Los Angeles Endzeitmoderne 9783868599435, 9783868596397

Los Angeles is the wrong city. Every accusation that can be made about modern city planning and architecture has been la

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German Pages 608 Year 2020

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Inhalt
INTRO
ERSTE ARCHITEKTUR
EXALTATIONEN
ROLLFELDER
MÖBLIERTE WÜSTE
GROSSE ORTUNG
ÜBERZEICHNUNG
EXO-ARCHITEKTUR
KATASTROPHENZEIT
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Los Angeles Endzeitmoderne
 9783868599435, 9783868596397

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Los Angeles ist die letzte Stadt. Wir befinden uns in der Endzeitmoderne.

LOS ANGELES ENDZEIT MODERNE Wolfgang Koelbl

Inhalt

INTRO55 ERSTE ARCHITEKTUR79 EXALTATIONEN139 ROLLFELDER199 MÖBLIERTE WÜSTE261 GROSSE ORTUNG323 ÜBERZEICHNUNG383 EXO-ARCHITEKTUR443 KATASTROPHENZEIT505

ERSTE ARCHITEKTUR

Fragile Schwimm-Insel

79



Projektive Prärie

89



Der Boden ist die Bühne

97



Plattes Material

106



Montierte Unruhe oder Paradies

116



Zwanghafte Halbwahrheit

126

Die erste Ambition der Moderne ist die Selbsteinsetzung. Peinlicherweise gelingt diese Selbsteinsetzung bestenfalls als fragile Schwimm-Insel auf vormodernem Untergrund.

Das theoretische Layout der Moderne ist das Präriephantasma, mit dem die Vergangenheit eingeebnet und ein offener Aktionshorizont behauptet wird.

Die Architektur stellt tragfähigen Boden zur Verfügung, der als Bühne für alle weiteren Überheblichkeiten genutzt wird.

Im Kampf gegen das Material wird der moderne Bauteilkatalog erstellt, mit dem skizzenhafte Lebensräume und drohende Hohlräume gleichermaßen zusammenmontiert werden.

Mit der Montagelogik wird die Unruhe zum Charakteristikum jeder Architektur. Die adäquate Gegensehnsucht ist das solide Paradies.

Die moderne Exponiertheit verlangt von ihren Akteuren höchste persönliche Robustheit. Wer das nicht leisten kann, flüchtet in eine oppositionelle Kellerkultur.

EXALTATIONEN

Es ist nicht genug

139



In die Luft

149



Privates Gegenexperiment

157



Guter Ebenenstapel

167



Liaison mit der Elite

176



Produktiver Schwindel

187

Die zweite Ambition der Moderne ist der unbedingte Wille, die Schwerkraft des menschlichen Schicksals umzudrehen und Abgehobenheit als neue Destination zu etablieren.

Die Exaltation führt die Architektur mit großer Aufregung in die Luft hinauf und verlangt, geerdete Kategorien wie Raum und Räumlichkeit unten zurückzulassen.

Das Private ist die ultimative Herausforderung und Überforderung des Professionellen. Doch wer das Private beschränkt, gefährdet die Erneuerung der Architektur.

Durch banale Stapelebenen wird die Welt abschnittsweise in die Höhe multipliziert und Kontingenz für jedermann zur Realität.

Evident, aber gefährlich für die Moderne ist die Verquickung der Idee der Exaltation mit der Versuchung, elitär zu sein.

Der alltägliche Schwebeschwindel der Architektur steht exemplarisch für das Unvermögen der Moderne, ihre allegorischen Versprechen zu realisieren.

ROLLFELDER

Bewegungsepochen

199



Reservierte Stadt

212



Es rollt

222



Liegeöffentlichkeit

231

Die dritte Ambition der Moderne zeigt sich als unbedingter Bewegungsdrang, der überraschend sozial implementiert wird.

Verstörenderweise beginnt die moderne Beweglichkeit mit Gleichschaltung, die von der Straße in alle anderen Stadtflächen hineingetragen wird.

Die signifikanteste zeitgenössische Bewegung ist ein langsames, rührendes Dauerrollen, das als städtebauliches Äquivalent das Rollfeld erzeugt.

Die affektive Befreiung des Privaten durch die Moderne wird letztlich nur zur öffentlichen Zurschaustellung von exzessiver Müdigkeit genutzt.

Stauraum

243



251

Die letzte soziale und städtische Raumbildung ist der Stau, ein ephemeres Dichteereignis, das kurzfristig inspiriert, aber langfristig systemisch vermieden wird.

Gelegter Haufen

Reflektiertes Absichtsdenken wird abgelöst von haufenförmigen Arrangements, die ohne intellektuelle Tiefenstruktur unmittelbar gelegt werden.

MÖBLIERTE WÜSTE

Moderne in Masse

261



Niemand wird vermisst

271



Verteilt und verbaut

281



Selbstüberbietung

290



Souverän sortiert

302



Stille Unordnung

314

Die vierte Ambition der Moderne besteht darin, aus allem ein maximal großes Unternehmen zu machen.

Die Massenmoderne stabilisiert ihre Lebenswelten durch industrielle Multiplikation und verunsichert sie gleichzeitig durch permanente Austauschbarkeit von Dingen und Menschen.

Menschen sind in der Suburb zum Erdulden verurteilt und füllen die räumliche Leere mit metastasierender Hedonismusarchitektur.

Vernunft wird durch eine Kultur der Überbietung ersetzt, die vor allem als Überbietung zweiter Ordnung die Architekturgeschichte antreibt.

In der Gated Community wird zwanghafte Form als Schutzmittel gegen das Passieren eingesetzt und derart selbstbezügliche Autorität abgesichert.

Wer Ordnung erzwingt, muss Unordnung verstecken. In der Suburb ist das die stille Kapitulation der Architekturauftraggeber inmitten der überlegenen formalen Perfektion der Architektur.

GROSSE ORTUNG

Das größte Projekt der Moderne

323



Totalraster

330



Evaluierter Ort

339



Perfektes Architekturstalking

349



0,001 Prozent Lautner

359



In Effizienz

371

Die fünfte Ambition der Moderne ist die mathematische/ geometrische Domestizierung der Welt und die gleichzeitige Opposition dagegen.

Land, Stadt, Architektur und sämtliche Lebensbereiche darin werden einer idealen Totalrasterung unterstellt, die sich nicht mehr revidieren lässt.

Die aufgerasterte Welt wird wertend erfasst und vorauswertend erlebt; aus dem Ort wird die Ortung.

Ortungsarchitekturen werden in der Stadtlandschaft als Kette strategisch verteilt und betreiben mit Care und Control souveränes Architekturstalking.

Die einzige Opposition gegen die Geometrisierung der Welt ist eine Architektur der manifesten Wirkung vor Ort, aufwendig, daher selten, aber umso unverzichtbarer als prinzipieller Kontingenzbeweis.

Die Überbietung der theatralischen Geometrisierung der Welt ist das Denken in Effizienznetzwerken, die ihren Vorteil aber im methodisch Diffusen erringen.

ÜBERZEICHNUNG

Obsession mit dem Vordergrund

383



Schweres Zeichen

395



Staunende Andacht

403



Harter Hintergrund

411



Leichter-als-Kritik

421



Neue Notation

434

Die sechste Ambition der Moderne ist die unbändige Lust am Zeichnen, die trotz bereits bestätigter architekturgeschichtlicher Wichtigkeit immer noch zu kleinlich definiert ist.

Jedes Zeichen ist ein schweres Zeichen, das sich ins Material gräbt und als Beschwerde gegen die Realität arbeitet.

Nicht mehr das Zeichen auf der Architektur ist heute das brisante Ereignis, sondern die Moderne zeichnet unablässig eine gigantische Architekturzeichnung direkt in die Weltoberfläche.

Mit harten Architekturoberflächen wehrt sich die Moderne gegen den Nutzer, der aber aus ökologischen Gründen immer öfter freiwillig ohne Fußabdruck durch die Welt geht.

Kritik ist ein Leichter-als-Zeichen und muss leichtsinnig sein, um als utopisches Gegenprojekt die Realität überholen zu können.

Die Geschichte der Architekturnotation ist auf der Autorenseite an Überschwang erschöpft, stattdessen besetzt der exhibitionistische Nutzer zunehmend den publikatorischen Vordergrund.

EXO-ARCHITEKTUR

Stiftungsereignisse

443



Vierter Ort

453



Fremdwerden

464



Ich-Fabrik

473



Zukunft ohne Wunder

484



Gegenblick

493

Die siebente Ambition der Moderne kommt vermeintlich von außen, ist aber tatsächlich nur die eigene Lust am herausfordernden Fremden.

Die bisherige Reihung der Ortkategorien Wohnen, Arbeiten, Freizeit wird um den Vierten Ort erweitert, den Begegnungsort mit dem Fremden.

Der menschliche Maßstab hat die gesamte Moderne als Mantra begleitet und gleichzeitig blind gemacht für die Notwendigkeit des unmenschlichen Maßstabs.

Die stärkste Immersion wird durch das Fabrizieren erzeugt, weil man sich dabei unmittelbar selbst fabriziert.

Baukunst ist eine autorenzentrierte, nicht nachvollziehbare Aufwertung; Technik hingegen ist der populäre und offengelegte Weg zur Aufwertung.

Der Gegenblick des Fremden initiiert Zivilisiertheit und Urbanität, wird aber nicht hauptverantwortlich von der Architektur geleistet.

KATASTROPHENZEIT

Besserer Antrieb?

505



Malibu-Effekt

516



Sky-down

525



Dunkles Prozessgeheimnis

536



Konstruktive Verschwendung

546



Lächerliches Monument

553

Die achte und letzte Ambition der Moderne ist die Entdeckung der Katastrophe, die als maximale Provokation alle Disziplinen überfordert.

Im Gegenblick der Katastrophe wird Architektur von Kritik befreit und als spürbares Vermögen lebendig.

Präventionsarchitektur tritt der Katastrophe abwehrend entgegen, Kompensationsarchitektur hingegen versucht die Ablenkung von der Katastrophe.

Der Gang durch die Katastrophe ist das entscheidende Moment jeder kreativen Arbeit, wird aber peinlichst verschwiegen oder sogar öffentlich geleugnet.

Die Moderne forciert schlanke und fehlerfreie Abläufe, dabei ist einzig die konstruktive Verschwendung das geeignete Bindemittel für soziale Verbände.

Die einzige Rettung vor der stillen Katastrophe der entropischen Drift ist der überambitionierte Sturz in die laute Katastrophe. Eine dritte Option gibt es nicht.

INTRO

Überbietung des Quantitativen Los Angeles ist die falsche Stadt. Jeder Vorwurf, den man Stadt und Architektur machen kann, ist an Los Angeles gerichtet worden. Die Zersiedelung, die totale Ausrichtung auf den Automobilverkehr, der tägliche Stau auf den Stadtautobahnen, die endlosen Einfamilienhäuser, die generischen Shoppingcenter, die Parkplatzwüsten, die monotone Totalrasterung, die vielen Klimaanlagen, die Wasserverschwendung, die Gated Communities, die soziale Segregation, die Drogen, die Gewalt, der Unwille, daran etwas zu ändern. Los Angeles ist die umfangreichste urbane und architektonische Fehlkonstruktion, die sich die Moderne je geleistet hat. Kein Wunder, dass Detailberichte über die große Fehlkonstruktion Los Angeles karrierefüllend sein konnten, und das Schaudern hat nicht nur das Fachpublikum umgetrieben. Es gehört immer noch zu jedermanns Klischeeportfolio, nach Skandalberichten aus Hollywood die gesamte Existenz von Los Angeles als gigantische Absurdität zu apostrophieren. Eine Millionenstadt wird in einer lebensfeindlichen Halbwüste platziert und zelebriert ausgerechnet dort die exaltierteste Form von Lebenslust. Die Kritiker des Modells Los Angeles werden die Mängelliste noch mühelos weiterschreiben können. So, wie man viele Bilder und Szenen der Stadt bereits kennt, so bekannt sind die Vorwürfe. Sie zu wiederholen, gehört mittlerweile zur Stadtfolklore. Neu formuliert wirken die Vorwürfe allerdings übereifrig und unzeitgemäß. Warum? Die Kritik und die skeptischen Diagnosen am Modell Los Angeles sind nicht falsch geworden, die entscheidende Umwertung der Kritik ist durch Relativierung passiert. 55

Das zeitgenössische Los Angeles schockiert schlichtweg nicht mehr. Im globalen Vergleich ist Los Angeles keine herausragende Stadt des Falschen mehr. All ihre falschen Ideen sind längst exportiert und anderswo auf der Welt noch wesentlich falscher geworden. Wer wirklich dramatische Gated Communities sehen will, muss nach Südafrika oder Südamerika gehen. Wer einen mehr als erdrückenden Verkehrsstau sehen will, muss asiatische Großstädte besuchen. Wer exzessive Drogengewalt miterleben will, muss über die Grenze nach Mexiko schauen. Selbst Hollywood hat im indischen Bollywood einen ungeheuren Nachfolger gefunden. Los Angeles ist also der urbane Skandal von gestern, und wer extra wegen der schaurigen Klischees angereist ist, wird schnell gelangweilt sein. Die mehrspurigen Autobahnen schockieren heute niemanden mehr; die Zersiedelung ist nur statistisch fassbar; die Kriminalität bleibt unsichtbar oder ist nur unterstellt; und die Polizisten sind durchwegs freundlich. Selbst der legendäre Smog würgt einem nicht den Atem ab, sondern hängt als müder Schleier am Himmel. Das Strandleben von Malibu bis Newport ist alles andere als exzessgeplagt, sondern plätschert eher familiär dahin. Das Nachtleben ist gesittet rauchfrei, und die angeblich so ordinär-luxuriösen Villen der Stars legen sich romantisch ruhig in die Hügellandschaft. Wer Henry Rollins heute auf der Bühne erlebt, hat einen besorgten, gleichwohl eloquenten Conférencier vor sich. Selbst Duff McKagan von Guns N’ Roses schwärmt mittlerweile von den Freuden der akademischen Bildung und schreibt eine Wirtschaftskolumne. Einmal noch kam Aufregung auf, als Hollywood mit Arnold Schwarzenegger den Gouverneur für ganz Kalifornien stellte. Endlich wieder eine verrückte Weltschlagzeile aus Los Angeles. Doch auch diese Ära ist im sensationsschwachen Normalbetrieb verlaufen. Hat sich deswegen das Fachpublikum abgewandt? Vermutlich, denn in der akademischen Gemeinde ist ohne Sensation keine Erkenntnis zu verkaufen. Die momentane Einschätzung, wonach wirklicher Städtebau nur noch in Asien und Südamerika stattfinde, lässt Los Angeles als irrelevant zurück. Ein schwerer Fehler, denn der zeitgenössische, international herumblickende Stadtdiskurs hat die markanteste Sensation in der Geschichte der Metropolen übersehen – und die ist ausgerechnet von Los Angeles geliefert worden. Was damit gemeint ist? Los Angeles hat das Quantitative überboten. Los Angeles ist heute bei Weitem nicht die größte oder bevölkerungsreichste Metropole der Welt, aber gemessen 56

an den Leistungsparametern der Moderne dennoch herausragend. Das bedeutet aber nicht nur, dass Los Angeles etwas entscheidend richtiger macht als die viel größeren Metropolen. Es bedeutet vor allem, dass Los Angeles im Alleingang bewiesen hat, dass die Logik der rein quantitativen Steigerung an ihr Ende gekommen ist. Blindwütiges Wachstum allein funktioniert als Fortschrittsmotor der Moderne nicht mehr. Heute kann kein Stadtplaner mehr darauf bauen, dass die bevölkerungsreichste Agglomeration automatisch die innovativste, wissenschaftlich und politisch fortschrittlichste Metropole bildet. Diese Kausalität ist von Los Angeles widerlegt worden. Mancher wird jetzt einwenden, dass der Erfolg einer Metropole nicht nur an technokratischen Kriterien gemessen werden sollte. Aber mit welchen nicht technokratischen Erfolgen hätte eine der neuen Weltmetropolen Los Angeles wann und wobei überboten? Es fällt nicht schwer, aufreibende Reportagen über die neueste Generation an Großstädten in Indien, China, Südamerika und Afrika zusammenzutragen, aber wer will diese Städte wirklich als modernes Modell empfehlen? Auf Basis welches Leistungsnachweises? All die neuen Millionenstädte haben lediglich ein umfassendes taktisches Knowhow im Umgang mit enormen Steigerungsraten entwickelt. Das ist unbestritten ein wichtiger Wert, aber der taktisch schlaue Alltagsbetrieb kann das Versagen im Generellen nicht kompensieren. Welches Versagen? Ganz einfach: Keine der neuen Weltmetropolen weiß, wie man den Risikodeal der Moderne in Balance bringt, geschweige denn in Balance hält. Risikodeal der Moderne meint, eine Gewinnerwartung mit einer Verlustmöglichkeit abzuwägen. Den vielen Zumutungen und Härten einer Millionenstadt muss eine adäquate Chancenbilanz, wenigstens eine banale Spaßbilanz entgegengehalten werden. Wenn diese Balance zwischen Anstrengung und Abenteuer gelingt, ist die Moderne das beste Vergnügen, das man einer Gesellschaft machen kann. Wenn diese Balance aber nicht gelingt, kippt der Risikodeal der Moderne ins Fatale. Wenn für die Mehrheit kein Gewinn mehr erzielbar ist, sondern nur mehr Gefahren und Nachteile verteilt werden, dann ist das Fortschrittsprojekt der Moderne garantiert verfehlt.1 1 „Deutlich abgegrenzt ist der Risikobegriff jedoch gegen den Begriff der Gefahr, also gegen den Fall, dass künftige Schäden gar nicht als Folgen einer Entscheidung gesehen, sondern extern zugerechnet werden. […] Eine erste Hypothese ist, dass sich unterschiedliche Formen sozialer Solidarität entwickeln je nachdem, ob die Zukunft unter dem Aspekt von Risiko oder unter dem Aspekt von Gefahr wahrgenommen wird.“ Niklas Luhmann. Soziologie des Risikos. Walter de Gruyter. 2003. Seite 111, 112

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Moderne war nie als einseitige Qual angelegt und wird sich auch nicht als destruktiver Exzess betreiben lassen – zumindest nicht in einer Gesellschaft mit demokratischem Mitbestimmungsrecht. Im Zeitalter der globalen Hysterie über die zukünftige Entwicklung der Großstädte und den weiteren Verlauf der Moderne blickt man also mit Erstaunen auf Los Angeles. Liegt das beste moderne Stadtmodell doch nicht irgendwo in der fantastischen Zukunft des Mehr-und-Mehr und Größer-und-Größer, sondern seit Jahrzehnten an der Westküste der USA? Fakt ist, dass keine andere Weltmetropole den Risikodeal der Moderne so lange in Balance halten konnte. Mehr noch, Los Angeles ist die Welthauptstadt des Modernedeals, seit es die Moderne überhaupt gibt. Kein Wunder, dass die Stadt für viele Menschen ein bevorzugtes Ziel auf ihrer Suche nach einem gelungenen Leben ist. Für alle Kritiker der Moderne ist Los Angeles dann zwar immer noch die falsche Stadt, aber immerhin die beste falsche Stadt. Der momentane internationale Vergleich jedenfalls drängt zu dieser Neubewertung und weist der Stadt eine historisch gewichtige Rolle zu. Los Angeles ist das einzige Großstadtmodell der Moderne, das man mit gutem Gewissen für die Weiterentwicklung der weltweiten Metropolregionen empfehlen kann. Strengabgerechnet hat sich die Moderne mit Los Angeles ihren einzigen Klassiker gebaut.

Offener Vollzug Die einstmalige Problemstadt Los Angeles plötzlich als zukunftsfähige Modellstadt neu zu entdecken, provoziert geradezu die Frage nach der Relevanz der Europäischen Stadt und der europäischen Erzählung der Moderne. Europa gefällt sich besonders in Architektur und Städtebau als Klassikersammlung und will auch die Moderne von Europa aus in die Zukunft weitergeschrieben wissen. Und selbstverständlich will Europa die Überbietung des Quantitativen durch das Qualitative erfunden haben. Aber ist der europäische Glaube an die eigene Modellrolle für die städtische Dimension der Moderne noch haltbar? Um diese Frage zu beantworten, muss man sich zuallererst auf eine grobschlächtige Unterscheidung zwischen amerikanischem und europäischem Stadtverständnis einlassen. Deutlich wird diese Unterscheidung am polemischen Vorwurf, den man aus Europa an Los Angeles richtet: Stadt und Bewohner gelten als gleichermaßen verrückt. Verrückte Bewohner 58

bauen sich eine verrückte Stadt und die verrückte Stadt macht wiederum die Bewohner verrückt oder zieht nur Verrückte an – so die saloppe Argumentation. Das bedeutet, Stadt und Bewohner sind synonym. Mit dieser unterstellten Selbstähnlichkeit von Stadt und Bewohnern wird ein kategorischer Mangel diagnostiziert. Die Europäische Stadt will nämlich nie nur synonym mit ihren Bewohnern sein, sondern sie will signifikant besser sein. Die Europäische Stadt versucht sogar, all das zu sein, was ihre Bewohner mehrheitlich nicht sind: geistreich, vernünftig, gerecht, schön, inspirierend sowie jede prospektive Erwartung erfüllend. Diese Differenz zwischen Ist und Soll darf aber nicht als bloß beschönigender Überschuss verstanden werden, sondern als projektiver Auftrag an alle. Städtebau und Architektur haben in Europa eine korrigierende Aufgabe zu erfüllen, sie sollen nicht einen Ist-Zustand bedienen, sondern einen Soll-Zustand erzwingen. Die Europäische Stadt wird als projektives Korsett angelegt, um die Gesellschaft in Form zu pressen. Über den Erfolg der Methode kann man geteilter Meinung sein, aber der projektive Formzwang ist dennoch der prinzipielle Auftrag, den die europäischen Planer zu erfüllen haben. Wie sollte man sonst vom So-Sein hin zum Soll-Sein gelangen? Wie sollte man ohne Formzwang gesellschaftlichen Fortschritt bewirken? Stadthistoriker werden dennoch auf einen Wendepunkt hinweisen: Hat nicht gerade die Europäische Stadt durch die Moderne ihren historischen Formzwang abgeworfen und ist in eine formbefreite Offenheit übergegangen? Gelegentlich sieht das tatsächlich so aus, aber man darf den ideologischen Zwang nicht übersehen, der für die Abwendung von der historischen Stadtmorphologie verantwortlich ist. Aus der europäischen Perspektive war die Moderne als reines Freiheitsprojekt nie vertrauenswürdig, erst als Umerziehungsprojekt konnte die Moderne gegen die historische Stadt in Stellung gebracht werden. Die europäische Moderne ist also genauso formstreng wie die vormoderne europäische Stadtidee, lediglich die formalen Zwänge sind morphologisch konträr orientiert. Auf den Zwang zur geschlossenen Form folgte der Zwang zur offenen Form. Methodisch war aber keine Abkehr von der Idee der Formstrenge erforderlich – und ist es bis heute nicht. Das erklärt auch, warum der größte Widerspruch im zeitgenössischen europäischen Städtebau kaum jemanden stört. Gemeint ist die gleichzeitige Ausarbeitung von vormoderner Innenstadt und moderner Peripherie. Formstrenge Innenstädte aus vormoderner Vergangenheit 59

werden sogar als wertvollstes europäisches Architekturambiente gepflegt und vermarktet, während gleichzeitig an der Stadtperipherie das glatte Gegenteil geplant und gebaut wird. Wie grotesk dieser alltägliche Widerspruch ist, beweist die Umkehrung. Wer die radikale Modernisierung der historischen Innenstädte fordert, gilt als geschichtsvergessen und destruktiv. Wer für die neue Stadtperipherie einen Rückgriff auf die historische Stadtmorphologie fordert, gilt als Modernisierungsverweigerer. Europa praktiziert im Städtebau also zwei konträre Wahrheiten direkt nebeneinander, die nur durch zwanghafte Kuratierung gleichzeitig am Leben gehalten werden können. Eine zwangsbefreite Moderne ist somit unmöglich. Moderne Zeitgenossen in Europa machen also weiterhin nicht, was sie wollen, sondern was sie sollen. Daraus folgt: Die europäische Moderne ist zutiefst paradox, weil sie zwanghafte Kuratierung als Weg zur Moderne praktiziert und nicht ergebnisoffene Freiheitssuche. Gemessen am Freiheitsversprechen der Moderne ist das der größtmögliche Widerspruch. Die entscheidende Frage ist nun, ob das europäische Moderneparadoxon allen anderen zum Vorwurf gemacht werden kann. Bedeutet mangelnde Folgsamkeit den Modernekuratoren gegenüber automatisch mangelndes Bekenntnis zur Moderne? Das europäische Selbstverständnis geht sogar noch einen deutlichen Schritt weiter, indem es den Zwang zur besseren Form als zivilisiert übertitelt und damit für Städte ohne projektiven Formzwang implizit das genaue Gegenteil gelten lässt. Die lange Beschwerdeliste, die man von Europa aus an Los Angeles richtet, läuft also auf eine fundamentale Abwertung hinaus: Weil Los Angeles keinerlei projektiven Formzwang anlegt, gilt es schlicht nicht als zivilisatorisches Projekt. Diese Abwertungsformel kann man iterativ noch weiter ausarbeiten. Städtebau ohne projektiven Formzwang gilt dann nicht mehr als Städtebau, sondern bloß als Agglomeration. Gleichlautend gilt auch Architektur ohne projektiven Formzwang nicht mehr als Architektur, sondern bloß als Gebautes. Die Konklusion dieser Beschwerden ist jedenfalls immer die gleiche. Mangels kontrollierten Formzwangs steht Los Angeles höchstens für eine kuriose Sammlung an modernen Zufallstreffern, die aufgrund der Größe der Stadt zwangsläufig passieren, aber das Modell Los Angeles taugt in Summe nicht als verlässlicher Wegbereiter in die Zukunft der Moderne. Ist diese fundamentale Abwertung von Los Angeles zu schnell und zu steil gefolgert? Ja, denn die Moderne ist mit zwei Versprechen angetreten: 60

erstens dem Versprechen nach Verbesserung kollektiver Umstände auf Basis vernunftgeleiteter Übereinkünfte und zweitens dem Versprechen nach höchster individueller Freiheit und egoistischem Glück. Viele Autoren haben schon auf die konsequente Unvereinbarkeit dieser beiden Versprechen hingewiesen.2 Doch während die reine Theorie diese Unvereinbarkeit offenlassen darf, hat die gelebte Praxis bei jedem Projekt eine Entscheidung zu treffen. In einer groben Klassifizierung führt das zu einer unterschiedlichen Gewichtung: Die Europäische Stadt ist im Konfliktfall immer dem kuratierten, kollektiven Projekt verpflichtet, während Los Angeles seine Stadtanlage eher als Summe der individuellen Entscheidungen passieren lässt. Moderne ist in Los Angeles nicht ideologisches Mit-mach-Projekt, sondern konkrete Ich-mach-Tatsache. Los Angeles ist also nicht unzivilisiert oder unmodern, sondern einseitig vom Individuum aus entschieden. Aus europäischer Perspektive ist man regelrecht verblüfft, wie konsequent Los Angeles hypertrophe Individualität in städtische Realität übersetzt und die lokalen Effekte einfach sich selbst überlässt. Man stellt das Land zur Verfügung, das für individualisiertes Wohnen gefordert wird, egal wie weit man dafür in die Wüste hinaus planieren muss; man holt so viel Wasser aus dem entferntesten Hinterland, wie vom individuellen Wohlstandshedonismus gefordert wird; es entstehen vor allem Kulturbauten, die von individuellen Privatinitiativen getragen werden; und die populärste Nutzung des öffentlichen Raums ist individuelle Selbstdarstellung. Das klingt, als wäre Los Angeles nicht nur unbelastet, sondern sogar widerspruchsfrei. Doch der Eindruck täuscht. Auch die amerikanische Moderne ist zutiefst paradox, weil unbegrenzte Individualität in Summe mehr gegenseitige Blockaden verursacht als die kuratierte Verabredung zur Beschränkung der individuellen Freiheit. Da ist er also wieder, der Formzwang, und im Vergleich zu Europa nicht weniger wirksam und ausnahmslos. Aber der Formzwang ist in Los Angeles nicht projektiv angelegt, sondern er wird ergebnisoffen ausagiert. Das macht Los Angeles pragmatisch im Ganzen und zynisch-liberal im lokalen Detail. 2 „Die Freiheit des Einzelnen, die zu den Grundpfeilern aller modernen Vernunftprojekte gehört, beginnt jedoch zu schillern und zu rebellieren, wenn sie einer allgemeinen Vernunft geopfert oder lediglich an Gleichheitsrechten gemessen wird. Es könnte sein, dass die Kette, die unsere Eigensubjektivität mit der allgemeinen Vernunft verbindet, zu kurz ist, um jene ‚große Kette des Seins‘ zu ersetzen, die einst Himmel und Erde aneinanderband (vgl. Lovejoy 1985).“ Bernhard Waldenfels. Verfremdung der Moderne. Phänomenologische Grenzgänge. Wallstein Verlag. 2001. Seite 20

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Die Europäische Stadt hingegen ist ideologisch im Ganzen und sorgenvoll-bemüht im lokalen Detail. Konflikte werden eher moderiert als ausagiert. Los Angeles andererseits unterdrückt keine der destruktiven Energien, die eingesetzt werden, um divergierende individuelle Interessen gegenseitig in Stellung zu bringen und wüten zu lassen. Oft verschwimmen die tatsächlichen Konfliktlinien, weil sämtliche Konfliktparteien die Kunst der Inszenierung, der Täuschung und Ablenkung gelernt haben. Wer postmoderne Konfliktbaustellen liebt, wird hier überglücklich werden. Doch trotz dieser taktischen Nebelschwaden agiert die tatsächliche architektonische Konfiguration von Los Angeles ohne Beschönigung, ohne Gängelung, ohne besorgte Moderation. Los Angeles ist kein Projekt, sondern eine moderne Stadt im offenen Vollzug. Ist dieser offene Vollzug der Moderne ein Vorteil gegenüber dem europäischen Stadtmodell? Ja, denn die Europäische Stadt gibt eher Auskunft darüber, wohin sich die kuratierte, kollektivistische Moderne wünscht. Das macht die Europäische Stadt zukunftsträchtig, aber nur im peinlichsten Wortsinn. Die Europäische Stadt ist seit jeher scheinschwanger, sie versichert ständig, dass das große kollektivistische Ideal bald geboren wird, aber es kommt nicht zur Welt. Das kollektivistische Ideal realisiert sich nicht, sondern wird wieder und wieder in die Zukunft projiziert. Los Angeles ist im Gegensatz dazu illusionsloser und damit gegenwartsaktiver. Der offene Vollzug ist zwar unschön, aber evident. Los Angeles gibt unverstellt Auskunft darüber, wo die individualistische Moderne aktuell steht und zu welcher Form von Stadt sie unweigerlich konvergiert. Das macht Los Angeles nicht nur auf der Suche nach Archetypen der Moderne ergiebiger, es macht die Stadt insgesamt als Modell robust und allgemeingültig.

Panische Energie Diese prinzipielle Robustheit und ungeschönte Aussagekraft erklärt aber noch nicht ausreichend, warum Los Angeles die individualistische Moderne als Basiskonfiguration bevorzugt. Naheliegend wäre nämlich genau das Gegenteil. Im Buch Tausend Plateaus unter dem Kapitel „1914 – Ein Wolf oder mehrere?“ schulmeistern Gilles Deleuze und Félix Guattari ausführlich Sigmund Freud, weil der in seiner Fallstudie zum Wolfsmann ignoriert, dass der Wolf immer als Teil einer Mannigfaltigkeit, eines 62

Rudels, zu denken ist und nicht als Individuum. Den individuellen Wolf gibt es nicht. „Der Wolf ist das Rudel.“3 Diese Erkenntnis darf man auf den menschlichen Teil des Wolfsmannes übertragen. Den individuellen Menschen gibt es nicht. Der Mensch ist das Rudel. Jeder Mensch wird in ein Kollektiv hineingeboren und erwacht als denkender Mensch im Kollektiv. Das ist der Grundzustand und nicht das alleingestellte Individuum. Daraus folgt, dass sogar der projektive Formzwang, der aus dem Kollektiv auf den Einzelnen wirkt, als menschlicher Grundzustand hinzunehmen ist. Um von diesem kollektiven Grundzustand zum Individuum zu kommen, muss der Menschen zuerst aus der Gesellschaft herausisoliert und dauerhaft in der unnatürlichen Isolation gehalten werden, sonst fällt er wieder in die Gemeinschaft zurück. Dem zwanghaften Kollektiv entkommt man also nur durch noch viel größeren Zwang. Daraus ergibt sich eine klare Reihung der Stadtmodelle. Die Europäische Stadt ist durch ihre kollektive Ausrichtung naheliegend und folglich das erste Stadtmodell. Los Angeles bzw. die Amerikanische Stadt ist durch ihre individualistische Ausrichtung eine mutwillig nachträgliche Konstruktion und folglich das zweite Stadtmodell. Die erstaunliche Tatsache an dieser Reihung der beiden Stadtmodelle ist allerdings der Umstand, dass überhaupt ein zweites Modell erfunden worden ist. Denn das bedeutet ja, dass das erste Modell massiv versagt haben muss. Hätte das kollektivistische Stadtmodell der Europäer die Menschheit restlos zufriedengestellt, hätte niemand den aufwendigen Exodus antreten müssen, um so etwas wie das Modell Los Angeles zu erfinden. Diese Schicksalsverbundenheit der beiden Stadtmodelle muss man ungeschönt herausstellen. Das zweite ist nicht ohne das Versagen des ersten denkbar. Nebenbei erklärt das Versagen, wie man Individuen aus einem sozialen Verband herauszwingt und den sozialen Verband insgesamt zerstört. Erst wenn das Kollektiv versagt, entstehen Individuen als unmittelbare Bruchstücke. Wie Rettungsringe werden sie plötzlich freigesetzt, sobald das große gemeinsame Schiff zu sinken droht. „Rette sich wer kann“ benennt immer den Zerfall der Gemeinschaft in panische Individuen, die sich allein auf den erlösenden Sprung machen. Oft überrascht und überfordert, sich erstmals als Individuum zu begreifen 3 Gilles Deleuze, Félix Guattari. Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie. Merve Verlag. 1992. Seite 50

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und zu erleben, denn auf sich gestellt zu sein, benennt immer den Ausnahmezustand, den Ernstfall, vorausschauend eine Bedrohung und Beeinträchtigung. Wendet man dieses Narrativ auf Los Angeles an, kommt man zu einer überraschenden Qualifizierung. Eine individualistische Stadt wie Los Angeles ist ebenfalls der Ausnahmezustand, der Ernstfall, der Kollateralschaden eines großen gesellschaftlichen Versagens. Aber welches große Versagen des kollektivistischen Stadtmodells hat diesen Ausnahmezustand ausgelöst? „If we look to the answer as to why for so many years we achieved so much, prospered as no other people on Earth, it was because here in this land we unleashed the energy and individual genius of man to a greater extent than has ever been done before. Freedom and the dignity of the individual have been more available and assured here than in any other place on Earth. The price for this freedom at times has been high, but we have never been unwilling to pay that price“.4 Ronald Reagan preist 1981 in seiner Antrittsrede als Präsident den Individualismus als Grund für die dauerhafte Überlegenheit der USA. Denn mit der Freisetzung der Individuen aus dem Kollektiv wird zusätzliche Energie und zusätzlicher Genius freigesetzt. Ein Bonus, über den das Kollektiv offensichtlich nicht verfügt. Der Ausnahmezustand hat also Leistungsvorteile – und Reagan hat damit durchaus recht. Jeder kennt solche Momente, wenn einem die Panik plötzlich Beine macht. Wenn der Alarm die Müdigkeit vergessen lässt. Wenn der Tunnelblick des Fluchtinstinkts die Zaghaftigkeit ausschaltet und der Ich-Antrieb keine Zweifel mehr kennt. In der Rückschau ist es oft erstaunlich, wie viel Schub so ein panischer Ich-Antrieb freisetzen kann, und nicht selten wünscht man sich derartige Energieschübe auch im Alltagsbetrieb. Ein Wunsch, der gleichzeitig den entscheidenden Wendepunkt einleitet. Denn eine Stadt mit permanentem Panik-Antrieb auszustatten, verspricht deutliche Leistungsvorteile gegenüber einer Stadt, die durch gegenseitige Versicherung im Kollektiv träge agiert. Das große Versagen des Kollektivs besteht also lediglich darin, energetisch überboten worden zu sein. Im Prinzip ist das die Kurzgeschichte von Los Angeles und des amerikanischen Gesellschaftsmodells. Die energetische Verlockung der Hochleistungsmoderne war und ist größer als die Annehmlichkeit eines Versicherungskollektivs. Reagan merkt noch kryptisch an, dass dafür ein Preis zu zahlen wäre, 4 Ronald Reagan. „Inaugural Address.“ https://www.presidency.ucsb.edu/documents/inauguraladdress-11. 20.01.1981

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aber in Summe präsentiert er das Modell als einen guten Deal. Eine Einschätzung, die ihm in den USA bis heute im Wesentlichen geglaubt wird. Nur konsequent, dass auch Los Angeles den präsidialen IndividualismusLaudator mit der Benennung des Ronald Reagan Freeways in die lokale Stadtgeschichte eingeschrieben hat. Die Anhänger des europäischen Stadtmodells werden inzwischen blass geworden sein. Das amerikanische Modell verfügt also über mehr Energie und Genius? Es ist zwar etwas ungemütlicher, weil im dauerhaften Panik-Antrieb, aber der Leistungsvorteil ist dennoch evident? Die Replik auf diesen herabsetzenden Vergleich fällt schwer. In kleinen und mittelgroßen europäischen Städten funktioniert das Ideal der solidarisch-kollektiven Bürgerstadt ja durchaus, aber überschäumende Energie und Genius wird man diesen Regionalstädten nicht zuschreiben können. Die großen europäischen Metropolen wiederum machen schon länger die tragische Erfahrung, dass sie wohl doch nicht als solidarisch-kollektive Bürgerstadt betrieben werden können. London, Paris, Moskau sind letztlich genauso ungemütliche Egotripstädte wie Los Angeles und arbeiten ebenfalls mit der panischen Energie der freigesetzten Individuen. Damit kann man die Reihung der Stadtmodelle konsolidieren: Die Europäische Stadt ist gut, fertig, erprobt und die beste Option für Klein- und Mittelstädte. Los Angeles ist das Hochleistungsmodell für Metropolregionen, die den internationalen Modernewettbewerb anführen wollen. Und wenn die Kritiker recht behalten und die Stadt der panischen Individuen nicht zukunftsfähig ist? Weil der laut Reagan zu zahlende Preis zu hoch ist? Zuallererst muss man feststellen, dass ein radikaler stadtstrategischer Systemwechsel nicht wahrscheinlich ist, weil die alltägliche Kritik meist nicht bis zur Systemfrage vordringt. Die Fehler des individualistischen Stadtmodells werden genauso wenig wertfrei evaluiert wie die Fehler des kollektivistischen Stadtmodells. Das bedeutet, das jeweilige Prinzip wird nicht hinterfragt, sondern nur dessen Realisierung bewertet. In Europa wird man die Idee des Formzwangs nicht so schnell aus dem Moderneverständnis streichen, sondern nur den Grad der Folgsamkeit bewerten. In Los Angeles wiederum bleibt die Idee der Individualität auf absehbare Zeit die absolute Grundlinie der Bewertung. Als Fehler gilt nur, was der individuellen Freiheit entgegensteht, aber nicht das Ausmaß des individuellen Freiheitsanspruchs 65

an sich. Jeder in Los Angeles klagt über die täglichen Staus auf der Autobahn, aber nur weil sie einen selbst am Vorankommen hindern. Jeder beklagt sich über die ausufernden Suburbs, aber nur weil sie einen selbst daran hindern, ein Einfamilienhaus in Stadtnähe zu errichten. Die kritische kollektive Abrechnung wird also nur angestellt, weil sie die persönliche Abrechnung negativ beeinflusst. Die vielen Beschwerden über die Stadt gefährden daher nie die systemische Basis der individualistischen Auslegung der Moderne. Und was passiert, wenn die hohe Hürde der Systemkritik doch genommen wird und die Stadt der panischen Individuen abgelöst werden soll? Dann haben die panischen Individuen noch mehr Grund, panisch zu werden – oder ultimativ formuliert: Wenn das Modell Los Angeles nicht zukunftsfähig ist, dann ist moderner Städtebau generell am Ende. Dann wird man für die großen Metropolen ein gänzlich neues Stadtmodell erfinden müssen. Ein Modell, das nach dem Glauben ans versichernde Kollektiv auch noch den Glauben ans hochenergetische Individuum über Bord wirft. Das Ergebnis wäre eine Stadt der massenhaft Selbstlosen. Je nachdem, ob man sich dabei Zombies oder Elfen vorstellt, könnte das die allerbeste Stadtidee überhaupt sein – ohne Zynismus. Vorerst ist es allerdings nicht mehr als eine unerforschte und unerprobte Reserve für die Zukunft.

Endzeitmoderne Los Angeles als das einzig zukunftsfähige Metropolenmodell der Moderne zu identifizieren, bestätigt die Stadt in ihrer fast 150-jährigen Rolle als Seismograf für den Zustand der Moderne. Los Angeles hat sogar gezeigt, wie der Widerspruch zwischen klassischer Stadtgeschichte und moderner Geschichtsaversion aufgelöst werden kann. Die Stadt ist so sprunghaft gewachsen, dass man eher von einer Sukzession von Neugründungen am selben Ort sprechen muss als von einer kontinuierlichen Entwicklung. Jede Generation hat ihre eigene Idee von Los Angeles realisiert und so wurde in den 150 Jahren, die Los Angeles alt ist, mehrmals das gesamte urbane Format neu installiert. Rekapituliert man die Liste der Neugründungen, stößt man jedoch auf eine interessante Zäsur, die nicht nur eine völlig neue Entwicklungsrichtung andeutet, sondern auch die bisherige Stadtentwicklung tendenziell umwertet. 66

Der offizielle Beginn und die erste Gründung von Los Angeles erfolgen 1850, mitgerissen von der Pioniermoderne an der Westküste. Kalifornien wird in die USA aufgenommen und Los Angeles erhält das US-Stadtrecht. Weniger als 2000 Einwohner hat die Stadt zu dieser Zeit und leistet nicht viel mehr, als den nordkalifornischen Goldrausch mit Rindern zu beliefern – und ist dennoch berühmt als die gesetzloseste Stadt im Westen Amerikas. Die Kleinheit dieser ersten Version von Los Angeles darf nicht wundern, da die gesamten USA zu dieser Zeit nur 23 Millionen Einwohner zählen. Die erste Neudefinition der Stadt passiert schon bald darauf mit der Anbindung an die Union Pacific Railroad 1876 und das Santa-Fe-Eisenbahn-System 1885. Die Eisenbahnmoderne erfasst die Stadt und Los Angeles wird zu einem ernstzunehmenden Wirtschaftsstandort mit bereits 100.000 Einwohnern im Jahr 1900. In den folgenden 10 Jahren verdreifacht sich die Einwohnerzahl auf über 300.000. Die nächste Neugründung wird durch den massiven Ölboom ausgelöst. Die Rohstoffmoderne hebt die Stadt auf die internationale Bühne. 1923 wird ein Viertel der Weltfördermenge an Rohöl in der Region Los Angeles produziert. Parallel dazu beginnt die Filmindustrie der Stadt ein völlig neues Image zu verpassen. Die erste internationale Medienmoderne wird ganz wesentlich von Los Angeles aus dirigiert. 1927 wird der erste Oscar verliehen, und im Jahr 1930 zählt die Stadt bereits 1,2 Millionen Einwohner. Während des Zweiten Weltkriegs gründet sich Los Angeles abermals neu und wird in nur wenigen Jahren zum wichtigsten Standort der amerikanischen Rüstungsindustrie. Die Kriegsmoderne macht Los Angeles zur internationalen Fluggerätemetropole. Noch heute ist die Großregion weltführend in der Flugzeug- und Weltraumtechnologie. 1940 wird außerdem der Arroyo Seco Parkway, die erste Stadtautobahn, eröffnet und damit die urbane Neudefinition als Autostadt vorbereitet. 1950 beginnt dann schließlich der Bau eines umfassenden Autobahnnetzwerks inklusive Suburbanisierung und in den frühen 1960er Jahren ist Autopia, die Automobilmoderne, Realität geworden.5 Und die nächste Neugründung? Was ist seit der Installation von Autopia passiert? Rekapituliert man die Serie der Neugründungen, stößt man genau zu diesem Zeitpunkt auf die angekündigte Zäsur. Die Stadt zählt 1960 knapp unter 2 Millionen Einwohner, weit entfernt vom 5 Reyner Banham. „Ecology IV: Autopia“. In: Los Angeles: The Architecture of Four Ecologies. University of California Press. 2001. Seite 195

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heutigen Volumen von über 13 Millionen in der Greater Los Angeles Area. Und doch hat Los Angeles schon damals seine bis heute gültige geografische und urbane Logik eingerichtet. In den 1960er Jahren ist die Sukzession an Neugründungen zu Ende und die sprunghafte Schichtung von Stadt weicht einer klassisch kontinuierlichen Stadtgeschichte. Ein besonderer Moment, nur weiß das zu diesem Zeitpunkt noch niemand. Der Mythos der geschichtslosen Metropole existiert noch heute, gleichermaßen die Selbsteinschätzung, in einer immer jungen Stadt zu leben. Doch das stimmt schon lange nicht mehr. Ab 1960 kann man bereits vom heutigen Los Angeles sprechen. Die Stadtanlage ist zwar laufend erweitert und ausgearbeitet worden, aber es ist keine weitere Neudefinition mehr passiert. Das Los Angeles der 1960er Jahre ist schlichtweg alt geworden und das Los Angeles von heute ist eine historische Stadt. Diese 60 Jahre klassischer Stadtalterung sind gemessen an den 150 Jahren Gesamtbestand durchaus erheblich und charakterbildend. So gibt es trotz jugendlicher Attitüde kaum ein Stadtquartier, das nicht in irgendeiner Weise seine History betonen würde. Im Stadtgespräch ist es üblich, Vorgängerbauten oder lokale Vorgängersituationen vergleichend in Erinnerung zu rufen. Diese Rückblicke reichen natürlich nicht so tief wie in vielen europäischen Städten, sind dafür aber umso lebendiger, weil sie persönlich erinnert und weitergegeben werden. Viele Bewohner von Los Angeles sind Nostalgiker, Geschichte ist hier kein akademisches Monstrum, sondern wird freudig erzählt, fast erstaunt, als eine Eigenschaft, die man erst jetzt langsam an sich entdeckt. Und so hört man Anekdoten vom Venice Beach der 1970er Jahre, als Bodybuilding groß und schließlich wieder belanglos wurde; hört Geschichten von den Hair-Metal-Zeiten; von den Exzessen im Beverly Hills Hotel; und von den unvermeidlichen Kuriositäten aus den Filmstudios, die nicht immer wahr sein müssen. Selbst die Küste von Santa Monica bis Malibu ist schon historische Kulisse der schwerelosen Baywatch-Zeiten. Und natürlich ist auch Disneyland längst zum unfreiwilligen Historyland geworden. Eröffnet 1955 und bis in die frühen 1960er Jahre in der ersten Version fertiggestellt, sind auch hier mittlerweile über 60 Jahre Geschichte aufgelaufen. Obwohl die wenigsten Attraktionen so weit zurückreichen, erkennt man an vielen Kulissen und Attraktionen dennoch den Geist einer vergangenen Epoche. Vor allem das Tomorrowland, als einstmals visionäre Zukunftsatmosphäre entworfen, hat heute den 68

distanzierten Charme der 1970er Jahre. Ein Eindruck, der einem überall in der Stadt bestätigt wird. An vielen Durchzugsstraßen reihen sich Diner, Motels, Geschäfte, Bungalows aneinander, die Jahrzehnte alt sind. Im San Fernando Valley oder in Lakewood kann man alt gewordene Suburbs bestaunen und in den Bergen die Architekturavantgarde der frühen Moderne. Streckenweise gleicht Los Angeles einem Freilichtmuseum einer vergangenen Zeit. Architekturtheoretisch bedeutet diese historische Setzung eine entscheidende Vereinfachung. Man muss nicht mehr einem eruptiven, ephemeren Stadtversuch nachspüren, der ohnehin bald dem nächsten Versuch weichen wird. Man kann stattdessen von einem konsolidierten Zustand berichten. Los Angeles hat sein Format gefunden und zeigt keinerlei Anzeichen, dieses Format kategorisch infrage zu stellen oder gar zu revidieren. Architekturhistorisch hingegen ist der Übergang von kurzfristigen Neugründungen in einen konsolidierten Zustand nicht so einfach aufzulösen. Man erwartet in der Architektur immer noch einen horizontalen Gezeitenwechsel, der in wenigen Jahren einen umfassenden Neuanfang einleitet und alles Bestehende beiseite räumt. Nicht immer als Neugründung wie in Los Angeles, aber dennoch als deutliche Zäsur. Die Architekturgeschichte des 20. Jahrhunderts hat reichlich Gelegenheit geboten, sich an derartige Gezeitenwechsel zu gewöhnen. In verlässlichen Abständen wurde das bekannte Umsturzstück Avantgarde versus Establishment wiederholt und damit eine entsprechende Erwartung aufgebaut. Kein Wunder also, dass gerade jetzt die große Frage im Raum steht, wie das Projekt der Moderne nach der bisherigen Sukzession, Moderne – Scheitern – Postmoderne, weiterlaufen soll? Wann kommt die nächste große Modernephase? Kommt sie zu spät? Kommt sie gar nicht? Gäbe es eine schlüssige Antwort auf diese Frage, wäre sie längst gefunden. Die Umsturzformel als solche wird ja nach wie vor praktiziert, aber nicht mehr in der gewohnten Synchronität. Neue Auftakte gibt es genug, aber keine mehr, die eine ganze Generation versammeln. Die letzte halbwegs kollektive Wahrnehmung schien das Ende der Postmoderne zu sein. Nicht wenige Beobachter waren sich einig, dass 1989 mit dem Fall der Berliner Mauer auch die Postmoderne gefallen war. Eine eruptive Realität war plötzlich zurück und die End-of-History-Prophezeiung der postmodernen Zukunftsdeuter schlagartig widerlegt. Doch in der Architektur ist die Postmoderne noch lange nicht tot. Während die Politikwissenschaft bereits rekapitulierende Besprechungen zur 69

Postmoderne veröffentlicht, betreiben die Architekten weiterhin bildreiche Ausarbeitungen. In den Boom-Regionen Asiens hat die Postmoderne lang nach dem proklamierten Ende erst ihren Zenit erreicht, und am Persischen Golf koinzidiert Peak Oil exakt mit Peak Postmodern. Aber nicht nur die Postmoderne, auch die funktionalistische Moderne der 1950er Jahre ist nicht wirklich zu Ende gegangen, sondern wird mit den alten, eigentlich gescheiterten Argumenten weiter angetrieben. Kaum mehr publiziert, aber umso konsequenter ausgeführt. Sogar die euphorische Frühphase der Moderne konnte erfolgreich reanimiert und vor allem in Europa als Zweite Moderne mit junger Besetzung noch einmal aufgeführt werden, begleitet von einer Wiederholung der formalistischen Moderne der 1960er Jahre. Schaut man zurück nach Los Angeles, muss man feststellen, dass auch die Kriegsmoderne der 1940er Jahre nicht vorbei ist, sondern lediglich diskreter abgewickelt wird. Gleiches gilt für die Rohstoffmoderne, die sich heute um Unsichtbarkeit bemüht, um ja keine geschäftsschädigenden Schlagzeilen zu produzieren – was nicht immer gelingt. Kurioser- oder konsequenterweise wird selbst die Eisenbahnmoderne neu ventiliert, Hyperloop ist der neue Name, unsichtbar, superschnell, eine klassisch moderne Wette auf die Zukunft. Die Medienmoderne ist ebenfalls noch nicht vorbei, sondern hat sich nur vom Medium Film emanzipiert und damit erheblich an Präsenz dazugewonnen. Den handgreiflichen Gegenpart dazu nimmt die Pioniermoderne ein, die Land und Boden erobert und verwertet. Ein Blick in die Wüste im Hinterland von Los Angeles beweist, dass auch diese Modernephase ungebremst weiterläuft. Ironischerweise ist sogar das Scheitern der Moderne in den Dauerbetrieb übergegangen. Eigentlich war das große Scheitern eine historische Zäsur, die es aus der Perspektive der Moderne nie hätte geben dürfen und die sich aus der Perspektive der Postmoderne nie hätte wiederholen dürfen. Weit gefehlt. Das große Scheitern war kein einmaliges Ereignis, sondern hat von Anfang an zum Risikomodell der Moderne gehört und wiederholt sich seither ständig. Auch heute noch werden ganze Stadtquartiere unter dem Slogan der Modernisierung kaputtgebaut oder durch postmoderne Attitüden mehr verkitscht als verbessert. Auch die Postmoderne kann scheitern – zumindest das ist eine neue Erkenntnis, die man aber bislang übersehen hat, weil die Postmoderne vielgesichtiger ist und keine so monströsen Versagensbilder liefert wie die Massenmoderne. 70

Fasst man diese Rundschau durch die aktuell laufenden Modernephasen zusammen, kommt man zu einem überraschenden Summenbild: Das typische Erkennungsmerkmal der Jetztzeit ist tatsächlich das Verschleppen von Entwicklungsphasen der Moderne weit über ihr vermeintliches Ablaufdatum hinaus. Die zeitgenössische Moderne betreibt nicht End of History, sondern Never Ending Histories. So betrachtet, ist auch Los Angeles keine Sukzession an Neugründungen unter einem jeweils neuen Modernetitel, sondern bloß eine Sukzession an Hinzugründungen. Auch die Serie der Hinzugründungen ist nicht abgebrochen, aber die Stadt hat bereits so viele Modernephasen akkumuliert, dass keine Hinzugründung mehr dominant in Erscheinung tritt. Weder das Computerzeitalter, noch das Internetzeitalter, noch das Start-up-Zeitalter haben die Stadt signifikant umgewertet. Alle großen neuen Moderneimpulse werden weitestgehend im Bestandsmodell absorbiert. Das klingt nach finaler Entspannung, ist aber an Dramatik nicht zu überbieten. Denn es bedeutet nicht weniger, als dass das Projekt der Moderne in die Endzeit eingelaufen ist. Die Moderne zeigt ihre unterschiedlichen Phasen nicht mehr in abgehackten Zeitintervallen, die einander ablösen und damit einen Fortschrittssprung versprechen, sondern sämtliche Phasen agieren nebeneinander im aussichtslosen Dauerbetrieb. Sogar Modernephasen, die vormals sehr intensiv ein einzelnes Zeitintervall beansprucht haben, scheinen sich jetzt mit einer schmalen Endlosspur zufriedenzugeben. Lieber ewig verlängert werden, als in massiver Kürze zu verglühen – scheint die neue Metastrategie der Modernephasen zu sein. Und tatsächlich ist für keine Phase ein vorzeitiges Ende abzusehen. Projektiv kann man das als geänderte Wuchsrichtung der Moderne interpretieren, die eine vormalige dominante Blockmusterung in eine kontinuierliche Streifenmusterung überführt. Dreht man die zeitliche Blickrichtung um, entdeckt man in der Vergangenheit plötzlich ähnliche Streifenmusterungen, die man bislang nicht sehen wollte. Die Endzeitmoderne ist also nicht plötzlich gestartet, sondern zieht schon viel länger in einzelnen Spuren durch die Moderne. Rekapitulierend erkennt man, dass die Moderne sogar ambivalenter startet, als das die frühmodernen Verlautbarungen eingestehen wollten. Gerade in den Anfangsjahren laufen Moderne und postmoderne Kritik an der Moderne parallel, ohne dass es dafür schon Begriffe gibt. Richard Neutra und Rudolph Schindler, Le Corbusier und André Lurçat – es lassen sich viele ähnliche dialektische Paare finden, die aber sehr 71

einseitig, zugunsten der radikalen Moderne, veröffentlicht wurden. Dann kam der Zweite Weltkrieg und zwang allen eine brutal-technische Rüstungsmoderne auf, die alternative Argumente nicht hören wollte. Die Nachkriegsjahre folgten dieser einseitigen industriellen Moderne, sie wurde lediglich von Kriegsproduktion auf Zivilproduktion bzw. Wiederaufbau umgestellt – ebenfalls ohne Verlautbarung abweichender Stimmen. Diese jahrzehntelange mediale Betonung der industriellen Moderne schwingt nach Ende der Nachkriegszeit machtvoll in die Gegenrichtung und rückt plötzlich die Postmoderne als großes Gegenprojekt überproportional in den Vordergrund. Nach dem Ende des Kalten Kriegs entspannt sich das System schließlich und die prinzipielle Pluralität der Moderne wird als Endzeitmoderne erstmals deutlich sichtbar. Diese alternative Lesung der Geschichte der Moderne kann man konfliktfrei neben der klassischen bestehen lassen, denn, egal ob man die Gleichzeitigkeit aller Modernephasen als neue Endzeit oder als endlich sichtbaren Normalbetrieb definiert, die unmittelbare Konsequenz ist die gleiche: Der große Rahmen der Moderne ist damit vollends ausgelegt. Der anfängliche Aufbruch, das abgründige Scheitern, die nachträgliche Reparatur – die gesamte Dreifaltigkeit der Moderne ist anwesend und aktiv. Mehr große Phasen hat es nie gegeben, mehr wird es nicht geben, hinzu kommen lediglich iterative Ausdifferenzierungen, schmale Moderneideen, die als Linien oder dünne Schatten die großen Modernephasen begleiten und variieren. Endzeitmoderne bedeutet also, dass die große kategorische Arbeit für immer erledigt ist. Endzeitmoderne bedeutet außerdem, dass alle Aggregatzustände der Moderne immer gebrauchsfertig angerichtet und für jeden jederzeit verfügbar sind. Das hört sich großzügig an – und das ist es auch. Die logisch nächste Konsequenz ist aber trotzdem kritisch. Die direkte Verfügbarkeit bedeutet nämlich, dass die Moderne in all ihren wesentlichen Ideen längst vermittelt, verstanden, eingeübt sein müsste. Ist die Implementierung der Moderne wirklich abgeschlossen? Theoretisch ja, Zeit war mehr als genug. Wer heute kein vollumfänglicher Moderneexperte ist, hat sich aktiv verweigert. Und selbst die Verweigerer müssten präzise Kenntnis von dem haben, was sie da verweigern. Man kann also mit einer forschen Generalisierung zwischenbilanzieren: Wir sind alle eingeübte Moderneprofis. Das wird mancher als böse Ironie lesen, so ist es aber nicht gemeint. Tatsächlich gab es noch nie so viele bestens ausgebildete und bestens motivierte Architekten. Das Portfolio der Architektur war noch 72

nie so dicht mit Ideen, Gedanken, Projekten, Ausarbeitungen, Assoziationen, Variationen zur Moderne bestellt. Noch nie wurde so viel erstklassig moderne, erstklassig gescheiterte und erstklassig postmoderne Architektur entworfen und gebaut wie heute. Jede der drei großen Modernephasen findet in der Jetztzeit ihre besten und prägnantesten Beispiele. Das zeugt tatsächlich von unübertroffener Modernekompetenz. Damit scheint sich der kühnste Wunsch der Modernepioniere endlich erfüllt zu haben: Die Moderne ist der letzte Stil und die Endzeitmoderne die letzte Phase.

Überschreiten der Ambition Wechselt man in der Betrachtung zur alltäglichen Praxis, zeigt sich ein besonderes Charakteristikum der Endzeitmoderne: Extreme Produktivität. Inmitten eines umfassenden, liberalen Pluralismus findet jede Idee ihre Spur, um voranzukommen. Kritische Diskurse zwischen den Vertretern einzelner Modernephasen gibt es selbstverständlich, auch herrscht auf manchen Spuren mehr Gedränge als auf anderen, aber es gibt keine kategorischen Blockaden mehr. Der liberale Pluralismus lässt letztlich jeden machen. „Machen, machen, machen“ nennt der Künstler Jonathan Meese treffenderweise seine eigene Kreativgetriebenheit. „Projekt, Projekt, Projekt“ nennen die Architekten ihre Output-Getriebenheit. Im tagtäglichen Projektstakkato sammeln sich momentan der gesamte Eifer und die gesamte Hoffnung der Architekturbranche. Die Hoffnung ist nicht unbegründet. Die ohnehin schon reichhaltigen Projektlisten werden laufend um noch interessantere Projekte ergänzt. Viele davon übersteigen sogar den konkreten Bearbeitungskontext und werden zum Referenzprojekt für die generelle Architekturdebatte. Damit ist das höchste Qualitätsprädikat genannt, das momentan vergeben wird: Referenzprojekt-Sein. Gerhard Richter ist einmal zugestanden worden, für die Malerei Referenzkünstler zu sein.6 Damit personalisiert sich die Referenzauszeichnung. Diese personalisierte Referenzauszeichnung wird auch manchem zeitgenössischen Architekten zuteil. 6 „Viele Interpreten haben an Richters Kunst immer wieder den Kommentarcharakter in Bezug auf moderne Kunst hervorgehoben. Er male nicht nur Bilder, sondern perspektiviere zugleich die Geschichte der Kunst im 20. Jahrhundert.“ Jürgen Müller. „Einführung. Vom Denken in Bildern“. In: Dietmar Elger, Jürgen Müller. Hrsg. Sechs Vorträge über Gerhard Richter. Verlag der Buchhandlung Walther König. 2007. Seite 11

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Doch mit dem Referenzprädikat ist gleichzeitig eingestanden, dass nur noch zweite Preise vergeben werden. Der erste Preis, die Eröffnung einer großen neuen Phase der Moderne, scheint hingegen unerreichbar zu sein. Wie sehr der Verlust der großen kategorischen Hoffnung eine Branche beschädigt, lässt wieder Meese ahnen, wenn er euphorisch-empört verkündet, dass er die Kunst doch nicht mit seinem Können belästigen kann. Ein scheinbar autoaggressiver Witz, um sich als Künstler zu befreien. Aber vor allem ist es purer Spott. Wer will Künstlern oder Architekten der Endzeitmoderne noch höchstes Können zusprechen, wenn eine große kategorische Neuorientierungen nicht mehr von Nöten ist, und außer „Machen, Machen, Machen“ und „Projekt, Projekt, Projekt“ nichts mehr zu tun bleibt. „Mir sagte Liebezeit: ‚Holger, du spielst nur so viele Töne, weil du den einen richtigen Ton noch nicht gefunden hast!‘“7 In dieser Aufforderung des Schlagzeugers Jaki Liebezeit an Holger Czukay, den Bassisten der Band Can, wird deutlich, wohin sich manch Kreativer wünscht, wenn ihm die Kurzsichtigkeit des „Machen, Machen, Machen“ unerträglich wird. Der eine richtige Ton ist plötzlich das Ideal. Das radikale Gegenteil des liberal-pluralistischen Überschwangs wird als erlösende Kraft gefordert. Damit ist die zweite Asymptote skizziert, der sich Kreativarbeit in der Endzeitmoderne nähert, auch in der Architektur. Alle pendeln irgendwo zwischen dem „Projekt, Projekt, Projekt“-Stakkato und der Suche nach der einen großen Wahrheit, die alles andere endlich wegrelativiert. Es wäre oft genug tatsächlich erleichternd und erlösend, auf so eine wahrhaftige Singularität zu treffen, die einem die Last der Mannigfaltigkeit abnimmt. Das bedeutet, dass zumindest auf der Stimmungsebene der liberale Pluralismus gelegentlich weggewünscht wird. Daraus folgt dann zwangsläufig, dass auch die Endzeitmoderne nicht von allen immer geschätzt wird. Die Stimmung ist in Summe sogar deutlich schlechter als die Produktivität. Das kann man gesichert diagnostizieren. Weniger sicher lässt sich diagnostizieren, ob die eingetrübte Stimmung fachlich berechtig ist. Der liberale Pluralismus hat oft genug seinen Wert im kreativen Arbeiten bewiesen, die Absage an den liberalen Pluralismus aber genauso oft. Es gibt somit keinen zwingenden fachlichen Grund, die Endzeitmoderne in ihrer alltäglichen Praxis hochzuschätzen oder abzulehnen. 7 Holger Czukay. In: Arno Frank, Holger Czukay. „Can-Musiker Czukay im Interview: ‚Musik hat immer etwas Absolutes‘.“ https://www.spiegel.de/kultur/musik/can-musiker-holger-czukay-iminterview-a-940927.html. 01.01.2014

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Die entscheidende Frage lautet dann: Wie kann man auf die eingetrübte Stimmung ohne fachliche Bewertung reagieren? Dazu muss man von der fachlichen Bewertung des Gegenstands zur physisch-psychischen Bewertung der Leistungsfähigkeit der Akteure der Disziplin überwechseln. Das ist die grundlegende Ressource, die letztlich jede Disziplin rahmt, auch die Architekturproduktion in der Endzeitmoderne. Andere Disziplinen, wie der Spitzensport oder die darstellende Kunst, haben diese evolutionsbiologisch erworbenen Kapazitäten ihrer Akteure deutlich im Blick. Die Architekturbranche sollte das ebenfalls tun, um die Orientierungslosigkeit als die größte Schwachstelle des aktuellen Betriebs zu erkennen. Wenn alles gleichzeitig in Bewegung ist, wird das Navigieren für viele schwierig. Doch gerade die engagierten Akteure wollen nicht über längere Zeit ohne Orientierung vor sich hin arbeiten. Moderne, Scheitern, Postmoderne: Alle drei Phasen hatten durch eine zeitliche thematische Verengung die Orientierung erleichtert. Man konnte mit dem Strom schwimmen oder dagegen. Eine ähnlich gerichtete Lage versprechen sich manche durch die mutwillige Einschränkung des momentanen Pluralismus und die Ausgabe einer neuen, mehrheitlich verbindlichen Moderneparole. Aber das ist ein Trugschluss – auch rückblickend. Orientierung hat weniger mit der Zurichtung der Umwelt zu tun, sondern mit der Bestimmung des eigenen Standpunkts im Kontext. Orientierung ist Selbstbestimmung. Es geht darum zu wissen, was man tut, warum man es tut, und wer man ist, während man es tut. Dazu muss man aber nicht zwingend den Kontext aufräumen oder den Pluralismus einschränken, sondern nur den eigenen Standpunkt so weit verbessern, dass man wieder Weitblick gewinnt. Damit ist klar, was momentan, inmitten der ausufernden Endzeitmoderne am dringlichsten zu leisten ist. Der Standpunkt der Architektur ist so weit zu verbessern, dass in der Flut der zeitgenössischen Produktion von Architektur wieder bestimmbar wird, was Moderne ist. Genau das ist die Absicht des vorliegenden Buchs. Eine tragfähige Selbstbestimmung der Architektur der Moderne auszuarbeiten und davon ausgehend die Kontur der Endzeitmoderne zu vermessen. Die operative Anschlussfrage lautet nun: Wie lässt sich der Standpunkt der Architektur so weit verbessern, dass diese Selbstbestimmung möglich wird? Im Prinzip ist diese Frage schnell beantwortet. Der bessere, weitsichtigere, erkenntnisreichere Standpunkt ist immer oben zu finden, in 75

der Position des Metabeobachters. Die Selbstbestimmung der Moderne muss also die Modernemacher beim Machen beobachten und nicht bloß die Moderneerzeugnisse. Das klingt kompliziert und ist dennoch ganz einfach. Es gilt die energetische Basis der Moderne aufzuspüren und freizulegen. Das ist das zu jeder Zeit gültige Betriebssystem der Moderne und es ist die einzige sichere Orientierung, wenn keine externen Faktoren die Moderne bestimmen. In der Endzeitmoderne ist die eigene Ambition die ultimative Direktive. Davon ist letztlich alles abgeleitet. „Wovon sonst?“, wird man jetzt antworten – keine große Neuigkeit. Um die energetische Basis des Architekturmachens weiß die Architekturbranche seit jeher. Nein, weiß sie eben nicht oder will sie nicht wissen. Wie sonst konnte die verblüffend einseitige energetische Einschätzung der Moderne unwidersprochen bleiben? Alle drei großen Aggregatzustände der Moderne werden als Ergebnis höchster Ambition erklärt. Die Moderne hatte zu viel sture Energie, im Scheitern explodiert alles in zu viel negative Energie, und die Postmoderne machte sich mit existenziellem Elan an die Rettung und Reparatur. Tolle Geschichte, aber maximal die halbe Wahrheit. Die schöne Hälfte der Wahrheit zweifellos, aber dennoch eine mutwillige Blindheit. Inmitten der DauerambitionsSuggestion hat man das Gegenteil übersehen oder nicht sehen wollen: die Nicht-Ambition, die Erschöpfung, den Überdruss an der Moderne. Diese Gegenwelt zur Ambition ist evident, oft nur in Inseln der Verstummung, weil Erschöpfung kaum jemand öffentlich eingestehen will. Jeder will zeigen, was er tut, aber kaum jemand will zeigen, was er nicht tut, nicht tun will, nicht tun kann. In anderen Branchen kennt und benennt man die Option der Ermüdung sehr deutlich. Die Medizin kennt den Ermüdungsbruch, die Materialwissenschaften die Materialermüdung, der Maschinenbau den Verschleiß, die Meinungsforscher sprechen von Politikverdrossenheit, die Pädagogen von Faulheit und Pro krastination, die Rechtswissenschaften von der Unterlassung etc. Doch den Architekten und den Erzählern der Moderne ist dieses Terrain suspekt, weil es die schlimmste Bedrohung der bisherigen Erzählung der Moderne ist. Die Nicht-Ambition gilt gerade heute, im Zeitalter des ehrlichen Engagements und der unbedingten Involviertheit, als schlicht destruktiv. Der Großteil der Architektenschaft hält daher die Ambition hoch. Das ist auch gut so. Aber fürs Verständnis der Moderne ist das zu einseitig. Das Gegenteil von „Machen, Machen, Machen“ und „Projekt, Projekt, Projekt“ ist nämlich nicht das eine richtige Projekt, sondern das 76

Nicht-Machen und das Kein-Projekt-Verfolgen. Das Gegenteil der Moderne ist nicht das Scheitern der Moderne oder die Postmoderne, sondern das generelle Ermüden. Das bedeutet, der große Rahmen der Moderne ist zwar schon gelegt, aber nur in Richtung Ambition ein fertiges Kategoriegebilde. In die Gegenrichtung, in den Niederungen der Nicht-Ambition, ist noch alles offen. Da versickern die Kategorien genauso wie die Referenzprojekte, obwohl die Nicht-Ambition genauso zu Ergebnissen führt, die unsere gebaute Umwelt bestimmen. Stadt und Architektur sind nicht nur ein Portfolio der Ambition, sondern gleichermaßen ein Portfolio der NichtAmbition, des Desinteresses und der erschöpften Unterlassung. Daraus folgt, die Nicht-Ambition muss als wichtige Gegenrichtung des Handelns zur Idee der Moderne hinzugefügt werden. Allerdings nicht als eigene aktive Agenda, sondern als Dämmerzustand, der jede Ambition irgendwann befällt und damit substanziell bedroht und auflöst. Die Ambition läuft also immer auf ihr Gegenteil hinaus, auf die Ermüdung, auf eine Phase des Verfalls. Damit ist die Leitlinie des vorliegenden Buchs skizziert. Der diffuse Gesamtzustand der Endzeitmoderne wird hingenommen, die momentane Ungerichtetheit ebenso, der liberale Pluralismus ist sogar sehr anschaulich und die Projekthysterie ebenfalls. Das Modell Los Angeles liefert die archetypischen Szenen und dient als argumentative Homebase für Exkursionen in Szenerien anderer Kulturen und Kontexte. Auf dieser Basis wird eine fundamentale Umstellung angeboten. Das gesamte Projekt der Moderne wird aus der Perspektive der Ambition heraus neu gefasst. Den neuen Rahmen bilden dabei die acht großen Ambitionen der Moderne. Der Anfang jeder Ambition ist immer schön, hoffnungsvoll, inspirierend. Dann folgt eine euphorische Phase der Implementierung und des kraftvollen Betriebs, unterbrochen von ersten Momenten der Ernüchterung. Bald darauf wird der Zweifel laut, die Ambition ist längst überschritten und erodiert. Schließlich folgt der Schlusspunkt und der ist immer unschön, ungut, aber zwangsläufig. Der kleine Trost dieser prinzipiell trostlosen Dramaturgie ist eine prägnantere Sicht auf den gesamten Verlauf der Moderne. Nur wer bis zum erschöpften Ende durchgelaufen ist, wird rekapitulierend die aufragenden Momente identifizieren und wertschätzen können. Das Beste kommt nicht zum Schluss und entschuldigt das bisherige blinde 77

Vorwärtslaufen, sondern man muss zwischendurch aufmerksam bleiben, um die besten Momente nicht zu versäumen. Der größere Trost der prinzipiell trostlosen Dramaturgie liegt jedoch in der Ent-Historisierung der Moderne. Bislang ist die Moderne zu selbstverständlich als historischer Ablauf erzählt worden. „The influence was really the modernist manifesto, the modernist agenda, this notion of Modernism – each time it reached a phase it was stopped and restarted – is far from being exhausted.“8 Fast verwundert stellt Zaha Hadid fest, dass die Moderne immer wieder abgebrochen und neu gestartet worden ist. Doch das ist nur verwunderlich, wenn man die Moderne als historischen Ablauf sieht. Mit der Neudefinition der Moderne als einer Welle der aufsteigenden, überschreitenden und wieder versiegenden Ambition wird aus der Moderne ein szenisches Übungsprogramm, das beliebig oft wiederholt werden kann. Wer die finale Erschöpfung überwunden hat, der beginnt mit der Moderne einfach wieder von vorne. Bis es nicht mehr geht.

