destroyed city − the wail for it is bitter! His destroyed Ur − the wail for it is bitter! Your wail is bitter, city, the wail set up for you! His destroyed Ur − the wail for it is bitter! Your wail is bitter! Your lady, the mourner, how long will she be grieving?1

Das Textkorpus der Klagelieder aus der altbabylonischen Zeit (ca. 1800–1600 v. Chr.) belegt, dass Städtezerstörungen als potenzielles Unheil, das jederzeit über die Menschen hereinzubrechen drohte, in der mesopotamischen Gesellschaft sehr präsent waren. In den Texten, wie zum Beispiel in der zitierten Klage über die Zerstörung der südmesopotamischen Stadt Ur, werden sowohl Stadtgemeinschaft als auch Gottheiten als Trauernde um die verlorenen Städte dargestellt. Der ­Trauer wird dabei in den Klageliedern durch verschiedene feste Motive, jedoch in großer Variation Ausdruck verliehen. Ein Grundmotiv stellt die Figur der klagen­ den Göttin dar, die traditionellerweise als Fürsprecherin der Menschheit vor ­ihrem göttlichen Gemahl auftritt, der als Schutzpatron der jeweiligen Stadt deren Zerstörung entweder aktiv angeordnet oder passiv zugelassen hat. Durch ihre Klage versucht sie ihn davon zu überzeugen, sich den Menschen wieder zuzu­ wenden sowie Frieden und Ordnung herzustellen. Diesem Wunsch kommt der 1  Klage

über die Zerstörung von Ur, Z. 40–46; in der Edition von Nihil Samet: The Lamentation over the Destruction of Ur. Winona Lake 2014. Die altbabylonischen Szenarien zerstörter Städte erscheinen angesichts des Kriegs in der Ukraine allzu aktuell. Die ursprüngliche Idee, mich mit dem Thema „Trauer und deren Verarbeitung“ im Altertum zu beschäftigen, entstand bei der ­Planung der Trauerfeier meiner Tante und lebenslangem Vorbild, Kirsten Nelson (31. 8. 1957– 12. 2. 2018). Diese beiden unterschiedlichen Ereignisse versinnbildlichen geradezu, dass sich per­ sönliche wie politische Zugänge zu Trauer verbinden können; es entsteht ein Zusammenwirken, das sich auch in den Narrativen und Motiven der altbabylonischen Klagelieder niederschlägt. Dieser Beitrag wurde im Gedenken an meine Tante sowie die zahlreichen Opfer des UkraineKriegs geschrieben und wurde im Rahmen des Internationalen Doktorandenkollegs Philologie in München verfasst. Mein herzlicher Dank für die fachliche und redaktionelle Beratung gilt Karen Radner, Elisabeth Hüls, Martin Zimmermann, Adrian Cornelius Heinrich, Tonio Mitto und Luis Schäfer. https://doi.org/10.1515/9783111071848-002

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gött­liche Schutzpatron am Ende der Kompositionen in der Regel nach und die vermeintlich schon verlorene Stadt wird gerettet und wieder aufgebaut.2 Die Kla­ gelieder hatten drei Funktionen: Sie liefern Erklärungen für Katastrophen, indem sie die Zerstörung der Stadt auf den Verlust göttlichen Schutzes zurückführen. Zusätzlich bieten sie der Bevölkerung durch den Klagegestus selbst ein Mittel, die Götter milde zu stimmen und so Zerstörungen zu verhindern oder zu begrenzen. Gleichzeitig fungiert der Klageritus als eine Bewältigungsstrategie, um mit dieser ständigen Bedrohung umzugehen. Bei der Untersuchung von Klagen über zerstörte Städte ist zwischen zwei Text­ gattungen strukturell und kontextuell zu unterscheiden: Die erste Gattung, die sogenannten Städteklagen, sind literarisch anspruchsvolle Kompositionen, die zeitlich auf die altbabylonische Zeit beschränkt sind und auf historische Ereig­ nisse verweisen, zum Beispiel den Untergang des Reiches Ur um 2000 v. Chr. Ins­ gesamt werden fünf Texte dieser Gattung zugeordnet,3 namentlich: die Klage über die Zerstörung von Ur,4 die Klage über die Zerstörung von Sumer und Ur,5 die Klage über Nippur,6 die Klage über Eridu7 und die Klage über Uruk8. Die ­circa 250 Tontafeln und Fragmente, die diese Texte bezeugen, wurden in einer ­Mischung des sumerischen Hauptdialektes und Emesal9 verfasst, also in einem ­ursprünglich den Frauen, später den Priestern vorbehaltenen Soziolekt des ­Sumerischen. Die Städteklagen waren Teil des Curriculums der Schreiberausbil­ dung und werden deshalb auch oft als „literarische Klagen“ bezeichnet.10  2  Anne

Löhnert: Motive und Funktionen der Göttinnenklagen im Frühen Mesopotamien. In: Margaret Jaques (Hg.): Klagetraditionen. Form und Funktion der Klage in den Kulturen der An­ tike. Göttingen 2011, S. 39–62.  3  Teilweise wird auch der Fluch von Akkad mit dieser Gattung assoziiert (unter anderem als Vorgänger der späteren altbabylonischen Kompositionen), aber ihr nicht eindeutig zugeordnet; vgl. dazu Uri Gabbay: Defeat Literature in the Ancient Cult of the Victorious: Ancient Meso­ potamian Sumerian City Laments. In: Katharina Streit/Marianne Grohmann (Hg.): Culture of Defeat: Submission in Written Sources and the Archaeological Record. Proceedings of a Joint Seminar of the Hebrew University of Jerusalem and the University of Vienna, October 2017. Piscataway 2021, S. 121–138, hier: S. 122.  4  Ediert und übersetzt von Nihil Samet: The Lamentation over the Destruction of Ur. Winona Lake 2014.  5  Ediert und übersetzt von Piotr Michalowski: The Lamentation over the Destruction of Sumer and Ur. Winona Lake 1989.  6  Ediert und übersetzt von Steve Tinney: The Nippur Lament. Royal Rhetoric and Divine Legi­ timation in the Reign of Išme-Dagan of Isin (1953–1935 B.C.). Philadelphia 1996.  7  Ediert und übersetzt von Margaret Whitney Green: The Eridu Lament. In: JCS 30 (1978) 3, S. 127–167.  8 Ediert und übersetzt von Margaret Whitney Green: The Uruk Lament. In: Journal of the American Oriental Society 104 (1984) 2, S. 253–279.  9  Der sumerische Begriff eme-sal, übersetzt „feine Sprache“, bezeichnet einen von Frauen verwendeten sumerischen Soziolekt, der in literarischen Texten, vor allem aber in Klageliedern Gebrauch fin­ det; vgl. Anne Löhnert: „Wie die Sonne tritt heraus!“ Eine Klage zum Auszug Enlils mit einer Untersuchung zur Komposition und Tradition sumerischer Klagelieder in altbabylonischer Zeit. Münster 2009, S. 4; Löhnert: Motive (wie Anm. 2), S. 40. 10  Gabbay: Defeat Literature (wie Anm. 3), S. 121–125.

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Im Gegensatz dazu weist die zweite Gattung, die sogenannten kultischen Kla­ gen, eine längere Tradierungsdauer ab dem beginnenden 2. Jahrtausend bis zum Ende des 1. Jahrtausends v. Chr. auf. Die Texte dieser Gattung wurden hauptsäch­ lich in Emesal verfasst, wobei im 1. Jahrtausend in der Regel auch eine babyloni­ sche Übersetzung zu den sumerischen Zeilen hinzugefügt wurde. Rund 2 000 Ta­ feln machen den Fundus von mehreren Hundert Kompositionen aus, die durch lange Litaneien gekennzeichnet sind. Die auch als Emesal-Gebete bezeichnete Klagegattung spielte eine wichtige Rolle im Tempelkult und beschränkte sich nicht auf die Verarbeitung eines speziellen historischen Ereignisses, sondern war Teil einer theologischen Programmatik.11 Der Verlust der göttlichen Gunst war im Bewusstsein der Mesopotamier eine ständige Gefahr und ein potenzieller Aus­ löser für Katastrophen und Leid. Restaurierungen, Reparaturen, Prozessionen und astronomische Ereignisse wurden deshalb pro forma mit Klagegesängen be­ gleitet, um die Götter nicht zu erzürnen beziehungsweise sie im Vorfeld milde zu stimmen. Dabei wurde je nach Anlass ein bestimmtes Klagelied angestimmt, was wiederum die Unterteilung in weitere Genres erklärt. Unter anderem gelten Balaĝ s (eigentlich das sumerische Wort für ein Musikinstrument, das zur musika­ lischen Untermalung der Klagelieder verwendet wurde) als wichtige Kompositio­ nen aufgrund ihres rituellen Gebrauchs und kommunalen Charakters.12 Im Folgenden soll durch die Vorstellung prominenter Motive aus den litera­ rischen und den rituellen Klagen eine Einführung in die Klagelieder insgesamt gegeben werden. Aufbauend auf eine tiefergreifende Analyse der Klagelieder ­ ­werden Einblicke in die Funktionen öffentlicher, gemeinschaftlicher Trauer in der altbabylonischen Zeit gewährt. Dabei wird die Textanalyse der fünf Städte­ klagen mit zwei ausgewählten Balaĝ s,13 nämlich mit den Kompositionen „Wie die Sonne tritt heraus“ ( d utu-gen 7 e 3 -ta)14 und „Diese Stadt, die geplündert wurde“ (uru 2 am 3 -ma-i-ra-bi), komplementiert und kontrastiert.15

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Vgl. ebd., S. 125–127. Vgl. ebd., S. 129–135; Löhnert: „Wie die Sonne tritt heraus!“ (wie Anm. 9), S. 45 f. 13  Im Anschluss sind alle Zitate aus den Städteklagen oder den zwei Balaĝs, falls nicht anders ­angegeben, den zuvor in den Anmerkungen 4–8 sowie 14 und 15 genannten Editionen entnom­ men. Die Quellenangabe erfolgt im Anschluss in Kurzform. Alle Hervorhebungen innerhalb der Zitate beruhen auf den Quelleneditionen und wurden nicht eigenständig vorgenommen. Was die Balaĝ s betrifft, deren Tradierungsdauer bis in die Seleukidenzeit reicht, orientieren sich die Zitate an den Übersetzungen der Komposittexte (also dem Zusammenschluss mehrerer fragmentari­ scher Textfunde aus unterschiedlichen Zeiten zu einem Gesamttext, auch wenn es sich nicht aus­ schließlich um altbabylonische Textvertreter handelt). Aufgrund der langen einheitlichen Tradie­ rung der Klagelieder, kann von Textvertretern aus dem 1. Jahrtausend auch auf fehlende Inhalte von altbabylonischen Tontafeln geschlossen werden; vgl. dazu Uri Gabbay: Pacifying the Hearts of the Gods. Sumerian Emesal Prayers of the First Millenium BC. Wiesbaden 2014, S. 187 f. 14  Ediert und übersetzt von Löhnert: „Wie die Sonne tritt heraus!“ (wie Anm. 9). 15  Ediert und übersetzt von Paul Delnero: How to Do Things With Tears. Ritual Lamenting in Ancient Mesopotamia. Boston/Berlin 2020. 12 

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Das Motiv der klagenden Göttin Eines der häufigsten Motive in den Klagegesängen stellt die klagende Göttin dar.16 Sie tritt als Fürsprecherin der Menschen auf und trauert über den Verlust von ­deren Stadt. Je nach Klagelied und zugeordneter Stadt wird sie daher mit verschie­ denen Göttinnen identifiziert: In der Städteklage um das zerstörte Ur und im Balaĝ „Wie die Sonne tritt heraus“ handelt es sich um Ninlil; in dem Lied „Diese Stadt, die geplündert wurde“ ist Inanna die Protagonistin; in der Städteklage um Eridu klagt Damgalnunna und in der Klage um Sumer und Ur weinen gleich meh­ rere weibliche Gottheiten. Tränen vergießend bedauern all diese Göttinnen die Zerstörung ihrer Städte und das Schicksal ihrer Schützlinge, der Stadtbewohner. Dabei sind ihre Klagen oft in der wörtlichen Rede formuliert und heben sich ­somit strukturell von den restlichen Teilen der Kompositionen ab. Die Göttinnen sprechen ihren jeweiligen Gemahl, üblicherweise den Schutzherren der Stadt, oder andere männliche Götter an: Da diese ihre Aufmerksamkeit der Stadt entzo­ gen haben, wurden die Städte dem Ruin preisgegeben. Damgalnunna fordert bei­ spielsweise ihren Gatten Enki auf, sich Eridu wieder zuzuwenden.17 Noch ein­ drücklicher wird in der Städteklage um Ur beschrieben, wie sich Ninlil vor dem Himmelsherrscher An und ihrem Mann Enlil weinend auf den Boden wirft und darum fleht, dass ihre Stadt Ur und deren Bewohner nicht untergehen mögen: „Let not my city be destroyed!“ I said to them, „Let not Ur be destroyed!“ I said to them, „Let not its people perish!“ I said to them. But An did not change that word, Enlil did not soothe my heart with that „It is good; so be it“. The utter destruction of my city they ordered, The utter destruction of Ur they ordered, That its people be killed they decreed its destiny.18

Eine weitere Variation des Motivs zeigt sich bei der Göttin Inanna, die ihre Klage keinem bestimmten Gott vorträgt, sondern stattdessen ihr Unverständnis über das Katastrophenausmaß in den Vordergrund stellt: „My city is scattered before my eyes – why! It is divided up like property – why!“ Sie fragt nach der Ursache für das Untergangsszenario, das in dem Balaĝ „Diese Stadt, die geplündert wur­ de“ beschrieben wird. In der mesopotamischen Vorstellung – so wird es unter an­ derem in den Klageliedern dargestellt – ist der Ursprung von Leid im Verlust der Gunst der Götter zu sehen. So können Katastrophen sowohl durch ihren aktiven Zorn als auch durch deren passive Gleichgültigkeit gegenüber den Menschen aus­ gelöst werden. Die Klagen der Göttinnen in den Texten, und ebenso der Priester in rituellen Aufführungen der Klagelieder, sollen die männlichen Götter be­ schwichtigen und ihr Mitleid entfachen. So sollen entweder bereits eingetroffene 16 

Insbesondere herausgearbeitet von Löhnert: Motive (wie Anm. 2), S. 39–62. Siehe die jeweils genannten Quellentexte sowie ebd., S. 41–43. 18  Klage über die Zerstörung von Ur (wie Anm. 4), Z. 157–164. 17 

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oder potenzielle Katastrophen verringert oder im besten Falle ganz verhindert werden.19

Die Suche nach dem verlorenen Kind Um der Klage der Göttinnen noch mehr Ausdruck zu verleihen, werden ihre Trauer und ihr Schmerz durch weitere Motive hervorgehoben. Eines davon ist die Suche nach dem verlorenen Kind, Gemahl oder Bruder – wobei ersteres am häu­ figsten verwendet wird. Das Motiv taucht mal mehr, mal weniger explizit auf, kann umgekehrt werden oder völlig von der Figur der klagenden Göttin losgelöst sein.20 Oft bleibt unklar, ob die verlorenen Familienmitglieder verstorben oder noch am Leben, aber unauffindbar sind. Zum Beispiel stößt Ninlil im Balaĝ „Wie die Sonne tritt heraus“ einen Schrei wegen ihres Gemahls und ihres Kindes aus.21 Die genaue Ursache des Aufschreis wird nicht erläutert. In der Klage um das zer­ störte Ur sucht hingegen die personifizierte Stadt wie ein verlorenes Kind nach ihrer Mutter, der Schutzpatronin Ningal: My lady, your city is weeping for you as for its mother, Ur, like a child lost in the street, is searching for you.22

Im Balaĝ „Diese Stadt, die geplündert wurde“ werden anstelle von Göttinnen ver­ schiedene Tiere durch den reißenden Fluss von ihrem Nachwuchs abgeschnit­ ten.23 All diese Beschreibungen symbolisieren großen Kummer, der auf die enge Verbindung zwischen Mutter und Kind zurückzuführen ist. Der geschilderte Ver­ lust steht somit für größten Schmerz. Daneben gibt es Beschreibungen von Eltern, die ihrer Verantwortung nicht mehr nachkommen, ihre Kinder nicht mehr suchen oder sich aktiv von ihnen ab­ wenden, weil sie durch Not und Trauer gelähmt sind.24 Bei diesen Szenen handelt es sich um eine Verkehrung des Verlorenen-Kind-Motivs in Kombination mit ei­ nem weiteren gängigen Motiv, dem Vernachlässigen von Pflichten, welches später genauer erläutert wird.

Schlaflose Nächte Ein weiterer Ausdruck für große Trauer, der sich in den Kompositionen findet, ist Schlaflosigkeit. Diese wird einerseits von den Göttinnen in den Klageliedern er­ 19 

Vgl. Löhnert: Motive (wie Anm. 2), S. 39–62. Vgl. ebd., S. 50. 21  Vgl. Balaĝ „Wie die Sonne tritt heraus“ (wie Anm. 9), Z. 175, Z. 179. 22  Klage über die Zerstörung von Ur (wie Anm. 4), Z. 369  f. 23 Balaĝ „Diese Stadt, die geplündert wurde“ (wie Anm. 15), Z. 79–87. 24  Vgl. ebd.; Klage über die Zerstörung von Ur (wie Anm. 4), Z. 233–235; Klage über die Zerstö­ rung von Sumer und Ur (wie Anm. 5), Z. 12; Klage über Nippur (wie Anm. 6), Z. 43. 20 

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lebt, kann andererseits aber auch die gesamte Stadtgemeinschaft betreffen. In der Klage über Uruk wird mit Schlaflosigkeit als Teil des Untergangsszenarios ge­ droht: At night they shall toss about tearfully, they shall suffer insomnia; In bed, under the covers, they shall be unable to sleep soundly; they shall wander aim­ lessly about the city (asking) ‚Why?‘ They shall wring their hands; their courage shall run out.25

Hier wird das Motiv der Schlaf- und Ruhelosigkeit mit der Frage nach der Ursa­ che des Leids verknüpft: Die Menschen wollen wissen, weshalb die Götter ihnen nicht mehr wohlgesonnen sind. In ihrer Suche nach der Antwort kommen sie nicht mehr zur Ruhe, sondern wandern nachts ziellos umher. In der Städteklage über Ur wird zunächst beschrieben, dass die Göttin „Ningal wegen ihres Landes Sumer schlaflos sei“.26 Im Verlauf des weiteren Textes klagt sie dann selbst über ihre durchwachten Nächte. Dabei kommt ihr eine passivere Rolle als den Stadtbe­ wohnern von Uruk zu. Die Ruhelosigkeit Ningals rührt in der stürmischen Nacht und nicht in der Reflexion darüber, weshalb die Stadt so viel Leid erfährt. Aber auch für sie verwandelt sich die Nacht, die sonst Ruhe und Erholung verspricht, in einen Albtraum, aus dem es kein Entkommen gibt: At the ‚(storm-)night‘ – when the bitter wails came to be for me – I moaned at that ‚(storm-)night‘. The violence of the ‚(storm-)night‘ I could not escape. The awesomeness of that storm, destructive as a flood, hangs heavy on me! Because of it, in my bedchamber at night, in my bedchamber at night, there is no silence for me, And before time, the quiet of my bedchamber, the quiet of my bedchamber, was also not allowed to me.27

Ein weiteres Beispiel stammt aus einer kultischen Klage. Hier verweigert die ­Göttin Ningal sich selbst die Befriedigung von Grundbedürfnissen wie Essen und Trinken, obwohl genügend Lebensmittel vorhanden wären. Aus Trauer wäscht sie sich auch nicht und schläft nicht mehr. Der emotionale Schmerz schneidet sie ­somit von lebensnotwendigen Ressourcen ab: (Speise ist reichlich vorhanden), doch Speise isst sie nicht, (Wasser ist reichlich vorhanden), doch Wasser trinkt sie nicht! (Weder heißes noch kaltes Wasser zieht ihr das Tuch vom Rücken herunter!) (Wegen der Sorge des Herzens) kommt (kein Schlaf) zu ihr!28

Der Text spiegelt offenbar tatsächliche Erfahrungen von Menschen, die trauma­ tisches Leid erlebt haben. Dass Trauer psychosomatische Beschwerden wie Appe­ tit- und Schlaflosigkeit hervorrufen kann, sodass alltägliche Aufgaben nicht mehr 25 

Klage über Uruk (wie Anm. 8), Kirugu 3, Z. 23–25. Klage über die Zerstörung von Ur (wie Anm. 4), Z. 81 in der deutschen Übersetzung von Wil­ lem Hendrik Philibert Römer: Die Klage über die Zerstörung von Ur. Münster 2004. 27  Klage über die Zerstörung von Ur (wie Anm. 4), Z. 96–101. 28 Balaĝ „Wie die Sonne tritt heraus“ (wie Anm. 9), Z. 184–187. 26 

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Abbildung 1: Ursache der Stadtzerstörung und deren emotionalen, psychischen und sozialen Folgen, wie sie in den Klageliedern beschrieben werden; © Nikola Wenner.

bewältigt werden können, wird durch moderne psychiatrische Studien bestätigt. Zu den betroffenen Aufgaben gehören gesellschaftliche Verpflichtungen wie elter­ liche Pflichten oder das Ausüben von Berufen.29 Schilderungen von Schlaflosig­ keit und anderen psychischen Symptomen können auch in den Klageliedern als Ausdruck von unverarbeiteter Trauer gelesen werden. Die Stadtzerstörung, die diesen Kummer ausgelöst hat, nimmt somit ein noch größeres Leidensausmaß an. Zusätzlich zum konkreten Verlust, den Göttin und Stadtgemeinschaft erfahren, kommt der emotionale Schmerz hinzu, der psychische und soziale Folgen nach sich zieht (Abb. 1).

Das Vernachlässigen von Pflichten Dass Gottheiten und Menschen ihre spezifischen Aufgaben den hier behandelten Kompositionen zufolge nicht mehr erfüllen, kann aber nicht nur durch Schlaf­ losigkeit verursacht werden. Begründungen für solches Verhalten tauchen in zahl­ reicher Variation sowohl in den Städte- als auch in den kultischen Klagen auf. So treffen die Schafe und Kälber in „Diese Stadt, die geplündert wurde“, als sie von der Weide zurückkehren, ihre Hirten nicht mehr an. Diese sind von der feindli­ chen Armee verschleppt worden und können ihre Tiere deshalb nicht versorgen.30 In der Klage um das zerstörte Ur ist es zunächst der Gott Enlil, der seiner Pflicht als treuer Hirte der Stadtbewohner nicht mehr nachkommt. Als Konsequenz ver­ mehrt sich die Bevölkerung nicht, sondern verlässt stattdessen zusammen mit dem Weidevieh die Stadt: My city no longer multiplies for me like a trusty ewe, its trusty shepherd is gone. Ur no longer multiplies for me like a trusty ewe, its trusty shepherd-boy is gone. My oxen no longer stand in their cattle-pen, their oxherd is gone. My sheep no longer crouch in their sheepfold, their herdsman is gone.31

Im Balaĝ „Wie die Sonne tritt heraus“ wird ein ähnliches Szenario dargestellt. Nachdem sich Enlil abgewandt hat und die Stadt zu einem verlorenen Ort hat werden lassen, ist nun die Bevölkerung von Trauer erfüllt. Bestimmte Personen­ 29 

Vgl. Paul Ekman: Gefühle lesen. Wie Sie Emotion erkennen und richtig interpretieren. Berlin/ Heidelberg 2003, S. 132. 30 Balaĝ „Diese Stadt, die geplündert wurde“ (wie Anm. 15), Z. 75–82. 31  Klage über die Zerstörung von Ur (wie Anm. 4), Z. 265–268.

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gruppen üben ihre berufsspezifischen Funktionen aus, wie der Klagepriester, der die Wehklage erhebt. Andere hingegen kommen ihren Pflichten nicht mehr nach, sondern geben sich ganz ihrer Trauer hin, wie die Hirten und der gudu-Kult­ priester: Da ihr Herr die Stadt nicht überprüft hat, da Mullil sie zu einem Phantom hat werden lassen, (vergießt nun der Mann) des Weinens (dort) Tränen, erhebt der Mann der Wehklage dort die Wehklage, gibt ihr Rinderhirte dort einen dumpfen Laut von sich, spielt der Schafhirte dort das Trauerrohr, ruft ihr gud u-Kultpriester dort den Freudenschrei nicht mehr aus [...].32

Sogar Ibbī-Suen (= Ibbi-Sin), der letzte König des Reiches von Ur, übt seine Rolle in der Städteklage über die Zerstörung von Sumer und Ur nicht aus. Stattdessen sitzt er allein und handlungsunfähig auf seinem Thron, während das Land von feindlichen iranischen Völkern (Šimaškier und Elamer) eingenommen wird:33 Its king sat immobilized in the palace, all alone. Ibbi-Sin was sitting in the palace, all alone. In the Enamtila, the palace of his delight, he was crying bitterly.34

All diese Beschreibungen verstärken den Eindruck der Katastrophe: Die gesell­ schaftliche und politische Ordnung ist destabilisiert, da die Menschen nur mit ausreichend Ressourcen wie Fleisch von Schafen und Rindern überleben können. Nur geeint unter einer Führungsperson kann sich die städtische Gemeinschaft ge­ gen Feinde verteidigen, und so bedeutet ein handlungsunfähiger König völlige Schutzlosigkeit. Allein durch die verschiedenen Priester und deren Riten werden die Götter milde gestimmt, sodass diese sich nicht von den Menschen abwenden und die Städte dem Ruin nicht preisgeben.

Die Flucht aus der untergehenden Stadt Können die priesterlichen Riten die Götter allerdings nicht milde stimmen, kommt es zu Folgekatastrophen, wie Fluten, Bränden und feindlichen Invasionen. Diese veranlassen nicht nur die Bewohner der Stadt, sondern auch die Götter fortzuge­ hen. Der einst schützende Raum der Zivilisation wird vom Chaos verschluckt, die Menschen fliehen in das Umland und kleiden sich in Lumpen (ein spezifisches ­Zeichen von Trauernden), oder sie werden in andere Städte verschleppt: My daughters and sons have been carried off in ships; ‚Alas, my men!‘ I shall cry. Woe is me! My daughters, in a strange city, took an unfamiliar path. My young men, in a desert they know not, wear filthy garments.35 32 Balaĝ

„Wie die Sonne tritt heraus“ (wie Anm. 9), Z. 203'–209'. Vgl. Michalowski: Lamentation (wie Anm. 5), S. 1–3. 34  Klage über die Zerstörung von Sumer und Ur (wie Anm. 5), Z. 104–106. 35  Klage über die Zerstörung von Ur (wie Anm. 4), Z. 283–285. 33 

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Allerdings gelingt nicht allen die Flucht: In der Klage um das zerstörte Ur wird in einer Passage beschrieben, wie die alten Männer und Frauen, die die Häuser nicht verlassen können, bei lebendigem Leib verbrennen: „Old-women and old-men, who could not leave the house, were consumed by fire.“36 Ebenso richtet sich im Balaĝ „Diese Stadt, die geplündert wurde“ die Natur gegen die Menschen, falls diese nicht bereits von den Armeen der Feinde verschleppt wurden. Als sich die Fliehenden in den hohen Gräsern des Umlandes verstecken wollen, werden sie von dieser feindlichen Vegetation zu Fall gebracht: The one who fled for his life was pursued at his feet [while fleeing], The man who [flees?] to the sedges is cut down by the sedges, The man who flees(?) to the alfalfa grass is cut down by the alfalfa grass [...].37

Neben den Menschen verlassen sogar die Götter die Städte. In der Klage über das zerstörte Ur suchen diese in der Steppe und in den Bergen Zuflucht, weil der Stadtpatron seine schützende Funktion nicht mehr ausübt: Its good šedu-deities went away; its l a m a -deities ran off; Its l ama-deity (said) ‚hide in the steppe!‘; they took foreign paths; The city’s patron god turned against it; its shepherd [abandoned] it; Its guardian (spirit) though not an enemy, was exiled to (?) a foreign place. Thus all its most important gods evacuated (Uruk); they kept away from it; They hid out in the mountains; they [wandered about] in the haunted plains.38

Ein noch spezifischeres Beispiel bietet die Klage der Göttin Damgalnunna, in der sie in den Bergen ein trauriges Lied über die Zerstörung von Sumer und Ur an­ stimmt. Trotz ihrer Stellung als Herrin der Stadt wurde sie dazu gezwungen, fort­ zureiten und ihre Besitztümer hinter sich zu lassen. Nun lebt sie als Sklavin in fremden Landen.39 Die Göttin Ningal im Balaĝ „Wie die Sonne tritt heraus“ zieht sich hingegen aufgrund ihrer Trauer in die Steppe zurück. An diesem Ort der Ab­ geschiedenheit möchte sie klagen. Da sie ihre Emotionen nicht zügeln und sich nicht beruhigen kann, kehrt sie auch nicht mehr in die Zivilisation zurück: Geschrei – in der Steppe verbringt sie den Tag in Klagerufen, (in Klagerufen verbringt sie den Tag in der Steppe!) (… kehrt … nicht zurück, über den Pferch) beruhigt sie sich nicht, (…) kehrt (… nicht) zurück, in der Hürde besänftigt sie sich nicht!40

Die Beschreibung ähnelt auch der Darstellung junger Männer, die nach der zitier­ ten Passage aus der Klage um das zerstörte Ur in der Steppe Lumpen- oder Trauer­ gewänder41 anlegen. Die Steppe als öder Raum, fern von jeglicher Zivilisation, symbolisiert dabei die Isolation, in die sich manche Trauernde begeben. Da die 36 

Vgl. ebd., Z. 228. „Diese Stadt, die geplündert wurde“ (wie Anm. 15), Z. 52–54. 38  Vgl. Klage über Uruk (wie Anm. 8), Kirugu 2, Z. 21'–26'. 39  Vgl. Klage über die Zerstörung von Sumer und Ur (wie Anm. 5), Z. 272  f. 40  Vgl. Balaĝ „Wie die Sonne tritt heraus“ (wie Anm. 9), Z. 180–183. 41  Siehe dazu den Kommentar 285 von Samet: Lamentation (wie Anm. 4), S. 113 und die Über­ setzung derselben Zeile von Römer: Klage (wie Anm. 26), S. 99. 37 Balaĝ

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Trauer nicht bewältigt werden kann, verweilen die Individuen in Einsamkeit und bleiben unfähig, ihre sozialen Pflichten zu erfüllen. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass in den hier behandelten Klageliedern zwei unterschiedliche Fluchtszenarien gezeichnet werden: Einerseits fliehen be­ stimmte Personen aus der Stadt, da ihr Zuhause zerstört ist. Andererseits suchen sie die Steppe gezielt als Ort der Einsamkeit auf, um in Abgeschiedenheit zu trau­ ern. Dass Trauer als Emotion nicht nur ein Bedürfnis nach, sondern auch ein Ge­ fühl von Einsamkeit erzeugt, wird auch durch Textstellen aus der Klage über die Zerstörung von Sumer und Ur belegt: Unter anderem sitzt hier der handlungsun­ fähige König, von allen verlassen, allein weinend auf dem Thron.42

Der König als Retter Anhand der Städteklagen lässt sich aber auch ein weiteres Motiv herausarbeiten: Könige werden als Wiederhersteller der politischen und sozialen Ordnung darge­ stellt. Zum Beispiel gelingt es dem König Išme-Dagān von Isin in der Klage über die Zerstörung von Nippur, durch seine Klagen und Opfergaben das Herz des Stadtgottes Enlil wieder zu beruhigen. Er überzeugt den anfänglich noch zorni­ gen Gott, seine Herrschaft zu unterstützen und sich Nippur wieder zuzuwenden. Enlil trägt Išme-Dagān auf, die Stadt in seinem Namen zu hüten, damit erneut Frieden herrsche. Die Katastrophen, die in den Schilderungen am Beginn der Komposition über Nippur hereinbrechen, werden durch die Klage des Königs letzten Endes überwunden: His domination of years made long, to (Išme-Dagan, Enlil) promised, (To be) a man of preeminent kingship, to him he promised, (To be) a king whose reign is good, to him he promised! To have the people inhabit safe dwellings, to him he promised!43

Auch in der Klage über Uruk soll der König Išme-Dagān Enlil durch Opfergaben und Klageriten wieder milde stimmen. Der Gott wird darüber hinaus gebeten, die Herrschaft des Königs zu verkünden und diese im Gegensatz zu anderen über­ ragend und unantastbar zu machen. Dabei wird Išme-Dagān als besonders folg­ samer und frommer Mann beschrieben.44 In den erhaltenen Manuskripten von der Klage um Eridu wird der ebenfalls als demütig beschriebene König nicht namentlich genannt. Laut Margaret Whitney Green dürfte es sich entweder gleichfalls um Išme-Dagān handeln oder um NūrAdad von Larsa, der in der Stadt Eridu einen Tempel für Enki, den göttlichen Schutzherren und dem Klagetext zufolge auch den Zerstörer der Stadt, erbauen ließ. Das Motiv bleibt dabei dasselbe: der demütige König, der die Stadt durch 42 

Vgl. Klage über die Zerstörung von Sumer und Ur (wie Anm. 5), Z. 104, Z. 202. Klage über Nippur (wie Anm. 6), Z. 314–317. 44  Vgl. Klage über Uruk (wie Anm. 8), Kirugu 12, Z. 6–38, bes. Z. 22  f. 43 

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fromme Handlungen vor dem Untergang bewahrt. Er stimmt den Gott Enki wie­ der milde. Darüber hinaus heißt es im folgenden Textabschnitt: „May he restore it for you.“45 Aufgrund des schlechten Erhaltungszustandes der Komposition sind die Bezüge nicht eindeutig rekonstruierbar. Wahrscheinlich ist es aber der König, der die Stadt für den Gott wieder aufbauen und die politische und soziale Ord­ nung erneut herstellen soll.46 In der Klage über die Zerstörung von Sumer und Ur tritt in die Rolle des ­Königs kein menschlicher Herrscher, sondern Nanna, der Stadtgott von Ur. Hier sind ähnliche Formulierungen wie in den anderen Städteklagen zu finden. Es han­ delt sich aber dennoch nicht um einen irdischen Wiederhersteller der politischen und sozialen Ordnung, wie er in den anderen Beispielen des Königsmotivs zu er­ kennen ist.47

Die Öffentlichkeitswirkung der Texte Bevor die Funktionen von Klageriten beschrieben werden, muss kurz die Reich­ weite der Quellentexte in der altbabylonischen Zeit diskutiert werden. Es ist be­ reits angedeutet worden, dass die Kompositionen unabhängig von ihrem Auffüh­ rungskontext durchaus reale Erfahrungen in Bezug auf die Emotion „Trauer“ wiedergeben. Die literarischen Motive bilden gesellschaftlich anerkannte Normen und Handlungsmuster im Umgang mit Verlusten ab und waren auch als solche allgemein verständlich.48 Es ist ferner zu vermuten, dass öffentliche Aufführungen solcher Klagelieder Auswirkungen darauf hatten, wie die Emotion „Trauer“ ge­ lebt wurde. Über die Öffentlichkeitswirkung der Städteklagen ist allerdings wenig Konkre­ tes bekannt. Die Rezeption der Gattung, die sich auf das historische Ereignis des Untergangs des Reiches Ur bezieht, war auf die altbabylonische Zeit beschränkt, orientierte sich aber wahrscheinlich an den damals schon etablierten kultischen Klagen. Es gibt keine belastbaren Belege für eine rituelle Praxis, in der die Texte laut vorgetragen wurden. Lediglich das Königsmotiv, das den Restaurierungsakt am Ende der Kompositionen beinhaltet, könnte auf eine Aufführung während der Restaurationsmaßnahmen (zum Beispiel zu Beginn der Bautätigkeit) verweisen. Da keine Quellen das Vortragen der Städteklagen bezeugen, geht die Forschung jedoch davon aus, dass sie einmalig gesungen wurden, aber nicht Teil einer regel­ mäßig abgehaltenen Zeremonie waren.49

45 

Klage um Eridu (wie Anm. 7), Kirugu 8, Z. 1. Vgl. Green: Eridu Lament (wie Anm. 7), S. 128–130. 47  Vgl. Klage über die Zerstörung von Sumer und Ur (wie Anm. 5), Z. 461, Z. 469, Z. 514f.; zudem Gabbay: Defeat Literature (wie Anm. 3), S. 124 f. 48  Vgl. Jeremy Allen Black: Eme-sal Cult Songs and Prayers. In: Aula Orientalis IX (1991), S. 23–36. 49  Vgl. Samet: Lamentation (wie Anm. 4), S. 9–12; Gabbay: Defeat Literature (wie Anm. 3), S. 125. 46 

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Im Gegensatz dazu hatten die kultischen Klagen mit Sicherheit einen öffent­ lichen Charakter. Sie wurden zu bestimmten Anlässen – Restaurationsarbeiten, Festlichkeiten und astronomischen Ereignissen – aufgeführt, wie verschiedene Quellen, vor allem aus dem ersten vorchristlichen Jahrtausend, belegen. Was solche rituellen Praktiken in der altbabylonischen Zeit betrifft, gibt es leider weniger Zeugnisse. Allerdings konnte gerade in Bezug auf das Klagelied „Diese Stadt, die geplündert wurde“ eine öffentliche Inszenierung des Balaĝ s während eines Rituals zu Ehren der Göttin Ištar nachgewiesen werden, welches in der Stadt Mari am mittleren Euphrat zur Regierungszeit von Jasmaḫ-Adad (1792–1773  v. Chr.) voll­ zogen wurde. Hierzu wurde eine Trommel oder Harfe, die eine Gottheit per­ sonifizierte, vor die Statue der Göttin Ištar gestellt. Professionelle Klagesänger (sumerisch gala, akkadisch kalû) setzten sich daneben und stimmten dann die musikalische Untermalung des Liedes an. Für einige Passagen der Klage verließen diese Priester den Tempel und hielten eine Prozession ab.50 Für das Balaĝ „Wie die Sonne tritt heraus“ sind durch die Textquellen der alt­ babylonischen Zeit leider keine Aufführungen belegt. Der Inhalt verweist aber auf eine Götterprozession, in der der Gott Enlil von Nippur in das circa 30 Kilo­ meter entfernte Isin zieht. Auch wenn es keine direkten Beweise dafür gibt, dass das Balaĝ während einer solchen zeremoniellen Reise vorgetragen wurde, liegt die Vermutung recht nahe. Schließlich verweisen Urkunden auf das Abhalten zahl­ reicher sogenannter Götterreisen seit dem dritten Jahrtausend v. Chr.51 Bedenkt man die Menge der Manuskripte und Paralleltexte des Klageliedes und die lange Tradierungs- und teilweise belegte Aufführungsdauer bis in das erste Jahrtau­ send v. Chr., muss davon ausgegangen werden, dass das Balaĝ mehrfach öffentlich vorgetragen wurde. Falls die Klage Teil einer Götterprozession war, müsste das Lied auf dem Weg nach Nippur in den Straßen zu vernehmen gewesen sein.52 Demnach hätten sowohl die kultischen Klagen als auch die Städteklagen eine öffentliche Reichweite in der altbabylonischen Zeit gehabt, wenn auch in unter­ schiedlich starker Ausprägung. Allerdings sollte angemerkt werden, dass die Texte der Balaĝ s, obwohl sie in der Öffentlichkeit aufgeführt wurden, nicht für das breite Publikum konzipiert wurden. Schließlich wurden sie in dem Soziolekt Emesal verfasst, dessen Verwendung bereits in der altbabylonischen Zeit auf die eigens spezialisierte Priesterschaft der Klagesänger begrenzt war. Die Texte richteten sich daher wahrscheinlich direkt an die Götter. Für die breite Masse der Menschen war ihr Wortlaut unverständlich.53 Aufgrund dessen kann die Tradition der Balaĝ s auch als abstrakter Trauerritus interpretiert werden, der von der ursprünglichen 50 

Vgl. Delnero: Things (wie Anm. 15), S. 106–108. wurden die Götterreisen theologisch damit begründet, dass der Gott Enlil auf dem Weg über die Handelsroute Ausstattungsteile für seinen umfangreichen Tempelhaushalt er­ stehen musste. Seine Gattin Ninlil, die zuhause sehnsüchtig auf ihren Mann wartet, klagt über seine Abwesenheit; vgl. Löhnert: „Wie die Sonne tritt heraus!“ (wie Anm. 9), S. 55–61. 52  Vgl. ebd., S. 172. 53  Vgl. ebd; Anne Löhnert: Manipulating the Gods: Lamenting in Context. In: Karen Radner/ Eleanor Robson (Hg.): The Oxford Handbook of Cuneiform Culture. Oxford 2011, S. 406 f. 51  Zeitgenössisch

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Emotion enthoben war. Diese Trennung von Ritus und Emotion reduziert aber keineswegs die mögliche Aussagekraft der Klagelieder über ihre öffentliche Funk­ tion. Bedenkt man den Aufwand der Komposition und der Durchführung kul­ tischer Klagen, ist es sehr wahrscheinlich, dass die Texte in einem bestimmten ge­ sellschaftlich relevanten Kontext konzipiert wurden. Aus diesem Grund können sie uns Hinweise auf Funktionen öffentlicher Trauer in der altbabylonischen Zeit liefern.

Übersteigerte Trauer als Negativbeispiel – die mahnende Funktion der Texte Obwohl sich die ausgewählten Quellen in ihrer anzunehmenden Öffentlichkeits­ wirkung stark voneinander unterscheiden, konnten einige gemeinsame literarische Motive festgestellt werden, die die Erfahrung mit der Emotion „Trauer“ beschrei­ ben. In den untersuchten Texten dient Trauer unter anderem als Auslöser für Mit­ leid und in einem zweiten Schritt für Erbarmen. Die teils wörtlich wiedergegebe­ ne Klage einer Göttin wiederholt den Klagegestus im übrigen Text. Die direkte Rede der Göttin soll – zusätzlich zu dem realen Durchführen des Ritus durch die Priester – den Stadtgott, der als Verursacher der Katastrophe gilt, dazu bewegen, sich dem Land wieder zuzuwenden und Ordnung herzustellen. Die dargestellte Trauer soll das Mitleid des Gottes entfachen und ihm seine Verantwortung als Schutzherr über die Stadt vor Augen führen.54 Auch der fromme König, der in den Städteklagen Klagegesänge anstimmt und den zornigen Göttern Opfergaben bringt, soll diese milde stimmen und beschwichtigend auf sie wirken. Im Gegensatz dazu kann, wie an den Motiven der vernachlässigten Pflichten und der Flucht aus der Stadt bereits ersichtlich wurde, übermäßige Trauer sowohl bei Gottheiten als auch bei Menschen weiteres Unheil bedeuten. Der Göttin ­Ningal aus dem Balaĝ „Wie die Sonne tritt heraus“ gelingt eine Überwindung der Trauer und damit eine Rückkehr in die Zivilisation nicht, der König aus der Klage über die Zerstörung von Sumer und Ur bleibt regierungsunfähig und trauert in Einsamkeit im Palast, während feindliche Armeen angreifen. Er missachtet damit seine Pflicht, sein Land und seine Untertanen zu verteidigen. Es wird eine klare Erwartungshaltung gegenüber den Herrschenden in Krisensituationen formuliert, wobei die Unerlässlichkeit der Erfüllung königlicher Pflichten besonders hervor­ gehoben wird. Doch nicht nur die Gottheit und die Elite der Stadt betrifft die Gefahr über­ mäßiger Trauer, auch die einfache Bevölkerung wird in verschiedenen Texten von Trauer ergriffen und dadurch bei der Ausübung ihrer Pflichten gestört. Zum Bei­ spiel spielt der Hirte in „Wie die Sonne tritt heraus“ keine fröhlichen Lieder mehr, der Priester kann die Menschen nicht mehr erfreuen und der Klagesänger kann die Herzen der Gottheiten nicht mehr beruhigen. In der Klage über die Zerstö­ rung von Ur verlassen die Hirten samt der Schaf- und Rinderherden die Stadt. 54 

Vgl. Löhnert: Motive (wie Anm. 2), S. 41–58.

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Weitere Berufsgruppen ziehen entweder fort oder erfüllen ihre Aufgaben nicht. Oft werden dabei die verschiedenen Kultpriester besonders hervorgehoben, die ihre Riten nicht mehr abhalten, weshalb die Gemeinschaft die göttliche Gunst vollkommen verliert. Die Szenarien erinnern an völliges Chaos, in dem die soziale Ordnung auf den Kopf gestellt wird. Dadurch, dass alle Stadtbewohner sowie die Götter in den Klageliedern durch übermäßige Trauer den endgültigen Ruin der Stadt herbeiführen können, wird dieses Verhalten als besonders gefährlich darge­ stellt.55 Eine spezielle Variante dieses Motivs stellt die Flucht in die Wildnis der Steppe dar. Da die Steppe sinnbildlich für Ungewissheit, Chaos und Einsamkeit, die trau­ ernde Menschen gelegentlich aufsuchen, steht,56 wird der Rückzug aus der Gesell­ schaft und das Vernachlässigen sozialer Pflichten negativ konnotiert. Beides stellt eine Gefahr für den Erhalt der sozialen Ordnung dar. Die Klagelieder veranschau­ lichen, wie übersteigerte Trauer ohne jegliches Maß ganze Städte ins Chaos trei­ ben kann. Die Menschen und Götter kommen ihren Aufgaben nicht mehr nach. Die Grundlagen allen Lebens – wie Wasser und Nahrung – versiegen, bis nur noch wilde Tiere in den verlassenen Ruinen leben.57 Der Untergang der Zivilisa­ tion wird angedeutet. Das Motiv vom Vernachlässigen der Pflichten thematisiert übersteigerte Emotion als Gefahr für die Gesellschaft. Die Klagetexte warnen vor maßloser Trauer und üben somit eine mahnende Funktion aus.

Instrumentalisierte Emotion – Städteklagen als Strategie zur Machterhaltung Anhand des Königsmotivs kann eine weitere Funktion der Städteklagen abgeleitet werden: Wie bereits erwähnt, verarbeiten manche dieser Texte konkrete histori­ sche Ereignisse wie den Untergang des Reiches von Ur auf literarischer Ebene. Dabei stellen sich die nachfolgenden Herrscher der Dynastie von Isin als Wieder­ hersteller der zerstörten Städte dar. Das Szenario wird in den Städteklagen meist wie folgt beschrieben: Da sich die Götter abgewendet haben, bleibt die Stadt schutzlos und angreifbar zurück, sodass eine feindliche Invasion letztendlich zu der Zerstörung der Stadt führt. Nun tritt die Figur des Königs auf, der die zor­ nigen Götter durch Klagen und Opfergaben milde stimmt. Dieser besonders fromme Mann wird von den Göttern zum neuen Herrscher bestimmt und damit beauftragt, die Stadt wiederaufzubauen sowie die politische und soziale Ordnung Balaĝ „Wie die Sonne tritt heraus“ (wie Anm. 9), Z. 172–189, Z. 205–213; Klage über die Zerstörung von Sumer und Ur (wie Anm. 5), Z. 104–106; Klage über die Zerstörung von Ur (wie Anm. 4), Z. 265–268, Z. 347–357. 56  Vgl. Beate Pongratz-Leisten: Ina Šulmi Īrub. Die kulttopographische und ideologische Pro­ grammatik der akītu-Prozessionen in Babylonien und Assyrien im 1. Jahrtausend v. Chr. Mainz 1994, S. 14. 57  Vgl. unter anderem Klage über die Zerstörung von Ur (wie Anm. 4), Z. 269–274; Balaĝ „Wie die Sonne tritt heraus“ (wie Anm. 9), Z. 217' f. 55  Vgl.

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wiederherzustellen. Der Klagetext endet mit Lob und Gebeten an die Gott­ heiten.58 In der konkreten Ausgestaltung dieses Narrativs in der Klage über die süd­ mesopotamische Stadt Eridu wird der König wie auch in anderen Städteklagen mit „demütiger Mensch“ angesprochen:59 A man, a humble person, brings you a lament over your wife’s faithful temple. When he sings it before you, May that man soothe your heart When he recites a prayer, look kindly upon him. It destroyed your… It struck against your temple. … May he restore it for you.60

Hier wird der König als derjenige dargestellt, der die Gunst der Götter zurück­ erlangt und somit den geordneten Zustand der Stadt unter göttlichem Schutz wie­ der einführt. Er ist auch derjenige, der die Stadt wieder erbaut. Der Herrscher verhält sich somit verantwortungsvoll und pflichtbewusst. Dies zeugt einerseits von der Wirkung der in den analysierten Texten enthaltenen Lehren, andererseits lässt sich dahinter eine weitere Funktion öffentlicher Trauer vermuten: Eine häu­ fig empfundene Emotion während des Trauerprozesses ist der Zorn. Dieser rich­ tet sich gegen die vermeintliche Ursache des Verlusts, die unter Umständen in der Person des Königs selbst gesehen wird.61 Indem die aktuelle Herrscherdynastie in der Klage als Wiederhersteller von Stadt und Ordnung inszeniert wird, kann der Zorn der Bevölkerung abgeleitet und in ein positives Bild transformiert werden. Der jeweilige König nutzt die Klagetradition somit zur Erhaltung und Stabilisie­ rung seiner Machtposition in einer Krisensituation. Dies dient gleichzeitig auch der Stabilisierung der sozialen Ordnung. Ein Aufstand oder ein abrupter Füh­ rungswechsel würde nur zu noch mehr Chaos in der Gesellschaft führen. Somit können bereits drei Funktionen der Klagelieder anhand der Darstellung maßloser Trauer festgemacht werden: Erstens dienen sie als Strategie zum Macht­ erhalt mithilfe bestimmter Inszenierungen innerhalb des bereits bekannten kultu­ rellen Klageritus; zweitens werden die Leser anhand von übersteigerten, negativ dargestellten Beispielen gemahnt und gebildet. Drittens wird mit der Klage eine historische Krisensituation verarbeitet, was wiederum für das kollektive Gedächt­ nis einer Gesellschaft von Bedeutung ist.62 58 

Vgl. Löhnert: Manipulating the Gods (wie Anm. 53), S. 404 f. Definition des sogenannten l ú - s iz k u r- r a (demütigen Menschen) beziehungsweise „humble man“ als König und seiner Darstellung in den verschiedenen Städteklagen Green: Eridu Lament (wie Anm. 7), S. 156 f. 60  Klage über Eridu (wie Anm. 7), Kirugu 7, Z. 21–23 und Kirugu 8, Z. 1. 61  Zorn ist eine bei intensiver Trauer oft empfundene Emotion. Diese wendet sich meist gegen die Ursache des Verlustes. Diese Wut kann sich gegen verschiedene Personen richten, die der Trauernde als Verantwortliche ausmacht – darunter auch gegen sich selbst oder auch im Falle städte-/länderübergreifender Krisen gegen den Herrscher; vgl. Ekman: Gefühle (wie Anm. 29), S. 120. 62  Vgl. Löhnert: Manipulating the Gods (wie Anm. 53), S. 403. 59 Zur

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Vorbereitung auf den Verlust – der Einstieg in die erfolgreiche Trauerverarbeitung Die Klagetexte deuten darauf hin, dass potenzielle Zerstörungsszenarien von Städten in der altbabylonischen Gesellschaft sehr präsent waren und deshalb auch literarisch verarbeitet wurden. Zudem könnte das Abhalten kultischer Klagen die Stadtgemeinschaften mit den kulturell und gesellschaftlich adäquaten Formen von Trauer vertraut gemacht haben. Im Text werden Wege, mit Trauer umzugehen, gesellschaftliche Normen, aber auch Negativbeispiele erläutert. Dadurch wurden die Individuen bereits früh auf Verlust- und Trauerfälle vorbereitet. Den psycho­ logischen Studien von Paul Ekman zufolge kann mit einem bereits erwarteten Verlust in den meisten Fällen leichter umgegangen werden als mit einem plötzli­ chen.63 Demzufolge könnten die kultischen Klagelieder präventiv zur Vorberei­ tung auf bevorstehende Trauerfälle gedient haben, sodass die Trauerverarbeitung anschließend leichter und erfolgreicher vonstattenging. Die Wichtigkeit der erfolgreichen Trauerverarbeitung wird besonders durch das Motiv der Schlaflosigkeit hervorgehoben. Ein geeignetes Beispiel bietet das Balaĝ  „Wie die Sonne tritt heraus“. Wie bereits beschrieben, kann die Göttin ­Ningal ihre Gefühle nicht bändigen. Aus Trauer verweigert sie Essen, Trinken und Körperhygiene, zudem kann sie nicht schlafen. Hier werden die physischen Auswirkungen einer extremen emotionalen Erfahrung aufgezählt, die das Leben eines Individuums stark beeinflussen. Abgesehen davon, dass die Trauer die Göt­ tin davon abhält, ihre gesellschaftlichen Aufgaben zu erfüllen, bekommt die Szene auch eine lebensbedrohliche Komponente, da Leben ohne Schlaf und Nahrungs­ aufnahme nicht möglich ist.64 Wird Trauer nicht richtig verarbeitet, kann es zu längerfristig anhaltenden De­ pressionen kommen. Diese müssen zwar nicht zwingend Schlaf- und Appetit­ losigkeit beinhalten, können aber trotzdem einen einschränkenden Charakter auf das Ausüben bestimmter Rollen innerhalb einer Gemeinschaft haben.65 Dadurch dass die Menschen durch das kultische Klagen mit potenziellem Verlust ver­traut gemacht wurden, wurde eine erfolgreiche Trauerverarbeitung erleichtert. Nur durch ausreichende Trauerverarbeitung kann die psychische und physische Gesundheit des Individuums erhalten werden. Diese bilden eine Grundvorausset­ zung für das Ausüben bestimmter Positionen innerhalb einer Gesellschaft, die für die soziale Ordnung fundamental sind. Die Frage nach der Reichweite der in Emesal verfassten Klagelieder ist letztlich schwierig zu beantworten. Inwiefern die Klagelieder ihr Publikum durch musika­ lische oder rituelle Untermalung auch ohne das Verstehen dieses Soziolekts ange­ sprochen haben, kann nur vermutet werden. Falls dies aber der Fall war, könnte 63 

Vgl. Ekman: Gefühle (wie Anm. 29), S. 122 f. ebd., S. 131f.; Balaĝ „Wie die Sonne tritt heraus“ (wie Anm. 9), Z. 171, Z. 180–187; Löhnert: „Wie die Sonne tritt heraus!“ (wie Anm. 9), S. 297. 65  Vgl. Ekman: Gefühle (wie Anm. 29), S. 132. 64  Vgl

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durch öffentliche Klageriten weniger gebildeten Bevölkerungsteilen ein Zugang zur Trauerverarbeitung geboten worden sein. Fest steht, dass die kultische Klage nicht nur dem Abwenden potenzieller Verluste diente, sondern auch die Ausprä­ gung psychischer Krankheiten durch die Konfrontation mit potenziellen Ver­ lusten verringerte und somit den Erhalt der sozialen Ordnung stützte. Ein weiterer Faktor, der sich positiv auf die Verarbeitung von Verlusten aus­ gewirkt haben könnte, ist der ansteckende Charakter von Trauer. Dieser wird im Balaĝ „Wie die Sonne tritt heraus“ explizit thematisiert und wie folgt beschrieben: Es läßt ihn nicht daran vorbeigehen, den Fröhlichen läßt es nicht daran vorbeigehen. am Ziegelwerk des rechten Hauses läßt es den Jubelnden nicht vorbeigehen! Am rechten Haus hält der, der da eingesetzt ist die Tränen nicht zurück, (um das rechte Haus) fand (seine Herrin dort die Tränen) – die Tränen hält sie dort nicht mehr zurück!66

Sogar die fröhlichen Menschen lässt die Klage nicht kalt. Von ihr ergriffen, verfal­ len die Figuren unverzüglich selbst in eine traurige Stimmung, der sie durch das Weinen Ausdruck verleihen. Was zunächst wie die Ausweitung einer Katastrophe erscheint, hat nicht nur negative Folgen. Schließlich ist Trauer aus einem bestimm­ ten Grund ansteckend: Durch den Anblick einer trauernden Person wird Mitleid entfacht, wodurch dem Betroffenen oftmals mehr Verständnis entgegengebracht wird. Zwischen den Personen entsteht eine spezielle emotionale Verbundenheit, die auf gegenseitigem Beistand und Empathie beruht. In einer größeren Gemein­ schaft kann so durch die gemeinsame Trauer ein besonders starker Gruppenzu­ sammenhalt entstehen, der gerade in Krisenzeiten, aber auch im Alltag die Gesell­ schaft stärkt. Somit wird ein direktes Gegenbild zum Motiv des Zurückziehens in die mit der Steppe versinnbildlichten Einsamkeit geschaffen. Statt der Isolation wird das Leben in der Gemeinschaft betont.67 Abgesehen davon versucht der Kla­ gesänger, durch ausführliche Schilderungen des Kummers und der Zerstörung selbst das Mitleid des Gottes zu entfachen. Der Gott soll also mit Trauer ange­ steckt und somit milde gestimmt werden.

Fazit Die rituelle Klage war in der altbabylonischen Gesellschaft von großer Bedeutung wie ein einzigartiges antikes Textkorpus dokumentiert. Durch sie sollten die Gottheiten, die als Auslöser des Unheils verstanden wurden, wieder milde ge­ stimmt werden. Mithilfe von Schilderungen trauernder Personen, wie zum Bei­ spiel der prominenten Figuren der klagenden Göttin oder des frommen Königs, sollte das Mitleid der zuständigen Götter entfacht werden, sodass sich diese den 66 Balaĝ

„Wie die Sonne tritt heraus“ (wie Anm. 9), Z. 134–139. Carroll Izard: Die Emotionen des Menschen. Eine Einführung in die Grundlagen der Emotionspsychologie. Weinheim/Basel 1981, S. 344; Ekman: Gefühle (wie Anm. 29), S. 125–127, S. 131 f. 67 Vgl.

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Menschen wieder zu- beziehungsweise gar nicht erst von ihnen abwenden. Die Beschreibung von Trauer diente daher als Mittel, die Gunst der Götter nicht zu verlieren oder gegebenenfalls wieder zu erlangen.68 Anhand bestimmter literarischer Motive lassen sich weitere sozial stabilisieren­ de Auswirkungen öffentlicher Trauer beschreiben. Durch die lehrende Funktion der Texte, die vor übermäßiger Trauer und deren Folgen warnten, sollte sicherge­ stellt werden, dass für die Gemeinschaft wichtige Aufgaben trotz eines Trauerfalls noch ausgeübt wurden. Die öffentliche Klage ermöglichte breiten Bevölkerungs­ teilen Zugang zur Trauerverarbeitung, die zur Vorbeugung von physischen und psychischen Krankheiten notwendig ist. Sie stärkte zudem den Gruppenzusam­ menhalt, indem sie gegenseitiges Mitleid und Verständnis entfachte. Gleichzeitig schaffte sie ein starkes Bewusstsein für mögliche Verluste, wodurch die Individu­ en bereits frühzeitig auf zukünftige Trauerfälle vorbereitet wurden. Klageriten in der altbabylonischen Zeit dienten somit vorrangig einem Zweck, nämlich der Sta­ bilisierung der sozialen Ordnung. So wurde einer potenziellen Gefahr, dem in den Klageliedern oftmals beschriebenen drohenden Szenario der verlorenen Stadt, vorgebeugt, die auch in guten Zeiten wie ein Damoklesschwert über der altbaby­ lonischen Gesellschaft zu schweben schien.

Abstract Old Babylonian lamentations from the urban centres of Mesopotamia in the early second millennium BC portray hypothetical ‘lost cities’ and the grief these sce­ narios cause. After the divine protector turns away from his city, its inhabitants can no longer fulfil their duties, and the buildings face destruction and decay. Such lamentations were not only literary compositions but also part of everyday life. They accompanied building and restoration processes, cultic celebrations, and processions in which statues of the gods were carried to other cult sites. Their primary function was to prevent the gods from abandoning the city, which was thought to be the origin of any catastrophe. Public mourning socialised communities with possible losses before they even happened. The analysis of literary motifs in city and cultic laments reveal socially accepted norms of grief. On that basis, this article investigates the various social and psychological functions of public mourning in the Old Babylonian Period.

68 

Vgl. Löhnert: Motive (wie Anm. 2), S. 40–45.

Giulia Lentini Ruinen im Blick: Das Erlebnis Babylons von der römischen Antike bis zur Frühen Neuzeit „Wenn eine Stadt sich in den Himmel erhebt wie ein Berg, wird diese Stadt ein Trümmerhaufen werden“1 – Jahrhunderte vor dem Niedergang Babylons suchten mesopotamische Wahrsager mit diesen Worten das Schicksal einer Stadt vorherzusagen. Als Einheimische kannten sie sich mit der sie umgebenden Welt und den alltäglichen Begebenheiten des städtischen Lebens in Babylonien sehr gut aus. Für sie war das Leben inmitten von Ruinen eine normale Erfahrung, denn Hügel aus Lehmziegeln zeugten allerorts in der Ödnis von ehemals bedeutenden Städten. Auch Jahrhunderte nach dem Niedergang Babylons waren die Einheimischen – obgleich nun Angehörige völlig anderer Kulturen – noch immer mit dieser ­Realität vertraut. Baumaterialien der antiken Stadt wurden völlig selbstverständlich gesammelt und wiederverwertet, um die eigene Stadt zu errichten. Doch auch auf imperialer Ebene wurde das materielle Erbe Babylons gesichert: Seleukeia, Ktesiphon und Bagdad, die nacheinander in der Nähe der antiken Stadt gegründet und so Teil von jenem wahrhaft historischen Raum wurden, den das Gebiet von al-Madā’in bildet,2 wurden aus den materiellen Überresten Babylons errichtet. So ging der Standort dieser „city of bricks“ im Nahen Osten nie verloren. Auch im Westen wurde Babylon nie vergessen, obgleich die Stadt hier lange Zeit vor allem als eine „city of paper“ überdauerte.3 Die Beschreibungen in den antiken Quellen hatten sie in ein Sammelsurium widersprüchlicher Mythen verwandelt: So sehr griechische und lateinische Autoren sie als „city of legend“ verewigt und immer und immer wieder die Gemeinplätze ihrer imperialen Größe wiederholt hatten, so sehr hatte die Heilige Schrift die Stadt als „city of doom“ verdammt und wieder und wieder ihren Untergang vorausgesagt. Doch in einem 1  Sally

M. Freedman: If a City is Set on a Height. The Akkadian Omen Series Šumma Alu ina Mēlê Šakin. Bd. 1: Tablets 1–21. Philadelphia 1998, I 16. Der Beitrag wurde von Henry Heitmann-Gordon, dem ein herzlicher Dank gebührt, aus dem Englischen ins Deutsche übersetzt. Er übersetzte auch die englischen Zitate im Fließtext ins Deutsche. 2  Antonio Invernizzi: Ten Years’ Research in the al-Madā’in Area, Seleucia and Ctesiphon. In: Sumer 32 (1976), S. 167–175. 3 Sébastien Allard: Le mythe de Babylone du XVIe au XIXe siècle. In: Béatrice André-Salvini (Hg.): Babylone. À Babylone, d’hier et d’aujourd’hui. Paris 2008, S. 437–453, hier: S. 437. https://doi.org/10.1515/9783111071848-003

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Abbildung 1: Plan der Ruinen ­Babylons. Mit Anpassungen ­entnommen aus: Robert Koldewey: The Excavations at Babylon. ­London 1914, gegenüber von S. 1.

Punkt waren sich beide Seiten einig: Babylon war großartig. Und die Faszination für diese Größe war in der Tat so stark, dass sie im Laufe der Jahrhunderte zahlreiche Menschen dazu verleitete, die Stadt zu besuchen und zu beschreiben. Dieser Beitrag befasst sich mit den Erfahrungen einiger der vielen Besucher, die von der römischen Antike bis zur Frühen Neuzeit den bröckelnden Hügeln ­Babylons von Angesicht zu Angesicht gegenüberstanden. Im Gegensatz zu den Einheimischen erfuhren Außenstehende erst spät, dass sich unter diesen Hügeln die Schichten dessen türmten, was vor mehr als zwei Jahrtausenden die größte Stadt der Welt gewesen war. Zuvor hatte die Suche nach der „queen of cities“ und die Entdeckung einer „city of ruins“ durchaus zu unterschiedlichen Wahrnehmungen geführt. Für das Jahr 116 n. Chr. berichtet der römische Historiker Cassius Dio,4 dass Kaiser Trajan Babylon besucht habe. Drei Jahre zuvor hatte sich der militärisch sehr erfolgreiche Kaiser dazu entschlossen, die Konflikte an der Ostgrenze des Reiches endlich abschließend zu lösen, und eine große militärische Unternehmung in Angriff genommen. Dank seiner Eroberungen erreichte das römische Territorium seine maximale Ausdehnung und stieß zum ersten Mal auch in das Herz von Roms erbittertstem Feind: dem Partherreich. In der Auseinandersetzung mit diesem militärisch starken Gegner folgte Trajan verschiedenen Vorbildern. Eines war sein eigener Vater, Marcus Ulpius Trajanus, dem als Befehlshaber 4 

Cassius Dio, Römische Geschichte LXVIII, 30, 1.

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der wichtigsten Streitkräfte im Osten die herausragende Ehre der ornamenta ­triumphalia zuteil wurde, weil er einen von Vologaeses I. organisierten Überfall zurückgeschlagen hatte. Ein zweites war Julius Caesar, der am Vorabend seiner Ermordung einen Krieg gegen die Parther vorbereitet hatte, um den Tod von Marcus Licinius Crassus zu rächen und den Feind im Osten dafür zu bestrafen, dass er sich im Bürgerkrieg mit Pompeius verbündet hatte, sowie um sein Reich „nach allen Seiten hin durch das Meer begrenzt“ zu wissen.5 Das wichtigste ­jedoch war Alexander der Große, dessen außerordentlichem Erfolg im Osten Trajan nacheifern wollte.6 Als er nach der Eroberung von Seleukeia und der ­ Hauptstadt Ktesiphon am Persischen Golf angekommen war und Mesopotamien zu einer neuen Provinz des Reiches erklärt hatte, schickte Trajan dem Senat einen Brief, in dem er bedauerte, dass er zu alt sei, um nach Indien zu segeln, wie es sein Vorbild getan hatte.7 Immerhin konnte er noch den Ort besuchen, an dem der griechische Eroberer 323 v. Chr. gestorben war: Babylon. Es ist wahrscheinlich, dass Trajan die klassischen Quellen im Kopf hatte, als er sich Babylon näherte. Die enorme Größe der Stadt, die massiven Stadtmauern und die fabelhaften „hängenden“ Gärten waren damals bereits in vielen Geschichts- und Erdkundebüchern gepriesen worden. Für Herodot war „[Babylon] so geplant wie keine andere Stadt, von der wir wissen“.8 Aristoteles zufolge hatte sie „eher den Umfang eines Volkes als den einer Stadt; denn es heißt, dass ein beträchtlicher Teil der Stadt nach der Eroberung Babylons noch drei Tage später nichts davon wusste.“9 Und in den Schriften von Plinius dem Älteren hieß es: „Babylon, die Hauptstadt der chaldäischen Völker, hatte lange Zeit eine heraus­ ragende Berühmtheit unter den Städten der ganzen Welt, und infolgedessen hat der übrige Teil Mesopotamiens und Assyriens den Namen Babylonien erhalten.“10 Bei seinem Studium der Eroberungen Alexanders hatte Trajan lesen können, dass beim Einzug des Königs in Babylon „die Schönheit und das Altertum der Stadt selbst die Aufmerksamkeit nicht nur des Königs, sondern aller auf sich zog, und das zu Recht“.11 Der römische Kaiser war also höchstwahrscheinlich auf der ­Suche nach der Stadt, die „die anderen nicht nur in ihrer Größe, sondern auch in jeder anderen Hinsicht bei weitem übertraf“,12 wie Strabon schrieb, als er die  5 

Plutarch, Caesar 58, 6. eine grausame Wendung des Schicksals sollte sein Wille zur Nachahmung Alexanders zu einem ähnlichen Ende führen: Auch für Trajan endeten seine Heldentaten im Osten tödlich. Nach einem Krampfanfall oder an einem in Mesopotamien zugezogenen Infekt erkrankt, kehrte der Kaiser nicht mehr in den Westen zurück, sondern starb im Sommer 117 n. Chr. im kilikischen Selinous. Trotz dieses unglücklichen Endes erhielt Trajan als erster Kaiser den Siegerbeinamen „Parthicus“ und behielt ihn auch nach seiner Apotheose bei, als er als Divus Traianus Parthicus in die Ewigkeit einging.    7  Cassius Dio, Römische Geschichte LXVIII, 29, 1.  8 Herodot, Historiae I, 178.  9 Aristoteles, Politeia III, 1276 a. 10  Plinius der Ältere, Naturalis historia VI, 121. 11  Quintus Curtius Rufus, Alexandergeschichte V, 24. 12  Strabon, Geographika XV, 3, 10.  6  Durch

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­ ntscheidung Alexanders begründen wollte, Babylon zur Hauptstadt seines ReiE ches zu machen. Einmal dort angekommen, wurden Trajans Erwartungen jedoch schwer enttäuscht, da er „nichts als Hügel, Steine und Ruinen“13 vorfand – nichts, was den Ruhm der Stadt rechtfertigen würde. In Wirklichkeit war Babylon zu dieser Zeit jedoch noch nicht aufgegeben worden. Das griechische Theater (Abb. 1: T) im nordöstlichen Teil der inneren Stadt wurde unter den Parthern renoviert, wahrscheinlich zunächst in seiner dritten ­architektonischen Phase unter dem König Mithridates II. (reg. 123–88 v. Chr.) und später nochmals im 1. und/oder 2. Jahrhundert n. Chr., wobei dieser letzte zugleich auch der monumentalste Umbau war.14 In vielen Stadtteilen haben archäologische Ausgrabungen parthische Schichten zutage gefördert:15 Auf dem Tell Babil (Abb. 1: B), dem Standort des sogenannten Sommerpalastes von Nebu­ ­ kadnezar II. im nördlichen Teil der äußeren Stadt, wurde eine Festung mit halbrunden Türmen errichtet; auf dem Tell Amran (Abb. 1: A), dem Areal des wichtigsten Tempels der Stadt, der dem Gott Marduk geweihten Esagila, wurden eine Säulenstraße und Peristylhäuser erbaut; Wohngebäude erstreckten sich weitläufig im Gebiet nördlich und südlich des Qasr (Abb. 1: K), wo früher die Paläste der neubabylonischen Könige errichtet worden waren, sowie im Merkes-Viertel (Abb. 1: M). Mit einer bewohnten Fläche von mindestens 100–130 Hektar und ­einer Bevölkerung von etwa 200 000 Einwohnern war Babylon noch weit davon entfernt unterzugehen. Und immerhin konnte Trajan sogar in den Raum des ­Palastes geführt werden, in dem Alexander verstorben war, um dem Geist seines Vorbilds ein Opfer darzubringen.16 Der Anblick der Gebäude der Stadt machte auf Trajan jedoch nicht den erwarteten Eindruck. Denn die babylonische Architektur hatte sich traditionell weitgehend auf Lehmziegel gestützt, ein Baumaterial, das aus dem endlos vorhandenen und mühelos zu beschaffenden Schlamm des Schwemmlandes hergestellt wurde, aber ständig wartungsbedürftig war und daher immer am Rande des Verfalls befindlich. Solch eine Vergänglichkeit stellte wohl für einen Betrachter kein bestaunenswertes Wunderwerk dar – schon gar nicht für einen römischen Kaiser, der monumentale Größe mit der von hartem Stein gewährten Ewigkeit assoziierte, wie sie jene Stadt auszeichnete, die er der Nachwelt hinterließ, das marmorne Rom, wo er nur wenige Jahre zuvor das monumentalste Forum, „ein Wunder jenseits von menschlicher Schaffenskraft“,17 eingeweiht hatte. Der optimus princeps 13 

Cassius Dio, Römische Geschichte, LXVIII, 30, 1. Eine aktuelle Darstellung der Architekturgeschichte des Gebäudes, mit Verweisen auf die ältere Forschung, bietet Daniel T. Potts: The politai and the bīt tāmartu. The Seleucid and Parthian Theatres of the Greek Citizens of Babylon. In: Eva Cancik-Kirschbaum u. a. (Hg.): Babylon. Wissenskultur in Orient und Okzident. Berlin/Boston 2011, S. 239–251. 15  Eine umfassende Darstellung mit weiterführender Bibliografie findet sich bei Stefan R. Hauser: Babylon in arsakidischer Zeit. In: Johannes Renger (Hg.): Babylon. Focus mesopotamischer Geschichte, Wiege früher Gelehrsamkeit, Mythos in der Moderne. Saarbrücken 1999, S. 207–239. 16  Cassius Dio, Römische Geschichte LXVIII, 30, 1. 17  Cassiodorus, Variae VII, 6, 1.

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par excellence, der das Römische Reich in sein Goldenes Zeitalter geführt hatte, erwartete, ein Babylon in seiner größten Pracht zu besuchen, ein Babylon wie es in den ihm bekannten Erzählungen beschrieben war. Zu seiner Bestürzung erwies sich diese Erwartung als mit der Realität unvereinbar. Der griechische Geograf Pausanias, der ebenfalls im 2. Jahrhundert n. Chr. lebte, brachte es auf den Punkt: „Von dem Babylon, das einst die größte Stadt seiner Zeit war, ist unter der Sonne nichts mehr übrig.“18 Babylon war nicht verloren, aber die wunderbare und glorreiche Stadt der historischen Schriften war bereits verschwunden. Weniger als zwei Jahrhunderte später boten Feldzüge gegen den Feind im ­Osten erneut die Gelegenheit für einen kaiserlichen Zwischenstopp in Babylon. Diesmal erhielt die Stadt Besuch von dem einzigen römischen Kaiser, der als „der Große“ in die Geschichte einging: Konstantin. Als Sohn von Constantius Chlorus verbrachte er seine Jugend am Hof des Diokletian, wo er seine Karriere als ­tribunus begann und an der Seite des Augustus und seines Caesars an militärischen Unternehmungen teilnahm. Während einer dieser Unternehmungen, zur Zeit des Perserkriegs (298–299 n. Chr.), begleitete der nunmehr sechzehnjährige Konstantin19 Galerius bei seinem Einmarsch in Mesopotamien, als der Harem und die Schatzkammer des Sassanidenkönigs erbeutet wurden und die Römer bis zur feindlichen Hauptstadt Ktesiphon vorrücken konnten.20 Bei dieser Gelegenheit erblickte er die Ruinen von Babylon und erhielt so einen Eindruck, der sich für lange Zeit in seinem Gedächtnis festsetzen sollte. Noch viele Jahre später erinnerte er sich daran, als er anlässlich eines Osterfestes seine in der Datierung umstrittene, frühestens 314 n. Chr. und spätestens 325 n. Chr. verfasste „Rede an die Versammlung der Heiligen“ (oratio ad sanctorum coetum) hielt.21 In der Zwischenzeit hatte sich jedoch – je nachdem, wie man die Rede datiert – viel verändert. Konstantin war nicht mehr ein junger tribunus, der als Geisel gehalten wurde, um das Wohlverhalten seines Vaters zu gewährleisten, sondern er hatte sicherlich bereits Maxentius und Maximinus Daia (313 n. Chr.) besiegt und war vielleicht sogar schon alleiniger Herrscher des Reiches (324 n. Chr.). Aber was für die Einordnung der Rede viel wichtiger ist: Er hatte eine neue Religion angenommen und war zum Christentum konvertiert. Seine apologetische Rede, die gleichzeitig eine Verteidigung des Christentums und seines neuen Glaubens war,22 hielt er just vor diesem Hintergrund und führte 18 

Pausanias, Beschreibung Griechenlands VIII, 33, 3. Die meisten Forscher sehen das Jahr 272 n. Chr. als Geburtsjahr Konstantins. 20  Timothy D. Barnes: Sossianus Hierocles and the Antecedents of the „Great Persecution“. In: HSCPh 80 (1976), S. 239–252, hier: S. 251. 21  Datierung und Ort der Rede sind umstritten, siehe etwa Klaus Martin Girardet (Hg.): Konstantin. Rede an die Versammlung der Heiligen. Freiburg i. Br. 2014, S. 28–42 (Datierung auf den 16. 4. 314, gehalten in Trier) und Timothy D. Barnes: Constantine’s Speech to the Assembly of the Saints. Place and Date of Delivery. In: Journal of Theological Studies NS 52 (2001), S. 26–36, hier: S. 26 (datiert auf den April 325, gehalten in Nikomenien). 22  Mark Edwards: Constantine and Christendom. The Oration to the Saints. The Greek and Latin Accounts of the Discovery of the Cross. The Edict of Constantine to Pope Silvester. Liverpool 2003, S. XVII. 19 

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als Argument unter anderem das Schicksal Babylons an. In § 16 sagt Konstantin: „Memphis und Babylon haben jedoch die Früchte geerntet, die einer solchen Verehrung [der heidnischen Götter] gebührten, indem sie zusammen mit ihren angestammten Göttern verwüstet und unbewohnt wurden.“ Der Kaiser hob ferner hervor: „Ich sage das nicht aufgrund von Berichten, sondern ich war selbst anwesend, um es zu sehen, und war Augenzeuge des erbärmlichen Schicksals der Städte.“23 Höchstwahrscheinlich hatte Eusebius von Caesarea, Berater und Biograf Konstantins, diese Worte im Sinn, als er in seinem Jesaja-Kommentar schrieb: „Er sagt über Babylon: ‚Und Babylon, das herrlich genannt wird, wird sein, wie als Gott Sodom und Gomorra vernichtete. Es wird nicht ewig bewohnt sein.‘ Wir merken an, dass sich dies tatsächlich bewahrheitet hat, und Babylon ist jetzt unbewohnt und völlig verödet, wie die Berichte von diesen Orten, die uns erreichen, bezeugen.“24 Wie schon Trajan erlebt hatte, war Babylon kein Wunderwerk, das ein römischer Kaiser bestaunen konnte. Diesmal jedoch war der Besuch seiner Ruinen ­keine enttäuschende, sondern eine beruhigende Erfahrung. Konstantin, der erste christliche Kaiser, war nicht wie sein Vorgänger auf der Suche nach der legendären Stadt aus den klassischen Quellen. Stattdessen bot ihm der desolate Zustand, in dem sich die Stadt befand, einen befriedigenden Beweis für die Erfüllung der ­biblischen Prophezeiungen: Sie zeugte von der Zerstörung der heidnischen Welt, über die das Christentum stolz triumphiert hatte, und bewies so die Wahrhaftigkeit des christlichen Glaubens. Der Ruhm Babylons beschränkte sich jedoch nicht nur auf die klassischen Quellen und die Bibel. Die Stadt wurde auch im Koran erwähnt,25 was das Interesse der Araber an ihren Ruinen noch verstärkte. Zudem war Babylon mit ihrer Geschichte verflochten, hatte die Stätte doch einen strategischen Knotenpunkt bei der muslimischen Eroberung Persiens dargestellt. Unmittelbar nach der Schlacht von al-Qadisiyyah im Jahr 636 n. Chr. fügte die Armee des Raschidun-Kalifats den persischen Feinden in Babylon eine schwere Niederlage zu und ebnete damit den Weg für die Eroberung von Ktesiphon und das endgültige Ende der sassanidischen Herrschaft in Mesopotamien. Während dieser Kämpfe litten die Region und die Stadt unweigerlich unter Entbehrungen und Zerstörungen, wodurch sich ihr ruinöser Zustand höchstwahrscheinlich noch verschlimmerte. Der berühmte Geograf al-Bakrī berichtete, dass ’Alī, der Cousin und Schwiegersohn des Propheten Muhammad, als er durch Babylon kam, den Ruf des Muezzins zum Nachmittagsgebet verweigerte, weil der Ort ein Friedhof war.26

23 Ebd.,

§ 16, S. 37.

24  Jonathan J. Armstrong/Joel C. Elowsky (Hg.):

Commentary on Isaiah. Eusebius of Caesarea. Downers Grove 2013, S. 76, [13:19-20] [100]. 25  Qur’an, II 102, Surat Al-Baqarah. 26  Caroline Janssen: Bābil, the City of Witchcraft and Wine. The Name and Fame of Babylon in Medieval Arabic Geographical Texts. Ghent 1995, S. 58 f.

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Doch auch für die Araber waren Ruinen eine alltägliche Erfahrung. Sie waren daran gewöhnt, in modernen und doch verfallenden Stadtvierteln zu leben, sodass diese sogar als charakteristisches Merkmal des frühen islamischen Städtebaus ­definiert worden sind.27 Darüber hinaus sahen sich die Araber mit den vielen ­zerstörten Gebäuden und Denkmälern früherer Reiche konfrontiert, die ihnen schließlich als Zeichen und Orientierungspunkte in der neu eroberten Landschaft dienten.28 So geschah es auch mit Babylon. Noch lange nach ihrem Niedergang war die Lage der antiken Stätte den arabischen Geografen und Kartografen bekannt, die ihre Koordinaten in die zījes, die Tabellen mit den wichtigsten geogra­ fischen Bezugspunkten des Reiches, eintrugen.29 Vom 9. bis zum 14. Jahrhundert n. Chr. wurde Bābil, wie die Stadt in mittelalterlichen arabischen Texten genannt wurde, außerdem häufig in Itineraren und geografischen Beschreibungen erwähnt. Al-Iṣṭaḫrī, dessen Bericht später von Ibn Ḥawqal30 und al-Idrīsī31 wiederholt werden sollte, schildert Bābil als „ein kleines Dorf“, aber gleichzeitig auch als „die älteste Anlage von al-‛Irāq“, mit „Überresten von Bauten, deren äußeres Erscheinungsbild darauf schließen lässt, dass es in alten Zeiten eine wichtige Hauptstadt war“.32 Die antiken Monumente Babylons schrumpften und verfielen, doch die Erinnerung an ihr großes Alter verblasste nicht: Ihre Ruinen waren in jenen Jahrhunderten noch deutlich sichtbar und prägten die Landschaft als Zeugnis des einstigen Ruhms der Stadt. Unter den arabischen Quellen sticht besonders der Bericht des Geografen alMas’ūdī aus dem 10. Jahrhundert hervor, weil er so sonderbar ist. In seinem „Buch der Goldwiesen und Edelsteingruben“ gibt er die korrekte Lage von Bābil „am Ufer eines der Arme des Euphrat im Land von al-‛Irāq“ 33 an, was nicht überrascht – schließlich wurde der Autor im nahegelegenen Bagdad geboren. Außerdem reiste er viele Jahre durch den Nahen Osten.34 Die dort gemachten Erfahrungen werden in seinen anschaulichen und detaillierten Beschreibungen deutlich. Bei der Schilderung der eigentlichen Ruinen vermittelte al-Mas’ūdī den Eindruck, den ein Besucher Bābils bekam, wenn er oder sie „beeindruckende Überreste von Trümmern, Zerstörung und Gebäuden sieht, die zu Hügeln geworden sind“.35 27 

Martin Devecka: Broken Cities. A Historical Sociology of Ruins. Baltimore 2020, S. 80 f. S. 74–77. 29  Janssen: Bābil (wie Anm. 26), S. 97  f. 30  Ebd., S. 33. 31  Es ist bemerkenswert, dass dieser Autor den Zahn der Zeit heranzieht, um das Aussehen der Gebäude von Babylon zu rechtfertigen: „Die königlichen Gebäude der Stadt haben unter dem Lauf der Zeiten gelitten, aber es stehen dort noch immer Überreste, die davon zeugen, dass es in der Antike eine große Stadt war.“ Übersetzung nach Antonio Invernizzi: Il Genio Vagante. Viaggiatori alla scoperta dell’antico Oriente (secc. XII–XVIII). Alessandria 2005, S. 38. 32  Janssen: Bābil (wie Anm. 26), S. 30. 33  Ebd., S. 49. 34 Invernizzi: Genio (wie Anm. 31), S. 19. 35  Janssen: Bābil (wie Anm. 26), S. 49. Eine sehr ähnliche Beschreibung findet sich später bei adDimašqī, der im 14. Jahrhundert n. Chr. von „Tells[,] die wie Berge sind“, berichtet; vgl. Janssen: Bābil (wie Anm. 26), S. 86. 28 Ebd.,

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Diese Hügel waren in der Tat imposant und offensichtlich in der Lage, die Fantasie der Besucher anzuregen. Wie sich der Autor erinnerte, herrschte unter den Bewohnern der Gegend der weit verbreitete Glaube vor, dass „Hārūt und Mārūt, die beiden Engel, die im Koran erwähnt werden, hier waren, nach dem, was Gott (der erhaben ist) erzählt hat, als er auf dieses Dorf mit dem Namen ‚Bābil‘ verwies“.36 Die Muslime besuchten an dieser Stätte also die Hügel, unter denen die beiden gefallenen Engel von Gott in Erwartung des Jüngsten Gerichts ge­ fangen gehalten wurden37 (Abb. 2). Und offenbar waren sie nicht die einzigen Gläubigen, die als Besucher kamen. In demselben Bericht bezeugt al-Mas’ūdī, dass „in diesem Dorf eine Grube ist, die als die Grube des Propheten Daniel (Friede sei mit ihm) bekannt ist. Die Christen und die Juden gehen zu bestimmten Zeiten des Jahres und an einigen ihrer heiligen Tage dorthin.“38 Während arabische Gelehrte Babylon mit wichtigen Momenten in der Geschichte des aufstrebenden islamischen Reiches und die zerstörten Überreste mit dem vergangenen, aber nie vergessenen Ruhm der antiken Stadt in Verbindung brachten, inter­ pretierten die ­Gemeinschaften vor Ort die beeindruckenden Spuren, die sich vor ihren Augen erhoben, im Lichte von Episoden aus ihren heiligen Schriften. Auf diese Weise versuchten sie, das Bābil der hohen Ruinenhügel mit dem des Korans und der Bibel zu verbinden. Die Gemeinschaften vor Ort waren jedoch nicht die Einzigen, die solche Verbindungen aufzubauen versuchten. Im frühen Mittelalter begannen „wandernde Juden“,39 Europa zu verlassen und in den Nahen Osten vorzustoßen. Infolge der Diaspora waren die jüdischen Gemeinden weit über die ganze Welt verstreut, eine Tatsache, die die Juden zu den perfekten Reisenden und Händlern jener Zeit machte, da sie in der Lage waren, mit ihren Glaubensbrüdern in mehreren Sprachen zu kommunizieren und sich auf deren Gastfreundschaft verlassen konnten.40 Erkundung und Handel waren jedoch nicht die einzigen Beweggründe für ihre Reisen. Angeregt durch die Heilige Schrift, reisten die europäischen Juden auch als Pilger zu den heiligen Stätten und suchten nach ihren Glaubensbrüdern im Osten. Nach ihrer Rückkehr berichteten sie über die fernen Länder, die sie besucht hatten. Auf diesem Weg gelangten zum ersten Mal seit der Antike Berichte über die Ruinen Babylons in den Westen.41 Das früheste dieser Zeugnisse stammt von Rabbi Benjamin ben Jonah von ­Tudela, der zwischen 1165 und 1173 n. Chr. den größten Teil der zivilisierten Welt

36  Ebd.

Hier wird auf die einzige Episode im Koran verwiesen, in der Babylon erwähnt wird; vgl. Anm. 25. 37  Julian E. Reade: Disappearance and Rediscovery. In: Irving L. Finkel/Michael Seymour (Hg.): Babylon. Myth and Reality. London 2008, S. 13–32, hier: S. 20. 38  Janssen: Bābil (wie Anm. 26), S. 49. 39  Elkan N. Adler: Jewish Travellers. London 1930, S. XI. 40  Brian Gottesman: Jewish Travelers in the Early Middle Ages; online zugänglich unter: https:// www.academia.edu/8261518/Jewish_Travelers (letzter Zugriff am 15. 9. 2021). 41  Reade: Disappearance (wie Anm. 37), S. 20.

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Abbildung 2: [Unbekannter Maler]: Harut und Marut in ihrem ewigen Brunnen. 1703. Entnommen aus: ­Wikimedia Commons, online zugänglich unter: https://en.wikipedia. org/wiki/Harut_and_ Marut#/media/File:Fallen AngelsHarutandMarut.jpg.

seiner Zeit bereiste.42 In seinem „Sefer ha-Massa’ot“ widmete Benjamin den Gemeinschaften von Glaubensgenossen, denen er begegnete, besondere Aufmerksamkeit, sparte aber auch nicht mit Beschreibungen der Orte und Sehenswürdigkeiten, die er auf seiner Reise passiert hatte. Nachdem er das Heilige Land, das Hauptziel seiner Pilgerreise, besucht hatte, zog er weiter nach Bagdad und erreichte von dort aus Babylon, wo er einen Tag in den ausgedehnten Ruinen der Stadt verbrachte. Seinem Bericht zufolge „ist dies das alte Babel und liegt jetzt in Trümmern, aber die Straßen existieren noch und erstrecken sich über dreißig Meilen. Vom Palast Nebukadnezars sind noch Ruinen zu sehen, aber man fürchtet sich, ihn zu betreten wegen der Schlangen und Skorpione, von denen er heim­ gesucht wird.“43 Die tatsächlichen Überreste der antiken Stadt wurden von dem 42  43 

Adler: Travellers (wie Anm. 39), S. XIV. Adolf Asher (Hg.): The Itinerary of Rabbi Benjamin of Tudela. New York 1900, S. 106.

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Rabbi im Lichte der Bilder dargestellt, die die Propheten Jesaja und Jeremia gezeichnet hatten.44 Der erste neue Bericht über Mesopotamien, der nach Europa gebracht wurde, bestätigte somit die vorherrschende biblische Vorstellung von diesem Ort:45 eine menschenleere Wüste, bewohnt nur von wilden Kreaturen. Einige Jahre später wagte ein anderer „wandernder Jude“, die Ruinen zu be­ treten: Rabbi Petachia ben Yakov aus Ratisbona. Zwischen 1170 und 1187 n. Chr. bereiste Petachia wie sein Vorgänger den Nahen Osten, folgte aber einer anderen Route, indem er zunächst die mesopotamische Tiefebene und erst später Palästina erkundete. Diese Entscheidung war angesichts des Zwecks seiner Reise sinnvoll: Er wollte jüdische Heiligtümer besuchen und die wichtigsten befanden sich nicht im Heiligen Land, sondern in Mesopotamien.46 Bei seiner Suche war Petachia nicht auf sich allein gestellt. Er wurde nicht nur von Rabbi Juda bar Samuel, genannt „der Fromme“, begleitet, der später Petachias eigene Aufzeichnungen in dem uns überlieferten Bericht zusammenstellte,47 sondern er erhielt auch vom Leiter der jüdischen Akademie ein Dokument, in dem die örtlichen Gemeinden gebeten wurden, ihm die heiligen Stätten in der Umgebung zu zeigen.48 So geschah es auch in Babylon, wo die Einheimischen ihn durch die vielen Trümmerhügel führten und ihm erklärten, wie die einzelnen Stätten zu deuten seien. In seinem Reisebericht heißt es: „Rabbi Petachia reiste in zwei Tagen von Bagdad bis an den Rand des alten Babylons. Das Haus von Nebukadnezar ist völlig verödet. In der Nähe seines Hauses steht eine Säule, und das Haus Daniels sieht aus, als wäre es neu. An der Stelle, wo Daniel einst saß, befindet sich ein Stein, und wo seine Füße ruhten, ein Marmorstein. Oben ist auch ein Stein, auf dem das Buch lag, aus dem er abzuschreiben pflegte. In der Wand zwischen dem Haus Daniels und dem von Nebukadnezar ist ein kleines Fenster, durch das er Schriften warf. Darunter befinden sich Stufen, auf denen drei fromme Weise vor ihm saßen. Zu seiner Rechten, neben seinem Sitz, ist ein Stein befestigt, und sie erklärten, es gebe eine Überlieferung, dass dort die Gefäße aus dem heiligen Tempel versteckt seien. […] Dann gingen sie aus diesem Raum und führten den Rabbi durch die ganze Stärke der Wand in einen oberen Raum, in dem Daniel seine Gebete zu verrichten pflegte.“49 Die Ruinen Babylons wurden also noch immer in Kenntnis der Heiligen Schrift und somit aus der Sicht der biblischen Überlieferung wahrgenommen. Jetzt war das, was man sah und beschrieb, jedoch nicht die Verwüstung, die die Propheten schilderten, sondern die lebendige Erinnerung an die babylonische Gefangenschaft.

44 

Jesaja 13; Jeremia 50 und 51. Rannfrid I. Thelle: Discovering Babylon. London/New York 2019, S. 50. 46  Joseph Shatzmiller: Jews, Pilgrimage, and the Christian Cult of Saints: Benjamin of Tudela and his Contemporaries. In: Alexander Callander Murray (Hg.): After Rome’s Fall. Narrators and Sources of Early Medieval History. Toronto 1998, S. 337–347, hier: S. 344. 47  Adler: Travellers (wie Anm. 39), S. 64. 48  Ebd., S. 73. 49  Ebd., S. 81. 45 

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Ab dem 13. Jahrhundert n. Chr. wurden die Straßen Zentralasiens zunehmend auch von christlichen Missionaren bereist. Dominikaner und Franziskaner „hatten sich ausdrücklich verpflichtet, für das Heil aller Völker in der ganzen Welt zu arbeiten“.50 Im Laufe der Jahre wurden mehrere von ihnen vom Papst ausgesandt, um im Osten zu predigen. Sie trafen dabei nicht nur auf Muslime und christliche Dissidenten,51 sondern konnten auch ferne Orte und alte biblische Stätten be­ suchen und später darüber berichten. Ninive und Babylon durften dabei natürlich nicht fehlen. Doch trotz ihres gemeinsamen religiösen Hintergrunds waren die Berichte, die sie ihren Lesern boten, von unterschiedlicher Couleur. So erwies sich der Dominikaner Jordanus Catalanus de Sévérac als besonders empfänglich für Wunder.52 Es ist daher nicht verwunderlich, dass seine bildhafte Beschreibung von Babylon derjenigen der biblischen Visionen entsprach: Er zeichnete eine Art Hölle auf Erden. In seinen „Mirabilia descripta“ berichtete er: „Von Chaldäa will ich nicht viel sagen, außer das, was einen sehr verwundert, nämlich dass an einem Ort dieses Landes einst Babylon stand, das nun zerstört und verlassen ist, und zudem voll von haarigen Schlangen und monströsem Getier. An demselben Ort hört man auch zur Nachtzeit solches Geschrei, solches Geheul und solches Gezischel, dass man ihn die Hölle nennt. Niemand würde es wagen, dort auch nur eine Nacht zu verbringen, selbst mit einem großen Heer, wegen der endlosen Schrecken und Gespenster.“53 Ganz anders dagegen fiel die Beschreibung seines Mitbruders Ricoldo Pennini da Montecroce aus. Dieser Missionar hielt sich mehrere Jahre lang in Bagdad auf, sodass sogar sein Kenotaph in Santa Maria Novella in Florenz an seine Zeit dort erinnert.54 Obwohl er in religiöser Mission unterwegs war,55 schrieb Ricoldo über die Ruinen, die er für die „fast völlig zerstörten“ Überreste des alten Babylon hielt,56 ohne dabei auf aus der Bibel bekannte Bilder und Interpretationen bei ­seiner eigenen Einordnung anzuspielen. Stattdessen präsentierte er ein prägnantes Bild, das sich aus seiner direkten Beobachtung ergab: „Wir stießen auf eine andere große Stadt entlang des Flusses, das alte Bagdad oder Babylon. Ihre gewaltigen Ruinen ließen sie fast wie ein anderes Rom erscheinen.“57 Der Blick, den der ita­ lienische Ordensbruder wählte, war einer, der ihm und den Lesern seines „Liber peregrinationis“ wohl vertraut war: Er bezog sich nicht mehr auf das marmorn

50  Rita

George-Tvrtković: A Christian Pilgrim in Medieval Iraq. Riccoldo da Montecroce’s Encounter with Islam. Turnhout 2012, S. 1. 51  Darunter waren zum Beispiel die Jakobiter in Mossul und die Nestorianer in Bagdad. 52 Invernizzi: Genio (wie Anm. 31), S. 82. 53 Ebd. 54  Ebd., S. 79; Stefano Orlandi (Hg.): ‚Necrologio‘ di S. Maria Novella. Florenz 1955, S. 222. 55  Vgl. George-Tvrtković: Pilgrim (wie Anm. 50), S. 29–34. 56 Betrachtet man die Reiseroute, der Ricoldo über den Tigris von Mosul im Norden nach ­Bagdad im Süden gefolgt ist, wird deutlich, dass die Ruinen des alten Babylon mit denen von ­Samarra, einer antiken Stätte am Ostufer des Flusses, 120 km nördlich von Bagdad, verwechselt wurden. Vgl. George-Tvrtković: Pilgrim (wie Anm. 50), S. 14. 57  Ebd., S. 204.

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glänzende Rom Trajans, sondern auf eine große antike Stadt, die selbst schon in Trümmern lag. Christen fanden auch als Folge der Kreuzzüge ihren Weg in den Osten. Ein junger Söldner, Johann Schiltberger, geboren im bayerischen Dorf Lohhof zwischen Freising und München, nahm an einem dieser Kreuzzüge teil, dem Kreuzzug von Nikopolis 1396. Zunächst von den Türken und dann von den Mongolen versklavt, reiste Johann fast dreißig Jahre lang im Dienste seiner Herren weit umher. So besuchte der „deutsche Marco Polo“ Ägypten, das Heilige Land, Persien, die Mongolei, Indien und auch Babylon. Die Orientierung am biblischen Text, in dem ein karges, nur von wilden Tieren bevölkertes Land geschildert wird, ist in seiner Beschreibung des berüchtigten Turms noch erkennbar: „Der Turm liegt in der Wüste Arabiens, an der Straße, wenn man das Königreich Kalda betritt; aber niemand kann dorthin gelangen wegen der Drachen und Schlangen und anderer schädlicher Reptilien, von denen es in der genannten Wüste viele gibt.“58 Gleichzeitig tauchen in dem Bericht über die antike Stätte in seinem Reisebuch aber auch andere Elemente (wieder) auf: „Das große Babilonie war von einer Mauer umgeben, fünfundzwanzig Wegstunden lang, und eine Wegstunde sind drei italienische Meilen; die Mauer war zweihundert Ellen hoch und fünfzig Ellen dick, und der Fluss Euffrates fließt mitten durch die Stadt; aber sie ist jetzt ganz in Trümmern, und es gibt keine Bewohner mehr in ihr.“59 Mit der Renaissance wurde die altgriechische Literatur von den Humanisten wiederentdeckt, darunter auch die lobenden Beschreibungen des großen Babylon in den klassischen Quellen. Johann war kein Gelehrter, verfügte jedoch über ein bemerkenswertes Erinnerungsvermögen und diktierte daher nach der Rückkehr in seine Heimat seine Reisen einem Schreiber,60 der die Informationen über die Mauern Babylons eingefügt haben muss, die dem Bericht von Herodot so sehr ähneln. Das Gleiche geschah im Falle seines Zeitgenossen Niccolò de’ Conti. Nachdem er verschiedene Regionen Ostasiens bereist hatte, war er gezwungen, die Absolution für seine Konversion zum Islam zu erbitten. Als Buße wurde ihm auferlegt, seine Reiseerinnerungen dem päpstlichen Sekretär anzuvertrauen. Auf diese Weise wurden die Erzählungen des venezianischen Kaufmanns in die „Historiae de varietate fortunae“ aufgenommen, verfasst von dem berühmten italienischen Humanisten Poggio Bracciolini, damals päpstlicher Sekretär und einer der führenden Köpfe der Wiederentdeckung der Antike. Die Erzählung von der „sehr edlen und alten Stadt Babylon“ zeigt, dass die antike Überlieferung nun zweifellos wieder eine Rolle spielte: „Entlang des Flusses Euphrat liegt ein Teil der sehr edlen und alten Stadt Babylon, deren Umfang 14 Meilen beträgt; die modernen Bewohner nennen sie ­Baldacco und durch sie fließt der erwähnte Fluss Euphrat, über den eine starke

58  John

Buchan Telfer (Hg.): The Bondage and Travels of Johann Schiltberger, a Native of Bavaria, in Europe, Asia, and Africa 1396–1427. London 1879, S. 46. 59 Ebd. 60  Ebd., S. XVIII.

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Brücke mit 14 Bögen führt, welche die beiden Hälften der Stadt verbindet, und viele Überreste und Fundamente antiker Gebäude sind noch zu sehen.“61 Solche Verbindungen zwischen Handel und Humanismus erreichten ihren ­Höhepunkt im 16. Jahrhundert. Im Zeitalter der Entdeckungen revolutionierten ­Kolonial- und Handelsinteressen die geografische Erfassung und Kartierung der Welt. Der Lockruf des Ostens und seiner Reichtümer trieb die Seemacht Portugal dazu, nach neuen Seewegen dorthin zu suchen, wobei man die berühmte Route um das Kap der Guten Hoffnung entdeckte. Andere europäische Länder sahen sich veranlasst, nach Landwegen zu suchen, die das Mittelmeer mit Persien und Indien verbanden, was zwangsläufig bedeutete, dass die Händler auf Fluss- und Karawanenrouten durch den Nahen Osten reisten. Auf der „Standardroute“ durchquerten sie Syrien bis Bīr (das heutige Bīrecik) am linken Euphratufer, nutzten dann den Fluss in südöstlicher Richtung bis nach Falludscha, erreichten anschließend Bagdad auf dem Landweg und setzten schließlich den Weg über den Tigris nach Basra, zum Persischen Golf und zum Indischen Ozean fort. Auf diese Weise wurde das Zweistromland nicht nur von den europäischen Kaufleuten, sondern auch von der europäischen Leserschaft in weitaus größerem Umfang erkundet als zuvor, und zwar dank der Berichte, die viele dieser gelehrten Reisenden zu Papier brachten. Die Bedeutung, die der Humanismus der Beobachtung aus erster Hand und der präzisen Beschreibung beimaß, zwang die Autoren dazu, ihre ­Reisen mit detaillierten schriftlichen Berichten zu verbinden: Die sogenannte ars peregrinandi-Literatur war geboren.62 Aber nicht nur die Kaufleute setzten ihre Füße – und danach ihre Schreibfedern – in Bewegung, auch manche Gelehrte der Renaissance ließen sich von den Informationen über den Nahen Osten, die die nun verfügbaren antiken Quellen lieferten, inspirieren und verwandelten sich zuweilen in „reisende Wissenschaftler“.63 Ein Beispiel dafür ist Leonhardt Rauwolff. Der Arzt, Botaniker und gebürtige Augsburger bereiste zwischen 1573 und 1576 Syrien, Palästina und Mesopota­ mien, offiziell um die Angestellten des Handelsunternehmens seines Schwagers medizinisch zu versorgen64 und neue marktfähige Pflanzen und Medikamente aus diesen Regionen zu beschaffen. Obwohl er sich hauptsächlich für botanische Untersuchungen interessierte, sammelte der deutsche Wissenschaftler auch zahlreiche Beobachtungen über die Länder, Völker und Bräuche, die er auf seiner Reise ­kennenlernte (Abb. 3). In seiner „Aigentliche Beschreibung der Raiß inn die Morgenländer“ ist die ausführliche Beschreibung der „Standardroute“ von Bīr nach Falludscha durchsetzt mit Eindrücken über die vielen Ruinen, denen Rauwolff 61 

Übersetzung nach Invernizzi: Genio (wie Anm. 31), S. 88. Ooghe: The Rediscovery of Babylonia. European Travellers and the Development of Knowledge on Lower Mesopotamia, Sixteenth to Early Nineteenth Century. In: Journal of the Royal Asiatic Society 17 (2007) 3, S. 231–252, hier: S. 234. 63  Karl H. Dannenfeldt: Leonhard Rauwolf. Sixteenth-Century Physician, Botanist, and Traveler. Cambridge 2014, S. 4. 64 Mehr Informationen finden sich unter: https://herbariumworld.wordpress.com/2018/09/17/ touring-the-near-east-leonhard-rauwolf (letzter Zugriff am 24. 1. 2022). 62 Bart

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Abbildung 3: Rauwolffs Reise. Entnommen aus: Leendert Rouwolf: Seer aanmerkelyke Reysen, na en door Syrien, ’t Joodsche Land, Arabien, Mesopotamien, Babylonien, Assyrien, Armenien, & c. Leyden 1706, gegenüber von S. 99.

unterwegs begegnete und die er im Lichte der ihm durch die Bibel und die Klassiker vermittelten Kenntnisse zu identifizieren versuchte.65 Als er in Falludscha landete, glaubte er, die Stätte des alten Babylon erreicht zu haben. Die Trockenheit und Unfruchtbarkeit des Landes standen im Widerspruch zu der Annehmlichkeit und Fruchtbarkeit, die dem Land Šinar in der Bibel zugeschrieben wird, doch wurden alle Zweifel von „einigen alten und empfindlichen Altertümern, die hier noch in großer Verwüstung stehen“66 ausgeräumt. Dazu gehörten die Überreste einer alten Brücke über den Euphrat mit Bögen, die „aus gebrannten Ziegeln gebaut und so stark sind, dass sie bewundernswert sind“,67 und natürlich die des berüchtigten Turms, „den die Kinder Noahs (die diese Länder nach der Sintflut zuerst bewohnten) bis in den Himmel zu bauen begannen“.68 Der Turm von Babel war (vermeintlich) noch immer sichtbar und erstreckte sich 65  Tilmann

Walter: Eine Reise ins (Un-)Bekannte. Grenzräume des Wissens bei Leonhard Rauwolf (1535?–1596). In: NTM. Zeitschrift für Geschichte der Wissenschaften, Technik und Medizin 17 (2009), S. 359–385, hier: S. 361. 66  John Ray: A Collection of Curious Travels and Voyages. Containing Dr. Leonhart Rauwolf’s Journey Into the Eastern Countries, viz. Syria, Palestine, or the Holy Land, Armenia, Mesopotamia, Assyria, Chaldea. Bd. II. London 1738, S. 137. 67 Ebd. 68  Ebd., S. 138.

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„eine halbe Wegstunde im Durchmesser, aber er ist so mächtig verfallen und niedrig und so voller Ungeziefer, das ihn durchlöchert hat, dass man sich ihm nicht auf eine halbe Meile nähern kann, sondern nur für zwei Monate im Winter, wenn sie nicht aus ihren Löchern kommen“.69 Das schönste Beispiel für den überwältigenden Einfluss, den die Bibel und die antiken Quellen auf den Reisenden ausübten, findet sich jedoch in der Beschreibung der Hügel in der Nähe von Bagdad, die Rauwolff als die Mauern des alten Babylon interpretierte: „Ich betrachtete und beschaute diese Anhöhe und schloss, dass es zwei hintereinander waren, durch einen Graben getrennt, die sich wie zwei parallele Mauern weithin erstreckten, und dass sie an einigen Stellen offen waren, wo man wie an Toren hindurchgehen konnte; daher glaube ich, dass es die Mauern der alten Stadt waren, von denen Plinius sagt, dass sie zweihundert Fuß hoch und fünfzig breit waren, die sich dort entlangzogen, und dass die Stellen, wo sie offen waren, früher die Tore dieser Stadt gewesen sind, von denen es hundert eiserne gab; und dies umso mehr, als ich an einigen Stellen unter dem Sand, mit dem die beiden Anhöhen fast bedeckt waren, die alte Mauer deutlich hervorscheinen sah. So kam es also, dass wir direkt außerhalb der Mauern dieser ehemals so berühmten königlichen Stadt einquartiert waren, die jetzt mit ihren prächtigen und herrlichen Gebäuden ganz verwüstet ist und im Staub liegt, so dass jeder, der durch sie hindurchgeht, in Anbetracht derselben großen Grund hat, sie mit Erstaunen zu bewundern, wenn er bedenkt, dass diese Stadt, die eine so herrliche gewesen ist und in der die größten Monarchen und Könige, die es je gegeben hat (Nimrod, Belus und nach ihm ­König Merodach und seine Nachkommen bis hin zu Balthasar, dem Letzten), ihre Thron- und Wohnstätten gehabt haben, nun zu einer solchen Verwüstung und Wüste zerfallen ist, dass selbst die Hirten es nicht ertragen können, ihre Zelte dort aufzuschlagen, um sie zu bewohnen.“70 Und so bestätigten sich einmal mehr die Prophezeiungen von Jesaja und Jeremia. Rauwolff war nicht der Einzige, der die Überreste der alten sagenumwobenen Stadt in der Nähe von Bagdad lokalisierte. Immerhin wurde dieser Irrtum durch die gängige Umbenennung der Kalifenhauptstadt in „Neubabylon“ begünstigt, eine Bezeichnung, die sich bis ins späte 17. Jahrhundert hielt.71 Während jedoch der reisende Wissenschaftler in seiner Beschreibung der angeblichen Mauern ­Plinius dem Älteren folgte, beschränkten die Händler ihre antiquarischen Beobachtungen auf das berühmteste Bauwerk, dessen Bild zu dem kulturellen Erbe ­gehörte, das auch weniger gelehrte Europäer weitgehend teilten: den Turm von ­Babel.72 Allerdings wurde der Turm in den Reiseberichten der Kaufleute dieses Jahrhunderts häufig verwechselt und mit den Überresten eines anderen Turms

69 Ebd. 70 

Ebd., S. 140. Die Lage von Bagdad, Hillah und Babylon wurde erst von Guillaume de L’Isle auf seiner Karte des Irans von 1724 korrekt festgehalten. Vgl. Antonio Invernizzi: Les premiers voyageurs. In: André-Salvini (Hg.): Babylone (wie Anm. 3), S. 505–507. 72  Ooghe: Rediscovery (wie Anm. 62), S. 236. 71 

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identifiziert, nämlich dem von ʻAqarquf, dem alten Dur-Kurigalzu, gelegen auf dem Bagdad gegenüberliegenden Ufer des Tigris (Abb. 4). Ein Beispiel hierfür ist der Bericht des italienischen Kaufmanns Cesare Federici. Zehn Jahre vor Rauwolff verließ Federici Venedig, um eine lange Reise anzutreten, die ihn bis nach Indien und Birma führte.73 Bevor er jedoch den Fernen Osten erkundete, folgte er der üblichen Mesopotamien-Route entlang des Euphrat und erreichte so, wie viele andere auch, Bagdad und die antiken Ruinen in der Umgebung. Im Unterschied zu seinen Vorgängern verzichtete Federici bei der Beschreibung dessen, was er für die Überreste des Turms von Babel hielt, auf jede Anspielung auf biblische und klassische Motive.74 Vielmehr beschrieb er alles auf der Grundlage direkter Beobachtung und vermittelte das objektive Bild eines unförmigen Ruinenbergs, der eine optische Täuschung darstelle: „Dieser Turm ist in seiner Wirkung in der Tat das Gegenteil von allen anderen Dingen, die man in der Ferne sieht, denn jene scheinen zunächst klein zu sein, und je näher man ihnen kommt, desto größer sind sie; aber dieser Turm scheint in der Ferne ein sehr großes Ding zu sein, und je näher man ihm kommt, desto kleiner ist er. Meine Einschätzung und Begründung dafür ist, dass, weil der Turm in einer sehr großen Ebene steht, und nichts anderes Hervorragendes mehr um sich herum hat, außer den Ruinen, die er ringsherum bewirkt hat, und in dieser Hinsicht, wenn man ihn von weitem sieht, macht der Teil des Turms, der noch steht, zusammen mit dem Berg, der aus der Masse gemacht ist, die von ihm abgefallen ist, einen größeren Eindruck, als den, den man hat, wenn man näher an ihn herankommt.“75 Die Schilderung aus erster Hand wurde darüber hinaus durch sein genaues und innovatives archäologisches Verständnis verbessert: Mit seinen Bemerkungen über die sich abwechselnden Schichten aus getrockneten Ziegeln und Schilfmatten und über den aus Lehm statt Kalk hergestellten Putz lieferte Federici eine der ersten Beschreibungen der babylonischen Bautechnik. Sein Bericht wurde zu einem echten Vorbild und wurde in den Erzählungen anderer europäischer Kaufleute, die die gleiche Route nahmen, wie zum Beispiel seines Landsmanns Gasparo Balbi76 oder des englischen Händlers John Eldred,77 immer wieder aufgegriffen. Ein nochmals höherer Grad an eigener Erfahrung und archäologischem Verständnis – dieses Mal nicht basierend auf falsch identifizierten Überresten, sondern auf der Untersuchung der Ruinen Babylons selbst – wurde zu Beginn des folgenden Jahrhunderts erreicht. Im Jahr 1614 veranlassten die Sehnsucht nach ­einer Pilgerreise ins Heilige Land, der Wunsch, den Namen seiner Familie mit

73  Juan Luis Montero Fenollós: The Tower of Babel before Archaeology. The Ziggurat of Babylon according to European Travelers (XII–XVII centuries). In: Res Antiquitatis 2 (2011), S. 31–49, hier: S. 34. 74 Invernizzi: Genio (wie Anm. 31), S. 122. 75  Richard Hakluyt: The Principal Navigations. Voyages, Traffiques and Discoveries of the English Nation. Vol. V. Glasgow 1904, S. 370. 76 Invernizzi: Genio (wie Anm. 31), S. 136  f.; Montero Fenollós: Tower (wie Anm. 73), S. 36. 77 Invernizzi: Genio (wie Anm. 31), S. 149  f.; Montero Fenollós: Tower (wie Anm. 73), S. 36 f.

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Abbildung 4: Die Ziggurat von Dur-Kurigalzu. Entnommen aus: Ernest A. W. Budge: By Nile and Tigris. A Narrative of Journeys in Egypt and Mesopotamia on Behalf of the British Museum ­between the Years 1886 and 1913. Bd. 1. London 1920, gegenüber von S. 326.

Ruhm zu schmücken, und nicht zuletzt Liebeskummer,78 den jungen Pietro della Valle, einen römischen Adeligen, dazu, Italien den Rücken zu kehren und sich auf den Weg in den Osten zu machen. Während der zwölf Jahre, die er auf den Straßen des Osmanischen Reiches, Persiens und Indiens verbrachte,79 führte ­ ­Pietro della Valle sorgfältig Tagebuch und schickte regelmäßig Briefe nach Italien an seinen Freund, den Akademiker Mario Schipano,80 um seine Erlebnisse und Eindrücke festzuhalten. Unter anderem notierte er im Jahr 1616, nachdem er ­Bagdad erreicht hatte, seinen Beschluss, eine Reise nach Babylon zu organisieren. In einem Brief erklärte er: „seit mehreren Tagen hatte ich den Wunsch, zwei Tage am Euphrat entlang zu fahren, um Babel zu sehen, das das wahre Babylon ist, wo sich der Nembrotto-Turm befand, dessen Ruinen ich mir als immer noch sehr groß vorgestellt hatte.“81 Am 23. November machte er sich auf den Weg zu dem Hügel, den er aufgrund seiner turmartigen Form und der Kontinuität der Orts­ namen als die Überreste des berüchtigten Turms identifizierte: Tell Babil. Dort schlug Pietro della Valle ein Zelt auf, um sich die Zeit zu nehmen, alles genau zu untersuchen. Und dass er dies tat, geht aus der Beschreibung hervor, die er 78  J. D. Gurney: Pietro della Valle. The Limits of Perception. In: Bulletin of the SOAS 49 (1986) 1, S. 103–116, hier: S. 103. 79  Karen Radner: A Short History of Babylon. London/New York 2020, S. 20. 80  Eine vollständige Edition ist vorgelegt in: Antonio Invernizzi (Hg.): Pietro della Valle. In viaggio per l’Oriente. Le mummie, Babilonia, Persepoli. Alessandria 2001. 81  Übersetzung nach ebd., S. 129.

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in seinem Tagebuch niederschrieb: „ein Haufen von einem Gebäude, alles in einem Stück, an vielen Stellen uneben und steil, mit verschiedenen Formen, entstellt und verworren, wie es bei zerstörten Gebäuden üblich ist“.82 In dem Brief führte er aus: „Ich habe mich dann auf allen Seiten der Ruine länger aufgehalten, bin auf die ­Spitze geklettert, bin überall in ihr herumgelaufen, habe immer wieder nachgesehen und habe insgesamt Folgendes festgestellt. Inmitten einer großen und sehr flachen Landschaft, etwa eine halbe Meile vom Fluss Euphrat entfernt, der sie im Westen durchquert, ist noch heute über der Erde der große Rumpf eines zerstörten Gebäudes zu sehen, das völlig massiv ist; […] die Form ist entstellt, wie alle zerstörten Gebäude gewöhnlich sind: es gibt Teile, wo es sich hebt, wo es sich senkt, wo es steil ist, wo es flach ist, so dass man hinaufklettern kann, wo es Anzeichen von Sturzbächen aufweist, die vom herabfließenden Regenwasser herrühren; und im Innern auch Orte, wo es vertieft ist, wo es erhaben ist, kurz, wie ein verworrener Berg.“83 Der „verworrene Berg“ faszinierte Pietro della Valle so sehr, dass er sich nicht damit begnügte, die Ruinen zu beschreiben, sondern ein tieferes Verständnis der archäologischen Überreste erreichen wollte. So riss er als Erster unter den Reisenden, die Babylon besuchten, mit einer Spitzhacke in der Hand das „höchst merkwürdige Baumaterial“ auseinander und erkannte richtig, dass „sie alle sehr große Lehmziegel sind, die, wie ich glaube, in der Sonne getrocknet wurden […]; und sie sind nicht mit gutem Kalk, sondern auch mit Lehm vermauert; und für eine größere Festigkeit befinden sich zwischen den Ziegeln, vermischt mit dem Lehm, der als Kalk dient, gebrochene Sumpfschilfhalme, d. h. harte Strohhalme zur Herstellung von Matten. An manchen Stellen, vor allem dort, wo es für den Halt am nötigsten ist, werden auch viele Ziegelsteine von gleicher Größe, aber gebrannt und hart und mit gutem Kalk oder Bitumen vermauert, gemischt; aber die Lehmziegel sind zweifellos häufiger.“84 Doch es genügte Pietro della Valle nicht, genau zu beschreiben, was er mit eigenen Augen gesehen, und Proben dessen, was er mit seinen eigenen Händen ausgegraben hatte, mit nach Italien zu nehmen. Mithilfe eines flämischen Malers, der ihm zu Diensten stand, ließ er auch eine grafische Dokumentation anfertigen (Abb. 5/Abb. 6): „Ich hatte auch das Vergnügen, Babel von meinem Maler perspektivisch darstellen zu lassen, und vor Ort zeichnete er es von den zwei Seiten, die die schönsten Ansichten waren und alle vier Seiten der Stätte abbildeten.“ 85 Trotz der Modernität und der Bedeutung dieser Herangehensweise, die ihn zu einem „Pionier der archäologischen Forschung“ 86 machten, kann man schwer 82 

Übersetzung nach ebd., S. 137. Übersetzung nach ebd., S. 137 f. 84  Übersetzung nach ebd., S. 139. 85 Übersetzung nach ebd., S. 140. Die zwei Zeichnungen von Johannes Eucassin lieferten die Grundlage für die Stiche, die Coenraet Decker für Athanasius Kirchers 1679 erschienenes Werk „Turris Babel“ anfertigte. 86  Antonio Invernizzi: Discovering Babylon with Pietro della Valle. In: Paolo Matthiae (Hg.): Proceedings of the First International Congress on the Archaeology of the Ancient Near East. Rom 2000, S. 643–649, hier: S. 644. 83 

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Abbildung 5 und Abbildung 6: Illustrationen von Tell Babil durch Coenraet Decker, nach den Zeichnungen von Johannes Eucassin, der Pietro della Valle auf Teilen seiner Reise begleitete. Entnommen aus: Athanasius Kircher: Turris Babel. Amsterdam 1679, gegenüber von S. 95.

leugnen, dass Pietro della Valle von den Ruinen nicht begeistert war. Dank seiner Kontakte zu den Einheimischen in Bagdad war es ihm zwar gelungen, die wahre Lage der antiken Stadt zu rekonstruieren und sich „Babel“ zu nähern, wobei er

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die Ruinen in der flachen Landschaft schon von Weitem sah. Dort angekommen, war er jedoch mit einem amorphen Haufen konfrontiert, der ganz und gar nicht zum Ruhm des Turms passte: „Seine erhaltene Höhe ist nicht groß, denn für das Auge schien es mir, dass sie nicht größer sein kann als die eines ehrwürdigen Hauses in Rom, wie meines, mehr oder weniger, und dergleichen.“87 Von den anderen sagenumwobenen Gebäuden, die in den antiken Quellen überliefert sind, konnte praktisch nichts gefunden werden: „Es bleibt festzuhalten, dass es von dem erwähnten Ruinenberg aus kein anderes Zeichen gibt, das darauf hinweist, dass es eine so große Stadt gegeben hat; man sieht nur an einigen Stellen Fundamente von zerstörten Mauern, fünfzig oder sechzig Schritte entfernt. Im Übrigen ist die Umgebung sehr flach, und es scheint unmöglich, dass es dort ein nennenswertes Gebäude gab, da es nirgendwo Spuren davon gibt, außer dem großen Massiv; und doch wissen wir ja, wie bemerkenswert die Gebäude von Babylon waren.“88 Als Angehöriger der italienischen Aristokratie der Spätrenaissance war Pietro della Valle mit den biblischen und klassischen Quellen gut vertraut; einige von ihnen, wie Herodot, Strabon und Diodor, werden in seinem Brief direkt zitiert, was bestätigt, dass dieses kulturelle Erbe in der Tat die Esse war, in der sein Denken geschmiedet worden war89 und aus dem sich seine Erwartungen ergaben. Doch „was man auf dem Boden sehen kann, ist nichts als Mauerfundamente, Steine und Erde“.90 Genau fünfzehn Jahrhunderte nach Trajan hatte damit ein anderer Mann aus Rom fast den gleichen Eindruck wie der Kaiser, der 116 n. Chr. „nichts als Hügel und Steine und Ruinen sah“; seine Enttäuschung angesichts der Überreste der legendären Stadt und ihrer bemerkenswerten Gebäude ist deutlich greifbar. Selbst die sehr vertrauten Ruinen Roms waren für Pietro della Valle wahrscheinlich beeindruckender und einfacher zu verstehen als die unförmigen Haufen verfallener Lehmziegel, die er vor Augen hatte. Doch am Ende fand er einen rationalen, aber auch leicht wehmütigen Weg, mit seinem Erstaunen umzugehen: Er erinnerte sich des nagenden Zahns der Zeit. In seinem „Brief aus den Ruinen des alten Babylon“91 heißt es: „Es ist wahr, dass Städte sterben und Königreiche sterben. Das stolze Babel liegt danieder, in sich selbst begraben unter einem wirren Berg von Trümmern und Erde; die hohen Mauern der Semiramis liegen danieder, und von so vielen Wundern an der Stätte ist heute kaum noch der Name erhalten. […] Was bleibt, wenn nicht das unförmige Material jenes hohen Haufens, auf dessen Gipfel man einst glaubte, vor dem Zorn des Himmels geschützt zu sein? […] Vergebens mühe ich mich, vergebens suche ich, doch hier ist nichts zu sehen. Nur dornige Zweige bedecken die Felder ringsum, und die Gebäude, die so prächtig waren, sind heute keine Gebäude mehr, sondern furchterregende Höhlen und die

87 

Übersetzung nach Invernizzi (Hg.): Pietro della Valle (wie Anm. 80), S. 138. Übersetzung nach ebd., S. 137 f. 89  Gurney: Pietro della Valle (wie Anm. 78), S. 103  f. 90  Übersetzung nach Invernizzi (Hg.): Pietro della Valle (wie Anm. 80), S. 140. 91 Es handelt sich um eine von Pietro della Valle verfasste Prosaabhandlung, die seine Reisen ­poetisch beschreibt und von einem imaginären Fischer an seine geliebte Dame Belisa gerichtet ist. 88 

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schrecklichen Schlupfwinkel von Ungeheuern und Schlangen. Kurzum, die Zeit mit ihren stählernen Zähnen verzehrt alles, verschlingt alles, beendet alles.“92 Erst ein Jahrhundert später lernte man die formlosen Hügel Babylons besser zu verstehen. Nach einer langen „Stagnation“, die vor allem auf Störungen des Fernhandels zurückzuführen war, brachte die Wiedereröffnung der „Standardroute“ von Aleppo nach Basra in den 1740er-Jahren neue europäische Reisende nach Meso­potamien und damit neue Eindrücke von den Ländern des Nahen Ostens zurück nach Europa.93 Ein erstes Beispiel dafür ist John Carmichael, ein Mitglied der „East India Company“, der 1751 auf der gleichen Karawanenroute nach In­ dien zurückreiste. Er besuchte die Ruinen von Babylon nicht selbst, sondern ­berichtete lediglich über das, was er von anderen gehört hatte; zum ersten Mal schrieb er jedoch ihr trauriges Schicksal des Verfalls einer greifbareren Realität zu: „Seitdem ich Busserah gesehen habe, bin ich nicht mehr so überrascht, dass die Ruinen von Babylon und einigen anderen antiken Städten nirgends entdeckt werden; denn es ist sehr wahrscheinlich, dass sie nie genügend Holz zum Bauen oder zum Brennen von Ziegeln hatten und an vielen Orten ein Mangel an Stein vorherrschte; daher nehme ich an, dass die Alten so handelten wie die modernen Menschen heute, das heißt gewöhnlich mit Lehm bauten. Sollte ein Schicksalsschlag Busserah jetzt entvölkern, so würde seine Lage in wenigen Generationen nirgends mehr nachvollziehbar sein; denn seine Ruinen würden bald vom Regen eingeebnet und mit Wüstensand bedeckt werden, was möglicherweise das Schicksal der zuvor erwähnten alten Städte war.“94 Carmichael hatte nur teilweise Recht: Das Material der ursprünglichen Bauten spielte eine große Rolle bei der Formlosigkeit der babylonischen Überreste. Dennoch ließ sich ihre geografische Lage noch nachvollziehen, wie Carsten Niebuhr nur ein Jahrzehnt später scharfsinnig beobachten sollte. Als Leutnant in der dänischen Armee nahm Niebuhr 1761 an der ersten europäischen wissenschaftlichen Expedition in den Nahen Osten teil. Diese Reise, von der er als einziges Mitglied zurückkehrte, führte ihn in einem Zeitraum von sechs Jahren nach Ägypten, in den Jemen, nach Arabien, Indien, Persien, Mesopotamien, Syrien und Kleinasien. Während seines Aufenthalts im Bezirk Hillah im Dezember 1765 identifizierte er die Stätte des alten Babylon richtig: „Daß Babylon in der Gegend von Helle gelegen habe, daran ist gar kein Zweifel. Denn nicht nur die Einwohner nennen diese Gegend noch bis auf den heutigen Tag Ard Babel, sondern man findet hier auch noch Überbleibsel von einer alten Stadt, die keine andere als Babylon gewesen sein kann.“95 Mit Niebuhr wurden zum ersten Mal die genauen Koordinaten der Ruinen vermessen und die antike Stadt kartiert96 (Abb. 7), aber vor allem begann der kulturelle Wert der Lehmziegelreste wieder geschätzt zu werden. 92 

Übersetzung nach Invernizzi (Hg.): Pietro della Valle (wie Anm. 80), S. 230. Für eine Detailanalyse dieser Phase siehe Ooghe: Rediscovery (wie Anm. 62), S. 240–249. 94 Invernizzi: Genio (wie Anm. 31), S. 456. 95  Carsten Niebuhr: Reisebeschreibung nach Arabien und andern umliegenden Ländern. Zweyter Band. Kopenhagen 1778, S. 287 f. 96  Thelle: Babylon (wie Anm. 45), S. 5, S. 6, Abb. 1.1. 93 

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Abbildung 7: Niebuhrs ­Karte von Mesopotamien mit der Position der Ruinen Babylons. Entnommen aus: Carsten Niebuhr: Reise­ beschreibung nach Arabien und andern umliegenden Ländern. Zweyter Band. Kopen­hagen 1778, Tab. XLI.

Das Wissen, das er anhand der zuvor in Ägypten und Persepolis gesehenen Überreste erworben hatte, war hierbei der eigentliche Wendepunkt in seiner Erfahrung mit den babylonischen Ruinen: „Wenn man aber von babylonischen Alter­ thümern redet, so muß man keine solche prächtige Denkmähler erwarten, als man noch in Persien und Egypten antrift. Zu Persepolis fand man den prächtigsten Marmor dicht bey der Stadt, ja in dem Hügel worauf der berühmte Palast gebaut ward. Der Kalkstein, woraus die großen Pyramiden in der Nähe von Káhira aufgeführt sind, ist auch auf der Stelle gebrochen; überdieß findet man von hier nach Süden überall nicht weit vom, und oft dicht am Nil Kalksteingebürge, und in dem südlichsten Theil von Egypten gar Granitgebürge dicht am Flusse. Am Euphrat und Tiger hergegen, von dem persischen Meerbusen an bis Helle und Bagdad und noch viel weiter nordlich findet man dergleichen nicht, sondern blos Marschland. Wenn die Babylonier mit gehauenen Steinen hätten bauen wollen, so hätten sie

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solche sehr weit holen müssen, und dieß würde zu kostbar geworden seyn. Sie bauten daher ihre besten Häuser von Ziegelsteinen etwa von der Dicke der unsrigen und einen Fuß im Viereck, und diese brannten sie so gut als ich jemals Ziegelsteine gesehen habe. Hätten sie diese Steine mit Kalk gemauert, so würde man auch noch viel mehrere Überbleibsel von ihren Gebäuden finden, als jezt noch vorhanden sind. So aber legten sie sie in eine schlechtere Materie, die nicht so stark bindet, und daher hat man die alten Gebäude nach und nach abgetragen, um davon in den benachbarten Städten und Dörfern am Euphrat neue Häuser zu bauen.“97 Die gleichen Abbauarbeiten wurden zwanzig Jahre später von Joseph de Beauchamp bezeugt. Der zum Generalvikar von Bagdad ernannte Beauchamp erreichte die Stadt im Jahr 1781 und verfolgte dort seine eigenen wissenschaftlichen Interessen, insbesondere auf dem Gebiet der Astronomie, wozu er ein kleines Observatorium errichtete.98 Während seines jahrelangen Aufenthalts in Bagdad hatte er jedoch auch mehrmals die Möglichkeit, die Ruinen von Babylon zu be­suchen. Beim ersten Mal, 1784, war er von dem unförmigen Tell Babil so wenig beeindruckt, dass er sogar bezweifelte, dass es sich um eine antike Ruine handelte: „Um zehn Uhr fanden wir uns bei dem Turm wieder, den die Araber Babel nennen. Er ist nichts weiter als ein Berg aus Ziegeln und Erde, der keine genaue Form hat. […] Er hat nur auf einer Seite seine ursprüngliche Höhe, während er auf allen anderen Seiten zusammengebrochen ist, was ihm genau das Aussehen eines einsamen Hügels inmitten einer Ebene verleiht. Die Ziegelsteine […] bestätigten meine Vermutung, dass es sich nicht um ein 4000 Jahre altes Monument handelt. Es kann unmöglich dem Zahn der Zeit widerstanden haben, so dass also kein einziges Überbleibsel des alten Babylon übrig geblieben ist; ich nehme an, dass dieses menschliche Bauwerk aus der Zeit der Kalifen stammt und dass es den Namen Babel beibehalten hat, aufgrund der alten Tradition, die dieses Monument menschlichen Wahnsinns in dieser Gegend ansiedelt.“99 Seine anfängliche Skepsis überwand er jedoch bei einem zweiten Besuch sechs Jahre später, als er beschloss, einen innovativen Ansatz zum Verständnis der Ruinen zu verfolgen, indem er einen Mann befragte, der in der Gegend des Qasr Ausgrabungen durchführte: „Unterhalb dieses Hügels, entlang des Flusses, befinden sich riesige Ruinen, die zum Bau von Hella, einer arabischen Stadt mit 10–12 Tausend Einwohnern, gedient haben und noch dienen. Hier findet man diese großen und dicken Ziegelsteine, die mit einer unbekannten Schrift bedruckt sind und von denen ich Abbé Barthelemy Exemplare überreicht habe. […] Der Maurermeister, der damit beauftragt war, nach Ziegeln zu graben, informierte mich über die Art der Gebäude, die sich unter der Erde befinden; ich fragte ihn, ob es sich um einfache Fundamente oder um ganze 97 

Niebuhr: Reisebeschreibung (wie Anm. 95), S. 288. Daniel T. Potts: ‚Observatorium in Bagdad constructum‘: The Observatory of ‚Babylon‘ from Ctesias to Louis XVI. In: Journal of the Canadian Society for Mesopotamian Studies 13 (2008), S. 5–14. 99  Übersetzung nach Invernizzi: Genio (wie Anm. 31), S. 525. 98 

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Abbildung 8: Ausgrabung eines Mauerstücks mit einem Stier aus glasierten Ziegeln. Entnommen aus: Robert Koldewey: The Excavations at Babylon. London 1914, S. 45.

Gebäude handele: er antwortete, dass es sich bei den Stellen, von denen die Ziegel geborgen werden, um große, sehr dicke Mauern und manchmal um Kammern handele; er habe häufig irdene Gefäße, gravierte Marmorsteine und vor etwa acht Jahren eine lebensgroße Statue gefunden, die er in den Schutt zurückgeworfen habe. […] Derselbe Meister erzählte mir, dass er eine Kammer gefunden habe, in der auf einer Wand eine Kuh aus glasierten Ziegeln abgebildet war […].“100 Diese Worte, die die erste moderne Beschreibung der glasierten Ziegeldekora­ tion des berühmten Ischtar-Tors (Abb. 8) darstellen, erweckten das Interesse von Beauchamp, der beschloss, selbst Ausgrabungen zur Bergung babylonischer Alter­tümer zu fördern: „Ich habe zwei Männer drei Stunden lang arbeiten lassen, um einen Block auszugraben, von dem sie glauben, dass es sich um ein Götzenbild handelt; ich habe von dem Teil, den ich freilegen ließ, nur einen Klumpen gesehen; wir können jedoch erkennen, dass es sich nicht um einen einfachen Block handelt, es gibt einige Schläge eines Keils und ziemlich tiefe Löcher darin; ich habe keine Inschriften gesehen; der Stein ist schwarzer Granit, große Stücke da100 

Übersetzung nach ebd., S. 526; Reade: Disappearance (wie Anm. 37), S. 27.

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von findet man überall, was beweist, dass es an diesen Stellen ein Monument gab, das aus Stein errichtet wurde.“101 Während es sich bei dem ans Tageslicht gebrachten Götzenbild um nichts anderes als den großen „Löwen von Babylon“ handeln sollte, sollten einige kleinere Gegenstände, die unter den Trümmerhaufen gefunden wurden, ein noch größeres Echo hervorrufen.102 Die „mit einer unbekannten Schrift bedruckten Ziegelsteine“, die Beauchamp nach Europa zurückbrachte, begeisterten in den folgenden Jahrzehnten die gesamte wissenschaftliche Gemeinschaft. Damit wurde eine Schwelle überschritten: Von nun an wurden die Ruinen Babylons nicht mehr nur erlebt und beschrieben, sondern auch wissenschaftlich erforscht und ausgegraben. Die Zeit der Ausgrabungen hatte offiziell begonnen.103

Schlussfolgerungen „Gefallen, gefallen ist Babylon, die Große!“104 – und doch war die Stadt nie wirklich verloren. Im Laufe der Jahrhunderte machten römische Kaiser, arabische Geografen, jüdische Pilger, christliche Missionare und Kreuzfahrer, europäische Kaufleute, Gelehrte der Renaissance und Wissenschaftler der Frühen Neuzeit die Stadt zu einem durchaus beliebten Reiseziel. Die Berichte über ihre Erfahrungen zeigen jedoch, wie sehr die überlieferten Darstellungen von Babylon ihre Erwartungen prägten, aber auch ihr Verständnis und ihre Interpretation dessen leiteten, was sie tatsächlich sahen. Zudem wurden die Eindrücke, die sie während ihrer Besuche gewannen, auf unterschiedliche Weise durch den besonderen Hintergrund und die Rahmenbedingungen beeinflusst, die jeden einzelnen von ihnen prägten. Die Reisenden sahen zwar alle die gleichen Ruinen, aber sie blickten dabei durch ganz verschiedene Brillen.

Abstract Visiting Babylon from Roman times to the early modern period meant visiting a city in ruins but permeated with classical and biblical associations. Through the ages, many came face to face with the Babylonian landscape. The written descriptions of their experiences often indicate the power of traditional topoi in shaping not only their expectations before, but also their impressions during the visit. At the same time, the inherited ideas about Babylon were partnered with the distinctive background and framework that characterized each of them individually. The Babylonian ruins were thus perceived through different lenses. 101 

Übersetzung nach Invernizzi: Genio (wie Anm. 31), S. 526. A. Pallis: Early Exploration in Mesopotamia. With a List of the Assyro-Babylonian Cuneiform Texts Published before 1851. Kopenhagen 1954, S. 11. 103  Robert W. Rogers: A History of Babylonia and Assyria. Bd. I. New York 1900, S. 108. 104  Offenbarung des Johannes 14, 8. 102  Svend

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This paper examines some of those perceptions. Starting with the visits of two Roman emperors, it recalls the opposition between Trajan’s disappointment at the sight of Babylon’s mud-brick architecture and Constantine’s satisfaction at the desolate state of the city, which he saw as fulfilling biblical prophecies. Moving to the Middle Ages, it analyzes the testimonies of Arab geographers and Jewish pilgrims that attempted to link the high hills of ruins to the memory of their ancient past, and interpreted the impressive remains in the light of the Qur’an and the Bible. The travels of 13th century Dominican missionaries were colored by their common religious background, but their accounts are accented differently nonetheless. The paper highlights then how the rediscovery of the classical sources can be traced in the description provided by the Bavarian soldier Johann Schiltberger, as well as in the travelogues of European merchants who from the 15th century took the roads of Mesopotamia and tried to make sense of its mounds. From the 16th century, direct observation and accurate description of the ruins became more important, as in the accounts of the Venetian merchant Cesare Federici and the Roman nobleman Pietro della Valle. Finally, the shift to a more scientific exploration came with the 18th century reports of Carsten Niebuhr and Joseph de Beauchamp, representing the last steps before the beginning of the age of excavations.

Felix Henke/Julian Schreyer Monument und Landwirtschaft Wahrnehmungen augusteischer Ruinenstädte Mit den politischen und wirtschaftlichen Erneuerungsmaßnahmen unter Augus­ tus erhob sich das römische Reich sukzessive aus den Trümmern der Bürgerkriege der späten Republik. Insbesondere in Italien konnte man die Spuren des „Jahr­ hunderts der Bürgerkriege“ deutlich erkennen: Vor allem im Konflikt zwischen Marius und Sulla am Anfang des 1. Jahrhunderts v. Chr. waren zahlreiche Städte zerstört oder doch zumindest zugrunde gerichtet worden, da sie sich auf die Seite der Verlierer gestellt hatten. Die Wirren der letzten Jahrzehnte der römischen Re­ publik ließen kaum Raum für Wiederaufbauprogramme, sodass Ruinenstädte den Bewohnern Italiens präsenter waren als je zuvor und diese vermutlich als sympto­ matisch für die blutige jüngste Vergangenheit galten. Grundlegend neu war ein solcher Anblick allerdings nicht: Seit dem Ende der Archaik waren auch verlas­ sene Städte ein Bestandteil der italischen Landschaft. Gerade in nächster Nähe zu Rom lagen die Überreste zahlreicher alter Siedlungen, mit denen die aufstrebende Metropole in ihrer Frühzeit in Konflikt geraten war und die sich dann im Lauf der Jahrhunderte immer weiter entvölkert hatten. Vergleichbares galt auch im westlichen Kleinasien. Dort hatten nicht nur die Mithridatischen Kriege im Späthellenismus für Deurbanisierung gesorgt, sondern zuvor bereits die großen Umsiedlungsprogramme des Frühhellenismus. Doch auch die älteste Stadtruine der griechischen Welt ließ sich hier besichtigen: Troja, kultureller Bezugspunkt und kollektiver Archeget der zerstörten Stadt für die ge­ samte Antike. Als Ergebnis vielfältiger, einander oft überlagernder Faktoren wiesen die Sied­ lungslandschaften augusteischer Zeit daher nicht nur einen robusten Bestand (weiterhin oder wieder) funktionierender und intakter Städte auf, sondern um­ fassten nach wie vor eine ganze Bandbreite urbaner Verfallszustände. Das Spektrum reichte von Siedlungen, die sich in einem offenen Prozess der Deurbanisie­ rung befanden, über erst kürzlich aufgelassene Städte, von deren Blüte Zeitzeugen noch berichten konnten, bis hin zu in der Landschaft verbliebenen, solitären Überresten archaischer Stadtmauerringe, deren Binnenbebauung längst nicht mehr zu sehen war. Obwohl Deurbanisierung im griechisch-römischen Mittelmeerraum auf keine Epoche beschränkt war – je dichter eine Region besiedelt war, umso mehr auf­ https://doi.org/10.1515/9783111071848-004

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gelassene Städte scheint sie auch besessen zu haben –, ist das Phänomen in augus­ teischer Zeit besonders gut greifbar. Verantwortlich ist vor allem die günstige Quellenlage: Ein im Hellenismus entstandenes Gelehrten- und Enzyklopädisten­ wesen mündete in eine durch Augustus programmatisch forcierte Vergangenheits­ rekonstruktion, auf die sich seine Herrschaftsideologie stützen konnte. Es ent­ standen Werke wie Strabons „Geographika“, Livius’ „Ab urbe condita“ oder Ver­ gils „Aeneis“. Ihr in unterschiedlicher Hinsicht holistischer Anspruch machte sie in der späteren Überlieferung zu Standardwerken der antiken Literatur und damit bis heute verfügbar. Gleicht man diese Schriftzeugnisse mit allen weiteren verfügbaren Quellengat­ tungen ab – mit Ergebnissen archäologischer Feldforschung ebenso wie mit ­Inschriften- und Münzfunden –, ist es möglich, annäherungsweise ein Bild der Ruinenlandschaften zur Zeit des Augustus zu rekonstruieren. Vor allem aber lässt sich mit ihrer Hilfe die Frage diskutieren, wie antike Zeitgenossen mit der Deur­ banisierung von Teilen ihrer Umwelt umgingen. Dieser Frage widmete sich das von der Gerda Henkel Stiftung geförderte Projekt „Spuren von Städten“: Durch das Studium exemplarischer Stadtruinen in Kleinasien und Mittelitalien konnten wir ein breites Spektrum von Wahrnehmungsweisen und Reaktionsmustern er­ schließen – alltäglichen und elitären, lokalen und distanzierten. Dabei kristallisie­ ren sich mehrere Kategorien heraus, die übergreifend auf unterschiedliche Ruinen­ städte und in unterschiedlichen Funktionszusammenhängen angewandt wurden. Ein grundlegender Aspekt im Umgang mit den deurbanisierten Städten ist das Spannungsfeld zwischen ihrer vormaligen Bedeutung und einem sukzessiven Auf­ gehen in ihrer zumeist landwirtschaftlich geprägten Umgebung. Dieses Span­ nungsverhältnis ließ sich in ganz unterschiedlicher Intensität wahrnehmen und artikulieren; das Spektrum wird anhand einiger Beispiele im Folgenden skizziert.1 Als der Geograf Strabon von der Gründung Roms durch Romulus und Remus berichtet, merkt er an, dass die Brüder einen recht ungünstigen Ort für ihre Stadt ausgewählt hätten: Insbesondere die vielen unabhängigen Städte „fast direkt vor den Mauern der neugegründeten Stadt“ hätten das Wachstum Roms gehemmt. Als Beispiele nennt er die Städte Collatia, Antemnae, Fidenae und Labicum.2 Tatsächlich handelte es sich bei diesen Siedlungen – soweit dies archäologisch nachweisbar ist – in der Archaik um florierende latinische Zentren, und tatsäch­ lich berichten die Legenden über diese frühe Zeit von zahllosen Kämpfen Roms gegen die Nachbarstädte. So soll das wenige Kilometer tiberaufwärts an der Ein­ mündung des Anio gelegene Antemnae schon von Romulus unterworfen worden sein, nachdem die Römer beim sogenannten Raub der Sabinerinnen auch die Töchter der Antemnaten entführt hätten und diese daraufhin gegen Rom gezogen seien.3 Das etwas weiter nördlich ebenfalls am Tiber gelegene Fidenae war da­ gegen ein ungleich hartnäckigerer Gegner: Im Gefolge der etruskischen Nachbar­ 1 

Eine ausführlichere Darlegung wird durch die Verfasser vorbereitet. Strabon, Geographika V, 3, 2. 3  Livius, Ab urbe condita I, 9–11; Dionysios von Halikarnassos, Römische Frühgeschichte II, 32–35. 2 

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metropole Veii, die Fidenae als Brückenkopf auf dem linken Tiberufer kontrollie­ ren wollte und dadurch mit den Römern in Konflikt geriet, für welche die Stadt die Wegeverbindung entlang des Tibers blockierte, führte Fidenae unzählige ­Kriege mit Rom. Diese endeten – laut römischer Überlieferung – stets mit einer Niederlage, was jedoch immer wieder nur zu einem erneuten Abfall auf die etrus­ kische Seite führte; erst als 426 v. Chr. nach harten Kämpfen Veii selbst erobert worden war, fügte sich auch Fidenae der römischen Herrschaft.4 Strabon merkt in seiner Gründungsgeschichte an, dass die genannten Städte zu seiner Zeit nicht mehr existierten. Es seien nun nur noch Dörfer, Ansammlungen von Privathäusern ohne öffentliche Bauten. Während bei Collatia und Labicum bislang nicht einmal sicher ist, wo sie sich befanden, lassen sich die Angaben Stra­ bons in Antemnae und Fidenae überprüfen, denn hier ist es trotz neuzeitlicher Überbauung möglich, den Zustand der Städte zu augusteischer Zeit in seinen Hauptlinien zu rekonstruieren. Es zeigt sich, dass Strabon unter dem Begriff des Dorfes ohne öffentliche Einrichtungen ganz unterschiedliche Strukturen subsu­ miert, denen lediglich gemeinsam ist, dass sie an ihre einstige Größe längst nicht mehr heranreichen. So konnten auf dem Hügel an der Aniomündung, auf dem Antemnae lag, beim Bau eines Forts Ende des 19. Jahrhunderts zahlreiche Reste der Stadt aufgefunden werden:5 Die archaische Siedlung, die sich über die ganze Kuppe erstreckte, wur­ de von einer Befestigungsmauer an der Hangkante umschlossen. Ihre Blütezeit erlebte die Stadt nach Ausweis der Funde im 7.–5. Jahrhundert v. Chr., und ver­ mutlich fällt in diese Zeit bereits die Eroberung durch Rom: Zur Sicherung des Übergangs über den Anio – und damit zur Sicherung des unmittelbaren Umlands Roms – spielte der Platz eine wichtige Rolle, und möglicherweise waren es römi­ sche Ressourcen, mit denen die massiven Befestigungsanlagen Antemnaes ausge­ baut wurden. Über die Jahrhunderte nach der Eroberung schweigt die antike Geschichts­ schreibung zu Antemnae, und im archäologischen Befund lassen sich im Laufe der republikanischen Zeit sowohl eine Stagnation in der Bautätigkeit als auch ein Rückgang der Bevölkerung erkennen. Zwar scheint sich die Siedlung ihren urba­ nen Charakter noch einige Zeit bewahrt zu haben, denn im 4. Jahrhundert v. Chr. lässt sich zumindest noch der Neubau eines städtischen Heiligtums nachweisen; Funde aus dem 2. Jahrhundert fehlen dann aber bereits fast völlig. Im 1. Jahrhun­ dert v. Chr. wurde Antemnae doch noch einmal zum Schauplatz historischer Er­ eignisse: Im Bürgerkrieg verschanzte sich ein Marianisches Heer auf dem Hügel und wurde erst geschlagen, nachdem Sulla Zwietracht unter den Belagerten gesät

4 Zur

Geschichte Antemnaes siehe zusammenfassend Lorenzo Quilici/Stefania Quilici Gigli: ­Fidenae. Latium Vetus V. Rom 1986, S. 19–40, S. 369–398. 5 Zwar wurden die Funde nur sehr mangelhaft dokumentiert und noch schlechter publiziert, doch gelang es den Archäologen Lorenzo Quilici und Stefania Quilici Gigli, aus einer Zusam­ menstellung aller auffindbaren Dokumente sowie eigenen Forschungen ein aufschlussreiches Ge­ samtbild zusammenzustellen; vgl. Quilici/Quilici Gigli: Fidenae (wie Anm. 4).

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hatte.6 Die heute völlig verschwundenen Befestigungsanlagen waren damals also wohl noch in brauchbarem Zustand; ob allerdings innerhalb des Mauerrings noch eine Restsiedlung bestand, ist mehr als fraglich, denn Keramik aus dieser Zeit wurde auf dem ganzen Hügel nicht gefunden. In diesem leeren Mauerring ließ einige Jahrzehnte später ein römischer Aristo­ krat eine Villa errichten: Die Oberschicht der späten Republik baute sich mit ­besonderer Vorliebe Landsitze im Umland Roms, dem suburbium, um Lärm, ­Gestank und Verpflichtungen der Hauptstadt zu entkommen und in prächtigen Speisesälen, Wandelhallen und Gärten ihre Freizeit zu genießen. Der verlassene Hügel in wenig mehr als fünf Kilometer Entfernung vom Forum Romanum war für diesen Zweck ideal: In nächster Nähe zum Zentrum des Reichs bot er in ­seiner Abgeschiedenheit die ersehnte Ruhe. Der Architekt errichtete die Villa auf mehre­ ren Terrassen an der Nordseite des Hügels, von wo aus sich ein weiter Blick über das Tibertal mit seinen Dörfern, Feldern und Villen eröffnete, während die Stadt hinter der Kuppe im Süden verborgen lag. Die Räume ließ der Besitzer in den nächsten Jahrzehnten immer wieder im jeweils aktuellen, luxuriösen Dekorations­ stil der späten Republik und frühen Kaiserzeit ausstatten, von reliefverzierten Wandverkleidungen aus Terrakotta über Fresken und Stuck bis hin zu Bunt­ marmorinkrustationen.7 Von den einfachen Hütten der archaischen Siedlung war damals vermutlich kaum mehr etwas zu erkennen, die aus großen Steinblöcken errichtete Stadtmauer muss aber noch deutlich sichtbar gewesen sein – und wurde eventuell sogar für den Bau der Villa und zur Schaffung des Panoramas teilweise niedergelegt. Dem Bauherren war aber sicher nicht nur klar, dass er sich am Platz einer verlassenen Stadt befand, sondern er muss auch mit ihrer Geschichte vertraut gewesen sein: Der Universalgelehrte Varro erläuterte in seinem Werk über die Etymologie des Lateinischen gerade zu dieser Zeit, dass der Name „Antemnae“ „vor den Flüssen“ (ante amnes) Anio und Tiber bedeute, und berichtete von der langsamen „Vergrei­ sung“ der Stadt;8 Livius und Dionysios von Halikarnassos erzählten die Legende vom Raub der Sabinerinnen, die ohnehin zum Grundwissen gebildeter Römer ge­ hörte,9 und auch Vergil wusste vom hohen Alter der Stadt und ließ Truppen aus Antemnae bereits gegen Aeneas in den Krieg ziehen. Seine Beschreibung Antem­ naes als „turmbewehrt“ könnte widerspiegeln, dass die Befestigungsanlagen ­immer noch als Charakteristikum des Platzes galten.10 Ob das eine Rolle bei der Wahl des Standorts für den spätrepublikanischen Landsitz spielte, ist unbekannt; besonders viel Rücksicht auf die historisch-legendären Strukturen scheint der

 6 

Plutarch, Sulla 29–30. Lorenzo Quilici/Stefania Quilici Gigli: Antemnae. Latium vetus I. Rom 1978, S. 89–111; Elisa­ betta Mangani: Recenti indagini ad Antemnae. In: Archeologia Laziale IX. Nono incontro di ­studio del Comitato per l’archeologia etrusco-italica 16. Rom 1988, S. 124–131, hier: S. 130 f.  8  Varro, Lingua Latina V, 28.  9  Siehe oben, Anm. 3. 10  Vergil, Aeneis VII, 629–631.

 7 

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neue Bewohner jedenfalls nicht genommen zu haben, als er inmitten des „archäo­ logischen Gebiets“ seine ausladende Villenanlage platzierte. Anders als Antemnae wurde Fidenae Mitte des 20. Jahrhunderts fast vollständig von Vorortsiedlungen der wachsenden Metropole Rom überbaut; zahlreiche Ein­ zelbeobachtungen und Sondagen der römischen Antikenaufsicht können dennoch in ihrer Summe einen guten Eindruck von der Entwicklung des einst ausgedehn­ ten Stadtgebiets geben:11 Dieses erstreckte sich über ein Konglomerat mehrerer Hügel und war wohl ebenfalls von einer archaischen Befestigungsmauer aus gro­ ßen Blöcken lokalen Tuffs umschlossen. Auch hier lässt sich nachvollziehen, wie sich der Stadtraum nach der endgültigen Eroberung durch Rom langsam entvöl­ kerte. Das einst zusammenhängende Stadtgebiet zerfiel in eine Ansammlung von Einzelsiedlungen, von denen sich die meisten schließlich vollends auflösten. Ein fester Kern muss sich allerdings – heute aufgrund der Überbauung nur noch aus Indizien erschließbar – im Bereich der alten Akropolis und in einer Senke südlich derselben erhalten haben; Inschriften zeigen außerdem, dass sich die Stadt den Status eines municipium bewahren konnte und somit das Verwaltungszentrum für das umliegende Territorium blieb. Den Rest des ehemaligen Stadtgebiets prägte dagegen der typische Wechsel von landwirtschaftlichen Produktionsstätten (villae rusticae) und den Nekropolen der Bewohner an den Wegeverbindungen, der für das gesamte suburbium Roms cha­ rakteristisch ist. Zwischen den Feldern und Weiden klafften gewaltige Steinbrüche in den Hängen: Der Tuff, aus dem die Hügel Fidenaes bestehen, war im 4. Jahr­ hundert v. Chr. einer der begehrtesten Baustoffe Roms und fand in zahlreichen Monumentalbauten der Zeit Verwendung.12 Die Höhlen, die man beim Abbau in die Flanken der Hügel gegraben hatte, prägten die Landschaft für Jahrtausende; in augusteischer Zeit war der „Stein von Fidenae“ in Rom zwar längst durch andere Materialien abgelöst worden, für den lokalen Gebrauch wurde er jedoch sicher in kleinerem Maßstab weiter abgebaut. Auch diese Stadtruine bildete ein bekanntes Element des römischen Umlands: Der Dichter Martial beispielsweise erwähnt „das alte Fidenae“ in seiner Schilde­ rung des Panoramas, das er – ähnlich wie der Besitzer der Villa von Antemnae – vom Anwesen eines Freundes am Stadtrand aus genießt.13 In Livius’ Geschichts­ werk nehmen die Kriege gegen Rom unzählige Seiten ein und sind mit zahlrei­ chen zentralen Gestalten des römischen Legendenschatzes verknüpft; und Statuen von durch die Fidenaten ermordeten römischen Gesandten auf der Rednerbühne des Forums erinnerten bis ins 1. Jahrhundert v. Chr. an der prominentesten Stelle

11  Grundlegend

ist hier Quilici/Quilici Gigli: Fidenae (wie Anm. 4), neuere Erkenntnisse insbe­ sondere zur römischen Zeit werden zusammengefasst bei Francesco di Gennaro u. a.: Fidenae e il suo territorio in età romana. Atti della giornata di studio, 26 maggio 2000 Istituto Archeologico Germanico, Roma. In: BullCom 101 (2000), S. 183–295. 12  Giuseppe Lugli: La tecnica edilizia romana con particulare riguardo a Roma e Lazio I. Testo. Rom 1957, S. 253–255, S. 257 f. 13  Martial, Epigramm IV, 64, 15.

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der Republik an dieses Kriegsverbrechen.14 Der Umgang mit dem Gebiet inner­ halb des sicher noch zu Beginn der Kaiserzeit deutlich sichtbaren Mauerrings war dagegen von Pragmatismus geprägt. Zwar konnte man vereinzelt immer noch Reste der archaischen Bebauung aus dem Boden ragen sehen,15 doch machte man bei der Anlage von Feldern oder Gräbern und bei der Errichtung von Villen ­keinen Unterschied zwischen der ehemaligen Stadt und dem freien Land vor den Toren; die Steinbrüche untergruben sogar die alten Siedlungshügel und vernichte­ ten so die Überreste der Stadt fundamentaler, als dies jede Überbauung vermocht hätte. Eine Klage um das traurige Schicksal des alten Zentrums findet sich allerdings erst im 21. Jahrhundert aus der Feder des langjährigen Soprintendenten F. di Gen­ naro: Er sieht darin eine Präfiguration der Rücksichtslosigkeit der modernen Stadtplaner, die für die Zerstörung „seiner“ Stadt verantwortlich ist.16 Aus der Antike selbst ist keinerlei Bedauern über den Zustand Fidenaes überliefert. Dieses findet sich dagegen in der Reflexion über das Schicksal Veiis. Als der Dichter ­Properz im zehnten Gedicht seines vierten Elegienbuchs vom Sieg des römischen Feldherrn Cossus über den (für die erwähnte Ermordung der Gesandten verant­ wortlichen) Vejenterkönig Tolumnus berichtet, der letztlich zum Untergang der Stadt führte, ruft er aus: „Weh, altes Veii! Auch du warst einst ein Königssitz, und ein goldener Thron stand auf deinem Forum; nun erklingt in deinen Mauern das Horn eines trägen Hirten, und über deinen Knochen werden Felder gemäht.“17

Der Kontrast zwischen Macht und Reichtum der etruskischen Metropole und dem ländlichen Idyll von Hirten und Bauern ist evident. Gleichzeitig erinnert sich der Leser aber auch an Properz’ Schilderung der einfachen Anfänge Roms im ­ersten Gedicht desselben Buchs: Dasselbe Hirtenhorn habe damals dazu gedient, die Bürger zur Versammlung zu rufen. Dieses Szenario ist ein Topos der augus­ teischen Dichtung: Auch Ovid beschreibt, wie die ersten Senatoren noch eigen­ händig ihre Schafe geweidet hätten.18 So ist die Klage um Veii gleichzeitig ein grundsätzliches Nachdenken über das Schicksal von Städten. Während Rom sich von einem Bauerndorf zur Weltstadt entwickelte, löste sich das damals mächtige Veii in Weiden und Felder auf – ein Schicksal, das auch Rom noch drohen könnte. Mit der Gegenüberstellung von gegensätzlichen Stadtentwicklungen griff Pro­ perz ein Thema auf, das sich auch in der zeitgenössischen griechischen Epigram­ matik großer Beliebtheit erfreute. So schilderten Dichter wie Mundus Munatius 14 Markus

Sehlmeyer: Stadtrömische Ehrenstatuen der republikanischen Zeit. Stuttgart 1999, S. 63–66. 15  di Gennaro u. a.: Fidenae (wie Anm. 11), S. 205. 16  Pietro Barbina u. a.: Il territorio di Fidenae tra V e II secolo A.C. In: Vincent Jolivet u. a. (Hg.): Suburbium II. Il suburbio di Roma dalla fine dell’età monarchica alla nascita del sistema delle ville (V–II secolo a. C.). Rom 2009, S. 325–345, hier: S. 325 f. 17  Properz, Elegie IV, 10, 27–30. 18  Ovid, Fasti I, 204.

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das Paradox, dass Mykene, die „goldreiche Stadt“ des Agamemnon, unter dessen Führung die Griechen einst Troja zerstörten, nun zu einer Ziegenweide verkom­ men sei, während Troja selbst doch immer noch eine „Stadt“ sei.19 Ein Blick nach Kleinasien zeigt jedoch, dass Besucher auch den aktuellen Zustand Trojas durch­ aus ambivalent bewerteten. So ließ sich nicht nur die Stadt, sondern die gesamte Troas in augusteischer Zeit als regelrechte Ruinenlandschaft wahrnehmen – zumindest wenn ein Zeitgenosse eine selektive Perspektive einnahm, in der die ebenso vorhandenen florierenden Siedlungen wie die große Hafenstadt Alexandria Troas nicht vorkamen. Strabon etwa, in dessen Werk geografische, historiografische und philologische Quellen einflossen, schildert die Troas seiner Zeit in einem geradezu dystopischen Licht: „Die vielen Diskussionen über diese Gegend, die ja doch verlassen in Trümmern liegt, zwingen mich trotzdem nicht ohne Grund, in meinem Text viel zu sagen. Außerdem muss ich um Verzeihung und Verständnis bitten, damit die Leser die Schuld an der Länge nicht so sehr mir anrechnen wie denen, die unbedingt etwas über berühmte und alte Dinge lernen wollen. Zu der Länge trägt auch noch die große Zahl derjenigen bei, die das Land besiedelt haben – Griechen wie auch ­Barbaren – und ebenso die Autoren, die weder das Gleiche über dieselben Dinge schreiben noch alles präzise darstellen. Unter den wichtigsten von ihnen ist ­Homer, der über die meisten Dinge nur Anlass zu Vermutungen bietet.“20 Das im Mittelpunkt des von Strabon angesprochenen homerischen Kosmos ­stehende Troja ist zentraler Kristallisationspunkt griechischer Erinnerungs- und Bildungskultur und überdies der Ort, an dem mit Aeneas die Geschichte des rö­ mischen Volkes ihren Anfang genommen hatte.21 In der Regel wurde die Stadt in der Antike mit dem südlich der Dardanellen gelegenen Ilion und dem dortigen Heiligtum der Athena Ilias identifiziert, wo sich neben Resten bronzezeitlicher Befestigungsmauern eine Vielzahl musealer Artefakte besichtigen ließ.22 Die reich bezeugte Präsenz von Besuchern dürfte in Ilion bedeutender als in vielen anderen antiken Städten gewesen sein; ihre Perspektive war demnach alles andere als ­marginal und wird auch die Wahrnehmung der eigenen Stadt durch Ortsansässige mitgeprägt haben. Eine entscheidende Rolle spielten dabei etwa lokale Fremden­ führer, wie sie für Ilion überliefert sind, und Autoren wie Polemon von Ilion. Dieser scheint im 2. Jahrhundert v. Chr. neben weiteren Erinnerungsorten der ­hellenistischen Welt auch die Sehenswürdigkeiten seiner Heimatstadt in einem mehrbändigen Werk beschrieben zu haben.

19  Mundus, Epigramm I (nach der Zählweise der Edition Gow/Page 1968; entspricht Anthologia Palatina IX, 103). 20  Strabon, Geographika 13, 1, 1; Übersetzung Schreyer. 21  Andrew Erskine: Troy between Greece and Rome. Local Tradition and Imperial Power. Ox­ ford 2001; Dieter Hertel: Die Mauern von Troia. Mythos und Geschichte im antiken Ilion. ­München 2003, S. 296–299; Nicola Zwingmann: Antiker Tourismus in Kleinasien und auf den vorgelagerten Inseln. Bonn 2012, S. 82–85. 22  Zwingmann: Tourismus (wie Anm. 21), S. 90–106.

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Architektonisch war Ilion, gemessen an anderen urbanen oder sakralen Zentren des antiken Mittelmeerraums, vergleichsweise unspektakulär und wies nur wenige monumentale Bauten auf. Zu den wenigen Ausnahmen zählten ab dem 4. Jahr­ hundert v. Chr. ein vergrößertes, terrassiertes Athenaheiligtum über dem prähisto­ rischen Siedlungshügel und ein Theater, ab dem 3. Jahrhundert v. Chr. eine neue Stadtbefestigung. Die monumentalen Reste der prähistorischen Befestigung ver­ schwanden hingegen nach und nach, abgesehen von einigen wenigen kurzen Mauer­abschnitten. Zudem entgingen auch Gebäude, die erst in jüngerer Vergan­ genheit errichtet worden waren, nicht dem Verfall. So bildeten sich etwa in einem Heiligtumsgelände am Westabhang und im intramuralen Siedlungsgebiet immer wieder Ruinenareale aus. Die Mithridatischen Kriege, im Zuge derer die Stadt durch den römischen Feldherrn Fimbria 85 v. Chr. erobert wurde, sorgten für zu­ sätzliche Schäden. Selbst die hellenistische Befestigungsmauer lag nun in Ruinen. Rund um den zentralen Siedlungshügel erstreckte sich ein heterogener, räumlich und auch zeitlich wechselnder Flickenteppich aus Siedlungsbereichen, landwirt­ schaftlichen Flächen, Steinbrucharealen und auch längerfristig bestehenden Brachund Verfallszonen.23 Ilion besaß also einen fraglos städtischen, aber kaum als großstädtisch zu bezeichnenden Charakter. Für einen Erinnerungsort dieses Rangs ist das be­ ­ merkenswert. Hielten es hellenistische Herrscher, römische Kaiser und sonstige Euergeten kollektiv für unangemessen, Ilion ein allzu monumentales Äußeres zu verleihen? Zogen sie es stattdessen vor, möglichst den kleinteiligen, von zahllosen unscheinbaren, aber bedeutsamen Objekten und Kleinarchitekturen geprägten Musealcharakter zu bewahren, der sich im Laufe der Zeit in weiten Teilen des Stadtgebietes und seiner Umgebung eingestellt hatte?24 Das könnte erklären, wie­ so sich die Mehrzahl der zugunsten Ilions ergriffenen Initiativen darauf be­ schränkte, vereinzelte Bauwerke zu errichten oder instand zu setzen. Konzeptionelle Anknüpfungspunkte für eine solche intentionale Konservie­ rung der Nicht-Monumentalität Ilions finden sich im Feld der literarischen Stili­ sierung. Der Satiriker Lukian lässt im 2. Jahrhundert n. Chr. den Fährmann der Unterwelt Charon bei einer Besichtigung der oberirdischen Welt klagen, dass Troja zu unscheinbar sei, gemessen an den von Homer berichteten bedeutsamen Ereignissen.25 Bei den augusteischen Dichtern Vergil und insbesondere Ovid 23 

William Aylward: Studies in Hellenistic Ilion: The Houses in the Lower City. In: Studia Troica 9 (1999), S. 159–186; Andrea M. Berlin: Studies in Hellenistic Ilion: The Lower City. Stratified Assemblages and Chronology. In: Studia Troica 9 (1999), S. 73–157; Marian Fabiš: Studies in Hel­ lenistic Ilion: The archaeofaunal remains of C29, w28, and y28/29, Lower City. In: Studia Troica 9 (1999), S. 237–252; Eleni Hasaki: Studies in Hellenistic Ilion: A Note on Rooftiles in the Lower City. In: Studia Troica 9 (1999), S. 225–236; Mark L. Lawall: Studies in Hellenistic Ilion: Trans­ port Amphoras from the Lower City. In: Studia Troica 9 (1999), S. 187–224. 24 Zu den Sehenswürdigkeiten innerhalb und außerhalb Ilions Hertel: Mauern (wie Anm. 21), S. 154–185, S. 237–284; Martin Zimmermann (Hg.): Der Traum von Troia. Geschichte und Mythos einer ewigen Stadt. München 2006, S. 12–15; Zwingmann: Tourismus (wie Anm. 21), S. 44–81. 25  Lukian, Charon 23.

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e­rscheint das drastische Bild des Getreideanbaus, der über den Ruinen und Schlachtfeldern des untergegangenen Troja betrieben werde.26 Noch stärkere Ver­ fremdungseffekte wählt der Dichter Lukan in seinem Bürgerkriegsepos aus dem mittleren 1. Jahrhundert n. Chr. Darin durchstreift Caesar während eines Zwi­ schenaufenthalts in Troja eine völlig überwucherte Trümmerlandschaft, bevor er schließlich ein Opfer darbringt und gelobt, die Stadt wiederzubesiedeln: „Er um­ wanderte das ausgebrannte Troja, nur noch ein denkwürdiger Name, und suchte nach den mächtigen Spuren von Phoibos’ Mauer. Abgestorbene Bäume und ver­ moderte Eichenstümpfe bedeckten bereits den Palast des Assarakos und legten sich mit schon schlaffer Wurzel um die Tempel; ja, die ganze Burg von Troja war von Gestrüpp überwuchert: Selbst die Ruinen waren untergegangen. Er besich­ tigte Hesiones Klippe und das im Wald verborgene Liebeslager des Anchises; die Grotte, in der der Schiedsrichter gesessen hatte, den Platz, von dem der Knabe zum Himmel entführt worden war, und den Gipfel, auf dem die Najade Oinone trauerte: Kein Stein war ohne Namen. Unwissentlich hatte er einen sich im tro­ ckenen Staub dahinwindenden Bach überschritten, bei dem es sich um den Xan­ thos handelte. Unbekümmert schritt er durch das hohe Gras: Ein einheimischer Phryger verbot ihm, Hektors Manen mit Füßen zu treten. Steinblöcke lagen ver­ sprengt herum und wahrten keinen Anschein mehr von einem Heiligtum: ‚Gilt dir‘, fragte der Fremdenführer, ‚der Altar des Zeus Herkeios nichts?‘“27 Der in der spätrepublikanischen und augusteischen Literatur hervorgehobene Charakter Trojas als Ruine wird von Lukan dramatisch zugespitzt. Obwohl ­Caesar die Bedeutung Trojas selbstverständlich kennt, präsentiert sich ihm der Schauplatz als aller menschengemachten Bestandteile beraubt, woran auch der Hinweis des lokalen Fremdenführers wenig ändert. Bewohner scheint es kaum noch zu geben. Die Kulte der Stadt sind teils aufgegeben, teils nach Italien trans­ feriert worden, wie Caesar während seines anschließenden Gelübdes betont. My­ thisch aufgeladene Orte sind innerhalb und außerhalb der Stadt zwar in großer Zahl vorhanden, in ihrer physischen Gestalt aber vielfach bis zur Unkenntlichkeit überformt. Sie bedürfen des aktiven Hinweises durch einen mit der Gegend ver­ trauten Begleiter. An die Stelle Trojas setzte Lukan nicht einmal mehr die agra­ risch genutzte Kulturlandschaft, sondern den dichten Urwald, in dem kaum noch Spuren menschlicher Besiedlung sichtbar sind. Die quellenkritische Arbeit des Altertumswissenschaftlers wird durch solche Konstellationen nicht gerade erleichtert. Die Wechselwirkung zwischen realem Bestand, historischer Wahrnehmung und in literarischen Quellen erzeugten Bil­ dern ist oftmals ohnehin schon hermeneutisch prekär. Im Motiv der sukzessiven Einebnung bedeutungslos gewordener Metropolen in ihre landwirtschaftlich ge­ nutzte oder auch völlig verwilderte Umgebung zeigen sich einmal mehr die ­Tücken, mit denen jeder Versuch konfrontiert ist, entweder den Quellen einen 26 

Vergil, Aeneis 3, 11; Ovid, Epistulae 1, 51–56. Lukan, Pharsalia 9, 950–979; Übersetzung abgeändert nach W. Ehlers. Einordnung und Biblio­ grafie zur Passage bei Zwingmann: Tourismus (wie Anm. 21), S. 35 f.

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vermeintlichen Abbildcharakter zuzusprechen oder aber eine allzu rigorose Tren­ nung von Wirklichkeit und literarischen Konstruktionen vorzunehmen.

Abstract A key aspect of classical antiquity’s dealings with deurbanised cities is the tension between their former significance, recorded or imagined by historiography and mythography, and their gradual absorption into the mostly agriculturally shaped morphology of the surrounding cultural landscape. This tension could be per­ ceived and articulated in very different intensities; the spectrum is outlined by an overview of Augustan interactions with the remains of Antemnae and Fidenae in Italy and Troy in Asia Minor.

Armin Selbitschka Stadtmauern, Ruinen, leere Städte und die Unzulänglichkeiten frühchinesischer Herrscher In antiken Texten des alten Mittelmeerraums werden häufiger die Ruinen zerstörter und verlassener Städte erwähnt. Für Autoren wie Pausanias (ca. 115–180  n. Chr.), der heute primär für seine „Beschreibung Griechenlands“ (Helládos Periēgēsis) bekannt ist, waren sie Spiegel der vergangenen Größe und des Selbstverständnisses griechischer Kultur.1 Strabon (ca. 63 v.–23 n. Chr.) kategorisierte verödete griechische Städte entsprechend den Ursachen ihres Niedergangs. Dabei unterschied er vom Krieg zerstörte Siedlungen von denjenigen, die aus unbekannten Gründen aufgegeben wurden. Weiter nannte er Ruinen, die in anderen Texten keine Beachtung fanden. Sie umgab eine mythische Aura. Zuletzt sprach Strabon über verlorene Orte, von denen zwar berichtet wurde, die man aber niemals lokalisieren konnte. Sie alle erinnerten entweder an ruhmreiche Individuen oder sakrale und politische Ereignisse und waren damit Indikatoren für das Schicksal von Gesellschaften. An Ruinen könne man deren Erfolge sowie die Gründe für ihr Scheitern ablesen, so Strabon.2 Aus vergleichender Sicht ist der letzte Punkt besonders bemerkenswert. Geschichtsschreibung und Philosophie im frühen China (ca. 13. Jahrhundert vor bis frühes 3. Jahrhundert n. Chr.) waren von Beginn an darauf ausgelegt, ihre Leser – und damit sind besonders die Herrscher diverser Staaten und ab 221 v. Chr. des Kaiserreichs gemeint – durch historische Präzedenzfälle und Anekdoten zu belehren.3 Dass dabei Ruinen (xū 墟, vor allem aber xū 虛, „leer, Leere“) relativ selten eine Rolle spielten, ist wohl den bevorzugten Baumaterialien geschuldet. Abgesehen von den Lehmziegelarchitekturen im Nahen und Mittleren Osten bestanden

1 Julian Schreyer: Zerstörte Architektur bei Pausanias. Phänomenologie, Funktionen und Verhältnis zum zeitgenössischen Ruinendiskurs. Turnhout 2019. Ich danke Alexander Campos Aran, Elisabeth Hüls und Martin Zimmermann ganz herzlich für ihre hilfreichen Anmerkungen zu einer früheren Version dieses Aufsatzes; sie bewahrten mich vor mancher Peinlichkeit. Alle verbleibenden Unzulänglichkeiten liegen freilich alleine in meiner Verantwortung. 2 Martin Zimmermann: Lost cities, urban explorers und antike Landschaften. Vom Leben mit Ruinen. In: Shing Müller/Armin Selbitschka (Hg.): Über den Alltag hinaus. Festschrift für Thomas O. Höllmann zum 65. Geburtstag. Wiesbaden 2017, S. 297–311, hier: S. 305–309. 3  Siehe z. B. David Schaberg: A Patterned Past. Form and Thought in Early Chinese Historiography. Cambridge/London 2001.

https://doi.org/10.1515/9783111071848-005

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im antiken Mittelmeerraum repräsentative Bauwerke und Gräber meist aus Stein. Im alten China setzten sich Stadtmauern und die Fundamente maßgeblicher Bauten aus zahllosen Schichten gestampften Lehms zusammen. Die eigentlichen Gebäude waren sogenannte Ständerbauten aus vergänglichem Holz.4 Das bedeutet nicht, dass Stadtruinen völlig unbekannt oder gar kein Gesprächsthema waren. Liu Xiang 劉向 (79–8 v. Chr.) etwa schrieb Konfuzius (trad. 551– 479 v. Chr.) die Aussage zu, dass „die Ruinen vergangener Reiche“ (wang guo zhi xu 亡國之墟) weithin sichtbar gewesen seien, sobald man die Hauptstadt von Konfuzius’ Heimatstaat Lu 魯 verlassen habe.5 Freilich dürfen wir derlei Aussagen nicht absolut wörtlich nehmen. Liu Xiang spielte damit auf die häufigen Kriege zwischen frühchinesischen Regional- beziehungsweise „Lehensstaaten“ sowie äußeren Feinden während der Westlichen (1046–771 v. Chr.) und Östlichen ZhouZeit (771–221 v. Chr.) und besonders in der Periode der Streitenden Reiche (Zhanguo 戰國, 475–221 v. Chr.) an.6 Wie schnell eine Stadt voller Holzkonstruktionen vernichtet sein konnte, berichtete Sima Qian (145?–86? v. Chr.). Seine „Aufzeichnungen des Historikers“ (Shi ji 史記) dienen heute als zeitnahste Quelle für die Verwüstungen des Bürgerkriegs am Ende des ersten Kaiserreichs der Qin (221– 206 v. Chr.). Demnach brannten Xiang Yu 項羽, einer der Herausforderer um den Thron, und seine Anhänger anno 206 v. Chr. Xianyang 咸陽, die Hauptstadt der Qin-Dynastie nieder.7 Letztlich verlor Xiang Yu den Kampf um die Macht und der erste Kaiser der siegreichen Westlichen Han-Dynastie (206 v.–9 n. Chr.) ließ nur wenige Kilometer von den Ruinen seinen neuen Regierungssitz Chang’an 長安 (etwa heutiges Xi’an) errichten. Wie in vielen Städten aus der chinesischen Vergangenheit folgten dessen Stadtmauern einem weitestgehend rechteckigen Grundriss. Es dauerte allerdings noch einige Zeit, bis diese im Jahr 189 v. Chr. nach knapp vierjähriger Bauzeit fertiggestellt wurden.8 Das heißt, Chang’ans Bevölkerung hatte für mehr als ein Jahrzehnt weitestgehend freien Blick auf die zerstörten 4 Siehe z. B. Robert L. Thorp: Origins of Chinese Architectural Style: The Earliest Plans and Building Types. In: Archives of Asian Art 36 (1983), S. 22–39; Nancy Shatzman Steinhardt: Chinese Architecture. A History. Princeton/Oxford 2019; Wu Hung: The Art and Architecture of the Warring States Period. In: Michael Loewe/Edward L. Shaughnessy (Hg.): The Cambridge History of Ancient China. From the Origins of Civilization to 221 B.C. Cambridge u. a. 1999, S. 651–744. 5  Liu Xiang 劉向 (79–8 BCE) (Komp.)/Shi Guangying 石光瑛 (1880–1943) (Hg.): Xin xu jiaoshi 新序校釋 (Neues Vorwort). Peking 2017, 4.19–20, S. 588. 6 Zu Feudalismus im alten China siehe Anm. 13. Zur Östlichen Zhou-Zeit und der Zeit der ­Streitenden Reiche siehe z. B. Li Feng: Early China. A Social and Cultural History. Cambridge u. a. 2013, S. 161–205. 7  Sima Qian 司馬遷 (145?–86? v. Chr.) (Komp.): Shi ji 史記 (Aufzeichnungen des Historikers). Peking 1959, 53.2014; siehe auch Ban Gu 班固 (32–92 u. Z.) (Komp.): Han shu 漢書 (Buch der Han). Peking 1962, 39.2004–2005. 8  Sima: Shi ji (wie Anm. 7), 9.398. Das Chang’an der Westlichen Han-Zeit wird heute weitestgehend von der Stadt Xi’an im nördlichen Zentralchina überlagert. Siehe v. a. Michael Nylan/Griet Vankeerberghen: Chang’an 26 BCE. An Augustean Age in China. Seattle/London 2015. Zu ­Xiang Yu siehe z. B. Michael Loewe: A Biographical Dictionary of the Qin, Former Han and Xin Periods (221 BC–AD 24). Leiden u. a. 2000, S. 599–602.

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Überreste der alten Kapitale. Auch wenn von ihnen später nur noch diejenigen etwas sahen, die Chang’an verließen, dort ankamen oder auf Türmen Wache schoben, blieb ihre politische Bedeutung unverkennbar. Den Menschen stand das klägliche Scheitern der als grausam verteufelten Qin-Dynastie stets vor Augen. Die Bedeutung von lost places wie Xianyang wird in den modernen Kultur- und Sozialwissenschaften seit mehr als zwei Jahrzehnten diskutiert. Beispielsweise identifizierten Christian Bauer und Christoph Dolgan lost places als „erkennbare Reste architektonischer Strukturen“ an aufgegebenen Orten. Diese mögen auf den ersten Blick wie nutzlose Ruinen anmuten, jedoch wird bei genauerer Betrachtung deutlich, dass sie häufig diverse soziale Funktionen erfüllen. Dabei messen Betrachter den baulichen Überresten aus vergangenen Zeiten verschiedene Bedeutungen bei und passen die Ruinen gegebenenfalls neuen Anforderungen an.9 So wird etwa die Ruine einer mittelalterlichen Kirche zur Projektionsfläche für Graffiti­kunst oder gar zum Hotel.10 Strabons Beispiel deutete bereits an, dass man Ruinen auch im griechisch-römisch geprägten Altertum unterschiedlich auffasste. Der vorliegende Beitrag wird zeigen, dass dies im China der späten Vor- und frühen Kaiserzeit (ca. 5. Jahrhundert v. Chr.–1. Jahrhundert n. Chr.) ähnlich war. Anders als Strabon sprachen die Autoren und Kompilatoren der überlieferten Texte11 aus dieser Zeit urbane Hinterlassenschaften allerdings nur in seltenen Ausnahmen als Stätten einer glorreichen Vergangenheit an (erster Abschnitt). Die anschließenden Ausführungen (zweiter Abschnitt) werden darlegen, dass frühchinesische Denker verlassene Städte und Orte stattdessen in erster Linie als Mahnmale für die Unzulänglichkeiten von Herrschern verstanden. In den entsprechenden Diskussionen spielten die Errichtung und Wartung von Stadtmauern eine äußerst wichtige Rolle, während deren praktische Schutzfunktion beinahe vollständig vernachlässigt wurde. Die Autoren und Kompilatoren erkoren die Vernachlässigung von Befestigungsanlagen vielmehr zur Metapher für das grundsätzliche Versagen eines Fürsten. Letztlich wird der dritte Abschnitt dieses Beitrages erklären, dass die moralischen und politischen Unzulänglichkeiten der Herrscher nicht nur  9 Christian

Bauer/Christoph Dolgan: Towards a Definition of Lost Places. In: Erdkunde 74 (2020) 2, S. 101–115, hier: S. 104 f. Viel konkreter äußerte sich Thomas F. Gieryn allgemein zur Soziologie von Orten; siehe z. B. Thomas F. Gieryn: A Space for Place in Sociology. In: Annual Review of Sociology 26 (2000), S. 463–496; ders.: What Buildings Do. In: Theory and Society 31 (2002) 1, S. 35–74. 10  Thomas Coomans: From Romanticism to New Age. The Evolving Perception of a Church Ruin. In: Téoros. Revue de recherche en Tourisme 24 (2005) 2, S. 47–57. 11  Überlieferte Texte im Gegensatz zu den immer zahlreicher werdenden ausgegrabenen Handschriften des 5. Jahrhunderts v.–3. Jahrhunderts n. Chr. Siehe dazu z. B. Enno Giele: Early Chinese Manuscripts, Including Addenda and Corrigenda to ‚New Sources of Early Chinese History: An Introduction to the Reading of Inscriptions and Manuscripts‘. In: Early China 23/24 (1998/1999), S. 247–337. Zudem werden die komplexen Textgeschichten der meisten überlieferten Schriften durch die Verknüpfung mit einem konkreten „Autor“ leider noch immer verschleiert. Beinahe alle frühchinesischen Texte gingen im Verlauf mehrerer Jahrhunderte durch die Hände verschiedener Kompilatoren. Siehe dazu Michael Loewe (Hg.): Early Chinese Texts. A Bibliographical Guide. Berkeley 1993.

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den Verfall von Stadtmauern verursachten, sondern unweigerlich zur Leerung von Städten und damit zum Untergang ganzer Reiche führten.

Ruinen als politisch wirksame Orte Die „Überlieferungen des [Herrn] Zuo“ (Zuo zhuan 左傳; ca. 4.–3. Jahrhundert v. Chr.) erwähnen ein diplomatisches Treffen zwischen den Herrschern mehrerer Regionalstaaten im Jahr 506 v. Chr. Bei dieser Gelegenheit diskutierten zwei Gesandte die Rechtmäßigkeit der verhandelten Machtverhältnisse. Dabei berief sich einer der beiden auf Belehnungen dreier namhafter Fürsten der Vergangenheit: Mit einem Sohn des Herzogs Wen 文 der regierenden Westlichen ZhouDynas­tie setzte das Königshaus den ersten Herrscher von Lu nahe den Überresten von Shaohao 少皞 beim heutigen Qufu 曲阜 in der Provinz Shandong ein. Dies geschah etwa im späten 11. Jahrhundert v. Chr. und es bleibt zu erwähnen, dass es sich bei Herzog Wen um einen Bruder von König Wu 武 (reg. ca. 1046– 1043 v. Chr.) handelte. Hingegen war der Gründer des Staates Jin 晉 kein Neffe von König Wu, sondern dessen Sohn. Inwiefern dieser Umstand von Bedeutung gewesen sein mag, werde ich im Folgenden erläutern. Er erhielt sein Mandat ungefähr gegen Ende des 11. Jahrhundert v. Chr. bei den Trümmern der mythischen Xia-Dynastie. Zu guter Letzt sind die Ruinen von Yin (das heißt der ShangDynastie)12 im späten 11. oder frühen 10. Jahrhundert v. Chr. der Ort gewesen, an dem ein jüngerer Bruder von König Wu zum ersten Herrscher des Staates Wei 魏 ernannt wurde. Mit dieser historischen Lehrstunde unterbreitete der Gesandte seinem Gegenüber, dass sich die neu geregelte Ordnung zwischen ihren beiden Heimatstaaten historisch begründen ließ. Wie andere große Herrscher vor ihm stamme der Fürst des Sprechers aus der Königslinie der Zhou. Damit sei an seinem Führungs­ anspruch nicht zu rütteln.13 Der Autor der „Überlieferungen des [Herrn] Zuo“ 12  Die

Bezeichnung „Ruinen von Yin“ (Yinxu 殷墟) beschreibt heute die archäologischen Fundstellen der letzten Phase der Shang-Dynastie (ca. 1300–1046 v. Chr.) bei Anyang 安陽 in der Provinz Henan. Sie umfassen vor allem die riesigen Grabanlagen einiger Könige und deren Gemahlinnen, aber nur relativ wenige Siedlungsbefunde. Siehe z. B. Robert L. Thorp: China in the Early Bronze Age. Shang Civilization. Philadelphia 2006. Die primär aus Anyang bekannten Orakelknocheninschriften (jiaguwen 甲骨文) identifizieren den Ort selbst jedoch nicht als Yin, sondern als „große Siedlung Shang“ (da yi Shang 大邑商). Der Name Yin oder Yinxu kommt erst in ­deutlich jüngeren Texten wie den „Aufzeichnungen des Historikers“ zum Tragen. Siehe David N. Keightley: The Shang. China’s First Historical Dynasty. In: Loewe/Shaughnessy (Hg.): Cambridge History (wie Anm. 4), S. 232–291, hier: S. 232. 13 Yang Bojun 楊伯峻 (1909–1992) (Hg.): Chun qiu Zuo zhuan zhu 春秋左傳注 (Annotierte [Fassung] des Zuo-Kommentars zu den Frühlings- und Herbstannalen). Peking 2009, S. 1537– 1539 (Herzog Ding, 4. Jahr [506 v. Chr.]); Stephen Durrant u. a.: Zuo Tradition, Zuozhuan. Commentary on the „Spring and Autumn Annals“. Seattle 2016, S. 1747–1751, bes. S. 1749. Die Frage, ob die Westliche Zhou-Dynastie tatsächlich ein Feudalstaat war, bleibt umstritten; siehe z. B. Li Feng: ‚Feudalism‘ in Western Zhou China. A Criticism. In: HJAS 63 (2003) 1, S. 115–144. Zum

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l­eitete politische Autorität unmissverständlich von der persönlichen Herkunft ab. Für unsere Belange ist diese Erkenntnis zweitrangig. Wichtiger ist der Umstand, dass die Gründungsväter dreier mächtiger Reiche an geschichtlich signifikanten Orten belehnt wurden. Im Fall von Lu waren es bedeutende Ruinen im eigenen Staat, während man bei den ersten Fürsten von Jin und Wei die Ruinen der zwei Vorgängerdynastien der Zhou dafür auserkor. Die Auswahl der Ruinen in Lu als Ort für die Belehnung mit ihrer im Vergleich zu den beiden anderen Orten nied­ rigeren symbolischen Stellung mag damit begründet gewesen sein, dass der erste Regent von Lu einer royalen Nebenlinie entsprang. Als Neffe von König Wu rangierte er deutlich hinter dessen Sohn und Bruder. Grundsätzlich ergab sich politische Autorität, um die es hier ging, nicht allein aus den Beziehungen zum Königshaus. Mindestens ebenso schwer wogen die „verlorenen Orte“, an denen derlei Machtbefugnisse jeweils ihren Ursprung nahmen. Die Textpassage vereint die drei grundlegenden Dynastien des chinesischen Altertums – Xia, Shang/Yin, Zhou – und stellt gleichzeitig einen kausalen Zusammenhang zwischen ihnen her. Das Haus der Zhou nahm sich das Recht heraus, seine Gefolgsleute an den zerstörten Städten derer zu belehnen, denen sie selbst indirekt (Xia) und direkt (Shang/Yin) ein Ende setzten. Somit dürfen wir die Ruinen als Autoritätsquelle der Westlichen Zhou und, in diesem Fall ganz konkret, als positive Omina für die Herrschaften der neuernannten Lehnsmänner verstehen. Die Geschicke ihrer Reiche sollten ­zukünftig genauso erfolgreich verlaufen, wie die der Zhou. Zudem erinnerten die geschichtsträchtigen Orte der Belehnungen die Lehnsmänner daran, dass die Westlichen Zhou ihre legitimen Herren waren, denen sie stets loyal zu dienen h­atten. Die Ruinen von Yin (Yinxu) scheinen überhaupt ein lost place von besonders hoher Anziehungskraft gewesen zu sein. Zwei weitere Einträge in frühen Geschichtswerken erklären verlorene Orte zu bedeutsamen Stätten und beide Male ist von den Ruinen von Yin die Rede. Einer stammt aus dem „Buch der Han“ (Han shu 漢書). Der Historiker Ban Gu 班固 (32–92 n. Chr.) berichtet von einer Reise des niederen Beamten und Dichters Yang Xiong 楊雄 (53 v. Chr.–18  n. Chr.) zu den Überresten von Yin und Zhou, der dort die Aura der mythischen Kaiser (di 帝) Yao 堯 und Shun 舜 aufsaugen wollte.14 Ban Gu begriff die zwei Ruinenstätten als Horte politischer Macht. Yao und Shun gelten unter anderem als Ur­ väter der chinesischen Geistes- und Kulturgeschichte. Zusammen mit einigen ­anderen legendären Persönlichkeiten zählen sie zu denjenigen Personen, die als

leichteren Verständnis werde ich im Verlauf dieses Aufsatzes am Begriff des „Lehens“ festhalten. Zur mythologischen Xia-Dynastie siehe z. B. Sarah Allan: The Myth of the Xia Dynasty. In: Journal of the Royal Asiatic Society of Great Britain and Ireland 2 (1984), S. 242–256; Edward Shaughnessy: Chronologies of Ancient China: A Critique of ‚Xia-Shang-Zhou Chronology Project‘. In: Clara Wing-chung Ho (Hg.): Windows on the Chinese World. Reflections by Five Historians. London 2008, S. 15–28. 14  Ban: Han shu (wie Anm. 7), 87A.3535. Zu Yang Xiong siehe z. B. Michael Nylan: Yang Xiong and the Pleasures of Reading and Classical Learning in China. New Haven 2011, S. 9–20.

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politisch beispielhaft gelten und an denen sich alle späteren Fürsten messen lassen mussten.15 Der Aufenthalt an den Wirkungsstätten zweier glorifizierter Herrscherfiguren war für Yang Xiong keine banale Urlaubsreise. Da – so die Vorstellung – der Geist von Yao und Shun die Ruinen von Yin und Zhou durchtränkte, wollte ihn Yang Xiong verinnerlichen, um sich mit der Weisheit der beiden mythischen Kaiser für Kritik an seinen obersten Vorgesetzten zu wappnen. Denn trotz seines geringen Beamtenstatus scheute sich Yang Xiong im Lauf seiner Karriere niemals, den eigenen Kaisern die Meinung zu sagen.16 Darüber hinaus wird in den „Aufzeichnungen des Historikers“ beschrieben, wie Xiang Yu, der Brandschatzer der Hauptstadt von Qin, einen seiner Wider­ sacher, Zhang Han 張邯, im Jahr 207 v. Chr. an die Ruinen von Yin zitierte. Ein Eidesschwur an dieser Stelle sollte dessen Unterstützung garantieren.17 Sowohl dieser knappe Eintrag, als auch die Biografien der beiden Protagonisten deuten keinen tieferen Grund für diesen speziellen Treffpunkt an. Dennoch war er keines­wegs zufällig gewählt. Wenn wir die Übertragung von Lehensmandaten als Ausdruck einer Geisteshaltung verstehen, in der man lost places wie den Ruinen vergangener Dynastien besondere Bedeutung beimaß, dann wusste Xiang Yu sehr genau, was er tat. Als Initiator des Eides sah er sich selbst als den mächtigeren Partner einer potenziellen Koalition. Er untermauerte die Rechtmäßigkeit seines moralischen Auftrags, die grausame Herrschaft der Qin zu zerschlagen, indem er die Ruinen von Yin zur Kulisse seines politischen Theaters machte. Wie im Folgenden zu sehen sein wird, machten frühchinesische Autoren durchwegs das Scheitern der Shang-Dynastie am dekadenten Verhalten ihrer letzten Könige fest. Ihrer Ansicht nach legten die Westlichen Zhou vollkommen zu Recht die Hauptstadt der Shang in Schutt und Asche. Xiang Yu präsentierte sich durch den Eid bei den Ruinen von Yin als legitimer Erbe der Zhou-Könige. So wie die Zhou einst die Shang zerschlugen, würde er das ethisch gleichermaßen bankrotte Qin-Reich auslöschen. Anders als sein schärfster Konkurrent Liu Bang 劉邦, der letztlich als erster Kaiser der Westlichen Han in die Geschichte einging (Gaozu 高祖, reg. 206– 195 v. Chr.), hatte Xiang Yu niemals das Ziel, im Siegesfall das junge Kaiserreich fortzuführen. Stattdessen beabsichtigte er, die „feudalen“ Strukturen der Vorkai-

15 

Siehe z. B. Dawid Rogacz: The Motif of Legendary Emperors Yao and Shun in Ancient Chinese Literature. In: Adam Bednarczyk u. a. (Hg.): Rethinking Orient. In Search of Sources and Inspirations. Frankfurt a. M. u. a. 2017, S. 113–125. 16  Nylan: Yang Xiong (wie Anm. 14), S. 9. 17  Sima: Shi ji (wie Anm. 7), 7.309–310; Cheng Tsai-fa/William H. Nienhauser, Jr.: Hsiang Yü, Basic Annals 7. In: William H. Nienhauser, Jr. (Hg.): The Grand Scribe’s Records. Bd. 1: The ­Basic Annals of Pre-Han China. Bloomington/Nanjing 2018, S. 311–358, hier: S. 327. Siehe auch Ban: Han shu (wie Anm. 7), 31. 1807. Zu Zhang Han siehe Loewe: Dictionary (wie Anm. 8), S. 681 f. Zu Eidesschwüren in der Vorkaiserzeit siehe z. B. Mark Edward Lewis: Sanctioned Violence in Early China. Albany 1990, S. 43–50.

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serzeit wiederherzustellen, und reihte sich damit zusätzlich in eine Linie mit den Zhou-Königen ein.18 Bei der flüchtigen Lektüre des vorangegangenen Abschnitts könnte eventuell der Eindruck entstehen, dass verlassene und zerstörte Stätten als bloße Staffage taugten. Dies trifft jedoch nicht zu; sie waren im Gegenteil politisch hochwirksame Orte. Soziale Phänomene sind stets „verortet“ („emplaced“) und werden durch drei Faktoren geschaffen: 1) die Orte selbst, 2) deren physische Form und 3) die Vorstellungen der Personen, die am Geschehen an diesen Orten beteiligt sind. Letztere weisen ihnen bestimmte Bedeutungen zu und geben ihnen so einen Sinn. Auf diese Weise verkörpern Orte immaterielle kulturelle Normen, Erinnerungen und Identitäten.19 Im alten China schuf der direkte Verweis auf eine glanzvolle Vergangenheit, indem an verlorenen Orten politische Handlungen vorgenommen wurden, ein kollektives Gedächtnis.20 Wie so oft bezogen sich die frühchinesischen Denker auf die als maßgeblich wahrgenommene Geschichte und erkannten in ihr den Schlüssel für eine mindestens ebenso glorreiche Gegenwart und Zukunft. Dabei stilisierten sie die Westliche Zhou-Dynastie nur indirekt zum Ideal. Der direkte Referenzpunkt blieb die Shang-Dynastie mit ihren materiellen Hinterlassenschaften. Jedoch begründeten die Autoren die Macht der Westlichen Zhou stets durch den Sieg über die verkommenen letzten Könige der Shang. Ihr rechtmäßiger Anspruch auf Herrschaft – das sogenannte Mandat des Himmels (tian ming 天命) – wäre diesen durch verwerfliches Verhalten längst abhandengekommen. Somit lag die politische Wirksamkeit der Ruinen von Yin in deren materialisierter Verkörperung der Vernichtung der Shang durch die Westlichen Zhou.21

Vor dem Verlust von Städten: Stadtmauern und vorbildliche Herrschaft im alten China Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts fördern archäologische Grabungen bei Anyang in der Provinz Henan regelmäßig sogenannte Orakelknochen zutage. Die Bauchplatten von Schildkrötenpanzern und Schulterknochen von Rindern datieren in das späte 13. Jahrhundert v. Chr. Sie tragen zum Teil Inschriften, die Orakel­ anfragen verschiedener Shang-Könige zu Themen wie Krieg, Jagd und Ackerbau dokumentieren. Die Aufzeichnungen identifizieren die heute als Ruinen von Yin (Yinxu) geläufige Fundstelle als „Siedlung“ (yi 邑). Bei diesem Graph deutet noch nichts auf eine Umwallung oder Einfriedung hin und bislang wurde am Fundort

18  Stephen

W. Durrant: The Cloudy Mirror. Tension and Conflict in the Writings of Sima Qian. Albany 1995, S. 135. 19  Gieryn: Space (wie Anm. 9), S. 467, S. 472  f. 20  Siehe dazu auch Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München 2007. 21  Zum Mandats des Himmels siehe z. B. Sarah Allan: On the Identity of Shang di 上帝 and the Origin of the Concept of a Celestial Mandate (tian ming 天命). In: Early China 31 (2007), S. 1–46.

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auch keine entdeckt.22 Das Schriftzeichen für „Stadtmauer/-wall“ (cheng 城) taucht zum ersten Mal in einer sogenannten Bronzeinschrift (jinwen 金文) des mittleren 11. Jahrhunderts v. Chr. auf.23 Anfänglich noch auf die enge Bedeutung „Stadtmauer“ beschränkt, wurde das Zeichen cheng bald zum Synonym für be­ festigte Städte. Archäologisch nachweisbar sind umwallte Siedlungen allerdings bereits mindestens seit dem frühen 5. Jahrtausend v. Chr.; ab dem 11. Jahr­ hundert v. Chr. bestanden Stadtwälle und -mauern aus zahlreichen Schichten gestampften Lehms.24 Ab etwa dem 11. Jahrhundert v. Chr. wurden Stadtmauern zum Sinnbild urbaner Gesellschaften.25 Wie anfänglich erwähnt, prägten zahllose Auseinandersetzungen zwischen Regionalstaaten wie Lu, Jin und Wei die Frühphase der chinesischen Geschichte. Dem Bau und der Instandhaltung von Stadtmauern kamen zunehmend große Bedeutung zu. Sie zählten zu den wichtigsten Garanten für das Überleben von Siedlungen und ihrer Bewohner. Hinsichtlich meiner bisherigen Ausführungen ist „Meister Xuns“ (Xunzi 荀子; ca. 3. Jahrhundert v. Chr.) Fest­stellung, dass die Westliche Zhou-Dynastie „das Reich der Yin [das heißt: Shang] leerten“ (xu Yin guo 虛殷國), besonders erhellend.26 Vernichtungskriege, im Zuge derer man die Menschen aus ihren Städten und Staaten vertrieb beziehungsweise sie ­tötete, waren offenbar das ultimative Ziel militärischer Auseinandersetzungen. So vermittelt es der Text „Meister Mo“ (Mozi 墨子; ca. spätes 4. Jahrhundert v. Chr.), der mitunter von leeren Städten und Reichen spricht, deren Zahl bis in die Tausende ging.27 Solche Angaben dürfen wir nicht auf die Goldwaage legen; sie sind 22 Siehe Anm. 12. Zu den Orakelknocheninschriften (jiaguwen 甲骨文) siehe z. B. Tsung-tung Chang: Der Kult der Shang-Dynastie im Spiegel der Orakelinschriften. Eine paläographische Studie zur Religion im archaischen China. Wiesbaden 1970. 23 Ich danke Alexander Campos Aran ganz herzlich für diesen Hinweis. Siehe Edward L. Shaughnessy: Sources of Western Zhou History: Inscribed Bronze Vessels. Berkeley u. a. 1991, S. 107, Anm. 2, S. 252. Erst das gut 300 bis 700 Jahre jüngere „Buch der Lieder“ (Shi jing 詩經) wartet als erste überlieferte Schriftquelle mit dem Schriftzeichen cheng auf. Siehe Axel Schuessler: ABC Etymological Dictionary of Old Chinese. Honolulu 2007, S. 185, S. 568–569. Zu dessen Textgeschichte siehe z. B. Michael Loewe: Shih ching. In: ders. (Hg.): Chinese Texts (wie Anm. 11), S. 415–423. 24  Zhang Guoshuo 張國碩 u. a.: Zhongguo zaoqi chengzhi chengqiang jiegou yanjiu 中國早期城 址城墻結構研究 (Untersuchung des Aufbaus von Stadtmauern städtischer Siedlungen der chinesischen Frühzeit). In: Kaogu xuebao 考古學報 (Acta Archaeologica Sinica) 1 (2021), S. 25–56, hier: S. 26. Die frühesten Belege von Wällen aus gestampftem Lehm stammen von der Fundstelle Lijiaya 李家崖 in der Provinz Shaanxi (ca. 11. Jahrhundert v. Chr.). 25  Für eine frühe Stadtmauer siehe z. B. Shandong sheng Wenwu Kaogu Yanjiusuo 山東省文物考 古研究所: Linzi Qi gucheng 臨淄齊故城 (Die Qi-zeitlichen Stadtanlagen von Linzi). Peking 2013, S. 205. 26  Wang Xianqian 王先謙 (1842–1917) (Hg.): Xunzi jijie 荀子集解 (Gesammelte Erklärungen des Meisters Xun). Peking 1988, 8.114; Eric L. Hutton: Xunzi. The Complete Text. Princeton/Oxford 2014, S. 52. 27 Wu Yujiang 吳毓江 (1898–1977) (Hg.): Mozi jiaozhu 墨子校注 (Geprüfter Kommentar zu Meister Mo). Peking 2016, 18.200; Ian Johnston: The Mozi. A Complete Translation. New York 2010, S. 173; John Knoblock/Jeffrey Riegel: Mozi. A Study and Translation of the Ethical and Political Writings. Berkeley 2013, S. 176. Zur Textgeschichte siehe A[ngus] C. Graham: Mo tzu. In: Loewe (Hg.): Chinese Texts (wie Anm. 11), S. 336–341.

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bestenfalls Richtwerte, die eine hohe Dichte zerstörter Siedlungen und Staaten a­ ndeuteten. Noch klarer wurde an einer anderen Stelle im selben Buch formuliert: Heutzutage komme es darauf an, die Felder und Wälder seiner Gegner nieder­ zumähen, ihre Teiche und Kanäle zu verfüllen sowie deren Stadtmauern niederzureißen.28 Es verwundert kaum, dass beim Schutz gegen Verlust der eigenen Städte und Staaten den Stadtmauern gesteigerte Aufmerksamkeit zuteilwurde. Es erstaunt dagegen sehr, die „wahren“ Gründe für das Scheitern der Sicherungsanlagen zu erfahren. Einige frühchinesische Denker waren sich einig, dass bauliche Mängel oder unzureichende Standhaftigkeit mitnichten den Baumeistern und Handwerkern anzulasten waren. Wenn Stadtmauern ihre Funktion nicht erfüllten, lag dies an inkompetenten Herrschern. Es begann damit, dass ein anständiger Fürst nicht den rechten Zeitpunkt für den Bau oder die Wartung der Schutzanlagen verpassen durfte. In den präskriptiven „Aufzeichnungen der Riten“ (Liji 禮記; kompiliert ca. 1. Jahrhundert v. Chr.) wird zum Beispiel der erste Monat des Herbstes als geeigneter Termin genannt, um existierende Stadtmauern zu reparieren und neue zu errichten.29 Dong Zhongshu 董仲舒 (ca. 179–104 v. Chr.), der Mann hinter dem Text „Üppiger Tau der Frühlings- und Herbstannalen“ (Chunqiu fanlu 春秋繁露), berief sich auf die Fünf-Elementen-Lehre (wuxing 五行). Ihr zufolge bringen Wasser, Erde, Holz, Feuer und Metall einander hervor und die Wandlungspro­ zesse der einzelnen Elemente diktieren den Kreislauf allen Lebens. Laut Dong Zhongshu seien Stadtmauern dann zu warten, wenn das Element Metall die Geschicke der Welt bestimmte.30 Abseits moralisch-ritueller und kosmologischer Erklärungen spielten im Diskurs um Stadtmauern auf den ersten Blick die oben angesprochenen realpolitischen Belange eine wichtige Rolle. Mehrere Passagen im „Mozi“ schieben den großen und mächtigeren Staaten die Verantwortung für die Befestigungsanlagen der Städte und Siedlungen mindermächtiger Herrscher zu. Vorbildliche Herrscher überlegener Reiche würden sich stets um den einwandfreien Zustand der Stadt-

28 Wu:

Mozi (wie Anm. 27), 19.215; Johnston: Mozi (wie Anm. 27), S. 185; Knoblock/Riegel: Mozi (wie Anm. 27), S. 182. 29 Zheng Xuan 鄭玄 (127–200 n. Chr.)/Kong Yingda 孔穎達 (574–648 n. Chr.) (Komm.): Li ji zhengyi 禮記正義 (Korrekte Bedeutung der Aufzeichnungen der Riten). Shanghai 2008, 24.692, 24.697. 30  Su Yu 蘇輿 (1874–1914) (Hg.): Chun qiu fanlu yizheng 春秋繁露義證 (Korrekte Bedeutung des Üppigen Taus der Frühlings- und Herbstannalen). Peking 1992, 61.374–375; Sarah A. Queen/ John S. Major: Luxuriant Gems of the Spring and Autumn. Attributed to Dong Zhongshu. New York 2016, S. 480 f. Zu Dong Zhongshus Leben und Werk siehe z. B. Michael Loewe: Dong Zhongshu. A ‚Confucian‘ Heritage and the Chunqiu fanlu. Leiden/Boston 2011; Sarah A. Queen: From Chronicle to Canon. The Hermeneutics of the Spring and Autumn, According to Tung Chung-shu. Cambridge u. a. 1996. Zur Fünf-Elementen-Lehre siehe z. B. Robin R. Wang: Yinyang. The Way of Heaven and Earth in Chinese Thought and Culture. Cambridge u. a. 2012, S. 37–39.

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mauern ihrer unterlegenen Konkurrenten kümmern.31 Waren die Schutzwälle ordentlich gepflegt, dann herrschte Harmonie zwischen kleinen und großen Staaten. Und im Fall der Fälle schreckten makellose Stadtmauern gierige Konkurrenten ab!32 Staaten galten als nicht zu retten, wenn die Verteidigungsanlagen ihrer Städte nicht gewissenhaft gewartet wurden.33 Bei genauerem Hinsehen wird schnell klar, dass sich „Mozi“ nicht für reale Machtverhältnisse zwischen kleinen und großen Reichen interessierte. Es standen stattdessen mächtige Fürsten im Zentrum der Überlegungen. Nahmen sie ihre moralischen Pflichten gegenüber unterlegenen Staaten ernst, dann sorgten sie sich um deren Stadtmauern. Während „Meister Mo“ betonte, dass der Zustand von Einfriedungen tadellos sein müsse, galten Lü Buwei 呂不韋 (ca. 300–ca. 235 v. Chr.) hohe Mauern als ­idealer Schutz und Garant für den Bestand von Siedlungen. Die Sache hatte indes einen Haken, denn hohe Stadtmauern ließen sich nur unter dem massiven Einsatz der Arbeitskräfte der (ohnehin geschundenen) Bevölkerung errichten. Die enormen Anstrengungen solcher Unterfangen schwächten die Menschen, und ein ausgelaugtes Volk war nicht in der Lage, seine Städte zu verteidigen. So könnten sie schnell zur leichten Beute für Aggressoren werden.34 In Lü Buweis Behauptung schwingt erneut ein moralisches Urteil mit. Vorbildliche Herrscher wussten um das rechte Maß und strapazierten ihre Gefolgsleute nicht über Gebühr. Diesbezüglich lohnt es sich, kurz auf den korrekten Zeitpunkt für Bau und Wartung von Stadtmauern zurückzukommen. Nicht nur die bereits erwähnten ideologischen Gründe spielten dabei eine Rolle; ein integrer Fürst hatte zudem die moralische Pflicht, seine Untergebenen in den für den landwirtschaftlichen Betrieb entscheidenden Phasen von kraftraubenden gemeinnützigen Arbeiten wie dem Mauerbau zu verschonen.35 „Meister Xun“ trieb die Idee auf die Spitze, dass der Zustand der Stadtmauer als Metapher für eine mehr oder weniger gelungene Herrschaft zu lesen sei: Bei guter Herrschaft seien Wartung und Pflege überflüssig.36 Hier kommt die Vorstel31 Wu:

Mozi (wie Anm. 27), 19.218; Johnston: Mozi (wie Anm. 27), S. 195; Knoblock/Riegel: Mozi (wie Anm. 27), S. 190. 32  Wu: Mozi (wie Anm. 27), 25.260–261; Johnston: Mozi (wie Anm. 27), S. 221; Knoblock/Riegel: Mozi (wie Anm. 27), S. 211. 33  Wu: Mozi (wie Anm. 27), 5.36; Johnston: Mozi (wie Anm. 27), S. 35; Knoblock/Riegel: Mozi (wie Anm. 27), S. 65. 34  Lü Buwei 呂不韋 (ca. 300–ca. 235 v. Chr.) (Autor)/Xu Weiyu 許維遹 (1900–1950) (Hg.): Lü shi chun qiu jishi 呂氏春秋集釋 (Gesammelte Erklärungen der Frühlings- und Herbstannalen des Herrn Lü). Peking 2009, 25.658; John Knoblock/Jeffrey Riegel: The Annals of Lü Buwei. A Complete Translation and Study. Stanford 2000, S. 624. 35  Siehe dazu Roel Sterckx: Ideologies of the Peasant and Merchant in Warring States China. In: Yuri Pines u. a. (Hg.): Ideology of Power and Power of Ideology in Early China. Leiden/Boston 2015, S. 211–248, ders.: Agrarian and Mercantile Ideologies in Western Han. In: JESHO 63 (2020) 4, S. 465– 504. Zudem war Mauerbau (cheng dan 城旦) ein fester Bestandteil des Strafenkatalogs in den Gesetzen der Qin- und Westlichen Han-Dynastien; siehe z. B. Karen Turner: The Criminal Body and the Body Politic: Punishments in Early Imperial China. In: Cultural Dynamics 11 (1999) 2, S. 237–254, hier: S. 242 f. 36  Wang: Xunzi (wie Anm. 26), 12.230–232, 26.472; Hutton: Xunzi (wie Anm. 26), S. 119, S. 277.

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lung des „Nicht-handelns“ (wu wei 無為) zum Tragen, die vorbildliche Regenten dazu animierte, soweit als möglich nicht aktiv ins politische Geschehen einzugreifen. „Xunzi“ vertrat die Ansicht, dass tugendhafte Fürsten ihre Staaten stets im Einklang mit Riten (li 禮) und Rechtlichkeit (yi 義) lenkten. Solange sie diese Voraussetzung erfüllten, war die Welt – und damit alle Stadtmauern im Staat – in bester Ordnung.37 Ein schlechter Herrscher war laut „Meister Guan“ (Guanzi 管子; ca. 5.–1. Jahrhundert v. Chr.) derjenige, der sich Kriegen gänzlich verweigerte. Sich nur über die Abschaffung von Truppen zu unterhalten, reiche dazu aus, dass sich die Untertanen von ihrem Herrscher abwendeten. Mit deren Verlust zerfielen zunächst die Stadtmauern im Reich und der Staat selbst gehe zugrunde.38 In puncto „Kriege“ standen „Meister Guan“ und „Meister Mo“ auf einer Linie: Beide argumentierten, dass sie zur Realität gehörten. Letzterer vertrat allerdings die Ansicht, dass deren Auswirkungen einzudämmen seien, wenn die Fürsten mächtiger Staaten grundsätzlich tugendhaft regierten. „Meister Guan“ appellierte ganz konkret an seinen Herrn,39 die Augen nicht vor der Wirklichkeit zu verschließen. Wenn militärische Konfrontationen schon den Alltag bestimmten, dann müssten sich gute Herrscher unbedingt mit ihnen auseinandersetzen. Angesichts solcher idealisierter Erklärungen stellt sich unweigerlich die Frage, ob sich frühchinesische Denker überhaupt zur tatsächlichen Schutzfunktion von Stadtmauern äußerten? Nachdem uns heute einige Militärhandbücher bekannt sind, könnte man durchaus meinen, dass wenigstens diese Quellen dazu Stellung nahmen. Eine Passage in „Sun Bins Regeln der Waffen“ (Sun Bin bing fa 孫臏兵法; ca. 4. Jahrhundert v. Chr.) riss diesen Punkt zumindest an. Stadtmauern seien sicherer, wenn sie durch Wassergräben und Balustraden ergänzt würden.40 Weitaus 37 Siehe z. B. Eirik Lang Harris: Xunzi’s Political Philosophy. In: Eric L. Hutton (Hg.): Dao Companion to the Philosophy of Xunzi. Dordrecht 2016, S. 94–138, hier: S. 115 f. Zum Einfluss des Daoismus und damit des wuwei-Gedankens im Xunzi siehe Paul Kjellberg: What Did Xunzi Learn from the Daoists? In: Hutton (Hg.): Dao (diese Anm.), S. 376–394, hier: S. 378. Zum ­wuwei-Konzept siehe z. B. Edward Slingerland: Effortless Action: Wu-wei as Conceptual Metaphor and Spiritual Ideal in Early China. Oxford 2003. 38  Li Xiangfeng 黎翔鳳 (1901–1979) (Hg.): Guanzi jiaozhu 管子校注 (Geprüfter Kommentar zu Meister Guan). Peking 2004, 21.1191; Allyn W. Rickett: Guanzi. Political, Economic, and Philosophical Essays from Early China. A Study and Translation. Bd. I: Chapters I, 1–XI, 34, and XX, 64–XXI, 65–66. Princeton 1985, S. 109. Zur Textgeschichte des „Guanzi“ siehe ders.: Guanzi (diese Anm.), S. 14–24. 39  „Meister Guan“ wird traditionell Guan Zhong 管仲 (starb 645 v. Chr.) zugeschrieben, der als Minister dem Herzog Huan 桓 von Qi 齊 (reg. 685–643 v. Chr.) diente. Guan Zhong tritt im Text selbst häufig im Dialog mit seinem Fürsten auf. Siehe z. B. Rickett: Guanzi (wie Anm. 38), S. 8–14. 40  Zhang Zhenze 張震澤 (1911–1992) (Hg.): Sun Bin bingfa jiaoli 孫臏兵法校理 (Geprüfte und geordnete [Version] von Sun Bins Regeln der Waffen). Peking 1984, S. 27; D[in] C[heuk] Lau/ Roger T. Ames: Sun Pin, the Art of Warfare. A Comprehensive Translation of the Fourth-cen­ tury B.C. Chinese Military Philosopher and Strategist. New York 1996, S. 138. Siehe auch Roger T. Ames: Sun-Tzu, The Art of Warfare. The First English Translation Incorporating the Recently Discovered Yin-ch’üeh-shan Texts. New York 1993, S. 135, S. 179, S. 203, S. 207. Zu den so­ genannten Sieben Militärklassikern (wu jing qi shu 武經七書) siehe z. B. Ralph D. Sawyer: The Seven Military Classics of Ancient China, Including The Art of War. Boulder u. a. 1993.

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abstrakter formuliert der Text seine Auffassung von urbanen Befestigungsanlagen an anderer Stelle. Im Sinne der Yin 陰-Yang 陽-Lehre werden Städte entsprechend ihrer topografischen Lage dem weiblichen Yin oder dem männlichen Yang zu­ geordnet. Demzufolge könnten weibliche Siedlungen erobert werden, während männliche uneinnehmbar blieben.41 Insgesamt waren die praktischen Funktionen urbaner Verteidigungsanlagen den Gelehrten verschiedener Geisteshaltungen wohl zu offensichtlich, um ihnen mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Bis auf die nahezu redundante Feststellung in „Sun Bins Regeln der Waffen“, dass Stadtmauern mit vorgelagerten Wassergräben noch besseren Schutz böten, waren alle übrigen der bislang behandelten Passagen ideologisch gefärbt: Stadtmauern erschienen zumeist als Spiegelbild moralischer und politischer Tugenden von Fürsten. Nur wenn sich die Herrscher im Einklang mit den politischen und moralischen Vorstellungen der jeweiligen Denker befanden, boten sich Stadtmauern in perfektem Zustand dar und die Städte blieben gefüllt.

Ruinen, verlassene Städte und das Versagen frühchinesischer Herrscher Ruinen und leere Städte waren historische Realität und, gemäß der an der „Debatte über Salz und Eisen“ (Yantielun 鹽鐵論) beteiligten Literaten (wen xue 文學), ein klares Zeichen für den Niedergang des Staates. Die Diskussionen, auf denen dieses Werk basierte, fanden im Jahr 81 v. Chr. statt und hatten die Salz-, Eisenund Alkoholmonopole der Westlichen Han-Dynastie zum Thema. Das Buch ist eine idealisierte Version mehr oder minder hitziger Streitgespräche zwischen konservativen Literatengelehrten, die sich traditionell der Landwirtschaft als primärer Wirtschaftsform verschrieben hatten, und hohen Beamten (dafu 大夫, „Würdenträgern“), die den marktorientierten Kurs des Hofs verteidigten.42 Mitunter warfen die Gelehrten den erlauchten Staatsdienern vor, dass deren Profitgier und überzogene Steuern das Kaiserreich in den Abgrund rissen und die Städte leerten.43 Die Angelegenheit könnte kaum eindeutiger sein. In den Augen der klassisch gebildeten Literaten waren die Oberen mit ihrer (Wirtschafts-)Politik auf dem Holzweg. Der Hof bürdete der Bevölkerung schlichtweg zu viele Lasten auf. Tatsächlich berichten die „Aufzeichnungen des Historikers“ von desolaten Zuständen kaum ein Vierteljahrhundert vor dem gerade angesprochenen Gipfel 41 Zhang: Sun Bin (wie Anm. 40), S. 185; Lau/Ames: Sun Pin (wie Anm. 40), S. 243  f. Es ist ­ nmöglich, die tieferen Gründe dieser Argumentationsweise im Rahmen dieses Aufsatzes zu u ­beleuchten. Allgemein zur Yin-Yang-Lehre siehe Wang: Yinyang (wie Anm. 30). 42  Michael Loewe: Crisis and Conflict in Han China, 104 B.C. to A.D. 9. London 1974, S. 19– 112. Zu Vorstellungen von Landwirtschaft und Handel in der Westlichen Han-Zeit siehe auch Sterckx: Ideologies in Western Han (wie Anm. 35). 43  Wang Liqi 王利器 (1912-1998) (Hg.): Yantielun jiaozhu 鹽鐵論校注 (Geprüfter Kommentar zu der Debatte über Salz und Eisen). Peking 1992, 14.179, 15.192; Esson M. Gale: Discourses on Salt and Iron. A Debate on State Control of Commerce and Industry in Ancient China, Chapter I–XXVIII. [Leiden 1931]. ND Taipei 1967, S. 87, S. 96.

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der Gelehrten und Beamten. Im Jahr 107 v. Chr. scheinen knapp 2,5 Millionen Menschen ohne festen Wohnsitz durchs Land gezogen zu sein.44 In einer Stellungnahme an den Kaiser übernahm der amtierende Kanzler die Verantwortung für die katastrophale Lage. Er sei daran Schuld, dass sowohl die Getreidespeicher als auch die Städte im Staat leer stünden. Im gleichen Atemzug bot er seinen Rücktritt an und beteuerte, seine gerechte Strafe zu erwarten.45 Man könnte noch länger über das Schicksal des Kanzlers sprechen, aber es tut hier nicht wirklich etwas zur Sache. Wichtiger ist zu verstehen, dass das wahre Versagen in den Augen des Geschichtsschreibers Sima Qian nicht beim Kanzler, sondern bei Kaiser Wu 武 (reg. 141–87 v. Chr.) selbst lag. Nicht zuletzt zeichnete sich ein beispielhafter Herrscher durch seine Fähigkeit aus, kompetente Berater um sich zu scharen.46 Mit der Ernennung eines schlechten Kanzlers habe der Kaiser die falsche Wahl getroffen, und das Leid der Menschen war daher ihm persönlich anzu­ lasten. Um den Beginn der christlichen Zeitrechnung schwang sich Wang Mang 王莽 (reg. 9–23 n. Chr.) auf, den Kaiserthron zu usurpieren. Nach seiner Machtübernahme versuchte er, umfassende Reformen durchzusetzen, die jedoch weitgehend scheiterten. Schlimmer noch – sie stürzten das Land in tiefes Chaos und bescherten der Bevölkerung unfassbares Elend. Im Jahr 24 n. Chr. marodierten die Rebellen der sogenannten Roten-Augenbrauen-Bewegung (chi mei 赤眉) durch die Hauptstadt Chang’an. Im Jahr zuvor hatten sie bereits Wang Mang getötet. ­Folgen wir Ban Gu, kosteten die Brandschatzungen der Aufständischen mehrere zehntausend Menschenleben. Die Not war so groß, dass urbane Bevölkerungen nur im Kannibalismus eine Rettung sahen. Am Ende „war Chang’an leer und in den Städten liefen keine Leute mehr umher“ (Chang’an wei xu, cheng zhong wu ren xing 長安為虛,城中無人行).47 Wieder liegt auf der Hand, wer der Schuldige für die Misere war: Wang Mangs Politik führte zu einem verheerenden Bürgerkrieg und zur Evakuierung der Hauptstadt. Heutzutage gelten viele seiner Reformen als relativ fortschrittlich, auch wenn es Ban Gu und Generationen von Gelehrten

44  Zur

Registrierungspflicht im frühen Kaiserreich siehe Hsing I-tien: Qin-Han Census and Tax and Corvée Administration. Notes on Newly Discovered Materials. In: Yuri Pines u. a. (Hg.): Birth of an Empire. The State of Qin Revisited. Berkeley/London 2014, S. 155–186. 45  Sima: Shi ji (wie Anm. 7), 103.2768. 46  Hans van Ess: Politik und Geschichtsschreibung im alten China. Pan-ma i-t’ung. Wiesbaden 2014, S. 315–318. Zu Beratern, die keine Anerkennung fanden, siehe ders.: Dissent against Emperor Wu of the Han. In: Stephen Durrant u. a. (Hg.): The Letter to Ren An and Sima Qian’s Legacy. Seattle/London 2016, S. 51–70, hier: S. 62–65. Allgemein zu schlechten Beratern siehe Jianfei Kralle u. a.: Böse Brut. Bao Si [褒姒] und das Ende von König You [幽王]. In: ZDMG ­ 149 (1999) 1, S. 145–172, hier: S. 156. 47  Ban: Han shu (wie Anm. 7), 99C.4193. Zur Herrschaft Wang Mangs siehe Hans Bielenstein: Wang Mang, the Restoration of the Han Dynasty, and Later Han. In: Denis Twitchett/Michael Loewe (Hg.): The Cambridge History of China. Bd. 1: The Ch’in and Han Empires, 221 B.C.– A.D. 220. Cambridge u. a. 1986, S. 223–290.