8 Zaha Hadid. „Zaha Hadid 1983–2004. Form of Indetermination“. In: El Croquis 52, 73, 103. 2004. Seite 22

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ERSTE ARCHITEKTUR Fragile Schwimm-Insel Los Angeles mag keine Kellergeschosse. Warum fehlt diese Information in allen Charakterstudien zur Stadt und ihrer Bewohner. Ist diese Information zu banal? Eher zu fundamental, denn das Verhältnis zum erdigen Untergrund ist seit jeher stimmungsgebend und definitionsgebend zugleich. Keller oder Nicht-Keller ist mehr als nur eine architektonische Entscheidung, es ist das kürzeste Ultimatum, um sich als Mensch und Moderner zu deklarieren.1 Moderne bauen keine Erdlöcher, Moderne wühlen nicht im Dreck. Moderne haben saubere Hände und verbieten sich melancholische Erdverbundenheit. Warum? Das hat man mittlerweile vergessen. Das konnte die Moderne immer sehr gut – selektiv vergessen. Doch der Moderne ist schon seit einiger Zeit ihre aseptische Überheblichkeit abhandengekommen. Los Angeles mag vielleicht keine Kellergeschosse und moderne Zeitgenossen wühlen nicht im Dreck, dennoch mussten sie ab der Jahrtausendwende einen Benzinpreisrekord nach dem anderen hinnehmen. Kurzfristige Erholung brachte erst die Rezession nach der Finanzkrise 2008, danach ging es wieder jahrelang nur bergauf. Der Abschied vom billigen Benzin hat die Lebenslogik der West-Coast-Moderne jedenfalls mehr erschüttert als jedes andere Ereignis zuvor. Ausgerechnet das neue Jahrtausend wurde als gestrige Erdzeit eröffnet. 1 „Der Keller ist eine andere wahnsinnige Erinnerung an vergangene Begrenztheit. Warum jemand einen so teuren, unbelüfteten, feuchten, dunklen Raum im Boden bauen sollte, bleibt unverständlich […].“ Rudolph Michael Schinder. In: August Sarnitz. R. M. Schindler. Architekt. 1887–1953. Akademie der bildenden Künste Wien. Edition Brandstätter. 1986. Seite 146

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Erdzeit im Wortsinn, denn das signifikanteste Ereignis des neuen Jahrtausends war tatsächlich die absurde Wertsteigerung des banal Rohstofflichen. Dumpfes Material aus den Urtiefen der Erde wurde als wertvollster Schatz der Menschheit gehandelt. Dass dieser Rohstoffboom technisch höchst raffiniert exekutiert wurde und immer noch wird, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass damit gleichzeitig ein enormer Rückfall passiert ist. Mit jedem zusätzlichen Bohrloch wird die Zivilisationsgeschichte ein Stück weiter abgegraben. Die Dotcom-Blase der 1990er Jahre und das Gezerre um Internet, um Datenbanken, um Virtualisierung von Geld, Leben und Liebe mag neben den faktischen auch theatralische Motive gehabt haben, aber der Inhalt dieser Debatten war wenigstens dem Stand der Moderne angemessen, oder noch ultimativer: Diese postmodernen Ersatzkriege, ausgefochten in unzähligen Cultural Studies, hatten modernen Fortschritt erst definiert. Die Welt schien sich nur noch ums Silicon Valley zu drehen. Zu Recht, denn schon 1984 stellte Steve Jobs den ersten Apple Macintosh vor, 1985 folgte Bill Gates mit Microsoft Windows 1.0. So beginnt man ein neues Zeitalter, so will sich die West-Coast-Moderne der Welt vorstellen. Ronald Reagan hatte kurz davor, 1983, das SDIProgramm angeordnet. Die Entwicklung einer Hightech-Kriegsinfrastruktur irgendwo im Weltraum gegen die System-Aliens aus der Sowjetunion. Auch das hatte nach neuem Zeitalter geklungen, vor allem weil es zu fantastisch angelegt war, um jemals real zu werden. Dass 2003 – 20 Jahre danach – wieder ein ganz realer Bomben- und Panzerkrieg um jahrtausendealtes Öl aus den Tiefen der Erde geführt wurde, eigentlich ein Krieg um zähflüssigen Sondermüll, muss als schwere Betriebsstörung der Moderne verbucht werden. Das Schicksal der Welt drehte sich plötzlich um irgendwelche Ölfelder in irgendwelchen Wüsten im Nahen und Mittleren Osten. Vielleicht hatte man noch gehofft, diese zivilisationsgeschichtliche Betriebsstörung genauso zügig reparieren zu können wie den ersten Ölkrieg 1991. Man erinnere sich: General Schwarzkopf, ein wenig Shock and Awe, und schon hatte man die alten unbeschwerten Verhältnisse wiederhergestellt. George W. Bush wurde während seines ersten Präsidentschaftswahlkampfs im Jahr 2000 vorgeworfen, mit seinen Ölförderfirmen „very, very good at drilling dry holes“ gewesen zu sein.2 Er habe den 2

James Moore. In: Michael Moore. Fahrenheit 9/11. 2004

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Kriegsdienst genauso lässig gehandhabt wie seine Ölförderfirmen. Bush musste den Vorwurf gar nicht widerlegen, er konnte ihn einfach weglächeln. Es galten schließlich noch die alten J.-R.-Ewing-Zeiten der DallasSoap-Opera. Man bohrt, das Öl fließt, wenn nicht gleich, dann halt irgendwann später – who cares. Ein Glücksspiel mit viel Geld und viel Tagesfreizeit für die Hauptdarsteller, aber in jedem Fall ein Spiel. Doch der zweite Ölkrieg im Jahr 2003 war garantiert kein Spiel mehr. Weder für George W. Bush noch für die USA und ihre Alliierten. Spätestens mit dem neuerlichen Krieg im Irak war allen klar geworden, dass der Kampf ums Öl ein Dauerbrenner sein würde, noch dazu einer, den man nie gewinnen wird. Die westliche Welt hat im Irak also mehr als nur ihr Gesicht verloren – sie hat ihren Zivilisationsvorsprung eingebüßt. Eine Gesellschaft, die Rohstoff über Erkenntnis setzt, ist nicht modern. Dass sich der Krieg mittlerweile vom Nahen Osten zurück in den Untergrund der USA verlagert hat, macht die Sache im Übrigen nicht moderner. Fracking wird von manchen als die Rettung der Rohstoffsouveränität der USA bejubelt – dennoch ist es der Inbegriff der technologischen Verzweiflung. Dem Untergrund wird mit größter Mühe eine dünne Ölbrühe ausgequetscht, mit enormen Kollateralschäden an der Natur und den durchwühlten Landschaften. Und ständig schielt die Fracking-Industrie auf den globalen Ölpreis, weil schon ein kleiner Preisverfall den wirtschaftlichen Totalschaden bedeuten kann. Eigentlich Drama genug für eine ausgedehnte Soap-Opera, aber ob die so locker mondän in höchste Popularität hochgefeiert würde wie die Fernsehserie Dallas, ist mehr als fraglich.3 Wer Grund hat, am eigenen modernen Vermögen zu zweifeln, will nicht den Spiegel vorgehalten bekommen. Die Stadt Los Angeles hatte ihren Weckruf am 24. März 1985, als eine Methangasexplosion das Gebäude von Ross Dress for Less im WilshireFairfax District verwüstete. Im Erdreich unter dem Gebäude hatte sich aufsteigendes Methan unter erhöhtem Druck angesammelt, war schließlich ins Gebäude gelangt und dort explodiert. Zahlreiche Verletzte und eine mehr als alarmierte Öffentlichkeit waren die Folge. Nach dem Unglück wurden Bohrungen im näheren Umfeld durchgeführt und dabei noch mehr Methanblasen im Erdreich aufgespürt und entlüftet. 3

David Jacobs, Leonard Katzman. Dallas. CBS. 1978–1991

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Doch das war noch nicht das Ende des Terrors aus dem Untergrund. Bis heute findet man Entlüftungsrohre, um das aufsteigende Gas kontrolliert abzuführen und weitere Explosionen zu vermeiden. So bizarr diese Explosion aus der Distanz anmutet, das einzig Aufregende daran ist wieder nur das selektive Vergessen. Nicht nur unter dem Gebäude von Ross Dress for Less, sondern unter ganz Midtown Los Angeles liegt das Salt Lake Oil Field, das kontinuierlich Methangas und Teer an die Oberfläche abgibt. Methangas ist unsichtbar und geruchslos und dadurch schwer zu bemerken, doch in unmittelbarer Nähe zu Ross Dress for Less befinden sich die La Brea Tar Pits. Eine beliebte Touristenattraktion, weil man dort ein vermeintlich urzeitliches Schauspiel bestaunen kann, brodelnder, stinkender Teer, der in üppigen Mengen an die Oberfläche quillt und sumpfige Tümpel bildet. Jeder in Los Angeles kennt dieses amüsante Naturschauspiel, doch wie konnte man vergessen, dass dieses urzeitliche Brodeln aus dem Untergrund natürlich die gesamte Stadt betrifft? Man kann noch in vielen anderen Gegenden der Stadt in Teerpfützen treten, schließlich befinden sich noch viel mehr Ölfelder unter dem Stadtgebiet. Jeder kennt die Bohrtürme auf den Baldwin Hills, die das Inglewood Oil Field ausbeuten. Wie einen außerirdischen Landschaftspark mit erratischen Industrieskulpturen durchquert man die Hügelkette auf dem Weg zum Flughafen. Aber auch jenseits dieser eindeutigen Förderzonen wird im Stadtgebiet nach Öl gebohrt. Zahlreiche Bohrtürme finden sich mitten in dicht bebauten Nachbarschaften, unmittelbar neben Wohnhäusern, Gewerbehallen, Shoppingcentern, neben Sportflächen oder eingestreut in Golfanlagen. Nicht wirklich geheim, aber in den prominenten Lagen doch so gut versteckt, dass das Verstecken selbst zum mysteriösen Thema wird. Die Bohrtürme werden als Gebäude getarnt, mit bunten Verkleidungen abstrahiert oder hinter Mauern und Hecken unsichtbar gemacht. Urban Crude, eine Ausstellung des Center for Land Use Interpretation im Jahr 2009, hat dieses Versteckspiel um die Ölförderung mitten in der Stadt sehr detailliert aufgezeigt und mit spektakulären Bildern überrascht.4 Auch für Kenner von Los Angeles ist es immer wieder erstaunlich, wie listig hier unterschiedliche individuelle Interessen nebeneinander Platz finden. 4 The Center for Land Use Interpretation. „Urban Crude: The Oil Fields of the Los Angeles Basin.“ http://www.clui.org/page/urban-crude-oil-fields-los-angeles-basin. 2010

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Aber wieso die bemühte Camouflage? In einer Stadt, in der Skurrilitäten geliebt werden, könnte man doch sehr offen Mad-Max-artigen Rohstoffexistenzialismus zelebrieren. Es wäre auch ehrlicher, die neue Erdzeit ganz ungeniert mitten in der Stadt abzufeiern. Tut man aber nicht. Wäre das zu rückwärtsgewandt? Will man nicht mehr an die Bilder des vormodernen Los Angeles der 1920er Jahre erinnern, als die ganze Stadt ein einziger Wald aus Ölfördertürmen war? Will man vermeiden, auf den vormaligen Status einer primitiven Rohstoffstadt zurückzufallen und damit den Titel als Welthauptstadt der postindustriellen Leichtigkeit zu verlieren? Los Angeles hat die weltgrößte Entertainmentindustrie versammelt, Film, Fernsehen, Musik, Computerspiele, Pornografie etc., aber Los Angeles weiß auch sehr genau, dass das alles nur eine höchst fragile Schwimm-Insel auf tiefer, öliger Urzeit ist. Schwimm-Insel ist tatsächlich das richtige Bild, denn die Massenverhältnisse sind furchterregend. Der gesamte Moderneaufbau von Los Angeles ist weniger als ein Leichtgewicht, er ist eine völlig substanzlose Ablenkung von den unermesslichen Materialtiefen, die der gesamten Stadt ihr Schicksal aufzwingen. Es gibt keine Weltmetropole, die von ihrer eigenen Tiefengeologie so beschämt und in ihren zivilisatorischen Errungenschaften so marginalisiert wird, wie Los Angeles. Und mit jeder weiteren Tiefenexploration, mit jedem weiteren Bohrturm wird ein weiteres Loch in die fragile Schwimm-Insel Moderne geschlagen – real und als Stimmungsbild. Jetzt versteht man, warum der Kampf ums Öl mitten in der Stadt nicht allzu öffentlich gemacht wird. Es ist beruhigender für alle, die akute Erdzeit zu verstecken, die Ölfördertürme zu tarnen, die Tar Pits als ausnahmsweise Skurrilität zu verkaufen und ansonsten so zu tun, als sei die Moderne unantastbar. Ohne Selbstbetrug ist Moderne nicht zu haben – lernt man in Los Angeles als erste generelle Regel. Aber jeder behält diese Erkenntnis für sich und schämt sich lieber still. Aus der Sicht der Architektur kann man nur beipflichten. Ölfördertürme und Teerpfützen sind nicht das Bild, das man auf Julius Shulmans Architekturfotografien sehen will. Mit der Moderne war Reinlichkeit eingekehrt. Oder hat sich Craig Ellwood jemals schmutzig gemacht? Nein, niemals. Wer wie Ellwood seine Architekturkarriere als Kalkulant beginnt, der wird danach kein Erdarbeiter mehr. Selbst Tom Wolfe, der mit From Bauhaus to Our House die wohl berühmteste Beschimpfung der Moderne verfasst hat und an der Moderne wirklich nichts gut heißen 83

will, war doch mindestens von ihrer Reinlichkeit inspiriert.5 Wieso trat er sonst so gern im reinweißen Anzug auf und bestätigte damit die Reinlichkeit als die universelle Hinterlassenschaft der Moderne? Will man den Anfang dieser unbedingten Reinlichkeit der Moderne aufspüren, stößt man wieder auf das bildstarke Datum der 1920er Jahre. Inmitten des von Tausenden Bohrtürmen zerfurchten Los Angeles rangen die ersten modernen Architekten um Reinlichkeit, allen voran Rudolph Schindler und Richard Neutra. Man kann sich vor diesem Panorama unschwer vorstellen, dass diese allerersten Jahre der Moderne mühevoller waren, als das die spätere reinweiße Selbstverständlichkeit erahnen lässt. Hat Neutra jemals in der Erde gewühlt? Ja, hat er, aber das wissen die wenigsten, denn das war vor seiner Zeit als Architekt, und genau deshalb hat er die Flucht in die Moderne angetreten. Er wollte raus aus dem aufgewühlten Material, und das bereits in den frühen 1920er Jahren. Und Schindler? Ja, Schindlers Idee vom Architekturmachen war sogar so handgreiflich und materialnah, dass er vielen nicht konsequent modern erschien: „He looked dusty and tired. I remember then that one of the reasons that people said he was not serious about architecture was that he did his own contracting. How could anyone serious about architecture spend most of the day on the job sites, one of my architect friends asked.“6 Schindler war also eine Übergangsfigur, der letzte Moderne mit schmutzigen Händen, und gerade deswegen hat er wie kein anderer den Abschied der Architektur vom rohen Material veranschaulicht. Denkwürdige Szenen einer Zeitenwende hat er hinterlassen, performativ, oft zwiespältig und doch unerbittlich.7 Am anschaulichsten wieder in den frühen 1920er Jahren beim Bau seines eigenen Hauses in der Kings Road, gerade einmal 2 Meilen von der Ross-Dress-for-Less-Explosionsstelle entfernt. Den symbolischen Gehalt dieses geografischen Gipfeltreffens kann man gar 5 Tom Wolfe. From Bauhaus to Our House. Bantam Books. 1999 6 Esther McCoy. In: Kimberli Meyer, Susan Morgan. Hrsg. Sympathetic Seeing: Esther McCoy and the Heart of American Modernist Architecture and Design. MAK Center for Arts and Architecture. Verlag für moderne Kunst Nürnberg. 2011. Seite 49 7 „His days went like this. He rose around ten. He went for breakfast to Googies or Barney’s Beanery, or some small place – someone saw him once eating breakfast at the Tale of the Pub. Then he came back to the office and went over drawings – and the many changes – with the draftsmen. He made calls to the sub-contractors, and about one o’clock was off to the building sites. He came back at five or six, dirty and exhausted. Then the phone calls to sub-contractors started. Finally he came to the boards to go over the drawings with us.“ Esther McCoy. „Schindler at Work: An Appreciation“. In: Lionel March, Judith Sheine. Hrsg. R. M. Schindler. Composition and Construction. Academy Editions. Ernst & Sohn. 1993. Seite 260

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nicht hoch genug einschätzen. Die Moderne in Los Angeles beginnt tatsächlich 2 Meilen neben dem immer noch offenen Höllentor hinab in den ursprünglichsten Untergrund. Für Dialektiker eine Modellaufstellung. Für alle Modernen eine Horroraufstellung. Mit diesen kurzen Verweisen auf Neutra und Schindler ist jedenfalls eine historische Zeitlinie markiert, hinter die man als Moderner nicht mehr zurückfallen darf. 100 Jahre architektonische Reinlichkeit gilt es heute zu bewahren, nicht nur in Los Angeles, sondern generell. Wenn die Ölförderung in Los Angeles also hinter modernen Gebäudeattrappen versteckt wird, dann ist das mehr als nur eine Architekturscharrade, es ist existenzielle Komplizenschaft. Moderne ist seit 100 Jahren permanente Verdrängungsarbeit der Vormoderne. Nur durch Verdrängung macht man moderne Architektur, nur durch noch viel größere Verdrängung macht man moderne Stadt. Erster Zweifel: Kann man Moderne als eingebildete Schwimm-Insel gegen die tatsächlichen Umstände betreiben? Ist das nicht ein Betrug an der Moderne, vor allem an ihren mühsamen Anfängen? Neutra und Schindler haben die Absage an die Vormoderne nicht leichtfertig geleistet, Neutra als lebensrettendes Nein und Schindler als kontinuierliche Lebensbaustelle. Wird man der Schwere dieser biografischen Entscheidungen vor 100 Jahren gerecht, wenn man heute Bohrtürme ungelenk versteckt und Moderne insgesamt als Imagebehauptung betreibt? Ja, unbedingt, denn gerade der lächerlich fragile Zustand der aktuellen Schwimm-Insel-Moderne ist tägliche Erinnerung und Mahnung an alle, dass die Anfänge der Moderne noch viel fragiler und trotziger waren. Liest man die Biografien von Neutra und Schindler im Kontext ihrer Zeit, dann war der Aufbruch in die Moderne zuallererst emotional ausgelöst, eine gefühlte, auf persönliche Erlebnisse zurückzuführende Notwendigkeit, mehr nicht. Der erste Moderneimpuls überhaupt ist die Desertion. Die Entdeckung der Freiheit, nicht mehr mitmachen zu müssen, gefolgt von der tatsächlichen Dienstverweigerung am Bestehenden durch Weggehen. Deshalb ist Weggehen die erste Innovation, selbst wenn dabei unmittelbar nichts Neues passiert. Aber es ist die Bereitschaft, das unbekannte Neue über das bekannte Alte zu setzen. Neutra und Schindler haben genau diesen riskant-verrückten Blick auf das normative Denken und Handeln ihrer Zeit gewählt und damit die Moderne in Los Angeles auf den Weg gebracht. Von den beiden darf man 85

außerdem lernen, dass Moderne nicht ohne Migration zu haben ist. Aus der Perspektive von Los Angeles bedeutet das, die Moderne musste importiert werden. Nur die Schwerelosigkeit der irgendwo Desertierten und nur mit Hoffnungen und Einbildungen Ankommenden produziert genügend Auftrieb, um die Moderne über die gegebenen Umstände zu heben. Daraus folgt generell: Nur eine Einwandererstadt kann Welthauptstadt der Moderne sein und bleiben. Doch so romantisch dieser Auftakt auch rekapitulierend klingen mag, der eigentliche Witz ist die Erkenntnis, dass der Aufbruch in die architektonische Moderne in Los Angeles zwangsläufig unsolide ausfallen musste. Der Aufbruch konnte nur ohne vernünftige Grundlage passieren, ohne objektivierbares Argument, ohne logische Erklärung, ohne Auftrag zum Optimieren oder weil kommunikatives Handeln dahin geführt hätte. Denn das Werkzeug der späteren, reflektierenden Moderne, mit der man seither versucht, die moderne Schwimm-Insel zu stabilisieren, gab es am Anfang noch gar nicht. Die guten Gründe, die Vernunft, die Erklärungen und wohlwollenden Bewertungen kamen erst viel später dazu, als zivilisatorische Parasiten hafteten sie sich an die erste, rohe Stimmungsenergie. Damit hat das Projekt Moderne nachträglich Orientierung, Rechtfertigung und Sinn erlangt, doch all diese reflektorischen Instanzen waren nicht in der Lage, selbst einen Anfang zu stiften. Das ist das ungeheure Paradoxon der Moderne insgesamt und streng genommen ihr wichtigstes Erbe, das aber gerne vergessen oder verschwiegen wird. Die Moderne kann sich nicht selbst einsetzen und gründen. Die Moderne muss aus der Nicht-Moderne heraus angestoßen werden, noch dazu mit einem höchst unmodernen Akt. Die Moderne muss irgendwelche selbstzündenden Stimmungen für sich arbeiten lassen. Der Anfang ist nur ein innerer Zwang, der sich als konstruktiver Affekt entäußert. Eigentlich eine unglaubliche Peinlichkeit für die Moderne, doch mehr als dieser schwache Beginn steht nicht zur Verfügung. Dieses peinliche Eingeständnis zum Beginn der Moderne wäre nur von historischem Interesse, wenn sich die Unfähigkeit der Moderne, einen soliden Anfang zu stiften, nicht seither mit jedem Projekt wiederholen würde. Es ist an Amateurhaftigkeit nicht zu überbieten, dass die Moderne auch heute noch bei jedem Projekt die primitive Energie persönlicher Stimmungen und Impulse aufrufen muss. Ohne persönlichen Einsatz kein Projekt. 86

Das Problem der notwendigen externen Energiespende betrifft aber nicht nur die Moderne, sondern bereits ihren Urahn, die Aufklärung. Immanuel Kant hat dazu in seiner berühmten Schrift Was ist Aufklärung zwar nur implizit Stellung genommen, den kritischen Punkt aber dennoch sofort anklingen lassen. Bereits in den ersten Satz ist eine Anklage an die Faulheit eingelassen und damit ein indirekter Appell an das Wollen formuliert. „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“, heißt es.8 Das bedeutet so viel wie: Wer nicht wirklich will, der wird aus der Unmündigkeit nie hinaustreten. Und schon im dritten Satz legt Kant nach: „Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen.“9 Kant klingt in diesen ersten Sätzen wie einer dieser SelfmadeBusiness-Helden, die sich gern wortstark von der Masse der normal-faulen Mitmenschen abheben. Aber Kant hat schon recht. Die meisten sind eben erfahrungsgemäß faul, passiv, zaghaft, maximal hinterherlaufend, meistens überhaupt nicht in Bewegung zu setzen. Die laute Feststellung der Antriebslosigkeit des Normal-Mitmenschen ist dennoch eine Publikums-beschimpfung. Motivationsseminare könnte man heute so nicht mehr einleiten, da muss man gefälliger formulieren. Vor allem, weil damit eine gefährliche Wahrheit angesprochen wird: Ist die Aufklärung ein Eliteprojekt? Die Moderne ebenso? Ein Projekt von und für die Antriebselite? Ja, muss man leider bilanzieren, vor allem mit Blick auf Los Angeles. Die Migrationsbedingung, um Welthauptstadt der Moderne zu werden, klingt noch durchwegs menschenfreundlich. Aber die Notwendigkeit, sich permanent einer Antriebselite zu unterwerfen, ist theoretisch und praktisch das Gegenteil von menschenfreundlich. Auch das ist Los Angeles. Dass die Moderne als Eliteprojekt konzipiert ist, stellt also nicht nur einen Gründungsfehler dar, sondern bleibt ein großes, chronisches Problem. Nur die Starken werden aufgerufen. Erfolg kann man als Eliteprojekt den-noch haben, aber den Kollateralschaden muss man zu verdrängen lernen. Heute, im Zeitalter des Coachings, wird man dennoch fragen, ob nicht jedermann durch Anstoß und Training ins Wollen gesetzt werden kann. Was würde Kant empfehlen? Beklemmenderweise hat er seinem 8 Immanuel Kant. Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? Berlinische Monatsschrift. Band 12. Haude und Spener. 1784. Seite 481 9 Immanuel Kant. Ebd. Seite 481

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Mission Statement zur Aufklärung keine genaue Bestimmung beigefügt, woher das initiale Wollen kommt oder woraus sich das weitertragende Wollen speist. „Wenn man ihm nur Freiheit lässt“, dann würden sich schon „einige Selbstdenkende“ finden, meint Kant. Er hofft also eher auf das Wollen, als es gezielt bestimmen zu können, und setzt auf die ansteckende Wirkung. Klingt glaubwürdig, aber das Wollen der Mitgerissenen der zweiten und dritten Generation ist eine leichte Übung im Vergleich zum ersten Wollen, zum tatsächlichen Moment der Stiftung. Gerade bei großen gesellschaftlichen Umbrüchen ist dieser erste Impuls des Wollens gleichzeitig ein einsamer Aufstand gegen sämtliche Zeitgenossen. So singulär, dass er sich oft nicht einmal auf sich selbst verlassen kann, weil er vom permanenten Zweifel begleitet wird. Wer Gerhard Roth oder Wolf Singer liest, der verliert überhaupt den Glauben an ein freiwilliges Wollen. Stattdessen lösen biochemische Kausalitäten im Körper des Menschen seine Gedanken und Handlungen aus. Der Mensch ist, so verstanden, nur ein simples Input-Output-System, das mit den zwei Einflussfaktoren genetische Ausstattung und umgebende Außenwelt zumindest theoretisch vollständig verrechenbar ist. Das Bewusstsein ist dabei nur noch ein benebelter Passagier, dem der Körper im Voraus berechnete Gedanken und Handlungen als freiwilliges Wollen vorgaukelt. Für alle Zeitgenossen, die menschliche Lebendigkeit noch als mystischen Souverän definieren, muss das eine fatale Ernüchterung darstellen.10 Umgekehrt ist die technische Definition des Menschen bequem, weil sie kein Mysterium beinhaltet, das jedes Verstehen überfordert und damit antreibt. Im schlimmsten Fall mündet die technische Definition des Menschen geradewegs in den Fatalismus. Wer einen neuen Anfang stiften will, der wartet einfach, bis der biochemische Metabolismus des eigenen Körpers entsprechende Handlungen anwirft. Warten und hoffen – mehr ist nicht. Ist das nicht eine grobe Unterforderung? Ja, eine traurige Unterforderung noch dazu. Deswegen bleibt die Frage nach dem Anfang auch weiterhin der peinliche blinde Fleck 10 „Es ist also die Lebensgier oder die Lebendigkeit, die den Organismus benützt, bis er zerstört ist. Es ist also eine falsche Annahme, dass der Lebenswille eine Eigenschaft des Organismus ist; es sind auch nicht die Gene, die der Organismus erschafft, um von ihnen bestimmt zu werden bis hin zum Lebendigseinwollen, sondern umgekehrt: es ist das ‚Leben‘, das sich die physischen Organismen erschafft und sie benutzt bis zum Tod, um weiter als Leben zu wirken.“ Gerhard Richter. Text 1961 bis 2007. Schriften, Interviews, Briefe. Verlag der Buchhandlung Walther König. 2008. Seite 287

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der Moderne.11 Und man darf ungeniert generalisieren, denn es ist die wichtigste Frage überhaupt: Wie macht man einen Anfang? Wenn es aber keine schnelle, schlüssige Antwort auf diese Frage gibt, dann hilft nur die zweitbeste Annäherung, die Beobachtung des Anfangs in freier Wildbahn, dort, wo er auf wundersame Weise selbstzündend passiert. Dabei muss man allerdings akzeptieren, dass der erste Impuls die Architektur nicht direkt betrifft, auch nicht die Moderne, weil es im Moment des Auftakts diese Kategorien noch gar nicht gibt. Die müssen erst geformt werden wie alle anderen Konturen und Bestückungen der Schwimm-Insel-Moderne. Der erste Affekt betrifft immer nur den impulsiven Menschen selbst. Der moderne Mensch selbst ist die erste Schwimm-Insel, die es zu errichten gilt. Man selbst richtet sich auf und richtet sich ein. Das ist der natürliche Anfang der Architektur. Davon handelt die erste Ambition.

Projektive Prärie Denkwürdiger April im Jahr 1924, Chicago, Graceland Cemetery: Der junge Richard Neutra, gerade 32 Jahre alt geworden, ist am Wendepunkt seines Lebens angelangt. Den Krieg in Europa hat er überstanden, eine schwere Krankheit überlebt, eine nicht minder schwere Depression ausgehalten, eine Quasi-Juniorpartnerschaft mit Erich Mendelsohn in Berlin zurückgelassen. Fast zu viel Vergangenheit für jemanden, der erst am Beginn seiner Biografie als Architekt steht. Und doch wird er ausgerechnet hier der wichtigsten Direktive für seine Karriere in Los Angeles begegnen, als Trauergast am Friedhof. Neutra ist wirklich traurig, steht da und starrt in ein Loch im Boden. Der Tote: Louis Henry Sullivan. Neutra war erst kurz zuvor nach Amerika gekommen, Chicago eine seiner ersten Stationen, und dort hatte er den sterbenskranken Sullivan in ärmlichen Verhältnissen angetroffen, am Ende seines Lebens, ohne Büro, ohne Aufträge, ohne Hoffnung und Geld, als Architekt vergessen. 11 „Die Arbeit von Schopenhauer ist wohl die beste, die je über den freien Willen geschrieben wurde. Der Mensch hat zwar einen Willen, aber er kann diesen Willen nicht selbst willentlich beeinflussen. Das ist auch logisch unmöglich: Wenn wir unseren Willen beeinflussen könnten – wodurch würde der Wille, der unseren Willen treibt, beeinflusst? Wieder durch einen Willen, einen dritten, vierten, fünften? Schon seit dem Mittelalter haben kluge Menschen dieses Problem der willentlichen Willenssteuerung erkannt.“ Gerhard Roth. In: Philipp Schwenke, Gerhard Roth. „Niemand ist frei“. https://www.zeit.de/ campus/2008/02/interview-freier-wille/komplettansicht. 11.04.2008

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Er lebte von Zuwendungen seiner wenigen verbliebenen Freunde und er lebte schlecht. Sullivan hatte sich gefreut über Neutras Besuch, wie sich wohl nur ein Vergessener über einen unerwarteten Bewunderer freuen kann. Doch laut Neutras Erzählungen war das Gespräch vor allem in melancholischen Tönen gehalten, nicht nur in Bezug auf den persönlichen Abstieg Sullivans, sondern auch in Bezug auf die Wirkung seiner modernen Pionierarchitektur. „Ich habe selber einmal geglaubt, es würde seine Wirkung haben, aber das ist alles längst tot. Nichts davon übrig geblieben – nichts, was der Rede wert wäre“,12 soll Sullivan gesagt haben. Eine düstere Bilanz, ohne Koketterie. Wenn der erste Entwurf ein Selbstentwurf ist, dann demonstriert Sullivan am Sterbebett den Umkehrschluss. Er sah sich und seine Protomoderne im synchronen Untergang. Anmaßend und pathetisch vielleicht, aber unzweifelhaft ernst. Wenige Tage nach Neutras Besuch starb Sullivan tatsächlich. Und nun, am Friedhof Graceland, wird Sullivan ins Material eingelassen und vor Neutra findet die schlimmste aller Materialaufwallungen statt: das offene Grab, das einen seiner drei großen Architekturvorbilder verschluckt. Adolf Loos, Frank Lloyd Wright und Louis Sullivan, mehr Referenzgrößen hatte Neutra nicht mitgenommen in die USA, und eine davon wird gerade beerdigt. Ausgerechnet der Protomoderne, der die Architektur gegen das wuchernde Material richtete, der die haltlose Materialform mit der Funktion zu disziplinieren suchte, ausgerechnet er wird nun ins rohe Material versenkt. Welch absurde Revanche. Das zweite seiner drei Architekturvorbilder, Adolf Loos, wird Neutra bald darauf selbst versenken, polemisch abkanzeln als Unmodernen. All das in seinem ersten Buch Wie baut Amerika, das schon 1927 publiziert wird.13 Wer schreibt, bevor er baut, hat etwas Größeres vor, und so ist Neutras erstes Buch bereits Agenda, nicht nur prospektiv, sondern auch in Form präziser Absagen. Darin beschreibt er Loos als Architekten, der noch am Handwerklichen interessiert war, während in Amerika die Industrie in Serie produziert und der moderne Architekt auf dieser industriellen Basisaufsetzen müsse.14 12 Louis Henry Sullivan. Zitiert nach: Richard Neutra. Auftrag für morgen. Claassen-Verlag. 1962. Seite 206 13 Richard Neutra. Wie baut Amerika? Gegenwärtige Bauarbeit. Amerikanischer Kreis. Die Baubücher, Band I. Julius Hoffmann Verlag. 1927 14 „Loos war im Grunde seines Herzens am Handwerklichen interessiert. […] Meine eigene Bewunderung galt der genauen, wenn auch der Wiederholung verschriebenen, industrialisierten Technologie, wie sie in der Vereinigten Staaten zu finden war.“ Richard Neutra. Auftrag für morgen. Claassen-Verlag. 1962. Seite 214

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Loos der Handwerker also, zu handgreiflich am Material, „barbarisch roh“.15 Das kann nicht modern sein. Und das dritte seiner Vorbilder, Frank Lloyd Wright? Der steht ebenfalls am Friedhof als Trauergast. Er hatte sich schon lange zuvor mit Sullivan überworfen, Wright der abtrünnige Ex-Mitarbeiter Sullivans. 17 Jahre hatten sich die beiden nicht gesehen und doch kann Wright hier nicht ungerührt geblieben sein, denn in dieser Begräbnisszene tut sich der gesamte vormoderne Horror noch einmal auf. Ein Sarg ist eine Box, und die Box verschluckt den Menschen, und die Box mit dem verschluckten Menschen wird wiederum vom Material verschluckt. Das Schreckensritual schlechthin und die größte denkbare Provokation für Wright, denn der hatte mit seiner Architektur das exakte Gegenteil angestrebt. Destruction of the Box war Wrights architektonisches Mantra und wer seine Biografie kennt, der weiß, dass zwischen Architektur und Sein bei Wright kein Unterschied zu machen ist. Nie wieder Menschen in geschlossene Boxen einlegen, muss wohl sein schauerunterlegter Gedanke bei dieser Beerdigung gewesen sein, und Neutra wird diesen Gedanken wohl still ergänzt haben: Nie wieder Menschen vom Material verschlucken lassen, nie wieder. Denn noch hat Neutra aus Europa den Stellungskrieg präsent, den Grabenkrieg, dessen Bezeichnung Erster Weltkrieg eine flotte globale Auseinandersetzung suggeriert und damit den eigentlichen Charakter dieses Kriegs völlig verfehlt. Der Erste Weltkrieg war der Erdkrieg schlechthin, ein Krieg der Troglodyten, der Wühlarmeen. Der Geschwindigkeitsrausch der Napoleonischen Kriege 100 Jahre zuvor war ins Gegenteil verkehrt worden. Statt auf Sieg durch Beschleunigung setzte man jetzt auf Sieg durch Beharren. Dazu musste man mit aller Kraft in die Erde hinunter, kilometerlange Gräben, Wälle, Unterstände ausheben. Neutra selbst war 3 Jahre lang als Artillerieoffizier am Balkan in Dubrovnik stationiert, und obwohl er selbst nur in wenige Kämpfe gegen Partisanen involviert war, wusste er dennoch, wie man Erde aufwühlt und wie man von der aufgewühlten Erde verschluckt wird. Eine ganze Generation hatte dieses dunkle Wissen erfahren, hatte sich ins schwere, 15 „Die Austauschbarkeit gleicher Teile führt nun notwendig zu einer äußersten Genauigkeit der Erzeugung, die man in der paläotechnischen Zeit kaum ahnen konnte und die jetzt augenfällig der breiteren Bevölkerung einen neuen Maßstab für saubere Schärfe der Ausführung gibt, neben dem die meiste und besonders die bauliche Handarbeit barbarisch roh und unbefriedigend erscheint.“ Richard J. Neutra. Amerika. Die Stilbildung des neuen Bauens in den Vereinigten Staaten. Anton Schroll Verlag. 1930. Seite 20

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morastige Material eingelassen und nicht mehr herausgefunden, regungslos, bewegungslos, aussichtslos und dann noch am Kampfgas erstickt. Spätestens nach diesem kapitalen Scheitern des vormodernen Materialvertrauens musste man also seine Lehren ziehen, auch als Architekt. Wer konnte nach dem Massensterben im Stellungsgraben noch an durchwühlte Erde glauben, in Materialaufwallungen Zukunft sehen? Wer eine solche kollektive Beerdigung nicht als Materialphobiker verlässt, der wird den gleichen Fehler noch einmal machen. Die Katastrophe von Lissabon im Jahr 1755 gilt als Katalysator, der die Aufklärung befördert hat; die Katastrophe des Ersten Weltkriegs muss als der Beschleuniger der Moderne in der Architektur gesehen werden. Modernsein bedeutet jetzt, zu dem zurückzufinden, was man als Mensch ohnehin ausnahmslos ist, ein Oberflächenwesen, das gefälligst Distanz zum Material zu halten hat. Man redet in der Architektur heute oft über Bewegung, aber die wird meist in den Luftraum hinaus geträumt oder in Entwurfsprozesse eingebracht oder sonstwie wegtheoretisiert. Aber niemand ist sich mehr dieser allerersten Bewegung bewusst, der Verschlingungsbewegung, die als potentieller Abgrund im Material selbst wirkt. Die erste relevante Bewegung der Architektur muss also die Gegen-Material-Bewegung sein. Architektur darf nicht graben und darf nicht einräumen. Das Gegenteil, die andere Richtung gilt es anzuvisieren; statt festzustecken im tiefem Material, gilt es dahinzusegeln auf versiegelten Ebenen, sich in einer unendlichen Horizontalen auszulassen. Nur der flache Horizont, die ausnahmslose Ebene kann den wühlenden Horror von gestern vergessen machen. Der horizontale Strich ist das neue Therapiebild der Architektur. Kein Wunder also, dass Neutra eine fordernde Erwartung vom zerwühlten Europa nach Amerika mitbrachte, die wie ein beidseitiges Leistungsabkommen projektiert war. Er selbst würde mit dem Gang über den Atlantik den Ausstieg aus dem vormodernen Untergrund hinauf in die totale Oberfläche der Moderne leisten, dafür muss sich Amerika als totale Oberfläche anbieten, genauso wie er es anhand von Wrights Architekturen imaginiert hatte. Wie streng er diesen Leistungsvertrag verstand, zeigt sich an seinem latent vorwurfsvollen Kommentar zu Amerika-Einwanderern, die diesen Aufstieg noch nicht vollzogen hatten: „Die Einwanderer, die ich gesehen hatte, waren in diesem Assimilierungsprozess halb Sklaven und halb Freie. Zuweilen schienen sie auf einer völlig anderen Ebene zu leben. Sie lebten sozusagen im Keller, und in Wrights Häusern gab es überhaupt keine Keller. 92

Oft waren sie nur einstöckige Gebäude zu ebener Erde, unter Wolken, die über den blauen Himmel dahinsegelten, und sie hatten weder Unterkellerung noch Dachboden.“16 Architekturhistorisch wesentlicher als diese Kellerpolemik ist aber Neutras Forderung an Amerika als totale Oberfläche. In seiner antizipatorischen Vorausschau war Amerika ein offenes Land, ein „Flachland-Paradies“ ohne Abgründe. „Ich sah so etwas wie argentinische Pampas vor mir, noch immer mit rothäutigen Indianern und ihren Spitzzelten, in der Ferne als Hintergrund eine mit donnernden Hufen vorüberziehende Büffelherde.“17 Und in diesem Flachland-Paradies erwartete er, Wrights Bauten ideal eingebettet vorzufinden. Präriestil, hingelegt in die weite Horizontale. Eine Architektur, so ausladend in der Waagrechten, dass sie gar nicht mehr als Errichtung gelesen werden kann, sondern nur mehr als typografische Unterstreichung des flachen Horizonts. Eine gebaute Kaligrafie der Ruhe. Deswegen war Wrights Präriestil für viele junge europäische Architekten das große, aber ferne Idealbild mit enormer Anziehungskraft. Doch in Chicago angekommen, machte Neutra eine irritierende Entdeckung: Da war gar keine Prärie. Da war auch nie eine gewesen, wie sich bald herausstellte: „Ich frage ihn [Wright]: ‚War das alles noch Prärie, als Sie die Häuser bauten? Zum Beispiel das Haus der Robbies?‘ Er antwortete: ‚Nein, da war keine Prärie mehr, es lag ja ganz nahe der Universität Chicago; aber der Geist der Prärie wurde mit diesen Häusern und in ihnen eingefangen.‘“18 „Ein ländliches Amerika gab es in der Umgebung von Frank Lloyd Wrights Gebäuden meistens gar nicht. Zum großen Teil wurden sie anfangs ganz einfach nur in die vorstädtischen ‚Cottage‘-Zeilen der schnell wachsenden Großstadt eingefügt. […] Wright schuf etwas, das er gern als eine Wiederbelebung des Geistes der Prärie inmitten von Villenvierteln ins Werk setzte.“19 Die Prärie war also nur ein Produkt des Geistes, ein Gedanke, und keine tatsächliche Gegebenheit. Ist Wright verrückt? Günther Ortmann würde mit Nein antworten, denn: „Alle unsere Entscheidungen, Organisationen und Institutionen ‚gründen‘ auf Fiktionen. Das Parlament gilt als Vertretung des Volkes, ein Gericht als ‚Munde des Gesetzes‘, Unternehmen als Effizienzmaschinen. […] Wir fingieren eine Geltung – von Gründen, Entscheidungen, Bedeutungen, Regeln, Institutionen – in Vorgriffen, die sich erst nachträglich (vielleicht) als berechtigt erweisen.“20 16 Richard Neutra. Auftrag für morgen. Claassen-Verlag. 1962. Seite 211, 212 17 Richard Neutra. Ebd. Seite 194 18 Richard Neutra, Frank Lloyd Wright. Nach: Richard Neutra. Ebd. Seite 210 19 Richard Neutra. Ebd. Seite 198 20 Günther Ortmann. Als Ob. Fiktionen und Organisationen. VS Verlag für Sozialwissenschaften. 2004. Seite 13

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Organisationstheoretisch handelt Wright also völlig korrekt. Er unterstellt Prärie und sorgt sogar selbst für die nachträgliche Bestätigung, indem er Präriearchitektur baut. Und je mehr er baut, desto eher wird daraus ein umfassender Architekturstil, der unzählige Nachahmer findet und damit Prärie als große architektonische Tatsache etabliert. Die Fiktion von Prärie wird also im besten Fall produktiv und erzeugt Prärie. Das bedeutet, selbst wenn Neutra im ersten Moment irritiert gewesen sein sollte ob der bloßen Fiktion von Prärie, so zeigt ihm Wright dennoch, wie gezielt man scheinbare Unmöglichkeiten überwinden kann. Und es kommt noch eine entscheidende Steigerung hinzu. Als projektive Fiktion ist die Prärie sogar wertvoller, weil sie jetzt ungetrübt und ungebremst ausufert. Nur als Idee kann die Prärie überallhin projiziert werden, transkulturell, transdisziplinär, und zum Inbegriff für einen generellen Neubeginn avancieren. Prärie ist als geistiges Erzeugnis nicht nur offenes Land, sondern ein generell offener Horizont nach allen Seiten hin, ein visionäres Gegenmanifest zur Eingeklemmtheit in Tradition, Religion und sonstige unreflektierte Beharrlichkeiten. Hier bekommt die Materialdiskussion eine neue Dimension, hier ist es nicht mehr die weiche, verschlingende Erde, die eingestampft wird, hier wird die ganze verschlingende kulturelle Erbschaft eingestampft und wegplaniert. Jetzt versteht man auch, warum die Moderne immer mit der Metapher der gekappten Wurzel erklärt wird. Die gekappte Wurzel trägt bis heute den existenziellen Distanzierungswillen in sich, der die frühe Moderne kennzeichnet.21 Alles Vertikale muss aufgegeben werden, um sich in der endlosen Horizontalen neu zu formieren. In diesen kurzen Beschreibungen der Prärie ist eine doppelte Klassifizierung eingelassen, die man nicht übersehen darf. Das Besondere an der projektiven Prärie ist tatsächlich das Zusammentreffen der vermeintlich gegenläufigen Zutaten: Euphorie und Brutalität. Auch die beruhigenden horizontalen Linien der frühen Moderne, die Kaligrafie der Ruhe, trägt diese Brutalität in sich. Inmitten eines überwältigenden Kulturund Geschichtsschrotthaufens die Welt mutwillig in horizontaler Ruhe zu sehen, verlangt äußerste Anstrengung. Prärie ist also kein 21 „Bazon Brock steht mit seinem Denken und Schreiben für die Erhaltung des Momentums der Moderne in postmoderner Zeit ein, in unübersichtlichen Lagen, in dekonstruierten Räumen. Moderne ist dabei in des Wortes striktester Bedeutung zu fassen, als radikale Entfernung tradierter Wurzeltriebe ohne funktionalen Wert.“ Rolf Sachse. In: Gerti Fietzek, Michael Glasmeier. Hrsg. Bazon Brock. Bildersturm und stramme Haltung. Verlag der Kunst. 2002. Seite 12

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leichtgewichtiges Etwas, ist nicht das glücklich naive Skizzieren einer neuen Welt, sondern die Prärie ist eine machtvoll hergestellte Verdrängung, eine große Camera Silens. Das Präriephantasma zwingt jene unnatürliche Leere in die Geschichtsschwere der Welt hinein, die moderne Architektur für ihre Idee des totalen Anfangs benötigt. Das ist der erste Hauptakt der Moderne, ein riesiges geistiges Planierunternehmen, und die Prärie ist ihr erstes projektives Layout. Neben dieser großen, visionären Dimension war Wrights Anstiftung zur Imagination aber auch eine sehr handwerkliche Lektion über die Moderne: Die Moderne ist die Konstruktion einer neuen Wirklichkeit und keine Beschäftigung mit dem, was aktuell der Fall ist: „Viele Jahre später ist es mir klar geworden, dass auch ich sehr oft über die Erfordernisse eines Programms hinausgehen musste, über die Tatsachen und die wirkliche Umgebung, und einen Faden spann, ein eigenes Gewebe schuf, sobald ich zu zeichnen begann oder nur schöpferisch zu denken. Ein Architekt kann auch ein Erzähler sein; zunächst einmal erzählt er sich selber Geschichten und sieht seine eigenen Welten.“22 Der Blick eines Modernen in die Welt ist also eine absichtliche Montage aus Einbildungen und gezielten schwarzen Flecken, denn nur durch strategische Ignoranz entkommt man der Vereinnahmung durch kulturelle Kontinuitäten und allzu naheliegenden Abfolgen. Dreht man diese implizite Anleitung zum Modernsein um, wird gleichzeitig klar, warum die Moderne lange ein einsames Minderheitenprogramm geblieben ist. Sie war von Anfang an mit dem Makel behaftet, dass sie nur von jenen verstanden, geschätzt und weitergedacht werden konnte, die ihren manischen Vorausprojektionen folgen wollten und das, was der Fall war, genauso elegant verleugnen konnten wie Wright und Neutra. Vermutlich hat die Moderne mit dieser Einstiegshürde schon in ihren Anfangsjahren zu viel Publikum verschreckt, um jemals richtig populär zu werden. So leicht sind kollektive Fantasien doch nicht zu initiieren, vor allem nicht, wenn sie sich gegen evidente Realität richten.23 22 Richard Neutra. Auftrag für morgen. Claassen-Verlag. 1962. Seite 211 23 „Likewise, Runcorn housing wasn’t exciting anyone in the office, and even though Sterling had promised a ‚Bath’ of the twentieth century, we were quite aware that it was going to be a slum. Though the engineers at Felix Samuely’s had warned us that prefabrication wouldn’t mean any economies of scale, Stirling refused to discuss this issue. For him it had to be industrialized – whatever its cost. In fact, in situ construction turned out to be cheaper and the prefabricated external panels were but an industrial ‚pastiche’ . Sterling went on lying about it at conferences and in publications. He never forgave me for reminding him in public at a conference in Barcelona in 1976 about this issue.“ Léon Krier. „Looking Back without Anger“. In: Martin van Schaik, Otakar Máčel. Hrsg. Exit Utopia, Architectural Provocations 1956–76. Prestel Verlag. 2005. Seite 309

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Hier wiederholt sich das Elitenproblem der Moderne in abgewandelter Weise. Verschärfend kommt hinzu, dass die Moderne die gewaltsame Lichtung, die sie in die Geschichte schlägt, nicht als demokratischen Ideenraum offenhält, sondern sofort mit enormen Forderungen besetzt. Neutra selbst wird seine weite, offene Prärie als Leitidee nach Los Angeles mitnehmen und sofort in eine monströse Architekturlandschaft verwandeln, wieder als Vorausprojektion. Sein fiktives Projekt Rush City Reformed, entstanden in den ersten Jahren in Los Angeles, zeigt Moderne als kompromissloses Stadtmodell, ganz ähnlich wie die gleichzeitig in Europa entstandenen Stadtutopien von Ludwig Hilberseimer oder LeCorbusier. Der beschwichtigende Einwand, dass Rush City Reformed nur ein fiktives Projekt ist, darf ganz im Gegenteil als Verschärfung verstanden werden. Gerade weil das Projekt in den privatesten Mußestunden entstanden ist, ohne äußeren Zwang und Auftrag, zeigt es Neutras Absichten umso ungeschönter. Für alle, die an die ansteckende Wirkung von Kulturen, Umgebungen, Stimmungen glauben, muss es ein großes Kuriosum darstellen, dass ein junger Architekt ausgerechnet unter dem Sternenhimmel von Los Angeles von der totalen Unterwerfung der Prärie durch moderne Architektur träumt. Neutra wollte Moderne als große Tatsache – genau das hatte ihn nach Amerika gebracht und genau das trieb ihn immer weiter. Kein Wunder also, dass Neutra Chicago bald nach Sullivans Begräbnis verließ. Ein kurzer Aufenthalt in Taliesin bei Wright war die nächste Station, der hatte ihn beim Begräbnis eingeladen. Aber Neutra zog es schon bald weiter nach Westen. Sein Freund Rudolph Schindler hatte nur 3 Jahre zuvor, gemeinsam mit Clyde Chace, ein Haus in der Kings Road in Los Angeles gebaut und Neutra eingeladen, dort zu wohnen und zu arbeiten. Ein notdürftiges Angebot, aber trotzdem der vielversprechendste Horizont in seiner Lage. Und noch eine Erkenntnis wird Neutra von Sullivans Begräbnis nach Los Angeles mitgenommen haben: Nur nicht als Verlierer sterben! Wenn schon am Ende begraben, dann bitte nicht bereits als Lebendiger begraben werden. War das die Erkenntnis, die ihn danach so konsequent antrieb? War er deswegen immer geschäftstüchtiger, härter, fordernder als viele seiner modernen Zeitgenossen? In jedem Fall hatte Neutra den Vorteil, dass er sich auf die stärkste Form des Wollens verlassen konnte, auf eine unerbittliche, innere Notwendigkeit. Eine generelle Formel für Erfolg? Vermutlich. 96

Der Boden ist die Bühne Modern, man sollte sagen gefährlich modern, ist die Dimension des Präriephantasmas. Die Dimension der Einebnung, die damit einhergeht, und die Dimension der Ignoranz den Tatsachen gegenüber, um überhaupt als große Imagination zu erscheinen. Daraus kann man methodisch ableiten: Wer einen existenziellen Umsturz der Verhältnisse anstrebt, muss zuallererst den Boden verändern. Auf dem Boden der Tatsachen zu bleiben, ist mehr als nur eine Phrase, es benennt gleichzeitig die kritische Zugriffsstelle, um die Tatsachen zu erschüttern. Durch Bodenmanipulationen kann man sehr rasch ganzen Städten oder Landstrichen eine neue Wirklichkeit aufzwingen. Erst mit der Befestigung von Straßen wird die Landschaft zur Nebensache und der Fortschritt zur Hauptsache. Erst mit der extensiven Ausbreitung der Landwirtschaft wird ein Kulturraum installiert. Erst mit großen Bodenutopien kann man sich als euphorischer Moderner positionieren. Projekte wie Supersurface von Superstudio oder No-Stop City von Archizoom radikalisieren die Bodenmanipulation bis ins Apokalyptische. Kein Wunder, dass auch die 68erBewegung mit einem Boden-Slogan ihre Außergewöhnlichkeit beweisen will. Mit Sous les pavés la plage! wird der anstehende Kulturkampf zum Bodenkrieg erklärt. Den herrschenden Verhältnissen wird die Schwere und Unverrückbarkeit abgesprochen, indem man sie allegorisch zur abziehbaren Oberflächenschicht kollabieren lässt. Bodenmanipulation meint also nicht nur den strategischen Tausch der Bodenverhältnisse, sondern auch den Entzug des Bodens. Wie hoch so ein Slogan zum Bodenentzug die Existenzfrage anklingen lässt, kann man bei jeder größeren Überschwemmung erleben. Donald J. Waldie wurde 1953 Zeuge von tagelangem Starkregen in Los Angeles und erkannte schon als kleines Kind die potentielle Dimension des Ereignisses: „It rained once for an entire week in 1953, when I was five. The flat streets flooded. Schools closed. Only the rain happened, while I waited at the window. Waiting was one of the first things I understood fully. Rain and the hydrogen bomb were two aspects of the same loss“.24 Diese Regenwoche war letztlich kein Jahrhundertereignis, aber eine mahnende Erinnerung daran, was die Stadt schon im Jahr 1938 erleben musste. Da war das Sous les pavés la plage! plötzlich Tatsache und nicht nur unter der Stadt, sondern auch 24 Donald J. Waldie. Holy Land. A Suburban Memoir. W. W. Norton & Company. 2005. Seite 2

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über der Stadt machte sich totaler Strand breit. Es ist eine der denkwürdigsten historischen Skurrilitäten, dass die Urkatastrophe von Los Angeles nicht eines der zahlreichen Erdbeben ist, sondern die Flood of 1938. Der Los Angeles River und seine Zuläufe traten nach heftigen Regenfällen über die Ufer und zeigten der Stadt in der Halbwüste, was sie bislang Grundlegendes verabsäumt hatte: Eine Stadt, die ihren Boden nicht stabil halten kann, bezahlt dieses Versäumnis mit Totalschaden. Biblischer konnte das Schicksal nicht zuschlagen. Wenn man sich heute die Fotografien und Filme der Flut von 1938 ansieht, beeindruckt die biblische Katastrophe allerdings weniger mit dramatischen Szenen, sondern eher mit einer episch ruhigen Wiederherstellung des Selbstverständlichen. Brücken, Straßen, Häuser, Steilhänge stürzen nicht lautstark in sich zusammen, sondern gleiten widerstandslos in die Fluten. Was einmal hektisch überanstrengte Machenschaft war, legt sich zurück in eine entropische Null-Lage. Wasserteppiche, Schlammgeschiebe und mäandernde Schuttgirlanden fließen über die vormalige Stadt hinweg. Eine ursprüngliche Landschaftsidylle stellt sich ein, an der nichts Böses, Wildes, nicht einmal Unwillkommenes zu entdecken ist. So soll es sein – lässt die Natur wissen. Und so malerisch kann der Untergang sein – muss man gestehen. Mit dieser tragischen Bodenerfahrung wurde Los Angeles jedenfalls erwachsen. Alles, was davor in den Boom-Zeiten schnell und spekulativ errichtet worden war, musste nun mit viel Beton nachträglich gesichert werden. Der Beton steht dabei allerdings nicht nur für das bevorzugte Material, sondern auch allegorisch als Methode. Aushärten ist die rettende Reaktion auf die zerstörerische Aufweichung. Der Los Angeles River wurde in ein gigantisches Betonkorsett gegossen, das bis heute als real-utopisches Landmark-Emblem in der Stadtlandschaft liegt. Vordergründig konsequente Ingenieurlogik und doch im tiefsten Grund eine beleidigte Rache für die zerstörerische Aufweichung davor. Grässlich anzusehen, zeitgenössische Planer wollen das Betonkorsett auch unbedingt rückbauen und am liebsten ganz verschwinden lassen. Aber die Erinnerung an die Flut wiegt immer noch schwer. Die völlige Aufweichung will niemand riskieren. Die teilweise Aufweichung des Los Angeles River wird dennoch als Revision der betonierten Härte gefeiert und gleichzeitig als längst notwendige Versöhnung der Stadt mit der natürlichen Weichheit der ursprünglichen Natur gelesen. Aber es ist keine Revision. Es hat sich 98

lediglich die Richtung der Bedrohung geändert. Vom Los Angeles River erwartet man keine Katastrophenflut mehr, sehr wohl aber vom Meer. Klimawandel bedeutet in Los Angeles, angstvoll die Erhöhung des Meeresspiegels zu verfolgen und Flutwellen über die Häfen und Strände in die Stadt hinein zu erwarten. Das ist das neue Flutszenario, das einem den Boden unter den Füßen erweichen wird. Die Vorausberechnungen für die anstehenden Sicherungsmaßnahmen sind längst im Gange, die technische Umsetzung wird folgen. Dass man die Sandstrände ebenfalls in ein Betonkorsett zwingen wird, ist schon aus Gründen des Stadtmarketings unwahrscheinlich. Dass man die Sicherung der Küstenlinie ohne massiven Einsatz von Beton schaffen wird, ist genauso unwahrscheinlich. Die Härte der betonierten Antwort auf vergangene und zukünftige Fluten ist aber nicht nur stadtlandschaftlich eine klare Direktive, sie definiert insgesamt das Verhältnis der Stadt zum Wasser. Los Angeles ist eine Stadt ohne Wasser. Das klingt seltsam, wenn man an die Strände, die Swimmingpools und den permanenten Duschzwang ihrer Bewohner denkt. Aber der Satz ist dennoch richtig. Wasser ist hier vollkommen weggeplant und weggebaut. Am Strand hört die Stadt auf, das Meer ist eine andere Welt. Im Rest der Stadt ist Wasser in Gefäße gezwängt und löst niemandes Boden mehr auf. Sogar eine kulturgeschichtliche Berühmtheit wie der Silver Lake ist nichts anderes als eine Betonpfütze. Los Angeles Kenner werden jetzt protestieren: Die Venice Canals sind doch der Beweis dafür, dass man heute noch nahe am Wasser, ja mit dem Wasser lebt. Dort wird das Risiko eines sich gelegentlich auflösenden Bodens angenommen und das Ergebnis ist eines der lebenswertesten Quartiere der Stadt. Das Bild stimmt, die Tendenz leider nicht. Venice war vor der Stadtwerdung Sumpf. Ab 1905 ließ Abbot Kinney das Gebiet trockenlegen, um endlich festen Boden für seinen Venice-of-AmericaPlan zu schaffen. Die Kanäle waren seine Methode der Trockenlegung. Ab 1924 wurden dann sogar die Kanäle zugeschüttet, mit Ausnahme der verbliebenen kurzen Abschnitte, die heute so malerisch daliegen. Und selbst diese kurzen Abschnitte wurden nicht als Zugeständnis an gelegentliche Weichheit verschont, sondern mangels Interesses an weiterer Bodenentwicklung. Spätestens nach derartigen Großversuchen zur Bodenmanipulation müssen alle Architekten, die nach wie vor dem Raum huldigen, akzeptieren, dass die Herstellung von tragfähigem Boden ein unerlässlicher Auftakt 99

und eine ganz logische erste Architektur ist. Und die Architektur insgesamt muss akzeptieren, dass der Primat des Raums eine exklusive akademische Überhöhung ist, die an der Realität des Bauens scheitert. Eigentlich hätte die Moderne das bereits von ihrem großen Vorbild, der japanischen Architektur, lernen sollen. Dort praktiziert man das Bodenmachen ganz selbstverständlich als erste und wichtigste Architektur. Darum verfährt Takeshi Nakagawa zum gleichen Thema beeindruckend unaufgeregt. Schon am Beginn seines Buchs über historische japanische Architektur wird der Boden behandelt, als erstes Kapitel und als erstes Element einer umfassenden architektonischen Logik. Eine denkwürdige Reihung, aber konsequent in ihrem Realismus. Der Boden liegt ja nicht als geschenkte Gegebenheit vor, sondern muss erst produziert werden. Geschenkt im Überfluss bekommt man nur unbehandeltes Material, den sprichwörtlichen Dreck unter den Füßen, und der muss erst in Bodenform gebracht werden. Daher ist für Nakagawa der erste Boden, der gestampfte Boden, die eigentliche Sensation, Tataki genannt. Dass dieser erste Boden wieder gegen das Wasser gewonnen werden muss, beweist die Tatsache, dass dieser Stampfboden auch zum Abdichten von Teichen verwendet wird. Die westliche Moderne hat das japanische Vorbild also verzerrt wahrgenommen. Während Bruno Taut in seiner Analyse des japanischen Hauses noch vom feuchten Atem der Erde spricht, wird tatsächlich das exakte Gegenteil anvisiert.25 Den ersten Boden zu legen, bedeutet, die Feuchtigkeit, den Atem, die Tiefe zu eliminieren, um raffinierte Oberfläche zu erhalten. Wie das konkret zu tun ist, beschreibt Nakagawa ausführlich, und die formelhafte Operation liest sich wie die Herstellung eines rituellen Ur-Betons, Aushärten als Lebensschule: Das lose Material wird unter Zugabe einer oberflächlichen Rundschotterschicht eingestampft; die gezielte Beimischung von zusätzlichen Substanzen ins Ausgangsmaterial 25 „Die Folgerichtigkeit des japanischen Hauses war jetzt schon fast vollkommen klar. Breite Vordächer zum Schutz gegen den Regen und auch gegen die Blendung des Himmels sind einfachste Selbstverständlichkeit, ebenso die Anlage einer Veranda mit Holzfußboden vor den Matten, um diese gegen den direkten Regen zu schützen. Es leuchtete auch schon ein, dass der Erdboden unmittelbar am Hause nicht mit Zement, Fliesen oder Steinplatten bedeckt sein darf, weil sie mehr als die atmende Erde die Hitze ansammeln. Doch dieser Atem der Erde ist sehr feucht, und allein darum musste der Fußboden des Hauses höher sein, er musste unter sich einen offenen Luftraum haben, ähnlich den Winddurchzug erlauben wie die Wohnräume des Hauses. Die Erhöhung des Fußbodens ist umso nötiger, als die Erde zuerst ihre Feuchtigkeit abgibt und die Luft in ihrer Nähe am feuchtesten ist.“ Bruno Taut. Das japanische Haus und sein Leben. Gebr. Mann Verlag. 1997. Seite 55

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macht den Boden wasserdicht, gleichzeitig wird durch die zusätzlichen Substanzen eine Purification, eine Reinigung, erreicht. Drei elementare Stationen der Materialbearbeitung also: verdichten, versiegeln, reinigen.26 Nakagawa erinnert dabei explizit an ein Ritual beim Sumo, bei dem die sockelförmige Erdplattform des Kampfplatzes mit Salz rituell gereinigt wird.27 Der Vergleich mit dem Sumo-Kampfplatz zeigt generell sehr anschaulich, wie durch die drei Stationen der Materialbearbeitung der Boden als aktive Form regelrecht hervortritt. Die Kulturgeschichte der Flutbekämpfung, Trockenlegung, Aushärtung hält also eine Lektion parat, die weit über die reine Bodenherstellung hinausreicht. Zu lernen ist, dass dem Material in jeder Hinsicht die Lebendigkeit ausgetrieben werden muss. Das Material soll stiller Hintergrund werden, soll den Menschen, der das eingestampfte Material fortan als Boden verwendet, nicht stören oder bedrängen. Stattdessen soll kategorische Distanz zum Material herrschen, denn diese Distanz bestätigt den Menschen erst als etwas kategorisch Anderes. Setz mich nicht mit Material gleich – lautet die Aufforderung – und lies die unreduzierbaren Unterschiede. Das ist existenzielle Boundary Maintenance. Der Mensch ist zwar ebenfalls aus Material, aber erlebt sich als etwas dramatisch Höheres, als raffinierte Episode zwischen zwei Materialzuständen davor und danach. Etwas das lebt, folgt einem komplizierten Plan der Veredelung und Organisation, selbst wenn dieser Plan nur kurzfristig funktioniert. Doch gerade wegen dieser fragilen Kurzfristigkeit ist das Material unser naheliegendstes, aber auch gefährlichstes Gegenüber. Damit lässt sich die erste Szene, die Urszene der Architektur nachzeichnen: Auf dem tragfähigen Boden steht ein überheblicher Körper, der sich nur deshalb Mensch nennen darf, weil er es geschafft hat, sich mit der Konstruktion von Boden über das dumpfe, bedrohliche Material zu erheben. Wer Boden baut, der baut dem Menschen eine erste Bühne für Überheblichkeit. Überheblichkeit ist also eine zutiefst menschliche Eigenleistung und gleichzeitig das erste 26 „Because it contains soluble silicic acid, which hardens on being mixed with lime, it has traditionally been used to make garden ponds as well as earthen floors.“ Takeshi Nakagawa. The Japanese House. In Space, Memory, and Language. i-House Press. 2006. Seite 5, 6 27 „Bittern is added to a tataki in much the same way that salt is scattered over a sumo ring: it purifies the earth that has been drawn into the living space.“ Takeshi Nakagawa. Ebd. Seite 7

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architektonische Erfolgserlebnis.28 Man muss aber aus dem Wort Überheblichkeit die negative Alltagsbedeutung herauskürzen und es wörtlich nehmen. Menschsein und Höhebewahren sind nicht voneinander zu trennen. Manche nennen es Würde, auch dieses Wort hat im Wortstamm eine ähnliche Ableitung. Es geht in jedem Fall ums Aufrichten, um Ausblick, um eine unnatürliche Hochstapelung. Die meisten Zeitgenossen werden sich in ihrem Selbstverständnis nicht unbedingt als Hochstapler sehen wollen, aber warum gibt es so viele Sportarten, bei denen es letztlich nur darum geht, den Stand zu wahren? Sumo ist als Referenz bereits erwähnt. Aus der Perspektive von Los Angeles muss man unbedingt das Surfen hinzufügen. Aufrecht stehen zu bleiben, während unter einem die wildesten Turbulenzen hindurchrauschen, ist tatsächlich ein Sinnbild fürs Menschsein. Man kann das Surfen also nicht nur als tägliches Flut-Awareness-Training betrachten, sondern auch als existenzielle Exerzierübung. Damit ist nicht nur der Spaß des Selbermachens gemeint, sondern auch der Spaß des Zusehens. Es ist anthropologisch höchst aufschlussreich, wie fasziniert Menschen anderen Menschen beim prekären Stehen, Fallen oder Dochnicht-Fallen zusehen. Man erlebt den In-situ-Bühnenbau und den In-situTest der Tragfähigkeit der Bühne zugleich. Als großer Gewinn lockt nicht mehr als die Bewahrung des aufrechten Stands – aber das ist wieder kategorisch besser als die Niederlage, die als Sturz ins Material zu ertragen ist. John Carpenter hat als Regisseur von Actionfilmen ein professionelles Verständnis für die Strahlkraft solcher Szenen. In seinem Film Escape from Los Angeles lässt er zuallererst die ganze Stadt durch eine riesige Flut vom Festland abtrennen. Die Urkatastrophe als überschwängliches Reenactment. Übrig bleibt eine Insel der Hoffnungslosen, in der Kurt Russel eine existenzielle Bewährungsprobe nach der anderen zu bestehen hat. Am legendärsten ist aber zu Recht die Surfszene geworden, in der Russell und Peter Fonda eine Tsunamiwelle durch die Stadt abreiten und Russell am Ende direkt von der Welle auf das fahrende Auto seines Widersachers springt. Hier besteht die biblische Flut nicht nur aus zu viel Wasser, sondern jedes Unheil, das die Zivilisation aufzulösen droht, stellt sich als Herausforderung an den aufrechten Stand vor. Held ist, wer unerschütterlich stehen bleibt. Der gesamte Film ist Trash in 28 „Die Erde hört auf, Erde zu sein, und wird tendenziell einfach Boden oder Träger.“ Gilles Deleuze, Félix Guattari. Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie. Merve Verlag. 1992. Seite 525

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höchster Vollendung und trotzdem ein Lehrfilm für die Kernaufgabe der Architektur. Das Herstellen von Überheblichkeit ist als Dauerbaustelle und als Dauerperformance zu bearbeiten, muss laufend errungen, bestätigt und abgesichert werden. So sicher jedenfalls, dass auf jeder ersten Erhebung weitere Überheblichkeiten aufgetürmt werden können. Architektur ist ab der Errichtung tragfähigen Bodens ein zunehmend prekärer werdendes Positionsmanagement für alltägliche Actionhelden, die immer höher hinauswollen, ohne finale Genugtuung. Was man daraus generell lernt? Wird jeder Umbruch in der Kulturgeschichte durch eine Neupositionierung des Menschen in der Welt begleitet? Und impliziert die Neupositionierung eines Menschen in der Welt nicht immer die Neudefinition des Menschseins insgesamt? Die Architekten der frühen Moderne würden mit Ja antworten – und deshalb ist ihnen durchwegs Aufdringlichkeit vorgeworfen worden, weil sie mehr Zeit und Mühe für Erklärungen zum Menschsein verwendet haben als darauf, tatsächlich Architektur zu bauen. Dafür sind sie auch vielfach belächelt worden, sogar Richard Neutra, dessen Biorealismus in nachträglichen Besprechungen zu seinem Gesamtwerk entweder verschämt verschwiegen oder seltsam unernst beiseitegeschoben wird. Warum macht er nicht einfach moderne Architektur und lässt alles andere bleiben – lautet der unterschwellige Vorwurf. Aber in diesem Bemühen um den Menschen ist das Bewusstsein eingefasst, dass der Architekt durch das Herstellen der ersten Überheblichkeit den modernen Menschen definiert und diese Verantwortung danach nicht mehr so einfach ablegen kann. „Ein richtiger Architekt muss ein Humanist sein“, sagt Neutra folgerichtig und man muss diesen Satz zuallererst selbstbezüglich verstehen.29 Neutras Architektur und Neutras Ideen zur Moderne sind nicht verständlich, ohne Neutras persönliches Schicksal mitzudenken. Neutra war ernsthaft krank gewesen gegen Ende des Krieges, Malaria, jahrelange, zweifelhafte Genesung, Neutra war ernsthaft depressiv gewesen, bis hin zu Suizidgedanken, und das alles bevor seine Karriere als Architekt in Los Angeles begonnen hatte. Neutra lernt den menschlichen Körper also schon früh als intimes Aufzeichnungsmedium für äußere Problematmosphären kennen und aus diesem Bewusstsein heraus denkt er Architektur. Schon sein Gang nach Amerika war nichts anderes als eine lange, 29 Richard Neutra. In: Esther McCoy. Richard Neutra. Otto Maier Verlag Ravensburg. 1960. Seite 6

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konzentrierte Therapie, entäußert in Architektur, und die Prärie war der Boden, der ihm selbst wieder Halt geben sollte. Wer mit einer derartigen Vorgeschichte Architekt wird, der startet jeden Entwurf mit einer präzisen, sogar hypochondrischen Selbstbeobachtung als funktionaler Organismus und leidenssensitiver Körper: „[Architektur] ist gestaltete, physiologische Raum-Zeit, die von uns erlebt wird durch die sich bewegenden Glieder, durch leitende Nerven, durch Endokrin-Drüsen, die jeden Moment aktiviert sind und aktivieren, – dieses alles, während wir in einem Bauwerk sind oder es auch nur betrachten.“30 In dieser Architekturdefinition steckt eine ungeheure Provokation, die womöglich gar nicht als solche gedacht war: Neutra ist gar kein Architekt. Ausgerechnet in dem Moment, in dem er am innigsten über Architektur nachdenkt, legt er das Architektsein ab und macht sich völlig frei, ist nur mehr lediger Körper. Nicht der Architekt hat einen Körper, sondern der Architekt ist ein Körper.31 Moderne ist bei Neutra also kein Stil, Moderne ist Arbeit am Grundlegendsten. Der Körper ist die eigentliche Bauaufgabe und wird zur fleischlich materiellen Baustelle.32 Moderne Architektur kann dann folgerichtig keine externe Manipulation von toter Materie mehr sein, sondern muss als inniger, persönlicher, existenzieller Selfservice betrieben werden. Wer das als übertriebene Interpretation liest, muss nur Neutra direkt zu Wort kommen lassen, um zu verstehen, wie unbedingt er diese Idee schon in seinen ersten prominenten Auftrag in Los Angeles einbringt: „Dr. Philip M. Lovell, mein Auftraggeber, teilte meinen Standpunkt, dass Bauen ‚heilsam‘ sein müsse. Ich gelangte zu der Ansicht, Medizin sei am wirksamsten, wenn man sie in richtigen Dosen vorbeugend nähme, und die Planung und der Bau von Städten sei vielleicht die geeignete Vorbeugungsmedizin. Architektur als Prophylaxe!“33 Diese übergriffige und anmaßende Verantwortungshaltung der frühen Architekten der Moderne ihren Mitmenschen gegenüber kann man nach wie vor kritisieren oder lächerlich finden. Hat die Menschheit 30 Richard Neutra. Ebd. Seite 5 31 „Die Wahrheit des Körpers liegt nicht, wie Liberale gern annehmen, irgendwo dazwischen, sondern in der unerträglichen Spannung zwischen diesen beiden Auffassungen von der Körperlichkeit, die beide phänomenologisch korrekt sind. Es ist nicht ganz wahr, daß ich einen Körper habe, und es ist auch nicht ganz richtig, daß ich ein Körper bin.“ Terry Eagleton. Die Illusionen der Postmoderne. J.B. Metzler. 1997. Seite 100 32 „Aber ein Architekt, der mehr Sympathie und Einfühlsamkeit hat als nur Geschicklichkeit, muss fortfahren, den Menschen auch individuell sensitiv zu behausen, nachdem dieser Mensch das Paradies und sein ältestes physisches Milieu verlassen hat, die Natur.“ Richard Neutra. In: Esther McCoy. Richard Neutra. Otto Maier Verlag Ravensburg. 1960. Seite 6 33 Richard Neutra. Auftrag für morgen. Claassen-Verlag. 1962. Seite 250, 251

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wirklich darauf gewartet, ausgerechnet von den Architekten geheilt zu werden? Dennoch erfüllt diese manische Menschzentriertheit einen wichtigen Zweck, sie ist das einzige Korrektiv zum großdimensionalen Anspruch der Moderne. Die Sorge um den Menschen und der rücksichtslose Wille zur Welteroberung haben sich gegenseitig ausbalanciert. Neutra ist brachial in seinem Modell Rush City Reformed und dafür hypersensibel in seinen Körperbeobachtungen. Man muss diese beiden Bilder immer gleichzeitig sehen, um die frühe Moderne in ihrer Hysterie, aber auch in ihrer Ausgewogenheit zu erfassen. Der Verlust dieser Ausgewogenheit ist jedoch Geschichte geworden. Den Weg in das Scheitern hat die Moderne nämlich erst eingeschlagen, als sie sich von den lächerlichen mensch-, gefühl- und bioinspirierten Anfängen abgekoppelt hat und nur noch großdimensionales Projekt sein wollte. Irgendwann erschien den Modernen das existenzielle Ringen um den aufrechten Stand und die heilende Selbstbeobachtung wohl zu peinlich oder zu kleinlich. Man hat dann einfach rückwirkend einen anderen Beginn zugekauft und als den eigentlichen Beginn der Moderne ausgegeben. Vor allem die Industriearchitektur war die perfekte Stimmungskorrektur, um den Beginn der Moderne emotional trockenzulegen und die großspurige Ambition der Moderne mitzutragen. Bestes Beispiel für diese Geschichtskorrektur ist Albert Kahn. Seine Fabriken für Henry Ford schienen formal radikal moderne, schnörkellose Industriearchitektur zu sein, doch dieses Knowhow hat er in keiner Weise tiefer reflektiert, eher im Gegenteil. Die Headquarterarchitekturen für seine Auftraggeber baute er gestrig, eklektizistisch, und distanzierte sich damit sogar von der Moderne. Daraus folgt, Industriearchitektur allein macht noch keinen Modernen. Natürlich hat auch Neutra für Industriearchitektur geschwärmt, aber der entscheidende Unterschied ist wieder das projektive Wollen. Neutra wollte mit industriebasierter Architektur direkt am Menschsein arbeiten, Kahn hat die Industriearchitektur aber nur für die Industrie verwendet und nicht darüber hinausgedacht. Salopp gefolgert kann man unterstellen, dass Kahn nicht einmal wusste, dass er ein Moderner war, bis sein gesamtes Werk irgendwann rekapitulierend der Moderne zugerechnet wurde und er plötzlich sogar als eine Gründerfigur galt. Schlimmer konnte man die menschzentrierten Motive der frühen Moderne nicht verleugnen und schlimmer konnte man die Entstehungslinie der Moderne nicht verfälschen. 105

Doch irgendwann war diese Geschichtsfälschung durch Dauerpublikation quasi amtlich. Moderne Architektur gilt seither nicht mehr als menschzentriert, sondern als funktionszentriert. Und erst im Zuge dieser historischen Revision konnten der tote Louis Sullivan und seine ebenfalls tote Form-Follows-Function-Doktrin wiederauferstehen und als böser Geist durch die Architektur wüten. Man muss sich hier an Sullivans pathetische Worte an Neutra erinnern, wonach seine Protomoderne, seine Doktrin, keine Wirkung gezeigt habe und mit ihm am Sterben sei. Aus heutiger Sicht kann man über diese Voraussicht nur amüsiert lächeln. Wäre er tatsächlich an diesem Tag still und vergessen gestorben, hätte die Moderne womöglich ohne großes Scheitern überlebt. Aber ausgerechnet seine untote Form-Follows-Function-Doktrin hat die Moderne in die funktionalistische Falle getrieben. Sullivan hatte noch gejammert, dass seine Architektur keine Wirkung gezeigt habe. Zweites amüsiertes Lächeln. Es stimmt zwar, dass die Moderne noch ein paar Jahre gebraucht hat, um wirklich groß zu werden, aber letztlich hat Sullivans berühmter Slogan nicht zu wenig, sondern zu viel Wirkung gezeigt – und die Moderne ist ausgerechnet an der Massivität ihrer Wirkung gescheitert. Auf Sullivans Gedenkstein am Friedhof Graceland ist Form Follows Function dennoch als Inschrift triumphal vermerkt. Der Gedenkstein wurde erst Jahre nach seinem Tod gesetzt, ist also der Triumphstein seiner Verehrer. Für alle anderen ist es der Grabstein einer fehlgeleiteten Moderne. Selbst wenn Generationen von Architekten den gleichen Fehler gemacht haben, muss man dennoch die Verantwortung im Rückblick korrigieren: Form Follows Function ist das Mantra des Funktionalismus, aber nicht der Moderne.34 Dass selbst moderne Architekten nicht in der Lage waren, diesen gefährlichen Unterschied zu erkennen, ändert nichts daran.

Plattes Material Frank Lloyd Wrights Prärie ist das visionäre Layout, Takeshi Nakagawas Boden das formelhafte Handwerk dazu, und Rudolph Schindler macht 34 „We have no interest in programming in functional terms. [...] It’s not possible to use programme as a generating logic for architecture. We do make esquisse studies based on programme and use that to make small decisions. So we respect the programme, but that’s not enough – we can’t turn that into architecture.“ Ryue Nishizawa. In: Kazuyo Sejima, Ryue Nishizawa. „Making the Boundary“. In: El Croquis 99. 2000. Seite 18

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den wichtigen nächsten Schritt, der den Einstieg in das elaborierte Materialverständnis der Moderne weist. Das alles passiert nicht im Zuge einer theoretischen Auseinandersetzung, sondern als praktische Erkenntnis beim Bau seines Hauses 1922 in der Kings Road in Los Angeles. Grundriss und generelles Layout des Hauses sind unschwer als Weiterführung japanischer Typologien zu erkennen – für die frühe Moderne durchaus üblich. Aber Schindler war langjähriger Mitarbeiter Wrights und man erkennt bald, dass er die japanischen Vorlagen gezielt einsetzt, um Wrights Prärieidee weiter auszuarbeiten. Schindler liefert mit einer Kurzbeschreibung seines Hauses zugleich eine prägnante Definition von Präriearchitektur: „concrete floors level with the ground; glass walls and large openings to the garden with sliding walls; eliminating the ‚street front‘, abandoning the basement and the second floor“.35 Präriearchitektur ist Bodenarchitektur, lernt man. Maximale Horizontale und eine fast manische Vermeidung all dessen, was eine vertikale Erdung des Hauses bedeuten könnte: kein Keller, kein erster Stock, nichts, das die Architektur in den Grund verankert, nichts, das die Architektur von oben beschwert, kein Vermächtnis im Keller, kein Gedächtnis im Dach.36 Das Haus ist lediglich ein hingeworfenes Erdgeschoss, umhermäandernd im Plan, ohne strenge Fassung, kaum arretiert in der damals noch offenen Landschaft. Für jemanden, der sich dem Haus näherte, sah es verwirrend aus – erinnert sich Esther McCoy, eine langjährige Mitarbeiterin Schindlers.37 Man kann also ironisch zusammenfassen: Schindler war das prärie-igste Haus der Prärieklasse überhaupt gelungen. In seiner saloppen Leichtheit ist das Haus sogar eine Richtigstellung dessen, was Wright vorgemacht hatte, denn der baute auch in der Prärie mit einer Spur snobistischer Würde. Das fehlt in Kings Road völlig – und wird später allen Schindler-Bauten fehlen.38 Man muss annehmen, mit 35 Rudolph M. Schindler. In: Museum Villa Stuck. Hrsg. Rudolph M. Schindler: Architekt 1887–1953. Katalog zur Ausstellung Museum Villa Stuck. 1985. Seite 107 36 „Es wird für die künftigen Schicksale der Psychoanalyse vielleicht nicht ohne Interesse sein, wie Menschen mit dem Konzept des Unbewußten zurecht kommen, wenn ihnen die Erfahrung eines Hauses mit Keller und Speicher nicht mehr gegenwärtig ist.“ Peter Sloterdijk. Sphären III. Schäume. Suhrkamp Verlag. 2004. Seite 552 37 „The leap from concrete to clerestory to ‚sleeping baskets‘ was disorienting.“ Esther McCoy. In: Kimberli Meyer, Susan Morgan. Hrsg. Sympathetic Seeing: Esther McCoy and the Heart of American Modernist Architecture and Design. MAK Center for Arts and Architecture. Verlag für moderne Kunst Nürnberg. 2011. Seite 46 38 „Neutra’s buildings were very well built, and so were Ain’s. Schindler’s were not well built; they were fragile, to get them up cheap.“ Esther McCoy. Ebd. Seite 132

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Absicht, denn Schindler war unmittelbar vor dem Bau seines eigenen Hauses der Projektleiter für den Bau des Hollyhock Houses von Wright gewesen, weniger als 5 Meilen von Kings Road entfernt. Nach dem Rauswurf Wrights durch die Bauherrin Aline Barnsdall war Schindler noch direkter involviert. Dabei konnte er erleben, wie Wright den Geist der Prärieidee mit viel zu viel Architektur erdrückt hatte. Das Hollyhock House ist massiv, schwer, düster, rigid, und dabei zu teuer, zu umständlich, zu inszeniert, zu mysteriös. Die Bauherrin hat das Haus samt Liegenschaft sehr bald an die Stadt Los Angeles weitergereicht, zur Einrichtung des Barnsdall Art Parks. Schindler wird dieser tendenzielle Misserfolg nicht ungerührt gelassen haben, denn es galt zu lernen, dass Präriearchitektur eine reduzierte Gewichtsklasse impliziert, sonst verflüchtigt sich die Prärieidee. Schindler konzipiert sein eigenes Haus daher mit minimalem Materialeinsatz. Das Haus ist im Wesentlichen eine Rahmenkonstruktion aus Holz, in enger Maschenweite mit verschiedenen Ausfachungen, die alle sehr leicht und fragil gewählt sind. Raffiniert, aber prinzipiell absehbar. Nur ein Bauteil überschreitet die konstruktive Erwartung und muss als eigenständiger Hauptakt der modernen Materialisierung von Architektur klassifiziert werden. Gemeint sind die Rückwände der Zimmer, die jeweils aus einer Reihe dünner Betonscheiben bestehen. Genau diese Scheiben sind eine neue architektonische Kategorie und am deutlichsten wird das, wenn man die Herstellung rekapituliert: Wie in einer Prozession werden die Scheiben von Schindler und Clyde Chace direkt vor Ort hergestellt, und zwar flach auf dem Boden liegend, in Formen gegossen und nach dem Aushärten vertikal aufgerichtet. Eine Scheibe neben der anderen. Klingt unaufgeregt und ist dennoch eine treffliche Inszenierung. Nakagawa hat mit „verdichten, versiegeln, reinigen“ die Basistrilogie der Materialbearbeitung vorgelegt, so wird aus dem rohen Material tragfähiger Boden – und Schindler setzt den nächsten Kategoriesprung. Der Boden wird in die Vertikale gedreht, freistehend, maximal reduziert, starr. Damit wird aus dem Boden eine freistehende Scheibe, die der Architektur generell eine spektakuläre neue Möglichkeitsdimension eröffnet. Diese neue Möglichkeitsdimension bleibt aber nur offen, wenn man sicherstellt, dass die Scheibe nicht wieder desintegriert wird und zu losem Material zerfällt oder die vielen einzelnen Scheiben insgesamt zu einer kritischen Materialmasse klumpen. Genau aus diesem Grund hat 108

Schindler die einzelnen Scheiben mit einer demonstrativ offenen Lüftungsfuge versetzt, als wäre das Material Plutonium, das bei einer kritischen Masse wieder unkontrollierbar würde. Mit dieser Portionierung der Scheiben überschreitet Schindler auch Irving Gill, von dem er die Idee der Tilt-Slab Construction übernommen hatte, also das Gießen und anschließende Aufrichten von Betonscheiben vor Ort. Doch Gill hatte ganze Fassaden in einem Stück hergestellt, was wiederum einen enormen Hebeaufwand verursacht und die Methode insgesamt schwerfällig macht. Schindlers kleinformatige Scheibenelemente sind hingegen disponibel und unmittelbar manipulierbar. Martin Heideggers Begriffe sind hier nicht weit entfernt, er würde das alles als seinsgeschichtliche Schlüsselaktivität werten, würde vom Entbergen reden, vom Aufwerten und dass die erdige Natur gestellt wird, und dann noch zum Gestell weiterdeklinieren und das ganze Technik nennen. Jedes Gestell hat als Erdhaufen begonnen. Mensch ist, wer die Transformation beherrscht. Gleiches gilt für die Erfindung der Platte/ Scheibe. Der aufgerichtete Boden wird als Platte/Scheibe zum reinen Kunstprodukt. Im Übrigen auch semantisch ein erstaunliches Unikat. Die Platte ist eines der wenigen Dinge der Welt, das durch bloße Drehung um 90 Grad (abhängig von der Belastungsrichtung) einen neuen Namen erhält. Für die modernen Architekten ist eher der Effekt berauschend. Als Platte/Scheibe kann das Material präzise kontrolliert werden. Oberfläche mit minimalem Materialanteil. So dünn, so glatt, so leicht, wie die Technik erlaubt, und in zwanghafter innerer Ruhe. Keine Aufwallungen des eingeschlossenen Materials mehr, nicht einmal eine Verwerfung ist erlaubt. Mehr noch, es ist eine rituelle Versiegelung. Material wird nicht nur verpackt, sondern regelrecht weggepresst – wie man ehrlicherweise sagen sollte –, weil hier Arbeit und Genugtuung parallel laufen.39 Mit der Platte/Scheibe wird das Material erledigt und als erledigt abgetan. Die Überheblichkeit dem Boden gegenüber hat sich zur generellen Souveränität dem Material gegenüber ausgewachsen. 39 „Der erste Wohnraum war die Höhle. Das erste Haus war der hohle Erdhaufen. Bauen hieß – sammeln und aufschichten von Baumaterial unter Aussparung von Luft-Wohn-Räumen. […] Das Ziel des baukünstlerischen Strebens war – formale Unterjochung der Baumaterial-Masse. […] Wir haben keine plastisch-bildfähige Baumaterial-Masse mehr. Der moderne Architekt denkt den Raum – und bildet ihn mit Wand- und Decken-Platten.“ Rudolph M. Schindler. In: Matthias Boeckl. Hrsg. Visionäre & Vertriebene. Österreichische Spuren in der modernen amerikanischen Architektur. Ernst & Sohn. 1995. Seite 113

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Der architektonische Gewinn dieser Souveränität ist die frei wählbare Form und modernes Material ist gnadenlos in Form gebracht. Nur darum konnte Vilém Flusser sagen, dass man beim Stoß gegen einen Tisch gegen dessen Form stößt und nicht gegen dessen Material, den in der Form eingesperrten Stoff.40 In diesen Abhängigkeiten drücken sich Hierarchien aus, die in der Architektur bis heute nicht ausreichend verstanden worden sind. Wer Form will, der muss Nein zum Material sagen. Erst durch die Abwertung des Materials kann sich Form als gestalterische Option überhaupt konstituieren. Form und Material sind also gegenläufige Instanzen. Eine wirklich freie Form kann man nur gegen den Willen des Materials bauen, und die Platte ist die erfolgreichste Gegenmaterialform, die jemals erfunden worden ist. Architekturgeschichtlich muss man folglich zwei Zeitalter unterscheiden. Vor der Moderne hat das Material die Form bestimmt, mit der Moderne beginnt erstmals die Form, das Material zu zwingen. Wie diffizil diese Unterscheidung ist, lässt sich an der Airform Construction von Wallace Neff demonstrieren. In den 1940er Jahren in Los Angeles erfunden, hat es den modernen Platten/Scheiben-Baukasten nicht weiterentwickelt, weil streng genommen nur die natürliche Schüttkurve des Materials nachvollzogen wird. Salopp gesprochen, ist die Airform Construction ein grenzwertig aufgeschütteter Haufen: „Beginning with an inflated rubber or fabric balloon overlayed with reinforcing mesh, Neff sprayed the hemispheric form with an inch-thick layer of concrete. When the eleven-foothigh concrete shell had dried, the balloon could be deflated, removed, and used again, ‚up to a thousand times,‘ Neff claimed.“41 Obwohl diese Konstruktionsweise eine spektakuläre Materialreduktion erlaubt, ist sie letztlich nicht modern. Wenn der Auftakt der Moderne ein affektiver Wille zur Überheblichkeit war, dann kann die Architektur nicht plötzlich vor den formalen Vorgaben des Materials kapitulieren. Schindlers Platten sind moderner Materialformalismus, Neffs Bubble Houses hingegen sind vormoderner Materialnaturalismus. „Anstatt absolut richtige Formen zu sein, die die Materie 40 „Wir stoßen nicht gegen den Tisch, sondern gegen die Tischkante, und das ist ein Aspekt der Tischform. Das Holz ist nur der Stoff (das Füllsel, mit welchem die Form gestopft ist), und es ist die Form, gegen die wir in ‚Wirklichkeit‘ stoßen. Das Holz ist nur eine ‚Erscheinung‘ (phainomenon), in der und durch die hindurch die Tischform als die eigentliche Wirklichkeit erlebt wird.“ Vilém Flusser. Medienkultur. Fischer Verlag. 1997. Seite 191 41 Robert Friedel. „Scarcity and Promise”. In: Donald Albrecht. Hrsg. World War II and the American Dream. How Wartime Building Changed a Nation. National Building Museum. MIT Press. 1995. Seite 67

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organisieren, werden sie durch eine qualitative Berechnung des Optimums generiert und sozusagen vom Material ‚hervorgebracht‘.“42 So beschreiben Gilles Deleuze und Félix Guattari den Zustand vor der Moderne, als das Material selbstregelnd die Form und letztlich die Architektur erzeugt und beherrscht. Vormoderne Architektur fügt sich also nicht in die Form des Architekten, sondern in die Form des Materials. Der Architekt hat als Form zu akzeptieren, was ihm das Material vorschreibt. Trägt der Architekt seinen eigenen Formwillen in die Architektur hinein oder setzt er nur leicht manipulative Eingriffe, stürzt die Architektur in sich zusammen. Die gesamte fatale Baugeschichte der Kathedrale von Beauvais mit ihren wiederholten Einsturzkatastrophen bezeugt, wie abhängig die Architektur vor der Moderne von den Launen des Materials war. Die Schlussfolgerung aus diesen Versuchen für moderne Architektur ist durchaus radikal: Architektur ist Materialmanagement mit dem Ziel, die Architektur so weit wie möglich vom Material zu befreien. Begriffe wie Materialgerechtigkeit sind mit Moderne nicht vereinbar. Die Moderne muss ungerecht sein zum Material.43 Der in den letzten Jahren wieder üblich gewordene Materialüberschwang ist nicht modern. Ein moderner Architekt arbeitet nicht mit dem Material, sondern gegen das Material, zumindest im Modus einer Grundskepsis gegenüber unkontrollierten Materialschwellungen.44 Wenn man die Tendenz der Materialminimierung weiterdenkt, dann werden viele auf die Hightech-Architektur der 1990er Jahre verweisen, die mit einer geradezu manischen Verschärfung der modernen Materialminimierung Aufmerksamkeit erregt hat. Abermals wurde Material unter Reduktionsstress gestellt, um technische Grenzzustände zu provozieren. Ergebnis war eine signifikante Erweiterung des modernen Bauteilkatalogs 42 Gilles Deleuze, Félix Guattari. Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie. Merve Verlag. 1992. Seite 501 43 „Le Corbusier anerkennt in der Erscheinung kein Material, sondern nur Materialformen. Infolgedessen gibt es bei ihm kein gewachstes Holz, blankes Eisen, rohen Beton usw., ihm liegt es lediglich an der Erscheinung der fertigen Form, als Träger von Funktion und Idee. Die Farbe dient ihm dazu, diese letzte zu erreichen.“ Le Corbusier, Pierre Jeanneret. Zwei Wohnhäuser. Karl Krämer Verlag. 1991. Seite 36 44 „Ich habe mich gegen den Ziegelbau gewehrt; mir sind Ziegel unangenehm. […] Was ich möchte, ist reduzieren. Ich bin ein Fan der Reduktion der Elemente und des Arbeitsanteils am Bau – ein Bock, Pendelstützen, Holz, Glas, Aluminiumblech, Fertigteile aus der Industrie […].“ Helmut Richter. „Zum Begriff der intelligenten Architektur“. In: Positionen. Vortragreihe Symposium. Institut Grundlagen moderner Architektur und Entwerfen. Universität Stuttgart. 2000. Seite 85

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um Stab-, Falt-, Gitterwerke, dünnste Bleche und Membranen. Ebenso signifikant waren die Bauten dieser Zeit, die als die fragilsten Architekturerscheinungen bezeichnet werden können, die jemals errichtet worden sind. Den finalen Fluchtpunkt derartiger Entwicklungen würde eine komplett immaterielle Architektur bilden. Doch diese Richtung ist insgesamt eine unlogische Steigerung. Schindlers Platten übertrifft man nicht mit architektonischen Hightech-Exerzitien und schon gar nicht mit immateriellen Fantasien, denn die eigentliche Strategie lautet immer noch: Überheblichkeit dem Material gegenüber. Auf die Platte folgt also nicht die noch dünnere Platte, sondern die Dekorplatte. Nicht die immaterielle Architektur ist die endgültige Demütigung des Materials, sondern der Fake – wie man banale Verfälschungen heute salopp nennt. Aus der Materialplatte musste letztlich die Dekorplatte werden, denn erst damit wird das Material völlig verdrängt bzw. die Materialität von Architektur insgesamt negiert. Dekorierte Architektur ist nur noch Erscheinung. Man darf diesen Effekt aber auch retour-argumentieren. Letztlich ist jede Platte ein Fake, weil durch das Einpressen in Form plötzlich eine Oberfläche entsteht, die nicht vom Material selbst gebildet wird. Jede Platte verleugnet die natürliche Materialmorphologie und behauptet sich als eigenständige Erscheinung.45 Jetzt werden viele einwenden, dass der Fake doch erst in der Postmoderne zur eigenen architektonischen Unruhekategorie geadelt wird, als Rache und dauerlästige Kritik an der vermeintlichen Ehrlichkeit der Moderne. Schwerer Fehler. Der postmoderne Fake ist Spielzeug, der moderne Fake hingegen Kriegshandwerk. Um das Lockheed-Vega Aircraft Plant in Burbank, Los Angeles, für die feindliche Luftaufklärung unsichtbar zu machen, musste das gesamte Areal getarnt werden. Aber wie versteckt man eine Anlage, in der 94.000 Arbeiter unter Hochdruck Kampfflugzeuge herstellen? Die praktische Lösung, die Colonel John F. Ohmer implementierte, darf ohne Übertreibung als eines der modernsten Architekturmanifeste von Los Angeles gelistet werden. Tarnspezialisten der Armee, Set-Designer der Filmstudios, Ausstatter, Lichtplaner etc. überbauten die Fabrikgebäude mit einem skulpturalen Netzdach, das wie eine Suburb aussah. Unechte Rasenflächen, unechte Straßen, unechte Bäume, unechte Vorstadthäuser und echte menschliche Animateure 45 „Paradigmatisch für modernes Design ist die Spanplatte. An ihr wird sinnfällig, was für modernes Materialdesign charakteristisch ist, nämlich das Auseinandertreten von innerem Design und Oberflächendesign.“ Gernot Böhme. Atmosphäre. Suhrkamp Verlag. 1995. Seite 57

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auf Stegen dazwischen bewiesen, dass die Moderne jede Erscheinung herstellen kann, ohne sich dabei vom Material gängeln zu lassen. Der Erfolg dieses Riesen-Fakes beinhaltet jedoch eine stille Niederlage – und zwar des morphologischen Raums in der Architektur. Die gefakte Suburb-Erscheinung über der Fabrik von Lockheed wurde von Militärs und Kulissenbauern aus Hollywood hergestellt. Beide Disziplinen arbeiten mit einem aktiven Raumverständnis. Raum muss in Aktion gebildet, gehalten, modelliert werden. Nur Architekten glauben, sich Raum leisten zu können, der einfach nur da ist, materialmorphologisch bedingt. Aktives Raumverständnis bedeutet aber, dass sich die Oberflächen vom Material emanzipieren. Was dann passiert, beweist jede Attrappe, jede Kulisse, selbst jede banale Dekorplatte. Die Erscheinung wird raumfüllend, in Gernot Böhmes Atmosphären-Theorie gesprochen: raumkonstituierend. Erscheinungen, nicht Materialmorphologien erzeugen Raumatmosphären. Für alle, die am Raum hängen, ist das eine verstörende Nachricht. Raum kann sich erst bilden, nachdem das Material zurückgedrängt worden ist und stattdessen aktive Oberflächen geschliffen, gemalt, geklebt, gefakt worden sind. Und nur durch dieses falsche Strahlen der Oberflächen entsteht eine atmosphärische Stauung, die man Raum nennt. Man muss sich jeden Raum wie eine Traglufthalle vorstellen, die nur von ihrer inneren Stauung gehalten wird. Wer also dramatische Raumerlebnisse will, der muss aktive Oberflächen in beziehungsreiche Stellung zueinander bringen. Viele dekonstruktiv arbeitende Architekten wissen und praktizieren das in höchster Eloquenz. Die Umkehrung gilt ebenso. Je schwerer und materialnaturalistischer Architektur ausfällt, desto stärker verschlingt das Material den Raum, absorbiert ihn regelrecht, bis er nur mehr als vergessenes Außen jenseits des üppigen Materialinneren übrigbleibt. Den Schlusspunkt dieser Logik setzt die Höhle, die als vermeintliche Ikone des Raums streng genommen das Gegenteil eines Raums ist. Die Höhle ist nur ein Fehler im Materialkontinuum, eine Anomalie, von der man ständig befürchten muss, dass sie sich wieder normalisiert und einen verschüttet. Als Mensch ist man folglich nirgendwo so schutzlos wie in einer Höhle, denn dort ist kein aktiver Raumwille, der gegen den andrängenden Verschlingungswillen des Materials drücken würde. Die Erfindung der Höhlenmalerei wäre in diesem Zusammenhang der Versuch, gegen die natürliche Materialdrohung der Höhlenwände und gegen das Raumvakuum in der Höhle anzuarbeiten. Sobald Bilder auf das Material gemalt 113

sind, entsteht wieder eine atmosphärische Stauung davor, die das Material zurückdrängt und einen aktiven Raum entstehen lässt. Wer also bloß eine Höhle gräbt, der arbeitet nicht räumlich-expansiv; wer aber die Höhlenwände bemalt, der arbeitet sehr wohl expansiv – nicht nur räumlich und architektonisch, sondern auch selbstdefinitorisch.46 Mit dem Verweis auf die Materialdrohung wird auch klar, was man von öffentlichen Stadträumen halten darf, die zwischen schweren Rustika-Fassaden gebildet werden. Da ist kein Raum, zumindest kein Raum zur aktiven Entfaltung von Raumanspruch. Zwischen den schwülstig wuchernden Steinfassaden ist nur noch Publikumsbereich für eine permanente Materialdrohung. Wann kommt der große Hangrutsch und begräbt alle? Wer ist in der Lage, die Laune des wuchernden Materials zu beherrschen? Sicher nicht der unbedarfte Passant. Einstürzende Altbauten sollte man also mehr fürchten als Einstürzende Neubauten.47 Im Schatten der neuen, modernen Materiallogik macht aber noch eine andere moderne Stauung Karriere. Eine stille Karriere allerdings, obwohl die Stauung selbst kein Geheimnis ist. Gemeint ist der unvermeidliche Hohlraum hinter jeder Platte. Von außen unsichtbar, von der bisherigen Architekturtheorie unbeachtet, sind diese dunklen Hohlräume eine monströse Koproduktion der Moderne geworden. Pikanterweise ohne jemals in die Krise zu geraten wie die aktive räumliche Agenda der Moderne. Die dunklen Hohlräume sind heute überall, in Plattenwänden, aufgeständerten Fußböden, abgehängten Decken, in Wabenpaneelen und Profilquerschnitten. Distanz hat Material ersetzt. Mit diesen Distanzkonstruktionen ist der Horror des verschlingenden Materials zwar gebannt worden, es ist dabei jedoch ein neuer moderner Horror groß 46 „Die Höhlenkunst bringt eine Entwicklung, die von der verbalen Sprache begonnen worden ist, weiter voran: die Integration des Menschen in einen konkreten Raum, entstanden vermutlich aus der Suche nach Sicherheit und nach einem weitgehend homogenen Weltbild, das die paläolithischen Menschen miteinander teilen. Seine Ursprünge mag dieses Streben in genetisch bedingtem Verhalten tierischer Lebewesen haben, im Rückzug, in der Suche nach dem Nest und dem Bau in der Erde. Aber symbolisch transponiert, entsteht etwas ganz anderes: ein Raum in der Erde mit Merkmalen des Heiligen und ein Medium des Ausdrucks der Menschen von sich selbst.“ Gunter Gebauer. „Der Ort von Anfang und Ende. Über Höhlen und ihre Symbolsysteme“. In: Dietmar Kamper, Christoph Wulf. Hrsg. Rückblick auf das Ende der Welt. Boer Verlag. 2015. Seite 55 47 „Tip: Zur Legende gehört, dass wenige Wochen nach der Gründung der Einstürzenden Neubauten, am 1. April 1980, das Dach der Berliner Kongresshalle (heute Haus der Kulturen der Welt) einstürzte. Blixa Bargeld: Ein Zufall, das haben wir nun wirklich nicht verursacht.“ Blixa Bargeld. In: Jacek Slaski. „‚Sei schlau, klau beim Bau‘ – Interview mit Blixa Bargeld“. https://www.tip-berlin.de/sei-schlauklau-beim-bau-interview-mit-blixa-bargeld/. 03.01.2017

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geworden: der dunkle, unkontrollierbare Hohlraum selbst. Schindler wollte den unbelüfteten Keller abschaffen, doch heute ist der Keller überall; allerdings nicht mehr als gefasstes Geschoss unter der Erde, sondern als labyrinthisches Netzwerk durch das gesamte Gebäude hindurch, in jeder Höhe, in jeder Lage, immer eine Plattenstärke nebenan. Damit ist aber noch nichts über die bedenklichste Kategorie der Horror-Hohlräume ausgesagt: die Luftkanäle. Die schlummern nämlich nicht nur passiv hinter Platten, sondern haben sich zu einer hyperaktiven Parallelwelt zusammengeschlossen. Teils riesige Querschnitte, manisch anmutende Ausbreitungslogik, und an jedem Ende ein stumpfsinniger Apparat. Schimmel, Schmutz und Kleintiere sind dabei nicht die schlimmste Vorstellung. Welcher Horrorfilm, welcher Actionfilm der letzten Jahre kommt ohne einen Einstieg in diese architektonische Parallelwelt aus? Das Horrible bricht also nicht mehr aus dem Dunkel des Materials hervor, sondern überfällt einen aus der Parallelwelt der modernen Distanz-Hohlräume heraus. Was die Filmemacher inspiriert, sollte im Praxisbetrieb allerdings Sorgen bereiten, denn genau diese Horror-Hohlräume haben das wichtigste Zukunftsmodell der Architektur unterwandert: das energieoptimierte Haus. Indirekte Luftversorgung, Kanäle, die in den Keller hinunterführen, die Wärme abnehmen und wiederverwenden und die bearbeitete Luft nach oben zurückleiten – so liest sich die scheinbar vernünftige Betriebslogik der kontrollierten Raumlüftung. Aber ist das nicht eine fatale Umkehr dessen, was die Architektur seit der Erfindung des Fensters wissen sollte? In Europa sind ganze Altstadtquartiere abgetragen worden, nur um direkte Luftzufuhr und -zirkulation zu ermöglichen. Doch im energieoptimierten Haus passiert das groteske Gegenteil: Ausgerechnet die modernen Architekten haben wieder einen Keller erfunden, diesmal in Form einer Atmungsmaschine. Naturnahes Leben bedeutet heute, die Atemluft zuerst nach unten in die dämonische Tiefe einer technischen Apparatur zu leiten, bevor die Bewohner sie aus Rohrleitungen kommend endlich einatmen dürfen. Nicht nur die Architektur ist von einem Netzwerk an Horror-Hohlräumen durchwirkt, wir sind im energieoptimierten Haus auch noch gezwungen, diesen Horror kontinuierlich zu inhalieren. Selbst wenn man die Qualitätsfrage zur Apparateluft wohlwollend suspendiert, so bleibt doch die Befürchtung, dass die rein technische Lüftungslogik einen krassen Widerspruch zur eigentlichen Motivation des energieoptimierten Bauens darstellt. Wer seine Atemluft 115

nicht mehr direkt aus der Welt entnehmen darf, sondern nur mehr durch einen Inhalationsapparat lebt, der erfährt sich nicht mehr als Naturwesen. Wie werden „Menschen mit dem Konzept des Unbewussten zurecht kommen, wenn ihnen die Erfahrung eines Hauses mit Keller und Speicher nicht mehr gegenwärtig ist“, fragt Peter Sloterdijk.48 Berechtigte Sorge, die mittlerweile aber einen schwerwiegenden Zusatz erhält: Was werden das für Menschen sein, die Frischluft nicht mehr kennen und stattdessen in übergroße eiserne Lungen eingekapselt sind? Der dauerkeuchende Darth Vader wäre jedenfalls die folgerichtige Ikone der energieoptimierten Architektur.

Montierte Unruhe oder Paradies „The Los Angeles Daily News described the construction of the houses as a huge assembly line.“49 Dieser knappe Satz von Donald J. Waldie ist mehr als nur ein Satz. Er ist ein ganzes Kapitel, konkret das 22. von insgesamt 316 durchnummerierten Kapiteln seines Buchs Holy Land. A Suburban Memoir. Darin erzählt Waldie zwei ineinander verflochtene Geschichten. Sein Leben in Lakewood, einem neuen Stadtteil im Süden von Los Angeles, und die Entstehung dieses Stadtteils, überregional beachtet als eines der damals größten Nachkriegssuburbs in den USA. Mehr als 17.500 Häuser wurden seit 1950 in weniger als 3 Jahren errichtet: quadratischer Straßenraster, riesiges zentrales Shoppingcenter, und das Douglas Aircraft Plant als wichtigster Arbeitgeber für die Anwohner.50 Besser konnte man es damals als Arbeiter nicht erwischen, und doch zeigt sich, wie sehr das Erlebnis des modernen Bauens einen Menschen in Besitz nimmt. Die Elementlogik, mit der im Douglas Aircraft Plant Flugzeuge montiert werden, überträgt sich auf Lakewood, das ebenfalls als Fließbandvorstadt in die Landschaft montiert wird. Die Häuser sind Elemente, die Nach barschaften sind Elemente, und ja, auch die Menschen in Lakewood sind Elemente, die für die Kriegsproduktion zu einer Gesellschaft zusammenmontiert werden. Und das zusammenmontierte Leben inmitten dieser Elementwelt überträgt sich schließlich auf den Autor Donald J. Waldie, der sein biografisches Werk aus 316 streng konturierten Kapiteln 48 Peter Sloterdijk. Sphären III. Schäume. Suhrkamp Verlag. 2004. Seite 552 49 Donald J. Waldie. Holy Land. A Suburban Memoir. W. W. Norton & Company. 2005. Seite 11 50 http://www.lakewoodcity.org. 22.04.2019

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montiert. Aber nicht zynisch, sondern als nachdenkliche, gleichwohl verstörend wohlwollende Fusion aus Leben und Montage: „My father died behind a well-made, wooden bathroom door. It is a three-panel door. Each panel is nearly square, twenty-one inches wide by nineteen inches high. From edge to edge, the door is twenty-eight inches wide. All the original doors in the house are the same – grids of three rectangles surrounded by a raised framework. Painted white, as they are now, each square of each door is molded in the light by a right angle of shadow. The doors in my house are abstract and ordinary. The bathroom door is now fortyseven years old. My father was sixty-nine.“51 Werden menschliche Gehirne bzw Erinnerungsapparate durch die Moderne anders formatiert? Auch diese Frage ist nicht zynisch gemeint, denn es kann anthropologisch nicht unerheblich sein, in konsequent moderner Umgebung aufzuwachsen. Die Umstellung der Moderne endet ja nicht mit dem Wegpressen des Materials in Platten/Scheiben und dem Herstellen von aktiven Stauräumen und Horror-Hohlräumen. Die Theorie der Platte ist nicht annähernd vollständig, ohne die Logik des Fügens hinzuzudenken: die Montage. Platte und Montage bedingen einander, erst in dieser Kombination beginnt das neue Bauen. Die Architektur wird nicht aus losem Material vor Ort zum Monolith verschweißt, sondern in präzisen Komponenten angeliefert und nur mehr zusammengestellt. Die kraftschlüssige Interaktion ist nur noch punktuell. Montage bedeutet also Fügen mit Zweifel. Das Gebäude muss zwar zusammengehalten werden, darf aber nicht verschmelzen, weil jederzeit eine Trennung, eine Demontage folgen kann. Die Architektur der Moderne ist also immer widersprüchlich oder sogar autodestruktiv. Das allein klingt schon progressiv, wenn diese Montagelogik aber ein gesamtes Lebensumfeld wie Lakewood definiert, kann man ohne Übertreibung von einer neuen Welt sprechen, die das Denken und Handeln entsprechend neu ausrichtet. Am tiefsten irritiert dabei die innere Schizophrenie. Mit massiver Montageintelligenz haben Produktionssuburbs wie Lakewood den Zweiten Weltkrieg gewonnen, gleichzeitig ist die Destruktion zu einer permanenten inneren Realität geworden. Moderne Vorstädte und moderne Gesellschaften werden wie moderne Architekturen nur skizzenhaft zusammenmontiert. Dabei wird einerseits auf einen definierten Zustand hingearbeitet, ein Gebilde mit einer integrativen Gestalt festgelegt, gleichzeitig aber wird die Gesamtgestalt noch vor der Realisierung zerlegt 51 Donald J. Waldie. Holy Land. A Suburban Memoir. W. W. Norton & Company. 2005. Seite 24, 25

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und damit zerstört. Die Moderne entwirft für Architektur und Gesellschaft gleichermaßen die großen Linien, die eine Gesamtgestalt zusammenhalten, und sie entwirft gleichzeitig Teilungslinien, Teilungsgrößen und Teilungsabläufe, die gegen das Ganze arbeiten. Im Idealfall wird moderne Architektur in industriell standardisierte Komponenten zerlegt, an denen die Gesamtgestalt nicht einmal mehr andeutungsweise ablesbar ist. Und im Idealfall entsprechen auch die Bewohner einer neutralen Menschschablone ohne Baggage – wie man in den USA lästige Eigenwilligkeiten und persönliche Geschichte nennt. Diese Neutralisierung der Elemente zu beliebigen Teilungszwecken klingt nach einer ernüchternden Beschäftigung, ist aber laut Jan Verwoert die Basisoperation für Sinnstiftung: „Der Schnitt ist also ein für die Sinnstiftung grundlegender Akt, der selbst keinen bestimmten Sinn, sondern allein die unbestimmte Möglichkeit von Sinnstiftung produziert.“52 Für moderne Architektur gilt das exemplarisch. Erst durch die Einführung von intelligenten Teilungslinien entsteht eine projektunabhängige Platten/Scheiben/ Stützen/Baukomponenten-Logik, die wiederum zu anderen sinnvollen Gesamtkonstellationen zusammengefügt werden kann. Das ist der Gewinn der Teilung. Teamfähig nennt man das in Bezug auf Mitarbeiter. Das Wort Leiharbeiter folgt im Wesenskern der gleichen Logik. Das ist Moderne par excellence, ein Organisationsprozess mit beliebig anschließbaren Re-Organisationsprozessen. Im Extremfall wird weder der Anfangszustand noch der Endzustand festgelegt, sondern nur der Wechsel der Zwischenstände geplant. Am Montageplan und am Zeitplan entscheiden sich das konkrete und das utopische Schicksal des Unternehmens Moderne und nicht am physischen Bestand.53 Das ist kulturgeschichtlich das erste Mal, dass etwas Immaterielles die Oberhand gewinnt. Heute nennt man dieses Verfahren Entwicklungszustandsplanung, doch der Begriff beschreibt ein insgesamtes Ideal der Moderne, denn das Verbesserungsversprechen der Moderne ist ohne die Bereitschaft zur 52 Jan Verwoert. „Mehr als nur möglich“. In: Akademie der Künste. Hrsg. Topos Raum. Die Aktualität des Raumes in den Künsten der Gegenwart. Verlag für moderne Kunst Nürnberg. 2004. Seite 98 53 „Der Intellekt äußert sich in der utopischen Denkweise als ‚Fähigkeit zur Denkübung am Konkreten‘. […] Er hat seine Freude am gedanklichen Erproben von Möglichkeiten, die er über die Wirklichkeit hinausgehen sieht. Dies ist eine Art ‚Verstehen‘; es ergibt sich aus einem ersten Begreifen des Wirklichen und führt nun seinerseits zu dessen besserem Verständnis.“ Raymond Ruyer. „Die utopische Methode“. In: Arnhelm Neusüss. Hrsg. Utopie. Begriff und Phänomen des Utopischen. Campus Verlag. 1986. Seite 339

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zyklischen Um-Montage nicht glaubwürdig. Nur die Montagelogik hält alle besseren Gestaltoptionen immer potentiell vorrätig und abrufbar. Mit Raymond Ruyer lässt sich argumentieren, dass ein Gebilde durch die Bereitschaft zur Um-Montage überhaupt erst intelligent wird, weil alle alternativen Möglichkeiten permanent mitgedacht werden können.54 Montagesuburb, Montagearchitektur, Montagegesellschaft ist dauerkontingent. In der Moderne haben Bauteile und Menschen gleichermaßen sprungbereit zu sein, wenn der Planer seinen Gestaltungswillen artikuliert. Damit ist gleichzeitig der Souveränitätsanspruch des modernen Planers weiterdekliniert. Erst mit der Montagefähigkeit der physischen Welt wird der Primat des Wollens wirklich zum Souverän. Doch dieser enorme Zuwachs an Souveränität ist erkauft mit zunehmender Unsicherheit. Moderne Architektur ist streng genommen gestaltlos, weil sie keine stabile Gestalt mehr besitzt, auf die sie sich identitätsstiftend beziehen könnte. Jede momentane Montagekonstellation kann jederzeit revidiert werden. Die Gestalt wird zur austauschbaren Variablen und nur als momentanes Ereignis in die Welt skizziert. Kein Wunder, dass moderne Architektur oft beklemmend körperschwach ist. Als Objekt vor Ort wirkt sie anämisch, konturnervös, fragil. Neben der Körperschwachheit trägt die potentielle Demontierbarkeit eine Unruhe in die Montagearchitektur hinein, die davor nicht bekannt war. Modern lebt man in ephemeren Räumen, umgeben von Nieten, Schrauben, Klemmen und Fugen. Die Trennbarkeit wird zur ständigen Drohung. Das ganze Gebäude könnte ein Fake sein. Montagearchitektur ist potentielle Transformerarchitektur, nie ganz da und nie ganz bei sich. Nie loyal zum Ort, nie loyal zur eigenen Erscheinung. Wir wollen nicht hier sein und wir wollen uns nicht festlegen, wir wollen Option sein. So beginnt man eine Planungsaufgabe als moderner Architekt. Modernsein und Unruhigsein sind nicht voneinander zu trennen. Man könnte die gesamte Moderne anhand verschiedenster Arten der Unruhe beschreiben, von der Nervosität bis hin zum Vielfliegerprogramm, denn wieder ist die Architektur nur Sinnbild für alle modernen Gebilde. Wer taktisch klug ist, vermag diese Unruhe projektiv zu kanalisieren und in eine strategische Mobilität zu übersetzen. Architekten hingegen 54 „Ein Faktum oder ein Ereignis verstehen heißt, es durchdringen, ohne sich darin zu verlieren, ohne es für absolut und unveränderlich zu nehmen. Es heißt, die Alternativ-Möglichkeiten (possibles latéraux) mitsehen. Man versteht eine Sache nur, wenn man die ganze Skala der ihr verwandten Möglichkeiten mitdenkt.“ Raymond Ruyer. Ebd. Seite 339, 340

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müssen zunehmend inflationär werdende Unruhe managen. Das Potenzial der Montage wird ja nicht nur verwendet, um von einer sinnvollen Konstellation durch Evaluation und Verbesserung zur nächsten sinnvollen Konstellation zu gelangen. Viel öfter wird der Montageplan grundlos geändert, nur um die Änderungsmöglichkeit als solche auszuschöpfen. Aus Beweglichkeit wird Flatterhaftigkeit, aus Fortschritt wird Mode. Moderne Architektur ist eigentlich von Anfang an hypermodern, weil Entwicklungsfortschritt mehrheitlich inszeniert, anstatt tatsächlich eingelöst wird.55 Doch mit jeder Änderung des Plans, egal ob sinnvoll oder nicht, wird an alle anderen Pläne und Bauten die stille Forderung adressiert, doch gefälligst ihren momentanen Status zu hinterfragen und zu adaptieren. Die Veränderung wird zur permanenten Bringschuld und der Zweifel am momentanen Status zur Pflicht. Richard Neutra ist einer der ersten, der das formale Potenzial dieser inflationären Unruhe erkennt und für seine Bauten nutzbar macht. Vor allem seine Erfindung der Spinnenbeinstütze kann als Auftakt zur Dekonstruktion gesehen werden. Die Spinnenbeinstütze ist nicht sinnvoll, so viel kann man vorausschicken, aber sie erzeugt einen starken Unruheeffekt. Am Beginn steht jedenfalls die Absicht, Frank Lloyd Wrights Destruction of the Box umzusetzen. Angewendet auf einen konkreten Raum könnte man meinen, dass mit dem Einbau von transparenten Glaswänden auch die Raumbox nach außen geöffnet und dadurch tendenziell verschwinden würde. Das stimmt aber nicht, solange an allen vier Ecken eine Stütze steht. Wer Rudolf Arnheim ernst nimmt, der weiß, dass Figuren durch Strukturmarker gebildet werden, und vier Stützen in rechteckiger Aufstellung markieren eben eine Raumbox, so transparent können die Wände gar nicht sein.56 Erst wenn man einen der vier Strukturmarker manipuliert, eliminiert man gleichzeitig die boxartige Figur und erst jetzt verschwindet die Raumbox. Neutras Spinnenbeinstütze ist die konstruktive Umsetzung dieser prinzipiellen Idee. Eine Stütze wird aus der Raumecke hinaus bis weit vor das Gebäude gerückt. 55 „Als Organisationsforscher denke ich an so Irdisches wie die Zeit für das Einspielen, das SichBewähren, die Feineinstellung und die ‚Amortisation‘ des Neuen nach einer Reorganisation – Zeit, die oft nicht mehr bleibt. […] Diese zeitliche Besonderheit, dass das Neue schon überholt wird, noch bevor es recht etabliert, eingespielt und genutzt werden konnte, macht die differentia specifica der Hypermoderne aus – nicht das bloße Tempo und auch nicht die bloße Beschleunigung der Innovation.“ Günther Ortmann. Als Ob. Fiktionen und Organisationen. VS Verlag für Sozialwissenschaften. 2004. Seite 85 56 Vgl. Rudolf Arnheim. Kunst und Sehen. Walter de Gruyter Verlag. 1978

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Der Anschlussträger der Dachkonstruktion wird mit hinaus verlängert. In Summe ergibt das eine abgewinkelte Konstruktion, die an ein Spinnenbein erinnert – daher der Name. Der Raum selbst wird nur noch durch ein reines Glaseck abgeschlossen, wodurch ein visuell diagonaler Raumfluss hinaus ins Freie entsteht. Aber diese Freiheit vom Schachtelraum ist erkauft mit adäquater Unruhe. Plötzlich bewegt sich eine Stütze aus dem Raum hinaus, als wolle sie den Raum durch Überstreckung zum Einsturz bringen. Von Ruyer stammt die Erklärung, wonach die utopische Herangehensweise das Wesentliche vom Zufälligen unterscheiden würde. Das Unwesentliche ist dabei das Veränderliche.57 Neutra demonstriert mit seiner Spinnenbeinstütze, dass jetzt die Statik eines Hauses nicht mehr wesentlich ist, sondern zufällig. Ausgerechnet der konstruktive Anteil der Architektur, oft der letzte Rückzugsbereich der stabilen Vernunft, wird zum beliebigen Spielsystem. Mit der Spinnenbeinstütze wird die Desintegration von Architektur zur gestalterischen Methode. Neutra zeigt hier, dass die immanente Unruhe der Moderne nicht einmal davor zurückschreckt, die innerste Logik des Architekturmachens aufs Spiel zu setzen. Dass eine derartig durchdringende Montageunruhe eine adäquate Gegenlust auf solide Schwere provoziert, ist schon aus diskursdramaturgischen Gründen nicht verwunderlich, und so ist die Geschichte der Montagearchitektur nicht komplett, ohne derartige Gegenstimmen zu hören. Die lauteste kommt aus der Bevölkerung, denn nimmt man den Publikumsgeschmack als Maßstab, dann war die Montagearchitektur immer schon mehr als verdächtig. Diese Erfahrung mussten Henry Dreyfuss und Edward Larrabee Barnes schon im Los Angeles der späten 1940er Jahre machen. Die beiden hatten ein Fertigteilhaus entworfen, das auch für heutige Begriffe als hochmodern zu bezeichnen ist. Die Hauselemente bestanden aus wabenförmigem Karton, eingefasst in Aluminiumblech. Das gesamte Haus sollte in der Fabrik in Serie hergestellt und vor Ort nur noch zusammengefügt werden.58 Die Idee zu diesem Leichtbauhaus 57 „Wenn es zutrifft, wie Cournot glaubt, dass die wesentliche Aufgabe der theoretischen Vernunft darin besteht, in der Erscheinungswelt wie in der Geschichte das Wesentliche vom Zufälligen zu unterscheiden, dann muss die utopische Verfahrensweise der Vernunft ein bedeutendes Hilfsmittel sein, insofern sie darin besteht, an den Gegenständen alles das zu verändern, was veränderlich ist. Sie deckt damit die nicht wesentlichen Eigenschaften auf.“ Raymond Ruyer. „Die utopische Methode“. In: Arnhelm Neusüss. Hrsg. Utopie. Begriff und Phänomen des Utopischen. Campus Verlag. 1986. Seite 347 58 https://www.thefleethouse.com/. 22.04.2019

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folgte einem allgemeinen Trend der späten 1940er Jahre. Wie viele andere Fabriken in Los Angeles musste auch die Consolidated Vultee Aircraft Company nach dem Krieg auf Zivilproduktion umstellen. Während der Kriegsjahre hatte man Langstreckenbomber gebaut, nach dem Krieg versuchte man, die gleiche Leichtbautechnologie in Architektur zu übersetzten. Auch die Imageidee schien zu stimmen. Die technologische Raffinesse der metallisch glänzenden Bomber hatte geholfen, den Zweiten Weltkrieg zu gewinnen. Es war nur naheliegend zu vermuten, dass Los Angeles nach dem siegreichen Ende des Kriegs in metallisch glänzenden Häusern würde wohnen wollen. Doch das war eine schwere Fehleinschätzung. Das Consolidated Vultee House wurde nur zwei Mal gebaut. Los Angeles wollte doch nicht in optischer Kriegsunruhe wohnen – ganz im Gegenteil. Man wollte den Sieg in die Wiederherstellung von stabilen Zuständen investieren, wenn schon nicht tatsächlich, dann zumindest in der optischen Erscheinung. Diese populäre Sehnsucht nach architektonischer Stabilität gilt bis heute. Der durchschnittliche Wohnbau in Los Angeles ist daher immer noch ein taktisch kluges Hybrid aus optischer Schwere und hintergründig moderner Unruhe. Man kann sich nicht genug wundern, dass gerade in Los Angeles die Moderne am Architekturobjekt selbst eigentlich nicht sichtbar ist. Ganz platt formuliert: Die Architektur ist unaufhaltsam im Montagezeitalter angelangt, die meisten Häuser aber tragen historistische Fake-Fassaden, um das zu verschleiern. Hier findet eine umgekehrte Heuchelei statt. Alle mögen neue Autos, Computer, iPhones mit hypermoderner Optik und Funktionalität. Oft ist sogar rückständige Technik in modernistisch-spekulative Outfits verpackt. Aber ausgerechnet bei der Architektur dreht sich die Heuchelei um. Vor allem Wohnbau soll aussehen wie in Stein gehauen. An dieser simplen Zuordnung der Gewichtsoptik wollte nicht einmal George Lucas in seiner Star-Wars-Welt rütteln. Er zeigt die gleiche Tendenz. Die Fahrzeuge sind durchwegs spektakulär zukünftig, die Gebäude jedoch durchwegs retro. Sähe man nur die Gebäude und die Menschen darin, könnte man oft glauben, im Mittelalter oder im alten Rom zu sein. Und diese filmische Vorlage wird bis in die kulturelle Elite hinauf praktiziert. Nicht nur das durchschnittliche Los Angeles wohnt gern optisch beschwert, von Ozzy Osbourne über Gene Simmons bis zu den neureichen Gangsterrappern wird moderne Architekturoptik zurückgewiesen und lieber in materialschwerer Märchenromantik gewohnt. 122

Die breite Popularität der architektonischen Schwere in Los Angeles hinterlässt dennoch Zweifel. Wird damit nur eine ästhetische Vorliebe zelebriert? Ist das der einzige Gewinn des ganzen Aufwands? Mitnichten. Die Popularität der architektonischen Schwere verweist auf eine Qualität, die eigentlich nur historischer Architektur zugesprochen werden kann, nämlich zu insistieren. Die Moderne hat durch ihre Montagearchitektur das klassische Insistieren durch Materialschwere aufgegeben. Historische, materialschwere Architektur hingegen macht das bis heute. Enorm insistieren, durch So-Sein und Da-Bleiben, genau hier, und genau so, wie sie ist. Da wird nicht nervös herummontiert und permanente Gestaltänderung betrieben, nicht einmal die Bereitschaft dazu gezeigt. Die alten Steinbauten denken nicht in den Kategorien des Flexiblen, Anpassungswilligen, Selbstzweiflerischen, sondern kennen nur Bestand oder Zerstörung. Dabei kommt die Zerstörung schicksalhaft von außen, die Architektur selbst begreift sich hingegen als Bestand. Nur durch dieses beständige Insistieren kann historische Architektur zu einer topografischen Gegebenheit in der Stadtlandschaft werden. Das ist ihre wahre Qualität. Historische Architektur ändert sich nicht mehr, sondern delegiert die gesamte Veränderungsanstrengung an den menschlichen Nutzer. Umgekehrte Verhältnisse also. Die unverrückbare Schwere ist der Souverän, nicht der gestaltungswillige Nutzer oder Planer. Ernst H. Gombrich erinnert in seiner Geschichte der Kunst eindringlich daran, wie tief diese Idee der Schwere die Kultur des Bauens bestimmt hat. Die Künstler und Architekten im alten Ägypten hätten über 3000 Jahre hinweg an nichts anderem als der Unveränderlichkeit gearbeitet.59 Mit dieser Betonung der Dauerhaftigkeit apostrophiert Gombrich gleichzeitig den gänzlich anderen Auftrag an Kunst und Architektur in der Jetztzeit. Gombrich kommt auch nicht umhin, in der Beharrlichkeit der Ägypter eine Unterdrückung des natürlichen, nach Innovation strebenden Künstlerseins anzudeuten. Das mag schon stimmen, aber in der Kunst ging es nie darum, den Künstler glücklich zu machen, genauso wie es in der Architektur nie darum ging, den Architekten glücklich zu machen. Stattdessen muss der generelle Auftrag an die Kreativen im 59 „Der ägyptische Stil gründet sich auf eine Reihe festgelegter Gesetze, die jeder Künstler von frühester Jugend auf zu lernen hatte. […] Niemand wollte etwas anderes von ihm, niemand verlangte, dass er ,originell‘ sein sollte. Ganz im Gegenteil. […] So erklärt es sich, dass sich die ägyptische Kunst im Laufe von dreitausend Jahren nur sehr wenig verändert hat.“ Ernst H. Gombrich. Die Geschichte der Kunst. Belser Verlag. 1986. Seite 49

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jeweiligen historischen Kontext gesehen werden. Das bedeutet, in der Welt der Vormoderne, in der Sterben, Welken, Vergehen das Alltagsbild bestimmen, stellt die Fähigkeit, Momente zu stabilisieren, eine enorm wichtige Kompetenz dar. Es ist die einzige Möglichkeit, das Gute zu vermehren oder zu verlängern. Erst in der Moderne drehen sich die Verhältnisse und folglich die jeweiligen Aufträge um. In der Moderne wird durch Medizin, Technik, Wohlfahrtsstaat, Rechtsstaatlichkeit etc. eine umfassende Stabilisierungsleistung erbracht. Im besten Fall passiert nichts Aufregendes mehr. Damit wird gleichzeitig eine enorme existenzielle Langeweile emittiert, die dann mit permanenter Innovation behandelt werden muss. Damit ist auch eine Umkehrung der Rolle des Künstlers und Architekten zwangsläufig. Vom Beruhiger und Stabilisator in der Vormoderne zum Unruhestifter und kreativen Zerstörer in der Moderne. Soweit die prinzipielle Gegenüberstellung, aber schon an der Postmoderne wird klar, dass die Verhältnisse nicht so einfach entlang einer historischen Trennlinie sortiert werden können. Postmoderne Architekten haben nicht nur die Dekonstruktion auf die Spitze getrieben, sie haben auch das Gegenteil, die Renaissance der opulenten Körperlichkeit, eingeleitet. Von Mario Botta bis Robert A. M. Stern soll Architektur nicht körperschwach herumstehen, sondern einen präsenten Körper behaupten. Bodily Desire nennt Shin Takamatsu diesen Anspruch an Architektur.60 Von den Vertretern der minimalistischen Kunst kommt schließlich die stärkste Formulierung: „ein kraftvolles Werk darf nicht zusammengefügt sein“,61 lautet sinngemäß die Direktive von Donald Judd. Eine kraftvolle Architektur dürfte demzufolge ebenso wenig gefügt sein, sondern müsste sich als Solid vor Ort behaupten: „We imagine our buildings in the first instance as solids. Volume is solid after all. […] Our buildings are never compilations of walls that enclose empty space, they are pure mass, weight. Architecture is the expression 60 „The pleasure given by a physical presence has the capacity to stimulate direct, bodily desire. I’m very interested in the notion of architecture as such a presence, and in a sense I’m happy that people want to touch buildings I have designed.“ Shin Takamatsu. In: San Francisco Museum of Modern Art. Shin Takamatsu. Rizzoli. 1993. Seite 61 61 „Wir stossen hier auf die zweite grundsätzliche Forderung, die die minimalistischen Künstler zu erheben scheinen: jegliches Detail zu eliminieren, um als unteilbare, unzerlegbare Totalitäten verstandene Objekte zu propagieren. Jeweils ein ‚Ganzes ohne Teile‘, Objekte, die in dieser Hinsicht als ‚nicht relational‘ bezeichnet werden. […] Ein kraftvolles Werk sollte für Judd ‚keine neutralen oder gemäßigten Partien oder Teile, keine Verbindungen oder Übergangsbereiche‘ enthalten; ein kraftvolles Werk darf nicht zusammengefügt sein“ Georges Didi-Huberman. Was wir sehen blickt uns an. Zur Metapsychologie des Bildes. Wilhelm Fink Verlag. 1999. Seite 38

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of great weight using sculpture as a tool.“62 Eine verwunderliche Aussage von Neutelings Riedijk Architects. Obwohl ihre Gebäude wohl ebenfalls aus Platten bestehen, bemühen sie die Allegorie des Total-Soliden, das es in der modernen Architektur eigentlich nicht mehr geben kann. Architektur als Monolith vor Ort ist also weniger baupraktische Tatsache, als ein sehnsüchtiger Protest gegen die chronisch körperschwache Architektur der Moderne, mindestens eine Besänftigungsarchitektur für Plattengeschädigte und Montageenttäuschte. Die Architekten heute sind also hin- und hergerissen. Sollen sie Agenten des Beständigen sein oder Agenten des Veränderlichen? Sollen sie am gesetzten Klassiker arbeiten oder an der kreativen Unruhe? Mit Boris Groys kann man argumentieren, dass damit um nichts Geringeres gerungen wird als um das Paradies: „Das heißt, die Abschaffung der Mode, das ist der paradiesische Zustand. Im Paradies gibt es keine Mode. Paradies ist das Gegenteil der Mode, das Gegenteil des Zeitgeistes. Gegenteil des Wechsels. Man will das Paradies aus genau diesem Grund – der Abschaffung der Mode. Man will das Paradies, weil dort der Wechsel aufhört, weil das Vergangene nicht diskreditiert wird, weil alles, was man tut, dort nicht vergessen ist, sondern dauert.“63 Für die Moderne und ihre Montagelogik ist diese Gleichsetzung von Unveränderlichkeit und Paradies keine gute Nachricht. Denn es bedeutet, dass das Paradies nicht aus Montagearchitektur erstellt sein wird. Das wird man in Lakewood nicht gerne hören, aber die Logik ist eindeutig. Das Paradies wird ganz im Gegenteil die Befreiung von der Montageunruhe und damit auch die Befreiung von der Moderne bringen. Die Moderne kann nie das Paradies sein. So hart hat das noch niemand formuliert, aber dieser Schluss ist unausweichlich. Geahnt hatte man es schon immer. Allen reflektierten Modernen war zumindest atmosphärisch klar, dass sie durch den Sprung voraus in die aufregende Moderne mindestens so viel zurücklassen, wie sie glauben, gewinnen zu können. Jeder muss sich also entscheiden – auch heute noch: Moderne oder Paradies. Das eine schließt das andere aus. Darf man polemisch weitersteigern? Ist Moderne Teufelszeug? Auch diese Zuspitzung wird man in Los Angeles gern ausdekliniert hören – und als Einstieg kann man Hans Kollhoff zu Wort kommen lassen. Er anerkennt zwar die Moderne und ihre immanente Unruhe, will sie aber verbannt sehen: „Glas, Aluminium, Wellblech, Drahtgewebe, Thermoputz, diese 62 Neutelings Riedijk Architects. At Work. 010 Publishers. 2005. Seite 10 63 Boris Groys. In: Frank-M. Raddatz. Brecht frisst Brecht. Neues Episches Theater im 21. Jahrhundert. Henschel Verlag. 2007. Seite 149

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ganzen Geschichten, die wunderbar sind für eine Sporteinrichtung an der Peripherie, für einen Supermarkt an der Autobahn, diese ganzen Provisorien, von denen die Zeitschriften voll sind, aus dem Stoff entsteht keine Stadt!“64 Kollhoffs Statement ist diskussionstaktisch wertvoll, weil es nicht an die Architektur selbst gerichtet ist, sondern als Bringschuld der Architektur an die nächste Dimension, den Städtebau, formuliert ist. In dieser Dimension wird die Frage der Montagearchitektur zum Streit um ein ganzes Weltbild. Vor allem wenn man in Kollhoffs städtebauliche Zuordnung der Baumaterialien die Erklärungen von Groys zum Paradies einsetzt. Die Europäische Stadt wäre dann nur halb verloren, weil wenigstens streng nach Sünde zoniert: In der Mitte befindet sich die paradiesische Kernstadt, in materialschwerer Unveränderlichkeit erlöst; ringsumher wuchert hingegen die teuflische Montagestadt, die sämtliche zügellosen Lebensverrichtungen einer modernen Gesellschaft zu absorbieren hat. Für durchweg montierte Städte wie Los Angeles wäre dann ebenso durchweg nur noch der Teufel verantwortlich.

Zwanghafte Halbwahrheit Angeblich souverän, trotzdem unruhig nervös – eine erste Bilanz der Moderne. Das lustvolle Hochstapeln eines Egos trägt als starker Antrieb die Moderne, doch dieser Antrieb ist von zunehmender Unsicherheit begleitet. Von Tradition und Vergangenheit konnte man sich vielleicht noch befreit fühlen, aber mit der Absage an das Paradies wird die Lage kritisch. Vor allem weil die Moderne den Rückweg verbaut hat. Durch das Herausstellen des Menschen aus seinem natürlichen Kontext wird gleichzeitig eine lang praktizierte Fluchtbewegung abgeschafft, die noch dazu den ältesten Sicherheitsreflex darstellt. Kein rettender Gang ins Material mehr, kein Verkriechen, kein Eingraben. Die Höhle, der älteste Panic Room des Menschen, ist von der Moderne abgeschafft worden. Schon die Konstruktion des tragfähigen Bodens ist der willentliche Austritt in die Unbedecktheit, und damit ist die generelle Richtung vorgezeichnet. Wer sich für die Moderne entscheidet, der entscheidet sich für die Exponiertheit. 64 Hans Kollhoff. In: Marianne Brausch, Marc Emery. Hrsg. Fragen zur Architektur. 15 Architekten im Gespräch. Birkhäuser. 1995. Seite 91

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Die Reaktion auf diese Exponiertheit hat immer die gleiche Tendenz. Der moderne Mensch muss jetzt selbst Bedecktheit lernen, muss robust und selbstschützend werden, um als exponierter Solist bestehen zu können. Sensible Naturen vermissen die verlorene Tiefendimension natürlich, aber wer überheblich sein will, der darf beim Soloauftritt keine Angst zeigen. Modernsein und Coolsein werden sukzessive synonym – selbst, wenn das eine oder das andere oder gar beides nur gespielt wird. Doch wie muss man sich den Auftritt von gleichzeitiger Exponiertheit und Robustheit konkret vorstellen? Wie eine Chippendales-Show. Das ist kein Witz. Es ist kein Zufall, dass die Chippendales in Los Angeles erfunden worden sind, denn der Stripper ist der Inbegriff des modernen Heroen. Er schafft es, forsche Exponiertheit und forsche körperliche Überlegenheit gleichzeitig auf die Bühne zu bringen. Russ Meyer hat mit seinem Film Faster, Pussycat! Kill! Kill! die erweiterte Verhaltensschablone dazu ausgearbeitet.65 Drei Stripperinnen stürmen durch die Wüste im Hinterland von Los Angeles und nutzen jede Begegnung zur offenen Konfrontation. Die Bereitschaft, sich selbst zu entblößen, wird aufgewogen durch proaktive Gewalt. Besser kann man die zynische Essenz der modernen Befindlichkeit nicht in Szene setzen. Gleichzeitig wird mit dem Film die selbsthypnotische Zauberformel verraten, mit der Los Angeles zur Welthauptstadt der Pornoindustrie werden konnte. Die Entblößten und Exponierten verweigern die Opferrolle. Stattdessen werden Entblößung und Exponierung als spaßiger Angriff inszeniert. Je aufdringlicher ausgeführt, desto eindeutiger will man für sich die stolze Täterrolle beanspruchen. Wie populär man derartige Entblößungsangriffe vermarkten kann, bewies Tom Leykis, der in seiner Radioshow zum Flash Friday aufforderte. Weibliche Zuhörer sollten während der Autofahrt ihren Oberkörper entblößen, sobald sich andere Autofahrer durch Scheinwerferlicht am Tag als Fan der LeykisShow deklarierten. Doch selbst durch so dreiste Entblößungsangriffe wird die Unsicherheit in der Moderne nicht geringer. Die coolen Auftritte der modernen Stripper sind immer nur eruptive Episoden. Spätestens die Diskussion zur Urhütte in den 1980er Jahren zeigt, wie groß die coole Moderne die Unsicherheit hat werden lassen. Schutz des schlafenden Menschen, das 65 Russ Meyer. Faster, Pussycat! Kill! Kill! 1965

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wäre die zentrale Aufgabe der Urhütte – reklamiert die Postmoderne –, und in dieser Funktion müsse die Urhütte wieder die Sinnmitte der Architektur werden. Nur mit einer derartigen Schutzarchitektur kann man sich gegen die Weite der Prärie versichern und die verstörten modernen Solisten beruhigen. Die Urhütte ist also ein Panic Room auf Abruf und damit die Revision der ersten Architektur der Moderne. Anstatt tragfähigen Boden auszurollen, wird der architektonische Rückzug angetreten. Dass ausgerechnet die Postmoderne die Urhütte wieder als Architekturikone entdeckt, ist nicht weiter verwunderlich, weil sie das Scheitern der Moderne insgesamt zu verarbeiten hat. Es war genereller Rückzug angesagt, begleitet von einer defensiven Suche nach absoluten Anfangszuständen: „Die paläolithische Kunst hat ihren Höhepunkt in großen Bildensembles von zunehmend reicher und prächtiger dekorierten Höhlen und erlischt […] in der Periode der Seßhaftwerdung. Die menschliche Kultur wird nunmehr ihren Ausgang nehmen: sie wird Ackerbau, Viehzucht, Techniken, Schrift und Gesellschaftsorganisationen einführen. Die Höhlenkunst erscheint im Vergleich dazu als eine vergessene Periode, verschollen, ohne Einfluss auf die spätere Entwicklung. Im Unterschied zu dieser landläufigen Deutung soll hier die Auffassung vertreten werden, dass das Ende der paläolithischen Kunst eine tiefe Lücke im Gedächtnis der Menschheit hinterlassen hat.“66 „Das Erlöschen der paläolithischen Kultur ist das Ende der ersten Welt des Menschen, ein irreversibler Verlust. Dies bedeutet, dass den Menschen die Anfänge ihrer symbolischen Fertigkeiten entgehen, die sich in ihre Handlungsweisen eingeschrieben haben und dort, egal wie die Folgekulturen aussehen, bis heute rudimentär vorhanden sind. Die Seßhaftwerdung bedeutet einen Vorwärtsschub, aber auch einen Bruch in der Entwicklung der Menschheit, die zu einer nicht überwindbaren Amnesie der Ursprünge führt und ein nicht beherrschtes Sehnsuchtsmaterial zurücklässt.“67 Über die Sehnsüchte der anderen kann man letztlich nur spekulieren, doch selbst wenn man eine weitverbreitete Sehnsucht nach der ersten Welt des Menschen als gegeben annimmt, bleibt ein fundamentaler Zweifel. Warum muss diese ursprüngliche Sehnsucht zwingend in die Urhütte oder in die Höhle zurückführen? Es gibt auch andere Ideen, um die Risiken der modernen Exponiertheit aufzufangen. Vilém Flusser sieht die moderne Exponiertheit sogar positiv, denn dadurch bliebe den Menschen gar nichts anderes übrig, als die verlorene Sicherheit durch 66 Gunter Gebauer. „Der Ort von Anfang und Ende. Über Höhlen und ihre Symbolsysteme“. In: Dietmar Kamper, Christoph Wulf. Hrsg. Rückblick auf das Ende der Welt. Boer Verlag. 2015. Seite 52 67 Gunter Gebauer. Ebd. Seite 53

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eine vertrauensvolle Nähe von Mensch zu Mensch zu ersetzen: „Eine derart dach- und mauerlose Architektur, die weltweit offenstünde (also nur aus reversiblen Fenstern und Türen bestünde), würde das Dasein verändern. Die Leute könnten sich nirgends mehr ducken, sie hätten weder Boden noch Rückhalt. Es bliebe ihnen nichts übrig, als einander die Hände zu reichen.“68 Die Gemeinschaft ist also die neue Schutzarchitektur, die Flucht in den sozialen Verband der neue Sicherheitsreflex. Vertrauen überschreibt dabei Zweifel und Ungewissheit: „Weil man nicht alles über den Anderen wissen kann, muss man ihm vertrauen. Geheimes bzw. Geheimnisse bilden ‚Vertrauen‘ als grundlegende soziale Verbindung“.69 Der Sozialwohnbau, der mit der Moderne groß geworden ist, muss aus diesem Sicherheitsreflex heraus erklärt werden. Die Suburbs mit serieller Einfamilienhaus-Monotonie gelten in diesem Zusammenhang ebenfalls als Sozialwohnbau. Der freiwillige Verzicht auf Individualität ist nichts anderes als die verkappte Sehnsucht nach Schicksalsgemeinschaft. Kein gemeinsames Stiegenhaus wie im Plattenbau in Marzahn, dafür aber das gleiche Haus, das gleiche Auto, das gleiche Leben wie der Nachbar. Und wem diese Synchronisationssolidarität noch nicht reicht, der findet in den vielen Sportstadien, Shoppingmalls, All-You-Can-Eat-Etablissements noch mehr drängende, schwitzende, ansteckende Schicksalsgemeinschaft. Die technische Weiterführung dieser Flucht ins Soziale ist schließlich das Netzwerk. Damit wird die alte Form der vertikalen Stabilisierung endgültig ersetzt durch eine allesumfassende horizontale Stabilisierung. Das ist die zeitgenössische Sicherheitsstrategie schlechthin, der auch noch alle aktiven Agenden überantwortet werden. Wenn das alte Fundament aus Religion, Tradition, Kultur, Gewohnheit etc. nicht mehr vertrauenswürdig ist, dann entsteht ja nicht nur ein Sicherheitsvakuum, sondern auch ein Steuerungsproblem. Woher sollen in brisanten Momenten die Entscheidungen kommen? Eine moderne Gesellschaft etabliert daher Netzwerke und baut darauf, dass anstehende Entscheidungen jeweils just in time ausgehandelt werden. Kommunikatives Handeln in komplexen, iterativen Matrixstrukturen. Nur so lässt sich aktuelles Knowhow auf neuralgische Punkte hin konzentrieren, und nur deshalb konnte das Netzwerk zur disziplinüberschreitenden Ikone werden. 68 Vilém Flusser. Medienkultur. Fischer Verlag. 1997. Seite 163 69 Stephan Moebius. Simmel lesen. Moderne, dekonstruktive und postmoderne Lektüre der Soziologie von Georg Simmel. ibidem-Verlag. 2002. Seite 12

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Keine  Zukunftsanalyse,  kein  Erfolgscoaching  ohne  Huldigung  von Netzwerken und Aufforderung zum Networking.70 Schönes Sicherungsmodell – für nervöse Charaktere ist das Netzwerk aber immer noch ein aufreibendes Setting, weil damit eine neue Form von Unsicherheit akzeptiert werden muss.71 Die Entscheidungen aus den vormodernen Archiven konnten höchstens unzeitgemäß sein, aber sie waren wenigstens verlässlich verfügbar. Das Netzwerk selbst impliziert aber noch keine Entscheidung, kein Ergebnis, nicht einmal Kooperation. Netzwerke sind nur infrastrukturelle Voraussetzungen für koordiniertes Kommunizieren und Handeln, und sie eliminieren schon vorab jegliche Ausrede. Eine Entscheidung fällt nur, wenn alle Beteiligten ihre Leistung rechtzeitig einbringen. Wer in Netzwerken denkt und handelt, macht sich also vom Willen aller anderen abhängig. Das Netz werk ist ein permanenter Solidaritätstest, der gar nicht immer positiv ausgehen kann. Man stößt hier auf den Primat des Willens in seiner logischen Umkehrung. Man kann den Primat des Willens nur als besonderen Moment hervorheben, wenn das Gegenteil der Normalfall ist, der Primat des Unwillens. Und gegen diese natürliche Ablehnung helfen keine Netzwerke oder sonstigen modernen Stabilisatoren. Jeder kann sich jederzeit durch bloße Passivität gegen die Moderne entscheiden. Wenn das Netzwerk als moderne Schutzarchitektur zweifelhaft ist, muss man dann doch wieder Höhlen oder Urhütten bauen, um den prinzipiellen Sicherheitsanspruch des Menschen zu erfüllen? Oder noch prinzipieller gefragt: Wie schützt man den lustvollen Befreiungsimpuls der Moderne vor der permanenten Ängstlichkeit der Postmoderne und ihrer Höhlenund Urhütten-Advokaten? An dieser Frage offenbart sich letztlich der tiefste Riss in der modernen Überheblichkeit und damit im Projekt der Moderne insgesamt. 70 „So ein attraktives Haus hätte diese Beziehungen einzusammeln, sie zu Informationen zu prozessieren, diese zu lagern und weiterzugeben. Ein schöpferisches Haus als Knoten des zwischenmenschlichen Netzes. […] Die Architekten haben für eine Vernetzung von reversiblen Kabeln zu sorgen. Das ist eine technische Aufgabe, und die Architekten sind ihr gewachsen.“ Vilém Flusser. Medienkultur. Fischer Verlag. 1997. Seite 162, 163 71 „Jedenfalls nimmt die Hoffnung auf Rationalität genau in dem Maße ab, als man erkennt, dass man nicht die nötige Zeit hat, um sich die erforderlichen Informationen zu besorgen. Auch die Argumentationstheorie scheitert an diesem Punkt; zumindest trauen Habermas und andere Vertreter dieser Hoffnung sich nicht, die Schnelligkeit des Argumentierens zur kritischen Variable zu erklären.“ Niklas Luhmann. Soziologie des Risikos. Walter de Gruyter. 2003. Seite 52

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Es gibt nämlich keinen Schutz vor der Ängstlichkeit der Postmoderne und dem Zweifel an den Errungenschaften der Moderne. Wäre der Zweifel nur ein äußerlicher, könnte die Moderne vielleicht noch kontrolliert verhandeln. Der Zweifel und die Ängstlichkeit sind aber viel öfter als innere Gegenstimme präsent. Bestes Beispiel ist Richard Neutra. Die Menschzentriertheit und Körperaufmerksamkeit ist für Neutra der Anfang der Moderne, doch ausgerechnet im Zuge dieser Selbstbeschau eröffnet er einen signifikanten Widerspruch: Er sieht einerseits Frank Lloyd Wrights Geist der Prärie als idealen Befreiungshorizont für die Architektur, er sieht aber andererseits auch die ideale Position des Menschen eingebettet als Ungeborener im Mutterleib. „Der Mutterleib ist ein Platz des Werdens, wunderbar klimakontrolliert, wohltemperiert; wir schwebten damals sachte, ohne daß unsere Fußsohlen von der Erdenschwere auf harte Fußböden gedrückt wurden. Kein Polstersessel nahm uns später je so sanft auf wie dieses erste Schweben. Und manchmal erfaßt uns Sehnsucht danach in unseren Träumen. […] Ja, es ist ein richtiger Auftrag, diese feine Behausung für uns fortzusetzen, nachdem wir einmal in der Entbindungsklinik auf die Welt gekommen und zugleich in die Hände des Architekten geliefert sind.“72 Architektur als Ersatzmutter? Wer sich für die Oberfläche entscheidet, der muss die Exponiertheit lernen – lautet eine unvermeidliche Ableitung des Präriephantasmas – und doch wünscht sich Neutra in das schützende Verschüttetsein im Mutterleib zurück. Erstaunlich nachzulesen, wie ausgerechnet Neutra um diese verloren gegangene Schutzdimension ringt, sich in Lagen zurücksehnt, die er selbst mit seiner Architektur widerlegt. Er hat offensichtlich eine tiefsitzende Sehnsucht nach der ursprünglichen Höhle, nach dem, was Gunter Gebauer die erste Welt des Menschen nennt. Aber offensichtlich hat Neutra einen Horror vor der Konsequenz seiner Sehnsucht, und als ob er sich dieses Widerspruchs bewusst wäre, versucht er einen semantischen Ausweg und schwärmt vom Schweben in der Mutter. Welch seltsame und zugleich abwegige Idealisierung. Wer denkt beim Schweben schon an seine Mutter? Wobei es hier gar nicht darum geht, das Erlebnis des In-der-Mutter-Seins exakt zu bestimmen, interessant ist vielmehr wohin sich Neutra mit dem Schweben imaginiert. Es wäre viel naheliegender gewesen, das Präriephantasma bis zum Schweben weiterzudenken. Neutra hatte ja schon die Wolken über Wrights Präriearchitektur dahinsegeln gesehen. Ein kleiner Lufthauch mehr und die 72 Richard Neutra. In: Esther McCoy. Richard Neutra. Otto Maier Verlag Ravensburg. 1960. Seite 6