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nach ihm völlig anders sahen.48 Wang Mang blieb bis in die Gegenwart einer der meistverachteten Herrscher der chinesischen Geschichte. Nach Auffassung einiger frühchinesischer Denker führten mangelnde Führungsqualitäten zu Gewalt von riesigen Ausmaßen. Die mehreren tausend leer­ stehenden Städte, die „Meister Mo“ aufzählte, kamen oben bereits zur Sprache. Ebenso waren sich mehrere antike Philosophen und Geschichtsschreiber hinsichtlich des übergeordneten Kriegsziels in der Vorkaiserzeit (prä-221 v. Chr.) einig: die Dezimierung gegnerischer Städte und letztlich gesamter Staaten.49 Es ist bezeichnend, dass die Westliche Zhou-Dynastie unter der Leitung von Herzog Wen nicht nur die Hauptstadt der Shang, sondern deren ganzes Reich „leerten“. Bekanntlich war Wen der jüngere Bruder von König Wu. Als dieser starb, übernahm der Herzog die Regierungsgeschäfte für den neuen Kindkönig Cheng. In dieser Rolle agierte er stets wie ein höchst vorbildlicher „Sohn des Himmels“ (tianzi 天子, das heißt ein vom Himmel als oberster moralischer Instanz legitimierter König). Darum hatten die Gelehrten der nachfolgenden Jahrtausende niemals ein Problem mit seiner Auslöschung der Shang-Dynastie und blickten stets wohlwollend auf diese Tat. Die letzten Herrscher der Shang wären längst vom rechten Weg abgekommen gewesen und es war überfällig, dass jemand wieder geordnete Verhältnisse schuf.50 Wie gesagt, leere Städte waren der Anfang eines Teufelskreises. Ging die Be­ völkerung verloren, zerfielen die Stadtmauern.51 Zudem fehlte es in leeren Siedlungen nicht nur an kräftigen Wehranlagen, sondern auch an Truppen, die sie hätten angemessen verteidigen können.52 Auf diese Weise waren leere Städte eine leichte Beute für ihre Gegner und konnten mühelos eingenommen werden. In „Sun Bins Regeln der Waffen“ wurden ihnen wahrscheinlich gerade deshalb ausdrücklich weibliche und damit negative Eigenschaften zugewiesen. Im Gegensatz zu „männlichen“ Städten – sie lagen gewöhnlich strategisch günstig, und es lohnte sich daher nicht, sie anzugreifen – seien sie problemlos zu erobern.53 Die Sache war eindeutig: Das Kriegsgeschehen zielte darauf ab, die Städte von Widersachern zu entvölkern. Waren die Menschen erst einmal aus dem Weg geschafft, standen der Eroberung weder unüberwindbare Stadtmauern, noch kampfkräftige Heere entgegen. Unfähige Herrscher verursachten schadhafte Schutzanlagen und leere Städte. Leider erläutern die entsprechenden Textstellen nicht immer präzise, worin genau 48  Siehe

z. B. Hans Bielenstein: Pan Ku’s Accusations against Wang Mang. In: Charles Le Blanc/ Susan Blader (Hg.): Chinese Ideas About Nature and Society. Studies in Honour of Derk Bodde. Hong Kong 1987, S. 265–270. 49  Siehe oben, Abschnitt „Vor dem Verlust von Städten“. 50  Siehe oben, Abschnitt „Ruinen als politisch wirksame Orte“. 51 Wu: Mozi (wie Anm. 27), 19.218; Johnston: Mozi (wie Anm. 27), S. 195; Knoblock/Riegel: Mozi (wie Anm. 27), S. 190; Li: Guanzi (wie Anm. 38), 21.1191; Rickett: Guanzi (wie Anm. 38), S. 109. 52 Wu: Mozi (wie Anm. 27), 18.200; Johnston: Mozi (wie Anm. 27), S. 173; Knoblock/Riegel: Mozi (wie Anm. 27), S. 176. 53  Zhang: Sun Bin (wie Anm. 40), S. 185; Lau/Ames: Sun Pin (wie Anm. 40), S. 243, Anm. 363.

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deren Unzulänglichkeiten bestanden. Sima Qians eigene Kommentare in zwei Kapiteln seiner „Aufzeichnungen des Historikers“ bringen indes etwas Licht ins Dunkel. Sima Qian berief sich einerseits auf Archivmaterial und andererseits auf mündliche Überlieferungen, die er auf mehreren Reisen durch das Territorium der Westlichen Han-Dynastie aufspürte. Beispielsweise sprach er mit einigen Menschen, die sich in den Ruinen an der zerstörten Hauptstadt des Staates Wei 魏54 aufhielten. Sie berichteten ihm, wie der spätere Erste Erhabene Kaiser von Qin (Qin Shihuangdi 秦始皇帝) Flüsse umleitete und damit die Stadt überflutete. Sima Qians Gesprächspartner machten alleine die Unfähigkeit ihres Königs für den Untergang ihrer Heimat verantwortlich. Er hätte es versäumt, die Dienste des Militär­strategen Wei Wuji 魏無忌 (Wei Gongzi 魏公子, starb 243 v. Chr.) für die Belange des Staates einzusetzen.55 Ob wir nun glauben, dass sich dieser Austausch in genau dieser Weise zugetragen hat oder nicht, sicher ist, dass Sima Qian erneut einen Fürsten kritisierte, der die Talente eines fähigen Untergebenen willentlich ignorierte. Die Hauptstadt Weis und damit das gesamte Reich gingen zugrunde, weil es dem König am nötigen Überblick mangelte, sich die Fähigkeiten seines Beraters zunutze zu machen. Erneut stichelte der Geschichtsschreiber auf diese Weise gegen seinen eigenen Dienstherrn und griff damit indirekt sein eigenes Schicksal auf: Anstatt auf Sima Qians Einschätzung einer politisch heiklen Lage zu vertrauen, hatte ihn Kaiser Wu wegen eines vermeintlich missratenen Ratschlags kastrieren lassen.56 An anderer Stelle seines Werkes ging Sima Qian weiter in die Vergangenheit zurück. In der entsprechenden Episode war der Fürst eines kleinen Lehnsstaates – etwa im frühen 10. Jahrhundert v. Chr. – unterwegs zu einer Audienz beim König der Westlichen Zhou. Als er auf seiner Reise wuchernde Hirse in den Ruinen von Yin entdeckte, wäre er beinahe in Tränen ausgebrochen. Da sich ein derart weibliches Verhalten für einen Mann seines Standes nicht geziemt hätte, stimmte er ein Lied an, um seinen Gefühlen Ausdruck zu verleihen. In dessen Text beklagte er den „durchtriebenen Jungen“ (jiao tong 狡僮), der die Shang ins Verderben riss.57 Damit war der letzte König der Shang-Dynastie, Zhou 紂, gemeint, der schon in den „Überlieferungen des [Herrn] Zuo“ als Tyrann verschrien wurde.58 54  Wie

oben angesprochen, begann der Staat Wei etwa im späten 11. oder frühen 10. Jahrhundert v. Chr. mit der Belehnung eines jüngeren Bruders des Königs Wu der Westlichen Zhou. Er endete mit der Eroberung durch den späteren Ersten Kaiser von Qin im Jahr 225 v. Chr. 55 Sima: Shi ji (wie Anm. 7), 44.1864, 77.2385; William H. Nienhauser, Jr. (Hg.): The Grand Scribe’s Records. Bd. 7: The Memoirs of Pre-Han China. Bloomington/Indianapolis 1994, S. 221. Zu Wei Wuji siehe z. B. Martin Kern: The „Masters“ in the Shiji. In: T’oung Pao 101 (2015) 4/5, S. 335–362, hier: S. 338, S. 351 f. 56  Siehe dazu van Ess: Dissent (wie Anm. 46), S. 60–62. 57  Sima: Shi ji (wie Anm. 7), 38.1620–1621; Zhang Zhenjun: The Viscount of Wei and [the Prince of] Sung, Hereditary House 8. In: William H. Nienhauser, Jr. (Hg.): The Grand Scribe’s Records. Bd. 5.1: The Hereditary Houses of Pre-Han China, Part 1. Bloomington/Indianapolis 2006, S. 267–296, hier: S. 276 f. 58  Yang: Chun qiu (wie Anm. 13), S. 671 (Herzog Xuan, 3. Jahr [606 v. Chr.]); Durrant u. a.: Zuo (wie Anm. 13), S. 603.

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Sima Qian bediente sich hier des Topos des verdorbenen letzten Fürsten,59 den man wieder als Seitenhieb auf Kaiser Wu verstehen darf. Sollte er seinen Führungsstil und seine Politik nicht umgehend ändern, ginge es auch mit der West­ lichen Han-Dynastie bald zu Ende. Noch etwas genauer formulierte Dong Zhongshu in seinem „Üppiger Tau der Frühlings- und Herbstannalen“ die Anforderungen an einwandfreie Regenten. Nur diejenigen, die im Einklang mit Himmel, Erde und Menschen walteten, könnten erfolgreich sein. Verlören sie die Balance zwischen den einzelnen Sphären, werde die Bevölkerung zu einer Horde von Egoisten degenerieren. In ­solchen Fällen seien die Herrscher zwar weiterhin „im Besitz ihrer ummauerten Städte“ (you cheng guo 有城郭), diese wären jedoch allseits nur als „leere Siedlungen“ (xu yi 虛邑) bekannt.60 Es ist nicht ganz klar, was genau Dong Zhongshu damit aussagen wollte. Galten die Städte als „leer“, obwohl Menschen physisch anwesend waren, diese sich im Geiste jedoch von ihrem Fürsten losgesagt hatten? Oder machten sie sich ob dessen schlechter Staatsführung tatsächlich davon? Eine weitere Passage im selben Text deutet darauf hin, dass Dong Zhongshu vermutlich Letzteres im Sinn hatte. Hier behauptete er, die Städte des Reiches würden sich „vollständig füllen“ (chong shi 充實), sollte es dem Herrscher gelingen, Himmel, Erde und Menschen miteinander zu harmonisieren.61 Diese Formulierung legt den Zuzug von neuen Bewohnern nahe, die von den geradezu „paradiesischen“ Zuständen einer idealen Regierung angelockt werden würden. Für Dong Zhongshu war der ideale Fürst ein perfekter Mittler zwischen Menschen, Erde und Himmel. Wie andere Denker vor und nach ihm, fasste er gut bevölkerte Städte als Zeichen tugendhafter Politik und florierender Staaten auf.62 In mindestens drei frühen Texten taucht in etwas unterschiedlichen Formen ein weiterer Sachverhalt auf. Liu Xiang äußerte sich in „Neues Vorwort“ (Xin xu 新序) am deutlichsten zu leeren Städten. Er beschrieb eine Diskussion zwischen Konfuzius und Herzog Ai 哀 von Lu (reg. 494–468 v. Chr.), der, wie eingangs angedeutet, die „Ruinen untergegangener Reiche“ erblickte, als er seine Hauptstadt verließ. Konfuzius belehrte seinen Fürsten anhand einer Anekdote über Herzog Huan 桓 von Qi 齊 (reg. 685–643 v. Chr.). Dieser stieß bei einer Exkursion in die entlegenen Gebiete seines Reichs auf die Ruinen der Städte und Ländereien der Guo 郭 / 虢-Familie, die am Ende des 8. Jahrhunderts v. Chr. zu den wichtigsten Unterstützern des letzten Königs der Westlichen Zhou zählten. Dort traf Herzog Huan einen Bauern und fragte ihn, was es mit den Überresten auf sich habe. Der Landwirt erwiderte, dass gutes Benehmen vergänglich sei. Als sich der Herzog wunderte, was diese Aussage mit den Ruinen zu tun haben solle, antwortete ihm der Bauer, dass schlechtes Verhalten permanent sei. Beeindruckt von dessen Weis59 

Siehe dazu z. B. Kralle u. a.: Brut (wie Anm. 46), S. 155–158. Su: Chun qiu (wie Anm. 30), 19.165; Queen/Major: Gems (wie Anm. 30), S. 204. 61  Su: Chun qiu (wie Anm. 30), 60.368; Queen/Major: Gems (wie Anm. 30), S. 477. 62  Für den Herrscher als Bindeglied zwischen Himmel, Erde und Menschen siehe z. B. Loewe: Dong (wie Anm. 30), S. 243, S. 247 f., S. 258; Queen: Chronicle (wie Anm. 30), S. 206–226. 60 

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heit, verpflichtete der Herzog seinen Gesprächspartner sogleich als Berater.63 Einmal mehr spannte damit ein früher Denker einen direkten Bogen zwischen einem lost place und miserabler Staatsführung. Ohne es ausdrücklich ansprechen zu müssen, identifizierte der Bauer, und damit freilich Liu Xiang selbst, die zer­ störten Siedlungen der Guo-Familie als physische Manifestationen fehlgeleiteter Politik. Wir wissen nicht genau, was der Auslöser für den Untergang des ­Guo-Lehens war, aber das ist ohnehin nebensächlich für unsere Fragestellung. ­Inwiefern sich die Anführer der Guo-Familie in der Vorstellung Liu Xiangs falsch verhielten, bleibt unklar; nicht aber, dass sie es taten. Neuerlich lieferten Ruinen aus der Vergangenheit die Grundlage für eine indirekte Schelte an den herrschenden Verhältnissen.64 Die in diesem Abschnitt diskutierten Beispiele leerer Städte und Ruinen ­spiegeln die Sichtweisen frühchinesischer Autoren zu Stadtmauern wider. Beide dienten als Metaphern für schlechte Herrschaft. Sobald sich Fürsten vom Pfad der Tugend abwandten, zerbröckelten die Stadtmauern im Staat, seine Städte leerten sich und es ging zwangsläufig mit ihm zu Ende.

Zusammenfassung: Wer nicht hören will… Die moderne Soziologie zeigt, dass Orte sozial wirksam werden, wenn Menschen ihnen bestimmte Bedeutungen beimessen. Für den antiken Mittelmeerraum hatte dies bereits Pausanias erkannt. Ihm zufolge waren die Ruinen vergangener Städte Projektionsflächen zeitgenössischer Identitäten und Ausdruck der einstigen Größe vergangener Gemeinschaften. Gelegentlich kommt diese Sichtweise auch in den überlieferten Schriftquellen etwa des 4. Jahrhunderts v. Chr. bis 1. Jahrhunderts n. Chr. zum Tragen. In diesen erscheinen primär die sogenannten Ruinen von Yin (Yinxu) als Symbol für das kollektive Gedächtnis einer von den (idealisierten) Vorstellungen einer Zhou-Kultur geprägten Gesellschaft: Die Ruinen von Yin verkörpern den Sieg der Westlichen Zhou- über die zuletzt unwürdige ShangDynastie und repräsentieren damit die Geburt der sozialen, politischen und kulturellen Normen, die alle Autoren und Kompilatoren frühchinesischer Texte zutiefst prägte. Wie das Beispiel Yang Xiongs, der an den Ruinen von Yin, das heißt dem Ursprung der Zhou-Kultur, den Geist mythischer Herrscher aufsaugen wollte, zeigte, triumphierten die Westlichen Zhou mitnichten nur militärisch über die Shang. Ihr Sieg war vor allem von intellektueller Bedeutung. Mit der Machtüber63  Liu/Shi: Xin xu (wie Anm. 5), 4.19–20, S. 588–594. Siehe weiter Wang: Xunzi (wie Anm. 26), 31.543–544, 26.472; Hutton: Xunzi (wie Anm. 26), S. 336; Ying Shao 應邵 (140–ca.  204  n. Chr.) (Komp.)/Wang Liqi 王利器 (1912–1998) (Hg.): Fengsu tongyi jiaozhu 風俗通義校注 (Geprüfter Kommentar zu Durchgehende Erläuterungen von Sitten und Bräuchen). Peking 1981, 10. 470– 471. Zur Guo-Familie siehe Li Feng: Landscape and Power in Early China. The Crisis and Fall of the Western Zhou, 1045–771 BC. Cambridge u. a. 2006, S. 242–262. 64  Zu Liu Xiang als Kritiker des Kaiserhofs siehe Michael Loewe: Liu Xiang and Liu Xin. In: Nylan/Vankeerberghen: Chang’an (wie Anm. 8), S. 369–389, hier: S. 371–374.

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nahme der Westlichen Zhou siegte die moralisch eindeutig überlegene Macht und läutete so eine Epoche ein, die bereits die Autoren und Kompilatoren der frühesten überlieferten Texte als „Goldenes Zeitalter“ verklärten. Die Realität frühchinesischer Gelehrter war von intensiven Gewalterfahrungen geprägt, die notgedrungen ihr Denken bestimmten. Die in „Meister Mos“ geschilderte Wahrnehmung der damaligen Kriegspraktiken verdeutlicht, dass zu jener Zeit das oberste Gebot zu sein schien, seine Gegner vollständig zu vernichten. Dazu war es nötig, deren Städte zu „entleeren“ beziehungsweise sie zu ent­ völkern. Um dies zu vermeiden, errichtete man spätestens ab dem 11. Jahrhundert v. Chr. Stadtmauern aus gestampftem Lehm. Ihre praktische Funktion als Bollwerke gegen feindliche Angriffe rückte in den Diskussionen von Philosophen und Geschichtsschreiben deutlich in den Hintergrund. Sie verstanden die Schutzwälle vielmehr als Metapher für tugendhafte Herrschaft. Bei schlechter Führung zerfielen zuerst die Stadtmauern, dann verließ die Bevölkerung die Städte (und zog ziel- und heimatlos umher) und schließlich war das ganze Reich zerstört. Leere Städte waren ein Sinnbild des politischen Niedergangs, darin stimmten alle Schreiber, die sich überhaupt zu den Themen „Ruinen“ und lost places äußerten, überein. Welche genauen Vorstellungen sie von tugendhafter Herrschaft hatten, hing von ihren jeweiligen Geisteshaltungen ab. Für die Verantwortlichen der „Debatte über Salz und Eisen“ sollten die Fürsten ihre Bevölkerung vor überzogenen Abgaben schützen. Auch Lü Buwei und Ban Gu hatten das Wohl der Menschen fest im Blick. Besonders für Sima Qian und Liu Xiang steckte allerdings ein anderer Grund hinter dem Scheitern ihrer Regenten: Sie hätten es versäumt, auf fähige Berater zu hören und deren Fähigkeiten gewinnbringend einzusetzen. Daher beurteilten frühchinesische Denker die Unzulänglichkeiten frühchinesischer Herrscher nicht primär nach den realpolitischen Konsequenzen deren Handelns. Sie kritisierten vielmehr den Entscheidungsprozess selbst, in dessen Verlauf die Fürsten Männern wie ihnen selbst zu wenig Gehör schenkten. Realpolitische Fehlentscheidungen kamen nur zustande, weil sich Herrscher den Ratschlägen ­ihrer Untergebenen verwehrten. Wer seinen engsten Vertrauten nicht zuhören wollte, der riskierte unweigerlich die Entvölkerung seiner Städte und besiegelte so den Untergang seines Staates.

Abstract Early Chinese cities (ca. 13th c. BCE through early 3rd c. CE) are defined by the existence of city walls (cheng 城). The authors and compilers of early transmitted texts (ca. 5th c. BCE through 3rd c. CE) often emphasized the need to build and maintain city walls. At first glance, this makes it seem as though early Chinese historians and philosophers were keenly interested in the structural qualities of walls. Yet, closer inspection reveals that they were almost exclusively concerned with city walls as metaphors of proper rulership. They argued that neglecting the defenses of urban centers was tantamount to disregarding the well-being of the

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state in general. Derelict city walls inevitably led to empty (xu 虛) cities, while empty cities sounded the death knell of entire polities. Thus, I will argue that lost cities in early China essentially were “empty cities.” Regardless of whether cities were actually or hypothetically depopulated, engineers and soldiers were never at fault. Rather, urban life always ground to a halt whenever rulers lacked decency and proper behavior. Repeatedly, this boiled down to kings and emperors failing to heed the advice of capable counselors. If they did not listen to their advisors, their cities and states ultimately were lost.

Michael Hochgeschwender Bewusstes Verdrängen? Die verlorene Stadt Cahokia Der ursprüngliche Name der indianischen Stadt, um die es in diesem Beitrag geht, ist längst dem Vergessen anheimgefallen. Ihr heutiger Name, Cahokia, erinnert an einen winzigen, im Flusstal des Mississippi ansässigen Algonquinstamm. Aber nicht nur der Stadtname ist verlorengegangen, die gesamte Stadt wurde schlicht vergessen oder das Wissen um sie wurde womöglich aktiv verdrängt. Und dies geschah, obwohl ihre wichtigsten Repräsentationssymbole, einige mächtige künstliche Berghügel, die sogenannten mounds, bis zum heutigen Tag die umgebende Landschaft prägen. Der Monk’s Mound etwa zählt zu den größten Erdhügeln nicht nur des amerikanischen Doppelkontinents, sondern weltweit (Abb. 1). Selbstverständlich sorgten diese gewaltigen Aufschüttungen, spätestens seitdem sie im 18. Jahrhundert die Aufmerksamkeit der europäischen Eroberer erregten, für beständige Fragen nach ihrem Sinn und vor allem nach ihrer Herkunft. Mit der Vorstellung einer Stadt inmitten des scheinbar wilden Nordamerikas mit

Abbildung 1: Zeichnung des Monk’s Mound aus dem Jahr 1882; publiziert in der „History of Madison ­County. Illinois 1882“. https://doi.org/10.1515/9783111071848-006

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Abbildung 2: Mississippian Cultures. Karte der Mississippi-Kulturen; Bild von Heironymous Roe; Lizenz: Attribution-ShareAlike 3.0. Wikimedia Fotos; https:// commons.wikimedia.org/ wiki/File:Mississippian_ cultures_HRoe_2010.jpg.

Abbildung 3: „Etowah Mound C“ in Georgia. Bild von Herb Roe. Lizenz: ­Attribution ShareAlike 3.0 Unported. Wikimedia Fotos. https://commons.wikimedia. org/wiki/File:Etowah_ MoundC_2_HRoe_2012.jpg.

s­ einen jungneolithischen Sammler- und Jägerkulturen wurden sie indes lange Zeit nicht oder doch nur ganz am Rande in Verbindung gebracht. Viel wichtiger schien die Frage, wer ihre Erbauer gewesen seien. Und da herrschte mindestens bis ins späte 18. Jahrhundert, mitunter aber bis weit ins 19. Jahrhundert die Vorstellung, so ziemlich jede Kultur könne für diese Bauten verantwortlich gewesen sein, ­allein die Ureinwohner Nordamerikas, die Indianer, könnten sie auf keinen Fall zustande gebracht haben. Zu primitiv seien die Wilden, die savages und naturals, wie die

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Briten und in ihrem Gefolge die Nordamerikaner sie abschätzig nannten, um derartige Leistungen überhaupt nur denken, geschweige denn vollenden zu können. Eher schon hielten spekulativ veranlagte Forscher es für möglich, die Kolossalhügel den alten Ägyptern, den Karthagern, Kelten, Römern oder den Wikingern zuzuschreiben. Besonders fantasievolle Amateurarchäologen sahen sogar die Nachfahren der Bewohner der mythischen Kontinente Atlantis oder Lemuria beziehungsweise Mu am Werk und erklärten mithin ein unbekanntes Phänomen mit einer höchst spekulativen Hypothese.1 Diese Unsicherheit über die Erbauer herrschte nicht allein für die Erdhügel von Cahokia. Über das gesamte Territorium östlich des Mississippi verteilt fanden sich zehntausende dieser mounds, deren Funktion vollkommen unklar war (Abb. 2). Manche hielten sie für Überreste von Befestigungen, andere für flutsichere Wohnhügel, Tempelanlagen oder Begräbnisstätten (Abb. 3). Erklärungen waren schon deswegen schwierig, weil die Mythen und Sagen der rezenten Indianerstämme kaum Auskunft gaben. Insbesondere über die Erdhügel von Cahokia schwiegen sie sich komplett aus, obwohl das Gebiet, ehe sich dort im frühen 19. Jahrhundert französische Trappisten ansiedelten, die dem Monk’s Mound seinen Namen gaben, offenbar durchweg von Algonquin besiedelt gewesen war. Erst in den 1780er-Jahren unternahm es Thomas Jefferson, vermutlich von den ersten europäischen Ausgrabungen im Feld der klassischen Antike beeinflusst, empirisches Licht in das spekulative, von Rassendünkel beherrschte Dunkel zu bringen, obwohl er gegenüber Indianern und Schwarzen mindestens ebenso wie seine aufgeklärten Zeitgenossen ein ausgeprägtes rassisches und kulturelles Überlegenheitsgefühl an den Tag legte. Er gab seinen Sklaven den Befehl, einen Erdhügel auf seiner Plantage Virginia im US-Bundesstaat Virginia auszugraben. Das Ergebnis war verblüffend, denn es handelte sich tatsächlich um die Begräbnisstätte eines Indianers. Damit waren die anderen Theorien zwar nicht obsolet geworden, aber die Behauptung, die mounds seien das Resultat altweltlicher Einflüsse verlor zusehends an Überzeugungskraft. Gleichzeitig wurde im Gefolge weiterer Ausgrabungen im 19. und 20. Jahrhundert deutlich, wie sehr die Erdhügel funktional ausdifferenziert waren. Manche, insbesondere in Wyoming, waren sogenannte effigy mounds, die offenkundig tiergestaltige Naturmächte darstellen sollten (Abb. 4), andere waren ebenfalls Begräbnisstätten, wieder andere dienten als Plateauhügel, auf deren Spitze vermutlich Tempelanlagen oder palastähnliche Gebäude gestanden haben dürften, was indes die gleichzeitige Nutzung als Begräbnisstätte nicht notwendig ausschloss (Abb. 5). 1 

Vgl. die gleichermaßen ironische wie wissenschaftspolitisch zutreffende Einordnung bei Robert Wauchope: Lost Tribes and Sunken Continents. Myth and Method in the Study of American ­Indians. Chicago 1962, S. 2–4. Die Atlantisthese als Erklärung für kulturmorphologische Ähnlichkeiten von westafrikanischen und mesoamerikanischen Megalithkulturen tauchte im Übrigen im frühen 20. Jahrhundert in der auf Leo Frobenius zurückgehenden Kulturkreislehre noch einmal auf und wurde dann von der katholischen Wiener Anthropologenschule mit der gebotenen Vorsicht rezipiert; vgl. Dominik J. Wölfel: Die Religionen des vorindogermanischen Europas. Hallein 1980.

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Michael Hochgeschwender Abbildung 4: Serpent Mound, Peebles, Ohio; Bild von Stephanie A. Terry. ­Lizenz: AttributionShareAlike 4.0 International. Wikimedia Fotos; https:// commons.wikimedia.org/ wiki/File:Serpent_Mound,_ Peebles,_Ohio_04.jpg.

Abbildung 5: Mississippian culture mound components. Aufbau und Bestandteile eines Mounds. Bild von Herb Roe. Lizenz: Attribution ShareAlike 3.0 Unported. Wikimedia Fotos; https:// commons.wikimedia.org/wiki/File:Mississippian_culture_mound_components_HRoe_2011.jpg.

Vor allem aber wurde eine gewisse chronologische Abfolge deutlich. Die ältesten mounds entstammten bereits dem Mittelarchaikum um 3500 bis 3000 v. Chr., andere, wie die effigy mounds, sind deutlich später, in die Zeit nach 500 n. Chr. zu datieren; die Erdhügel von Cahokia wurden überhaupt erst nach 1050 n. Chr., also am Ende der späten Woodland-Kultur, erbaut. Offenbar hat es sich um ein dauerhaftes, kultur- und ethnienübergreifendes Phänomen im Raum östlich des Mississippi gehandelt. Allerdings standen die amerikanischen Archäologen seit dem 19. Jahrhundert vor einem weiteren gravierenden Problem. Einerseits wurden sie im Vergleich zu einem Dilettanten wie Jefferson mit Blick auf Ausbildung, Methodenbewusstsein und naturwissenschaftliche Erkenntnisinstrumentarien immer professioneller, ihre Datierungen immer präziser und ihre Erkenntnisse beständig, andererseits mussten sie mit ansehen, wie die industrielle Revolution, die rasche

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Ausdehnung der Agrarindustrie und schließlich der Ausbau des Fernstraßensystems rücksichtslos die überlieferten Denkmäler der präkolumbischen Kulturen Nordamerikas zerstörten. Profitinteressen siegten nahezu jedes Mal über das wissenschaftliche Anliegen der Archäologie, wenn es etwa um den Bau von Straßen oder Industrieanlagen ging. Zudem hielt sich das Interesse einer breiten amerikanischen Öffentlichkeit an den Erdhügeln in höchst überschaubaren Grenzen. Dem traditionslosen, ja aktiv traditionsvernichtenden Fortschrittsstreben wären beinahe auch die Relikte Cahokias zum Opfer gefallen. Mitte der 1950er-Jahre initiierte die Bundesregierung unter dem republika­ nischen Präsidenten Dwight D. Eisenhower (1953–1961) ein umfangreiches ­Programm zum Aufbau eines Netzes von autobahnähnlichen Interstate Highways, das gleichzeitig ökonomischen und – vor dem Hintergrund des Kalten Kriegs – auch strategischen Zwecken dienen sollte. Eines der Projekte war die Interstate 55, die von Toronto kommend Springfield in Illinois mit East St. Louis und St. Louis verbinden sollte, um dort an die Interstate 64 anzuschließen. Im Zuge dieser Großbaumaßnahme stieß man dann, sehr zum Ärger der ansässigen Bauunternehmer, nicht nur auf die bereits erkennbaren Erdhügel, sondern zusätzlich auf weitere, kleinere mounds und auf die Überreste einer Siedlung mit Palisadenzaun und Plaza. Ursprünglich sollte nur eine Notgrabung durchgeführt werden, um den weiteren Ausbau der Interstate nicht zu verzögern und einige Funde zu ­sichern. Aber bald stellte sich heraus, dass das nicht ausreichen würde. Je länger man grub, umso mehr wurde gefunden. Aus der Notgrabung wurde ein bis heute nicht abgeschlossenes Dauerunternehmen.2 Bald stritten sich die Archäologen, wiederum vor dem Hintergrund kulturell determinierender Vorannahmen über die Möglichkeiten und Unmöglichkeiten einer neolithischen Stammeskultur, über die Deutung der Funde. Bis in die 1990er-Jahre herrschte die Ansicht vor, Cahokia sei bestenfalls eine Art Ritualzentrum ansonsten nomadisierender Stämme gewesen, vergleichbar mit Stonehenge in England oder Göbekli Tepe in Anatolien. Demnach hätte der Ort keinesfalls mehr als 5 000 Einwohner gehabt, da nicht erkennbar sei, wie mehr Menschen hätten ernährt werden können. Daneben trat alsbald die These, Cahokia sei ein Zentrum unter zahlreichen Stammesfürstentümern (chiefdoms) gewesen, die in ihrer Gesamtheit die Mississippi Mound Culture oder den Southeastern Ceremonial Complex in der präkolumbischen Ära zwischen etwa 1050 und 1250 ausgemacht hätten (Abb. 6). Die Anhänger dieses Ansatzes billigten Cahokia eine Einwohnerschaft von mindestens 10 000 Menschen zu, andere schätzen sie auf 20 000 bis 50 000, womit die Siedlung eine veritable mittelalterliche Großstadt gewesen wäre, vergleichbar

2  Zur

Forschungsgeschichte vgl. Timothy R. Pauketat: Ancient Cahokia and the Mississippians. Cambridge 2004, S. 71–95. Den älteren Forschungsstand fassen gut zusammen George R. Milner: The Moundbuilders. Ancient Peoples of Eastern North America. London 2004, S. 124–177, und Brian M. Fagan: Ancient North America. Archeology of a Continent. London 32000, S. 439–468. Eine neuere zusammenfassende Darstellung bietet Alice Beck Kehoe: North America before the European Invasions. New York 2017, S. 132–154.

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Abbildung 6: Einflussbereich der Mississippian Mound Culture, auch „Southeastern Ceremonial Complex“ genannt. Bild von Heironymous Roe. Lizenz: Attribution ShareAlike 3.0 Unported. Wikimedia Fotos. https:/commons.wikimedia. org/wiki/File:Southeastern_ Ceremonial_Complex_ map.jpg.

mit Köln, London, Rom oder Paris in dieser Epoche. Tatsächlich belegten weitere Ausgrabungen im näheren Umfeld die Existenz zahlreicher kleiner und mittlerer Siedlungen von einigen hundert bis zu mehreren tausend Einwohnern, die offenkundig primär damit beschäftigt gewesen sind, landwirtschaftliche Güter für das Zentrum herzustellen. Man könnte durchaus von einer Greater Cahokia Metropolitan Area sprechen, zumindest aber von einem Netz funktional ausdifferenzierter Siedlungen, deren Einwohner in der Lage waren, eine Bevölkerung von bis zu 30 000 Menschen zu ernähren. Gleichzeitig wurde anhand von DNA- und Zahnanalysen festgestellt, dass ein Teil dieser Siedler im Umland der Metropole offenkundig Migranten aus dem ­Gebiet am Unterlauf des Mississippi, dem heutigen Louisiana waren. Überdies wurde das eigentliche Stadtgebiet mit jeder Grabung größer und zwar in einer einzigen Ausgrabungsschicht. Cahokia bestand praktisch aus einem Grabungshorizont, nicht wie beispielsweise Troja, aus mehreren Schichten. Parallel dazu entdeckte man in Wisconsin mit Aztalan und in Oklahoma mit Spiro Außenposten, die in einem deutlich erkennbaren direkten Zusammenhang mit Cahokia standen.3 Für Aztalan ist sogar eine ethnische Übereinstimmung von Teilen der 3 Zu

Aztalan Robert A. Birmingham/Lynne G. Goldstein: Aztalan. Mysteries of an Ancient I­ ndian Town. Madison 2005. Neben Aztalan wurden in der nordwestlichen Region des Einfluss­ bereichs von Cahokia inzwischen weitere befestigte Außenposten der Cahokianer gefunden, was die These vom Reichscharakter zusätzlich plausibilisiert; vgl. Mark D. Mitchell: The Origins and

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Einwohnerschaft belegt, in Spiro wurde das Grab eines Kriegers aus dem Raum St. Louis gefunden. Damit stellte sich etwa ab dem Jahr 2000 die Frage nach dem Charakter der Mississippi Mound Culture vollkommen neu. Insbesondere der Ausgräber Timothy R. Pauketat wandte sich entschieden gegen die Vorstellung separater, unabhängiger chiefdoms mit auf Waren- und Lebensmittelredistribution beruhenden big men-Strukturen an der Spitze. Nach seiner Ansicht handelte es sich um ein expansives Reich und eine echte Hochkultur, die mit den altweltlichen Hochkulturen sehr wohl vergleichbar gewesen sei.4 Aufgrund der methodisch nicht hintergehbaren Varianzbreite rein archäologisch gewonnener empirischer Daten fußt jeder Ansatz zur Frage nach dem genauen zivilisatorischen Status Cahokias notwendig auf spekulativen und hypothetischen Interpretationen des vorgefundenen Materials. Bestenfalls lassen sich Plausibilitäten ausmachen. Un­ abhängig davon aber wie man zu Pauketats Theorie eines imperialen und hege­ monialen Machtzentrums zwischen Mississippi und Atlantik, von Wisconsin bis Louisiana und Oklahoma, zusammengehalten durch das umfängliche MississippiMissouri-Flusssystem, stehen mag – und gänzlich unplausibel ist sie nicht –, klar ist:5 Man kann zum einen auf stadttopologische Aspekte und die Zentralisierung der Handelsrouten mit Cahokia als Zentrum hinweisen. Diese Position im präkolumbischen Handelssystem kam nicht von ungefähr. Bereits „Alt-Cahokia“, das vergleichsweise unbedeutende Dorf, an dessen Stelle die neue Metropole mit dem big bang getreten war, hatte exakt am Zusammenfluss von Mississippi und Missouri gelegen. Von diesem Punkt aus konnten die beiden großen Wasserstraßen, auf ­denen sich der Handel zwischen den Großen Seen und dem Golf von Mexiko, wo man auf mesoamerikanische Fernhändler traf, abspielte, mühelos kontrolliert werden. Gleichzeitig konnte man selbst aktiv Handel betreiben. Überall im Osten und Südosten der USA, besonders entlang der beiden Flussläufe, finden sich typische Töpferwaren aus cahokischer Produktion. Sämtliche Erdhügelsiedlungen dieser Epoche (Eteowah, Emerald, Spiro) sind überdies ähnlich aufgebaut, verweisen demnach auf ein vorgegebenes, mutmaßlich religiös-kultisches Muster. Vor allem die unabdingbare Plaza scheint sich an dem Vorbild des Zentrums zu orientieren, auch die typische solar-lunare Ausrichtung des Zentrums wird von den anderen Erdhügelsiedlungen übernommen. Zum anderen weisen sowohl die weiträumige Verbreitung des Chunkey-Spiels (Abb. 7) als auch die sogenannte Pax Cahokiana auf einen imperialen Status der Stadt hin. Anders als bei den Anasazikulturen des US-amerikanischen Südwestens, die im Übrigen zeitgleich ihren kulturellen Höhepunkt erlebten, aber offenkundig von Development of Farming Villages in the Northern Great Plains. In: Timothy R. Pauketat (Hg.): The Oxford Handbook of North American Archeology. New York 22015, S. 360–364; vgl. ferner Gregory D. Wilson: Living with War: The Impact of Chronic Violence in the Mississippian-Period Central Illinois River Valley. In: Pauketat (Hg.): Oxford Handbook (diese Anm.), S. 523–531. 4  Zu dieser Debatte siehe Timothy R. Pauketat: Chiefdoms and Other Archeological Delusions. Lanham 2007; vgl. dagegen Milner: Moundbuilders (wie Anm. 2). 5  Vgl. zum Folgenden v. a. Timothy R. Pauketat: Cahokia. Ancient America’s Great City on the Mississippi. London 2009.

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der Mississippi Mound Culture isoliert waren,6 findet sich im Southeastern Ceremonial Complex keinerlei Hinweis auf das mesoamerikanische Ballspiel, das für die Kulturen zwischen New Mexiko und Panama charakteristisch war und dessen rituelle Bedeutung inzwischen klar ist. Stattdessen wurde im östlichen Waldland seit dem 11. Jahrhundert Chunkey gespielt. Im Mittelpunkt des Spiels, das mit hoher Wahrscheinlichkeit Bestandteil eines um den Maisanbau konzentrierten ­ Fruchtbarkeitskultes war, stand ein Stein, der erkennbar eine weibliche Vulva darstellte. Der Stein wurde von einem Spieler in eine vermutlich beliebige Richtung gerollt, während die anderen Spieler mit Speeren, die wohl einen männlichen ­Penis symbolisierten, danach warfen. Es siegte, wer entweder direkt den rollenden Stein traf, oder aber wer ihm am nächsten kam. Da Chunkey, ehe es vom dyna­mischeren Lacrosse abgelöst wurde, noch im 19. Jahrhundert von rezenten Indianerstämmen gespielt wurde, wenngleich nun nicht mehr kultisch aufgeladen, sondern zum reinen Zeitvertreib, bei dem exzessiv hohe Wetten getätigt wurden, sind die Spielregeln bestens bekannt. Für unseren Zusammenhang ist die Herkunft der Steine in der Frühphase wichtig. Nach derzeitigen Erkenntnissen stammten sie allesamt aus der Region um East St. Louis. Gleichzeitig verwendeten nahezu alle Stämme, die Chunkey spielten, für die weibliche Maisgottheit einen mesoamerikanischen Namen, wahlweise Xilomen oder Xilo, der wiederum mit Cahokia in Verbindung gebracht wird. Da der Mais ab circa 800 n. Chr., das heißt deutlich später als im Südwesten, ganz ohne Zweifel direkt aus Mesoamerika importiert worden war, um dann gemeinsam mit den gleichfalls von dort importierten Bohnen und Kürbissen zur zentralen Subsistenzgrundlage der gesamten Kultur zu werden, ist ein Zusammenhang zwischen dem Chunkeyspiel und dem Kult der Maisgöttin ebenso wahrscheinlich wie deren Verbreitung durch Missionare aus Cahokia. Parallel dazu tauchte im Bereich der Mississippi Mound Culture zumindest das Bild eines weiteren mesoamerikanischen Gottes auf, des sogenannten Long-Nosed God, den man etwa in Höhlenmalereien in Wisconsin nahe Aztalan nachgewiesen hat. Da Aztalan zweifellos ein Außenposten von Cahokia war, dürften die Verehrung der Maisgöttin und des langnasigen Gottes, dessen Konterfei sich auch ansonsten im gesamten Verbreitungsgebiet cahokischer Töpfereiwaren findet,7 in einem engen Zusammenhang mit religiösen Führungsansprüchen des Zentrums gestanden haben. Ob freilich dieses Zentrum imperialer Art war oder nur eine Art zeremoniellen Ehrenprimat in einem komplexen System rivalisierender Kleinfürstentümer eingenommen hat, lässt sich nicht sagen. Aber Cahokia stand sicher im Mittelpunkt eines kultischen Systems, das sich über den gesamten Südosten der heutigen USA erstreckte.8 6 

Vgl. David E. Stuart: Anasazi America. Albuquerque 22004; umfassend Barbara J. Mills/Severin Fowles (Hg.): The Oxford Handbook of Southwest Archeology. Oxford 2017; siehe ferner Kehoe: North America (wie Anm. 2), S. 155–174. 7  Zu den Handelsstrukturen in präkolumbischer Zeit vgl. z. B. Valerie Hansen: Das Jahr 1000. Als die Globalisierung begann. München 2020, S. 77–110. 8  Zum präkolumbischen religiösen Kontext siehe Timothy R. Pauketat: An Archeology of the Cosmos. Rethinking Agency and Religion in Ancient America. London 2013.

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Abbildung 7: Chunkey-Spieler, 22 cm hoch, aus Feuerstein; in Oklahoma gefunden, wahrscheinlich in Illinois hergestellt und heute Teil des St. Louis Science Center.

Der zweite Hinweis auf die zentrale Rolle Cahokias, der sich aus den Grabungsergebnissen ergibt, ist gleichzeitig weiter ausgreifend und schwerer zu belegen: Im Kontext des Grabungshorizonts der Blütephase Cahokias finden sich erstaunlich wenige Belege für militärische Konflikte im Verbreitungsraum der Mississippi Mound Culture. Pauketat spricht sogar von einer regelrechten Pax Cahokiana. Dies spricht einerseits für die Existenz eines Machtfaktors, dessen Fehlen nach dem Untergang der Stadt sich augenblicklich auswirkte, da sich danach schlagartig wieder Belege für ausgedehnte kriegerische Aktivitäten ausmachen lassen. Anderer­seits muss dies nicht auf eine echte direkte Beherrschung des gesamten Raums hindeuten, zumal die Existenz einer Berufsarmee, wie sie etwa das Römische Reich aufwies, höchst unwahrscheinlich ist, da eine solche Truppe mit den vorhandenen Ernten kaum dauerhaft hätte versorgt werden können. Allerdings hat Camilla Townsend darauf aufmerksam gemacht, dass selbst das Aztekenreich keine Berufsarmee kannte und trotzdem den mesoamerikanischen Raum beherrschte und seit dem Ende des 15. Jahrhunderts zunehmend zentralisiert kontrollierte.9 9 

Camilla Townsend: Fifth Sun. A New History of the Aztecs. Oxford 2020.

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Ähnliches dürfte für die Hegemonie Teotihuacàns zwischen 200 und 800 sowie für die folgende Vormachtstellung der Mayas von Chichén Itzá gegolten haben. Unabhängig davon, ob man sich der Interpretation Pauketats anschließt oder an der Vorstellung eines Systems kleiner Fürstentümer festhält, das Zusammenspiel der genannten Faktoren spricht deutlich für eine wie auch immer geartete Hegemonie Cahokias, das zudem die einzige bislang archäologisch gesicherte Großstadt des gesamten Raumes darstellt. Keine andere Siedlung erreichte auch nur annähernd dessen Ausmaße und Einwohnerzahl. Drei Fragen dürften von besonderer Relevanz sein: Wie kam es überhaupt zum Bau Cahokias und welche Gesellschaftsordnung wurde dort etabliert? Wie ge­stalte­ ten sich die Beziehungen zu Mesoamerika? Und warum verschwand die Metro­pole so abrupt und endgültig von der Bildfläche der Geschichte, um alsbald komplett vergessen zu werden? Es wird sich zeigen, dass sämtliche dieser Fragen miteinander zusammenhängen, gerade wenn es um die Beantwortung der letzten Frage geht. Im Gegensatz zu den südwestlichen Anasazikulturen kannte die Mississippi Mound Culture keine sich evolutionär entwickelnden Vorgänger. Sie entstand gewissermaßen aus dem Nichts, in einem revolutionären Akt, der in keiner Weise an die vorangegangene Late Woodland Culture oder die Hopewell-Kultur im Ohiotal anknüpfte.10 Gewiss, Erdhügel wurden im Raum östlich des Mississippi seit Jahrtausenden erbaut, aber Siedlungen, die es auch nur annähernd mit dem Machtpotenzial von Cahokia hätten aufnehmen können, existierten nicht. Man hat deswegen von einer kulturellen Explosion, einem big bang, gesprochen. Kurz nach 1050 wurde die Stadt mit insgesamt über 120 Erdhügeln aller Art (mit Ausnahme von effigy mounds) erbaut. Mit hoher Wahrscheinlichkeit hing dies mit der annähernd zwei Jahre währenden Erscheinung der Supernova von 1054 (SN 1054) zusammen, die zwar, anders als die Supernova von 1077, in Europa kaum beachtet wurde, dafür aber in chinesischen und arabischen Quellen ebenso aufgeführt wird wie in Felszeichnungen der Anasazikulturen. Obendrein spricht die Anlage Cahokias für diese Annahme, da die Stadt zwar als solche in einem strikt orthogonalen, auf dem Solar-Lunar-Rhythmus aufbauenden Muster erbaut wurde, einzelne mounds aber in Richtung des Morgensterns verweisen, in dessen Umfeld SN 1054 wohl aufgetaucht war. Dafür spricht ebenfalls die hohe religiöse Verehrung, welche der Morning Star in rezenten Ethnien, insbesondere bei den Caddo-Völkern, die einige Forscher als Nachfahren der Mississippians ansehen, genießt. Die SkidiPawnee etwa haben noch bis in die 1830er- und 1840er-Jahre dem Morgenstern ein Menschenopfer dargebracht, das Opiricut, die Braut des Morgensterns, genannt wurde.11 Bei ihr handelte es sich um ein junges Mädchen, das aus Nachbar10  Vgl.

dazu Dale McElrath/Thomas E. Emerson: Revisiting Eastern Woodlands Archaic Origins. In: Pauketat (Hg.): Oxford Handbook (wie Anm. 3), S. 448–459; Douglas K. Charles: Origins of the Hopewell Phenomenon. In: ebd., S. 471–482. 11  Siehe dazu weiterhin Ralph Linton: The Sacrifice of the Morning Star by the Skidi Pawnee. Chicago 1922. Vgl. zu den Pawnee und dem Morgensternopfer ferner die freilich etwas romantisierende Darstellung bei Gene Weltfish: The Lost Universe. Pawnee Life and Culture. Lincoln 21977, S. 106–118.

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stämmen entführt und nach einer gewissen Weile von Stammespriestern, die keinen schamanischen Hintergrund hatten, wie es bei den Nachbarvölkern üblich war, in einer Weise geopfert wurde, die an mesoamerikanische Riten denken lässt. Dies ist umso bemerkenswerter, als sich auch in mindestens einem Erdhügel in Cahokia Überreste von zahlreichen Menschenopfern fanden. Mound 72 war offenbar einer der ältesten Erdhügel der Stadt. Dort fanden sich im Zentrum zwei Leichen auf ein ausladendes Muschellager gebettet, was auf enge ökonomische Verbindungen zum Golf von Mexiko und dem Atlantik hinweist, und weitere reiche Grabbeigaben. Einer der Leichname war mit kostbarem Federschmuck als Vogelmensch (Birdman) ausgestattet worden. Die beiden Toten waren umgeben von über 250 weiteren Leichen. Diese waren ganz offensichtlich geopfert worden, denn man hatte ihnen von hinten die Schädel eingeschlagen. Nach dem archäologischen Befund müssen einige der Frauen sogar noch gelebt haben, als sie begraben wurden, denn ihre Hände hatten sich in das Erdreich gekrallt. Die Opfer waren ganz überwiegend gesunde, junge Frauen. Lange ging man von der These aus, es habe sich wahlweise um exekutierte Verbrecher gehandelt, was aber angesichts des hohen Frauenanteils eher unwahrscheinlich ist, oder aber um Sklaven beziehungsweise Kriegsgefangene. Der schlechte Zustand der Knochen insbesondere der wenigen männlichen Opfer spricht für diese These.12 Diese Männer wurden offenbar vor ihrem Tod schwer misshandelt. Die jungen Frauen aber entstammten laut neueren Untersuchungen aus Cahokia selbst. Dies legt eine andere Deutung nahe, die auf Analogieschlüssen aus der Mayakultur in Yucatan beruht. Demnach wäre mit dem Tod des Herrschers – der Birdman wird als eine Art Priesterkönig interpretiert – und dem Antritt des neuen Herrschers die gesamte rivalisierende Blutlinie des alten Herrschers ausgerottet worden, um potenzielle Thronprätendenten auszuschalten, was wiederum für eine matrilineare Gesellschaftsstruktur sprechen würde, die in den umgebenden rezenten Stämmen durchaus ihre Entsprechung hat, vor allem bei den Iroquois. Eine analoge Sitte des rituellen Menschenopfers für den verstorbenen Herrscher fand sich überdies bei den Natchez in Mississippi, die sich direkt auf den späteren Southeastern ­Ceremonial Complex zurückführen ließen. Bei den Natchez handelte es sich um eine extrem hierarchische, außerordentlich ritualistische Gesellschaft mit einem Heiratssystem, dessen Komplexität die französischen Beobachter verblüffte, ehe sie den Stamm in den 1720er-Jahren weitgehend ausrotteten. Allerdings opferten die Natchez nicht die weiblichen Verwandten des Herrschers, sondern die engere Familie und den Hofstaat des Verstorbenen.13 Mound 72 ließ die Archäologen über längere Zeit davon ausgehen, man habe eine mythische Parallele zu mindestens einer rezenten Kultur, nämlich den HoChunk, gefunden. Die beiden Leichen im Mittelpunkt des Erdhügels wurden als 12  Vgl. dazu Camilla Townsend: Slavery in Precontact America. In: Craig Perry u. a. (Hg.): The Cambridge World History of Slavery. Bd. 2: AD 500–AD 1420. Cambridge 2021, S. 566 f. 13 Zu den Natchez vgl. Alvin M. Josephy, Jr.: The Indian Heritage of America. Boston 21991, S. 106–108.

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Abbildung 8: Historische Stätte Cahokia Mounds; © istock, milehightraveler.

Brüderpaar interpretiert und auf einen Gründungmythos der Ho-Chunk bezogen, der von einem heroischen Zwillingspaar, den Kindern des langnasigen Gottes Red Horn, aus der Urzeit berichtet. Im Jahr 2016 allerdings musste diese Interpretation aufgegeben werden, da sich bei neuerlichen Untersuchungen herausstellte, dass auf dem Birdman ein weiblicher Leichnam, vermutlich seine Ehefrau, lag. Auch bei weiteren Leichen, die bei der Grabung entdeckt worden und zunächst für Männer aus der Stammeselite gehalten worden waren, handelte es sich um Frauen. Bei dem Grabungsfund könnte es sich demnach sogar um das Gründerpaar von Cahokia mit einigen weiteren aristokratischen Paaren gehandelt ­haben. Dies führte zu der Vermutung, Cahokia sei weiblicher und damit unter Umständen weniger kriegerisch gewesen, als bislang vermutet. Eine solche feministische Interpretation basiert freilich auf essenzialistischen Annahmen von Gender­rollen, die durch die weiteren Funde in keiner Weise gedeckt sind.14 Nach allem, was bekannt ist, handelte es sich um eine rigide hierarchische, matrilineare Gesellschaft mit einem ausgeprägten Astralkult, der sich auf die Sonne, den Mond und die Gestirne, primär auf den Morgenstern, bezog. Diese Interpretation wird durch ein offenkundig als astronomisch-kalendarisches Observatorium aus Holzpfählen nahe Mound 72 gestützt, das in Analogie zum englischen Stonehenge unter dem Etikett Woodhenge bekannt wurde. Die Verbreitung von Chunkey, des Kults der Maisgöttin und des langnasigen Gottes legen weiterhin einen gewissen missionarischen Eifer nahe, die Existenz von Außenposten wie Aztalan bestätigt die militärische Expansionsfähigkeit. Gerade der Kulturaustausch, der in und um Aztalan mit den Angehörigen der Oneota, also den Proto-Sioux, stattgefunden hat, belegt indes, dass die Expansion der ­Mississippians nicht ausschließlich auf Gewalt beruhte. Fraglos stand die Stadt

14  Vgl. Thomas E. Emerson u. a.: Paradigms Lost: Reconfiguring Cahokia’s Mound 72 Beaded Burial. In: American Antiquity 81 (2016) 3, S. 405–425.

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nach der Gründung für 200 Jahre im Mittelpunkt eines Hegemonialsystems, das ganz und gar an ihren Interessen ausgerichtet war. Vieles von dem, was bislang angesprochen wurde, scheint auf enge Beziehungen von Cahokia zu den mesoamerikanischen Hochkulturen hinzudeuten. Könnte die Idee zutreffen, die im Spielfilm „Kings of the Sun“ von 1963 präsentiert wird, nach der die Mississippi Mound Culture auf Mayamigranten zurückgeführt werden kann? Immerhin basierte die Mississippikultur ebenfalls auf Mais, Bohnen und Kürbis, sie verehrte die mesoamerikanische Maisgöttin und den langnasigen Gott, sie brachte Menschenopfer dar und war allen umliegenden Kulturen überlegen. Auch der größte der Erdhügel, der Monk’s Mound, legte eine solche Verbindung nahe. Dennoch gibt es gewichtige Einwände gegen diese Theorie. Cahokia kannte das mesoamerikanische Ballspiel nicht, das für die Maya, Azteken und Tolteken schlicht unverzichtbar war; das religiöse System war um den Morgenstern erweitert worden, während der Kult um die Gefiederte Schlange oder den Jaguar unbekannt waren; es fehlen sämtliche weiteren archäologischen Artefakte, die aus Mesoamerika bekannt sind, allen voran Objekte aus Obsidian, Jade und Gold. Einzig in Spiro, dem südwestlichsten Außenposten der Mississippi Mound Culture, hat sich ein vereinzeltes Obsidianobjekt gefunden. Die Künstler Cahokias haben überdies mit Kupfer gearbeitet. Schließlich, und darauf hat Francis Jennings 1991 aufmerksam gemacht, benutzten die Mississippians wie ihre Nachbarvölker Pfeil und Bogen sowie Keulen als Kriegs- und Jagdwaffen, nicht aber den Atlatl, den Wurfspeer der imperialen Mesoamerikaner.15 Es bleibt offenbar dabei: Die Stadt am großen Fluss entstand aus indigenen Wurzeln, als Ausdruck des religiösen Eifers einer Kultur, die bis dahin wahlweise sesshaft und hortikulturell gewesen war oder aber seminomadisch, auf Sammler- und Jägerniveau, existiert hatte. Sie war jungneolithisch, verfügte über keine Metallwerkzeuge, kein Rad, keine Schrift und kannte keine Lasttiere. Mithin erbrachte sie lediglich mit ihrer Hände Arbeit eine erstaunliche hochkulturelle Leistung und war dabei von den mesoamerikanischen Hochkulturen bestenfalls indirekt oder über Fernhändler beeinflusst worden. Dennoch bleibt festzuhalten, dass mit den Menschenopfern ein ­rituelles Element in das religiöse Leben Cahokias eingebaut worden war, das sich ansonsten in den benachbarten Kulturen oder auch bei den kulturellen Vorläufern in der Woodlandphase nicht in dieser Form findet, wenn man von den Skidi-Pawnee und den Natchez einmal absieht. Allerdings marterten die nachrückenden ­Algonquin, Iroquois und Siouans gefangene Krieger zu Tode. Sie dürften demnach keinen prinzipiellen Abscheu vor den Menschenopfern der Mississippians ­gehabt haben. Schließlich bleibt die Frage nach dem Untergang und dem anschließenden totalen Vergessen Cahokias und seiner Kultur. Diese scheinen, soweit es die archäologischen Daten erkennen lassen, weder durch äußere noch durch innere Gewalt 15 Francis

Jennings: Amerikanische Grenzen. In: Alvin M. Josephy (Hg.): Amerika 1492. Die I­ndianervölker vor der Entdeckung. Frankfurt a. M. 1992, S. 444 f.; vgl. auch Charles C. Mann: 1491. New Revelations of the Americas before Columbus. New York 2005, S. 253–271.

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herbeigeführt worden zu sein, wenigstens nicht anfänglich. Offenbar haben sich die Nachbarvölker nicht zusammengeschlossen, um die möglicherweise drückende Herrschaft der religiösen Fanatiker vom Mississippi abzuschütteln. Auch kam es zu keinem Aufstand der direkt unter der Hegemonie stehenden chiefdoms des Southeastern Ceremonial Complex. Nach allem, was wir heute wissen, erfolgte der Zusammenbruch Cahokias und nachfolgend der Pax Cahokiana als Summe vielfältiger Faktoren, die allesamt auf die Umwelt der Stadt verweisen. Um 1250 erreichte das sogenannte mittelalterliche Klimaoptimum seinen Höhepunkt. Verglichen mit der Zeit um 1 000 waren die Durchschnittstemperaturen um rund 1,5– 2°  C gestiegen. Dabei dürfte eine Reihe von Vulkanausbrüchen im 11. und 12. Jahrhundert partiell ursächlich gewesen sein. Gleichzeitig hatten die Bewohner der Greater Cahokia Metropolitan Area die gesamte Umgebung des urbanen Komplexes abgeholzt, einerseits um Brennholz und Baustoffe zu gewinnen, andererseits um den Anbau von Mais, Bohnen und Kürbissen voranzutreiben. Zwar waren die Lebensgrundlagen der Mississippians zu keinem Zeitpunkt so prekär wie diejenigen der zeitgleich existierenden Anasazikulturen im semiariden Südwesten, aber dennoch begannen die Böden auszutrocknen und zu veröden. Den Todesstoß, so belegen neuere Grabungen, versetzte Cahokia aber eine gewaltige Flutwelle, die zur Überschwemmung des Mississippi und des nahegelegenen Lake George führte. Das Naturereignis vollzog sich mit extremer Geschwindigkeit, und danach war nichts mehr wie vorher. An den Grenzen, aber auch im Inneren der Mississippi Mound Culture entwickelte sich eine immer brutaler werdende, exzessive Gewaltspirale aller gegen alle, die im Südwesten ihr exaktes Gegenstück bei der Anasazikultur von Chaco Canyon fand; sie büßte zum selben Zeitpunkt ebenfalls ihre Hegemonialfunktion endgültig ein. Annähernd gleichzeitig brach in Kalifornien das bis dahin bestehende Mächtegleichgewicht einer Reihe von Kleinfürstentümern zusammen, vermutlich gleichfalls von Klimafaktoren oder aber dem Druck der von Alaska nach Süden wandernden Na Dené-Athabaskenvölker, darunter den Apache und Navajo, ausgelöst. Man hat in diesem Zusammenhang von genozidaler Kriegführung gesprochen. Im Südwesten finden sich Spuren von Hungerkannibalismus und intensivierter, außerordentlich brutaler Sklavenhaltung und Massenmigration,16 im Osten begannen sich die verbliebenen Siedlungen des Southeastern Ceremonial Complex mit wooden structures, also Palisadenzäunen, zu umgeben, an denen Brandspuren zu finden sind. An der Westgrenze begann die Expansion der Proto-Siouans der Oneotakultur, die dann etwa für das Massaker von Crow Creek (um 1325/1350) an Proto-Mandan verantwortlich zeichneten, bei dem rund 480 Menschen – Männer, Frauen und Kinder – grausam misshandelt, skalpiert und getötet wurden. Schrittweise wanderten dann von Osten her Algonquin und Muskogee ein, auch die Iroquois begannen mit ihrer gewalt­

16  Vgl.

200.

dazu ausführlich John Kantner: Ancient Puebloan Southwest. Cambridge 32009, S. 169–

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samen Expansion.17 Wichtig an diesem Befund ist, dass die Gewalt ganz offenbar durch das abrupte Ende der Metropole hervorgerufen wurde, was neuerlich deren zentrale Stellung im militärisch-politischen System der Mississippi Mound Culture belegt. Ohne das Zentrum waren die anderen Siedlungen nicht mehr in der Lage, das System als solches aufrechtzuerhalten. Als die europäischen Invasoren, anfangs zumeist Spanier und Franzosen, dann die Briten, in das Territorium am Mississippi eindrangen, war die einstige Hochkultur, von einigen aufsehenerregenden Relikten bei den Caddo und im nördlichen Louisiana abgesehen, bereits fast verschwunden. Zwar stand die späte Kultur des Southeastern Ceremonial Complex noch in voller Blüte, als die Spanier erstmalig auftauchten, doch auch hier setzte das durch die altweltlichen Seuchen bedingte Massensterben der indigenen Völker nur zu bald ein. Daher sahen die Europäer später keine Notwendigkeit mehr, die frühen spanischen Berichte über eine hohe Bevölkerungsdichte im Mississippiraum ernst zu nehmen. Auch ist unklar, ob es unter den Natchez, den Yazoo und anderen Völkern des südöstlichen Komplexes noch ein Bewusstsein des Kulturzusammenhangs mit der Mississippi-Kultur gab. Die Franzosen zumindest haben die Natchez nicht danach befragt, ehe sie sie ausgerottet haben. Diese Spirale von Gewaltexzessen und kulturellen Überlagerungen erklärt, wa­ rum kein direktes Wissen über Cahokia mehr vorhanden war. Sie erklärt aber nicht das komplette Fehlen von Überlieferungsspuren in der indigenen Mythologie, gerade weil der um den langnasigen Gott Red Horn kreisende Zwillings­ mythos der Ho-Chunk nicht mehr auf Cahokia bezogen werden kann. Einzig ein vager Hinweis in einem Mythos der Quapaw, eines Siouxstammes, der in den typischen stark befestigten Palisadensiedlungen der Zeit nach dem Untergang der alten Ordnung lebte, spricht von einer roten Stadt, in der die Quapaws zwangsweise hätten arbeiten müssen. Zugleich wurde auf ein Bisonfell mit einem eingeritzten winter count der Quapaw verwiesen, der einen Stadtplan zeigte und mit dem Mythos offenbar zusammenhing. Freilich ist es nicht ausgeschlossen, dass damit das St. Louis der weißen Invasoren und nicht Cahokia gemeint ist. Dieser Befund ist jedoch in sich erklärungsbedürftig, denn er ist ohne Parallele in Nordund Mittelamerika. Als etwa die Azteken im 15. Jahrhundert die Ruinen Teotihuacàns entdeckten, entwickelten sie augenblicklich ein elaboriertes mythisches Konstrukt, um deren Existenz für das eigene Weltbild sinnhaft zu machen. Im US-amerikanischen Südwesten handelten die Navajo mit Blick auf die von ihnen so bezeichneten Anasazi, was in etwa die „bösen Alten“ bedeutet, ganz ähnlich. Auch sie integrierten die Relikte der untergegangenen Vorgängerkultur mythisch und fügten sie ihrer Weltsicht hinzu, nicht ohne ihren schlechten Erfahrungen mit den Anasazi beredt Ausdruck zu verleihen. Nun hatten die Proto-Siouans und Proto-Algonquin sowie die Caddo zweifellos mehr oder minder enge Kontakte zur Einflusssphäre von Cahokia, dennoch schwiegen sogar die Caddo, die der 17  Zur

Gewaltgeschichte Nordamerikas vgl. Lawrence H. Keeley: War before Civilization. The Myth of the Peaceful Savage. New York 1996, S. 67–71; vgl. auch Fagan: Ancient North America (wie Anm. 2), S. 469–486.

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Mississippi Mound Culture wohl noch am nächsten standen, über ihre Vorgänger. Ähnlich dürftig sind die Überlieferungen der Natchez und der mit ihnen verwand­ ten Ethnien. Daher liegt die Schlussfolgerung nahe, das Wissen über Cahokia sei einer Art intentionaler damnatio memoriae zum Opfer gefallen. Im Weltverständnis der hortikulturellen und seminomadischen Nachfolgekulturen waren die ­Mississippians und zuvörderst ihre mächtige, hegemoniale Metropole derart fremd, unzugänglich und wohl auch grausam gewesen, dass sie alles taten, um sie bewusst zu vergessen. Nicht einmal als warnendes Beispiel durften sie in der Er­ innerung weiterexistieren. Dieses bewusste Verdrängen zeitigt bis heute unmittel­ bare Folgen. In amerikanischen Textbooks für Schulen und Universitäten wurde Cahokia lange gar nicht, schon überhaupt nicht als Hochkultur, erwähnt.18 In der Regel wird den mesoamerikanischen Hochkulturen ein wesentlich breiterer Raum zugebilligt als sowohl den Mississippians als auch den Anasazi. Auf diese Weise wird, ob bewusst oder unbewusst sei dahingestellt, der von Richard Hakluyt und John Locke propagierte Landnahmemythos der Angelsachsen, man habe eine ­terra nullius ohne zivilisierte Einwohnerschaft okkupiert, aufrechterhalten. Laut einer Umfrage meiner Mitarbeiterin Alexandra Schenke unter 110 amerikanischen Geschichtslehrern von 2019 haben 85 % der Lehrer von Cahokia noch nie etwas gehört. Nur im Raum St. Louis sah es wenig überraschend besser aus. Hier war obendrein das Bewusstsein, es habe sich um eine echte Hochkultur gehandelt, vorhanden. Aber selbst in Kreisen indigener Aktivisten sieht es nicht besser aus. In der Darstellung der angesehenen indianischen Historikerin Roxanne DunbarOrtiz wird beispielsweise Cahokia – beiläufig und ohne jeden Hinweis auf Praktiken der Sklavenhaltung und des Menschenopfers – auf wenigen Zeilen erwähnt, vermutlich weil damit das aktivistische Narrativ vom glücklich-friedlichen Amerika vor der europäischen Invasion gefährdet würde.19 Die damnatio memoriae bleibt erhalten.20 Erst 2019 hat der amerikanische Sender PBS sich in einer populärwissenschaftlichen Dokumentation der Mississippi Mound Culture in all ihren 18 

Als Beispiel sei verwiesen auf Mary Beth Norton u. a. (Hg.): A People and a Nation. Stanford S. 4. Deutlich ergiebiger ist neuerdings Joseph L. Locke/Ben Wright (Hg.): The American Yawp. A Massively Collaborative Open U.S. History Textbook. Bd. 1. Stanford 2019, S. 1, S. 6–8. 19  Roxanne Dunbar-Ortiz: An Indigenous Peoples’ History of the United States. ReVisioning American History. Boston 2014, S. 23 f. 20  Sogar bei Harald Haarmann: Vergessene Kulturen der Weltgeschichte. 25 verlorene Pfade der Weltgeschichte. München 22019, taucht Cahokia nicht auf. Bei Thomas Jeier: Die ersten Amerikaner. Eine Geschichte der Indianer. Köln 22018, und bei Aram Mattioli: Verlorene Welten. Eine Geschichte der Indianer Nordamerikas. Stuttgart 22018, wird die Mississippi-Kultur eher beiläufig erwähnt, was aber an deren genereller Ausrichtung an postkolumbischen Indianerkulturen liegt. Ähnliches gilt für Hermann Wellenreuther: Niedergang und Aufstieg. Geschichte Nordamerikas vom Beginn der Besiedlung bis zum Ausgang des 17. Jahrhunderts. Münster 22004, S. 52–71, dessen Schwerpunkt ebenfalls auf der Zeit nach der europäischen Invasion liegt. In der Regel wird hingewiesen auf die einschlägigen Gesamtdarstellungen von Francis Jennings: The Founders of America from the Earliest Migrations to the Present. New York 21994; Colin G. Calloway: One Vast Winter Count. The Native West before Lewis and Clark. Lincoln 2005; Josephy, Jr.: Indian Heritage (wie Anm. 13). 102015,

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Facetten ausführlich angenommen und damit endlich den seit Langem vorliegenden archäologischen Kenntnissen Rechnung getragen. Die verlorene Stadt kehrt allmählich ins öffentliche Bewusstsein zurück.

Abstract The perhaps historically most important and powerful of the lost cities of the North American continent was the pre-Columbian town of Cahokia near modern-day St. Louis. Ever since the excavations there started in the early 1960s two major questions have been hotly debated: First, did Cahokia in any way rival the early civilizations in Mesoamerica and South America? Secondly, why did it ­vanish without leaving any traces in the oral traditions of recent North American Indians, contrary for instance to the Southwestern civilizations of the Anasazi, Mogollon, and Hohokam? The more the excavations in Cahokia and the Mississippian regions directly influenced by Cahokian culture, economy, and religion, progressed, the more it became evident that Cahokia really had been an impressive and powerful hegemonic, perhaps even empire-like political structure. While the second question yet remains unsolved, Cahokia may have become a literal lost city due to the sheer brutality of its leading elite that led to a sort of damnatio memoriae among the Native American peoples in the aftermath of Cahokia’s sudden decline.

Gabriella Cianciolo Cosentino/Pia Kastenmeier Dis-Kontinuitäten: Verlorene Städte in Süditalien Vesuv und Belice Die Anzahl und Vielfalt der Naturkatastrophen, die sich in Süditalien – einem erdbebenreichen Gebiet mit mehreren aktiven Vulkanen – ereignet haben, machen diese Region zu einem geeigneten Testfeld, um globale Probleme post-katastrophischer Rekonstruktion und Erhaltung von Kulturerbe aufzuzeigen. In diesem Beitrag werden zwei unterschiedliche Areale innerhalb der Makro-Region Süd­ italien vergleichend untersucht: die Städte des Vesuvgebiets in Kampanien und die des Belice-Tals in Sizilien. Erstere wurden durch den Vesuvausbruch im Jahr 79 n. Chr. zerstört, letztere durch ein Erdbeben im Jahr 1968.1 Die beiden Gebiete werden als zusammenhängende Netzwerke von Orten und Menschen verstanden, die wiederholt von schweren Katastrophen betroffen waren und sind – Katastrophen, die das Verhältnis zwischen dem Menschen und seiner Umgebung, aber auch die Kulturlandschaft um die verlorenen Städte nachhaltig geformt haben. Die Frage der Identität ist in beiden Case Studies zentral: Paradoxerweise hat die Katastrophe die Identität der Städte gleichzeitig ausgelöscht und erschaffen. Die Orte haben ihre Physiognomie als Provinzstädte verloren (in der römischen Provinz neben kleineren Siedlungen vor allem Pompeji, Herculaneum und Sta­ biae, im sizilianischen Hinterland in erster Linie die Orte Gibellina und Poggio­ reale) und einen neuen Status erlangt: Beide Regionen – Vesuv und Belice – sind zum Symbol der „verlorenen Städte“ geworden. In diesem trans-historischen Blick auf süditalienische lost cities betrachten wir mehrere „traumatische“ Szenarien: nicht nur die unmittelbaren Auswirkungen der Naturkatastrophen, sondern auch menschliche (Re-)Aktionen, wie etwa die Entscheidung der Machthaber, eine zerstörte Stadt aufzugeben und sie an anderer Stelle wiederaufzubauen. Typische Reaktionen, die auf eine Katastrophe und die Zerstörung einer Stadt folgen, bewegen sich auf unterschiedlichen Ebenen: auf individueller und institutioneller Ebene, auf städtebaulicher und territorialer Ebene, auf materieller und kultureller Ebene. 1  Für einen Überblick über die Geschichte des Belice-Tals nach dem Erdbeben aus historischer, geografischer und soziologischer Sicht siehe Afra Mannocchi u. a.: Stato e società nel Belice. La gestione del terremoto 1968–1976. Mailand 1981; Vito Bellafiore: Storia del Belice. Dal terremoto alla rinascita negata, 1968–2018. Castelvetrano/Selinunte 2018; Giovanni Messina: Belice 2020. Sisma, sviluppo, esiti. Rom 2019.

https://doi.org/10.1515/9783111071848-007

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Wir werden hier insbesondere drei Aspekte thematisieren: individuelle und offizielle Aktivitäten zur Bergung und/oder Wertschöpfung von Trümmern (Trümmer und Trauma), das Vertrauen in und das Scheitern von Beton als Bau-/Restaurierungs-/Kunst-Material (Beton und Rekonstruktion) und schließlich die lokalen Museen und die Memorialisierung an den post-katastrophischen Einzelstandorten (Museum und Territorium). Die Transformationen der sozialen und materiellen Topografie der Vesuv- und der Belice-Region werden durch die Diskussion dieser drei miteinander verbundenen Aspekte analysiert. Die Wechselbeziehung zwischen den verschiedenen Aspekten der physischen Wiederherstellung und der (Re-)Generation einer lost city durch Kunstwerke und museale Konzepte, aber auch durch die Verwendung von bestimmten Materialien wie Beton, scheint uns von besonderem Interesse zu sein. Traumata – seien sie psychischer, physischer, individueller, kollektiver Art oder Folge von Katastrophen – führen stets zu Instabilität. Den Ausgangspunkt unserer Studie bilden Gebiete mit instabilen, post-katastrophischen Verhältnissen, die eine Reihe von Veränderungen nach sich gezogen haben: verschwundene Städte, Umsiedlungsprozesse, von Grund auf neu geplante Städte, die Beseitigung von Trümmern, neu konzipierte Gebäude, verschleppte Kunstwerke, verstreute Sammlungen… Diese dynamischen Prozesse sind nichtlinear und fluktuieren zeitlich zwischen Aktivität und Stillstand. Methodologisch gesehen verstehen wir die beiden Kulturlandschaften als Bereiche, die einem steten Wandel unterworfen sind, im Unterschied zur Vorstellung von Ruinen als reglosen Einheiten. Die archäologischen Stätten in der Umgebung des Vesuv sind eben gerade nicht „frozen in time“, sondern vielmehr multiperiodische Städte mit einer eigenen Geschichte in ständiger geistiger und physischer Auseinandersetzung mit dem ­Zeitgeist und dem Genius Loci; anders ausgedrückt: Pompeji und Herculaneum sind nicht nur antike Städte, sondern sind auch städtische Organismen, die sich fortwährend durch Restaurierung, Rekonstruktion und die museale Auf­ bereitung unserer Vorstellung ihrer vormaligen physischen Beschaffenheit ver­ ändern. Ebenso hat sich die Trümmerstadt Poggioreale in Sizilien von einer Stadt mit leichteren Schäden nach dem Erdbeben im Jahre 1968, in der Menschen noch leben konnten und wollten, zu einer vollständig zerstörten Stadt infolge von ­ 50 Jahre langer Vernachlässigung und schrittweiser Aushöhlung ihrer Bausubstanz kon­tinuierlich verändert. Was zunächst statisch und starr erscheint, ist tatsächlich ständig in Bewegung und wird durch menschliche Handlungen oder ­natürliche und atmosphärische Phänomene verändert. In einer Zeit großer Spannungen wie der unseren, die von politischen, ökonomischen, sozialen und ökologischen Konflikten geprägt ist, gibt es gute Gründe, unser Verständnis der paradoxen Verhältnisse zu vertiefen, die diese sehr fragilen Kulturlandschaften Italiens erschüttert haben und weiterhin bestimmen: Gegenden, die den Naturgewalten ausgesetzt waren und sehr unterschiedliche mensch­ liche Interventionen sowie eine beispiellose Mobilisierung materieller und intellektueller Ressourcen erfahren haben.

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Trümmer und Trauma Trauma als theoretisches Paradigma der Geisteswissenschaften und die kontextuelle Betrachtung von Katastrophen sind Gegenstand der fruchtbarsten und weit ausstrahlenden aktuellen akademischen Diskurse. Eine Flut von Untersuchungen, Publikationen und Konferenzen zu diesem Thema veranschaulicht die Bandbreite der verschiedenen semantischen, konzeptionellen und archäologischen Deutungsweisen von Trümmern und Ruinen.2 Mehr noch als an den philosophischen und theoretischen Dimensionen des Traumas sind wir an der Materialität von Schutt und Trümmern und deren vielfältigen Transformationen interessiert. Nach von Menschen verursachten und natürlichen Katastrophen wird der Umgang mit Schutt und Trümmern oft zu einem starken Symbol des Wiederaufbaus, das in verschiedenen Formen der Wiederanbindung an das Zerstörte zum Ausdruck kommt. In einigen europäischen Städten sind neue Stadtlandschaften und Infrastrukturen aus Kriegstrümmern erschaffen worden, wie etwa der Monte Stella im QT8-Viertel in Mailand, der Teufelsberg in Berlin oder der Münchner Olympiapark. Süditalien bietet eine äußerst reiche Vielfalt an Lösungsmöglichkeiten im Umgang mit Schutt und Trümmern.3 Für das Vesuvgebiet richtet sich die historische Perspektive auf die erste Zeit nach der Katastrophe (von 79 n. Chr. bis zum Gotenkrieg) und die Zeit ab der Wiederentdeckung der „versunkenen“ Städte. Ein Fokus liegt dabei auf der Wieder­aneignung des verlorenen Territoriums, wie sie sich aus den klassischen schriftlichen Quellen4 und den archäologischen Fundkomplexen aus der Zeit nach 79 n. Chr. erschließen lässt.5 Die Koexistenz von öffentlichen Initiativen der 2 

Marc Augé: Rovine e macerie. Il senso del tempo. Turin 2004; Salvatore Settis: Futuro del classico. Turin 2004; Marcello Barbanera (Hg.): Relitti riletti. Metamorfosi delle rovine e identità culturale. Turin 2009; Julia Hell/Andreas Schönle (Hg.): Ruins of Modernity. Durham 2010; Arleen Ionescu/Maria Margaroni (Hg.): Arts of Healing. Cultural Narratives of Trauma. London/New York 2020; Jeanette Bicknell u. a. (Hg.): Philosophical Perspectives on Ruins, Monuments, and Memorials. London/New York 2020; Alain Schnapp: Ruinen, Materialität und Erinnerung. Die Verflüchtigung der Form. In: Dietrich Boschung/Ludwig Jäger (Hg.): ‚Wort‘ und ‚Stein‘. Differenz und Kohärenz kultureller Ausdrucksformen. Paderborn 2021, S. 175–200. 3  Siehe z. B. Christoph Timm: Trümmer, Trauma, Torso. Wertschätzung von Ruinen und Umgang mit Trümmerwüsten nach dem Zweiten Weltkrieg. In: Karen Schmitt (Hg.): Das Denkmal als Fragment – das Fragment als Denkmal. Stuttgart 2008, S. 119–128. 4  Cassius Dio, Römische Geschichte LXI, 21–23; Martial, Epigramm IV, 44; Statius, Silvae III, 5 und IV, 4; Sueton, Divus Titus VIII, 3–4; Tacitus, Annales IV, 67, 2. 5 Giuseppe Guadagno: Documenti epigrafici ercolanesi relativi ad un terremoto. In: Thomas Fröhlich/Luciana Jacobelli (Hg.): Archäologie und Seismologie. La regione vesuviana dal 62 al 79 d. C. Problemi archeologici e sismologici. München 1995, S. 119–130; Gianluca Soricelli: La ­regione vesuviana dopo l’eruzione del 79 d. C. In: Athenaeum 85 (1997) 1, S. 139–154; Gianluca Soricelli: La regione vesuviana tra secondo e sesto secolo d. C. In: Elio Lo Cascio/Alfredina Storchi Marino (Hg.): Modalità insediative e strutture agrarie nell’Italia meridionale in età romana. Bari 2001, S. 455–472; Gianluca Soricelli: Le Divisioni agrarie romane e viabilità nella piana ­nocerino-sarnese. In: Felice Senatore (Hg.): Pompei tra Sorrento e Sarno. Rom 2001, S. 299–320; Fausto Zevi: Pompei, prima e dopo l’eruzione. In: Maria Vittoria Fontana/Bruno Genito (Hg.): Studi in onore di Umberto Scerrato per il suo settantacinquesimo compleanno. In: Series ­Minor 65 (2003), S. 851–857; Grete Stefani: L’ager Pompeianus dopo il 79 d. C. Vecchi dati e nuo-

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Gabriella Cianciolo Cosentino/Pia Kastenmeier

Abbildung 1: Arbeiten in der Ausgrabungsstätte Pompeji, Filippo Palizzi 1870; © https://upload. wikimedia.org/wikipedia/ commons/6/62/Filippo_Palizzi_-_ Fanciulla_negli_scavi_di_ Pompei_%28parete_rossa%29.jpg.

c­ uratores Restituendae Campaniae und offenbar privaten Plünderungen durch die sogenannten fossores (deren Tunnelgrabungen in situ anhand von „Raublöchern“ im Mauerwerk zu erkennen sind) wird im Lichte neuester Ergebnisse der jüngsten Ausgrabungen in Pompeji untersucht.6 Während die antiken Initiativen in Pompeji offenbar großteils in Form von Tunnelgrabungen umgesetzt wurden, ging man in der Neuzeit bald zur Flächenfreilegung über. Das mühsame Beiseiteschaffen des Eruptionsmaterials wird in verschiedenen Gemälden pittoresk als quasi-folkloristische Handlung dargestellt. Oftmals sind es junge Frauen oder Mädchen mit den charakteristischen Transportkörben, den cuofani, die bei der Arbeit gezeigt werden (Abb. 1). vi rinvenimenti. In: Oebalus 7 (2012), S. 143–215; Rabun Taylor: Roman Neapolis and the Landscape of Disaster. In: Journal of Ancient History 3 (2015), S. 282–326. 6  Zu den curatores: Sueton, Divus Titus VIII, 3–4; Cassius Dio, Römische Geschichte LXVI, 24; zu den ­fossores: Penelope Allison: Pompeian Households. An Analysis of Material Culture. Los Angeles 2004; Jens-Arne Dickmann: ‚Insula Pertusa‘. Indizien einer Kriminalgeschichte. In: Harald ­Meller/Jens-Arne Dickmann (Hg.): Pompeji – Nola – Herculaneum. Katastrophen am Vesuv. Ausstellungskatalog. München 2011, S. 299–308; Stefani: L’ager (wie Anm. 5); Alberta Martellone/ Massimo Osanna: Pompei tra stratigrafia vulcanica e azione umana. Vecchi e nuovi dati. In: ­Gabriella Cianciolo Cosentino/Pia Kastenmeier/Katrin Wilhelm (Hg.): The Multiple Lives of Pompeii. Surfaces and Environments. Neapel 2021, S. 16–26.

Dis-Kontinuitäten: Verlorene Städte in Süditalien

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Abbildung 2: Grabungsarbeiter bei der Casa delle Nozze d’Argento in ­Pompeji, Edizioni Esposito um 1892; © The J. Paul ­Getty Museum, Los Angeles (https://media.getty.edu/ museum/images/web/ download/25412401.jpg).

Erst historische Fotografien vermitteln dann die beinahe unverhältnismäßig a­nmutende Mühsal der Grabungsarbeiter, die nun bemerkenswerterweise ausschließlich aus Männern und Knaben bestehen (Abb. 2). Eruptionsmaterial und Schutt – die bis 1950 unmittelbar außerhalb der antiken Stadtmauern aufgehäuften Abraummengen wurden auf 3,5 Millionen Kubikmeter geschätzt – wurden zum (kleinen) Teil bis in die Nachkriegszeit in Pompeji und Herculaneum direkt vor Ort als Baumaterial und Mörtelzuschlag für Restaurierungsarbeiten verwendet. Eine großangelegte und „top-down“ verlaufende Wiederverwendung der Schuttmengen wurde schließlich vom damaligen Direktor der Ausgrabungen, Amedeo Maiuri (1924 bis 1961), initiiert. Der Abraum wurde beim Bau der neuen Autobahntrasse Pompeji-Salerno und für die Trockenlegung von Sumpfgebieten im Sarnotal eingesetzt.7 Bis in die Anfänge des 20. Jahr­ hunderts war außerdem der Abbau von Bimssteinen des Vesuvausbruchs von 79 n. Chr. in lokalen, privaten Steinbrüchen im gesamten Vesuvraum durchaus üblich. Er wurde als Baumaterial und als Zuschlag in Beton verwendet.8 7 Amedeo

Maiuri: Pompei – Sterro dei cumuli e isolamento della cinta murale. Contributo all’urbanistica della città dissepolta. In: Bollettino d’Arte 1–11 (1960), S. 166–179, bes. S. 166; zur Verwendung bei Restaurierungsarbeiten z. B. Antonio Sogliano: Dei lavori eseguiti in Pompei dal 1 aprile 1907 a tutto giugno 1908. Relazione a S. E. il Ministro della Istruzione Pubblica. Neapel 1908, S. 3–26; Paola Pesaresi: Lavorare nella città di Maiuri. In: Domenico Camardo/Mario Notomista (Hg.): Ercolano 1927–1961. L’impresa archeologica di Amedeo Maiuri e l’esperimento della città museo. Rom 2017, S. 115–145. 8 Vgl. z. B. Aldo Aveta: Materiali e tecniche tradizionali nel Napoletano. Note per il restauro ­architettonico. Neapel 1987, S. 18 f.; Fabrizio Marra u. a.: Geochemical Fingerprints of Volcanic Materials. Identification of a Pumice Trade Route from Pompeii to Rome. In: GSA Bulletin 125 (March/April 2013) 3–4, S. 556–577 [doi: 10.1130/B30709.1; 12.] zu Export und Verwendung von Bimsstein und Lava nach bzw. in Stadtrom.

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Abbildung 3: Gibellina Vecchia, Cretto von Alberto Burri; © Aldo Premoli 2019.

Nachdem 1968 ein Erdbeben den Westen Siziliens zerstört hat, durchlief dieses Gebiet verschiedene Prozesse des Wiederaufbaus: die Umsiedlung von Städten, teilweise und vollständige Rekonstruktionen von Stadtgebieten und Gebäuden, Landschaftsveränderungen sowie verschiedene Formen der Musealisierung und Memorialisierung. Der berühmteste Eingriff, über den sich heute die ganze Re­ gion identifiziert, ist der Cretto des Künstlers Alberto Burri, das größte LandArt-Kunstwerk Europas, das, in einer Art Monumentalisierung des Traumas, die Trümmer der zerstörten Stadt Gibellina Vecchia unter einer Betondecke versiegelt hat (Abb. 3).9 Im Belice-Tal ging man mit dem Erdbebenschutt unterschiedlich um. In einigen Städten ist er nie entfernt worden, so zum Beispiel in Poggioreale, einer kleinen Geisterstadt, deren surreale Szenerie zunehmend die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zieht: als Filmset, Objekt in Fotoausstellungen und anderen Formen räumlicher und künstlerischer Wiederaneignung, wie zum Beispiel kleinen spontanen Museen, die Erinnerungsstücke sammeln und ausstellen. Das neue Poggioreale wurde an anderer Stelle, wenige Kilometer entfernt, unter Beteiligung renom­mierter Architekten wie Paolo Portoghesi und Franco Purini wieder aufgebaut. Im Rahmen des 1980 veranstalteten „Belice Planning Workshop“, geleitet 9  Die Literatur zu Burris Cretto ist umfangreich; siehe z. B. Adrian Forty: Happy Ghost of a Possible City. Il Cretto, Gibellina. In: AA Files 66 (2013), S. 100–107; Bruno Corà (Hg.): Burri: i cretti. Ausstellungskatalog. Palermo 2015; Massimo Recalcati: Alberto Burri. Il grande cretto di Gibellina. Rom 2018; Massimo Recalcati (Hg.): La ferita della bellezza. Alberto Burri e il Grande Cretto di Gibellina. Ausstellungskatalog. Arezzo 2019.

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Abbildung 4: Poggioreale Vecchia, Ruinen; © Alberto Monaco 2019.

von Pierluigi Nicolin,10 hat Purini ein visionäres Projekt für die Altstadt von Poggioreale ausgearbeitet. Er entwarf ein System aus Plattformen wenige Meter über dem Schutt der zerstörten Stadt und hat dadurch eine Art durchgehendes, die Ruinenlandschaft überspannendes Hypostyl am Zeichentisch konstruiert. Dieser künstliche Untergrund, von Purini als neues Fundament bezeichnet,11 ließ das alte Straßensystem wieder aufleben und hob es gleichsam auf eine höhere Ebene. Die beiden Ebenen wurden in dem städtebaulichen Entwurf durch eine Reihe von Türmen aus demselben Baumaterial, das in der zerstörten Stadt verwendet worden war, verbunden. Dieses Projekt ist jedoch nie realisiert worden, die Ruinen blieben unangetastet und verfallen langsam, während die Natur sich die Überreste der Stadt wieder aneignet (Abb. 4). Unlängst haben ehemalige Einwohner der Stadt, die nach der Erdbebenkatastrophe nach Australien oder in die USA ausgewandert sind, einen Neustart in Poggioreale versucht und etwas ins Leben gerufen, das sie selbst als „Trümmerindustrie“ bezeichnen. Jetzt strebt Poggioreale an, ein neues Pompeji zu werden und dadurch den Tourismus in der Region zu befördern.12 Der Ort Santa Margherita wurde in der Nähe der Altstadt wiedererrichtet und einige der zerstörten Strukturen sind noch erhalten, wie zum Beispiel die Chiesa 10  Die Ergebnisse des Workshops sind veröffentlicht in: Pierluigi Nicolin (Hg.): Dopo il terremoto/After the Earthquake. In: Quaderni di Lotus 2 (1983). 11  Poggioreale: la città vecchia, la città effimera, la città scomparsa. In: Nicolin (Hg.): Terremoto (wie Anm. 10), S. 84–88. Siehe auch Maurizio Oddo: Purini Thermes. Architetture siciliane. Rom 2008, S. 48–51. 12 Franco Nicastro: Belice: Poggioreale, paese fantasma diventa un set. Ansa.it (13.  1. 2018), ­online zugänglich unter: https://www.ansa.it/sito/notizie/speciali/2018/01/12/belice-50-anni-dalsisma_32eb0cf5-d4ac-4891-9e56-acbae903c02d.html (letzter Zugriff am 7. 11. 2021).

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Abbildung 5: Salemi, Chiesa Madre; © Alberto Monaco 2019.

Madre, die durch die Errichtung einer Schutzkonstruktion über den Ruinen gleichsam sakralisiert wurde. Heute beherbergt die ehemalige Kirche das Museo della Memoria für die Städte des Belice-Tals. Salemi, eine andere kleine, von dem Erdbeben betroffene Stadt, wurde von den Architekten Roberto Collovà und ­Alvaro Siza Vieira gestaltet mittels minimaler Eingriffe in die historische Bau­ substanz im Rahmen eines gesamtstädtischen Projekts, das nach dem Prinzip der Rekonstruktion durch Subtraktion arbeitet, wie im Falle der Chiesa Madre.13 Durch Fragmente und Spolien wie Säulen wird der Innenraum der Kirche nach außen, zur Stadt hin, projiziert, während sich der städtische Platz in den ehemaligen Kirchenraum hinein erstreckt – in das Querschiff und die Apsis. Einmal mehr wird der Schutt zu einem Instrument der Transformation: Die negativen Aus­ wirkungen des Erdbebens werden in Elemente der „Neugründung“ der Stadt verwandelt (Abb. 5). Die völlig zerstörte Stadt Gibellina wiederum wurde verlagert und von Grund auf neu errichtet.14 Auf Einladung des Bürgermeisters Ludovico Corrao trug in den 1970er- und 1980er-Jahren eine Reihe prominenter Architekten und Künstler 13  Roberto

Collovà: Piazza Alicia e Chiesa Madre a Salemi. In: Firenze Architettura 1 (2006), S. 58–65. 14  Giuseppe La Monica (Hg): Gibellina. Ideologia e utopia. Palermo 1981; Maurizio Oddo: Gibellina la Nuova. Attraverso la città di transizione. Turin 2003; Stefania Giacchino/Marco Nereo Rotelli (Hg.): Gibellina: un luogo, una città, un museo. La ricostruzione. Gibellina 2004; Alessandra Badami: Gibellina, la città che visse due volte. Mailand 2019. Eine differenzierte Interpreta­ tion von Gibellina als Koexistenz und Schichtung von vier (Ideen von) Städten bietet: Marcella Aprile: Le soluzioni di continuità. Palermo 1993. Siehe auch Alessandra Badami: Le tre anime della ricostruzione di Gibellina. In: Alessandra Badami u. a. (Hg.): Città dell’emergenza. Progettare e ricostruire tra Gibellina e lo ZEN. Palermo 2008, S. 23–88.

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zum Wiederaufbau bei, indem sie der Stadt ihre Werke spendeten: Kunstwerke und Installationen sowie die Gestaltung von öffentlichen Räumen und Monumentalbauten. Die Idee war, urbane Kunst und Land-Art zu Instrumenten der Regeneration zu machen, die neuen Städte also unter dem Zeichen der Kunst und einer exemplarischen Architektur zu rekonstruieren und dadurch auch die Wirtschaft der Region zu revitalisieren.15 Francesco Venezia, Architekt des Projekts für ein Freilichtmuseum am Rande der Stadt (Palazzo di Lorenzo), erklärt mit dem Motto „Transfer eines Fragments“ die Idee seines Entwurfs: Die Überreste einer klassizistischen Palastfassade – die einzige erhaltene Ruine in den Trümmern des alten Gibellina – wurden in die Neustadt verbracht und das Fragment wurde in eine neue Struktur integriert.16 Die Front des zerstörten Palastes bildet fortan die Innenfassade des neuen Gebäudes und stellt damit eine Beziehung zwischen alten Ruinen und neuer Siedlung, Vergangenheit und Gegenwart her. Wie eine ­Reliquie wird das Fragment in den neuen Kontext eingegliedert, in dem die minimalistische Einfachheit des Grundrisses und des Außens mit dem visuellen und haptischen Reichtum des Innenraumes kontrastiert. Venezia zufolge hat dieses Werk „den Charme eines Fragments, das an einem Ort gelandet ist, wie an einem Strand beim Rückzug einer Welle“17 – die seismische Welle eines Katastrophen­ ereignisses, das die natürliche Ordnung des Gebiets durchbrach und sie durch neue Beziehungen und ein neues Gleichgewicht zwischen Dingen und Menschen ersetzte. Wie bereits erwähnt, überdeckte Burri den Schutt der Altstadt von Gibellina mit einer Betonhülle, dem Cretto, der zu einer Ikone der Region wurde. Zu diesem imposanten Werk gab es Untersuchungen aus künstlerischer Sicht und aus der Perspektive von Überlebenden des Erdbebens, die dieses Begraben der Ruinen ihrer Stadt als erneutes Trauma erlebt haben.18 Über die künstlerischen ­Deutungen hinaus – der Cretto als Labyrinth der Erinnerung, traumatische Wiederholung und monumentale Evokation des Erdbebens, Zeugnis und Verklärung 15  Viele

Künstler/Künstlerinnen und Architekten/Architektinnen, darunter Ludovico Quaroni, Franco Purini, Laura Thermes, Vittorio Gregotti, Giuseppe Samonà, Francesco Venezia, Alberto Burri, Arnaldo Pomodoro und Pietro Consagra, nahmen die Herausforderung an und schlossen sich der Initiative des damaligen Bürgermeisters an. Siehe dazu Ludovico Corrao: Il sogno Mediterraneo. Alcamo 2010; Ludovico Corrao: Le arti per la rifondazione di Gibellina. In: Patrizia Ferri u. a. (Hg.): Io arte noi città. Natura e cultura dello spazio urbano. Rom 2006, S. 151–156; Elisabetta Cristallini u. a. (Hg.): Nata dall’arte. Una citta per una società estetica. Rom 2004; Massimo Bignardi u.a. (Hg.): Cantiere Gibellina. Una ricerca sul campo. Rom 2008. 16  Francesco Venezia: Transfer und Transformation. Die Architektur der Spolien – eine Kompositionstechnik. In: Daidalos 16 (1985), S. 92–104; Francesco F. Buonfantino: Francesco Venezia. La complessità delle stratificazioni. In: Ananke 8 (1994), S. 64–69; Francesco Venezia: Il trasporto di un frammento. In: Firenze Architettura 1 (2006), S. 66–73. 17  Venezia: Trasporto (wie Anm. 16), S. 66. 18 Monica Musolino: L’arte traumatica. Gibellina e la risemantizzazione delle sue rovine. In: ­Meridiana 88 (2017), S. 157–176; Monica Musolino: Paesaggio e memoria collettiva nei processi di ricostruzione simbolico-identitari dopo la catastrofe. In: Carmen Belmonte u. a. (Hg.): Storia dell’arte e catastrofi. Venedig 2019, S. 171–185.

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des Schmerzes – kann ein weiterer Schlüssel zu seiner Interpretation herange­ zogen werden: das Kriterium seiner Materialität und Nachhaltigkeit. Der Cretto wurde als kolossales Werk konzipiert, ein Betonguss, der sich über 90 000 Quadratmeter erstreckt und die Trümmer der Altstadt in 122 Blöcken in einer Art ­umgekehrter Archäologie umschließt: Die Überreste werden nicht ausgegraben, sondern eingehüllt und „begraben“.19 Wie Adrian Forty bemerkt, „ist die Wahl des Materials paradox, da Beton eher mit der Auslöschung der Erinnerung als mit ihrer Bewahrung in Verbindung gebracht wird“.20 Der Bau war mit einer Reihe von Schwierigkeiten verbunden: angefangen bei der Beschaffung der enormen Zement­mengen, die in der Größenordnung von Tausenden von Tonnen lagen, bis hin zu den Schwierigkeiten bei der Instandhaltung der Blöcke und deren fortschreitendem Verfall. Die Arbeiten begannen 1985, wurden aber nach einigen ­Jahren aus diesen und anderen (vor allem wirtschaftlichen) Gründen unterbrochen, und der Cretto blieb lange Zeit ein unfertiger Betonbau. Er wurde erst 2015, dreißig Jahre nach dem Beginn der Arbeiten, fertiggestellt.21 Heute hebt sich die helle Oberfläche des neuen Betons visuell vom Grau der alten, verfallenen Blöcke ab, die im Laufe der Zeit eine der wichtigsten Eigenschaften des Werks verloren haben – das Weiß – eine bewusste ästhetische Wahl des Künstlers, die das Licht symbolisiert, das der Dunkelheit des Traumas entgegensteht und die Vorstellung eines Leichentuchs evoziert.

Beton und Rekonstruktion Aufgrund seiner Performanz und Eigenschaften, insbesondere seiner Vielseitigkeit, ist Beton das bevorzugte Material für den Wiederaufbau nach Katastrophen. Ein weiteres bedeutendes Merkmal ist die Geschwindigkeit, mit der er Wiederaufbauten ermöglicht, ein Aspekt der in post-katastrophischen Situationen entscheidend für die Wahl eines Baustoffes sein kann. In der Neuzeit, insbesondere ab den 1920er-Jahren, erfuhren die pompejanischen Ruinen eine radikale physische Veränderung: Umfassende Neukonfigura­ tionen und Rekonstruktionen aus armiertem Beton veränderten das Aussehen, und vor allem das Gleichgewicht, der fragilen antiken Strukturen.22 Während des Faschis­mus symbolisierte Beton Modernität und Fortschritt und verkörperte die 19 Giuseppe

Frazzetto: In costruzione un gigantesco Cretto di Burri. In: Il giornale dell’ar­ te 30 (Januar 1986), S. 2 f. 20  Forty: Happy Ghost (wie Anm. 9), S. 103. 21  Recalcati (Hg.): Ferita (wie Anm. 9), S. 32; Fondazione Palazzo Albizzini Collezione Burri (Hg.): Il grande Cretto di Gibellina. Progetto di completamento e lavori di restauro. In: Alessia Cadetti u. a. (Hg.): L’esperienza dell’arte pubblica e ambientale tra storia e conservazione. Florenz 2020, S. 237–244. 22  Zusammenfassend Giovanna Greco: Restauri archeologici a Pompei nel secondo Novecento. In: Massimo Osanna/Renata Picone (Hg.): Restaurando Pompei. Riflessioni a margine del Grande Progetto. Rom 2018, S. 355­–363.

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Abbildung 6: ­Rekonstruktion des atrium compluviatum in der Casa di Sallustio in Pompeji; © Pia Kastenmeier 2017.

Idee (oder Ideologie) der Palingenese.23 Nach den Bombenabwürfen der Alliierten über Pompeji im Jahr 1943 diente Beton der Wiederaneignung eines durch die „Vergehen“ des Kriegs schwer beeinträchtigten Kulturerbes.24 Im Laufe der Zeit ist er jedoch zum Sinnbild für mangelnde Nachhaltigkeit geworden, sowohl im Hinblick auf den Klimaschutz als auch bei der Konservierung archäologischer Bauwerke. Problematisch ist weiterhin, dass der Einsatz von Beton zum Verlust des Wissens um traditionelle Baumaterialien und Bautechniken beiträgt, die per se als immaterielles Kulturerbe schützenswert sind. Dennoch wurden Zement und armierter Beton in den Vesuvstätten bis in die 1990er-Jahre bei der „Restaurierung“ und „Konservierung“ eingesetzt.25 Das Material durchzieht die Makround die Mikroebene von Restaurierungsarbeiten, von ganzen Dachlandschaften wie etwa in der Casa di Sallustio bis zu kleinteiligen Hinterfüllungen der Wandputze (Abb. 6). Beton gehört bis heute zur „Materiallandschaft“ Pompejis und wurde als Teil dieser beispielsweise im Projekt Legible Pompeii der Pricenton University School of Architecture während der Biennale 2014 auch präsentiert.26 Seitdem ist die Ent-Restaurierung von Konservierungs- und Res­ 23  Zum

Gebrauch/Missbrauch von Stahlbeton bei der Restaurierung von Pompeji während der faschistischen Ära und zum Begriff der Palingenese siehe Gabriella Cianciolo Cosentino: Restoration and palingenesis. The Use of Reinforced Concrete in Pompeii during the Fascist Era. In: Cianciolo Cosentino/Kastenmeier/Wilhelm (Hg.): Multiple Lives of Pompeii (wie Anm. 6), S. 40–52. 24 Siehe dazu Renata Picone: Amedeo Maiuri e la riparazione dei danni bellici. Gli interventi e Pompei e il dibattito sul restauro nel dopoguerra. In: Cianciolo Cosentino/Kastenmeier/Wilhelm (Hg.): Multiple Lives of Pompeii (wie Anm. 6), S. 53–65. 25  Vgl. z. B. Pier Giovanni Guzzo: Pompei, tra la polvere degli Scavi. Neapel 2011, S. 25  f. 26 Informationen dazu sind online zugänglich unter: https://soa.princeton.edu/content/14th-­ venice-biennale%3A-legible-pompeii (letzter Zugriff am 7. 11. 2021).

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Abbildung 7: Gibellina Nuova, Theater von Pietro Consagra; © Alberto ­Monaco 2019.

taurierungsmaßnahmen in Beton und Zement im Rahmen des Grande Progetto ­Pompei weit fortgeschritten.27 Nach 1968 waren moderne Architektur, Stadtplanung und zeitgenössische Kunst aufgerufen, die von Erdbeben gebeutelte Region Belice zu regenerieren. In der kleinen Provinzstadt Gibellina findet man heute zahlreiche Gebäude, die die Handschrift renommierter Architekten tragen, aber kaum Menschen. Sie wirkt verlassen und ist zum zweiten Mal zu einer Geisterstadt geworden, mit überdimensionierten und nicht abgeschlossenen Bauprojekten wie etwa dem kolossalen Betonskelett des Theaters von Pietro Consagra (Abb. 7).28 Dieselbe trostlose Leere geht von dem postmodernen, neobarocken Projekt von Paolo Portoghesi in der Neustadt von Poggioreale aus,29 das als Inbegriff architektonischer Fehlgriffe nach dem Erdbeben in Belice angesehen wird: weiter, ungenutzter, degradierter Raum umgeben von unvollendeten Betonbauten, die ursprünglich für sozialen Wohnungsbau vorgesehen waren. Beton ist besser als jedes andere Material für den Bau groß dimensionierter Gebäude geeignet: Viele der „Wüstenkathedralen“ in Sizilien sind „Betonmonster“, 27 

Osanna/Picone (Hg.): Restaurando Pompei (wie Anm. 22). Das Theater spiegelt das von Consagra in den 1960er-Jahren entwickelte Konzept der Frontalstadt wider. Siehe dazu Pietro Consagra: La città frontale. Bari 1969; Nadia von Tilinsky/Klaus Wolbert (Hg.): Pietro Consagra. La città frontale. Mailand 1997; Sergio Troisi (Hg.): Consagra – architettura. Palermo 2019. 29  Paolo Portoghesi: Sistemazione dell’area antistante il centro civico, culturale, sociale e commerciale di Poggioreale. In: Luigi Galletti/Antonia Izzo (Hg.): Piazze e Spazi Urbani. Mailand 1991, S. 92; Emiliano Zandri: Storie di architettura non ordinarie: Poggioreale. In: Artword, 7. 4. 2016, online zugänglich unter: https://www.artwort.com/2016/04/07/architettura/storie-­diarchitettura-non-ordinarie-poggioreale/ (letzter Zugriff am 7. 11. 2021). 28 

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von denen manche noch dazu nie fertiggestellt wurden. Consagras Theater in ­ ibellina und Samonàs Theater in Sciacca weisen auf eines der grundlegenden G Probleme der Gebietsverwaltung in Sizilien hin: überdimensionierte, unvollen­ dete und verlassene Bauwerke.30 Wenn das Unfertige (non-finito) als Kunstform angesehen werden kann,31 so steht das Unvollendete in der Architektur für die ultimative Form von Hybris, Korruption, Misswirtschaft und Selbstzerstörung. Dieses in Süditalien weitverbreitete Phänomen32 ist auch typisch für die sizilianischen lost cities. Der Ge- und Missbrauch von Beton in vesuvianischen Städten und im BeliceTal lädt zum Nachdenken über die Rolle und Bedeutung dieses Materials im Wieder­ herstellungsprozess ein: seine Interaktionsfähigkeit mit traditionellen Mate­rialien und Techniken, sein Einfluss auf natürliche und Stadtlandschaften, Verfallsprozesse und Probleme bei der Erhaltung und die verheerenden Folgen, beispielhaft veranschaulicht im Einsturz der Schola Armaturarum in Pompeji (2010) und Ludovico Quaronis Kirche in Gibellina (1994) – zwei eindrucksvolle Beispiele für die Transformation von Beton in Bauschutt. Der Einsturz dieser beiden Gebäude ist als Scheitern von Utopien und ultimativer „Zusammenbruch der Moderne“ gedeutet worden.33 Materialien standen schon immer im Mittelpunkt des Interesses von Kunsthistorikern, Architekturtheoretikern und Altertumswissenschaftlern. Allerdings hat das Material gegenüber der Form in letzter Zeit an Bedeutung gewonnen und die Materialikonografie wurde zunehmend relevanter in der Architektur und den Bildkünsten.34 Beton spielte dabei eine zentrale Rolle. Oft mit utopischen (architektonischen oder urbanen) Projekten in Verbindung gebracht, wie in der jüngsten Ausstellung im MoMa 2018,35 ist Beton ein höchst umstrittenes Material: von der Moderne idealisiert, dann verachtet und sogar verteufelt wegen seiner relativen Kurzlebigkeit und mangelnden Nachhaltigkeit und jüngst im Zusammenhang mit der sogenannten brutalistischen Architektur wegen seiner außergewöhnlichen architektonischen und expressiven Qualitäten neu bewertet.36 Aber kehren wir zu Gibellina zurück: Das Theater von Consagra ist das beste Beispiel für die Mög30  Zum

Theater in Sciacca und dem Thema des architektonischen non-finito siehe Gabriella Cianciolo Cosentino: Il non-finito in architettura. Il teatro popolare di Sciacca di Giuseppe e Alberto Samonà. In: Lexicon. Storie e architettura in Sicilia e nel Mediterraneo, Bd. 12 (2011), S. 43–52. 31  Josef A. Schmoll: Das Unvollendete als künstlerische Form. Bern 1959. 32 Alterazioni Video (Hg.): Incompiuto. La nascita di uno stile/The Birth of a Style. Mailand 2018. 33  Francesco F. Buonfantino: Il crollo del moderno. La chiesa di Ludovico Quaroni a Gibellina. In: Ananke 8 (1994), S. 148–150. 34  Siehe z. B. das Archiv zur Erforschung der Materialikonografie, ein von Monika Wagner ge­ leitetes DFG-Forschungsprojekt an der Universität Hamburg; online zugänglich unter: https:// portal.wissenschaftliche-sammlungen.de/SciCollection/110179 (letzter Zugriff am 7. 11. 2021). 35  Martino Stierli/Vladimir Kulic: Toward a Concrete Utopia. Architecture in Yugoslavia, 1948– 1980. New York 2018. 36  Siehe die Ausgabe zum Thema „Beton“ der Architekturzeitschrift Baumeister (Beton oder die Freiheit des Gestalters, September 2015).

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lichkeiten und Grenzen dieses Materials, das einerseits die Erschaffung einer großen bewohnbaren Skulptur im städtischen Maßstab ermöglicht, andererseits aber auch die Kluft zwischen einem Gebäude und einem bildhauerischen Werk, zwischen den Bedürfnissen der wenigen Nutzer und den visionären Megastrukturen, die geplant und nie fertiggestellt wurden, zwischen den Ambitionen des Projekts und den realen finanziellen Möglichkeiten der Auftraggeber aufzeigt. Entworfen in den frühen 1980er-Jahren und heute verlassen, unzugänglich und umgeben von surrealem Brachland, wurde das Theater jüngst als Paradigma der Erneuerung wahrgenommen – nicht nur wegen der poetischen Anziehungskraft seiner dekadenten Unfertigkeit, sondern auch in Relation zu seiner baulichen Beschaffenheit. Ein Projekt zur Neukonfiguration dieses Gebäudes wurde 2018 bei der Architekturbiennale in Venedig im italienischen Pavillion Arcipelago Italia, kuratiert von Mario Cucinella, vorgestellt.37 Seiner Meinung nach stellt Gibellina Nuova und die Fertigstellung dieser Bauwerke eine große Herausforderung im Hinblick auf das Generieren von Wachstum und Entwicklung für heutige und ­zukünftige Generationen dar. Cucinella hat in diesem Gebäude, das für ihn den mutigen Geist jener Jahre zum Ausdruck bringt, großes Potenzial gesehen. Daher hat er sein Projekt Arcipelago Italia genau in diesen verlassenen Innenräumen des Theaters ins Leben gerufen, in der Hoffnung, einen Erfolgskreislauf von Er­ neuerung und neuen Arbeitsplätzen anzustoßen, der sich, ausgehend von dieser wiederzubelebenden städtischen Ruine, in die Stadt hinein und in die gesamte Region ausbreiten würde.38 Der symbolischen Eröffnung des Gebäudes 2018 und dem Slogan „zwischen Kunst und Wissenschaft, Belice kann als Brunelleschis neues Florenz wiedergeboren werden“ sind jedoch bis heute keine weiteren, konkreten Initiativen gefolgt.39 Wie aus dem nächsten Abschnitt hervorgeht, scheinen im Gegensatz zu den großen, oft ungenutzten Infrastrukturen und öffentlichen Bauwerken die kleinen Museen eine bedeutende und positive Wirkung auf das Gebiet zu haben, insbe37  2018 präsentierte der Architekt und Kurator Mario Cucinella bei der 16. Biennale in Venedig das Projekt Arcipelago Italia als Thema des italienischen Pavillions. Mit Fokus auf der zukünftigen Entwicklung der Gebiete im Inneren des Landes – fünf ausgewählte Regionen, darunter das Belice-Tal – möchte Arcipelago Italia anregen, die Aufmerksamkeit in der Architektur weg von den großen Städten, hin zu Regionen zu lenken, die räumlich und zeitlich entfernt von städtischen Ballungsräumen liegen. Diese Gebiete mit ihrem kulturellen Erbe, Alleinstellungsmerk­ malen und abwechslungsreichen Landschaften, gleichzeitig aber abgeschnitten von wesentlichen Dienstleistungen, wurden gezielt als strategisches Thema gewählt, das stellvertretend für Italien als Ganzes steht; siehe dazu Mario Cucinella (Hg.): Arcipelago Italia. Progetti per il futuro dei territori interni del Paese. Padiglione Italia alla Biennale Architettura 2018. Macerata 2018. 38  Mehr Informationen über Cucinellas Projekt zur Umgestaltung des Theaters in Gibellina sind online zugänglich unter: http://www.am3studio.it/index.asp?pag=project_sng&id=35 (letzter Zugriff am 7. 11. 2021). 39  Francesco Merlo: Mario Cucinella. Il mio Belice salvato dall’arte. In: La Repubblica, 8. 9. 2017, S. 33–35, hier: S. 33. Siehe auch Alessandro Teri: Dal Teatro di Consagra nel Belice terremotato parte il viaggio di Cucinella verso la Biennale. In: Artribune, 17. 1. 2018, online zugänglich unter: https://www.artribune.com/progettazione/architettura/2018/01/dal-teatro-di-consagra-nelbelice-terremotato-parte-il-viaggio-di-cucinella/ (letzter Zugriff am 7. 11. 2021).

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sondere im Hinblick auf eine breitere und intensivere Einbindung und Beteiligung der lokalen Bevölkerung.

Museum und Territorium Die vom Vesuv verschütteten Städte und Fundplätze sind seit ihrer Wiederent­ deckung im 18. Jahrhundert als Museen ihrer selbst konzipiert. Ihre Präsentation nach außen schwankt dabei unter der jeweiligen denkmalpflegerischen Leitung zwischen „Freiluftmuseum“ und „archäologischer Ausgrabung“. Allen Konzipierungen gemeinsam und transhistorisch ist dabei der (utopische) Ansatz der „intakten Ruine“: die Konservierung einer hybriden Dingwelt aus Zerstörtem und dem Zustand der Intaktheit.40 Heute wird das Trauma der Katastrophe vor allem in der Zurschaustellung der Skelette und Gipsabgüsse der Vesuv-Opfer erlebbar gemacht, während parallel dazu die sicht- und erfahrbaren Teilrekonstruktionen, Wiederaufbauten und Schaukästen das Alltagsleben vor dem Untergang der Städte visualisieren.41 Allerdings fungieren die archäologischen Stätten inmitten der dicht besiedelten und versiegelten Flächen des Großraums Neapel mittlerweile auch als grüne Lungen und als Lebensraum verdrängter Tier- und Pflanzenarten.42 Sie sind also gleichsam zu Vitrinen der historischen Kulturlandschaft am Vesuv geworden. Die beweglichen Funde und ausgeschnittenen Wandbilder aus den Vesuvstätten wurden zunächst im Museo Ercolanense in Portici, wenige hundert Meter nördlich der Ausgrabungen in Herculaneum, aufbewahrt. Das Museum wurde am ­Anfang des 19. Jahrhunderts aufgegeben, und man optierte – wohl kaum aus Platzgründen, sondern wegen der Zentripetalkraft Neapels – für die Verlagerung sämtlicher vesuvianischer Antiken in den Palazzo degli Studi.43 Bemerkenswert ist, dass zu dieser Zeit – parallel zur Verlagerung der Antiken in die Stadt – der damalige Leiter des Museums in Portici, Michele Arditi, über die 40  Pia

Kastenmeier: Pompeji und das Paradox der intakten Ruine. Zur Restaurierungsgeschichte einer Ausgrabungsstätte. In: Antike Welt 3 (2020), S. 71–79. 41 Zu den Gipsabgüssen zuletzt Massimo Osanna/Annalisa Capurso/Sara Matilde Masseroli (Hg.): I calchi di Pompei da Giuseppe Fiorelli ad oggi. Rom 2021; zur Musealisierung von Pompeji z. B. Luana Toniolo: Dal grande museo al racconto delle piccole storie. Il museo diffuso a Pompei da Spinazzola a Maiuri. In: Cianciolo Cosentino/Kastenmeier/Wilhelm (Hg.): Multiple Lives of Pompeii (wie Anm. 6), S. 151–163; zur Musealisierung von Herculaneum vgl. Domenico Camardo/Mario Notomista (Hg.): Ercolano: 1927–1961. L’impresa archeologica di Amedeo ­Maiuri e l’esperimento della città museo. Rom 2017. 42 Annamaria Ciarallo: Flora Pompeiana. In: Studia Archaeologica 134 (2004), S.  187–190; Gerhard Wolf: Le lucertole di Pompei (postfazione). In: Cianciolo Cosentino/Kastenmeier/ ­ Wilhelm (Hg.): Multiple Lives of Pompeii (wie Anm. 6), S. 175–179. 43 Agnes Allroggen-Bedel/Helke Kammerer-Grothaus: Das Museo Ercolanese in Portici. In: Cronache ercolanesi 10 (1980), S. 175–217; Massimo Osanna/Maria Teresa Caracciolo/Luigi ­Gallo (Hg.): Pompei e l’Europa 1748–1943. Ausstellungskatalog Neapel/Pompeji Mai–November 2015. Mailand 2015, S. 29–35.

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positive Wirkung einer „Dezentralisierung der Kunst“ reflektierte.44 Er erkannte das Potenzial eines territorialen Netzes kleinerer Museen als identitätsstiftend für die einheimische Bevölkerung und als dem Tourismus in Randgebieten förderlich. Das von Arditi angedachte Museumsnetzwerk – ein Instrument, das die Authentizität der verlorenen Städte befördere und in der Folge, auf längere Sicht, ihre Erhaltung garantiere – wurde aber lange Zeit nicht um­gesetzt. Und so verselbständigte sich de facto eine Dichotomie von Territorium mit Grabungsplatz und Freiluftmuseum versus Stadt mit Kunstobjekten und Museums­bau. Aktuell gibt es im Vesuvgebiet neben den großen touristischen Attraktionen – dem Archäologischen Nationalmuseum in Neapel und dem Parco Archeologico di Pompei – etwa zwanzig kleinere Museen und archäologische Stätten. Sie wurden eröffnet, geschlossen, verlegt, wiedereröffnet, im Zweiten Weltkrieg bombardiert und dann rekonstruiert. Als Beispiele seien das Antiquarium in Stabiae oder das weniger bekannte Museo Prisco innerhalb der Ausgrabungen von Pompeji erwähnt.45 Die wechselvolle Geschichte der lokalen Museen und Ausgrabungsstätten spiegelt die komplexe Dynamik von Zerstörung, Aufbau, Scheitern und Wiederaufbau von post-katastrophischen Städten wider. Deshalb sind die individuellen Geschichten dieser institutionellen Erinnerungsorte, ihre Bedeutung für das Territorium sowie die politischen und sozialen Katastrophen, die zur (temporären) Schließung vieler von ihnen geführt haben, es wert, untersucht zu werden. Für das Belice-Tal sind heute viele Probleme zu verzeichnen, die sich unter anderem in den überdimensionierten, unvollendeten Bauten, in deren Vernachlässigung und Verfall sowie in gescheiterten Ambitionen offenbaren. Charakteristisch für die neue Stadt Gibellina ist eine dystopische Leere, die an die Stelle der Utopie der Wiedergeburt durch Kunst und Kultur getreten ist: von der ursprünglichen Idee, der Belice-Region im Zuge der dem Erdbeben nachfolgenden Transformationen eine Pionierrolle zukommen zu lassen (in der gesamten Region ein modernes industrielles Netzwerk aus untereinander verbundenen Siedlungen und Anlagen aufzubauen, die wie eine einzige städtische Einheit funktionieren würden), über Ludovico Corraos Traum von Gibellina als kleiner Kunsthauptstadt, bis hin zum aktuellen Bevölkerungsrückgang und Migrationsphänomenen. Trotzdem besitzt dieser Ort voller Spannungen und Disjunktionen ein enormes Potenzial, das ihn zu einem Wallfahrtsort für Architekten und Künstler macht.46 44  Andrea

Milanese: Il piano Arditi del 1808 sui musei provinciali. Centro e periferia nella tutela in ‚Magna Grecia‘. In: Stefano De Caro/Mariarosaria Borriello (Hg.): I Greci in Occidente. La Magna Grecia nelle collezioni del Museo Archeologico di Napoli. Neapel 1996, S. 275–280. 45  Das sogenannte Museo Prisco wurde 1897 in den tabernae der Forumsthermen in Pompeji eröffnet; vgl. Laurentino García y García: Danni di guerra a Pompei. Una dolorosa vicenda quasi dimenticata. Con numerose notizie sul „Museo pompeiano“ distrutto nel 1943. Rom 2006, S. 197; zum neu eröffneten Museum in der Reggia Quisisana in Castellammare di Stabia vgl. Massimo Osanna/Francesco Muscolino/Luana Toniolo: Stabiae. Museo Archeologico Libero D’Orsi. Mailand 2020. 46  Ein kürzlich veröffentlichter Beitrag über Gibellina verweist auf einen Aspekt des Potenzials dieser Stadt: Stephan Becker: Kritik versus Potenzial. Warum Gibellina besser ist als sein Ruf. In:

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Utopie und Desaster sind eng miteinander verbunden. Eine Katastrophe ist immer ein Wendepunkt; Destruktion, Verlust, Chaos können aber auch als Chance wahrgenommen werden. Ein spätrömisches Beispiel (mit starken Parallelen zu modernen Ansätzen für die Region Belice) ist der Vorschlag des Philosophen ­Plotin an Kaiser Gallienus, eine verlorene Stadt in Kampanien neu zu gründen und sie in eine ideale Stadt, Platonopoli, zu verwandeln.47 Die Idee des Philosophen wurde nie verwirklicht, aber die Wahl einer kampanischen Stadt scheint da­ rauf hinzudeuten, dass das kollektive Trauma der verschwundenen, vom Vesuv zerstörten urbanen Zentren zu Plotins Zeit noch nicht überwunden war. Oft führt die utopische Reaktion nach einem Desaster zum Scheitern, das heißt zu einem zweiten Desaster. Die enge Beziehung zwischen Katastrophen und ­utopischen Antworten ist in dem Begriff des disaster utopianism verkörpert.48 In ­seinem 1979 erschienenen Buch „Das Prinzip Verantwortung“ übt Hans Jonas Kritik am Utopismus: Die Utopie, das unbescheidene Ziel schlechthin, sei nicht nur zwecklos, sondern auch gefährlich, weil sie den Keim des Scheiterns in sich berge.49 Architekturtheoretiker Alejandro Zaera-Polo hält hingegen die Utopie für anachronistisch: Gegenüber der Komplexität der Realität sei die Utopie als politisches und auch als städtebauliches Mittel nicht effektiv.50 Abgesehen von den vielfältigen Bedeutungen und unterschiedlichen Dimensionen und Interpretationen der Utopie ist den Folgen von Katastrophen in der Antike und in der Gegenwart der oft idealistische und visionäre Versuch gemein, die Katastrophe als Chance für Veränderungen oder als potenzielle Wiedergeburt zu sehen. Im Fall der Vesuvstädte wurde wiederholt das Bild der aus der Asche wiederentstehenden Stadt bemüht.51 Die Idee der Erlösung durch Kunst und Architektur stellt ein Leitmotiv im Narrativ von Belices Wiedergeburt nach der Katastrophe dar, und die Kultur sollte dabei als Textur für die Revitalisierung und einzige Hoffnung für eine dauerhafte Verbesserung der Gesamtsituation fungieren. In diesem Zusammenhang

BauNetzWoche  556  (23. 4. 2020), S. 21–24. Siehe auch die Gibellina gewidmete Ausgabe der Zeitschrift Bauwelt – Rainer Franke: Gibellina. Fragment der Hoffnung. Bauwelt 13 (1. 4. 1988). 47  Porphyrios, Vita Plotini 12. 48  Diana Artus: Gibellina. Zwischen Utopie und Desaster. In: BauNetzWoche 556 (23. 4. 2020), S. 6–20. Im Gegensatz zu positivistischen Traditionen und der Idee der Utopie als Versprechen stellt der Philosoph Fredric Jameson fest: „utopianism’s ‚deepest vocation‘ is a kind of failure, its condition of narrativity is a ‚radical act of disjunction‘“ (zitiert nach Karma Lochrie: Nowhere in the Middle Ages. Philadelphia 2016, S. 133). Die enge Beziehung zwischen Katastrophen und utopischen Reaktionen führte zu dem Begriff des disaster utopianism, der kürzlich im Zusammenhang mit der japanischen Katastrophe vom 11. 3. 2011 und in anderen Studien verwendet wurde; siehe Tessa Morris-Suzuki: Disaster and Utopia. Looking Back at 3/11. In: Japanese Studies 37 (2017) 2, S. 171–190. Anlässlich der Konferenz „An Ecotopian Toolkit for the Anthropocene“ (University of Pennsylvania, 13.–15. 4. 2017) hielt die Schriftstellerin, Historikerin, Umwelt- und Menschenrechtsaktivistin Rebecca Solnit einen Vortrag mit dem Titel „Art, Disaster, Utopia“. 49  Hans Jonas: Das Prinzip Verantwortung. Frankfurt a. M. 1979. 50  Alejandro Zaera-Polo: The Politics of the Envelope. In: Log 13/14 (Herbst 2008), S. 193–207. 51  Margherita Sarfatti: Pompei risorta. In: Dedalo 11 (April 1924), S. 663–689.

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muss daran erinnert werden, dass das Landesinnere Siziliens schon immer als Inbe­griff des armen, archaischen, unterentwickelten und heruntergekommenen Italien galt und der Wiederaufbau nach der Katastrophe die Region von diesem Zustand der Rückständigkeit befreien sollte. Die Katastrophe war also in den komplexen Entwicklungszusammenhang der „Questione Meridionale“ einge­ bettet.52 Kehren wir zum Thema der Identität der „verlorenen Städte“ zurück, ist man mit einer Dichotomie konfrontiert. Einerseits haben die zerstörten Städte ihre ­urbane Physiognomie verloren – aufgrund der Zerstörung und/oder des Wiederaufbaus: Die neuen Städte unterscheiden sich von den alten Städten durch völlig unterschiedliche Proportionen, Dichten, Typologien und Morphologien.53 Andererseits haben das Vesuvgebiet und das Belice-Tal einen neuen, post-katastrophischen Status erreicht, der heute potenziell jeweils eine ganze Region vereinigt. Ausdruck und Materialisierung dieses neuen Status ist im Belice-Tal das „Museumsnetzwerk Belicina“, ein zusammenhängendes System von kleinen, über das Gebiet verteilten Museen, archäologischen Stätten und Naturschutzgebieten.54 Dieses territoriale Museum, das 2010 unter Beteiligung von Gemeinden, Stiftungen, Vereinen und Kultureinrichtungen gegründet wurde, entstand mit dem Ziel, der Geschichte, Kultur, Kunst, den Traditionen und Landschaften Kontinuität zu verleihen und eine Geschichte zu erzählen, nicht nur die der einzelnen Orte, ­sondern die aller Städte des Belice-Tals. Das Museumsnetzwerk besteht aus etwa zwanzig heterogenen Museen, Sammlungen und Ausstellungen, die über die zwölf Gemeinden verstreut sind, und von denen einige stark in der Region verwurzelt und historisch geprägt sind, während andere neu gegründet wurden, und die alle das Ziel verfolgen, die Begriffe „Zugehörigkeit“ und „Gemeinschaft“ zu reflektieren. Dazu gehören städtische, archäologische, anthropologische und diözesane Museen, Museen der Erinnerung, Kunstsammlungen, aber auch Landschafts- und archäologische Parks. Die Frage in diesem Zusammenhang ist: Welchen Beitrag sollten und könnten diese Museen leisten, um das Trauma zu überwinden und die post-katastrophische Wiederaneignung des Territoriums durch die Bevölkerung zu befördern? Wird es diesem Netzwerk gelingen, dem BeliceTal nicht nur den Genius Loci, sondern auch eine wirtschaftliche und soziale Struktur zurückzugeben? Dies ist die heutige Herausforderung der Region. 52 Giacomo

Parrinello: Fault Lines. Earthquakes and Urbanism in Modern Italy. New York/­ Oxford 2015. 53  Obwohl viele Architekten in ihren Projekten die Frage der Erkennbarkeit für die Belice Rekonstruktion reflektiert haben, wie z. B. Oswald Mathias Ungers in seinem Entwurf für das Stadtzentrum von Gibellina, kennzeichnet ein überwiegendes Gefühl der Entfremdung diese Orte; Oswald Mathias Ungers u. a: Proposta per lo sviluppo del centro urbano. Progetto per la nuova città di Gibellina (Sicilia). In: Lotus 36 (1982), S. 69–76. Zu Ungers’ Projekt für Gibellina siehe Fosca Miceli: Restauro del Moderno. Il Centro Civico di Oswald Mathias Ungers a Gibellina Nuova. Dissertation Università degli Studi di Palermo 2012. 54  Informationen zur Rete Museale e Naturale Belicina sind online zugänglich unter: http://retemusealebelicina.it/ (letzter Zugriff am 7. 11. 2021).

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Bei Katastrophen wie in der Vesuvregion oder dem Belice-Tal gibt es immer ein Davor und ein Danach. Wir haben versucht, verbindende Aspekte zu unterstreichen, die die traditionelle Lesart der jüngeren Geschichte im Hinblick auf Brüche und Dichotomien hinterfragen. Festzuhalten ist, dass eine Kontinuität – auch im Sinne einer Wertschöpfung aus der Katastrophe – im Umgang mit den lost cities zu beobachten ist. Genau deswegen können wir die Vesuvregion und das BeliceTal miteinander verbinden und vergleichen. Städte werden wieder bewohnt oder nicht; die Menschen eignen sich ihre Lebenswelt und Landschaft wieder an, physisch – wie durch die curatores oder fossores – und ideell; Zerstörung und Untergang werden musealisiert und durch Memorialisierung überwunden; Vorstellungswelten und utopische Ideen werden geboren. Doch sind diese Prozesse nie statisch, da die Begegnung mit einer lost city immer eng mit dem Zeitgeschehen verbunden sein wird. In den Vesuvstätten, vor allem in Pompeji und Herculaneum, wurde unter Maiuri und seinen direkten Vorgängern bis in die 1960er-Jahre in weiten Teilen der prä-katastrophische Zustand der beiden römischen Städte (das „Alltagsleben“) herausgestellt und durch, zum Teil massive, Betonrekon­ struktionen materialisiert; wenn man die Problematik dieses Restaurierungs- und Musealisierungsansatzes einer lost city bis in seine letzte Konsequenz verstanden hat, wird umso klarer, warum Burri im Belice-Tal die gesamte zerstörte Stadt mit einer Betondecke versiegelt hat. Es sollte kein Weg zurück in das alte, verlorene Gibellina führen.

Abstract This essay focuses on two cultural landscapes in Southern Italy: the Vesuvius area in Campania and the Belice Valley in Sicily. The first was destroyed by an eruption in 79 AD and the latter by an earthquake in 1968. The number and variety of natural disasters that have occurred in Southern Italy, a seismic territory with several active volcanos, make this macro-region a natural laboratory for the global challenges of post-catastrophic regeneration and heritage conservation. The two areas considered are understood as coherent networks of places and people affected by great catastrophes  –  territories which have experienced the violence of nature as well as human interventions through an unprecedented mobilization of material and intellectual resources. Our goal is to gain new insights into the different ways of living with lost cities, which are exemplified in the selected case studies, both of which have undergone different processes of recovery and regeneration across time: relocalizations, partial and total reconstructions, urban and natural landscape transformations, contemporary art interventions, as well as various forms of musealization and memorialization.

Andreas Beyer Neapel – Refiguration einer verlorenen Stadt Die süditalienische Metropole Neapel (Abb. 1), am tyrrhenischen Meer an der Westküste der Apenninen-Halbinsel gelegen, trägt in ihrem Namen bereits das Adjektiv, das sie als Nachfolgerin einer älteren Stadt zu erkennen gibt: Nea polis (Νέα πόλις, Νεάπολις), neue Stadt. Es handelt sich um die antike Bezeichnung einer Neugründung, welche im Zuge der griechischen Eroberung Kampaniens um 475 v. Chr. die zuvor, am Ende des 6. Jahrhunderts v. Chr., von einer griechischen Kolonie aus Kyme (lat. Cumae) angelegte Stadt Parthenope gleichsam ersetzte – diese firmierte fortan unter Paläopolis, die alte Stadt. Gelegen war diese am Fuße des Pizzofalcone, jenem steil aufragenden Promontorium direkt am Wasser, das die beiden Buchten des heutigen Neapel trennt, verwaiste zunehmend und ging schließlich gänzlich verloren.1

Abbildung 1: Unbekannter Maler: Tavola Strozzi/Stadtansicht von Neapel, 1472; Quelle: https://en.wikipedia.org/wiki/File:Tavola_Strozzi_-_Napoli.jpg.

Ihr ursprünglicher Name „Parthenope“ geht zurück auf den homerischen ­ ythos von der glücklichen Durchfahrt des Odysseus durch die gefahrvollen M ­Gewässer vor der campanischen Küste. Ungeachtet des bezirzenden Gesangs der 1  Der

hier verfasste Beitrag geht im Wesentlichen zurück auf meine Forschungen, die erschienen sind unter dem Titel: Andreas Beyer: Parthenope. Neapel und der Süden der Renaissance. München/Berlin 2000. Dort sind auch sämtliche einschlägigen Einzelnachweise und die weitere ­Literatur zu finden. Im Folgenden werden nur die allerwichtigsten Einzelbelege angegeben. Neue Forschungsergebnisse finden sich bei Massimo Visone: Napoli Aragonese e le Delizie di Campovecchio. In: Guido D’Agostino u. a. (Hg.): La Corona d’Aragona e l’Italia. Atti del XX Congresso di Storia della Corona d’Aragona (2017). Rom 2020, S. 1457–1477, Abb. S. 1565–1570; dort auch die jüngere Literatur. https://doi.org/10.1515/9783111071848-008

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auf einer Insel im Golf lebenden Sirenen, dem er sich bekanntlich zwar aussetzte, aber dadurch, dass er sich an den Mast des Schiffes binden ließ, nicht erlag, gelang es ihm und seiner Mannschaft, der die Ohren mit Wachs versiegelt waren, unbeschadet an der Insel vorbei zu segeln.2 Die spätere Ausschmückung der Sage will, dass die Sirenen – deren Zahl bei Homer sich noch auf zwei beläuft, die in der Folge aber variiert und meist mit drei angegeben wird, so wie auch deren verschiedene Namen erst später hinzutreten –, deren Überleben gebunden war an die erfolgreiche Verführung und damit Vernichtung der Seefahrer, aufgrund dieses gescheiterten Versuchs sich in Verzweiflung ins Meer stürzten und starben.3 Unter ihnen ist es die Sirene Parthenope, der für die Stadtgeschichte besondere Bedeutung zukommt: Ihr Leichnam sei in der Bucht des Golfes angeschwemmt worden, wo man ihr zu Ehren ein monumentales Grab errichtet habe, das zu einem populären Kultort avancierte, an welchem der „Stadtgöttin“, unter anderem durch jährliche Fackelläufe, gehuldigt wurde.4 Zügig setzte auch die Umdeutung der unheilbringenden Sirene in eine fruchtbare, wohltätige Nymphe ein, wich also die homerische Grundlage der antiken Herleitungsgeschichte in der Folge der Behauptung, die Sirenen seien Töchter des Flussgottes Acheloos, entsprungen aus der Liebe zu einer der drei Musen. Dies war eine notwendige Korrektur, welche das ursprünglich bedrohliche Fabelwesen Parthenope mit all jenen Attributen ausstatten ließ, die die Sirene als Stadtpatronin prädestinierten.5 Von dieser frühen Stadt, schon gar von dem Grabmonument, hat sich nichts erhalten; nicht verloren aber ging ihr Name – er figuriert etwa in der 1799 ausgerufenen, gegen die Bourbonen-Herrschaft gerichteten, kurzlebigen „Parthenopäischen Republik“ und noch heute firmiert Neapel, nicht nur im Volksmund, unter der Bezeichnung „Parthenope“, bis hin zur heimischen Fußballmannschaft, der SCC (Società Sportiva Calcio) Napoli oder auch Squadra partenopea. Von der dann nordöstlich von Parthenope neu gegründeten Stadt, der Nea polis, sind ebenfalls nur spärliche Reste geblieben – einige Mauerzüge, Gräberfunde, Tonware. Gleichwohl ist deren Struktur bis auf den heutigen Tag bewahrt: Der Ende des 5. Jahrhunderts v. Chr. angelegte Grundriss der Stadt, der den Lehren des Hippodamos von Milet folgt und in drei Plateiai (Decumani) und rund zwanzig Stenopoi (Cardines) gegliedert ist,6 bestimmt das innere Stadtgefüge bis heute (Abb. 2). Auf diesem haben die folgenden Jahrhunderte das Antlitz der Stadt fortwährend verändert und erneuert, Architekturen aufgetürmt und wieder abgetragen, an seiner Topografie aber wurde stets festgehalten, wie auch am Namen der Vorgängerstadt, den Neapel gleichsam als Synonym nie abgelegt hat. So wenig wir heute von Parthenope, also der verloren gegangenen Vorgängerin Neapels wissen – die Archäologie hat freilich unausgesetzt geforscht und auch 2 

Homer, Odyssee XII, 165–200. Dionysios, Periegeta 358 f. 4  Lykophron, Alexandra 717–733 mit Scholien; Strabon, Geographika I, 2, 13; 18; V, 4, 7. 5  Beyer: Parthenope (wie Anm. 1), S. 18. 6  Ebd., S. 22  f. 3 

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Abbildung 2: Grundriss des ­griechisch-römischen Neapel von Bartolomeo Capasso, 1904; Quelle: Fotothek Kunstgeschichte RWTH Aachen.

­einige Ergebnisse zutage gefördert7 –, die Frühe Neuzeit wusste noch weit weniger. Und doch hat sie, gestützt vor allem auf den literarisch überlieferten Mythos, bedeutende Anstrengungen unternommen, die Erinnerung an diese Stadt zu ­erneuern und sie im zeitgenössischen Stadtbild wieder Gestalt finden zu lassen. Dazu veranlasst fanden sich zumal die ab Mitte des 15. Jahrhunderts über Neapel herrschenden Aragonesen. Als fremde Macht musste ihnen in besonderem Maße daran gelegen sein, der ansässigen Bevölkerung, und zumal der lokalen Aristokratie, identifikatorische Ausgleichsangebote zu unterbreiten, die ihre Macht zu legitimieren und zu zementieren erlaubten. Alfonso I. setzte eine veritable renovatio urbis in Gang: Unter den zahlreichen Unternehmungen sticht vor allem die Neuerrichtung des von den besiegten Anjou (auch sie eine unter den vielen Fremdherrschaften über die Stadt) übernommenen Kastells am Hafen in der Bucht des 7  Siehe den jüngeren Überblick bei Rabun M. Taylor: Ancient Naples. A Documentary History. Origins to c. 350 CE. New York/Bristol 2021.

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Abbildung 3: Castel Nuovo (Maschio Angioino) in Neapel, 15. Jahrhundert; Quelle: https:// commons.wikimedia.org/wiki/File:Castello_Maschio_Angioino.jpg.

Golfes hervor, das nach den Verwüstungen der Kämpfe ab fundamentis wieder aufgebaut und ab 1453 mit einem emblematischen Triumphbogen geschmückt wurde (Abb. 3). Im Innern der Stadt, das den auswärtigen Herrschern traditionell als Residenz­ ort verwehrt blieb, ließ er seine Verbündeten unter den einheimischen Aristokraten Paläste errichten und jenseits des Stadtkerns eine Villa all’antica anlegen. Das Aufblühen der städtischen Infrastruktur, die das aragonesische Neapel zumal nach dem endgültigen Sieg der Flotte Ferdinandos I. über die Anjou vor Ischia im Jahr 1465 erlebte, reiht sich ein in die erhebliche Konjunktur, welche die Künste im 15. Jahrhundert allerorten auf der Apenninen-Halbinsel und zumal in den Kommunen erfuhren – in vielerlei Hinsicht wurde auch für die Aragonesen das mit Neapel verbündete republikanische Florenz unter der politischen und öko­ nomischen Führung von Piero de’ Medici und dessen Sohn Lorenzo (dem Magnifico) dabei zum Motor und Vorbild. Lange Zeit ungebührlich vernachlässigt und im Vergleich mit anderen Zentren des Humanismus herabgewürdigt, ist in den letzten Jahrzehnten die Kunst- und Architekturgeschichte Neapels neu geschrieben und der singuläre Rang des süditalienischen Königreichs im Konzert der frühneuzeitlichen Kultur endlich wieder sichtbarer geworden.8 8  Vgl.

u. a. Dieter Richter: Neapel. Biographie einer Stadt. Berlin 2005; Salvatore Pisani: Neapel. Sechs Jahrhunderte Kulturgeschichte. Berlin 2009; Jessica Hughes/Claudio Buongiovanni:

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Abbildung 4: Triumphbogen des Castel Nuovo, 15. Jahrhundert; Quelle: https:// de.wikipedia.org/wiki/ Datei:Napoli_-_Castel_ Nuovo_Arco_trionfale_ 1030697.JPG.

Neapel im Kontext der lost cities aufzurufen, geschieht hier daher nicht, weil ein lange sträflich übersehenes Patrimonium in Erinnerung gerufen werden müsste, sondern um den in der 2. Hälfte des 15. Jahrhunderts sich dort vollziehenden Prozess einer Refiguration der verlorenen Vorgängerstadt als prominentes Beispiel der Visualisierung einer lost city vorzustellen. Tatsächlich ereignete sich mit der unter Alfonso I. (1442–1458) und der dann unter seinem Sohn Ferdinando I. (Ferrante, 1458–1494) und dessen Nachfolger, Alfonso II. (1494–1495), wiederum vorangetriebenen Erneuerung der Stadt im Zeichen der frühneuzeitlichen Künste die „Wachrufung“ eben jener verloren gegangenen Parthenope, die das Neapel der Renaissance gleichsam zu deren Bildträger werden lässt. Dabei spielen die erwähnten Bauprojekte eine kapitale Rolle. ­ emembering Parthenope. The Reception of Classical Naples from Antiquity to the Present. R Oxford 2015; Elisabeth Oy-Marra/Dietrich Scholler (Hg.): Parthenope – Neapolis – Napoli. Bilder einer porösen Stadt. Göttingen 2018; Tommaso Gambini: Da Parthenope a Napoli. Neapel 2020.

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Mit dem ab 1452 begonnenen, zunächst bis 1458 errichteten und dann von 1465 bis 1471 ergänzten und schließlich vollendeten Triumphbogen an der Schauseite des Castel Nuovo (Abb. 4) manifestierten die Aragonesen nicht nur einen an der römischen Antike orientierten imperialen Anspruch, sondern sie evozierten zugleich das legendäre Grabmal der antiken Stadtpatronin. Es handelt sich um einen „doppelten“ Bogen, dessen unteres Geschoss von einer korinthischen Doppelsäulen-Ordnung beherrscht wird – seine Nähe zum Sergierbogen von Pola aus dem 1. Jahrhundert n. Chr. ist früh aufgefallen. Auch der darüber sich erhebende, in unbekümmerter Superposition die kanonische Abfolge missachtend mit einer ­ionischen Ordnung ausgestattete, zweite Bogen bezieht sich auf ein antikes Vorbild, wohl den Trajansbogen in Benevent. Mit seiner gänzlich ungewöhnlichen Doppelstöckigkeit rekurriert der Bogen des Castel Nuovo zudem auf die lokale Tradition der anjovinischen Grabmalskultur, wie sie sich seit Robert dem Weisen (1309–1343) am Golf entwickelt hatte – auf jene zweigeschossigen Baldachingräber mithin, die Erwin Panofsky als „double decker tombs“ apostrophiert hat (Abb. 5).9 Dieser zweifache Bezug des Arco di Alfonso, auf die antike Triumphbogen-Symbolik einer- sowie auf die Sepulkraltradition der Anjou andererseits, ist von besonderer Bedeutung, weil er die Teilhabe von Alfonsos Königreich an den neuesten Tendenzen einer aus dem Formenrepertoire der Antike schöpfenden Kultur unterstrich, zugleich aber seinen Anspruch manifestierte, als friedenstiftender Eroberer der Stadt der antiken Stadtpatronin an ihrem Grab zu huldigen; das Castel Nuovo befand sich ja nicht unweit der Stelle, an welcher die Historiografen den Memorialbau Parthenopes lokalisierten. Die „Attikazone“ des unteren Bogens bildet ein Triumphfries, der in drei Teile gegliedert ist (Abb. 6). Das Zentrum zeigt eine prozessionsartige Anordnung, flankiert wird es von Ädikulen als eigenständigen Kompartimenten. Die Rückwand des Frieses zeigt eine durchlaufende Wand mit korinthisierender Pilasterordnung, wie überhaupt eine zusammenhängende Architektur evoziert wird, die durch ein aufwändiges Gesims bekrönt wird. Der abschließende Fries, wie auch jener, der oberhalb des unteren Bogens platziert ist, tragen Inschriften, die Alfonso als Erbauer des Monuments und Friedensbringer feiern. Der Prospekt, vor dem der Zug (der den tatsächlich stattgefunden habenden trionfo des neuen Herrschers in Erinnerung ruft und behält, mit welchem der König am 26. Februar 1443 die besiegte Stadt symbolisch in Besitz nahm) sich entfaltet, ist wie die Längsfassade eines Tempels gestaltet; im zentralen Giebelfeld, wie auch in jenen der seit­ lichen Ädikulen, frontal und nach innen gekehrt, ist jeweils eine weibliche Büste platziert. Im Mittelfeld korrespondiert der Giebel mit dem Baldachin des Triumph­ wagens, auf dem Alfonso I. thront. Der König und die Frauenbüste des mittleren Giebels bilden damit gemeinsam die Mitte der gesamten Szenerie; und es liegt 9  Erwin Panofsky: Tomb Sculpture. Its Changing Aspects from Ancient Egypt to Bernini. New York 1964, S. 65; siehe hierzu Jessica Barker: Stone and Bone. The Corpse, the Effigy and the Viewer in Late-medieval Tomb Sculpture. In: dies./Ann Adams (Hg.): Revisiting the Monument. Fifty Y ­ ears since Panofsky’s Tomb Scuplture. London 2016, S. 113–135.

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Abbildung 5: Grabmal des Robert von Anjou in Santa Chiara/Neapel vor der Zerstörung, 14. Jahrhundert; Quelle: Fotothek Kunstgeschichte RWTH Aachen.

Abbildung 6: Triumphbogen des Castel Nuovo, Attika­ zone; Quelle: https:// commons.wikimedia.org/ wiki/Napoli#/media/File: NapoliMaschioAngioino ArcoLaurana3.jpg.

nahe, in der weiblichen Büste die mythische Parthenope zu erkennen. Neben anderen Details ist auffällig, dass das Mauerwerk der Wand aus einem „bugnato“, Zierbossen also besteht, deren ebene Spiegel in gleicher Höhe vorspringen. Damit

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Abbildung 7: Palazzo Carafa di Maddaloni in Neapel, 15. Jahrhundert; Umzeichnung des Fassadenaufrisses von Bruno Schindler; Quelle: Bildarchiv des Autors.

handelt es sich um griechisches Mauerwerk, um das sogenannte opus isodomum, von dem der von Alfonso I. nachweislich persönlich gelesene Vitruv im 2. Buch (8, 5–6) anlässlich der unterschiedlichen Formen des Mauerverbundes spricht. Wegen der Unbeständigkeit der römischen Verfahren des opus reticulatum und des opus incertum empfiehlt dieser die Bauweise der Griechen, die in abwechselnden Schichten Blöcke übereinanderschichteten und damit höchste Dauerhaftigkeit erzielten; isodom nennt er es, wenn alle Schichten von gleicher Höhe verlegt sind, pseudoisodom, wenn abwechselnd ungleich hohe Reihen von Bossen-Schichten angeordnet sind.10 Die Verwendung des isodoms an der Rückwand des Triumphfrieses gibt sich so als explizit griechisches Mauerwerk zu erkennen, womit hier der griechische Ursprung des neu evozierten Mausoleums der Parthenope sinn­ fällig vor Augen geführt wird. Der Triumphfries des Arco stellt sich somit als Rekonstruk­tion des „Gründungsheiligtums“ Parthenopes dar, in welchem sich Herkunfts- und Selbstbewusstsein der aragonesischen Stadtherrschaft ebenso artikulieren, wie deren Herrschaftsanspruch.11 Derlei Bezüge auf die verlorene „Ur-Stadt“ finden sich im aragonesischen ­Neapel vielerorts. Hier sei nur auf einen anderen prominenten Fall verwiesen, bei dem das isodom als symbolischer Mauerverbund eingesetzt worden ist. Im Jahr 1466, also während der Regentschaft Ferdinando I./Ferrante, wurde der Stadtpalast des Diomede Carafa im unteren Decumanus (der heutigen via San Biagio dei Librai) vollendet (Abb. 7). 10  Vitruv:

Zehn Bücher über Architektur. Übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Curt Fensterbusch. Darmstadt 1987, S. 105–107. 11  Beyer: Parthenope (wie Anm. 1), S. 37–58, hier: S. 58 mit Anm. 214.

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Abbildung 8: Palazzo Carafa di Maddaloni in Neapel, Frauenhaupt an der rechten Fassadenecke; ­Quelle: Bildarchiv des Autors.

Sein Bauherr, zum Grafen von Maddaloni erhoben, entstammte der lokalen Aristokratie und stand als Kanzler im Dienste der Aragonesen. Als Palasttyp korrespondiert der Bau mit den avancierten Tendenzen der vorgängigen Florentiner Palastbaukunst; Diomede Carafa unterhielt insgesamt ein enges – politisches wie persönliches – Verhältnis zur toskanischen Metropole und zu den Medici im Besonderen. Für unseren Zusammenhang ist aber relevant, dass er bei der Verkleidung der Außenwände seines Palastes nicht, wie in Florenz, auf ein bugnato rustico zurückgriff, sondern das opus isodomum verwenden ließ, ganz offensichtlich in Bezugnahme auf dessen emblematischen Einsatz im Triumphbogen des Castel Nuovo. Was Carafa mit diesem Palast im Herzen des antiken Neapel „rekonstruierte“, stellte sich gleichsam als das Habitat der Parthenope dar – eine der vielen Inschriften an den Fassaden des Palastes, über einem Portal, das Zugang zu einem hängenden Garten gewährte, weist diesen als Wohnort der „Nymphen“ aus: „HIC HABITANT NYMPHAE DVLCES ET SVADA VOLVPTAS […]“. Ein als Eckstein über dem Abschluss des rechten Teils der Schaufassade angebrachtes Frauenhaupt – wohl ein antikes Fundstück, vermutlich eine Darstellung der ­Plotina – dürfte eingesetzt sein, um, in souveräner Umdeutung der Person, auch

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Abbildung 9: Antikes Münzbild mit Darstellung der Parthenope; Quelle: Bildarchiv des Autors.

hier das Patrozinium Parthenopes zu evozieren; das bewegte Haupthaar korrespondiert mit Darstellungen der Nymphe auf antiken Münzen (Abb. 8 und Abb. 9). Mit einer Inschrift auf dem Sockel einer zentral im Innenhof seines Palastes platzierten Säule macht Carafa ganz deutlich, was Anlass seines Palastbaus ist: „HAS COMES INSIGNIS DIOMEDES CONDIDIT AEDES CARAFA IN LAVDEM REGIS PATRIAEQVE DECOREM / EST ET FORTE LOCVS ­MAGIS APTVS ET AMPLVS IN VRBE SIT/SET AB AGNATIS DISCEDERE TVRPE PVTAVIT“ (Abb. 10).12 Im Deutschen lautet der Text also: „Es hat der berühmte Graf Diomede dies zu Ehren des Königreichs und zur Zierde des Vaterlandes erbaut. Möglich, dass es in der Stadt einen geeigneteren Ort gibt, schändlich aber wäre es, von den Vorfahren [Agnatis] abzuweichen.“ Agnaten (im Deutschen: die Nachgeborenen) sind männliche Blutsverwandte der männlichen Linie; im römischen Recht waren all jene agnatisch miteinander verwandt, die unter derselben patria potestas standen, wenn der Stammvater noch lebte. Am Ort der Agnaten13 zu bauen, hieß für Diomede Carafa nicht allein in die unmittelbare Nähe des elterlichen Besitzes zurückzukehren, sondern programmatischer noch, auch zum griechischen Ursprung der Stadt zurückzufinden. Der geeignetere Residenzort für den Kanzler des Königreiches wäre gewiss die Umgebung des Castel Nuovo gewesen, an welchem bereits die Anjou ihre Höflinge versammelten; umso deutlicher wird damit die Reverenz, die Diomede Carafa der parthenopäischen patria erweist. 12 

13 

Ebd., S. 172, Anm. 395. Ulrich Manthe: agnatio. In: DNP, Bd. 1 (1996), S. 262.

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Abbildung 10: Palazzo Carafa di Maddaloni in Neapel, Sockelinschrift; Quelle: Bildarchiv des Autors.

Diese griechische renovatio setzt sich fort in der vor den Toren der Stadt angelegten Villenanlage von Poggio Reale, die Alfonso II., noch als Thronfolger und Herzog von Kalabrien, zwischen 1487 und 1492 errichten ließ (sie wurde 1789 zerstört und verfiel in der Folge gänzlich). Sie befand sich zwischen der heutigen „via del Campo“, der „via Santa Maria del Pianto“ und den Straßenzügen „via nuova e vecchia Poggioreale“. Die Architektur korrespondierte mit den zeitgenössischen Errungenschaften in der Baukunst: Der Entwurf für das ambitionierte Projekt wurde in die Hände des Florentiner Baumeisters Giuliano da Maiano gegeben, der sein Modell noch in der Toskana anfertigte und vor Ort ab 1487 mit dessen Umsetzung begann. Er verstarb aber 1490, weshalb die Vollendung der Anlage möglicherweise auf Francesco di Giorgio und Schüler des da Maiano zurückgeht.14 Die Villa wurde zum prominenten Versammlungsort des Hofes und figuriert noch im 3. Buch des Architekturtraktats des Sebastiano Serlio aus der Mitte des 16. Jahrhunderts (Abb. 11).15 Die Anlage lässt sich rekonstruieren als freistehender Palast in Form eines ­Vierturmkastells dem ein längsrechteckiger Hof oder Garten folgte, dem sich ­wiederum eine Loggienanlage mit einem hinter ihr liegenden, kanaldurchzogenen Garten­geviert anschloss. Hier entfaltete sich die hochentwickelte Badekultur der ­Aragonesen. Alfonso ließ die Villa mit einem monumentalen Gartenbrunnen aus14  15 

Beyer: Parthenope (wie Anm. 1), S. 137–145. Ebd., S. 137 f. zu Sebastiano Serlio: I Sette Libri dell’Architettura. Il terzo libro. Venedig 1540.

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Andreas Beyer Abbildung 11: Sebastiano Serlio: Die Villa von Poggio reale. Entnommen aus: ders.: I Sette ­Libri dell’Architettura. Il terzo libro. Venedig 1540, fol. 122r; Quelle: Bildarchiv des Autors.

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statten, den eine Statue der Parthenope schmückte, darüber hinaus legte er eine Grotte an, die als eines der frühesten Nymphäen der Renaissance gilt. Es muss verstanden werden als eine Art modernes Sanktuarium für die das Wasser und damit die Fruchtbarkeit und allgemeine Prosperität gewährende Parthenope.16 Auch eine weitere durch den Herzog von Kalabrien ins Werk gesetzte Villenan­ lage, „La Duchesca“, über deren Aussehen wenig bekannt ist, war mit einem Brunnen der neapolitanischen Nymphe gewidmet.17 Damit schließt sich am Ende der kurzlebigen Herrschaft der Aragonesen der Kreis jener Gräzisierung und ­mythischen Wiederauflebung Parthenopes, vom Gründer des transtyrrhenischen Königreichs, Alfonso I., erdacht und von seinen Nachfolgern in auffälliger Kohärenz befördert, um die süditalische Mission des Hauses Aragon ideologisch abzustützen. Es ist die lost city Parthenope, die in Refigurationen von der mythischen Nymphe zugedachten Orten und Monumenten, zum Subtext der Stadt Neapel am Beginn der Frühen Neuzeit wird – und deren Name bis in unsere Gegenwart lebendig geblieben ist.

Abstract Modern Naples takes its name from ancient Neapolis, the “new city”, and thus makes reference to a predecessor city, the lost Greek colony of Parthenope. Under the rule of the House of Aragon in the 15th century, this layer of history was revived through buildings and monuments that pay homage to the original patron saint of the city, the siren/nymph Parthenope. In this way, the foreign rulers activated the memory of the lost, previous city as an offer of compensation to the subjugated Naples and as a subtext for their claim to power and their legitimacy.

16  17 

Francesco Quinterio: Guiliano da Maiano „Grandissimo Domestico“. Rom 1996, S. 453. Ebd., S. 425–430; Beyer: Parthenope (wie Anm. 1), S. 145–147.

Alexander Free „Und doch stand hier einst eine Stadt“ – Mentale Stadtbilder von Antinoupolis in Mittelägypten in Reiseberichten vor dem 19. Jahrhundert Im 19. Jahrhundert stellte Ägypten eines der beliebtesten Reiseziele gebildeter ­Europäer dar. Zwischen 1798 und 1801 hatte der General und spätere Kaiser von Frankreich Napoleon Bonaparte eine militärische Unternehmung in die osma­ nische Provinz durchgeführt, um den französischen Einfluss im Mittelmeer zu stärken. Im Zuge der Expedition erfolgte auch eine intensive wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem zeitgenössischen Alltagsleben, der Tier- und Pflan­ zenwelt wie auch mit den gesichteten Altertümern in Ägypten, die als „Description de l’Égypte“ in mehreren monumentalen Bänden veröffentlicht wurde.1 Das um­ fangreiche Werk weckte ein lebhaftes Interesse an dem nordafrikanischen Land und seiner Kultur in Europa. Zahllose Reisende begaben sich auf den Weg nach Ägypten, um sich mit eigenen Augen von den beeindruckenden Beschreibungen der „Description de l’Égypte“ zu überzeugen.2 Unter ihnen befand sich auch der vor allem für seinen Roman „Madame Bovary“ bekannte französische Schrift­ steller Gustave Flaubert, der seine im Jahre 1850 durchgeführte Reise in einem lichen Bericht zusammenfasste. Über Alexandria führte ihn seine Er­ ausführ­ kundungsfahrt den Nil entlang nach Mittelägypten. Hier notierte der Literat im Angesicht der Überreste des antiken Ortes Antinoupolis, einer Gründung des ­römischen Herrschers Hadrian aus dem Jahre 130 n. Chr.: „Antinoe ist die wahre Ruine, von der man sagen kann: ‚Und doch stand hier einst eine Stadt‘.“3 Flaubert sah sich an diesem Ort einem regelrechten Trümmerhaufen gegenüber. Er entdeckte keine imposante Monumentalarchitektur, wie sie noch fünfzig Jahre zuvor in der „Description de l’Égypte“ verzeichnet worden war, stattdessen erwies sich die einstma­lige Stadt nunmehr als weitläufige, hügelige Fläche, die mit umfangreichen 1  Über

die Expedition Napoleons informiert Leslie Greener: The Discovery of Egypt. London 1966, S. 88–102. 2  Zur Ägyptenbegeisterung in Europa siehe z. B. Wilfried Seipel (Hg.): Ägyptomanie. Europäi­ sche Ägyptenimagination von der Antike bis heute. Symposium Wien, Kunsthistorisches Museum 30. und 31. Oktober 1994. Wien 2000. 3  Gustave Flaubert: Voyage en Égypte. Paris 1991, S. 435: „Antinoé est la vraie ruine dont on dit: ‚Ici pourtant fut une ville‘.“ Die Übersetzung nach Gustave Flaubert: Reisetagebuch aus Ägypten. Stuttgart 1963, S. 207. https://doi.org/10.1515/9783111071848-009

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Rückständen antiker Keramik und anderen Kleinfunden bedeckt war. Nur verein­ zelt ließen sich noch Fundamente, Säulentrommeln oder Kapitelle auf dem ur­ sprünglich ungefähr 113 ha großen Areal erkennen.4 Schon 1822 sprach der Ägypto­ loge John Gardner Wilkinson von dem Verschwinden sämtlicher sichtbarer Ruinen von Antinoupolis, die in der „Description de l’Égypte“ noch einen so breiten Raum eingenommen hatten.5 Als Flaubert dann um die Jahrhundertmitte Antinoupolis aufsuchte, hatte sich der Gesamtzustand des Areals wohl noch weiter verschlechtert. In der Folge der napoleonischen Expedition waren viele der antiken Siedlungs­ areale Ägyptens kontinuierlich von ausländischen Reisenden, aber auch von ein­ heimischen Anwohnern auf der Suche nach Artefakten geplündert worden. Ihr Boden wurde darüber hinaus zuerst gelegentlich, schließlich mit staatlicher Erlaub­ nis sogar systematisch, zur Gewinnung von Düngemittel für die Landwirtschaft abgetragen.6 Die antiken Ruinen wurden einerseits in Brennöfen zur Kalkförde­ rung verfeuert, andererseits wurden sie zur Beschaffung von Baumaterial abge­ rissen. So wurden im Fall von Antinoupolis antike Architekturteile etwa bei der Errichtung neu entstehender Fabriken oder anderer Bauwerke in der Region ver­ wendet. Im Umkreis der Stadt wurde die Zucker- und Rumproduktion zu einem wichtigen Wirtschaftsfaktor. Der Baubestand von Antinoupolis war in diesem Zu­ sammenhang ein wichtiges Depot der Rohstoffgewinnung.7 Von der antiken Stadt war aus diesem Grund schnell nicht mehr sehr viel übrig. Zurück blieb lediglich eine – von nennenswerten Siedlungsstrukturen weitgehend freie – Fläche.8 4  Zur ursprünglichen Größe von Antinoupolis siehe James B. Heidel: Antinoupolis. A Hadrianic Reinterpretation of the Abydos Sacred Landscape. In: K.M.T. 23 (2012/2013) 4, S. 60–67, hier: S. 63. Die Beschreibung von Antinoupolis findet sich in Kapitel 13–15 bei Edme F. Jomard (Hg.): Description de l’Égypte, ou recueil des observations et des recherches qui ont été faites en Égypte pendant l’expédition de l’armée française, publié par les ordres de Sa Majesté l’Empereur Napoléon le Grand. Band 2,1,2: Texte 2: Antiquités. Paris 1818. Einen Nachdruck bietet etwa André Bernand: Les Portes du Désert. Recueil des inscriptions grecques d’Antinooupolis, Tentyris, ­Koptos, Apollonopolis Parva et Apollonopolis Magna. Paris 1984, S. 29–46. 5  John G. Wilkinson: Modern Egypt and Thebes. Being a Description of Egypt Including the Information Required for Travellers in that Country. Bd. 2. Cambridge 1843, S. 59. 6 Ausführlich beschrieben wird dieser sogenannte Sebbach-Abbau von Ulrich Wilcken: Die ­Berliner Papyrusgrabungen in Herakleopolis Magna im Winter 1898/9. In: Archiv für Papyrus­ forschung 2 (1903), S. 294–336, hier: S. 296–312. Über den Abbau in Antinoupolis gibt John de Monins Johnson: Antinoe and its Papyri. Excavation by the Graeco-Roman Branch, 1913–14. In: JEA 1 (1914) 3, S. 168–181, hier: S. 172–174, Auskunft. 7  Vgl. dazu ausführlich Patrick Brose: Die Erforschung der Antikenareale von Hermopolis Mag­ na (Aschmunein) und des westlichen Wüstenrandes (Tuna el-Gebel). In: Mélanie FlossmannSchütze u. a. (Hg.): Weltentstehung und Theologie von Hermopolis Magna II. Die Deutsche Hermopolis-Expedition im Licht aktueller Forschung. Vaterstetten 2022, S. 43–118, hier: S. 44–46, S. 70 f.; Nancy A. Hoskins: The Coptic Tapestry Albums and the Archaeologist of Antinoé, ­Albert Gayet. Seattle/London 2004, S. 4; Florence Calament: La révélation d’Antinoé par Albert Gayet. Histoire, archéologie, muséographie. Bd. 1. Kairo 2005, S. 92 f.; dies.: Le Contexte Archéo­ logique et Muséologique. In: Francis Janot (Hg.): La Dame d’Antinoé: une „momie“ au château de Lunéville. Nancy 2011, S. 11–17, hier: S. 14; Greener: Discovery (wie Anm. 1), S. 71. 8  Ein generell trauriges Bild der antiken Siedlungsplätze zeichnet Peter Grossmann: Städtebau­ liches aus Ägypten. In: Gunnar Brands/Hans-Georg Severin (Hg.): Die spätantike Stadt und ihre Christianisierung. Symposion vom 14. bis 16. Februar in Halle/Saale. Wiesbaden 2003, S. 125–134,

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Seit der Zeit Flauberts hat sich die Situation weiter verschlechtert. Antiker Schutt und vereinzelte Baureste überziehen auch im frühen 21. Jahrhundert wei­ terhin das Gelände von Antinoupolis. Ein antikes Hippodrom ist durch Sand­ aufschüttungen zu erkennen. Die Grundmauern und Säulen eines Tempels für Ramses II. sowie einer im Nordwesten gelegenen Nekropole sind sichtbar. Die einstmals von den Forschern der napoleonischen Expedition beschriebene Monu­ mentalarchitektur lässt sich dagegen allenfalls erahnen. Der moderne Ort Sheikh Ibada wächst schrittweise über das Gelände der antiken Stadt, die zudem immer weiter vom Wüstensand wie auch einem muslimischen Friedhof überdeckt wird. Antinoupolis kann angesichts dessen wahrlich als eine lost city bezeichnet werden, die in Anbetracht dieser Entwicklungen irgendwann wohl komplett verschwun­ den sein wird.9 Die Berichte früher Reisender vor der wissenschaftlichen und touristischen Er­ schließung Ägyptens im Zuge der napoleonischen Militäraktion bilden aus diesem Grund essenzielle Quellen für die Rekonstruktion des einstmaligen Stadtbildes von Antinoupolis, stellen sie doch in vielen Fällen die einzige Möglichkeit dar, ­einen umfassenderen Eindruck von der ursprünglichen Bebauung des Siedlungs­ areals zu gewinnen. Die Reiseberichte vermögen es jedoch nicht nur, eine Vor­ stellung von der vormals sichtbaren Architektur zu vermitteln. Darüber hinaus bieten sie auch die Möglichkeit, die sich wandelnde geistige Einbettung des Stadt­ areals in neue historische Kontexte nachzuverfolgen. So können die Reiseberichte nicht nur archäologisch nutzbar gemacht werden, sondern durch sie werden im­ mer auch mentale Stadtbilder vermittelt, die abhängig von ihrer jeweiligen Gegen­ wart sind.10 Im Folgenden sollen solche mentalen Stadtbilder anhand des von Gustave Flau­ bert besuchten Antinoupolis in einigen Schlaglichtern näher beleuchtet werden. Gerade die Wahrnehmung von Antinoupolis unterlag im Verlauf der Zeit einem bemerkenswerten Wandel, sodass sich hier die jeweils historische Einbettung ei­ nes mentalen Stadtbildes hervorragend nachvollziehen lässt. So stellten die Römer den Ort in einen griechischen Deutungsrahmen und legten ihn als Modellstadt für die umliegende Region an. Sie konstituierten Antinoupolis als Polis und gaben ihren Bürgern das Etikett sogenannter Neu-Hellenen, die auf diese Weise in ih­ rem Status den übrigen Bewohnern der Provinz Ägypten vorangestellt wurden. Obgleich von dem römischen Herrscher Hadrian gegründet, galt Antinoupolis daher in der Antike als griechische Polis und dieser Anspruch wurde gerade auch durch ihre städtische Architektur unterstrichen, die typische griechische Elemente hier: S. 125 f. Frank Kolb: Die Stadt im Altertum. ND Düsseldorf 2005, S. 40, bezeichnet Ägypten daher nicht ohne Grund als Zivilisation von Palästen, Tempeln und Gräbern, nicht aber als eine solche von Städten.  9  Über den modernen Zustand des Antikenareals informieren Rosario Pintaudi u. a.: Latrones: Furti e Recuperi da Antinoupolis. In: Analecta Papyrologica 26 (2014), S. 359–402, hier: S. 359– 367. 10  Siehe zu dem Konzept des mentalen Stadtbildes etwa Therese Fuhrer u. a.: Introduction. In: dies. u. a. (Hg.): Cityscaping. Berlin/Boston 2015, S. 1–18.

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wie ein Gymnasion, ein Theater oder Thermen adaptierte.11 Im Mittelalter und der frühen Neuzeit, als schon lange keine Rede mehr von einem durch die Römer beförderten griechischen Antinoupolis sein konnte und Ägypten zunächst unter der Kontrolle der Araber sowie schließlich der Osmanen stand, wurden die ver­ bliebenen Monumente der einstmaligen antiken Stadt hingegen in einen monar­ chischen Zusammenhang gestellt, der der aktuellen Lebenswelt der lokalen Bevöl­ kerung entsprach. Anhand einiger Reiseberichte vor der napoleonischen Expedition lässt sich beobachten, wie die Europäer aufgrund ihrer historischen Kenntnisse der römischen Antike schon im 17. Jahrhundert das Bild von der griechischen Stadt Antinoupolis aufgriffen, während die Einheimischen den Ruinen einen völ­ lig anderen Sinn verliehen. Bevor diese Dichotomie allerdings näher in den Blick genommen werden kann, muss in einem ersten Schritt zunächst der Charakter von Antinoupolis während der Antike rekapituliert werden. Auch bedarf es eines generellen Überblicks über die weitere Entwicklung der Stadt nach dem Unter­ gang des römischen Reiches, um den Zustand des Areals während der Anwesen­ heit der europäischen und arabischen Reisenden zu verdeutlichen.

Antinoupolis als wichtiger Zentralort römischer Zeit: ein Abriss Der Geschichtsschreiber Herodot formuliert in der Einleitung seiner „Historiae“, er gedenke, sowohl kleine als auch große Städte in seiner Erzählung zu berücksich­ tigen. Orte, die früher einmal groß waren, seien nämlich heutzutage klein, jene, die nun bedeutend seien, waren früher unbedeutend. So verhalte es sich eben mit dem menschlichen Glück. Es verbleibe niemals auf demselben Stand.12 Für das Sied­ lungsareal des antiken Antinoupolis gilt dieses Diktum in ganz besonderer Weise. Die Römer schlossen die von ihnen gegründete Stadt nämlich an eine bereits be­ stehende Ortschaft an. Eine Siedlungskontinuität im Gebiet des heu­tigen Sheikh ­Ibada lässt sich bis in die protodynastische Zeit zurückverfolgen. Ab dem Neuen Reich prägte der noch heute in seinen Fundamenten sichtbare Tempel Ramses II., der auch das Zentrum der ptolemäischen Siedlung bildete, die Umgebung.13 Die 11 

Vgl. zur Einbettung von Antinoupolis in einen griechischen Deutungsrahmen Alexander Free: Antinoopolis – eine griechische Stadt im römischen Ägypten? In: Kathrin Gabler u. a. (Hg.): For­ men kultureller Dynamik: Impuls – Progression – Transformation. Beiträge des zehnten Basler und Berliner Arbeitskreises Junge Aegyptologie (BAJA 10) 29. 11.–1. 12. 2019. Wiesbaden 2021, S. 105–114. Zur Bezeichnung von Antinoupolis als Stadt der sogenannten Neu-Hellenen (νέοι Ἕλληνες) siehe etwa P. Stras. III 130,9 (Herkunftsort unbekannt 149 n. Chr.). Mary T. Boat­ wright: Hadrian and the Cities of the Roman Empire. Princeton 2000, setzt sich grundsätzlich mit den Städtegründungen Hadrians auseinander. 12  Siehe Herodot, Historiae I, 5. 13  Zu einem Friedhof protodynastischer Zeit siehe Adriana Spallanzani Zimmermann: Il cimitero protodinastico. In: Sergio Donadoni (Hg.): Antinoe (1965–1968). Missione Archeologica in Egit­ to dell’Università di Roma. Rom 1974, S. 23–32. Sergio Donadoni: Alcune case a Est del tempio ramesside. In: ders. (Hg.): Antinoe (diese Anm.), S. 133–140, hier: S. 138–140, gibt Hinweise zur ptolemäischen Vorgängersiedlung. Siehe zu dieser auch Ernst Kühn: Antinoopolis. Ein Beitrag

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Vorgängersiedlung von Antinoupolis war jedoch lediglich ein untergeordnetes Dorf des nahe gelegenen größeren Zentralortes Hermupolis auf der gegenüber­ liegenden Flussseite. Weder war sie eine Stadt noch kam ihr regional oder überregi­ onal eine besondere Bedeutung zu.14 Dieser Umstand änderte sich erst durch die Einflussnahme der Römer im Jahre 130 n. Chr. Zu dieser Zeit unternahm der römische Herrscher Hadrian zusammen mit seiner Entourage eine Reise auf dem Nil, um die Provinz Ägypten näher in Augenschein zu nehmen. Währenddessen ereignete sich ein tragisches Ereignis: Antinoos, der jugendliche Liebling Hadrians, kam durch nicht mehr gänzlich nachvollziehbare Gründe in den Fluten des Nils zu Tode und stand dadurch Pate für die nur wenige Tage später gegründete neue Stadt am östlichen Ufer in nur circa 8 km Luftlinie Entfernung von dem regionalen Zentralort Hermupolis auf der westlichen Flussseite.15 Als vermeintliche Gedächtnisgründung wurde die Stadt angeblich an eben jener Stelle gegründet, an der Antinoos ertrunken sein soll. Pragmatische Gründe der Herrschaftssicherung in einer Region, in der eine römische Präsenz bis dato fehlte, waren am Ende jedoch wohl entscheidender als das singuläre Ereignis eines tragischen Todesfalls.16 Antinoupolis wurde in der Folge jedenfalls zu einem wichtigen Kulminations­ punkt römischer Herrschaftsmacht für die Provinz Ägypten aufgebaut. Hier fand wohl nicht nur der Epistrategos Mittelägyptens, das heißt der höchste römische Zentralbeamte der näherliegenden Region, seinen Hauptsitz. Auch der Vorsteher der ägyptischen Bergwerke, der Procurator metallorum, residierte offenbar an diesem Ort.17 Hadrian stattete Antinoupolis zudem mit einem Gemeinderecht aus

zur Geschichte des Hellenismus im römischen Ägypten. Gründung und Verfassung. Göttingen 1913, S. 12–20; Dieter Kessler: Beiträge zum Verständnis des Obelisken. In: Hugo Meyer (Hg.): Der Obelisk des Antinoos. Eine kommentierte Edition. München 1994, S. 89–149, hier: S. 97 f. 14 Die Kontrolle des östlichen Nilufers durch Beamte aus Hermupolis zeigen etwa PSI I 56 (Hermupolis Januar/Februar 107 n. Chr.) und P. Mil. II 36 (Hermopolites 117–118 n. Chr.). Kess­ ler: Beiträge (wie Anm. 13), S. 119 f., hält die Vorgängersiedlung indes zumindest für einen bedeu­ tenden kultischen Ort der Region. 15  Die Nilfahrt Hadrians wird z. B. rekonstruiert von Pieter Sijpesteijn: A New Document Con­ cerning Hadrian’s Visit to Egypt. In: Historia 18 (1969), S. 109–118. Jörg Fündling: Kommentar zur Vita Hadriani der Historia Augusta. Bd. 2. Bonn 2006, S. 687–701, bespricht die verschiede­ nen Interpretationen des Todes. Vgl. zum Gründungsdatum der Stadt auch Chronicon paschale, pagina 223 mit Michael Zahrnt: Antinoopolis in Ägypten: Die hadrianische Gründung und ihre Privilegien in der neueren Forschung. In: ANRW II 10,1 (1988), S. 669–706, hier: S. 677. 16  Als Gedächtnisgründung für Antinoos wird die Stadt von Cassius Dio, Römische Geschichte LXIX, 11, 3 erachtet. Siehe dagegen aber auch Zahrnt: Antinoopolis (wie Anm. 15), S. 676. Paul ­Schubert: Antinoopolis: pragmatisme ou passion? In: Chronique d’Égypte 72 (1997) 143, S. 119– 127, hier: S. 124, betont, dass in Mittelägypten vor allem ein Referenzpunkt für Veteranen und da­ mit römische ­Bürger fehlte. 17  Siehe J. David Thomas: The epistrategos in Ptolemaic and Roman Egypt. Part 2: The Roman epistrategos. Opladen 1982, S. 57 f.; ebd., S. 105, zum Sitz des Epistrategos; Hélène Cuvigny: ­Vibius Alexander, praefectus et épistratège de l’Heptanomie. In: Chronique d’Égypte 77 (2002) 153/154, S. 238–248, hier: S. 241 f.; dies.: Les ostraca sont ils-solubles dans l’histoire? In: Chiron 48 (2018), S. 194–217, hier: S. 201–209, zum Procurator metallorum.

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und verlieh den neuen Bürgern eine ganze Reihe an Privilegien, zu denen ein Ali­ mentationsfonds für neugeborene Kinder ebenso zählte wie die Befreiung von Zwangsdiensten für das Gemeinwesen oder von gewissen Steuern und Zöllen. In ihrer Quantität überragten die vergebenen Vorzüge sogar deutlich die Vorrechte der Bürger Alexandrias, die bis zu diesem Zeitpunkt die privilegiertesten Einwoh­ ner der römischen Provinz Ägypten gewesen waren. Die schiere Anzahl von fünf­ zehn derzeit belegbaren Sonderrechten stellte die Antinoiten den Alexandrinern somit nicht nur gleich, sondern hob sie gar über die Bürger der Stadt im Nildelta ­hinaus.18 So erwuchs mit Antinoupolis eine neue regional herausragende Stadt ­neben Alexandria in der ägyptischen Chora, die allen anderen Orten der Provinz deutlich überlegen war. Antinoupolis wurde von den Römern als Musterbeispiel einer griechischen ­Polis in Mittelägypten angelegt und verkörperte diesen Anspruch sowohl durch seine rechtliche Sonderstellung als zum Beispiel auch durch seine äußere Erschei­ nung. Wie im Fall Alexandrias orientierten sich die Stadtplaner an einem axial­ symmetrischen Raster, das sich durch breite Hauptstraßen und dazu rechtwinklig verlaufende Nebenstraßen auszeichnete, zwischen denen aus mehreren Stockwer­ ken bestehende Häuserkarrees lagen.19 Die Hauptstraßen waren von langen Säu­ lenhallen flankiert. Monumentale Tetrastyla markierten die breiten Kreuzungen des orthogonalen Straßensystems. Ein Theater, große Thermen und Ehrenmonu­ mente für die römischen Herrscher stellten prominente Landmarken des Stadtbil­ des dar.20 Ein in seiner Form seltenes Rundgymnasion komplettierte den Ein­ druck, der sich einem antiken Betrachter aufgedrängt haben muss: Antinoupolis entsprach in vielen Aspekten seiner Architektur einer griechischen Polis, die sich auf diese Weise von einem ägyptisch anmutenden Deutungsrahmen zu lösen ver­ suchte.21 18  Vgl.

dazu Gérard Chalon: L’édit de Tiberius Julius Alexander. Étude historique et exégétique. Olten 1964, S. 171, Anm. 66; Diana Delia: Alexandrian Citizenship during the Roman Principate. Atlanta 1991, S. 34. Zu den Privilegien der Antinoiten siehe z. B. Cisca A. J. Hoogendijk/Peter van Minnen: Drei Kaiserbriefe Gordians III. an die Bürger von Antinoopolis. P. Vindob. G 25945. In: Tyche 2 (1987), S. 41–47. 19 Vgl. Kühn: Antinoopolis (wie Anm.  13), S. 26–30. PSI XII 1239,10 (Antinoupolis 18. 9.  430 n. Chr.) nennt ein 13. Häuserkarree innerhalb des 3. Viertels als höchste bekannte Zahl eines Häuserblocks. 20  Siehe Wolfgang Thiel: Die ‚Pompeius-Säule‘ in Alexandria und die Vier-Säulen-Monumente Ägyptens. Überlegungen zur tetrarchischen Repräsentationskultur in Nordafrika. In: Dietrich Boschung/Werner Eck (Hg.): Die Tetrarchie. Ein neues Regierungssystem und seine mediale ­Repräsentation. Wiesbaden 2006, S. 249–322, hier: S. 277–286, zu den Tetrastyla sowie VBP IV 74 (Hibeh 138 n. Chr.) und SB XII 11262 (Hibeh 10. 6. 139 n. Chr.) mit Dieter Hagedorn: Zwei Heidel­berger Papyri. In: ZPE 14 (1974), S. 277–283, hier: S. 279; Adeline Le Bian: Le Théâtre d’Antinoopolis. In: Rosario Pintaudi (Hg.): Antinoupolis II. Scavi e Materiali. Bd. III. Florenz 2014, S. 223–240, zum Theater. Einen topografischen Überblick aus archäologischer Sicht gibt Kühn: Antinoopolis (wie Anm. 13), S. 30–76. 21  Heidel: Antinoupolis (wie Anm. 4), S. 60, betont mit Blick auf den architektonischen Charak­ ter des Heiligtums für den lokalen Hauptgott Osiris-Antinoos dennoch den hybriden Charakter des antiken Stadtbildes. P. Köln I 52,10 (Antinoupolis 263 n. Chr.) und P. Mich. Inv. 975 (Anti­

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Kontinuitäten über die Antike hinaus: Antinoupolis in arabischer Zeit Zu Beginn des 4. Jahrhunderts wurde Antinoupolis zum Hauptsitz der neu einge­ richteten Provinz Thebais auserkoren und gewann dadurch noch einmal zusätz­ lich an regionaler und überregionaler Bedeutung.22 Diesen Status behielt die Stadt bis zur arabischen Eroberung und darüber hinaus. Noch im 8. Jahrhundert resi­ dierte hier der lokale Emir, sodass die administrative Bedeutung von Antinoupolis zunächst sogar das Imperium Romanum überdauerte.23 Die sassanidische sowie die arabische Eroberung Ägyptens im 7. Jahrhundert bedeuteten für Antinoupolis somit zunächst nur geringfügige Veränderungen. Der Ort behielt seine wichtige Stellung als Verwaltungszentrum in Mittelägypten und war darüber hinaus noch im 10. Jahrhundert ein bedeutender Bischofssitz.24 Auch ökonomisch blieben Antinoupolis und ihr gesamtes umliegendes Gebiet zudem von überregionaler Relevanz für ganz Ägypten. So wurden die örtlichen Steinbrüche im 7. Jahrhundert zur Gewinnung von Baumaterial für die Festung Babylon bei der Garnisonsstadt al-Fustat genutzt. Die Gegend war zudem noch im 12. Jahrhundert weithin als Zentrum einer Leinen- und Stoffproduktion be­ kannt.25 Durch Funde koptischer und arabischer Papyri lässt sich bis mindestens ins 10. Jahrhundert ein alltägliches Leben in Antinoupolis nachvollziehen, wie es noupolis 263 n. Chr.) bei François Gerardin: New Evidence for the Circular Gymnasium and the City Fund in Antinoopolis (P. Mich. Inv. 975). In: BASP 56 (2019), S. 117–127, erwähnen das lo­ kale Rundgymnasion der Stadt. SB VIII 9904 (29. 8. 153–28. 8. 154 n. Chr.) bietet eine Abrechnung zum Bau des örtlichen Kaisareions. 22  Bernhard Palme: Praesides und Correctores der Augustamnica. In: AntTard 6 (1998), S. 123– 135, hier: S. 124, diskutiert die Probleme der genauen Datierung der Provinzgründung und bietet weiterführende Literatur. Das früheste Zeugnis ist bislang P. Panop. Beatty 1 (Panopolis Septem­ ber 298 n. Chr.). 23  Siehe Harold I. Bell: Antinoopolis: A Hadrianic Foundation in Egypt. In: JRS 30 (1940) 2, S. 133–147, hier: S. 147; Calament: Révélation (wie Anm. 7), S. 78, die darauf aufmerksam macht, dass Antinoupolis offenbar als Zentrum der unteren Thebais 619 n. Chr. durch die Truppen Chosraus’ II. in Mitleidenschaft gezogen worden zu sein scheint. Zu Antinoupolis als Bischofs­ sitz siehe ferner Johannes H. Kramers: Al-Ušmunain in den arabischen Quellen des Mittelalters. In: Günther Roeder (Hg.): Hermopolis 1929–1939. Ausgrabungen der Deutschen Hermopolis Expedition in Hermopolis, Ober-Ägypten. Hildesheim 1959, S. 154–157, hier: S. 154. 24 Von einem Niedergang kann für Antinoupolis also zunächst nicht gesprochen werden, ob­ gleich anders Marie-Hélène Rutschowskaya: Antinoe. In: Un siècle de Fouilles Françaises en Égypte. 1880–1980. A l’occasion du Centenaire de l’École du Caire (IFAO). Paris 1981, S. 302 f., hier: S. 303, und Calament: Contexte (wie Anm. 7), S. 12. 25  Zu den Lieferungen für Babylon vgl. das Senouthios-Archiv von 643/644 n. Chr. In: CPR XXX. Über die lokale Stoffproduktion informiert eine Vielzahl arabischer Historiografen; vgl. dazu die Belege bei Muhammady Fathy/Elshaimaa Abdelgawad: Al Ashmunin (Hermopolis Magna) in Some Arabic Sources. In: Flossmann-Schütze u. a. (Hg.): Weltentstehung (wie Anm. 7), S. 1–27, hier: S. 3, S. 6, S. 8, S. 21. Siehe ferner auch P. Berl.Arab. II 73 (Hermupolis 8. Jh.) und P. Vind. Arab. II 6 (Hermupolis 10. Jh.) sowie Kramers: Al-Ušmunain (wie Anm. 23), S. 155; Adolf ­Grohmann: Contributions to the Topography of Al-Ushmûnain from Arabic Papyri. In: Bulletin de l’Institut égyptien 21 (1939), S. 211–214, hier: S. 213; ders.: Al-Ušmunain in den arabischen ­Papyri. In: Roeder (Hg.): Hermopolis (wie Anm. 23), S. 157–161, hier: S. 159.

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den Ort bereits in griechisch-römischer Zeit geprägt hatte, bevor im 14. Jahrhun­ dert schließlich die literarische Tradition versiegte.26 Siedlungstechnisch hatte sich allerdings bereits seit dem 5. Jahrhundert eine all­ mähliche Verlagerung der Bevölkerung auf einen unmittelbar südlich von Anti­ noupolis gelegenen Vorort ergeben. In den arabischen Papyri begegnen die beiden Siedlungskerne daraufhin als Ober- und Unter-Ansina.27 Doch auch regional büß­ te der Ort schon bald an Bedeutung ein und wurde in den Verwaltungsbezirk der Nachbarstadt al-Ashmunein, das antike Hermupolis, eingegliedert.28 Langfristig etablierten sich die Araber in der Region allerdings mit ganz neuen regio­nalen Zentren. Sie gründeten die Städte Mallawi und al-Minya, die auch heutzu­tage noch immer die wichtigsten Orte Mittelägyptens darstellen, und bewirkten dadurch langfristig eine generelle Abkehr von den einstigen Zentralorten der A ­ ntike. Ihren Bedeutungsverlust beweisen dabei nicht nur die immer seltener werdenden Erwäh­ nungen bei arabischen Reisenden zwischen dem 9. und dem 14. Jahrhundert. Auch andere Hinweise zeugen von der Verlagerung der regionalen Zentren: Der arabi­ sche Reisende Ibn Battuta berichtet etwa bereits für das 9. Jahrhundert von der wichtigen Verbindung al-Minyas zu dem Abbasidenherrscher Ibn Khasib. Al-Min­ ya etablierte sich sodann als regionale Hauptstadt, der auch Antinoupolis admi­ nistrativ untergeordnet wurde.29 In al-Minya und Mallawi verbaute Spolien aus dem Antikenareal von Antinoupolis belegen das Wachstum der neuen Städte auf Kosten des alten Zentralortes. In der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts bediente sich gar der Sultan Saladin der antiken Bausubstanz von Antinoupolis, um Mate­ rial für seine Zitadelle in Kairo zu beschaffen.30 Ein sukzessiver Bevölkerungs­ rückgang muss sich somit bereits seit dem 9. Jahrhundert und dem allmählichen 26 Siehe

Alain Delattre: Compte Copte tardif et exercices d’écriture en copte et en arabe sur ­ archemin. In: Rosario Pintaudi (Hg.): Antinoupolis III. Scavi e materiali. Florenz 2017, S. 657– p 664; P. Vind.Arab. III 23 (Antinoupolis 10. Jh.). Siehe Rutschowskaya: Antinoe (wie Anm. 24), S. 303, zur letzten Erwähnung von Antinoupolis im 14. Jahrhundert. 27 Peter Grossmann: Die von Somers Clark in Ober-Ansina entdeckten Kirchenbauten. In: ­Mitteilungen des Deutschen Archäologischen Instituts, Abteilung Kairo 24 (1969), S. 144–168, hier:  S. 144–150. 28 Vgl. etwa Heinz Halm: Ägypten nach den mamlukischen Lehensregistern. I. Oberägypten und das Fayyum. Wiesbaden 1979, S. 102–105, sowie die Steuerdokumente PERF 737 (Antinou­ polis/Hermupolis 840); PERF 746 (Antinoupolis/Hermupolis 842); PERF 766 (Hermupolis/­ Antinoupolis 858–859) oder P. Philad.Arab. 19 (Antinoupolis/Hermupolis 9. Jh.). 29  Vgl. Ibn Battuta, Travels 2, 95–97; Halm: Ägypten (wie Anm. 28), S. 102  f.; ders.: Kalifen und Assassinen. Ägypten und der Vordere Orient zur Zeit der ersten Kreuzzüge 1074–1171. München 2014, S. 241. Dieter Kessler: Historische Topographie der Region zwischen Mallawi und Samalut.. Wiesbaden 1981, S. 52, S. 116, führt insbesondere ökonomisch-verkehrstechnische Ursachen für den Bedeutungswechsel zu al-Minya und Mallawi an. 30  Siehe Gaston Wiet: L’Égypte de Murtadi fils du Gaphiphe. Introduction, Traduction et ­Notes. Paris 1953, S. 7, mit Verweis auf den Geschichtsschreiber al-Maqrizi; Vincent Rondot: Sur le ­voyage de sept chapiteaux d’Antinoé vers le Caire. In: Annales Islamogiques 25 (1991), S. 241– 243; zur lokalen Spolienverbauung ders.: Note sur six Chapiteaux composites réutilisés dans la Mosquée Al-Yusufi à Mellawi. In: Extrait des Annales du Service des Antiquités de l’Égypte 70 (1984/1985), S. 143–149.

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zentralörtlichen Aufstieg von Mallawi und al-Minya vollzogen haben. Als euro­ päische Reisende dann ab dem 16. und 17. Jahrhundert vereinzelt nach Mittel­ ägypten vorstießen, fanden sie den antiken Siedlungskern von Antinoupolis be­ reits unbewohnt vor. Die noch vor Ort existierende lokale Bevölkerung war zu diesem Zeitpunkt schon längst auf das Maß eines kleinen Dorfes an den Ausläu­ fen der einstmals imposanten Stadt geschrumpft. Von der vormaligen Bedeutung des ihnen benachbarten und noch immer monumentalen Ruinenfeldes machten sich die Einheimischen allerdings einen lebhaften Eindruck, der sich diametral von der Auffassung der Europäer unterschied.

Die ersten Europäer in Mittelägypten Vor der napoleonischen Expedition gelangten nur vereinzelte europäische Reisen­ de nach Mittelägypten. Sie führte in der Regel ihre christliche Gesinnung in das Land. So war der Dominikanermönch Johann Michael Vansleb aus Erfurt im Jah­ re 1673 in der Region, um christliche Handschriften für den Herzog von SachsenGotha zu erwerben.31 Der Kapuzinermönch Charles-François Orléans 1671 und der Jesuitenpater Claude Sicard 1714 verfolgten das Ziel, koptische Christen zum Katholizismus zu bekehren.32 Ihren Reiseberichten merkt man daher vor allem ihr Interesse an den lokalen christlichen Traditionen an und sie begaben sich des­ halb auch vornehmlich in die Klöster der Region. Die Besuche antiker Ruinen­ stätten erfolgten also üblicherweise von ihren monastischen Unterkünften aus. Sie bildeten nicht das primäre Reiseziel. In Mittelägypten fanden die Europäer in der Regel in dem südlich von Anti­ noupolis gelegenen Kloster in Deir Abu Hennes Beherbergung und in den dort lebenden koptischen Mönchen kompetente Reiseführer.33 Aufgrund der kopti­ ) schen Bezeichnung der benachbarten Siedlungsreste als Antinoou ( stellte eine Identifikation des Ortes schon für die ersten Besucher wie Vansleb kein Problem dar. So berichtet er, wie er sich vor dem Besuch der Ruinen in kop­ tischen Wörterbüchern über den Ort informiert habe.34 Wie Vansleb wussten aus 31  Siehe zu dem Mönch Greener: Discovery (wie Anm. 1), S. 61–65; Hoskins: Coptic Tapestry (wie Anm. 7), S. 4; Calament: Révélation (wie Anm. 7), S. 84. 32  Zu Claude Sicard äußern sich Hoskins: Coptic Tapestry (wie Anm. 7), S. 4; Calament: Révéla­ tion (wie Anm. 7), S. 84 f.; Greener: Discovery (wie Anm. 1), S. 70–72. Brose: Erforschung (wie Anm. 7), S. 48, S. 51, führt neben Charles-François Orléans weitere frühe Reisende wie einen ­namentlich nicht näher bekannten Venetianer im Jahre 1589 an. 33 Die Klöster in der Umgebung von Antinoupolis behandeln Sergio Bosticco: Dintorni di Antinoe. In: Loretta del Francia Barocas (Hg.): Antinoe Cent’Anni Dopo. Catalogo della ­ ­mostra Firenze Palazzo Medici Riccardi 10 luglio – 1° novembre 1998. Florenz 1998, S. 41 f.; James B. Heidel: The Monastery of Deir el Hawa and Associated Features, Architectural Studies. In: Pintaudi (Hg.): Antinoupolis II (wie Anm. 20), S. 301–354. 34  Johann M. Vansleb: Nouvelle Relation en forme de Journal, d’un Voyage fait en Egypte. Paris 1677, S. 386. Die Variationen der koptischen Schreibweise führt Calament: Révélation (wie Anm. 7), S. 54, Anm. 27, an.

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diesem Grund auch alle folgenden Reisenden, wie sie die Überreste der einstigen antiken Stadt historisch einzuordnen hatten und verbanden sie sofort mit dem ­angeblich dort verstorbenen Liebling Hadrians. Gerade Antinoupolis war in der Spätantike zudem zu einem Anziehungspunkt für eine Vielzahl an Asketen und Einsiedlern geworden, wie der um die Wende vom 4. zum. 5. Jahrhundert wirken­ de Mönch und spätere Bischof von Helenopolis Palladios zu berichten weiß. Er beschreibt, wie sich rings um die Stadt an die zwölfhundert Männer aufgehalten haben sollen, die in Klöstern, Klausen und besonders in den Felshöhlen der Berge um die Stadt lebten.35 Bevor Vansleb, Orléans oder Sicard sich aus diesem Grund in die antike Stadt führen ließen, besuchten sie alle zunächst die umliegenden Ge­ birge von Antinoupolis und bewunderten die in Form von Höhlenmalereien oder kleinen Felsenkirchen noch immer sichtbaren Zeugnisse der einstigen Anachore­ ten.36 Ein üblicher Besuch von Antinoupolis schloss sodann stets die Besichtigung von Grabstätten muslimischer Lokalprominenz und von muslimischen Erinne­ rungsorten ein, bevor man sich auf das Gelände der antiken Stadt begab. Sowohl Vansleb als auch Sicard konnten in dieser Zeit noch das orthogonale Straßenraster der Stadt mit weitgehend intakten Kolonnaden und stehenden Granit- und Mar­ morsäulen abgehen. Neben den vier monumentalen Zugangstoren zu der Stadt waren sie vor allem von einzelnen griechischen Inschriften fasziniert, die sie aus­ führlich in ihren Reiseberichten beschrieben.37 So entdeckte Vansleb eine Inschrift zu Ehren Marc Aurels und Claude Sicard widmete sich darüber hinaus sogar ein­ gehend einem Text für den römischen Herrscher Alexander Severus. Er beschreibt nicht nur ausführlich das Säulenmonument, auf dem er die Inschrift sah, sondern geht auch im Detail auf die Lesung sowie ihre Interpretation ein.38 Für spätere Reisende und besonders für die im Zuge des napoleonischen Mili­ tärmanövers in Ägypten anwesenden Gelehrten führten diese Schilderungen aller­ dings zu einer Abgrenzung der Stadt Antinoupolis von den übrigen ägyptischen Antikenarealen. Da es sich augenscheinlich um einen Ort der römischen Zeit han­ delte, war er nicht in den Kontext anderer Ruinenstätten einzubeziehen, die man für pharaonisch hielt. Prägnant bringt diese Ansicht der im Zuge der napoleoni­ schen Expedition mitreisende Dominique-Vivant Denon zum Ausdruck, der sich während seines Aufenthaltes in der Region dafür entschied, Hermupolis anstelle von Antinoupolis zu besuchen. Im Angesicht des zu dieser Zeit noch vorhandenen Pronaos des großen Thot-Tempels von Hermupolis formulierte er, nicht sehr neu­ gierig gewesen zu sein, nach Antinoupolis zu gehen. Monumente aus Hadrians Jahrhundert habe er nämlich bereits gesehen. Er habe aber vor Begierde gebrannt, 35 

Palladios, Historia Lausiaca 58. dazu vor allem Albert Gayet: L’exploration des nécropoles de la montagne d’Antinoe (fouilles exécutées en 1901–1902). Paris 1903. 37  Vgl. Vansleb: Nouvelle Relation (wie Anm. 34), S. 384–401; Claude Sicard: Oeuvres II. Rela­ tions et Mémoires Imprimés. Edition critique de Maurice Martin. Kairo 1982, S. 60–63, im Fol­ genden anhand des Nachdrucks bei Bernand: Portes (wie Anm. 4), S. 23–29, zitiert. 38  Bernand: Portes (wie Anm. 4), S. 27  f. 36  Siehe

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Hermupolis aufzusuchen. Denn jenseits der Pyramiden sei der dortige Pronaos das erste Monument der alten ägyptischen Baukunst, das er zu Gesicht bekom­ me.39 Das Interesse der Reisenden vor dem 19. Jahrhundert erstreckte sich somit ei­ nerseits auf die Hinterlassenschaften christlicher Mönche der Spätantike. Ande­ rerseits war man von der zu dieser Zeit noch sichtbaren Monumentalarchitektur fasziniert, die man ausführlich untersuchte und sogleich in ihren griechisch-römi­ schen Kontext einordnete. In diesem Zusammenhang ergeben sich für die Wahr­ nehmung von Antinoupolis jenseits der eigentlichen Eindrücke des heute weit­ gehend verlorenen Stadtbildes allerdings auch Hinweise auf die Sicht der Ein­ heimischen auf die ihnen benachbarten Ruinen. So lässt sich im Kontext der Beschreibung größerer Monumentalarchitektur nämlich auch die Interaktion zwi­ schen Reisendem und Reiseführer nachvollziehen. Claude Sicard fragte etwa im Angesicht der monumentalen Zugangsportale zu der Stadt seinen Führer nach dessen Wissen um die Bauten. Dieser nannte ihm dabei die Bezeichnungen der Einheimischen für die Monumente. Ein Tor trage demnach den Namen „Vater der Hörner“, ein anderes sei als „Schloss“ bekannt. Jenes Portal, das am Nil liege und in Richtung Hermupolis gerichtet sei, werde zudem „Bootshalle der Prinzessin“ genannt.40 Gerade durch diese zunächst einmal nichtssagenden Namensgebungen eröffnen sich Einblicke in die Vorstellungswelt der Einheimischen, wie vor allem der Blick auf die arabischen Reiseberichte näher verdeutlicht.

Die lokale Perspektive auf Antinoupolis Anders als die Europäer waren die arabischen Reisenden zwischen dem 9. und dem 15. Jahrhundert sicherlich auch aufgrund ihrer sprachlichen Verbundenheit mehr an den Erzählungen der Einheimischen über die Orte interessiert als an der dort vorhandenen Architektur. In diesem Zusammenhang finden denn auch die Namensgebungen für die Tore ihre Erklärung, die Sicard von seinem Reiseführer erfuhr. So berichten gleich mehrere arabische Geschichtsschreiber in unterschied­ licher Ausführlichkeit von der Legende des Königs Ashmun, der für seine Töch­ ter einen Tunnel unter dem Nil hindurch gegraben haben soll, um ihnen von ­Antinoupolis aus den Besuch im Sonnentempel beziehungsweise der Sonnenkir­ che von Hermupolis zu ermöglichen. Beide Orte werden hier als Doppelresidenz ­eines Königs aufgefasst, dessen Name eine Reminiszenz an die koptische bezie­

39  Vivant

Denon: Voyage dans la Basse et la Haute Égypte pendant les Campagnes du Général Bonaparte. Bd. 1. London 1802, S. 146 f.: „Je n’étois pas très curieux de visiter Antinoé; J’avois vu des monuments du siecle d’Adrien […]. mais je brûlois d’aller à Hermopolis, où je savois qu’il y avoit un portique célebre. […] Je soupirois de bonheur: c’étoit […] le premier fruit de mes travaux; en exceptant les pyramides, c’étoit le premier monument qui fût pour moi un type de l’antique ­architecture Egyptiènne […].“ 40  Bernand: Portes (wie Anm. 4), S. 27.

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hungsweise arabische Bezeichnung von Hermupolis, Schmun/al-Ashmunein, dar­ stellt.41 Ihre Verbindung manifestiert sich der Legende nach geradezu in einem unter dem Nil hindurchführenden Gang, der auf das prächtigste ausgeschmückt ge­ wesen sein soll. Der sich erkennbar an dem arabischen Namen von Hermupolis orientierende König Ashmun gilt dabei als Nachfahre von Misr, einer Personifi­ kation des Landes Ägypten selbst, die wiederum von dem biblischen Noah als ­Urvater abstammt. Der Geschichtsschreiber Ibn Duqmaq verweist deutlich auf den koptischen Ursprung der Legende von Ashmun.42 Wie bereits in paganer Zeit, als Hermupolis nach lokaler Vorstellung den Ursprung der Welt markierte, an dem einst der Urhügel aus dem Urmeer emporgestiegen und der Gott Re ge­ boren worden sein soll, galt der Ort also auch im christlichen Kontext als eine sehr alte Stadt, die sogar mit einem der biblischen Urväter verbunden war.43 Die Namensgebung der Monumente als „Schloss“ oder „Bootshalle der Prinzessin“ gewinnt im Rahmen dieser Erzählungen an Sinn. So wurden die Ruinen von den Einheimischen für Sitze einstiger Könige gehalten. Sie leiteten dies offenbar aus ihrer eigenen Lebenswelt ab, in der sie selbst Teil eines Sultanats waren. Nach ­al-Maqrizi gehe beispielsweise auch die Errichtung einer bestimmten Säule in Hermupolis auf einen König namens Adim zurück.44 In der arabischen Tradition waren Hermupolis und Antinoupolis auf das engste miteinander verbunden und Teil einer monarchischen Lebenswelt. Doch auch andere Erzählungen tauchen im Kontext der Ruinen auf. So gilt An­ tinoupolis nach einigen arabischen Erzählern als Stadt der Sänger beziehungswei­ se Stadt der Magier. Diese Zuschreibung wird dabei vor allem aufgrund der auch im 15. Jahrhundert offenbar noch immer vorhandenen zahlreichen Marmorstatu­ en auf dem vormaligen Stadtgelände vorgenommen. Nach Ansicht der Einheimi­ schen scheint es hier zu einer Versteinerung der einst in Antinoupolis lebenden Bewohner gekommen zu sein.45 Ähnliche Geschichten sind zudem auch für ­Hermupolis überliefert. So hätten auch hier einst Magier gelebt. Auch gebe es hier 41  Siehe

die Ausführungen von Ibn Iyas bei Fathy/Abdelgawad: Al Ashmunin (wie Anm. 25), S. 19. Die Legende scheint zuerst im 14. Jahrhundert von Ibn Duqmaq berichtet worden zu sein. Vgl. auch ihre weitere Ausschmückung von al-Maqrizi, ebd., S. 15, S. 17; dazu Kramers: AlUšmunain (wie Anm. 23), S. 156. Zum Ortsnamen Schmun ( ) siehe auch Werner Vycichl: Koptische Quellen zur Topographie. In: Roeder (Hg.): Hermopolis (wie Anm. 23), S. 136–141, hier: S. 136 f. 42  Vgl. dazu die arabischen Beschreibungen der Stadt bei Fathy/Abdelgawad: Al Ashmunin (wie Anm. 25), S. 2, S. 4, S. 10, S. 16 f., S. 19. Wenn Pseudo Clemens, Recognitiones X, 24, 1–2 daher in Hermupolis das Grab des Hermes verortet, konnte sich dies für Pagane auf Hermes Trismegistos und für Christen auf Ashmun beziehen. 43  Zum paganen Mythos der Weltentstehung in Hermupolis vgl. Kurt Sethe: Amun und die acht Urgötter von Hermopolis. Eine Untersuchung über Ursprung und Wesen des ägyptischen Göt­ terkönigs. Berlin 1929, S. 35–119. 44  Fathy/Abdelgawad: Al Ashmunin (wie Anm. 25), S. 17. 45  Siehe die Beschreibung von Yaqut ar-Rumi bei Calament: Révélation (wie Anm. 7), S. 80, die, S. 78–82, noch auf weitere arabische Berichte eingeht.

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zahlreiche Inschriften, die die Eigenschaften von Talismanen besäßen, wie der Ge­ schichtsschreiber Ibn Iyas erzählt.46 Am Stadttor befinde sich ferner eine Gans aus Bronze, die krähe und mit den Flügeln schlage, sobald ein Fremder die Stadt betreten wolle. Die Einheimischen wüssten daher sofort, wenn sich jemand der Stadt nähere und könnten dadurch frühzeitig entscheiden, wie mit ihm zu verfah­ ren sei.47 Den antiken Ruinen von Antinoupolis und Hermupolis wurde von den Bewohnern der umliegenden Dörfer somit eine mythische Aura verliehen, die viele Monumente mit übernatürlichen Vorgängen verband. Die Monumentalität antiker Säulen oder Tore, die von der früheren Pracht der Stadtbilder zeugte, wur­ de zudem mit dem Wirken pseudo-historischer Einzelpersonen verbunden, denen als Monarchen, Prinzen und Prinzessinnen ein Status zugesprochen wurde, wie er auch der Lebenswelt der gegenwärtigen lokalen Bevölkerung entsprach.

Fazit Für die Frage nach den mentalen Stadtbildern des antiken Antinoupolis ergeben sich aus diesem Befund interessante Beobachtungen. So griffen die Europäer durch ihre Kenntnis der antiken Geschichte das Bild von Antinoupolis als einer von den Römern gegründeten griechischen Polis in Mittelägypten auf, die daher von ihrer umliegenden Region abzugrenzen sei. Als Polis sei Antinoupolis in eine völlig andere Lebenswelt einzuordnen und im Gegensatz zu ihrer Nachbarstadt Hermupolis ganz und gar nicht als ägyptisch zu bezeichnen.48 Diese Dichotomie hatte Folgen für die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Ort, die noch immer nachwirken. Antinoupolis gilt demnach oftmals als Forschungsgegenstand einer griechisch-römisch orientierten Altertumswissenschaft, der von der Ägypto­ logie im Gegenzug nur wenig Aufmerksamkeit geschenkt wird. Das unmittelbar benachbarte Hermupolis gerät dagegen jenseits ägyptologischer und papyrologi­ scher Forschungskreise nur selten in den Blick von Forschern der griechisch-­ römischen Zeit. Zu ägyptisch mutet dieser Ort an, als dass eine nähere Auseinan­ dersetzung mit ihm zu lohnen scheine.49 So wirken die römischen Bemühungen,

46 Siehe Fathy/Abdelgawad: Al Ashmunin (wie Anm.  25), S. 19; ebd., S. 1–27; Kramers: AlUšmunain (wie Anm. 23), S. 154–157, auch generell zu Hermupolis in der arabischen Literatur. 47  Vgl. Fathy/Abdelgawad: Al Ashmunin (wie Anm. 25), S. 15, S. 17; Mélanie Flossmann-Schüt­ ze: „L’abrégé des merveilles“ and „L’Égypte de Murtadi“: El-Ashmunein in Medieval Hermetic Arabic Writings. In: dies. u. a. (Hg.): Weltentstehung (wie Anm. 7), S. 29–42, hier: S. 34. 48  So gilt die Stadt immer wieder als Bollwerk oder Bastion griechischer Kultur in der Region, wie z. B. Bell: Antinoopolis (wie Anm. 23), S. 136, oder Kühn: Antinoopolis (wie Anm. 13), S. 2, betonen. 49 Erst seit Rosario Pintaudi (Hg.): Antinoupolis I. Florenz 2008, wird Antinoupolis in einen universalistischen Blick genommen. Zu Hermupolis vgl. nur die Klage von Adam Lukaszewicz: Les édifices publics dans les villes de l’Égypte romaine. Problèmes administratifs et financiers. Warschau 1986, S. 23, dass den Zentralorten der ägyptischen Gaue nicht dieselbe Aufmerksam­ keit geschenkt werde wie den griechischen Poleis.

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Antinoupolis als Muster einer griechischen Polis im ägyptischen Binnenland er­ scheinen zu lassen, weiterhin nach. Anhand der arabischen Reiseberichte wird hingegen deutlich, dass die Untersu­ chung des antiken Antinoupolis nicht ohne die Berücksichtigung des benachbar­ ten Hermupolis erfolgen kann. Beide Orte standen offenbar bis weit in die arabi­ sche Zeit hinein in einem signifikanten Austausch miteinander und unterschieden sich in ihrer Lebenswelt offenbar nicht so sehr voneinander, wie es die Sicht der ersten Europäer zunächst nahelegt.50 Die idealtypische Dichotomie zwischen einem ägyptischen Hermupolis und einem griechisch-römischen Antinoupolis ­ ­erweist sich in ihrer Absolutheit daher als nicht tragfähig. Der Durchgang durch die nachantike Geschichte des Siedlungsgebietes von Antinoupolis verdeutlicht seine vielfältige Funktionalisierung als Rohstoffdepot, Ziel gelehrter Reisender, Fundgrube für Zeugnisse der Vergangenheit und als ­Fläche moderner Besiedlung. Handelte es sich bei Antinoupolis noch zur Zeit der arabischen Eroberung Ägyptens um den wichtigsten Ort der Region, so büßte die Stadt zuerst ihre regionale Zentralortfunktion gegenüber dem Nachbarort al-­ Ashmunein ein. Darüber hinaus erwuchsen ihr in Mallawi und al-Minya sodann Konkurrenten, die langfristig zu den neuen Ballungszentren für ganz Mittelägyp­ ten wurden. Ein sukzessiver Bedeutungsverlust mit einem steten Bevölkerungs­ rückgang scheint sich dabei bereits ab dem 9. Jahrhundert allmählich abgezeichnet zu haben. Insbesondere im 10. Jahrhundert belegen massive Verbauungen von ­Spolien aus Antinoupolis in Kairo, Mallawi und al-Minya die sich schon länger abzeichnende Bedeutungslosigkeit der Stadt als Lebensort, bis die antiken Sied­ lungskerne spätestens im 14. Jahrhundert komplett aufgegeben worden zu sein scheinen. Die verbliebene Bevölkerung lebte zu diesem Zeitpunkt bereits in den Dörfern im Umkreis des Ruinenfeldes. Als die europäischen Reisenden dann An­ tinoupolis besuchten, war die antike Stadt schon längst verlassen. Durch die koptischen Klöster blieb dennoch die Erinnerung an die einstige Be­ deutung der Stadt erhalten. Sie überlieferten nicht nur die Kunde der christlichen Vergangenheit des Ortes, an der die europäischen Reisenden besonders interes­ siert waren. Sie bewahrten auch Geschichten aus tief verankerten lokalen Vor­ stellungen, die Antinoupolis eng an die mythische Tradition der Nachbarstadt banden und dabei mit Gründergestalten wie Noah oder Misr auf für die eigene Lebenswelt noch immer aktuelle pseudo-historische Figuren verwiesen. Möchte man den Bedeutungsgehalt der antiken Stadt Antinoupolis somit über die Zeit in all ihren Facetten verstehen, so genügt es nicht, sich die europäischen oder arabi­ schen Perspektiven auf die Stadt lediglich isoliert zu eigen zu machen. Vielmehr vermag es erst der umfassende Blick auf ganz verschiedene mentale Stadtbilder, den Wert der antiken Überreste für auswärtige Reisende, aber auch für die in den umliegenden Gebieten lebende Bevölkerung in seinem gesamten Ausmaß über die Zeit herauszustreichen. Nur auf diese Weise bleibt die schon seit langem ver­ 50  Dies

bestätigt sich auch anhand antiker Befunde. Vgl. etwa James G. Keenan: „Die Binnen­ wanderung“ in Byzantine Egypt. In: GRBS 42 (2001), S. 57–82.

„Und doch stand hier einst eine Stadt“

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schwundene antike Stadt Antinoupolis zumindest im kulturellen Gedächtnis so­ wohl des Westens als auch der arabischen Welt weiterhin lebendig.

Abstract The chapter considers several examples of European and Arab travel reports writ­ ten before the 19th century in order to better understand the meanings given to the ancient monuments of Antinoupolis in Middle Egypt by both locals and for­ eigners in their respective historical contexts. Antinoupolis, once founded by the Roman ruler Hadrian in 130 AD in close proximity to the important regional town of Hermupolis, was considered a Greek polis in antiquity and thus distin­ guished itself from the seemingly Egyptian sites of the region. The city remained important long after the Arab conquest, and it was not until the Arabs founded the two cities of al-Minya and Mallawi that its importance gradually dwindled. By the time the first European travellers arrived in Antinoupolis in the 16th and 17th centuries, the ancient city had long since been abandoned and the local popu­ lation shrunk to the size of small villages. The Europeans knew about the ancient history of Antinoupolis and therefore immediately placed it in an interpretative framework that corresponded to that of antiquity. In this respect, they markedly differed from the local population. The latter not only placed the ancient ruins in a mythical context by interpreting the statues, which were still visible in the 15th century, as fossilized human beings and the existing inscriptions as talismans. They also gave the monuments a monarchical past that corresponded to their own life in a sultanate and was populated with pseudo-historical kings.

Jonathan Ethier/Christian Ressel/Birte Ahrens/ Enkhtuul Chadraabal/Sampildondov Chuluun/ Martin Oczipka/Henny Piezonka Verlassene Städte der Steppe Zu Geschichte, Rollen und Wahrnehmung frühneuzeitlicher urbaner Orte in der Mongolei Einleitung Die Abwanderung der Menschen vom Land in größere Zentren, aber auch die gewaltsame Zerstörung von Siedlungen und Städten haben die Weltgeschichte seit Jahrtausenden geprägt. So sind verlassene Städte oder vergessene Orte in ländlichen Regionen entstanden, deren ursprüngliche Bedeutung ganz unterschiedlich fortwirken kann. Urbane Zentren in nomadisch geprägten Gesellschaften weisen Besonderheiten auf, was ihre gesellschaftlichen Rollen und soziokulturellen Bedeutungen betrifft, da sie durch eigene Dynamiken von Urbanisierungs- und Deurbanisierungsprozessen charakterisiert sein können.1 Städte und ihre Ruinen sind dabei integraler Bestandteil sowie physische Manifestationen einer langen Geschichte, die allzu oft auf Aspekte einer dichotomen Beziehung zwischen sesshaften und nomadischen Bevölkerungsteilen reduziert wird. In der Mongolei, die im Zentrum des durch nomadische Weidewirtschaft geprägten Steppengürtels Innerasiens liegt, waren und sind Städte seit mehr als ­einem Jahrtausend fester Bestandteil gesellschaftlicher Formationen. Verlassene urbane Plätze aus verschiedenen Epochen schreiben Erinnerungen an verlorene Reiche und längst vergangene Bündnisse in die Kulturlandschaft ein. Die Be­ ziehungen zwischen sesshafter städtischer und mobiler weidewirtschaftlicher Le1 

Anatoly M. Khazanov: Nomads and Cities in the Eurasian Steppe Region and Adjacent Countries: A Historical Overview. In: Stefan Leder/Bernhard Streck (Hg.): Shifts and Drifts in Nomad-­ Sedentary Relations. Wiesbaden 2005, S. 163–178. Wir danken der Gerda Henkel Stiftung für die Förderung des Projektes „Abandoned Cities in the Steppe: Roles and perception of Early ­Modern religious and military centers in nomadic Mongolia“ (AZ 01/LC/19), die die hier vor­ gestellten Forschungen ermöglicht. Des Weiteren gilt unser Dank unserer Koordinatorin Dr. Ariunchimeg Khasbagana, Ulaanbaatar, für stetige und verlässliche organisatorische Unterstützung. Prof. Dr. Martin Zimmermann, München, gebührt unser Dank für die Möglichkeit, diesen Beitrag im vorliegenden Sammelband zu veröffentlichen. https://doi.org/10.1515/9783111071848-010

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Abbildung 1: Das Untersuchungsgebiet am Orkhon in der zentralen Mongolei mit Forschungs­ objekten (gelbe Markierungen) und weiteren im Text erwähnten Plätzen (weiße Signaturen); Lage der Untersuchungsregionen in der Mongolei (Karteneinsatz); Abbildung: Jonathan Ethier, Henny Piezonka, CAU Kiel; Kartengrundlage: Google, © CNES/Airbus, Maxar Technologies.

bensweise stellten dabei über Jahrhunderte entscheidende kulturelle, ökonomische und politische Faktoren dar. Im 21. Jahrhundert gewannen dieses Spannungsfeld der Landesgeschichte sowie die damit verbundenen sichtbaren Überreste aus der Vergangenheit zunehmend an Bedeutung für die Aushandlung der gegenwärtigen und zukünftigen Konzeption der mongolischen nationalen Identität.2 Die Epoche, in der viele moderne Städte der Mongolei ihren Ursprung nahmen, ist die Periode der mandschurischen Herrschaft vom 17. bis zum frühen 20. Jahrhundert. Nachfolgende politische Entwicklungen führten zur Aufgabe oder bewussten Zerstörung vieler in dieser Zeit entstandener ortsfester urbaner Siedlungen. Als ehemalige Zentren gesellschaftlichen Lebens, aber auch als Knotenpunkte in überregionalen Beziehungen und Netzwerken in Kulturlandschaft und mental maps sind sie weiterhin prägender Bestandteil kultureller Identität des Landes und der Bevölkerung. Nomadischer Pastoralismus, die Rezeption chinesischer und tibeto-buddhistischer Einflüsse sowie die Folgen der restriktiven sozialistischen Staatsdoktrin nach Gründung der Mongolischen Volksrepublik bestimmen das kollektive Gedächtnis im Feld der kulturellen Identität.3 2  Ole Bruun/Li Narangoa (Hg.): Mongols from Country to City. Floating Boundaries, Pastoralism and City Life in the Mongol Lands. Kopenhagen 2006; Caroline Humphrey/David Sneath: The End of Nomadism? Society, State and the Environment in Inner Asia. Durham 1999. 3  Tsultemin Uranchimeg: A Monastery on the Move. Art and Politics in Later Buddhist Mongolia. Honolulu 2020; Morris Rossabi: From Yuan to Modern China and Mongolia. The Writings of

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Seit 2019 widmet sich ein deutsch-mongolisches Forschungsprojekt unter der gemeinsamen Leitung der Universität Kiel, der Hochschule für Technik und Wirtschaft Dresden und der Mongolischen Akademie der Wissenschaften der Unter­ suchung von zentralen Aspekten von Urbanisierung in der frühneuzeitlichen Mongolei. Im Zentrum der Untersuchungen stehen Ursprung und Konstruiertheit urbanen Lebens sowie die Frage, wie dessen Überlieferung im kulturellen Gedächtnis bis in die heutige Zeit fortwirkt. Buddhistische Klostersiedlungen und vermutliche Militärlager während der mandschurischen Qing-Dynastie (1636– 1911) in der Orkhon-Region der Zentralmongolei werden in den Blick genommen (Abb. 1) und deren Verflechtung bezüglich ihrer Rolle, ihrer Wahrnehmung und aktuellen Bedeutung wird vergleichend nachgezeichnet. Dies ermöglicht eine Neuinterpretation verlassener städtischer Orte in der Mongolei. Ein dezidiert interdisziplinärer Ansatz kombiniert archäologische, geografische, historische und ethnografische Methoden, um die wirtschaftlichen, religiösen und sozialen Netzwerke, in die die urbanen Stätten während ihres Bestehens eingebunden waren, zu ergründen. Ferner gehen wir der Frage nach, inwieweit die urbanen Zentren S­ puren in der geistigen Landschaft sowie in der Selbstwahrnehmung der lokalen Bevölkerung hinterlassen haben und somit zu deren Identität beitragen. Der vorliegende Beitrag widmet sich der Darstellung und Diskussion erster Forschungsergebnisse aus dem Projekt zur Idee von Stadt und Urbanität im pastoralnomadischen Kontext, zur Bedeutung der Stadt auf lokaler und überregionaler Ebene und zu den lost cities als Ruinen im Wandel. Ruinen spielen eine besondere Rolle als Teil des kulturellen Gedächtnisses, aber sie sind auch Teil der Natur, da Vegetation und Erosion die gebauten Überreste langsam wieder zum Hintergrund der pastoralen Szenerie werden lassen.4 Es wird gezeigt, wie klösterliche urbane Komplexe einen zentralen Teil städtischer Netzwerke darstellten, die bei politischen Entscheidungen, wirtschaftlichen Verflechtungen, militärischer Präsenz und religiösen Angelegenheiten einen wichtigen Platz einnahmen, und wie diese ursprüngliche Bedeutung bis in die heutige Rezeption, Wertschätzung und Pflege dieser Orte weitertransportiert wird. Dagegen scheinen die Überreste einstiger militärischer Plätze, die aufgrund unserer neuen archäologischen Untersuchungen nun in die Frühe Neuzeit datiert werden können, nach den ersten Ergebnissen in der Erinnerungskultur der heutigen nomadischen Bevölkerung als historische Orte keine Rolle mehr zu spielen.