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ganze Prärie wäre in Schwebelage geraten. Flugzeuge, Ballons, Zeppeline, Fallschirme, Gleiten, Fliegen – Schwebeallegorien gab es genug zu seiner Zeit. Aber nein, ausgerechnet der Schoß der Mutter ist seine Schwebearchitektur. Man kommt nicht umhin, das als semantisch verwinkelten Rückzug aus dem Präriephantasma zu lesen und damit als Rückzug aus der Moderne. Der Bauch der Mutter kann keine moderne Sehnsuchtsdestination sein. Verrat an der Moderne ausgerechnet von Neutra? Manche werden diesen Widerspruch mit dem Autismus seines ersten Sohnes Frank Lucian erklären, der auf einen suboptimalen Geburtsverlauf zurückgeführt wurde. Vielleicht haben dieses Ereignis und der schwierige Umgang mit seinem autistischen Sohn in den Jahren danach Neutra für das Thema der räumlichen Befindlichkeit von Ungeborenen sensibilisiert. Aber so anekdotisch darf man Neutras Beschäftigung mit dem Schweben in der Mutter nicht abtun. Vermutlich kein Zufall, dass sogar der Initiator der Zweiten Moderne, Rem Koolhaas, ebenfalls die Geborgenheit für sich entdeckt hat. Früher noch Freiläufer im Central Park, der Geruchsaura Jackie Kennedys begegnend, hat er sich bald zum täglichen Schwimmer in internationalen Pools gewandelt.73 Er betont zwar seinen intellektuellen Zugang zur Fitness, dennoch erinnert seine Beschreibung des Schwimmens an Neutras Schweben in der Mutter. Wie ins Fruchtwasser eines ganzen Kulturkreises getaucht, vermeint er seinen Host zu schmecken: „The water feels like a very thin soup, like gruel, and with some training you can taste who has been swimming there“.74 Die Sehnsucht dieser beiden Ikonen der Moderne nach Geborgenheit ist also mehr als nur Zufall – es ist vielmehr ein unweigerliches Eingeständnis zur Moderne insgesamt. Es ist notwendig zu akzeptieren, dass die Moderne von Anfang an einen dunklen Verfolger hat. Und diese dunkle Heimsuchung der Moderne besteht darin, dass der Mensch selbst nie vollkommen modern sein wird. Die Architektur vielleicht, aber der Mensch nicht. Doch mit diesem Eingeständnis bricht die gesamte 73 „Ich schwimme jeden Tag, oft ein, zwei Stunden. Egal, wo ich bin, suche ich mir ein Schwimmbad.“ Rem Koolhaas. In: Hanno Rauterberg, Rem Koolhaas. „Die Freiheit ist größer denn je“. https://www. zeit.de/2008/24/Koolhaas-Interview. 30.10.2008 74 „Rem: I enjoyed the intellectual side of it. I enjoyed it as an alternative to letting nature take its course. […] Jen: In New York, you ran in Central Park? Rem: Yes. Around the reservoir, and Jackie Kennedy was there, and sometimes you were trailing Jackie and you would pass her and smell her.“ Rem Koolhaas. In: Jennifer Sigler, Rem Koolhaas. „Rem Koolhaas with Jennifer Sigler“. http://www. indexmagazine.com/interviews/rem_koolhaas.shtml. 30.10.2008

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moderne Hochstapelei in sich zusammen. Die Überheblichkeit, in die man geflüchtet ist, ist keine neue Selbstverständlichkeit geworden, sondern eröffnet lediglich eine Fluchtdestination, der man je nach Stimmung folgt oder eben nicht folgt. Modernsein ist der mühsame Auftrag, anders zu sein, als man ist. Darum braucht Modernsein auch permanente gegenseitige Aufforderung, Bestätigung, Erziehung und Disziplinierung. Sie braucht sogar Kontrolle und Zwang, denn immer ist da eine gegenläufige, zurückrufende Kraft, die zweifeln lässt. Und je weiter man sich in die Moderne hineinsteigert, desto stärker wird dieses seltsame Heimweh. Architekturgeschichtlich ist das dennoch ein seltsam unrühmlicher Moment. Es zeigt sich, dass die postmoderne Urhütte und die moderne Prärie die zwei zwanghaften Halbwahrheiten der Architektur sind. Die einen denken die Architektur nur über den Impuls der Einhausung, die anderen nur über den Impuls des Ausbruchs. Es mag Zeiten und Personen geben, die jeweils eine starke Neigung für das eine oder andere entwickeln, aber in Summe wird man von einem unaufhörlichen Pendeln zwischen den beiden Impulsen ausgehen müssen. Von Peter Sloterdijk stammt der anthropologische Hinweis, „dass Menschen Wesen sind, die zwischen Einbettungswünschen und Ausbruchswünschen oszillieren.“75 Niemand illustriert diese Einschätzung besser als Neutra. Es ist also gar kein Widerspruch, wenn er in einem Moment vom Dahinsegeln in der Prärie schwärmt und sich im nächsten Moment in den ursprünglichen Schwebezustand im Mutterleib zurückwünscht. Er oszilliert einfach in seinen Stimmungen, genauso wie das die meisten Menschen tun. Das bedeutet, das Fundament der Architektur ist ein stetig bewegtes. Die prinzipiellen räumlichen Vorlieben der Architekturnutzer wechseln kontinuierlich ins Gegenteil und wieder zurück. Die einzige Sicherheit ist das Oszillieren selbst. Das ist aber noch nicht das Ende der Neujustierung. Zum tieferen Verständnis des Oszillierens gehört, die Gegenpole präzise zu fassen. Das Präriephantasma ist der eine Stimmungspol, aber ist die Urhütte wirklich der andere Stimmungspol? Nein, denn die Urhütte ist dem Verkriechen nicht radikal genug gewidmet. Wer tragfähigen Boden als erste Plattform für Überheblichkeit baut, der findet nur unter dem Boden den großen anderen Stimmungspol. Wer das Oszillieren verstehen will, muss also den 75 Peter Sloterdijk. „Architektur als Immersionskunst“. In: Arch+ 178. 2006. Seite 61

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Keller wieder ins Repertoire der architektonischen Kategorien aufnehmen. Den Keller? Ja, ausgerechnet den Keller, den die Modernepropaganda so entschieden abgelehnt hatte. Doch das war nur cooles Auftreten, genauso wie die Unterstellung, dass Los Angeles keine Keller mag. Es werden zwar tatsächlich kaum Keller gebaut, im Gegensatz zu den kälteren Regionen der USA, aber eine Stimmungsaussage ist das noch lange nicht. Es ist also höchste Zeit, die architektonische Kategorie Keller wertfrei nach Potenzial abzufragen. Gar nicht erst zu fragen braucht man die Popkultur, egal ob Musik, Mode, Literatur, Film etc. Den Keller bekommt man dort regelrecht aufgedrängt. In der Popkultur wird der Underground als geradezu heiliges Reservoir geschätzt. Im Keller der Kultur soll alles besser, authentischer, ehrlicher, wertvoller sein. Nur durch den periodischen Auftrieb von diesen Kellerqualitäten an die Oberfläche kann sich die abgeflachte oberirdische Präriekultur werthaltig erneuern. Peter Sloterdijk hält das allerdings für einen lächerlichen Glauben und spricht dem Keller jegliche Autorität in Sachen Zukunft und Wahrheit ab: „Ebenso lächerlich wäre es jetzt, die überkommene Metapher vom ‚Untergrund‘ weiter zu benutzen, als ob da unten die Wahrheit und die Zukunft kauerten, bereit zum großen Sprung nach oben. Die Vorstellung von einer verborgenen ‚Gesellschaft‘ unter der ‚Gesellschaft‘, einer geheimen Welt der Keller und Tunnels, wo man weitsichtig planend die Unterhöhlung der bürgerlichen Aufbauten betreibt, ist schlechterdings gegenstandslos – nur verworrene ‚Schläfer‘ warten im Schutz der Normalität auf den Tag ihrer Aktivierung.“76 Diese montierte Gleichsetzung von Pop-Underground und politischem Untergrund wirkt auf den ersten Blick unfair, aber letztlich ist gerade das Kokettieren mit Radikalität das Einzige, was den Pop-Underground vom Mainstream unterscheidet. Oben angekommen entpuppen sich viele Underground-Werke ohnehin als gewöhnlich, womit sich auch der Gegensatz von Mainstream und Underground schlagartig auflöst. Von echtem Oszillieren zwischen Gegensätzen kann dann keine Rede mehr sein. Die einzige Radikalität, die man dem Underground dann noch zugestehen könnte, ist das Ersticken in der eigenen Underground-Welt.77 76 Peter Sloterdijk. Zorn und Zeit. Suhrkamp Verlag. 2006. Seite 290 77 „Das deutsche Theaterleben findet meist in Kantinen unter der Erde statt. All die Gedanken, die sich gemacht werden, entstanden meist ohne Tageslicht. Die ganze ständige Selbstreferenz des deutschen Theaters ist quasi Ausdruck der fehlenden Sonne. Ich kenne Theaterleute, die sitzen den ganzen Tag im Dunkeln, lesen Feuilletons, glauben aber, sie würden die Welt abbilden.“ Moritz Rinke. In: Matthias Heine, Moritz Rinke. „Am Busen des Zuschauers“. https://www.welt.de/kultur/ buehne-konzert/article126618383/Am-Busen-des-Zuschauers.html. 06.04.2014

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Weniger inflationsgefährdet ist der Keller in einem anderen Verständnis. Es gibt so etwas wie eine privatisierte Basement Culture. Die ist weder wahrheits- noch zukunftsorientiert, sondern vor allem auf private Triebabfuhr ausgerichtet. Jedem Bürger seinen perversen Hobbykeller. Hier wird tatsächlich ein Gegensatz zur Moderne radikalisiert, denn die große Freiheit wird nicht mehr in der Prärie gesucht, im Gegenlicht eines offenen Horizonts, sondern soll sich durch die Enthemmung im Verborgenen einlösen, als ein Schweben in den eigenen Untiefen. Auf den ersten Blick verspricht das tatsächlich eine Intensivierung, denn beim manischen Verkriechen in sich selbst ist keine Kompromissbereitschaft gefordert, sondern nur noch Exzess in Aussicht. An diesem Punkt sollte man der Versuchung widerstehen, allzu unappetitliche Exzessgeschichten auszugraben. Los Angeles hätte dazu genügend Material vorrätig – allerdings nur wenn man Basement Culture allegorisch versteht. Sucht man nach dem berühmtesten Helden im tatsächlichen Keller, muss man Los Angeles aber ohnehin verlassen und in die Südstaaten blicken. Die Rede ist von Elvis Presley und abermals von Graceland – nur diesmal nicht vom Friedhof in Chicago, sondern von Elvis Presleys Graceland in Memphis, Tennessee, gekauft 1957 als gemeinsamer Wohnsitz für sich und seine Eltern. Kein großes Haus, aber mit zwei oberirdischen Geschossen und der klassischen Südstaatenattitüde ein durchaus stattliches Anwesen, gleichwohl unverdächtig in seiner Erscheinung. Doch was tut der Mann, der als Sänger abhob in Sphären der Weltöffentlichkeit, die bis dahin ungeahnt waren? Er geht freiwillig in den Hauskeller. Ausgerechnet den Keller von Graceland macht Elvis zu seinem persönlichen Spielzimmer. Wer die Räume einmal besichtigt hat, wird allerdings irritiert sein. Der Elvis-Keller besteht aus zwei kleinen Räumen, dem legendären Fernsehzimmer mit den drei nebeneinander angeordneten Bildschirmen und einem Billardzimmer, beide fensterlos, klein, niedrig und drückend. Kein Hearst Castle unter der Erde, sondern das beklemmende Gegenmodell. Schon die Stiege hinab ist das, was sie eigentlich nicht sein sollte: eine Kellertreppe, ein schmaler, steiler Schlund in den dunklen Untergrund. Später wird der Schlund mit Spiegeln optisch erweitert. Ein lachhaftes Entmaterialisierungszitat inmitten einer totalen Selbstbeerdigung, wer hinabsteigt, ist gerührt von der trotzigen Bemühtheit. Und noch eine Hintertreppe gibt es, wieder hinauf, aber nicht ans Tageslicht, sondern in den Jungle Room. Ein ebenerdiges Anhängsel der unterirdischen Katakomben, weil ständig mit Vorhängen verhalbdunkelt. 135

Slavoj Žižek würde jetzt wohl weit ausholen und von einem gigantischen ödipalen Sexakt schwärmen. Der von der Weltumseglung als Superstar heimkehrende Sohn kriecht ganzkörperlich ins Mutter-Haus hinab bis in die beklemmendsten Tiefen und nistet sich dort exzesslüstern ein. Neutra wiederum wäre gezwungen, dieses Unterkriechen als architektonische Umsetzung seines Schwebens in der Mutter zu akzeptieren. Ob Neutra auch dieses Graceland jemals besucht hat, ist nicht überliefert – er wäre aber wohl von dieser ödipalen Schwebeorgie erschüttert gewesen und in seine Prärie zurückgeflüchtet. Architekturmanifest ist Graceland trotzdem. Was für eine gigantische Oszillationsbewegung. Der Superstar einer ganzen Generation pendelt ganz selbstverständlich zwischen Jetset und Hauskeller, zwischen weltweiter Exponiertheit und Selbstversenkung. Wie die Sache ausgegangen ist, darf als bekannt angenommen werden und passt ins Bild. Es wäre vielleicht übertrieben zu folgern, dass Elvis hinabstieg in sein Grab, grad so wie Sullivan am Friedhof Graceland hinabgelassen wurde. Aber man darf unterstellen, dass das immer wildere Oszillieren zwischen weltumspannendem beruflichen Höhenflug und privatem Abstieg in den Exzesskeller irgendwann eine fatale innere Verstörung auslösen musste.78 Neutra sagt, dass Architektur verdaut werden soll, wie die beste Nahrung.79 Einer seiner besten Sätze und Elvis hat diesen Satz überschwänglich illustrieren. Dass Elvis seinem Körper eine Menge zu verdauen zugemutet hat, ist dabei noch die harmlosere Umsetzung. Wirklich fatal wurde es erst, als der Keller selbst zum Verdauungsapparat wurde und seinen berühmten Bewohner zersetzt hat. Elvis hat dort unten seine Fassung verloren, bis zur völligen Desintegration als Künstler, Mensch und Körper. Eine Materialwerdung – würden die Deleuzianer bemerken –, jedenfalls der unsouveränste Tod und das sichere Ende der Überheblichkeit. Nachfrage im Auftrag des hartnäckigen Zweifels: Ebenerdig und als Moderner, stirbt es sich da wirklich schöner? Der Architekt Michael Reynolds erwartet in der Präriekultur der aktuellen Moderne jedenfalls 78 „I think he got comfortable. That’s the best word I can think of. He was comfortable in his show and his music.“ Sonny West. In: Marshall Terrill, Sonny West. „Interview with Sonny West“. https:// www.elvis.com.au/presley/interview-sonnywest.shtml. 13.06.2002 79 „Architektur muss durchaus von uns verdaut werden, wie die beste Nahrung.“ Richard Neutra. In: Esther McCoy. Richard Neutra. Otto Maier Verlag Ravensburg. 1960. Seite 7

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kein schönes Ende. An der modernen Überheblichkeit droht nämlich die Welt zugrunde zu gehen – so sein konzeptiver Ansatz. Im Sortiment der rettenden Kellerarchitekturen hat er folglich den einzig zukunftsträchtigen Prototyp erfunden, das Earthship. Dabei handelt es sich nicht um einen privaten Exzesskeller mit zu vielen Fernsehern, auch nicht um eine selbstverliebte Underground-Kunstloge, die großartig Zukünftiges ausbrüten. Das Earthship beweist sich stattdessen als robuste Rettungsarchitektur, indem es doppelten Sicherheitsabstand zur destruktiven Präriekultur einnimmt. Reynolds Earthships sind weit außerhalb der modernen Zentren irgendwo in der Wüste aufgestellt und taktisch klug in die Erde getaucht. An drei Seiten eingegraben und nur zur Südseite hin großzügig verglast, ist das Earthship zu drei Vierteln Höhle und zu einem Viertel Empfangsstation für solare Überlebensenergie. Hier wird das Oszillieren also in eine strategische Pose überführt und konserviert. Man ist zu drei Vierteln von der untergehenden Präriewelt abgewandt und gleichzeitig zu einem Viertel auf einen fernen, kosmischen Horizont hin geöffnet. Reynolds nennt diese Konstellation Biotecture, doch der Begriff verschweigt eine dramatische Referentialität. Reynolds besteht nämlich darauf, dass seine Earthships so weit wie möglich aus Abfall gebaut werden, die massiven Rückwände aus Autoreifen, die Zwischenwände aus Glasflaschen oder Blechdosen, Teile der Außenhaut aus Blechabfällen etc. Das Earthship ist also weniger eine Höhle im natürlichen Material als vielmehr eine Höhle im Abfall der verschwenderischen Präriekultur. Genau darin gräbt er sich ein, um zu überleben. Diese manische Referentialität des Earthships verweist auf nicht weniger als einen Überlebenswettbewerb, der auch das Schicksal der Moderne entscheiden wird. Das Scheitern der überheblichen Präriekultur der Moderne könnte der Humus für eine radikal neue Ausrichtung der Moderne insgesamt sein. Aber wann und ob die Präriekultur gänzlich scheitern wird, ist noch nicht absehbar. Reynolds selbst lässt jedenfalls keine Gelegenheit aus, zumindest die Zukunftslosigkeit der Mainstreamarchitektur der aktuellen Moderne zu verlauten. Wenigstens damit dürfte er recht behalten.

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EXALTATIONEN

Es ist nicht genug „Die Sache wurde wirklich kritisch: der Mann versuchte, im Boden zu versinken, bekam einen Erstickungsanfall und versuchte krampfhaft, sich zu übergeben. […] Er sagte: ‚Ich habe einfach versucht, es zu schnell zu machen, und ich hatte Angst, nicht mehr rauszukommen.‘ Und das war passiert: Als sein Brustkorb begann, im Boden zu versinken, war er vollkommen mit Luft aufgefüllt, und er konnte einfach nicht mehr atmen. […] Und er sagte: ‚Ich hatte Angst, meine Hand zu bewegen, weil ich dachte, wenn ich sie bewege, würden einige Moleküle der Hand im Boden zurückbleiben und ich könnte sie verlieren. Alles würde auseinanderfallen, und ich könnte sie nicht mehr herausziehen.‘“1 Bruce Nauman beschreibt in diesem Textstück den dramatischen Verlauf einer Performance, die man nachträglich als Restauration der Moderne an der West Coast bezeichnen kann, während die Postmoderne gerade machtvoll in die Gegenrichtung drängte. Die konkrete Aufführung war simpel, aber effektiv: Ein Bekannter von Nauman sollte versuchen, im Boden zu versinken. Die Performance fand auf Betonboden im Atelier des Künstlers statt und wurde gefilmt. Tony Sinking into the Floor, Face up, and Face Down heißt das dabei entstandene Video, Dauer: rund 60 Minuten.2 Ein Scherz könnte man meinen, nach dieser Beschreibung. Im Video ist auch nicht viel mehr zu sehen als ein Mensch, der am Boden liegt, sitzt und ein wenig die Position wechselt. Doch in der Durchführung 1 2

Bruce Nauman. Interviews 1967–1988. Verlag der Kunst. 1996. Seite 94 Bruce Nauman. Tony Sinking into the Floor, Face Up, and Face Down. 1973

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wurde der willentliche Akt der Selbstversenkung zu einer beklemmenden Erfahrung, die existenzielle Dimensionen annahm. Der Körper als integrativer Solidarpakt drohte zu kapitulieren, Teile des Körpers schienen im Material zurückzubleiben – zumindest in Naumans Erinnerung. In der Aktion Elke Allowing the Floor to Rise Up Over Her, Face Up variierte Nauman die Aktion mit gleichem Ergebnis:3 „Interessanterweise war das gleiche am Abend zuvor dem Mädchen auf dem anderen Videoband passiert. Sie bekam einen furchtbaren Schweißausbruch und konnte nicht mehr atmen. Das war ganz schön beängstigend“.4 Doch egal, wie ernst man die beiden Videos nimmt, als erstes drängt die Frage nach dem Warum. Warum denn schon wieder ein existenzielles Ringen mit dem Material? Die Aktionen fanden 1973 statt, das Körper-Material-Boden-Thema war aber schon zu Beginn der Moderne, in den 1920er Jahren, mit dem Präriephantasma größtmöglich dargelegt worden. Warum musste fast 50 Jahre nach Louis Sullivans Begräbnis abermals eine Beerdigung inszeniert werden, noch dazu in ungeklärt ernster oder clownesker Form? Gab es 1973 plötzlich etwas Neues zum Bodenthema zu sagen? Die Antwort ist leicht, aber unangenehm. Die Moderne war 1973 längst zu einem dumpfen Massenphänomen geworden und ihrerseits zu einer verschlingenden Bedrohung angewachsen, der man sich bereits mit Gewalt erwehrte. Am 16. März 1972, nur ein Jahr vor der Beerdigungsperformance in Naumans Atelier, war das Wohnbauprojekt Pruitt-Igoe in St. Louis, Missouri, gesprengt worden – gescheiterte moderne Architektur zu losem Material zurück-zertrümmert. Ein Knall, der die Architekturdisziplin insgesamt erschütterte und als Nachklang den Slogan vom Scheitern der Moderne aussandte, der bis heute nachhallt: „Die Moderne war wahrscheinlich ein großer Irrtum. Ein Irrtum, der viel Energie, viel Lebenslust, viel Optimismus gebunden hat. Aber einen Optimismus, der doch ziemlich idiotisch war. […] Na, am anschaulichsten wird es doch in der Architektur. In den drei gloriosen Jahrzehnten, sagen wir von 1950 bis 1980, wurden so abenteuerliche Scheußlichkeiten gebaut, dass man sich heute nur an den Kopf fasst. Aber das ist noch nicht einmal das Befremdlichste. Das Befremdlichste ist ja, dass die Leute die Monstrositäten von, sagen wir, Le Corbusier auch noch toll gefunden haben. Man fand das zukunftsweisend, human. Unglaublich, aber wahr! Die Menschen waren auf eine stupide Weise davon überzeugt, es gehe aufwärts. Denken sie an die 3 4

Bruce Nauman. Elke Allowing the Floor to Rise Up Over Her, Face Up. 1973 Bruce Nauman. Interviews 1967–1988. Verlag der Kunst. 1996. Seite 94, 95

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Popmusik, denken sie ans Kino, an die politischen Utopien: überall diese Fortschrittsgläubigkeit, so naiv, aber auch von einem beneidenswerten Elan.“5 Diese Fortschrittsgläubigkeit der Moderne war nach Pruitt-Igoe jedenfalls beerdigt, Revision die Pflicht der Stunde.6 In Wien wüteten zu diesem Thema längst die Aktionisten in theatralischen Aufführungen. Materialschlachten um und mit dem Körper; Blut, Farbe, Kot, Selbstbeschädigung, das gesamte Repertoire. Vor allem in Otto Muehls Materialaktionen gab der postmoderne Mensch seine moderne Überheblichkeit auf und fiel freiwillig ins Material zurück. Am Anfang dachte man noch, mit diesen Aktionismen eine besonders deftige Interpretation des amerikanischen Happenings vorgeführt zu bekommen. Spätestens aber nach Rudolf Schwarzkoglers Tod war allen klar, dass hier ein großer Untergang in Szene gesetzt wurde, nämlich der Untergang der Idee vom modernen Menschen. Verglichen mit dem Wiener Aktionismus erscheint Naumans BodenPerformance aber wesentlich reflektierter, vor allem in ihrer doppelten Bedeutung. Es wird gezeigt, dass schon die erste Architektur, der vermeintlich tragfähige Boden der Moderne, nicht verlässlich tragfähig ist. Wer will, kann sogar durch den Betonboden hindurch die alte Materialbedrohung aufrufen. Doch in genau dieser zweifelnden Haltung ist Naumans Aktion der Moderne gegenüber nicht nur kritisch, sondern vor allem restauratorisch. Die Massenmoderne der späten Jahre hatte kaum erkennbare Selbstzweifel, aber die frühe Moderne war immer vom dunklen Zwilling des Zweifels begleitet, und auf diesen wichtigen Begleiter weist Nauman theatralisch hin. Es ist also naheliegend, Naumans Reenactment des zweifelnden Beginns der Moderne als dringenden Appell und Auftakt zu verstehen: Gerade dort, wo die Moderne am engagiertesten agiert, müssen Fortschritt und Zweifel am Fortschritt nebeneinander ausgearbeitet werden. Dieser Hinweis auf den ursprünglichen Zweifel an der Moderne wäre nicht weiter relevant, wenn nicht ausgerechnet dieser Zweifel eine 5 Michel Houellebecq. In: Tilman Krause, Michel Houellebecq. „Ich habe keine Lust mehr auf Sex“. https://www.welt.de/print/wams/kultur/article13127832/Ich-habe-keine-Lust-mehr-auf-Sex. html. 10.04.2011 6 „It was by then evident to me that modernist architecture, even in its masterworks, could in no way be claimed to be superior or even equal to traditional urbanism and architecture. Why then should the latter be called ‚historical‘ if it still worked and was relevant today?“ Léon Krier. „Looking Back without Anger“. In: Martin van Schaik, Otakar Máčel. Hrsg. Exit Utopia, Architectural Provocations 1956–76. Prestel Verlag. 2005. Seite 309, 310

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verlässliche Dynamik entfalten würde. Wenn der Boden nie zur Ruhe kommen wird und sämtliche darauf gestapelten Überheblichkeiten einsturzgefährdet sind, dann unbedingt weg vom Boden. Wenn nach wie vor das Versinken droht, dann gilt es wieder das Positionsmanagement zu bemühen, doch diesmal zielt es in die Luft hinauf. Die Oszillation wird ausladender, schwungvoller. Wer der Oberfläche nicht traut, der muss abheben. Wer das Verschüttetsein wirklich ausschließen will, der muss Schwebezustände lernen. Aber nicht schweben im Mutterleib – wie Richard Neutra versonnen sondiert –, sondern wirklich hinauf in den Himmel, fliegen, gleiten, beamen, egal wie, Hauptsache Höhe gewinnen. Das ist die neue Fluchtrichtung. In der Luft bringt sich die Moderne vor ihren eigenen Zweifeln in Sicherheit. Hat die luftige Fluchtdestination gehalten? 1964 startete Muehl seine ersten Materialaktionen. Damit konnte man theatralisch aus der Moderne aussteigen. Aber die Moderne in der höchsten Höhe konnte man damit nicht mehr revidieren. 1961 war Jurij Gagarin der erste Mensch im All. Gerade erst hatte er vor staunender Weltöffentlichkeit den Himmel als neue fantastische Destination eröffnet, und nur wegen ein paar bedeutungsschwerer Materialbäder am Boden würde niemand auf diese neue Destination verzichten wollen. Die Wiener Aktionisten sind schon in vielen thematischen Kontexten besprochen worden, aber noch nie entlang der Frage, wie wenig weitreichend nachträglicher Protest zwangsläufig ist. Die Moderne in der Luft blieb vom Protest am Boden völlig unbeeindruckt. Gagarins Flug konnte man nicht nachträglich wegsprengen, dekonstruieren, nicht einmal relativieren. Der Kosmonaut im TechnoOverall blieb im Vergleich zum zerwühlten Materialbad-Künstler auch nach dem Scheitern der Moderne die robustere Zukunftshoffnung. Wer die Geschichte näher kennt, wird einwenden, dass Gagarin nur wenige Jahre nach seinem Raumflug abgestürzt ist. Schon 1968 war der Held der Sowjetunion tot, noch vor der Sprengung von Pruitt-Igoe und dem Selbstmord Schwarzkoglers. Hatte die Moderne also doch auch in der Luft versagt? Ganz im Gegenteil, Gagarin wurde gerade durch seinen Absturz noch ein zweites Mal zum großen Vorbild. Die Laune in der Luft war schon immer ausgelassener, wilder, ungezügelter als am Boden, und die Unglücke umso spektakulärer. Der postmoderne Protest am Boden konnte ihn nicht vom Himmel holen, aber sein eigener Übermut sehr wohl. Gagarin war eigentlich dazu bestimmt, nach seinem spektakulären Raumflug 1961 als ewiger Held am Boden zu bleiben. 142

Die Sowjetführung wollte das Leben des Helden nicht riskieren. Gagarin selbst aber drängte und wollte unbedingt wieder hinauf. 1968 ist er dann abgestürzt, aber nicht mit dem Raumschiff, nicht im Zuge einer Expedition ins technisch Äußerste, sondern viel banaler. Einfach abgestürzt mit einer Militärmaschine während seiner nachträglichen Ausbildung zum Kampfpilot. Absturz und Tod durch Selbstüberschätzung, zufällige Fehler, Dreistigkeit, im Detail bis heute ungeklärt, auch das passt ins Bild. Denn seit wann muss sich die dreiste Moderne fürs dreiste Modernsein-Wollen rechtfertigen? Wie synchron die übermütige Moderne in diesen Aktionismen mit den Stimmungen der breiten Bevölkerung ist, beweisen Bottom-upHimmelsstürmereien wie die Cluster-Ballooning-Szene. Los Angeles hat dazu den ersten großen Popstar hervorgebracht. Larry Walters, im täglichen Leben Trucker, flog 1982 mit einem Gartenstuhl und daran angeleinten Heliumballons mehr abrupt als kontrolliert bis auf fast 5000 Meter Höhe. Spätestens als er in den Anflugkorridor des Long Beach Airport gelangte und die Piloten der vorbeifliegenden Flugzeuge der Bodenkontrolle einen störenden Gartenstuhl in 5000 Metern Höhe meldeten, war Walters in den ganzen USA bekannt. So funktioniert die Moderne in ihren Sternstunden. Sinn, Konsequenz, breitere Bedeutung, gefährliche Beispielwirkung – alles wird augenblicklich suspendiert. Hauptsache ausgelassen, im konkreten Fall noch dazu in luftigsten Höhen. Was darauf folgte, kann man einen Absturz ohne Ende nennen. Mit einer mitgebrachten Pistole konnte Walters ein paar Heliumballons zerschießen und so den Abstieg einleiten. Danach landete er zuerst in den Stromkabeln einer Nachbarschaft in Long Beach, danach vor Gericht. Die Idee, die überfallsartige Berühmtheit jenseits der ersten Showauftritte als Motivationstrainer zu verwerten, scheiterte. 10 Jahre später griff Walters abermals zur Pistole und erschoss sich. Kann man nach diesem fatalen Ende immer noch von einer Sternstunde der Moderne sprechen? Ja unbedingt – und man kann sogar das Motiv dieser biografischen Flugkurven benennen und der Moderne zuschreiben: Es ist nicht genug! Das Es-ist-nicht-genug hatte Walters und Gagarin in den Himmel gebracht und auf tragische Weise wieder heruntergeholt. Für die Romantiker des Scheiterns sind das Role Models feinster Güte und so ist Walters oder Gagarins Lebensbiografie die perfekte Kurzfassung der Moderne. Es-ist-nicht-genug ist das generelle Mantra der Moderne. Sie ist weder Ankunftsort noch finaler Zustand, 143

sondern will fortschreiten um jeden Preis. Auf jeden modernen Vorstoß muss dringend noch ein modernerer folgen. Das unreflektiert Affektive hat die Moderne nie verlassen, sondern treibt und treibt. Das bedeutet, trotz postmoderner Materialshow in den irdischen Niederungen ist die Technomoderne im Himmel ohne große Irritation bis heute weitergelaufen, professionell und privat. Ziel war und ist es nach wie vor, den Menschen noch umfangreicher flug- und schwebefähig zu machen. Immer mehr Flugzeuge, immer längere Luftaufenthalte, immer mehr Module an die ISS angekoppelt, immer selbstverständlicher wird die menschliche Hochfahrt. Die Moderne im Himmel ist nachhaltig populär – Wissenschaft, Technik, Sport, Science-Fiction überbieten sich mit Luftmanövern. In der Luft gibt es keine Postmoderne. Postmoderne ist das Schicksal der Zurückgebliebenen am Boden. Das sind nicht wenige, aber eben nicht alle. Schon aus diesem Grund kann die Postmoderne gar kein elitäres Projekt sein – was mit Blick auf die verkopfte dekonstruktive Methodik oft unterstellt wird. Postmoderne ist Zerstreuung für die Opfer, die den Bodenverhältnissen nicht entkommen konnten. Diese moderne Getriebenheit hieße aber in letzter Konsequenz, dass die Moderne auch noch die biografischen Flugkurven von Walters und Gagarin übertreffen müsste. Wie soll das möglich sein? Noch höher hinauf und noch tiefer stürzen? Nein, die kategorische Steigerung des Höhenflugs ist die generelle Abgehobenheit. Walters und Gagarin leben ihr geerdetes Leben und erlauben sich einen einmaligen Höhenrausch, um dann schnell wieder in ihrer alten geerdeten Realität zu landen oder sogar tiefer. Bei Walters war es gerade einmal eine Stunde Höhenrausch, bei Gagarin waren es wenig mehr als eineinhalb Stunden. Howard Hughes hingegen verbringt sein gesamtes Leben in Abgehobenheit. Er stabilisiert den Höhenrausch als seinen persönlichen Normalzustand. Damit dreht sich die gesamte Dramaturgie um. Es sind dann die Ausflüge nach unten, die kurz und anekdotisch ausfallen: Hughes stürzte 1946 tatsächlich mit dem Prototyp eines selbstentwickelten Flugzeugs über Beverly Hills ab und verletzte sich schwer. Das hielt ihn aber nicht davon ab, ein Jahr später die gigantische Spruce Goose bei ihrem ersten und einzigen Flugversuch in Long Beach zu pilotieren. Das Flugboot war ebenfalls eine Eigenentwicklung seiner Flugzeugfirma und hätte im Zweiten Weltkrieg als Truppentransporter dienen sollen, wurde aber nicht rechtzeitig fertiggestellt. Der einmalige Flugversuch war also eher 144

als nachträgliche Demonstration des Gelingens gedacht, danach verlor Hughes schnell das Interesse daran und die Spruce Goose landete in einem Hangar in Long Beach zur Dauerverwahrung. Hughes begann stattdessen Luftfahrt- und Rüstungselektronik zu entwickeln und stieg zum Monopolisten in diesem Industriesegment auf. Wer davon schon beeindruckt ist, unterschätzt die Möglichkeiten von Abgehobenheit immer noch. Schon vor seinem Absturz über Beverly Hills war Hughes Millionenerbe, Firmeninhaber, Flugpionier, Flugzeugentwickler und Testpilot mit mehreren Geschwindigkeitsrekorden. Das alles neben seiner Tätigkeit als Filmproduzent und Regisseur in Hollywood. Irgendwann in den 1960er Jahren war er schließlich Eigentümer von sieben Kasinos in Las Vegas, medikamentensüchtig, mehr als verhaltensauffällig, und trotzdem noch immer geschäftstüchtig. Zum Erstaunen seiner Zeitgenossen verließ er jahrelang seine Wohnräume in einem der Kasinos nicht mehr und schaffte es dennoch, ausgerechnet während eines Fluges 1976 in luftigen Höhen zu versterben. Kein Wunder, dass kaum eine Biografie des letzten Jahrhunderts so oft verfilmt wurde. In Howards Hughes Lebensgeschichte bewahrheitet sich der kühnste Wunsch der breiten Bevölkerung, es könnte tatsächlich ein anderes Leben geben. Nicht geerdet, sondern abgehoben. Man lebt oben, denkt von oben, dirigiert von oben und wird nicht einmal beim Sterben geerdet. Hughes könnte also der Beweis sein, dass sich die schicksalhafte Schwerkraft umdrehen lässt. Dass nicht mehr der Boden die Bezugsgröße des täglichen Lebens ist, sondern eine automatische Drift nach oben einsetzt, die einen ergreift und rettet. Diese Sehnsuchtsdestination hatte einmal die Religion exklusiv verkündet und verwaltet. Der Himmel ist die Rettung von allem, die Hochfahrt ist der Ausweg aus allem. Nach dem Untergang der Religion als Erklärungsinstanz für das Schicksal der Welt ist plötzlich die Moderne für die rettende Hochfahrt zuständig. Eine aufschlussreiche Erbfolge. Es war ja die Moderne, die der Religion die Deutungshoheit für das Schicksal der Welt entzogen hat und dann quasi als Trophäe die wichtigste Rettungsallegorie der Religion übernimmt. An dieser Erbfolge wird deutlich, dass der Himmel als Rettungsdestination eine unverzichtbare anthropologische Dimension darstellt. Los Angeles kann für sich in Anspruch nehmen, als einzige Metropole der Welt die Fluchtdestination Himmel institutionalisiert zu haben. Seit den 1970er Jahren ist die Fluchtrichtung nach oben Pflichtausstattung jedes Gebäudes und bestimmender Teil des lokalen Building Codes. 145

Nach dem Brand des Joelma Building in Brasilien im Jahr 1974, bei dem Menschen aufs Dach geflüchtet waren, aber mangels Landemöglichkeit nicht von Helikoptern gerettet werden konnten, änderte Los Angeles seinen Building Code mit einer klaren Regel: Jedes Hochhaus über 75 Fuß muss einen Helikopterlandeplatz auf dem Dach haben, um Einsatzkräften den Zutritt zum Gebäude von oben zu ermöglichen und gleichzeitig Menschen vom Dach des Gebäudes retten zu können. Für die Architekten hatte das jahrzehntelang bedeutet, dass Hochhäuser in Los Angeles im Gegensatz zu vielen anderen Städten immer ein Flattop haben mussten, was die formalen Möglichkeiten erheblich eingeschränkt hat. Erst 2014 wurde diese Flattop-Regel aufgeweicht, und der Helikopterlandeplatz konnte fortan durch andere Sicherheitsmaßnahmen ersetzt werden.7 Von dieser Aufweichung der Flattop-Regel waren nicht alle begeistert. Patrick Butler erinnert in der Los Angeles Times daran, dass 1980 beim Brand des MGM Grand Hotel in Las Vegas über 1000 Menschen mit Helikoptern vom Dach gerettet werden konnten.8 Auch sonst ist das grundlegende Vertrauen der lokalen Einsatzkräfte in den unbedingten Zugriff von oben nach wie vor intakt – wie das Los Angeles Police Department (LAPD) wissen lässt: „The Los Angeles Police Department’s airborne law enforcement program began with one helicopter in 1956. Today, the Air Support Division (ASD) is the largest municipal airborne law enforcement operation in the world, and boasts the nation’s largest rooftop heliport. Captain Sean Parker is the Commanding Officer of Air Support Division.“9 Klingt dramatisch. Es sind konkret 19 Hubschrauber, alle sauber geparkt am Dach der LAPD Air Support Division in Downtown. Ihre Präsenz in der Stadt hat sich dennoch eingeprägt. Das Lied „Police Helicopter“ der Red Hot Chili Peppers ist zwar nicht mehr als eine 7 „Every high-rise building shall have an approved emergency helicopter landing facility (EHLF) on the roof adjacent to or above the highest habitable level. Exception – If specific life safety features are provided as outlined below […].“ Office of the Fire Marshal. Los Angeles Fire Department Requirement No. 10. 17.11.2014. Seite 1 8 „The law, enacted in 1974 after two deadly skyscraper fires in Brazil, was intended to save lives. In 1988 it did just that, when five people were rescued by helicopters from the top of the burning First Interstate Bank Building. And it’s not only in Los Angeles that helipads have saved lives during fires. During the devastating 1980 MGM Grand Hotel fire in Nevada, more than 1,000 people were taken from the roof of the hotel by military helicopters, which made trip after trip to rescue victims. That same year in Puerto Rico, six helicopters flew rescue missions to save people on the rooftop of the burning Dupont Plaza Hotel.“ Patrick Butler. „Maybe L. A.’s ‚stupid’ helipad rule wasn’t so dumb“. https:// www.latimes.com/opinion/op-ed/la-oe-butler-rooftop-helipads-fire-20141007-story.html. 06.10.2014 9 Los Angeles Police Department. „Air Support Division“. http://www.lapdonline.org/air_support_ division. 01.08.2018

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knappe Impression, es kommt aber nicht oft vor, dass einer der ersten Songs einer jungen Popgruppe von Polizeihelikoptern handelt.10 Die Relevanz der Beobachtung hat sich mittlerweile bestätigt. Anfang Mai 2017 wurde in Los Angeles erstmals ein Verbrecher von einem Polizeihubschrauber aus erschossen. Das LAPD ließ zwar wissen, dass derartige Einsätze seltene Ausnahmen bleiben müssten, dennoch zeigen auch solche Aktionen eine Verschiebung der Zuordnungen. Die Sicherheitsdienste agieren in luftigen Höhen, das ist ihre neue Homebase, den sicheren Boden unten in der Stadt gibt es hingegen nicht mehr. Dieser mag für viele noch immer der wichtigste Ort der sozialen Begegnung sein, ein Ort der kulturellen Interaktion und der gelebten Empathie, doch leider schlagen hier auch die Tatsachen am härtesten zu – oder wie man bereits aus Naumans Experiment lernen konnte: Der Boden verschlingt alle, die ihm zu nahekommen. Die Aufweichung der Flattop-Regel 2014 wurde nicht zuletzt mit dem Alleingang von Los Angeles begründet. Wenn alle anderen Metropolen dieser Welt ohne Fluchtdestination Himmel auskommen, dann muss Los Angeles nicht alleinig darauf beharren. Schwerer Fehler. Los Angeles war nicht grundlos eigensinnig, sondern wie so oft der allgemeinen Entwicklung voraus. Tony Chakar, ein Beiruter Künstler und Intellektueller, erzählt eindringlich, wie die umgekehrte Fluchtrichtung plötzlich eine ganze Stadt erfasst. Im Spätsommer 2006 wird Beirut bombardiert, Chakar kann und will die Stadt aber nicht verlassen, um einer Einladung zu einem transregionalen Zeitschriftentreffen der documenta 12 zu folgen. Er verharrt stattdessen in Beirut und sendet einen Brief, der seine momentane Lage erklärt und reflektiert. Der Brief findet sich im Katalog zur documenta abgedruckt und enthält einige scharfkantige Aussagen zum Verhältnis von oben und unten in neuzeitlichen urbanen Extremsituationen: „Einer dieser Reflexe besteht darin, sich ‚unter etwas zu verstecken‘ – unter etwas Tatsächlichem, unter irgendetwas, das gerade in der Nähe ist. Es ist bekannt, dass die sichersten Orte die sind, die unter der Erde verborgen sind, wie Keller oder verwinkelte Treppenhäuser in Wohngebäuden; dennoch beschlossen viele Leute, sich auf den Dächern zu verstecken und sich in die obersten Stockwerke der Häuser zurückzuziehen. Die logischen Gründe für dieses irrationale Verhalten sind simpel: Diese Menschen konnten die Vorstellung nicht ertragen, unter dem Schutt eines 10 „Police helicopter shot the sky. Police helicopter landin’ on my eye. Police helicopter takes a nose-dive. Police helicopter, he ain’t shy.“ Red Hot Chili Peppers. „Police Helicopter“. In: Red Hot Chili Peppers. The Red Hot Chili Peppers. EMI-America-Records. 1984

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komplett zerstörten Gebäudes zu ersticken, etwas, was angesichts der von der israelischen Armee weiträumig eingesetzten Implosionsbomben und anderer Bomben, für die wir erst noch einen Namen finden müssen, äußerst wahrscheinlich war. Außerdem boten die oberen Stockwerke relative Sicherheit vor den Splittern der Streubomben, die in den Straßen explodierten. In einer katastrophalen Zeit wurde Beirut zu einer Stadt, in der alles kopfstand.“11 Im Zuge der Materialdiskussion ist festgestellt worden, dass die Moderne mit der Absage an das rohe Material gleichzeitig einem lange praktizierten Schutzreflex absagen musste: dem Vergraben und Verkriechen. Chakar lässt wissen, dass eine Gesellschaft von heute, unter Extrembedingungen von heute, gar nicht mehr in eine vormoderne Verkrochenheit zurück kann. Lieber exponiert als verschüttet, lautet der heutige Schutzreflex. Die Flucht verläuft nicht mehr nach unten, sondern nach oben. Hier wird das Streben gegen den Himmel zu einer Allegorie der Rettung, denn alles, was Potenz hat, ist heute oben versammelt. Nicht nur das brisanteste Militärgerät agiert im Flug, die schnellste und wirkungsvollste Rettung ebenso. In einem archaisch-exoterischen Verständnis sind oben und unten Synonyme für Macht und Ohnmacht. Für den Architekten stellt sich somit die konkrete Frage: Was muss getan werden, um Architektur ebenfalls in die Luft zu bringen? Welche spezifische theoretische und entwurfspraktische Logik macht Architektur flugfähig? Nein, die Antwort ist diesmal nicht der geglückte Versuch der Cluster-Ballooning-Szene, ein Haus in den Himmel steigen zu lassen. Es reicht nicht, eine gewöhnliche Architektur mit so viel Fremdauftrieb auszustatten, dass sie tatsächlich abhebt. Die Antwort findet sich eher dort, wo das Unbehagen einsetzt. Man muss kein großer Experte sein, um zu ahnen, dass Architektur ohne fremde Hilfe nicht so einfach fliegen wird. Aus der Evolution der Fluggeräte weiß man, dass Fliegen keine Kompromisse erlaubt. Wer nach oben will, muss sein gesamtes Wesen dieser Idee unterordnen. Der Gang in die Luft verlangt also auch von der Architektur einen kompromisslosen inneren Umbau, und er verlangt vor allem Ballast abzuwerfen. Spätestens an diesem Punkt wird das Unbehagen zur tatsächlichen Verlusterfahrung, denn flugfähige 11 Tony Chakar. In: Documenta und Museum Fridericianum Veranstaltungs-GmbH. Documenta Magazine No 1, 2007. Modernity? Taschen. 2007. Seite 211, 212

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Architektur muss so substanziell Ballast abwerfen, dass sie ihrer totalen Auflösung gefährlich nahekommt. Doch das ist der Preis, den man für die elitäre Befreitheit dort oben bezahlen muss. Davon handelt die zweite Ambition.

In die Luft Rudolph Schindler war ein halber Lufthysteriker. Das ist keine Beleidigung, sondern die Kurzfassung der einen Hälfte seiner architektonischen Agenda. Er ist von der Problematik des Lüftens regelrecht besessen, kaum eine Aussage über Architektur, vor allem über das Wohnen, die er nicht mit einem Luftargument begleitet. Detailreich kann er sich für die kleinsten Nuancen des Lüftens und des Luftzugs begeistern.12 Besonders präzise wird er beim Schlafen: „Im Gegensatz zu der Sitte unserer Vorfahren sind wir uns mehr und mehr der Schönheit und Gesundheit des Schlafens im Freien bewusst. Die Schlafräume reduzieren sich zu Ankleideräumen, und unsere Betten werden auf der offenen Veranda aufgestellt.“13 Diese durchwegs sympathische Luftbegeisterung wäre nicht näher besprechenswert, würde sie nicht in ein unauflösliches Dilemma münden: „Solange wir das immense Reservoir der Außenluft direkt gebrauchen, entsteht kein Problem der Luftversorgung. Wenn jedoch ein Teil dieser Luft in einem Raum eingeschlossen ist, so ändern sich die Bedingungen zur Gänze. Die Luft im Raum wird sich chemisch, physikalisch und bakteriologisch durch die Ausatmung der Bewohner und Objekte im Raum ändern, bis sie zur Aufrechterhaltung des Lebens gänzlich ungeeignet ist.“14 Kurzfassung: Je mehr freie Luft, desto besser – andererseits: je hermetischer die Luft durch Räume abgeschlossen wird, desto schlechter. Der Raum macht die Luft kaputt. Schon im Zuge der Plattendiskussion ist festgestellt worden, dass Raum eigentlich nur eine unnatürliche Stauung vor aktivierten Oberflächen ist. Schlechte Luft ist also Grundbedingung für Raum. Wer Raum will, muss mit schlechter Luft leben lernen. Wer das allerdings nicht ertragen kann, der muss sämtliche Stauungen auflösen und die Kategorie Raum insgesamt aufgeben, schon macht sich maximale Luft breit. 12 Vgl. Rudolph Michael Schinder. „Lüftung“. In: August Sarnitz. R. M. Schindler. Architekt. 1887–1953. Akademie der bildenden Künste Wien. Edition Brandstätter. 1986. Seite 146 13 Rudolph Michael Schinder. Ebd. Seite 146 14 Rudolph Michael Schinder. Ebd. Seite 146

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Eigentlich eine einfache und praktikable Lösung – aber nicht für Schindler. Denn ironischerweise war ausgerechnet Schindler ein deutlich hörbarer Vertreter einer elaborierten Raumtheorie. Das ist die zweite Hälfte seiner architektonischen Agenda. Schindler redet nicht nur überschwänglich von Luft, Luft, Luft, sondern auch fortwährend von Raum, Raum, Raum, und der Raumplan von Adolf Loos schimmert dabei ständig durch die Sätze. Kein Wunder, die Raumarchitektur von Schindler ist ein Derivat des Raumplans von Loos. Doch diese Abstammung treibt Schindler noch tiefer in die räumliche Hermetik, denn Loos steigert die Stauung bis zur Verklemmung. Loos wollte nicht einmal aus dem Fenster sehen, das hielt er für unschicklich. Sein Raumplan kennt letztlich nur Innenräume. Das bedeutet, wenn Raum bereits Stauung ist, dann sind die totalen Verinnenräumlichungen von Loos gezielte Erstickungsexperimente mit Architektur. Für Schindler jedenfalls ist seine unentschiedene Vorliebe für Luft und/oder Raum ein enormes Dilemma. Er hat den Konflikt Luft gegen Raum mit sich selbst auszutragen. Theoretisch gelingt es ihm, dieses Dilemma offenzuhalten und sogar auszudeklinieren. Seine architekturanthropologischen Überlegungen zu den Grundtypen des Hauses sind in Gegenpolen verfasst. Höhle und Zelt stellt er als maximale Antipoden der Behausung gegenüber.15 In diesen Archetypen variiert er das Oszillieren zwischen moderner Offenheit und vormoderner Hermetik in pointierter semantischer Fassung. Doch wie will er mit dieser oszillierenden Unentschiedenheit beim Bau seines Hauses umgehen? Muss er jetzt auf eine seiner Vorlieben verzichten? Ohne Raum leben oder ohne Luft leben? Es ist ein seltener architekturhistorischer Glücksfall, dass Schindler seine Unentschiedenheit nicht vorab bereinigt, sondern tatsächlich in den Bau seines Hauses in der Kings Road in Los Angeles hineinträgt. Damit bleibt der Konflikt Luft gegen Raum anschaulich konserviert. 15 „Der eine [Archetyp] entspringt der Idee des Zeltes, des Iglu, etc. Deren Wesen ist Mobilität und ihr Schema baut eher auf der Idee eines geschützten Bettes als auf der eines Hauses auf. Konsequenterweise kontrastiert dessen Boden mit dem Boden außerhalb. Er ist mit Textilien bedeckt und dient als Platz zum Liegen und Sitzen. […] Der zweite Grundtypus des Hauses hat die ‚Höhle‘ als Mutter. Er ist statisch, permanent und beschützt nicht nur das Bett, sondern alle Tätigkeiten des Lebens. Der Boden wird als ein Teil und als Kontinuität des äußeren Bodens verstanden. Naher Kontakt mit dessen Rauheit ist unangenehm, und das führt zur Erfindung von Möbeln: Instrumente, den Körper und Gegenstände in einiger Entfernung vom Boden zu halten.“ Rudolph Michael Schinder. „Der Fußboden“. In: August Sarnitz. R. M. Schindler. Architekt. 1887–1953. Akademie der bildenden Künste Wien. Edition Brandstätter. 1986. Seite 154

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Die Angelegenheit beginnt zunächst harmlos und gediegen. Das Haus in der Kings Road besteht eigentlich nur aus einem Erdgeschoss, das mit zwei Lüftungssystemen ausgestattet wird. Die massiven Betonscheiben werden in leichter Distanz zueinander versetzt, sodass zwischen ihnen vertikale Lüftungsschlitze entstehen. Damit sind die Räume einseitig belüftet. Für die Querdurchlüftung muss zusätzlich noch die gegenüberliegende Holz-Leichtbaufassade geöffnet werden. Da wird Schindler schon erfinderischer. Er entwickelt eine Konstruktion, die er später unter dem Namen Schindler Frame publizieren wird. Dabei wird die gesamte Wandkonstruktion nur bis zur Türhöhe hochgezogen und dort von einem umlaufenden horizontalen Rahmen abgefangen. Darüber entsteht bis zur Höhe der Dachkonstruktion eine schmale Außenwandzone, die Schindler als Lüftungsband verwendet. Dieses horizontale Lüftungsband garantiert zusammen mit den vertikalen Schlitzen in der Betonwand garantiert ausreichend Luft zum Wohnen und Arbeiten. Die Räume werden sogar als ausgesprochen zugig beschrieben. Wichtig ist jedoch, dass die kontrollierte Zugluft die architektonische Integrität der Räume nicht stört. Das ist die wichtige Unterschreitung der kategorischen Grenze. Das Erdgeschoss bleibt trotz Lüftung noch als Raum gefasst. Sehr viel forscher entscheidet Schindler hingegen beim Thema Schlafen. Schlafen ist nach wie vor der kritische Sonderfall. In Schindlers Verständnis braucht Schlafen maximale Luft und so plant Schindler etwas Sonderbares: Der Erdgeschossbau bekommt zwei schmale Treppen hinauf auf das Flachdach, wo zwei offene Sleeping Baskets aufgesetzt werden. Es gab zwei Apartments im Haus, folglich auch zwei Schlafkörbe, einen für das Ehepaar Schindler und einen für das Ehepaar Chace, später abgelöst vom Ehepaar Neutra. Die Schlafkörbe bestehen jeweils aus einer Rahmenkonstruktion aus Holz und der prinzipiellen Möglichkeit, diesen Rahmen mit Textilbahnen zu verhängen. So wenig Materialumhüllung jedenfalls, dass man behaupten kann, dort oben legt man seinen schlafenden Körper nicht an die Luft, sondern in die Luft. Die zwei Schlafkörbe kann man als gebaute Luft oder als architekturgewordene Lüftung qualifizieren. Aber die wichtigere Frage lautet: Ist das überhaupt noch Architektur? Ein lapidares, windiges Gestell mit flatternden Textilbahnen? Man kann die Körbe heute noch besichtigen und wer die Geschichte dazu nicht kennt, wird kaum ergriffen sein. Die zwei Gestelle am Dach sind ein Nichts, man wird sie übersehen, ad hoc für einen nachträglichen Pfusch halten, und trotzdem sind sie Schindlers 151

markantestes Architekturmanifest. Denn getrieben von seiner Gier nach Luft radikalisiert er Frank Lloyd Wrights Destruction of the Box weit über die intendierte Bedeutung hinaus und lässt sich auf eine Architektur ohne Raum ein. Hier wird der Raum nicht geöffnet, sondern tatsächlich zerstört. Die Schlafkörbe sind abgewrackte Räume – nicht theoretisch, nicht allegorisch, sondern konkret baulich. Raum ist immer manisch auf das bezogen, was ihn definiert. Oberflächen, Wände, Platten, selbst Räume, die nur durch geometrische Marker scheinbar offen definiert sind, schielen dennoch immer auf ihre definitionsgebenden Instanzen. Raum ist hoffnungslos hermetisch und Schindler der erste, der sich nicht vor der Konsequenz drückt. Raum kann nie frei sein, ganz im Gegenteil, man kann sich nur vom Raum befreien. Und genau diese Befreiung realisiert Schindler mit den Schlafkörben; er befreit die Architektur vom Raum. Schindler hat den ewig schwermütigen Raum in der Architektur entsorgt und damit bewiesen, dass Architektur sehr gut ohne Raum auskommt. Die Ausgangsfrage, welchen Ballast Architektur abwerfen muss, um in die erhofften luftigen Höhen zu kommen, erhält mit der Befreiung vom Raum die erste markante Antwort. Die Befreiung vom Raum zieht aber noch eine zweite Befreiung mit sich. Das klassische Verständnis von Räumlichkeit im Sinne eines dreidimensional ausdifferenzierten Raumgebildes ist damit ebenfalls abgesagt. Raum abgewrackt, Räumlichkeit abgewrackt. In der Kings Road erinnert nichts mehr an den Raumplan und an Loos. Fast trotzig führt Schindler diesen Räumlichkeitsverzicht vor. Den ganzen Tag lebt er auf einer Ebene, im Erdgeschoss, von einer Situation in die nächste, sogar die Freiflächen sind ohne Stufe an den flachen Erdgeschossbau angehängt. Nur einmal am Tag, am Abend, steigt Schindler auf das Dach hinauf und gleichzeitig in die Luft hinaus. Ein penetranter Durchstieg, mehr ist raumdramaturgisch nicht geblieben. Der Schlafkorb hat zum darunterliegenden Haus keine räumliche Beziehung, sondern ist dessen neurotische Negation, er überschreitet das Haus. Der Schlafkorb ist reine Exaltation. Er will weg, streckt sich in die Luft hinaus, so weit es geht, auch um den Preis der Lächerlichkeit und lässt die Architektur demonstrativ unten zurück. Wie wichtig für Schindler dabei das Überschreiten der Raumarchitektur ist, beweist ein naheliegender Vergleich. Er hätte ja auch vor die Tür gehen und im Garten schlafen können, ohne große Aufregung. 152

Dort hätte er seine Luft schneller und direkter vorgefunden. Will er aber nicht. Vor die Tür zu gehen, ist nicht exaltiert genug. Der Akt des Überschreitens ist also integrativer Bestandteil der Luftarchitektur. Die Befreiung vom Raum muss tatsächlich als penetranter Akt vollführt werden, im wörtlichen Sinn. Und weil jeden Tag der Wiederabstieg in die Raumarchitektur folgt, muss auch die Raumarchitektur jeden Tag aufs Neue durchstoßen und als überwunden unten zurückgelassen werden. Erst dann ist die kategorische Distanz zum Raum wiederhergestellt und die Exaltation als neue architektonische Dimension bestätigt. Keine Befreiung ohne abstoßende Theatralik – lernt man. Das eine ist ohne das andere nicht zu haben. Wie so oft ist die theatralisch-affektive Neigung der frühen Moderne in den Nachbesprechungen verschämt verschwiegen worden. Für August Sarnitz beruht Schindlers Architekturvorstellung lediglich auf „raumschaffenden ‚Lagebeziehungen‘.“16 Lage ist aber entschärfte Exaltation. Wer in Lagen denkt, der hat Exaltation aufgegeben und fällt wieder in das statische Raumbezugsdenken zurück. Lage allein ist aber nicht befreiend, es fehlt das starke Motiv, anders zu sein. Es fehlt, die Abstoßung von einem Gegenpart aktiv zu suchen und durch innere Geladenheit zu verstärken. Schindler rundweg als Lagearchitekten zu bezeichnen, bedeutet, gerade seine wichtige exaltierte Unruhe zu übersehen. Schindler klassifiziert zum Beispiel Möbel in Distanzkategorien zum Boden.17 Er kann nicht ans Sitzen, Hocken, Loungen denken, ohne gleichzeitig die prekäre Nähe des Bodens zu spüren und gedanklich nervös auf und nieder zu rücken.

16 „Schindlers Architekturvorstellung beruht auf der raumschaffenden ‚Lagebeziehung‘ von Körpern. Weder Funktion, Konstruktion noch Bautechnologie sind für ihn die determinierenden Faktoren, die Architektur hervorbringen.“ August Sarnitz. „Transatlantische Begegnungen“. In: Matthias Boeckl. Hrsg. Visionäre & Vertriebene. Österreichische Spuren in der modernen amerikanischen Architektur. Ernst & Sohn. 1995. Seite 101 17 „Dieser Kampf, den Boden zu zivilisieren und seine unangenehmen Charakteristika zu beseitigen, wirken sich wieder auf unser Möbeldesign aus. Zeitgenössische Stücke verlieren die große Höhe der historischen Produkte – mittelalterliche Sessel etc. – und bringen uns näher zum Boden, bis wir in den jüngsten Jahren wieder in der Lage sind, auf niederen Kissen zu sitzen, ohne den sozialen Status zu verlieren.“ Rudolph Michael Schinder. „Der Fußboden“. In: August Sarnitz. R. M. Schindler. Architekt. 1887–1953. Akademie der bildenden Künste Wien. Edition Brandstätter. 1986. Seite 154

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Für manche mag es immer noch wie eine semantische Übertreibung wirken, Raumbezugsdenken von Exaltation zu unterscheiden. Doch es gibt auch jenseits von Schindler moderne Architekten, die dafür ein konkretes bauliches Verständnis beweisen. Ray Kappes Haus, 1967 gebaut in Pacific Palisades in den Hügeln von Los Angeles, ist dafür das perfekte Beispiel. Viele Besucher schwärmen beim Rundgang von einem vermeintlich starken dreidimensionalen Erleben. Kein Wunder, denn das Haus ist ein fantastisches Wechselspiel aus räumlicher Staffage und Luftigkeit. Ray Kappe lässt Geschossebenen in verschiedenen Höhen neben- und übereinander schweben und man schwebt förmlich mit, von einem Schwebeboden zum nächsten, immer mit Aussicht auf die anderen Schwebeböden. Analysiert man das vermeintlich dreidimensionale Erleben anhand der konkreten Stimmungstrigger, fällt aber auf, dass vor allem ein spezifisches Element das starke Erleben trägt: die Absturzsicherungen. Es gibt nämlich keine. Keine Geländer, keine Brüstungen, gelegentlich markiert ein Möbel, ein Sofa, ein Materialwechsel die Absturzkante, aber baulich wird der freie Fall nicht verhindert. Ganz im Gegenteil, das Haus ist eine regelrechte Einladung, von Treppen, Podesten, Terrassenplatten, Dächern, Brücken hinunterzufallen. Es ist schwer vorstellbar, in so einem Haus zu überleben ohne permanente Awareness der Absturzgefahr gegenüber. Höhenangst wird hier zur alltäglichen Pflicht – und in genau dieser permanenten Absturzdrohung besteht die aufgeregte Stimmung in dem Haus. Der schwebende Boden trägt unter den Füßen – und beim nächsten Schritt vielleicht schon nicht mehr. Für derartige existenzielle Spielchen sind Menschen mehr als sensibel, denn sie haben ein untrügliches Sensorium für Absturzgefahren. Wenn man als Architekt an dieses Sensorium appelliert, kann man damit eine permanente Aufgeregtheit provozieren, die richtig dosiert sogar lustvoll sein kann. Das bedeutet, die Sensation an Kappes Haus ist nicht die Räumlichkeit. Die herausragende Kompetenz des Architekten Kappe ist genausowenig sein Raumbezugsdenken, sondern er ist wie Schindler Exaltationsexperte und spielt sehr gekonnt mit dem Gelingen und dem potentiellen Versagen der Exaltation. Die befangene Frage lautet nun, ob das Überschreiten des Raumdenkens durch die Exaltation lediglich eine akademische Exzentrik darstellt, oder ob das jenseits von ausgewählten Pilotprojekten mehrheitsfähig ist? Takeshi Nakagawa, der bereits die Bodenfrage trefflich erörtert hat, gibt auch hier eine solide Antwort. Er benennt ein ideales Beispiel für 154

archetypisches Exaltationsdenken, wenn er der Frage nachgeht, warum Erdhäuser in China Well of Heaven heißen.18 Weil es – so seine Erklärung – aus dem Erdloch heraus immer nur den Himmel als Sehnsuchtsgegenüber geben kann, als fantastische andere Welt. Wer in der Erdhöhle lebt, fordert als Kompensation den Himmel. Zwischenlagen wie ebene Erde oder sonstige differenzierte Raumbeziehungen sind nicht genug. Dramatisch Begabte wie George Lucas wissen um diese totalen Befreiungsaffekte, darum katapultiert sich auch der junge Luke Skywalker aus dem Erdloch in Matmata hinauf in den Star-Wars-Pilotensitz. Bauer werden zu ebener Erde, wie ihm sein Onkel nahelegt, ist keine attraktive Perspektive für ihn, weil der Traum vom Aufstieg immer grenzenlos verläuft und nicht abwägend.19 Entlang dieser Formel Architektur zu machen, ist nicht weniger dramatisch, und so wird die Exaltation zu einem Evergreen der Moderne, der bis heute überzeugt. Von John Lautners Chemosphere zu Oase Nr. 7 von Haus-Rucker-Co bei der documenta 5 bis Terunobu Fujimoris Too High Tea House reichen die weltweiten Exaltationsikonen. Und weil die getriebene Moderne selbst diese Projekte noch einmal übertroffen sehen will, gibt es Luftarchitekten wie Tomás Saraceno, der seit Jahren schon architektonische Grenzgänge ins Leichteste versucht, waghalsig, prototypisch, aber letztlich immer noch unzulänglich. Keines seiner Schwebestrukturen verschafft Satisfaktion, jedes ist immer nur Anstiftung für einen nächsten, noch engagierteren, noch luftigeren Versuch. Für die Architekturgeschichte ist die definitorische Konsequenz dieser Projektrundschau durchweg ernüchternd. Die einzige dritte Dimension in der Architektur ist die Exaltation – positiv oder negativ gewendet, Aufstieg oder Absturz. Mehr ist nicht. Architektur leistet schon sehr viel, wenn sie diese Exaltation einrichtet und sich keine allzu destruktiven Spielchen damit erlaubt. Angesichts dieser Bilanz stellt sich natürlich 18 „In a yaoton of the tenchin type, one descends from the open plain and passes through a dark, narrow entrance as if burrowing into the earth, then suddenly emerges into a sun-drenched courtyard. After this dramatic passage from darkness to light, one looks up and there is the blue sky. Perhaps ‚well of heaven‘ puts the impact of this moment into words.“ Takeshi Nakagawa. „The Japanese House“. In: Space, Memory, and Language. i-House Press. 2006. Seite 160 19 „Die Antigravitation lässt sich nun als ‚fundamentaler‘ Vektor begreifen, besser als die Tendenz, die gegen die Dimension Fundament strebt. Damit wird deutlich: Ohne die Himmelfahrten des unschweren Sinns wäre Kultur unmöglich.“ Peter Sloterdijk. Sphären III. Schäume. Suhrkamp Verlag. 2004. Seite 738

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reziprok die Frage: Was waren die vielzitierte Räumlichkeit, der Raumplan, das Raumdenken und sämtliche Derivate davon jemals wert?20 Ist oder besser gesagt war das nicht immer schon eine Scharrade? Jeden beschleicht doch in Wirklichkeit ein Unbehagen, wenn einerseits von großartig räumlicher Architektur geschwärmt wird, aber dann doch alle am Fußboden stehen und gehen. Das hört sich an wie ein schlechter Scherz, benennt aber letztlich das entscheidende Kriterium: Menschen sind keine Raumwesen, sie bewegen sich nicht im Raum, sondern kleben an der Oberfläche, unoriginellerweise immer an der gleichen, der horizontalen. Insofern wird Architektur für Menschen nie wirklich dreidimensional sein können. Sollte sich ein Projekt dennoch darum bemühen, so ist das ein kompensatorischer, inszenatorischer Überschwang. Positiv gewendet: eine kulturelle Investition in die Unmöglichkeit. Für Architekten ist diese Erkenntnis natürlich ein geradezu existenzielles Dilemma, weil sie als gesamte Profession Räumlichkeit vertreten und verkaufen. Gerade die spektakulärsten Projekte der letzten Jahre verstärken diese Erwartung. Qualitätsvolle Architektur soll räumlich aufwendig und komplex sein, ein Raumpuzzle, hochintegrativ, oft sogar über den Raumplan hinaus zu hysterischen Raumgebilden gesteigert, frei flottierend, ausschweifend und expressiv, Bewegung suggerierend und damit sogar ein Versuch über die vierte Raumdimension. Der 1989 mit dem Pritzker-Preis prämierte Gehry-Effekt baut nicht zuletzt auf dem kollektiven Stauen über eine derart eskalierte Räumlichkeit auf. Doch Frank Gehrys Architekturen mögen noch so aufregende Raumgebilde sein, die Besucher sehen sich die Pracht dennoch wieder aus der nur allzu bekannten und wenig innovativen Position am Boden klebend an. Gelegentlich geht jemand die Treppen hinauf oder nimmt den Lift, aber man erkennt langsam, dass es keinen Sinn hat, architektonische Volieren zu bauen, kein Mensch hat durch Gehrys Bauten fliegen gelernt. Man kann dort nur Architektur kennenlernen, die räumlich so ausschweifend ist, dass sie den menschlichen Beobachter erst recht an sein Festkleben am Boden erinnert. Architekten machen also bestenfalls Raum-Peepshows für Raum-Sehnsüchtige. Alles schön anzusehen. Staunen, 20 „Ich habe einmal Streit mit Norbert Kricke bekommen, als er mir sagte, ich müsse seine Skulpturen in räumlichen Begriffen sehen, es geht darin um den Raum. Dann sagte ich, ja, Raum ist in der kleinsten Hütte. Da war er ziemlich sauer, und er hat mir sehr übel genommen, dass ich das elementare Wesen der Skulptur, den Raum, so abtue.“ Gerhard Richter. Text 1961 bis 2007. Schriften, Interviews, Briefe. Verlag der Buchhandlung Walther König. 2008. Seite 419

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wünschen, nach oben schmachten, nach oben heben und den Absturz fürchten – mehr als diese Ersatzhandlungen sind aber nicht verfügbar. Denn der Raum selbst bleibt eine unzugängliche Welt.

Privates Gegenexperiment Rudolph Schindler zeigt mit seinem Haus in der Kings Road, wie konsequent die Exaltation architektonische Kategorien überschreitet, die bisher zum inneren Wertbestand der Disziplin gehört haben. Es kommt aber noch eine entscheidende Steigerung hinzu. Nicht nur die Architektur als Disziplin muss überschritten werden, um in die Luft zu gelangen, der Architekt selbst wird den Aufstieg ebenso wenig unbeschadet überstehen. Es ist Schindler hoch anzurechnen, dass er auch vor dieser letzten Konsequenz nicht zurückschreckt. Ohne Umschweife praktiziert er in der Kings Road seine eigene Selbstüberschreitung als Architekt und legt damit die kritische Grenze des Architekturmachens offen, nicht nur für die Moderne, sondern für jeden Architekturauftrag zu jeder beliebigen Zeit. Diese Selbstüberschreitung beginnt unbemerkt in der alltäglichen Handhabung der Schlafkörbe auf dem Flachdach seines Hauses. Luftgetrieben steigt Schindler jede Nacht dorthin hinauf und damit aus seiner Raumarchitektur aus. Dieser Ausstieg bleibt aber nur eine kurze Episode, denn schon am nächsten Tag revidiert Schindler den Ausstieg wieder, er steigt in der Früh hinab, um seine Wachzeit in der Raumarchitektur im Erdgeschoss zu verbringen, gefolgt von einem neuerlichen Aufstieg in die Luftarchitektur am Abend. Mit diesem täglichen Oszillieren zwischen Luft und Raum, zwischen Überschreitung und Rückfall wird ein schizophrener Grundrhythmus gelegt, der mehr über Schindler aussagt als sämtliche seiner überlieferten Schriften. 1922 wird sein Haus in der Kings Road fertiggestellt und Schindler wohnt und arbeitet darin bis zu seinem Tod im Jahr 1953. Das sind über 30 Jahre Gelegenheit, täglich seine architektonische Unentschiedenheit zwischen Luft und Raum zu praktizieren. Soll man sich Schindler nun im zunehmenden Schizowahn vorstellen und sein Haus als Laboraufstellung für autoaggressiven Psychoterror? Es wird nicht ganz so schlimm gewesen sein, und wenn doch, dann hat der Physiker und Nobelpreisträger Robert Betts Laughlin eine pointierte Handlungsanweisung anzubieten, die Schindlers architektonischer Schizophrenie einen konstruktiven Rahmen gibt: „Egal, was Sie glauben, am 157

Ende müssen Sie sich fragen: Mit welchem Experiment könnte ich beweisen, dass meine Lieblingsidee falsch ist. Und erst wenn dieses Experiment scheitert, haben Sie eine Chance, richtig zu liegen. Und genau das fällt schwer. Denn nicht selten hängt Ihre Karriere von der Richtigkeit Ihrer Idee ab“;21 Experiment und Gegenexperiment also.22 Das Haus in der Kings Road ist gebauter Glaube an die Raumarchitektur und gleichzeitig luftinspiriertes Gegenexperiment. Man muss unterstellen, dass Schindler seiner eigenen Raumarchitektur im Erdgeschoss nur im Wachzustand traut, am Abend jedoch disqualifiziert er sie als ungenügend und verlässt sie demonstrativ. Noch zu sehr Raum, nicht luftig, letztlich nicht modern genug. Die logischen Ableitungen dieser Priorisierung sind nicht minder demonstrativ. Die Raumarchitektur im Erdgeschoss ist dem Architekten Schindler angemessen, die Luftarchitektur auf dem Dach hingegen dem Privatmann Schindler. Wenn also vom Überschreiten der Raumarchitektur die Rede ist, dann ist es der schläfrige Privatmann, der den wachen Architekten überschreitet. Die Ironie bekommt sogar noch eine entscheidende Zugabe: Der Privatmann Schindler ist architektonisch radikaler als der Architekt Schindler und der Privatmann ist auch architekturtheoretisch wesentlich bedeutsamer als der Architekt. Was wäre Kings Road ohne Schlafkörbe? Nach wie vor ein bemerkenswertes Haus, aber keine Architekturikone. An dieser Schlussfolgerung wird klar, welche enorme Wirkung das Reizthema Schlaf im Haus in der Kings Road entfaltet. Es ist nicht nur eine lästige architektonische Dauerbaustelle, sondern hat die Qualität, Architektur insgesamt umzuwerten. Kein Wunder, denn für ein Wesen, das sich selbst beobachten kann, ist Schlafen eine furchterregende Herausforderung. Jeden Tag drängt einem der eigene Körper das unabweisbare Angebot auf, das Bewusstsein vollständig abzudrehen – was einem absoluten Ende gleichkommt. Ob irgendwann wieder ein Neustart erfolgt, lieg jenseits der rationalen Kontrolle. In solchen Lebenslagen werden zwangsläufig architektonische Qualitätskriterien aktuell, die mit 21 Robert Laughlin. In: Johann Grolle, Hilmar Schmund, Robert Laughlin. „Der Urknall ist nur Marketing“. https://www.spiegel.de/spiegel/print/d-55231886.html. 02.01.2008 22 „Das Spiel kann – schon darin ist es ästhetisch relevant – Selbstzweck bleiben, das Experiment aber nicht. Wo es nicht als Mittel zu äußerem Zweck in Erscheinung tritt, wird es Spielerei. Das Experiment ist also nicht mit seinem Resultat identisch. Wenn Kunst nun als Experiment auftritt, verlegt sie ein vermeintliches Ergebnis nach außen, obwohl dieses doch allein innerhalb seiner phänomenologischen Grenzen festzumachen gewesen wäre!“ Christian Janecke. Kunst und Zufall. Verlag für moderne Kunst Nürnberg. 1995. Seite 100

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Erziehung, Überredung, kultureller Gepflogenheit, projektivem Wünschen nicht zu relativieren sind. Entweder ein konkretes Ambiente ist vertrauenswürdig genug, um den furchtbaren Shutdown des Schlafs hinzunehmen oder eben nicht. Damit wird aber gleichzeitig der privateste Moment des Tages zur höchsten architektonischen Entscheidungsinstanz – und in genau dieser Priorisierung des Privaten liegt die eigentliche Sensation der Schlafkörbe. Übertriebene Zuspitzung? Nein, denn die Tendenz ist weit über Schindler und die Architektur hinaus beobachtbar. Das Verhältnis von Professionell zu Privat findet sich oft genug in umgekehrter Hierarchie aufgestellt. Das Private ist in vielen Situationen der Ausstieg und die Überschreitung der gegebenen professionellen Settings. Das Private ist das exaltierte Gegenexperiment für jede Disziplin. Aus dem Feminismus klingt der passende Satz herüber: Das Private ist politisch. Angewandt auf den vorliegenden Fall gilt dann: Das Private ist architektonisch. Wer stellt denn die wirklich kritischen Forderungen an Architektur und wer evaluiert sie? Wer treibt Architektur aus ihrem akademischen Selbstverständnis hinaus, und wer konfrontiert sie mit der irreduziblen Wahrheit des Affektiven? Wer kann denn wirklich glaubwürdig die Kernfrage der Moderne – Wie wollen wir leben? – vertreten, wenn nicht das Private? Tracey Emin fällt einem ein; Confessional Art hat man ihre offensiv deklarativen Kunstwerke genannt, in denen sie das Private als Grundwahrheit herausstellt. Schindlers Überschreitung seiner eigenen Raumarchitektur wäre demnach eine Confessional Architecture, eine schonungslose Überforderung all dessen, was ihn bis dahin als Architekt gehalten hat. Auch bei Tony Chakar in Beirut ist es nicht ein Architekt oder Städtebauer, der die Umkehrung der Fluchtrichtung vorschlägt, sondern es ist die panische Bevölkerung, die in ihrem akuten Überlebenswillen die bestehende Erschließungslogik überrennt. Ohne Entschuldigung, ohne tiefe Reflexion, sondern direkt, instinktiv gefolgert. In solchen Momenten bricht eine ganze Disziplin in sich zusammen, vor allem weil der Angriff auf den Wertbestand der Disziplin nicht aggressiv, hinterhältig oder berechnend erfolgt, sondern so unwiderstehlich selbstverständlich. Als hätte es die Regeln der Disziplin nie gegeben, als würde sich daraus nicht der geringste Widerstand ergeben. Wenn Emin ihr eigenes zerwühltes und vermülltes Bett in der Saatchi Gallery als Kunstwerk ausstellt und damit ihre eigene zerwühlte und vermüllte Privatheit offenlegt, verstummt 159

der Kunstdiskurs.23 Unmittelbar davorstehend hält man besser den Mund und staunt, jeder hochtheoretische Satz dazu ist lächerlich. Wieder ist es das fragile Thema Schlaf, das den professionellen Kontext so nachhaltig verstört. Erst aus der Distanz und als Phänomen betrachtet ist so ein massiver Einbruch des Privaten wieder diskutabel. Für die Moderne in der Architektur ist dieser Vorrang des Privaten vor dem Professionellen ein peinliches Déjà-vu. Der Beginn der Moderne war ja insgesamt privat affektiv und jetzt wird klar, dass auch das moderne Es-ist-nicht-genug ein privat inspiriertes Motiv ist, das die Architektur dauerhaft anklagt. Mehr noch, solange es das Private in der Architektur gibt, werden die Forderungen an die Architektur das Vermögen der Architektur strukturell immer übersteigen; damit wird die Überforderung der Architektur zum Dauerzustand. Vor allem Menschen, die das Versprechen der Moderne nach individueller Freiheit ernst nehmen, wollen Stimmungen, Positionen, Atmosphären, die mit dem vorhandenen Wissensstand nie erfüllbar sind. Streng formuliert ist die gesamte Moderne eine permanente Enttäuschung, ein nervenaufreibendes Zuwenig, vor allem für die modernen Pioniere selbst. Das ist das zwangsläufige Schicksal einer Bewegung, die Fortschritt verspricht. Die Forderung nach Verbesserung ist immer vorausgaloppierend formuliert; wenn das befreiende Wollen noch vor dem reflektierenden Verstehen die Forderungen stellt; wenn die rückversicherte Zone der diskursiven Kritik zurückgelassen wird, um in reine Stimmungsräume vorzudringen; wenn die Moderne selbst noch keinen Bestand, keine Routine angesetzt hat und ins Abenteuer hinaus gesteuert wird. In Gernot Böhmes Begriffen formuliert, ist die Moderne nicht vom Bedürfnis getrieben, sondern vor allem von der Begehrung. Jeder Versuch, die Begehrung zu stillen, erzeugt sofort neue Begehrung. „Als Bedürfnisse im engeren Sinn sind solche zu verstehen, die befriedigt werden können, d. h. also, bei denen es eine Sättigung gibt. Von der Art sind Hunger und Durst, aber auch das Bedürfnis, sich zu kleiden. Andere Bedürfnisse, die jetzt als Begehrungen bezeichnet werden sollen, werden durch ihre Befriedigung aber nicht gestillt, sondern gesteigert. Von dieser Art sind das Begehren des Reichtums, der Anerkennung, überhaupt alles dessen, was nicht einfach der Reproduktion und Fristung des Lebens dient, sondern seiner Steigerung.“24 23 Tracey Emin. My Bed. 1998 24 Gernot Böhme. Atmosphäre. Suhrkamp Verlag. 1995. Seite 64

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In Böhmes Worten klingt das alles sehr einleuchtend, aber wie geht man mit der kategorischen Steigerung vom Bedürfnis zur Begehrung um, wenn sie einem im eigenen Haus als Dauerlektion vorgeführt wird? Schindlers eigenes Oszillieren zwischen Schlafkorb und Raumarchitektur ist nämlich nicht der einzige Gegensatz, der in der Kings Road tagtäglich ausgehandelt wird: Über Schindler als Privatperson finden sich in der Literatur zahlreiche Anmerkungen. Der Tenor ist immer der gleiche. Er wäre ein Bohemien gewesen – erinnern sich Zeitzeugen, sogar Frank Lloyd Wright muss das bekräftigen. Doch die Bezeichnung bleibt selten in ihrer Vieldeutigkeit stehen, sondern wird schnell präzisiert. Schindler sei nicht professionell genug gewesen, zu viele Frauengeschichten, zu oft mit den Frauen der Bauherren. Die wiederum waren zu oft Freunde, und Freunde von Freunden, und allesamt eigentlich Freunde seiner Frau Pauline. Allein die beiden Informationen zusammengenommen sind schon bildkräftig genug, aber dann folgen üblicherweise Ausführungen über Pauline Schindler. Sie sei die große Choreografin des Boheme-Lebensstils in der Kings Road gewesen, mit offener Beziehung, Open House an den Wochenenden für Künstler und Kreative, in allen Lebenslagen das Alternative und Neue fordernd. Trotzdem folgten bald die Trennung von Rudolf Schindler und schließlich die Scheidung. Abgerundet wird dieses Boheme-Bild meist durch einen Vergleich mit Richard Neutra, dem Wohnnachbar in der Kings Road. Der habe immer hart gearbeitet, bis spät in die Nacht, gestört vom Lärm der Schindler’schen Spaßgesellschaft nebenan. Neutra habe außerdem professionell Projekte akquiriert, vor allem große und wichtige Bauaufgaben angestrebt, generell ständig nach Höherem gestrebt, unterstützt von seiner Frau Dione, die wiederum als brav-verklemmter Gegencharakter zu Pauline Schindler beschrieben wird, verstört bis gequält von den alternativen Ideen ihrer Hausnachbarin. Architekten sind Menschen, und über jeden gibt es etwas zu erzählen, von manchen weiß man mehr, von anderen weniger. Aber wozu werden Schindler und Neutra immer in diesen gleichen Charakterbildern porträtiert? Der eine hochprofessionell, der andere ganz und gar nicht. Was ist der konstruktive Anteil dieser Charaktergegenüberstellung? Die Information, dass man als Architekt besser nicht mit den Frauen seiner Bauherren flirtet, ist zu banal, um die Geschichten zu rechtfertigen. Die Information, dass man mit professioneller Herangehensweise nach professionellen Maßstäben mehr Erfolg hat, ist genauso banal. Oder wird 161

gar eine kosmische Gerechtigkeit bestätigt? Der eine hat halt mehr Spaß im Leben, der andere dafür mehr Erfolg bei der Arbeit? Auch banal. Worum geht es also? Letztlich wird hier ein Scheingefecht zur Ablenkung inszeniert – von Architekten für Architekten. Denn die eigentliche Schlüsselfigur in den Geschichten ist weder Rudolph Schindler noch Richard Neutra, sondern die affektive Aktivistin Pauline Schindler. Wenn ihr Lebensstil wirklich so ausufernd alternativ gewesen sein sollte, wie beschrieben, dann hätte sie als einzige den systemisch richtigen Weg in die Moderne beschritten. Die Moderne kann nicht als neue Architekturwirklichkeit antreten, ohne das Format des Architekten ebenfalls neu zu formieren. In Entwurfsvokabeln ausgedrückt: Jede kategorisch neue Architektur muss das Architektsein ebenfalls neu entwerfen, der wichtigste Entwurf ist der Selbstentwurf.25 Doch woher sollte der neue Architektenentwurf kommen, wenn nicht aus alternativen Versuchsreihen aus dem Privaten heraus, noch lange bevor Architektur als professioneller Auftrag dazukommt. Eine andere Ressource für die Neufindung gibt es nicht. Die strategische Klugheit von Pauline Schindler besteht darin, genau solche Versuchsreihen zur Selbstfindung zu initiieren und weit über die Penetranzgrenze hinaus zu forcieren. Und sie hat diese Versuchsreihen ganz bewusst nicht als isolationistische Exerzitien orchestriert, sondern als Begegnungsworkshops mit anderen. Sie macht Kings Road zum Gästehaus, zur offenen Ideenbühne und zum kollektiven Soziallabor. Erst in dieser Mannigfaltigkeit besteht die Chance, dass aus den flottierenden Selbstentwürfen einzelner Individuen der neue Selbstentwurf einer ganzen Generation kondensiert wird. Zwei Begriffsdefinitionen von Niklas Luhmann bestätigen Pauline Schindlers Praxis: „Im Begriff der Produktion ist enthalten, dass man es in der klassischen Sprache nicht mit ‚creatio‘, mit Schöpfung von allem, was notwendig ist, zu tun hat, sondern nur mit Produktion, das heißt mit dem Hervorbringen aus einem Bedingungskontext, der sowieso da ist und unterstellt werden kann.“26 In Luhmanns Definition werden zwei Ebenen des Hervorbringens unterschieden. Produktion findet innerhalb eines bestehenden Kontextes statt, während Schöpfung den Kontext miterfinden muss oder darf. Schöpfung ist also eine kreative Ebene über der Produktion oder eine 25 Vgl. Wolfgang Koelbl. Architektur-Innereien. Über Innovation, Pornografisierung und renitente Amateure. Ritter Verlag. 2004 26 Niklas Luhmann. Einführung in die Systemtheorie. Carl-Auer Systeme Verlag. 2002. Seite 111, 112

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Produktion zweiter Ordnung. Jetzt würden viele Architekten schnell beipflichten, dass damit exakt ihr tägliches Problem beschrieben ist. Während sie nach bestem Wissen schöpferisch tätig werden wollen, werden sie von den Regeln der Branche und des Auftragsumfelds inklusive Nutzer in die devote Produktionshaltung gezwungen. Darin spiegelt sich das Wunschbild des souveränen Architekten, der idealerweise nur der eigenen Expertise vertraut. Der juristische Sprachgebrauch bestätigt diesen stolzen Anspruch, wenn Architektur generell als geistig-schöpferische Tätigkeit bezeichnet wird. Doch diese stolze Haltung ist Selbstbetrug. Der gegebene Kontext der Architekturarbeit ist zuallererst der Architekt selbst. Architekt ist als symbolisches Mandat immer auf das gerichtet, was es als solches definiert, die Standesregeln, die Wertschätzung der Kollegen, das Urteil der Fachpresse, die momentanen Moden und Gepflogenheiten. In der Person des Architekten gerinnt all das erst zu jenem zähen Filz, der jede kategorische Innovation verunmöglicht. Es sind nicht die Bauherren, Nutzer, Rechtsregeln und knappen Budgets, die Architekturarbeit monoton und absehbar machen, es sind die Architekten selbst. Genauso wie der Raum die freie Luft verweigern muss, um als Raum konstituiert zu bleiben, so muss auch der Architekt auf das freie Denken und Handeln verzichten, weil er sonst sein Architektsein riskiert. An diesem Punkt werden nun Pauline Schindlers aktivistische Störungsmanöver zum Selbsttest für jeden Architekten, nicht nur für die Mitbewohner Rudolph Schindler und Richard Neutra. Große Innovation ist ebenfalls Exaltation, ein Übersteigen der aktuellen Disziplin und daher ein Übersteigen des eigenen aktuellen Architektseins. Denn egal wie gut ausgebildet, engagiert und ambitioniert ein Architekt auch ist, die große Befreiung durch Exaltation ist innerhalb des aktuellen Architektseins nicht zu haben. Auf die initiale Frage, welchen Ballast Architektur abwerfen muss, um in die rettende Luft zu kommen, ist das der unvermutet schwerste Verzicht. Der Architekt, der man gerade ist, muss immer wieder unten stehen gelassen werden, um das Fortschrittsprojekt der Moderne tatsächlich einzulösen. Aus professioneller Perspektive ist diese Aufforderung zur Selbstweglegung doppelt zermürbend, weil damit nicht nur die Disziplin, sondern auch die Kategorie Architekt nicht mehr stabilisierbar ist. Wie soll man ein professionelles Mandat einnehmen und behaupten, wenn man 163

ständig auf der privat affektiven Ebene herausgefordert und womöglich übertroffen wird. Man plant nach bestem Wissen, aber die eigene private Eingebung ist schlichtweg unzufrieden, sogar unglücklich mit dem Resultat, oder hört wie Pauline Schindler immer noch nicht auf, nach dem Neuen zu suchen. Die defensive Lösung wäre, das Private in seinem Einfluss zu beschränken und die Architektur als Disziplin hermetischer zu fassen. Das hat die Moderne bald erkannt und praktiziert, vor allem die Hochmoderne hat die professionelle Hermetik nahezu perfektioniert. Das Private innerhalb der Architektur wird dabei abstrahiert, verdurchschnittlicht und funktionalisiert. Gleichzeitig wird auch der Architekt als höchster Vertreter der Disziplin hermetischer gefasst. Die Hochmoderne anerkennt keine schläfrigen Aussteiger wie den Privatmann Schindler. Die Hochmoderne lässt sich nicht durch aktivistische Selbstfindungspartys wie bei Pauline Schindler überschreiten. Die zweifelnden Jungarchitekten der früheren Moderne müssen sich bald als White Gods kritisieren lassen, denen man außer stilistischer Strenge keine private Leidenschaft mehr zutraut.27 Ein Vorwurf, der Rudolph Schindler nie betroffen hat. Er war nie ein abgehobener White God der Moderne. Er war zu Lebzeiten auch nicht berühmt genug, um sich diesen erlesenen Vorwurf zu verdienen – wird man vielleicht einwenden. Es könnte aber auch sein, dass Grund und Ursache umgekehrt zu reihen sind. Schindler ist womöglich nie in die abgehobene Szene der White Gods aufgenommen worden, eben weil er sich dank Paulines Einfluss nie in professionelle Hermetik verrannt hat. Dass es der Moderne insgesamt nicht gelungen ist, die professionelle Hermetik zu vermeiden und stattdessen eine dauerhafte Offenheit zu etablieren, ist eine historische Tatsache und eine vergebene Chance zugleich. Die Postmoderne wird die professionelle Hermetik der Moderne jedenfalls korrigieren und die Begehrlichkeiten des Privaten sehr wohl als Gegenexperiment rehabilitieren. Bei genauer Sichtung allerdings nur als Belastungszeuge gegen die Moderne und nicht als Argument gegen das eigene postmoderne Selbstverständnis. Die Postmoderne erfindet sogar noch einen Trick, um das vermeintlich störrische Private doch noch in den Dienst des Professionellen zu stellen. Wie das geht, 27 Tom Wolfe. From Bauhaus to Our House. Bantam Books. 1999. Seite 35

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lernt man heute in jedem Seminar über Vortragstechnik. Man möge das Publikum doch bitte mit einer inspirierenden Fabel aus seinem privaten Leben für die folgenden professionellen Inhalte begeistern. Organisationstheoretiker werden zustimmen. Wenn eine Branche Neuland betritt, dann gibt es in diesem Neuland noch keine professionellen Instanzen, die Erwartungssicherheit fundieren können. Letztlich bleibt also nur die Privatperson als Bürge für den richtigen Weg, und diese Bürgschaft wird dann mit der immer gleichen Geschichte belegt. Die Privatperson leistet sich eine Normabweichung, die sich aber letztlich als richtig, wichtig, zukunftsfähig erweist und für das Professionelle den neuen Standard setzt. Das Private war also wieder einmal klüger als das Professionelle. Organisationstheoretisch ist das sogar die Definition für die Chefrolle in einem Betrieb.28 Je höher die Managementebene, desto freier darf gegen die Regeln entschieden werden. Die höchste Ebene ist überhaupt nur noch für den Regelverstoß zuständig, heute nennt man das kreative Zerstörung. Die unteren Hierarchieebenen müssen hingegen Dienst nach Vorschrift machen. Jedes Architekturbüro ist im Prinzip nach dieser Kreativhierarchie organisiert. Jede private Inspiration des Chefs hat das Potenzial, professionelle Projektleitlinie zu werden. Jede private Inspiration auf der unteren, ausführenden Ebene hat zu unterbleiben, weil damit die Professionalität des gesamten Büros gefährdet wird. Man merkt an dieser hierarchischen Zuweisung des privaten Gegenexperiments schnell, wo das systemische Dilemma liegt. Solange das Private im konstruktiven Dienst des Unternehmens arbeitet, taugt es nicht als gleichberechtigtes Gegenexperiment. Ganz so billig lässt sich das private Gegenexperiment eben nicht einlösen. Laughlin ist auch von der Postmoderne unbedingt wörtlich zu nehmen: Was ist meine Lieblingsidee, und „mit welchem Experiment könnte ich beweisen, dass meine Lieblingsidee falsch ist“?29 Das Gegenexperiment muss also jedes Mal bis zur fundamentalen Opposition nachgeschärft werden – und Laughlin 28 „Der infinite Regreß […] betrifft dann den Versuch, die Paradoxie einer Regel, die sich durch Ausnahmeregelungen gegen die eigene Zerstörung abzusichern versucht, in eine Ebenenhierarchie aufzulösen: Regeln, Ausnahmeregeln, Ausnahmen von den Ausnahmen und so fort. […] Für die Ausnahmefälle und nur für sie wird das höhere Management zuständig gemacht. Man sieht leicht, dass dann der drohende unendliche Regreß nur pragmatisch-dezisionistisch abgebrochen wird.“ Günther Ortmann. Regel und Ausnahme. Paradoxien sozialer Ordnung. Suhrkamp Verlag. 2003. Seite 79 29 Robert Laughlin. In: Johann Grolle, Hilmar Schmund, Robert Laughlin. „Der Urknall ist nur Marketing“. https://www.spiegel.de/spiegel/print/d-55231886.html. 02.01.2008

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benennt auch klar den Parameter, der die Schärfe beweist. Das private Gegenexperiment ist nur dann scharf gestellt, wenn man damit seine professionelle Karriere riskiert. Rückgewendet auf das Unternehmen Architekturdisziplin folgt daraus, dass die Postmoderne letztlich die gleiche Erfahrung machen muss wie die Moderne. Auch die Postmoderne wird von Amateuren, Aussteigern, Individualisten beschämt, die aus ihrer privaten Lebenssituation heraus radikalere, relevantere, zukunftsweisendere postmoderne Projekte realisieren. Zusammengefasst unter dem Begriff Architektur ohne Architekten ist aus diesen Privatprojekten ein bekannter, aber gefürchteter Terminus geworden.30 Ein immer deutlicher sichtbares Gegenexperiment, das wie eine utopische Parallelwelt laufend Kriterien für Fundamentalkritik liefert und damit die professionelle Hermetik der Architekturdisziplin erst sichtbar macht.31 Die abschließende, motivatorische Frage wäre noch, wie man einen modernen oder postmodernen Architekten davon überzeugen könnte, den schweren Verzicht auf die professionelle Hermetik zu leisten. Die Antwort darauf ist überraschend simpel. Professionelle Entscheidungen altern irgendwann, weil sich die Branche und ihre Regeln ändern und entsprechende Altersringe ansetzen. Jedes professionelle Architekturprojekt erbt diese Vergänglichkeit. Privat inspirierte Architekturprojekte sind hingegen zeitlos, sie altern nicht – ganz einfach weil sich das Portfolio der privaten Motivationen nicht verändert. Das Private ist zwar nie besonders neu, aber dennoch immer aktuell. Diesen Effekt kann man besichtigend testen. Je professioneller eine Architektur entstanden ist, desto deutlicher kann man sie zeitlich zuordnen. Im Gegensatz dazu erkennt man die hohe private Motivation hinter der Architektur des Schindler House in der Kings Road daran, dass es von allen SchindlerBauten am wenigsten gealtert ist. Und es geht noch zeitloser. Schindler und Clyde Chace beginnen Ende 1921 ihr Haus zu bauen, Simon Rodia beginnt ebenfalls 1921 seine Türme in Watts zu errichten. Ein ausschließlich privates, in seiner 30 Bernard Rudofsky. Architektur ohne Architekten – Eine Einführung in die anonyme Architektur. Residenz Verlag. 1989 31 „Denn darin besteht ja die Funktion von Utopie, Maßstäbe bereitszustellen, die eine Kritik legitimieren.“ Christian Lavagno. Rekonstruktion der Moderne. Eine Studie zu Habermas und Foucault. LIT Verlag. 2003. Seite 208

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eigentlichen Motivation letztlich unergründliches Projekt. 33 Jahre baut Rodia daran, das Ergebnis ist absolut einzigartig und zeitlos. Die Watts Towers werden 1977 als Baudenkmal im National Register of Historic Places gelistet, nur 6 Jahre nach Schindlers Haus in der Kings Road. Erstaunlich, vor allem wenn man bedenkt, was alles aus dieser Zeit noch immer nicht gelistet ist. Der Vergleich der Publikumswirksamkeit fällt schließlich noch deutlicher aus. Die Watts Towers sind eine der TopArchitekturdestination in Los Angeles, das Haus in der Kings Road ist nur unter Architekten ein Begriff.

Guter Ebenenstapel In nachträglichen Besprechungen des Schindler House in der Kings Road findet sich der Hinweis, dass die beiden offenen Schlafkörbe auf dem Dach doch kein so großer Erfolg waren. Vielleicht hat Rudolph Schindler nur die Freundlichkeit des Klimas überschätzt. Zwei gescheiterte Schlafkörbe sind aber noch kein Grund, die Idee der Exaltation in der Architektur zu verwerfen. Trotzdem kann man den mangelnden Erfolg für eine generell kritische Nachfrage nutzen: Wenn die Exaltation misslingt, fällt man in genau jene Ausgangskondition zurück, der man eigentlich entkommen wollte – einfacher Fall. Wenn die Exaltation aber sehr wohl gelingt, wohin gelangt man dann? Was passiert denn, wenn man alles abgeworfen hat und endlich in exaltierte Höhen aufgestiegen ist, jenseits der schwerfälligen Raumarchitektur, jenseits des schwerfälligen Selbstverständnisses als Architekt? Was ist der konkrete Gewinn? Die Angst vor dem Versinken im Boden und die Angst vor dem Versinken in den Standesregeln sind gründlich wegtherapiert. Das darf man nicht vergessen. Aber um welchen Preis? Zuerst wird wild nach oben gedrängt und sukzessive alles abgeworfen, was bislang den inneren Qualitätsbestand der Architektur ausgemacht hat: der Raum, die Raumarchitektur, der Glaube an ein dreidimensionales Raumerleben, der Glaube an ein professionelles Mandat als Architekt. Architektur muss immer mehr ihrer akkumulierten Kernkompetenzen regelrecht als Treibstoff verbrennen, um entgegen ihrer eigentlichen Natur doch in die Luft zu gelangen. Irgendwann steht dann sogar die praktische Vernunft zur Disposition, denn die Ausdünnung der Architektur durch Exaltation führt ja in letzter Konsequenz nicht zu einer besseren Architektur, 167

sondern befeuert tatsächlich nur einen Fluchtaffekt. Das bedeutet, Exaltation befreit sich am Ende sogar vom Gelingen. Der Misserfolg der Schlafkörbe ist also kein singulärer Ausrutscher, sondern systemisch. Exaltierte Architektur endet immer als peinliches Desaster und dieses peinliche Finale darf man gern verinnerlichen, denn es betrifft genauso den hinaufexaltierten Menschen. Nicht nur Schindlers Schlafkorb ist ein windiges, wackeliges Gestell ohne Halt und Stand, auch die Person, die man dort oben exponiert, wird unweigerlich zur windigen und wackeligen Gestalt. Spätestens an diesem Punkt muss man den generellen Zweifel an der Exaltation auf das private Gegenexperiment ausweiten. Die private Einschätzung von Architektur mag eine wichtige Gegenmeinung zur professionellen Einschätzung von Architektur darstellen, aber das bedeutet noch lange nicht, dass das Private immer recht hat, und es bedeutet noch weniger, dass dem Privaten immer zu trauen ist. Die vielfache Lebenspraxis bestätigt ja eher das Gegenteil. Viele Menschen richten sich erst im Korsett ihres beruflichen Mandats zu einem konstruktiven Ich auf. Die Exaltation ist aber die mutwillige Entkleidung von derartigen Haltekonstruktionen und das Ergebnis meist wieder das bekannte peinliche Desaster. Doch je öfter man dieser Peinlichkeit begegnet, desto klarer wird, dass hier vor allem ein Übertritt markiert wird. Exaltation ist ja erst dann glaubwürdig, wenn auch die alten Wertkategorien zurückgelassen werden. Peinlich erscheint also alles, was mit den bisherigen Wertkategorien nicht auflösbar ist. Schindlers Schlafkörbe wirken nur aus der Perspektive einer hochentwickelten Raumarchitektur abgewrackt, und dass man dort nicht wirklich schlafen konnte, stört nur die Funktionalisten. Als Exaltationsarchitektur sind die Schlafkörbe aber gerade wegen ihres multiplen Versagens erfolgreich. Die Irrationalitäten des Privaten sind ebenfalls nur aus der Perspektive einer professionellen Verfasstheit peinlich. Für ein herausforderndes Gegenexperiment ist Peinlichkeit jedoch kein Nachteil, ganz im Gegenteil, weil peinliche Entblößung oft Befreiung bedeutet. Damit wird langsam die adulte Dimension der Exaltation deutlich. Das Es-ist-nicht-genug verdichtet sich zur strategischen Trotzigkeit. Die Flucht hinauf in die Luft wird konsolidiert, indem auf der Luft als eigenständiger Destination mit eigenständigen Wertkategorien beharrt wird. Die anfänglich nur affektive Demontage klassischer Architekturkompetenzen wird zu einem generellen alternativen Qualitätsverständnis von Architektur ausgeweitet. 168

Schindler selbst hat diesen Übergang von der anekdotischen Flucht hin zur konsolidierten Opposition schnell vollzogen. Nach seinem ersten, etwas marginalen Exaltationsversuch in der Kings Road realisiert er schon wenige Jahre später mit dem Lovell Beach House eine Exaltation als eigenständige Destination. Das Haus steht in Newport Beach, in den südlichen Ausläufern von Los Angeles direkt am Strand, geplant und gebaut von 1922 bis 1926. Der Auftraggeber war Dr. Philip M. Lovell, ein Arzt mit Ambition. Zentrales Motiv des Projekts war gesundes Wohnen mit allen Detailaspekten. Luft, Luft und noch mehr Luft – muss das wohl wieder für Schindler bedeutet haben. Und tatsächlich wird der Schlafkorb von Kings Road zum Modell für die gesamte architektonische Konzeption, lediglich um eine Dimension vergrößert. Der Schlafkorb ist ein abgewrackter Raum in Exaltation, das Lovell Beach House ist ein ganzes abgewracktes Haus in Exaltation. In Kings Road wird ein Schlafkorb in die Luft gehalten, mit Lovell Beach House wird ein ganzes Haus neurotisch in die Luft gestemmt. Wieder hat man ein ungelenk anmutendes Rahmengstell mit lapidaren Füllungen vor Augen. Doch diesmal skizziert das Rahmengestell das gesamte Haus in die Luft. Natürlich sind die Füllungen diesmal raumbildender oder zumindest raumzitierender, aber so untergeordnet, dass sie die Idee der gesamtheitlichen Exaltation nicht opponieren. Im zweiten Obergeschoss, vor den auskragenden Schlafkabinen, sind außerdem offene Sleeping Porches angefügt, um die Schlafenden noch ein Stück weiter in die Atmosphäre hinauszuhalten. Eine iterative Exaltation also und gleichzeitig ein Zitat aus Kings Road in einem Haus, das insgesamt als groß gewordenes Zitat aus Kings Road dasteht. Postmoderner Sonderapplaus garantiert. Schindler macht aber noch entscheidend mehr, als nur das Gestellmotiv um eine Dimension zu vergrößern. Der Übergang von einer Exaltation als Versuch zu einer Exaltation als Destination verlangt nach einer eigenen architektonischen Äußerung, und so malt Schindler wie mit einem übergroßen Textmarker dicke weiße Geschossebenen über das Rahmengestell des Hauses. Damit wird die wackelige Anmutung zum Hintergrundflimmern, das Beharren auf einem Leben in der Luft aber zur manifesten Demonstration. Hier schwebt neuer Boden über dem Boden. Eine robuste formale Geste, die eine ebenso robuste architektonische Idee herausstreicht. Wer mit dem, was er am Boden vorfindet, nicht glücklich wird, muss nur eine schwebende Geschossebene über dem Boden montieren und kann darauf machen, was er will. Ebenerdig ist 169

diese Freiheit nicht wirklich einlösbar, weil sie nur durch Verdrängung des Bestehenden herstellbar ist. Soll heißen: Ebenerdig kann man sich von allem distanzieren, nur nicht vom Verdrängungskonflikt selbst. Der ist unausweichlich. Doch egal, was einen am Boden quält und bedrängt, ab dem ersten Geschoss ist die Freiheit garantiert. Zwischendurch-Zweifel: Die Exaltation ist die große Anstiftung zur befreienden Distanzierung, man kann jetzt sogar die Regionen des Peinlichen, des Nicht-Professionellen und Nicht-Gelingens beschreiten. Aber kann man ernsthaft die Erfindung des ersten Stocks zum architekturgeschichtlich besonderen Moment erklären? Ja, man muss sogar. Die Erfindung des ersten Stocks ist nicht weniger als Weltproduktion. Die unausweichliche Welt, die man unter den Füßen vorfindet, bekommt jetzt endlich eine substanzielle Alternative. Es lohnt sich tatsächlich, hier eine neue Perspektive einzunehmen, denn auch im konkret Szenischen passiert Erstaunliches. Der erste Stock ist eine gigantische Absurdität der Landschaft gegenüber, weil sie abschnittsweise nach oben hin verdoppelt wird. Als würde sich die Landschaft häuten und damit laufend multiplizieren. Im Idealfall fließt die gegebene Landschaft einfach unter den Stockwerken hindurch, ohne die abgehobenen Alternativen zu stören. Als erste Referenz zu dieser Befreiung durch Weltverdoppelung wird einem dennoch Le Corbusiers Dom-Ino House einfallen. 1914 konzipiert, also ein Jahrzehnt vor dem Lovell Beach Haus, zeigt es nackte schwebende Ebenen auf Stützen, fertig für jeden beliebigen Ausbau. Die ursprüngliche Intention war, ein System für den Wiederaufbau von Kriegsschäden aus dem beginnenden Ersten Weltkrieg zu entwickeln. Exaltation war in dieser Notprojektierung noch kein dringendes Thema. Der erste tatsächliche Ausbau war 1916 die Villa Schwob, eine klassizistische Architektur mit enormer Erdschwere und nicht der geringsten Andeutung von Exaltation. Le Corbusier ging es bei Dom-Ino also insgesamt nicht um Exaltation, sondern vor allem um die konstruktiv-strukturelle Modernisierung des Bauens. Das Potenzial für Exaltation, das zweifellos in der Dom-Ino-Konfiguration steckt, wurde erst sukzessive gehoben: Maison Cook 1926, Weißenhofsiedlung 1927 und demonstrativ sichtbar erst 1930 bei der Villa Savoye. Der Vorteil des langsamen Aufstiegs in die Höhe ist die formale Kontrolliertheit. Die Villa Savoye ist auf allen Entwurfsebenen durchkomponiert, stilgewordene Moderne. Das Lovell Beach House hingegen wirkt heute noch wild, affektiv, ungeschliffen. Schindler hatte einen viel stürmischeren Drang nach oben und agiert 170

daher noch vor der Stilwerdung der Moderne. Das macht das Lovell Beach House zum deutlicheren Wegmarker für den Exaltationsanspruch der Moderne. Das nächstgelegene Referenzprojekt für selbstbewusst hochgestapelte Geschossebenen wird Fallingwater von Frank Lloyd Wright sein, 10 Jahre nach dem Lovell Beach House gebaut. Doch bei Wright wird die Betonung der schwebenden Ebenen eine Kompensation für den darunterliegenden Abbruch des Geländes bedeuten. Beim Lovell Beach House aber richtet sich der Ebenenstapel gegen Wright, denn das Lovell Beach House will keine Präriearchitektur mehr sein. Noch in der Kings Road hatte Schindler das konsequenteste Präriehaus seiner Zeit gebaut, eingelegt in die umgebende Landschaft, doch schon wenige Jahre später steigt er demonstrativ aus der Prärie aus und etabliert seine eigene architektonische Landschaft in Form schwebender Ebenen. Die Architektur soll sich nicht mehr anbiedernd in die Landschaft legen, sondern wird insgesamt zum abgehobenen Widerstandsprojekt. Ein besonderer, gleichermaßen brutaler Moment in den frühen Jahren der noch jungen modernen Bewegung in Los Angeles, denn Schindler richtet damit die Exaltation als autoaggressive Kraft gegen das erste projektive Layout der Moderne. Plötzlich wird sogar Wrights Präriearchitektur überschritten und als nicht mehr modern genug unten zurückgelassen. In diese befreite Euphorie hinein wird mancher dennoch einwenden, dass die Moderne den ersten Stock nicht erfunden hat, und Schindler hat man dazu im Speziellen genauso wenig gebraucht. Schon die Bezeichnung Beletage beweist, dass man schon vor Jahrhunderten bestimmte Architekturen von der Abgehobenheit aus konzipiert hat. Ein schwebendes Geschoss für die bessere Gesellschaft und unten auf ebener Erde die schlechtergestellte Gesellschaft, die der abgehobenen Welt zu Diensten ist, egal ob als Personal im Haus oder als Untertanenvolk im weiteren Umfeld. Auch bei dieser Aufstellung kann man von einem Haus ohne Erdgeschoss sprechen, weil zumindest soziologisch die umgebende Landschaft unter der Beletage ununterbrochen durchläuft. Diese soziale Stapelung hat sogar ihren Weg in die Moderne gefunden. Auch Le Corbusier lässt die Dienstboten gern im Erdgeschoss wohnen, neben Garage oder Abstellraum, und hebt die eigentliche Bauherrenschaft in die Beletage hinauf. Doch trotz der traditionellen Beletage-Architekturen macht es Sinn, die Idee der Kontingenz durch Abgehobenheit der Moderne zuzurechnen, weil diese Idee nie zuvor zum multiplen Ebenenstapel 171

gesteigert worden ist. Die Moderne verspricht Beletage für jedermann. Die Relation Boden – Beletage wird zur Mannigfaltigkeit ausgebaut, hinauf in absurde Höhen. Geschoss für Geschoss für Geschoss kann man jetzt eine Alternative über die andere türmen und jedes der Geschosse etabliert seine eigene architektonische Wahrheit. Rem Koolhaas hat in seinem Buch Delirious New York den Downtown Athletic Club in New York als Ikone dieser fantastischen vertikalen Multiplikation auserwählt, weil darin Sportaktivitäten in bis dahin einzigartiger Gelassenheit übereinandergestapelt worden sind; gebaut 1930 von Starrett & van Vleck, also nur wenige Jahre nach dem Lovell Beach House. Auffällig ist allerdings, wie unauffällig diese fantastische Stapelung äußerlich hinter einer homogenen Hüllfassade versteckt wurde. War man sich der Dramatik dieser Idee nicht bewusst – oder wollte man sie nicht extra theatralisch betonen? 1965 war Albert C. Martin Jr. bei der Errichtung des Los Angeles Department of Water and Power General Office Building wesentlich weniger zurückhaltend. 17 Geschosse wurden in die Höhe gestapelt und jede Hauptgeschossdecke kragt mehrere Meter über die umlaufende Fassade aus, in provokantem Weiß vor dem dunklen Hintergrund strahlend. Mehr Gestaltung gibt es nicht, International Style in Bestform. Nie zuvor war multiples Schweben so selbstverständlich. Ein Hubschrauberlandeplatz auf dem Dach ist zwar in Downtown Los Angeles keine Seltenheit, aber nirgendwo so konzeptrichtig wie hier. Man hört förmlich die aufgeregte Nachfrage: Ist die Architektur mit diesen Ebenenstapeln nicht mutwillig ärmer gemacht worden? Schön, dass damit multiple Kontingenz in die Welt kommt, aber wird hier nicht die gedankenloseste Architektur schöngeredet, die jemals erfunden worden ist? Und vor allem: Sollen die stupiden Ebenenstapel womöglich als Ersatz für die suspendierte Räumlichkeit in der Architektur akzeptiert werden? In diagonaler Nachbarschaft zum Los Angeles Department of Water and Power General Office Building steht die Walt Disney Concert Hall von Frank Gehry. Man kann sich also direkt vor Ort der vergleichenden Frage stellen, worin man mehr architektonisches Potenzial vermutet, in raumdramaturgischem Überschwang oder im flotten Ebenenstapeln? Doch gerade jetzt der Räumlichkeit hinterherzutrauern, ist falsch, denn die Verdopplung durch zusätzliche Ebenen ist das viel größere Werkzeug mit der viel größeren Wirkung. Es ist eine bemerkenswerte Ironie der Geschichte, dass diese Strategie der Verdoppelung nach oben hin bereits 172

als Rettung des Schindler House in der Kings Road vorgeschlagen worden ist. Das Haus war bei der Errichtung noch ein einsames Ereignis in der Umgebung, doch mittlerweile ist die Liegenschaft eine dünn bebaute Oase in einem städtisch dicht entwickelten Umfeld. Die Begehrlichkeiten, das Schindler House abzubrechen, um das Grundstück ebenfalls dichter bebauen zu können, sind drängend. Im Jahr 2003 fand deshalb ein Ideenwettbewerb statt, der ein Entwicklungsszenario für den Standort mit Rücksichtnahme auf das Schindler House aufzeigen sollte. Aus den Wettbewerbsbeiträgen sticht vor allem das Projekt von The Next Enterprise hervor. Gerade so wie Schindler die beiden Schlafkörbe auf das Dach seines Hauses hinaufgehoben hatte, heben The Next Enterprise das gesamte Schindler House auf das Dach eines darunter neu zu errichtenden Gebäudekomplexes. Die vorgeschlagene Rettung des Schindler House besteht also wieder in einer Exaltation, „um dem bereits bedrängten Schindler’s Paradise wieder Luft zum Atmen zu verschaffen“.32 Eine schlüssige Strategie, aber doch ungewöhnlich für die Autoren des Projekts. Ausgerechnet The Next Enterprise entwerfen sonst raumdramaturgisch aufwendige Architekturen und tun das auch hier für das neue Sockelgebäude. Aber das Schindler House rettet nicht die darunter vorgeschlagene Raumarchitektur, sondern ausschließlich eine in die Luft gehobene, banale Dachebene, auf der das Schindler House als mahnende Alternative zu den Raumverhältnissen darunter thront. Ein fiktives Projekt, ein ironisches Projekt und ein viel zu marginales Projekt, um der raumverliebten Architekturfraktion die vielen unreflektierten Ebenenstapel der Moderne schmackhaft zu machen – aber immerhin der wertvolle Nachweis, dass es im Ernstfall auch den guten Ebenenstapel geben kann. Die Geschichte über Schindler und seine Exaltationsarchitektur wäre aber nicht komplett ohne eine biografische Anfügung. Schindler lässt beim Lovell Beach House nämlich nicht nur Wrights Prärieidee unten zurück, er lässt auch seinen Freund Richard Neutra unten zurück. Der war gerade in Los Angeles angekommen und in Kings Road bei Schindler 32 „Wie kann sich das Schindlergrundstück aus der Abhängigkeit des [andrängenden] Umfelds lösen? […] Für uns die Kernfrage, um dem bereits bedrängtem Schindler’s Paradise wieder Luft zum Atmen zu verschaffen. Im Sinne Münchhausens entwickelten wir folgende Strategie der Selbstrettung. Um Schindler’s Paradise zu retten, schlagen wir vor, das ganze Grundstück mit Haus und Garten um ca. 12 m anzuheben. Das in Folge freiwerdende Volumen unter dem angehobenen Grundstück soll für die Finanzierung des Bauvorhabens Preserve Schindler’s Paradise verwertet werden.“ The Next Enterprise. „Schindler’s Paradise.“ http://www.thenextenterprise.at. 01.12.2012

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eingezogen, hatte aber keine Arbeit. Schindler bot ihm also an, den Garten rund um das Lovell Beach House zu planen. Den Garten? Schindler entdeckt Architektur als exaltierte Widerstandskonstruktion gegen die vorgefundenen Prärieverhältnisse und befördert damit auch seinen architektonischen Fokus in die Luft hinauf; doch Neutra, sein Freund, soll dafür die zurückgelassene Prärie mit Pflanzen behübschen? Neutra hatte nach dem Krieg Lehrjahre in Zürich in einer Landschaftsgärtnerei absolviert – vom Bombardieren zum Begrünen. Ihm waren solche Aufgaben also nicht fremd. Aber das ist nicht der kritische Punkt. Entscheidend ist, dass hier die große Hoffnung begraben wird, die Moderne könnte eine vereinigende absolute Kategorie sein. Das Gegenteil ist der Fall. Das Es-ist-nicht-genug entsolidarisiert die Moderne und teilt ihre Vertreter in Vorauseilende und Zurückfallende, in Aufsteigende und Untengebliebene. Man erinnert sich sofort an Neutras prägnante Positionsbeschreibung die Einwanderer in den USA betreffend. Für ihn „schienen sie auf einer völlig anderen Ebene zu leben […] sozusagen im Keller“, während Wrights Moderne bereits in der offenen Prärie unterwegs war.33 Oben und unten sind für Neutra also deutlich mehr als nur Positionsbeschreibungen, es sind Schicksalskoordinaten. Doch hier, in Relation zum exaltierten Lovell Beach House, ist Neutra plötzlich selbst der unten abgestellte Einwanderer in den USA. Und beim Gärtnern am Boden wird ihm präsent gewesen sein, dass Karriere ebenfalls eine Exaltation ist, eine erlösende Flucht aus den gegebenen Verhältnissen. Schindler schien mit dem Lovell Beach House auf einer höheren Ebene angekommen zu sein, Neutra noch nicht. Für ambitionierte Jungarchitekten ist das kein kleiner Unterschied, vor allem weil Ehrgeiz ein höchst privat-narzisstisches Motiv ist, das sich durch professionelle Vernunft oder Geduld nicht beschwichtigen lässt. Es ist nicht überliefert, ob der große Streit zwischen Neutra und Schindler schon an der höchst ungleichen Arbeitsteilung am Lovell Beach House begann. Wohl noch nicht, aber das änderte sich sehr bald, denn der nächste Planungsauftrag des ambitionierten Dr. Lovell ging überraschenderweise an Neutra. Schindler habe den Auftrag zuerst erhalten, liest man. Kein Wunder, das Lovell Beach House war bestens gelungen, ein Folgeauftrag nur natürlich. Doch auf unschönen Umwegen sei dann plötzlich Neutra zu dem Auftrag gekommen. Jedenfalls ist 33 Richard Neutra. Auftrag für morgen. Claassen-Verlag. 1962. Seite 211

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spätestens nach dem heiklen Architektentausch der Streit unvermeidbar. Private Freundschaft kaputt, dafür beginnt Neutras Karriere als selbstständiger Architekt. Lovell Health House wird das neue Projekt heißen, eine programmatische Überbietung des Lovell Beach House. Schon die Wahl des Grundstücks ist eine Exaltation, das Haus wird hoch am Hügel liegen, streng, konsequent modern, aus Bauherrensicht nicht so liebenswürdig wie das Haus am Strand, und doch sofort international umjubelt. Nach Fertigstellung ist Neutra auf der ganzen Welt zu Vorträgen unterwegs, und das in wirtschaftlich schweren Zeiten. Erschöpft und weltberühmt kehrt er nach Los Angeles zurück. Wuchtiger kann der Erfolg einen jungen Architekten kaum in exaltierte Höhen heben, und damit deutet sich schon ein Positionswechsel gegenüber Schindler an. Der wird nach dem Lovell Beach House nie wieder so radikal modern bauen. Er wird zeitlebens zwar bekannt sein, aber stets im Schatten von Neutra stehen. Erst die Postmoderne verleiht Schindler mehr Gewicht und in den 1990er Jahren setzt ein breit getragenes Revival ein. Die übliche Erklärung für die späte Wertschätzung ist Schindlers weniger dogmatische Auslegung der Moderne – verglichen mit Neutra oder anderen frühen Modernen seiner Zeit. Dieser Unterschied in der Auslegung der Moderne hat natürlich auch die beiden Architekten selbst beschäftigt, wobei in ihren Kommentaren zur Arbeit des jeweils anderen professionelle und private Animositäten unsortiert ineinander laufen. Neutra hat Schindler in späteren Jahren als Nicht-ganz-Modernen bezeichnet, während umgekehrt Schindler eine unmenschliche Härte und Radikalität in Neutras Werk gelesen hat. Dieser jeweiligen Einschätzung hat sich die spätere Rezeption angeschlossen, doch ein wichtiges Detail in der vergleichenden Bewertung vergessen. Schindlers Haltung zur Moderne ist anschlussfähiger, weil er mit der Moderne selbst experimentiert und sie nicht als dogmatisches Bekenntnis praktiziert. Sein Repertoire reicht von radikaler Zuspitzung bis zu Distanzierung und Gegenexperiment. Das ist eine kategorisch höhere Stufe der Exaltation, weil sie eine generell aufhebende Wirkung entfaltet. Alles, wovon man sich distanzieren kann, wird plötzlich leicht. Es ist kein Absolutum mehr, sondern Option. Raum, Prärie, Moderne, Professionalität, Peinlichkeit – man kann einsteigen, aussteigen, anwenden und fallen lassen, je nach Belieben.

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Liaison mit der Elite Entlang des Oakfield Drive in den Bergen von Los Angeles stehen die Stone-Fisher Platform Houses. Der Name ist bereits die Kurzbeschreibung. An einem steilen Hang wurden horizontal auskragende Plattformen errichtet und darauf eingeschossige Präriehäuser abgestellt. Die Hanglage ist in keiner Weise in die Morphologie der Häuser eingearbeitet. Stattdessen ist das, was bei Takeshi Nakagawa fester Boden unter den Füßen war, zu einer provokant freischwebenden Platte geworden, nur um ein Präriehaus in eine fiktive Ebene hinauszuhalten. Ein grotesker Anblick. Aufdringlich noch dazu, denn die auskragenden Plattformen sind weithin sichtbar, ungelenk abgestützt gegen das steil abfallende Gelände, die Untersichten vollkommen roh und unbehandelt. Wollte man topografische Ignoranz zum architektonischen Konzept machen, man hätte hier ein Meisterwerk vor Augen. Die Stone-Fisher Platform Houses sind von Richard Neutra entworfen, obwohl er sie nachträglich aus seiner Werkbiografie gestrichen hat, wie sein Sohn Dion Neutra berichtet: „We originally designed these, but disavowed them when announced construction deficiencies were not addressed. Do not call these Neutra Projects! (They have since been bastardized by remodels anyway).“34 Baumängel also, dennoch auf den ersten Blick eine überraschende Weglegung, illustrieren die Plattformhäuser doch am plakativsten das Präriephantasma der Moderne, dem Neutra am Beginn seiner Karriere so zugetan war. Solange das Präriephantasma in tautologischer Eintracht lediglich die Ebenen des Mittleren Westens beansprucht, ist es als eigenständiges Konzept noch nicht sehr markant. Das ändert sich aber schlagartig, wenn das Präriephantasma auf die Bergketten von Los Angeles trifft. Da wird plötzlich ein Konflikt demonstrativ. Mitten am Hang ragen Präriehäuser in die Luft, die dort eigentlich nicht hingehören. Eine seltsame Exaltation, aber zulässig. Wie hieß es? Wer mit dem, was er am Boden vorfindet, nicht glücklich wird, muss nur eine schwebende Geschossebene über dem Boden montieren und kann darauf machen, was er will. Neutra tut genau das und stellt ein Präriehaus auf eine Schwebeebene. Theorieaffine Beobachter werden das wertschätzen, so sieht eben radikale Theorie aus – und so sieht leider auch schlechte Architektur aus. 34 Dion Neutra. In: Amir Zaki. „Neutra Disavowed“. In: Domus 885. Editoriale Domus. 2005. Seite 35

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Man kann es nicht charmanter sagen. Die Häuser sind grauenhaft. Dass Neutra diese Häuser wegen Baumängeln aus seiner Werkliste gestrichen hat, wirkt dabei wie ein rettender Zufall, denn bei nüchterner Betrachtung hätte ihm wohl jeder dringend abgeraten, mit diesen Häusern vor die Architekturöffentlichkeit zu treten. Die Bewertung von Architektur ist immer eine delikate, weil höchst subjektive Angelegenheit, doch bei Neutra ist vor allem der Selbstvergleich so eklatant. Wenn man die Stone-Fisher Platform Houses mit dem Lovell Health House vergleicht, kann man kaum glauben, dass für beide Projekte derselbe Architekt verantwortlich sein soll. Das Lovell Health House ist ebenfalls am Hang gelegen, vermag aber mit der Hanglage eloquent umzugehen. Anstatt trotzig das Gelände zu ignorieren, übersetzt es die gegebene Topografie in eine entsprechende Raumdramaturgie. Architektonisch eindeutig ein Gewinn. Der Vergleich der beiden Hangprojekte wird umso irritierender, wenn man die Entstehungsjahre vergleicht. Das Lovell Health House, einer von Neutras ersten selbstständigen Aufträgen in Los Angeles, wurde 1929 fertiggestellt. Die Stone-Fisher Platform Houses werden hingegen auf das Jahr 1961 datiert, sind also mehr als 30 Jahre später entstanden. Warum bemüht sich der junge Neutra um höchste raumdramaturgische Qualität, und warum widersetzt sich der fast 70 Jahre alte Neutra der von ihm gewohnten raumdramaturgischen Qualität? Reyner Banham versucht eine pragmatische Annäherung an derartige Architekturerscheinungen am Berg: „Whether it is the crudest dingbat or something much more sophisticated, the Angeleno house of the sixties has tended to be the house of a plainsman, not a mountaineer. The economics of its structural technology imply a flat building-surface, not a sloping one; and those economics are demanding enough to ensure that the site will be a flat one by some means or other.“35 Das bedeutet, die Prärie wird nicht aus theoretischen Motiven auf den Berg hinauf montiert, sondern weil die Prärie generell die billigere Lösung ist. Klingt nachvollziehbar, vor allem aus der Perspektive industrieller Vorfertigung. Das ist auch der Grund, warum das deplatzierte Präriehaus am Berg kein Einzelfall bleibt, sondern zum vollwertigen Modell für modernes Bauen am Hang wird. So oft angewandt, dass man von einer eigenen Hangtypologie, dem Stilt House, spricht. Manche alt gewordenen Stilt Houses aus den wilden Frühjahren der Moderne werden 35 Reyner Banham. Los Angeles: The Architecture of Four Ecologies. University of California Press. 2001. Seite 85

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heute durchaus wertgeschätzt. Vor allem wegen der skurrilen Erscheinung und wohl auch wegen der pragmatischen Unbekümmertheit. Es haben auch namhafte Architekten wie Craig Ellwood, Greta Magnusson Grossman, Raul Garduno oder John Lautner Gestellkrücken in die Berghänge montieren lassen, um flache Verhältnisse vorzutäuschen. Developer gehen sogar noch radikaler vor und modellieren die Bergrücken großflächig in stufenförmige Terrassen um, auf denen dann wieder billige Präriehäuser abgestellt werden.36 Banham beklagt dennoch die destruktive Ignoranz der Topografie gegenüber und lobt ausdrücklich Rudolph Schindler für seinen eloquenten Umgang mit Hanglagen. Laut Banham wusste Schindler dank seiner Architekturausbildung in der Wiener Wagnerschule sogar kompetenter mit Hanggrundstücken umzugehen als Frank Lloyd Wright. Ein pikanter Vergleich, denn Schindler hatte in seinen ersten Jahren in Amerika für Wright gearbeitet und Banham meint, Schindler hätte Wrights Hügelhäuser in Los Angeles entscheidend verbessert.37 Wright würde diesem Fremdlob nicht zustimmen, er duldete nicht die geringste Andeutung von Co-Autorenschaft beim Entwurf, aber tatsächlich baut Schindler bei seinen eigenen Projekten nie gegen den Hang, sondern tastet die vorgefundene Topografie gekonnt mit Architektur ab. Mit dem Wolfe House auf Catalina Island ist ihm sogar eines der besten Hanghäuser seiner Zeit gelungen. Mittlerweile leider abgebrochen. Wichtiger als die Beschreibung der konkreten Hangprojekte ist aber die auffallende Versuchung, gerade in den Bergen von Los Angeles so aufgeregt zwischen guter und schlechter Architektur zu unterscheiden. 36 „But ‚mountain cropping‘ is not concerned with creating monuments of the earth-mover’s art; just using earth-moving techniques to create an environment where current tract-house building technology can operate by its normal flatland habits.“ Reyner Banham. Ebd. Seite 88, 89; „Ein großes Hanggrundstück wird ausgewählt. Eine steile halsbrecherische Böschung wird aufgeschüttet, und auf diese plumpe Ebene wird ein Haus gesetzt – eine akademische Imitation eines Originals, das in einer fremden Ebene geboren wurde und das jetzt wie auf einer künstlichen Servierplatte zwischen Himmel und Erde sitzt und mit offenen Augen über die Kante des Abgrunds ins Nichts starrt.“ Rudolph Michael Schindler. „Wer wird Hollywood retten“. In: August Sarnitz. R. M. Schindler. Architekt. 1887–1953. Akademie der bildenden Künste Wien. Edition Brandstätter. 1986. Seite 145 37 „Schindler’s personality and activities at this time seem to have been decisive in many ways, but it is difficult, now that more is known about the full range and depth of the student work in the Wagnerschule before the First World War, not to wonder how much the unique stylistic tendencies of those Wright houses may have been due to his Viennese assistant on the spot. Wright has done hillside houses before, but none attach themselves to a slope or ridge as these do […].“ Reyner Banham. Los Angeles: The Architecture of Four Ecologies. University of California Press. 2001. Seite 161, 162

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Banham verstärkt diese Klassifizierung, indem er die am Berg so ungelenk abgestellten Präriehäuser als billig ausweist. Man darf nicht vergessen, dass Präriearchitektur für Wright ein nationaler Kulturauftrag war. Die Etablierung der Präriearchitektur sollte die Befreiung von der Bevormundung durch europäische Architekturstile bringen und damit den ersten genuin amerikanischen Architekturstil begründen. Als in den späten 1930er Jahren viele europäische Architekten in die USA emigrierten und dort ruckartig die europäische Bauhaus-Moderne etablierten, sah Wright sein Prärie-Lebenswerk das erste Mal gefährdet. Doch diese äußere Gefährdung ist unbedeutend verglichen mit Banhams Billig-Andeutung, weil damit eine massive innere Abwertung festgestellt wird. Präriearchitektur ist einfach der Billigstbieter unter den Architekturstilen. Amerikaner schätzten den Präriestil also nicht aus architektonischen oder national-kulturellen Gründen, sondern nur wegen des günstigen Preises. Hinaufgehoben auf den Berg bedeutet das dann doppeltes Versagen. Erstens billige und zweitens topografisch ignorante, also schlechte Architektur. Schlimmer kann man Architektur nicht abqualifizieren. Langsam wird klar, dass man in heikles Terrain geraten ist. Oben, in den Bergen von Los Angeles, herrscht ein wesentlich strikteres Qualitätsregime als unten in der Prärie der Stadt. Wie oft ist einem Haus unten in der Ebene schon vorgeworfen worden, nicht eloquent genug mit der Prärie umzugehen? Ein derartiger Kommentar wäre seltsam übereifrig. Aber am Berg erscheint eine derartige Klage offensichtlich angebracht. Der Berg darf nicht verunstaltet werden, die Prärie aber schon. Ähnliches gilt für die Entdeckung, dass Präriearchitektur billig ist. Was für eine Entdeckung? Architektur für die breite Masse wird immer am Kostenfaktor Maß nehmen müssen, eigentlich selbstverständlich und nicht erwähnenswert. Es sei denn, das massenproduzierte Billige drängt in die Berge hinauf, wo eigentlich das einzel-geschöpfte Brillante seinen Auftritt haben soll. Diese selektive Qualitätshysterie ist natürlich kein Zufall, denn am Berg ist architektonische Exaltation plötzlich mitgerissen in das Gegensatzdenken gut versus schlecht. Die Konfrontation der Begriffe gut und schlecht verläuft ja nicht in Gleichberechtigung, sondern in moralischer Überheblichkeit. Das seltene Gute hebt sich angestrengt aus dem erdrückenden Überall des Schlechten oder Belanglosen heraus. Exaltation führt also immer zum Guten hinauf, der Abstieg ist immer ein Niedergang zum vergleichsweise Schlechten. Diese romantische Figur vom Auf- und Abstieg hat die Architekturdisziplin kritiklos adoptiert. 179

Streng genommen müsste man entlang der Auf- und Abstiegsrichtung die Zuordnung sämtlicher Architekten der Moderne neu justieren. Wer hat lieber zum „guten“ Einzelauftrag in die Berge hinaufgestrebt, und wer hat sich in die Niederungen der „schlechten“ Massenproduktion von Architektur hinabgelassen? Was ist davon zu halten? Im alltäglichen Architekturdiskurs kann es lästig werden, zu oft vom Guten und Schlechten zu hören, aber mit etwas Nachsicht ist das noch harmlos. Etwas weniger harmlos ist die Übersetzung in implizite Verhaltensvorschriften: Nur die Guten dürfen sich exaltieren, wer schlecht ist, soll gefälligst unten bleiben. Exaltation ist dann nicht für jedermann, sondern ein elitäres Privileg. Keinesfalls harmlos ist schließlich, diese elitären Attitüden zu konsolidieren und damit eine ganze Stadt zu organisieren. Doch genau das ist in Los Angeles der Fall. Oben, abgehoben vom Rest der Stadt, wohnt die Elite. Unten, in der Stadtprärie, wohnt die breite Masse. Schön, wertvoll, einzigartig ist oben. Billig, belanglos, generisch ist unten. Auch das ist Exaltation. Auch das ist Ergebnis der Es-ist-nicht-genug-Getriebenheit. Gleichermaßen zeigt sich an dieser Konstellation, wie eine hysterische Flucht nach oben konkret zur eigenständigen Destination ausgebaut wird. Gut und schlecht sind in Los Angeles manifeste sozio-geografische Koordinaten. Das ist der Grund, warum Banham die Bergkette im Norden von Los Angeles zur eigenen Ecology erklären kann. Diese Sonderstellung gilt mittlerweile für alle Hügelzonen im Großraum Los Angeles, egal in welcher Himmelsrichtung. Topografisch ist die Abgehobenheit also direkt augenfällig, die weiten Stadtebenen von Los Angeles werden von Bergketten gerahmt, die eine natürliche Beletage über der Stadt bieten. Die topografische Abgehobenheit hat aber offenbar etwas Katalytisches und produziert weitere Elitekriterien. Das erste ist Reichtum, oder wie Banham dichtet: „the higher the ground the higher the income“.38 Nach dieser monetären Einleitung beginnt Banham einen exaltierten Lebensstil zu beschreiben, den es nur in den Bergen zu geben scheint: „The fat life is well known around the world, wherever television re-runs old movies on the Late Show or its local equivalent; it is the life, factual and fictional, of Hollywood’s classic years“.39 Man muss dieser 38 Reyner Banham. Ebd. Seite 79 39 Reyner Banham. Ebd. Seite 83

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Beschreibung nicht wörtlich folgen, vor allem das Hollywood-Stichwort lenkt in klischeehafte Assoziationen ab, die aber gerade dort die Realität oft pointiert beschreiben: „I go crazy ’cause my folks are so fucking rich. Have to score when I get that rich white punk itch. Sounds real classy, living in a chateau. So lonely, all the other kids will never know. We’re white punks on dope. Mom & Dad live in Hollywood. Hang myself when I get enough rope. Can’t clean up, though I know I should.“40 Was man aus diesen Livestyle-Skizzen in jedem Fall mitnehmen kann, ist das Selbstverständnis der Bergbewohner von Los Angeles als soziokulturelle Elite. Wer hier oben ein Grundstück kauft, der kauft nicht nur ein Stück Land, sondern der kauft sich in die Verpflichtung zum Besonderssein hinauf. Und das gilt ganz wesentlich für die Architektur. In den Bergen stehen die meisten Architekturpreziosen der Stadt. Von den Case Study Houses befinden sich ebenfalls die meisten entlang der Bergketten. Kein Wunder, dass Architekturrundfahrten in Los Angeles großteils Serpentinenrallys durch Canyons und über Bergrücken sind. Hätte es die Los-Angeles-Moderne ohne Berge überhaupt gegeben? Schindlers Haus in der Kings Road ist als eines der wenigen in eine flache Präriesituation eingelassen, sein Lovell Beach House am Strand ebenfalls. Aber das sind rare Ausnahmen von einer impliziten, aber umso härteren Regel: Herausragende Architektur in Los Angeles ist ein Produkt elitärer Milieus. Höchste Zeit also, beim berühmtesten Foto von Julius Shulman anzukommen. Es zeigt das Case Study House Nr. 22 von Pierre Koenig in den Bergen von Los Angeles und es zeigt es in einem dramatischen BeletageSetting. Das Haus ist riskant nah an den Abgrund gerückt, trotzdem hält es selbstbewusst seine Toplage. Ein arrogantes Architekturbild, demonstrativ exaltiert nimmt das Haus Aufstellung über der Stadt. Im Hintergrund des Bildes sieht man bis in die Ferne die unten zurückgelassene Prärie. Die wird unweigerlich zur Unterschicht degradiert und nur deshalb ins Gesamtbild eingebunden, weil erst die Tiefendimension die eigene Exaltiertheit erlebbar macht. Auch das ist Moderne. Neben der Avantgarde-Mühsal und der Bereitschaft zum zähen Durchhalten kultiviert die Moderne gleichermaßen ihren Hang zum Elitären und eine

40 Bill Spooner, Roger Steen, Michael Evans. The Tubes. White Punks On Dope. A&M Records. 1975

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ungenierte Überheblichkeit all jenen gegenüber, die „auf einer völlig anderen Ebene zu leben“ schienen – um noch einmal Neutras Definition für Unterschicht zu zitieren. Positiv vermerken kann man wenigstens, dass die Moderne damit eine verdrängte Dimension rehabilitiert. Während das ängstliche Präriephantasma einen imaginären Boden auslegt, unter dem nur das Vergessen sein darf, geht die elitäre Moderne mit dem Unten sehr viel souveräner um. Oben angekommen, quält die alte Architekturphobie offensichtlich nicht mehr. Aber nicht, weil es die Materialdrohung, das Versinken und Begrabenwerden nicht mehr geben würde, sondern weil das gefährliche Unten durch die Exaltation transformiert worden ist. Man muss nur das Bild von Shulman noch einmal genau ansehen. Ein weitläufiges Unten tut sich darin auf, aber nicht als reale Tiefendimension, sondern nur als soziokulturelles Gegenbild. Es werden keine konkreten Lebensszenen von unten nach oben übermittelt. Die Beletage der Stadt zu sein, bedeutet also nicht, handgreifliche Reich-versus-arm oder Obenversus-unten-Konfrontationen abzuhalten. Stattdessen ist die Realität des Unten stillgelegt, ein Stillleben im wörtlichen Sinn. Eine Aktivierung des stillgelegten Beletage-Settings gelingt nur John Lautner, oftmals Spezialist für maximale Eigenwilligkeiten. Seine Chemosphere zeigt, wie ein reales Unten und ein bildliches Unten in einem einzigen Projekt gleichzeitig eingebunden werden können. Die Chemosphere ist ein achteckiges, pilzförmiges Haus auf einer zentralen Betonstütze. Wenig elegant, aber einprägsam. Ausgerechnet vom niedrigsten Punkt des Grundstücks fährt man mit einem Schrägaufzug den Hang hinauf, am Haus vorbei, um es dann von der Rückseite über eine Brücke zu betreten. Perfekte Exaltationsdramaturgie. Aus dem Haus blickt man durch ein umlaufendes Fensterband in die Ferne der Prärie hinaus. Das Fensterband ist allerdings schräg nach oben geneigt, die Aussicht also übervoll mit Himmel und die Prärie nur mehr ein bröseliger Bodensatz unten am Fensterrand. Noch einmal perfekte Überheblichkeit. Aber dann plötzlich ein gegenteiliges Detail: Schräg nach unten geneigt ist ein schmales Fenster ins Parapet eingeschnitten. Durch diesen Schlitz nimmt man den Zugangsbereich zum Grundstück direkt ins Visier. Ein pragmatisches Kontrollfenster also, und der Vergleich mit einer Schießscharte ist wohl übertrieben. Dennoch spürt man plötzlich wieder die nervöse Angst der Beletage vor dem Unten, wenn es nicht als dekoratives Hintergrundbild in der Ferne liegt, sondern als akute Realität droht, hochzukommen. 182

Diese Szenen vor Augen stellt sich die folgenschwere Frage: Ist die Liaison der Architektur mit der Elite nur ein moralisches Problem oder lässt sich eine direkte Wirkung auf die Architektur feststellen? Wieder ist Shulmans Bild vom Case Study House Nr. 22 aufschlussreich. Ulf Erdmann Ziegler fokussiert im Zuge einer Bildbeschreibung auf die Präsenz einer folgenschweren Instanz: „Zutiefst protestantisch im Glauben, dass es nichts zu verbergen gebe, bietet sich zwei Augen, die im Pool platziert sind, das Leben in der 22. Fallstudie als halböffentliches Panorama dar, das erst an den Türen der Badezimmer endet.“41 Die schöne, elegante Moderne ist also ganz bei sich und im halbdunklen Pool lauern zwei mysteriöse Augen, die sich bis in die intimsten Tiefen des Hauses Einblick erschleichen. Shulmans Bild lässt tatsächlich eine derart mysteriöse Stalking-Interpretation zu. Die Moderne wird hier als unschuldige Erscheinung vorgeführt, die sich sorglos exhibitioniert. Doch wer sich sorglos exhibitioniert, wird Gegenblicke anziehen. Das ist das klassische Horrorfilm-Setting, denn der Thrill der Entblößung besteht ja gerade darin, dass man keine Kontrolle darüber hat, wer das beobachtende Gegenüber sein wird und welche dunklen Absichten es verfolgt. Ein architektonisches Blind Date mit dem Unbekannten also. Ziegler steigert diesen Eindruck noch, indem er den Gegenblicker etwas mysteriös im Dunkel des Pools versteckt vermutet, aber konkret unidentifiziert lässt, nur zwei Augen seien es. Doch diese Beschreibung ist reine Fiktion und tatsächlich grob falsch. Daran kann man nur glauben, wenn man die Realität der Bildentstehung verleugnet. Die ganze Aufstellung ist ja kein Schnappschuss, sondern reinste Inszenierung. Die Moderne wird nicht zufällig ertappt beim So-Sein, sondern sie exhibitioniert sich präzise choreografiert vor der Presse. Es sind also keine zwei mysteriösen Augen, die hier herumschleichen, sondern der Verleger John Entenza lässt eine weitere Szene für die Case-Study-House-Serie in seinem Magazin Arts & Architecture produzieren. Die Serie benennt schon im Titel den definitorischen Anspruch. Das erste Learning-from-Projekt, noch vor Robert Venturi, Denise Scott Brown und Steven Izenour. Entenza zeigt damit von 1948 bis 1965 der Architekturöffentlichkeit, was beste Moderne ist. Seht her und lernt, ihr Zurückgeblieben. Insofern ist es gar nicht verwunderlich, dass – wie Ziegler bemerkt – die Moderne dem 41 Ulf Erdmann Ziegler. „Der L. A.-Pessimismus und sein Gegenteil“. In: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken 8. 1999. Seite 723

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Betrachter bis an die Badezimmertür Einblick erlaubt. Wie bei jeder Homestory jedes anderen Prominenten wird ein ganzer Lifestyle präsentiert, nur ist diesmal die Moderne die prominente Gastgeberin. Doch ist das so schlimm? Dass sich die elitäre Moderne vor allen anderen als Modell aufbaut, mag arrogant wirken, könnte aber in der Tat freundlich-funktional sein. Die Reichen finanzieren die teuren Prototypen und tragen gleichzeitig das Risiko des Gelingens. Die gelungenen Versuche können danach in Serie gehen und jedermanns Leben verbessern. Klingt vernünftig. Aber diese Arbeitsteilung stimmt nicht, zumindest nicht in der Intention. Elitäre Architektur will nicht prototypischer Vorreiter sein, sondern unnachahmliches Einzelstück. Elitäre Architektur will nicht in Serie gehen, sondern ganz im Gegenteil: Sie will der Wiederholung und damit der Abwertung entgehen. Im schlimmsten Fall ist das elitäre Vorbild sogar eine Falle. Es lockt durch seine Qualität womöglich zur Nachahmung an, aber gerade im Prozess der Nachahmung beweist sich die Unerreichbarkeit. Wen wundert das? Wenn man an Neutras edukative Schriften erinnert, dann ist die Moderne immer schon als das bessere, tendenziell unerreichbare Modell vor einer zurückgebliebenen Gesellschaft aufgetreten, nicht selten aufdringlich. Die Moderne hat von Anfang an das elitäre Selbstverständnis einer Musterschülerin. Das allein wäre aber noch kein Problem. Die entscheidende Frage ist, wer bestimmt, wer Musterschülerin ist und wer nicht? Bestimmt das die Öffentlichkeit in einem offenen Vergleichsprozess? Theoretisch ja, so sollte kultureller Fortschritt ablaufen – praktisch aber eindeutig nein, denn die Case-Study-House-Serie ist alles andere als ein offener Vergleichsprozess. Entenza allein bestimmt, was gut, vorbildlich, modern ist und was nicht. Gleiches gilt für jede redaktionell gefilterte Publikation – und das ist das große Dilemma an der Liaison der Architektur mit der Elite. Schön, gut, elitär, letztlich sogar modern sind Prädikate, die zuallererst von medialen Zwischenhändlern verliehen werden – und wer diese elitären Prädikate verliehen haben will, muss die medialen Zwischenhändler dafür bezahlen, zuallererst mit Gefälligkeit. Ein Ablauf, den man nicht anders als korrupt bezeichnen kann. Jetzt könnte man einwenden, dass Kritik ein unerlässlicher Auftrag der Moderne ist und die redaktionelle Bestimmung des Schönen und Guten ebenfalls eine Form von Kritik ist. Nein, muss man entschieden dagegenhalten, denn genau hier zeigt sich eine spezifische Eigenheit der Architekturpresse. Im Gegensatz zu anderen Medien hat die 184

Architekturpresse die gefährliche Gewohnheit, das vermeintlich Gute zu publizieren und das vermeintlich Schlechte zu ignorieren. Was schlecht ist oder als schlecht eingeschätzt wird, findet in der typischen Architekturpublikation gar keine Erwähnung. Besprochen wird, was gefällt und das wird gefällig dargestellt. Der medialen Darstellung anderer Disziplinen wird oft das Gegenteil vorgeworfen. Sie würden marginalen Schlechtigkeiten durch allzu laute Kritik erst jenen großen Auftritt verschaffen, den diese aus eigener Auftrittsstärke nie erreichen würden. Doch egal, ob man das Schlechte zugunsten des Guten verschweigt oder eines der beiden überproportional heraushebt, die Konklusion ist immer die gleiche: Diese Form der einseitigen Darstellung ist keine Kritik, sondern Promotion. Kritik ist das, was Banham tut. Er stellt repräsentative Projekte vor und sortiert sie in gut oder schlecht. Das lässt die Möglichkeit für jeden Leser offen, auf Basis der Projektvorstellungen eine andere Bewertung anzustellen. Wenn das vermeintlich Schlechte aber gar nicht mehr ins Bild kommt, dann existiert es in der exaltierten Welt des publizierten Architekturdiskurses gar nicht mehr. „Lautner: I know, like, Arts and Architecture, they published a lot of my initial work. But then, when they did their Case Study houses they just did one glass box after another. So whoever did a glass box was doing a modern house. And I never did a glass box, so I guess that’s why I never did a Case Study house, because that’s all they knew about modern. Laskey: Well, that was [John] Entenza’s particular love, wasn’t it? Lautner: Yeah, yeah.“42 Das Ergebnis dieser Form von Zensur durch Verschweigen ist eine bereinigte Welt und eine elitäre Hermetik, für die sich die Moderne in ihren selbstbewussten Jahren nicht einmal geschämt hat. Die Bezeichnung International Style benennt den Willen zur global-elitären Hermetik sehr unmissverständlich. Die elitäre Hermetik der Moderne wird die Pluralisten ärgern, aber vielleicht sollte man nicht zu kokett argumentieren. Teil der publizierten Elite zu sein, ist noch kein Sündenfall, und wenn man über die narzisstischen Motive hinwegsieht, ist die Wertschätzung durch Publikation oft der einzig nachhaltige Gewinn für die Mehrarbeit, die Qualitätsarchitektur verlangt – so lautet zumindest die gängige Hoffnung der Architekten. Doch trotz der Aufnahme eines Projekts in die publizierte Elite wird die 42 John Lautner. In: Marlene L. Laskey, John Lautner. Responsibility, Infinity, Nature. John Lautner Interview by Marlene L. Laskey. The Regents of the University of California. 1986. Seite 179, 180

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Architektur selbst nicht unter den Vorteilsnehmern sein. Am Case Study House Nr. 22 wird auch diese verwirrende Feststellung leicht verständlich. In das Bild von Shulman ist nämlich ein verhängnisvolles Ungleichgewicht eingelassen: Die Aufnahme ist berühmter als die abgebildete Architektur. Sie ist auch besser und raffinierter als die Architektur. In einer durchschnittlichen Amateuraufnahme, bei durchschnittlichem Licht und Bildausschnitt ist für den durchschnittlichen Betrachter nicht erkennbar, was an dem Haus revolutionär oder elitär sein sollte. Das bedeutet, es hat noch einmal eine Exaltation stattgefunden. Der elitäre Anspruch hat sich von der Architektur befreit, sie vor Ort zurückgelassen und sich selbst medial in Szene gesetzt. Ist die zurückgelassene Architektur vor Ort wenigstens die Kulisse für das elitäre Bild? Nein, sie ist noch deutlich weniger. Die Architektur vor Ort ist nur ein primitiver Rohling, auf dem die Fotografen, Verleger, Promotor ihre suggestiven Fantasien errichten. Windig, wackelig, skizzenhaft und flüchtig könnte man solche Bildfantasien nennen, ähnlich ephemer wie Schindlers Schlafkörbe und viele andere Exaltationen. Aber dennoch gelingt Shulman und Entenza eine vernichtende Überschreitung der gesamten modernen Architektur. Wenn man sieht, wie die angeblich besten modernen Architekturen lediglich für klischeehaften Los-Angeles-Lifestyle aufgeboten werden, beginnt man am Moderneverständnis der Elite zu zweifeln. Besteht der Sinn moderner Architektur wirklich nur darin, eine Sofalandschaft und ein Swimmingpool möglichst appetitlich vor einer Panoramaaussicht zu drapieren? Esther McCoy, Zeitzeugin der Case-Study-House-Serie hat Entenzas Magazin Arts & Architecture noch „as thin as a tortilla and as sleek as a Bugatti“ genannt.43 Eine derart ironische Nachsicht ist bewundernswert, weil die Liaison aus Hochglanz-Publizistik, Lifestyle-Getue und elitärem Selbstverständnis einen Definitionsanspruch erhebt, dem noch immer kaum zu entkommen ist. Weniger Hochglanz würde der Moderne auch heute noch gut tun und jene populäre Anschlussfähigkeit zurückbringen, die sie sich oft lautstark wünscht. Hat sich Neutra also deswegen am Ende seiner Karriere die demonstrativ schlechten Stone-Fisher Platform Houses geleistet? Eine Befreiung 43 Esther McCoy. In: Kimberli Meyer, Susan Morgan. Hrsg. Sympathetic Seeing: Esther McCoy and the Heart of American Modernist Architecture and Design. MAK Center for Arts and Architecture. Verlag für moderne Kunst Nürnberg. 2011. Seite 74

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vom Zwang, der Presse schon wieder gefallen zu müssen? Vermutlich nicht – aber es wäre wohl die letzte Befreiung gewesen, die ihn als weltbekannten Modernen noch hätte herausfordern können. Wertvoll sind die Stone-Fisher Platform Houses dennoch, weil sie klar demonstrieren, dass die Idee der Exaltation nicht zwangsläufig in die Elite führen muss, sondern auch die Gegenrichtung zulässt, eine demonstrative Befreiung vom Elitären – und das sogar in den Bergen von Los Angeles, dem Homeland der Elite. Es hat auch sonst Architekten gegeben, die jenseits der Gängelung durch das Elitäre eine exaltierte Unbeschwertheit praktiziert haben. Bernard Judge mit seinem Dome House fällt einem sofort ein – wieder ein experimenteller Gegenentwurf in den Bergen. Wenn man die Augen offenhält, sind selbst die üblichen Architekturrundfahrten in den Bergen von Los Angeles ausgesprochen erhellend, weil man zwischen den bekannten Highlights oft genug auf architektonische Gebilde trifft, die einen sehr individuell befreiten Exaltations habitus vermitteln. Ein breites und bekanntes Portfolio derartiger Architekturen, also eine Case-Study-House-Serie der unbeschwerten Exaltation, kennt freilich niemand – nicht weil es eine solche nicht geben könnte, sondern schlicht weil eine solche Serie nie publiziert worden ist.