Morris Rossabi. Leiden/Boston 2014; Christopher Kaplonski: The Lama Question. Violence, Sovereignty, and Exception in Early Socialist Mongolia. Honolulu 2014; Christopher Kaplonski: Truth, History and Politics in Mongolia. London/New York 2004. 4  Zum Thema Ruinen und ihrer soziokulturellen Bedeutung siehe z. B. Alain Schnapp: Une histoire universelle des ruines. Des origines aux lumières. Paris 2020.

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Urbanität in der nomadischen Mongolei Konzeptionen von Stadt im pastoralnomadischen Kontext Obwohl es in der mongolischen Geschichte und heute mehr denn je zahlreiche Beispiele für dauerhafte Siedlungen mit zentralörtlichen Funktionen gibt, stößt die Verwendung der Begriffe „Stadt“ und „Urbanismus“, wie sie aus der west­ lichen, sesshaften Sichtweise definiert werden, auf theoretisch-methodische Pro­ bleme, die es durch ein Hinterfragen vorgefasster Perspektiven zu lösen gilt. In einem Land, das durch die mobile Lebensweise von Hirtennomaden geprägt ist, haben sich Stadtentwürfe und -funktionen den soziokulturellen und politischwirtschaftlichen Gegebenheiten entsprechend konstituiert und entwickelt, wobei einige der am tiefsten greifenden Veränderungen im Einklang mit den religiösen Praktiken des Buddhismus erfolgten.5 Wie können Stadt und Urbanität in einem solchen nomadischen Kontext definiert werden, und inwieweit lassen sich bestehende Konzepte im Sinne von allgemeingültigen Definitionen mit kulturübergreifenden Elementen überhaupt übertragen und anwenden? Bei der Definition der Begriffe „Stadt“ und „urban“ dominieren in der Literatur gemeinhin Ansätze, beide Begriffe als austauschbare Synonyme anzusehen und entsprechend zu verwenden.6 Daraus ergeben sich jedoch Probleme für den historisch-archäologischen Kontext, da der Begriff „Stadt“ eine funktionale Heterogenität spiegelt und einer physischen Manifestation von Ansiedlungen auf einem Raum entspricht. Wie am Beispiel des Klosters von Baruun Khüree zu zeigen sein wird, erfüllte dieser zunächst mobile monastische Komplex bereits in den ersten Jahrzehnten nach seiner Gründung zahlreiche dezidiert städtische Funktionen, er wurde jedoch erst im späten 18. Jahrhundert – also mehr als einhundert Jahre nach der Gründung – zu einer ortsfesten Siedlungsstruktur.7 In ähnlicher Weise ist die Anwendung des Begriffs „urban“ sowie die Anwendbarkeit von aktuellen Urbanisierungskonzepten für den mongolischen Kontext problematisch.8 Dies gilt einerseits, weil Aspekte nomadischer Mobilität oft zu 5  Zur Rolle von Religion in der mongolischen Geschichte als Einflussfaktor auf Entscheidungen in Politik, Wirtschaft und anderen Lebensbereichen siehe z. B. Jonathan Ethier u. a.: Nodes of Connectivity: The Role of Religion in the Constitution of Urban Sites in Nomadic Inner Asia. ROOTS publication series, eingereicht; Informationen zur Rolle der Astronomie in diesem Kontext bei Thomas T. Allsen: Culture and Conquest in Mongol Eurasia. Cambridge 2001, S. 161–175, S. 204–207. 6  So stellt Michael E. Smith in einem aktuellen Artikel die Frage, wie Archäologen Städte identifizieren und definieren können, wobei er sowohl city als auch urban mehr oder weniger synonym verwendet. Michael E. Smith: How Can Archaeologists Identify Early Cities? Definitions, Types, and Attributes. In: Manuel Fernández-Götz/Dirk Krausse (Hg.): Eurasia at the Dawn of History. Urbanization and Social Change. Cambridge 2016, S. 153–168. 7  Don Croner: Illustrated Guidebook to Locales Connected with the Life of Zanabazar First Bogd Gegeen of Mongolia. North Charleston, SC 2006, S. 14. Eine vergleichbare Dynamik zeigt sich an der mobilen ­Geschichte von Urga, der heutigen Hauptstadt Ulaanbaatar; siehe Tsultemin Uranchimeg: A Monastery on the Move. Art and Politics in Later Buddhist Mongolia. Honolulu 2020. 8  Siehe z. B. Jan Bemmann/Susanne Reichert: Karakorum, the First Capital of the Mongol World Empire: An Imperial City in a Non-Urban Society. In: Asian Archaeology 4 (2021), S. 121–143.

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wenig einbezogen werden, andererseits, weil viele Urbanisierungskonzepte auf Aktivitäten im städtisch-urbanen Raum angewendet werden, ohne periphere Netzwerke und Einflüsse in das bestehende städtische System einzubeziehen.9 In Bezug auf Letzteres argumentieren Anthony Leeds und John R. Weeks, dass das Missverständnis aus einer postulierten Dichotomie von „ländlich“ und „städtisch“ herrühre, da Urbanität eigentlich den Kern oder die Lokalität eines Systems bezeichne, das – unabhängig von Größe und Dichte der Bevölkerung – verschiedene Aktivitäten wie Austausch, Umverteilung, Kommunikation, kulturelle Emanzipation, Politik und Gesetzgebung und vieles mehr steure und erleichtere.10 Für eine Annäherung an und Definition von urbanen Funktionen in der Mongolei bieten die drei Kategorien von Leeds in seinem Entwurf zur „sozialen Urbanisierung“ einen nützlichen Referenzrahmen: (1) Lokalitäten, (2) technologische Komponenten und (3) Institutionen.11 So beziehen sich Lokalitäten in seiner Auslegung auf spezifische Spezialisierungen, die einen ökologischen oder soziokulturellen Ursprung haben. Das bestehende städtische System und die darin lebende Gesellschaft werden demnach durch die Differenzierung ihrer Funktionen oder Lokalitäten charakterisiert. Was die technologischen Komponenten betrifft, so ­implizieren sie das Vorhandensein verschiedener materieller Objekte, die mit spezifischen Aufgaben, Arbeitstätigkeiten und der Entwicklung von Kenntnissen verbunden sind, die für die Ausübung und Verbesserung von Fähigkeiten und Tätig­keiten vor Ort erforderlich sind. Schließlich stellt die dritte von Leeds vor­ geschlagene Kategorie, die Institutionen, eine Trennung von mehr oder weniger geordneten Handlungsweisen nach Funktionen dar, wie beispielsweise Verwaltungsbereiche, religiöse Einrichtungen, ein Bildungssystem, aber auch die Rollen und Funktionen einzelner Akteure. Da die Kategorien von Leeds einerseits eigenständige städtische Funktionen darstellen und andererseits enge Verflechtungen untereinander aufweisen, indem sie sich gegenseitig beeinflussen, interagieren die Hauptakteure urbaner Prozesse nicht nur mit den einzelnen städtischen Komponenten, sondern auch mit der von ihnen kontrollierten Region sowie mit anderen urbanen Akteuren im größeren Maßstab, sei es auf lokaler, regionaler oder überregional-internationaler Ebene. Urbanität konstituiert sich dabei nicht in Form jeder Kategorie für sich genommen, sondern als Interaktion zwischen diesen urbanen Elementen. Das Beispiel der bereits erwähnten buddhistischen Klostersiedlung Baruun Khüree in der Mongolei zeigt, dass ihre primäre Funktion spiritueller Natur sein kann, was sich wiederum auf die soziokulturelle Dynamik auswirkt, die von ihr ausgeht. Einerseits ist anzunehmen, dass die urbanen Siedlungsstrukturen kultu-

 9 

Ethier u. a.: Nodes of Connectivity (wie Anm. 5). Leeds: Cities, Classes, and the Social Order. Ithaca/London 1994; John R. Weeks: Defining Urban Areas. In: Tarek Rashed/Carsten Jürgens (Hg.): Remote Sensing of Urban and Suburban Areas. Dordrecht u. a. 2010, S. 33–46. 11  Anthony Leeds: Forms of Urban Integration: „Social Urbanization“ in Comparative Perspective. In: Urban Anthropology 8 (1979) 3/4, S. 227–247. 10  Anthony

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relle Produktionen sind, die funktionale Erfordernisse und symbolische Botschaften zum Ausdruck bringen. Andererseits beschränkt sich Urbanität dabei nicht auf religiöse Aktivitäten, sondern bündelt auch politische und wirtschaftliche Kräfte, die die Siedlung als Ort der Entscheidungsfindung mit einem Einflussbereich etablieren, der über ihre physische Begrenzung hinausgeht; als Teil des städtischen Netzwerks.12 Städte in der Mongolei – Eine wechselvolle Geschichte Vom Reich der Xiongnu (209 v. Chr.–93 n. Chr.) über das uighurische Khaganat (744–840 n. Chr.) bis hin zum Mongolischen Weltreich (1206–1368  n. Chr.)13 haben sich zentrale Orte und Städte konstituiert, die große Teile des jeweiligen umliegenden Territoriums kontrolliert und die Macht vor Ort gebündelt haben, bevor sie schließlich verschwunden sind. Mehr und mehr in Vergessenheit geraten, haben sie vielfach dennoch Spuren in Form von Ruinen und Erinnerungen in der physischen und mentalen Landschaft hinterlassen.14 Nach dem Zusammenbruch des Mongolischen Weltreiches und der darauffolgenden Herrschaft der chinesischen Ming-Dynastie fiel das von mongolischen Gruppen bewohnte Gebiet im Laufe des 17. Jahrhunderts unter die Herrschaft der mandschurischen Qing-­ Dynastie, die eine starke Expansion vorantrieb. Daraus resultierte die Teilung der Region in die sogenannte Innere und die Äußere Mongolei. Während die Innere Mongolei, heute ein autonomes Gebiet der Volksrepublik China, allmählich vom Mandschu-Reich absorbiert wurde, wurde die Äußere Mongolei, die in ihrer Ausdehnung in etwa dem heutigen Staat Mongolei entspricht, durch die Beschränkung der Handelswege und rigide administrative Kontrolle durch das zuständige mandschurische Verwaltungsamt zunehmend von der Außenwelt isoliert und diente als militärische Pufferzone zum russischen Imperium im Norden. Obwohl in dieser Zeit verschiedene Arten von permanenten Siedlungen entstanden, gehörten buddhistische Klosterzentren zu den erfolgreichsten, eine Folge der Qing-Politik, die darauf abzielte, die Mongolen durch die Bekehrung zum ­tibetischen Gelugpa-Buddhismus zu befrieden.15 Folglich wurden die buddhistischen Klöster im 16. und 17. Jahrhundert zu Epizentren permanenter Siedlungsweise und urbaner Strukturen auf mongolischem Boden. Wenn wir also davon ausgehen, dass sich aus unterschiedlichen historischen Kontexten und politischen Ereignissen unterschiedliche Formen sozialer Urbani12  Deborah Pellow/Denise Lawrence-Zúñiga: Built Structures and Planning. In: Donald M. Nonini (Hg.): A Companion to Urban Anthropology. Malden u. a. 2014, S. 85–102, hier: S. 85. 13  Das Datum 1368 bezieht sich auf die Yuan-Dynastie (1271–1368  n. Chr.). 14  Für weitere Informationen zur allgemeinen Geschichte der Mongolei siehe z. B. Michael Weiers (Hg.): Die Mongolen. Beiträge zu ihrer Geschichte und Kultur. Darmstadt 1986; William W. Fitzhugh/Morris Rossabi/William Honeychurch (Hg.): Genghis Khan and the Mongol Empire. Washington D.C. 2009; Jutta Frings (Hg.): Dschingis Khan und seine Erben. München 2005. 15  Die Gelugpa, auch als Gelbmützen-Schule bekannt, hat sich zur einflussreichsten Strömung innerhalb des tibetischen Buddhismus entwickelt und untersteht dem Dalai Lama.

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sierung ergeben, weist die Stadtentwicklung in der Mongolei zur Zeit des mandschurischen Einflusses eine Reihe von Besonderheiten auf. Um die Urbanisierungsprozesse in der Steppe und ihre historischen Umstände besser nachvollziehen zu können, müssen die Dynamiken berücksichtigt werden, die entscheidende Auswirkungen auf die Entstehung und Entwicklung urbaner Knotenpunkte in der Äußeren Mongolei hatten: (1) Die Verbreitung des Buddhismus ab dem s­ päten 16. Jahrhundert und (2) Konflikte mit den westmongolischen Oirat/Zungaren,16 die einerseits Mobilität erforderten und förderten, andererseits zu neuen Siedlungspunkten durch militärische Präsenz führten. Einige Jahrzehnte vor dem politischen Aufstieg der Mandschuren und der Ausrufung der Qing-Dynastie im Jahr 1644 begannen einflussreiche mongolische Fürsten damit, das sogenannte Duale Prinzip wiederzubeleben, die politisch-religiöse Allianz zwischen säkularer Macht und dem tibetischen Buddhismus, die bereits unter den Eliten der Yuan-Dynastie (1271–1368) vorgeherrscht hatte. Unter den Khalkh-Mongolen in den nördlichen Steppengebieten war diesbezüglich der Fürst Abdai Khan eine Schlüsselfigur, ein bedeutender politischer Anführer in der Abstammungslinie Dschingis Khans. Auf Anweisung des Dalai Lamas begann Abdai 1586 auf den Resten von Karakorum, der ehemaligen Hauptstadt des mittelalterlichen mongolischen Weltreiches, mit dem Bau der sogenannten Zuu-Tempel, die sich über die folgenden Jahrhunderte zur bedeutenden Klosteranlage Erdene Zuu im Orkhon-Tal entwickelten (Abb. 1). Abdai und seine Nachfolger waren große Förderer des Buddhismus und trugen erheblich zu dessen Verbreitung in den Khalkh-Gebieten bei. Dieser Linie entstammte eine der herausragendsten Persönlichkeiten der mongolischen Geschichte, Zanabazar (1635–1723), der zum Oberhaupt der buddhistischen Kirche im Khalkh-Gebiet erhoben wurde. Von 1649 bis 1651 studierte Zanabazar in Tibet unter dem Dalai Lama, erlangte den Titel Jebtsundamba Khutagt und wurde damit als „Lebender Buddha“ anerkannt. Er bekleidete den dritthöchsten Rang innerhalb des Gelugpa-Ordens und wurde zu einer führenden politischen Figur der Khalkh-Mongolen.17 Die Gründung einiger der bedeutendsten Klöster ist mit seiner Person verbunden, darunter 1639 seine Hauptresidenz Urga (aus der sich die heutige mongolische Hauptstadt Ulaan­baatar entwickeln sollte) sowie Baruun Khüree, Zanabazars erste eigene Klostergründung. Doch blieben diese klösterlichen Zentren zunächst mobil. Fortdauernde Konflikte bestanden zwischen den Khalkh und den westmongolischen Oirat, die zwischen dem späten 17. Jahrhundert und der Mitte des 18. Jahrhunderts mehrfach tief in die Gebiete der Khalkh eindrangen. Diese Konflikte 16 Der

Stammesverband der westmongolischen Oirat war zunächst alliiert mit der Adelslinie Dschingis Khans, doch Rivalitäten um die Herrschaft über alle Mongolen führten wiederholt zu Konflikten. Später wurden sie als Zungaren bekannt, die ein Reich kontrollierten, das sich vom Altai bis Xinjiang und nach Zentralasien erstreckte. 17 Siehe z. B. Croner: Guide (wie Anm. 7); Charles Bawden: The Jetsundamba Khutukhus of Urga. Wiesbaden 1961; Agata Bareja-Starzyńska: The Religious Authority of the First Jebzundamba of Mongolia (1635–1723). In: Johan Elverskog (Hg.): Biographies of Eminent Mongol Buddhists. Halle a. d. S. 2008.

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waren der Grund für die Unterwerfung der Khalkh unter den mandschurischen Kaiser 1691, doch hatten sie auch starke Auswirkungen auf die Urbanisierungsprozesse in der mongolischen Steppe. Die kriegerischen Feldzüge führten (a) zu Fluchtbewegungen und damit zu besonders hoher Mobilität, (b) zu Angriffen und zeitweiliger Aufgabe permanenter Siedlungspunkte, wie etwa des Klosters Erdene Zuu, und (c) zur Präsenz des mandschurischen Militärs, das an strategischen Orten in der Steppe Garnisonen errichtete, die teilweise auf eine längerfristige Nutzung und Besiedlung ausgelegt waren. Nach Ende der Konflikte in der Mitte des 18. Jahrhunderts wurden diese Truppen von der Frontlinie abgezogen und in einigen wenigen Garnisonsstädten wie Uliastai und Khovd konzentriert. Gleichzeitig war die Situation in Khalkh zunehmend von rigider Verwaltungspolitik und Beschränkungen des Handels gekennzeichnet.18 Vieles deutet darauf hin, dass erst in dieser politisch stabileren Lage und im Zuge der gleichzeitigen Förderung des Buddhismus durch die mandschurischen Machthaber die Möglichkeit dazu entstand, dass etliche Klöster als permanente Siedlungspunkte etabliert werden konnten. Es wurden weit mehr als 700 Klöster gegründet, die als Zentren des sozialen Lebens, der Lehre, der Religion, der kulturellen Emanzipation, des Handels und der Wirtschaft fungierten. Der mongolische Historiker Sanduin Idshinnorov bemerkt dazu, dass es in dieser Zeit in erster Linie die Klöster (khüree khiid) waren, die zu den Zentren einer sesshaften Lebensweise in der Mongolei wurden.19 Insbesondere reiche Klöster übten nicht nur religiöse Funktionen aus, sondern entwickelten sich zu Orten von politischer, ökonomischer und kultureller Bedeutung, die, neben einigen verbliebenen Mili-

18 Wei-chieh

Tsai zufolge wurden der sozio-rechtliche Status und die ethnischen Identitäten durch die kaiserliche Ideologie der Qing und die Schaffung einer geografischen Grenze zwischen den verschiedenen Bannern (das Qing-Bannersystem ist eine administrative und militärische Unterteilung des Reiches) stark kontrolliert, wodurch eine Form der ethnischen Segregation entstand; Tsai Wei-chieh: Mongolization of Han Chinese and Manchu Settlers in Qing Mongolia, 1700–1911. Indiana 2017; Tsai Wei-chieh: 居國中以避國–大沙畢與清代移民外蒙古之漢人及其後 裔的蒙古化(1768–1830) [Die Flucht vor dem Staat im Staat. Das große Shavi und die Mongo­ lisierung der Han-chinesischen Siedler und ihrer Nachkommen in der Äußeren Mongolei der Qing-Zeit, 1768–1830]. In: Journal of History and Anthropology 15 (2017) 2, S. 129–167; Mark C. Elliott: The Manchu Way. The Eight Banners and Ethnic Identity in Late Imperial China. Stanford 2009. Der Zweck dieser Trennung beruhte auf dem Prinzip der ethnischen Souveränität, um Streitigkeiten zwischen verschiedenen Gruppen zu vermeiden, aber auch, wie Wei-chieh Tsai andeutet, darauf, dass die Politik „was not to isolate Mongolia from China proper, but to control and oversee Han Chinese immigration into Mongolia.“; Tsai Wei-chieh: Mongolization (diese Anm.), S. 210. Um jedoch den dauerhaften Aufenthalt von hanchinesischen Händlern und ­mandschurischen Siedlern zu legalisieren, fand ein Prozess der Naturalisierung oder Mongolisierung statt, bei dem die hohen Lamas die Umwandlung durch Akkulturation, Heiratsstatus und identifikatorische Assimilation einleiteten. Diejenigen, die eingebürgert wurden, wurden also zu Mongolen. Vor diesem Hintergrund kann es sein, dass Spuren früherer ethnischer Zugehörig­ keiten zu den Han oder den Mandschu wesentlich schwerer zu finden waren und sich Pozdneyev keine Unterscheidungsmöglichkeiten geboten haben. 19 Sanduin Idshinnorov: Fyeodalin khariltsaa zadrakhad khot suurini güitsetgesen üüreg [Die Rolle der Städte während des Zerfalls feudaler Verhältnisse]. Ulaanbaatar 1987, S. 56–76.

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tärgarnisonen, in überregionale Kommunikationssysteme und Handelsrouten einge­bunden waren. Als ortsfeste Siedlungen wurden sie als Knotenpunkte für Handel, Handwerk und Ackerbau zunehmend attraktiv.20 Nach der Revolution von 1921 und der Gründung der Mongolischen Volks­ republik setzte eine Säkularisierungspolitik ein, die zur Abschaffung religiöser Einrichtungen, zur Beschlagnahmung von Klostergütern und zur Verfolgung von Lamas führte, um die politische und wirtschaftliche Macht der buddhistischen Institutionen zu brechen.21 In den späten 1930er-Jahren wurden nahezu alle Klöster und Tempel im Zuge der Kulturrevolution aufgelöst und zerstört. Dabei wurden Tausende von Lamas getötet.22 Wichtige Stätten der Religion, der Kommunikation, der Verwaltung und der Macht, wie Baruun Khüree, wurden in einem Zustand der physischen Zerstörung und mentalen Erosion zurückgelassen beziehungsweise teils durch entsprechende Umnutzung bewusst säkularisiert.23 Diese Kloster­ standorte und ihre Ruinen waren nicht nur wichtige landschaftliche Markierungen, sondern sind als Ab- und Ausdruck einer geistigen Landschaft der mongolischen Bevölkerung zu verstehen, die nun langsam dem Vergessen anheimfielen.

Lost cities am Orkhon, Zentrale Mongolei: Fallstudien zu klösterlichen und militärischen Orten Forschungen zu frühneuzeitlichem Urbanismus und seinem Fortwirken im Orkhon-Gebiet Die einzigartige Kulturlandschaft des Orkhon-Tals in der Zentralmongolei ist Teil des UNESCO-Weltkulturerbes und stellt ein ideales Laboratorium dar, um vergangene Interaktionen zwischen nomadischen Gesellschaften und sesshaften Bevölkerungsgruppierungen zu beobachten, die sich in der Gründung von Großstädten wie dem uighurischen Machtzentrum Karabalgasun, der Hauptstadt des Mongolenreiches Karakorum oder Erdene Zuu, einem der ältesten noch aktiven buddhistischen Komplexe der Mongolei, niederschlugen.24 Die mandschurische Präsenz wirkte sich auf die Siedlungsmuster und die Mobilität der (sakralen und profanen) städtischen Orte entsprechend den militärischen 20 

Bruun/Narangoa (Hg.): Mongols (wie Anm. 2); Muping Bao: Trade Centres (Maimaicheng) in Mongolia, and their Function in Sino-Russian Trade Networks. In: IJAS 3 (2006) 2, S. 211–237. 21  Zu Beginn des 20. Jahrhunderts betrug die Zahl der registrierten Lamas 105.577, circa 45 % der männlichen Bevölkerung; Ivan Mikhailovich Maiskii: Sovremennaya Mongoliya [Contemporary Mongolia]. Irkutsk 1921, S. 27. 22  Christopher Kaplonski: The Lama Question. Violence, Sovereignty, and Exception in Early Socialist Mongolia. Honolulu 2016. 23  Siehe z. B. Jargalin Ölzii: Mongolin dursgalt uran barilgin tüükhees [Aus der Geschichte denkwürdiger mongolischer Baukunst]. Ulaanbaatar 1992. 24  Weitere Informationen über das Orkhon-Tal als UNESCO World Heritage findet man unter: https://whc.unesco.org/en/list/1081/ (letzter Zugriff am 2. 2. 2022); Ethier u. a.: Nodes of Connectivity (wie Anm. 5).

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Anforderungen aus. Sie prägte auch die urbanen Prozesse im Orkhon-Tal, da das Kloster Erdene Zuu vorübergehend aufgegeben wurde, militärische Garnisonen entstanden und das Kloster Baruun Khüree während dieser Zeit zunächst weiterhin mobil blieb. Aufgrund der starken Bindung an eine nomadische Vergangenheit innerhalb der mongolischen Gesellschaft hat sich die historische Archäologie bislang vor ­allem auf Gräber, Siedlungen und Städte konzentriert, die während der großen Steppenreiche etwa der Uighuren und unter Dschingis Khan und seinen Nachfolgern entstanden. Während diese Epochen als Projektionsflächen einer heldenhaften mongolischen Vergangenheit bei der Herausbildung der nationalen Identität seit den 1990er-Jahren zunehmend eine Rolle spielen, ist über die Jahrhunderte unter der Herrschaft der Mandschu archäologisch nur wenig bekannt. Vermutlich weil die mandschurische Fremdherrschaft während der Qing-Dynastie für die mongolische Bevölkerung einen Autonomieverlust darstellte, blieben wissenschaft­ liche, archäologische Arbeiten über diese wichtige Epoche der mongolischen ­Geschichte bisher ein Desiderat und hinterließen so über 300 Jahre Geschichte in Ruinen, deren Erforschung größtenteils noch aussteht.25 Daraus ergeben sich Defizite in der archäologischen Interpretation der soziokulturellen Geschichte und der Urbanisierungsprozesse. Bislang sind viele Aspekte der modernen Mongolei nur unzureichend erschlossen, so sind etwa die lokale Siedlungsdynamik, die ­regionalen und überregionalen Verflechtungen, die Bevölkerung und ihr tägliches Leben, aber auch das Weiterwirken ehemaliger klösterlicher und militärischer Orte kaum untersucht.26 Das hier vorgestellte mongolisch-deutsche Gemeinschaftsprojekt „Verlassene Städte in der Steppe: Rolle und Wahrnehmung frühneuzeitlicher religiöser und militärischer Zentren in der nomadischen Mongolei“ befasst sich mit dem Charakter und dem Nachwirken von frühneuzeitlichen Städten und urbaner ­ ­Dynamik in der Mongolei. Mit ihrem interdisziplinären Ansatz ergründet die Forschergruppe die Verflechtung von historischer Bedeutung, geschichtlicher Wahrnehmung, aktuellem Stellenwert und kultureller Interpretation verlassener städtischer Siedlungen der Qing-Zeit. Auf der Grundlage von Pilotstudien des

25  Obwohl das Interesse der Historiker zur mandschurischen Epoche etliche wissenschaftliche Arbeiten hervorgebracht hat, gibt es nur sehr wenige archäologische Untersuchungen zu diesem Zeitraum, z. B. Jan Bemmann u. a.: Geoarchaeology in the Steppe: First Results of the Multidisciplinary Mongolian-German Survey Project in the Orkhon Valley, Central Mongolia. In: Studia Archaeologica Instituti Archaeologici Academiae Scientiarum Mongolicae XXX (2011) 5, S. 69– 97; Erdene Myagmar u. a.: A Buddhist Monastery Revealed by UAV Survey and Ground-Pene­ trating Radar in Eastern Mongolia. Antiquity (Project Gallery) 92 363, e11 (2018), S. 1–7; Sampilo­dondov Chuluun: Saridigiin khiided yavuulsan maltlaga sudalgaanyur’dchilsan urdun [Preliminary Report on Excavations Conducted at Saridag Monastery]. Ulaanbaatar 2015. 26  Siehe Bemmann u. a.: Geoarchaeology in the Steppe (wie Anm. 25). Für eine frühe Dokumentation siehe Wilhelm Radloff: Atlas der Alterthümer der Mongolei. St. Petersburg 1899.

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Projektteams 2017 und 2018 in der Region27 widmen sich die Untersuchungen Fallstudien im Orkhon-Gebiet, und zwar zum einen dem Klosterkomplex von Baruun Khüree und zum anderen der bisher weitgehend unerforschten Fundplatzkategorie möglicher Militärlager, die sich als sogenannte Grubenanlagen in Tälern des Khangai-Gebirges abzeichnen (Abb. 1). Des Weiteren wird die ehemalige Garnisonsstadt Uliastai in der Nordwestmongolei in die Untersuchungen einbezogen. Auch wenn die eigentliche Qing-zeitliche Militärfestung aufgegeben wurde und heute als eindrucksvolle Ruine die Landschaft bestimmt, bildete sie gleichzeitig den Ausgangspunkt für die Entwicklung der heute dort existierenden Stadt (Abb. 9). Ziel des Projektes ist es, Einblicke in zwei unterschiedliche Modelle des Urbanismus in der Qing-zeitlichen Mongolei und der Dynamik zwischen ihrer Entwicklung und Aufgabe beziehungsweise Zerstörung zu gewinnen und die sich im Laufe der Zeit verändernde Wahrnehmung dieser Plätze zu ergründen. Das Projekt verfolgt dabei zweierlei Ansatzpunkte: (1) Die Ermittlung grundlegender Informa­tionen über Strukturen und Funktionen der Klosteranlagen und Militärlager. Aufgrund spärlicher archäologischer Untersuchungen der mandschuzeitlichen Fundstellen liegen solche Informationen bisher nur in Ausnahmefällen vor, bilden aber eine wichtige Grundlage, um den Kontexten und Funktionen urbaner Orte in der Mongolei nachzugehen. (2) Diese Grundlagenarbeit erlaubt es, die Bedeutung dieser Stätten und ihrer Rolle im kollektiven Gedächtnis der späteren und heutigen lokalen Gemeinschaften sowie der damit verbundenen kulturellen und sakralen Topografien zu analysieren. Die Feldforschungen im Jahr 2019 ­fanden an zwei zentralen Standorten des Projekts in der Zentralmongolei statt, am Kloster Baruun Khüree und an durch (Haus-)Grubenreihen und teilweise auch Umwallungen definierten sogenannten Grubenanlagen im nahe gelegenen Khangai-Gebirge, bei denen es sich, so die Arbeitshypothese, um Qing-zeitliche Militärstandorte handelt. Fernerkundungsuntersuchungen mit UAV, unbemannten Luftfahrzeugen, führten zur Erstellung von hochauflösenden 3D-Oberflächenmodellen von neun Grubenanlagen sowie des Klosters Baruun Khüree (Abb. 4). Archäologische Ausgrabungen fanden an einem der auffälligen GrubenanlagenStandorte statt, der aus einer umwallten Anlage WA-1 und zwei offenen Grubenanlagen GA-9 und GA-10 besteht (Abb. 5–8). Die ethnohistorische Feldforschung konzentrierte sich auf erste Interviews mit der lokalen nomadischen Bevölkerung in der Umgebung über die Rolle dieses Komplexes in der lokalen Kulturlandschaft und seine Wahrnehmung. Durch erste Interviews mit den Mönchen des Klosters Baruun Khüree konnten neue Aspekte der Geschichte und der sich wandelnden Rolle des Klosters beleuchtet und Einblicke in die mit diesem religiösen Zentrum verbundenen lokalen Diskurse gewonnen werden.

27 Christian Ressel u. a: Auf den Spuren verlassener Städte: Urbane Strukturen aus der Zeit mand­schurischer Herrschaft und deren Weiterwirken in der heutigen Mongolei. Ein Vorbericht. In: Mongolische Notizen 27 (2020), S. 56–73.

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Abbildung 2: Die Kloster­ siedlung Baruun Khüree mit dem alten, 1937 zerstör­ ten und planierten Bereich (gelb) und dem seit 1990 wieder als Kloster genutzten neuen Bereich (orange); Grafik: Birte Ahrens.

Das Kloster Baruun Khüree: Ein urbaner Knotenpunkt Ein Hauptfokus der in diesem Abschnitt vorgestellten Forschung liegt auf der Untersuchung des Klosters Baruun Khüree in der Zentralmongolei. Das 1647 von Zanabazar gegründete Baruun Khüree ist eines der ältesten buddhistischen Klöster der Mongolei. Es liegt am Ufer des Orkhons etwa 20 km südöstlich des Klosters Erdene Zuu. Neben dem Hauptkomplex von Baruun Khüree, heutzutage ein ausgedehntes Ruinenfeld mit flachen Siedlungsresten, das an den Lauf des Flusses angrenzt, entstand ein etwa 2 km entfernt gelegenes Areal, das nicht vollständig zerstört wurde und dessen bestehende Klostergebäude 1990 von Mönchen und der örtlichen Gemeinde reaktiviert wurden (Abb. 4; Abb. 2). Nach der Zerstörung des Klosters Ende der 1930er-Jahre konnten einige wenige Objekte und Schriften gerettet werden, die nach der Wiederbelebung der klösterlichen Aktivitäten teils an den heutigen Standort des Klosters zurückgeführt worden sind.28 28 Krisztina

Teleki/Zsuzsa Majer: Baruun khuree. Documentation of Mongolian Monasteries (2007), online zugänglich unter: http://www.mongoliantemples.org/index.php/en/component/ domm/2037?view=oldtempleen (letzter Zugriff am 10. 10. 2021).

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Abbildung 3: ­Undatierter Plan des alten Bereichs der Klostersiedlung Baruun Khüree, der 1937 zerstört wurde, heute auf­ bewahrt im neuen Klosterbereich; Foto: Sara Jagiolla, CAU Kiel.

Oben erwähnte Konflikte zwischen den Zungaren und Khalkh vom späten 17. Jahrhundert bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts wirkten sich auf das Siedlungsgeschehen im Orkhon-Tal aus. Das Kloster Erdene Zuu wurde vorübergehend verlassen und der Jebtsundamba Khutagt war zu seiner eigenen Sicherheit gezwungen, seinen Aufenthaltsort wiederholt zu wechseln.29 Klöster wie Baruun Khüree und Urga, die Hauptresidenz des Jebtsundamba Khutagt, wechselten häufig ihre Standorte und behielten diese Mobilität über viele Jahrzehnte bei; die Tempel bestanden aus mobiler Architektur wie Filzjurten und Holzkonstruktionen. Erst später wurden Klöster und Tempel üblicherweise als ortsfeste Baustrukturen errichtet und konnten sich so zu dauerhaften, urbanen Knotenpunkten entwickeln. Im Fall von Baruun Khüree blieb das Kloster bis 1787 mobil, bis es unter einem Nachfolger Zanabazars in das Orkhon-Tal zurückkehrte und als permanente Nieder­lassung unweit des Gründungsortes angesiedelt wurde. Dort entwickelte es sich zu einer vergleichsweise bedeutenden Klostersiedlung, die durch die geo­ grafische Lage nahe des Shankh-Gebirges auch als Shankhni Khiid (Kloster von Shankh) bekannt wurde. Wie in vielen anderen Klöstern, insbesondere solchen unter der Leitung von hohen Inkarnationen wie dem Jebtsundamba Khutagt, entstanden komplexe Verwaltungsstrukturen für religiöse und säkulare Belange, wobei die Zahl der Tempel und der ansässigen Lamas kontinuierlich wuchs.30 Laut eines Dokumentes von 1860 erstreckte sich der Hauptkomplex über eine Fläche von 576 m in nordsüdlicher und 627 m in westöstlicher Richtung.31 Die Zahl der

29 

Larry W. Moses: The Political Role of Mongolian Buddhism. Indiana 1977, S. 106. Angaben zu den Verwaltungsstrukturen in Klöstern finden sich etwa bei Aleksej M. Pozdneyev: Religion and Ritual in Society: Lamaist Buddhism in Late 19th century Mongolia. Indiana 1978; Larry W. Moses: The Political Role of Mongolian Buddhism. Indiana 1977. 31  Zangadin Ninjbadgar: Jibtsundamba khutagtin shaviin zakhirgaa [Die Verwaltung der Shavi des Jebtsundamba Khutagt]. Ulaanbaatar 2014, S. 167. 30  Genaue

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Abbildung 4: Schrägansicht (Blickrichtung ~SW), texturiertes 3D-Modell des ­heute genutzten Bereichs des ­Klosters Baruun Khüree; Fotos und Modell: Martin Oczipka, HTW Dresden; Hinter­ grund: Google, © Mapbox, Open Street Map, Maxar Technologies.

registrierten Lamas lag bei 1 500 und überstieg damit sogar die Einwohnerzahl des nahegelegenen Erdene Zuu. Der Komplex umfasste sieben buddhistische Fakul­ täten (datsan) und weitere zahlreiche Tempel. Eine undatierte Zeichnung des Hauptkomplexes, die im heute reaktivierten Kloster aufbewahrt wird, veranschaulicht den Aufbau dieser Klosteranlage aus der Mandschu-Zeit (Abb. 3). Wie viele dieser Klosterkomplexe war auch Baruun Khüree ein Ort der Andacht, der Bildung, der Medizin, der spirituellen und astrologischen Beratung. Mit dem sakralen Komplex des Tempelbereichs als Zentrum entwickelte das Kloster kontinuierlich urbane Strukturen, nicht nur durch den Zuzug der Lamas, sondern auch durch die Vernetzung mit einheimischen und ausländischen Händlern, nomadischen Viehzüchterfamilien und anderen Laien, spezialisierten Hand­ werkern, Künstlern, Reisenden und Würdenträgern. Die Klosterstadt wurde all­ mählich zu einem multikulturellen Ort, der eine wichtige Rolle für die politische, wirtschaftliche, kulturelle und religiöse Macht in der Region spielte. Von großer Bedeutung waren auch die Verbindungen mit dem Hinterland: Das Kloster kon­ trollierte die hier verlaufenden Handelsrouten, verwaltete Poststationen, unterstützte aktiv die Handelskarawanen von und nach China und beteiligte sich an der lokalen und ausländischen Diplomatie.32 Historische Berichte über diese wichtige Klosteranlage innerhalb der mongolischen buddhistischen Topografie sind begrenzt, wobei das derzeitige Wissen größtenteils auf den Werken des russischen Gelehrten Aleksej M. Pozdneyev beruht, der das Gebiet im späten 19. Jahrhundert bereiste. Pozdneyev zufolge prosperierte Baruun Khüree kontinuierlich, nicht zuletzt durch die Zuwanderung von Lamas des benachbarten Klosters Erdene Zuu. Große Siedlungen chinesischer Händler befanden sich laut seines Augenzeugenberichtes nicht in unmittelbarer Nähe der Tempelanlagen von Baruun Khüree. Dennoch war das Kloster, ebenso 32 

Pozdneyev: Religion and Ritual (wie Anm. 30), S. 28–37.

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wie Erdene Zuu, in Handelsaktivitäten und Karawanentransporte eingebunden und profitierte von chinesischen Siedlern. Vergleichbare Untersuchungen zu chinesischen Handelszentren in der Inneren Mongolei haben gezeigt, dass Klöster, die sich mit chinesischen Siedlern arrangierten, Steuern und Richtlinien festlegten, um Parzellen auf dem Land der Klöster effizient zu verpachten.33 Ähnliche Geschäftsvereinbarungen gab es auch im Orkhon-Gebiet.34 Die architektonische Anlage von Baruun Khüree spiegelte sowohl die Stellung bestimmter Gebäude als auch die soziale Hierarchie innerhalb des Klosterkomplexes. Daraus lassen sich interessante Erkenntnisse über das Kloster als urbanen Knotenpunkt herleiten, wenn man die Baustrukturen als kulturelle Produktion versteht. Das Kloster war als rechteckiger Komplex angelegt, in dessen Zentrum die wichtigsten Tempel standen. Im Mittelpunkt befand sich das sogenannte tsogchin, der Tempel für Versammlungen aller Lamas des Klosters zu ausgewählten Festtagen des buddhistischen Kalenders. Ebenfalls im zentralen Bereich des Klosters be­ fanden sich die datsan, Tempelgebäude buddhistischer Fakultäten für ­spezielle Wissens­felder wie Dämonologie, Philosophie, Astrologie etc.35 Des Weite­ren ist zu ­diesem inneren Bereich auch ein Tempelgebäude zu rechnen, dass als süldnii örgöö (Pavillion der Standarte) bezeichnet wurde, ein Gebäude, das der Aufbewahrung und der rituellen Verehrung der „Standarte Dschingis Khans“ diente.36 Was von besonderem Interesse ist, um ein mongolisches Kloster als urbanen Knotenpunkt zu verstehen, sind die Wohnviertel der Lamas, sogenannte aimag, die administrative Einheiten innerhalb einiger größerer Klöster darstellten.37 Zanabazar führte die aimag zur Einteilung seiner Gefolgschaft nach tibetischem Vorbild 1651 ein. Mit den rapide wachsenden Klöstern wurden die aimag zu ­großen Verwaltungseinheiten, die mehrere hundert Lamas unter einem Vorsteher 33 

Bao: Trade Centres (wie Anm. 20), S. 228. Bezug auf die Verpachtung von Parzellen an chinesische Siedler schreibt Pozdneyev: „The riches of khutukhtu monasteries, the great number of lamas living in them, and finally the almost perpetual flow of worshippers, nearly always attract Chinese merchants to these monasteries; but for the right to trade at a monastery the khutukhtu treasuries likewise extract a contribution from the Chinese. Thus, in the Erdeni Zuu monastery this contribution is 20 silver liang per year from each Chinese shop […] and at Baruun Khüree 12 liang“; Pozdneyev: Religion and Ritual (wie Anm. 30), S. 34. 35 Ebd. 36  Ölzii: Mongolin dursgalt (wie Anm. 23), S. 70. Laut Schilderung des Dendev, der 1937 während einer Expedition daran beteiligt war, das Objekt aus Baruun Khüree zu entfernen und in das damalige Zentralmuseum von Ulaanbaatar zu überführen, handelte es sich um eine Standarte mit weißem Haar und dreizackiger Spitze, die während sogenannter dalkh-Rituale verehrt wurde. Siehe D. Navaan: Övgön Dendeviin durdatgal [Die Erinnerung des alten Dendev]. Ulaanbaatar 1961, S. 31. Sie kann auch als Symbol politischer Macht in der sakralen Architektur von Baruun Khüree interpretiert werden; es handelt sich um eine raumbezogene politische Symbolik, die sowohl mit der adligen Abstammungslinie von Zanabazar als auch mit der religiösen Bedeutung von Dschingis Khan innerhalb des buddhistischen Pantheons zusammenhängt. 37 Das aimag war auch eine Ebene in der Verwaltung der Territorien und der mobilen Laienbevölkerung und ist damit von der Verwaltungseinheit der männlichen Lamas in den Klöstern zu unterscheiden. 34  In

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umfassten. Baruun Khüree war in vier aimag untergliedert. Diese müssen einerseits als spezifische soziale Gruppierungen andererseits als räumlich verortete Größen im Sinne von Nachbarschaften oder Bezirken interpretiert werden (Abb. 3). Jedes aimag hatte einen eigenen Tempel (dugan) für tägliche Gebete und Dienste und so wie sich die Wohnviertel der Lamas um den zentralen Komplex von Baruun Khüree anordneten, so umgaben die Wohnquartiere den Tempel des aimag. In den wachsenden urbanen Knotenpunkten großer Klöster wie Baruun Khüree entwickelten sich darüber hinaus verschiedene flexible Siedlungsmuster, die sich nicht allein auf die ortsfesten Klosterstrukturen beschränkten. Insbesondere in den wirtschaftlichen Bereichen reicher Klöster waren Hirtenfamilien eingebunden, die in den Klosterlisten als Untergebene verzeichnet waren. Als registrierte Subjekte waren sie für die Aufsicht über den klösterlichen Viehbesitz verant­ wortlich und folgten entsprechend den jeweils saisonal erforderlichen, mobilen Siedlungsmustern. Ein weiteres Beispiel für flexible Residenzmuster wird von Pozdneyev in Bezug auf arme Lamas erwähnt: Aufgrund knapper Mittel konnten diese oftmals nicht innerhalb eines ortsfesten Klosters residieren, sondern lebten bei ihren Familien in nomadischen Camps.38 In Bezug auf die Untergliederung der Klosteranlage in zwei Areale, ein zerstörtes und ein heute bebautes und genutztes, ist die Entstehung des sogenannten Puntsagdarjaalin-Tempels von Bedeutung. Mitte des 19. Jahrhunderts spaltete sich ein hochrangiger Lama von Baruun Khüree ab und gründete an einem etwa 2 km entfernten Berghang diesen neuen Tempel, der bald etwa 200 Lamas umfasste.39 Der Name „Puntsagdarjaalin Tempel von Baruun Khüree“ (Baruun khüreenii Puntsagdarjaalin khiid) verdeutlicht, dass die Tempelanlage als Teil des Hauptklosters galt. Im Gegensatz zum Hauptkloster, das vollständig wüst gefallen ist, blieben hier einige Gebäude auch nach den Zerstörungen der 1930er-Jahre erhalten und wurden zeitweise als Schulräume und später als Lager für die staatliche Landwirtschaft genutzt.40 Als von der Lokalbevölkerung 1990 beschlossen wurde, Baruun Khüree als eines der ersten Klöster nach der demokratischen Wende zu reaktivieren, war es diese kleinere Tempelanlage, die renoviert wurde und den klösterlichen Betrieb wieder aufnahm. Neue Informationen über die Klosteranlage und ihre Strukturen wurden durch die Auswertung der Fernerkundungsdaten sowohl des in den 1930er-Jahren zerstörten Bereichs als auch des derzeit genutzten Teils des Klosters gewonnen. Die Untersuchung des zerstörten Areals wird mit der Erstellung einer GIS-gestützten Analyse der Fundamentplattformen und Steinstrukturen in diesem Bereich fortgesetzt. Die in der Feldkampagne 2019 neu gewonnene 3D-Dokumentation der Architekturstrukturen im reaktivierten Kloster führte nicht nur zu einer um­ 38 

Aleksej M. Pozdneyev: Mongolia and the Mongols. Bloomington 1971, S. 301. Jibtsundamba khutagtin shaviin zakhirgaa (wie Anm. 31), S. 167; Ölzii: Mongolin dursgalt (wie Anm. 23), S. 71. 40  Teleki/Majer: Baruun khuree (wie Anm. 28), online zugänglich (letzter Zugriff am 12. 9. 2021). 39  Ninjbadgar:

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fassenden digitalen Dokumentation der Architektur, sondern ermöglicht auch die Unterscheidung verschiedener, bisher nicht bekannter Bauphasen (Abb. 4). So zeigen sich beispielsweise Mauerzüge ehemaliger Gebäude, granitene Architekturelemente und Spuren möglicher Stupas und weiterer Mauern außerhalb des aktuell genutzten Geländes, die derzeit im Hinblick auf die Baugeschichte des Komplexes weiter untersucht werden. Qing-zeitliche Militäranlagen im Orkhon-Gebiet Zum zweiten thematischen Schwerpunkt, der Rolle von militärischen Orten für Urbanisierungsprozesse innerhalb der Mongolei und ihrer späteren Verortung in der Konstitution von Erinnerungslandschaft und Identitätskonstruktion der lokalen Bevölkerung, konnten die hier vorgestellten Forschungen grundlegende, neue Erkenntnisse erarbeiten. Gerade die Kombination von archäologischen Ausgrabungen und naturwissenschaftlichen Datierungen sowie von historischer Forschung und ethnografischen Interviews haben neue Ergebnisse zu diesem bisher fast unbekannten Aspekt der Kulturlandschaftsgenese erbracht. Nachdem sich wie beschrieben seit der Zeit um 1700 das Territorium der unterworfenen Khalkh zur militärischen Pufferzone im Norden des Qing-Reiches entwickelt hatte, wurde in dieser Region die Präsenz des mandschurischen Militärs verstärkt, und an strategischen Orten in der Steppe wurden Garnisonen errichtet. Eine dauerhafte militärische Präsenz der mandschurischen Armee im Orkhon-Tal steht wahrscheinlich mit dem Angriff der westmongolischen Zungaren auf das Kloster Erdene Zuu im Jahr 1732 in Zusammenhang, der zu einer Schlacht unter Einsatz großer Truppenkontingente führte.41 Auf Seiten der Khalkh-Fürsten kämpften auch Kontingente innermongolischer Soldaten und chinesischer Eliteeinheiten.42 Über die Beschaffenheit der militärischen Lager gehen aus den historischen Quellen keine weiteren Informationen hervor. Die Schlacht bei Erdene Zuu kann allerdings aufgrund der Schriftquellen als ein Ereignis verstanden werden, das unmittelbar mit der Entstehung neuer Siedlungsstrukturen im OrkhonTal in Verbindung stand. Bereits 1735 wurde dort eine Garnison errichtet, die vorüber­gehend Standort des militärischen Hauptkontingents in Khalkh wurde.43

41  Shagdarjavin Natsagdorj: Khalkhyn tüükh [Geschichte der Khalkh]. Ulaanbaatar 1963, S. 66; Veronika Veit: Qalqa 1691 bis 1911. In: Weiers (Hg.): Mongolen (wie Anm. 14), S. 435–466, hier: S. 452. Den Angaben von Veit zufolge kann die Zahl der Soldaten zusammengenommen auf bis zu 50 000 geschätzt werden. 42 Davaasambuugiin Bayarsaikhan: Uliastai khotin tüükhen kholbogdokh barimtin emkhtgel [Zusammenstellung von Dokumenten in Verbindung mit der Geschichte der Stadt Uliastai]. Ulaan­baatar 2016, S. 28–30. 43  Magsarjavin Sanjdorj: Uliastai khotyn baiguulagdsan ni [Die Entstehung der Stadt Uliastai]. In: Studia Etnographica. Tomus II, Fasc. 16. Ulaanbaatar 1965, S. 41–52, hier: S. 48; Davaasambuugiin Bayarsaikhan: Uliastai (wie Anm. 42), S. 18–26.

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Abbildung 5: Kombination aus Schummerung, digita­ lem Oberflächenmodell und Orthofoto der Wallanlage WA-1 und der Grubenan­ lage GA-10 mit den beiden 2019 untersuchten Sondage­ schnitten (weiß markiert); Grafik und Modell: Martin Oczipka, HTW Dresden; Bildränder: Google, © CNES/Airbus Maxar ­Technologies.

Auch die Entwicklung des chinesischen Handels im Kernland der Äußeren Mongolei steht in Verbindung mit den militärischen Aktivitäten in der Region. Dieser begann zunächst mit zeitweiligen Aufenthalten chinesischer Kaufleute, die in der Nähe von Klosteranlagen wie Erdene Zuu und Urga, von Hauptlagern von Fürsten und von militärischen Stützpunkten entlang der westlichen Front­ linie, einschließlich der Region des Orkhon-Tals, kampierten.44 Fernab der Haupt­handelsroute nach Russland folgten chinesische Kaufleute aus Sicherheitsund Profitgründen zunächst dem Militär. Nahe der mandschurischen Garnison in Orkhon wurde 1746 eine chinesische Siedlung gegründet, die als „Neue Handelsniederlassung Orkhon“ bezeichnet wurde.45 Sie wurde eines der offiziellen chinesischen Handelszentren in der nördlichen Mongolei und band das Or­ khon-Tal in die chinesischen Handelsnetze nördlich der Großen Mauer ein.46 Was die militä­rische Präsenz im Orkhon-Tal betrifft, so weisen archäologische Funde wie ­Münzen auf eine Nutzung der Garnision in Orkhon in den 1730er44 

Magsarjavin Sanjdorj: Manchu Chinese Colonial Rule in Northern Mongolia. London 1980, S. 28. Ebd., S. 44. 46  Bao: Trade Centres (wie Anm. 20), S. 217. 45 

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Abbildung 6: Wallanlage WA-1, Blick über Wall und Graben; Foto: Sara Jagiolla, CAU Kiel.

Jahren hin.47 Schriftliche Quellen dokumentieren zudem eine Verlegung des Haupt­heeres aus Orkhon mitsamt Getreidevorräten und militärischer Ausrüstung im Jahr 1754, während der Abzug eines Großteils der Soldaten aus den Khalkh-Gebieten erst um 1780 erfolgte.48 Unklar ist, ob im Jahr 1787, als Baruun Khüree dauerhaft angesiedelt wurde, noch Truppen in der Region präsent waren und welche ethnische Herkunft sie besaßen. Aufgrund der Ergebnisse der neuen archäologischen Untersuchungen im Rahmen des hier vorgestellten Projektes ist es sehr wahrscheinlich, dass die bislang rätselhaften Grubenanlagen in den Tälern des Khangai-Gebirges östlich des Or­ khon mit der verstärkten militärischen Präsenz verschiedener Truppenkontingente in der Region im 18. Jahrhundert in Verbindung stehen. Der Oberflächensurvey einschließlich Fernerkundung und die Ausgrabungen an der Wallanlage WA-1 und der angrenzenden Grubenanlage GA-10 haben erstmals detaillierte Erkenntnisse über den Charakter und die mögliche Funktion dieses Fundplatztyps erbracht (Abb. 5, Abb. 6). Die aus den Orthofotos im GIS ausgewerteten Baupläne der Steinarchitektur weisen auf erhebliche Variationen in Grundriss und Baustrukturen hin, die möglicherweise zeitliche Unterschiede widerspiegeln. 47  Jan Bemmann/Lkhagvadorj Munkhbayar: Im Zentrum der Steppenreiche. In: AiD 3 (2010), S. 14–18, hier: S. 18. 48  Sanjdorj: Uliastai khotyn baiguulagdsan ni (wie Anm. 43), S. 48; Idshinnorov: Fyeodalin khariltsaa (wie Anm. 19), S. 57 f.

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Abbildung 7: ­Grubenanlage GA-10, Sondage­ schnitt. Digitales Oberflächenmodell mit Architektur­ resten eines recht­ eckigen Gebäudes mit Holz-LehmMauer; oben: Schrägansicht; ­unten: vertikale Ansicht; Foto und Modell: Martin Oczipka, HTW Dresden.

Der Testschnitt in der Grubenanlage GA-10 brachte überraschenderweise sub­ stanzielle Architektur zum Vorschein (Abb. 7). Während aufgrund zeitgenössischer chinesischer Bilder von Marschlagern zunächst vermutet wurde, dass es sich bei den regelmäßigen Gruben um Reste zeltartiger temporärer Behausungen von Soldaten mit eingetieften Böden handeln könnte,49 kamen bei der Ausgrabung architektonische Reste einer rechteckigen Gebäudestruktur mit Erd- und Holzmauern zum Vorschein. Dieser eigentümliche Mauertyp muss nun weiter untersucht und mit anderen Fundstellen verglichen werden; sicher ist, dass es sich hierbei um Reste einer festen Baustruktur und nicht um die einer transportablen Behausung handelt. Unter dem Fundmaterial aus diesem Bereich befindet sich eine gut erhaltene, große, eiserne Pfeilspitze, die typologisch in die Qing-Zeit passt und somit die Interpretation als militärische Stätte dieser Periode untermauert.50 Weitere Funde aus den Schnitten umfassen blau bemaltes Porzellan, metallene Kleidungsbestandteile und Werkzeug (Abb. 8). Die Radiokarbondatierungen von organischen Proben, die während der Feldkampagne 2019 in den Grabungsschnitten der Anlagen WA-1 und GA-10 entnommen wurden, bestätigen eine neuzeitliche Datierung dieser Siedlungen (17.–20. Jahrhundert). Die photogrammetrische Dokumentation des Vergleichsobjekts, der mandschurischen Militärstadt Uliastai in der nordwestlichen Mongolei, mittels UAVFlügen führte im Herbst 2020 im Rahmen einer Pilotstudie zur Generierung eines 49  Zu

zeitgenössischen Illustrationen der Schlachten der Qing siehe z. B. Monique Crick (Hg.): Chine Impériale. Splendeur de la Dynastie Qing 1644–1911. Mailand 2014, S. 75. 50  Mike Loades: The Composite Bow. Oxford 2016.

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Abbildung 8: Fundmaterial aus den Grabungsschnitten in der Gruben­ anlage GA-10 (1–3) sowie der Wall­ anlage WA-1 (4): 1 – Geschossspitze, Eisen; 2 – Anhänger unbekannter Funktion, Bronze; 3 – Mantelknopf, Bronze oder Messing; 4 – Boden­ scherbe einer blau bemalten Porzel­ lanschale; Fotos: Sara Jagiolla [1–3], Jonathan Ethier [4], CAU Kiel.

ersten digitalen Höhenmodells dieses herausragenden frühneuzeitlichen urbanen Zentrums (Abb. 9). Die hochauflösenden 3D-Modelle dienen der genaueren Identifizierung der Gebäudestrukturen und ermöglichen die Planung weiterer Untersuchungen vor Ort.

Ruinen als Medien des kulturellen Gedächtnisses: Urbane Plätze der Qing-Zeit am Orkhon Annäherungen an sich verändernde Bedeutungen von Orten und an vergangene und fortlaufende Prozesse des place-making bilden den Rahmen, um die Bedeutung urbaner Plätze beziehungsweise von deren Ruinen innerhalb einer noma-

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Abbildung 9: Uliastai, Nordwestmongolei. Kopteraufnahme mit Blick über die Ruine der Qingzeitlichen Garnisionsstadt auf die moderne Siedlung im Hintergrund; Foto: Enkhtuul Chadraabal, CAU Kiel.

disch geprägten Gesellschaft in ihren historischen und soziopolitischen Kontexten zu verstehen.51 Die bisher im hier vorgestellten Projekt durchgeführte ethnografische und historische Forschung hat neue Aspekte der Geschichte und der sich wandelnden Rolle des Klosters Baruun Khüree aufgezeigt und konnte erste Einblicke in die mit dem Kloster verbundenen lokalen Diskurse gewähren. Demnach spielt die Stätte eine wichtige Rolle bei der Konstruktion und Wahrnehmung der lokalen Geschichte und ihrer Bedeutung auf nationaler Ebene. Der physischen Zerstörung des Klosters 1937 folgten die administrative Reorganisation des ­Orkhon-Tals und der Aufbau neuer Siedlungsmuster. Ehemalige Kommunika­ tionslinien und Militärwege des mandschurischen Verwaltungssystems, die der Verwaltung und Beherrschung der nordmongolischen Territorien gedient hatten, wurden nun bewusst verändert und sukzessive durch sozialistische Bau- und ­Infrastrukturen ersetzt. Baruun Khüree als ehemals zentraler Ort wurde in d ­ iesem Prozess zunehmend marginalisiert und in profanem Kontext umgenutzt. Die

51  Siehe z. B. Schnapp: Une histoire universelle des ruines (wie Anm. 4); Joseph Pierce u. a.: Relational Place-Making. The Networked Politics of Place. In: Transactions of the Institute of British Geographers 36 (2011) 1, S. 54–70; John Friedman: Place and Place-Making in Cities. A Global Perspective. In: Planning Theory & Practice 11 (2010) 2, S. 149–165; Doreen Massey: For Space. London 2005; dies.: World City. Cambridge 2007; David Harvey: Justice, Nature and the Geography of Difference. Cambridge/Oxford 1996.

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Ausübung des Buddhismus fand über Jahrzehnte im Verborgenen statt und hatte allenfalls Bedeutung für Teile der Lokalbevölkerung.52 Inwiefern die Ruinen des Klosters in dieser Zeit als (ehemals) sakraler Ort wahrgenommen wurden, ist in den schriftlichen Quellen bisher nicht nachzuvollziehen. Dennoch kann man ­davon ausgehen, dass über die Zeit hinweg die kulturelle Erinnerung, die mit den Ruinen verbunden war, weitergegeben und Teil der lokalen Identität wurde. Dafür spricht der Wiederaufbau des Klosters, der im Zuge der gesellschaftlichen Veränderungen am Ende der Volksrepublik im April 1990 aufgrund der Initiative der mittlerweile dort ansässigen Lamas und mit Unterstützung der Lokalbevölkerung begann.53 Seitdem konnten mithilfe von Zeitzeugenbefragungen einige Aspekte der mündlichen Überlieferung zu und der Erinnerung an Baruun Khüree dokumentiert werden, die ansonsten verloren gegangen wären. Dazu gehören Einblicke in die Praktizierung des Buddhismus in der sozialistischen Epoche, aber auch Informationen zu Baustruktur und Ausstattung einiger der zerstörten Tempel.54 Das Kloster hat nicht nur eine Bedeutung als lokale Ruine, sondern ist auch in das größere Netzwerk der Kulturlandschaft Orkhon-Tal mit ihren eindrucks­ vollen Stadtruinen, Grabmälern und Memorialplätzen verschiedener Epochen inte­griert worden. Als solche sind die Ruinen des Klosterkomplexes Teil einer größeren „Erzählung“, die ihre Bedeutung als Ruinen unter Ruinen in der Wahrnehmung einer historischen Landschaft zum Ausdruck bringt. Es ist gerade die Wiederbelebung der buddhistisch geprägten Geschichte, die einen Teil der Kon­ struktion eines mongolischen kulturellen Gedächtnisses bildet, indem sie das Or­ khon-Tal in ein größeres historisch-räumliches Setting einbindet. Während die altmongolische Hauptstadt Karakorum und das an ihrer Stelle errichtete Kloster Erdene Zuu zu einer zentralen Stätte der erneuten Institutionalisierung und Zelebrierung als Gedächtnisort geworden ist, bietet das Orkhon-Tal als Teil des UNESCO-Welterbes auch mit seinen Ruinen aus der Qing-Ära Spuren einer Vergangenheit, die sich tief in der modernen kulturellen Definition der Mongolei verankert hat.55 Im Wesentlichen wird Baruun Khüree anhand zweier Narrative in die Kulturlandschaft des Orkhon-Tals eingebunden und hat so einen Platz in der Repräsentation der Geschichte der Region gefunden: (a) Es war die erste Klostergründung von Zanabazar, und (b) es war der Ort, an dem die Standarte Dschingis Khans aufbewahrt worden ist. Auf diese Weise bildet die Klosteranlage mit ihrem zerstörten und dem wieder in Betrieb genommenen Teil heute ein Symbol der Verbindung zwischen den tibetisch-buddhistischen Institutionen und dem Erbe Dschingis Khans, die damit auch physisch einen Fixpunkt in Le52  Yuki

Konagaya u. a. (Hg.): The Practice of Buddhism in Kharkhorin and its Revival. Osaka 2013. 53 Davaasambuugiijn Nürenzed: Shankh Sümin Tovch Tüükh [Kurze Geschichte des Shankh ­Distrikts]. Ulaanbaatar 2019, S. 7. 54 Konagaya u. a. (Hg.): Practice of Buddhism (wie Anm. 52); Ölzii: Mongolin dursgalt (wie Anm. 23). 55 Siehe z. B. Norovin Urtnasan: Orkhon khöndii soyolin dursgalt gazar [Kulturelle Erinnerungsorte des Orkhon-Tals]. Ulaanbaatar 2008, S. 12.

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ben, Wahrnehmung und Selbstverortung der lokalen nomadischen Bevölkerung darstellt. Was die Rolle der in den Tälern des Khangai-Gebirges versteckten Qing-zeit­ lichen Gruben- und Wallanlagen im „Gedächtnis der Orte“56 betrifft, so zeigen erste Befragungen der örtlichen Hirtenfamilien, dass – im Gegensatz etwa zu ­buddhistischen Plätzen wie Baruun Khüree – erstaunlich unkonkrete Vorstellungen über diese in der Landschaft teilweise gut sichtbaren Stätten (Abb. 6) zu herrschen scheinen. Es entstand der Eindruck, dass in der lokalen Bevölkerung kein großes Interesse an der Geschichte dieser Orte oder ihrer früheren Funktion besteht und dass sie in der Konstitution der Erinnerungsräume der heutigen mongolischen Nomadenfamilien keine Rolle spielen. Auch Legenden oder Erzählungen, die mit diesen Orten verbunden sind, wurden nicht erwähnt. Möglicherweise spiegelt sich hier ein spezieller Umgang mit militärischen Plätzen der mandschurischen Fremdherrschaft wider. Zukünftige Forschungen mit weiteren Interviews bei lokalen Familien und einer Auswertung örtlicher historischer Quellen werden diese Hypothese weiterverfolgen. Konkrete Nachforschungen sind auch zu Erzählungen und Dokumenten über historische militärische Aktionen und Schlachten geplant.

Schlussbemerkung Die mongolisch-deutschen Untersuchungen zur Geschichte, zu Rollen und Wahrnehmung verlassener beziehungsweise zerstörter frühneuzeitlicher urbaner Orte im Orkhon-Tal seit 2019 haben dazu beigetragen, eine in der Forschung bisher vernachlässigte Facette der Konstitution von Identität durch Erinnerungsorte in der nomadisch geprägten mongolischen Gesellschaft stärker in den Blick zu rücken. Sie haben zu grundlegenden und teilweise überraschenden neuen Erkenntnissen zu verschiedenen, für die Forschungsfragen zentralen Aspekten geführt. Die Dokumentation substanzieller, dauerhafter Architektur in einer der untersuchten Grubenanlagen im Khangai-Gebirge stellt die bisherige Hypothese infrage, nach der es sich bei diesen Strukturen um temporäre Marschlager mit lediglich ephemeren Gebäuden handelte – stattdessen ist nun von längerfristigen Siedlungen mit fester Architektur auszugehen. Fundmaterial wie etwa eine Geschoss­ spitze sowie Radiokarbondatierungen haben sowohl die vermutete militärische Nutzung der Anlagen als auch ihre frühneuzeitliche Datierung bestätigt und weisen damit eine völlig neue Kategorie ortsfester Siedlungen mit urbanen Funktionen nach. Die vergleichende Untersuchung klösterlicher und militärischer Anlagen deutet auf eine Verflechtung der Orte innerhalb des Orkhon-Tals und darüber hinaus hin. Bedeutende Klöster wie einstmals Baruun Khüree (und auch Erdene Zuu) 56 

Aleida Assmann: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. München 1999, S. 298–300.

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zeigen Merkmale urbaner Knotenpunkte, die verschiedene der drei von Leeds heraus­gestellten Kategorien sozialer Urbanisierung verbinden. Ihre Verflechtung mit anderen Siedlungsstrukturen innerhalb der Region ist trotz bislang proble­ matischer Quellenlage nachvollziehbar. Die frühe Wiederbelebung des Klosters Baruun Khüree am Ende der sozialistischen Epoche zeigt das starke und tiefgehende Interesse an seiner vergangenen Bedeutung, die im kollektiven Gedächtnis überdauert hat. Während die Reaktivierung des Klosters am Standort des Puntsagdarjaalin-Tempels ein Gefühl der wiederaufgebauten Gemeinschaft vermittelt, wird die ruhende, alte, einst gewaltsam planierte Klostersiedlung durch die Aufstellung eines Gedenksteins gewürdigt und in Erinnerung gerufen. Gerade dass Baruun Khüree bereits 1990 reaktiviert wurde, noch bevor ein rechtlicher Rahmen zur Religionsfreiheit nach der demokratischen Wende geschaffen war, verweist auf seinen herausragenden Platz in der mongolischen Erinnerungskultur und auf seine wichtige identitätsstiftende Rolle. Die Fragen danach, welche Diskurse aktuell an den Ort geknüpft sind und welche Rolle die Ruine und ihre Vergangenheit im Leben der lokalen Bevölkerung spielt, sind ein Aspekt der anstehenden weiteren Untersuchungen. Zukünftige Forschungen innerhalb des Projekts werden diese Fragen mit archäologisch-geografischen, historischen und ethnografischen Untersuchungen weiterverfolgen, das Bild städtischer Dynamik in der Mongolei der Qing-Zeit präzisieren und das – wie wir inzwischen zeigen können – sehr unterschiedliche Nachwirken der aus dieser Zeit überkommenen lost cities näher ergründen. Während der archäologische Beitrag zur Geschichtsschreibung der Mongolei der Qing-Ära bisher unterrepräsentiert war, können nun interdisziplinäre Forschungen wie die hier vorgestellten, diese verlorenen Orte, ihre Geschichte und ihre heutigen Rollen ans Licht bringen.

Abstract The migration of people from the countryside to larger centres as well as the abandonment or violent destruction of settlements and cities have shaped world history for thousands of years. Special forms of urban centres with specific histories, roles and socio-cultural significance have developed in predominantly nomadic societies. Such urban sites, now abandoned or destroyed, can also be found in Mongolia, where many people still live as mobile pastoral nomads today. As former centres of sedentary life, these lost cities can make an important contribution to the country’s cultural identity, which deserves to be understood more precisely. In Mongolia, a mobile way of life is just as much an essential part of the cultural identity as the reference to the rise of the Mongol World Empire under Genghis Khan and his successors in the 13th and 14th century. By contrast, much less is known about the subsequent period of the Qing dynasty (1636–1911), when Mongolia was controlled by Manchurian occupiers. A German-Mongolian research project is dedicated to exploring this field, focusing on monastic as well

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as military settlements and the question of how these two different types of urban cores and their ruins have shaped cultural memory over several generations up to the present day. To this end, ethnographic and historic research, archaeological excavations and survey methods are combined in a multi-proxy approach. Interviews with locals are conducted to investigate how the urban history is reflected in the collective memory to this day. Interdisciplinary fieldwork at selected Buddhist monastic as well as military garrison sites in Central Mongolia provide new insights into the age and functions of the military complexes, the building structures of monasteries, and their perception, interpretation and current roles as lieux de memoire among the local nomadic population, indicating stark differences in the significance of the ruined remains of monastic versus military sites.

Stefanie Fricke Ruinen des technologischen Fortschritts in der viktorianischen Kultur und Literatur Viele Viktorianer erlebten das 19. Jahrhundert als ein Zeitalter bisher noch nicht gesehenen Fortschritts. Erfindungen wie die Eisenbahn, der Telegraph und später das Telefon, die Dampfschifffahrt, die Fotografie und elektrisches Licht veränderten das alltägliche Leben grundlegend. Die „fairy tales of science“ schienen nur eine Richtung zu kennen: „Forward, forward let us range, / Let the great world spin for ever down the ringing grooves of change“,1 hieß es 1842 in Alfred Tennysons „Locksley Hall“. Doch dieser stetige Fortschritt war häufig nur durch die Verdrängung oder sogar Zerstörung des bereits Bestehenden möglich. Zudem verursachten die ständigen Veränderungen auch ein Gefühl des Verlustes und des Abgeschnittenseins von der Vergangenheit, was wiederum zu einer Auseinandersetzung mit historischem Wandel und letztendlich auch zu einer Bewusstwerdung der Endlichkeit der eigenen Zivilisation führte.2 Der Enthusiasmus über den technologischen Fortschritt enthielt also immer bereits den Schatten des Untergangs, „the future itself was already adulterated with spectres of collapse and loss“.3 Ein populäres Bild, in dem sich dieses Nebeneinander besonders eindringlich manifestiert, ist das der Ruinen Londons, wobei die Viktorianer diese sowohl ­direkt – als Folge städtischer Umbaumaßnahmen, vor allem durch den Ausbau der Eisenbahn – wie auch in fiktionaler Form – als Imagination eines künftigen Londons in Ruinen – erlebten.

1 Alfred

Tennyson: Locksley Hall. In: Christopher Ricks (Hg.): The Poems of Tennyson in Three Volumes. Bd. 2. Harlow 1987, S. 118–130, V. 12, V. 181 f. Zum Fortschrittsglauben der ­Viktorianer siehe Jerome Hamilton Buckley: The Triumph of Time. A Study of the Victorian Concepts of Time, History, Progress, and Decadence. Cambridge, MA 1966; Peter J. Bowler: The Invention of Progress. The Victorians and the Past. Oxford 1989. 2  Raymond Chapman: The Sense of the Past in Victorian Literature. London 1986, S. 5  f., S. 13 f. 3  Lynda Nead: Victorian Babylon. People, Streets and Images in Nineteenth-Century London. New Haven/London 2000, S. 212. Auch Barbara Korte: After London – Die Metropole als Zukunftsruine bei Richard Jefferies (1885) und Ronald Wright (1997). In: Julika Griem/Hans Ulrich Seeber (Hg.): Raum- und Zeitreisen: Studien zur Literatur und Kultur des 19. und 20. Jahrhunderts. Tübingen 2003, S. 139–155, hier: S. 140. https://doi.org/10.1515/9783111071848-011

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Attila in London: Die Eisenbahn und urbane Ruinen Die grundlegenden technologischen Veränderungen des 19. Jahrhunderts wurden, wie es in Tennysons Gedicht anklingt, für die Zeitgenossen vor allem durch die Eisenbahn symbolisiert. 1901 schrieb H. G. Wells: „The nineteenth century, when it takes its place with the other centuries in the chronological chart of the future, will, if it needs a symbol, almost inevitably have as that symbol a steam engine running upon a railway.“4 Doch nicht alle Zeitgenossen waren begeistert über das scheinbar unaufhaltsame Vordringen der Eisenbahn. So klagte William Wordsworth 1844 in einem Protestgedicht gegen den Bau einer Eisenbahnlinie in den Lake District: „Is then no nook of English ground secure / From rash assault?“5 Wordsworth fürchtete unter anderem die negativen Auswirkungen des ständig wachsenden Eisenbahnnetzes auf die Landschaft und Natur des Lake Districts, und tatsächlich wurde bei der Planung und Ausführung neuer Strecken häufig wenig Rücksicht genommen. Zerstörungen und Beeinträchtigungen durch den Ausbau der Eisenbahn betrafen nicht nur die Landschaft, sondern auch historische Monumente und Gebäude aller Art, die im Namen des Fortschritts und des Profits geopfert wurden.6 John Moxon, der Präsident der „London & Croydon Eisenbahn Company“, wurde 1839 vor einem parlamentarischen Ausschuss zur Streckenführung und zum Umgang mit etwaigen Hindernissen befragt: „You think, that supposing it were advantageous to carry a railroad through Westminster Abbey, there would be no injustice in it, supposing that to be the best engineering line? – My answer was not intended to go so great a length as that; but I say, that if any building, church, or anything else, stands in the way of paramount public interest, it ought to be taken down. […] I cannot understand how any church or any private house, let it be what it may, can stand in the way of it. – You would not mind demolishing Blenheim, or any other house, if the line must pass through it? – Your Lordship puts very strong cases; I hope your Lordship will allow me to say, that it must be a great exception in my mind that would induce me to say that Blenheim must not be taken down.“7 Die gleiche Thematik 4 

H. G. Wells: Anticipations of the Reaction of Mechanical and Scientific Progress upon Human Life and Thought. Auckland 1902, S. 7. 5  William Wordsworth: Sonnet on the Projected Kendal and Windermere Railway. In: Morning Post, 16. Oktober 1844, V. 1–2. Zu Wordsworth und der Eisenbahn siehe Saeko Yoshikawa: William Wordsworth and Modern Travel. Railways, Motorcars and the Lake District, 1830–1940. Liverpool 2020. Neben Wordsworth beklagten auch John Clare, John Stuart Mill und vor allem John Ruskin die Zerstörung der Landschaft durch die Eisenbahn; Gordon Biddle: Railways, their Builders, and the Environment. In: A. K. B. Evans/J. V. Gough (Hg.): The Impact of the Railway on Society in Britain. Essays in Honour of Jack Simmons. Aldershot 2003, S. 117–128, hier: S. 121. Zum Protest gegen Eisenbahnen siehe auch Micheline Nilsen: Railways and the Western European Capitals. Studies of Implantation in London, Paris, Berlin, and Brussels. New York 2008, S. 7–10. 6  Zu dieser Thematik siehe Jack Simmons: The Victorian Railway. New York 1991, S. 155–173. 7  [o. A.]: Parliamentary Papers (House of Commons). Second Report from the Select Committee on Railways. 1839. Bd. 10, S. 14, Absatz 1572 und 1576–1577; für Nutzer und Nutzerinnen der Bayerischen Staatsbibliothek München bzw. über https://parlipapers.proquest.com/ nach Anmeldung online zugänglich (letzter Zugriff am 1. 2. 2022).

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nahm das Satiremagazin „Punch“ 1842 auf, als es in einem Artikel zu einer angeblich geplanten Eisenbahnlinie zwischen England und China schrieb: „It is intend­ ed that the Terminus in England shall be upon the present site of ST. PAUL’S CATHEDRAL, LONDON, which, for the purposes of this undertaking, is to be pulled down. With this view, the Bishop of London has already been applied to for a grant of the land upon which it stands, with which application it is con­ fidently expected his lordship will readily comply; should he, however, object to the proposal, an application will immediately be made to Parliament on the subject, when, of course, the church will at once be placed at the disposal of the Company.“8 Wie in der oben zitierten parlamentarischen Anhörung von 1839 wird auch hier anhand der Nennung einer bedeutenden Kirche impliziert, dass den Eisenbahn-Verantwortlichen und der Regierung nichts heilig ist. Die spirituellen Zentren Großbritanniens sollen für Profit und Fortschritt geopfert werden. Tatsächlich schienen selbst bedeutende historische Bauwerke, Symbole der britischen Vergangenheit und nationalen Identität nicht mehr unantastbar zu sein, und diverse prähistorische, römische und mittelalterliche Überreste, Stadtmauern und Gebäude (beispielsweise Trinity Hospital in Edinburgh, die Überreste von Kloster Lewis, die Burgen von Northampton, Newcastle und Berwick-on-Tweed) wurden für Eisenbahntrassen oder Bahnhöfe ganz oder teilweise zerstört. Der Bau einer Linie durch den Prozessionsweg von Stonehenge konnte 1883 gerade noch verhindert werden.9 Vor allem in den Städten kam es durch die Eisenbahn zu großen Zerstörungen.10 Prinzipiell war dies nichts Neues: Auch schon früher waren im Zuge von städtischen Baumaßnahmen Gebäude niedergerissen worden, beispielsweise um Straßen anzulegen oder zu vergrößern, oder zum Bau von Kanälen und Dockanlagen.11 Doch die durch die Eisenbahn bedingten Umbaumaßnahmen erreichten eine neue Qualität: „The Victorian railway was also the most important single agency in the transformation of the central area of many of Britain’s major cities. Unlike the ubiquitous horse omnibus, cab or tramcar, operating cheaply upon the public thoroughfare, it could only function if large areas of the town were exclusively set aside for its fixed routes and separate rights of way.“12 London wurde ab den 1830er-Jahren an das Eisenbahnnetz angeschlossen. Von Anfang an kam es dabei zur substanziellen Zerstörung von Gebäuden und Wohnraum, beispielsweise als für den Ausbau der „London and Blackwall Railway“ 2 850 Menschen ihre Wohnungen verloren.13 In den folgenden Jahren nahm der  8 

[o. A.]: Grand Railway from England to China. In: Punch III (1842), S. 205. Simmons: Railway (wie Anm. 6), S. 156–162, S. 168; Biddle: Railways (wie Anm. 5), S. 124 f. 10  Zur Transformation der Städte siehe auch Wolfgang Schivelbusch: Geschichte der Eisenbahnreise. Zur Industrialisierung von Raum und Zeit im 19. Jahrhundert. Frankfurt a. M. 32004. 11  Nilsen: Railways (wie Anm. 5), S. 30. 12  John R. Kellett: The Impact of Railways on Victorian Cities. London 1969, S. 289. 13  Michael Robbins: London. In: Jack Simmons (Hg.): The Oxford Companion to British Railway History from 1603 to the 1990s. Oxford 1998, S. 277–281, hier: S. 277; Nilsen: Railways (wie Anm. 5), S. 30.  9 

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Ausbau der Eisenbahn-Infrastruktur stetig zu: „In London, in 1846, no fewer than 19 projects for urban railways were put forward, involving so great a change in land use that the Select Committee considering each bill on its individual merit were reinforced by a Royal Commission to consider the general effects of railway schemes upon ‚the thoroughfares of the metropolis and the property and comfort of its inhabitants‘.“14 Diese Kommission definierte 1846 auch einen Bereich im Zentrum Londons, in den die Eisenbahnlinien nicht vordringen durften.15 Diese Einschränkung verhinderte allerdings nicht die Zerstörungen außerhalb dieses Gebietes. Da London größtenteils dicht bebaut war, konnte der Platz für die Eisenbahn-Infrastruktur in den meisten Fällen nur dadurch geschaffen werden, dass bestehende Gebäude abgerissen wurden.16 Wie konfus und tiefgreifend die Zerstörung auf die Zeitgenossen wirkte, und wie sehr Fortschritt mit urbaner Zerstörung verbunden war, wird in einer berühmten Szene aus dem Roman „Dombey and Son“ (1846–1848) deutlich, in dem Charles Dickens die Veränderungen im nördlichen Vorort Stagg’s Garden darstellt: „The first shock of a great earthquake had, just at that period, rent the whole neighbourhood to its centre. […] Houses were knocked down; streets broken through and stopped; deep pits and trenches dug in the ground; enormous heaps of earth and clay thrown up; buildings that were undermined and shaking, propped by great beams of wood. Here, a chaos of carts, overthrown and jumbled together, lay topsy-turvy at the bottom of a steep unnatural hill; there, confused treasures of iron soaked and rusted in something that had accidentally become a pond. Everywhere were bridges that led nowhere; thoroughfares that were wholly impassable; Babel towers of chimneys, wanting half their height; temporary wooden houses and enclosures, in the most unlikely situations; carcases of ragged tenements, and fragments of unfinished walls and arches, and piles of scaffolding, and wildernesses of bricks, and giant forms of cranes, and tripods straddling above nothing. There were a hundred thousand shapes and substances of incompleteness, wildly mingled out of their places, upside down, burrowing in the earth, aspiring in the air, mouldering in the water, and unintelligible as any dream. […] In short, the yet unfinished and unopened Railroad was in progress; and, from the very core of all this dire disorder, trailed smoothly away, upon its mighty course of civilisation and improvement.“17 1858 wurden die Einschränkungen aufgehoben, welche die Eisenbahn bis dahin aus dem Stadtzentrum ferngehalten hatten, und der Ausbau der Eisenbahn verstärkte sich noch einmal.18 Die dadurch bedingte Zerstörung war substanziell. 14 

Kellett: Impact (wie Anm. 12), S. 10. Simmons: Railway (wie Anm. 6), S. 164 f. 16  Kellett: Impact (wie Anm. 12), S. 331. 17  Charles Dickens: Dombey and Son. Hg. von Alan Horsman. [1846–1848]. ND Oxford 2008, S. 68. Zu Dickens und der Eisenbahn siehe Trey Philpotts: Dickens and Technology. In: David Paroissien (Hg.): A Companion to Charles Dickens. Malden 2008, S. 199–215. 18  Simmons: Railway (wie Anm. 6), S. 165–167. Hinzu kamen von 1860 bis 1863 auch noch umfangreiche Bauarbeiten für die erste U-Bahn der Welt; Nead: Babylon (wie Anm. 3), S. 36–39. 15 

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H. J. Dyos zitiert zeitgenössische Quellen, nach denen beispielsweise 1866 für den Ausbau der Linie der „Midland Railway Company“ in Somers, Camden und Agar Towns 4 000 Häuser zerstört und 32 000 Bewohner obdachlos wurden.19 Besonders häufig wurden Häuser in armen, dicht besiedelten Wohngegenden der Arbeiterschicht abgerissen, da dort die Bodenpreise niedriger waren und mit weniger effektiver Opposition zu rechnen war.20 Es ist unmöglich festzustellen, wie viele vor allem ärmere Londoner durch den Ausbau der Eisenbahn-Infrastruk­ tur ihren Wohnraum verloren. Schätzungen für die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts reichen von mindestens 80 00021 bis 120 000.22 Was aus den nun Wohnungslosen wurde, schien nur wenige zu kümmern. Ganz im Gegenteil begrüßten viele Zeitgenossen die Beseitigung der als Slums wahrgenommenen Viertel und hofften, dass die betroffenen Bezirke durch die Eisenbahn „improved“ werden würden.23 Diese Geisteshaltung wird in einem Editorial der „Times“ von 1861 deutlich: „Government, therefore, has nothing to do with providing dwellings for the poor, and has no more right to impose an obligation of this sort on railways than on anybody who pulls down a dwellinghouse to build something else – a church, for example – in its place. The interference is both idle and contrary to the usages of this country. It can end in no good. We accept railways with their consequences, and we don’t think the worse of them for ventilating the City of London.“24 Doch nicht alle Londoner teilten die Meinung der „Times“. Die Zerstörungen durch die Eisenbahn und die dadurch bedingte Verdrängung der ehemaligen Be19  H[arold] J[ames] Dyos: Railways and Housing in Victorian London: I. „Attila in London“. In: The Journal of Transport History 2 (1955) 1, S. 11–21, hier: S. 12. 20  Kellett: Impact (wie Anm. 12), S. 326, S. 331; H[arold] J[ames] Dyos: Railways and Housing in Victorian London: II. „Rustic Townsmen“. In: The Journal of Transport History 2 (1955) 2, S. 90–100, hier: S. 95. 21  Dyos: Railways II (wie Anm. 20), S. 96. 22  Kellett: Impact (wie Anm. 12), S. 325–327. 23  Dyos: Railways I (wie Anm. 19), S. 14  f. 24  [o. A.]: The Times, 12. 3. 1861, S. 9. Hoffnungen, dass die nun Wohnungslosen in die Vororte umsiedeln würden, waren jedoch unrealistisch: „In fact, the working classes vigorously resisted any tendency to be moved from their homes in the very heart of London before the eighties, for not only would even the shortest removal involve the loss of tangible benefits, but it would endanger their very livelihoods as well. It was estimated, when metropolitan railway building was at its height in the middle sixties, that about 680,000 workers in Central London depended upon casual labour, and for these, whose employment was daily or hourly, distant lodgings would have been a crippling handicap.“; zitiert nach Dyos: Railways I (wie Anm. 19), S. 15. Die meisten ­zogen in die angrenzenden Distrikte, in denen sich dadurch die Lebensbedingungen noch weiter verschlechterten. Mieten in den verbleibenden Häusern stiegen durch die größere Nachfrage sowie allgemein durch die Anbindung an die Eisenbahn und die damit verbundene Aufwertung der Grundstückspreise; Dyos: Railways I (wie Anm. 19), S. 15 f. Im Gegensatz zu den Besitzern der Gebäude hatten die Mieter, die meist nur kurze Mietverträge abschlossen, keinen rechtlichen ­Anspruch auf Entschädigung, und vor 1874 wurden von Seiten der Regierung auch keinerlei Maßnahmen getroffen, um die Eisenbahngesellschaften zu verpflichten, neuen Wohnraum für die wohnungslos Gewordenen zu schaffen. Auch als es dann derartige gesetzliche Vorgaben gab, wurden diese bis 1885 kaum erfüllt und waren selbst danach nicht besonders effektiv; Dyos: Railways I (wie Anm. 19), S. 14–19; Nilsen: Railways (wie Anm. 5), S. 38 f.

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wohnerinnen und Bewohner wurden durchaus kritisch in der Presse und in der öffentlichen Diskussion dargestellt, so auch in dem Artikel „Attila in London“, der 1866 in der von Charles Dickens herausgegebenen Zeitschrift „All the Year Round“ erschien und eindringlich die Ruinenlandschaft beschrieb, die durch die Eisenbahn geschaffen worden war: „A more complete picture of devastation could not be imagined. Looking down from our vantage-point on the roof, we trace the progress of destruction as it is being carried on, and we see its ravages on every side. Whole streets of small tenements have disappeared as utterly as Aladdin’s palace or Jonah’s gourd. Acre upon acre out of the heart of a densely populated district has been laid bare. Huge stacks of old bricks, piebald with the mortar sticking to them; heaps of discoloured timeworn woodwork, such as staircases, wainscots, moorings, and heavy beams; masses of plaster, with rafters and laths sticking up at odd angles, as if belonging to a dishevelled and dusty giant porcupine; ragged ugly walls with patches of garish-coloured paper, to mark where rooms once were; front sections of houses only half pulled down, and with their broken windows and crumbling faces looking like very ill-used stage flats; a barren wilderness of nondescript rubbish, hedged in by artificial ruins; and vast tracts on which sturdy labourers are at work with pickaxe and shovel, make up the prospect before us. Leaning over the narrow parapet, I see the same picture du­ plicated to right and left. Everywhere roofless ghastly ruins, only varied by vast Saharas of brickdust, old building materials, and a repetition of the shapeless heaps of rubbish. Here or there, a tree or shrub may be seen mournfully asserting its vitality, and looking amid the uniform waste like a landmark in flooded fields. […] a few traces of broken plates and crockery; a rusty spoon or two, and a brown old shoe; are the only waifs and strays which speak of the thousands of men, women, and children who were dwelling here a few months ago.“25 Von einem einst dicht besiedelten Stadtteil sind nur Ruinen geblieben. Im Angesicht der Zerstörung drängten sich dem Autor Vergleiche mit den Ruinenstädten der Antike auf, doch erschienen diese ihm sogar noch „lebendiger“ als die Zerstörung vor seinen Augen: „Pompeii and Herculaneum are redolent of living human interest when compared with the ugly blank below. In the lava-covered cities, symbols of the busy pleasure-loving life of nearly two thousand years ago arrest you at every corner. Here, with the late inhabitants still alive and working, every vestige of their existence has been swept away.“26 Dieser Rekurs auf die Vergangenheit, um die Gegenwart zu beschreiben, wird bereits im Titel des Artikels, „Attila in London“, deutlich, der die Zerstörung durch die Eisenbahn mit dem Wüten des Hunnenkönigs Attila gleichsetzte und diese dadurch negativ konnotierte. Ähnlich sprach auch 1863 das Satiremagazin „Punch“ von der „barbarous covetousness“ der „Goths and Vandals Railway“.27 25  Joseph

Charles Parkinson: Attila in London. In: All the Year Round 370, 26. 5. 1866, S. 466– 469, hier: S. 467. 26  Ebd., S. 467. 27  [o. A.]: The Goths and Vandals Railway. In: Punch, 10. 10. 1863, S. 146.

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Die bisher unbekannten Destruktionen mitten in der Metropole schienen am ­ esten mit Verweisen auf die berühmt-berüchtigten Zerstörer der Vergangenheit b beschreibbar zu sein.

Der Neuseeländer und die Ruinen Londons Dieser Diskurs, in dem eine Beziehung zwischen Großbritannien, dem Schicksal der antiken Reiche und dem Wirken der Eisenbahn hergestellt wird, findet sich auch im nächsten Beispiel, allerdings mit dem Fokus auf der Zukunft Londons. 1866 wurde ein Eisenbahnviadukt eröffnet, das den Blick auf St. Paul’s deutlich beeinträchtigte.28 Bereits 1863 hatte der „Punch“ – allerdings erfolglos – gegen die Pläne dafür gewettert: „The thirty Railways or so which are to intersect the Metro­polis will be hard lines for London. The British Capital will be disfigured under the pretence of improvement. […] What is the use of trying to improve the Capital of the British Empire, if it is to become the mere Capital of Railways? […] It has been proposed that the old useless City Churches should be secularised and replaced by others in the country, where congregations would exist for them. This project did not include St. Paul’s. That sacred edifice, however, might just as well be likewise desecrated; for nobody will attend service in it, unless officially obliged to, with a Railway roaring like an inferior place in its immediate neighbourhood. That Railway is to cross Ludgate Hill in mid air, and the same atrocious eyesore, spanning the River, will shut out the view of the Cathedral from Blackfriars’ Bridge. Its remains, therefore, will effectually prevent any future New Zealander from taking his sketch of the ruins of St. Paul’s from that point, at any rate. In the meantime St. Paul’s had best be converted into a Terminus. What else will it be fit for when every Railway runs right into London, and we worship the god Terminus?“29 Hier findet sich eine zunächst kryptische Referenz auf einen „future New Zealander“, dessen Blick auf St. Pauls durch die zukünftigen Ruinen des Eisenbahnviadukts behindert werden wird. Diese Anspielung bezieht sich auf ein Bild, das der Historiker Thomas Babington Macaulay 1840 in seiner Besprechung von ­Leopold von Rankes „Die römischen Päpste in den letzten vier Jahrhunderten“ (1834–1836) entwickelte. Darin schrieb Macaulay über die katholische Kirche: „No other institution is left standing which carries the mind back to the times when the smoke of sacrifice rose from the Pantheon, and when camelopards and tigers bounded in the Flavian amphitheatre. […]. She saw the commencement of all the governments and of all the ecclesiastical establishments that now exist in the world; and we feel no assurance that she is not destined to see the end of them all. She was great and respected before the Saxon had set foot on Britain, before the Frank had passed the Rhine, when Grecian eloquence still flourished in An28  29 

Simmons: Railway (wie Anm. 6), S. 165. [o. A.]: Our Railway Capital. In: Punch, 28. 3. 1863, S. 128.

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tioch, when idols were still worshipped in the temple of Mecca. And she may still exist in undiminished vigour when some traveller from New Zealand shall, in the midst of a vast solitude, take his stand on a broken arch of London Bridge to sketch the ruins of St. Paul’s.“30 Als Macaulays Artikel 1840 erschien, war Neuseeland, das im selben Jahr zur britischen Kolonie erklärt wurde, ein in der Presse häufig behandeltes Thema. Gleichzeitig war Neuseeland von Großbritannien weit entfernt und wurde als wild und unzivilisiert wahrgenommen, was das Bild eines zukünftigen, offenbar gebildeten Neuseeländers als Rezipient der Ruinen Londons noch eindringlicher machte.31 Die Imagination des untergegangenen Londons in Anlehnung an die Ruinen antiker Reiche war im 19. Jahrhundert nichts Neues. Ähnliche literarische und auch bildliche Darstellungen finden sich seit dem 18. Jahrhundert immer wieder.32 In diesen Texten gab es auch häufig Darstellungen von zukünftigen Touristen, die die Ruinen Londons besuchen. Allerdings scheint Macaulay mit seinem Bild einen Nerv getroffen zu haben, denn „der Neuseeländer“ wurde zu dem ikonografischen Bild des zukünftigen Touristen, wie auch die beiläufige Erwähnung im „Punch“ zeigt, und tauchte in den folgenden Jahrzehnten in Romanen, Sachtexten und einer großen Anzahl weiterer Kontexte auf (Abb. 1).33 In den meisten dieser Texte ist „der Neuseeländer“ nur ein Motiv, das die Zukunft markiert, die bedrohlichen Implikationen dieses Bildes werden ignoriert. Anders ist es bei politisch motivierten Texten und Reden, in denen das Kommen des Besuchers aus der fernen Kolonie als drohendes Resultat zeitgenössischer Entwicklungen präsentiert wird.34 Ein Beispiel hierfür ist der Roman „Archimago“ 30 Thomas

Babington Macaulay: Von Ranke. In: Lady Tevelyan (Hg.): Miscellaneous Works of Lord Macaulay. Bd. 2. New York 1895, S. 614–654, hier: S. 614–616. Macaulay hatte schon früher ähnliche Bilder verwendet; vgl. seinen Artikel über William Mitfords „History of Greece“ von 1824, die Rezension zu James Mills „Essays on Government, Jurisprudence, the Liberty of the Press, Prisons, and Prison Discipline, Colonies, the Law of Nations, and Education“ von 1829 und einen Tagebucheintrag vom 22. 11. 1838. 31  Michael Bright: Macaulay’s New Zealander. In: The Arnoldian 10 (1982) 1, S. 8–27, hier: S. 14–16. 32  Siehe dazu auch Stefanie Fricke: Memento Mori. Ruinen alter Hochkulturen und die Furcht vor dem eigenen Untergang in der englischen Literatur des 19. Jahrhunderts. Trier 2009. Die Ausführungen zu Macaulay, Jefferies und Wells beruhen zum Teil auf diesem Werk. 33 Zur Wirkungsgeschichte des Neuseeländers siehe Robert Dingley: The Ruins of the Future: Macaulay’s New Zealander and the Spirit of the Age. In: ders./Alan Sandison (Hg.): Histories of the Future. Studies in Fact, Fantasy and Science Fiction. Basingstoke 2000, S. 15–33; Bright: Macaulay’s New Zealander (wie Anm. 31) und David Skilton: Contemplating the Ruins of London. Macaulay’s New Zealander and Others. In: Literary London 2 (2004) 1, online zugänglich unter: http://www. literarylondon.org/london–journal/march2004/skilton.html (letzter Zugriff am 17. 9. 2021): Die heute bekannteste Manifestation des „New Zealanders“ ist wahrscheinlich eine bildliche Darstellung des französischen Künstlers und populären Buchillustrators Gustave Doré in dem vom Journalisten Blanchard Jerrold verfassten Werk „London. A Pilgrimage“ (1872); siehe auch Abbildung 1. 34  Skilton: Ruins of London (wie Anm. 33), Absatz 5, Absatz 7; Bright: Macaulay’s New Zealander (wie Anm. 31), S. 8 f. Ein Beispiel hierfür ist Anthony Trollopes unveröffentliches Werk „The New Zealander“, das vor dem Hintergrund des Krimkriegs entstand und in dem er ein moderates Reformprogramm darlegt.

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Abbildung 1: Gustave Doré: „Der Neuseeländer“ in den Ruinen Londons. Entnommen aus: Blanchard Jerrold: London. A Pilgrimage. London 1872.

von Frank Carr, der 1864 unter Pseudonym erschien. Darin tritt ein Erzähler auf, der zu Beginn der Geschichte die Position des Neuseeländers einnimmt: „I sit upon the last crumbling stones of that bridge, – erst the famous London Bridge. Pavement, footway, parapet, abutment, pillar, pier, all, all are gone. A rough, steep bank leads to the water on its northern site. The river, not as of old, sluggish, thick, and black, but lively, clear, and sparkling, flows unbroken o’er its foundations – and I, on the few last mouldering stones, once lifting up the most heroic spot in Middlesex, survey the ruined and desolate city. Ruin of Ruins! I behold – before, behind, around – of all man’s works.“35 In der Schilderung der Themse, die nun nicht mehr verunreinigt ist, wird bereits deutlich, dass der Untergang Londons in diesem Werk nicht unbedingt negativ gesehen wird. Dies bestätigt auch der Rest des Romans, der in seiner Darstellung des früheren Londons Sozialkritik mit fantastischen Elementen vermischt, um die moralische Verdorbenheit der viktorianischen Gesellschaft offenzulegen. Hierbei findet sich neben kritisch-satirischen Darstellungen der korrupten Presse, allgemeiner Spielsucht und unmoralischer Geschäftspraktiken auch ein kritischer Kommentar zu den scheinbar maßlosen urbanen Erneuerungen, die London beständig transformieren: „I was astounded, on coming into the busy city once more, to observe great changes wrought in its appearance. Some of the bridges over the river, that I had left intact, were nearly demolished, and others were springing up to supplant them. Market-places, hotels, and houses, were in ruins, or had put on a new aspect. Arches had risen over many thoroughfares, and 35 

Frank Carr: Archimago. London 1864, S. 1.

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steamtrains swept above and between houses, to the jeopardy of upper tenements and tenants. What with digging up and pulling down, building and improving, restoring and adding, I could scarce recognise the old streets, or the old stream. These alterations, I remembered, had always been going on during my daily ­travels; but daily use habituated the eye to the work, so that it knew it not. My absence made the revolution seem a miracle. In their last days, this people were great changers; their metropolis, indeed, became the Hospital of Cities.“36 Von den ständigen Umbaumaßnahmen der Vergangenheit bis zu den Ruinen Londons ist es in diesem Werk nur ein kleiner Schritt. Der Neuseeländer verkörpert bei Macaulay und in seinen anderen Manifestationen zwar den zukünftigen Untergang Londons und damit implizit auch Großbritanniens, doch scheint er dessen Ruinen in angemessener Weise, analog zu dem Verhalten britischer Touristen im Angesicht antiker Ruinen, zu rezipieren. Die Überreste Londons werden hier Teil des traditionellen Ruinendiskurses und können auch weiterhin dauerhaftes Zeugnis von Großbritanniens früherer Größe geben, das damit auch in eine Linie mit den großen Reichen der Antike gestellt wird. Ein völlig anderes Bild wird in dem Zukunftsroman „After London or Wild England“ von Richard Jefferies aus dem Jahr 1885 entworfen, in dem der Autor zeitgenössische Probleme der urbanen Umweltverschmutzung aufnimmt und mit der Darstellung Londons in Ruinen verbindet.

London als Todessumpf: „After London or Wild England“ Jefferies beschreibt in „After London“ ein zukünftiges Großbritannien, das in quasi­ mittelalterliche Zustände zurückgefallen ist und dessen Gesellschaft von Gewalt, sozialer Ungerechtigkeit und dem Verlust der Zivilisation gekennzeichnet ist. Auslöser dafür war eine nicht genauer bekannte Katastrophe, durch die ein Großteil der britischen Bevölkerung verschwand. In der Folge ging wertvolles Wissen verloren, und die Natur eroberte sich das nun nur noch dünn besiedelte Land zurück. Jefferies schildert eindringlich die Fragilität der modernen Infrastruktur, die schnell von der Natur überwuchert wurde: „It became green everywhere in the first spring, after London ended.“37 Dämme brachen, Brücken stürzten ein, und ganze Städte wurden überschwemmt.38 Viele Errungenschaften konnten nicht mehr aufrechterhalten werden, weil das nötige Wissen fehlte: „The cunning artificers of the cities all departed, and everything fell quickly into barbarism.“39 Für die Bewohner Englands ist der technologische Fortschritt ihrer Vorfahren kaum mehr vorstellbar: „They also sent intelligence to the utmost parts of the earth along wires which were not tubular, but solid, and therefore could not transmit 36 

Ebd., S. 52 f. Richard Jefferies: After London or Wild England. Hg. von John Fowles. Oxford 1980, S. 1. 38  Ebd., S. 3  f. 39  Ebd., S. 18. 37 

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sound, and yet the person who received the message could hear and recognize the voice of the sender a thousand miles away. With certain machines worked by fire, they traversed the land swift as the swallow glides through the sky, but of these things not a relic remains to us. What metal-work or wheels or bars of iron were left, and might have given us a clue, were all broken up and melted down for use in other ways when metal became scarce. Mounds of earth are said to still exist in the woods, which originally formed the roads for these machines, but they are now so low, and so covered with thickets, that nothing can be learnt from them; and, indeed, though I have heard of their existence, I have never seen one. Great holes were made through the very hills for the passage of the iron chariot, but they are now blocked by the falling roofs, nor dare any one explore such parts as may yet be open.“40 Gerade die Eisenbahn und die Überreste ihrer Infrastruktur erscheinen dem zukünftigen Erzähler hier als besondere Symbole der einstigen technologischen Errungenschaften – beziehungsweise für deren Verlust. Die alten Städte sind verlassen, was nicht nur auf den allgemeinen Bevölkerungsrückgang zurückzuführen ist, sondern vor allem auf die Tatsache, dass sich diese Orte durch die Abfälle der Zivilisation in tödliche Fallen verwandelt haben. Dies wird am deutlichsten in der Beschreibung des zukünftigen Londons als „a vast stagnant swamp, which no man dare enter, since death would be his inevi­ table fate. There exhales from this oozy mass so fatal a vapour that no animal can endure it. The black water bears a greenish-brown floating scum, which for ever bubbles up from the putrid mud of the bottom. When the wind collects the miasma, and, as it were, presses it together, it becomes visible as a low cloud which hangs over the place. […] There are no fishes, neither can eels exist in the mud, nor even newts. It is dead. The flags and reeds are coated with slime and noisome to the touch; there is one place where even these do not grow, and where there is nothing but an oily liquid, green and rank. […] For all the rottenness of a thousand years and of many hundred millions of human beings is there festering under the stagnant water, which has sunk down into and penetrated the earth, and floated up to the surface the contents of the buried cloacae.“41 Ähnliches gilt auch für die anderen Städte: „the sites are uninhabitable because of the emanations from the ruins. Therefore they are avoided. […] Nor can the ground be cultivated near the ancient towns, because it causes fever […]. And thus the cities of the old world, and their houses and habitations, are deserted and lost in the forest.“42 Als im späteren Verlauf des Romans der Protagonist durch Zufall nach London kommt, bringt ihm die verseuchte Umgebung fast den Tod. Umgeben von gelbem, giftigem Nebel stolpert er durch eine apokalyptische Landschaft aus schwarzem Wasser und schwarzem Erdboden, „composed of the mouldered bodies of millions of men who had passed away in the centuries during which the city

40 

Ebd., S. 17 f. Ebd., S. 37 f., auch S. 206. 42  Ebd., S. 39. 41 

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existed“.43 Schließlich trifft der Protagonist auf Ruinen des einstigen Londons, doch diese zerfallen unter seiner Berührung zu Staub: „Presently a white object appeared ahead; and on coming to it, he found it was a wall, white as snow, with some kind of crystal. He touched it, when the wall fell immediately, with a crushing sound as if pulverised, and disappeared in a vast cavern at his feet. Beyond this chasm he came to more walls like those of houses, such as would be left if the roofs fell in. He carefully avoided touching them, for they seemed as brittle as glass, and merely a white powder having no consistency at all. As he advanced these remnants of buildings increased in number, so that he had to wind in and out round them. […] Whether the walls had been of bricks or stone or other material he could not tell; they were now like salt.“44 Jefferies nimmt mit seiner albtraumhaften Darstellung des untergegangenen Londons Bezug auf die immer weiter zunehmende Umweltverschmutzung der Großstädte,45 die John Ruskin 1866 zur Beschreibung Londons als „that great foul city of London there, – rattling, growling, smoking, stinking, – a ghastly heap of fermenting brickwork, pouring out poison at every pore“46 veranlasst hatte. Jefferies selbst stand London ambivalent gegenüber, war gleichzeitig fasziniert von den Möglichkeiten der Metropole und abgestoßen von Schmutz und Lärm.47 In seiner Schilderung des tödlichen Sumpfes verbindet er die zeitgenössische Diskussion über die Verschmutzung der Themse mit dem berühmten Londoner Smog.48 Dessen Auswirkungen selbst auf das Umland der Metropole beschrieb Jefferies in einem Essay von 1893 mit Worten, die an die Szenerie von „After London“ erinnern: „on the light north-east wind there came slowly towards me a bluish-yellow mist, the edge of which was clearly defined, and which blotted out distant objects and blurred those nearer at hand. The appearance of the open arable field over which I was looking changed as it approached. In front of the wall of mist the sunshine lit the field up brightly, behind the ground was dull, and yet not in shadow. It came so slowly that its movement could be easily watched. When it went over me there was a perceptible coolness and a faint smell of damp smoke, and immediately the road, which had been white under the sunshine, took a dim, yellowish hue. […] It was clearly the atmosphere – not the fog – but simply the atmosphere of London brought out over the fields by a change in the wind.“49

43 

Ebd., S. 206. Ebd., S. 204. 45  Korte: London (wie Anm. 3), S. 151; Oliver Lindner: ‚After London‘: The Death of the Metropolis in the Fiction of Richard Jefferies. In: ZAA 54 (2006) 3, S. 249–263. 46  John Ruskin: The Crown of Wild Olive. Three Lectures on Work, Traffic, and War. Ruskin’s Works. Bd. 20. Chicago/New York 1866, S. 21. 47  Brian Taylor: Richard Jefferies. Boston 1982, S. 17; Edward Thomas: Richard Jefferies. [1909]. ND London 1978, S. 107–111. 48  Zur Luftverschmutzung in London siehe Peter Brimblecombe: The Big Smoke. A History of Air Pollution in London since Medieval Times. London/New York 1987. 49  Richard Jefferies: Nightingale Road. In: ders.: Nature near London. London 1883, S. 40–54, hier: S. 50 f. 44 

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Jefferies’ Schilderung des schwarzen, vergifteten Erdbodens erinnert zudem an das zeitgenössische Problem der leckenden Gasleitungen: „Wo diese undicht ­wurden, strömte Gas in den Boden. Nach einem Bericht des Medical Officer for Health 1860 waren es allein in London jährlich 386 Millionen Kubikfuß Gas, die auf diese Weise in den Boden gelangten, nach anderen Schätzungen sogar das Doppelte. Das Gas, fährt der Bericht fort, schwärze den Boden und mache seinen Geruch so widerwärtig, daß man die Ausdünstungen kaum ertragen könne. Wegen seiner giftigen Wirkung mache es die Kellerräume unbewohnbar und wegen seiner Explosivität ebenso gefährlich. Schließlich verpeste es auch das Wasser. Die allmähliche Vergiftung der Städte aus dem Untergrund wurde eine Schreckensvision, die mit der Ausdehnung der Gasindustrie zunehmend Gestalt annahm.“50 In Jefferies’ Roman ist London also nicht nur untergegangen, sondern auch für zukünftige Besucher unerreichbar geworden. Anders als bei Macaulays Neuseeländer und ähnlichen Darstellungen ist es keine romantisch-renaturierte Ruinenstadt, die in Anlehnung an die Städte der Antike im konventionellen Ruinendiskurs rezipiert und damit gewürdigt werden kann. Die negativen Auswirkungen des technologischen Fortschritts und des urbanen Wachstums haben hier dazu geführt, dass die ehemaligen Städte zu tödlichen, von allen gemiedenen Orten wurden, leblose und giftige Abfallhaufen der britischen Zivilisation.

Fortschritt und Degeneration: „The Time Machine“ Auch in H. G. Wells’ berühmten Zukunftsroman „The Time Machine“ von 1895 sind es Auswirkungen des technologischen Fortschritts, die scheinbar zum Untergang der Zivilisation geführt haben. Allerdings sind es hier nicht die negativen Begleiterscheinungen dieses Fortschritts, sondern ganz im Gegenteil dessen eigentlich positiven Seiten. Als Wells’ Protagonist, ein namenloser spätviktorianischer Zeitreisender, im Jahr 802 701 ankommt, scheint er dort zunächst ein Paradies vorzufinden. London ist verschwunden, an der Stelle der Großstadt befindet sich eine arkadische Parklandschaft mit vereinzelten großen Gebäuden und Monumenten, die der Zeitreisende als architektonische Zeugnisse einer Hochzivilisation wahrnimmt.51 Allerdings befinden sie sich bereits sichtlich im Zustand des Verfalls: „As I walked I was watchful for every impression that could possibly help to explain the condition of ruinous splendour in which I found the world – for ruinous it was. A little 50 Wolfgang Schivelbusch: Lichtblicke. Zur Geschichte der künstlichen Helligkeit im 19. Jahrhundert. München 1983, S. 44, auch S. 38–43. Zum Gaslicht und der damit verbundenen Infrastruktur im London des 19. Jahrhunderts siehe auch Nead: Babylon (wie Anm. 3), S. 83–108. Für Jefferies war die Verseuchung des Untergrundes durch lecke Gasleitungen auch verantwortlich für das kranke Aussehen vieler Bäume im Umland von London: „gas-pipes frequently leak, so much so that the soil for yards is saturated and emits a smell of gas. Roots passing through such a soil can scarcely be healthy“; Jefferies: Nightingale (wie Anm. 49), S. 50. 51  H. G. Wells: The Time Machine. Hg. von John Lawton. [1895]. ND London 1995, S. 27  f.

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way up the hill, for instance, was a great heap of granite, bound together by masses of aluminium, a vast labyrinth of precipitous walls and crumpled heaps, amidst which were thick heaps of very beautiful pagoda-like plants […]. It was evidently the derelict remains of some vast structure, to what end built I could not determine.“52 Die Bewohner der einstmals prächtigen Gebäude, die menschenähnlichen Eloi, spiegeln körperlich den allgegenwärtigen architektonischen Verfall. So beschreibt der Zeitreisende sie zwar als schön und zart, jedoch auch als ungewöhnlich klein und erschreckend dumm. Sie scheinen keinerlei Forschungsdrang zu besitzen und führen ein sorgenfreies, nur auf Vergnügen ausgerichtetes Leben.53 Der Reisende ist enttäuscht von diesen „frail creatures who had forgotten their high ancestry“,54 da es ihr Unwissen und Desinteresse für ihn unmöglich macht, mehr über die unmittel­bare Vergangenheit und die Schöpfer der großen Bauwerke herauszufinden. Er zieht die Eloi jedoch den Morlocks vor, die zweite Gruppe humanoider Lebewesen, die er etwas später entdeckt. Die Morlocks sind kaum noch menschenähnlich, leben unter der Erdoberfläche und scheinen sich von den Eloi zu ernähren. In Anlehnung an zeitgenössische darwinistische Diskurse55 interpretiert der Zeitreisende diese Entwicklung der Menschheit in zwei unterschiedliche Gruppen als Resultat sozialer Umstände und Tendenzen, die er aus seiner eigenen Zeit kennt. Für ihn sind die Eloi die Nachkommen der Ober- und Mittelschicht, die zunächst vom stetigen technologischen Fortschritt profitierten und ein immer sorgloseres Leben führen konnten. Dies lief jedoch letztendlich auf eine biologisch-­ intellektuelle Degeneration hinaus: „I thought of the physical slightness of the ­people, their lack of intelligence, and those big abundant ruins, and it strengthened my belief in a perfect conquest of Nature. For after the battle comes Quiet. Humanity had been strong, energetic, and intelligent, and had used all its abundant vitality to alter the conditions under which it lived. And now came the reaction of the altered conditions.“56 Die Morlocks hingegen sieht der Reisende als die Nachkommen der Unterschicht, die zunehmend in unterirdische Wohnungen, Arbeits- und Verkehrsmittel verbannt wurden und dadurch ebenfalls degenerierten: „proceeding from the problems of our own age, it seemed clear as daylight to me that the gradual widening of the present merely temporary and social difference between the Capitalist and the Labourer, was the key to the whole position. […] even now there are existing circumstances to point that way. There is a tendency to utilize underground space for the less ornamental purposes of civilization; there is the Metropolitan Railway in London, for instance, there are new 52 

Ebd., S. 25, auch S. 23 f. Ebd., S. 24 f., S. 35 f., S. 38. 54  Ebd., S. 55. 55  Wells studierte selbst Biologie bei Thomas Huxley, einem berühmten Verfechter von Darwins Theorien. Zum Phänomen der Degeneration siehe Stephen Arata: Fictions of Loss in the Victorian Fin de Siècle. Identity and Empire. Cambridge 1996; Daniel Pick: Faces of Degeneration. A ­European Disorder, c. 1848–c. 1918. Cambridge 1989. 56  Wells: Time Machine (wie Anm. 51), S. 29. 53 

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electric railways, there are subways, there are underground workrooms and restaurants, and they increase and multiply. Evidently, I thought, this tendency had increased till Industry had gradually lost its birthright in the sky. I mean that it had gone deeper and deeper into larger and ever larger underground factories, spending a still-increasing amount of its time therein, till, in the end – ! Even now, does not an East-end worker live in such artificial conditions as practically to be cut off from the natural surface of the earth? […] So, in the end, above ground you must have the Haves, pursuing pleasure and comfort and beauty, and below ground the Have-nots, the Workers getting continually adapted to the conditions of their labour.“57 Laut dem Zeitreisenden sind es also gerade der (technologische) Fortschritt und die zunehmende räumliche Aufteilung der unterschiedlichen Gesellschaftsschichten in den urbanen Zentren, die den Niedergang der menschlichen Rasse verursachten.58 Die Ambivalenz von Technologie in Wells’ Roman wird auch daran deutlich, dass die Morlocks, die anders als die Eloi anscheinend noch mit den Maschinen ihrer Vorfahren umgehen können und somit dem Zeitreisenden eigentlich näher stehen müssten, von diesem negativ dargestellt werden. Und als der Zeitreisende auf der Suche nach Antworten in einem verlassenen und teilweise zur Ruine verfallenen Museum tatsächlich auf einen Saal mit Maschinen stößt, sind diese zerstört oder technisch so komplex und kompliziert, dass der Reisende nichts mit ihnen anzufangen weiß. All die zukünftige Technologie stellt sich für ihn als nutzlos heraus, und er verlässt das Museum schließlich mit zwei äußerst primi­tiven „Waffen“, einem Hebel, den er als Keule verwenden will, und Streich­hölzern.59 Zuletzt reist der Zeitreisende immer weiter in die Zukunft, bis er schließlich den langsamen Tod der Erde gemäß dem Zweiten Hauptsatz der Thermodynamik miterlebt.60 Die Zeitmaschine, dieses Wunderwerk viktorianischer Technologie, die selbst wiederum die ständige Beschleunigung im alltäglichen Leben des 19. Jahrhunderts symbolisiert und mit der der Zeitreisende die Geheimnisse der Zukunft ergründen wollte,61 bringt ihn nur zu den Ruinen Londons und schließlich zum Untergang der Erde. Wie die hier analysierten Texte verdeutlichen, war der technologische Fortschritt des 19. Jahrhunderts häufig untrennbar mit dem Vanitas-Gedanken verbun­ den. Neue Erfindungen beschleunigten und erleichterten das Leben, bedingten jedoch auch immer Zerstörung und/oder erzeugten Visionen zukünftiger Ruinenlandschaften, in denen London trotz – oder gerade wegen – der Technisierung der urbanen Gesellschaft untergegangen war. Diese Visionen konnten durchaus versöhnlich sein, solange diese Ruinen noch im traditionellen Ruinendiskurs durch 57 

Ebd., S. 43 f. Zu beachten ist hierbei allerdings, dass all dies nur die Interpretationen des Zeitreisenden sind, der versucht, die weit entfernte Zukunft mit dem Wissen und den Diskursen seiner eigenen Zeit zu erklären. 59  Wells: Time Machine (wie Anm. 51), S. 60. 60  Ebd., S. 73–76. 61  Ebd., S. 17. 58 

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zukünftige Besucher rezipiert und in angemessener Weise gewürdigt werden konnten. Bei Jefferies und Wells ist dies jedoch nicht mehr möglich, die Ruinen Londons sind hier nur noch Symbole des Scheiterns der technisierten urbanen Gesellschaft.

Abstract For most Victorians the nineteenth century seemed to be an age of steady and unprecedented technological progress. For many, however, this constant change also created a feeling of being cut off from the past, which in turn meant that people became more aware of historical processes and consequently also of the finiteness of their own civilization. At the same time, technological progress often also caused the demolition of old structures, for example during the expansion of the railway infrastructure which occasioned large-scale destructions in Victorian cities. Technological progress therefore was always already riddled with loss and destruction. This ambivalent combination is especially manifest in images and texts which present the ruins of London – either real ruins caused by the modernizing ‘improvement’ of the city, or fictional ruins which depict the future. This essay presents this discourse, focusing on the depiction of actual ruins resulting from the expansion of the railway and connecting these to fictional, future ruins of London as imagined by Thomas Babington Macaulay, Richard Jefferies and H. G. Wells.

Paul Mellenthin Paris in Ruinen Der Deutsch-Französische Krieg hinterließ im Herbst des Jahres 1870 in der französischen Grenzregion eine Spur der Verwüstung. Teile von Straßburg, Châteaudun, Belfort, Sedan, Mézières, der Infrastruktur und der Kommunen entlang der Loire, Seine und Marne waren durch Brände und Geschosse zerstört. Bezirke des Pariser Südens wurden im Januar 1871 während der anhaltenden deutschen Belagerung vom Kanonenfeuer beschädigt. Um den Kommune-Aufstand zu beenden, der Paris zwischen März und Mai 1871 vom Rest Frankreichs abtrennte, bombardierten Versailler Truppen zudem den Pariser Osten, und während der letzten Maiwoche setzten die Pariser Revolutionäre Gebäude im Zentrum in Brand.1 Nach dem Ende der Auseinandersetzungen begann nur langsam der Wiederaufbau oder das Entfernen der Überreste, während die Zerstörungen in der illustrierten Presse massenhaft abgebildet wurden. Bereits ab Juni 1871 durchquerten Spaziergänger, Schaulustige und Reisende wieder die französischen Provinzen und die Pariser Boulevards. Vielen der schriftlichen Augenzeugenberichte, Briefe und Tagebucheinträge lässt sich ein Erstaunen über die schnell zurückgekehrte Normalität zwischen der Zerstörung entnehmen. In kurzer Zeit wurde Paris wieder zu einer betriebsamen Metropole. Im restaurativen Klima der frühen Dritten Französischen Republik erhielten auch die Zerstörungen des Kriegs und der Revolution eine neue Bedeutung. Literarische Berichte aktivierten die Ruinen als Orte zur individuellen Reflexion, ganz so wie es eine romantische Tradition nahelegte. Die Aktualität der modernen Bildberichterstattung in den Medienorganen wurde von ästhetischen Fragestellungen der Ruinen­ tradition eingeholt.2 Was zuerst wie ein Blick auf die Folgen der politischen Ge1  Bei

den Geschichtsdaten stütze ich mich im Folgenden vor allem auf Thankmar von Münchhausen: 72 Tage. Die Pariser Kommune, die erste „Diktatur des Proletariats“. München 2015; Robert Tombs: The War against Paris. Cambridge 1981. Zu den aktuell relevanten historiografischen Fragestellungen siehe Mareike König/Odile Roynette: Être en guerre (1870–1871): les formes d’un réexamen. In: Revue d’histoire du XIXe siècle 60 (2020), S. 75–89; Marc César/Laure Godineau (Hg.): La Commune de 1871. Une relecture. Grane 2019. 2  Erstmals entstand während des Krimkriegs eine freie Berichterstattung durch die Ausgliederung der Presse als ziviler Profession; vgl. Ulrich Keller: The Ultimate Spectacle. A Visual History of the Crimean War. New York 2013, S. 73; Ute Daniel: Der Krimkrieg 1853–1856 und die Entstehungskontexte medialer Kriegsberichterstattung. In: dies. (Hg.): Augenzeugen. Kriegsberichterstattung vom 18. zum 21. Jahrhundert. Göttingen 2006, S. 40–67. https://doi.org/10.1515/9783111071848-012

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genwart schien, wurde alsbald zu einem Blick auf die Vergangenheit der Ruine, die Ruinen der Geschichte. Im Folgenden sollen die Strategien untersucht werden, mit denen man die Ruine im Umfeld des Deutsch-Französischen Kriegs und der Pariser Kommune als Medium der Geschichte einsetzte, um einerseits den Krieg und seine Folgen in Erinnerung zu rufen, um andererseits aber auch die Revolution vergessen zu machen. Es geht um die Geschichte jener „Ruinen“, die die Ereignisse im Jahr 1870/1871 neu hervorbrachten.

Moderne Ruinen des Kriegs und der Revolution Am 4. März 1871 war ein Berichterstatter der Zeitschrift „L’Illustration“ von P ­ aris nach Straßburg gereist, um das Ausmaß der Zerstörung mit eigenen ­Augen zu betrachten. An die Leserschaft gerichtet schreibt er: „Mais nous les prévenons que rien ne peut donner l’idée d’une pareille dévastation quand on ne l’a pas eue sous les yeux.“3 Der beginnende Ruinendiskurs in der illustrierten Presse stand unter drei Prämissen: Erstens sei die Zerstörung grundsätzlich nur visuell erfahrbar, entziehe sich also der Vermittlung durch die Sprache oder der Vorstellungskraft. Zweitens sicherten sich die illustrierten Zeitschriften damit eine gewisse Exklusivität, da nur sie anhand von Bildern über das Thema berichten konnten. Die drei Abbildungen, die „L’Illustration“ begleitend zum Bericht wiedergab, sind komplementär zum Text zu betrachten und verfolgen das Ziel, auch dem Leser die Wahrnehmung der Zerstörung mit eigenen Augen zu ermöglichen. Drittens war mit der zeitgenössischen Ruine im Nachrichtendiskurs die patriotische Absicht verbunden, den heroischen Widerstand Frankreichs zu zeigen und ein Gefühl der Rache zu schüren. Dazu war man bemüht, die Kriegsruinen von „natürlichen“ Ruinen abzugrenzen: „Les ruines que fait le temps ont quelque chose de majestueux et de mélancolique, il en résulte une impression de grandeur. Celles que font les hommes ont un aspect navrant et désolé.“4 Die Abbildungen sollten im Betrachter Emotionen wecken. Auf Darstellungsebene erzeugte man den „aspect navrant et désolé“ durch die Lichtstimmung, starke Schatten und dunkle Kontraste. Das Urteil, dass sich die zeitgenössischen Ruinen von solchen der Vergangenheit unterschieden, musste später revidiert werden. Zunächst wurde es von Théophile Gautier im Pariser Außenbezirk Saint-Cloud, den er Mitte März 1871 besuchte, aber noch einmal bestätigt: „Ces ruines subites n’ont pas le caractère des ruines faites à la longue par le temps et l’abandon […]; tout y est sec, criard, violent. Le plâtre éraillé garde sa blancheur mate, les cassures fraiches des pierres ont une ­crudité de ton qui blesse l’œil comme une plaie vive. C’est la différence de la mort naturelle à l’assassinat. Ces cadavres de maison égorgées ont un aspect navrant qu’il est impossible d’oublier; elles crient vengeance par toutes les b ­ lessures de leurs 3 Anonym: Voyage à Strasbourg. Aller et retour pendant l’armistice. In: L’Illustration 1462, 4. 3. 1871, S. 121–123, hier: S. 122. 4  Ebd., S. 123.

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plaies.“5 Das Motiv der Rache war eng mit der französischen Niederlage, den von den Deutschen geforderten Reparationszahlungen und der bevorstehenden Annexion von Gebieten des Elsass und Lothringens verbunden.6 Nach dem Kommune-Aufstand änderte sich die Bedeutung der durch den Krieg entstandenen Ruinen allerdings abrupt. Während der Revolution waren erhebliche Schäden an privatem und öffentlichem Eigentum verursacht worden. Ab Juni 1871 erschienen in den illustrierten Zeitschriften erste Abbildungen der Zerstö­rung von Paris oftmals unter Begleitung von Tabellen der geschätzten S­ chadenssumme. Der zeitgenössischen Presse dienten die Bilder der Ruinen maßgeblich zur Fakturierung der Schäden.7 In „Le Figaro“ bezifferte man diese auf insgesamt circa 130 Millionen, in „L’Illustration“ veranschlagte man gar 868  Mil­lionen Francs.8 Parallel zum Text abgedruckte Fotografien des Finanzministe­riums sollten die Schäden exemplarisch vorstellen. „La photographie,“ schrieb „Le Figaro“, „a une exactitude qui ne peut se compléter que par les chiffres d’un constat, que par les termes d’un procès-verbal.“9 Idealerweise befriedigten die in Zeitschriften reproduzierten Foto­grafien den Wunsch nach empirischen Fakten, sammelten Informationen und schufen Ordnung. Medienhistorisch betrachtet ­ebneten die Abbildungen folglich den Weg zur visuellen Vermittlung von Tat­sachenwissen.10 Doch trotz dieser fotografischen Objektivität spiegelten die Illustrationen die politische Haltung der französischen Medien wider, sowohl implizit durch die Bildauswahl, aber auch ­explizit durch Manipulationen. Mit dem Anstieg der geschätzten Schadenssumme wurden auch die Illustrationen zusehends dramatischer (Abb. 1–4). Gegenüber den fotografischen Vorlagen fügte man der Außenaufnahme etwas Schutt hinzu, während man die Perspektive des Innenraums stauchte, um die Flucht des Bildes zu verengen. Der Blick von innen brachte eine abenteuerliche Intimität mit sich, entfesselt durch das Vordringen in die fremdartige Architektur, die ebenso undurchdringbar schien wie die Kerker von Giovanni Battista Pira­ nesi. Die Innenansicht verfügte damit zwar über einen stärkeren Effekt, büßte aber zugleich die spezifische Wiedererkennbarkeit des Orts ein. Ob es sich letztlich um das Finanzministerium oder um das „große Vestibül der ersten Etage des  5 

Théophile Gautier: Saint-Cloud. In: L’Illustration 1464, 18. 3. 1871, S. 150. Zu den politischen Spannungen zwischen Deutschland und Frankreich und der Evolution des „Revanche“-Gedankens vgl. Karine Varley: Under the Shadow of Defeat. The War of 1870–71 in French Memory. New York 2008, S. 191–202.  7  Dies unterscheidet sich stark von der statistischen Auswertung der von Deutschen verursachten Schäden. Diese Informationen waren nach bisherigem Kenntnisstand ausschließlich in Fachpublikationen zugänglich; vgl. H. Sarrepont [Eugène Hennebert]: Le bombardement de Paris par les Prussiens en janvier 1871 avec 15 figures et 1 carte de Paris bombardé. Paris 1872.  8  Léon Creil: Ce que nous a couté la commune. In: L’Illustration 1479, 1. 7. 1871, S. 5–7.  9  Alfred Duplessis [Alfred d’Aunauy]: Paris incendié. In: Le Figaro, 17. 6. 1871, S. 1. 10  Die Fotohistorikerin Joan M. Schwartz nennt dies den Glauben an einen „more truthful path to knowledge through unmediated representation“; dies.: „Records of Simple Truth and Precision“. Photography, Archives, and the Illusion of Control. In: Archivaria 50 (2000), S. 1–40, hier: S. 33. Vgl. auch Thierry Gervais: Witness to War. The Uses of Photography in the Illustrated Press, 1855–1904. In: Journal of Visual Culture 9 (2010) 3, S. 370–384.  6 

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Abbildung 1: Ruines du ministère des Finances, Zeichnung von Edme Penauille, nach einer Fotografie von Alphonse Liébert. Entnommen aus: Le Figaro, 17. Juni 1871, S. 1.

Abbildung 3: Les ruines de Paris. – Le Ministère des Finances. Zeichnung von Alfred Louis ­Martin, nach einer Fotografie von Franck de Villechole. Entnommen aus: L’Illustration, 1. Juni 1871, S. 4.

Abbildung 2: Alphonse Liébert, Le Ministère des Finances Incendié, Vue Extérieure (No 15). Ent­ nommen aus dem Album: Les ruines de Paris et de ses environs, 1870–1871, Fotografie (Albu­ minabzug), 22,5 x 31 cm, Bibliothèque natio­nale de France, Paris.

Abbildung 4: Franck de Villechole, Ministère des Finances – Corridor de l’Ouest. Aus der ­Serie: Photographies des ruines de la Commune, 1871, Fotografie (Albuminabzug), 25,3 x 19,4 cm, Musée Carnavalet, Paris.

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Palais-Royal“ handelte, wie man fälschlicherweise in „Le Voleur“ unter dem Bild schrieb, war unwichtig.11 Die erzeugten Emotionen waren bedeutender als der Informations­gehalt der Abbildungen. Die Texte lenkten die Aufmerksamkeit auf das Ausmaß der Zerstörung, und die Fotografien führten die Revolution als eine Gräueltat vor Augen. Alle französischen Medienorgane nahmen Position gegen die Pariser Kommune ein, während die Anhänger und Verantwortlichen vor Gericht standen, wo sie Gefängnisstrafen, Deportation oder in seltenen Fällen auch das Todesurteil zu befürchten hatten. Für eine Brandstiftung, die zur fast vollständigen Zerstörung des Tuilerienpalasts führte, wurden im Mai 1872 und im Januar 1873 drei Kommunarden von einem Erschießungskommando hingerichtet.12 Sie bezahlten für den „Vandalismus“ am kulturellen Erbe mit dem Leben.13 Mit dem Wandel der Wahrnehmung der Ruinen von Kriegs- zu Revolutionsschäden änderte sich auch das Feindbild, das mit ihnen verknüpft wurde: Vermittelt durch die Fotografie diente die Ruine erst der französischen Propaganda gegen die Deutschen und später als Mahnmal gegen die „Barbarei“, wobei dieser Begriff gleichbedeutend für die Kommunarden stand. Den Deutsch-Französischen Krieg machte man nicht länger für die Schäden in Paris verantwortlich. Auch international verbreitete sich diese Deutung der Ruine und damit eine globale Furcht vor der sozialistischen Arbeiterrevolution. Dies zeigte sich beispielsweise, als im Oktober 1871 ein Brand die amerikanische Stadt Chicago großflächig zerstörte. Die illustrierte Berichterstattung begleitete die Katastrophe mit Abbildungen von Ruinen, die denen in Paris zum Verwechseln ähnlich sahen (Abb. 5).14 Auf der Suche nach Verantwortlichen für das Feuer ging man schließlich von einem Komplott aus, den man für den Urheber des Brandes hielt.15 In der New Yorker „Evening Post“ raunte es: „Did out of [Paris’s] ashes arise This bird with a flaming crest, That over the ocean unhindered flies, With a scourge for the Queen of the West?“16

11  Vgl.

Le Voleur 732, 14. 7. 1871, S. 696. Auf S. 704 derselben Ausgabe druckte man stattdessen eine andere Innenansicht des Finanzministeriums ab. 12  Vgl. Bertrand Tillier: La commune de Paris, révolution sans images? Politique et représentations dans la France républicaine (1871–1914). Seyssel 2004, S. 341. 13  Der Begriff „Vandalismus“ wurde von Abbé Henry Grégoire in Zeiten der Französischen Revolution geprägt. Zu Verbrechen an Monumenten der Kultur und Wissenschaft seien, so Grégoire, nur Barbaren und Sklaven, keine freien Menschen in der Lage. Vgl. Aleida Assmann: Formen des Vergessens. Göttingen 2016, S. 127 f. 14  Vgl. etwa die Spezialausgabe der „Harper’s Weekly“ vom 11. 11. 1871 oder die Bildberichterstattung der „Illustrated London News“ zu den Pariser Ruinen vom 24. 6. 1871 und zu Chicago vom 18. 11. 1871. 15 Vgl. John J. Pauly: The Great Chicago Fire as a National Event. In: American Quarterly 36 (1984) 5, S. 668–683, hier: S. 670. 16  Zitiert nach James W. Sheahan/George P. Upton (Hg.): The Great Conflagration. Chicago. It’s Past, Present, and Future. Chicago 1872, S. 367.

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Abbildung 5: The Tremont House. – The Ruins of ­Chicago. Entnommen aus: The Illustrated London News, 18. November 1871, S. 326.

Besaß die zeitgenössische Ruine eine politische Form? In der „Chicago Times“ druckte man alsbald ein Schreiben ab, in dem sich der Aussteiger aus einer „secret organization“ zur Tat bekannte.17 Ein Bund von „Sozialisten“ habe sich, so das Geständnis, bereits 1851 während des Staatsreichs von Napoleon III. formiert, um eine Gesellschaft herbeizuführen, in der „the poor should be equal with the rich and the rich equal with the poor“.18 Der reumütige Attentäter sei in Paris von den Kommunarden „Henri Martin“, „Mister [Adolphe?] Assi“ und „Julius Geradine“ rekrutiert worden, um in Chicago mit zwei Pariser Flüchtlingen ein Geheimbüro zu eröffnen. Das Hauptquartier der sozialistischen Terrorzelle habe sich in Paris befunden mit weiteren Vereinigungen in New York, Boston, Washington, New Orleans, Baltimore, London, Edinburgh, Manchester, Liverpool, Dublin, Berlin, St. Petersburg, Neapel, Florenz und Wien. Das Geständnis bezog seine Glaubwürdigkeit aus der visuellen Analogie zwischen Pariser und Chicagoer Trümmern. Schlussendlich stuften die Redakteure der „Chicago Times“ es aber bestenfalls als fragwürdig ein, und auf der Suche nach möglichen Ursachen setzten sich andere Erklärungsmodelle durch, die sich auf die lokalen Gegebenheiten bezogen: Eine Kuh, die eine Laterne umgestoßen haben soll, ist damit Teil des Gründungsmythos über die moderne Struktur von Chicago geworden.19

17  Anonym: A Startling Story. In: The Chicago Times, 23. 10. 1871, S. 1. Der Mythos einer internationalen Terrororganisation geht auf die deutschsprachige „Illinois Staats-Zeitung“ zurück; vgl. Karen Sawislak: Smoldering City. Chicagoans and the Great Fire, 1871–1874. Chicago 1996, S. 46–48. Das „Geständnis“ ist wieder abgedruckt in Frank Luzerne: The Lost City! Drama of the Fire-Fiend or Chicago as it was, and as it is. New York 1872, S. 186–196. 18  Zitiert nach Luzerne: City (wie Anm. 17), S. 189. 19  Carl Smith: Faith and Doubt. The Imaginative Dimensions of the Great Chicago Fire. In: Steven Biel (Hg.): American Disaster. New York 2001, S. 129–169, eine Verbindung zur Pariser Kommune hier: S. 147.

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Antike Ruinen im Herzen von Paris Als der Schriftsteller Théophile Gautier Mitte Juni 1871 die Schauplätze der ­Zerstörung in der französischen Hauptstadt aufsuchte, trieb ihn nach eigener Aussage eine „Neugier für das Grauen“ an.20 Seine Erkundungen begann er im Pariser Vorort Asnières, der sich ihm bis auf wenige Häuser vollständig zerstört und menschenleer darbot. Schnell mischte sich der Horror aber mit einem Gefühl der Begeisterung, die Gänsehaut mit Ekstase, die Abscheu mit Kunstbildern. Die Ruinen verglich Gautier mit einem verstümmelten Körper, dessen Inneres sich auf die Straßen ergoss. Wie bei einem gewaltigen Kadaver sei das Behütete und Versteckte der Bauwerke zutage getreten. In den Ruinen von Asnières erkannte er Piranesis „Architekturfantasien“ wieder, während er über der Rue du Lille die Fledermaus aus Albrecht Dürers „Melencolia“ fliegen sah.21 Der Schriftsteller fand spürbar Gefallen an der Herausforderung, den Eindruck unbezwingbarer Steinhaufen, hängender Giebel und monströser Architekturen dem Leser mithilfe von Vergleichen und detaillierten Beschreibungen anschaulich zu vermitteln.22 Nach dem Besuch von Asnières setzte Gautier seinen Weg ins Pariser Zentrum fort, das er aber weniger verlassen vorfand. Hier entluden Busse bereits weitere Ruinenbesucher, die sich in Gruppen schweigend vor dem „beklagenswerten Spektakel“ zusammenfanden.23 Hinter der zerstörten Fassade des Finanzministeriums, das sich im intakten Zustand kaum von den umliegenden Häusern unterschieden habe, erschien ihm dann aber plötzlich die Ruine einer antiken Architektur. Gautier schreibt: „La flame, la fumée, la combustion des produits chimiques destinés à produire l’incendie, avaient imprimé à ces décombres des tons gris, fauves, roussâtres, mordorés, rembrunis, des colorations étranges qui les vieillissaient et leur donnaient l’air de ruines antiques.“24 Das Petroleumfeuer habe der modernen Ruine ein antikes Antlitz verliehen. Dem Bericht nach zu urteilen, besaßen die Flammen eine demiurgische Macht, denn die Brände hätten die wahrgenommene Alterung der Zerstörung beschleunigt und antike Ruinen hervorgebracht. Schließlich erkannte der Spaziergänger in der Superposition der eingestürzten Arkaden, so paradox es klingen mag, das römische Kolosseum wieder.

20  Théophile

Gautier: Tableaux de siège. Paris 1871, S. 311. Die Diskussion folgt in wesentlichen Gedanken der sehr lesenswerten Studie von Éric Fournier zum Pariser Ruinentopos in der zeitgenössischen Literatur; ders.: Paris en ruine. Du Paris haussmanien au Paris communard. Paris 2008, S. 191–218. 21  Gautier: Tableaux (wie Anm. 20), S. 313 und die Dürer-Referenz auf S. 324. 22 Nach einer ausführlichen Schilderung der Ruinen des Théâtre-Lyrique in Paris unterbricht Théo­phile Gautier seine Beschreibung abrupt, „toutes sortes d’accidents qu’il est difficile à la ­plume de reproduire, mais que conserveront les journaux illustrés“; Gautier: Tableaux (wie Anm. 20), S. 338. Das Beschreiben von Ruinen war ein altbekanntes Problem; vgl. Peter Geimer: Die Vergangenheit der Kunst. Strategien der Nachträglichkeit im 18. Jahrhundert. Weimar 2002, S. 159. 23  Gautier: Tableaux (wie Anm. 20), S. 316. 24 Ebd.

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In dem Textband „Tableaux de siège“ (1871) fasste Gautier all jene Beiträge ­ usammen, die er während der zwei Belagerungen von Paris für Zeitschriften z ­geschrieben hatte. Doch die auf die Ruinen bezogenen Passagen schwanken zwischen journalistischer Faktentreue und literarischer Überhöhung. Seine Ein­ bildungskraft wurde von historischen Assoziationen angeregt. Das Spiegelbild des Rechnungshofs in der Seine ähnele einem klassizistischen Palast, dem Palazzo Grassi in Venedig; die umliegenden regennassen Straßen reflektierten – als blickte Gautier in den Rhein – die Silhouetten zerstörter „burgs“.25 Es war die bildliche Reflexion auf der Wasseroberfläche, die die Vergleichbarkeit herstellte. Gautier versank daraufhin in den ausgebrannten Überresten des Tuilerienpalasts, wo er hastig die gewöhnlichen Entstehungszeiträume von Ruinen überschlug. Schließlich notierte er: „Cette ruine d’un jour est complète; trois ou quatre siècles n’auraient pas mieux travaillé. Le temps, qu’on accuse toujours et qu’on appelle injustement tempus edax rerum, ‚le temps mangeur des choses,‘ n’est pas, à beaucoup près, aussi habile en fait de destruction de l’homme.“26 Théophile Gautier war ein Meister der fiktionalen Prosa und ein Liebhaber ­antiker Stätten, wie er zuvor schon in zwei belletristischen Werken unter Beweis gestellt hatte. In seiner Erzählung „Arria Marcella“ (1852) sitzen drei Freunde, Max, Fabio und Octavien, in einem modernen Zug nach Pompeji. Anhand detaillierter Beschreibungen vergegenwärtigt der Text die Überreste der a­ ntiken Stadt am Golf von Neapel. In den Ruinen ehemaliger Wohnhäuser entdecken die Freunde alte Schriftzüge und überlegen, was von Paris, in dem Poster und Werbeplakate das moderne Stadtbild prägen, in 2 000 Jahren noch fortbestehe. Während eines einsamen Nachtspaziergangs werden vor den Augen Octaviens die Bewohner aus vergangenen Zeiten schließlich wieder lebendig, und er erlebt ein antikes Theaterspektakel. Auch in einem weiteren Text dient die Ruine zur Verbindung von Vergangenheit und Gegenwart.27 Der „Roman de la momie“ (1858) beginnt im Nildelta, wo ein englischer Aristokrat, Lord Evandale, ein deutscher Ägyptologe, Dr. Rumphius, und ein griechischer Gauner, Argyropoulos, das unbekannte Grabmal der Pharaonin Tahoser entdecken. Im Anschluss entspannt sich eine dramatische Liebesgeschichte, die das alte Ägypten in die Gegenwart befördert. Gautiers archäologische Einbildungskraft lässt auch Paris innerhalb einer Nacht schlagartig zwei Jahrtausende altern: Heliopolis, Palmyra, Pompeji, Theben, Karthago… Die Referenzen für die Ruinen umfassten das gesamte Repertoire antiker Stätten. Die zerstörten Bauwerke wurden mit einer vergangenen, aus der Vergangenheit bedeutungsgesättigten Erzählung verbunden. Am häufigsten war der Vergleich mit den Überresten des antiken Roms, insbesondere des Kolosseums, 25 

Ebd., S. 326 f. Ebd., S. 320. 27 Zum Wiederaufleben der (künftigen) Ruine in der Literatur des Zweiten Kaiserreichs vgl. Anne Green: Changing France. Literature and Material Culture in the Second Empire. London 2013, S. 147–167. 26 

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das schon von Diderot in der Enzyklopädie metonymisch für die pittoreske Ruine verwendet worden war. Es war die genuine Schönheit alter Ruinen, die Gautier am stärksten beeindruckte und ihn die Gegenwart vergessen ließ: „[N]ous fûmes avant tout frappé de la beauté de ces ruines. Une toute autre impression eût été plus naturelle sans doute: la douleur, la colère, la haine, le désir de la vengeance; mais nous fûmes saisi d’une admiration involontaire.“28 Die „beauté“ enthob die moderne Ruine ihrer eigenen Zeit und damit auch der politischen Bedeutung, mit der sie im Zusammenhang des Kriegs und der Revolution aufgeladen worden war. Die Allegorie der antiken Ruine verbreitete sich mit rasanter Geschwindigkeit in allen journalistischen Texten über das Paris der 1870er-Jahre: „Il semble que l’incendie ait donné à l’extérieur du palais [des Tuileries] un peu de cette majesté silencieuse que prennent les débris du passé“, stellte übereinstimmend der Schriftsteller Jules Claretie fest.29 Doch das Zitat der Geschichte in der Gegenwart, dieser „Tigersprung ins Vergangene“30, war in der französischen Berichterstattung an ein Gefühl der Dissoziation gebunden. Man empfand die Ruinen rund sechs Wochen nach dem Ersticken der letzten Flammen noch immer als brandwarm. So notiert Claretie: „[Le palais des Tuileries] semble encore chaud de l’embrasement du 23 mai. On croirait, en touchant ses colonnes ou ses murailles, les trouver encore brûlantes.“31 Neben den Ruinenansichten erschienen in den Zeitschriften Bilder vom Bergen der Leichen in den ausgebrannten Häusern und Steintrümmern. Das bürgerliche Bewusstsein von geordneten Verhältnissen sah sich in dem Zusammenstoß von Gegenwart und Vergangenheit beeinträchtigt. „L’émotion qui submerge le chroniqueur devant la ruine – en tout cas dont il fait part – peut conduire au dédoublement, à la dissociation: une part citoyenne, patriote, bourgeoise qui condamne, et une part artiste qui s’enthousiasme“, fasst es der Historiker Jean-Pierre A. Bernard zusammen.32 In einer Passage aus einem Text von Louis Énault, einem erfolgreichen Journalisten und Schriftsteller des Zweiten Kaiserreichs, ist die Empfindung des „dédoublement“ sehr exakt beschrieben: „Les autres ruines, au cœur de la ville, mêlées aux maisons encore debout, et, pour ainsi parler, au milieu même du monde des vivants, ont quelque chose de poignant jusqu’à l’angoisse, d’émouvant jusqu’au trouble! C’est l’horreur de la destruction, dans laquelle tout est cru et criard, où la rétine délicate est offensée par les tons trop durement contrastés de la pierre neuve et de la pierre noircie […]. Mais, par cette nuit, dans ce silence, dans cette solitude 28 

Gautier: Tableaux (wie Anm. 20), S. 327. Claretie: Les Tuileries. In: L’Illustration 1481, 15. 7. 1871, S. 39–42, hier: S. 39. Vgl. auch das Hippolyte Taine zugeschriebene Zitat im Eintrag „Ruines“ in Pierre Larousse: Grand dictionnaire universel du XIX. Siècle, Bd. 13 (1875), S. 1512: „Pour que les RUINES soient belles, il faut qu’elles soient grandioses ou noircies par le temps.“ 30  Walter Benjamin: Über den Begriff der Geschichte. In: ders.: Gesammelte Schriften. Bd. I.2. Frankfurt a. M. 1991, S. 691–704, hier: S. 701. 31  Claretie: Tuileries (wie Anm. 29), S. 42. 32  Jean-Pierre A. Bernard: Les Deux Paris. Les représentations de Paris dans la seconde moitié du XIX siècle. Paris 2001, S. 75. 29  Jules

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relative du grand monument, tout seul au milieu de cette place dégagée et qui semble vide, pour un moment, l’artiste tua en moi le citoyen, et je ne pus m’empêcher de me dire tout bas: C’est terrible, mais c’est beau!“33 Das Paradox der Ruinen scheint gelöst: „C’est terrible, mais c’est beau!“ Die antike Allegorie machte die Gegenwart in den Termini einer kontinuierlichen Vergangenheit lesbar, wodurch die Ereignisse ihre Partikularität und ihre Bindung an eine einzige histo­rische Zeit verloren. Durch die Ruinen von Paris wurde die geschichtliche Zeit aufgehoben.34 Es herrschte die universelle Zeit der Ruinen, in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft friedlich koexistierten. Die Ruine war ein innerer Rückzugsort zur Meditation „über die Stürme der Zeit“, wie es schon Diderot in einer Salonkritik beschrieben hatte.35 Damit ermöglichten die Ruinen von Paris nicht nur einen Blick auf die Vergangenheit der zivilisierten Welt, sondern zugleich auf die zukünftige Gegenwart. Man lese einmal, was Victor Hugo in seinem Gedichtzyklus „L’année terrible“ (1872) mit der Pariser Ruine verbindet. In diesem „Sarg“ warte das zukünftige Europa auf Auferstehung: „On craint pour toi, cité de l’Europe future. Quelle ruine, hélas! quel aspect de cercueil! Et quelle ressemblance avec l’éternel deuil! Le plus ferme frissonne; on pleure, on tremble, on doute; Mais si, penché sur toi, du dehors on écoute, En cette ombre murée où ne luit nul flambeau, En cette obscurité de gouffre et de tombeau, On entend vaguement le chant d’une âme immense. C’est quelque chose d’âpre et de grand qui commence. C’est le siècle nouveau qui de la brume sort.“36

Die moderne Zerstörung hatte ihre Metamorphose zur antiken Ruine abgeschlossen. Die Geschichte der Ereignisse stand im Schatten einer gewaltigen Naturmacht, der Ruine. Paris wurde in eine tausendjährige Tradition eingeschrieben. Im Zusammenhang mit der restaurativen Politik der frühen Dritten Republik verwandelten die Ruinen die Geschichte brutaler menschlicher Zerstörung und Gewalt in eine Geschichte des natürlichen Verfalls und der ewigen Größe der Zivilisation.37

33 

Louis Énault: Paris brûlé par la Commune. Paris 1871, S. 189 f. auch Tillier: Commune (wie Anm. 12), S. 350: „Gautier renoua avec l’Antiquité qui lui permettait de soustraire ces ruines tragiques au temps événementiel de la Commune et de sa répression, pour les inscrire dans une sorte d’intemporalité.“ 35  Vgl. Denis Diderot: Salons. Bd. II: Salon de 1767. Paris 1821, S. 367. 36  Victor Hugo: L’année terrible. Paris 1872, S. 316. 37 Vgl. zu diesem Gedanken Sylvie Le Ray-Burimi: Renaître de ses cendres. Mémoire(s) des ­ruines de la guerre franco-allemande 1870–1871, du ressentiment aux réconciliations. In: Pierre Allorant/Walter Badier/Jean Garrigues (Hg.): 1870, entre mémoires régionales et oubli national. Se souvenir de la guerre franco-prusienne. Rennes 2019, S. 105–115, hier: S. 113–115. 34  Vgl.

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Fotografie: Erinnern versus Vergessen Das literarische Paris kannte nur noch ein einziges Thema: Ruinen. Théophile Gautier, Jules Claretie, Louis Énault, Alphonse Daudet oder Paul de Saint-Victor – sie alle machten sich nahezu zeitgleich ein Bild von der Hauptstadt. Bereits während der semaine sanglante, dem letzten Kampf der Pariser Kommune gegen Versailler Truppen vom 21. bis zum 28. Mai 1871, begab sich Edmond de Goncourt in Begleitung des Kunstkritikers Philippe Burty auf eine Entdeckungsreise durch das brennende Paris. Sofort ent­wickelten sich die Ruinen zum beliebtesten Treffpunkt französischer Literaten. Gustave Flaubert und Maxime Du Camp, die gemeinsam durch die Straßen pilgerten, teilten die Bewunderung für die Zerstörung uneingeschränkt.38 Im modernen Ruinendiskurs hatte sich ein abrupter Wandel vollzogen. Exemplarisch lässt sich dies an Théophile Gautiers Beschreibungen der Zerstörung von Saint-Cloud und des Pariser Zentrums nachvollziehen. Während er im März noch von den Trümmern eines grässlichen Kriegs überrascht worden war, traf er im Juni bereits auf schöne Ruinen im Herzen von Paris. Wohlgemerkt lenkte man die Aufmerksamkeit jedoch ausschließlich auf die neuen und nicht auf die antiken Ruinen von Paris.39 In der illustrierten Presse, etwa der auflagenstarken „Monde illustré“, bildete sich die neu erwachte romantische Faszination für pittoreske Ruinen ab. Im Verlauf des Jahres 1871 seien, so Colette E. Wilson, „reportage-style images“ sukzessive von „aesthetic representations“ verdrängt worden.40 Für die Historikerin spiegelt dieser Wandel die Politik der französischen Erinnerungskultur wider. Denn die Ästhetisierung der Trümmer zu Ruinen folge einer Strategie des „aktiven Vergessens“, wie sie später auch auf der Weltausstellung von 1878 oder beim Bau von Sacré-Coeur zum Vorschein kam.41 Auch die Literaturwissenschaftlerin Christine Lapostolle analysiert die Rezeptionsgeschichte der Pariser Ruinen in diesem Sinne und wendet sich dazu insbesondere fotografischen Bildern zu. Demzufolge hätten die Fotografien von Ruinen am Beginn des Verschwindens der Pariser Kommune aus der öffentlichen Wahrnehmung gestanden. Das Bild der antiken Stadt in Ruinen, des „Paris als Babylon“, habe sich erst aufgrund der fotografischen Wiedergabe entwickeln können.42 38  Vgl.

Peter Brooks: Flaubert in the Ruins of Paris. The Story of a Friendship, a Novel, and a Terrible Year. New York 2017, S. 71–86. 39  An zwei Standorten befanden sich noch Überreste der einstigen römischen Besiedlung: Die Arena von Lutetia, die man erst im Jahr 1869 wiederentdeckt hatte, und die Thermen im Quartier Latin, in denen sich das Musée de Cluny inzwischen bereits eingerichtet hatte, waren noch teilweise erhalten. 40  Vgl. Colette E. Wilson: Paris and the Commune 1871–78. The Politics of Forgetting. Manchester 2007, S. 58; zur Auflagenhöhe der „Monde illustré“ (33 000 Exemplare im Jahr 1871), ebd., S. 39. Ein Vorreiter ist die Illustrierte „Le Voleur“, wo in den Ausgaben vom 30. Juni, 7., 14. und 21. Juli die Kolumne „Les Ruines“ erschienen war, begleitet von einer umfassenden Bildstrecke. 41  Wilson: Paris (wie Anm. 40), S. 12. 42  Christine Lapostolle: La Commune de la barricade à la ruine. In: La recherche photographique 4 (Juni 1989), S. 21–32, hier: S. 24.

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Abbildung 6: Albert Robida, LE TROISIÈME SIÈGE. –– INVASION DES P ­ HOTOGRAPHES. ­Entnommen aus: Journal ­amusant 774, 1. Juli 1871, S. 3.

War also die Pariser Ruinenlandschaft anders gesagt erst eine Erfindung der Fotografie? Im Juni 1871 zählte man in den Pariser Ruinen fast 300 Fotografen.43 Zu den ersten vor Ort gehörten Franck de Villechole, Georges Léon und Moise Lévy, André Adolphe-Eugène Disdéri, Charles Ségoffin und François Benjamin La­ miche, Jules Andrieu, Charles Marville und Achille Quinet.44 Spöttisch kommentierte eine Karikatur: „Le troisième siége. – Invasion des photographes.“45 Pariserinnen und Pariser ergriffen panisch die Flucht vor den modernen Waffen (Abb. 6). Nach den Deutschen und den Kommunarden würden nun die Fotoapparate Angst und Schrecken verbreiten. „Ce sont les artilleurs du collodion qui dirigent leurs batteries sur les gravas“, kommentierte „Le Monde illustré“. „A quelque chose malheur est bon, dit le proverbe. Ce doit être en ce moment l’avis des photographes qui seront seuls, je crois, à avoir bénéficié du passage de la Commune.“46 Die Fotografen zählten buchstäblich zu den Entdeckern der Zerstörung und der Ästhetizismus fotografischer Reproduktionen zu den wichtigsten Themen in der Presse. Die Schönheit einer Ruine und ihre fotografischen Aufnahmen wurden von Beginn an in einem Atemzug genannt. So schreibt Paul Joubert in „Le Figaro“ am 5. März 1871, dass das Schloss von Saint-Cloud heute eine der schönsten Ruinen Europas ist und dass schon „plusieurs photographes en ont pris hier des vues qui, dans quelques semaines, auront fait le tour du monde“.47 Der Redakteur von „La Petite Presse“ hatte bereits im Februar Étienne Carjat mit seinen Operateuren in den Ruinen von Saint-Cloud erspäht „prendre des vues qui pourront rivaliser avec tout ce que l’Égypte et la vieille Rome nous ont légué“.48 Die beispiellose Konjunktur des Ruinenmotivs lässt sich auf ein kommerzielles Interesse zurückführen. 43  Vgl. Quentin Bajac: Les artilleurs du collodion. In: ders. (Hg.): La Commune photographiée. Paris 2000, S. 5–16, hier: S. 5. 44  Vgl. Ernest Lacan: Revue photographique. In: Le Moniteur de la photographie 15, 1. 8. 1871, S. 113. 45  Albert Robida: Choses du jour. In: Le journal amusant 774, 1. 7. 1871, S. 3. 46  Pierre Veron: Courrier de Paris. In: Le Monde illustré, 17. 6. 1871, S. 370  f., hier: S. 371. 47  Paul Joubert: Saint-Cloud. In: Le Figaro, 5. 3. 1871, S. 3. 48  Zitiert nach Jean Baronnet: Regard d’un Parisien sur la Commune. Photographies inédites de la Bibliothèque historique de la Ville de Paris. Paris 2006, S. 5.

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Dank des Motivs der schönen Ruine hatte man aus der außerordentlichen Kata­ strophe Kapital geschlagen und das zum Stillstand gekommene fotografische Gewerbe neu belebt.49 Das Geschäft mit den Fotografien war lukrativ: „Les vitrines des marchands de gravures et des papeteries disparaissaient sous les cartes photographiques“, beobachtete der französische Schriftsteller Maxime Du Camp.50 Aus den französischen Fabriken wurden täglich tausende Bilder auf den internationalen Markt gebracht.51 Den offiziellen Zahlen zufolge widmete sich rund die Hälfte der insgesamt 1 750 Motive, die von Fotografen zwischen Juni und Dezember 1871 im französischen dépôt légal registriert worden waren, den Ruinen der Hauptstadt.52 Die Fotografien der Ruinen bargen alle Erkennungszeichen des natürlichen Verfalls: die Unordnung in der fragmentarischen Gestalt der Architektur, herabgestürzte Baumaterialien, die verstreut am Boden liegen, einzelne, ins Leere ragende Säulen und Skulpturen, die an die einstige Bedeutung der Bau­werke erinnern, sowie die Öffnung der Grenzen zwischen Innen- und Außenraum. Was in der Realität abschreckend war, konnte als Bild schön und beschwichtigend wirken. Ikonografisch gesehen legen insbesondere die aus Stein gebauten klassizistischen Architekturen die Vergleichbarkeit mit antiken Vorbildern nahe. Die fotografischen Aufnahmen machten es einfacher, die Spuren der Zerstörung in der pittoresken Tradition zu sehen. Ob die Ruinen allerdings von den Fotografen gezielt als antike Ruinen inszeniert wurden, lässt sich nicht eindeutig bestimmen. Von den vielen Fotografen selbst liegen keine Äußerungen zur Bildintention vor, weshalb historisch gesehen einzig die Verbindung zum kommerziellen Markt verifizierbar ist. Alle damals gängigen Publikationsformate waren vertreten: günstige Carte-de-Visite und Stereoskopien, aber auch hochwertige Großformate. ­Insbesondere im Medium des Fotoalbums avancierte die Zerstörung von Paris zu einem eigenständigen Genre. Die Gestaltung der kostspieligen Bildbände folgte dem Format, der Seitenorganisation und der Titelgestaltung fotografischer Reisealben, in denen man entweder blätterte oder die man als Leporello ausfalten konnte. Aus Sicht der Dritten Französischen Republik bestand aber die Gefahr der Bilder darin, illegitimerweise an die Taten des Kommune-Aufstands zu erinnern. Schließlich konnten die Fotografien das Vergangene auf Papier aufbewahren: „Guerre internationale et guerre civile, tout cela n’est presque plus qu’un mauvais rêve à demi oublié. Mais la vision a eu le soleil pour témoin, et le soleil a fixé sur le bristol ce souvenir lugubre“, schreibt Alfred d’Aunay im Vorwort zum Bildband

49 

Vgl. Elizabeth Anne McCauley: Industrial Madness. Commercial Photography in Paris, 1848– 1871. New Haven 1994, S. 50. 50  Maxime Du Camp: Les Convulsions de Paris. Paris 1878, S. 235. 51  Vgl. zu einem Fallbeispiel der frühen Fotoindustrie Ulrich Pohlmann/Paul Mellenthin (Hg.): Adolphe Braun. Ein europäisches Photographie-Unternehmen und die Bildkünste im 19. Jahrhundert. München 2017; der Name unter einem Bild war häufig nicht mehr als ein „Kollektiv­ singular“, so Bernd Stiegler: Nadar. Bilder der Moderne. London 2019, S. 20. 52  Vgl. Bajac: Artilleurs (wie Anm. 43), S. 6.

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„Les ruines de Paris et de ses environs“ (1872).53 Auch bei Gautier löste die Vor­ stellung der Fotografie als Gedächtnis der Revolution ein gewisses Unbehagen aus: „On voit, d’ailleurs, stationner devant chaque ruine un peu pittoresque les chariots qui servent de laboratoire aux photographes, dont les épreuves deviendront des pièces historiques d’une authenticité irrécusable; sans elles, lorsque ­Paris aura pansé ses plaies, qui pourrait croire à ces monstruosités d’Érostrates anonymes?“54 Der Schriftsteller bezieht sich damit auf einen bekannten antiken Mythos. Der Legende nach hatte Herostrat den berühmten Tempel der Artemis in Ephesos niedergebrannt, nur um der Nachwelt in Erinnerung zu bleiben. Seit der Neuzeit stand der griechische Name stellvertretend für eine unrechtmäßig er­ worbene Berühmtheit und zugleich für den Versuch, den Namen aus offiziellen Erwähnungen wieder zu tilgen. Die Gedächtnissanktion bezeichnete man als eine damnatio memoriae (Verdammnis der Erinnerung).55 Den Ausschluss der Pariser Kommune aus der Öffentlichkeit machte man schließlich am 28. Dezember 1871 offiziell, als der Militärgouverneur von Paris den Verkauf sowie jedwede Zirkulation von Bildern, die den öffentlichen Frieden gefährden könnten, verbot: „L’exhibition, la mise en vente et le colportage de tous dessins, photographies ou emblèmes de nature à troubler la paix publique sont prohibés. Sont interdits notamment la mise en vente, l’exhibition et le colportage des portraits des individus poursuivis ou condamnés pour leur participation aux derniers faits insurrectionnels.“56 Bereits während des Zweiten Kaiserreichs unterstanden die französische Presse und alle weiteren Druckerzeugnisse der strikten Kontrolle durch das Innenministerium, die Departemente und die Divi­sion de l’imprimerie, de la litterature et de la propriété littéraire.57 Obschon nach der Ausrufung der Dritten Republik die Maßnahmen erst gelockert worden waren und man sogar am 10. September 1870 die Freiheit der Presse verkündet hatte, bestanden Regularien und Restriktionen fort.58 So gesehen machte die Verordnung vom 28. Dezember 1871 eine ohnehin existierende, inoffizielle Repression lediglich offiziell, die in Frankreich seit 1852 fast lückenlos ausgeübt worden war. Am 25. November 1872 wurde diese Zensurverordnung von Druckerzeugnissen, die bis dato nur in Paris Geltung hatte, auf ganz Frankreich ausgeweitet. Sie besaß bis zum September 1873 Gültigkeit. Konsequent verfolgte man eine

53 

Alfred d’Aunay: Les ruines de Paris. Paris 1872, o. S. Gautier: Tableaux (wie Anm. 20), S. 338. 55  Gerald Schwedler: Damnatio memoriae – oblio culturale. Concetti e teorie del non ricordo. In: Anton Rigon/Isa Lori Sanfilippo (Hg.): Condannare all’oblio. Pratiche della Damnatio memoriae nel Medioevo. Ascoli Piceno 2010, S. 3–7. Die kulturelle und politische Praxis der Erinnerungssanktion untersucht Harriet Flower: The Art of Forgetting. Chapel Hill 2006. 56 Paul de Ladmirault: Chronique. Paris, 30 décembre. In: Gazette des tribunaux 13901, 31. 12. 1871, S. 911. 57 Zu der Arbeitsweise und den Vorgängerinstitutionen vgl. Judith Wechsler: Daumier and Censor­ship, 1866–1872. In: Out of Sight. Political Censorship of the Visual Arts in NineteenthCentury France. In: Yale French Studies 122 (2012), S. 53–78, hier: S. 54 f. 58  Ebd., S. 72–77. 54 

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damnatio memoriae der Pariser Kommune.59 Zwar sind nur wenig verlässliche Informationen über die Umsetzung der Regelung überliefert, aber angesichts der enormen Verbreitung von Ruinenansichten ist davon auszugehen, dass diese von den Zensurmaßnahmen nicht betroffen waren. Sie erinnerten nicht länger an den Kommune-Aufstand und gefährdeten die öffentliche Ordnung nicht.

Ruinentourismus und die Spektakelgesellschaft in Paris Als ein Resultat des pittoresken Ruinendiskurses reisten Schaulustige aus dem Inund Ausland nach Paris. Für die Bewohner der französischen Hauptstadt waren die touristischen „Vergnügungszüge“ zwar keine grundsätzliche Neuerung, aber deren nun auftretendes Ausmaß vermochte sie dennoch in Erstaunen zu versetzen. So notierte etwa die Schriftstellerin Malvina Blanchecotte in ihrem später veröffentlichten Tagebuch: „Lundi, 12 juin. – «Aux ruines de Paris» – Les trains de plaisir ont commencé, Paris déborde de monde. La province curieuse, – et non fâchée, – vient voir la capitale incendiée.“60 Der Tourismus war ein neues Phänomen des 19. Jahrhunderts. Dem Historiker Daniel Boorstin zufolge organisierte man erstmals im Jahr 1838 eine Reise zu ­einer öffentlichen Hinrichtung in Bodmin, Großbritannien.61 Eine Gruppe von neugierigen Zuschauern hätte dank der Initiative eines lokalen Entrepreneurs mit einem Spezialzug aus dem benachbarten Wadebridge anreisen können. Vergleichbare Berichte über Sensationstourismus, für den man in der Forschung den Begriff „Thanatourismus“62 geprägt hat, sind ebenfalls vom Krimkrieg und dem amerikanischen Sezessionskrieg überliefert. Diese Entwicklung war untrennbar mit einer neuen bürgerlichen Reisekultur verbunden. Es war der englische Unternehmer Thomas Cook, der das Reisen revolutionieren sollte, indem er das Privileg von kultivierten männlichen Reisenden und Adeligen dem zahlenden Bürgertum zugänglich machte. Ab den 1850er-Jahren ließ sich dank der Organisation von Cook der europäische Kontinent auf einer Pauschalreise entdecken, Hotel­ reservierung und Reiseversicherung inklusive.63

59 Zum

Konzept der „Damnatio memoriae“ und der Versailler Politik vgl. Éric Fournier: La Commune de 1871. Un sphinx face à ses images. In: Sociétés & Représentations 46 (2018) 2, S. 245–257. 60  Malvina Blanchecotte: Tablettes d’une femme pendant la Commune. Paris 1872, S. 345. 61 Vgl. Daniel Boorstin: The Image. A Guide to Pseudo-Events in America. New York 1987, S. 86 f. 62  Der Begriff stammt aus der englischsprachigen Forschung der 1990er-Jahre und wird synonym zum dort gebräuchlichen Konzept des Dark Tourism verwendet; vgl. Stefanie Samida: Schlachtfelder als touristische Destinationen. Zum Konzept des Thanatourismus aus kulturwissenschaftlicher Sicht. In: Zeitschrift für Tourismuswissenschaft 10 (2018) 2, S. 267–290; Richard Sharpley/Philip R. Stone (Hg.): The Darker Side of Travel. The Theory and Practice of Dark Tourism. Bristol 2009. 63  Vgl. Boorstin: Image (wie Anm. 61), S. 77–117.

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Der vom Deutsch-Französischen Krieg animierte Tourismus steht an der Schwelle zum „Zeitalter des Massentourismus“.64 Paris in Ruinen wurde als Ausflugsziel in das Programm früher englischer Reisegesellschaften aufgenommen, um die Reise auf dem europäischen Kontinent abzukürzen – wer in Paris gewesen war, musste nicht länger nach Italien oder Griechenland fahren, um die Antike zu sehen. Maxime Vauvert, der Kriegskorrespondent von „Le Monde Illustré“, ­liefert uns eine detaillierte Beschreibung der Touristenströme, die mit Thomas Cook aus London eintrafen: „M. Cook a […] organisé des trains de plaisir qui, partant de Londres, emportent des fournées de curieux que, moyennant une certaine quantité de livres sterlin, il se charge de piloter dans la capitale de la France si durement éprouvée, de les nourrir, de les voiturer, de les arracher au spleen national. C’est M. Cook qui le premier a mis le pied à Paris après la défaite de l’insurrection. C’est entre une ruine fumante et une maison éventrée par les obus que la pensée lui est venue d’organiser la great attraction continentale du moment. C’est lui que vous pouvez voir, toutes les semaines, descendre de wagon à la gare du Nord, grouper autour de sa personne et son verbiage de Cicerone, vingt, trente, quarante anglais, et là commençer l’histoire de l’investissement prussien et des horreurs de l’insurrection communeuse.“65 Daniel Vierge, der erst kurz vor Kriegsausbruch von Madrid nach Paris gekommen war, um in Frankreich als Illustrator zu arbeiten, machte den modernen Touristen für die Zeitschrift „Le Monde Illustré“ in stereotypen Aktivitäten sichtbar (Abb. 7). Die Darstellung zeigt eine Gruppe elegant gekleideter Schaulustiger mit Ferngläsern, die dilettantisch – ein Herr richtet den Feldstecher auf den Boden – die Gegend auf Sehenswertes hin untersuchen. Um einen Vorsprung im Bildzen­ trum hat sich eine Figurengruppe eingefunden, die den herumliegenden Gebäudeschutt wie kostbare Mineralien unter die Lupe nimmt.66 Hinter ihnen, rechts außen im Bildmittelgrund, hebt der Fremdenführer den Zeigestock, um den Blick einer weiteren Gruppe Touristen auf den eingestürzten Dachbalken eines Pariser Wohnhauses zu lenken. Links im Bildhintergrund ist das Anfertigen einer Ruinenansicht für die modernen Besucher thematisiert. Hier sehen wir einen professionellen Fotografen bei der Arbeit, der vor sich einen Fotoapparat installiert und ihn auf die zerstörte Stadt gerichtet hat. Fotografen und Touristen befanden sich Seite an Seite auf den Schauplätzen des Geschehens. Die fotografischen Auf­ nahmen reproduzierten den touristischen Blick, den sie wiederum selbst mit erzeugten.

64 Vgl. Jacques Hantraye: La visite au champ de bataille, 1800–1870. In: Anne-Emmanuelle ­ emartini/Dominique Kalifa (Hg.): Imaginaire et sensibilités au XIXe siècle. Études pour Alain D Corbin. Paris 2005, S. 61–72, hier: S. 61. 65  Maxime Vauvert: Les étrangers à Paris. In: Le Monde Illustré, 24. 6. 1871, S. 398. 66  Blanchecotte: Tablettes (wie Anm. 60), S. 346  f.: „Les photographes qui prennent des vues de nos misères vont sûrement faire fortune. On emportera sans aucun doute comme souvenir bien des petites pierres volcaniques, tout ce que l’on pourra détacher en petits cailloux noirs; mais on ne manquera pas d’acheter toute la série des vues.“

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Abbildung 7: Daniel Vierge, Die Schaulust. – Ausländer beim Besuch der Ruinen von Paris. ­Entnommen aus: Le Monde Illustré, 24. Juni 1871, S. 397.

Nach den Deutschen und den Kommunarden waren die Fotografen und die Engländer das letzte Feindbild, das die Pariser Ruinen im Jahr 1871 hervorbrachten. Die „great attraction continentale du moment“ war das allen kostenlos zugängliche urbane Spektakel von Paris. Um die Zerstörung herum wuchs schnell ein kommerzielles Tourismusgewerbe heran. Reiseführer standen bereit, um erstens die Risiken von herunterstürzenden Bauteilen zu minimieren, und um zweitens die Imaginationskraft der Besucherinnen und Besucher durch Geschichten zu den einstigen Bauwerken zu animieren. Von Beginn an war der Ruinenkult eng mit materiellen Souvenirs, insbesondere Bildern, verbunden. Straßenhändler boten neben Feldstechern auch Fotografien an. Karten und Reiseführer bildeten die wichtigsten Destinationen ab. Der französische Künstler Gustave Doré projizierte die Zerstörung im Anschluss auch auf London. Der Blick des Reisenden fällt über die Themse auf die Skyline des künftigen Londons in Ruinen. Die Silhouette zeigt deutlich die charakteristischen Züge der britischen Hauptstadt.67 Die Vorstellung der erfolgreichen Metropole der Gegenwart entsprach nunmehr dem Bild einer antiken Stadt in Ruinen. 67  Die

Illustration „Macaulay’s New Zealander“ greift, so legt es der Titel nahe, eine literarische Vorlage auf. Siehe auch den Beitrag von Stefanie Fricke in diesem Band; dort auch die Abbildung von Gustave Doré.

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Abstract The events of 1870/1871 – the French-German War and the Paris Commune – left behind a swath of destruction. Devastated French cities spread along the German border and up until Paris. Immediately afterwards, the ruin came to be considered the French icon of war. In order to create visual narratives, magazines oftentimes reused photographic images depicting battle grounds after the events. While the ruin was at first employed with propagandistic intent to polemize against Germans or the remainders of the social insurrection, it quickly became a subject in its own right. Induced by industrialised photographic representations, the ruin gained life as an antique allegory in the picturesque romantic tradition. The text sheds light on the international press, literature, art and eventually the tourist industry, where the ruin was used to channel the immediacy of human destruction into a history of natural decay and spectacle.

Uwe Lübken Vanport, Oregon: Die lange Geschichte einer verlorenen Stadt Als am 30. Mai 1948 ein provisorischer Deich im Norden von Portland, Oregon, den seit Tagen steigenden Wasserständen des Columbia River nachgab, endete die kurze Geschichte von Vanport, einer Siedlung, die nach dem Eintritt der USA in den Zweiten Weltkrieg errichtet worden war, um Unterkünfte für zugewanderte Arbeiter und Arbeiterinnen in der Rüstungsindustrie zu schaffen. Die Stadt,1 in der auf dem Höhepunkt ihrer Entwicklung etwa 40 000 Menschen lebten, wurde in nur wenigen Monaten errichtet, sie existierte gerade einmal sechs Jahre, und am Ende blieben den Bewohnern und Bewohnerinnen lediglich 35 Minuten, um sich vor der Flut in Sicherheit zu bringen. Das Nachleben Vanports ist nicht weniger kurios. Die Stadt wurde nie wieder aufgebaut, ihre ehemaligen Bewohner mussten sich im benachbarten Portland, auf der gegenüberliegenden Seite des Columbia River in Vancouver, Washington, oder in anderen Teilen der USA eine neue Bleibe suchen. Der Ort selbst wurde in der Folgezeit erst gar nicht und dann nur sporadisch, etwa in Form eines Naturschutzgebietes, einer Rennstrecke, eines Golfplatzes und eines Ausstellungsgeländes genutzt. Vanport ist ohne Zweifel ein extremes Beispiel einer lost city. Anders als in anderen verlorenen Städten gibt es dort keine Zeugnisse vergangener architektonischer Grandesse zu bestaunen. Das Verschwinden Vanports steht, zumindest auf den ersten Blick, auch nicht für größere Entwicklungen, so wie Teile der antiken Ruinenlandschaft etwa vielen späteren Beobachtern den Niedergang der griechischen Kultur versinnbildlichten.2 Die kurze Geschichte Vanports hat, so scheint es, wenige Spuren in der Landschaft und in der kollektiven Erinnerung hinter­lassen.3 Das Fundament des ehemaligen Theaters von Vanport ist eines der ganz wenigen heute noch sichtbaren Zeugnisse. Und warum auch sollte man einen Ort erinnern, dessen 1  Ob

Vanport überhaupt eine Stadt war, kann man aus mehreren Gründen durchaus anzweifeln. Für die Lebenswirklichkeit der Bewohner und Bewohnerinnen, so lässt sich aus den zahlreich vorhandenen Egodokumenen ablesen, erfüllte Vanport aber etliche urbane Funktionen. 2 Martin Zimmermann: Lost cities, urban explorers und antike Landschaften. Vom Leben mit Ruinen. In: Shing Müller/Armin Selbitschka (Hg.): Über den Alltag hinaus. Festschrift für Thomas O. Höllmann zum 65. Geburtstag. Wiesbaden 2017, S. 297–312. 3 Zu Erinnerungspraktiken in Bezug auf vergangene Hochwasserereignisse am Beispiel der Hamburger Sturmflut 1962 vgl. die wegweisende Studie von Felix Mauch: Erinnerungsfluten. Das Sturmhochwasser von 1962 im Gedächtnis der Stadt Hamburg. München/Hamburg 2015. https://doi.org/10.1515/9783111071848-013

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Funktion temporärer Natur war, dessen Bewohner und Bewohnerinnen keine langfristigen Beziehungen zu der Stadt entwickeln konnten und der nur wenige Jahre existierte? Auch das wissenschaftliche Interesse an der G ­ eschichte Vanports hielt sich lange Zeit in Grenzen. Noch 2010, auf der Jahres­tagung der US-amerikanischen Umweltgeschichtsgesellschaft ASEH in Portland, also am Ort des Geschehens, behandelte kein einziger Vortrag die Geschichte Vanports.4 Umso erstaunlicher ist die regelrechte Explosion des Erinnerungsaktivismus, die ungefähr seit diesem Zeitpunkt eingesetzt hat. Mittlerweile kann man die Dimensionen der untergegangenen Stadt in walking tours nachempfinden, erinnern Ausstellungen, Konzerte, „oral history“-Initiativen, Blogs und Webseiten an die komplexe Geschichte der Stadt. Diese Konjunktur der Erinnerung wirft die Frage auf, warum sich in Portland für mehr als ein halbes Jahrhundert lang fast niemand für das Schicksal dieses Ortes unmittelbar vor den Toren der Stadt interessierte? Oder gab es vielleicht doch eine Art von subkutaner Erinnerung, die allerdings nie an die Oberfläche gelangte? Und schließlich: Warum ereignete sich die rapide und intensive Wiederentdeckung Vanports ausgerechnet in der zweiten Dekade des 21. Jahrhunderts? Dieser Beitrag wird zunächst auf die Umstände und Hintergründe der Entstehung Vanports eingehen, die fundamental für das Verständnis der kurzen Geschichte der Stadt und ihr Nachleben sind. Er wird dann schildern, welche Rolle Vanport nach der Flut von 1948 für die Stadt Portland und insbesondere für den Stadtteil Albina spielte. Der letzte Teil widmet sich dann der Wiederentdeckung Vanports seit den 2010er-Jahren und dem Schicksal des Ortes, an dem die Stadt kurz nach dem US-amerikanischen Kriegseintritt errichtet worden ist.

Die „miracle city“ Zu den zahlreichen Transformationen, die der Zweite Weltkrieg an der home front der Vereinigten Staaten ausgelöst hat, zählt ohne Zweifel auch die Migration von Zehntausenden von Arbeitern und Arbeiterinnen in die Zentren der Rüstungsproduktion. Insbesondere die im amerikanischen Maßstab noch relativ dünn besiedelte Westküste der USA war auf Zuwanderung aus anderen Teilen des Landes angewiesen, um die dortigen Produktionsanlagen der Kriegsindustrie mit Menschen zu füllen. Ein wichtiges Cluster befand sich in der Gegend um Portland im Norden des Bundesstaates Oregon, unmittelbar an der Grenze zu Washington. Hier hatte die „Kaiser Shipbuilding Corporation“ drei Werften errichtet, in denen bis zu 140 000 Menschen arbeiteten.5 4 

Zum Programm der Konferenz vgl. https://aseh.org/resources/Documents/2010%20program% 20portland.pdf (letzter Zugriff am 23. 9. 2021). Allerdings haben die Veranstalter auch eine Boots­tour auf dem Willamette River als „Floating Seminar“ angeboten, auf dem Vanport zur Sprache kam. 5  Ellen J. Stroud: Troubled Waters in Ecotopia. Environmental Racism in Portland, Oregon. In: Radical History Review 74 (1999), S. 65–95, hier: S. 71. In den restlichen Werften arbeiteten wei­

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Bis zum Frühjahr 1942 waren bereits etwa 160 000 Amerikaner in den Großraum Portland gezogen, was einem Bevölkerungszuwachs von knapp 50 % in sehr kurzer Zeit entsprach. Die große Zahl an zugewanderten Arbeitern, Arbeiterinnen und deren Familien musste auch untergebracht werden, was sich als enorme Herausforderung für eine Stadt erweisen sollte, die bei Kriegsbeginn gerade einmal 340 000 Einwohner zählte. Wie in anderen stark von der Rüstungsindustrie beeinflussten Städten in den USA – etwa Norfolk, Virginia oder San Diego in Kalifornien – führte der gewaltige Zuzug von Menschen auch in Portland, Oregon, zu einer Krise, die die lokale Regierung vor enorme Probleme stellte. In keinem anderen Bereich zeigte sich diese Krise so deutlich wie bei der Versorgung der Bevölkerung mit ausreichend und adäquatem Wohnraum. Verschärft wurde die Situation noch durch die Ressentiments der Eliten Portlands gegenüber öffent­ lichen Wohnungsbauprojekten und den vermeintlich aus diesen resultierenden ­negativen Konsequenzen wie einer Zunahme der Kriminalität und eines negativen Einflusses auf die Immobilienpreise.6 Die Lage spitzte sich im Sommer 1942 derart zu, dass einige Arbeiter und Arbeiterinnen die Stadt bereits wieder verließen, weil sie keine Unterkunft gefunden hatten.7 Die 1941 gegründete „Housing Authority of Portland“ (HAP) und andere lokale Behörden nahmen die Probleme nur zögerlich in Angriff, sodass die „Kaiser Shipbuilding Corporation“ in Abstimmung mit der bundesstaatlichen „Maritime Commission“ die Zügel selbst in die Hand nahm. Im August 1942 erwarb Edgar F. Kaiser, Sohn des Patriarchen Henry J. Kaiser, Land unmittelbar nördlich der Stadtgrenze von Portland und erhielt von der Bundesregierung die finanziellen Mittel für die Errichtung von zunächst 6 000, später 10 000 Wohneinheiten in Vanport City, so der ursprüngliche Name der Stadt.8 „Responsibility for key decisions about public housing“, hielt Carl Abbott fest, „passed in little more than a year from the established Planning Commission to a new Portland Housing Authority to an informal alliance of industrialists and federal bureaucrats.“9 Im Dezember 1942 bezogen die ersten Menschen ihre Wohnungen in Vanport, das nicht nur das größte housing project in den ganzen USA darstellte, sondern innerhalb weniger Monate auch zur zweitgrößten Stadt in Oregon wurde.10 Der Name Vanport ergab sich aus der Mittellage zwischen den Städten Portland, Oregon, und Vancouver, Washington, auf der gegenüberliegenden Seite des Columbia tere 23 000 Menschen. Carl Abbott: Portland in the Pacific War. Planning from 1940 to 1945. In: Urbanism Past & Present 6 (1980), S. 12–24, hier: S. 12.  6  Rudy Pearson: „A Menace to the Neighborhood“. Housing and African Americans in Portland, 1941–1945. In: OHQ 102 (2001), S. 158–179, hier: S. 162; Manly Maben: Vanport. Portland, OR 1987, S. 2.  7  Abbott: Portland (wie Anm. 5), S. 16.  8  Ebd., S. 18; Maben: Vanport (wie Anm. 6), S. 7–10; Lucas N. N. Burke/Judson L. Jeffries: The Portland Black Panthers. Empowering Albina and Remaking a City. Seattle/London 2016, S. 29– 31.  9  Abbott: Portland (wie Anm. 5), S. 15. 10  Maben: Vanport (wie Anm. 6), S. 18.

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River. Auf dem Höhepunkt seiner Entwicklung kurz vor Ende des Kriegs zählte Vanport etwa 40 000 Einwohner. Kaiserville, wie die Stadt aufgrund ihrer Entstehungsgeschichte auch genannt wurde, hatte 16 Spielplätze, 19 Meilen asphaltierter Straßen, Wasser- und Abwassersysteme, Verwaltungsgebäude, eine Bibliothek, eine eigene Feuerwehr und ein Krankenhaus.11 Vanport war auf drei Seiten von Wasser umgeben. Im Norden und Süden schützten Deiche die Siedlung vor dem Columbia River beziehungsweise vor dem Columbia Slough, einem extrem verunreinigten Zufluss des Willamette River.12 Im Westen Vanports diente ein aufgeschütteter Eisenbahndamm als Deich. Diese Lage hatte verschiedene Vorteile. Zum einen duldeten weder die Stadtregierung noch ein Großteil der Einwohner Portlands derartig große Siedlungsprojekte innerhalb ihrer Stadtgrenzen. Zum anderen bot der Standort der „Kaiser Shipbuilding Corporation“ den Vorteil, dass er außerhalb der Regulierungskompetenz lokaler Behörden und, noch bedeutender, in unmittelbarer Nähe zu den Werften lag, sodass die Arbeiter und Arbeiterinnen auch im Falle von Sabotageakten oder militärischen Angriffen schnell zu ihren Arbeitsplätzen gelangen konnten.13 Der Bevölkerungszuwachs im Großraum Portland wurde nicht nur sui generis, sondern auch aus einem spezifischen Grund als Problem wahrgenommen. Oregon war einer der am stärksten segregierten Staaten im Westen der USA. Portland, eine Stadt, die heute mit ihrem progressiven Image wirbt, war damals nach Ansicht von Bill Berry von der „Portland Urban League“ eine „Northern city with a Southern exposure“.14 Zwar waren nur eine kleine Minderheit der Gesamtzahl der Arbeitsmigranten und nur etwa 20 % der Einwohner Vanports African-Americans. Für einen Staat (Oregon) und eine Stadt (Portland), in denen nur wenige Schwarze lebten, war das Wachstum allerdings signifikant.15 Um die Jahrhundertwende lebten gerade einmal 1 100 Schwarze in Portland, bis zum Jahr 1940 stieg die Zahl der African Americans in der 340 000 Einwohner großen Stadt lediglich auf knapp 2 000. In den Kriegsjahren dagegen kamen etwa 23 000 African Americans hinzu, von denen etwa 6 000 in Vanport lebten.16 Vanport wurde schnell zur größten afro-amerikanischen Community in Oregon, und Schwarze Einwohner der Stadt lösten die chinesisch-stämmige Bevölkerung als größte Minorität Portlands ab.17 11 

Ebd., S. 11. Stroud: Waters (wie Anm. 5). 13 Portland Bureau of Planning: History of Portland’s African American Community. Albina Community, 1805 to the Present. Portland, OR 1993, S. 76–79; Maben: Vanport (wie Anm. 6), S. 6 f. 14  Pearson: Menace (wie Anm. 6), S. 174. 15  Die Bezeichnungen „Schwarz“ und „weiß“ werden in diesem Beitrag nicht als Kennzeichnungen von Personen oder Gruppen gemäß ihrer Hautfarbe verstanden, sondern als soziale Kon­ struktionen, die allerdings als solche historisch wirkmächtig geworden sind. „Schwarz“ ist zudem eine politisch gewählte Selbstbezeichnung, die auf eine gemeinsame Kultur und Geschichte verweist und daher groß geschrieben wird. 16  Pearson: Menace (wie Anm. 6), S. 161  f., S. 164; Burke/Jeffries: Portland (wie Anm. 8), S. 27. 17  Pearson: Menace (wie Anm. 6), S. 169–173. 12 

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Von offizieller Seite aus wurde die Diversität Vanports regelrecht zelebriert. Die Siedlung am Columbia River wurde als „miracle city“ bezeichnet, nicht nur weil sie in kürzester Zeit hochgezogen worden war, sondern auch, weil hier die unterschiedlichsten Bevölkerungsgruppen harmonisch zusammenzuleben schienen – alles andere als eine Selbstverständlichkeit in den immer noch von strukturellem Rassismus und Segregation geprägten USA. Die Wirklichkeit entsprach allerdings nur bedingt diesem Bild. Zwar waren die Schulen integriert, die Wohngebiete innerhalb Vanports waren es jedoch nicht. Für viele Portlander war die prokla­ mierte Vielfalt zudem eher Bedrohung als Versprechen, wie Heather Fryer festgehalten hat: „It was rumored among Portlanders during the war that this motley crew of ‚Americans all‘ led a wild life in their out-of-the-way enclave on the floodplain: they drank, danced, plotted revolution, and even encouraged whites and blacks to mingle.“18 Als sich das Ende des Kriegs und damit auch eine signifikante Reduzierung der Rüstungsproduktion abzuzeichnen begann, beeilten sich die Mitglieder des „Portland Area Postwar Development Committee“ (PAPDC), die HAP und Bürgermeister Earl Riley, das Kriegsexperiment schnell zu beenden und die Weichen in Richtung einer Auflösung Vanports zu stellen. Vorkriegspläne, die Gegend für industrielle Nutzungen zu öffnen, wurden aus der Schublade geholt, wozu wohl auch ein persönliches finanzielles Interesse einiger der beteiligten Personen beigetragen haben dürfte. Diejenigen, die dagegen den Nutzen von öffentlichen Wohnungsbauprojekten wie Vanport hervorhoben, wurden als „socialist-minded schemers“ verunglimpft.19 Während die Mehrzahl der Bewohner und Bewohnerinnen nach Kriegsende in der Tat die Stadt verließ, gab es auf der anderen Seite auch zentripetale Kräfte, die der Erosion Vanports entgegenwirkten. Dazu gehörte allen voran die Rückkehr vieler GIs von den Kriegsschauplätzen in Asien und Europa, für die Wohnraum dringend gebraucht wurde. Die Bundesregierung, die Vanport finanziert hatte, hatte kein Interesse daran, bestehende Wohnsiedlungen, so dürftig deren Qualität auch war, dem Erdboden gleich zu machen und so die ohnehin schon große Wohnungsnot noch weiter zu verschärfen.20 In Vanport nutzten zudem etliche der neu zugezogenen Veteranen die Möglichkeit, am „Vanport Extension Center“, ein zweijähriges College und Keimzelle der Portland State University, zu studieren, und blieben daher in der Stadt.21 Für African Americans gab es darüber hinaus spezielle Barrieren, die einen Wegzug erschwerten. Schwarze Amerikaner und Amerikanerinnen waren oft die ersten, die nach Kriegsende entlassen wurden, da 18  Heather

Fryer: Perimeters of Democracy. Inverse Utopias and the Wartime Social Landscape in the American West. Lincoln, NE/London 2010, S. 1. 19  Pearson: Menace (wie Anm. 6), S. 174  f. 20  Stuart McElderry: Vanport Conspiracy Rumors and Social Relations in Portland, 1940–1950. In: OHQ 99 (1998), S. 134–163, hier: S. 150; ders.: Building a West Coast Ghetto. African-American Housing in Portland, 1910–1960. In: PNQ 92 (2001), S. 137–148. 21 Clarke H. Brooke: Geography at Portland State University. In: Yearbook of the APCG 56 (1994), S. 119–136.

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sie nicht wie ihre weißen Kollegen und Kolleginnen vom Senioritätsschutz der Gewerkschaften profitierten. Eine Wohnung in Portland jenseits der traditionell Schwarzen Stadtteile zu finden, war aber nicht nur aus ökonomischen Gründen schwierig, sondern wegen der de facto Segregation Portlands nahezu unmöglich. Auch eine Rückkehr in den Süden der USA, woher viele African Americans im Rahmen der great migration gekommen waren, war nicht besonders attraktiv, da die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Bedingungen dort oft nicht besser waren als im Großraum Portland.22 Nach dem Aderlass gegen Ende des Kriegs stabilisierte sich die Einwohnerzahl Vanports daher bei etwa 18 000 Menschen, der Anteil von African Americans erhöhte sich von 18 % auf 35 % der Einwohnerzahl.23 Für die weiße Mehrheitsgesellschaft in Portland und die Stadtregierung wurde Vanport aber durch diesen demografischen Wandel noch mehr als zuvor zum „Problemviertel“. Ökonomischer Opportunismus, der die Gegend für profitab­ lere Nutzungen öffnen wollte, mischte sich dabei mit rassistischen Stereotypen über „Schwarze Stadtviertel“. Schon 1944 sprach Arthur D. McVoy, Direktor der „Portland City Planning Commission“, von gewaltigen Problemen, mit denen es Portland bald aufgrund der kriegsbedingten Wohnprojekte zu tun haben werde. In einem Vortrag auf einer Konferenz zur Stadtplanung in den USA forderte er „[to] clear up some of the blighted areas“. Auf die Frage aus dem Publikum, wo die Einwohner Vanports denn dann leben sollten, antwortete er: „If any of you feels that your city needs some extra population after the war, let us know. I think we can fix you up.“24 Ein anderer Mitarbeiter der Stadt prognostizierte: „They [African Americans] will undoubtedly cling to those residences.“ Nach Kriegs­ ende zeigte sich der Vorsitzende der Portlander Wohnungsbehörde HAP, Chester A. Moores, enttäuscht darüber, dass „those people are still here“.25 Am Ende bewirkte eine Flut des Columbia River, was weder Stadtverwaltung noch die „Housing Authority“ erreicht hatten: das Ende Vanports.26 Nach wochenlangen schweren Regenfällen brach am Memorial Day 1948, dem 30. Mai, ein Damm, der eigentlich nur eine Eisenbahnaufschüttung war. Das Flusswasser füllte über den Smith Lake schnell die Senke, in der Vanport errichtet worden war, und den Bewohnern der Stadt blieben gerade einmal 35 Minuten, um der Katastrophe zu entkommen. Lediglich 15 Menschen starben, was wahrscheinlich der Tatsache geschuldet war, dass sich die Überschwemmung am Tage ereignete.27 Vanport hörte natürlich nicht über Nacht auf zu existieren, nur weil die Stadt physisch zerstört worden war. Dies lag zum einen daran, dass Tausende der Einwohner Vanports in unmittelbarer Nachbarschaft des Ortes, in Portlands Stadtteil 22 Portland Bureau of Planning: History (wie Anm. 13), S. 75  f.; Burke/Jeffries: Portland (wie Anm. 8), S. 22. 23  Burke/Jeffries: Portland (wie Anm. 8), S. 34  f.; Maben: Vanport (wie Anm. 6), S. 88. 24  Zitiert nach McElderry: Vanport (wie Anm. 20), S. 151. 25  Pearson: Menace (wie Anm. 6), S. 175. 26  Stroud: Waters (wie Anm. 5), S. 75. 27  Portland Bureau of Planning: History (wie Anm. 13), S. 76–79.

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Albina Zuflucht fanden und dort schon alleine durch ihre Präsenz, aber auch durch künstlerische Aktivitäten, die Erinnerung an Vanport wachhielten. Zum anderen setzte etwa seit der zweiten Dekade des 21. Jahrhunderts – genau ist dieser Wandel nicht zu datieren – eine deutliche Intensivierung der Erinnerung an Vanport auf gleich mehreren Ebenen ein, die bis in die Gegenwart reicht.

Vanport in Albina Die große Zahl der Flutflüchtlinge – über Nacht waren knapp 20 000 Menschen obdachlos geworden – führte zu immensen Problemen. Für African Americans war die Situation besonders prekär, da sie auf dem segregierten Wohnungsmarkt in Portland kaum die Möglichkeit hatten, außerhalb Schwarzer Viertel eine Wohnung zu finden. Die Stadtregierung wiederum weigerte sich, die noch existierenden „public housing facilities“ in den anderen Teilen der Stadt zur Verfügung zu stellen, sodass den Vertriebenen nur die Wahl blieb, sich in dem kleinen, vor allem von Afroamerikanern und Afroamerikanerinnen bewohnten Stadtteil Albina eine Unterkunft zu suchen, oder die Stadt ganz zu verlassen.28 Der Zuzug von African Americans nach Oregon war lange Zeit wegen einer Klausel in der Verfassung des Staates, die bestimmten ethnischen Minderheiten nicht nur die Ansiedlung, sondern auch den Erwerb von Eigentum und das Unter­zeichnen von Verträgen untersagte, nahezu unmöglich. Dementsprechend machten African Americans noch um 1900 weniger als 1 % der Einwohner Portlands aus. Hauptwohngebiet um diese Zeit war die Gegend um die Union Station. Die Größe und geografische Verteilung der Schwarzen Community in Portland änderte sich jedoch durch die great migration, also die Abwanderung von Millionen African Americans aus dem Süden der USA in die neuen industriellen Zen­ tren im Norden und Westen. Neues Gravitationszentrum Schwarzen Lebens in Portland wurde etwa ab der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert Albina im Nordosten der Stadt am Ufer des Willamette River. Das Wachstum der afro-amerikanischen Bevölkerung in Portland war allerdings bedeutend langsamer als in anderen Städten an der Westküste wie Los Angeles oder Oakland.29 Ebenso wie in Vanport stellten auch in Albina weiße Amerikaner und Amerikanerinnen und nicht African Americans die Mehrheit der Bevölkerung.30 Die Mi­ gration vieler Schwarzer Einwohner Vanports nach Albina verschärfte allerdings die Segregation auf dem Wohnungsmarkt in Portland. Zwar lebten African Americans in allen 61 Zensusdistrikten der Stadt, mehr als die Hälfte wohnte aber konzentriert in einem kleinen Bereich, der weitestgehend den Grenzen des Stadtteils Albina entsprach. Wo viele Schwarze in den Innenstädten lebten, „flüchte28  Pearson:

Menace (wie Anm. 6), S. 177; Dale Skovgaard: Oregon Voices. Memories of the 1948 Vanport Flood. In: OHQ 108 (2007), S. 88–106. 29  Burke/Jeffries: Portland (wie Anm. 8), S. 20, S. 24. 30  Ebd., S. 36.

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ten“ weiße Amerikaner und Amerikanerinnen in die Vororte.31 Damit setzte ein Teufelskreis ein, der über erodierende Steuereinnahmen, verfallende Infrastruktur und öffentliche Verwaltung (Polizei, Feuerwehr, Müllabfuhr, Schulsystem) die Stereotype von und Vorurteile gegenüber Schwarzen Wohngegenden zu bestätigen schien. Aus Sicht von Stadtplanern und lokalen Verwaltungen, nicht nur in Portland, waren solche Viertel nicht mehr zu retten. Seit den 1960ern wurde dann versucht, die inner cities zu revitalisieren, was wiederum oft auf Kosten der Schwarzen Bevölkerung ging. „Urban renewal“ wurde gleichgesetzt mit „black removal“, denn viele dieser Erneuerungsprojekte gingen einher mit der Vertreibung der dortigen Bevölkerung.32 Auch Albina sah sich zunehmend mit solchen Zuschreibungen konfrontiert, die zwar nicht der Wahrheit entsprachen, aber dennoch wirkmächtig waren.33 Die Vanport-Erfahrung vieler Einwohner Albinas spielte auch eine bedeutende Rolle in der kulturellen Auseinandersetzung mit diesem Ort. Eines der interessantesten Beispiele ist ein großes Wandgemälde, das im Jahr 1978 von sieben „artists of color“ in Albina produziert wurde und das 600 Jahre Schwarzer Geschichte an zwei Außenwänden des „Albina Human Resources Centers“ darstellte.34 Inspiriert von mexikanischen Vorbildern, allen voran Diego Rivera, und basierend auf der langen Tradition afro-amerikanischer murals, entstanden in der Nachkriegszeit in vielen amerikanischen Innenstädten walls of respect, die bewusst die positiven und erfolgreichen Aspekte Schwarzer Kultur und Geschichte in den USA in den Mittelpunkt stellten, die in Schulbüchern und im öffentlichen Diskurs kaum eine Rolle spielten.35 Es ist bezeichnend für die große Bedeutung, die Vanport für viele Einwohner Albinas einnahm, dass der untergegangenen Stadt gleich zwei Wandbilder gewidmet waren, eingerahmt von Illustrationen zum transatlantischen Sklavenhandel, zu Ikonen der Civil Rights-Bewegung und zur great migration. Die beiden ­murals „Vanport the Promise“ und „Vanport the Flood“ des Malers Isaka Shamsud-Din waren darüber hinaus die einzigen der sechs Gemälde, die einen lokalen Bezug hatten. Shamsud-Din war mit seinen Eltern und 13 Geschwistern 1947 aus Texas nach Vanport gekommen und hatte in der Flut alles bis auf ein kleines weißes Radio verloren. In einem Interview mit dem Kuratoren und Fotografen Ro­ bin J. Dunitz im Jahr 2010 hält er über seine Arbeiten zu Vanport fest: Vanport: the Promise was to highlight the beginnings for most of us of the Oregon ­experience. There were black folks here before, but in very small numbers. I wanted to commemorate and give some kind of honor to the Native American people and culture 31 

Portland Bureau of Planning: History (wie Anm. 13), S. 86. Ebd., S. 103, S. 109 f. 33  Burke/Jeffries: Portland (wie Anm. 8), S. 28. 34  Robin J. Dunitz: The Albina Mural Project. In: OHQ 111 (2010), S. 486–508, hier: S. 486. Die 600 Jahre ergeben sich daraus, dass auch der Sklavenhandel in Afrika thematisiert wurde. 35 Floyd Coleman: Keeping Hope Alive. The Story of African American Murals. In: James Prigoff/Robin J. Dunitz (Hg.): Walls of Heritage, Walls of Pride. African American Murals. San Francisco 2000. 32 

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that all of this is built upon. So they appear. And the migration of people traveling, ­coming from the South mostly, black folks for work, the shipyards, the profiles of the ships at the top. […] And then the second one [The Flood]. I had to do something about the Flood that was more of an action thing. To show the terror.36

Nach etwa fünf Jahren begannen die murals zu zerfallen und mussten, auf Kosten der Künstler, abgenommen werden. Dennoch scheinen sie einen bleibenden Eindruck hinterlassen zu haben, wie Henry Frison, einer der sieben Künstler, später festhielt: „People loved them. They talked about those murals for years. I think the community really liked that it was our history and it was right in the ’hood.“37 Die Vanport-Wandbilder wurden später in die Portland State University gebracht – ein angemessener Ort angesichts der Tatsache, dass diese Hochschule selbst ihren Ursprung in Vanport hat.38 Ähnlich wie Isaka Shamsud-Din betont auch Peggy Ball in ihren Arbeiten die Diversität Vanports, zu der nicht nur die Erfahrungen der weißen und Schwarzen Bevölkerung gehörten, sondern auch und gerade indigene Aspekte. Ball hatte sich eigentlich auf das Quilten konzentriert, wechselte jedoch 2013 krankheitsbedingt zur Malerei. Ihre Mutter war eine Cherokee aus Oklahoma, ihr Vater Stammesmitglied der Modoc und Klamath in Chiloquin, Oregon. Während des Zweiten Weltkriegs zogen sie aus dem Reservat der Klamath nach Vanport, wo Peggy Ball 1943 geboren wurde. „Vanport“ (2014), ihr erstes Bild, nachdem sie mit dem Quilten aufhören musste, verarbeitet sowohl persönliche wie auch soziale Traumata. Vor dem Hintergrund eines typischen Apartmenthauses in Vanport wird die Stadt in dieser Darstellung zu einem zeitlosen Ort und zum Sinnbild des Verlustes – zum einen der Stadt und ihrer Kultur, zum anderen aber auch des (formalen) Endes der Klamath, des Todes der Schwester nach einem Autounfall, des Weggangs des Vaters und der schweren Krankheit der Mutter.39

Erinnerungsaktivismus Insgesamt ist die Bedeutung, die Vanport für die Identität der Menschen in Albina und anderen Teilen Portlands hatte, noch kaum erforscht. Was sich aber seit den 2010er-Jahren deutlich abzeichnet, ist eine Intensivierung der Erinnerungsarbeit und des Erinnerungsaktivismus in Bezug auf Vanport. Die untergegangene Stadt ist regelrecht wieder aufgetaucht. Diese Erinnerungsaktivitäten sind vielschichtig und umfassen zum Beispiel einen Memorial Day anlässlich des 70. Jahrestages des Untergangs Vanports am 23. Mai 2018, an dem durch Aktionen wie etwa einen 36 

Dunitz: Albina (wie Anm. 34), S. 496. Ebd., S. 506. 38  Ebd., S. 508, Anm. 17. 39  Angie Morrill: Time Traveling Dogs (and Other Native Feminist Ways to Defy Dislocations). In: Cultural Studies/Critical Methodologies 17 (2016), S. 14–20. 37 

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History Pub, eine Paneldiskussion mit ehemaligen Bewohnern und Bewohnerinnen Vanports, in ganz Portland an die Geschichte der Stadt erinnert wurde. Die „Oregon Historical Society“ (OHS) stellte zu diesem Anlass etliche Fotografien Vanports aus ihren Beständen online. Bereits 2016 hatte die OHS zusammen mit „Oregon Public Broadcasting“ eine einstündige Dokumentation zu Vanports Geschichte produziert und ins Netz gestellt.40 Im Zentrum der Erinnerungsarbeit steht eine Organisation mit dem Namen „Vanport Mosaic“, die 2016 gegründet wurde und die in den letzten Jahren zu ­einer Art Geschichtswerkstatt geworden ist. Ziel der Portlander Gruppe ist es, „to honor, present, and preserve the silenced histories that surround us in order to understand our present, and create a future where we all belong“. „Vanport ­Mosaic“ organisiert ein jährliches Festival, bei dem im Jahr 2021 über 200 Teilnehmer und Teilnehmerinnen aus Kunst, Wissenschaft, Politik und den Medien zusammenkamen. Dabei geht es nicht nur um eine Rekonstruktion der Geschichte Vanports, sondern auch darum, „to reclaim and rebuild a civic identity rooted in equality, diversity, justice, dignity, and truth“.41 „Vanport Mosaic“ hat ein eigenes „oral history“-Programm aufgelegt und kooperiert mit der Portland State University. Die Gruppe organisiert Ausstellungen, Theateraufführungen, „community gatherings“ wie zum Beispiel eine jährliche Reunion ehemaliger Bewohner und Bewohnerinnen Vanports sowie Führungen zur Stadt(teil)geschichte. Dadurch wurde Vanport nicht nur im öffentlichen urbanen Raum Portlands wieder sichtbar gemacht; das Schicksal der Stadt dient auch als Folie für den Umgang mit Problemen der Gegenwart wie strukturellem Rassismus oder Gentrifizierung. Dass dieses Aufblühen der Vanport-Erinnerung genau in den 2010er-Jahren, vor allem in der zweiten Hälfte dieser Dekade stattfand, hat drei primäre Gründe. Erstens profitierte die Wiederentdeckung Vanports von einer Neubewertung von Naturkatastrophen in der Forschung und im öffentlichen Diskurs, die weniger auf die geologisch-meteorologischen Faktoren als vielmehr auf die gesellschaft­ liche Verursachung abzielte. In den USA hatte dabei Hurrikan Katrina eine kaum zu überschätzende Katalysatorwirkung. Zweitens hat der Diskurs um die zu erwartenden Folgen des Klimawandels, allen voran von Prozessen der Migration und Vertreibung, zur Neubewertung von Vanport beigetragen. Auch wenn der Exodus der Einwohner Vanports nicht klimatisch verursacht wurde, erkannte man doch in den Wanderungsbewegungen danach Entwicklungen, die wie Vorboten von „Klimamigration“ gelesen werden könnten und aus denen man sich Lektionen für die Zukunft erhoffte. Drittens hat die zunehmende Gentrifizierung in Portland zu einem neuen Interesse an Vanport beigetragen. Während die naturwissenschaftliche Erklärung von Naturkatastrophen spätestens mit der Aufklärung große Teile des religiösen Interpretaments ersetzt, wenn 40  Die

Dokumentation ist online zugänglich unter: https://watch.opb.org/video/oregon-experience-vanport/ (letzter Zugriff am 21. 9. 2021). 41  Die Website ist online zugänglich unter: https://www.vanportmosaic.org/ (letzter Zugriff am 21. 9. 2021).

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auch nie ganz verdrängt hat, dominierte in Bezug auf die soziokulturellen Ur­ sachen und Konsequenzen solcher Ereignisse bis weit ins 20. Jahrhundert die Vorstellung von einer höheren Gewalt, deren Wirken menschliche Gesellschaften überraschend, unvorbereitet und unverschuldet traf. Seit den 1970er-Jahren hat sich die sozialwissenschaftliche Analyse von Naturkatastrophen jedoch spürbar geändert.42 Zentral ist dabei das Konzept der Vulnerabilität, das die Ursachen, den Verlauf und die Folgen einer Katastrophe letztlich in gesellschaftlichen Machtund Bewältigungsdifferenzen verortet. Natürliche Prozesse liefern bestenfalls den Auslöser des Ereignisses, von einigen werden sie überhaupt nicht mehr als relevant betrachtet.43 In den USA hat kein anderes Ereignis die gesellschaftliche Verursachung von vermeintlichen Naturkatastrophen einer breiten Öffentlichkeit so drastisch vor Augen geführt wie Hurrikan Katrina. Die überproportional hohe Betroffenheit von African Americans vor allem in Bezug auf die Todeszahlen, die Defizite der Infrastruktur, die Gegenden, in denen vorwiegend Schwarze lebten, kaum schützte, und rassistische Diskurse während und nach der Katastrophe ließen keinen Zweifel daran, dass dieses Ereignis nicht allein auf hydro-meteorologische Ur­ sachen zurückzuführen war. Durch diesen neuen Fokus wuchs aber auch das Interesse an historischen Vorläufern von Katrina beziehungsweise an der langen Geschichte des Zusammenhangs von race, Vulnerabilität und natürlichen Extremereignissen. So wurden in der Forschung in den letzten Jahren bekannte Naturkatastrophen wie die Mississippiflut von 1927 oder der Galveston Hurrikan von 1900 mit einem Fokus auf das Schicksal von African Americans neu beleuchtet. Gleichzeitig wurden lange Zeit vernachlässigte Ereignisse wie der Sea Island Hurrikan aus dem Jahr 1893, der vor allem die Gullah-Gemeinschaft betraf, neu aufgearbeitet.44 Auch das Interesse an Vanport speist sich zum Teil aus diesen Zusammenhängen und vor allem aus den Erfahrungen um Hurrikan Katrina, wie in der jüngeren Literatur oft explizit deutlich gemacht wird. So stellen Jason David Rivera und DeMond ­ ­Shondell Miller in einem der ersten Artikel, der diese Zusammenhänge thematisiert, Vanport in einen direkten Zusammenhang mit der Mississippiflut von 1927 42 

Cécile Stephanie Stehrenberger: Systeme und Organisationen unter Stress. Zur Geschichte der sozialwissenschaftlichen Katastrophenforschung (1949–1979). In: Zeithistorische Forschungen 11 (2014), S. 406–424. 43 So z. B. Ilan Kelman in etlichen Publikationen. Vgl. zuletzt Ilan Kelman: Disaster by Choice. How Our Actions Turn Natural Hazards into Catastrophes. London u. a. 2020. Vgl. auch die Diskussion auf Twitter unter #DisastersAreNotNatural und #nonaturaldisasters. Für eine kritische Auseinandersetzung mit dieser Sichtweise vgl. Uwe Lübken: Wie natürlich sind Naturkatastrophen? Anmerkungen aus umwelthistorischer Perspektive. In: Andreas Höfele/Beate Kellner (Hg): Naturkatastrophen. Deutungsmuster vom Altertum bis in die Neuzeit. Paderborn 2023, S. 361–383. 44 Richard M. Mizelle, Jr.: Backwater Blues. The 1927 Mississippi River Flood in the African American Imagination. Minneapolis, MN 2014; Andy Horovitz: The Complete Story of the Galveston Horror: Trauma, History, and the Great Storm of 1900. In: Historical Reflections 41 (2015), S. 95–108; Marian Moser Jones: Race, Class and Gender Disparities in Clara Barton’s Late Nineteenth Century Disaster Relief. In: Environment and History 17 (2011), S. 107–131.

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und Hurrikan Katrina und betonen die Gemeinsamkeiten dieser Ereignisse in Bezug auf Umweltgerechtigkeit (environmental justice) für African Americans.45 Auch Angie Morrill fokussiert auf die Strukturähnlichkeiten beider Ereignisse in der Vertreibung vieler African Americans in Folge eines hydro-meteorologischen Ereignisses: „Vanport became of interest to people in 2005 post Hurricane Katrina, because in May 1948 […] it was destroyed in a flood that historians noted had parallels with the flooding of New Orleans.“46 Ein zweiter Faktor, der die Rezeption Vanports beeinflusst hat, ist der anthropogene Klimawandel und seine Folgen. Auch wenn die Überschwemmung, die Vanport regelrecht weggespült hat, nicht auf klimatische Ursachen zurückgeführt werden kann, so liefert die gegenwärtige Diskussion über die Klimakrise doch eine Folie, vor der die Vanport-Erfahrung mit neuer Bedeutung aufgeladen worden ist. Die Vertreibung vieler Menschen nach einer Naturkatastrophe mag Aufschlüsse über das geben, was vielen Städten in Zeiten steigender Meeresspiegel und häufigerer und intensiverer Extremereignisse bevorsteht – als ein Beispiel für die „Geschichte des Beispiellosen“.47 Der dritte Grund, der für das neuerdings starke Interesse an Vanport angeführt werden kann, hat mit gegenwärtigen urbanen Transformationen zu tun, allen ­voran den Effekten der Gentrifizierung in Portland und anderen nordamerikanischen Städten. Ob im U-Street Korridor und Anacostia in Washington, DC, im Viertel Over-the-Rhine in Cincinnati, Ohio, oder in Albina: Überall hat die Wiederentdeckung und Revitalisierung der Innenstädte diese für eine vorwiegend weiße und zahlungskräftige Klientel (wieder) attraktiv gemacht und über daraus resultierende steigende Immobilienpreise zu einer Verdrängung von Schwarzen Einwohnern geführt. Die Rückbesinnung auf die Geschichte Vanports dient vor diesem Hintergrund auch der historischen Kontextualisierung einer ganzen Sequenz von Vertreibungen von African Americans aus Albina – sei es durch den Bau von Highways, Sport- und Einkaufszentren oder auch Krankenhaus-Komplexen wie dem Emanuel Hospital.48 In jüngster Zeit wird 45  Jason

David Rivera/DeMond Shondell Miller: Continually Neglected. Situating Natural Disasters in the African American Experience. In: JBS 37 (2007), S. 502–522. 46  Morrill: Time (wie Anm. 39), S. 16. Andere Forscher und Forscherinnen waren eher an den Parallelen aus Sicht der sozialwissenschaftlichen Desasterforschung interessiert. Vgl. James P. Kahan u. a.: From Flood Control to Integrated Water Resource Management. Lessons for the Gulf Coast from Flooding in Other Places in the Last Sixty Years. Santa Monica, CA u. a. 2006, S. 37– 40. Zu den hier behandelten Fallbeispielen gehören neben Vanport die Sturmflut an der Nordseeküste von 1953, das Hochwasser am oberen Mississippi 1993 und die Überschwemmungen am Jangtse im Sommer 1998. Vgl. auch Barbara Cosens: Resilience and Law as a Theoretical Backdrop for Natural Resource Management. Flood Management in the Columbia River Basin. In: Environmental Law 42 (2012), S. 241–264, hier: S. 243. 47  Uwe Lübken: Histories of the Unprecedented. Climate Change, Environmental Transformations, and Displacement in the United States. In: OLH 5 (2019), S. 1–25. Henk Pander, ein niederländischer Maler, der seit langer Zeit in Vanport lebt, betitelte eines seiner Bilder, das Flutopfer aus Vanport zeigt, „Climate Refugees“. 48  Burke/Jeffries: Portland (wie Anm. 8), S. 18.

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gerade in Portland eine „Öko-Gentrifizierung“ konstatiert, deren Symbole neu geschaffene Fahrradwege und Bio-Super­märkte darstellen.49 Alleine in der Eliot Neighborhood, einem Teil Albinas, wurden zwischen 1960 und 1970 mehr als 3 000 Menschen durch solche Projekte vertrieben.50 Roslyn Hill, eine Designerin, die lange Zeit in Albina gelebt hat, fasste die persönliche Dimension dieser Entwicklungen im Jahr 2003 eindrücklich und anschaulich zusammen: I was born in Vanport, which no longer exists. I lived in a house on Vancouver Avenue that no longer exists. I moved into a house that was torn down to build Memorial Coliseum. I went to a Catholic day care on the corner of Graham and Williams that no longer exists. The first grade school I attended, where Lloyd Center is now, no longer exists … what if you wanted to take your children or grandchildren around to show where you grew up, and you had nothing to show? … when there is no evidence of your past, what this says to you, to your family and your community, is that you have no value. You’ve been removed, not only physically and mentally, but culturally.51

Während Vanport in Albina in verschiedenen Formen weiterlebte, erinnerte an dem Ort, an dem die Siedlung errichtet worden war und wo sie untergegangen ist, kaum noch etwas an das Schicksal der Menschen, die dort gelebt hatten. Im Juni 1958, also zehn Jahre nach der Flut, schlug das „Department of Public Works“ der Stadt Portland für das Gebiet im Norden der ehemaligen Stadt eine industrielle Nutzung vor. Um der Hochwassergefahr in Zukunft zu begegnen, sollte das Land mit Füllmaterial aus dem Columbia River, das ohnehin beim Freihalten der Fahrrinne anfiel, aufgeschüttet werden. Südlich davon schien den Planern ein geeigneter Platz für eine Mülldeponie zu sein. Die restlichen 425 acre könnten für Naherholungszwecke genutzt werden.52 Ein Jahr nach dieser Bestandsaufnahme und 100 Jahre nach der Aufnahme Oregons in die amerikanische Union kam es mit der Eröffnung der „Oregon Centennial Exposition“ zur ersten offiziellen Nutzung auf dem Gebiet des ehemaligen Vanport. In einer Mischung aus Leistungsschau und Freizeitpark konnten die Besucher die Stände von über 200 Unternehmen, Regierungsbehörden und Organisationen bewundern, dem Wasserballett der „International Water Follies“ zusehen oder im „Adventureland“ in einem Zug durch einen stilisierten bayerischen Biergarten und ähnliche Attraktionen fahren. Nichts deutete darauf hin, dass genau an diesem Ort nur zehn Jahre zuvor knapp

49  Carter

William Ause: Black and Green. How Disinvestment, Displacement and Segregation Created the Conditions for EcoGentrification in Portland’s Albina District, 1940–2015. Univer­ sity Honors Theses. Paper 269. Portland State University. Online zugänglich unter: https://doi. org/10.15760/honors.294 (letzter Zugriff am 23. 9. 2021); Karen Gibson: Bleeding Albina. A History of Community Disinvestment, 1940–2000. In: Transforming Anthropology 15 (2007), S. 3–15; Melody L. Hoffmann: Bike Lanes are White Lanes. Bicycle Advocacy and Urban Planning. Lincoln, NE 2016. 50  Portland Bureau of Planning: History (wie Anm. 13), S. 103, S. 109; Burke/Jeffries: Portland (wie Anm. 8), S. 45 f. 51  Ause: Black (wie Anm. 49), S. 2. 52  Portland Bureau of Planning: History (wie Anm. 13), S. 84.

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20 000 Menschen gelebt hatten.53 Wer genau hinsah, konnte allerdings Reste der Stadt entdecken. Insbesondere die Wassertürme, die 1959 noch standen, dienten denen, die sich erinnerten, als memento mori. So hielt ein „Mark“ genau fünfzig Jahre nach der Ausstellung auf der Webseite „Lost Oregon“ fest: „I was 5 ½ yrs old when we went – I remember being impressed by […] the big wooden tower(s) that had once held the water tanks for Vanport seemed very sinister [sic] (maybe because they were associated with the flood – I may have erroneously thought the flood waters had washed the tanks away!).“54 In der Folgezeit wurde der Ort für ähnlich temporäre oder wenig schadens­ trächtige Zwecke genutzt, allein schon wegen der nur teilweise gelösten Hochwasserproblematik. Dazu gehörten und gehören der „Portland International ­Raceway“, Viehschauen, verschiedene Sportstätten und Naturschutzgebiete. Erst im Zuge der jüngsten Erinnerungsinitiativen hat auch dieser Ort eine gesteigerte Aufmerksamkeit erfahren. Mittlerweile finden sich dort immerhin Schilder, die auf ehemalige Einrichtungen in Vanport verweisen. In organisierten und geführten walking tours oder einer Pedalpalooza kann man heute sogar das physische Layout der Stadt erlaufen beziehungsweise erfahren und sich über deren Geschichte informieren lassen. „[…] the intangible remnants of Vanport live on“, wie das Smithsonian Magazine 2015 in einem Artikel festgehalten hat, als „a reminder of Portland’s lack of diversity both past and present“.55

Abstract Vanport, Oregon, was created in 1942 as a huge public housing project to accommodate thousands of workers who had flocked to the region to work for the wartime industries. Erected between the city limits of Portland, Oregon, and the Columbia River on reclaimed bottom lands, Vanport was entirely inundated by a flood in 1948 and never rebuilt. At that time some 18,000 people, down from the wartime peak of 40,000, still lived in Vanport, many of them African Americans. This chapter is dedicated to the long history of Vanport. It discusses the fate of the many flood victims who had to settle in Portland’s Black neighborhood Albina, highlights cultural encounters with the legacy of displacement, and elaborates on the recent surge in memory activism.

53  Vgl.

dazu https://www.oregonencyclopedia.org/articles/centennial_exposition_of_1959/#.X8m G9bMxlPY (letzter Zugriff am 23. 9. 2021); Chrissy Curran: Oregon Places: The Architectural Legacy of the 1959 Centennial Exposition. In: OHQ 110 (2009), S. 262–279. 54 Eintrag vom 8. 7. 2009, online zugänglich unter: https://lostoregon.org/2009/02/15/oregoncentennial-expo-1959/ (letzter Zugriff am 23. 9. 2021). 55 Natasha Geiling: How Oregon’s Second Largest City Vanished in a Day. In: Smithsonian Magazine, 18.  ­ 2.  2015, online zugänglich unter: https://www.smithsonianmag.com/history/ vanport-oregon-how-countrys-largest-housing-project-vanished-day-180954040/ (letzter Zugriff am 7. 2. 2022).