Produktiver Schwindel Die Liaison der Architektur mit der Elite ist eine Flucht aus der Realität ins Bild – und zwar zweifach. Die Untengebliebenen werden zum Hintergrundbild verharmlost, und die hinaufgehobene Architektur wird zum Vorbild stilisiert. Wer diese Realitätsflucht kritisch feststellt, muss weiterfragen, wie es die Exaltation denn sonst mit der Realität hält. Rein allegorisch ist die Exaltation ein großes Unternehmen. Sie ist ein existentieller Erkenntniswechsel, der sich in Architektur äußert. Abschütteln der Wertkategorien, Fluchtrichtung in alternative Destination ausbauen etc. – so weit, so faszinierend. Aber was waren bis jetzt die realen architektonischen Äußerungen? Zwei Schlafkörbe von Rudolph Schindler, ein paar provokante Präriehäuser auf Stelzen am Hang und der Hinweis, dass potentiell jeder Ebenenstapel über der Landschaft Exaltation sein könnte … Ist es das bereits? Ist das die gesamte Bilanz des Unternehmens Luftarchitektur? Noch einmal die kritische Nachfrage: Wie weit ist die Idee der Exaltation architektonische Realität geworden? 187

Die Wahrheit ist, eine vollkommene Exaltation im Sinne einer totalen Luftarchitektur wird es niemals geben. Gebaute Architektur wird nie fliegen, schweben, wird nie ganz in Luft aufgehen. Dieser Unmöglichkeit ist nicht zu entkommen. Sehr wohl möglich ist aber, dem Eingeständnis der Unmöglichkeit permanent davonzulaufen – und das ist die Kurzfassung der gebauten Praxis der Exaltation. Es findet also keine aufwendige Umsetzung einer Exaltation statt, sondern ein aufwendiges Illusionstheater. Architekten rufen Schwebeallegorien aus und bauen dann trickreiche Annäherungen, um die Allegorien zumindest assoziativ zu bestätigen – oder wie Pauhof Architekten es technokratisch verheimlichend ausdrücken: „Um solche Raumgedanken zu konkretisieren, bedienen wir uns oft extremer Auskragungen und Überbrückungen, die an die Grenze der heutigen technischen Möglichkeiten reichen. Der angesprochene Schwebezustand unserer Architektur erklärt sich durch die Trennung der tektonischen Stabilität von der physisch mechanischen Stabilität.“44 Die Realität der Exaltationsidee ist also der alltägliche Schwebeschwindel. Die Architekten der Moderne haben den Schwebeschwindel regelrecht perfektioniert und Raumstaffagen konzipiert, die einen dramatischen Schwebeeindruck auf die Zeitgenossen gemacht haben. Wilde Auskragungen, riskant verschlankte Statik, versteckte Stützen, unsichtbare Hängungen, geschickter Materialwechsel von geschlossen auf transparent etc. – das taktische Repertoire zum Schwebeschwindel ist gut sortiert und enorm effektverstärkt durch eine kooperative Architekturfotografie. Mit einer riskanten Trickkonstruktion, aufgenommen aus einem ebenso riskanten Blickwinkel, kann man jedes noch so bodenständige Projekt zur modernen Provokation hochstilisieren. Schweben und Schwindeln synonym zu verstehen, ist für Architekten also mehr als nur ein semantischer Trick, es ist die schnellste Methode, um sich als Moderner in Szene zu setzen. Wie sehr die Architektur bis heute von derartigen Schwebevorführungen befangen ist, beweisen Büros wie Coop Himmelb(l)au, die fast jedes Projekt über eine suggestive Schwebeallegorie wie Flügel, Wolke etc. entwickeln und dann ebenso suggestive Annäherungen bauen. Im zeitgenössischen Gebrauch fällt allerdings auf, dass die Dimension der Schwebeprojekte immer größer wird. Das deutet auf eine Inflation 44 Pauhof Architekten. In: Moritz Küng, Michael Hofstätter, Wolfgang Pautzenberger. „Architektur als übergeordneter Begriff“. In: Werk, Bauen + Wohnen 82. 1995. Seite 49

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der Wirkung hin. Vor allem die Fachpresse ist nur noch mit Schwebeinstallationen in größter Dimension zu beeindrucken. Der alltägliche Schwebeschwindel hingegen wird ohne großen Applaus einfach hingenommen, als banale architektonische Alltagskultur. Damit ist die Idee der Exaltation aber in eine gefährliche Problemlage geraten. Wenn die weitere Steigerung der Schwebetricks kaum mehr bezahlbar ist, wie will man dann die Dynamik des Exaltationsversprechens aufrechterhalten? Als die Moderne mit der Exaltation begann und die ersten Annäherungen baute, war das zwar alles offensichtlich ungenügend, aber zumindest ein starkes Versprechen für die Zukunft. Doch das Versprechen müsste seither längst eingelöst sein – ist es aber nicht. Stattdessen werden seit fast 100 Jahren die gleichen längst bekannten Schwebetricks gebaut, ohne die Exaltation signifikant voranzubringen. Die Spannung zwischen Allegorie und versuchter Realisierung ist längst in sich zusammengebrochen. Übrig geblieben ist der banale, alltägliche Schwebeschwindel, der auf nichts mehr verweist als auf die Aussichtslosigkeit der Realisierung einer gebauten Exaltation. Für Modernepuristen ist das natürlich eine unerträgliche Lage, denn die Moderne lebt ultimativ von der Spannung zwischen Versprechen und Realisierung. Idee, Aufbruch, Erfolg – lautet der irreduzible moderne Dreisprung. Doch Modernepuristen sind selten im Alltagsgeschäft um Aufmerksamkeit engagiert. Idee, Aufbruch, Erfolg lassen sich nicht immer so glatt abarbeiten. Getrieben durch das Es-ist-nicht-genug driftet die Moderne allzu leicht aus der Spur der tatsächlichen Realisierung hinüber in die seichte Spur der bloßen Behauptung. Nach der x-ten Behauptung steht dann am Ende sogar die unangenehme Erkenntnis, dass die Diskussion über ehrliche Architektur, die immer mit Blick auf die Moderne geführt wird, grundsätzlich falsch orientiert ist. Moderne Architektur wird es nur als unehrliche Architektur geben, und das betrifft nicht nur die Exaltation. Die Moderne konnte schon das tiefe Material nicht wirklich stilllegen, sondern nur optisch versiegeln. Die Moderne fordert Platten, Scheiben, minimierte Bauteile, um den ehrlichen Materialcharakter in Form zu ersticken. Die Moderne kappt die historischen Wurzeln und greift dann doch wieder ins historische Repertoire, weil ihr die neuen Ideen nicht schnell genug gelingen wollen. Moderne Architektur ist auch nicht schlank, leicht, kühn, offen, hat keine fließenden Grundrisse oder eine kühle Optik. All das sind nur wohlwollende Projektionen, die weit über die belegbaren Tatsachen hinausweisen. 189

Konsequent zusammengefasst ist dann sogar „modern“ nur die Bezeichnung für eine allegorische Übertreibung, die nie von den Tatsachen bestätigt werden wird. Moderne Exaltation ist also insgesamt nur eine hysterische Ausflucht aus der Unmöglichkeit, tatsächlich modern zu sein. Die Antwort auf die Frage nach der architektonischen Realität der Exaltation taucht letztlich die gesamte Moderne in ein wenig vertrauensvolles Licht. Schwieriger Zwischenstand. Dass die Moderne große Ideen vorausprojiziert und dann doch nicht einlösen kann, wirkt wie ein fundamentales Versagen. Wie kommt man aus dieser Sackgasse wieder heraus? Überraschenderweise ist es die Organisationstheorie, die wissen lässt, dass Scheinheiligkeit sehr wohl Teil einer effizienten Betriebsführung ist. Günther Ortmann verweist darauf, dass nur durch die Errichtung eines falschen Scheins nach außen hin der produktive Kern einer Organisation ungestört arbeiten kann: „Wie bei Meyer und Rowan bleibt die Organisation auch bei ihm zu einem um so zweckmäßigeren Procedere, zu um so effizienterer Produktion befähigt, je besser sie diesen ihren, mit Thompson (1967) zu sprechen, technischen Kern gegen die Einflüsse gesellschaftsweit etablierter Anforderungen an moderne, solide, vertrauenswürdige Organisationen durch den Einsatz institutionalisierter Techniken und durch das – womöglich scheinheilige – Nähren institutionalisierter Mythen abschirmt.“45 Dieses Bekenntnis zum produktiven Schwindel läuft auf ein erstaunlich nüchternes Verständnis von Effizienz hinaus und ver-ändert gleichermaßen den Blick auf das reale Exaltationsversagen der Architektur. Was aber wäre demgemäß der produktive Kern der Architektur? Die Antwort auf diese Frage verlangt zuallererst, den Blick auf die produktive Generation der Moderne zu werfen. Gemeint ist die zweite Generation der Moderne, die nach dem Zweiten Weltkrieg Karriere macht. In Los Angeles war das die kraftvollste Zeit der Moderne. Während Richard Neutra noch als Verlierer aus dem Ersten Weltkrieg kommt und als Amerikaeinwanderer hysterisch nach einer erlösenden Gegenwelt sucht, kommt die zweite Generation der amerikanischen Moderne Architekten als Gewinner aus dem Zweiten Weltkrieg und muss sich nicht neu erfinden. Los Angeles war durch die Kriegswirtschaft zum 45 Günther Ortmann. Als Ob. Fiktion und Organisation. VS Verlag für Sozialwissenschaften. 2004. Seite 119

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Technologiezentrum geworden und nach dem Zweiten Weltkrieg wird das angesammelte militärisch-technische Knowhow einfach Stück für Stück in zivile Nutzungen übersetzt.46 Die Amphetamine aus dem Krieg machen die Unterhaltungsmusik schneller und populärer, die Fabriken aus dem Krieg machen die Konsumgüterproduktion schneller und populärer, und die Effizienzerfahrungen aus dem Krieg machen die Moderne schneller und populärer. Die Karriere von Charles und Ray Eames steht dabei stellvertretend für eine ganze Generation. Wer jetzt geschickt kombiniert und umsetzt, kann als Knowhow-Zwischenhändler schnell Erfolg haben.47 Denn das allegorische Vokabular der Moderne war von der ersten Generation bereits erarbeitet worden, die baulichen Annäherungen waren als Prototypen ebenfalls vorhanden und der Krieg hat die Realisierungsroutinen hinterlassen. Die zweite Generation erbt all diese Vorlagen fertig für den Gebrauch und kann zügig Moderne produzieren. Man nehme zum Beispiel das Farnsworth House von Mies van der Rohe, appliziere ein paar zusätzliche Stahlträger und lege es als Brücke über einen Canyon. Präriehaus wird zum Brückenhaus. Extraexaltation gelungen. So einfach geht das jetzt, vor allem weil sogar die Idee zu so einem Brückenhaus von Mies van der Rohe bereits vorbereitet worden war. Und wenn man generell die Architektur von Mies van der Rohe gut findet, kann man mittlerweile Absolventen seiner Architekturklasse aus Chicago als direkte Knowhow-Lieferanten nach Los Angeles lotsen. Und während die Mies-Absolventen die Entwurfsarbeit erledigen, kann 46 „Simply put, the message America received in the forties and fifties was that the war had been beneficial, a war unlike other wars, the ‚good‘ war. For us, it had been so in many ways. Between 1939 and 1945, the GNP increased from $88 billion to $135 billion. Real compensation of industrial workers rose twenty-two percent. Net farm income doubled. Corporate profits had an after-tax growth of fifty-seven percent in 1943 alone. Average plant utilization went from forty hours a week to ninety hours. The number of skilled black workers doubled. The percentage of women in the work force grew dramatically. By the end of the war the United States was responsible for over fifty percent of the world’s industrial production, including forty percent of its production of arms. The war rescued America from its economic and psychic depression, thrust us to the forefront of global power, established us as the dominant national culture of the twentieth century.“ Michael Sorkin. „War is Swell“. In: Donald Albrecht. Hrsg. World War II and the American Dream. How Wartime Building Changed a Nation. National Building Museum. MIT Press. 1995. Seite 233, 234 47 „The makers and fabricators of aluminum, artificial rubber, and many of the plastics were acutely aware that at war’s end the gigantic demand created by the nation’s war machine would recede. Having constructed huge new facilities, mainly at government expense, industrialists viewed with urgency the need to find civilian uses for their products, well before the guns fell silent.“ Robert Friedel. „Scarcity and Promise“. In: Donald Albrecht. Ebd. Seite 78

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man selbst sein privates Gegenexperiment pflegen. Aber nicht als mühsam autoaggressiven Selbstversuch wie bei Rudolph Schindler, sondern indem man der Architekturöffentlichkeit stolz erklärt, dass man gar nicht Architektur studiert hat, und trotzdem drei Case Study Houses gebaut hat, und überhaupt der meistpublizierte Architekt der Westküste ist.48 Wer die Moderne der zweiten Generation kennt, weiß längst, dass von Craig Ellwood die Rede ist. „Demobilized from the military in 1945 at age 23, without architectural education or ambition, Ellwood moved back to Los Angeles with the intention of becoming a movie actor. In 1947, without other training than his contextual learning, he designed his first house, becoming overnight an established architect.“49 Auch wenn in der Rückschau der Aufstieg Ellwoods gern etwas überflott dargestellt wird, so ist trotzdem beeindruckend, dass ein 23-Jähriger ohne Architekturausbildung und ohne besonderes Interesse an Architektur so beiläufig in die Branche hineindriftet und bald darauf als weltberühmter Architekt dasteht. Mit Ellwood betritt eine erlösende Unbekümmertheit die Architekturszene, die bis dahin nicht bekannt war. Nicht einmal sein Name war echt. Er legte sich einfach den Namen eines nahe gelegenen Schnapsladens als Künstlernamen zu. Aus dem Lord and Elwood Liquor Store am Beverly Boulevard wird Craig Ellwood der Architekt, umgeben von Hollywood-Livestyle und entsprechend anekdotenreichem Image. Das klingt sympathisch unernst, aber so lapidar kann Ellwoods Herangehensweise gar nicht gewesen sein, denn auch zu seiner Zeit bekam man eine große Architektenkarriere nicht geschenkt. Aufschlussreich wird das Exempel Ellwood also erst, wenn man die Sensationsgeschichten um ihn beiseite räumt und rekapituliert, wie er seinen Karriereweg tatsächlich absolviert hat. Dabei fällt auf, dass er eine professionelle Abkürzung entdeckt hat, die niemand vor ihm im Blick hatte. Er startet höchst profan, indem er mit drei Partnern eine Firma gründet, die Kriegsveteranen bei Eigenheimkrediten hilft, inklusive kalkulatorischer und planerischer Unterstützung. Zusätzlich wird ausführenden Firmen Marketing angeboten. Die Beratungsfirma funktioniert nicht lange, 48 […] from 1955 to 1965 Ellwood prided himself on being the most published architect working west of Chicago […]. With Entenza’s strong support, Ellwood eventually became the most published architect in Arts & Architecture. In the 15-year period that began in 1949, Entenza covered 41 of Ellwood‘s projects, dedicating almost 200 pages to his work, a staggering amount for […] a magazine […] whose dense layout limited features to two pages.“ Alfonso Perez-Mendez. In: Craig Ellwood, Mónica Gili, Livio Vacchini. Craig Ellwood. Editorial Gustavo Gili. 2004. Seite 8, 9 49 Alfonso Perez-Mendez. Ebd. Seite 5, 6

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dennoch sammelt Ellwood dabei ausreichend Erfahrung, um wieder als Kalkulant, später als Werkplaner für eine Baufirma zu arbeiten, die einige der Case Study Houses baut. Dabei lernt Ellwood die Architekten und Entwürfe der ersten Case Study Houses kennen und rückt schließlich selbst in die Planerrolle und beginnt zu entwerfen. John Entenza kennt er ebenfalls bereits und er nutzt den Kontakt und wird schon von seinen ersten Entwürfen an prominent publiziert. So einfach und unaufgeregt kann man in der zweiten Generation der Moderne Karriere machen. Ellwood nimmt den schnurgeraden Weg in die Beletage der Disziplin. Aber nur, weil er sich einzig auf die Erledigung des Machbaren konzentriert und sich das Herumversuchen am Nicht-Machbaren spart. Ellwood hat der Moderne nichts wirklich Signifikantes hinzugefügt, aber er hat wie kein anderer begriffen, wie man das bereits vorhandene Repertoire der Moderne am besten in Szene setzt. War das alles nicht eher Zufall, seltenes Glück, vielleicht angereichert mit Schläue und Intuition? Am Beginn wohl schon, aber irgendwann ist sich Ellwood seiner Methode durchaus bewusst und bekräftigt ausdrücklich Mies van der Rohes mittlerweile legendäre Ansage, dass man nicht jeden Montag die Architektur neu erfinden könne.50 Das bedeutet, nicht nur bei der Architektur, sondern auch bei der methodischen Rechtfertigung verwendet er ungeniert Mies van der Rohes Vorlagen. Wem diese von Mies inspirierte Rechtfertigung zu billig erscheint, der hat die Pflicht zur Freude über den neuen Zustand übersehen: 1921 Schindlers Haus in der Kings Road, 1924 Neutras Präriephantasma, und von 1950 bis 1975 dann Ellwoods Karriere – nur 30 Jahre nach Schindlers mühsamen ersten Selbstversuchen und Neutras existenziellem Aufbruch in die West-Coast-Moderne ist moderne Architektur endlich schmerzfrei zu haben. Kein inneres Ringen mehr um die moderne Ausrichtung, keine selbstzerstörerische Selbstsuche, keine labyrinthischen Avantgardejahre, keine Fehlversuche, kein Widerstand des Establishments, keine existenzielle Erschöpfung. Bei Ellwood gibt es das alles nicht mehr, er kürzt das Hysterische, Esoterische, Schicksalsschwere völlig heraus. Die ganze avantgardistische Mühsal der ersten Generation wird nur noch als romantisch-harmlose Attitüde mitkopiert. Das Produkt Moderne soll schließlich immer noch verwegen aussehen. Ist es aber nicht mehr. 50 „Mies said, ‚We cannot invent a new architecture every Monday morning,‘ and he is right.“ Craig Ellwood. „On Architecture“. In: Esther McCoy. Craig Ellwood. Hennessey + Ingalls. 1997. Seite 154

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Die Sittenwächter des akademischen Architekturverständnisses reiben sich natürlich ungläubig die Augen. Ellwoods Herangehensweise ist aufregend und erschütternd zu gleich. Nicht zuletzt, weil die Schnelligkeit und Profanität seiner Karriere zu einer generellen Rückfrage über den Stand der Moderne anstiftet: Wie weit hat sich die Moderne verbilligt, wenn man bereits ohne Architekturstudium, ohne Lehrjahre in Meisterbüros, ohne all die langwierigen Aneignungsroutinen einfach Moderne produzieren kann? Wozu braucht man noch professionell ausgebildete Architekten, wozu jahrelang durch Schulen, Universitäten, Bibliotheken, Vortragsreihen, Literaturlisten und sonstige akademische Sweatshops pilgern? Die Moderne ist ja ab jetzt kein exklusives Geheimnis von visionären Eliten mehr. Niemand benötigt mehr all die akademischen Zwischenhändler, um den hochtheoretischen Kern des Modernseins in alltägliche Handlungen zu übersetzen. Die Moderne ist total entäußert und drängt sich bereits als Lifestyle auf. Voller Erfolg für ein Unternehmen, das von Anfang an groß und umfassend werden wollte. Immer noch Zweifel? Die Skeptiker können ruhig nähertreten und genau vergleichen. Was ist denn der Unterschied zwischen einem Haus von Neutra und Ellwood? In konstruktiver Eleganz und Präsenz ist Ellwood mindestens ebenbürtig. Projekte wie Rosen House, Kubly House oder Daphne House ruhen in moderner Perfektion – Mies van der Rohe konnte es nicht besser. Bei Zack House zeigt Ellwood sogar, dass er wie Schindler japanische Anleihen in seine Entwürfe einzuarbeiten versteht. Was will man ihm also vorwerfen, oder allgemeiner gefragt: Ist die tendenzielle Geringschätzung des Secondary Artist im Vergleich zum Primary Artist noch haltbar, wenn am Erzeugnis kein Unterschied erkennbar ist? Worin besteht der Minderwert? Die pathetische Kritik an Ellwood und seiner Generation ist schnell formuliert. Erstens war die Frage nach dem produktiven Kern der Architektur hinterhältig. Der Hinterhalt besteht im Begriff der Produktion selbst, der im kreativen Kontext eine abwertende Bedeutung hat. Luhmanns Unterscheidung zwischen Produktion und Schöpfung erklärt den Vorwurf: Produktiv ist nur derjenige, der sich dem gegebenen Kontext unterwirft und darin unkritisch drauflos arbeitet. Schöpferisches Arbeiten ist dagegen wesentlich sperriger, weil dabei der gesamte Kontext neu gedacht und neu geschaffen werden muss. Wenn also Ortmann erklärt, dass die Errichtung eines falschen Scheins betriebswirtschaftlich effizient ist, weil es den produktiven Kern einer Organisation gegen 194

Störungen abschirmt, dann bedeutet das übersetzt auf Architektur: Mit den großen Allegorien wird schöpferische Ambition vorgegaukelt, in Wirklichkeit hat man sich längst mit den Verhältnissen arrangiert und arbeitet ungestört seine Aufträge ab. Ein betriebswirtschaftlich effizientes Architekturbüro behauptet besser nur, modern zu sein, anstatt sich in tatsächliche moderne Abenteuer zu verirren. Das wäre also die pathetische Kritik. Aber stimmt sie? Drängt sich nicht eine gänzlich andere Lesung auf? Die Moderne der zweiten Generation erbt die Vorgaben der frühen Moderne, das ist ihr gegebener Kontext. Was aber ist so schlecht daran, innerhalb der Vorgaben von Neutra, Schindler, Mies van der Rohe etc. produktiv zu werden? War das plötzlich alles so falsch und böse, dass man sich in schöpferischer Hysterie davon lossagen musste? Darf Moderne generell nur eine Generation lang dauern, danach muss alles verworfen werden? Darf Moderne nur aus Prototypen bestehen? Und wer bestimmt überhaupt die Halbwertszeit von modernen Erzeugnissen, in welchen Zeitabständen hat man als schöpferischer Geist Tabula rasa zu praktizieren? Einmal im Leben, saisonal, täglich? Ab wann trifft einen der Vorwurf, den man jetzt Ellwood machen muss? Er war ein zu folgsamer Schüler der modernen Meisterarchitekten, obwohl er geradezu demonstrativ ein Architekturstudium verweigert hatte. Womit die Sache noch verworrener wird. Was ist denn die Rolle der Universität im Verhältnis zur Moderne? Stellt sie das Archiv der Moderne nur vor, um die nächste Studentengeneration anzustiften, gegen dieses Archiv zu revoltieren? Ist Ellwood dann der Verteidiger der Moderne als ehrwürdiger Tradition gegen die notorischen akademischen Revolutionäre? Spätestens jetzt, wenn Moderne als neue Tradition bezeichnet wird, beginnt die Definition von Moderne insgesamt dünn zu werden. Man muss sich entscheiden: Was ist Moderne? Hat die Moderne eine Substanz, die man vererben, lernen, weitertragen kann? Ist das angesammelte Archiv der ersten Generation, die Allegorien, Theorien, Projekte, Werkbiografien, unverzichtbar? Wenn ja, dann muss die zweite Generation auf eigene große Exaltationen verzichten. Damit wäre gleichzeitig eines der zwei großen Versprechen der Moderne storniert. Es gibt dann keine persönliche Freiheit für die zweite Generation. Oder ist Moderne die ständige affektive Befreiung, inhaltlich unbeladen, niemandem loyal? Lediglich eine rohe Energie, die anspringt, wenn die Verhältnisse zu drängelnd, gängelnd, vorausbestimmend werden? Wenn diese Deutung stimmt, dann muss man aber die Architektur der Ersten 195

Moderne zurücklassen. All die energischen Experimente, die fantastischen Ideen und tollen Prototypen sind dann plötzlich Ballast, der abgeworfen werden muss. Ohne mutwillige Leichtfertigkeit gibt es keine Freiheit. Die versöhnliche Fraktion wird für eine ausgewogene Kombination der beiden Extreme plädieren. Die besten Inhalte weitertragen und die Energie der Exaltation als gezähmten Antrieb nutzen? Klingt ausgewogen und kompromissvernünftig. Doch das ist genau das, was der unrühmliche Schwebeschwindel täglich tut – zum Schaden am Glauben an die Moderne. Die Idee der Moderne ist letztlich nicht kompromissfähig. Eine kategorische Entscheidung ist also unumgänglich. Auf irgendetwas muss man verzichten, auf das wertvolle Archiv, das schnelles Produzieren verspricht, oder auf den großen Befreiungsaffekt, der die kategorische Erneuerung verspricht. Beides zugleich funktioniert nicht. Das ist das Dilemma der zweiten Generation und gleichzeitig deren große Herausforderung. Die erste Generation hat die Moderne angestoßen, die zweite Generation muss sie am Leben erhalten. Letzteres könnte die schwierigere Aufgabe sein. Überraschenderweise kommt dabei wieder Ellwood in den Blick, weil er letztlich noch einmal sein Talent zur großen Leichtfertigkeit beweist – aber gänzlich anders als vermutet. Als der große publizistische Erfolg seiner Architektur in den 1970er Jahren nachlässt, wirft er hin. Mit nur 55 Jahren beendet Ellwood bereits seine Karriere als Architekt und zieht sich auf einen altertümlichen Landsitz in Italien zum Malen zurück. Stopp, fertig, danke. Auch mit dem Schlussmachen ist Ellwood erstaunlich früh dran.51 Schluss zu machen, weil die große Karriereparty nicht mehr laut genug läuft, ist nicht ganz das Gleiche wie eine tiefgründige Entscheidung zwischen Archivpflege und schöpferischem Befreiungsaffekt. Ellwood hinterlässt mit seinem Rücktritt auch keine neue Erkenntnis zum Wesen der Moderne. Aber er hinterlässt damit immerhin den Schlüssel zur Rettung der Moderne. Wie das? Man muss sich nur umsehen. Man kennt den Rücktritt ja bereits aus anderen Disziplinen als taktisches Manöver. Wenn in Politik, Wirtschaft, Sport etc. die Differenz zwischen Versprechen und 51 „And for all practical purposes, the change in taste at the end of the period of the American Dream put an end to his career. After a decade of declining interest in architecture and without exciting commissions since the late sixties, Ellwood retired from the profession at age 55.“ Alfonso Perez-Mendez. In. Craig Ellwood, Mónica Gili, Livio Vacchini. Craig Ellwood. Editorial Gustavo Gili. 2004. Seite 6

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Realisierung offensichtlich unüberbrückbar wird, folgt der Rücktritt. Der Zurücktretende wird dann zur Bad Bank des gescheiterten Unternehmens, er nimmt alle unerfüllten Versprechen und enttäuschten Hoffnungen auf sich und beerdigt sie gleichzeitig. Übrig bleibt ein schuldbereinigtes Unternehmen, das wieder kreditfähig ist. Für die Architektur ist der Rücktritt als aktiver Schritt allerdings ein neues Phänomen. Der Effekt ist dennoch verlässlich. Im besten Fall werden auch der Architektur die alten, unerfüllten Moderneversprechen aus dem Mund von neuen Verantwortungsträgern wieder geglaubt, und die Realisierung kann erfolgreich in die Zukunft verschoben werden. Der Rücktritt ist also die einzige Methode, um den Schwebeschwindel oder den Moderneschwindel insgesamt länger praktizieren zu können. Und wenn die Spannung zwischen Versprechen und Realisierung abermals ermattet? Dann folgt eben der nächste Rücktritt – ganz einfach. Allerdings nicht nur auf der Seite der unglaubwürdig gewordenen Verantwortungsträger, sondern auch auf der Seite des desillusionierten Publikums. Die Popmusik praktiziert diese Form des beidseitigen Rücktritts seit jeher höchst erfolgreich. In erstaunlich kurzen Abständen werden Interpreten und deren meist junge Fans durch eine neue Generation an Interpreten und neuen jungen Fans ausgetauscht. Damit kann die Begeisterungskurve trotz prinzipiell immer gleichem Inhalt wieder und wieder neu angestoßen werden. Teilweise hat sich die zeitgenössische Architektur ebenfalls schon in ähnliche Zyklen eingeübt. Implizit ist das also die große Entdeckung der zweiten Generation der Moderne. Man muss genauso wenig wie Mies van der Rohe jeden Montag die Architektur neu erfinden, aber man muss permanent die Erwartung anstiften, dass am nächsten Montag doch noch die große Erfindung passieren wird. Das große definitorische Dilemma der Moderne zwischen eigener Traditionspflege und permanenter Revolution ist damit immer noch nicht gelöst, sondern ebenfalls nur erfolgreich verschoben. Oder wird es ausgerechnet dazu eine Ausnahme vom Ablauf geben? Wird die große Erkenntnis zum definitorischen Dilemma der Moderne nicht von den unerfahrenen Jungen zu erhoffen sein, sondern von den zurückgetretenen Alten? Von all jenen, die den Moderneschwindel bereits durchlebt haben und in einer Art konfuzianischen Altersrevolution die Moderne neu definieren? Nicht wahrscheinlich.

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ROLLFELDER

Bewegungsepochen Mitten im Kalten Krieg schockte ein seltsames Vehikel die Westmächte. Der Kalte Krieg war nicht nur ein Rüstungswettlauf und ein ideologisches Ringen, er war auch ein Zeitalter der wechselseitigen Detailbeobachtung, die sich bis in hysterische Suggestionen steigern konnte. Die Erfahrung hat schon viele belehrt, dass sich die Schwierigkeit, ein Ding zu Gesicht zu bekommen, auf das Ding auswirkt. Es wächst proportional zur Schwierigkeit des Beobachtens. Das bekannte Loch-Ness-Phänomen. Jedenfalls konnte so aus einem Vehikel, das ein wenig seltsam aussah, das Kaspische Seemonster werden. Was war tatsächlich passiert? Die Sowjetingenieure hatten ein relativ großes Bodeneffektfahrzeug gebaut, das im Wasser starten und landen konnte und über der Kaspischen See längere Strecken absolvierte. Ein Bodeneffektfahrzeug, im Russischen Ekranoplan genannt, sieht wie ein fremdartiges Flugzeug aus, bewegt sich jedoch nur wenige Meter über dem Boden. Tiefflug könnte man meinen, doch das stimmt nicht, denn der Unterschied zu einem richtigen Flugzeug ist kategorisch. Der Ekranoplan fliegt nämlich gar nicht, er fährt stattdessen auf der Oberfläche, lediglich durch ein Luftpolster in die Höhe gehoben. Einmal aufgestiegen, entsteht das Luftpolster automatisch durch den Vortrieb und der Ekranoplan rollt wie auf einer Luftwalze dahin. Die Bezeichnung Bodeneffektfahrzeug fasst diesen effektvollen Umgang mit dem Boden kurz und verschweigt auch nicht die Zugehörigkeit. Der Ekranoplan ist ein Fahrzeug und kein Flugzeug. Technikhistoriker behaupten, dass sich die Flugversuche der Brüder Wright ebenfalls nur im 199

Bereich des Bodeneffekts bewegt hätten. Sie sind mit ihren Apparaturen zweifellos abgehoben, hätten aber den Boden als stützenden Untergrund nie verlassen. Warum die Sowjetingenieure trotz dieser Limitierung Bodeneffektfahrzeuge gebaut haben? Hohe Geschwindigkeit bei vergleichsweise hoher Traglast bei vergleichsweise niedrigem Energieverbrauch. Soweit die technisch-militärische Existenzberechtigung. Aus der Perspektive der Architektur ist die Faszination eine ganz andere. Man glaubte tatsächlich die Raumkategorien zu kennen: den 2-dimensionalen Raum, den 3-dimensionalen Raum, manche fabulieren gar vom 4-dimensionalen Raum. Doch plötzlich kommt der Ekranoplan und kartografiert den Raum neu. Das Bodeneffektfahrzeug agiert zwischen den Kategorien und etabliert damit einen 2,5-dimensionalen Raum. Durch die Luftpolsterfahrt wird die Oberfläche verräumlicht, sie trägt nun in Schwebeposition. Aus der Raumrichtung gedacht, gibt sich plötzlich ein zusammengepresster Raum zu erkennen, der kaum noch Luft hält, aber immer noch genug, um ein Vehikel über dem Nullniveau zu tragen. Salopp formuliert zeigt das Bodeneffektfahrzeug also billiges Fliegen, Fliegen für eigentlich Flugunfähige. Es ermöglich fast echte Raumausflüge für eigentlich Raumunfähige. Als Entdeckung ist die Luftpolsterfahrt aber umso fantastischer. Nicht jenseits, sondern inmitten des bereits Bekannten wird ein neuer Bewegungsmodus etabliert. Das ist disruptive Innovation par excellence. Was folgt aus dieser Erkenntnis? Eine Warnung und eine Riesenchance zugleich. Ein neuer Bewegungsmodus hat die Potenz, eine völlig neue Sphäre zu eröffnen und damit eine ganze Weltordnung umzuwerten. Die westlichen Beobachter hatten also allen Grund, beim Anblick des Ekranoplans alarmiert zu sein. Selbst wenn die Konsequenz der Entdeckung militärisch nicht devastierend war, so hat das Kaspische Seemonster dennoch den Rahmen des Möglichen signifikant erweitert, und hinter diese Entdeckung kommt niemand mehr zurück. In solchen Momenten wird auch allen klar, wie Geschichte im Großen gemacht wird. Ein neues Zeitalter kündigt sich immer mit einem neuen Bewegungs motiv an. Bewegung und Zeitgeschichte sind siamesische Zwillinge. Das eine hängt schicksalhaft am anderen. Deswegen sollte man als Architekt Bewegungsmotive aufmerksam verfolgen. Man sollte wissen, welche große Idee von Bewegung gerade vorherrscht, und man sollte gleichzeitig Ausschau halten, welche neue Bewegungsidee die nächste große Zeitenwende ankündigt. 200

Nullzeitbewegung werden die meisten jetzt vorschnell als Antwort einwerfen. Das klingt maximal progressiv. Das Internetzeitalter hat alle parallel geschaltet in einem permanent verfügbaren Zugriffsraum, der den Modus der Hyperbeweglichkeit verspricht. Man ist schon dort, bevor man überhaupt dorthin wollte. Zeit taucht dabei nur noch als Fehler auf, nämlich als Wartezeit, die es bei perfektem Funktionieren eigentlich nicht mehr geben dürfte. „Worauf werden wir warten, wenn wir nicht mehr warten müssen um anzukommen …?“,1 fragt Paul Virilio. Ein spannendes Gedankenspiel, das man jedes Mal ausführlich bedenken kann, wenn ein Download doch nicht so rasch abläuft wie erhofft und man minutenlang genervt auf den Bildschirm starrt, bis sich die Daten von A nach B bewegt haben. Aber die Direktive stimmt zweifellos. Virilio dekliniert dieses Gedankenspiel ausführlich weiter und spricht gleichermaßen von der Verschmutzung der Distanzen, die heute gegen Null schrumpfen.2 Auch das ist eher Direktive als Realität. Aber Theorie und Hochrechnung sind oft das gleiche Verfahren und so kann man feststellen: Mit dem Kollabieren der Zeit und dem Kollabieren der Distanzen verschwinden zwei klassische Barrieren der Beweglichkeit. Wenn das keine Zeitenwende ist, was dann? Überall und Sofort sind die beiden neuen Asymptoten des Onlinezeitalters. Davon abgeleitet müsste man nun eigentlich eine Welle digitaler Überall-und-sofortArchitektur hereinbrechen sehen. Architekten sind bekannt dafür, die neuesten Trends aus anderen Disziplinen sofort in ihre eigenen Belange einzubringen, mindestens durch semantische Übertragung. Eine ZeroBewegung in der Kunst gab es bereits, man wüsste also, wo man ideengeschichtlich anschließen könnte. Doch passiert das wirklich? Gibt es derart zugespitzte Überall-und-sofort-Architekturen, und wenn ja, werden sie jemals die Theorieseminare verlassen und zur konkreten Tatsache in der Welt werden? Wendet man sich noch einmal hilfesuchend an Virilio, merkt man, dass der schon längst einen großen Schritt weitergezogen ist. Beim Blick in die Zukunft sieht er die dritte dromologische Revolution kommen. Die ersten beiden dromologischen Revolutionen hatte er 1 Paul Virilio. Fahren, fahren, fahren … Merve Verlag. 1978. Seite 31 2 „Die ökologische Katastrophe ist weniger die Katastrophe der Verschmutzung von Substanzen, als die Katastrophe der Verschmutzung von Distanzen, das heißt die Reduktion der Welt auf nichts.“ Paul Virilio. In: Henning Schmidgen. Hrsg. Ästhetik und Maschinismus. Texte von und zu Félix Guattari. Merve Verlag. 1995. Seite 32

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präzise beschrieben: Das vehikelbasierte Fahren nennt er die erste dromologische Revolution, das Datenübertragungs-Zeitalter nennt er die zweite dromologische Revolution. Das zentrale Bewegungsmotiv der dritten dromologischen Revolution wäre schließlich die Transplantation.3 Soll man die Idee einer Überall-und-sofort-Architektur also schon wieder aufgeben und sich stattdessen auf die kommende Transplantationsarchitektur vorbereiten? Oder war das nur eine verstiegene Projektion von Virilio, am Abend der Postmoderne? An diesem Punkt ist es notwendig, die Suchparameter noch einmal zu präzisieren. Wenn jede neue Epoche mit einer neuen Bewegungsidee antritt, dann kann diese Bewegungsidee nicht sonderlich verstiegen sein. Sie muss eher naheliegend, umfangreich und vor allem durchdringend alltagstauglich sein, um eine Gesellschaft ganzheitlich zu erfassen.4 Der römische Straßenbau ist zum Beispiel ein Bewegungsmotiv von derart umfassender Dimension. Vor allem die römischen Fernstraßen haben Europa im Ganzen neu formatiert und integriert. Ähnliches gilt für die Kreuzzüge und die Kreuzritterorden, die zur Selbstfinanzierung die ersten internationalen Kredit- und Finanzströme begründet haben, und der Welt damit die ersten „schweifenden Kapitale“ beschert haben. Noch größer angelegt waren die maritimen Entdeckungsreisen als reale und geistige Horizontstürmerei. Ein extrem exzentrisches Bewegungszeitalter, das als Grundmatrix des neuzeitlichen, europäischen Menschseins gelten kann und mindestens anekdotisch ständig wiederholt wird. John Lautner rekapituliert einmal in wenigen Sätzen seine Familienbiografie und man ist erstaunt: Er weiß nicht, ob sein Vater aus Österreich oder aus Deutschland kam, aber er weiß, dass er mit dem Boot ankam – in Michigan wohlgemerkt, mitten im amerikanischen Kontinent. Ähnlich dauerpräsent in seinen Ausläufern ist das Kolonialzeitalter, die erste globale Habgierbewegung, deren externe Verheerungen letztlich als zähe Selbstbeschädigung zurückschlugen, wirtschaftlich, politisch und selbstdefinitorisch. 3 „Virilio ist der Speedfreak unter den Denkern. Er unterscheidet drei Revolutionen der Geschwindigkeit: – das Transportwesen im 19. Jahrhundert – die Transmissions- oder Übertragungsmedien im 20. Jahrhundert – und die künftige Revolution der Transplantationen.“ Verlagstext zu: Paul Virilio. Revolutionen der Geschwindigkeit. Merve Verlag. 1993. https://www.merve.de/index.php/book/ show/209. 14.05.2020 4 „In allen Revolutionen gibt es ein paradoxes Vorhandensein von Verkehr (Zirkulation).“ Paul Virilio. Geschwindigkeit und Politik. Merve Verlag. 1980. Seite 9

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Aber nicht alle großen Bewegungsmotive müssen real sein, um enorme Durchdringungstiefe zu erreichen. Die biblische Sintflut zum Beispiel ist bis in die aktuelle Wissenschaft hinein ein wichtiges westliches Denkmotiv geblieben, und wird heute vor allem in ökologisch bedingten Untergangsprophezeiungen weitergeschrieben. Wie viel Grad Erderwärmung sind letal, wie viel Zentimeter Meeresspiegelanstieg werden uns alle ersäufen, welche Küstenstadt wird als erste untergehen? An der Sintflut sieht man außerdem, wie nachhaltig derartige Bewegungsmotive sein können. Selbst wenn jede Zeit ihr bevorzugtes Bewegungsmotiv hervorbringt, so sind die Ausläufer der alten Motive immer noch aktiv. Geschichte ist immer Sukzession und Akkumulation zugleich. Die Moderne kann man als Ausläufer eines ganz anderen Bewegungsmotivs deuten, das vor 400 Jahren seinen Anfang nahm. Richard Sennett erklärt anschaulich, wie die bloße Entdeckung der Herzklappenfunktion und in der Folge die Entdeckung des Blutkreislaufs eine Zirkulationsmanie auslöst, die ab 1600 sukzessive das gesamte europäische Denken neu ausrichtet.5 Wenn das Blut durch den Körper zirkuliert, um dasLeben zu verteilen, dann muss bald alles andere auch zirkulieren. Die Gewänder müssen leichter werden, damit die Körpersäfte zirkulieren. Das Klopapier muss erfunden werden, weil Unreinheiten die Haut am Atmen hindern (1750). Und 1850 sind dann endlich die Städte dran: Haussmann durchspült Paris, schlägt Luftschneisen durch das alte Stadtdickicht und etabliert damit ein Stadtachsennetz, das Paris bis heute aufspannt. Darauf folgt Le Corbusier, der die gesamte stickige Pariser Altstadt abreißen will, und zeitgleich kann auch Rudolph Schindler in Los Angeles nicht genug von Luft und Lüftung bekommen. Er steht mit seiner Luftgier also in der Tradition eines 400 Jahre alten Bewegungsmotivs. Und noch etwas konnte die junge Moderne von den alten Zirkulationsfetischisten lernen: wie man den Verlust des vormodernen Mystischen kompensiert. Die Zirkulationsentdecker hatten nämlich zuallererst eine narzisstische Kränkung zu verarbeiten. Das Herz, Zentralorgan der Menschlichkeit und irdischer Doppelpartner der Seele, entpuppte sich als primitive, biomechanische Pumpe. Das entsprach so gar nicht den hohen Erwartungen an ein Zentralorgan. Die Lösung des Dilemmas ist strategisch brillant und gerade deshalb vorbildlich modern: Die Pumpe 5 Vgl. Richard Sennett. „Sich bewegende Körper. Harveys Revolution“. In: Fleisch und Stein: Der Körper und die Stadt in der westlichen Zivilisation. Suhrkamp Verlag. 1997. Seite 317

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wurde einfach aufgewertet, regelrecht geadelt und zum lebensspendenden Impulsgeber uminterpretiert. Boris Groys erklärt in anderem Kontext die Aufwertung als die Kernkompetenz des modernen Künstlers, ein besseres Beispiel hätte man ihm nicht nachtragen können.6 Die Aufwertung der Pumpe ist ein kulturtheoretisches Kunststück und natürlich macht die Architektur davon Gebrauch. Der Ort der Pumpe ist von nun an der wichtigste Ort im urbanen Gefüge, der Ort des Schlosses in Karlsruhe, die sternförmig anvisierten Stadtmittelpunkte in Paris. Von diesem Beispiel lernt man, dass der Abhängigkeit vom jeweiligen Bewegungsmotiv nicht zu entkommen ist, selbst wenn dabei ein wesentlicher Teil des momentanen Wertgefüges kollabiert und neu erstellt werden muss. In einer ausführlichen Tiefeninterpretation könnte man die Liste der großen Bewegungsmotive noch zahlreich ergänzen und weiterschreiben. Los Angeles als Metropole der Moderne wird man aber hauptsächlich über den selbstgewählten Bewegungsmythos der Moderne erschließen müssen. Doch der verläuft indirekt. Direkt ist der Moderne nur das Versprechen der individuellen Freiheit zu entnehmen, das aber in Amerika sehr einseitig in das Recht zur individuellen Verkehrsbewegung übersetzt wird. „Sein-zur-Bewegung“7 lautet die neue Formel und das bedeutet in der Praxis privater Pkw und Schnellstraße. Ein freier Mensch fährt mit dem Auto, wohin er will, und so jagt Steve McQueen mit seinem Ford Mustang durch die Gegend und macht jede Straße zu seiner Schnellstraße. „Man schlägt sich nicht mehr in die Büsche oder sucht das Weite, sondern entweicht an den Nicht-Ort der Geschwindigkeit“, nennt das Virilio.8 Besser als McQueen hätte man Virilios erste dromologische Revolution nicht radikalisieren können. Die Rede ist vom Film Bullitt9 aus dem Jahr 1968, der die erste zehnminütige Autoverfolgungsjagd auf die 6 Boris Groys. Über das Neue. Versuch einer Kulturökonomie. Carl Hanser Verlag. 1992 7 „Bereits in Eurotaoismus und Kopernikanische Mobilmachung und ptolemäische Abrüstung lesen wir, wie der moderne Aufklärungsprozess sich in eine Flucht nach vorne, in eine Mobilisierung um ihrer selbst willen pervertiert hat. Der universelle Prozess der Aufklärung soll uns nun endgültig vor der Konfrontation mit dem Reellen bewahren. […] Die kinetische Utopie der Moderne, Sein-zur-Bewegung und ihre Einbettung in die Technik, zeigt sich besonders in der allgegenwärtigen Automobilisierung, der Mobilisierung des Subjektes selbst (autos) […].“ Sjoerd van Tuinen, Peter Sloterdijk. Ein Profil. Wilhelm Fink Verlag. 2006. Seite 113 8 Paul Virilio. Fahren, fahren, fahren … Merve Verlag. 1978. Seite 32 9 Peter Yates. Bullitt. Solar Productions. Warner Bros.-Seven Arts. 1968

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Kinoleinwand bringt und das Bewegungsideal der Moderne überdeutlich in Szene setzt. Das Muscle Car dient dabei als das stürmische Befreiungsvehikel und wird zur globalen Amerikaikone. Und nicht vergessen: der Blickwechsel. Bewegung wird nicht mehr aus organisatorischer Sicht, quasi von oben, gedacht, sondern aus der Perspektive des bewegten, also freien Individuums erlebt. Das erste Point-of-View-Bewegungszeitalter stellt sich vor, und der Blick des rasenden Modernen ist der neue Blick auf die Stadt. Das Präriephantasma wird zum Speedphantasma gesteigert und damit zur Schnellexaltation. In der Prärie kommt jetzt tatsächlich Hoffnung auf. Es gibt sie also doch, die billige Exaltation für die Präriebewohner. Anstatt sich mühsam in Luftlagen oder elitäre Kreise hinaufzuarbeiten, stürzt man sich einfach in den Gegenwind. Jeder kann jederzeit Geschwindigkeit in der Horizontalen aufnehmen und so der verschlingenden Kraft des Bodens entkommen. Das Autofahren ist also das billige Fliegen fürs Volk und das Auto ein kleiner Ekranoplan für jedermann. Richtiges Fliegen ist das wie beim Ekranoplan zwar nicht, aber schon ein kleines Luftpolster unter dem Fahrersitz vermittelt sehr verlässlich den Eindruck, der Oberfläche enthoben zu sein. Theoretische Übertreibung? Bestätigend wirkt ausgerechnet die Gegenwirkung, der Unfall. Beim Verkehrsunfall wird der enthobene Mensch wieder geerdet und zurück auf den Boden verwiesen. Im schlimmsten Fall wird der verunfallte Körper sogar in einen Haufen Material zurückverwandelt, regelrecht aufgerieben und vom Asphalt absorbiert. Das bedeutet, der Autounfall ist das billige Materialdrama fürs Volk, ein Bruce-Nauman-Experiment für jedermann. Doch selbst wenn das Fahren das billige, aber populäre Exaltationserlebnis fürs Volk darstellt – wirken die alltäglichen Übungen dazu nicht etwas notdürftig? Zuerst sollte man bestätigen, dass die Adressierung dieser zweifelnden Anfrage richtig ist, denn gerade im Normalbetrieb wird der Charakter aller Ideen festgelegt, das gilt gleichermaßen für das Seinzur-Bewegung der Moderne. Die Frage lautet nicht mehr, wie sich ein singuläres Ego durch die Welt bewegt, sondern welche Form von Welt wird durch das Sein-zur-Bewegung einer Menschenmasse erzeugt. Entwurzelt euch, erhebt euch und enthebt euch, um allen die freie Fahrt zu ermöglichen – lautet der Auftrag der Moderne. Was passiert aber, wenn Architektur und Verkehr diesen populären Exaltationsauftrag tatsächlich annehmen? 205

Wenig überraschend, dass Architektur und Verkehr sofort im Gleichschritt loslegen, logistisch und ästhetisch. Die Städte werden mit Hochhäusern in die Vertikale entwickelt und mit Durchzugsstraßen horizontal aufgeschnitten. Die zulaufende Landschaft wird mit Autobahnen neu formatiert und die neuen Speedgeraden von dahinsegelnden Präriehäusern begleitet. Das sind die Großbaustellen des Seins-zur-Bewegung der Moderne. Kein Wunder, dass auch die Kritik und in weiterer Folge die Krise der Moderne beide Co-Produzenten gleichermaßen erfasst. Der Protest gegen die Brutalität und Monotonie der Architektur und der Protest gegen die Ignoranz und Zerstörungsintensität der Verkehrsbauwerke sind zwei aufeinander folgende Strophen des gleichen Klagelieds. Ein echter Schicksalspaarlauf also, der bis heute anhält. Die sogenannte Zweite Moderne, die in den 1990er Jahren von den Niederlanden aus über Europa kam, wusste ebenfalls von Anfang an mit markanten Doppelaussagen zu Architektur und Verkehr aufzufallen. Die Rehabilitation der Moderne brachte also wieder Architektur und Verkehr synchron auf die Bühne, als wäre das eine ohne das andere nicht denkbar. Seither weiß man, dass jeder Architekt, der den Auftrag der Moderne weiterführen will, ein möglichst originelles Architektur-plus-Verkehr-Joint-VentureProjekt in seinem Werkverzeichnis haben muss. Farmax, ein Buch unter der Federführung von MVRDV, zeigt zahlreiche ikonografische Entwürfe, die Architektur und Verkehr in spektakulärer hybrider Mischung vorschlagen.10 Wobei der spektakuläre Ansatz als strategische Klugheit zu lesen ist, um der Kritik zu entkommen. Im Zeitalter des Erlebnishungers hat sich ausgerechnet der Extremismus als kritikresistent erwiesen. Die Kritik an Architektur und Verkehr fokussiert viel lieber auf das Mittelmaß. Rennwagen sind toll, Hochhäuser sind toll, nur die Normalkolonne der Normalautos auf dem Weg vom Einfamilienhaus ins Shoppingcenter ist ein Problem. Und abermals ist die Kritik im Stereoklang zu vernehmen: Wenn heute über Ökobilanzen geredet wird, dann sind Pkw-Kolonnen und wuchernde Stadtperipherie die beiden großen Schadensbilder, um jedem einzelnen seine Schuld an der Nachhaltigkeit vorzurechnen. Wie viel Welt verbrennst du fürs Fahren, wie viel Welt verbrennst du für hedonistischen Raumanspruch? Auf diese vorwurfsvolle Bilanz folgt üblicherweise ein zukunftssichtiger Abgesang auf das Auto und den Individualverkehr. Nicht einmal 10 MVRDV. Farmax. Excursions on Density. 010 Publisher. 1998

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mehr vermeintliche Autostädte wie Los Angeles sehen im individuellen Bewegungsanspruch der Moderne und dem linearen Speed-Versprechen die große Zukunft. Schon mit der Erfindung der Carpool Lane war die Stimmung endgültig am Boden. Man steigt in sein Bullitt-Auto, bereit zur Egosturmfahrt auf der Autobahn, und wird rechts vom trägen Familienmobil überholt? Wer Oma ins Shoppingcenter mitnimmt, hat eben mittlerweile Vorfahrt auf einer eigenen Autobahnspur. Wer allein im Auto die Welt erobern will, muss warten und wird dem alltäglichen Stau ausgeliefert. Derartige Alltagserfahrungen prägen sich ein. Mobilität wird mittlerweile eher als Service verstanden und weniger in Objektfetischismen übersetzt. Man will von hier nach dort, wie ist egal. So jedenfalls lauten die großen Tendenzlinien, die von Mobilitätsforschern in die Zukunft geschrieben werden. Zusammenfassend muss man also gestehen, dass der Massenbetrieb des modernen Seins-zur-Bewegung mittlerweile als großes Versagen qualifiziert wird. Wieder ein Exaltationsweg, der nicht zum Ziel führt. Allerdings ist diesmal das Motiv des Scheiterns genau gegenteilig. Die Exaltation in die Luft ist an der Nicht-Realisierbarkeit gescheitert, die Exaltation in die Geschwindigkeit ist jedoch an der zu leichten Realisierbarkeit gescheitert. Mutwillig positiv formuliert könnte man sagen, die Moderne war mit ihrem Bewegungsversprechen zu erfolgreich und hat dabei ihre Realisierungskapazitäten überfordert. Ein Scheitern, das im Prinzip typisch ist. Viele der großen historischen Bewegungsmotive sind letztlich von ihrer eigenen Erfolgswelle erdrückt worden. Die Moderne muss jedenfalls akzeptieren lernen, dass im alltäglichen Massenbetrieb das Sein-zur-Bewegung nicht mit freier Fahrt übersetzt werden kann. Diese düstere Abrechnung mit dem modernen Sein-zur-Bewegung mag stimmen, aber die historische Bruchlinie im Mobilitätsverständnis könnte dennoch nicht falscher gelegt sein. Die Alternative zur schnellen und linearen Fahrt wird nicht heute oder morgen entwickelt, sondern ist längst etabliert. Man weiß nicht, ob Virilio jemals den Whittier Boulevard in Los Angeles entlanggefahren ist oder auf dem Van Nuys Boulevard das Valley durchquert hat, oder wenigstes George Lucas Film American Graffiti gesehen hat. Er wäre jedenfalls einer fröhlich-selbstbewussten Gegenwelt zu seiner Geschwindigkeitstheorie begegnet. Schon in den 1940er Jahren, also mitten im Massenauftritt des Autos in den Städten, wurde die theatralische Langsamfahrt erfunden. Aber das 207

will Virilio nicht sehen, weil die theatralische Langsamfahrt nicht zu seiner Logik passt: „Die Gerade ist die Vorwegnahme der Hochgeschwindigkeit: die Geradlinigkeit der Trasse zwischen zwei Polen, zwischen zwei Städten nahm die Spur der schnellen Vehikel vorweg“.11 Der Whittier Boulevard und der Van Nuys Boulevard sind ebenfalls lange Stadtgeraden und sollten nach dieser Logik zur Hochgeschwindigkeit anstiften. Doch die Cruiser in den 1940er Jahren machten genau das Gegenteil. Sie protestierten mit der theatralischen Langsamfahrt gegen den geometrischen Zwang zur Geschwindigkeit und etablierten damit einen gänzlich anderen städtebaulichen Seinsmodus. Es ging nicht darum, in das Nicht-Gebiet der Schnelligkeit zu entfliehen – wie Virilio es beschreibt –, sondern es ging darum, im Hier und Jetzt einen beeindruckenden Auftritt hinzulegen: „Like most kids that grew up in the Valley, I had a strong interest in cruising. When I got to college and I actually studied a lot of anthropology I began to realize that that was a uniquely American mating ritual involving automobiles. When I came up with the idea of doing the movie it was in the 60th, it was the hippie culture, drugs, cruising was gone. And I really felt compelled to sort of document the whole experience of cruising and what my generation used as a way of meeting girls and what we did in our spare time.“12 George Lucas Erklärung zum Cruisen ist doppelt wertvoll. Nicht nur weil er die Wichtigkeit dieser Mobilitätskultur erkennt und filmisch in Szene setzt, sondern weil er sie so fundamental definiert. Er sieht das Cruisen nicht als nettes Hobby oder lustige Idee, sondern betrachtet es aus anthropologischer Perspektive. Wobei das Amerikanische daran lediglich der legale Zugang von Jugendlichen zu Automobilen ist. Man darf also annehmen, dass bei gleicher legaler und wirtschaftlicher Basis das Cruisen überall stattfinden würde. Das moderne Sein-zur-Bewegung muss jedenfalls als Sein-zur-Begegnung verstanden werden. Das Auto wird wesentlich sozialer eingesetzt, als das die Theoretiker der Moderne erwarten. Virilio schreibt noch: „Die schnelle Bewegung hat die Erfahrung des durchquerten Bereiches mit Eis überzogen, die Tatsachen haben sich aufgelöst, wie in der Wüste haben wir keinen Anhaltspunkt mehr außer uns selbst“.13 Doch nichts könnte gegenteiliger sein als das Cruisen. Es geht nicht um frostige Einsamkeit, sondern um heiße Begegnung. Je mehr und je dichter und je 11 Paul Virilio. Bunker-Archäologie. Carl Hanser Verlag. 1992. Seite 19 12 George Lucas. In: Laurent Bouzereau. The Making of ‚American Graffiti‘. 1998 13 Paul Virilio. Fahren, fahren, fahren … Merve Verlag. 1978. Seite 26

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intensiver, desto besser. Für die Modernekritiker ist das eine große Überraschung. Moderne ist in der breiten Praxis also doch keine asketische Religion. Mit verklemmter Egozentrik und noch verklemmterer Kontaktangst ist keine moderne Gesellschaft zu machen. Man hätte gewarnt sein müssen, als Virilio sein Buch Fahren, fahren, Fahren … mit einer sehr speziellen Widmung einleitete, die ganz und gar nicht die soziale Ambition des Fahrens wiedergibt: „Sarah Krasnoff gewidmet, die 1971 auf der Flucht vor den Psychiatern praktisch ohne Unterbrechung fünf Monate lang in den Maschinen der KLM saß und über 160 Mal den Atlantik überquerte, bevor sie ruiniert und am Ende ihrer Kräfte im Zimmer 103 des Hotel Frommer in Amsterdam starb.“14 Doch so psychopathisch wie Virilios dromologische Heldin ist der moderne Zeitgenosse nicht. Gott sei Dank – darf man anfügen. Er ist vielleicht fasziniert von extremen Haltungen, aber der tatsächliche Alltag ist wesentlich verbindlicher. Diesem Eingeständnis zur Verbindlichkeit scheint zu widersprechen, dass es in der Cruiser-Szene durchaus Wettrennen und Wettkämpfe gab, also eruptive Episoden des riskanten Egofahrens. Aber das waren Ausnahmesituationen und die Trophäen und der Statusgewinn dieser Ausnahmesituationen wurden sofort wieder in die soziale Praxis des Cruisens eingebracht. Zyniker werden anmerken, dass auch das Drive by Shooting zur Idee des Cruisens gehört. Das ist richtig, bleibt aber dennoch auf der Linie der prinzipiell sozialen Ausrichtung – lediglich in maximal destruktiver Richtung. Die Fahrt dient der direkten Injektion von Terror in die Neighborhood – wie Henry Rollins singt: „We’re gonna get in our car. We’re gonna go, go, go. We’re gonna drive to a neighborhood. Kill someone we don’t know. Drive By Shooting!“15 Auf ruppige Weise wird mit dem Drive by Shooting sogar Lucas anthropologischer Perspektive bestätigt und der Lebensbogen des Homo automobilis abgeschlossen. Im Auto findet die Anbahnung zwischen den Geschlechtern statt, am Rücksitz die Reproduktionsarbeit, und beim Drive by Shooting die schonungslose Auslese. In den 1960er Jahren ist es dann aber vorbei mit dem Cruisen – lässt Lucas wissen. Die jungen Leute hatten andere Methoden der Kontaktnahme etabliert. Doch auch dieser Umbruch bestätigt die starke soziale Verwendung des Autos. Es war nie Fetisch, sondern immer nur Mittel

14 Paul Virilio. Ebd. Seite 5 15 Henry Rollins. Drive By Shooting. Texas Hotel. 1987

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zum Zweck. Menschen sind unverbesserliche soziale Wesen.16 Dazu passt der zeitgenössische Vorzug des Smartphones vor dem Auto bei der gleichen Altersgruppe. Auch das ist kein direktes Votum gegen das Auto, sondern nur soziales Kalkül. Gegen das momentan potenteste Kontaktvehikel sind alle anderen chancenlos. Doch die Einordnung des Autos in einen Wettbewerb der potentesten Kontaktvehikel eröffnet der Autoindustrie sogar eine Rettungsstrategie für ihre enttäuschten Absatzerwartungen. Sobald ein Auto erfunden wird, das soziale Interaktion besser ermöglicht als alle anderen Kontaktvehikel, ist der nächste Absatzboom garantiert. Dazu müsste die Autoindustrie aber das absehbare Scheitern nutzen, um einen völlig anderen Designblick auf ihr Produkt einzunehmen. Die Cruiser-Szene in Los Angeles hat genau das geleistet. Sie hat ihre Idee von der fahrenden Begegnung konkret modelliert und damit gezeigt, wie das Auto fit gemacht werden muss, um als Kontaktvehikel konkurrenzfähig zu sein. Aus der Cruiser-Szene ist die Lowrider-Szene geworden. Low and Slow lautet das Motto der Lowrider. Die Langsamfahrt wird dabei intensiviert durch das deutliche Tieferlegen der Fahrzeuge. Das wirkt auf den ersten Blick wie eine skurrile ästhetische Übung, ist aber gerade aus der Perspektive der Moderne die Eröffnung einer völlig neuen Dimension – ähnlich wie beim Ekranoplan nur in Gegenrichtung orientiert. Das Bodeneffektfahrzeug steigt auf und verräumlicht dadurch das Fahren zu rollendem Billigfliegen. Der Lowrider hingegen wird abgesenkt, und versucht aus dem Fahren die Abgehobenheit so weit wie möglich herauszunehmen, Zentimeter um Zentimeter bis zum absoluten Minimum. Der Lowrider darf zwar keinesfalls am Boden aufsitzen, darf seine Bewegungsfähigkeit nicht einbüßen, aber er muss den Boden so nah wie möglich spüren. Aus Fahren wird Gleiten. Das Gleiten ist eine Bewegungskategorie, die von der Moderne gänzlich übersehen worden ist, genauso wie das Luftpolsterrollen des Ekranoplans. Vermutlich, weil das Gleiten auf den ersten Blick schlichtweg keine Vergrößerung der Freiheit verspricht, die vermutet man eher in den großen, ausladenden, ausbrechenden Bewegungen. Doch die Lowrider haben eine raffinierte neue Form von Freiheit gefunden: 16 „Selbst eine Gangsterbande braucht eine Kleinigkeit mehr als die bloße Rechnung, das eigenen Interessenkalkül. Die Kleinigkeit mehr ist das Reden und Geschichtenerzählen, das Vertrauen schafft und Vertrauensmissbrauch ermöglicht.“ Hannes Böhringer. Auf dem Rücken Amerikas. Eine Mythologie der neuen Welt im Western und Gangsterfilm. Merve Verlag. 1998. Seite 138

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die Beschränkung auf das Minimum. Es reicht, lediglich die Reibung mit der Welt aufzuheben, und schon kann sich eine ganze Gleit-Community formieren, in der rührende, rollende, mischende Bewegungen ein neues Gemeinschaftserlebnis erzeugen. Diese Beschreibungen klingen nach Softporno, doch man kann den Vergleich ohne Schaden annehmen. Hardcore-Bewegung ist in Summe schlicht ein schlechter Deal. Man kommt weit hinaus, bezahlt die Freiheit aber mit zunehmender Isolation. Was nutzt das schnellste Flugzeug, die weiteste Reise, der wildeste Angriff, wenn niemand sonst mehr mithalten kann. Freiheit ist letztlich wie Geld, sie muss in neue Verbindungen investiert werden, um ihren Wert zu zeigen. Die Lowrider wissen das, und bleiben verlangsamt bewegt in gemütlicher Verbindung. Auch dazu liefert George Lucas eine pointierte szenische Umsetzung. Im Nachfolgefilm More American Graffiti lässt er zwei Lowrider mitten im Vietnamkrieg im Angesicht eines übereifrigen Vorgesetzen ihre Selbstdefinition vortragen: „Little Joe Young: ‚They call me Joe the Pharaoh, back home I was a lowrider.‘ […] Terry Fields: ‚And Sir, I don’t want to disappoint you, Sir, but you’ve got yourself in with a couple of cowards here. We like things safe and easy. Understand?‘“17 Aber bringt man sich mit der Verlangsamung der Bewegung nicht in gefährliche Nähe zum Stillstand? Ein kleiner Fehler und man sitzt fest? Die exaltierte Bewegung erscheint da die sichere Option. Auch die Lowrider haben diese Gefahr erkannt und lassen ihre Fahrzeuge gelegentlich einen exzentrischen Vitalitätsbeweis vorführen. Die Autos heben, strecken sich, manche vermögen zu hüpfen, zu schaukeln oder noch erratischere Bewegungen auszuführen. Das alles wird mittels elektrischer Hydraulikpumpen erreicht, die von Ron Aguirre im Jahr 1959 erstmals eingebaut wurden, um die abgesenkten Autos bei Polizeikontrollen wieder auf den legal zulässigen Bodenabstand anheben zu können. Aus diesem pragmatischen Notausstieg aus der zu intimen Gleitbewegung sind mittlerweile Lowrider-Hopping-Competitions geworden, in denen die Lowrider vorführen, dass Low and Slow ein höchst freiwilliger Bewegungsmodus ist und kein Ausdruck von Schwäche und Verfall. Aus der Perspektive der Architektur ist die Lowrider-Szene insgesamt eine gewinnbringende Vorführung, weil sie als Anleitung zu gelungenem Städtebau gelesen werden kann. Mit minimalem Aufwand mannigfaltige 17 Bill L. Norton. More American Graffiti. Lucas Film Ltd. 1979

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Beweglichkeit herzustellen und dabei immer in Kontakt zu bleiben, ist das perfekte Mission Statement für jeden Planer. Gleichzeitig erkennt man an den gelebten Szenen aus der Cruiser- oder Lowrider-Szene, dass mit der Veränderung des Fahrens, selbst wenn es nur kleine Nuancen sind, die Stadt insgesamt umgewertet werden kann. Dieser Beobachtung muss man unbedingt nachgehen, denn genauso wie die Autobauer ihren Designblick auf ihr Produkt ändern müssen, um den Anschluss an die Gesellschaft nicht zu verlieren, muss auch der Städtebau einen neuen Designblick auf sein Produkt etablieren. Im Städtebau gibt es kein Wünschen, sondern nur die Versöhnung mit dem real Machbaren. Das bedeutet aber nicht nur, das Fahren differenzierter zu recherchieren, sondern es bedeutet außerdem, Stadträume in den Fokus zu nehmen, denen man bislang nicht das Schicksal einer Stadt überlassen wollte. Gemeint sind die endlosen Fahrspuren, die ausufernden Parkplätze, das Patchwork an Restflächen, Asphaltbrachen und die oft nur hingeworfene Architektur darauf. Trotz der planerischen Hoffnungslosigkeit, die man vielen dieser Stadtflächen attestieren muss, entscheidet sich hier der Städtebau der Zukunft. Hier wird der Bewegungsdrang der Moderne neu modelliert, hier wird die Stadt neu modelliert, und hier wird die Fassung des Stadtbewohners neu modelliert. Davon handelt die dritte Ambition.