Magdalena Waligórska Verlorene Städte – Untersuchungen zu den Schtetlech im polnisch-belarusisch-ukrainischen Grenzgebiet der Nachkriegszeit Der Zweite Weltkrieg, der Holocaust und die durch die Machtverschiebungen der Nachkriegszeit ausgelösten (Zwangs-)Migrationen haben in Ostmitteleuropa nicht nur immens viele Menschenleben gekostet und massive materielle Schäden verursacht, sondern auch das städtische Leben in der gesamten Region verändert. Während Städte wie Vilnius oder Pinsk einen fast vollständigen Verlust ihrer Vorkriegsbevölkerung hinnehmen mussten, wurden andere, wie Minsk oder Warschau, physisch nahezu ausgelöscht.1 Dass ganze Städte von der Landkarte gefegt wurden, war nicht nur ein Nebenprodukt der Kampfhandlungen, sondern auch eine bewusst angewandte Strategie der deutschen Streitkräfte, um mit (psychologischem) Terror den Feind zu demoralisieren. Himmlers Plan, Warschau nach dem Aufstand von 1944 dem Erdboden gleichzumachen, sollte beispielsweise Polen als Nation „enthaupten“ und hatte entsprechend langfristige geopolitische Folgen für die gesamte Region.2 Während sich die physische Zerstörung der städtischen Bausubstanz während des Zweiten Weltkriegs als umkehrbar erwies und alle großen städtischen Zentren Ostmitteleuropas mühsam wieder aufgebaut oder sogar teilweise in den Originalzustand zurückversetzt wurden (wie etwa Warschau), war der Verlust der ursprünglichen ethnischen Struktur, der sozialen Netze, des kulturellen Erbes und sogar der Erinnerung an die Vergangenheit von Dauer und hat in diesem Teil Europas bis heute ein bleibendes und kulturell verheerendes Trauma hinterlassen.3 1  Adolf Ciborowski: Warsaw. A City Destroyed and Rebuilt. Warschau 1969; Lawrence J. Vale/ Thomas J. Campanella: The Resilient City. How Modern Cities Recover from Disaster. New York 2005; Thomas Bohn: Minsk – Musterstadt des Sozialismus. Stadtplanung und Urbani­ sierung in der Sowjetunion nach 1945. Köln 2008; Arnold Bartetzky (Hg.): Geschichte bauen. ­Architektonische Rekonstruktion und Nationenbildung vom 19. Jahrhundert bis heute. Wien/ Köln/Weimar 2017. Der Beitrag wurde von Henry Heitmann-Gordon, dem ein herzlicher Dank gebührt, aus dem Englischen ins Deutsche übersetzt. 2  Włodzimierz Borodziej: Geschichte Polens im 20. Jahrhundert. München 2010, S. 251. 3 Timothy Snyder: Bloodlands. Europe between Hitler and Stalin. New York 2010; Michael Meng: Shattered Spaces. Encountering Jewish Ruins in Postwar Germany and Poland. Cambridge, MA 2011; Elżbieta Janicka: Festung Warschau. Warschau 2011; Marcin Napiórkowski: Powstanie umarłych. Historia pamięci 1944–2014. Warschau 2016.

https://doi.org/10.1515/9783111071848-014

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Der größte Verlust war der der Schtetlech: kleine bis mittelgroße Städte mit einer beträchtlichen jüdischen Bevölkerung (oft gar die Mehrheit), die die wichtigste Ausformung jüdischen städtischen Lebens in der Region darstellten. Auf einem riesigen Gebiet, grob der ehemaligen polnisch-litauischen Republik, bildeten diese Städtchen ein einzigartiges soziokulturelles Gemeinschaftsmuster aus. Mitte des 18. Jahrhunderts lebte in ihnen mehr als ein Drittel aller Juden weltweit. Die Schtetlech beherbergten damit die größte jüdische Gemeinschaft der Welt, denn drei Viertel der osteuropäischen Juden lebten in kleinen bis mittelgroßen Städten.4 Obwohl sie alle nach dem Holocaust wieder besiedelt wurden, erlitten sie immense Verluste an Bevölkerung und kulturellem Erbe, aber auch eine Art so­ziale Amnesie, weshalb sie den klassischen lost cities durchaus ähneln. Es ist die verlorene jüdische Stadt – als baulich gestalteter Lebensraum, als soziale Geografie, als „paradigmatischer Ort der Gemeinschaftlichkeit“ und als Metonymie für traditionelle Werte –, die die größte Lücke im ostmitteleuropäischen Städtegefüge darstellt.5 Ihre zentrale Bedeutung für das jüdische Leben und seine Traditionen macht sie auch zu einem Archetyp jüdischer Gemeinschaften und zur „transzendenten kulturellen Essenz des jüdischen Lebens“.6 Es ist daher nicht verwunderlich, dass den verlorenen jüdischen Städten in der Forschung nach 1945 große Aufmerksamkeit zuteilwurde: als Nostalgiefigur,7 als Konzept oder literarischer Topos8 oder als tatsächlicher Ort jüdischen Lebens und Sterbens.9 In jüngster Zeit ist ferner eine Flut von Veröffentlichungen über die unmittelbare Nachkriegszeit erschienen, die einige schmerzhafte Aspekte ­anschneidet, wie etwa die massenhafte Enteignung jüdischen Eigentums10 und  4 Antony

Polonsky: Introduction: The Shtetl. Myth and Reality. In: Polin. Studies in Polish ­Jewry 17 (2004), S. 3–24, hier: S. 14 (= Antony Polonsky (Hg.): The Shtetl: Myth and Reality).  5  Jeffrey Shandler: Shtetl. A Vernacular Intellectual History. New Brunswick 2014, S. 44.  6  Ebd., S. 90.  7 Raphael Abramovitsh: The Vanished World. New York 1947; Mark Zborowski/Elizabeth Herzog: Life is with People. New York 1952.  8  Lucy Dawidowicz: The Golden Tradition. Jewish Life and Thought in Eastern Europe. Syracuse, NY 1967; Diane Roskies/David Roskies: The Shtetl Book. An Introduction to East European Jewish Life. New York 1975; Ruth Wisse: A Shtetl and Other Yiddish Novellas. Detroit 1986; V. A. Dymshits ⁀/A.  L. Lʹvov/A. Sokolova: Shtetl, XXI vek: polevye issledovaniia ⁀. SanktPeterburg 2008; Shandler: Shtetl (wie Anm. 5).  9  Gershon Hundert: The Jews in a Polish Private Town. The Case of Opatów in the Eighteenth Century. Baltimore 1992; Jan T. Gross: Neighbors. The Destruction of the Jewish Community in Jedwabne, Poland. Princeton 2001; Eva Hoffman: Shtetl: The History of a Small Town and an Extin­guished World. London 2009; Rebecca Kobrin: Jewish Bialystok and its Diaspora. Bloomington 2010; Mirosław Tryczyk: Miasta Śmierci. Sąsiedzkie pogromy Żydów. Warschau 2015; Barbara Engelking u. a.: Dalej jest noc. Losy Żydów w wybranych powiatach okupowanej Polski. Warschau 2018; Omer Bartov: Erased: Vanishing Traces of Jewish Galicia in Present-Day Ukraine. Princeton 2007; ders.: Anatomy of a Genocide. The Life and Death of a Town Called Buczacz. New York 2019. 10  Jan Grabowski/Dariusz Libionka (Hg.): Klucze i kasa. O mieniu żydowskim w Polsce pod okupacją niemiecką i we wczesnych latach powojennych 1939–1950. Warschau 2014; Dariusz Stola: The Polish Debate on the Holocaust and the Restitution of Property. In: Martin Dean/ Constantin Goschler/Philipp Ther (Hg.): Robbery and Restitution. The Conflict over Jewish

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antisemitische Gewalt.11 Während sich ein Großteil dieser Forschungen auf einzelne Städte oder, seltener, auf Kleinstädte bezieht, sind länderübergreifende Vergleichsstudien, die einen breiteren Überblick bieten, weit weniger zahlreich.12 Eine systematische und länderübergreifende Untersuchung darüber, wie diese städtischen Zentren übernommen, neu besiedelt und mit neuen Bedeutungen gefüllt wurden, steht noch aus. Die polnische Soziologin Anna Wylegała, die zu den Auswirkungen der durch den Holocaust verursachten Entvölkerung auf die Sozialstruktur von Kleinstädten in Galizien gearbeitet hat, hat die Kategorie der „leeren Gemeinschaft“ (void community) vorgeschlagen, um die soziale Dysfunktionalität von Gemeinden zu untersuchen, die ihre Anderen „verloren“ haben. Void communities zeichnen sich Wylegała zufolge durch die physische Abwesenheit von Anderen aus, welche zu einem Wandel der lokalen Sozialstruktur, einem Verfall moralischer Werte und wirtschaftlicher Dysfunktionalität führt. Die Kategorie der void communities veranschaulicht zwar gut das Ausmaß, in dem die Gewalt des Völkermords die Schtetlech entvölkert hat, erscheint aber gleichzeitig zu steril und zu binär. Zunächst einmal waren die void communities nicht so leer, wie sie auf den ersten Blick erscheinen. In der unmittelbaren Nachkriegszeit, und im Falle der Sowjetunion bis weit in die 1980er-Jahre hinein, gab es auch in der Provinz verstreut Property in Europe. New York 2007, S. 240–255; Marta Duch-Dyngosz: Materialne ślady trudnej przeszłości w dawnych sztetlach. In: Michał Niezabitowski (Hg.): Miejsce po, miejsce bez. Krakau 2015, S. 47–58; Yechiel Weizman: Unsettled Possession. The Question of Ownership of ­Jewish Sites in Poland after the Holocaust from a Local Perspective. In: Jacob Ari Labendz (Hg.): Jewish Property after 1945. Cultures and Economies of Loss, Recovery and Transfer. London 2018, S. 34–53; Lukasz Krzyzanowski: Ghost Citizens. Jewish Return to a Postwar City. Cambridge 2020. 11  David Engel: Patterns of Anti-Jewish Violence in Poland, 1944–1946. In: Yad Vashem Studies 26 (1998), S. 43–85; Jan Tomasz Gross: Fear: Anti-Semitism in Poland after Auschwitz. An Essay in Historical Interpretation. Princeton 2006; Andrzej Żbikowski: Morderstwa popełniane na Żydach w pierwszych latach po wojnie. In: Feliks Tych/Monika Adamczyk-Grabowska (Hg.): Następstwa Zagłady Żydów: Polska 1944–2010. Lublin 2012; Dariusz Libionka: Losy Chaima Hirszmana jako przyczynek do refleksji nad pamięcią o Zagładzie i powojennymi stosunkami polsko-żydowskimi. Polska 1944/45–1989. In: Studia i Materiały 7 (2006), S. 5–24; Natalia Ale­ ksiun: Jewish Responses to Antisemitism in Poland. In: Joshua Zimmerman (Hg.): Contested Memories: Poles and Jews during the Holocaust and its Aftermath. New Brunswick 2003, S. 247– 261; Joanna Tokarska-Bakir: Cries of the Mob in the Pogroms in Rzeszów (June 1945), Cracow (August 1945), and Kielce (July 1946) as a Source for the State of Mind of the Participants. In: EEPS 25 (2011) 3, S. 553–574; Anna Cichopek-Gajraj: Beyond Violence. Jewish Survivors in ­Poland and Slovakia, 1944–48. Cambridge 2014; Joanna Tokarska-Bakir: Pod klątwą. Społeczny portret Pogromu Kieleckiego. Warschau 2018. 12  Anna Wylegała: The Void Communities: Towards a New Approach to the Early Post-war in Poland and Ukraine, East European Politics and Societies and Cultures, zuerst online publiziert am 5. 5. 2020 (Zugriff nur mit Account; online zugänglich unter: https://journals.sagepub.com/ doi/10.1177/0888325420914972; letzter Zugriff am 17. 1. 2022); Joanna Tokarska-Bakir: Postwar Violence against Jews in Central and Eastern Europe. In: Kata Bohus u. a. (Hg.): Our Courage. Jews in Europe 1945–48. Oldenbourg 2021, S. 64–81; Natalia Aleksiun: The Galician Paradigm? Post-war Voices of German-Speaking Polish-Jewish Survivors. In: Leo Baeck Institute Year Book (2019), S. 1–20.

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noch kleine jüdische Gemeinden. Darüber hinaus bewahrten lokale Gemeinschaften das Wissen darüber, wer in der Stadt jüdisch (beziehungsweise halbjüdisch/ konvertiert) war, und unterhielten Kontakte zu Überlebenden, die nach dem Krieg ausgewandert waren (oft in Form von finanzieller Unterstützung für Helfer, die Juden während des Holocausts gerettet hatten). Die Juden waren also in der Nachkriegsgeschichte dieser Orte immer noch präsent, und sie waren immer noch Akteure und nicht nur Subjekte der Geschichte. Zweitens suggeriert die Figur der Leere ein anhaltendes Vakuum; die verlassenen jüdischen Häuser, Geschäfte und Grundstücke wurden aber in der Regel sehr bald nach ihrer Räumung übernommen und wieder bewohnt. Darüber hinaus war die Bevölkerung, die die städtische „Leere“ wieder füllte, häufig in den Prozess verwickelt, der die Leere erst erzeugt hatte, indem sie den Völkermord bezeugte oder sogar unterstützte (zum Beispiel durch Kollaboration mit den Nazis, Denunzia­tion von untergetauchten Juden oder die Erbringung anderer Dienstleistungen wie dem Transport von Juden zu den Hinrichtungsstätten oder das Ausheben der Massengräber). Die Leere wurde also von den lokalen Gemeinschaften, die später an die Stelle der vernichteten Juden in den entvölkerten Städten traten, mitverursacht und ihnen nicht ausschließlich von einer externen Macht aufgezwungen – ein Zusammenhang, der verschleiert wird, wenn wir diese Nachkriegsstädte nur im Lichte der „Abwesenheit“ von Juden betrachten. In der Tat hat sich die bisherige Forschung noch nicht in ausreichendem Maße mit der Frage beschäftigt, wie diese „leeren Gemeinden“ auf ihre strukturelle Verwicklung in den Untergang des Schtetls reagierten. Um die Komplexität der Lage zu verstehen, in der sich die nicht-jüdische Bevölkerung der Schtetlech befand, möchte ich Michael Rothbergs Kategorie des „verwickelten Subjekts“ (implicated subject) anwenden. Rothberg geht mit diesem Konzept über die Dichotomie von „Opfern“ und „Tätern“ hinaus und stellt die Figur des passiven Zuschauers infrage. Er erfasst damit Personen, die entweder genealogisch oder strukturell in eine Geschichte der Gewalt und Ungerechtigkeit verstrickt sind. Verwickelte Subjekte „nehmen Positionen ein, die mit Macht und Privi­legien verbunden sind, ohne selbst direkt Schaden anzurichten; sie tragen zu Herrschaftsregimen bei, leben in ihnen, erben sie oder profitieren von ihnen, sind aber nicht deren Urheber oder Machthaber. Ein verwickeltes Subjekt ist weder ­Opfer noch Täter, sondern vielmehr Teilnehmer an Geschichten und sozialen Formationen, die die Positionen von Opfer und Täter hervorbringen.“13 Rothbergs Konzept ist für diese Analyse nicht nur deshalb interessant, weil er die Position des/der „Nachzügler/s in der Geschichte der Täterschaft“ theoretisch unterfüttert und damit eine Möglichkeit bietet, über die generationenübergreifenden Nachwirkungen von Traumata nachzudenken, sondern auch, weil er sich auf die langfristigen Auswirkungen von Gewalt und Ungerechtigkeit konzentriert, zu denen anhaltende materielle Vorteile und Machtpositionen für die durch vergangene Gewalt privilegierten Gemeinschaften zählen. Rothberg zufolge kann „Verwicklung“ nur 13  Michael

2019, S. 1.

Rothberg: The Implicated Subject. Beyond Victims and Perpetrators. Stanford, CA

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dann auftreten, wenn historisches Unrecht weiterhin Auswirkungen auf die Gegenwart hat: „Verwicklung entsteht durch das fortwährende, ungleichmäßige und destabilisierende Eindringen unumkehrbarer Vergangenheit in eine schuldige Gegenwart.“14 Im Zentrum dieses Beitrags steht entsprechend die Art und Weise, wie Gedenkprojekte und Akte der Auslöschung gleichermaßen als Antwort auf das „Eindringen der Vergangenheit in die Gegenwart“ verstanden werden können und wie sie die aus der Gewalt resultierende privilegierte Position reproduzieren oder infrage stellen. Ich werde diesen Mechanismus des „Eindringens“ der Vergangenheit der Schtetlech in die Gegenwart anhand von sechs Schtetlech im polnisch-belarusisch-ukrainischen Grenzgebiet diskutieren: Izbica und Biłgoraj in Ostpolen; Ivie und Mir im westlichen Belarus; Berezne und Brody in der Westukraine.15 In diesem Beitrag werde ich zwei entscheidende Phasen und einen Aspekt der Nachkriegsgeschichte der Schtetlech in den Vordergrund rücken, die ein besonderes Licht auf diese Dynamik der „Verwicklung“ werfen: die Phase der frühen Rückkehr, den Topos der jüdischen Reichtümer und die Phase der späten Rückkehr.

Die Phase der frühen Rückkehr Der Moment, in dem die ersten Holocaust-Überlebenden nach der Befreiung in ihre Schtetlech zurückkehrten, war ein Wendepunkt sowohl in ihren persönlichen Lebensgeschichten als auch in der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte dieser Städte. Die Zeit zwischen dem Sommer 1944 und 1948 war für ganze Gemeinden entscheidend, denn in diesem Zeitraum verfestigte sich der post-genozidale Status quo. Die materielle Enteignung der Juden, die seit Kriegsausbruch stattgefunden hatte, wurde nun sanktioniert. Wo überlebende Erben der Eigentümer keinen ­Anspruch auf jüdischen Grundbesitz erhoben, verteilten die städtischen Behörden diesen neu.16 Zu dieser Zeit wurden ferner jüdische Kinder, die in nichtjüdischen Familien und Klöstern untergebracht worden waren, von ihren überlebenden Verwandten oder jüdischen Wohlfahrtsverbänden zurückgefordert.17 Und 14 

Ebd., S. 9. Statistiken aus dem Jahr 1939 hatte Izbica 4 500 Einwohner, mit einem Anteil von 92 % Juden; in Biłgoraj lebten 8 000 Einwohner, mit einem Anteil von 60 % Juden; Ivie hatte 5 000 Einwohner, mit einem Anteil von 76 % Juden; in Mir lebten 6 000 Einwohner, mit einem Anteil von 60 % Juden; Berezne umfasste 6 000 Einwohner, im Jahr 1939 mit einem Anteil von 93 % Juden; in Brody gab es 18 000 Einwohner, im Jahr 1939 mit einem Anteil von 55 % Juden. Shmuel ­Spector (Hg.): The Encyclopedia of Jewish Life before and during the Holocaust. Jerusalem 2001. 16  Weizman: Unsettled Possession (wie Anm. 10), S. 34–53; Krzyzanowski: Ghost Citizens (wie Anm. 10), S. 228; Alina Skibińska: Problemy rewindykacji żydowskich nieruchomości w latach 1944–1950: Zagadnienia ogólne i szczegółowe (na przykładzie Szczebrzeszyna). In: Grabowski/ Libionka (Hg.): Klucze i kasa (wie Anm. 10), S. 493–573. 17  Vgl. Joanna Beata Michlic: What Does a Child Remember? Recollections of the War and the Early Postwar Period among Child Survivors from Poland. In: Joanna Beata Michlic (Hg.): ­Jewish Families in Europe 1939–Present. History, Representation and Memory. Waltham 2017, S. 157–160; Jennifer Marlow: Life in Hiding and Beyond. In: Michlic (Hg.): Jewish Families (diese Anm.), S. 110–128, hier: S. 123 f. 15  Laut

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schließlich war dies auch die Zeit, in der Einheimische, die Gräueltaten an Juden begangen und sich an Tötungen oder Plünderungen beteiligt hatten, vor Gericht gestellt werden konnten.18 Die Überlebenden, die nach der Befreiung in ihre Schtetlech zurückkehrten, entwickelten eine ganze Reihe von Strategien, die es ihnen zunächst einmal ermöglichten, in Sicherheit zu bleiben, ihr Hab und Gut wiederzuerlangen, ihr Anrecht auf den Besitz von ermordeten Verwandten geltend zu machen und ihr künftiges Leben abzusichern. Für eine große Zahl von Überlebenden kam eine Rückkehr in die Schtetlech jedoch gar nicht infrage. Von achtzig Überlebenden aus den sechs Schtetlech, deren Nachkriegsgeschichte wir dank der Interviews der Shoah Foundation nachvollziehen konnten, kehrten achtunddreißig, also fast 50 %, nie an die Orte zurück, in denen sie vor dem Krieg gewohnt hatten.19 Die Gründe dafür waren unter anderem die Angst vor Gewalt von Seiten der nichtjüdischen Bevölkerung, das Wissen, dass die Rückkehrer keine überlebenden Familienangehörigen vorfinden würden, und Migrationsrouten, die eine solche Rückkehr unmöglich machten.20 Ella Bromberg aus Biłgoraj überlebte den Holocaust in der UdSSR und kehrte 1946 aus Usbekistan nach Polen zurück, machte sich jedoch direkt auf den Weg nach Szczecin und dann nach Deutschland. Eine Rückkehr kam für sie nie infrage: I never had the desire to go back to my hometown, because when I left, there was nothing left there, so I had no desire of going back there, never. Neither have my broth­ ers… we would not stay in Poland, there was no question about it.21

Ähnliche Entscheidungen trafen viele Juden, deren Schtetlech nun in der Sowjetunion lagen. Dov Festes aus Brody, der im russischen Hinterland überlebte, erzählte: [A] friend wrote me a letter that all of my family was deported to Bełżec and murdered in 1942 and that nobody was left from my family. I had a large family… so when I heard that no one was alive I decided not to go back to Brody. […] I had the opportunity to go there. […] I don’t want to, I don’t care. I hate the Poles, I hate the Ukrainians, because they took away what is dearest to me.22 18  Natalia Aleksiun: Holocaust Testimonies in Eastern Europe in the Immediate Postwar Period. In: Bohus u. a. (Hg.): Courage (wie Anm. 12), S. 28–43, hier: S. 37. 19  Der Standardfragebogen der Shoah Foundation enthielt eine Frage zur Rückkehr in den alten Heimatort. Drei Überlebende machten hier keine Angaben. 20  Schon Mitte 1945 empfahl das Zentralkomitee des polnischen Judentums, Juden, die aus der Sowjetunion in ihre Heimat zurückkehren wollten, direkt in die sogenannten wiedergewonnenen Gebiete zu schicken, aus „Erwägungen ihre persönliche Sicherheit betreffend“ und weil es in den von den Deutschen geräumten Gebieten „keine Schwierigkeiten […] gab, den Ankommenden wenigstens einen Platz zum Leben zu garantieren“. Zitiert nach Yisrael Gutman/Shmuel Krakowski: Unequal Victims. Poles and Jews during World War II. New York 1986, S. 365. 21  Ella Bromberg (geborene Elka Ziskroit), Oral History Interview aus der Sammlung des Visual History Archive der USC Shoah Foundation, 14. 1. 1997. 22  Dov Festes, Oral History Interview aus der Sammlung des Visual History Archive der USC Shoah Foundation, 27. 7. 1997 (Übersetzung aus dem Hebräischen von Yechiel Weizman).

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Für diejenigen, die sich zur Rückkehr entschlossen, war es zum eigenen Schutz und zur Vermeidung von Gewaltausbrüchen, die sich gegen sie richteten, entscheidend, strategisch vorzugehen. Nachrichten über solche antijüdischen Gewalttaten in der Nachkriegszeit zirkulierten sehr intensiv unter den Überlebenden, die teilweise schon, als sie noch in der Sowjetunion waren, davon wussten. Eine mögliche Strategie bestand darin, nicht in ihr Schtetl, sondern in die nächstgelegene größere Stadt zurückzukehren: So konnten sie sich über das Schicksal ihrer Familie und ihres Besitzes informieren und blieben in der größeren Stadt trotzdem anonym. Sylvia Prypstein aus Biłgoraj tat genau das und kam nur einmal für ein paar Stunden in ihr Schtetl zurück: we took a look in the streets they was so empty, everything was so empty. And the house where we lived was levelled to the ground. You couldn’t know even where you lived, you couldn’t recognize. And later we went to the main street. My uncle lived there, the house was standing, it was occupied by Poles. I didn’t go in, I was scared. If I would go in, they could shoot me too. Coming back for my property? That’s theirs. They said, the streets are yours and the houses are ours. And I was gonna go in and ask for it and risk my life? I didn’t go in.23

Diejenigen, die sich in ihre Schtetlech zurückwagten, stützten sich in hohem Maße auf jüdische Informationsnetze und nutzten sichere Unterschlüpfe. Jüdische Komitees bildeten eine Basisinfrastruktur für Nachforschungen und die Suche nach überlebenden Angehörigen.24 Es gab jedoch auch andere, informelle Kanäle. Rabbiner spielten in diesem Informationssystem eine entscheidende Rolle: Weil sie die Möglichkeit hatten, Rabbiner in anderen Orten zu kontaktieren, baten die Überlebenden sie oft um Hilfe, wenn es darum ging, Verwandte in einer anderen Stadt ausfindig zu machen.25 Juden in den Reihen der Roten Armee, im Antifaschistischen Komitee und anderen kommunistischen Behörden spielten ebenfalls eine Schlüsselrolle. Sichere Unterkünfte, in denen sich Gruppen von Überlebenden gemeinsam niederließen, waren ein weit verbreitetes Phänomen sowohl in den großen Städten als auch auf dem Land. In Biłgoraj ließen sich Überlebende, die in den Jahren 1948 und 1949 in die Stadt zurückkehrten, um ihr Eigentum zurückzufordern, in zwei benachbarten Häusern nieder.26 Ein Netz solcher Unterkünfte erleichterte auch die Mobilität: Rachel Prozer, geboren in Jozefów, ließ sich in der benachbarten größeren Stadt Tomaszów nieder und berichtete:

23  Sylvia

Prypstein (geborene Hechtman), Oral History Interview aus der Sammlung des Visual History Archive der USC Shoah Foundation, 23. 1. 1997. 24 Vgl. Natalia Aleksiun: Dokąd dalej? Ruch syjonistyczny w Polsce (1944–1950). Warschau 2002; Jaff Schatz: Komuniści w ‘sektorze żydowskim’: tożsamość, etos i struktura instytucjo­ nalna. In: Magdalena Ruta (Hg.): Nusech Pojln. Studia z dziejów kultury jidysz w powojennej Polsce, Kraków. Warschau 2008, S. 27–49. 25  Sara Avinun: Rising from the Abyss: An Adult’s Struggle with her Trauma as a Child in the Holocaust. Hod Hosharon 2006, [Kindle Edition], Loc 3194. 26  Protokóły wprowadzenia w posiadanie z mienia opuszczonego 1948–1949, Zespół nr 13: Akta Miasta Biłgoraja, Archiwum Państwowe Oddział w Kraśniku, Sig. 181.

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Magdalena Waligórska Jews, when they passed by Tomaszów, they would sleep by us. Because they were afraid still of the Polaks. I remember going down from bed and I was afraid to step on the people, because we made them beds on the floor and we fed them. I cooked and we fed them. And my husband would look into the pantry to look if I left something for myself. And I was embarrassed that we got black bread. No white bread, or other bread.27

Obgleich ein sicheres Dach über dem Kopf und die Wiedererlangung versteckter oder anderweitig gesicherter Besitztümer für den Aufbau einer neuen Existenz nach dem Krieg unerlässlich waren, konnte der gewagte Versuch, das eigene Haus oder Grundstück zurückzufordern, auch eine unmittelbare Gefahr für die Rückkehrer darstellen. Viele Überlebende, vor allem in Polen, entschieden sich, es gar nicht erst zu versuchen, um sich nicht Gewalttaten auszusetzen. Während sich einige Überlebende also aus Angst vor Gewalt gegen sie bewusst gegen die Rückforderung ihres Eigentums entschieden, gab es auch andere Gründe, die viele von ihnen davon abhielten, jemals in ihre eigenen Häuser zurückzukehren. Zum Teil war jüdisches Eigentum verstaatlicht worden; der Rückgabeprozess auf dem Rechtsweg wurde durch hohe Hürden erschwert; und schließlich gab es auch psychologische Faktoren zu berücksichtigen. Das Eigentum war mit traumatischen Erinnerungen belastet und die Rückkehr in das eigene Haus – leer, geplündert und verwüstet – war eine so einschneidende Erfahrung, dass einige Überlebende die Aussicht auf einen Umzug in ihr altes Zuhause auf­gaben. Shmuel Sokhah aus Berezne war einer von ihnen: The first night I arrived back at my house… everything was empty. Nothing remained, not even one chair left. Only one cupboard remained, where my dad used to keep pork and vodka… I walked around in the house, there were no beds, so I lay down on the floor. Alone… and I kept thinking about my sister, how as kids we used to imagine the bed was a horse, or to put a blanket over our heads and imagine we’re in a cinema. And none of it existed. And I was afraid at night; I wandered around calling for mom and dad. I couldn’t sleep at home because I was full of memories. So I went to another family, the Bermans… [and] I stayed with them.28

Eine weitere entscheidende Strategie, antisemitischer Gewalt zu entkommen, war, in militärischer Uniform oder in Begleitung einer uniformierten Person sein Eigentum zurückzufordern. Auch paramilitärische Kleidung, wie sie von Partisanen getragen wurde, konnte hilfreich sein. Rubin Segałowicz aus Ivie, der die Kriegsjahre als Kämpfer in einer in der Nähe seines Heimatortes stationierten russischen Partisaneneinheit verbrachte und bewaffnet in die Stadt kam, hatte keinerlei Schwierigkeiten, sein Haus zurückzubekommen, obwohl es bereits von Nichtjuden bewohnt war. Sein Sohn Leon erinnert sich: „Das Haus war unversehrt, aber eine nichtjüdische Familie wohnte darin. Rubin gab ihnen einige Minuten Zeit, um ihre Sachen zu packen und das Haus zu verlassen – andernfalls …. Bald waren sie weg.“29 27  Rachel Luchfeld (geborene Prozer), Oral History Interview aus der Sammlung des Visual History Archive der USC Shoah Foundation, 20. 3. 2000. 28  Shmuel Sokhah, Oral History Interview aus der Sammlung des Visual History Archive der USC Shoah Foundation, 12. 1. 1997 (Übersetzung aus dem Hebräischen von Yechiel Weizman). 29  Leon Segal: Tears of a Hero. The Amazing Story of Rubin and Ida Segal. [o. O.] 2005, S. 112.

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Die gleiche Strategie wurde angewandt, um jüdische Kinder zurückzufordern, die in christlichen Familien untergebracht waren, die sie oft nicht an ihre über­ lebenden Verwandten (oder jüdische Organisationen) herausgeben wollten. Einer der spektakulärsten Fälle dieser Art ist der von Sara Warszawiak aus Biłgoraj, die von zwei jüdischen Männern im Auftrag ihres Großvaters aus ihrer christlichen Adoptivfamilie in Krakau entführt wurde; einer der Entführer trug bei der Aktion eine Uniform der Roten Armee.30 Die zurückkehrenden Überlebenden zur Verfügung stehenden Strategien hingen von ihrem Status, ihrem Geschlecht und ihren Ressourcen, aber auch von einigen strukturellen Bedingungen ab. In sowjetischem Gebiet, wo die Sowjetmacht etablierter und gefestigter war als in Polen und wo die jüdischen Überlebenden häufiger Erfahrungen als Partisanen gemacht hatten, war der Schutz, den ihnen die neuen Machtstrukturen gewährten, in der Regel größer. Es war dort zugleich auch wahrscheinlicher, dass Zivilisten, die mit den Behörden der Nationalsozialisten kollaboriert oder selbst Gräueltaten an Juden begangen hatten, zur Rechenschaft gezogen wurden. So gelang es Chaim Itzkovitz aus Mir, einen Nachbarn vor Gericht zu bringen, der den Deutschen bei der Suche nach versteckten Juden geholfen und die Stiefel seines Vaters gestohlen hatte, nachdem dieser getötet worden war. Nachdem er die Stiefel nach dem Krieg an ihm erkannt und von anderen Nichtjuden in der Stadt von dessen Mitschuld erfahren hatte, erstattete er Anzeige gegen ihn und sagte dann in seinem Prozess in Minsk aus.31 Versuche, Täter zur Rechenschaft zu ziehen, hatten nur mit der Unterstützung des sowjetischen Machtapparats oder des Militärs Aussicht auf Erfolg. Thomas Blatt aus dem polnischen Izbica, der nach der Rückkehr in sein Schtetl von einer polnischen Familie erfuhr, die für die Ermordung seiner Familie verantwortlich war, zeigte nicht dieses Verbrechen an, sondern berichtete dem russischen Militär, dass diese Polen sowjetische Kriegsgefangene getötet hätten – da er wusste, dass sie nicht reagieren würden, wenn er ihnen von der Ermordung von Juden erzählte. Blatts Bericht zufolge steckten russische Soldaten das Haus der polnischen Täter als Vergeltungsmaßnahme in Brand.32 Insgesamt waren Situationen, in denen Überlebende sich für das Leid, das ihnen von ihren Nachbarn zugefügt worden war, „rächen“ konnten, jedoch äußerst selten. In den meisten Fällen waren die Überlebenden selbst mit Gewalt konfrontiert und behielten das Wissen um die Verwicklung ihrer Nachbarn in die eigenen Leidens­ erfahrungen für sich. Rachel Prozer, die sich bei ihrer Rückkehr nach Hause einem Nachbarn gegenübersah, der ihr Haus geplündert hatte, fühlte sich völlig hilflos: I saw a neighbor, and he was supposed to be from the better class…they moved into a Jewish home across the street …. And he came in and took my father’s coat, it was a

30 

Sara Avinun (geborene Warszawiak), Telefoninterview mit der Autorin, 27. 1. 2021. Itzkovitz, Oral History Interview aus der Sammlung des Visual History Archive der USC Shoah Foundation, 6. 4. 1997. 32  Thomas Blatt, Oral History Interview aus der Sammlung des Visual History Archive der USC Shoah Foundation, 4. 4. 1995. 31  Chaim

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Magdalena Waligórska brand new one, made for the holidays, my brother was a tailor, he made it for him, and when he walked out, he looked at himself, if it’s worth taking. Just like he paid for it! Who knows what else he took and then home he crossed. …. And we came back and I went into his house and he started talking the way they cleaned out our house, and he asked me where I was hiding. Naturally, I didn’t told him, … And I know they cleaned up because when I came back nothing was left, only the blood from my mother and father that I had to wash away. So naturally I didn’t tell him I saw him take the coat and who knows what else.33

Diese frühe Rückkehrphase ist entscheidend für die Beziehungen zwischen Juden und Nichtjuden in der Nachkriegszeit. Die Rückkehr in das Schtetl war ein großer Schock für die Überlebenden, die sich zum ersten Mal des Ausmaßes der Zerstörung bewusst wurden und feststellten, wie verletzlich sie noch waren. Auch für die nichtjüdische Bevölkerung, die sich massenhaft an den Plünderungen bei ihren jüdischen Nachbarn und der Beschlagnahmung ihres Besitzes beteiligt hatte, erzeugte sie ein Gefühl des Unbehagens, da sie den Verlust der so erlangten Güter befürchten musste, die sie lange Zeit als ihr Eigentum betrachtet hatte. Auch wenn diese erste Phase der jüdisch/nichtjüdischen Begegnungen in den Schtetlech zwischen 1946 (Pogrom von Kielce) und 1948 (Gründung des Staates Israel) endete, blieb die Vergangenheit noch lange in der Gegenwart dieser Kleinstädte präsent.

Der Topos von den jüdischen Schätzen Eine Form solch eindringlicher Präsenz war die anhaltende Zirkulation jüdischen Besitzes in der lokalen Wirtschaft der Nachkriegszeit. Einen einzigartigen jüdischen Blick auf dieses Phänomen liefert das Tagebuch von Marceli Najder, der in einem Versteck in Kołomyja überlebte und unter Verwendung einer arischen Identität 1945 nach Izbica (Polen) kam, um eine Stelle als Apotheker anzutreten. In dieser Zeit wurde er Zeuge, wie polnische Einheimische in die Apotheke kamen, um verschiedene wertvolle Gegenstände aus ursprünglich jüdischem Besitz zu Geld zu machen: Da gibt es also eine gewisse Frau Jagoda aus Ostrzyca, die jeden zweiten Tag kommt und etwas anderes zum Verkauf mitbringt: eine Uhr, einen Ring, einen kleinen Diamanten, einen größeren Diamanten, goldene Rubelmünzen, alles angeblich Familienerbstücke. Nur warum stinken all diese Dinge nach Knoblauch?34

Während entwendete Wertgegenstände und persönliche Gegenstände von Juden bereits während des Kriegs auf dem lokalen Markt zirkuliert hatten, eröffnete die Nachkriegszeit Einheimischen nun die Möglichkeit, aktiv nach potenziell versteckten Wertgegenständen, die sich in jüdischem Besitz befunden hatten, zu suchen. Besessen vom „jüdischen Gold“, durchsuchten viele Einheimische Häuser, die von Juden bewohnt worden waren, und Synagogen; manche öffneten gar Mas-

33  34 

Rachel Luchfeld, Oral History Interview (wie Anm. 27). Marceli Najder: Rewanż. Warschau 2013, S. 228.

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sengräber.35 Tamara Baradach, Tochter eines Holocaust-Überlebenden, die in der Nachkriegszeit in Ivie, Belarus, aufwuchs, erinnert sich daran, wie die verbliebenen Juden von Ivie am Tag vor dem Jahrestag der Massenerschießung, den sie Jahr für Jahr mit einer kleinen Gedenkfeier am Massengrab begingen, mit Spaten zum Grab gehen mussten, um den Boden zu ebnen und die Löcher zuzuschütten, die von den Einheimischen ausgehoben worden waren, weil diese mehrfach die Stelle nach Wertgegenständen und Goldzähnen absuchten.36 Noch lange nach dem Krieg tauchten immer wieder Gegenstände in den Schtetlech auf, die im Besitz von Juden gewesen waren, wenn die Einwohner auf eingemauerte Verstecke in vormals von Juden bewohnten Häusern, in deren Kellern und Gärten stießen. Ein Befragter aus Mir in Belarus erinnerte sich, wie kurz nach dem Krieg eine Gruppe von Kindern in den Ruinen eines alten, abgebrannten Hauses spielte, als die Decke des Kellers plötzlich nachgab und die Kinder eine geheime Kammer entdeckten, die mit wertvollen Gegenständen, Möbeln und Kleidung gefüllt war. Der wertvollste Fund war ein Behälter mit Goldmünzen, die die Kinder in ihre Taschen stopften, bevor sie nach Hause liefen. Die Einwohner der Stadt erinnern sich noch immer genau an den Inhalt des Kellers und da­ ran, welche Familien in der Stadt durch diese Entdeckung Kasse machten.37 Je länger solche „jüdischen Schätze“ unentdeckt bleiben, ehe sie bei Renovierungsarbeiten oder von Hobby-Schatzsuchern, die die ehemaligen jüdischen Viertel mit Metalldetektoren absuchen, gefunden werden, desto geringer wird jedoch ihr Geldwert, da sie beschädigt, fragmentarisch oder teilweise zerstört sind. Trotzdem haben diese Gegenstände in den letzten Jahren zunehmend einen neuen Wert als Kulturgut erhalten, da lokale Museen nun vermehrt solche Gegenstände in ihre Ausstellungen aufnehmen und professionelle Sammler von Judaica und Touristen auf Nostalgiereisen solche Erinnerungsstücke vermehrt nachfragen. Die Einsicht, dass solche Transaktionen unangemessen sein könnten, und Versuche, der Kommerzialisierung von von Juden entwendeten Gegenständen entgegenzuwirken, sind noch relativ selten. Shmuel Atzmon-Wircer, ein HolocaustÜberlebender aus Biłgoraj, bekam bei seinem Besuch in Polen 1990 von einem Mann, den er in seinem Hotel traf, eine blutverschmierte und beschädigte Thorarolle zum Preis von 200 USD angeboten. Schockiert und entsetzt zog Wircer in Erwägung, die Schriftrolle zu bergen, entschied sich aber schließlich dagegen, da er befürchtete, dass er das Land mit einem solch historischen Objekt nicht würde verlassen dürfen.38 Jahre später, im Jahr 2006, tauchte wieder eine beschädigte Thorarolle in Biłgoraj auf; diesmal wurde sie der örtlichen Isaac-Bashevis-Singer35  Zuzanna

Dziuban: Dark Facets of ‚Appropriation‘: Grave Robbery at a Nazi Extermination Camp in Poland. In: Christoph Kreutzmüller/Jonathan R. Zatlin (Hg.): Dispossession. Plunder­ ing German Jewry 1933–1953. Ann Arbor 2020, S. 332–354; Paweł Piotr Reszka: Płuczki. Poszukiwacze żydowskiego złota. Warschau 2019. 36  Tamara Baradach, Telefoninterview mit Ina Sorkina und Magdalena Waligórska, 19. 05. 2021. Ein ähnlicher Bericht findet sich bei Segal: Tears (wie Anm. 29), S. 53. 37  Viktor Sakel, Videointerview für das Shtetl Routes Projekt, 14. 6. 2014. 38  Shmuel Atzmon-Wircer, Zoominterview mit der Autorin, 30. 6. 2020.

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Gesellschaft zum Kauf angeboten, die gerade von einer Handvoll Kulturaktivisten in der Stadt gegründet worden war. Da sich deren Mitglieder verpflichtet fühlten, das historische Unrecht wiedergutzumachen, indem sie die Schriftrolle auf dem jüdischen Friedhof begruben, anstatt sie auszustellen, wurden der Kauf und die rituelle Beerdigung der Schriftrolle zur ersten traurigen Unternehmung des Vereins.39 Solche materiellen Funde haben eine Bedeutung, die über den finanziellen Gewinn hinausgeht. Das Wiederauftauchen von „jüdischen Schätzen“ ist für die örtliche Bevölkerung eine ständige Erinnerung an die Vergangenheit ihrer Stadt und möglicherweise auch an ihre eigene Mitschuld an der Enteignung der Juden. Die in ihrem Umfeld ablaufenden Transaktionen gehören nicht nur der Vergangenheit an, sondern sind bis heute im Gange. Der anhaltende Umlauf dieser Artefakte und die Modalitäten des Handels mit ihnen zeugen ferner davon, dass das Wissen darüber, was jüdisch ist und wer von der Aneignung jüdischen Eigentums profitiert hat, in diesen kleinen Gemeinden allgemein bekannt ist und von Generation zu Generation weitergegeben wird. Das bedeutet, dass dieser materielle Kosmos der Spuren (ehemaliger) jüdischer Mitbewohner eine zentrale Rolle im Prozess des „Eindringens der Vergangenheit in die Gegenwart“ spielt und damit die Vo­ raussetzungen für das Gefühl der kollektiven Verwicklung schafft.40

Späte Rückkehrer Spätestens seit 1989 gibt es noch eine weitere Entwicklung, die die osteuropäischen Schtetlech ständig an ihre Vergangenheit erinnert – das Auftauchen von Touristen auf der Suche nach den eigenen Wurzeln. Die Öffnung des Eisernen Vorhangs und die wachsende touristische Infrastruktur in diesem Teil der Welt haben Juden der ersten, zweiten und dritten Generation auf der Suche nach der alten Heimat in jeden Winkel des ländlichen Ostmitteleuropas gebracht. Diese Besuche haben sowohl die lokale Erinnerungswelt als auch die Machtverhältnisse, die Begegnungen zwischen Juden und Nichtjuden prägen, nachhaltig verändert. Ein Beispiel aus Ivie, Belarus, veranschaulicht auf vielleicht besonders ergreifende Weise sowohl die Auswirkungen solcher Begegnungen als auch die negativen Reaktionen. Anfang der 1990er-Jahre, als die letzten verbliebenen jüdischen Familien von Ivie im Begriff waren, Belarus in Richtung Israel zu verlassen, besuchte eine US-amerikanische Choreografin, Tamar Rogoff, die Stadt. Rogoffs Großvater war in Ivie geboren worden und kurz nach 1900 in die USA ausgewandert, aber erst bei diesem Besuch wurde Rogoff klar, dass sie Verwandte hatte, die im Schtetl geblieben und im Holocaust durch Kugeln umgekommen waren. Sie konnte sogar in Erfah39 

Artur Bara, Zoominterview mit der Autorin, 15. 7. 2020. Waligórska/Ina Sorkina: The Second Life of Jewish Belongings – Jewish Personal Objects and their Afterlives in the Polish and Belarusian Post-Holocaust Shtetls. In: Holocaust Studies; zuerst online publiziert am 17.3.2022, online zugänglich unter: https://www.tandfonline. com/doi/full/10.1080/17504902.2022.2047292 (letzter Zugriff am 21.3.2023). 40  Magdalena

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rung bringen, dass sie in einem Massengrab im Wald, der um die Stadt liegt, begraben worden waren. Diese Entdeckung veranlasste die Künstlerin 1993, mit einem internationalen Ensemble von Tänzern und Schauspielern an den Ort der Gräueltaten zurückzukehren und dort eine Reihe von Performances zu veranstalten.41 Das Open-Air-Ereignis, das das Leben im Schtetl vor dem Krieg darstellte, lief drei Wochen lang und zog Tausende von Zuschauern aus ganz Belarus, Litauen, Estland und Russland an – es wurde sogar vom belarusischen Fernsehen übertragen. Die örtliche Gemeinschaft wurde ebenfalls intensiv einbezogen. Rogoff, die unter anderem einheimische Juden als Schauspieler einsetzte, hoffte, so einen „Katalysator“ zu erzeugen, der es einheimischen Juden und Nichtjuden erleichtern sollte, über ihre Erfahrungen als Opfer, Zeugen, Helfer und Täter zu sprechen.42 Das Event konzentrierte sich auf das alltägliche Leben im Schtetl und nicht auf die Gewalt während des Kriegs, aber die Location und das Bühnenbild konfrontierten die örtliche nichtjüdische Bevölkerung mit einer Reihe von un­bequemen Themen, wie zum Beispiel dem der Enteignung.43 Die Aufführung enthielt Szenen, in denen Juden ihren nichtjüdischen Nachbarn Wertsachen zur Aufbewahrung anvertrauten oder Tafelsilber in der Erde vergruben, aber auch ein nur wenige Meter von der früheren Hinrichtungsstätte entfernt aufgebautes, eindrucksvolles Bühnenbild mit Silberbesteck, das aus dem Waldboden hervorragte. All dies lenkte die Aufmerksamkeit auf heikle Spannungsfelder: Verlusterfahrungen, Aneignung fremden Gutes und die langfristigen Auswirkungen der massenhaften Enteignung, die in Schtetlech wie Ivie stattgefunden hatte. Die Tatsache, dass alle Requisiten – Möbel aus der Vorkriegszeit, Tafelsilber und so weiter – direkt aus den Dörfern in der Umgebung von Ivie stammten, verlieh dieser Inszenierung eine beunruhigend authentische und spannungsgeladene Tiefe.44 Indem Rogoff materiellen Besitz von Juden direkt mit der Hinrichtungsstätte in Verbindung brachte, visualisierte sie auf eindrucksvolle Weise die strukturelle Verwicklung von Ivie in die massenhafte Umverteilung von Gütern und deren direkte Beziehung zu Gewalt und Völkermord. Dieses „Eindringen“ der Schtetl-Vergangenheit in die Gegenwart nach der ­Perestroika rief eine Gegenreaktion hervor. Im Jahr 1994 wurde in Ivie eine neue orthodoxe Kirche eingeweiht, an deren Einweihung der Patriarch von Moskau und der ganzen Rus, Alexei II., persönlich teilnahm und in Anwesenheit fast der gesamten Stadt einen Gottesdienst abhielt. Es ist schmerzlich festzuhalten, dass die neue Kirche dem heiligen Gabriel von Białystok gewidmet wurde, einem Jungen, der 1690 angeblich von Juden zu rituellen Zwecken ermordet worden ist.45 41 

Tamar Rogoff, Zoominterview mit der Autorin, 22. 11. 2020. Tamar Rogoff, Zoominterview mit der Autorin, 17. 11. 2020. 43  Tamar Rogoff/Daisy Wright, dir. Summer in Ivye, Tamar Rogoff Performance Projects, 2002. 44  Tamar Rogoff, Zoominterview mit der Autorin, 22. 11. 2020. 45  Gabriel von Białystok gehört zusammen mit dem heiligen Athanasius und dem heiligen Makarius zur Gruppe der „belarusischen“ Märtyrer aus dem 17. Jahrhundert, die den Kampf der „belarusischen“ orthodoxen Gemeinschaft mit anderen Konfessionen symbolisieren. Athanasius wurde Opfer des religiösen Konflikts zwischen Katholiken und Orthodoxen, während Makarius von den Türken getötet wurde – und Gabriel von den Juden. Vgl. dazu Anton Maranovich (= Miro42 

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Der Kult um Gabriel von Białystok, der 1820 von der orthodoxen Kirche heiliggesprochen wurde und als Schutzpatron der Kinder und Jugendlichen gilt, gewann in den 1980er- und 1990er-Jahren sowohl in Belarus als auch in Polen wieder an Popularität.46 Ähnliche Versuche, „unbequeme“ Geschehnisse der Lokalgeschichte „auszugleichen“, gab es im polnischen Biłgoraj. Im Jahr 2012 starteten lokale Aktivisten eine Spendenkampagne für die Errichtung eines Holocaust-Mahnmals auf dem Gelände des jüdischen Friedhofs und hatten die Idee, einen „Park der Erinnerung“ zu schaffen, in dem die Angehörigen von Biłgorajer Juden, die keinen eigenen Grabstein haben, eine symbolische Matzevah aufstellen könnten. Daraufhin sponserte die örtliche Abteilung des Instytut Pamięci Narodowej (Institut für ­Nationales Gedenken) den ersten Gedenkstein – der jedoch an eine katholische Familie erinnerte, die von den Nazis ermordet wurde, weil sie Juden, die sich versteckt hatten, geholfen hatte. Bis zum Zeitpunkt der Abfassung dieses Textes im Jahr 2021 ist dies die einzige Matzevah im „Park der Erinnerung“ von Biłgoraj geblieben. Dadurch dass das Denkmal die polnischen Helfer der Juden in den Mittelpunkt stellt, was an sich eine lobenswerte Geste ist, verstärkt es das gängige polnische Narrativ vom Wohlwollen gegenüber den Juden und der heldenhaften Haltung der gesamten Nation während des Zweiten Weltkriegs. Am Rande des jüdischen Friedhofs situiert, der nach 1945 dem Erdboden gleichgemacht und mit einer Betonfabrik überbaut wurde, verschleiern die Stele und die Botschaft, für die sie steht, genau die Gründe, aus denen der „Park der Erinnerung“ ins Leben gerufen wurde: die systematische Entfernung alles Jüdischen aus dem Stadtbild.47 Indem sie eine Haltung in den Vordergrund stellt, die nur von einer kleinen Minderheit der Polen während der deutschen Besatzung geteilt wurde, unterdrückt sie zudem den Austausch über die Gleichgültigkeit der Mehrheit, und zwar nicht nur während des Völkermords, sondern auch in der Folgezeit. In der Phase der „Spätrückkehrer“ sind Eigentumsfragen nicht mehr so präsent wie in den 1940er-Jahren, als diese für die überlebenden Juden, denen alles geraubt worden war, von existenzieller Bedeutung waren. Bei Begegnungen zwischen jüdischen Rückkehrern und Einheimischen in dieser Phase geht es jedoch oft um Eigentum in einem symbolischen Sinne. Die herrschenden Machtverhältnisse werden nowicz): Pravaslaŭnaja Bielaruś. Białystok 2009, S. 195. An anderer Stelle merkt Mironowicz an, dass die Geschichte des jüdischen Ritualmordes an Gabriel im 19. Jahrhundert in Russland er­ funden wurde; vgl. Maciej Chołodowski: Prawosławie. Święty męczennik Gabriel. Relikwie w Białymstoku, Gazeta Wyborcza Białystok, online zugänglich unter: https://bialystok.wyborcza. pl/bialystok/7,35241,22408474,prawoslawie-swiety-meczennik-gabriel-relikwie-w-bialymstoku. html?fbclid=IwAR2U_NL7yx4TASuuZnq7ptMOkcJ_PNIsBlZ__J8oIdWfgJ5Eq6Y_CTQyz_ I&disableRedirects=true (letzter Zugriff am 3. 12. 2020). 46 Die Reliquien des heiligen Gabriel von Białystok wurden im Jahr 1992 von Hrodna nach Białystok gebracht. Vgl. Joanna Tokarska-Bakir: Legendy o krwi: Antropologia przesądu. Warschau 2008, S. 243 f., S. 297, S. 324. 47 Zuzanna Brzozowska/Andrzej Trzciński: Cmentarze żydowskie w Biłgoraju. In: Monika Adamczyk-Grabowska/Bogusław Wróblewski (Hg.): Biłgoraj, czyli raj. Rodzina Singerów i świat, którego już nie ma. Lublin 2005, S. 114 f.

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zum Beispiel in Fragen hinsichtlich des physischen Zugangs zu ehemals von Juden bewohnten Räumen sichtbar, insbesondere wenn es um Privathäuser geht. Die Verweigerung oder Gewährung des Zugangs zu den Häusern der Vorfahren oder zu privatem Land kann zu einem wirkmächtigen Akt der Versöhnung, der Feindschaft oder gar der Vergeltung werden. Die Organisation der jüdischen Überlebenden von Biłgoraj in Israel, deren Mitglieder während ihrer Reise nach Biłgoraj im Jahr 2010 einige ehemals in jüdischem Besitz befindliche Grundstücke besichtigen wollten, musste schließlich für den Zugang zu einem Hinterhof eines solchen Hauses bezahlen. Das illustrierte Reiseprotokoll, das auf der Homepage der Organisation veröffentlicht wurde, enthält ein Bild einer solchen Transaktion mit der Bildunterschrift: „Die alten Frauen, die in Itche Kovals klappriger Hütte leben, erklärten sich für eine Handvoll Dollar bereit, die Gruppe in ihren ‚Privatbesitz‘ zu lassen.“48 Während der Akt der Verweigerung des Zugangs zu diesen ehemals von Juden genutzten oder bewohnten Räumen seitens ihrer jetzigen Besitzer ein Akt der Machtausübung ist, gilt dies umgekehrt ebenso für den Akt des Bezahlens. Indem sie ein fehlendes materielles Interesse an ehemals jüdischem Eigentum betonen und sich den zeitweisen Zugang dazu erkaufen können, kehren diese jüdischen Besucher symbolisch die Machtverhältnisse zwischen den ehemaligen Opfern und denjenigen um, die sich ihr Eigentum in der Vergangenheit angeeignet haben, und dokumentieren ihre moralische und mate­rielle Überlegenheit gegenüber den jetzigen polnischen Bewohnern. Auch wenn der Wert der Immobilien und anderer Besitztümer, die vormals im Besitz von Juden waren, in den letzten acht Jahrzehnten oft gesunken ist, bedeutet dies nicht, dass die sich um sie rankenden Konflikte und Transaktionen weniger emotional oder verletzend sind. Dalia Bar, die 2010 aus Israel nach Biłgoraj kam, fand das Haus ihrer Vorfahren noch vor und erfuhr bei einem Treffen mit den derzeitigen polnischen Eigentümern, dass diese eine Sammlung von Familienfotos, Dokumenten, Briefen und kleinen Erinnerungsstücken auf dem Dachboden gefunden hatten. Als Dalia Bar sie aufforderte, ihr diese zurückzugeben, weigerten sich die jetzigen Besitzer jedoch mit dem Argument, dass sie diese Gegenstände einem Museum übergeben und dort als Spender genannt werden wollten.49 Ganz offensichtlich hatten die Gegenstände eine große emotionale Bedeutung für die Überlebende, die bereit war, jeden Preis zu zahlen, um sie zurückzubekommen. Der Konflikt um die Kiste vom Dachboden machte jedoch deutlich, dass es keineswegs um den finanziellen Gewinn ging. Was auf dem Spiel stand, war schlicht, wer die Macht und Oberhoheit über das lokale jüdische Erbe innehaben solle, wer die Geschichte dieser Objekte erzählen dürfe und welche Geschichte es sein soll. Wird es eine Geschichte der Aneignung, Enteignung und Plünderung sein oder vielmehr eine Geschichte der Rettung des jüdischen Erbes vor dem Vergessen und seiner Bewahrung für künftige Generationen? 48  „A

Journey Log to Poland 29. 07. – 9. 08. 2010“; online zugänglich unter: http://www.bil-is. com/tour%20to%20bilgoraj%202010%20first%20part.pdf (letzter Zugriff am 7. 9. 2021). 49  Dalia Bar, Zoominterview mit der Autorin, 25. 8. 2020.

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Fazit Die Rückkehr von Holocaust-Überlebenden in ihre Schtetlech unmittelbar nach dem Krieg, die nostalgischen Pilgerreisen ihrer Nachkommen in jüngerer Zeit sowie das ständige Wiederauftauchen „jüdischer Schätze“ stellen allesamt Ereignisse dar, in denen die Vergangenheit in die Gegenwart eindringt und die in den „verlorenen Städten“ von Polen, Belarus und der Ukraine unvermeidlich lokale Reaktionen hervorrufen. Solche Erinnerungen an die Verwicklung der lokalen Bevölkerung in die Enteignung der Juden in der Vergangenheit stellen eine Bedrohung für die positive kollektive Identität dieser lokalen Gemeinschaften dar und verlangen nach Strategien, die die Spannungen, die diese „Eindringlinge“ hervorrufen, abbauen können. Wie wir gesehen haben, reichen solche lokalen Strategien von Gewaltausübung gegen die zurückkehrenden Holocaust-Überlebenden in der frühen Nachkriegszeit über die Dämonisierung der Juden (zum Beispiel als Ritualmörder) und Versuche, die materiellen Spuren der jüdischen Kultur auszulöschen, bis hin zu den Bemühungen um Gedenkstätten, die die Vergangenheit umschreiben und die schwierigen Kapitel in der Geschichte der Beziehungen zwischen Juden und Nichtjuden ausblenden. Dieser sich wandelnde Umgang mit der Geschichte der Schtetlech nach 1945 ist in ein kompliziertes Gewebe von Machtbeziehungen eingebunden, die sich im Laufe der Zeit entwickelt haben, sich dynamisch verändern und in denen Juden weiterhin wichtige Akteure sind. Die Rollenverteilung in diesen Machtbeziehungen hat sich verändert, die erzielbaren Erträge sind mittlerweile eher symbolischer Natur, aber das Problem der strukturellen Verwicklung der einheimischen Bevölkerung bleibt ungelöst und erinnert somit an eine nicht geheilte Wunde. Die ständigen Einbrüche der Vergangenheit in die Gegenwart und die Gegenreaktionen, die sie auslösen, zeigen, dass die Nachkriegsgeschichte der Schtetlechs nicht auf ein binäres Narrativ reduziert werden kann, das nur von ihrem Fehlen nach 1945 und ihrer „Wiederbelebung“ nach 1989 erzählt, sondern dass sie vielmehr von unangenehmen Kontinuitäten und anhaltenden Spannungen geprägt ist, die im Spiegel des Schweigens, der Lücken und der Überschreibungen eine ungebrochene Präsenz dieser Gemeinschaften offenbaren.

Abstract While urban centers across East-Central Europe suffered unprecedented damage and population losses during WWII, with some of them being wiped out entirely and many others depopulated, it was the archipelago of smaller towns often with a substantial Jewish majority – the shtetls – that faced a complete demise. This article, focused on the epicenter of the so-called “Holocaust by bullets”, looks at the long-term consequences of systematic population exchange in the “lost towns” of the Polish-Belarusian-Ukrainian borderlands. Looking at six shtetls,

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Izbica and Biłgoraj in eastern Poland, Ivie and Mir in western Belarus, as well as Berezne and Brody in western Ukraine, this chapter concentrates on three crucial aspects of the shtetl’s postwar history that reveal the tensions around its “disinherited heritage”: the phase of early returns, the topos of Jewish treasures, and the phase of late returns.

Thomas Schmidt-Lux/Josephine Kanditt Die verlassenen Lehmziegelsiedlungen im Oman Über das Werden, Vergehen und den Zustand des Dazwischen

Einleitung Lost cities sind Gegenstand unterschiedlichster Disziplinen. Vor allem haben sich die Geschichtswissenschaften und die Archäologie mit ihnen befasst. Verlassene Städte waren dabei die Untersuchungsgegenstände, mit deren Hilfe teilweise lange vergangene historische Epochen erhellt und analysiert werden konnten, und auch methodisch gab es für diese disziplinäre Fokussierung gute Gründe. Oft sind es deshalb antike Städte, die in populären Darstellungen und Mythisierungen von lost cities im Fokus stehen.1 Der folgende Text unternimmt in zweierlei Hinsicht etwas anderes: Erstens untersuchen wir Städte, die erst vor Kurzem verlassen wurden. Auch das verlangt zwar nach einer historischen Perspektive, diese ist aber eher zeitgeschichtlich angelegt. Und zweitens nehmen wir eine vornehmlich soziologische Perspektive ein, die bislang in den einschlägigen Arbeiten eher unterrepräsentiert ist. Damit soll kein prinzipieller Gegensatz zwischen Geschichtswissenschaft und Soziologie behauptet werden; wir verfolgen den Ansatz einer Historischen Soziologie, die mit Untersuchungen zeitgenössischer Entwicklungen verbunden wird. Mit dieser Vorgehensweise nehmen wir explizit das Anliegen der Tagung auf, vor allem die zeitgenössische Wahrnehmung verlassener Städte aus verschiedenen Perspektiven zu untersuchen. Konkret geht es im folgenden Beitrag um den Fall der verlassenen Lehmziegelsiedlungen im Oman. Dabei handelt es sich um Hunderte von Siedlungen im Landesinneren, die seit den rapiden Modernisierungsprozessen in den 1980er- und 1990er-Jahren zugunsten neuer Siedlungen und Wohnhäuser aufgegeben wurden. Die verlassenen Siedlungen stehen nun leer und sind weitgehend ohne neue Funktion. Und obwohl sie langsam verfallen, sind sie doch noch sehr präsente Zeugen und Anzeiger einer unmittelbaren Vergangenheit – einer Vergangenheit, die noch der Deutung und Bewertung harrt. Was also tun mit den lost cities? 1 

Vgl. zuletzt Annalee Newitz: Four Lost Cities. A Secret History of the Urban Age. New York 2021. https://doi.org/10.1515/9783111071848-015

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Wir wollen die Analyse des in diesem Beitrag untersuchten Falles mit systematischeren Überlegungen verbinden, die über den Fall des Oman hinausreichen. Aus diesem Grund entwickeln wir am Beginn des Textes die Grundzüge eines Prozessmodells, das es ermöglichen soll, die „Karrieren“ von lost cities genauer in den Blick zu nehmen. Vor dem Hintergrund dieses Modells werden wir dann die Geschichte und den aktuellen Status der omanischen Siedlungen analysieren.

Lost cities – Das Modell Zu Städten, die – auf welche Weise auch immer – verlassen wurden, existiert eine breite Basis an Literatur.2 Bei Durchsicht dieser Arbeiten ist jedoch auffällig, dass viele der Texte zwar voneinander Kenntnis genommen haben, zugleich aber auch vieles eher unverbunden blieb. Eher selten, aber erkennbar zunehmend, wird auf das Phänomen lost cities ein systematisch-konzeptioneller Zugriff genommen.3 Dabei wird versucht, über Vergleiche mehrerer Fälle systematische Linien zu ziehen oder die Diversität des Feldes überhaupt erst einmal zu erfassen. Gleichwohl kann man bislang kaum von einem auch nur halbwegs kohärenten Forschungsgebiet sprechen, das auch nach außen bekannt und erkennbar wäre, auch wenn sich dies künftig ändern mag und – wie gesagt – Versuche erkennbar sind, dies voranzubringen.4 Das im Folgenden skizzierte Modell begreift sich deshalb als Vorschlag, auch historisch sehr unterschiedlich gelagerte Fälle zusammenzuführen, indem man ihre Vergleichbarkeit ermöglicht. Dabei dient das Modell als heuristisches Mittel, um das Werden und Vergehen von Städten – zugegeben grob – abzubilden. Es greift vor allem die Beobachtung auf, dass verlassene Städte ein prozesshaftes Schicksal kennzeichnet, und das in durchaus mehrdimensionaler Weise. Wir orientieren uns dabei grundsätzlich an einer historisch-soziologischen Perspektive, die um die Geschichtlichkeit sozialer Phänomene weiß, die jeweilige Einzigartigkeit spezifischer historischer Ereignisse nicht unterschlagen will und zugleich versucht, Systematisierungen innerhalb der empirisch zugänglichen Phänomene zu unternehmen.5 2  Seit

den 1980er-/frühen 1990er-Jahren ist ein vermehrtes Interesse seitens der Stadtforschung an „schrumpfenden Städten“ zu erkennen; dazu vgl. Leo H. Klaassen/Gabriele Scimemi: Theo­retical Issues in Urban Dynamics. In: Leo H. Klaassen/Willem Molle/Jean Paelinck (Hg.): ­Dynamics of Urban Development. London 1981, S. 8–28. Zudem finden sich seit einiger Zeit auch Überblicksdarstellungen zu „schrumpfenden Städten“; vgl. hier z. B. Phillipp Oswald/Tim Rieniets (Hg.): Atlas der schrumpfenden Städte. Ostfildern 2006; Angelika Lampen/Armin Owzar (Hg.): Schrumpfende Städte. Ein Phänomen zwischen Antike und Moderne. Köln/­Weimar/Wien 2008; Aude de Tocqueville/Karin Doering-Froger: Atlas der verlorenen Städte. München 2015. 3  Vgl. Martin Devecka: Broken Cities. A Historical Sociology of Ruins. Baltimore 2020. 4  Vgl. Martin Zimmermann: Lost cities, urban explorers und antike Landschaften. Vom Leben mit Ruinen. In: Shing Müller/Armin Selbitschka (Hg.): Über den Alltag hinaus. Festschrift für Thomas O. Höllmann zum 65. Geburtstag. Wiesbaden 2017, S. 297–312. 5  Eine solche Perspektive orientiert sich in der Soziologie klassischerweise etwa an den Arbeiten von Max Weber und Norbert Elias, kann aber natürlich auch auf zahlreiche aktuelle Ansätze verweisen; vgl. Rainer Schützeichel: Neue Historische Soziologie. In: Georg Kneer/Markus

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Zudem verläuft die Entwicklung von lost cities keineswegs ungebrochen und eindeutig, etwa nur „vom Guten zum Schlechten“. Vielmehr lassen sich charakteristische Phasen feststellen, die zumindest viele der als lost cities diskutierten ­Städte durchlaufen haben beziehungsweise durchlaufen. Keineswegs ist damit behauptet, dass das Prozessmodell zwingend auf alle empirischen Beispiele anwendbar ist. Es spannt eher in idealtypischer Weise einen Zyklus auf, vor dessen Hintergrund man empirische Fälle genauer als bislang analysieren, einordnen und nicht zuletzt miteinander vergleichen könnte. Denkbar ist es dabei auch, einzelne Phasen der Geschichte der jeweils untersuchten lost city genauer zu untersuchen. Unser Modell würde auch insofern hilfreich sein, als präziser als bislang benennbar wäre, an welcher Stelle die eigene Untersuchung ansetzt – sowohl in Bezug zum eigenen Fall als auch zu anderen Städten. Das von uns vorgeschlagene Modell umfasst vier Phasen. Diese vier Phasen sind eher als (potenzieller) Kreislauf denn als lineare Entwicklung zu denken. Damit soll der Beobachtung Rechnung getragen werden, dass manche lost cities nach dem Auszug ihrer Bewohnerinnen und Bewohner und einer Zeit des tatsächlichen Verlassen-Seins durchaus wieder „reaktiviert“ wurden. Die erste Phase ist mit „Stadtwerdung“ benannt. Dies zielt auf den banalen Umstand ab, dass eine Stadt nur dann zu einer lost city werden kann, wenn sie zuvor überhaupt existierte und eben die Kennzeichen einer Stadt trug. Diese ­Phase ist jedoch durchaus eine genauere Analyse wert, denn mitunter ist Städten ihr späteres Schicksal als verlassene Orte zwar nicht direkt eingeschrieben, steht jedoch in Verbindung etwa mit ihrer ursprünglichen Nutzung. Dies ist zum Beispiel bei Orten der Fall, die in relativ kurzer Zeit zu einem sehr spezifischen Zweck entstanden. Beispielhaft hier sind Städte, die in unmittelbarer Nähe von spezifischen Industrien oder Bergbaugebieten entstanden. Nach deren Niedergang oder der Erschöpfung der entsprechenden Abbaugruben wurden dann auch die Städte wieder verlassen. Die zweite Phase umfasst den „Niedergang“ und das Verlassen der jeweiligen Stadt. Fokussiert werden hier die Prozesse in den Blick genommen, die zum Bruch mit dem vorherigen Zustand als (mehr oder minder) funktionierender Stadt führten, und wie das Verlassen der Stadt genau ablief. Von Fall zu Fall kann dies sicherlich unterschiedlich genau rekonstruiert werden; wie immer ist das abhängig von Informationsstand und Quellenlage. In manchen Fällen lassen sich eindeutige Ereignisse benennen, die das Verlassen der Stadt hervorriefen; in anderen Fällen verlief dieser Prozess eher allmählich und aufgrund einer komplexeren Ursachenlage. Die dritte Phase ist aus analytischer Perspektive vielleicht die interessanteste. Sie zielt auf den Umstand ab, dass viele lost cities nach dem Zeitpunkt ihres NieSchroer (Hg.): Handbuch Soziologische Theorien. Wiesbaden 2009, S. 277–298. Auf Architektur bezogen, wurde ein theoretisch gehaltvolles, zugleich aber auch prozessual gedachtes Modell von Silke Steets vorgeschlagen; Silke Steets: Der sinnhafte Aufbau der gebauten Welt. Eine Architektursoziologie. Berlin 2015.

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dergangs zwar tatsächlich weitgehend verlassen sind und einen Großteil ihrer ehemaligen Bevölkerung verloren haben. Oftmals geht dies mit einem Verfall ihrer materialen Struktur einher. Zugleich aber ist bei genauerem Blick erkennbar, dass, zugespitzt gesagt, keine Stadt komplett verlassen und aufgegeben ist. Immer wieder lassen sich dort Aktivitäten nachweisen, halten sich Menschen in diesen Städten auf. Kurzum: Die Städte sind dann zwar einerseits in einem Zustand des being lost, sie sind aber andererseits keineswegs stillgestellt. Stattdessen scheint uns diese Phase besser als ein „Dazwischen“ kategorisiert zu werden. Das zielt darauf ab, den Zustand der lost cities als nicht mehr florierend, aber auch nicht an ein „Ende ihrer Geschichte“ gekommen zu sehen. In der Forschung zu lost places wurde dieser Gedanke stark gemacht, um die Prozesshaftigkeit der Geschichte von Orten abzubilden. Als Baustein eines solchen „transition concept“ schlagen Bauer und Dolgan die Nutzung des Konzeptes der „Liminalität“6 vor. Es wurde von Victor Turner auf Grundlage der ritualtheoretischen Arbeiten von Arnold von Gennep entwickelt, und auch wenn Turner dabei die Entwicklung sozialer Gruppen und ihrer Mitglieder im Blick hatte, ließe sich der Gedanke aus unserer Sicht auf verlassene Städte übertragen. Denn (auch) bei Turner meint die Phase der Liminalität einen Zustand des Übergangs, ein „Dazwischen“, einen „Schwellenzustand“.7 Zwar sind es bei ihm Personen, die zwischen unterschiedlichen sozialen Rollen stehen, eben auf der Schwelle, vollwertiges Mitglied einer sozialen Gruppe zu werden. Doch auch Orte und Städte können ein solches Stadium durchlaufen, können in einen Zustand der „Ambiguität“8 geraten, in dem sie weder alle Merkmale ihrer vorherigen Existenz aufweisen, noch einen spezifischen neuen, man könnte sagen: institutionalisierten Status gewonnen haben. Die Liste von Akteurinnen und Akteuren und Aktivitäten, die statt eines kompletten Verlassenseins erkennbar sind, ist mitunter überraschend lang. So lassen sich in manchen Fällen neue, informelle Nutzungen erkennen, die wiederum auf ausharrende Bewohnerinnen und Bewohner oder Personen zurückgehen, die neu in die Städte kommen. In anderen Fällen nehmen eher temporär Akteurinnen und Akteure von den verlassenen Städten Besitz, um sie etwa für Kunstprojekte oder touristische Zwecke zu nutzen. Die dritte Phase des Prozessmodells thematisiert also den Status von Städten als lost cities, soll aber zugleich sensibel machen für informelle Nutzung, Neudeutungen und mögliche Wiederbelebungen. Die vierte Phase schließlich ist dann insbesondere für jene Städte relevant, bei denen eine „Wiederbelebung“ beziehungsweise „Umdeutung“ gelingt. Damit soll, wie gesagt, nicht behauptet werden, dass jede lost city dem Stadium des being lost zu entfliehen mag. Jedoch lassen sich bei vielen Städten im Anschluss an ihr Verlassenwerden Bemühungen feststellen, diese Städte neu zu deuten, wiederzube­leben, an6  Christian Bauer/Christoph Dolgan: Towards a Definition of Lost Places. In: Erdkunde – Archive for Scientific Geography 74 (2020) 2, S. 101–115, hier: S. 111. 7  Victor Turner: Das Ritual. Struktur und Anti-Struktur. Frankfurt a. M. u. a. 2005, S. 95. 8  Ebd., S. 94.

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deren Nutzungen zuzuführen. Wo dies gelingt, treten die Städte in eine neue Phase ihrer Existenz ein. Sie können dann einerseits zwar weiterhin ver­lassen sein, andererseits aber gleichwohl eine neue und auch institutionalisierte Deutung erfahren. Ein Beispiel hierfür ist die spanische Stadt Belchite. Belchite wurde im Spanischen Bürgerkrieg durch republikanische Truppen während einer mehr als einwöchigen Schlacht im Sommer 1937 sehr stark zerstört. Nach Ende des Bürgerkriegs entschied Franco, Belchite in seinem zerstörten Zustand zu belassen und „daneben“ eine neue Stadt zu bauen. Belchite selbst sollte als Mahnmal bestehen bleiben und gewissermaßen eine materiale Warnung an innenpolitische Gegner bleiben. Die lost city Belchite erfuhr damit also eine starke und regelrecht offizielle, institutionalisierte Deutung als Erinnerungsort. Auch wenn hier keine Wiederbelebung in dem Sinne stattfand, dass die Stadt wieder aufgebaut und bewohnt wurde, war sie damit jedoch dem Stadium des „Dazwischen“ schnell enthoben. Inte­ ressanterweise wurde auch nach dem Ende der Herrschaft Francos entschieden, Belchite in diesem Zustand zu belassen und nicht wieder aufzubauen. Seither gehen die Deutungskämpfe um Belchite weiter. Während die republikanische Seite den Ort als mahnendes Denkmal für die Franco-Herrschaft ansieht, seit 2013 auch mit einem Zaun vor informellen Nutzungen schützt und nur noch offizielle Führungen zulässt, nutzen ehemalige Franquisten Belchite als Veranstaltungsort von Gedenkmärschen: „Seitdem ist der Ort ein nationalistisches Denkmal und gilt, neben dem Valle de los Caídos bei Madrid, wo Franco und der Faschistenführer José Antonio Primo de Rivera begraben sind, als wichtigste franquistische Gedenkstätte.“9 Am bislang Präsentierten wurde bereits deutlich, dass das Modell einer internen Differenzierung bedarf, um über die Einteilung in vier Stadien hinaus das Werden und Vergehen von Städten analysieren und abbilden zu können. Wir schlagen deshalb vor, innerhalb jeder Phase die Analyse entlang mehrerer Dimensionen vorzunehmen. Hierzu gehören: a) Kontextbedingungen: In dieser Dimension wird nach der Bedeutung des Umfeldes von spezifischen Ereignissen und Entwicklungen gefragt. Hierzu zählen gesellschaftliche Entwicklungen (Bürgerkriege) ebenso wie die Gegebenheiten der natürlichen Umgebung (Klimaveränderung). b) Ursachen: Hier wird spezifisch nach Anlässen und Ursachen, etwa eines Auszuges aus einer Stadt, gefragt. Auch hier können sowohl soziale (Vertreibungen) als auch natürliche (Erdbeben) oder technische Ereignisse (Reaktorunfall) in den Blick kommen. c) Akteurinnen und Akteure: Welche Akteurinnen und Akteure, welche aktiven Gruppen lassen sich bei den jeweiligen Entwicklungen identifizieren? Welche Praktiken sind mit diesen Gruppen verbunden? 9  Ralph

Hug: „Eine Ruine für Francos Gott und Vaterland“. In: WOZ – Die Wochenzeitung, Nr. 28/2006, 13. 7. 2006, online zugänglich unter: https://www.woz.ch/-8c0 (letzter Zugriff am 20. 10. 2021).

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d) Spacing: In Anlehnung an Löw10 ist mit spacing das Platzieren von materialen und sozialen Objekten gemeint. Zur Frage steht hier also, inwiefern es zu Veränderungen der Materialität der Städte kam (Zerstörung) oder eben Menschen Teile von Städten oder ganze Städte verließen. e) Deutungen: Diese Dimension fokussiert auf die Wahrnehmung und Interpretation der (verlassenen) Städte. Als was wird die Stadt jeweils gedeutet? Wofür steht sie in den Augen von Bewohnerinnen und Bewohnern oder Beobachterinnen und Beobachtern? Welche Deutungsverschiebungen lassen sich feststellen? f) Konflikte: Welche Auseinandersetzungen sind in den Städten feststellbar? Welche Akteurinnen und Akteure sind daran beteiligt? Welche Deutungen stehen mög­ licherweise in Konflikt zueinander? Was haben die Konflikte für Konsequenzen? g) Institutionalisierung: (Wo) lassen sich Institutionalisierungsprozesse feststellen? Wann ändert sich also beispielsweise der offizielle Status einer Stadt, etwa von einem Wohnort zu einer Gedenkstätte? Wann misslingen auch solche Bemühungen zur Institutionalisierung? Die Liste dieser Dimensionen ist natürlich weder als abgeschlossen zu betrachten, noch muss jeder der aufgezählten Punkte zwingend in die Analyse einbezogen werden. Insgesamt liegt damit jedoch eine Heuristik vor, die – ohne zu schematisch sein zu wollen – eine vergleichende Analyse verlassener Städte anleiten kann. Wir werden dies im Folgenden am Beispiel der verlassenen Lehmziegelsiedlungen im Oman illustrieren.

Lost cities im Oman Das Werden der omanischen Lehmziegelsiedlungen Eine allgemeine, übergreifende Geschichte der omanischen Lehmziegelsiedlungen (arab.  ḥārāt) zu erzählen, ist nahezu unmöglich; zu verschieden sind die historischen Entwicklungen jeder einzelnen Siedlung. Gleichwohl gibt es Gemeinsamkeiten in der Entwicklung der Siedlungen, und vor allem gibt es gesamtgesellschaftliche Umstände im Oman, die die Entwicklung der Siedlungen maßgeblich beeinflussten. Generell lässt sich sagen, dass es einen Unterschied in der früheren Archi­ tektur11 der Küstenorte, wie Maskat, Sohar oder Qalhat (also der sogenannten 10 

Vgl. Martina Löw: Raumsoziologie. Frankfurt a. M. 2011. sind hier die Architekturformen der Küstenstädte und Oasendörfer vor 1970. Sowohl im Landesinneren als auch in der Batinah änderte sich ab diesem Zeitpunkt die Bauweise deutlich. Überblicksartige Darstellungen der veränderten Städteplanung finden sich unter anderem bei Mohammed Al-Belushi: The Heritage Prospective and Urban Expansion in Capital ­Cities. Old Defence Sites in Muscat, Oman. In: Carlos A. Brebbia (Hg.): Structural Studies, ­Repairs and Maintenance of Heritage Architecture XIII. Southampton 2013, S. 551–562; Fred Scholz (Hg.): Die kleinen Golfstaaten. 15 Übersichten und 52 Tabellen. Gotha/Stuttgart 1999. 11 Gemeint

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Abbildung 1: Al-Hamra in den 1970er-Jahren; Foto: Wolfgang Zimmermann.

­ atinah), und der Architektur in den Oasenstädten und Dörfern im Landesinnern B gibt.12 Die Küstenorte waren durch eine dichte, kompakte Bebauung mit einer großen, die Stadt umschließenden Mauer oder Befestigungsanlage gekennzeichnet. Die große Freitagsmoschee und die Souqs bildeten die zentralen Versammlungsorte. Im Landesinneren gab es zum einen kleinere, kompakte Siedlungen, die nur von einer Stammesgruppe bewohnt wurden (zum Beispiel Ibra oder Al-­ Mudayrib), aber auch flächenmäßig zerstreute Siedlungen, wie zum Beispiel AlHamra (Abb. 1), die jedoch eher die Ausnahme bildeten.13 Hunderte solcher Orte existierten im ganzen Land. Ihre Größe variierte zwar, umfasste aber zumeist den Platz für mehrere hundert Menschen. Nach außen ­waren die Siedlungen von einer Mauer umgeben, die – ebenso wie bemannte Wachtürme – nicht zuletzt Verteidigungszwecken diente. Im Inneren fanden sich, nur durch schmale Gassen getrennt, die eigentlichen Siedlungshäuser. Darüber ­hinaus hatten die Siedlungen platzartige Auflassungen, die für den Markt genutzt wurden oder als soziale Treffpunkte dienten. Bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts waren solche Siedlungen dominant, sie bestimmten die Art und Weise, wie man im Oman lebte und wohnte. 12  Lorenz

Korn: The Architecture of Omani Oases. A Mirror of Social Structures. In: Andreas Buerkert/Eva Schlecht (Hg.): Oases of Oman. Livelihood Systems at the Crossroads. Muscat 2010, S. 52–59, hier: S. 52. 13  Fred Scholz: Muscat Sultanat Oman. Geographische Skizze einer einmaligen arabischen Stadt. Berlin 1990, S. 360 f.

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Selbst in der Hauptstadt Maskat dominierten bis 1970, neben der Festungsarchitektur an der Küste (zum Beispiel die Festungen Al-Mirani und Jalali) und einigen repräsentativen Bauten (zum Beispiel Botschaftsgebäude, wie das Bait Faransa14), Häuser aus Lehm und Stein.15 Ein Großteil der noch heute vorzufindenden alten Siedlungen stammt aus dem 18. oder 19. Jahrhundert. Mehr als 1 000 Siedlungen wurden mittlerweile durch das omanische Ministerium für Kulturerbe und Tourismus erfasst, und nur ein kleiner Teil der Siedlungen ist noch in einem guten Zustand (Abb. 2). Ein Großteil ist bereits so stark verfallen, dass die Siedlungen heute eher als Ruinen gelten können.16 Der bereits stark vorangeschrittene Verfall vieler Siedlungen lässt sich auch aus der materialen Beschaffenheit der Häuser ableiten. Die dominanten Baustoffe waren Lehm, Holz und Palmenblätter. Je nach Siedlung oder einzelnem Haus fanden auch – teilweise große – Steine Verwendung. Es handelt sich in jedem Fall um Materialien, die sich in der Umgebung der je­ weiligen Siedlung fanden und somit unmittelbar vorhanden waren. Zugleich aber erfordern die natürlichen Materialien eine intensive Wartung und Pflege. Nicht zuletzt der Lehm wird bei starkem Regen abgewaschen und wird im Laufe der Zeit locker, auch die Palmenmaterialien haben eine begrenzte Lebens- und Nutzungsdauer. Die Häuser müssen also permanent gepflegt, ausgebessert und repariert werden. Damit ist ein später wichtig werdender Umstand verknüpft. Denn offenkundig war (und ist) das Wissen um diese Architektur eng an die (ehemaligen) Bewohnerinnen und Bewohner gekoppelt und an deren Praktiken des Bauens und Erneuerns. In diesem Zusammenhang ist der Begriff der vernakulären Architektur zentral. Mit dem Ende der permanenten, praktischen Maßnahmen zur Erhaltung der Gebäude wird auch das spezifische Wissen darüber in Gefahr geraten.17 Doch bleiben wir noch einen Moment bei den ursprünglichen, intakten Siedlungen. Befasst man sich genauer mit deren innerer Organisation und Struktur, kann ein Konzept von Norbert Elias hilfreich sein. In seinem Buch zur ­„Hö­fischen Gesellschaft“ verfasste Elias auch ein Kapitel zur gebauten Realität des Hofes und den Schlössern und Hôtels der adeligen Schichten.18 Elias machte dabei den Punkt 14 

Vgl. hierzu Soheir M. Hegazy: Conservation of Historical Buildings. The Omani-French Museum as a Case Study. In: HBRC Journal 11 (2015) 2, S. 264–274. 15  Darstellungen zur Architekturentwicklung Maskats finden sich beispielsweise bei Jörg Janzen/ Fred Scholz/Wolfgang Zimmermann: Oman. Flächenstaat mit Ressourcenvielfalt. In: Scholz (Hg.): Golfstaaten (wie Anm. 11), S. 148–181; auch bei Korn: Architecture (wie Anm. 12), S. 52–59; ebenso bei: Fred Scholz: Muscat. Then and Now. Geographical Sketch of a Unique Arab Town. Berlin 2014. 16  Birgit Mershen: Rückgrat der Besiedlung. Omans Oasensiedlungen. In: Lorenz Töpperwien/ Julietta Baums: Reiseführer Oman. Unterwegs zwischen Muscat und Salalah. Berlin 2020, S. 262– 264. 17  Bereits 1977 veröffentlichte Bonnenfant eine Studie zu Al-Mudayrib und wies darauf hin, dass Praktiken des Bauens und Konstruierens, aber auch das Wissen um die Instandhaltung schrittweise verloren gehen. Dies geschehe aufgrund des Einflusses neuer Bautechniken und der Benutzung neuer Materialien. Vgl. Paul Bonnenfant u. a.: Architecture and Social History at Mudayrib. In: Journal of Oman Studies 3 (1977), S. 107–135. 18  Norbert Elias: Die höfische Gesellschaft. Frankfurt a. M. 1969.

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Abbildung 2: Die verlassene Siedlung von Sinaw im Jahr 2020; Foto: Thomas Schmidt-Lux.

stark, die jeweiligen Wohnstrukturen als, wie er das Kapitel überschrieb, „An­ zeiger gesellschaftlicher Strukturen“ anzusehen. Aus der Anordnung und Größe von Räumen zog Elias Schlussfolgerungen über die inneren Mechanismen und Machtverhältnisse am Hofe. Der analytische Grundgedanke dahinter scheint, vor allem aus heutiger Sicht, nicht sonderlich innovativ, und die damit verbundene Vorstellung, das Gebaute sei der quasi passive Spiegel der sozialen Verhältnisse, ist in der neueren Architektursoziologie stark kritisiert worden.19 Und auch wenn Architektur und ­Gebautes nicht allein in dieser „Ausdrucks-Funktion“ aufgehen, wird bei der Analyse der omanischen Siedlungen doch deutlich, wie evident mitunter Elias’ Konzept sein kann. Obgleich die Siedlungen aus europäischer Perspektive auf den ersten Blick eher monolithisch anmuten, wird schnell ihre innere Differenzierung ersichtlich. Die ökonomische Situation des Hauseigentümers, der soziale Status innerhalb der Siedlungsgemeinschaft, die überwiegend als Stammesgesellschaft organisiert war (und in Teilen bis heute ist), aber auch die geologischen, topografischen und klimatischen Gegebenheiten „formten“ die Siedlungen. Dies drückte sich in der 19 Heike

Delitz: Gebaute Gesellschaft. Architektur als Medium des Sozialen. Frankfurt a. M./ New York 2010.

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Abbildung 3: Alte Tür in ­einem verlassenen Haus in Al-Mudayrib im Jahr 2020; Foto: Thomas Schmidt-Lux.

Benutzung der Materialien und in den Konstruktionsweisen aus, um beispiels­ weise auf die klimatischen Besonderheiten der Region zu reagieren. Besonders wohlhabende Familien zeigten ihren Wohlstand mit der Höhe des Hauses, der Nutzung von Stein als Baumaterial, aber auch dem Umfang an Zimmern, so zum Beispiel in Al-Hamra oder Nizwa: Dort wurden Häuser mit drei Stockwerken und bis zu zwanzig Zimmern errichtet.20 Die Verzierungen der Wohnhäuser und die architektonischen Merkmale waren nicht nur rein funktional und fußten auf lokalen Techniken. Auch auf künstlerischer Ebene zeichnen sich viele Elemente der Häuser aus, ob nun durch schmuckvolle Türen oder verzierte Decken. Hier wird zudem der Handel und Austausch mit Sansibar sichtbar: Viele Türen ­stammen von dort oder waren inspiriert von den Mustern und Dekorationen aus ­Sansibar (Abb.  3).21 20 

Vgl. Korn: Architecture (wie Anm. 12). ausführliche Beschreibung findet sich bei Bonnenfant u. a.: Architecture (wie Anm. 17), S. 128. 21  Eine

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Eine weitere Besonderheit der Lehmziegelsiedlungen ist das falaj-Bewässerungssystem, das seit 2006 zum UNESCO-Weltkulturerbe zählt.22 Dabei wird in der regenarmen Region das Wasser über kilometerlange Kanäle, unter Ausnutzung des Gefälles, von den Quellen zu den Dörfern und Städten geleitet und dort verteilt. Mit dem falaj-System geht, wie Bonnenfant schildert, eine ganze Reihe sozialer Praktiken einher.23 Dazu gehörten zum Beispiel die Wasserauktionen, bei denen das Wasser durch den wakir verteilt wurde und zugleich Gemeindegelder eingenommen wurden. Der Zugang zum falaj war ebenfalls Anzeiger sozialer Hierar­chien, privilegierte Familien besaßen Häuser, die näher am Wasser gelegen waren oder sogar private innere Zugänge zum falaj enthielten, wodurch unter anderem ein Mehr an Privatsphäre gewährleistet wurde.24 Der Auszug aus den Siedlungen In der omanischen Geschichtsschreibung kommt dem Jahr 1970 eine heraus­ragende Bedeutung zu. Und auch um den architektonischen Wandel, der sich im Oman seit den 1970er-Jahren vollzogen hat, verstehen zu können, ist ein Blick in die Entwicklungen jener Zeit lohnenswert.25 Bis 1970 war der Oman etliche Jahrzehnte lang in politischer und ökonomischer Hinsicht weitestgehend isoliert und auf sich be­ zogen. Doch mit der Machtübernahme von Sultan Qabus bin Sa‘id Al Sa‘id kam es zu einem wirtschaftlichen Aufschwung und einer Öffnung des Landes.26 Mit den Einnahmen aus der Erdöl- und Erdgasförderung gelang in wenigen Jahrzehnten der Aufbau einer modernen Infrastruktur und eines modernen Bildungs- und Gesundheitswesens. Die „Zäsur 1970“ zeigte sich jedoch nicht nur im politischen und wirtschaftlichen Bereich, auch die Städteplanung und die Architektur im Oman sollten davon stark beeinflusst werden. Das Antlitz der Hauptstadt Maskat veränderte sich massiv: Hauptstraßen, Shoppingmalls und ein internationaler Flughafen prägen nun unter anderem die Stadt. Die Veränderungen hinsichtlich des Städtebaus und der Infrastruktur (dichter Automobilverkehr und ein ausgebautes Straßennetz) sind ebenso deutlich zu erkennen. Verlässt man die Hauptstadt und begibt sich auf den Überlandstraßen ins Landesinnere, fällt eine starke Zersiedelung von vormals dichten Ortschaften auf. Im Zentrum dieser Prozesse steht aber vor allem der Umstand, dass die traditionellen Wohnsiedlungen im Zuge der beschriebenen Modernisierung des Landes aufgegeben und stattdessen neue, „moderne“ Häuser aus Beton errichtet wurden.

22 

Siehe dazu: http://whc.unesco.org/en/list/1207 (letzter Zugriff am 21. 10. 2021). Bonnenfant u. a.: Architecture (wie Anm. 17), S. 110–113. 24  Christine Eickelman: Women and Community in Oman. New York/London 1984, S. 49. 25  Mandana E. Limbert: In the Time of Oil. Piety, Memory, and Social Life in an Omani Town. Stanford 2010, S. 4. 26 Eine Überblicksdarstellung der modernen omanischen Geschichte findet sich beispielsweise bei Jeremy Jones/Nicholas Ridout: A History of Modern Oman. Cambridge 2015. 23 

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Es lohnt an dieser Stelle, noch einmal genauer über die Ursachen der Auszüge aus den traditionellen Siedlungen nachzudenken. Denn allzu schnell wird dabei ein anonym bleibender Modernisierungsprozess angeführt, dem dann quasi automatisch die Auszüge gefolgt seien. Tatsächlich aber lassen sich eine Reihe von ganz konkreten Momenten benennen, die das Geschehen in seinem Ablauf durchaus komplexer erscheinen lassen. Einerseits wurden die Auszüge sicherlich dadurch begünstigt, dass jede/jeder Omani Anrecht auf ein Stück Land zum Bau eines eigenen Hauses zugesprochen bekam.27 In der Literatur wird diese Regelung oft als einer der Gründe dafür angesehen, dass sich weitreichende Veränderungen in Bezug auf das Wohnen der Omanis ab 1970 beobachten lassen.28 Was sich sicher feststellen lässt, ist ein durch die Landverteilung entstandener „Urban Sprawl“29, also eine Zersiedelung des Landes und das verstärkte Aufkommen von Reihenbauweise in den neuen Siedlungen. So überzeugend diese Argumention ist und so wichtig dieser Umstand war, so wenig taugt er aber doch als alleinige Erklärung für das Verlassen der alten Siedlungen. Denn vermutlich wird eine solche Regelung und die Aussicht auf den Bau eines eigenen und größeren, damit aber auch teureren Hauses erst vor dem Hintergrund einer gewissen Unzufriedenheit mit den bisherigen Lebensverhältnissen verlockend. Martin Devecka argumentiert ähnlich, wenn er darauf verweist, dass etwa allein der Verweis auf stattgefundene Naturkatastrophen selten als alleinige Erklärung für das Verlassen von Städten ausreicht: „[C]atastrophe at most provides a pretext for ruination, not a cause. Citizens may respond to di­ saster by abandoning their city, but that’s only one possibility among many.“30 Die Modernisierung des Oman und die neuen gesellschaftlichen und materialen Möglichkeiten können auch als plötzlich eintretende „Katastrophe“ angesehen werden, wobei damit aber keineswegs klar war, in welche Richtung die Wahr­ nehmung und Verarbeitung dieser neuen Verhältnisses seitens der omanischen Bevölkerung gehen würde. Die gesellschaftlichen Veränderungen und neuen Handlungsmöglichkeiten müssen also auf Wahrnehmungen der Siedlungen getroffen sein, die diese wenigstens punktuell als unzureichend erscheinen ließen. Zwar besteht hier noch umfangreicher weiterer Forschungsbedarf, doch schon vor dem Hintergrund bis­ 27 Die verschiedenen „Royal Decrees“ zum „Land Entitlement System“ sind aufgeführt beispielsweise bei Khalfan al-Shueili: Towards a Sustainable Urban Future in Oman: Problem & Process Analysis. Muscat as a Case Study. Ph.D. thesis University of Glasgow 2015. Vgl. dazu auch Al-Belushi: Heritage (wie Anm. 11). Al-Belushi weist darauf hin, dass die einfachen kleinen Häuser der lokalen Bevölkerung in den 1980er- und 1990er-Jahren nicht durch das „Ministry of Heritage and Culture“ gelistet wurden, obwohl das „National Heritage Protection Law“ von 1980 explizit festlegt, dass verschiedene Gebäudegruppen geschützt werden sollen. 28  Vgl. unter anderem Eickelman: Women (Anm. 24), S. 229. Hier wird der Auszug aus Al-Hamra mit der Landvergabe und den in der Folge entstehenden Neubauten erklärt. In anderen Darstellungen wird stärker auf die Auswirkungen der Gesetzgebung eingegangen. Siehe dazu unter anderem Scholz: Muscat (wie Anm. 15). 29  Al-Shueili: Future (wie Anm. 27), S. 268. 30  Devecka: Cities (wie Anm. 3), S. 4.

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heriger Arbeiten31 kann festgehalten werden, dass sich solche Unzufriedenheiten einerseits auf die familialen Lebensverhältnisse bezogen haben. Die Häuser boten in den meisten Fällen wenig Raum für die Einzelnen, zudem wenig Orte des Rückzugs und private Bereiche. Die Möglichkeiten waren begrenzt, sich als Familie beziehungsweise Haus von anderen Häusern zu separieren; die Siedlungen ­waren insgesamt sehr dicht bebaut. Doch daneben waren andererseits auch die weitreichenden städteplanerischen Maßnahmen und die infrastrukturellen Veränderungen in der Hauptstadtregion Maskat maßgeblich für die Entwicklung der Lehmziegelsiedlungen. Mit dem Ausbau Maskats zur „Muscat Capital Area (MCA)“ und dem sich herausbildenden Zentrum für sämtliche Verwaltungsbelange, verlagerte sich für viele Omanis der Lebensmittelpunkt in die Hauptstadt. Darüber hinaus kann die Umstellung von Landwirtschaft auf kommerziellen Handel als ein Faktor angesehen werden, durch den sowohl die Siedlungsstruktur als auch die generelle Nutzung der Siedlungen beeinflusst wurden. So heißt es bei Scholz: „Die Ab­wanderung aus den traditionellen Wohnquartieren war die Folge und in einigen Oasen derart ausgeprägt, dass sie den Fortbestand der alten Bausubstanz gefährdete. […] Neben den alten Siedlungen bildeten sich auf diese Weise neue Viertel, denen mehr und mehr alle zentralen Funktionen zuwuchsen und sich die Wohnbevölkerung zuwendete.“32 Als Ursachen werden hier der Neubau von In­ frastruktur wie Krankenhäusern und Schulen an den neuen Überlandstraßen, die die Siedlungen an die Hauptstadt anbanden, genannt. Neben diesen Konstellationen kamen seit den 1970er-Jahren zugleich neue materiale Möglichkeiten auf, die mit den Gegebenheiten in den Siedlungen kollidierten. Dies betrifft etwa neue technische Ausstattungen, aber nicht zuletzt auch Auto­mobile. Ein Befahren der alten Siedlungen war undenkbar, weil die Bebauung dort zu eng war; zugleich nahm die Zahl von Autos und der Ausbau von Straßen außerhalb der bestehenden Siedlungen rasant zu. Die Siedlungen waren nun eben nicht mehr nur Ausdruck von Lebensverhältnissen, sondern auch von Begrenzung; sie brachten sich (über ihre Restriktionen und Eigenheiten) selbst ins Spiel, erwiesen sich jedoch am Ende als Verlierer der Veränderungsprozesse. In jedem Fall wird es vor diesem Hintergrund plausibel, dass der Auszug aus den Siedlungen als ein schrittweiser Prozess ablief und keineswegs von Beginn an feststand. So wurde anfänglich versucht, die alten Häuser mit Zement auszu­ bessern, Klimaanlagen einzubauen, Stromleitungen über Putz anzulegen oder Wasserleitungen über Tanks auf den Dächern hinzuzufügen; die Überreste solcher Umbauten sind auch heute noch vielerorts sichtbar (Abb. 4).33 Während vor 1970 die Instandhaltung oder Ausbesserung der Häuser nur mit den ursprünglichen

31 

Vgl. Ray Harris: Remote Sensing of Agriculture Change in Oman. In: International Journal of Remote Sensing 24 (23) (2003), S. 4835–4852; Belqacem Mokhtar: Urban Sprawl and City Vulnerability: Where Does Muscat Stand? In: Yassine Charabi (Hg.): Indian Ocean Tropical Cyclones and Climate Change. Dordrecht 2010, S. 233–243. 32  Scholz: Muscat (wie Anm. 13), S. 116. 33  Vgl. Eickelman: Women (wie Anm. 24), S. 44.

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Abbildung 4: Kabelinstal­ lationen auf verlassenen Lehmbauten im Jahr 2020; Foto: Thomas Schmidt-Lux.

Baumaterialien erfolgen durfte,34 lassen sich seit 1970 Zementerneuerungen in großem Umfang finden. Eickelman betont, dass besonders Nichtstammesführer und -führerinnen direktes Interesse an Zementhäusern außerhalb der alten Siedlung zeigten, während in der Siedlungsstruktur einflussreiche Haushalte zuerst eher an ihren Häusern festhielten und diese restaurieren und ausbauen ließen. Grund hierfür sind sowohl der mit dem Gebäude einhergehende gesellschaftliche Status und die privilegiertere Lage dieser Lehmziegelhäuser am falaj als auch die Tatsache, dass sich diese Einwohner und Einwohnerinnen solche kostspieligen Reparaturen der vernakulären Architektur leisten konnten.35 Doch die Bemühungen der Bewohnerinnen und Bewohner zur Erhaltung und Modernisierung der Häuser sollten bald an ihre Grenzen stoßen. So war beispielsweise die Kombination von alten und neuen Materialien, etwa von Lehm und ­Zement, nicht praktikabel, oder die vorgenommenen Umbauten führten nicht zu 34  35 

Scholz: Muscat (wie Anm. 13), S. 116; Eickelman: Women (wie Anm. 24), S. 230. Eickelman: Women (wie Anm. 24), S. 230 f.

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nachhaltigen Verbesserungen. Die Erhaltung der Lehmziegelbauten wurde durch den Mangel an Fachkräften, die noch mit der vernakulären Bautradition vertraut waren, und die Unzugänglichkeit der Siedlungsstruktur für den Autoverkehr teurer und umständlicher und zog so viele Einwohner und Einwohnerinnen in neu errichtete Zementbauten außerhalb der Lehmziegel-„Altstadt“.36 Schließlich wurden die allermeisten der Siedlungen und Häuser verlassen und sich selbst überlassen. Zur Lagerung landwirtschaftlicher Erzeugnisse, aber auch als Abstellmöglichkeiten für Alltagsgegenstände, die zu einem späteren Zeitpunkt wieder Verwendung finden konnten, wurden die Siedlungen vereinzelt weiter genutzt. Ebenso dienten sie landwirtschaftlichen Arbeitern und Arbeiterinnen oder Gastarbeitern und Gastarbeiterinnen als temporärer Wohnraum. Die Siedlungen wurden zwar verlassen, die Bevölkerung zog aber in vielen Fällen nur „neben“ die alte Siedlung in einen schrittweise neu errichteten Stadtkern. In manchen Fällen gehen Alt- und Neustadt direkt ineinander über, in anderen liegt die verlassene Siedlung abseits. Stammesstrukturen blieben über den Auszug hinaus zwar teilweise bestehen (unter anderem über Nachnamen, die Stammeszugehörigkeit zeigen), in den neuen Siedlungen bot sich allerdings auch ein Poten­ zial für sozialen Aufstieg und den Aufbruch alter Strukturen.37 Dazwischen und Neuansätze Die ehemals bewohnten Lehmziegelsiedlungen im Oman sind heute weitestgehend verlassen, unabhängig von ihrer vormaligen Struktur und ihrem Status; das Wohngeschehen spielt sich nun in neu gebauten Siedlungen und Häusern ab. Der Oman ist damit Schauplatz einer vergleichsweise hohen Zahl von Orten, die als lost cities gelten können. Da sie weiterhin – ohne fortwährende Sanierung – den spezifischen Witterungsbedingungen ausgesetzt bleiben, schreitet der Verfall der Siedlungen weiter voran. Dies liegt vor allem an den oben bereits beschriebenen Baustoffen und Materialien, die bei ihrer Errichtung Verwendung fanden. Mitunter lagern sich neue, eher zeitgenössische Materialitäten an den Siedlungen an: Reste von Verpackungen, alte Gebrauchsgegenstände, Müll. Dies geschieht vor allem dort, wo die verlassenen Siedlungen temporär, etwa als abgelegene abendliche Treffpunkte genutzt werden, oder wo sie nahe der neuen Siedlungen noch immer erreichbar sind und dazu dienen, ungenutzte Dinge abzulegen. Viele der verlassenen Häuser sind damit auch keine „reinen“, gut konservierten Ruinen, sondern Schauplätze von An- und Überlagerungen, was das Erkennen vormaliger Strukturen und Nutzungen erschwert. Einerseits sind viele der Siedlungen wirklich verlassen und an einem „Ende ­ihrer Geschichte“ angekommen. Gerade für neu Hinzukommende ist schon jetzt nicht mehr klar, was diese Siedlungen einmal waren und was ihren jetzigen Status ausmacht. Man sieht das vor allem an den Orten, in denen die Baustrukturen noch 36  37 

Ebd., S. 42, S. 228 f. Ebd., S. 232.

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relativ gut erhalten sind. Wenn beispielsweise Touristinnen und Touristen in diese Siedlungen geraten, ist ihnen weitgehend unklar, womit sie es zu tun haben, ­weshalb hier niemand mehr wohnt. Es wird noch einmal deutlich, dass sich die Siedlungen in einem Zustand befinden, der weitgehend deutungsoffen ist. Zwar machen die Orte selbst Deutungsangebote. Gerade über ihre Materialität und ­ihren jetzigen Zustand lassen die Orte durchaus erkennen, einmal intakt gewesen zu sein und in gewisser Weise auch schnell wieder sein zu können. Zugleich wird aber auch ersichtlich, dass sie im Moment eben nicht bewohnt sind, ohne dass ein Grund dafür erkennbar wäre. Diese Konstellation, eben ihr nicht-institutionalisierter Status, produziert eine spezifische Deutungsoffenheit und Unschärfe dieser Orte. In den Augen von Touristinnen und Touristen evoziert dies durchaus auch Wahrnehmungen der Orte als unheimlich und beängstigend; die Ruinen strahlen hier (noch) nicht die ihnen von Georg Simmel zugeschriebene Ruhe und besinnliche Stimmung aus.38 Schaut man darüber hinaus aber noch einmal genauer auf die verlassenen Siedlungen, wird andererseits erkennbar, was wir oben bei der Vorstellung des Prozessmodells bereits einmal genannt haben: Keineswegs ist es zwingend, dass der Zustand des Verlassen-Seins unumkehrbar ist. Prinzipiell ist dies vielmehr ein ­Status, der sich ändern kann, in welcher Form auch immer. Solche Ansätze von Neuanfängen sind auch an manchen der omanischen Siedlungen beobachtbar. Sie ­können ganz handlungspraktischer Art sein und sich in spezifischen Praktiken in den Siedlungen, wie zum Beispiel touristischen Angeboten, manifestieren, oder sie sind eher als neue Deutungsversuche der Siedlungen erkennbar und damit vorrangig programmatischer Art. Ein Beispiel hierfür ist die Präsenz der Siedlungen in den familialen Erinnerungen. Denn offenkundig, darauf verweisen auch die Forschungen etwa von Birgit Mershen,39 haben die Bewohnerinnen und Bewohner zwar ihre vormaligen Häuser verlassen, doch nicht vergessen. Vor Ort existiert durchaus noch Wissen darüber, wer welches Haus besaß beziehungsweise noch immer besitzt. Daneben sind ortsspezifische Bezeichnungen (zum Beispiel für Ortsteile, Plätze, natürliche Besonderheiten etc.) durch familiale Erinnerungen noch erhalten.40 Bei unseren Feldforschungen wurde uns so etwa angeboten, durch eine der leerstehenden Siedlungen geführt zu werden, wobei die ehemalige Bewohnerin über ein sehr genaues Wissen darüber verfügte, wo ihre eigene Familie, aber auch andere Bewohner und Bewohnerinnen in den alten Siedlungsteilen wohnten und spezifische Verrichtungen tätigten. Mitunter sind weiterhin existierende Besitz­ 38  Vgl.

Georg Simmel: Die Ruine. In: ders.: Philosophische Kultur. Über das Abenteuer, die Geschlechter und die Krise der Moderne. Gesammelte Essais. Berlin 1983, S. 106–112. 39  Birgit Mershen: Unveiling the Past. The Role of Oral History in Understanding Oasis Devel­ opment. In: Buerkert/Schlecht (Hg.): Oases (wie Anm. 12), S. 60–63; dies.: Settlement Space and Architecture in South Arabian Oases. Ethnoarchaeological Investigations in Recently A ­ bandoned Settlement Quarters in Inner Oman. In: Proceedings of the Seminar for Arabian Studies 28 (1998), S. 201–213. 40  Vgl. Mershen: Past (wie Anm. 39).

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ansprüche daran erkennbar, dass die leerstehenden Häuser mit erneuerten Türen und Vorhängeschlössern gesichert sind. In familialen Erinnerungen sind die ḥārāt also durchaus lebendiger, als dies der reine Anblick der leeren Häuser vermitteln mag, und die nach wie vor bestehenden Bindungen (und auch Besitzverhältnisse) können durchaus Anknüpfungspunkte für Revitalisierungen – zumindest von Teilen – der Siedlungen sein. Konkret sind solche Erneuerungen auch schon beobachtbar. Ein Beispiel hierfür ist Bait-al-Safah, ein repräsentatives ehemaliges Wohnhaus in der alten Siedlung von Al-Hamra. Auch in Al-Hamra wurden die alten Lehmbauten zugunsten neu gebauter Stadtteile verlassen, die in unmittelbarer Nachbarschaft errichtet wurden. Seit einigen Jahren nun lassen sich in der verlassenen Siedlung aber unterschiedliche Aktivitäten feststellen, die in Richtung eines Erhalts wenigstens von Teilen der alten Bauten gehen. Bait-al-Safah etwa wurde im Zuge dessen als eine Art Museum hergerichtet, in dem alte omanische Wohn- und Lebens­weisen präsentiert werden. An einigen Hauswänden von Al-Hamra finden sich zudem offizielle Plaketten des omanischen Kulturministeriums, die auf den historischen Wert der Gebäude hinweisen. Im Fall von Bait-al-Safah und Al-Hamra findet die Revitalisierung somit als Musealisierung statt. Auch an anderen Orten wurden ähnliche Bemühungen gestartet, wobei teilweise versucht wird, ganze Siedlungen zu erhalten. Beispielhaft für diese Aktivitäten ist etwa der „Documentation and Heritage Management Plan“, der für das ḥārāt as-Saybani entstand. Dabei kommen auch internationale Akteure und Akteurinnen ins Spiel: In Zusammenarbeit von lokalen Initiativen und der Nottingham Trent University in Großbritannien wurden sowohl eine Bestandsaufnahme gemacht als auch Perspektiven für die ḥārāt entwickelt. Dieser wird ein „unique character“ bescheinigt, „which has been essential to document and preserve for future generations“.41 Ausführlich wird in dem Plan auf die städtebauliche und architektonische Bedeutung eingegangen, die sich am ḥārāt asSaybani aufzeigen lässt, zudem auf dessen historische und soziale Werte. Diese Bemühungen, die verlassenen Siedlungen aus dem Zustand eines being lost zu befreien, stehen jedoch nicht einfach nur nebeneinander. Mitunter sind durchaus Konflikte zwischen einzelnen Positionen und Plänen erkennbar, auch wenn diese (bislang) selten offen ausgetragen werden, sondern eher latent bleiben. Vordergründig geht es bei diesen Konflikten um die Frage, was mit den Siedlungen geschehen soll. Erkennbar sind dabei Differenzen darüber, wie etwa eine touristische Nutzung aussehen soll. Auf der einen Seite lassen sich dabei Positionen erkennen, die für eine durchaus offensive Nutzung der Siedlungen eintreten und dabei etwa eine begleitende Hotelbebauung und ähnliches befürworten (Abb. 5). Auf der anderen Seite stehen Positionen, die für eine sehr behutsame und eher auf 41 Soumyen Bandyopadhyay u.  a.: Documentation and Heritage Management for Hārat asSaybanī, Barkat al-Mawz Oasis. Nottingham 2011. Online zugänglich unter: https://www. archiam.co.uk/documentation-and-heritage-management-plan-harat-as-saybani-birkat-al-mawzoasis/ (letzter Zugriff am 20. 11. 2021).

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Abbildung 5: Wegweiser und Hinweisschilder in der renovierten Siedlung von Misfat al Abriyyin im Jahr 2020; Foto: Thomas Schmidt-Lux.

einen lokalen Tourismus abzielende Nutzung plädieren. Die Siedlungen sollen dabei keineswegs umgebaut, sondern primär erhalten und in ihrer derzeitigen Form konserviert werden. Im Zusammenhang mit solchen Abwägungen zur Nutzung der Siedlung geht es aber immer auch um die Frage, was diese Siedlungen eigentlich sind beziehungsweise wofür sie stehen sollen. Sind sie wertvoll oder nicht? War das Leben in ihnen gut oder nicht? Stehen sie exemplarisch für den zeitgenössischen Oman oder eher für seine als vormodern angesehene Zeit? Die beiden gegensätzlichen Posi­ tionen verdichten sich beispielsweise in einem Artikel im „Oman Observer“ aus dem Jahr 2017.42 Darin beschreibt der irische Fotograf und langjährige OmanKenner Clive Gracey eine Unterhaltung mit Studierenden. Nachdem er selbst die „subtle beauty“ und „minimal elegance“ der Lehmbauten gelobt habe, habe ihm 42 Clive

Gracey: Venerating Vernacular Architecture. In: Oman Daily Observer, 20. 11. 2017, ­ o nline zugänglich unter: https://www.omanobserver.om/article/68474/Features/veneratingvernacular-architecture (letzter Zugriff am 20. 11. 2021).