Reservierte Stadt Los Angeles ist keine Autostadt. Disneyland, die Third Street Promenade in Santa Monica, der Ocean Front Walk in Venice Beach etc. sind Fußgängerzonen. Entlang der öffentlichen Strände, in Teilen Hollywoods, am Wochenende entlang der Melrose Avenue und des Beverly Boulevard, in Downtown oder in Chinatown ist das Auto ebenso überflüssig oder wird zum lästigen Anhängsel wie in Teilen europäischer Kernstädte. Auf die erste Klischeekorrektur folgt sogleich die nächste: Los Angeles ist nicht so homogen, wie man das aus der europäischen Fernsicht gerne unterstellt. Die Stadt ist ein Nebeneinander höchst unterschiedlicher urbaner Sondersituationen: Bel Air, Silver Lake, Downtown, Palos Verdes, Mid-Wilshire, Compton, Seal Beach, Sun Valley, der Los Angeles International Airport, der Campus der University of California – eine

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Spezialitätenliste ohne Ende. Mit der stereotypen Los-Angeles-Schablone ist all das nicht zu fassen, und wer es trotzdem versucht, macht sich nur blind für die tatsächlichen Verhältnisse. Dennoch wird man durch jede dieser Sondersituationen verfolgt von etwas immer Gleichen. Man ist nie alleine mit dem Individuellen, ist ihm nie ganz ausgeliefert. Wie ein Rahmen drängt dieses Gleiche um jede Wahrnehmung und engt sie ein. Die saloppe Benennung dieses Gleichen ist erst die halbe Antwort: Egal, wo man sich in Los Angeles befindet, man hat immer den Autoschlüssel in der Hosentasche. Los Angeles ist keine Autostadt, sondern eine Autoschlüsselstadt. Klingt unernst und verweist doch wieder aufs Auto, allerdings in einem kategorisch anderen Verständnis: Nicht alles in Los Angeles wird aus dem Auto heraus erlebt, nicht alles ist drive-through, aber wo immer man sich aufhält, man ist garantiert mit dem Auto dorthin gefahren und wird den Ort wieder mit dem Auto verlassen. Das ist der einengende Rahmen, der einen nie loslässt. Individualität gibt es nur als kurzfristiges Mittelstück, eingezwängt in den stets gleichen Auftakt und in den stets gleichen Abgang. Schönes Beispiel ist ein Besuch im Getty Center. Dort wird man von einer eigenen Bergbahn als einzigem Verkehrsmittel auf den Hügel des Centers befördert. Ein nettes, systemkritisches Verkehrsexperiment inmitten von Los Angeles. Doch um überhaupt zu dieser Bahn zu kommen, ist man typischerweise mit dem Auto die Interstate 405 gefahren, hat die Getty-Abfahrt genommen und hat sein Auto in der Getty-Garage abgestellt. Im Übrigen verlangt das Getty Center keine Eintrittsgebühr, sehr wohl aber eine Parkgebühr. Damit ist klar, wo der eigentliche Zutritt beginnt. Die Bahnfahrt ist nicht Teil der Anreise, sondern bereits Teil der alternativen Getty-Welt. Diese Dramaturgie wiederholt sich täglich in permanenter Abfolge: Autofahrt, dann Stadterlebnis, dann wieder Autofahrt, gefolgt vom nächsten kurzen Stadterlebnis, gefolgt von der nächsten Autofahrt etc. Das Getty-Beispiel ist dabei sogar irreführend, weil es eine Ausnahmedestination darstellt. Die meisten Bewegungsschleifen werden hingegen in Dauerwiederholung absolviert. Haus–Büro–Haus, Haus– Shoppingcenter–Haus etc. Damit ist die nächste Klischeekorrektur eingeleitet: Menschen in Los Angeles sind keine Nomaden. Der Begriff des Stadtnomaden wird vielfach bemüht, könnte aber nicht unpassender sein, wenn man das große Bewegungsbild betrachtet. Nomaden wiederholen

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nicht täglich die gleichen, eng gefassten Wegschleifen wie Kettenhunde.18 Menschen in Los Angeles sind immer nur Gerade-von-zu-HauseKommende oder Gerade-nach-Hause-Fahrende, in knappen Auslaufradien gehalten. Hier wird also kein großer, nomadischer Weg entworfen mit offenem Anfang und offenem Ende, sondern ein neurotischer Schleifenweg permanent bestätigt und verfestigt.19 Damit wird der Rahmen, der sich um die wenigen individuellen Lebensszenen in der Stadt legt, noch einmal enger gezogen. Wer sich länger in Los Angeles aufhält und den zwangsfröhlichen Touristenblick langsam gegen einen alltäglichen Blick tauscht, wird feststellen, dass die Stadt ein unerschöpfliches Angebot an Langeweile bereithält. Das wird nicht gern zugegeben, ist auch nicht das zentrale Charakteristikum, aber eine starke, aufdringliche Realität. Was folgt daraus? Zuerst muss man den Begriff Straße neu definieren. Die Straße ist keine territoriale Kategorie, sondern zuallererst ein sozialorganisatorisches Ereignis. Straße ist nicht dort, wo Straße gebaut oder asphaltiert wird, sondern wo die Straßenverkehrsregeln befolgt werden. Nur diese totale Verhaltenssynchronisation entlang einer Regelvorgabe unterscheidet die Straße von anderen versiegelten Flächen. Man muss sitzen, schauen, handeln wie vorgeschrieben, man darf nicht einmal kurz die Augen schließen. Sogar die Interaktion mit den anderen Fahrenden ist reglementiert und standardisiert: Blinklichter, Handzeichen,

18 „Aber die Frage ist, was ein Prinzip des nomadischen Lebens ist und was nur eine Folge. Zunächst einmal sind die Punkte, selbst wenn sie die Wege bestimmen, den Wegen, die sie bestimmen, streng untergeordnet, im Gegensatz zu dem, was bei den Seßhaften vor sich geht. […] Das Leben der Nomaden ist ein Intermezzo. […] Der Nomade ist durchaus kein Migrant, denn ein Migrant geht prinzipiell von einem Punkt zum anderen, selbst wenn dieser andere Punkt ungewiss, unvorhersehbar oder nicht genau lokalisiert ist. Aber der Nomade geht nur durch den Zwang der Notwendigkeit, als Konsequenz, von einem Punkt zum anderen […].“ Gilles Deleuze, Félix Guattari. Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie. Merve Verlag. 1992. Seite 522, 523 19 „Zweitens hat der Weg des Nomaden, auch wenn er Pisten oder gewohnten Pfaden folgt, nicht dieselbe Funktion wie der Weg der Seßhaften, der dazu bestimmt ist, einen geschlossenen Raum unter den Menschen aufzuteilen, jedem seinen Anteil zuzuweisen und die Verbindung zwischen den Teilen zu regulieren. Ganz anders der nomadische Weg: er verteilt die Menschen (oder Tiere) in einem offenen Raum, der nicht definiert und nicht kommunizierend ist.“ Gilles Deleuze, Félix Guattari. Ebd. Seite 523

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nicht behindern, nicht schimpfen etc. Ins Auto zu steigen, bedeutet für den Fahrer, in eine Prozession der Gleichschaltung einzusteigen, ohne Widerstand, ohne Störung, ohne Gegenexperiment. Künstliche Aufregung? Sollte man nicht froh sein, dass sich alle an die Verkehrsregeln halten? Ja sicher, aber die Gleichschaltung auf der Straße bleibt ja nicht auf die Straße beschränkt, sondern hat epidemische Wirkung. Am Erschreckendsten merkt man es an sich selbst. Man selbst ist durch die tägliche An- und Abfahrtsroutine vollkommen angeglichen. Mit der Erfindung der Straße ist gleichzeitig ein NormmenschFormat erfunden worden, das jeder annimmt, sobald er ins Auto steigt. Nicht zu jung, nicht zu alt, nicht gebrechlich, nicht ernsthaft krank, nicht betrunken, hysterisch oder sonstwie funktionseingeschränkt. Man trägt die gleichen bequemen Schuhe, die gleichen nicht ganz engen Hosen, isst die gleichen Ein-Hand-Mahlzeiten. Man erkennt einander bereits und man erkennt sich selbst bereits. Egal wo man ist, die gleiche schlechte Körperhaltung, der gleiche ziehende Schmerz im Rücken und der gleiche Autositzgeruch an der Kleidung. Und dieses Mal werden auch die fröhlichen Cruiser nicht rettend einspringen. Ganz im Gegenteil. Wenn George Lucas anthropologische Beobachtung stimmt, und die jungen Leute der 1940er und 1950er Jahre ihre Sexpartner über das Cruisen kennengelernt haben, dann wäre damit die erste evolutionäre Auslese mittels Auto passiert. Die Kinder der Cruiser-Generation teilen alle die gleiche genetische Ausstattung hinsichtlich Fahrtauglichkeit, mindestens Mitfahrtauglichkeit. Radikale Fußgänger oder Radfahrer wären jedenfalls an der CruiserAuslese gescheitert und hätten sich nicht vermehrt. Schlechter Witz? Wer den Mobilitätsmix in Los Angeles kennt, wird das gar nicht so abwegig finden. Wer hier nicht fahrtauglich ist, stirbt aus. Das penetrante Gleiche, das in Los Angeles jede Wahrnehmung einengt, ist also plötzlich ein persönliches Defizit geworden. Das Talent zur Langeweile, das man lieber der Stadt anlasten möchte, ist jetzt auf die eigene Persönlichkeit übergesprungen. Autofahrer erleben sich selbst nie im Exzess oder in Extremzuständen, Autofahrer sind dazu verdammt, nicht nur die sie umgebende Außenwelt, sondern auch sich selbst immer gefiltert durch die gleiche nüchterne Stimmungslage wahrzunehmen. Keine andere Erfindung hat Menschen mehr diszipliniert, homogenisiert und banalisiert als der Pkw, und keine Erfindung hat das Erleben der eigenen Persönlichkeitsbandbreite mehr 215

eingeschränkt als das Autofahren.20 Jeder zweite Rocksong bemüht zwar noch die alte On-the-road-Metapher, aber erfolgreiche Rockstars sind längst als Passagiere im Privatjet unterwegs. Da bemüht keiner mehr das Servolenkrad am Mittelklassewagen. Man muss mittlerweile schon fast dankbar sein, wenn doch gelegentlich ein Prominenter mit einer irregulären Autofahrt unter toxischer Beeinträchtigung gegen die kollektive Gleichschaltung opponiert. Doch auch diese Widerstandsmomente verglimmen schnell wieder, wenn danach die medial groß inszenierte Ausnüchterung absolviert wird. Die Gleichschaltung wird dann medialgerichtlich und oft real-gerichtlich wiederhergestellt. Zivilisiertheit wird heute mit Fahrtauglichkeit gleichgesetzt, da gibt es keine Gnade. Wenn Vilém Flusser beim Vergleich der Verkabelungslogik fürs Fernsehen und fürs Telefon faschistische Bündelungen zu erkennen glaubt, dann muss man auch hier provozierend feststellen: Straßen sind protofaschistische Bündelungsübungen.21 Eine Konsequenz, die man dem lebensfrohen Sein-zur-Bewegung nicht zugetraut hätte. Angesichts dieser protofaschistischen Gleichschaltung ist es kaum verwunderlich, dass zahlreiche motorsportliche Sonderveranstaltungen versuchen, den Freiheitsmythos des Autos wenigstens partiell zu restaurieren: NASCAR, Rallyes, Tragster, Monstertruck-Rennen oder formalästhetische Wettrennen wie bei Pimp my Ride sind nachhaltig populär. Viele dieser Sonderveranstaltungen laufen zwar ebenfalls innerhalb ausgesprochen enger Regelkorsetts oder stilistischer Moden ab, lassen aber eine entscheidende Entwicklungsrichtung offen: Die Teilnehmer dieser Sonderveranstaltungen ermitteln einen Sieger, honorieren also die extremste Form der Individualisierung. Im Wettkampf wird nicht die Gleichschaltung angestrebt, sondern das Gegenteil, die Ungleichheit so weit aufgeschaukelt, dass am Ende zwischen Siegern und Verlierern, zwischen Herausragenden und Belanglosen unterschieden werden kann. Das ist die entscheidende Ausschweifung, die eine Straße nicht zulässt. Die Straße verbietet Sieger. In Rennvokabeln formuliert: Auf der Straße 20 „Dieser intime Verkehr mit sich selbst, diese formelle Loslösung ist nirgends so ergreifend als vor dem Tod. Ein großartiger Kompromiss wird vollzogen: bei sich zu sein und stets weit fort zu sein. Der Wagen erweist sich als ein Zentrum einer neuen Ichbezogenheit, deren Umkreis gar nicht deutlich abgesteckt ist.“ Jean Baudrillard. Das System der Dinge. Über unser Verhältnis zu den alltäglichen Gegenständen. Campus Verlag. 1991. Seite 88 21 „Die Kabel können nämlich statt zu Netzen zu Bündeln geschaltet werden, ‚faschistisch‘ statt ‚dialogisch‘. Wie Fernsehen, nicht wie Telefone. In so einem entsetzlichen Fall wären die Häuser Stützen für einen unvorstellbaren Totalitarismus.“ Vilém Flusser. Medienkultur. Fischer Verlag. 1997. Seite 163

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findet nur eine ergebnislose Pace-Car-Phase statt. Mancher könnte natürlich schneller, wilder, eigenwilliger, aber er darf nicht.22 Für die Bewertung des urbanen Raums in Los Angeles ist diese Konsequenz dramatisch: Gerade dort, wo eine ausgedehnte Straßeninfrastruktur bereitsteht, ist die Straße für das Einlösen des modernen Freiheitsversprechens völlig irrelevant. Man darf also getrost steigern und feststellen: Indem die Straße ihre Teilnehmer gleichschaltet, ist sie sogar eine unamerikanische Veranstaltung. Und diese harsche Disqualifizierung ändert sich auch nicht, wenn man die Straße Ronald Reagan Freeway tauft. Und es wird noch schlimmer: Was passiert denn, wenn der gleichgeschaltete Autofahrer die Straße verlässt? Wie immer im Städtebau passiert das Naheliegende. Der Autofahrer trägt seine Gleichschaltung in die Nicht-Straßenflächen hinein und kontaminiert sie damit. Auf der Straße wird der Normmensch zwar geboren und ständig in Form gepresst, aber jenseits der Straße ist dieser Normmensch noch immer wirksam als Normkonsument. Er fordert die gleichen Dinge, kauft die gleichen Dinge und gibt an die Stadt die gleichen Handlungsimpulse weiter. Was der funktionalistischen Moderne nie vollständig gelungen ist, schafft die Regelhaftigkeit der Straße mit Leichtigkeit – die Ausbildung des gewünschten Normkonsumenten: „Wie Richard Hamilton sagte: Wir sollten nicht für den Konsumenten entwerfen, ohne zunächst den Konsumenten selbst zu entwerfen, das heißt eine neue begehrende und konsumierende Subjektivität zu produzieren.“23 Es passiert also eine enorme Verschleppung von Normverhalten von der Straße kommend in jeden Winkel der Stadt hinein. Die generische Stadt mit ihrer geistlos repetitiven Architekturmasse ist direktes Ergebnis dieser Verschleppung eines kollektiven Normverhaltenszwangs. 22 „Auf der gegenüberliegenden Seite des Atlantik manifestieren die dauernde Wandlung der barbarischen Ästhetik der amerikanischen Serienautos und die provokante Maßlosigkeit ihrer Karosserien und Verzierungen die Permanenz von sozialer Revolution (Fortschritt des american way of life). Aber gleichzeitig wurde dieser Automobil-Körper (Kraftfahrer-Korps) entkräftet, seine Besetzung der Straße ist unvollkommen und sein starker Motor ist gedrosselt. Wie bei den Gesetzen zur Geschwindigkeitsbegrenzung handelt es sich hier um Eingriffe der Regierung, das heißt der politischen Verwaltung, die beabsichtigt, gerade die ‚außergewöhnliche Angriffskraft‘, welche die Motorisierung der Massen erzeugt, zu begrenzen. Diese dem Fahrer zugefügte Frustration, dem ebenso grob der Rausch großer Geschwindigkeit genommen wird wie der des Alkohols, diese Bewegungsprohibition bedeutet andererseits von Seiten des Staates die Konstituierung eines neuen Jenseits.“ Paul Virilio. Geschwindigkeit und Politik. Merve Verlag. 1980. Seite 37 23 Helena Mattsson, Sven-Olov Wallenstein. „Acceptera! Der schwedische Modernismus am Scheideweg“. In: Documenta und Museum Fridericianum Veranstaltungs-GmbH. Documenta Magazine No 1, 2007. Modernity? Taschen. 2007. Seite 73

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Aus planerischer Sicht kann man bestätigen, dass das Portfolio an Individualität, das Architektur permanent vorschlägt und empfiehlt, in Los Angeles konsequent ignoriert wird. Architektonische Extravaganz ist hier so selten, dass sie nicht als ernstzunehmende Gegenwelt wahrgenommen wird. Wobei man bei der Frage nach den Schuldigen endlos zwischen uninspirierten Nachfragern und den ebenso uninspirierten Anbietern pendeln kann. Viele Shoppingcenter vermeiden zum Beispiel mit strategischer Absicht, mit öffentlichen Verkehrsmitteln erreichbar zu sein, weil dann die Filterwirkung durch die Pkw-Norm fehlt. Wer ein Auto hat, der hat Geld und Kredit, lautet meist die schnelle Erklärung. Aber hier geht es um eine viel umfassendere Einrichtung auf Normverhalten und Normkundschaft. Wer in einem Shoppingcenter aussteigt, ist meist eine vergleichbare Strecke gefahren, ist in einer vergleichbaren Stimmung und einem absehbaren Bedürfniszustand. Man kennt seine Kunden, noch bevor sie bestellen. Die Stadt handelt also nicht völlig irrational, wenn sie über weite Strecken dem Normkunden entgegennormt und nur sehr limitiert auf Ausnahmen setzt. Und dieses Bild hält bis ins Detail. Viele Einkaufsflächen wirken wie reine Versorgungshallen. Die meisten Restaurants basieren auf dem gleichen Fast-Food-KantinenPrinzip. Die endlosen Reihen an Einfamilienhäusern scheinen auch eher einem sozialistischen 5-Jahres-Plan zu entspringen als dem Streben nach individueller Ausdrucksfreude. Dennoch ist mittlerweile ein argumentativer Wendepunkt erreicht. Es kann ja nicht sein, dass ausgerechnet in Los Angeles Siegermentalität, Originalität und Individualisierung nur mehr in Form kompensatorischer Unterhaltung stattfinden. Genauso wenig kann Los Angeles insgesamt über den Begriff Gleichschaltung definiert werden. Dagegen spricht der evidente Wettbewerb um Innovation und Originalität in vielen anderen Disziplinen. Wie kommt es also zu dieser urbanarchitektonischen Fadesse, die sich in unzähligen Stadtansichten belegen lässt? Los Angeles kann nicht so flächendeckend banal sein, wie es aussieht. Im Prinzip stimmt dieser Einwand. Die Gleichschaltung auf der Straße bedeutet ja nicht, dass es Individualität gar nicht mehr gäbe. Autofahrer sind nur in Normhypnose. Sobald sie sich vom Auto wegbewegen, beginnt das aufzutauen, was man Individualität nennt, manchmal 218

langsam, manchmal schnell und eruptiv, manchmal laut, meist aber suchend und leise. Es rollt also eine tägliche Normwelle durch die Stadt und überspült von den Straßen aus die restlichen Stadtflächen, bis sie plötzlich in ihr Gegenteil umschlägt. Die schwierige Aufgabe für die Stadt besteht nun darin, vorauszusehen, wer wann wo wie auftauen wird und in welcher Intensität sich der aufgestaute Wille nach Individualität entladen wird. Für Los Angeles ergibt das eine fast unerträgliche Mischung aus genereller Langeweile mit unvermeidbaren Eruptionen von Brisanz, auf die man in ihrer Spezifik aber nicht gefasst ist. Denn sobald der Autofahrer aus seiner Normhypnose erwacht, wird es unendlich kompliziert. Dann will er statt Kino womöglich Kulturbauten, für die es keine Sponsoren gibt; er will statt generischen Regallandschaften richtige Parklandschaften, für deren Erstellung und Erhalt nicht genügend öffentliche Mittel vorgesorgt wurden; und er will statt Bestellungen aus dem Onlinekatalog realen Raum für Selbstbestimmung – kurzum, er will ein anderes Los Angeles, für das er aber weder bei den politischen Wahlen noch bei den Kaufentscheidungen eine vorausschauende Basis legt. Die strategische Erklärung für dieses große Auseinanderfallen von Angebot und Nachfrage liefert ausgerechnet der Kommerz. Gemeint ist eine spezifische Auslegung des Paretoprinzips, das besagt, dass ein durchschnittliches Geschäft 80 Prozent seines Umsatzes mit nur 20 Prozent seiner Kunden macht. Das sind die „guten“ Kunden, deren Forderungen so erwartbar und stabil sind, dass das Geschäft wie von alleine läuft. Die restlichen 80 Prozent der Kunden, die insgesamt nur 20 Prozent des Umsatzes bringen, sind die Nörgler, Nur-Schauer, Sonderwünsche-Forderer oder sonst wie auf unvorhersehbare Eigenheiten bestehenden „schlechten“ Kunden. Erfolgreich ist man als Geschäft dann, wenn man für die guten 20 Prozent anbietet, und die schlechten 80 Prozent möglichst los wird. Klare Strategie, schnelle Lösung, wobei man die Prozentzahlen nicht allzu wörtlich nehmen darf, sondern lediglich als Beleg, wie ungleich wertvoller ein Normkunde im Vergleich zu einem auf Individualität insistierenden Kunden ist. Gleichermaßen fällt auf, dass die Zurückweisung von Kunden quantitativ wichtiger ist als das Erfüllen von Kundenwünschen. Übersetzt man das Paretoprinzip in die städtische Dimension, wird die große Langeweile in Los Angeles verständlich. Aus der Sicht einer insgesamt kommerziell organisierten Stadt sind die 20 Prozent guten Stadtkunden all jene gleichgeschalteten Autofahrer, die eben nicht aus 219

ihrer Gleichschaltung aufwachen. Nur diese Minderheit an Stadtnutzern ist verlässlich vorauskalkulierbar und wird folglich mit passgenauer Stadt versorgt. Doch die restlichen 80 Prozent schlechten Stadtkunden finden sich nach dem Auftauen aus der Gleichschaltung in einer für sie unpassenden Stadtlandschaft wieder. Die betriebswirtschaftliche Logik empfiehlt nun, diese schlechten Stadtkunden zu vertreiben. Die entscheidende Frage ist aber: Wohin will man die 80 Prozent schlechten Stadtkunden mit ihren Sonderwünschen vertreiben? In eine andere Stadt? In die Wüste? Oder einfach nur aus dem Blickfeld? Ein zentrales Dilemma, das aber nicht gelöst, sondern nur stadträumlich abgelegt wird. Los Angeles hat sich damit abgefunden, dass tagtäglich Menschen in der Stadt herumschwirren und etwas suchen, das es hier garantiert nicht gibt. Und weil die Stadt ja kaum Möglichkeiten hat, diese schlechten Stadtkunden loszuwerden, lässt man sie einfach weiter herumschwirren und unzufrieden sein. Fertig. Damit mutieren aber ganze Stadtareale zu Warteschleifen, menschlichen Abstellflächen, programmatischen Brachen. Manche Destinationen wie The Home Depot sind mittlerweile schon bekannt für ihre vereinsamten und vor allem spätabendlich anzutreffenden Regalspaziergänger, die nur schauen, stehen, gehen, nichts kaufen, aber verlässlich wiederkommen. Die sind alle auf der Suche nach einem Leben, das sie in der Stadt bislang nicht gefunden haben – würde man als anmaßender Laienpsychologe unterstellen. Diese Unterstellung könnte dennoch richtig sein. Noch viel folgenschwerer ist schließlich die Rückkoppelung der skizzierten Reserviertheit: Aus der groß angelegten Zurückweisung durch die Stadt erwächst eine äquivalente Reserviertheit der Stadt gegenüber. Genau diese Reserviertheit ist ein neuer städtebaulicher Zustand, der sich zwischen der Gleichschaltung auf der Straße und den Bedienflächen für den Normkonsum breitgemacht hat. Diese Reserviertheit ist also kein Geheimnis, quantitativ sogar eine satte Mehrheit, aber sie wird trotzdem übersehen, weil sie keine aktive Agenda verfolgt. Die Reserviertheit ist einfach nur da, still zumeist, schleichend, aber stetig wachsend. Wobei Reserviertheit nicht nur Unzufriedenheit meint. Die Reserviertheit benennt einen viel extensiveren Zustand, eine wartende, nach wie vor suchende, trotzdem nicht mehr sehr hoffnungsvolle Stimmung. Stadt ist dann kein faszinierendes oder inspirierendes Gegenüber mehr, sondern wird erduldet, bestenfalls akzeptiert und ohne Euphorie aus reiner Alternativlosigkeit genutzt. Man traut Stadt offensichtlich gar nicht zu, 220

mehr zu sein als nur verwaltete Unzulänglichkeit. Manche kennen diese Stimmung nur aus kurzen Episoden, bis sie wieder in ihre Normroutine fallen und darauf vergessen, manch anderer verbringt ein halbes Leben in dieser Reserviertheit. Aber jeder kennt diese unangenehme Distanz zur Stadt, das Nicht-ganz-ankommen-Können und das Sichhier-nicht-Wiederfinden. Mancher wird jetzt einwenden, dass Los Angeles eine freie Stadt ist. Wenn der politische Raum und der kommerzielle Raum nur auf den Normkunden zugeschnitten sind, dann bleibt ja immer noch der private Lebensbereich, um die erwachende Individualität auszuagieren. Wenn man sich darüber hinaus noch ein wenig verständigt und organisiert, dann findet man für jede Verrücktheit Gleichgesinnte und Mitspieler. Dieser Einwand ist richtig, aber er beschreibt dennoch eine Schwelle. Es gibt keinen fließenden Übergang zwischen dem Verhalten als Normkunde und dem Ausagieren von Individualität. Der Normkunde wird zuvorkommend bedient, wird gefördert und empfohlen, doch schon die kleinste Abweichung muss mit überproportionaler Eigenleistung bezahlt werden. Die Abweichung vom Normverhalten findet folglich genauso wenig fließend statt, sondern erst als Eruption, wenn sich ein entsprechender Druck aufgebaut hat. Nicht selten überschreitet man dabei legale Grenzen und landet in Umständen, die radikaler sind, als man sie eigentlich wollte. Der Alltag in Los Angeles bestätigt diesen systemischen Sprung. Nach dem Normverhalten ist der Exzess die zweitleichteste Verhaltenskategorie. Gleiches gilt für die entsprechenden Produktlinien. Es ist sehr leicht, einen Hamburger oder eine Pizza zu kaufen, es ist fast ebenso leicht, einen Joint oder Crack zu kaufen. Jedenfalls leichter, als ein etwas ausgefalleneres Essen zu bekommen. Das ist paradox, aber tatsächlich Alltag. Man braucht sich auch keine Hoffnungen zu machen, dass im Illegalen insgesamt andere systemische Verhältnisse herrschen würden. Wer am Abend in den MacArthur Park geht, betritt kein Drogen-Schlaraffenland, das alle Wünsche erfüllt. Gleiches Problem wie mittags beim Essen. An der einen Ecke gibt’s immer nur das eine, an der anderen Ecke immer nur das andere, und wer besondere Wünsche hat, soll doch in einem anderen Stadtteil suchen gehen. Als tragfähigstes Gegenmodell zum Paretoprinzip und der umfassenden Drift in die Gleichschaltung wird der digitale Kommerz genannt. Onlineplattformen, die rein digitale Güter vertreiben, können sich 221

tendenziell von der 80-zu-20-Regel emanzipieren, weil sie für die lange Liste der Sonderwünsche keinen so überproportionalen Aufwand mehr leisten müssen. Die lange Liste der unterschiedlichsten Sonderwünsche ist dann nicht mehr unbedingt ein Nachteil fürs Gesamtgeschäft. Eine Übersetzung dieser sonderwunschfreundlichen Betriebslogik in eine urbane Matrix ist aber noch nicht gelungen. Zuallerletzt wird auch der Blick nach Europa keine wirkliche Alternative bereitstellen, denn hier haben sich längst ähnliche Verhältnisse etabliert. Hier gibt es gleichermaßen das Phänomen des unabsehbaren Auftauens aus irgendwelchen Normhypnosen und das Unvermögen der Stadt, dem plötzlichen Willen zur Individualität ein echtes Möglichkeitsfeld zu bieten. Die historischen Zentren sind eine hermetische Marketinginszenierung ohne Freiraum, und in der Peripherie findet man oft die gleichen urbanen Normkonstellationen wie in Los Angeles. Stadtanalytisch betrachtet zeichnet sich hier insgesamt eine neue Aufgabe ab. Man war lange gewohnt, Stadt in unterschiedliche Zonen von Privatheit hin zu Öffentlichkeit zu deklinieren. Heute muss man beginnen, in Zonen der Gleichschaltung, Zonen der Individualisierung und Zonen der Reserviertheit zu unterscheiden. Der Blick auf Los Angeles ist in diesem Zusammenhang wertvoll, weil die Reserviertheit hier so ausufernde Dimensionen angenommen hat, dass man als nächsten Schritt der Frage nach einer spezifischen Architektur der Reserviertheit nachgehen kann.

Es rollt Viel Freifläche, viel Asphalt, Parkplätze, monströse Überkopfwerbungen in Richtung Straße orientiert, es sollen noch mehr Menschen hierherkommen. Einmal am Tag verhaltene Hektik, am frühen Abend nach Büroschluss, den Rest des Tages halb leer. Man sitzt im Auto, nicht angeschnallt, die Trägheit verbietet auszusteigen und lässt einen verweilen in einer schlampigen Fahrhaltung. Man richtet sich nicht mehr auf, justiert sich nicht mehr an der Aufgabe. Der Blick ist ähnlich träge, man sieht ohnehin nicht viel. Verstreute Einkaufswagen, Mülltonnen entlang der Ladezonen und Hinterausgänge, herumstreunende Menschen, eher verirrte als engagierte Kundschaft, manche zielgerichtet, die gehen zu ihren Fahrzeugen, einräumen, türenknallen, starten, Abfahrt. 222

Andere wiederum sitzen, gehen, schauen länger herum, als sie müssten. Andere kommen, die gleichen stereotypen Abläufe. Manchmal einer in rotem Kostüm. Ein Angestellter, meist jung, männlich, langsam, dennoch sich ängstlich umblickend. Er sammelt aber nur die Einkaufswagen, schiebt sie ineinander. Gelegentlich Obdachlose und gelangweiltes Securitypersonal, Männer in absurden Uniformen, meist viel zu nett und träge, um zu ihrer strengen Uniform zu passen, aber da sind ja noch die Kameras. Man könnte ewig so sitzen, trotz der Kameras. Die sehen, aber reagieren nicht. Irgendwann wird einer, nein zwei werden kommen, ebenfalls mit Pkw, weiß, im privatwirtschaftlichen Polizeidesign. Sie werden Fragen stellen, gar nicht unhöflich, Small Talk mit Absicht. Dann fährt man, aber nicht vertrieben, man fährt einfach, weil die Entscheidung, zu fahren oder zu bleiben, die gleiche ist. Es ist sogar angenehm, dass jemand kommt und einen aufweckt, auffordert. Und so rollt man ein paar Minuten herum, steuert ein schäbiges Gebäude an, eingeschossig, nicht sehr groß. Auswählen, bestellen, Bestellung entgegennehmen, zahlen und umständlich im Auto zwischenablegen, weiterfahren, eine Hand am Essen. Man könnte auch aussteigen, das Essen im Gebäude abholen. Tut man aber nicht. Lieber vollführt man das Kunststück, ein sperriges Auto um eine zähe Kurve zu quälen, stockend, Stop-and-go, um dann ohnehin wieder auf einem der vielen Parkplätze liegen zu bleiben, wieder viel zu lang. In anderen Autos noch mehr halb vereinsamte Kunden, angelockt von halb freundlichen Angeboten. Ob Richard Neutra je in einem Drive-in-Restaurant war? Ob Neutra je erlebt hat, wie Prärie in der Stadt funktioniert?24 Wer in Los Angeles die Straße verlässt, der landet am Rollfeld.25 Was in New York der Block ist, mit einer annähernd monolithischen Bebauung, das ist in Los Angeles das Rollfeld. Eine urbane Selbstbedienungslandschaft, die Asphaltflächen und eingestreute Bebauung extensiv ausbreitet. Statt formierter Organisation eine flächenhafte Un-Organisation. Alles verteilt sich irgendwie, aber ohne tatsächlich zu interagieren. Hier wird die stadtstrukturell wechselseitige Verantwortung von Einzelelementen 24 „Die Amerikaner waren dagegen führend in Komfort-Details – Klimaanlage, Servolenkung, Stereoradios, automatische Getriebe und großvolumige, sehr ruhig laufende Motoren.“ James P. Womack, Daniel T. Jones, Daniel Roos. Die zweite Revolution in der Autoindustrie. Konsequenzen aus der weltweiten Studie aus dem Massachusetts Institute of Technology. Campus Verlag. 1991. Seite 51 25 „Feld ist ein innerlich gegliederter, flexibel nach außen hin abgegrenzter Erfahrungsbereich, dessen Grenz- und Kraftlinien auf wechselnde Standorte innerhalb des Bereichs zulaufen.“ Bernhard Waldenfels. Ordnung im Zwielicht. Suhrkamp Verlag. 1987. Seite 54

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einer gelassenen Fahrlässigkeit ausgesetzt. Alleys verschmelzen mit Parkflächen verschiedenster Orientierung, angeschlossen an benachbarte Parkflächen, Zufahrten, Abfahrten, manchmal Grüninseln, isoliert, klein, routiniert manikürt, noch mehr Restflächen, noch mehr fleckiger Asphalt. Dazwischen verstreute Infrastruktur, Bankfilialen, Shopping, Tankstellen, Fast-Food-Restaurants, gelegentlich eine Reinigung, ein Fitnessclub, und wieder Shopping. Tendenziell eingeschossig, manchmal ein widerwilliger erster Stock. Alles rechtwinkelig, boxartig, hallenartig, industriell gefertigte Readymade-Gebäude, Decorated Sheds ohne Decoration. Beschriftung, Logo, Anstrich, keine Überraschung. Hier ist Architektur nie spezifisch. In welcher Weise sollte sie auch spezifisch sein? Hier ist kein Ort, dessen Besonderheit man in Architektur einarbeiten könnte. Hier ist kein individuelles Programm, das eine individuelle Architektur unterstützen wollte. Hier ist nicht einmal eine spezifische Absicht, die sich lautstark artikulieren könnte. Alles generisch: Angebote, Publikum, Ereignisse. Die Best-Supermärkte der Architekten SITE aus den späten 1970er Jahren fallen einem spontan ein, als Gegenbeispiel und starker Beweis, dass Architektur in jeder Lage handlungsfähig sein kann.26 Doch die kennt hier niemand mehr. Sehr wohl bekannt sind der Wilshire Boulevard und die historische Architektur im Abschnitt der Miracle Mile. Einer der Orte in Los Angeles, auf die stolz verwiesen wird, wenn von Stadtgeschichte die Rede ist. Und tatsächlich, dort findet man noch die alte Bebauungsstruktur, mit ihrer klaren Orientierung zur Straße und zum Bürgersteig hin. Eine Architektur, die Straße zum Straßenraum werden ließ, und zumindest theatralische Urbanität zu formulieren wusste. Die Bauten haben ihr altes Gesicht auch nicht abgelegt, man hat sogar noch Werbungen und Überkopfanzeiger Richtung Straße hinzugefügt. Doch immer öfter findet sich darauf die lapidare Ergänzung Enter in the Rear. In dieser kurzen Anweisung ist nicht weniger als eine komplette urbane Demontage eingestanden. Die alten Boulevard-Zeiten mit flanierenden Bürgern und freudiger Hektik am Gehsteig sind hier abgeschafft. Enter in the Rear ist die verschämte Umleitung von einem außer Betrieb gesetzten Stadtmodell von gestern in ein brutal pragmatisches Stadtmodell von heute. Es bedeutet: Fahren Sie bitte auf die Rückseite des Blocks, dort ist ein Rollfeld, parken Sie dort ihren Wagen und betreten Sie unser Geschäft über einen improvisierten 26 http://www.siteenvirodesign.com/. 22.04.2019

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Hintereingang vom Rollfeld aus. Die Fassade zur Straße, das alte Architekturgesicht, ist leider nur noch eine irreführende historische Staffage. Hübsch anzusehen, hübscher als unsere neu hinzugefügte Rückansicht, und deswegen noch immer in verlockender Verwendung, aber für zeitgenössische Abläufe völlig ungeeignet. Wir haben die alte Stadt organisatorisch umgepolt und in die neuen Rollfeldverhältnisse eingebracht. An der Umpolung des Wilshire Boulevard wird klar, dass die Rollfeldidee keine Anomalie oder spekulative Variante darstellt, sondern ein Universalformat ist, das eine enorm vereinnahmende Kraft ausübt. Typologisch ist das Rollfeld auch nicht nur auf extensive Asphaltflächen eingeschränkt, sondern klumpt sich bei Gelegenheit zu gebäudeähnlichen Strukturen. Als prominentes Rollfeld illustriert das Beverly Center diese verdichtete Ausformulierung. Schon die Lage am Schnittpunkt dreier Großboulevards macht die Sonderstellung unausweichlich. Der San Vicente Boulevard, der La Cienega Boulevard und der Beverly Boulevard definieren ein irreguläres, eingezwängtes Grundstück, das dem Entwicklungsdruck nur mehr in der Vertikalen nachgeben konnte. Die Hauptzutaten Shopping und Asphalt, die im üblichen Rollfeld ebenerdig ausgebreitet werden, müssen hier schichtweise übereinandergestapelt werden. Ein komprimiertes Rollfeld also, die Syntax des gelassenen Durcheinanders gleicht aber der ebenerdigen Ausformulierung, genauso wie die Grundzüge der Nutzung. Man betritt das Beverly Center nicht, sondern biegt in eine der Einfahrten ein, rollt von Asphaltfläche zu Asphaltfläche, bleibt an einem der 3000 Parkplätze liegen und ist halb verloren. Wer sich an Strukturen orientieren will, dem geht es hier nicht besser als an allen anderen Rollfeldern. Repetitiv, uneinprägsam, ohne großen Plan ist das gesamte Gebilde. Man folgt Logos und Beschriftungen oder irrt umher. In den Randzonen und in den oberen Decks ist die bekannte Shopping-Kino-Fast-Food-Mischung eingestreut, wieder boxartig, ohne besondere Präsenz. Alles wie gewohnt. Dass direkt an einer der Außenmauern hinter einer Sichtblende verdeckt nach Öl gebohrt wird, passt zur großzügigen Alles-ist-möglichStrategie. Man darf diese Beschreibung aber nicht falsch verstehen, das Beverly Center ist alles andere als Low Class, ganz im Gegenteil. In Los Angeles gibt es ohnehin nur zwei Klassen von Geschäftsadressen: die guten, in denen Prominente verkehren, und die anderen, die jedem egal sind. Das Beverly Center ist einer jener Orte in Los Angeles, die sehr verlässlich von Prominenten frequentiert werden. 225

Wenn man einmal gelernt hat, dass derartige Megarollfeld-Strukturen von der Pflicht zur architektonischen Gefälligkeit befreit sind, bekommt man einen generell neuen Blick auf das Potenzial der Rollfeldidee. Die Disneyland’s Mickey & Friends Parking Structure ist ein ähnlich großer Koloss wie das Beverly Center, allerdings ein reines Parkhaus für über 10.000 Fahrzeuge. Typologisch betrachtet ist es ein gestapeltes Rollfeld ohne Besetzung mit Unterhaltungsprogramm – in anderen Worten ein Rollfeldrohbau. So beginnt moderne Stadt, auch wenn das niemand sehen will. Nicht selten wird in der Gebäudelehre darauf hingewiesen, dass die erste Aufgabe jedes Gebäudes die Versammlung von Potenzial ist – Besucher, Käufer, Publikum. Die Aufgabe des Gebäudes wäre dann, dieses rohe Potenzial räumlich zu organisieren und zu orchestrieren. So weit, so richtig. Auffallen sollte aber die einseitige Ausarbeitung der beiden Aufgaben. Zur Organisation des versammelten Potenzials im Gebäude gibt es reichhaltigste Theorien, Anleitungen und Ideen. Doch was die initiale Versammlung des Potenzials architektonisch verlangt, wird gern verschwiegen und an das unmittelbare Stadtumfeld delegiert. Aus der Sicht der klassischen Gebäudelehre kommen die Leute zu der Tür herein, mehr will man nicht wissen und verantworten. An der Disneyland’s Mickey & Friends Parking Structure kann man sehen, wie gigantisch und letztlich unausweichlich der infrastrukturelle Anteil einer modernen Stadt und eines modernen Gebäudes ist. Lacaton & Vassal ist eines der wenigen zeitgenössischen Architekturbüros, das diese Dominanz des Infrastrukturellen begriffen und in architektonisches Potenzial übersetzt haben. Ihre Architekturschule in Nantes verwendet tatsächlich die strukturelle Basis eines Parkhauses, in das dann partiell Publikumsprogramm eingestellt werden kann. Vergrößert man die infrastrukturelle Definition des Rollfelds, darf man den Begriff sogar wörtlich nehmen und die Flughäfen als typologische Idealrollfelder interpretieren. „Is the contemporary city like the contemporary airport – ‚all the same?‘“27 Rem Koolhaas stellt am Beginn seines Textes The Generic City die richtige Frage. Aber seine Antwort fällt zu klein aus. Er betrachtet nur das Hallenambiente der Flughafengebäude. Die Analogie ist aber tatsächlich viel umfassender. Auf einer riesigen Betonlandschaft wird enormes Potenzial versammelt, und dann mit den unterschiedlichsten Vehikeln zwischen Hallen unterschiedlichster Größe hin 27 OMA, Rem Koolhaas, Bruce Mau. S, M, L, XL. 1010 Publishers. 1995. Seite 1248

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und her transferiert. Teile des Areals werden präzise orchestriert, viele Flächen und Hallen werden der Improvisation überlassen. Teile des Areals werden formal kontrolliert, aber dennoch überwiegt irgendwann die chaotische Erscheinung. Teile des Areals werden gezielt geplant und entwickelt, die Langzeitentwicklung des Gesamtareals ist aber mehr schicksalhaft als gezielt. Derartig ausladende Anordnungen des Rollfelds schärfen schließlich noch einmal den Blick für die epidemische Verbreitung der Rollfeldidee. Egal wohin man blickt oder fährt, überall ist Rollfeld, auch weil Rollfelder gern über mehrere Blockgrundstücke hinweg weitläufige Areale bilden, deren Perimeter dann gar nicht mehr fassbar sind. Der rigide Straßenraster in Los Angeles gibt zwar eindeutig portionierte Grundstücksgrößen vor, kann aber die Ausbreitung des Rollfelds über die Straße hinweg nicht verhindern. Wenn vorteilhaft, werden ganze Teile des Straßennetzes vom Rollfeld verschluckt und ins Asphaltkontinuum eingerührt. Sondertypologien wie Disneyland oder große Shopping- und Outletcenter wie das Lakewood Center, das Del Amo Fashion Center, das South Coast Plaza und viele Firmensitze sind städtebaulich nur als Großrollfelder erklärbar. Typologisch besonders sind diese vergrößerten Rollfeldanlagen, weil erst hier ein merkbarer innerer Widerstand der Architektur gegen die Rollfeldverhältnisse auszumachen ist. Während die Architektur üblicherweise durch generisches Hallenambiente die Rollfeldstimmung in den Innenräumen weiterführt, so klumpt sich die Architekturmasse an den Großrollfeldern manchmal zu einer hermetischen Gegenveranstaltung. Der Bezug zur Rollfeldstimmung wird dabei minimiert und stattdessen eine eigenständige Innenatmosphäre installiert. Disney ist vermutlich das eingängigste Beispiel für derart hermetische Oasen der atmosphärischen Anstrengung. Eigentlich ein gigantisches Paradoxon. Disney baut eine Rollfeldlandschaft, die man nicht mehr architektonisch, auch nicht mehr städtisch, sondern nur noch geografisch nennen kann, und verbannt sie ab dem Betreten des Vergnügungsparks komplett aus dem Blick. Obwohl das Riesenrollfeld eigentlich die größte Sensation des gesamten Disney-Komplexes darstellt. Würde die visuelle Präsenz dieses Riesenrollfelds die Attraktionen im Vergnügungspark vergleichsweise klein aussehen lassen? Auch die größeren Shoppingcenter versuchen derartige CorporateIdentity-Inszenierungen, um das umgebende Rollfeld schnell vergessen 227

zu machen.28 Im Prinzip ist diese Aufstellung noch sehr nahe an der Shoppingmall-Idee von Victor Gruen, aber die Stimmung hat komplett gedreht. Bei Gruen klumpen sich die Gebäude in der Mitte, weil ein aktives Zentrumsprojekt verfolgt wird. Die typische Mall im zeitgenössischen Los Angeles gleicht jedoch viel eher einer nervösen Rettungsinsel, die den kärglichen Rest an architektonischer Ambition gegen die andrückenden Rollfeldverhältnisse verteidigt. Dieser Belagerungszustand um eine kleine architektonische Oase herum wird bei Großrollfeldern umso deutlicher, weil auch die Straßen entlang der Perimeter immer wuchtigere, autobahnähnliche Bauwerke werden und das Rollfeld vom urbanen Kontext sukzessive abschnüren. Das Rollfeld ist dann kein urbanes Collagestück mehr, das im Verbund mit anderen ein Stadtkontinuum ergibt, sondern jedes Rollfeld ist eine eigenständige Destination. Ins Großrollfeld gelangt man dann nicht mehr über beiläufiges Abbiegen von der Straße, sondern über kreuzungsfreie Exitrampen, die bedrohlich selbstbewusst in die Rollfelder einbrechen. Keiner kommt hier mehr zufällig vorbei, diese Destinationen werden gezielt angesteuert. Doch gerade dieses Ansteuern macht den Rollfeldcharakter deutlich erlebbar. Die Destinationsbeschilderung an den Straßenabfahrten suggeriert nämlich noch ein klar fassbares Ziel, dem man zügig entgegenfährt: diese oder jene Shoppingmall, ein Vergnügungspark etc. Aber je näher man kommt, desto diffuser wird das Ziel. Sobald man die Abfahrt hinter sich gelassen hat und in die Asphaltlandschaft eintaucht, ist das Ziel wie verschluckt. Die meisten kreisen umher, suchen wählerisch einen Parkplatz, fahren dann zögerlich ein Stück weiter, aus der Ferne nach einem Eingang Ausschau haltend. Dann rückt plötzlich wieder eine Ablenkung ins Blickfeld, man war sich ohnehin nicht ganz sicher, und zieht noch ein paar sinnlose Schleifen, um sich neu zu orientieren, neu zu positionieren. Kaum einer schafft es, sofort anzuhalten und auszusteigen. Am Rollfeld wird jede Destination, jede Absicht, jede Motivation diffus und flüchtig. Je öfter sich diese sinnfreien Schleifenwege wiederholen, nicht nur am aktuellen Rollfeld, sondern über Tage, Wochen, Monate, überall in der Stadt, zu jeder Tageszeit, desto klarer wird, dass dieses permanente Rollen 28 „Die Vorstadt-Mall war ein Triumph der Planung über den Urbanismus.“ Daniel Herman. „Mall Over“. In: Akademie der Künste. Hrsg. Topos Raum. Die Aktualität des Raumes in den Künsten der Gegenwart. Verlag für moderne Kunst Nürnberg. 2004. Seite 132

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der neue Bewegungsmodus der Jetztzeit ist. War das Cruisen noch eine explizite Spaßveranstaltung, und das Gleiten ein Stadtversuch zum fahrenden Gemeinschaftserlebnis, so ist das Rollen längst zu einer täglichen Meditationsübung geworden. Selbst wenn man aus dem Auto aussteigt, wird man diesen Bewegungsmodus nicht so schnell ablegen, ganz im Gegenteil. Man wird in irgendwelchen Regallandschaften einen Einkaufswagen träge durch die Hallen rollen, oder am Flughafen sein Handgepäck an Duty-free-Shops entlang rollen, oder im Disneyland herumstreunen, ohne Rollgefährt, aber dennoch die gleichen zähen, richtungsoffenen Spuren ziehen. Von der Boulevardpresse ist das Rollen bereits zum voyeuristischen Bildmotiv expliziert worden. Ständig werden Prominente mit Einkaufswagen in ganzen Bildserien publiziert. Wobei es dabei weniger um die Prominenten selbst geht – die zeigen sich oft bei anderer Gelegenheit sehr viel freizügiger. Es geht dabei vielmehr um den Beleg einer gesellschaftlichen Gleichstellung. Das Rollen eines Einkaufswagens ist zu einer All-America-Prozession geworden. Jeder, egal ob Obdachloser, Prominenter, Normalbürger, muss rollen. Sogar bei Ausnahmeereignissen, wie Revolten, Plünderungen, Naturkatastrophen, sieht man sehr verlässlich irgendjemanden einen Einkaufswagen durchs Bild rollen. Wobei das ständige Rollen-Müssen oder Rollen-Wollen – man kann die Motivation dazu kaum noch unterscheiden – nicht mehr nur äußerlich ist, sondern bereits einen persönlichen, menschlichen Betriebsmodus benennt. Man selbst rollt ständig, wird man irgendwann selbstbeobachtend feststellen. Die einzige Gemeinsamkeit der Roller mit den Cruisern ist der Aufstand gegen Virilio. Wer rollt, hinterlässt ebenso wenig schneidende Geraden in der Landschaft, man ist nicht in Beschleunigung, nicht in Intensität, meist nicht einmal in klarer Entschiedenheit unterwegs. Zero-Geschwindigkeit trotz Bewegung – würden Gilles Deleuze und Félix Guattari den Rollmodus nennen.29 Stockend vorwärts, seitwärts, 29 „Außerdem muss man Bewegung und Geschwindigkeit voneinander unterscheiden: eine Bewegung kann sehr schnell sein, aber trotzdem ist sie keine Geschwindigkeit; eine Geschwindigkeit kann sehr langsam oder sogar immobil sein, trotzdem bleibt sie Geschwindigkeit. Bewegung ist extensiv und Geschwindigkeit intensiv. Die Bewegung bezeichnet den relativen Charakter eines Körpers, der als ‚eins‘ bezeichnet wird und der von einem Punkt zum anderen geht; die Geschwindigkeit dagegen konstituiert den absoluten Charakter eines Körpers, dessen irreduzible Teile (Atome) einen glatten Raum wie ein Wirbel besetzen und füllen, mit der Möglichkeit, plötzlich an irgendeinem Punkt aufzutauchen.“ Gilles Deleuze, Félix Guattari. Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie. Merve Verlag. 1992. Seite 524, 525

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richtungslos und zusätzlich in der Drift, ineffizient, oft schwerfällig und gereizt. Am Rollfeld startet die Stadt mit einem inneren Bremsmanöver und die Nutzer übernehmen das Bremsverhalten und deklinieren es in alltägliche Trägheit weiter. Kurz könnte man jetzt in systemische Euphorie verfallen und hoffen, dass gerade durch das Verweigern der linearen Bewegung wieder ein gemeinschaftsstiftender Effekt entsteht. Die Cruiser und die Gleiter hatten doch vorgezeigt, wie das geht. Man fährt möglichst langsam und umgebungsaufmerksam in der Stadt herum und irgendwann trifft man die Liebe fürs Leben. Dieses Manöver müsste doch auch ohne Rührseligkeit funktionieren. Wer rollt, ist nicht weit davon entfernt zu kollidieren, sich zu begegnen und mit den Begegnungen auseinanderzusetzen. Das ist doch die perfekte Grundlage für Gesellschaft und Stadtleben? Doch eine derartige Euphorie ist zu weit vorausgehofft. Am Rollfeld wird keine Stadt beabsichtigt, nicht einmal indirekt oder heimlich. Am Rollfeld ist nach wie vor Reserviertheit, sonst nichts. Das Charakteristische des Rollfelds besteht ja exakt darin, im klassisch urbanen Sinn nichts zu sein, nichts zu wollen und auch nichts zu leisten. Hier ist kein öffentlicher Verhandlungsraum, keine Agora, hier wird nicht diskursiert und nicht dialogisiert, hier reden die Leute nicht einmal miteinander. Hier werden keine symbolischen Mandate zur Schau getragen, man fühlt sich nicht schuldig, bestätigt oder sonst wie verpflichtet. Hier ist kein gemeinschaftliches Bemühen, keine Aufmerksamkeit und auch keine Handlungsvorgabe außer den Parkplatzstrichen am Boden. Mit dem Rollfeld übernimmt die Stadt die Reserviertheit der Mehrheit ihrer Nutzer in ihr eigenes Selbstverständnis. So sieht Stadt aus, wenn sie wie ihre Nutzer ziellos herumsteht und wartet. Doch je weniger Qualitäten man der reservierten Stadt zugestehen mag, desto klarer wird, dass genau diese Nichtigkeit die eigentliche Sensation ausmacht. Das Rollfeld ist die Erfindung der überdimensionalen Stadtlücke innerhalb der Stadt. Eine stadtgeschichtlich bemerkenswerte Selbstaufgabe. Allerdings nicht als aktives Widerstandsprojekt, sondern als gigantische Unterlassung. Diskursstrategisch muss man dennoch nachfragen. Wie groß ist der Sensationswert dieser Unterlassung? Womöglich gar nicht so groß, weil die alltägliche Erfahrung sehr wohl Stadt im Zustand der Unterlassung kennt. Es sind eher die Architekturtheorie und die Stadtgeschichte, die ereignisfokussiert beobachten 230

und daher den Eindruck erwecken, als müsste Stadt ständig aktiv sein. Kein Wunder, dass auch das angesammelte Knowhow der Architekturund Stadttheorie überwiegend aus Ereignisbegriffen besteht. Für den Zustand der Unterlassung wird man lediglich schnelle Aburteilungen finden, die dringend mehr Ambition fordern und daher ein positives Potenzial der Unterlassung gar nicht für möglich halten. Diese selektive Blindheit wird man sich nicht mehr leisten können, wenn man zeitgenössische Stadt verstehen will. Großstädte wie Los Angeles muss man von der Unterlassung aus denken. Das verlangt noch nicht, den Zustand der Unterlassung besonders wertzuschätzen, aber es verlangt, eine Umkehrung zu akzeptieren. Die Unterlassung ist der Grundzustand, und daran befinden sich dann womöglich Inseln urbaner Ambition oder gar Inseln, die das Ideal der aktiven Bürgerstadt in die Neuzeit übersetzen. Diese Inseln kann man suchen, finden, hervorheben, aber an der generellen Dominanz der Unterlassung wird das nichts ändern.

Liegeöffentlichkeit Städtisch ein Nichts, raumatmosphärisch kümmerlichst, Ereignisse karg oder simpel, rollen, mehr nicht. Dennoch beginnt das Rollfeld sukzessive Kontur anzunehmen. Es ist ein Areal für Reserviertheit, das jedem ermöglicht, Distanz zur Stadt einzunehmen. Es gibt aber noch ein offenes Argument, das dem eigentlich widersprechen sollte. Wenn man das Paretoprinzip konsequent szenisch implementiert, dann müssten lediglich die 20 Prozent dauerhaft Gleichgeschalteten das gleichgeschaltete Angebot vor Ort stumm konsumieren. Die restlichen 80 Prozent aber müssten nach dem Aufwachen aus der Normhypnose gegen das urbane Nichts protestieren. Damit ist kein wütender Aufruhr gemeint, aber 80 Prozent müssten sich dennoch irgendwann irgendwo als genau die lästigen, fordernden, zwanghaft individualistischen Kunden zu erkennen geben, die man als Geschäftsinhaber lieber sofort wieder los wird. Aber wo ist der nörgelnde Aufruhr? Graffiti ist die augenfälligste Ausnahme in der großen kollektiven Ausdrucksleere, eine mittlerweile routinierte Form des Egoprotests gegen die Verhältnisse. Ist das gleichzeitig der Protest gegen die reservierte Stadt? Möglich – aber es wäre dennoch verrückt anzunehmen, dass 80 Prozent der Stadtbevölkerung sprayend durch Los Angeles laufen. So 231

bunt sieht es dann doch nicht aus. Im Einzugsbereich der Touristenkameras stößt man auf einige Selbstdarsteller, klischeetreu in ihren Aktionen. Ist das eine Form von Protest? Auch möglich – aber die meisten scheinen eher an der Kameraaufmerksamkeit interessiert zu sein als an direkter Protestarbeit gegen die Verhältnisse. Sonst noch irgendwo Protestbemühte, theatralische Nörgler, lautstarke Individualismus-Propheten? Ein paar Exzentriker und meist kurzfristige Anekdoten wird man immer finden, aber vom satten Protest der 80 Prozent ist keine Spur zu erkennen. Dass die kommerziellen Anbieter nicht als Koproduzenten bei der Formulierung von Individualität aushelfen wollen, ist ebenfalls nur eine schwache Ausrede. Denn in vielen anderen Formaten beweist Los Angeles sehr wohl, dass es am Willen zur eigeninitiativen Willenskundgebung garantiert nicht fehlt. Die Verwunderung lässt sich also nicht so leicht wegspekulieren. Nach 80 Prozent unzufriedenen Stadtnutzern sollte man eigentlich nicht angestrengt suchen müssen, sie müssten mitten im Bild stehen. Aus der Perspektive der Architekturgeschichte ist die öffentliche Ausdrucksleere ebenfalls verwunderlich. Hatte nicht die jüngere Architekturgeschichte den Menschen explizit in den Vordergrund gebeten, vor allem in seiner fordernden Individualität? Bitte sei aufdringlicher Bildinhalt und sei dabei unverstellt, so wie du bist? Rückblende: Resor House, 1937 bis 1941, Innenperspektive aus Zeichnung und Collage, ein Schlüsselbild von Mies van der Rohe zum Architekturverständnis der Moderne. Elemente des Innenambientes als satte Vordergrundpräsenzen gesetzt, die Aussicht auf die umgebende Landschaft als ebenso satter Hintergrund einmontiert. Die Architektur hingegen ist nur mehr eine grafisch angehauchte und gerade deswegen selbstbewusste Eleganz dazwischen. Und tief im Hintergrund, inmitten der Landschaft, sieht man zwei Menschen auf Pferden. Seltsame Collage. Bildfüllend wird das radikal moderne Architekturverständnis präsentiert, und als dümmliche Kleinigkeit eingestreut finden sich zwei zurückgebliebene menschliche Wesen. Eine absichtliche Lächerlichmachung? Oder lag es nur an der Perfektion der reduzierten Architektur, dass Menschen als gestrige Verlierer erscheinen? Erinnert man sich an Richard Neutra, so verfestigt sich der Eindruck. Bei ihm ist der Mensch ein krankes, hilfsbedürftiges Wesen, dem durch moderne Architektur Heilung verschafft werden soll.30 Wieder eine Form von Minderwertigkeit im Verhältnis zur Architektur. 30 Richard Neutra. Auftrag für morgen. Claassen-Verlag. 1962. Seite 250, 251

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Aber nur 25 Jahre später wird die prominenteste ArchitekturbildBoygroup des 20. Jahrhunderts das genaue Gegenteil in Szene setzen. Die britische Architektengruppe Archigram rückt den Menschen übergroß in den Vordergrund. Plötzlich ist er keine Hintergrundmarginalie mehr, sondern definiert drängelnd das Zentrum der Architekturillustrationen. Außerdem treten in den Bildcollagen so viel auffallend junge und schöne Menschen auf, dass man Archigrams Bilder als klare Absage an die Patientenrolle lesen muss, die dem Menschen davor von der Moderne zugewiesen worden war. Archigrams Reparaturversuch kam zwar für die Moderne zu spät, aber die Postmoderne verwendet Archigrams Vorlage, um eine dritte Neupositionierung vorzunehmen. Bernard Tschumi lässt in The Manhattan Transcripts Mord und Todessturz als Architekturnarrative auftreten. Der Mensch ist immer noch Vordergrund, aber er ist jetzt sogar vom Zwang der Gesundheit befreit. Die Postmoderne wendet sich damit sogar zweifach gegen den Gesundheitszwang der Moderne. Der Mensch ist kein Patient mehr, der geheilt werden muss, wie bei Neutra, er ist aber auch kein junges, unbeschwertes Idealmodel mehr wie bei Archigram. Stattdessen wird das Kranksein als natürliche Eigenschaft jedes Menschen aufgewertet, die man weder therapieren noch verstecken muss. Sogar Rob Krier, Unverdächtiger in Sachen Zerstückelungsspekulationen in der Architektur, setzt vor seine historistischen Bauten zerstörte menschliche Leiber, Torsi in gequälter Haltung. Krier hat die Skulpturen selbst entworfen und künstlerisch verantwortet. Es handelt sich also nur vordergründig um Kunst am Bau, tatsächlich ist es eine selbstbewusst choreografierte Demonstration für das menschliche Beschädigtsein. War der frühmoderne Versuch einer Heilung durch Architektur also nur eine verkappte Form der Unterdrückung des eigentlichen Menschseins? Antonin Artaud erscheint mitten in der Erinnerungslinie. Neutra hätte ihm wohl eine Veranda verordnet, oder einen offenen Grundriss und ein paar Spinnenbeinstützen dazu. Doch Artaud hat sich lieber als Kranker auf die Bühne gestellt und Gegenwart behauptet. Das ist postmoderne Offenbarung in höchster Anschaulichkeit. Der aufdringliche Kranke ist das ultimative Vorbild für den postmodernen Menschen. Zurück in Los Angeles verschärft sich also die Frage, wo denn hier im urbanen Raum der Mensch in seinem So-Sein den Vordergrund beansprucht. Sogar als Kranker, Beschädigter dürfte man auf die Selbstdarstellerbühne. 233

Aber im urbanen Raum ist davon genauso wenig zu sehen wie von allen anderen Formen des Individuellseins. Stadtgeschichtlich wird die große Ausdrucksleere also immer unverständlicher. Die einzige plausible Erklärung ist eine paranoide: Im urbanen Raum muss eine massive Form von Ausdrucksunterdrückung stattfinden. Doch worin besteht die? Paradoxerweise ist es ausgerechnet die West-Coast-Moderne, die der individuellen Ausdrucksfreude im urbanen Raum die Energie entzogen hat. Der Verlauf dieses Energieentzugs lässt sich am besten anhand von Werbeaufnahmen der Firma Eichler Homes nachzeichnen. Zwischen 1950 und 1974 produziert und vermarktet Eichler Homes rund 11.000 Wohneinheiten, vor allem in der San Francisco Bay Area und in Los Angeles, und gilt als der größte moderne Hausproduzent der USA. Aufschlussreich sind die Werbeaufnahmen deswegen, weil moderne Architektur hier von einer Großfirma als Lebensstil verkauft wird, mit einem Marketingeinsatz, der die Möglichkeiten einzelner Architekten weit übersteigt. Insofern ein Glücksfall für die Recherche. Eines der Bilder zeigt eine familiäre Freizeitszene. Die Mutter wird dabei von ihren Kindern in infantile Bewegung versetzt; sie muss schnurspringen, die Kinder führen die Leine. Diesmal ist also die Mutter der Patient, ihr muss Lockerheit beigebracht werden. Diese Lockerheit übt sie allerdings nicht im Geheimen, sondern auf der Terrasse im Freien, vor den Augen der Nachbarn. Liegekissen, Obstschale und ein offenes Magazin im Wohnzimmer des Hauses lassen wissen, dass die Mutter kurz davor noch im Innenraum gelesen hat. Es wird also zugleich vermittelt, was man zurücklassen muss auf dem Weg zum modernen Menschsein. Die introvertierte Tätigkeit im geschützten Innenraum wird aufgegeben zugunsten einer szenischen Entblößung vor der nachbarschaftlichen Öffentlichkeit. Der exhibitionistische Event ist geboren.31 In einer weiteren Werbeaufnahme befinden sich die Liegekissen und das Obst ebenfalls im Freien. Springen tut niemand mehr, aber das Obst 31 „Wir organisieren unser Leben in Hinblick auf einen völlig außengesteuerten Zeitbegriff: Die Welt erscheint dabei als eine Kette von Events, von denen wir möglichst wenig versäumen dürfen. Nicht wir suchen die Dinge auf, ergreifen Gelegenheiten oder setzen Handlungen, wenn, wie man früher sagte, die Zeit dafür reif geworden ist, sondern die Dinge fordern uns ultimativ auf, sie nicht zu versäumen. Dass der Begriff ‚Event‘ alle anderen Bezeichnungen für Ereignisse und Veranstaltungen im kulturellen Bereich mittlerweile ersetzt hat, vollzieht diese Außenorientierung nur auf der sprachlichen Ebene. Der Event ist per definitionem das, was wir nicht versäumen dürfen.“ Konrad Paul Liessmann. Zukunft kommt! Über säkularisierte Heilserwartungen und ihre Enttäuschung. Styria Verlag. 2007. Seite 75

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ist mehr geworden, regelrecht angeschwollen, das Magazin verschwunden. Dafür sind zwei Kopfkissen hinzugekommen, die eine Kopulationshaltung suggerieren. Wobei es in diesem Arrangement nicht direkt um Sex geht, vielmehr um eine assoziative Maximierung des Privaten, das affektiv weitergereicht werden soll. Eine ähnliche Aufnahme zeigt bereits mehrere Liegekissenszenen auf der Terrasse, ein Gruppenarrangement. Man ist in seiner Entblößung des Privaten nicht mehr allein, sondern in gleichgestimmter Gesellschaft. An Deutlichkeit lassen die Werbebilder nichts vermissen. Das Versprechen der Moderne nach individueller Freiheit wird hier als Aufforderung zur doppelten Öffnung ausgegeben: Affekte bitte nach außen agieren, und das ganze bitte ungeniert in aller Öffentlichkeit. Die affektive Öffnung dient dabei der Abtragung kulturell aufgezwungener Verhaltensschichten, die das innerste Menschsein verdeckt haben. Befreiung ist jetzt die Rückführung in einen voradulten Zustand, dem etwas Erholsames unterstellt wird, als wären Zivilisation, Bildung, Professionalisierung eine zweifelhafte Last, die man gelegentlich ablegen sollte. Die Formel der Moderne lautet hier nicht mehr Sein-zur-Bewegung, sondern Sein-zur-Exhibitionierung. Wie erfolgreich das Sein-zur-Exhibitionierung letztlich gewesen ist, kann man heute mehr als deutlich mitverfolgen. Die Massenexhibitionierung des Privaten im Scheinwerferlicht der kalifornischen Sonne ist mittlerweile durch die Massenexhibitionierung des Privaten im Gegenlicht irgendeiner kalifornischen Social-Media-Plattform übertroffen worden. Die kulturelle Abstammung der Aufforderung zur Entblößung ist mehr als auffällig. Das Sein-zur-Exhibitionierung der West-CoastModerne ist mit den neuen Medien zur größten sozialen Revolution der Moderne überhaupt angewachsen, noch weit vor Ereignissen wie der 68er-Bewegung. Von der Amateurpornografie bis zur detailpräzisen Veröffentlichung von Liebschaften, Reiseerlebnissen, Frühstückstellern und Lebensläufen reichen die Ausläufer dieser Massenexhibitionierung. Dass diese Entwicklung im Parallelbetrieb mit den alten Medien, vor allem dem Fernsehen, einhergeht, muss nicht extra betont werden. Auch das Fernsehprogramm wird sukzessive auf szenische Schnittfolgen und Entblößungsinhalte umgestellt. Stadtgeschichtlich relevant ist aber vor allem der nächste Schritt. Nach jahrzehntelangem Training in Entblößung ist aus Eichlers Werbeszenen mittlerweile ein völlig neues Verständnis von öffentlichem Raum 235

geworden. Das Sein-zur-Exhibitionierung hat die nachbarschaftliche Öffentlichkeit an der West Coast überschäumend verlassen und füllt längst die globalen öffentlichen Stadträume. Die öffentlichen Stadträume wiederum sind dieser Tendenz aktiv entgegengekommen und bieten sich heute als erweiterter Bekenntnisraum an, der alles akklamiert, solange es aus dem authentischen Innersten kommt. Bildung, berufliche Position, Attitüde etc. gelten dabei als verfälschende Inszenierung. Permanentes Wohnzimmer wird das in Tokyo Superdichte genannt und als das Ende des klassisch Städtischen argumentiert.32 In Europa sind es die vielen Plätze in den Altstadtzentren, die zu Open-Air-Lounges und Spielplätzen für Erwachsene ummöbliert wurden. In Summe hat diese Übernahme des Öffentlichen durch das Private dem öffentlichen Raum eine völlig neue Popularität verschafft. Deswegen wird diese Übernahme auch weiterhin ausgebaut und bestärkt. Wie bei einer gecoachten Lebensberatung muss jede neue Raumgestaltung des Öffentlichen die Menschen euphorisch anfeuern, ihr Innerstes hervorzukehren, überall wird druckvoll zur Selbstdarstellung angeregt. Spätestens an dieser Stelle würden Slavoj Žižek33 und Richard Sennett34 lautstark Halt rufen. Die Kritik an der intim-exhibitionistischen Öffentlichkeit hat sich längst formiert, nicht nur weil alles, was populär ist, unter kulturkritischem Verdacht steht. Die Kritik weist vielmehr darauf hin, dass durch die exzessive Entblößung des Privaten im öffentlichen Raum verhindert wird, dass dort symbolische Mandate vorgestellt werden. Wenn alle ihre privaten Bekenntnisse ausleben, kann niemand mehr in einer professionellen Rolle als Staatsbürger, Tourist, Fremder, Jugendlicher, Erwachsener, etc. auftreten. Auch die Rolle des Feiernden, Protestierenden, Helfenden oder um Hilfebittenden wird dann nicht 32 Wolfgang Koelbl. Tokyo Superdichte. Ritter Verlag. 2000 33 „Was im Grunde in der öffentlichen Zurschaustellung intimer Details verschwindet, ist das öffentliche Leben selbst, die eigentliche öffentliche Sphäre, in der man sich als symbolischer Akteur bewegt, der nicht auf Privatindividuum, auf ein Bündel intimer Eigenschaften, Wünsche, Traumata und Eigentümlichkeiten reduzierbar ist.“ Slavoj Žižek. Parallaxe. Suhrkamp Verlag. 2006. Seite 400 34 „Damit in einer Gesellschaft der Narzißmus in dieser Weise mobilisiert werden kann […] muss das Interesse des Gruppen-Ichs suspendiert werden. […] Eine destruktive Gemeinschaft entsteht dort, wo die Menschen glauben, dass sie ihre Empfindungen voreinander enthüllen müssen, um emotionale Bindung herzustellen.“ Richard Sennett. Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität. Fischer Verlag. 2004. Seite 333; „Kurzum, wenn die Stadtplanung die Qualität des Lebens dadurch verbessern will, dass sie es intimer gestaltet, dann erzeugt ihre vermeintliche Menschenfreundlichkeit eben jene Sterilität, die sie eigentlich beheben will.“ Richard Sennett. Ebd. Seite 393

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mehr professionell angelegt, sondern nur noch affektiv. Doch die öffentliche Vorstellung dieser symbolischen Mandate wäre wichtig, weil erst in deren ebenso öffentlicher Begegnung und Interaktion normatives Verhalten ausgehandelt werden kann. Der klassische öffentliche Raum wäre also bestenfalls Labor und Schule zugleich. Man probt, was man als gemeinschaftsdienlichen Auftrag zu erfüllen hat, und man lernt an der Reaktion der anderen, was tatsächlich gemeinschaftsdienlich ist und was nicht. Im historischen Langzeitvergleich wirken diese bürgerlich gesitteten Gesellschaftsspiele vielleicht verklemmt oder gar verfälschend. Schließlich haben auch die Revolutionen der Bürger gegen die Obrigkeit in den öffentlichen Straßen stattgefunden, und dabei sind nicht nur feinsinnige Rollen gespielt worden. Aber gerade die Revolution als Ausnahme zeigt, dass im Normalfall auf der Straße eine Pflicht zur schauspielerischen Disziplin gilt. In anderen Branchen nennt man das heute Fair Use oder symbolischer Tausch.35 In der zynisch abgeklärten Form darf man das sogar Lüge nennen – wie Harald Schmidt pointiert wissen ließ. „Man braucht den hemmungs losen Mut zur Lüge, gegenüber jeglicher Nachfrage in der Öffentlichkeit.“36 Das Wort Lüge hört man im Raum der privaten Bekenntnisse natürlich gar nicht gern. Die Lüge ist der Feind der privaten Exhibitionierung. Doch wie vergleichsweise rettend die Lüge ist, merkt man erst, wenn man das begriffliche Gegensatzpaar weiterdekliniert: „Ich habe die Existenz des Foto-Handys sehr verinnerlicht. Auch wenn ich um halb drei Uhr nachts an einer Autobahnraststätte auf den Behindertenparkplatz kotze, weiß ich das. Wenn mich dann einer fotografiert, dann sage ich weder, ‚oh, wie konnte das passieren‘, noch sage ich, ‚das ist jetzt aber rücksichtslos‘, sondern ich sage: ‚Dafür bin ich Profi‘.“37 Schmidt definiert den öffentlichen Rollenspieler wieder als Profi. Damit benennt er implizit auch sein Gegenstück: den Dilettanten. Während der Profi sein symbolisches Mandat annimmt und unter allen Umständen 35 „Das ist der symbolische Tausch in Reinform: eine Geste, die dazu da ist, zurückgewiesen zu werden; der springende Punkt, die ‚Magie‘ des symbolischen Tauschs besteht darin, dass, obwohl man am Ende wieder genau da steht, wo man am Anfang war, als Gesamtergebnis des Vorgangs nicht null herauskommt, sondern ein deutlicher Gewinn für beide Seiten, nämlich der Solidarpakt.“ Slavoj Žižek. Parallaxe. Suhrkamp Verlag. 2006. Seite 261 36 Harald Schmidt. In: Christoph Steiner, Harald Schmidt. „Harald Schmidt: Zu 50 Prozent bald auf Rebhuhnjagd“. http://www.kleinezeitung.at/nachrichten/kultur/3261264/harald-schmidt. 09.02.2014 37 Harald Schmidt. In: Timo Frasch. Harald Schmidt. „Harald Schmidt im Gespräch: ‚Ich bin eine Charaktermaske‘“. https://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/menschen/harald-schmidt-im-gespraech-ich-bin-eine-charaktermaske-12124274.html. 23.03.2013

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den Schein wahrt, also konstruktiv lügt, ist der Dilettant ein einfältiger Liebhaber. Er liebt nur die eigenen, spontanen Affektschübe. Wie destruktiv diese Liebhaberei für den öffentlichen Raum werden kann, hat man in der Silvesternacht 2015 in Köln demonstriert bekommen. Ein Datum, das sich nicht nur in Europa als Trauma schlechthin für die hohe Idee des öffentlichen Raums eingeprägt hat. Gleichzeitig ein Datum, das noch lange als Gipfeltreffen des Dilettantismus gelten wird. Weder die übergriffigen Silvesterfeiernden noch die Polizei noch die Presse noch die Politik wussten in der Situation oder unmittelbar danach, welche professionelle Rolle sie zu spielen haben. Schockierend an diesem kollektiven Rollenversagen war aber nicht nur die resultierende Gewalt an sich, sondern vor allem die fordernde Abwicklung der Gewalt vor den Augen der anderen.38 Es war die trotzige Demonstration für das individuelle Recht auf ungezügelte Privatheit, die in jedem Verständnis total sein will. Diese Kritik am Exzess des Privaten in der Öffentlichkeit mag richtig abgeleitet sein, doch sie zieht dennoch weit am Mainstream der Realität vorbei. Wie die Architekturtheorie und die Stadtgeschichte fokussieren auch die Medien gern auf herausragende Ereignisse. Deshalb sind Straßenschlachten, Jugendrevolten, Prügeleien vor Türstehern und sonstige Sonderereignisse im öffentlichen Raum ein wiederkehrendes Bildmotiv. Doch wenn man wieder an den Ursprungsort des Seins-zur-Exhibitionierung zurückblickt, lernt man schnell, dass diese Actionbilder falsch sind. Sie sind falsch, was das generelle Verhalten im öffentlichen Raum betrifft, und sie sind falsch, was die spezifischen privaten Bekenntnisse im öffentlichen Raum betrifft. Ja, es werden überschwänglich private Bekenntnisse öffentlich vorgeführt, aber die Bekenntnisse bestehen meistens nur in der Zurschaustellung der eigenen Müdigkeit, ganz banal. Die letzten Menschen sind durchwegs vergnügungssüchtig, aber das Vergnügen besteht im Wesentlichen aus erlösendem Nichtstun. Das haben die medialen Inszenatoren der 38 „Die heutige Subjektivität ist von einer Verlagerung vom Begehren zur Forderung gekennzeichnet. Die Forderung, das Bestehen auf ihr, ist das Gegenteil des Begehrens, welches in den Lücken der Forderung gedeiht, in dem, was in der Forderung mehr ist als die Forderung selbst – die Forderung des Kindes nach Nahrung kann etwa das Begehren nach Liebe ausdrücken, so dass die Mutter sie eventuell dadurch erfüllen kann, dass sie das Kind in den Arm nimmt.“ Slavoj Žižek. Parallaxe. Suhrkamp Verlag. 2006. Seite 401

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exhibitionistischen Privatheit natürlich erkannt und als Gegenstrategie die Challenge erfunden. Kein YouTuber, keine Containershow, keine Dschungelshow, die nicht die trägen Teilnehmer mit dreisten Herausforderungen in Aufruhr versetzten würde. Letztlich war auch die Silvesternacht in Köln nur eine Dschungelshow, in der existenzielle Langeweile mit einer dreisten Challenge therapiert wurde. Architekturplaner verhalten sich da wesentlich disziplinierter, müssen aber ebenfalls mit Challenges die Langeweile übertünchen. Viele Projekte für den öffentlichen Raum werden zwar in der Entwurfsphase mit Skateboardern und herumturnenden jungen Menschen dynamisiert. Aber die bunten Turnszenen sind nur gezeichnete Attrappen. In der Realität erweisen sich die gleichen Plätze und Freiflächen als erheblich träger und gelangweilter. Im Normalfall finden im öffentlichen Raum keine aufwühlenden Actionszenen statt, sondern es wird wieder nur herumgelegen. Schon an den Eichler-Bildern hätte auffallen müssen, dass Privatheit und Herumliegen nicht voneinander zu trennen sind. Das Liegemöbel, egal in welcher Ausführung, ist der Fetisch dieser neuen Form der privatisierten Öffentlichkeit. Egal in welche Stadt man kommt, die neuen öffentlichen Räume werden mit epidemisch ausladenden Möblierungen besetzt und sofort sitzend, liegend, lagernd in Anspruch genommen. Gelegentlich findet sich ein originelles Objekt dabei, das bei genauerer Betrachtung wieder nur zum originellen Liegen, Entspannen, Abschalten anstiften will. Meist wirken diese öffentlichen Liegelandschaften viel zu verspielt, um stadtstrategisch hintergründig zu erscheinen. Aber feinsinnigen Stadtbeobachtern ist längst aufgefallen, dass hier trotz spielerischer Attitüde sehr brutal Menschen gegängelt werden. Die postmoderne Lektion zur Privatheit wird jetzt als Kontrollinstrument verwendet. Den öffentlich Herumliegenden wird suggeriert, dass man nur dann richtig authentisch und privat ist, wenn man jeglichem Aktivitätsanstoß durch sein professionelles Mandat, jeglicher Aufforderung von anderen, jeglichem Impulsappell mit trotziger Trägheit begegnet. Keine Ambition bitte, denn sie könnte aus Zwang geboren sein. War nicht das Schnurspringen auf den Bildern Eichlers auch nur eine gezwungene Aufführung, eine unnatürliche Demonstration von Fitness und Eifer im Auftrag der gelangweilten Kinder? Als Postmoderner muss man nicht mehr schnurspringen. Liegen reicht, denn nur als Erschöpfter, als Dahindösender ist man wirklich ganz man selbst. 239

Ist das zu paranoid beobachtet? Könnte die Einrichtung der Liegeöffentlichkeit nicht einfach nur ein Entgegenkommen sein? Dümmlich, weil tautologisch und populistisch, aber dennoch gut gemeint? Garantiert nicht. Denn obwohl an bestimmten Orten der Stadt mit großem kreativem Aufwand gemütliche Liegeöffentlichkeit erzeugt wird, wird an anderen Orten der Stadt mit dem gleichen kreativen Aufwand das Sitzen, Liegen, Verweilen verleidet oder sogar verhindert. Es gibt mittlerweile eine eigene Kreativsparte, die nur damit beschäftigt ist, trickreiche Designs zu entwickeln, um Obdachlosen und sonst wie Unterwünschten das Leben möglichst schwer zu machen – während den anderen eine Anstrengung nach der anderen wegdesignt wird. Man muss also gar nicht paranoid veranlagt sein, um hinter der ganzen Liegeöffentlichkeit einen großen, perfiden Plan der Verhaltenskontrolle zu vermuten. Die einen werden vertrieben und den anderen wird überschwänglich Raum für Individualisierung angeboten, aber nur weil man sie dort gezielt zum Einschlafen verführen will. Auch so kann man Öffentlichkeit beherrschen. Wendet man diesen Wahrnehmungsfilter auf das Rollfeld, wird die städtische Dimension dieser Verhaltenskontrolle sichtbar. Hier sind es nicht nur ein paar Stadtplätze, die mit träger Liegeöffentlichkeit unter Kontrolle gehalten werden. Hier ist es die allgegenwärtige Rollroutine, die zur existenziellen Apathie anstiftet. Der individualistische Protest der unzufriedenen 80 Prozent Stadtkunden wird also in kollektiver Trägheit erstickt. Das Rollfeld und die alltägliche Rollroutine machen jedem Unzufriedenen sofort klar, dass Protest absolut nutzlos ist, weil es dafür kein rezeptionsfähiges, städtisches Gegenüber gibt. Der Protest gegen das Rollfeld kann also nur ein Protest nach innen sein, ein Protest gegen die eigene Aufgeregtheit, gegen die eigene Anspruchshaltung, gegen die eigene Unzufriedenheit. Es ist wie bei Panikattacken unter Wasser. Bloß keine Energie mit Aufgeregtheit verschwenden. Man überlebt nur, wenn man innerlich kapituliert und sich in die Erschöpfung fallen lässt. Das Rollfeld kann also ohne Übertreibung als die größte urbane Dämmerarchitektur bezeichnet werden, die je installiert worden ist. Und selbst wenn nicht alle die Augen geschlossen halten, so ist das Rollfeld architekturgeschichtlich dennoch einzigartig in seinem Vermögen, jegliche städtische Aktivität bis zur Unkenntlichkeit herunter zu dimmen. Sobald das Rollfeld eine Stadt befallen hat, breitet sich gespenstische urbane Erschöpfung aus. 240

Zwischendurch sollte man redlicherweise das Gegenargument zu Wort kommen lassen. Ist nicht ausgerechnet die Trägheit die einzige funktionierende Form der Zurückhaltung, die übersatte Wohlstandsgesellschaften leisten – egal ob freiwillig oder durch Gängelung erzwungen? Man stelle sich vor, die vielen Herumliegenden würden alle aufwachen und als aufdringliche Individualismus-Kunden auf der Erfüllung ihrer Sonderwünsche bestehen. Das Datum der endgültigen Weltzerstörung müsste dramatisch vorgezogen werden. Sitzen die Menschen in Los Angeles also deswegen so gern in ihren parkenden Autos herum? Stehen, lehnen, lungern sie deswegen in den unbemühtesten Containerarchitekturen herum, viel zu lang und viel zu offensichtlich ohne Beschäftigung, weil sie die Welt retten wollen? Unwahrscheinlich – dennoch ist das kollektive Fallenlassen in die Müdigkeit eine so archetypische Performance, dass man sie nicht nur städtebaulich oder betriebswirtschaftlich deuten sollte. Als argumentativer Katalysator dazu dient der große Widerspruch in der Aktivitätsbilanz von Los Angeles. Ronald Reagan hatte vorgerechnet, dass eine individualistische Gesellschaft mehr Energie und Genius freisetzt und daher allen anderen Gesellschaften überlegen sei. Doch das Rollfeld als großen urbanen Erschöpfungszustand zu qualifizieren, bedeutet, der Hochenergieerwartung von Ronald Reagan latent zu widersprechen. Wie passen diese beiden Beobachtungen zusammen? Wie so oft erklärt sich der Widerspruch ausgerechnet in seiner Zuspitzung. Dazu ist es notwendig, zu erkennen, welche Exzessformen das Liegen annehmen kann. Reinold Werner untersucht die Körperhaltungen Stehen, Sitzen, Liegen nach ihrer erweiterten Bedeutung und schlägt vor allem zum Liegen eine hochbrisante Assoziation vor: „In Hinblick auf die verschiedenen Abstufungen zwischen Produktivität und Rezeption, Aktivität und Passivität findet man die vertikale Markierung (stehen) auf Seiten der Teilnahme und die horizontale Markierung (liegen) auf Seiten der Hinnahme“.39 Liegen wird also zur Hinnahme verschärft. Anthony Kiedis, Sänger der Red Hot Chili Peppers, beschreibt eine seiner wildesten Drogenausschweifungen ebenfalls als eine exzessive Liaison aus Liegen und Hinnehmen. Als sei das eine nicht ohne das andere zu haben: „When we weren’t shooting up in his drug-infested apartment, Mario knew this safety zone beneath a 39 Reinold Werner. „Stehen-Sitzen-Liegen“. In: Dietmar Kamper, Christoph Wulf. Hrsg. Der andere Körper. Verlag Mensch und Leben. 1984. Seite 36

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freeway bridge, some weird hideaway that the LAPD never patrolled. […] Sheltered beneath that overpass right in the middle of the city, I spent countless days lying on a bunch of dirty mattresses and shooting up with a bunch of killers.“40 Der dämonische Witz dieser Szene ist nicht zu überbieten. Ausgerechnet der Sänger und Frontman einer Band, die wie keine andere ihrer Zeit performative Hyperaktivität auf die Bühne gebracht hat, findet den privaten Gipfel der Ausschweifung in tagelangem heroinberauschtem Herumliegen. Der Song Under the Bridge erzählt kryptisch davon. Seither wird von Fans und Journalisten angestrengt nach der Brücke gefahndet, unter der die professionelle Hyperaktivität von Kiedis in hingebungsvolles Extremliegen umgeschlagen sein soll.41 Downtown Los Angeles ist der beste Tipp. Das Publikumsinteresse an der Örtlichkeit ist kein Zufall. Auch das Lied zum Liegeexzess unter der Brücke wurde populär und zur bislang erfolgreichsten Hitsingle der Band. Es brauchte allerdings anhaltende Überredung seitens des Produzenten Rick Rubin, um Kiedis und dem Rest der Band den populären Wert dieses Liedes klar zu machen. Aber Rubin ist nicht umsonst erfolgreicher Produzent. Er weiß wie kaum jemand in der Branche, wann eine Szene als Spiegel der allgemeinen Befindlichkeit taugt und damit archetypische Magie entfaltet. Im konkreten Fall bedeutet das: Kiedis überhöht die Lebensdramaturgie des durchschnittlichen Amerikaners zum fast biblischen Gleichnis. Leben heißt, alles zu tun, um am Leben zu bleiben. In einer individualistischen Gesellschaft zu leben, heißt, jeden Tag noch etwas mehr lebenserhaltenden Aufwand leisten zu müssen. Der professionelle Erfolg dieser Überanstrengung ist Amerika und vor allem Egostädten wie Los Angeles sicher. Der Preis, der für diese Überanstrengung zu zahlen ist – und den Ronald Reagan auch unmissverständlich betont –, ist ebenfalls sicher. Gemeint ist ein äquivalentes Maß an Übererschöpfung, die unweigerlich auf die Überanstrengung folgt. Diese erhöhte Amplitude aus High und Low kennt jeder hier. Das ist auch der Grund, warum dem Drogensüchtigen in Los Angeles durchwegs Verständnis entgegengebracht wird. Das geforderte High ist oft nur noch mit toxischer Unterstützung zu erreichen, das erlösende Low ebenso. Der Drogensüchtige macht also nichts anderes, als stellvertretend für alle auszuloten, wo 40 Anthony Kiedis, Larry Sloman. Scar Tissue. Time Warner Books. 2005. Seite 208 41 Jennifer Swann. „The Red Hot Chili Peppers’ Bridge Is Not Where You Think It Is: An Investigation“. https://www.laweekly.com/the-red-hot-chili-peppers-bridge-is-not-where-you-think-it-is-aninvestigation/. 18.12.2014

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die maximale Belastungsgrenze in der Verwendung von Uppern und Downern liegt. Kiedis gelingt es dabei vor allem, den Downer-Exzess mitten in den Freiheitsmythos der Moderne hineinzusteuern. Wie das? Wenn die Hyperaktivität der geforderte professionelle Anspruch ist, dann kann die maximale private Freiheit nur das exakte Gegenteil sein. Hyperpassivität in Form liegender Hingabe, die sogar mit der Hingabe des Lebens einverstanden wäre.