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ein Studierender entgegnet, dass aus der Sicht der Bewohner und Bewohnerinnen die Lebensqualität dort doch sehr eingeschränkt gewesen sei: kein Strom, kein Wasser, keine Sanitäreinrichtungen, und auch einmal eine Kuh im Erdgeschoss. Gracey selbst räumt solche widrigen Umstände durchaus ein. Zugleich jedoch wirft er seine Interpretation der Siedlungen in die Waagschale und betont dabei vor allem, wie oben schon angedeutet, ästhetische Aspekte, aber auch historische und ökologische Argumente, die für diese sprächen. Er bündelt seine Sichtweise schließlich in der Charakterisierung der Lehmbauten als „vernacular architecture“, was in einem Plädoyer für deren Erhalt mündet: „So rather than seeing such vernacular buildings as nothing more than outdated hovels that are rightly being consigned to oblivion, I would strongly argue that we should celebrate their uniqueness, their enormously long architectural antecedents and the ingenuity of their anonymous builders, who created adequately serviceable and austerely graceful structures out of what meager materials their environment offered.“ Viele der damit verbundenen Fragen können hier für den Moment nur auf­ geworfen werden und bedürfen weiterer Forschung. Die verlassenen Siedlungen entziehen sich zu einfachen Antworten, die etwa einen in die Moderne verliebten Oman in den Vordergrund stellen und damit das weitgehende Desinteresse an den lost cities erklären wollen. Sicherlich spielt zwar die Attraktivität als modern angesehener Lebens- und Wohnweisen eine wichtige Rolle beim Verständnis der Entwicklungen; unübersehbar sind aber auch Gegenbewegungen und Bemühungen, die Siedlungen zu erhalten. Vielmehr wird am Fall des Oman erkennbar, was vermutlich auch anderswo gilt: dass nicht alles einfach erhalten wird, sondern Ruinen sich immer erst als solche qualifizieren und durchsetzen müssen gegenüber ihrer Konkurrenz – und gegenüber der immer bestehenden Option, sie einfach sich selbst zu überlassen. In jedem Fall sollte deutlich geworden sein, wie dynamisch sich der Zustand des being lost bei manchen der omanischen Siedlungen gestaltet. Fraglos werden keineswegs alle der verlassenen Siedlungen restauriert oder auch nur konserviert; angesichts der hohen Zahl der ḥārāt werden vielleicht die meisten in einigen Jahrzehnten nicht mehr auffindbar sein. Einige jedoch, und dies ist von sehr vielen unterschiedlichen Faktoren abhängig, werden aber vermutlich aus dem Status der Liminalität wieder entlassen und in neue, institutionalisierte Verhältnisse überführt: als Museum, als restaurierte Ruine, als touristischer Ort, vielleicht auch als erneut modernisierte Wohnorte.

Fazit Die verlassenen Lehmziegelsiedlungen im Oman erweisen sich als in mehrfacher Hinsicht interessanter Fall. Dies wird vor allem vor dem Hintergrund des von uns skizzierten Prozessmodells deutlich. Erkennbar wird dabei, dass die Siedlungen zwar zweifellos verlassen und in dieser Hinsicht lost sind, über ihre ­Zukunft aber zugleich noch nicht abschließend entschieden ist. Vielmehr erscheint der

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Status als being lost als ein Dazwischen, als – im Sinne von Turner – ein Sein im Zustand der Liminalität. Dies gilt auf dreifache Weise: Erstens ist ihre Materialität in fortwährender Veränderung begriffen; der Lehm und andere verwendete Baustoffe werden abge­ tragen und ausgewaschen, die Siedlungen verlieren in dieser Weise fortwährend an Substanz. Zweitens verändert sich ihre Nutzung. Größtenteils sind die Häuser zwar verlassen und leer. Manche jedoch dienen eher informellen Aktivitäten, sei es als abendlicher Treffpunkt, als Müllhalde, aber auch als Speicherort für diverse Materialien. Je nach Bekanntheit und Lage der Siedlungen sind sie zudem Anlaufpunkt für Touristinnen und Touristen. Und nicht zuletzt entstehen immer wieder Initiativen, die sich der Wiederbelebung und dem Erhalt der Orte verschrieben haben. Damit hängen, drittens, die ebenfalls noch offenen Interpretationsprozesse der Siedlungen zusammen. Auch diese sind keineswegs abgeschlossen, ihr Ausgang ungewiss. Es existiert keine dominante, starke Erzählung zu den Lehmbauten; das ist Manko und Chance zugleich. Damit stellen die omanischen Siedlungen ein Arrangement dar, das sich von dem europäischer oder anderer lost cities (deutlich) unterscheidet. Denn keineswegs findet hier eine Romantisierung der Ruinen statt, sie werden nicht als Zeugnisse einer besseren Zeit aufgeladen. Vielmehr lässt sich ein „Leben mit verlassenen Städten“ beobachten, also eine weitgehende Normalisierung der verlassenen Bauten. Dies bildet eine Konstellation, die sich unterscheidet von Idealisierungen der Städte als intakten und bruchlosen Gebilden, die keine Lücken oder eben Ruinen aufweisen.43 Der Anblick von Ruinen ist in vielen der zentralomanischen Siedlungen allgegenwärtig, und weder lassen sich darauf bezogene Skandalisierungen, noch starke Problematisierungen feststellen. Doch, und auch darauf will das vorgeschlagene Modell hinaus, dies mag sich ändern. Die Änderungen können einerseits von den Ruinen selbst ausgehen, wenn etwa ihr prekärer Zustand und ihr fortwährendes Verschwinden deutlicher werden; dies könnte verstärkte Bemühungen auslösen, sie zu erhalten. Wahrschein­ licher sind aber wohl sich verändernde Rahmenbedingungen als Faktoren zu vermuten, die einen neuen Umgang mit den Siedlungen zur Folge haben könnten. So kann sich etwa ein verstärkter Flächenbedarf ergeben, gerade dort, wo die alten Siedlungen sich mit den Neubauten verschränkt haben. Es könnten sich zudem durch generationale Konstellationen neue Gruppen von Akteuren und Akteurinnen formieren, die einen ganz neuen Blick auf die Ruinen haben und sie als er­ haltenswürdig ansehen. Impulse sind ebenso aus Architektur und Bautechnik denkbar. So kann die Bauweise mit Lehm als traditional, zugleich aber angesichts klimatischer Veränderungen auch als höchst zeitgemäß angesehen werden, was wiederum die Lehmziegelsiedlungen in dieser Hinsicht vorbildhaft erscheinen lässt. Oder es ist eine Perspektive denkbar, die die Siedlungen stärker als einen spezifischen Teil omanischer Geschichte begreift und sie einordnet in größere Erzäh­lungen traditionaler, zugleich wehrhafter Lebensweise, und sie vor diesem 43 

Vgl. dazu Zimmermann: Lost cities (wie Anm. 4), S. 303 f.

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Hintergrund konserviert. All dies ist denkbar, aber offen. Es wird zu beobachten bleiben, ob die Siedlungen in der Phase des being lost verbleiben, oder ob sie tatsächlich eine Wiederbelebung und Neudeutung erfahren, die sie in einen neuen Status überführen.

Abstract The text examines the phenomenon of lost cities using contemporary phenomena as examples. Specifically, the following article deals with the case of abandoned mud-brick settlements in Oman, where hundreds of inland settlements have been given up in favour of new settlements and housing since the rapid modernization processes in the 1980s and 1990s. The abandoned settlements are now empty and largely without new function. Although they are now slowly decaying, they are still very present witnesses and indicators of an immediate past that has yet to be interpreted. We want to combine the analysis of this case with systematic considerations that go beyond the case of Oman. For this reason, at the beginning of the text, we develop the main features of a process model that should make it possible to take a closer look at the ‘careers’ of lost cities.

Daniel Monterescu/Moriel Ram Von verlorenen und wiedergefundenen Städten: Das soziale Leben von Ruinen in Israel/Palästina von 1882 bis zur Gegenwart „Wenn man darüber nachdenkt, wenn man Jude und Palästinenser nicht getrennt voneinander denkt, sondern als Teil einer Symphonie, dann hat das etwas wunderbar Imposantes. Man sieht sich dann einer Art erhabener Größe gegenüber, der Größe einer Serie von Tragödien, Verlusten, Opfern und Schmerzen, um die zu verstehen man den Geist eines [Johann Sebastian] Bach brauchen ­würde. Es würde die Vor­ stellungskraft von jemandem wie Edmund Burke ­erfordern, um sie zu ergründen.“  Edward Said (2001)*

Einleitung: Vertreibung, Erinnerung, Rückkehr Städte sind sowohl Speicher für Erinnerungen als auch materielle Netze sozialen Handelns und politischer Gewalt, welche die Entstehung immer neuer Ruinen bewirken. Der Drang der Menschen der Moderne zu bauen, wird nur von ihrer Fähigkeit übertroffen, Dinge abzureißen und Abfall zu produzieren.1 Angefangen bei der Ästhetik, welche archäologische Überreste haben, kann der Abriss von Bauten als ein kontinuierlicher Prozess verstanden werden, der seine eigene Bedeutung hat. Ruinen in Städten verstärken die Macht von Gentrifizierung und ­Slumräumungen, die die Straßen von den sie hartnäckig bewohnenden „Anderen“ säubern – virtuell und konkret, tot oder lebendig. Neben den vorherrschenden Gemeinplätzen wie „Erneuerung“, „Aufbau“ und „Entwicklung“ tauchen im populären wie im wissenschaftlichen Diskurs auch immer wieder die Denkfiguren des „Leerstands“, der „Verlassenheit“ und der „Verwahrlosung“ auf.2 In den letzten Jahrzehnten sind sowohl städtische als auch ländliche Landschaften – vom sich rasch industrialisierenden China über das postsozialistische Europa bis hin

*  Edward W.

Said: „My Right of Return“. In: Power, Politics and Culture. Interviews with Edward Said. Hg. von Gauri Viswanathan. New York 2001, S. 447. 1  Zygmunt Bauman: Liquid Modernity and Beyond. Cambridge 2000. Der Beitrag wurde von Henry Heitmann-Gordon, dem ein herzlicher Dank gebührt, aus dem Englischen ins Deutsche übersetzt. 2  Ann Laura Stoler: Imperial Debris: Reflections on Ruins and Ruination. In: Cultural Anthropology 23 (2008), S. 191–219; Ghassan Hage: States of Decay. In: ders.: Decay. Durham 2021, S. 1–17; Tong Lam: Abandoned Futures. A Journey to the Posthuman World. Washington 2013. https://doi.org/10.1515/9783111071848-016

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zu den postindustriellen USA – mit beachtlichen Ruinen übersät, mit Spuren vergangenen Lebens und vergangener Pläne. In diesem Beitrag werden Ruinen als mehrdimensionale öffentliche, soziale und kulturelle sowie mit Problemen behaftete Phänomene betrachtet, um die politische Aufladung und das soziale Leben von innerstädtischen Ruinen als Trümmern der Geschichte zu untersuchen. Wir schlagen eine vergleichende, interdisziplinäre Perspektive vor, mit der Ruinen als soziale Tatsachen, Bilder und Allegorien zu fassen sind. Als Bilder projizieren Ruinen die unruhige Ästhetik des modernen Lebens, unerfüllte Versprechen und apokalyptische Fantasien, aber auch das beruhigende Gefühl zivilisatorischer Kontinuität und kultureller Zeittiefe. Als ­ ­Allegorien beschwören Ruinen die unheimliche Dimension der gesellschaftlichen Vergangenheit, ihre selbstzerstörerischen Tendenzen und Untergangsprophezeiungen sowie die unerfüllten Versprechen der sozialistischen und kapitalistischen Modernen. Als soziale Tatsachen erscheinen Ruinen als Sanierungsobjekte für Stadtplaner sowie als Spielplätze und Orte der Nostalgie für Künstler und Abenteurer. Während sich ein Großteil der Forschung zu Israel und Palästina auf Grenzen, Pioniere, Siedler und Bauern konzentriert, also Elemente, die oft mit dem Begriff der Nation assoziiert werden, richten wir unsere kritische Aufmerksamkeit auf Städte und insbesondere auf Städte, die in Vergangenheit und Gegenwart umkämpft sind. Unsere Fallstudien beziehen sich auf Jaffa und Hebron, zwei Städte in Israel/Palästina, in denen sich urbane Überreste von Slumräumungen, Erinnerungen an vergangene Massaker und koloniale Siedlungen neben gentrifizierten Stadträumen und für den touristischen Konsum wiederhergestellten und rehabilitierten historischen Vierteln finden.3 Ausgehend von der allgemeinen Antinomie von Schöpfung und Zerstörung argumentieren wir, dass diese Stadtformen ein Licht auf das werfen, was wir als „Modalitäten der Ruine“ bezeichnen: ein Kon­ tinuum von apokalyptischen Dystopien bis hin zu nostalgischen Utopien von Rückkehr und Erlösung. In Jaffa, einer ehemals palästinensischen Stadt, die zu einem Vorort von TelAviv geworden ist, wird die unheimliche Reinkarnation des Verlusts von Palästinensern oft als „Zombie-Urbanismus“ bezeichnet. Während sie von einer Stadt sprechen, die gleichzeitig lebendig und tot ist, betrachten viele Juden sie als ­Beispiel für eine Form der Erneuerung und Wiederentdeckung.4 Der Fall von ­Hebron bietet ein anderes Beispiel für städtische Ruinen, die von jüdischen Siedlern als Räume der Expansion und von palästinensischen Bewohnern als Orte des Widerstands genutzt werden. Folglich ist die Stadt einem ständigen gewaltsamen Prozess der Zerstörung und Wiederherstellung unterworfen. In beiden Fällen werden Ruinen nicht nur als Speicher der Erinnerung, sondern auch als Landschaften sichtbar, die ein Netz von Verbindungen zwischen mensch3 

Daniel Monterescu: Jaffa Shared and Shattered. Contrived Coexistence in Israel/Palestine. Indiana 2015; Chiara de Cesari: Heritage and the Cultural Struggle for Palestine. Stanford 2019. 4 Daniel Monterescu/Haim Hazan: Twilight Nationalism. Politics of Existence at Life’s End. Stanford 2018, S. 234.

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lichen Akteuren und materiellen Dingen schaffen, das die Rückkehr des Verdrängten in die Stadt ermöglicht. Indem er die Bedrohung durch Auslöschung, Verfall und Tod sichtbar macht, gräbt dieser Beitrag sozusagen die Trümmer der Geschichte aus, die durch die Lawine des Fortschritts und der nationalistischen Expansion verschüttet wurden. Wir untersuchen, wie Ruinen als Symbole für Transgression und Telos, Trauma und Wiederbelebung fungieren und wie verlorene Städte mit sozialer und kultureller Bedeutung aufgeladen werden. Wir betonen ferner, dass die Diskussion über städtische Ruinen unvollständig bleibt, wenn man Ruinen nicht als einen Ort aktiver Dynamik von Verlust und Wiederherstellung betrachtet. Wie wir zeigen werden, sind Jaffa und Hebron aber auch mehr als ein Palim­p­ sest von Ruinen, in dem Schichten von materiellen Trümmern, Erinnerungen und Fantasien verwoben sind, bestehend aus antiken archäologischen Überresten bis zu kürzlich abgerissenen Häusern. Wir stellen vielmehr die Hypothese in den Raum, dass Jaffa und Hebron verschiedene Positionen in einem Ruinenspektrum zugewiesen werden können, in dem sich Narben und neues Gewebe abwechseln. Einerseits werden wir die Ruinen im Raum dieser Städte als Narben der städtischen Kriegsführung analysieren, die Spuren von Gewalt, Unterdrückung und Vernachlässigung darstellen. Andererseits schlagen wir vor, die Ruinen der Stadt, in denen und mit denen die Menschen wohnen, leben und handeln, zugleich als lebendiges Gewebe zu betrachten. Indem wir die Merkmale der Ruinen berücksichtigen, die sich aus ihrer materiellen Gestalt, ihrer sinnlichen Erfahrbarkeit und ihrer über das Repräsentative hinausgehenden Realität ergeben, betrachten wir Ruinen nicht nur als eine Ansammlung von Trümmern, sondern vielmehr als Teil dessen, was Hebron und Jaffa in einen permanenten Zustand des politischen Werdens versetzt: in einen Zustand zwischen Verlust und Wiederherstellung, zwischen Gewalt und Widerstandsfähigkeit, Zerstörung und Aufbau.

Methode und Theorie Wenn man in ethnonational gemischten Städten eine sozialwissenschaftliche Unter­suchung vornimmt, sollte man sich bewusst sein, dass in solchen Orten ein ­reiner methodologischer Nationalismus nicht greift.5 Solche Gemeinschaften sind ähnlich wie Städte mit einer Bevölkerung, die zu großen Teilen aus Migranten besteht, mit den Kategorien des Nationalstaats nicht adäquat zu fassen. Anstelle von Orten, die die Logik des modernen Staates auf die städtische Ebene projizieren, können die von uns untersuchten verlorenen Städte als historische, sozio-räumliche Konfigurationen charakterisiert werden, die sich von ethnisch-konfessionellen Gemeinschaften (millets) zu modernen, national definierten Räumen entwickelt 5 

Ulrich Beck: The Cosmopolitan Condition. Why Methodological Nationalism Fails. In: Theory, Culture & Society 24 (2007), S. 286–290; Andreas Wimmer: Nationalist Exclusion and Ethnic Conflict. Shadows of Modernity. Cambridge 2002.

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haben.6 Unter osmanischer, britischer und israelischer Herrschaft bildeten sie sich allmählich zu einer eigenständigen Stadtform aus, die dialektische städtische Begegnungen von unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen und ihre Konflikte mit­ einander symbolisch repräsentiert und gleichzeitig reproduziert. Der Beitrag stützt sich auf verschiedene Methoden, um das soziale Leben von Ruinen, aber auch Zerstörung und Verlust zu untersuchen: Archivmaterial in arabischer und hebräischer Sprache aus lokalen, israelischen, palästinensischen und europäischen Archiven, jüdische und palästinensische Medien, Interviews und Lebensgeschichten von Aktivisten und Bewohnern, teilnehmende Beobachtung und Ethnografie von Schlüsselereignissen und Mobilisierungen, kartografische Analysen, die den Weg der Zerstörung anhand von Luftaufnahmen, Architektur und Stadtplanung nachzeichnen, sowie Darstellungen von Verlusterfahrungen in der bildenden Kunst und Poesie. Diese Kombination von Methoden ermöglicht es uns, den israelisch-palästinensischen Fall mit anderen Prozessen der Kommerzialisierung und Ghettoisierung von Ruinen sowie mit anderen Fällen umstrittener materialer Erinnerungskultur zu vergleichen. Ein wichtiger Teil des neuen Ruinendiskurses ist den imperialen und kolonialen Kontexten gewidmet. Ann Laura Stoler bezeichnet etwa imperiale Ruinen als „die tief gesättigten, weniger spektakulären Spuren, die Kolonialismen hinterlassen“, und verweist auf den aktiven Prozess der Ruinenbildung, der dazu dient „die Gegenwart in den umfassenderen Strukturen der Verwundbarkeit, Beschädigung und Verweigerung neu zu positionieren, die imperiale Formationen aufrechterhalten“.7 Das Studium von Ruinen soll also nicht dazu dienen, sie als bloße lieux de mémoire zu überhöhen, sondern vielmehr als Beleg für das positionieren, „was den Menschen bleibt“. Stoler fordert uns damit auf, zu untersuchen, wie städtische Trümmer Teil einer unvollendeten Geschichte werden. Ruinen und ihre Erzeugung sind untrennbar mit der Welt der israelischen Siedlerkolonien verbunden. Sie stehen für die konkreten Zerstörungen, die durch ­Besiedlung und Auslöschung entstanden sind, aber gleichzeitig verkörpern sie greifbare Erinnerungen an die ausgelöschte Vergangenheit. Mit anderen Worten, sie werden sowohl zu Ruinen (das heißt zu Repräsentationen von Gewalt und Zerstörung) als auch zu Reliquien (das heißt zu materiellen Überbleibseln mit hohem symbolischen Wert und zahllosen Bindungen). Letztere können nicht nur als Beweis für die Vergangenheit der vormaligen Bewohner dienen, sondern auch mit dem Legitimationsregime in Verbindung gebracht werden, mit dem die Siedler ihr Dasein in der Kolonie rechtfertigen. Im Fall von Hebron werden materielle Überreste verwendet, um die gegenwärtige Kontrolle und Gewalt zu rechtfertigen, indem eine Verbindung zur jüdischen Geschichte hergestellt wird, während andere

6  Daniel Monterescu/Dan Rabinowitz: Mixed Towns, Trapped Communities. Historical Narratives, Spatial Dynamics, Gender Relations and Cultural Encounters in Palestinian-Israeli Towns. Aldershot 2007. 7  Ann Laura Stoler: Imperial Debris. Durham 2013, S. X.

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Überreste von den Palästinensern als Beweise für ihre Standhaftigkeit in dem besetzten Gebiet präsentiert werden. Als „Struktur, nicht als Ereignis“ besteht das eigentliche Ziel des Siedlungs­ kolonialismus darin, eine neue Heimat für die Siedler zu schaffen und damit die Koloni­sierten aus ihren eigenen Häusern zu vertreiben und sie als die legitimen „Einheimischen“ des Ortes zu ersetzen.8 Der Siedlungskolonialismus ersetzt den „klassischen“ kolonialen Imperativ der Nötigung und Ausbeutung der alteingesessenen Bewohner und der Ressourcen der Kolonie (bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung institutioneller und emotionaler Bindungen an die Heimatstadt) durch den Imperativ, eine neue Heimat für den Kolonisator auf dem Gebiet der Kolonisierten zu schaffen. Es handelt sich also um eine politische Form des gewaltsamen Wohnens: die Schaffung eines Heims für den Kolonisator ist gleichzeitig eine Zerstö­rung dessen für die Kolonisierten.9 Sowohl konkret als auch metaphorisch gesprochen ist der Siedlungskolonialismus also ein Akt des Wohnens in entvölkerten Häusern, Orten der Zerstörung oder Landschaften des Ruins. Die dem Siedlungskolonialismus zugrundeliegende Logik erklärt die Bedeutung von Ruinen und Verwüstungsprozessen nicht nur als Zeichen von Gewalt und Kontrolle, sondern vielmehr als eine imaginäre „Regeneration“ und als „Heimnahme“ für den Kolonisator.10

Urbanität im Nahen Osten und darüber hinaus Studien zum Städtebau des Nahen Ostens fußen traditionell auf einem begrenzten Repertoire an stereotypen Themen, von denen viele Kategorien wie „Alter“, „Enge“ und „Religiosität“ betonen.11 Vorstellungen von der Altstadt, der um­ mauerten Stadt, der Kasbah, dem Viertel der einheimischen Bevölkerung und der Medina, die manchmal im Begriff der „islamischen Stadt“ zusammengefasst ­werden, sind Teil der langjährigen Faszination westlicher Wissenschaft für diese Region. Eingeschrieben in emblematische „heiligen Städte“ wie Jerusalem, Mekka oder Nadschaf wird der urbane Raum des Nahen Ostens in hohem Maße mit dem „Heiligen“ assoziiert, wobei mystische Visionen und die Annahme einer gewalttätigen Eschatologie- und Erlösungslogik in der Regel nicht fehlen.12 Diese Darstellungen sind, wie alle Stereotypen, analytisch belastend. Durch die Betonung der Authentizität und einer damit einhergehenden kulturellen Autochthonie führt ihre Anschaulichkeit oft zu einer Essentialisierung und damit in eine theoretische  8  Patrick

Wolfe: Settler Colonialism and the Elimination of the Native. In: Journal of Genocide Research 8 (2006), S. 387–409.  9  Ariel Handel/Hagar Kotef: Settler Colonialism and Home. In: Paolo Boccagni (Hg.): Handbook on Home and Migration. Northampton 2023, S. 158­–169. 10  Hagar Kotef: The Colonizing Self. Durham 2021. 11  Monterescu/Rabinowitz: Mixed Towns (wie Anm. 6). 12  Susan Slyomovics: The Walled Arab City in Literature, Architecture and History. The Living Medina in the Maghrib. London 2001.

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Sackgasse. Die gegenwärtig hervortretenden urbanen Konfigurationen der Städte des Nahen Ostens werden daher nicht nur oft mit Begriffen wie „Stagnation“, „Traditionalismus“ und „Rückständigkeit“ verschleiert, sondern häufig grundsätzlich falsch eingeordnet.13 Wir widersetzen uns solchen binären Oppositionen und orientalistisch-manichäischen Konzeptualisierungen und konzentrieren uns stattdessen auf die Bewegung weg vom enteigneten urbanen Raum und zurück zur zurückgewonnenen Stadt. Wir vertreten die These, dass diese Städte Ausdruck machtvoller nationalistischer und anhaltender kolonialer Verdrängung sind und sich gleichzeitig aktiv dagegen wehren. Durch die Untersuchung der demografischen Diversifizierung, des geografischen und kulturellen Wachstums, der interkommunalen Beziehungen, der städtischen Kunst und der Erinnerungskulturen rekonfiguriert unsere Analyse die soziokulturelle Geschichte dieser Stadtform unter dem Blickwinkel von Verlust und Wiederbelebung, Exil und Rückkehr.

Von Ruinen zum Ruin in Palästina/Israel Die Städte in Israel/Palästina entstanden aus der hybriden Überlagerung des alten konfessionell strukturierten osmanischen Stadtregimes und der neuen nationalen, modernisierenden und kapitalistischen Ordnung (sowohl der palästinensischen als auch der zionistischen). Die auf diese Weise neu geformten und umgestalteten Städte Jaffa und Hebron bildeten ein fragmentiertes Amalgam aus Versatzstücken des osmanischen, britischen, palästinensischen und israelischen städtischen Erbes. Anstatt sie als essenzreine, ursprüngliche Entitäten zu betrachten, sehen wir sie mit Nezar al-Sayyad als sich entfaltende Manifestationen eines „hybriden Urbanismus“ – ein Konzept, in dem Elemente von Mimikry, unbewusstem Begehren und spannungsreichen Querverweisen zwischen Mehrheit und Minderheit, Kolonisator und Kolonisierten mitschwingen.14 Der Film „Lost Cities of Palestine“ (Al-Jazeera World, 2014)15 beginnt mit einer Erklärung voller Trauer und Verlustgefühlen: „Palästinensische Städte blühten auf, aber all das änderte sich 1948. Palästina ist mit der Gründung des Staates ­Israel von der Landkarte verschwunden. Eine ganze Lebensweise ging verloren. Palästinensische Städte wurden zerstört, um die Behauptung der Zionisten zu bestätigen, dass Palästina kein kulturelles Erbe habe. Die Tatsache, dass es in palästinensischen Städten kulturelle Aktivitäten gab, ist der beste Beweis für die Existenz eines palästinensischen Volkes in Palästina.“/(Minute 0.40). Der Schriftsteller Raef Zreik bringt die in diesem Filmzitat angesprochene Perspektive im Anschluss 13  Andre

Raymond: Islamic City, Arab City: Orientalist Myths and Recent Views. In: British Journal of Middle Eastern Studies 21 (1994), S. 3–18. 14  Nezar Al-Sayyad: Hybrid Urbanism. Westport 2001. 15 Der Film ist online zugänglich unter: https://www.youtube.com/watch?v=sT22bwJ55Sw (letzter Zugriff am 17. 10. 2022).

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ebenfalls auf den Punkt: „Palästinenser, die nach 1948 geboren wurden, wissen nicht, was sie verpasst haben. Wir merken erst, was wir verloren haben, wenn wir von Leuten Geschichten über Palästina vor 1948 hören. Wir haben nicht nur unsere Städte verloren, sondern auch unsere offene Beziehung zur arabischen Welt.“/ (Minute 2.05). Im Anschluss werden die palästinensische Erfahrung des Verlusts und das, was Stephen Graham und Nurhan Abujidi als „Urbizid“ bezeichnet haben, geschildert.16 Indem wir den Diskurs über den Verlust von Städten erweitern, versuchen wir, die jüdische und palästinensische Erfahrung historisch und kulturell einzuordnen. Auf den ersten Blick bewegen sich Palästinenser und Juden auf zwei parallelen und unvereinbaren Existenzebenen: Die jüdische Nationalgeschichte reicht von der Diaspora bis zur Einwanderung (Aliyah) und vom Holocaust bis zum Aufbau der Nation, während die kollektive Geschichte der Palästinenser als ein trauma­ tischer Übergang von den goldenen „Tagen der Araber“ (ayyam al-’Arab) zur ­nationalen Niederlage der Nakba („Katastrophe“) im Jahr 1948 wahrgenommen wird. Die darauffolgende Zeit der zivilen Ausgrenzung und wirtschaftlichen Marginalisierung wird als Phase des Widerstands (Muqawama) und der Standhaftigkeit (Sumud) dar­gestellt. Diese kollektiven Narrative sind diametral entgegengesetzt und erzählen einerseits eine Erfolgsgeschichte von Besiedlung, Fortschritt und Rückkehr (Shivat Zion) und andererseits eine Geschichte der Zerstreuung (Shatat), des Niedergangs und des mühevollen Kampfes. Auf dieser kollektiven Ebene besteht die Be­ziehung zwischen der israelischen und der palästinensischen Erinnerung primär in wechselseitiger Negation und gegenseitigem Ausschluss.17 Für die Palästinenser ist der Diskurs über die verlorenen Städte historisch und emotional mit dem Verlust der Souveränität in Städten wie Jaffa, Haifa und Lydda im Jahr 1948, aber auch in Jerusalem und Hebron nach 1967 verbunden. Die ­anhaltende Geläufigkeit einer Phrase wie die der „andauernden Nakba“ verweist auf den andauernden Prozess der Enteignung und die Hoffnung, diese Räume ­zurückzugewinnen. Die Diskussion über die Auswirkungen des Kriegs von 1948 markiert die Ruinen als politisches Ergebnis, als physische Präsenz und als soziale Tatsache, auf der das israelische Nationalprojekt beruhte und weiter beruht. Für israelische Juden hat die Denkfigur von Verlust und Wiederherstellung zwei Bedeutungen: 1.) Die Geschichte des Exils, die sich in der Sehnsucht nach der Heimat ausdrückt, die dem Zionismus vorausging und ihn ermöglichte, und 2.) das Bestreben, in die Städte zurückzukehren, aus denen die Juden vertrieben wurden, etwa im Ersten Weltkrieg von den Osmanen, aber auch nach Hebron und Jerusalem, die 1929 beziehungsweise 1948 verloren gingen. Ruinen sind also ein elemen-

16  Nurhan

Abujidi: Urbicide in Palestine. Spaces of Oppression and Resilience. London 2014; Stephen Graham: Lessons in Urbicide. In: New Left Review 19 (2003), S. 63–77. 17 Ilan Gur-Ze’evand/Ilan Pappé: Beyond the Destruction of the Other’s Collective Memory: Blueprints for a Palestinian/Israeli Dialogue. In: Theory, Culture & Society 20 (2003), S. 93–108; Susan Slyomovics: The Object of Memory. Arab and Jew Narrate the Palestinian Village. Philadelphia, PA 1998.

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tarer Bestandteil eines langwierigen Prozesses der Enteignung und Zerstörung, der das notwendige Material lieferte, mit dem und aus dem ein neuartiges nationales Projekt geschaffen wurde. Der Verlust als politische Gefühlsstruktur ist ein Leitmotiv in der Geschichte, die sich sowohl Palästinenser als auch Israelis über sich selbst erzählen. In Jaffa und Hebron werden Ruinen und Zerstörung mit dem Jahr 1948, mit der Unabhängigkeit Israels und der palästinensischen Nakba, in Verbindung gebracht; man konzentriert sich in der Regel auf die physischen Ruinen und ihre (Un-)Sichtbarkeit in der Gegenwart.18 Wie die aufschlussreichen Arbeiten von Noam Leshem zeigen, müssen wir jedoch auch untersuchen, was es bedeutet, in und neben Ruinen zu leben, und wie sie die Gegenwart dadurch heimsuchen können, dass sie abstrakte Erinnerungen hervorrufen und zugleich immer neue Bedeutungen annehmen. Wir wenden uns nun den spezifischen Modalitäten der Schaffung von Ruinen in Jaffa und Hebron zu.19 Während Jaffa, wie wir zeigen werden, einer extremen kapitalistischen Produktions- und Zerstörungslogik folgt, ist die Ruinenbildung in Hebron direktes Produkt eines aktiven kolonialen Siedlungsprojekts, das auf Auslöschung und Ersetzung abzielt.

Jaffa – „Die Braut Palästinas“ Jaffa wandelte sich – nach Jahrzehnten der wirtschaftlichen Entwicklung und des demografischen Aufschwungs – in den ersten Jahren der israelischen Staatlichkeit von einer arabischen Metropole zu einer jüdischen Einwande­rerstadt.20 Sie verlor ihren Status als autonome Kommune und wurde nach einer kurzen Zeit der Militärverwaltung an Tel-Aviv angegliedert. Die sogenannte „Braut des Meeres“, die unter osmanischer und britischer Herrschaft ein bedeutendes kulturelles und wirtschaftliches Zentrum gewesen war, verwandelte sich über Nacht in das berüchtigte und baufällige „Viertel 7“. Nachdem Jaffa nach dem Krieg zunächst als Aufnahmestätte für mehr als fünfzigtausend Einwanderer diente, wurde die Stadt bald als „Slum“ geringgeschätzt, in dem „die Anderen“ aus der „weißen Stadt“ lebten: Mizrachi-Juden, arme Einwanderer, unkontrollierbare Kriminelle und vor allem Araber. In Anlehnung an Loïc Wacquants Sozio­logie der Räume städtischer Marginalität war Jaffa „in eine schwefelige Aura gehüllt, in der sich soziale Pro-

18  Yfaat

Weiss: A Confiscated Memory. Wadi Salib and Haifa’s Lost Heritage. New York 2011; Noga Kadman: Erased from Space and Consciousness. Israel and the Depopulated Palestinian Villages of 1948. Bloomington, IN 2015. 19  Noam Leshem: Life after Ruins. The Struggle over Israel’s Depopulated Villages. Cambridge 2016. 20  Mark LeVine: Overthrowing Geography. Jaffa, Tel Aviv, and the Struggle for Palestine, 1880– 1948. Berkeley, CA 2005.

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bleme verdichten und eitern“ – eine Stadt „ganz unten im hierarchischen System der Orte, aus denen sich die Metropole zusammen­setzt“.21 Diese stigmatisierte „Aura“ verband dieses Alter Ego Tel-Avivs mit einem ­Bündel von urbanen Stereotypen, die Rotbard treffend unter der Bezeichnung „die schwarze Stadt“ zusammengefasst hat: Big Territory, Ghetto, South Side und Slum. Da sie deswegen eine Bedrohung für die kategorische Ordnung der Stadt und des Staates darstellte, sollte sie alsbald „gesäubert“ und neu geboren werden.22 Von den 1960er- bis Mitte der 1980er-Jahre wurden aus Jaffa im Rahmen einer Räumungs- und Abrisspolitik, die im offiziellen Planungsdiskurs beschönigend als Stadterneuerung bezeichnet wurde, systematisch öffentliche Mittel abge­ zogen.23 Die historischen Viertel mit Blick auf das Mittelmeer galten damals als „Slums, die beseitigt und durch moderne, gut geplante und attraktive Stadtviertel ersetzt werden sollten“.24 In diesem Prozess wurde das Küstenviertel Manshiya vollständig ausgelöscht, wodurch ein Niemandsland zwischen Tel-Aviv und Jaffa entstand. Mehr als zwei Drittel der Altstadt wurden abgerissen und die Stadtteile ’Ajami und Jabaliyye erheblich beschädigt.25 Die Ruinen und die Verwahrlosung, die in diesen Vierteln herrschte, zogen Action­filmproduzenten an, die nach Drehorten im Nahen Osten suchten, aber keinen Zugang zum Libanon, Irak oder Iran hatten. 1985 erklärte der Regisseur von „Delta Force“, er habe Jaffa ausgewählt, weil „Jaffa genauso aussieht wie Beirut nach der Bombardierung“.26 Die Bilder der Ruinen von Jaffa verstärkten die allegorische Qualität von TelAviv als Altneuland. Nach dem Bau der „Künstlerkolonie“ in der Altstadt in den 1960er-Jahren feierte Menahem Talmi, ein Autor des ikonischen Orientalismus, die „zerstörerische Schöpfung“, aus der die renovierte „Perle von Jaffa“ geboren wurde:27 „Over Old Jaffa’s hill, sensations of antiquity mix with historical light21  Loïc Wacquant: Urban Outcasts. A Comparative Sociology of Advanced Marginality. Cambridge 2008, S. 1. 22  Sharon Rotbard: White City, Black City. Architecture and War in Tel Aviv and Jaffa. London 2015. 23 Daniel Monterescu: Jaffa Shared and Shattered. Contrived Coexistence in Israel/Palestine. Bloomington, IN 2015. 24  Aharon Horowitz: Preliminary Master Plan for Tel-Aviv-Yafo. Tel-Aviv 1954. 25  1973 gab es in den Stadtvierteln von ‘Ajami and Jabaliyye 3 176 Behausungen (Jaffa Unterbezirk 72), während zu Beginn der 1990er-Jahre nur noch 1 608 Behausungen übrig waren. 26  André Mazawi/Makram Khouri-Makhoul: Mediniyut Merhavit be-Yafo, 1948–1990. In: Haim Lusky: Ir ve-Utopia [Stadt und Utopia]. Tel-Aviv 1991, S. 67. 27 Zur schöpferischen Zerstörung siehe David Harvey: Contested Cities: Social Process and Spatial Form. In: Nick Jewson/Susanne MacGregor (Hg.): Transforming Cities. Contested ­ Governance and Spatial Divisions. London 1997, S. 19–27. Er interpretiert Nietzsches Figur der „schöpferischen Zerstörung“ als zentrale Metapher dieses modernistischen Projekts. In der Definition von „urban renewal“ in der „Encyclopedia Britannica“ wird diese Dialektik aufgenommen, wenn es heißt, dass Stadterneuerung „staatliche Programme zur Förderung der Renovierung verfallender Stadtviertel durch die Renovierung oder Zerstörung alter Gebäude und den Bau neuer Gebäude“ umfasst.

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whispers, and both are saturated in the cool rock paving-stones, chanting the rustle in the southwestern wind that brings the beach odors of Jonah the Prophet. Old Jaffa’s landscape of sea and stone once saw the waving flags of Ramses II and ­Solomon the Temple-Builder. Today artists sell here oil paintings, copper-hammered ornaments, artworks created by tumultuous hearts and quick fingers. Yesterday, this was Jaffa’s old, rejected ‚Big Territory‘, a pile of ruins and dunghill, the dwelling place of delinquent fringe people and the wrathful site of pork meat merchants [i.e., the Romanian Jews] and blinding smoke. Today – it is a charming and joyful island, whose anchors are embedded in the depth of authenticity.“28 In der palästinensischen Vorstellungswelt wurde der Verlust von Jaffa zu einer Allegorie für eine idealisierte Vergangenheit. Das in der palästinensischen ­Dichtung vielfach beschworene Thema des „verlorenen Paradieses“ (al-firdaus al-mafqud) ist ein Beispiel für das zentrale, in der Diaspora wirksame palästinensische Vorstellungsbild von Jaffa, das durch die ewige Erinnerung an das Exil vermittelt wird. In Erzählungen über Jaffa, die allesamt Teil einer umfangreicheren Literatur voller Sehnsucht und Rückkehrmotive sind, wird die Heimat zum palästinensischen Eldorado oder arabischen Andalusien, das in einer unbestimmten Zukunft wiedergefunden werden soll. Diese Erzählung findet sich immer wieder in Gedichten und persönlichen Erinnerungen, aber auch in konkreten und symbolischen Riten der Rückkehr, die das politische Recht auf Rückkehr verkörpern sollen.29 So schreibt der Nationaldichter Mahmoud Darwish: „I make a pilgrimage to you, oh Yafa / Carrying the wedding joy of an orchard.“ Ähnlich wie in der jüdischen Diaspora Jerusalem über Generationen hinweg als jüdischer Sehnsuchtsort fungierte, wird die palästinensische Stadt so zu einem Objekt der Sehnsucht, zu dem man pilgert, aber auch zu einem unzugänglichen Ort, an dem man keinen Anteil am Lebensraum haben kann. Diese Überschneidungen zwischen jüdischen und palästinensischen Ruinenkulten und Erinnerungskulturen haben zu kraftvollen Kunstwerken geführt. Für den aus Jaffa stammenden Künstler Sami Bukhari ist der muslimische Friedhof der Stadt ein Spiegel des Schicksals, der Vergangenheit und der Zukunft von Jaffa. In der Fotoserie Panorama stellt er einem distanzierten Blick auf die Landschaft des gentrifizierten Viertels ’Ajami (Abb. 1b) die Reihen der Grabsteine gegenüber (Abb. 1a). Im Hintergrund beider Darstellungen wirkt die ruhige Allgegenwart des Mittelmeeres zugleich bezaubernd und verräterisch – ein impliziter Hinweis darauf, dass der auf einer brüchigen Sandsteinklippe errichtete Friedhof allmählich von den Wellen des Meeres unterspült wird. Über allem schwebt die alarmierende Erkenntnis seiner langsamen, aber unausweichlichen Auflösung durch den Sturz ins Mittelmeer. „Wenn man sie nebeneinander stellt“, schreibt die 28 

Menachem Talmi: Ma‘ariv, May 5, 1967. Efrat Ben-Ze’ev: Al-Nakha wa-al-Ra’iha Tuqus al-‘Awda al-Falastiniya” [Geschmack und Geruch in palästinensischen Rückkehrriten]. In: Al-Karmel 76/77 (2003), S. 107–122 (auf Arabisch); Efrat Ben-Ze’ev: Remembering Palestine in 1948. Beyond National Narratives. Cambridge 2011. 29 

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Abbildung 1a und 1b: Bilder aus Sami Bukharis Serie Panorama – der muslimische Friedhof und das gentrifizierte Stadtviertel ’Ajami; © Sami Bukhari.

Kuratorin der Ausstellung, „skizzieren diese beiden Panoramaserien eine Analogie zwischen dem Tod, der auf dem Friedhof vorherrscht, und Jaffa in der Zeit nach der Nakba, erfüllt von dem kulturellen und sozialen Tod, den diese mit sich brachte.“30 In der Serie Boar vertieft Bukhari das Thema der „sterbenden Stadt“. Bukhari zeigt ein Wildschwein unmittelbar nach der Jagd, einem bei arabischen Männern in Jaffa üblichen Hobby (Abb. 2a). Das Wildschwein mit seinen weit aufgeris­ senen Augen wirkt auf den ersten Blick sehr lebendig und voller Lebenskraft, bis der Betrachter seinen enthaupteten Kopf in einem weiteren Bild auf einem Teller serviert sieht (Abb. 2b). Im Ausstellungskatalog heißt es: „Bukhari schuf eine meta­phorische Verbindung zwischen dem Bild des Wildschweins als Darstellung der Sünde (in der muslimischen und jüdischen Religion), als etwas Geächtetes, und dem Bild von Jaffa in der israelischen Realität. In diesem Zusammenhang sieht der Künstler das Jaffa der Zeit nach 1948 als eine Erinnerung an die Sünde. 30 

Tal Ben-Zvi: Contemporary Palestinian Art. Jaffa 2006, S. 15.

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Abbildung 2a und 2b: Bilder aus Sami Bukharis Serie Boar; © Sami Bukhari.

Jaffa bleibt eine Ausgestoßene, unerwünscht, eine Außenseiterin. Gleichzeitig ist es das schöne, geschminkte arabische Jaffa, das im Mittelpunkt der Ausstellung steht, als Personifikation, als weibliche Figur in der palästinensischen Kultur und Literatur“.31 Die beiden Fotoserien, die auf den ersten Blick nicht zusammenzuhängen scheinen, sind in Bukharis Augen Ausdruck desselben Prozesses: des qualvollen Niedergangs von Jaffa als palästinensische Stadt, den sie seit 1948 durchlebt. Das kürzlich enthauptete Wildschwein und die ungepflegten Grabsteine, so Bukhari, zeigen eine alltägliche Illusion: Jaffa mag lebendig erscheinen, aber in Wirklichkeit ist es schon lange tot. Wie kann man in einer solchen „Zombie-Stadt“ leben? Wie überleben paläs­ tinensische Bürger in einer von kommunaler Zerstörung gezeichneten Stadt, die gleichzeitig ein pulsierendes Zentrum der Stadterneuerung und der jüdischen Gentrifizierung sowie ein Ort der Erinnerung für Exilpalästinenser ist? Obgleich 31 

Ebd., S. 14.

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sich der Lebensraum Jaffa und die dort gemachten Erfahrungen nicht auf Todesmotive reduzieren lassen, in denen das Gespenst der Erbsünde spukt, lösen sich Erinnerungen an und Spuren von Unglück unter den Bedingungen von Marginalität und Ausgrenzung nicht einfach auf. Ein solches Narrativ von Niedergang und Verzweiflung bildet zwar den wichtigsten diskursiven Rahmen für das palästinensische Jaffa, umfasst aber gerade nicht alle wichtigen Aspekte des Gemeinschaftslebens und der politischen Kämpfe, die täglich stattfinden. Diese Kämpfe verdeutlichen die Ambivalenz des palästinensischen Sumud als ein Prinzip des unerschütterlichen gemeinschaftlichen Überlebens, das paradoxerweise „die Stärke des Besetzten und die Schwäche des Besetzers“ betont: „eine tragische Sensibilität, die durch eigene Ohnmacht für sich eine ethische Form der Macht (und Freiheit) beansprucht“.32 Der allegorisch verstandene „Verlust“ von Jaffa wird also durch eine kraftvolle Bildsprache vermittelt: Die realen städtischen Ruinen werden durch ein sprachlich sehr lebhaft geschildertes Bild der Verwüstung ersetzt, das sie als palästinen­ sischen Ort zeichnet. Doch neben den allegorischen und bildlichen Potenzialen dieses städtischen Substanzverlusts müssen wir die Ruinen auch als urbane Fakten betrachten, die in die sich rasch entwickelnde Landschaft der Stadt eingebettet sind. Im späten 20. Jahrhundert wurden die Ruinen, nunmehr zum Symbol für die Marginalität Jaffas geworden, zu einer begehrten Ware. Die Immobilienpreise schossen in die Höhe, und neue jüdische Bevölkerungsgruppen versuchten, in Jaffa neue urbane Möglichkeiten zu entdecken. Im Zuge der Gentrifizierung ­ ­wurde die Ästhetik des „arabischen Hauses“ nunmehr als neuer Weg in eine mediterrane Fantasiewelt gedeutet. In den ersten Phasen der Gentrifizierung, in den 1960er- und 1970er-Jahren, ließ sich eine Gruppe von Künstlern in Jaffa nieder und „kaufte Ruinen“, die sie „von Grund auf neu aufbauten“. Die Gentrifizierer wurden oft als „Pioniere“ und „coole Künstler“ bezeichnet (und beschrieben sich auch selbst so). Sie kamen nicht aus ­finanziellen Interessen in die Stadt, sondern auf der Suche nach „innerem Raum und hohen Decken“. In der zweiten Phase, in den 1980er-Jahren, kam eine Gruppe hinzu, die sich selbst als „Bobo“ (bourgeois bohemian) bezeichnete und „einen Ort in Tel Aviv mit historischer Tiefe und dem Charme des Lokalen“ suchte. Die Immobilienpreise waren zu diesem Zeitpunkt wesentlich höher, und die Gentrifizierer mussten oft ihre alten Wohnungen verkaufen, um die multikulturelle Mischung aus „Abgeschiedenheit und Offenheit“ zu genießen, die Jaffa zu bieten hatte. Ab den 1990er-Jahren trug die Kommerzialisierung von Immobilien in Jaffa mit dem Bau von exklusiven, geschlossenen Wohnanlagen und Luxusprojekten, die häufig auf den Ruinen zuvor abgerissener arabischer Häuser errichtet wurden, bald ihren Teil zur schweren Wohnungskrise der dortigen palästinensischen Gemeinschaft bei (Abb. 3). Soziale Nachbarschaftsbewegungen machten den Kampf um das „Recht auf Stadt“ zu einem festen Bestandteil des allgemeinen Diskurses über die Rückkehr der Palästinenser. So forderten städtische Aktivisten im Jahr 32 

Khaled Furani: Silencing the Sea. Secular Rhythms in Palestinian Poetry. Stanford 2012, S. 3.

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Abbildung 3: Aggressive Gentrifizierung im „alt-neuen“ Jaffa: Ansicht der geschlossenen Wohnanlage „Andromeda Hill“ neben einem zum Abriss freigegebenen arabischen Haus; Foto: Daniel Monterescu.

2011 während der Demonstrationen des Arabischen Frühlings „das Recht auf Rückkehr nach Alt-Jaffa“ und wiesen damit auf die Verquickung von nationalen kollektiven Rechten und sozialen Wohnrechten hin. Zehn Jahre später geht der Kampf um Kontrolle und Anerkennung immer noch weiter. Im Jahr 2021, nach der von ­jüdischen religiös-nationalistischen Siedlern angetriebenen Errichtung einer städtischen Siedlung in einem arabischen Viertel, bündelte sich der politische Aktivismus in dem Slogan „Jaffa not for sale“(Abb. 4). Die verlorene Stadt und ihre materiellen und immateriellen Ressourcen bilden daher den Kristallisationspunkt für sozialpolitischen Aktivismus gegen neoliberale Stadtgestaltung und ausgrenzende Bürgerschaftskonzepte gleichermaßen.

Hebron – Stadt der Väter Der Fall von Hebron/Al-Khalil bietet ein weiteres Beispiel für städtische Ruinen, die von palästinensischen Einwohnern und jüdischen Siedlern gleichermaßen in Anspruch genommen werden. Hebron liegt 30 km südlich von Jerusalem und ist

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Abbildung 4: Slogan vom Mai 2021: „Jaffa not for sale“.

die höchstgelegene und zweitgrößte Stadt im Westjordanland (circa 250 000 Einwohner). Die Stadt ist sowohl für Muslime als auch für Juden eine der heiligsten Stätten, da sie mit dem biblischen Vermächtnis Abrahams in Verbindung gebracht wird und in ihr die traditionelle Begräbnisstätte der biblischen Patriarchen und Matriarchen liegt. Historisch gesehen waren die Beziehungen zwischen Juden und Arabern in Hebron von relativ guter Nachbarschaft geprägt.33 Mit der Verschärfung des na­ tionalen Konflikts im Mandatsgebiet Palästina wurden diese Beziehungen jedoch so stark belastet, dass die Stadt während der Unruhen von 1929 zu einem der Hauptschauplätze interkommunaler Gewalt wurde, in deren Folge 69 jüdische Einwohner ermordet wurden.34 Bis 1936 evakuierten die britischen Behörden daher den Großteil der jüdischen Einwohner Hebrons. Hebron entwickelte sich zu einem wichtigen palästinensischen Zentrum, das 1948 auf der jordanischen Seite der neuen Grenze lag und somit 19 Jahre lang für israelische Bürger unzugänglich war. Als Israel 1967 das Westjordanland besetzte, wurde die Stadt zu einem Ziel der Kolonisierungsbemühungen von Siedlergruppen, die mit Unterstützung des Staates nun damit begannen, das Westjordanland unter jüdische Kontrolle zu bringen. In den späten 1970er- und 1980er-Jahren führten die ständigen Reibereien zwischen Siedlern und palästinensischen Einwohnern zu zahlreichen Zusammen­ stößen, die 1994 ihren Höhepunkt fanden, als ein jüdischer Siedler das Feuer eröffnete und 29 muslimische Gläubige ermordete. Nach den Hebron-Protokollen von 1997 wurde die Stadt geteilt: H1 wird von der Palästinensischen Autonomiebehörde kontrolliert und umfasst etwa 85 % der Einwohner der Stadt, während H2 vollständig unter der Kontrolle des israelischen Militärs verblieb, aber dennoch im Zuständigkeitsbereich der Palästinensischen Autonomiebehörde liegt, die 33 

Menachem Klein: Lives in Common. Arabs and Jews in Jerusalem, Jaffa and Hebron. London 2014, S. 58. 34  Hillel Cohen: Year Zero of the Arab-Israeli Conflict 1929. Boston 2015.

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die zivilen Angelegenheiten der palästinensischen Einwohner in diesem Gebiet beaufsichtigt. Auch wenn man Hebron als eine gemischte oder geteilte Stadt betrachten könnte, die von einer palästinensischen Mehrheit und einer jüdischen Minderheit bewohnt wird, so ist sie bei näherer Betrachtung das wohl bekannteste Beispiel eines Kolonialregimes, das darauf abzielt, den städtischen Raum zwangsweise zu judaisieren und die Palästinenser und ihre Kultur zu verdrängen. Indem wir den Deutungskampf um die Ruinenbildung in Hebron analysieren, machen wir die Auswirkungen des Siedlungskolonialismus auf die verlorene Stadt deutlich.35 Hebron spiegelt im Kleinen das koloniale Siedlungsprojekt des gesamten Westjordanlands. H2, die Altstadt von Hebron und zugleich das Gebiet, das voll­ ständig von Israel kontrolliert wird, ist durch mehr als 22 Sperren des Militärs und 65 physische Trennelemente wie Eisentore und Betonblöcke vom Rest von ­Hebron getrennt. Heute leben in H2 33 000 Palästinenser und 700 jüdische Siedler, wobei die Existenz ersterer im historischen Stadtraum kaum sichtbar ist. Der öffentliche Raum von H2 ist überwiegend jüdisch geprägt, mit Straßenschildern, die auf Orte und Siedlungen hinweisen, in denen nur Siedler wohnen. Langsam aber stetig werden in H2 die palästinensischen Bewohner und ihre Spuren entfernt. Bisher haben 1 400 palästinensische Familien ihre Häuser verlassen, wobei die verlassenen Grundstücke etwa 42 % des Immobilienbestands in der Altstadt ausmachen. Die Palästinenser, die noch in dem Gebiet wohnen, haben ihre Häuser in behelfsmäßige Festungen verwandelt. Die Fenster sind mit Gittern versehen, die Türen verrammelt, und das Leben in den Häusern konzentriert sich auf Räume, die nicht auf die Straße blicken und den physischen und verbalen Angriffen der Siedler weniger ausgesetzt sind. Hebrons H2-Viertel zu Fuß zu betreten, ist eine beunruhigende Erfahrung. Die Straße führt von der jüdischen Siedlung Kiryat Arba zur Höhle der Patriarchen, der Grabstätte Abrahams im Stadtzentrum und einer der heiligsten Stätten für ­Juden und Muslime. Die Straße verläuft dann weiter entlang der Shuhada-Straße durch mehrere jüdische Siedlungen zur jüdischen Enklave Tel Rumeida, die über einer archäologischen Stätte aus der Spätbronzezeit liegt, und endet schließlich auf dem alten jüdischen Friedhof. Die Leere der Straße spiegelt den langsamen Verfall der der Straße zugewandten Seite der palästinensischen Häuser. Zuweilen bleibt unklar, welche Häuser bewohnt sind und welche leer stehen, da die Spuren für Nutzung und Nichtnutzung unklar und trügerisch sind und beides nicht deutlich voneinander geschieden ist (Abb. 5). Mit anderen Worten: H2 in Hebron ist ein städtischer Raum, der Verfall und Wiederaufbau zugleich erlebt. Im Sperrgebiet von H2 macht man eine eindringliche und regelrecht unheim­ liche Erfahrung von Leere und Gewalt. Manchmal kann man die drei Kilometer 35  Sari Hanafi: Spacio-cide: Colonial Politics, Invisibility and Rezoning in Palestinian Territory. In: Contemporary Arab Affairs 2 (2009), S. 106–121; Ilan Amit/Oren Yiftachel: Urban Colonialism and Buffer Zones: Gray Spaces in Hebron and Nicosia. In: GRF 36 (2006), S. 144–159.

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Abbildung 5: Verlassene palästinensische Geschäfte und Häuser entlang der Shuhada-Straße, Hebron; Foto: Daniel Monterescu.

lange Strecke hin und zurück gehen, ohne von außen an den Häusern ein einziges Lebenszeichen zu sehen. Im Gegensatz zu anderen Ruinenstädten – wie Varosha, Pripyat oder Teilen von Detroit – rührt das unheimliche Gefühl jedoch nicht von tatsächlicher Leere und Verlassenheit her, sondern vielmehr von dem Wissen, dass sich hinter den zerbrochenen Fenstern und verschlossenen, ja verrammelten Türen ein vitales, auf das Haus beschränktes Leben befindet – in einer Stadt, die widersprüchlichen Prozessen des langsamen Stadtmordes einerseits und der langsamen Renovierung andererseits unterliegt, beide hochpolitisch und untrennbar mit dem siedlungskolonialen Regime am Ort verbunden. Während der fünf Jahrzehnte andauernden israelischen Besatzung wurden Zehntausende von palästinensischen Häusern unter drei Hauptvorwänden ab­ gerissen: Abriss illegaler Bauten, Strafabriss auf Befehl eines Armeeoffiziers, oft nach einer Anhörung und juristischen Überprüfung, und Abriss im Rahmen einer Kampfhandlung. In Hebron ist die Zahl der Abrisse zwar relativ gering, sie wurden nur in einigen wenigen Ausnahmefällen vorgenommen. Das bedeutet jedoch nicht, dass Hebron nicht unter Zerstörungsprozessen leidet. Tatsächlich ist H2 wahrscheinlich das am stärksten gefährdete Stadtgebiet im Westjordanland – aber die Ruinenbildung erfolgt auf anderen Wegen. Anstatt palästinensische Häuser mit Bulldozern zu zerstören oder zu bombardieren, betreibt Israel in H2 eine langsame Zerstörung, die auf zwei Säulen beruht: Die erste ist die Zerstörung durch den ideologisch-politischen und physischen Abbau der Grenzen zwischen Gebäuden und Ruinen, zwischen innen und außen. Dies geschieht mittels plötz­ licher Transgressionen seitens des Militärs und der Siedler: Sie dringen in Häuser ein, übernehmen Teile davon zu Sicherheitszwecken, hinterlassen Verwüstungen und schaffen ein Klima der Unsicherheit. All diese Handlungen führen dazu, dass Gefühle der Geborgenheit und Sicherheit im eigenen Haus eliminiert werden. Die zweite Säule besteht in Verhinderung und Unterlassung: Verhinderung von Bauarbeiten, Verhinderung von Renovierungen, Unterbrechung des täglichen Lebens,

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von familiären und geschäftlichen Beziehungen, wobei die Zeit selbst als Waffe eingesetzt wird. Diese Säulen stützen einander und zielen auf dasselbe Ergebnis ab: die langsame Zerstörung des palästinensischen Stadtraums, um Hebron zu einer überwiegend jüdischen Stadt zu machen. Beide Formen der Zerstörung bilden mit anderen Worten ein zeitliches Regime, das einen stillschweigend angenommenen und angestrebten palästinensischen Exodus aus der Stadt beinhaltet. Prozesse der Ruinenbildung beruhen auf einer schleichenden, strukturellen Gewalt, bei der die Zeit selbst zur Waffe wird. Für die jüdischen Siedler in Hebron ist die langsame Verwüstung der palästinensischen Stadt Teil einer religiösen longue durée, die vom Exil zur Erlösung führt; für Israels zionistisches Regime ist die Ruinierung palästinensischen Raums Teil eines größeren siedlungskolonialen Projekts, das die moderne Nationenbildung als Gründung neuer jüdischer Haushalte durch die Siedler versteht. Die Zeit spielt eine wichtige Rolle in diesem Prozess der Zerstörung, denn jenseits der Gewaltausbrüche und direkten materiellen Eingriffe steht die langsame und stille Zerstörung, die auf der Erstickung des Lebensgefüges und dem Einsatz der Zeit als Waffe beruht. Mohammad, einer unserer Gesprächspartner, verweist auf das den Menschen in H2 auferlegte Zeitregime, als er darüber spricht, dass der Checkpoint um 21:00 Uhr schließt: „Stellen Sie sich vor, Sie werden von einem bestimmten Zeit­ limit beherrscht! Offen gesagt, gibt es soziale Diskriminierung der Menschen, die in der Altstadt leben, sei es bei Eheschließungen oder bei der Arbeit, es ist sehr schwierig für H2-Bewohner, einen Job in H1 zu finden, nur weil sie in einem geschlossenen Gebiet leben, das Gleiche gilt für Eheschließungen […] es gibt viele Fälle, in denen Eltern sich weigerten, ihre Töchter oder Söhne aus der Altstadt zu verheiraten, weil es so schwierig ist, dorthin zu gelangen.“ H2 ist also nicht nur räumlich vom Rest der Stadt und dem Westjordanland getrennt, sondern hat auch eine eigene Zeitlichkeit. Aus der Alltagszeit herausgelöst, ist H2 als Stadt in einer Warteschleife gefangen. Die Zeitlichkeit der Reliquien heiligt sie; die Zeitlichkeit der Ruinen macht sie eher zu einem Symbol als zu ­einem Ort des Lebens; und die Zeitlichkeit der Trümmer macht die Verwundbarkeit von H2 offenbar, während die Zeit an ihr vorbeizieht. Die Bewohner von H2 sind vom Rest der Stadt abgeschnitten. Sie warten an den Checkpoints. Sie warten in ihren Häusern. Nuha, eine junge palästinensische Mutter, deren Haus gegenüber von der Ibrahimi-Moschee liegt, erzählte uns, dass sie ihr Haus nie leer zurücklässt, nicht einmal, um ihre Familie zu besuchen, da sie große Angst hat, dass Siedler es übernehmen könnten. Ein anderer Befragter, Mohammad, erklärte, dass er zwar zwei Häuser hat, von denen eines in H1 liegt, „aber es ist sehr schwierig, zwischen den beiden Häusern hin- und herzugehen, und wenn ich einen Ausflug machen will, kann ich nicht außerhalb des Hauses schlafen, da ich zurückkehren muss, bevor die Siedler meine Abwesenheit bemerken und in mein Haus einbrechen.“ Die langsame Zerstörung von Hebron ist eine Form der städtischen „Vernarbung“ durch koloniale Kriegsführung, die darauf abzielt, die palästinensischen Bewohner des H2-Gebiets zu vertreiben. Begründet wird dies mit dem Anspruch

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Abbildung 6: Wandgemälde in Hebron, das jüdische Verluste in und zugleich den Verlust der Stadt selbst darstellt; Foto: Daniel Monterescu.

der jüdischen Siedler auf die Stadt, der durch die militärische Macht Israels gestützt wird. Dieser Anspruch beruht auf der Geschichte jüdischer Verlusterfahrungen und wird in H2 durch die ständigen Verweise auf das Massaker von 1929 konkret angesprochen (Abb. 6). Auf diese Weise werden die Ruinen, die als Allegorie für die jüdische Wiedergeburt dienen, zu einer sozialen Tatsache für die in der Stadt lebenden Palästinenser. Hebron ist ein Ort, an dem zwei der blutigsten Massaker im jüdisch-arabischen Konflikt stattgefunden haben: die Ermordung der Juden von Hebron im Jahr 1929 und die Ermordung der palästinensischen Gläubigen im Jahr 1994. Diese beiden blutigen Ereignisse wurden zu Meilensteinen, die die longue durée von Hebron als eine Geschichte von Verlust und Verlangen abstecken. Seit der Ära der Mamelucken durften Juden das Grab der Patriarchen nur bis zur siebten Treppenstufe betreten; der volle Zugang zum heiligen Ort war ihnen verwehrt. Nach dem ­Massaker von 1929 – und vollends nach dem palästinensischen Aufstand gegen die britische Herrschaft im Jahr 1936 – wurde die Stadt von ihren jüdischen ­Bewohnern verlassen und grub sich so im kollektiven Gedächtnis der Juden ein als Ort der Gefahr und der Sehnsucht. Sie ist eine verlorene Stadt, die gleichzeitig ersehnt und gefürchtet wird. Im jüdischen kollektiven Gedächtnis ist der endgültige Verlust der Stadt nach dem Krieg von 1948 eingetreten, da Hebron nunmehr auf der jordanischen Seite der neuen Grenze lag und somit 19 Jahre lang für israelische Bürger unzugänglich war. Nach dem Krieg von 1967 kehrte sich das Bild um, als Juden ihre Kontrolle über die Stadt unter dem Slogan „Hebron damals und für immer“ festigten und die Verlustgefühle als Antrieb nutzten, um die gewaltsame Eroberung der Stadt voranzutreiben.36

36  Idith

Zertal/Akiva Eldar: Lords of the Land. The War Over Israel’s Settlements in the Occupied Territories, 1967–2007. New York 2009.

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Die eigentliche Besiedlung wurde durch den Rückerwerb des Eigentums der jüdischen Familien, die in der Stadt wohnten, ermöglicht.37 Ehemalige städtische Ruinen wurden wiedergeboren, indem sie als ehemals jüdische Bauten die Rückkehr legitimierten. Die Vernichtung jüdischer Leben und des Gemeinschaftslebens in der Stadt bildete damit ursprünglich die Begründung für die Kolonisierung im Jahr 1968. Die jüdischen Siedler verwandelten die Narben in Gewebe, um das Gedenken selbst als Waffe verwenden zu können – sie besiedelten die von der jüdischen Gemeinde verlassenen Grundstücke und eroberten die Häuser zurück, die früher der alten Gemeinde gehört hatten. Während die zionistische Zeitwahrnehmung auf der Erinnerung an die Ruinen von 1929 fußt, stützt sich die Erinnerung messianischer Siedler auf ältere Relikte, wie die Höhle der Patriarchen, die archäologische Stätte in Tel Rumeida und den alten jüdischen Friedhof. Die messianische Zeitwahrnehmung entwirft eine ­erstarrte Meta-Zeit, die durch eine permanent im Werden begriffene Gegenwart ­gekennzeichnet ist: In dieser Perspektive ist Hebron „damals und für immer“ ­jüdisch (wie der Slogan der Siedlung lautet). Wie der Soziologe Michael Feige gezeigt hat, wurde der historisch begründete Anspruch auf Hebron bald von der theologischen Forderung überlagert, die Stadt aus der (zionistischen) Geschichte herauszulösen und in die jüdische Mythologie einzugliedern – als ein urbanes Zentrum, das schon immer existiert hat. Dieser Gedanke ist deutlich im städtischen Raum spürbar.38 Hebron ist ein Ort, an dem zerstörerische und bewahrende Kräfte gleichzeitig wirken. Fast jeder Stein in der Stadt ist durchdrungen von Geschichte und Er­ innerung und zugleich politisch belastet durch Eigentumsnachweispflichten auf der einen und koloniale Gewalt auf der anderen Seite. So besteht Hebron aus Materialien, die zugleich Ruine (das heißt Zeugnis aktiver Gewalt und Zerstörung), Reliquie (das heißt ein symbolisches Element innerhalb eines Bedeutungsnetzes, das über die Gegenwart und den Ort hinausweist) als auch Schutt (das heißt die Materie selbst, in unterschiedlichem Maße verfallen, mit der die Menschen täglich leben) sind. Israel versucht, H2 aus dem palästinensischen städtischen und kommunalen Gefüge herauszutrennen, indem es seine Verbindungen zum Rest von Hebron abschneidet und das tägliche Leben darin einfriert. Ziel ist es, den paläs­ tinensischen Raum zu ersticken, um „Hebron wieder jüdisch zu machen“. Diese theologisch anmutende Geduld ist somit eine Waffe, die die bestehende extreme Asymmetrie der Macht in der besetzten Stadt noch verstärkt. Während Israel versucht, H2 als tote Narbe zu erhalten und die Ruinen un­ angetastet lässt – zumindest bis zu ihrem endgültigen Tod als palästinensische Stadt –, tun die palästinensischen Bewohner alles in ihrer Macht Stehende, um zu beweisen, dass H2 ein lebendiges Gewebe ist, das sich erholen und neu zusam37 Noam

Shoked: Design and Contestation in the Jewish Settlement of Hebron, 1967–87. In: JSAH 79 (2020), S. 82–102. 38  Michael Feige: Settling in the Hearts. Jewish Fundamentalism in the Occupied Territories. Detroit 2009.

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menwachsen kann, auch wenn es weiterhin die Spuren der schmerzhaften Gewalt trägt. Neben der jüdisch-messianischen und der zionistischen Zeitlichkeit der Moderne steht also eine eigene palästinensische longue durée. Die palästinensische sumud, das heißt das bewusste Festhalten am Land trotz aller Entbehrungen, hält den schleichenden Vertreibungsbemühungen einen Spiegel vor, indem er sich auf die lange Bindung der Einheimischen an den Ort bezieht. Das Weiterleben in der Stadt trotz aller Entbehrungen ist sowohl eine Notwendigkeit als auch ein Akt palästinensischen Widerstands gegen das jüdisch-messianische und das siedlungskoloniale Regime, das Israel unausgesprochen anwendet. Sumud, also Standhaftigkeit, ist allerdings nicht unbedingt ein individueller Akt. 1996 gründete die Palästinensische Autonomiebehörde als Reaktion auf die massenhafte Flucht aus dem Gebiet aufgrund der Bewegungseinschränkungen, der Kontrollpunkte und der Gewalt durch Militär und Siedler das Hebron Reha­ bilitation Committee (HRC). Ziel des Komitees war es, die Altstadt zu erhalten und das kulturelle Erbe darin zu bewahren. Dabei beschränkte man sich jedoch nicht allein auf die Bewahrung von Architektur oder Kultur, sondern betrachtete die Arbeit vielmehr als ein Mittel des Widerstands gegen die israelische Kontrolle über die Stadt. Um die Altstadt vor der israelischen Expansion zu schützen, konzentrierte sich das HRC zunächst auf die Bereitstellung von Wohnungen und restaurierte Gebäude, um die Bürger im Herzen der Altstadt von Hebron (die jetzt Teil von H2 ist) wieder unterzubringen. Neben dem Wohnungsbau investiert das HRC auch in die Renovierung von Infrastruktur und öffentlichen Einrichtungen, um die Lebensqualität im Alltag der Bevölkerung zu verbessern. Festzuhalten ist: Die Zerstörung der Stadt ist eine Allegorie, die von beiden Seiten akribisch aufrechterhalten wird. Sie steht für die jüdischen biblischen Prophezeiungen über den Zustand der Städte bis zur Ankunft des Messias und ist gleichzeitig Teil einer orientalistischen Konstruktion der palästinensischen Stadt. Auf palästinensischer Seite sind die Ruinen und die Geisterstadt der lebende Beweis für das israelische Besatzungsregime – und die Stadt ist daher der beliebteste Ort für Anti-Besatzungstouren.39 Der Verlust von Hebron wird damit auch zu einer Allegorie für die Rolle kolonialer Gewalt bei der Schaffung getrennter Lebenswelten.

Fazit: Kommt es zur Hebronisierung von Jaffa? Im Mai 2021 erlebte Palästina/Israel ein noch nie dagewesenes Maß an interkommunaler Gewalt zwischen Arabern und Juden. Die Gewalt eskalierte und breitete sich von Jerusalem auf andere umkämpfte Städte in Israel aus, wo blutige Kämpfe zwischen palästinensischen und jüdischen Bürgern zu brennenden Häusern und

39  Jennifer

Lynn Kelly: Asymmetrical Itineraries: Militarism, Tourism, and Solidarity in Occu­ pied Palestine. In: American Quarterly 68 (2016), S. 723–745.

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Fahrzeugen, zahlreichen Verletzten und Morden an jüdischen und palästinensischen Einwohnern führten. Während der Auseinandersetzungen wurde Jaffa zu einem der Hauptschauplätze der Gewalt zwischen den Bevölkerungsgruppen. Der lokale Diskurs drehte sich um die wachsende Präsenz religiöser Siedler, die in die Stadt einziehen und versuchen, sie unter jüdische Kontrolle zu bringen. Zusammenstöße zwischen arabischen Bürgern und Polizeikräften zeigten, dass sich die Polizei eindeutig auf die Seite der jüdischen Siedler stellte (die größtenteils aus Siedlungen im Westjordanland kamen), die als schutzbedürftige Opfer dargestellt wurden. Dies weckte Erinnerungen an den analogen Prozess, der Jahrzehnte zuvor in Hebron von den Siedlern eingeleitet worden war und zur Konsequenz hatte, dass sie von dem ­Moment an, als sie sich als schutzbedürftig erwiesen, die Unterstützung der Regierung erhielten. Die Darstellung der arabischen Bewohner Jaffas als „Terroristen“ verschärft die Grenzziehung zwischen den beiden Gemeinschaften und verschiebt die „Grüne Linie“ in die gemischten Städte. Diese Entwicklungen bewirken im Wesentlichen eine Umstrukturierung der Stadt in ein Gebilde aus ausgewiesenen und überwachten Räumen, für die der Hebroner Bezirk H2 das paradigmatische Vorbild ist, das es nachzuahmen gilt. Der Diskurs wandelt sich somit von einem zivilen zu einem militaristischen. In diesem Beitrag haben wir jedoch auch auf einen wichtigen Unterschied zwischen den beiden Städten hingewiesen: Im Fall von Jaffa findet sich eine robuste neoliberal-kapitalistische Logik, die die Kräfte der Zerstörung und des Wiederaufbaus leitet. Diese Logik drückt sich in den Allegorien, Bildern und Fakten aus, durch die Jaffa von den verschiedenen Kräften, die in der Stadt wirken, „verloren“ und „gefunden“ wird. Hebron hingegen wird durch die koloniale Siedlungspoltik umgestaltet, die mittels nationaler und theologischer Begründungen rationalisiert wird. Die Zerstörung und Wiederherstellung der Stadt weist den aus Ruinen erzeugten Reliquien Bedeutungen zu, während sie zugleich ständig auch andere materielle „Fakten“ hervorbringt, um deren Bedeutung jüdische Siedler und palästinensische Bewohner ringen. Dennoch bleibt die Frage: Ist die Ausdehnung des Siedlungskolonialismus von den abgelegenen Siedlungen des Westjordanlands auf den Kern israelischer Städte der Vorbote eines neuen Trends, den wir als die Hebronisierung von Jaffa bezeichnen können? Die jüngsten tragischen Ereignisse in Palästina/Israel veranschaulichen, dass eine Diskussion über Verlusterfahrungen in diesem Raum nicht nur in der Vergangenheitsform geführt werden kann. Dieselben Prozesse, Narrative und Praktiken, die Hebron heute prägen, kann man auch in Jaffa beobachten. In ähnlicher Weise ist die Logik, mit der Jaffa als palästinensisch urbanes Zentrum transformiert und die Palästinenser an die Peripherie verdrängt werden, auch in Hebron offensichtlich. Die Gegenüberstellung beider Städte ermöglicht es uns, die Formen der Ruinenbildung, denen sie jeweils ausgesetzt sind, aufzuzeigen. Daher haben wir uns in diesem Beitrag auf die verschiedenen Facetten des städtischen Verfalls konzentriert, um die Beziehungsdynamik zwischen politischen Rivalen deutlich zu machen, die sich einen städtischen Raum teilen. Sowohl in

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Jaffa als auch in Hebron sind Ruinen nicht nur Erinnerungsspeicher, sondern auch Landschaften, die ein Netz von Verbindungen zwischen menschlichen Akteuren und materiellen Dingen schaffen, das die Rückkehr des in der Stadt Unterdrückten ermöglicht. Indem wir die Bedrohung durch Auslöschung, Verfall und Tod sichtbar gemacht haben, haben wir die Trümmer der Geschichte ausgegraben, die durch den stürmischen Fortschritt der nationalistischen Expansion verschüttet wurden. Jaffa und Hebron verkörpern das Paradoxe an städtischer Existenz in Israel/Palästina: Enge Nachbarn sind hier politische Feinde. Die offizielle jüdische Nationalgeschichte reicht vom Exil bis zur Erlösung und dem Aufbau der Nation, während die Geschichte der Palästinenser von einem rüde unterbrochenen goldenen Zeit­ alter handelt, auf das nur noch Enteignung und Widerstand folgen. Anstatt „Verlust“ als unwiderrufliches Einzelereignis zu betrachten, schlagen wir vor, über die politischen und kulturellen Strukturen nachzudenken, die den Verlust und die Wiederbelebung von Städten prägen, und sie als eine konstante, wirkende Dynamik zu betrachten, durch die umkämpfte Städte ständig neu gestaltet werden. Eine solche Lesart unterstreicht unseren zweiten Forschungsbeitrag, der darin besteht, über die traditionelle staats- und nationenzentrierte Per­ spektive auf den israelisch-palästinensischen Konflikt hinauszugehen und sich der Stadt als zentralem Locus des politischen wie kulturellen Prozesses von Auslöschung und Wiederherstellung anzunähern. Auf diese Weise liefern wir eine vergleichende, interdisziplinäre Studie, die ­helfen soll, einen weiter gefassten konzeptionellen Rahmen für das Verständnis urbaner Veränderungsprozesse in der Levante zu schaffen. Die Analyse des urbanen Wandels in der Region ist dringend erforderlich, da die unterschiedlichen Heraus­forderungen, mit denen die Gesellschaften dort konfrontiert sind, wie zum Beispiel verheerende bürgerkriegsähnliche Auseinandersetzungen, die rasche Urbanisierung und die Ausweitung privater Investitionen in städtische Infrastruktur, die Art und Weise, wie wir Städte heute verstehen, radikal verändern und ein besseres Verständnis dessen erfordern, wie sie verloren gehen und wiedergefunden werden.

Abstract This chapter discusses two modalities of resignification of ruins in two cities in Israel/Palestine: a coastal metropolis (Jaffa) and a regional hub in the West Bank (Hebron). Our aim is twofold, first to examine how creative urban destruction is objectified and appropriated both by the state and by Jewish settler communities. Second, we explore how ruins of previous urban lives come back to haunt the living in uncanny ways. More specifically, we uncover the ambivalent urban histories of lost cities and the material traces of bygone communities that reincarnate local memories as they lend themselves to contemporary projects of mythification, commodification and gentrification. We show how lost cities resonate with

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forced displacement, physical return, and yearnings for future reunion with the imagined homeland in ways that are abstract and concrete, symbolic and spatial. The chapter merges historiographical, ethnographic and geographic research methods to examine the reciprocal relations between urban “loss” and “recovery.”

Kurzbiografien der Autorinnen und Autoren Dr. phil. Birte Ahrens ist eine Archäologin und Wissenschaftsmanagerin, die sich auf die Mongolei und ihre Vergangenheit von der Vorgeschichte bis zur Neuzeit spezialisiert hat. Sie hat unter anderem zur kulturellen Nutzung der Landschaft, zur religiösen Entwicklung und zum zentralasiatischen Pastoralismus geforscht. Nach ihrer Promotion an der Universität Bonn über archäologische Landschaftsanalysen im Orkhon-Tal führte sie Pilotstudien zum Einfluss der Qing-Dynastie im Orkhon-Tal durch. Sie ist eine der PIs des Projekts „Abandoned Cities in the Steppe“. E-Mail: [email protected] Prof. Dr. Andreas Beyer ist seit 2003 Ordinarius für Kunstgeschichte der Neuzeit an der Universität Basel. Seine Schwerpunkte liegen in der Kunst der Renaissance in Italien sowie der deutschen Klassik, dazu befasst er sich aktuell mit Künstlergeschichte. Im Jahr 2021 wurde er zum Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung gewählt. E-Mail: [email protected] Enkhtuul Chadraabal, M.A., ist Doktorandin an der Universität Kiel im Projekt „Abandoned Cities in the Steppe“. Ihr Forschungsschwerpunkt liegt auf Stadt­ planung und Stadtgestaltung während der Qing-Dynastie in der Mongolei. Bevor sie nach Kiel kam, war sie an der Mongolischen Akademie der Wissenschaften ­tätig und nahm an zahlreichen Ausgrabungen buddhistischer Klöster teil. E-Mail: [email protected] Dr. phil. Sampildondov Chuluun ist derzeit Direktor des Chinggis Khaan Nationalmuseums. Seine jüngsten Forschungen konzentrieren sich auf die Klosterstadt Saridag, wo er archäologische Ausgrabungen durchführte sowie die Ergebnisse in Ausstellungen publik macht. Er ist derzeit einer der PIs des Projekts „Abandoned Cities in the Steppe“. E-Mail: [email protected] Prof. Dr. Gabriella Cianciolo Cosentino ist Professorin für Architekturgeschichte am Kunsthistorischen Institut der Universität zu Köln. Sie war viele Jahre in Lehre und Forschung tätig, unter anderem an der Technischen Universität München und am Kunsthistorischen Institut in Florenz – Max-Planck-Institut. Ihre Forschungsinteressen umfassen die Architektur des 19. und 20. Jahrhunderts, die antike und mittelalterliche Architektur und ihre Rezeption, Fragen des Cultural Heritage und der Denkmalpflege mit besonderem Fokus auf die post-katastrophische Rekonstruktion und Städtebau. E-Mail: [email protected] https://doi.org/10.1515/9783111071848-017

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Dr. des. Jonathan Ethier hat an der Universität Heidelberg promoviert und sich als Post-Doc auf die Qing-Zeit in der Mongolei spezialisiert. Derzeitig ist er im Projekt „Abandoned Cities in the Steppe“ tätig und für die Ausgrabungen vor Ort sowie die Projektorganisation verantwortlich. Seine Spezialgebiete liegen im Bereich der Food-Studies (Balkanraum im Neolithikum) und der theoretischen Archäologie, die er auf Forschungen zur Qing-Zeit in der Mongolei überträgt und einbringt. E-Mail: [email protected] PD Dr. Alexander Free ist derzeit Mitarbeiter am Institut für Alte Geschichte der Ludwig-Maximilians-Universität München. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen neben der antiken Geschichtsschreibung unter anderem das römische Ägypten und dabei insbesondere das Verhältnis zwischen den beiden Orten Hermupolis und Antinoupolis in Mittelägypten. E-Mail: [email protected] PD Dr. Stefanie Fricke lehrt Englische Literaturwissenschaft an der Ludwig-­ Maximilians-Universität München. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen auf der ­Literatur und Kultur des 18. und 19. Jahrhunderts und moderner Populärkultur. ­E-Mail: [email protected] Dr. Felix Henke ist aktuell wissenschaftlicher Mitarbeiter des Instituts für Klassische Archäologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Zu seinen Forschungsgebieten zählen unter anderem römische Wandmalerei und Bautechnik, antike Ästhetik und Bildrezeption, die Werke Winckelmanns sowie das hellenistische Umland Pergamons. Gemeinsam mit Julian Schreyer führte er von 2019 bis 2021 das von der Gerda Henkel Stiftung geförderte Projekt „Spuren von Städten. Formen des Umgangs mit deurbanisierten Räumen der frühen Kaiserzeit“ durch. E-Mail: [email protected] Prof. Dr. Michael Hochgeschwender ist Professor für Nordamerikansiche Kulturgeschichte und Kulturanthropologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Seine Forschungsgebiete umfassen die Geschichte Nordamerikas im 18. und 19. Jahrhundert, die Religionsgeschichte der USA und die Geschichte der nordamerikanischen Indianerkulturen. E-Mail: [email protected] Josephine Kanditt, M.A., ist Doktorandin am Institut für Kulturwissenschaften der Universität Leipzig und arbeitet in dem von der Gerda Henkel Stiftung ge­ förderten interdisziplinären Projekt „Die verlassenen Lehmziegelsiedlungen des Zentraloman“ im Rahmen des Stiftungsschwerpunktes „Lost Cities. Die Wahrnehmung von und das Leben mit verlassenen Städten“. E-Mail: [email protected] Dr. Pia Kastenmeier ist klassische Archäologin. Sie ist seit vielen Jahren in ­interdisziplinären Forschungsprojekten, Ausgrabungen und Feldforschungspro-

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jekten in der Vesuvregion aktiv. Ihre Forschungsinteressen umfassen Architektur, die Wechselbeziehung zwischen Mensch und Umwelt und die (Geschichte der) Konservierung und Restaurierung Pompejis. E-Mail: [email protected] Giulia Lentini, M.A., hat in Turin Archäologie und Alte Geschichte studiert. ­ ktuell arbeitet sie an der Ludwig-Maximilians-Universität im Rahmen des För­ A derschwerpunkts der Gerda Henkel Stiftung „Lost Cities. Wahrnehmung von und Leben mit verlassenen Städten in den Kulturen der Welt“ an ihrer Doktorarbeit. Ihr Hauptforschungsinteresse gilt der Geschichte und Archäologie Babylons. E-Mail: [email protected] Prof. Dr. Uwe Lübken ist Professor für Amerikanische Kulturgeschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Zuvor hat er an den Universitäten Köln und Münster sowie am Deutschen Historischen Institut in Washington, DC, gelehrt und geforscht. Er befasst sich dabei insbesondere mit der Geschichte von nachhaltiger Mobilität, von Naturgefahren und Naturkatastrophen, mit Flüssen als historischen Akteuren und mit dem Zusammenhang zwischen Umweltveränderungen und Migration. E-Mail: [email protected] Dr. Paul Mellenthin studierte Kunstgeschichte in Leipzig, Berlin, Paris und Rom. Er ist an der Universität Basel promoviert worden und arbeitet aktuell als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Tübingen. Er forscht insbesondere zur Geschichte und Theorie der Fotografie. E-Mail: [email protected] Prof. Daniel Monterescu, Ph. D., forscht und lehrt als Professor für Urban ­Anthropology and Food Studies am Department of Sociology and Social Anthropology an der Central European University in Wien. Seine Forschungen kon­ zentrieren sich auf das Wiederaufleben jüdischen Lebens in zentraleuropäischen Städten (Budapest, Berlin, Krakow) und auf die Geschichte städtischer Ruinen in Israel/Palästina. Er leitet das Projekt „Lost Cities in Israel and Palestine“ im Rahmen des Förderschwerpunkts „Lost Cities. Wahrnehmung von und Leben mit verlassenen Städten in den Kulturen der Welt“ der Gerda Henkel Stiftung. E-Mail: [email protected] Prof. Dr. Martin Oczipka ist Professor an der Hochschule für Technik und Wirtschaft Dresden. Seine Fachkenntnisse konzentrieren sich auf Fernerkundung und digitale Bildverarbeitung. Im Rahmen seiner Arbeit untersuchte er viele archäologische Stätten, insbesondere in der Mongolei. Er ist derzeit einer der PIs des Projekts „Abandoned Cities in the Steppe“. E-Mail: [email protected] Prof. Dr. Henny Piezonka ist Universitätsprofessorin für Prähistorische Archäologie an der Freien Universität Berlin und Leiterin mehrerer Forschungsprojekte, die sich unter anderem mit steinzeitlichen Jäger-Sammlern in Nordeurasien,

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mit heutigen Rentiernomaden in der sibirischen und mongolischen Taiga und mit Fragen von Sesshaftigkeit in der nomadischen Mongolei befassen. Sie ist PI im SFB 1266 „Scales of Transformation“ an der Kieler Universität sowie eine der PIs des Projekts „Abandoned Cities in the Steppe“ im Lost Cities-Programm der Gerda Henkel Stiftung. E-Mail: [email protected] Dr. Moriel Ram beschäftigt sich als Forscher mit dem globalen Süden. Er untersucht in seiner Forschung, wie politisches Handeln, Raumwahrnehmungen und physische Stofflichkeit einander gegenseitig bedingen und beeinflussen. Aktuell beschäftigt er sich mit der kolonialen Politik von urbaner Zerstörung und der Wiederentdeckung von Städten sowie der Entstehung neuer „separation regimes“ im globalen Süden. E-Mail: [email protected] Dr. Christian Ressel hat im Zentralasien-Seminar der Humboldt-Universität zu Berlin promoviert. Seine Forschungsschwerpunkte zur Mongolei sind unter anderem gesellschaftliche Transformationsprozesse seit dem 17. Jahrhundert, Raumund Zeitkonzepte sowie lokale Erinnerungskultur. Gegenwärtig arbeitet er im von der Gerda Henkel Stiftung finanzierten Forschungsprojekt „Abandoned Cities in the Steppe“ als PostDoc. E-Mail: [email protected] Prof. Dr. Thomas Schmidt-Lux lehrt und forscht im Bereich Kultursoziologie am Institut für Kulturwissenschaften der Universität Leipzig. Er arbeitet vor allem an kultursoziologischen Perspektiven auf Architektur, Recht, Gewalt, Stadt und Religion. E-Mail: [email protected] Dr. Julian Schreyer ist wissenschaftlicher Mitarbeiter des Instituts für Klassische Archäologie an der FAU Erlangen-Nürnberg. Sein Forschungsinteresse richtet sich insbesondere auf den antiken Umgang mit Ruinen, antike Architektur- und Materialwahrnehmung sowie das römische Porträt. Gemeinsam mit Felix Henke führte er von 2019 bis 2021 das von der Gerda Henkel Stiftung geförderte Projekt „Spuren von Städten. Formen des Umgangs mit deurbanisierten Räumen der ­frühen Kaiserzeit“ durch. E-Mail: [email protected] Prof. Dr. Armin Selbitschka bekleidet seit 2018 den Lehrstuhl für Alte Chi­ nesische Geschichte und Archäologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Er interessiert sich besonders für die Sozial- und Kulturgeschichte der späten Vor- und frühen Kaiserzeit des alten Chinas. Derzeit arbeitet er an einer Monografie zu Jenseitsvorstellungen und einem Band zu den sozialen Funktionen von Essen im frühen China. E-Mail: [email protected] PD Dr. Magdalena Waligórska erforscht als Kulturhistorikerin insbesondere die polnische und belarussische Zeitgeschichte sowie die jüdische Geschichte. Am „Centre for Anthropological Research on Museums and Heritage“ (CARMAH) an der Humboldt Universität Berlin leitet sie eine von der Gerda Henkel Stiftung

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finanzierte Forschergruppe, die die Nachkriegsgeschichte der Schtetlech in Polen, der Ukraine und Belarus untersucht. E-Mail: [email protected] Nikola Wenner, M.A., ist derzeit Promovendin im Internationalen Doktorandenkolleg Philologie an der Ludwig-Maximilians-Universität in München. In ihrem Dissertationsprojekt forscht sie zur Geschichte der Assyriologie. Ihr Forschungsinteresse gilt der Geschichte des Alten Orients. Sie beschäftigte sich unter an­ derem mit öffentlicher Trauer in der altbabylonischen Zeit und der Etablierung göttlicher Präsenz in der neuassyrischen Hauptstadt Dur-Šarrukin. E-Mail: [email protected] Prof. Dr. Martin Zimmermann lehrt und forscht als Professor für Alte Geschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Er ist an zahlreichen Forschungsprojekten beteiligt und unter anderem als Fachgutachter für den Förderschwerpunkt „Lost Cities. Wahrnehmung von und Leben mit verlassenen Städten in den Kulturen der Welt“ der Gerda Henkel Stiftung tätig. Er war im Kollegjahr 2019/2020 als Senior Fellow der Thyssen Stiftung am Historischen Kolleg. E-Mail: [email protected]

Geografisches Register erstellt von Julia Hornung und Julia Staska   1  Achet-Aton (Amarna)  2, 4 Ägypten  1f., 4, 6, 44, 53f., 141–150, 152–155, 206, 210 Afrika  2, 141, 224 Agar Town  187 Alaska 102 Albina  218, 222–225, 228–230 Aleppo 53 Alexandria  1f., 65, 141, 146 al-Fustat 147 Al-Hamra  255, 258, 260, 265 al-Minya  148f., 154f. Al-Mirani 256 Al-Mudayrib  255f., 258 Anacostia 228 Anatolien  2, 93 Andalusien 280 Anio/Aniene 60–62 Ansina (Ober- und Unter-)  148 Antemnae  60–63, 68 Antinoupolis (Antinoe)  141–155 Antiochia  2, 189f. Anyang  72, 75 Arabien  44, 53 Asien  43f., 157, 163, 221 Asnières 205 as-Saybani 265 Assur 4 Assyrien 35 Athen 6 Atlantis  6f., 91 Auaris (Hut-waret)  4 Australien 113 Aztalan  94, 96, 100 Babylon/Bābil/Baldacco  4f., 33–44, 46–57, 147, 209 Bagdad  33, 39, 41–43, 45, 47–49, 51, 54f. Baltimore 204 Baruun Khüree  160f., 163, 165–172, 175, 178–181 Basra  45, 53

Beirut 279 Belarus  235, 241–244, 246f. Belchite 253 Belfort 199 Belice  107f., 112, 114, 118–120, 122–125 Benevent 132 Berezne  235, 238, 247 Berlin  109, 204 Berwick-on-Tweed 185 Biłgoraj  235–237, 239, 241, 244f., 247 Bīr/Bīrecik 45 Birma 48 Bodmin 213 Boston 204 Brody  235f., 247 Busserah 53 Camden Town  187 Çatal Hüyük  2 Chaco Canyon  102 Chang’an  1, 70f., 81 Châteaudun 199 Chicago 203f. Chichén Itzá  98 Chiloquin 225 China  1, 69–71, 75, 87, 162, 164, 170, 185, 271 Cincinnati 228 Collatia 60f. Columbia Slough  220 Deir Abu Hennes  149 Detroit 287 Dublin 204 Dur-Kurigalzu/ ‘Aqarquf  48f. East St. Louis  93, 96 Edinburgh  185, 204 Emerald 95 England  93, 185, 192 Ephesos 212 Eridu  4, 16, 18, 24, 29

302

Geografisches Register

Estland 243 Eteowah 95 Euphrat  1, 26, 39, 44–46, 48–50, 54f. Europa  6, 10, 40, 42, 45, 53, 57, 98, 109, 112, 141, 208, 210, 213f., 221, 231f., 242, 246, 271 Falludscha 45f. Fidenae  60f., 63f., 68 Florenz  43, 120, 130, 135, 204 Frankreich  2, 141, 199–201, 212, 214 Galveston 227 Gibellina  107, 112, 114f., 118–120, 122–125 Göbekli Tepe  93 Gomorra 38 Großbritannien  185, 189f., 192, 213

Krim  190, 199, 213 Ktesiphon  33, 35, 37f. Kyme 127 Labicum 60f. Lemuria 91 Litauen 243 Liverpool 204 London  94, 183–198, 204, 214f. Los Angeles  223 Louisiana  94f., 103 Lugdunum 8 Lydda 277

Jaffa  272f., 276–285, 291–293 Jalali 256 Jemen 53 Jerusalem  275, 277, 280, 284, 291 Jozefów 237

Maddaloni  134f., 137 Madrid  214, 253 Mailand 109 Mallawi  148f., 154f. Manchester 204 Mari 26 Marne 199 Maskat  254, 256, 259, 261 Massilia 2 Mekka  190, 275 Memphis  2, 4, 38 Mesoamerika  95–99, 101, 104f. Mesopotamien  3f., 32, 35, 37f., 42, 45, 48, 53f. Metapont 2 Mézières 199 Middlesex 191 Minsk  231, 239 Mir  235, 239, 241, 247 Mississippi  89, 91f., 94f., 98f., 102f., 105, 227f. Missouri 95 Mongolei  44, 157–168, 171, 173f., 176, 178f., 181f. Monk’s Mound  89, 91, 101 Mound 72  99f. Mu 91 Mykene  5, 65

Kairo  54, 148, 154 Kalifornien  102, 219 Kampanien  107, 110, 123, 125, 127 Karabalgasun 165 Karakorum  165, 179, 163 Karthago 206 Khovd 164 Kleinasien  2, 4f., 53, 59f., 65, 68 Kołomyja 240 Krakau 239

Nadschaf 275 Naher Osten  1f., 4, 6, 33, 39f., 42, 45, 53, 69, 275f., 279 Neapel  121f., 127–131, 133–135, 137, 139, 204, 206 Newcastle 185 New Mexiko  96 New Orleans  204, 228 New York  203f. Nikopolis 44

Haifa  277 Hattuşa 2 Helenopolis 150 Heliopolis 206 Henan (Provinz)  72, 75 Herculaneum  107f., 111, 121, 125, 188 Hermupolis (später al-Ashmunein/Schmun) 145, 148, 150–155 Ibra 255 Indien  35, 44f., 48f., 53 Irak  39, 279 Iran  47, 279 Işin  24, 26 Israel  240, 242, 245, 271f., 276, 278, 285–293 Italien  2, 49f., 59f., 67f., 107–109, 119f., 124f., 127, 214 Ivie  235, 238, 241–243, 247 Izbica  235, 239f., 247

Geografisches Register Nil(delta)  2, 4, 54, 141, 145, 151f., 206 Ninive  4f., 43 Nippur  16, 24, 26 Nizwa 258 Nordamerika  10, 89f., 93, 103, 105, 228 Norfolk 219 Northampton 185 Oakland 223 Ohio  92, 98, 228 Oklahoma  94f., 97, 225 Oregon  217–220, 223–226, 229f. Orkhon  158f., 163, 165–169, 171, 173–175, 177–180 Palästina  42, 45, 271f., 276–278, 285, 291–293 Palmyra 206 Panama 96 Paris  94, 199–216 Parthenope  127f., 131f., 134, 139 Partherreich 34 Persepolis  4f., 54 Persien  38, 44f., 49, 53f. Pinsk 231 Pi-Ramesse  2, 4 Piräus 2 Pola 132 Polen  231, 235f., 238–241, 244, 246f. Pompeji  107f., 110f., 113, 117–119, 122, 125, 188, 206 Portici 121 Portland  217–226, 228–230 Portugal 45 Pripyat 287 Pylos 5 Qalhat 254 Qasr  36, 55 Qufu 72 Ratisbona 42 Rhodos 2 Rom  1, 3, 11, 34, 36, 43f., 52, 59–64, 94, 206, 210 Saint-Cloud  200, 209f. Salemi 114 Salern 111 San Diego  219 Sansibar 258 Santa Margherita  113 Sciacca 119 Sedan   199

Seleukeia (am Tigris)  2, 33, 35 Selinunt 2 Shandong (Provinz)  72 Shankh-Gebirg 169 Shaohao 72 Sheikh Ibada  143f. Sizilien  2, 107f., 112, 118f., 124f. Sodom 38 Sohar 254 Somers Town  187 Spiro  94f., 101 Springfield (Illinois)  93 Stabiae  107, 122 St. Louis  93, 95, 97, 103–105 Stonehenge  93, 100, 185 St. Petersburg  204 Straßburg 199f. Südamerika 105 Sumer  16, 18, 20, 22–25, 27 Syrakus 2 Syrien  2, 45, 53 Szczecin 236 Tanis 4 Tarent 2 Tel-Aviv  272, 278f., 283 Teotihuacàn  98, 103 Texas 224 Thebais (Provinz)  147 Theben  2, 206 Tiber 60–62 Tiryns 5 Tomaszów 237f. Toronto 93 Troas 65 Troja/Ilion  5–7, 59, 65–68, 94 Ugarit 2 Ukraine  15, 235, 246f. Uliastai  164, 167, 176, 178 Ur  2, 4, 15f., 18–25, 27 Urga  160, 163, 169, 174 Uruk  2, 4, 16, 20, 23f. USA -> s. Vereinigte Staaten von Amerika Usbekistan 236 Valle de los Caídos  253 Vancouver  217, 219, 229 Vanport 217–230 Varosha 287 Veii  61, 64 Venedig  48, 120, 206

303

Vereinigte Staaten von Amerika  95f., 113, 217–224, 226f., 242, 272 Vilnius 231 Virginia  91, 219

Xanthos 67 Xianyang  70f., 74

Wadebridge 213 Warschau   231 Washington 217–219 Washington D.C.  204, 228 Westjordanland  285–288, 292f. Wien 204 Willamette River  218, 220, 223 Wisconsin 94–96 Woodhenge 100 Wyoming 91

Zuu-Tempel  163–166, 168–171, 173f., 179f.

Yucatan 99

Personenregister erstellt von Julia Hornung und Julia Staska   1  Das Register umfasst genannte historische Personen, Zeitzeugen, Götter, mythologische/homerische/biblische Figuren; prinzipiell nicht aufgenommen sind die Namen im Text genannter Forscherinnen und Forscher sowie Nennungen in Bildunterschriften und den englischen Abstracts.

Abdai Khan  163 Abraham  285f. Acheloos  128 Adim (König)  152 Aelius Aristides  3 Aeneas  62, 65 Agamemnon  65 Ai (Herzog von Lu)  84 Aladdin  188 al-Bakrī  38 Alexander der Große  2, 35f. Alexander Severus (röm. Kaiser)  150 Alexei II.  243 ’Alī  38 Alfonso I. von Neapel  129–134, 139 Alfonso II. von Neapel  131, 137 al-Idrīsī  39 al-Iṣṭaḫrī  39 al-Maqrizi  148, 152 al-Mas’ūdī  39f. An  18 Anchises  67 Andrieu, Jules   210 Anjou, Robert von  132 Antinoos  145, 150 Arditi, Michele  121f. Aristoteles  2, 35 Artemis  212 Ashmun (König)  151f. Assarakos  67 Assurbanipal  5 Athena  65f. Attila  184, 188 Atzmon-Wircer, Shmuel  241 Augustus  37, 59–61, 65–67 Aunay, Alfred d’  211

Balbi, Gasparo  48 Ball, Peggy  225 Balthasar  47 Ban Gu  73, 81, 86 Bar, Dalia  245 Baradach, Tamara  241 Barthelemy, Jean-Jacques (Abbé)  55 Beauchamp, Joseph de  55–57 Belus  47 Benjamin ben Jonah von Tudela  40–42 Berry, Bill  220 Blanchecotte, Malvina  213 Blatt, Thomas  239 Bracciolini, Poggio  44 Bromberg, Ella  236 Brunelleschi, Filippo  120 Bukhari, Sami  280–282 Burke, Edmund  271 Burri, Alberto  112, 115, 125 Burty, Philippe  209 Carafa, Diomede  134–136 Carjat, Étienne  210 Carmichael, John  53 Carr, Frank  190 Cassius Dio  34 Caesar  35, 67 Charon  66 Cheng (Kindkönig)  82 Clare, John  184 Claretie, Jules  207, 209 Collovà, Roberto  114 Consagra, Pietro  115, 118f. Constantius Chlorus (röm. Kaiser)  37 Conti, Niccolò de’  44 Cook, Thomas  213f. Corrao, Ludovico  114, 122

306

Personenregister

Cossus, Aulus Cornelius  64 Crassus, Marcus Licinius  35 Cucinella, Mario  120 Dalai Lama  162f. Damgalnunna  18, 23 Daniel  40, 42 Darwin, Charles  196 Darwish, Mahmoud  280 Daudet, Alphonse  209 Denon, Dominique-Vivant  150f. Dickens, Charles  186, 188 Diderot, Denis  207f. Diodor  52 Diokletian (röm. Kaiser)  37 Dionysios von Halikarnassos  62 Disdéri, André Adolphe-Eugène  210 Dong Zhongshu  77, 84 Doré, Paul Gustave  190, 215 Dschingis Khan  163, 166, 171, 179 Du Camp, Maxime  209, 211 Dürer, Albrecht  205 Dunitz, Robin J.  224 Echnaton (Pharao)  4 Eisenhower, Dwight D.  93 Eldred, John  48 Énault, Louis  207–209 Enki  18, 24f. Enlil  18, 21, 24, 26 Ernst I. (Herzog von Sachsen-Gotha)  149 Eusebius von Caesarea  38 Federici, Cesare   48 Ferdinando I. (Ferrante)  130f., 134 Festes, Dov  236 Fimbria, Caius Flavius  66 Flaubert, Gustave  141–143, 209 Franco, Francisco  253 Frison, Henry  225 Gabriel von Białystok  243f. Galerius (röm. Kaiser)  37 Gallienus (röm. Kaiser)  123 Gautier, Théophile  200, 205–207, 209, 212 Giorgio, Francesco di  137 Goncourt, Edmond de  209 Grégoire, Henry  203 Gregotti, Vittorio  115 Hadrian (röm. Kaiser)  141, 143, 145, 150 Hakluyt, Richard  104 Hārūt  41

Hektor  67 Herodot  35, 44, 52, 144 Herostrat  212 Hesione  67 Hill, Roslyn  229 Himmler, Heinrich  231 Hippodamos von Milet  2, 128 Homer  5f., 65f., 127f. Huan (Herzog von Qi)  84 Hugo, Victor  208 Ibbi-Sin = Ibbī-Suen Ibbī-Suen  22 Ibn Battuta, Abu Abdallah Muhammad  148 Ibn Duqmaq, Ibrahim Ibn Mohammed al-Hanafi  152 Ibn Ḥawqal, Abu l-Qāsim Muhammad b. ‘Alī al-Naṣībī  39 Ibn Iyas, Muhammad Ibn Ahmad Ibn Iyas alHanafi  153 Ibn Khasib, Ahmad al-Jarjara'i  148 Inanna  18 Išme-Dagān  24 Ištar  26 Itzkovitz, Chaim  239 Jameson, Fredric   123 Jasmaḫ-Adad (König von Mari)  26 Jefferies, Richard  190, 192–195, 198 Jefferson, Thomas  91f. Jeremia (Prophet)  42, 47 Jerrold, William Blanchard  190 Jesaja (Prophet)  38, 42, 47 Jona (Prophet)  188, 280 Jordanus, Catalanus de Severac  43 Joubert, Paul  210 Juda bar Samuel  42 Kaiser, Edgar F.  219 Kaiser, Henry J.  219 Kangxi  164 Konfuzius  70, 84 Konstantin der Große  37f. Koval, Itche  245 Lamiche, François Benjamin  210 Léon, Georges  210 Lévy, Moise  210 Liu Bang  70, 74 Liu Xiang  70, 84–86 Livius  60, 62f. Locke, John  104 Long-Nosed God -> s. a. Red Horn  96, 100f.

Personenregister Lü Buwei  78, 86 Lukan  67 Lukian  66 Maiano, Giuliano da  137 Maiuri, Amedeo  111, 125 Macaulay, Thomas Babington  189f., 192, 195 Marc Aurel (röm. Kaiser)  150 Marduk  36 Marius  59 Martial  63 Mārūt  40 Marville, Charles  210 Maxentius (röm. Kaiser)  37 Maximinus Daia (röm. Kaiser)  37 McVoy, Arthur D.  222 Medici, Lorenzo de’ (il Magnifico)  130 Medici, Piero de’  130 Merodach  47 Mill, John Stuart  184 Misr  152, 154 Mithridates II. (König von Parthien)  36 Montecroce, Ricoldo Pennini da  43 Moores, Chester A.  222 Morrill, Angie  228 Morus, Thomas  7 Moxon, John  184 Muhammad (Prophet)  38 Mullil  22 Mundus Munatius  64 Najder, Marceli  240 Nanna  25 Napoleon III.  204 Napoleon Bonaparte  141–144, 149f. Nebukadnezar II.  41f. Nicolin, Pierluigi  113 Niebuhr, Carsten  53 Nimrod  47 Ningal  19f., 23, 27, 30 Ninlil  18f., 26 Noah  6, 46, 152, 154 Nūr-Adad (von Larsa)  24 Nymphen  128, 135f., 139 Odysseus  127f. Oinone  67 Orléans, Charles-François  149f. Ovid  64, 66 Palladios (Bischof)  150 Parthenope  128, 132–136, 139

307

Pausanias  5, 8, 37, 69, 85 Petachia ben Yakov  42 Phoibos  67 Piranesi, Giovanni Battista  201, 205 Platon  6f. Plinius der Ältere  7, 35, 47 Plotin  123 Plotina  135 Plutarch  6 Polemon von Ilion  65 Pomodoro, Arnaldo  115 Pompeius  35 Portoghesi, Paolo  112, 118 Primo de Rivera, José Antonio  253 Properz  64 Prozer, Rachel  237, 239 Prypstein, Sylvia  237 Purini, Franco  112f., 115 Qabus bin Sa‘id Al Sa‘id (Sultan)  259 Qin Shihuangdi  83 Quaroni, Ludovico  115, 119 Quinet, Achille  210 Ramses II. (Pharao)  4, 143f., 280 Rauwolff, Leonhardt  45–48 Re  152 Red Horn  100, 103 Remus  60 Riley, Earl  221 Rivera, Diego  224 Rogoff, Tamar  242f. Romulus  60 Ruskin, John  184, 194 Saint-Victor, Paul de  209 Saladin, Salah al-Din al-Ayyubi (Sultan)  148 Salomon  280 Samonà, Giuseppe  115, 119 Schiltberger, Johann  44 Schipano, Mario  49 Segal, Leon  238 Segałowicz, Rubin  238 Ségoffin, Charles  210 Seneca  1, 7f. Serlio, Sebastiano  137 Sévérac, Jordanus Catalanus de  43 Shamsud-Din, Isaka  224f. Sicard, Claude  149–151 Sima Qian  70, 81, 83f., 86 Sirenen  128 Siza Vieira, Álvaro  114 Shun  73f.

308 Sokhah, Shmuel  238 Strabon  7, 35, 52, 60f., 65, 69, 71 Sulla  59, 61 Talmi, Menahem  279 Tennyson, Alfred  183f. Thermes, Laura  115 Thot  150 Tolumnus, Lars  64 Trajan (röm. Kaiser)  34–36, 38, 44, 52 Trajanus, Marcus Ulpius  34 Trollope, Anthony  190 Tutanchamon (Pharao)  4 Ungers, Oswald Mathias  124 Valle, Pietro della  49–52 Vansleb, Johann Michael  149f. Varro, Terentius  62 Vauvert, Maxime  214 Venezia, Francesco  115 Vergil  60, 62, 66 Vierge, Daniel  214 Villechole, Franck de  210 Vitruv  134 Vologaeses I.  35

Personenregister Wang Mang  81f. Warszawiak, Sara  239 Wei Wuji  83 Wells, Herbert George  184, 190, 195–198 Wen (Herzog)  72, 82 Wilkinson, John Gardner  142 Wordsworth, William  184 Wu (Kaiser der Westl. Han)  81, 83f. Wu (König der Westl. Zhou)  72f., 82f. Xiang Yu  70, 74 Xilo[men]  96, 100 Yang Xiong  73f., 85 Yao  73f. Zanabazar  163, 168f., 171, 179 Zeus  6, 67 Zhang Han  74 Zhou  83

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Schriften des Historischen Kollegs Kolloquien, Band 111 2023. XI, 210 S., 15 Abb. ISBN 978-3-11-099216-8

Regentinnen und andere Stellvertreterfiguren Vom 10. bis zum 15. Jahrhundert Herausgegeben von Gabriela Signori und Claudia Zey Die mittelalterliche Welt kennt eine bemerkenswerte Vielzahl von Rechtsfiguren, durch die Frauen standesunabhängig, formalisiert oder qua Gewohnheit, Ehemänner oder Söhne vertreten konnten. Regentschaft ist in dieser Vielfalt eine besonders wichtige Spielart stellvertretender Herrschaftsausübung, da sie den meist krisenanfälligen Herrschaftsübergang markiert. Es lohnt sich daher, im europäischen Vergleich und im historischen Wandel nach Gemeinsamkeiten und Unterschieden in Theorie und Praxis zu suchen. Gefragt wird nach Handlungsspielräumen, nach Institutionen und nach Personen, die für eine solche Stellvertretung als geeignet erachtet wurden. Besonderes Augenmerk gilt dabei den Grenzregionen an der Peripherie Europas mit ihren unterschiedlichen rechtlichen und sozialen Voraussetzungen. In diesem Sammelband werden daher neben Beispielen aus dem römisch-deutschen Reich weibliche Regentschaften in den Königreichen Sizilien, Aragón und Jerusalem sowie dem Herzogtum Schlesien und dem Großfürstentum Moskau in den Blick genommen.

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Schriften des Historischen Kollegs Kolloquien, Band 108 2022. XI, 219 S., 4 Abb. ISBN 978-3-11-074268-8

Narrative und Darstellungsweisen der Globalgeschichte Herausgegeben von Gabriele Lingelbach Während sich Globalhistorikerinnen und -historiker bereits intensiv damit aus­ einandergesetzt haben, welche Themen und Fragestellungen in ihrem Ansatz ­behandelt werden sowie welche Theorien und Methoden Anwendung finden ­sollten, gibt es bislang nur wenige Überlegungen zu Darstellungsformen und Er­ zählweisen von globalgeschichtlichen Texten. Diese Lücke möchte der vorliegende Band schließen: Zum einen fragt er danach, welche Meister- und Metaerzählungen existieren und welche Kritik an diesen geübt wurde. Zum anderen werden unterschiedliche Darstellungsweisen vorgestellt, mit denen sich die Geschichte des Kolonialis­ mus, der Migrationen sowie des globalen Waren- und Wissensaustauschs erzählen lassen. Darüber hinaus werden exemplarisch einige häufig in ­globalgeschichtlichen Darstellungen zu findende Begriffe und Visualisierungen analysiert. Im Mittelpunkt des Bandes steht die Frage, welchen spezifischen ­narrativen Herausforderungen sich Globalhistorikerinnen und -historiker stellen müssen.