Stauraum Schwarzer Plastiksack mit Reißverschluss, Krankenwagen, Leuchtstäbe am Boden, man wird vorbeigewunken, hat nur kurz Gelegenheit zur Seite zu blicken. Unfall. Und schon ist die Szene wieder vergangen. Man fährt weiter, beschleunigt, der Stau löst sich zügig auf. Stau außerhalb der gewohnten Rushhour – das lernt man schnell in Los Angeles – ist selten harmlos, sondern die Signalform für unschöne Ereignisse am Asphalt. Wer in einen Stau gerät, der beginnt sofort zu interpretieren. Was ist passiert? Aufschluss geben aber nur Radiomeldungen und die Zusammensetzung der vorbeieilenden Einsatzkräfte und Aufräumkommandos, jene professionellen Wiederherstellungsinstanzen, die das Ereignis und den Stau so schnell wie möglich auflösen sollen. Auflösen im doppelten Sinn: Das Ereignis wird aufgelöst und die Erinnerung daran wird aufgelöst. Die Opfer werden abtransportiert, die Schäden beseitigt, die Oberflächen gereinigt, die Zuschauer vorbei- oder weggewunken. Der öffentliche Raum in Los Angeles hat sich weitgehend seiner klassischen Aufgaben entledigt, aber er ist auffallend kompetent und engagiert in der Wiederherstellung seiner oberflächlichen Unbedarftheit. Jeder hat das Recht, vor aller Öffentlichkeit dramatisch zu Schaden zu kommen, blutüberströmt darf man den Anwesenden den Anblick des eigenen Katastrophenschicksals zumuten. Aber sobald die Katastrophenszene absolviert ist, muss alles sofort wieder verschwinden. Der Sketch ist vorbei, es gibt hier nichts mehr zu bestaunen. In der Öffentlichkeit von Los Angeles scheint eher ein Erinnerungsverbot zu herrschen als ein Gewaltverbot. Ja kein hässlicher Fleck mit Assoziationspotenzial – ist die oberste Maxime. Dem öffentlichen Stadtraum wird kein archivarisches Gedächtnis erlaubt. Ins gegebene Nichts soll sich auch 243

nichts einschreiben, denn damit würde der öffentliche Raum ja wiedererstehen, mindestens indem er seine Marginalisierung feststellt. Dennoch bleibt ein inspirierter Nachklang, trotz schaurigem Unfall. Da war doch gerade etwas. Situative Aufmerksamkeit statt dämmriger Routine; Synchronisation mit den anderen, aber nicht entlang der Regel, sondern entlang einer tastenden Vernunft; positive Unterstellung: Die anderen fahren nicht aus destruktiven Gründen langsam, sondern weil es die Situation erfordert; appellierende Wertschätzung des Institutionellen: Notdienste werden sich wohl um das Ereignis kümmern; sogar normatives Verhalten wird plötzlich rekapituliert: Wie muss man sich verhalten, damit kein Unfall passiert? Schon wenige Minuten Stau reichen aus, um ein Gemeinwesen zu stiften, zumindest als starke, kollektive Stimmung. So entsteht Gemeinwesen also. Als Reaktion auf eine unerklärliche Funktionsstörung. Die Gemeinschaft muss augenblicklich als Ersatzorganisation einspringen. Wie ein sozialer Airbag wird diese Ersatzorganisation durch die Funktionsstörung spontan für den unmittelbaren Gebrauch erzeugt. Fällt aber genauso schnell wieder in sich zusammen, wenn sie nicht mehr gebraucht wird. Hat der Funktionalismus das Gemeinwesen zerstört, weil er es überflüssig gemacht hat? Nein, hat er nicht. Man merkt, wie schnell Gemeinwesen aus dem Nichts wieder vollumfänglich da ist. Aber der Funktionalismus hat den Gebrauch des Gemeinwesens zum seltenen Ereignis gemacht, zur Anomalie. Der Normalfall wird hingegen von den Funktionsregeln verwaltet. In direkter Ableitung ergibt das den Basisauftrag an die öffentliche Sphäre: Aufklärung und Funktionsservice. Das sind die zwei großen Verantwortungsbereiche. In ihren jeweils sehr eigenwilligen Interpretationen dieser beiden Aufträge werden dann Polizei, Rettung, Feuerwehr, aber auch Kirche, Universität, Presse und heute Internet, NGOs, Lebenshilfe, Esoterik etc. das erste Haus am öffentlichen Platz sein wollen, durchaus in Konkurrenz zueinander. Doch diese Ableitung stimmt nur zum Teil, denn sie beschreibt nur das europäische Verständnis von Stadtplanung. Die Stiftungsmomente für das Gemeinwesen sind im Prinzip die gleichen wie in Los Angeles, aber in Europa schreitet man schnell zur baulichen Überhöhung. Auf der Straße oder an der Straßenkreuzung ist Stau, also wird der Stau mit Architektur gerahmt und bestätigt. Damit werden Ursache und Wirkung strategisch umgekehrt. Die Europäische Stadt will nicht irgendwo Stau erleben oder vom Stau 244

überfallen werden, sondern sie erzeugt an bestimmten Orten gezielt Stau, um diese Orte als wichtig zu markieren. Meist erfolgreich, denn nach der Überhöhung durch wichtige Architektur ist an diesen Orten tatsächlich permanent öffentlicher Stau. Es braucht dann keine spontanen Stiftungsereignisse mehr aus dem Alltagsbetrieb heraus, weil die institutionalisierte Architektur selbst die Anstiftung zum Gemeinwesen leistet – so zumindest der ideale Plan. Diese anstiftende Verantwortung hat dazu geführt, dass dem öffentlichen Raum bis heute chronisch Wichtigkeit unterstellt wird. Wenn vom öffentlichen Raum die Rede ist, dann werden alle ernst und zaghaft zugleich. Der Raumverlust des Öffentlichen ist für Architekten das Versagen schlechthin. Von Otto Wagner wird eine passende Aussage über den Karlsplatz kolportiert: Der Wiener Karlsplatz sei kein Platz, sondern nur eine Gegend – meinte er abwertend oder gar resignierend. Er deutet mit dem Begriff Gegend an, dass es nicht gelungen war, den Karlsplatz als formaktiven Stauraum auszubilden, und von dieser Gegend folglich auch keine konstruktive Anstiftung zum Gemeinwesen zu erwarten ist. Los Angeles erscheint insgesamt als Gegend – ohne Schuldgefühle. Diese Unterlassung hat den zufälligen Vorteil, dass damit der Stau als Ereignis aufgewertet wird. In Europa ist Stau auf irgendwelchen Durchzugsstraßen oder an der Stadtperipherie lächerlich, weil im Zentrum ohnehin genügend institutionalisierter Stau vorherrscht. In Los Angeles aber kennt man nur das Drängen im Stau als stadtbildendes Gegenexperiment zu den stadtlosen Normalverhältnissen. Nicht nur bei Unfällen, sondern jeden Tag zur Rushhour zieht das große Drängen über die Stadt, wie eine Wetterfront, die alles umwertet. Dann wird in der ganzen Stadt gerollt, aber in drängelnder Masse. Es ist plötzlich eng geworden am Asphalt und die dauerträgen Kunden erleben die Wiederauferstehung einer verloren geglaubten Befindlichkeit. Nicht nur weil das Drängen für viele den einzigen sozialen Kontakt darstellt, sondern weil der Zusammenhang zwischen Stauung und Raumbildung hier sehr viel direkter erlebbar ist als in der europäischen Kernstadt. Nur Stauung erzeugt Raum, das ist schon im Zuge der Plattendiskussion erörtert worden, und nur zwischen stauenden, drängenden Menschen entsteht authentischer sozialer Raum und davon abgeleitet authentischer öffentlicher Raum. Da ist er also plötzlich wieder, der öffentliche Raum. Für viele in seiner unschönsten Form, weil in keiner Weise idealisiert, aber dennoch fantastisch, weil so akut erzeugt und fragil. Dieser stauinspirierte öffentliche 245

Raum wird nicht durch Architektur baulich verdoppelt und institutionalisiert, sondern nur im Augenblick von den Akteuren gehalten und durchlebt. Peter Sloterdijk dekliniert derartige menschbezogenen Raumbildungen im Blasen-Band seiner Sphären-Trilogie durch sämtliche Dimensionen, von der „interfazialen Intimsphäre“ über „Menschen im Zauberkreis“ bis hin zur Loveparade und dem „Sirenen-Stadium“.42 Den Stauraum am Asphalt der modernen Stadt muss man in diese prominente Liste unbedingt hinzufügen. Der Stau ist die tägliche Übung in öffentlicher Raumbildung und für das urbane Verständnis unverzichtbar. „In their free time, large crowds on the beaches or in the country are in fact a concentrated mass of people ‚served‘ by mechanical, mobile miniservices (car, radio, portable refrigerator). Concentrations such as the Isle of Wight or Woodstock indicate the possibility of an ‚urban‘ life without the emergence of three-dimensional structures as a basis.“43 Damit stellt sich eine sehr praktische Frage: Was macht man nun mit dem Raum, der so spontan zwischen den drängenden Menschen entsteht? Für den linearen Bewegungsanspruch der Moderne steht da kein offenes Feld mehr zur Verfügung, da ist oft nicht einmal mehr freie Sicht, sondern überall ist Sackgasse, Drücken, Quälen, Stehen, Stauchen. Es gibt kaum freie Nischen, die man mit Schnelligkeit und List erstbesetzen könnte. Zu dicht ist dieser Raum bereits mit Interessen belegt, als dass man eine freie Entfaltung von Aktivitäten probieren könnte. Hier ist nur noch überbuchter Raum, der nur durch Verdrängung anderer besetzt und gehalten werden kann. Verdrängungswettbewerb nennt das die Systemtheorie nüchtern, ein Wettbewerb unter satten Bedingungen. Die szenische Implementierung ist weniger nüchtern. Wer etwas will, muss es jemand anderem wegnehmen, muss selbst in dichtesten Verhältnissen noch Zwang ausüben wollen, um für sich Raum und Gelegenheit zu schaffen. Und genau das trainiert man zur Rushhour. Parkplatz, Platz zum Gehen, Stehen, Licht, Luft, Ressourcen, die gewünschte Position im sozialen Kontext und in sonstigen Rankings – jetzt ist das Positionsmanagement Schwerstarbeit. Wird die Nähe bedrohlich, kippt die Funktionsstörung sogar ins Feindselige. Primitive Denk- und Handlungsimpulse gewinnen an 42 Peter Sloterdijk. Sphären I. Blasen. Suhrkamp Verlag. 2000 43 Superstudio. „Supersurface”. In: Peter Lang, William Menking. Superstudio. Life Without Objects. Skira Editore. 2003. Seite 182

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Relevanz. Doch es greift keine moderierende Instanz ein, um aus dem ungeduldig fluchenden Wuthaufen einen Shared Space zu machen, wie das Hans Monderman vorschlagen würde. Stattdessen wird aufgerüstet. Dass in bedrängten Verhältnissen ein massiger Verdrängungskörper von Vorteil ist, weiß man bereits aus der Festkörperphysik, nur so behauptet man sich gegen die Drift der anderen. Groß, schwer, potentiell expansiv und träge; Körper, Menschen, Autos, Architektur, von allem ist die Rede. Wie schrieb Virilio: Ein Amerikaner, der seinen sozialen Erfolg beweisen wollte, kaufte sich in den 60ern ein kleines aber schnelles europäisches Auto.44 Das ist Geschwindigkeitsfolklore von gestern. Wer heute seinen Erfolg beweisen will, der kauft ein großes, geländegängiges Auto, allerdings nicht für die zügige Vorwärtsfahrt, sondern für das Drängen am Asphalt. Und wer heute wirtschaftlichen Erfolg haben will, der baut keine karge, feinintellektuelle Architektur mehr, sondern der setzt Megaprojekte in die Welt. Kommt man dabei ohne Kopfschütteln der Kritiker, Bürgerproteste und Größenwahnvorwurf davon, muss man sich vorwerfen lassen, nicht das Maximum versucht zu haben. In Los Angeles werden ständig ganze Stadtareal nach dieser Agenda neu entwickelt. Die Bebauung variiert dabei in der gewohnten Bandbreite, nur eines kann man sehr verlässlich voraussagen: Die neuen Architekturkörper, egal wer sie entwirft und verantwortet, werden mehr Volumen haben als die vorherigen. Das kann man pikanterweise der Architektur und ihrer Kundschaft gleichermaßen unterstellen. Hier sind die großen, formlosen Körper und die große, formlose Architektur. Ein stilles Massaker der Fassungen findet statt, ein beständiges Aufblähen und Überschreiten der Kategorien und Konturen. Man muss es sagen, auch wenn es unhöflich klingt: Das verdrängte Material ist wieder da, überschwänglich, als Fett am eigenen Körper. Menschen im Stau sind Material ohne Fassung. Als Steve McQueen alias Bullitt ist man in die Moderne eingestiegen, schlank in einem schnellen Wagen davongerast; 40 Jahre später steigt man als staugeplagter, adipöser Fetthaufen wieder aus, und sogar das Auto ist fett geworden. Man hätte es wissen müssen, Heldentaten werden nicht nachgeahmt, wie kurzkausale Soziologen gerne 44 „In den 60er Jahren kaufte sich ein Amerikaner, der seinen sozialen Erfolg beweisen wollte, nicht das ‚größte amerikanische Auto‘, sondern ein viel schnelleres und nicht gedrosseltes ‚kleines europäisches‘. Erfolgreich sein bedeutet, über die Macht einer viel höheren Geschwindigkeit zu verfügen und den Eindruck zu haben, der Eintönigkeit der zivilen Dressur zu entgehen.“ Paul Virilio. Geschwindigkeit und Politik. Merve Verlag. 1980. Seite 145, 146

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unterstellen. Die Helden führen stattdessen aus, was getan werden muss, und erlösen damit die vielen kleinen Feiglinge davon, es selbst tun zu müssen.45 Die schauen lieber zu und stoffwechseln. Warum man über dicke Körper reden muss, um zeitgenössische Architektur zu verstehen? Die groteske Volumenszunahme, die Architektur und Körper gleichermaßen erfasst, ist abermals eine Überhöhung des initialen sozialen Staus. In der europäischen Kernstadt wird der Stau aktiv mit rahmender Architektur überhöht. Das bedeutet, der Stau wird externalisiert und als formende Stadt äußerlich abgestellt. In der modernen Stadt aber passiert das Gegenteil. Durch die unterlassende Grundausrichtung wird verhindert, dass der Stau äußerlich strukturell auskristallisiert. Damit bleibt die Stadt offen und formliberal. Aber wohin drängt dann die ganze Stauenergie? Man muss nur hinsehen, um die Antwort aufgedrängt zu bekommen. Der Stau wird verinnerlicht. Der Stau wird regelrecht verschluckt. Jetzt staut es in den Körpern der Menschen und in den Baukörpern der Architektur. Es drängt, drückt, würgt innerlich. Immer mehr Kilos, immer mehr Regalreihen, immer mehr Parkdecks, immer mehr Getränkehalter im Auto, immer mehr Stockwerke, immer mehr Apps auf dem Mobiltelefon. Und während man drückt, würgt und schwitzt wird langsam klar, dass Stauraum nie gut war, in keiner Form. Weder innerlich noch äußerlich, auch nicht gut auf der Straße vor der Unfallszene. Aber war dort nicht zumindest die Stimmung konstruktiver, empathischer? Ja, aber nur weil es ein Ereignis gab, dass einen über die momentane Stausituation hinausgehoben hat. Das ließ das akute Drängen, Stehen, Drücken nebensächlich erscheinen. Doch dieser Eskapismus ist in der täglichen Rushhour unmöglich. Das Stiftungsmoment der Rushhour ist kein unerklärliches Ereignis irgendwo weit voraus am Asphalt, das man nur gemeinschaftlich lösen kann, sondern die evidente Tatsache, dass zu viel Menschen hier und jetzt am gleichen Ort sind. Das simple Zuviel löst das Funktionsversagen aus. Da kann die Stimmung gegen den anderen, der auch hier ist, nur schlecht sein. 45 „Man konnte die Helden bewundern – und zugleich erleichtert feststellen, dass die Anspruchsniveaus reguliert waren und man sich selbst derartige Hochleistungen nicht zumuten musste. In dieser Doppelfunktion von Bewunderung und Entlastung erkennen wir von Ferne ein Hintergrundparadox, nämlich eine für Moral ungewöhnliche Erlaubnis zur Selbstexemtion. Oder reziprozitätstheoretisch formuliert: man konnte für Entlastung mit Bewunderung zahlen.“ Niklas Luhmann. Organisation und Entscheidung. VS Verlag für Sozialwissenschaften. 2006. Seite 438, 439

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Folgt daraus, dass auch der Raum, der durch das Drängen gegen die anderen entsteht, nur unangenehm sein kann? Ja, leider – es entsteht zwar eine Rohversion von sozialer Interaktion, sogar in der Rushhour, aber keiner will sie haben. Umso skurriler sind die seltenen Gegenmeinungen: Der Autor und Dramatiker Moritz Rinke erwähnt in einer Ausgabe der Diskussionssendung Das Philosophische Quartett, dass er sich gelegentlich absichtlich in den Morgenstau begibt, um sich in Gemeinschaft mit der Normalbevölkerung zu erleben. Der Morgenstau ist also das soziale Korrektiv zu seinem sonst eher asozialen schriftstellerischen Tagesablauf.46 Doch derartige Geständnisse bleiben nur deshalb in Erinnerung, weil sie gegen den großen Stimmungstrend sprechen. Die täglichen Pflichtstauer wollen mehrheitlich keine erzwungene Nähe mehr mit anderen aufdringlichen Materialkörpern. Doch auf eine derartige Ablehnung ist die Raumtheorie bislang nicht vorbereitet. Sloterdijk bespricht zwar Kräfte, die menschbezogene Räume aufspannen und erhalten, doch Raummanagement besteht nicht nur aus positiven Agenden, sondern gleichermaßen aus destruktiven Projekten, aus Distanzierungen und Absentierungen. Dennoch ist die Anti-Sphären-Trilogie noch nicht geschrieben, eine Weltgeschichte des Unwillens, beisammen zu sein. Zumindest soziologisch arbeitet Sennett in seinem Buch Die Tyrannei der Intimität zu diesem Thema: „Heute dominiert die Anschauung, Nähe sei ein moralischer Wert an sich. Es dominiert das Bestreben, die Individualität im Erlebnis menschlicher Wärme und in der Nähe zu anderen zu entfalten. Es dominiert ein Mythos, demzufolge sich sämtliche Missstände der Gesellschaft auf deren Anonymität, Entfremdung, Kälte zurückführen lassen. Aus diesen drei Momenten erwächst eine Ideologie der Intimität.“47 Aus diesem Zitat kann man ableiten, dass auch Architektur und Städtebau lernen müssen, dass Raumbildung nicht unbedingt positiv sein muss und dass Raum keinen durchweg positiven Wert darstellt. Raum ist nicht immer wohlwollend und gut, Raum kann so erdrückend werden, dass man sich entschließt auszusteigen, sogar um den Preis, dass man dann ungemütliche Exponiertheit zu ertragen hat. An Rudolph Schindlers experimentellen Luftlagen im Schlafkorb auf dem Dach wurde bereits deutlich, dass gerade Raumverzicht die bessere Architektur 46 Vgl. Moritz Rinke. In: Verlust der Mitte: In den Ruinen der Bürgerlichkeit. Das Philosophische Quartett 51. ZDF. 02.05.2010 47 Richard Sennett. Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität. Fischer Verlag. 2004. Seite 329

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sein kann. Das gilt für die spontanen menschgemachten Stauräume genauso wie für die architektonisch erzwungenen Stadträume. Auch der klassische städtische Raum, die städtische Stauung, ist kein unbedingt positiver Wert, sondern kann einen erwürgen und Fluchtreflexe auslösen. Wer seine Jahre in Camillo Sitte’schen Canyonstraßen verbringt, wer nur Stadtplätze kennt, die wie offene Grablöcher aus einem monolithischen Stadtkörper ausgestanzt sind, der bekommt aufrichtige Glücksgefühle, wenn der Raum endlich aufhört und die Gegend beginnt. Nach allem, was man bei der Exaltation gelernt hat, könnte man sich natürlich auch in der Camillo-Sitte-Stadt mit einem spektakulären Gang in die Luft retten. Einigen Wenigen gelingt das sogar, die lassen in ihren Dachgeschosswohnungen die städtischen Raumstauungen am Boden zurück und genießen von der privilegierten Höhe aus die offene Dachlandschaft. In der Höhe ist nicht einmal mehr die europäische Kernstadt ein gestauter Raum, sondern nur noch entspannte Gegend. Aber für die große Masse, die sich immer noch am Boden der Camillo-Sitte-Stadt wiederfindet, bleibt nur das Rollfeld als Fluchtdestination vor der andrängenden Raumstadt – endlich rausgespült und ausgelassen in die peripheren Brachflächen, die urbane Ödlandschaft der Tankstellen, Shoppingcenter und Parkplatzhalbwüsten. Herumrollend genießt man die städtische Unterlassung, das hässliche Nichts. Zumindest solange man noch nicht dort ist. Denn ja – man fährt gerade in einem Zirkelargument herum. Gedanklich ist man aus der verstauten Raumstadt geflüchtet, aber real erst recht wieder eingestaut am Rollfeld. Man hat also nur eine horrible Wahl. Entweder erdrückt vom institutionalisierten Stau in der Raumstadt oder erdrückt von den großen Volumen, den großen Autos, den fetten Menschen, der monströsen Architektur in der Nicht-Raumstadt des Rollfelds. Doch gerade an dieser Schicksalswahl erweist sich der spezifische Charakter des Rollfelds als überraschender Vorteil. Das Rollfeld ist bereits eine städtebauliche Unterlassung, insofern ist es leicht, auf anstehende Stauprobleme mit weiterer Unterlassung zu reagieren. Das ist genau das, was konkret passiert. Das Rollfeld entgeht dem Stau, indem noch mehr Rollfeld ausgebreitet wird. Das Rollfeld bearbeitet zusätzliche Massen durch noch pragmatischere Massenabfertigung. Das Unter-Stress-Stellen des Rollfelds führt also nicht zu systemischem Versagen, sondern ganz im Gegenteil zu systemischer Selbstbestätigung. Parkplatzreihen ohne 250

Schatten und Abwechslung zu multiplizieren, führt nur zu mehr Asphaltwüste ohne Gnade. Kaufhallen ohne Gesicht und Ambition aufzublähen, führt nur zu mehr architektonischer Nichtigkeit. Die Idee, Kunden als generisches Kaufvieh zu behandeln, verfestigt sich durch Verdoppelung und Verdreifachung zur verlässlichen Strategie. Das Rollfeld braucht also keinen neuen Plan, um sich vom Stau zu befreien, es muss nur immer weiter tun, was es ohnehin schon tut. Der Raumstadt steht diese zynische Ausflucht hingegen nicht zur Verfügung. Deswegen kollabieren auch sehr viele historische Stadtgebiete unter dem Druck der zeitgenössischen Anforderungen. Raum muss moderiert werden, sonst erstickt er sich selbst. Die Raumstadt muss also bei Stauproblemen ausschließend agieren, um sich systemisch zu retten. Auch das passiert gerade im Übermaß. Über den Kostenfaktor wird zusätzliche Wohnbevölkerung verdrängt, mit Fahrverboten wird ein Teil der Mobilität verdrängt, über Bebauungspläne werden die Industrie und ein großer Teil des Gewerbes verdrängt. Die Nicht-Raumstadt muss hingegen nicht moderiert werden. Sie braucht auch keine ausschließenden Regeln und kann rücksichtslos integrativ sein. Das hat das Rollfeld garantiert nicht beabsichtigt, aber es bietet die beste Grundlage dafür. Das würde bedeuten, dass ausgerechnet die trostlosen Parkplatzreihen, die formlosen Asphaltlandschaften, das grauenhafte Kunststoff-Fließen-Imitatboden-Meer in den Kaufhallen, die keiner so recht gutheißen will, die besten Integrationsarchitekturen darstellen, die momentan zur Verfügung stehen. Die stadtgeschichtliche Einordnung des Rollfelds könnte also auch wesentlich wohlwollender ausfallen. Das Rollfeld wäre dann der Integrationsbeauftragte der zeitgenössischen Stadt, der sämtlichen Körpern darin sogar im größten Gedränge ein Überangebot an gelassener Akzeptanz garantiert.

Gelegter Haufen Das Rollfeld als großen, urbanen Integrationsbeauftragten zu qualifizieren, klingt wie eine unfertige Aufforderung. Wenn das Rollfeld für die zeitgenössische Stadt so wichtig ist, wie konzipiert, entwirft, plant man dann ein Rollfeld? Auf den ersten Blick sieht das Rollfeld aus wie eine verunfallte Stadtstruktur. Doch diese Beschreibung ist als Planungsstrategie untauglich, 251

weil sie ein Narrativ unterstellt, das nicht stattgefunden hat. In Los Angeles ist keine plötzliche, schicksalhafte Destruktion passiert. Sogar stadtstrukturelle Umpolungen wie am Wilshire Boulevard sind nicht Ergebnis eines Schicksalsschlags, sondern Zwischenstand einer pragmatischen Drift. Damit fallen auch Anarchievermutungen weg. Es hat weder das Schicksal noch eine aktiv zerwühlende Kraft das Rollfeld erschaffen. Wenn man nur von der offensichtlichen Unordnung ausgeht, fällt die Auflösung eventuell leichter. Chaostheorie, selbstregelnde Systeme, generative Prozesse etc. – es gäbe genügend zeitgenössische Theorievorlagen, um sich der ordnungssyntaktischen Unruhe auf dem Rollfeld anzunähern. In den letzten Jahren haben die Chaostheorie und ihre Derivate die prominente Mitte der Disziplin besetzt, und ein enormes Knowhow in der Handhabung von vermeintlich ungeordneten Systemen entwickelt. Doch auch hier ist die Zuständigkeit fraglich, denn ein Planungssystem muss auf zwei sehr unterschiedlichen Ebenen passen. Was ist damit gemeint? Das Fügen ist ein Kernthema des Architekturmachens. Jede neue Ära in der Architektur oder im Städtebau entwickelt eine neue Logik des Fügens, die dann sehr schnell zum zentralen Dogma wird. Die Arbeit an einer städtebaulichen Organisation ist also immer größer als das konkrete Projekt, sie ist ein Statement zur Jetztzeit. Die planerische Strategie muss nicht nur zum konkreten Projekt passen, sie muss zuallererst den Spirit einer Konstellation richtig treffen. Doch genau auf dieser höheren Ebene erweist sich die Chaostheorie als blind für das, was das Rollfeld planerisch ausmacht. Diese Blindheit lässt sich ausgerechnet auf das momentane Selbstverständnis der Chaostheorien zurückführen. Das Chaos war lange der Planung äußerlich, Planung hat sich sogar als Gegenkraft zum allgemeinen Chaos definiert. Der Eintrag chaotischer Techniken in die Planung ist also nur über eine Disziplinierung des Chaos möglich geworden, anderenfalls hätte sich Planung als solche disqualifiziert. Konkret hat man das Chaos einfach als komplexes Regelsystem definiert und somit war es kein Widerspruch mehr zur generellen Regelaffinität von Planung. Man könnte spotten, dass ausgerechnet die Beschäftigung mit dem Chaos eine Renaissance des Regelfetischismus begründet hat. Gerade ungeordnet erscheinende Zustände werden regelsyntaktisch überbewertet, um den Einsatz der Chaostheorie zu rechtfertigen. Ein vorgefundenes Chaos ist gar kein Chaos – so die Arbeitshypothese –, sondern nur ein Regelsystem, das man noch nicht verstanden hat. Der Unterschied liegt einzig 252

beim Rezipienten und dessen Vermögen, die jeweilige Ordnung zu dechiffrieren. „Also im Grunde werden alle Elemente einzeln vorgestellt, bevor sie sich auf eine sehr komplexe und für den Zuschauer nicht mehr durchschaubare Weise miteinander verzahnen.“48 In diesem Zitat über Brecht-Inszenierungen wird der selbstsuggestive Trick der momentanen Komplexitätsunterstellung vorgeführt und gleichzeitig eine freche Intelligenzhierarchie ausgegeben. Intelligenz hat sehr stark mit Mustererkennung zu tun und die wird sehr unterschiedlich zugeschrieben: Die klugen Theatermacher erkennen in einer Aufführung Komplexität und geben damit zu verstehen, dass sie das System zumindest als Regelsystem durchschaut haben. Die dummen Zuschauer sind jedoch nicht in der Lage, die Verzahnung der Elemente zu durchschauen, und müssen folglich mit dem reinen Effekt leben. Was der Zuschauer daraus lernt? In der momentanen Kulturarbeit ist Komplexität ein Wert an sich, den man weder nachweisen noch begründen muss. Sind das die zum Dogma gewordenen Fantasiewelten der Postmoderne, ihre Kollisionsversprechungen und Beziehungsdramen, zweiwertig, mehrwertig oder noch besser in Gilles Deleuze’schen Mannigfaltigkeiten verfasst? In jedem Fall ist damit verdrängt worden, dass die Kategorie Chaos eigentlich nur dort einen ernstzunehmenden Wert darstellt, wo sie als radikaler Kontrast zur Planbarkeit auftritt und damit die übliche Regelgläubigkeit opponiert. Das wertvolle Gegenexperiment zur Ordnung ist nicht die Übersteigerung der Ordnung durch eine noch komplexere Ordnung, sondern das Unterlaufen der Ordnung durch die Unterlassung von Ordnung. Eine einleuchtende Dialektik, aber kommt man damit dem Rollfeld näher? Argumentativen Halt gibt eine nüchterne Zuordnung: In der praktischen Durchführung sind Architektur und Städtebau klar technische Disziplinen und in der Technik waren laut Niklas Luhmann die Verhältnisse immer schon andere. Dort ist weder mutwillige Komplexität noch Chaosnachahmung das Ziel. Technik forciert stattdessen Simplifikation als stabilen Wert.49 Diese Einschätzung ist von Technikern oftmals pointiert bestätigt worden: KISS: keep it simple, stupid; DRY: Don’t repeat yourself etc. lauten bekannte Technomantras. In einer autobiografischen 48 Heiner Goebbels. In: Frank-M. Raddatz. Brecht frisst Brecht. Neues Episches Theater im 21. Jahrhundert. Henschel Verlag. 2007. Seite 135 49 Niklas Luhmann. Beobachtungen der Moderne. VS Verlag für Sozialwissenschaften. 2006. Seite 21

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Reflexion erzählt Steven Holl, wie er zur Simplifikation in der Architektur gefunden hat: „It was not his [Louis Kahn] style I was looking for, but the intellectual clarity, simplicity and forthrightness which the other figures, the leading figures of that moment, Venturi and the Five, were rejecting. When I was given Complexity and Contradiction in 1967 by my Professor in the University, I thought: I am going to do exactly the opposite!“50 Der junge Architekt Holl muss sich also entscheiden, zu welcher Fraktion er gehören will, zu den neuen Komplexen-und-Widersprüchlichen oder zu den alten Einfachen-und-Klaren. Die Frage ist nun, was versteht Holl unter einfach-und-klar? „For me, this collage technique undermines the possibility of an overall meaning to the project; the hope of constructing something where the whole means more than any of the parts.“51 „What we need now is a philosophy of how to put things together. My insistence is in the value of the whole, especially for architecture.“52 Die Idee der Einfachheit konvergiert also erstaunlich schnell mit der Idee des Holismus. Das mag am fertigen Architekturobjekt eine einfache Erscheinung hinterlassen und auch Luhmanns Simplifikation in der Technik illustrieren – ist aber als planerische Methode ausgesprochen angestrengt und gar nicht simpel. Wie quält man ein ungeordnetes Programm, das sich womöglich nicht einmal als Programm stabilisieren lässt, in eine unveränderlich einfache Form hinein? Jeder, der schon einmal entworfen hat, weiß, dass die endgültige einfache Form die Königsdisziplin darstellt. Totale Aufgeräumtheit ist nur mit höchster Anstrengung und nur mit höchstem Zwang zu erreichen. Abgesehen davon wirkt das Rollfeld nicht holistisch verfasst. Holls Übersetzung des Einfachen in der Architektur in einen formalen Holismus führt also nicht zur systemischen Annäherung an die organisatorischen Gegebenheiten am Rollfeld. Scheidet damit die Simplifikation als Idee völlig aus? Reduced by Rick Rubin, könnte man noch einwerfen. Der Musikproduzent Rick Rubin hat seine frühen Produktionen mit diesem koketten Satz versehen. Der kommerzielle Erfolg hat ihm recht gegeben und den kurzen Satz berühmt gemacht. Aber gerade weil Rubins Arbeit als herausragend eingeschätzt wird, kann seine Methode nicht einfach nur irgendeine Form der Reduktion sei. Rubins Reduktion muss mindestens so spezifisch sein, wie sie herausragend ist. Das Rollfeld ist aber nicht herausragend, und 50 Steven Holl. „Steven Holl 1986–2003. In Search of a Poetry of Specifics“. In: El Croquis. 78, 93, 108. 2003. Seite 11 51 Steven Holl. Ebd. Seite 18 52 Steven Holl. Ebd. Seite 23, 24

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scheint diesen Anspruch auch nie verfolgt zu haben. Feinsinnige Reduktion als planerische Methode zur Herstellung eines Rollfelds ist also ebenfalls nicht plausibel. Sind damit alle Möglichkeiten erschöpft? Nicht ganz, wenn man bereit ist, einen argumentativen Umweg zu gehen. Die wesentliche Neuorientierung ist dabei die Entdeckung, dass der Richtungsstreit zwischen den Komplexenund-Widersprüchlichen und den Einfachen-und-Klaren nur habituelles Theater ist. Tatsächlich sind die fundamentalen Gemeinsamkeiten nicht zu leugnen. Die Komplexen operieren von einer totalen Regelungsunterstellung aus, die Einfachen operieren von einer totalen Ganzheit aus, entweder als formales Ganzes oder als qualitatives Ganzes. Jeder Planungsschritt ist bei beiden Methoden des Fügens nur vor dem Hintergrund dieser totalen Instanz statthaft. Bei den Komplexen ist jedes Subelement vom Zentralgestirn der komplexen Formel erzeugt. Bei den Holisten muss durch das Fügen von Elementen unbedingt eine Ganzheit erzeugt und gehalten werden. Auf der konkreten planerischen Ebene ist bei beiden Methoden des Fügens keine freie Bewegung erlaubt. Wie hartnäckig die zu fügenden Subelemente mit einem höheren Auftrag ausgestattet werden und wie pflichtschuldig sie diesen Auftrag in die Fügung hineintragen, wird an der Arnheim’schen Unterscheidung zwischen Teil und Stück deutlich. Eine Ganzheit kann in Teile zerlegt oder in Stücke geschlagen werden. Das Teil orientiert sich an den Strukturlinien des Ganzen, das Stück tut genau das Gegenteil, es bricht mutwillig durch die Strukturlinien. Das klingt wieder wie der maximale Gegensatz zwischen Ordnung und Chaos. Aber dennoch tragen beide den Ganzheitsauftrag in sich, als projektives bzw. destruktives Narrativ, sogar als Definitionshintergrund. Wie kann man Teil sein, ohne dass ein Ganzes das rückwirkend bestätigt? Woran misst sich die Zerstückelungsleistung, wenn nicht vor dem Hintergrund des zerstörten Ganzen? „Wie verknüpfen sich die Layer miteinander, wie verhält sich Teil zu Teil, wenn es so etwas wie ein organisches Ganzes nicht mehr gibt, das Teile subsummiert.“53 „Dabei ist uns abhanden gekommen, mit dem Ganzen überhaupt noch etwas zu tun zu haben.“54 Deutlicher als Arno Brandlhuber in dieser Kritik am Parc-de-la-Villette-Wettbewerbsprojekt von OMA 53 Arno Brandlhuber. In: Nikolaus Kuhnert, Susanne Schindler. „Arno Brandlhuber. Die Versuchung des Populismus“. In: Arch+ 162. 2002. Seite 21 54 Arno Brandlhuber. Ebd. Seite 23

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kann man das vermeintlich verlorene Ganze nicht als Definitionsinstanz rehabilitieren. Wie zäh sich das Ganze als Definitionsinstanz aufdrängt, erstaunlicherweise gerade bei Projekten von OMA, zeigt eine Kritik an deren Ausstellungskonzept für die Biennale in Venedig 2014: „Der einstige Prophet des Konzeptuellen zerlegt die Sprache der Architektur in einzelne Vokabeln, das Gebäude ganz physisch in seine banalen Einzelteile: Treppen, Rolltreppen, Türen, Fenster, Dächer, Gebäudeheizung etc. und wird damit zunächst seinem Ruf gerecht: Immer alles gedanklich bis auf den Grund zu durchdringen. Im Sinne eines pars pro toto ein legitimer Ansatz. Wenn die Summe der Einzelteile aber kein Ganzes ergibt, wenn die Auswahl der Fragmente nicht exemplarisch, sondern beliebig ist, entsteht keine Enzyklopädie, sondern ein Telefonbuch mit herausgerissenen Seiten.“55 Wie wenig die Komplexen und Einfachen letztlich voneinander lassen können, zeigt aber nicht nur das Ganze als aufdringliche höchste Definitionsinstanz, sondern die beiden vermeintlich gegensätzlichen Methoden des Fügens haben sogar eine gemeinsame Methode des Fügens etabliert. Gemeint sind die additiven Fügungen von seriellen Einzelelementen. Dabei bleibt zwar die Gesamtform offen und veränderlich, aber nur innerhalb absehbarer Varianten. Gleichzeitig müssen alle Einzelteile die Selbstdisziplin der Addierbarkeit bereits in sich tragen, sich also schon vorab einem Mikroholismus unterwerfen. Ryue Nishizawa von SANAA apostrophiert diese vorauseilende Gehorsamkeit und bemängelt, dass bereits eine einfache Zwischenwand mit invariabler Wandstärke die beiden angrenzenden Räume in ihrer jeweiligen Autonomie einschränkt.56 Additive Fügungen sind also eine Koalition zwischen klein gewordenen Holisten und müde gewordenen Komplexen. Die jeweiligen Fügungsaufträge werden aber nach wie vor ausgegeben und befolgt. Wenn nur ein Einzelelement die Konfliktabsorption verweigert, oder gar ein Fremdelement hinzukommt, dann ist die gesamte Fügungslogik kaputt. 55 Frank Kaltenbach. „Unvollendet? – Die Architekturbiennale von Rem Koolhaas“. https:// www.detail.de/artikel/unvollendet-die-architerkturbiennale-von-rem-koolhaas-12149/. 17.06.2014 56 „Normally, one wall has two sides, so if you define the shape of the wall, this will affect two adjacent spaces. This relationship between the wall and the two adjacent spaces is always accepted and not discussed. We decided to make a wall with two thin membranes, not necessarily linked together, and we found that this created a kind of double wall between these two spaces and marked the independence of each room. Both are close and you can perceive one from the other, but they keep their independence.“Ryue Nishizawa. „SANAA Kazuyo Sejima, Ryue Nishizawa“. In: El Croquis 121/122. 2004. Seite 19

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Dennoch wird langsam klar, warum weder die Komplexen-und-Widersprüchlichen noch die Einfachen-und-Klaren das Rollfeld auflösen können. Beide sind zu sehr auf ihre reflektorische Metaebene bezogen. Doch das Rollfeld praktiziert eine Unmittelbarkeit ohne Metaebene, für die man in der Architektur gar keine Wahrnehmung mehr hat. Es bedarf daher eines Nicht-Architekten, um der planerischen Logik des Rollfelds auf die Spur zu kommen. Die meisten Flächen und Gebäude am Rollfeld sind kommerziell genutzt, und Harun Farocki hat mit einer bemerkenswerten Erklärung zum Thema Shoppingindustrie überrascht: „Es war schwerer etwas über die Malls herauszufinden als über die sogenannten ‚intelligenten Waffen‘, mit denen ich mich, nach dem Mall-Projekt, in den letzten Jahren beschäftigt habe.“57 „Es zeigte sich, dass die Shopping-Industrie so geheimnisvoll tut, nicht weil sie ein Geheimnis hat, sondern gerade, weil sie keines hat, oder höchstens: Das zu hütende Geheimnis ist, dass sie kaum etwas zu verbergen hat.“58 Auch hier fehlt wieder eine nähere Begründung, ein Nachweis der NichtHintergründigkeit. Dennoch ist die These Farockis wertvoll, weil sie zu einer befreienden Sichtweise einlädt: Was wäre, wenn man der Unordnung am Rollfeld weder kulturelle Komplexität noch technische Simplizität unterstellen würde, auch nicht aufgeregte Anarchie, sondern eine vollkommene Oberflächlichkeit. Was wäre, wenn nicht nur die Shoppingindustrie, sondern auch ihr urbanes Äquivalent, das Rollfeld, keinerlei systemischen Hintergrund besäße, keine geheimen Formeln, nicht einmal Selbstbeobachtung oder sonstige Tiefenintelligenz. Das entspräche der Strategie der Unterlassung, die das Rollfeld auch sonst praktiziert. Unterlassung bedeutet auch hier Redepause, allerdings nicht aus innerer Zurückhaltung, sondern aus mangelnder kommunikativer Ausstattung. Die Elemente am Rollfeld sind aussagelos und absichtslos; sie erfüllen architektonische Aufgaben, aber keine übergeordneten Prozesse; sie sind anwesend, trotzdem niemals theatralisch; sie sind unaufdringlich, aber nicht absichtlich zurückhaltend; sie koexistieren ohne Beziehungssinn und nehmen Mannigfaltigkeit unaufgeregt zur Kenntnis, weil sie keine Mengenlehre betreiben; sie stehen gelegentlich alleine, verfallen jedoch nicht in manischen Autismus; sie sind vorläufig und potentiell, aber nicht hysterisch ephemer. Wenn notwendig, kann jedes Element jederzeit versetzt werden, ohne seine wechselnden Lagen in ein rekapitulierendes Gedächtnis einzuschreiben. 57 Harun Farocki. „Die Schöpfer der Einkaufswelten“. In: Akademie der Künste. Hrsg. Topos Raum. Die Aktualität des Raumes in den Künsten der Gegenwart. Verlag für moderne Kunst Nürnberg. 2004. Seite 135 58 Harun Farocki. Ebd. Seite 136

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Systemtheoretikern wird dazu das Begriffspaar lose Kopplung versus feste Kopplung einfallen. Eigentlich der Soziologie entlehnt, unterscheiden die beiden Begriffe das Niveau der integrativen Bindekräfte innerhalb von sozialen Verbänden. Beide Begriffe gehen aber nach wie vor von der Existenz solcher Bindekräfte aus, die mindesten so stark und kontinuierlich sind, dass sie ein System bilden und erhalten können. Selbst Anarchie wird schlimmstenfalls zu organisierter Anarchie.59 Doch genau diese Kontinuität und Verlässlichkeit findet am Rollfeld nicht statt. Architektonische Elemente ohne Fügungsauftrag in eine städtebauliche Matrix zu entsenden, bedeutet, dass sich keine Kausalitätsketten mehr bilden und damit kein städtebauliches System mehr entsteht. Das Argument reißt ab, die Stadt reißt ab, fällt in einen Zustand der tendenziellen Systemlosigkeit. Ein solcher Systemverlust ist aber wieder kein wilder Ritt gegen die Regelstrukturen, auch kein demonstrativer Akt, sondern ein müdes Nachgeben. Man lässt es einfach. „Kunst wird haufenförmig, wie Wolken und Müll“,60 Peter Sloterdijk kokettiert mit einer ähnlichen Unterstellung, gerade Kulturarbeit, das klassische Komplexitätsunternehmen, setzt er in einem beiläufigen Satz mit der Zero-Wertigkeit eines Müllhaufens gleich. Das wird vielen nicht gefallen – aber damit ist endlich eine pointierte Metapher angeregt. Der Haufen ist die neue Logik des unreflektierten Fügens. Sicher die unmittelbarste Methode des Akkumulierens und darüber hinaus eine der leistungsfähigsten Massentypologien. Einfach, nicht deterministisch, nicht holistisch, pragmatisch, ideologiefrei und ständig veränderbar, ohne historisches Gedächtnis. Und garantiert oberflächlich. Los Angeles praktiziert am Rollfeld das unreflektierte Anhäufen in ungebremstem Maßstab und hat damit den radikalsten Stadtversuch gestartet, der im momentanen Architekturkontext denkbar ist: die erste groß angelegte Phase der De-Intellektualisierung des Städtebaus und der Beweis, dass Städtebau Zero-Komplexität praktiziert, um mit Anforderungen umzugehen, die viele für hochkomplex halten.

59 „Sie operieren mit losen Kopplungen, so dass Fehler und Schwierigkeiten nicht gleich auf ganze Prozessketten oder Systeme durchschlagen, aber erzeugen auf diese Weise selbst Unsicherheit, Undurchsichtigkeit, Minderung der Reaktionsfähigkeit und ‚organisierte Anarchie‘.“ Günther Ortmann. Als Ob. Fiktion und Organisation. VS Verlag für Sozialwissenschaften. 2004. Seite 97 60 Peter Sloterdijk. Tau von den Bermudas. Über einige Regime der Einbildungskraft. Suhrkamp Verlag. 2001. Seite 52

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Ist das ein planerisches Problem? Ja, weil Architektur als Planungsdisziplin plötzlich eine ungeahnte Unfähigkeit wird eingestehen müssen. Es ist für einen Architekten keine große Schwierigkeit, ebenfalls einen simplen Haufen hinzuwerfen. Die Schwierigkeit liegt eher darin, nicht wesentlich mehr daraus machen zu wollen. Die Unterlassung ist also die Schwierigkeit, der Abbruch jeglicher anschließenden Handlung oder Reflexion. Bleibt als Detailfrage: Wie leistet man so ein Mehr-nicht, wie plant man unterlassend? Was ist die konkrete Handlung? Irgendjemand wird die Elemente aufs Rollfeld stellen, die stellen sich nicht von selbst dort auf. Doch an der bloßen Art des Einbringens haftet bereits ein Narrativ, es gibt immer mindestens eine Entstehungs- oder Platzierungsgeschichte zu berichten, die ganze Architekturen aufwühlen kann. Bernard Tschumi hat das gezeigt. Ein Sturz von oben herab, eine Verfolgungsjagd von irgendwo her etc. und schon ist eine Ikone der Komplexität verfasst.61 Was ist also die unmittelbarste Methode, um eine planerische Unterlassung zu produzieren? Der Zufall, wird man sofort assoziieren. Wieder falsch, denn sogar im Zufall steckt ein Narrativ, ein ganzes Drama in Form einer Schicksalsgläubigkeit. Mit dem Zufall arbeitet man nur, wenn man sensationssüchtig ist, wenn man sich überraschen und überwältigen lassen will. Aber das Rollfeld spielt keine nervös-aufgeregten Schicksalsspielchen – und die Architektur- und Stadtplanung sollte es nicht tun. SAANA, die momentanen Großmeister der narrationsminimierten Architektur, erkennen auch das instinktiv und lehnen den Zufall als Arbeitsmethode ab.62 Wahrscheinlich muss man die Frage relational stellen: Die reflektierten Planungslogiken passen ja gerade wegen ihrer Reflektiertheit nicht zum Rollfeld. Doch was will die Reflektiertheit? Sie versucht, die Schlichtheit des Feststeckens im Selbst zu überwinden. Reflektiertheit konvergiert also automatisch zur Offenheit und Öffentlichkeit, sucht zwangsläufig den Auftritt vor der Disziplin und bemüht sich, die anderen für die eigenen Anliegen zu interessieren und zur Replik anzuregen. Die Unterlassung müsste man dann an der genauen Gegenmotivation erkennen. Am Unwillen und der Unfähigkeit die eigene Arbeit für die anderen interessant und anschlussfähig zu machen. Was wäre also im 61 Bernard Tschumi. The Manhattan Transcript. Academy Editions. 1994 62 „I have heard a rumour that with the Unite at Marseilles, the way of deciding which colour went where was to throw open the three colours und use random chance. We would never do that.“ Ryue Nishizawa. „Kazuyo Sejima, Ryue Nishizawa. Making the Boundary“. In: El Croquis 99. 2000. Seite 19

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zeitgenössischen Architekturdiskurs die langweiligste, für jede Besprechung unwürdigste Art der Einbringung von architektonischen Elementen in einen städtischen Verbund? Was wäre so banal, dass es schlichtweg nie diskutiert und publiziert werden würde? Jetzt ist die Antwort leicht. Es sind Elemente, die einfach hingelegt werden. Fertig.

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MÖBLIERTE WÜSTE

Moderne in Masse Was wäre Kassel ohne Joseph Beuys. 1982, bei der documenta 7, setzt er eine Kunstaktion in die Stadt, die ihren beabsichtigten Langzeitcharakter bis heute bewiesen hat.1 Seither ist jede documenta, selbst jeder Stadtspaziergang in Kassel, immer auch eine Beuys-Gedenkveranstaltung. 7000 Eichen – Stadt-Verwaldung statt Stadt-Verwaltung ist der Titel der Kunstaktion und er benennt gleichzeitig den Inhalt: die Aufforstung des Kasseler Stadtgebiets mit 7000 Monumenten – wie Beuys unbescheiden wissen lässt. Jedes Monument besteht aus zwei Teilen, einem Eichenbaum und einem Basaltstein, der dem Baum als dialektisches Sinngegenüber beigestellt ist.2 Die Basaltsteine werden anfangs vor dem Fridericianum als großer Haufen gelagert, und von dort aus zusammen mit den Eichen sukzessive in der Stadt verteilt. Durch das Schrumpfen des Haufens ist der Verlauf der Aktion also permanent ablesbar. 1987, zur documenta 8, sind alle 7000 Monumente im Stadtgebiet versetzt.3 Um den nachhaltigen Wert dieser Kunstaktion zu verstehen, muss man zuallererst deren Dimension auszeichnen: 5 Jahre Herstellungszeit, 1 „ich wollte eben diesen Langzeitcharakter, der war mir sehr wichtig, also etwas zu machen, was sich eigentlich erst richtig entfaltet in hundert, zweihundert, dreihundert Jahren, dass jetzt eigentlich nur ein Anfang gesetzt wird […].“ Joseph Beuys. In: Joseph Beuys, Bernhard Blume, Rainer Rappmann. Gespräche über Bäume. FIU Verlag. 2006. Seite 46 2 „jedes einzelne Monument besteht aus einem lebendigen Teil – eben dem sich ständig in der Zeit verändernden Wesen Baum – und einem Teil, der kristallin ist und also seine Form, Masse, Größe, Gewicht beibehält.“ Joseph Beuys. Ebd. Seite 16, 17 3 http://www.7000eichen.de. 22.04.2019

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7000 Bäume, 7000 Basaltsteine, beabsichtigte Dauerpräsenz für 200 bis 300 Jahre. Wie immer Beuys seine Aktion auch übertitelt und erklärt, neutral betrachtet ist das herausragende Kriterium die große Dimension. Erschwerend kommt hinzu, dass die Größe des Projekts nicht selbstbezüglich ist, sondern als Übergriff auf das Umfeld konzipiert ist. Deshalb sind die documenta und die Stadt Kassel, ihre Bewohner und Besucher bis heute von dieser Kunstaktion vereinnahmt. Beuys allerdings war diese Vereinnahmung sogar noch zu wenig. Frei von Zynismen oder romantischen Begleittönen, die Baumaktionen sonst so gern untermalen, kommentiert er seine Arbeit entsprechend anmaßend: „Es handelt sich um das Aufbauen quasi einer neuen Kulturhülle um den Erdball“.4 Gigantische Ambition wird hier verlautbart. Wer Kunst ernstnimmt, ist irritiert. Wer Beuys kennt, ist wohl weniger überrascht. Außerdem lehrt die Kunstgeschichte, dass Kunst und Größenwahn einander oft genug behilflich waren. Der prinzipielle Fall ist also nicht neu und bereits vielfach doziert. Die naive Kritik daran bleibt dennoch aufrecht: Ist das fair, was Beuys in Kassel anstellt? Die meisten anderen Künstler bemühen sich um ein einzigartiges Original, das zwar ebenfalls Präsenz vor Ort reklamiert, aber nicht gleich die gesamte Stadt neu formatieren will, und dann noch großredend den Erdball ins Visier nimmt. Beuys wirft 7000 Monumente in den Wettbewerb um Aufmerksamkeit und gewinnt diesen Wettbewerb natürlich gegen jedes noch so tolle Einzelkunstwerk. Gibt es für die Größe von menschlichen Erzeugnissen also eine Schamgrenze, die nicht überschritten werden darf, um Kontingenz, Vielfalt, Gegenprojekte nicht völlig zu verdrängen? Marktbeherrschend nennt man das in der Wirtschaft und setzt Sanktionen bis zur Zwangsaufteilung von Firmen. Wie zutiefst menschlich diese Aversion gegen zu klare Dominanz ist, haben Entwicklungspsychologen herausgefunden. Sie berichten, dass schon kleine Kinder beim spielerischen Wettbewerb mit unterlegenen Kindern Selbstbeschränkung üben, zum Beispiel einen Vorsprung gewähren, sobald sie entdecken, dass die eigene Dominanz den spielerischen Wettbewerb langweilig werden lässt. In Kunst, Architektur, Städtebau gibt es eine derartige Größenzensur nicht explizit. Dabei ist der Schaden doppelseitig. Die Verdrängung der anderen ist bereits erwähnt, hinzukommt noch eine massive Selbstbeschädigung in 4 Joseph Beuys. In: Joseph Beuys, Bernhard Blume, Rainer Rappmann. Gespräche über Bäume. FIU-Verlag. 2006. Seite 20

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Form einer inhaltlichen Entwertung. Die Beuys-Aktion ist dafür das beste Beispiel. Ist ein Beuys-Baum künstlerisch wertvoller als jeder andere Baum im Kasseler Stadtgebiet? Oder ist ein Beuys-Basaltstein künstlerisch wertvoller als jeder andere Zierstein, der in irgendeinem Kasseler Park herumsteht? Man wird es nie erfahren. Fakt ist, dass Beuys selbst entschieden hat, dass ein Eichenbaum und ein Basaltstein, einmalig irgendwo aufgestellt, nicht genügen. Beuys selbst hat entschieden, dass es der Multiplikation mit 7000 bedarf, um der Rede wert zu sein. Damit hat er wohl recht behalten. Erst durch die große Dimension entsteht jene performative Geschäftigkeit, die im Kontext der Kunst Wichtigkeit verspricht. Die Anlieferung des großen Steinhaufens vor dem Fridericianum, die theatralische Lagerung der Steine vor den Augen der Stadtbevölkerung, die aufwendige Verteilung im Stadtgebiet, die vielen Lkw, Beuys-Helfer, die vielen Telefonate mit Sponsoren, Journalisten, und immer ist mit der Zahl 7000 das Unternehmerische das Thema. Die naive Kritik an der bloßen Dimension der Kunstaktion deckt also die eigentliche Problematik auf: Der große Auftritt ist das Kunstwerk, der Rest nur Beiwerk. Diese Übernahme der Kunst durch das Unternehmerische ist allerdings kein Einzelfall, sondern mittlerweile eine eigene Kunstkategorie. Jim Denevan, Anish Kapoor, Olafur Eliasson etc. – es gibt im zeitgenössischen Kunstbetrieb eine ganze Fraktion von Arbeitern am großen Auftritt. Die tendenzielle Überblendung des Inhalts durch die schiere Dimension des Projekts ist bei allen zu beobachten. Der Leuchtkraft des Überdimensionalen ist kein Inhalt gewachsen. Wer jetzt enttäuscht ist, muss sich die Gegenfrage gefallen lassen: Welcher Künstler, welcher Inhalt, welcher Projektablauf hätte denn gegen die Übernahme durch das Unternehmerische bestehen können? Beuys hat das Große zum Kunstwerk gemacht, und ist dabei zwangsläufig von der immanenten Logik des Großen erfasst worden. Wenn es gilt, eine 7000er-Serie zu realisieren, dann ist keine Zeit, kein Geld, keine Aufmerksamkeit für komplexe Inhalte. Dann verwendet man unweigerlich simple Inhalte, eine simple Strategie und plakative Kommentare. Es bleibt also gar kein anderer Ausweg, als den Projektinhalt der Totalität des Unternehmerischen zu opfern. Anders ist ein Großunternehmen nicht zu bewältigen. Eine Umkehrung, die Beuys bewusst war. Er betont sogar den Unternehmenscharakter seiner Kunstaktion in Kassel und erklärt damit eigentlich ihr Scheitern als Kunst: „Aus diesem Grund wollen wir ja nicht sagen: Es handelt sich um 7000 Eichen, sondern es handelt sich um den 263

Unternehmenscharakter vernünftigen Handelns, […] Denn wenn ich jetzt in die Sahel-Zone gehe und da ein Loch mache, wo ich was reinsetze – das wissen sie ja auch! – wenn das nicht organisiert ist, ist am anderen Tag der Baum verdorrt. Es muss also – sagen wir mal – ein Netzwerk von Vernunft erst gesponnen werden, um an diesen und jenen Stellen, wo es möglich ist, solche Lebensprozesse sinnvoll zu machen.“5 In dieser Kurzbeschreibung von Beuys werden erstaunliche begriffliche Aneinanderkettungen artikuliert, die den Charakter des Unternehmerischen tiefer entlarven. Zuallererst wird eine radikale Verdinglichung deutlich. Beuys spricht zwar von Lebensprozessen, aber der Lebensprozess wird in ein Ding verpackt.6 Der Baum ist das Leben – fertig. Diese radikale Verdinglichung hat den Vorteil, dass man das komplexe Gebilde Leben jetzt plötzlich viel leichter handhaben kann. Man kann das Dingleben einkaufen, zwischenlagern, ausliefern, hinstellen, wohin man will und wie oft man will. Die Verdinglichung ist also kein Selbstzweck, sondern dient der Verfügbarmachung. Die totale Verfügbarkeit ist aber ebenfalls kein Selbstzweck, sondern wird wiederum investiert. Beuys kann damit die Abhängigkeit des Dinglebens von einem Netzwerk der Vernunft behaupten. Nicht das Leben kommt zuerst in seiner oft unterstellten urwüchsigen, durchdringenden Kraft, sondern die Vernunft macht den Anfang und das Dingleben muss folgen. Schärfer und anmaßender hätte es ein technokratischer Totalplaner nicht formulieren können. Angesichts dieser Zwischenbewertung ist es geradezu absurd, wenn Beuys’ Kassel-Projekt noch immer als Referenzprojekt für progressives städtebauliches Agieren gesehen wird. Auch so mancher späte Situationist glaubt, sich hier wiederzufinden. Doch das ist eine völlige Fehleinschätzung. Beuys’ Aktion ist freiwillig oder unfreiwillig ein Manifest der Moderne, allerdings einseitig im Auftrag der Massenmoderne. An Beuys’ Kassel-Aktion kann man im Schnellverfahren lernen, wie ein Massenmoderner denkt und handelt: Vernunft voraus, die Welt als Bauplatz und das Leben als Topfpflanze strategisch verteilt. An diesem Punkt bekommt 5 Joseph Beuys. Ebd. Seite 36 6 ,,[...] ,psychologische Nominalisierung‘ genannt hat, die Transformation von ‚John beobachtete x‘ zu ‚Johns Beobachtung war x‘, von ‚Du bist nicht stolz genug‘ zu ‚Dein Stolz ist zu gering‘ […] und Kate legt keine reizende Heiterkeit an den Tag, sondern den ‚Reiz der Heiterkeit‘ – in diesen und vielen weiteren Fällen wird eine Eigenschaft jeweils selbst zu einem Ding.“ Slavoj Žižek. Parallaxe. Suhrkamp Verlag. 2006. Seite 250

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auch Beuys’ Wüstenmetapher eine brutalere Bedeutung. Stimmt es wirklich, dass erst ein Netzwerk der Vernunft in der Sahelzone Lebensprozesse sinnvoll macht? Oder ist das nichts anderes als das typische argumentative Flächenbombardement der Massenmoderne? Wenn sich die Vernunft von der Massenmoderne als Wegbereiter engagieren lässt, dann ist sie doch vorsätzlich blind für alles, was an Lebensprozessen bereits vor Ort vorhanden ist. Beuys’ Wüstenmetapher ist also gleichnishaft für das generelle Weltbild der Massenmoderne: Alles wird zur Wüste abgewertet, um den eigenen, massiven Auftritt zu rechtfertigen. In Los Angeles hätte sich Beuys die Wüstenmetapher sparen können, denn die Stadt wurde tatsächlich in die Halbwüste gesetzt und ist über weite Strecken Halbwüste geblieben. Weite, überhitzte Straßen, dürre, viel zu hohe Palmen, wie Masten entlang weniger Straßen und verstreut in der Ferne. Noch tiefer im Hintergrund beige-blaue Berge und je weiter man fährt, desto drückender wird der Wüstencharakter. Verlässt man die Küste, steigen sofort die Temperaturen, überquert man die erste Hügelkette ins Valley, ist kein Temperaturempfinden mehr, sondern nur noch Hitze. Und je länger man fährt, desto deutlicher zeigt auch die Stadt Stresssymptome und Fehlstellen. Die eingeschossigen Häuser werden immer geduckter, stehen oft nur noch vereinzelt, immer filigraner, ausgesetzter. Irgendwann beginnen die Industriebrachen, steppenartige Restflächen, gelegentlich ein Flugfeld, verwahrloste Zäune und Sicherungsanlagen, nur leichte Ebenenwechsel, man kreuzt eine halb leere Straße nach der anderen, sieht im Vorbeifahren seitlich tief hinaus, der gleiche beige Horizont, die gleichen beige-blauen Hügelketten in der Ferne. Und ganz plötzlich, nur ein paar Straßen weiter, ist alles völlig anders. Plötzlich fährt man durch sattes, kantiges Grün. Plötzlich ist üppige Farbe und exakte Geometrie, sind Rasenflächen wie grüne Rasterfolien, Pflanzbeete wie große Blumengestecke, Betonflächen so frisch abgezogen und sauber wie sonst nur in Innenräumen. Hardscape und Softscape in höchster Dressur. Die Häuser hinter den Schaugärten sind ebenfalls gezielt auf Schauseite getrimmt, saubere Flächen, präzise Fugen, weiche Farben, kein Verfall, kein Verschleiß. Erstbesucher wundern sich, sind überrascht und fasziniert zugleich, aber alle anderen wissen bereits: Man ist mitten in den Suburbs der Upper Middle Class angekommen. Ein Oasenraum und Kontrasterlebnis, wie es selbst in Los Angeles nicht 265

viele geben wird. Hier passiert nichts außer Perfektion. Alles ist gewollt, geplant, muss aufwendig hergestellt und ebenso aufwendig erhalten werden. Und damit ist die gesteigerte Wirkung durch das synchrone Auftreten noch gar nicht angesprochen. Selbst wer gestalterische Perfektion im Einzelfall gelassen hinnehmen kann, wird spätestens durch den kollektiven Ehrgeiz angestiftet, nach der tieferen Logik dieser architektonischen Parallelwelt zu fragen. Was ist hier passiert? Zuviel Geld – ist immer die erste Erklärung.7 Tägliche Aufmärsche mexikanischer Gärtner – kritisieren die Soziologen; absurde Wasserverschwendung mitten in der Wüste – fügen die Klimatologen hinzu; schockierender Kitsch – bemängeln die Kulturwissenschaftler; und wo ist die ethnische Diversity? – fragen die Politologen. Alles richtig, doch die üblichen Erklärungen reichen nicht an den Kern des Phänomens. Beuys hat dem documenta-Publikum das Weltverständnis der Massenmoderne vorgeführt, und in der Suburb erlebt man die Freisetzung dieses Weltverständnisses in noch viel größerer Dimension. Zuerst wird die Stadt zur Wüste erklärt, um widerstandsfrei eine Gegenwelt installieren zu können. Diese Gegenwelt wird aber nicht als lebender Organismus verstanden, sondern wieder als gigantisches Verteilungsunternehmen von Dingen. Substanziell ist die Architektur dabei immer noch körperschwach, weil flüchtig hinmontiert und potemkinsch anmutend, aber die gesamte Szenerie ist dennoch reinster Dingfetischismus, weil jedes noch so komplexe Phänomen in ein angreifbares, manipulierbares Gadget übersetzt wird, das dann massenhaft ausgeliefert und aufgestellt wird. Natur ist Rollrasen rund ums Haus, Bewegungsfreude ist Basketballkorb über der Garageneinfahrt, Familie ist Familienauto, Freizeit ist Swimmingpool etc. Für die Zusammenstellung der gesamten Anlage gilt die gleiche Verdinglichung. Serpentinenstraße, Bauplatz, Golfplatz, adretter Vorgarten und biedermeierliches Haus dahinter – fertig ist die Community. 7 „Das ist so, seit der Garten erfunden wurde, als die Menschen vor Tausenden von Jahren in Mesopotamien sesshaft wurden, Feldbau betrieben und ihre Äcker zum Schutz vor wilden Tieren einzäunten. Da ging es nicht um Naturnähe, sondern zu hundert Prozent um Nützlichkeit. Kriterien wie Schönheit kamen hinzu, als der Mensch sich in der Renaissance von den Kräften der Natur emanzipierte – und sie deshalb überhaupt erst zu genießen lernte. Das heißt: Gärten gehen selten direkt aus der Natur hervor. Die Gartenkunst hat vielmehr immer dann große Sprünge gemacht, wenn Gesellschaften einen Überschuss an Zeit, Geld oder Energie hatten. Wenn heute zwanzig Millionen Haushalte in Deutschland einen Garten haben und die meisten dieser Gärten reine Ziergärten sind, bedeutet das also nicht back to the roots, sondern: Wir leben in einer Überflussgesellschaft, die sich das Luxusprodukt Garten leisten kann.“ Udo Weilacher. In: Henning Sußebach, Udo Weilacher. „Das Stiefmütterchen wird diffamiert“. https://www.zeit.de/2013/14/gartenkultur-landlust-udo-weilacher. 27.03.2013

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Die Suburb ist ein aufwendig choreografierter Lagerplatz für architektonische Elemente, ohne dass diese Elemente lebendig werden und sich zu einem Stadtgefüge verwirren. Sie behalten alle ihre Dinghermetik. Der atmosphärische Charakter eines Lagerplatzes für Dinge ist also nicht ein holpriger Anfangszustand, der sich irgendwann verwächst, sondern er ist der Endzustand. Die Suburb ist als urbaner Zustand hoffnungslos leblos. Überraschenderweise ist diese Leblosigkeit lokal ganz gut verträglich, denn die ausgestellten Grundelemente sind alle bieder, harmlos, nett. Man wundert sich fast, dass ausgerechnet der adrette Vorgarten und das biedermeierliche Haus dahinter das bedrohliche Bild der Massenmoderne abgeben sollen. Doch man darf sich bei Massenphänomenen nicht vom Inhalt des einzelnen Dings blenden lassen, der ist immer simpel, bieder, willfährig, genau wie Beuys’ idyllischem Baum-BasaltsteinPärchen in Kassel. Die überwältigende Kraft liegt wieder in der endlos multiplizierten Masse der banalen Elemente – und man merkt den Elementen in der Suburb nur zu deutlich an, dass sie aus der Massenproduktion kommen. Das bedeutet, erst als städtebaulicher Gesamtzustand zeigt die Suburb, dass sie ganz und gar nicht simpel, harmlos, nett ist. Die Suburb hat als urbane Typologie und als urbane Realität alle anderen Stadtmodelle quantitativ überboten und verdrängt. Sie ist marktbeherrschend, vereinnahmend und noch weiter wachstumsgierig wie kein anderer städtebaulicher Zustand der Jetztzeit. Wer einmal darin verfangen ist, braucht sich keine Hoffnung auf ein Entkommen zu machen. Suburb ist solides Schicksal. Beuys fabuliert noch utopiepoetisch von einer weltumspannenden Kulturhülle. Die Suburb hat das bereits still und beharrlich realisiert. Für den Gesamtdiskurs über das Wesen moderner Architektur ist diese Monstrosität der Suburb ein entscheidendes Anschauungsbild. Damit wird nämlich der zweite große Akt der Architekturgenese illustriert. Architektur startet als persönlicher Affekt, als wilder Sprung. Das hat Richard Neutra für die Moderne vorgemacht und viele danach haben ihn bestätigt. Doch wie in Kassel folgt als zweiter Akt die Verwandlung ins Monströs-Unternehmerische. Die Moderne hat ihr gesamtes Architekturrepertoire der Massenproduktion überantwortet und sich damit auf Quantitatives von bis dahin ungeahntem Ausmaß eingelassen. Mit diesem Schritt ist aus der Moderne die Massenmoderne geworden 267

und gleichzeitig wurde eine Drift installiert, der kaum jemand entkommen konnte. „The interstates were the venous system that infused a vast network of cultural homogeneity, the consumer version of the univalent apparatus of war. At every interchange rose an identical McDonald’s, Roy Rogers, Holiday Inn, Mobil station, Seven-Eleven. Down the exit ramp were the FHA-stimulated suburbs, the shopping centers, and the boomer schools.“8 Es gilt also nicht nur für die Moderne im Gesamten, sondern auch für jeden vermeintlich kreativen Akteur festzuhalten: Architektur mag beginnen womit sie will, als künstlerische, situative, affektive oder sonstige Aufwallung, aber jeder engagierte Anfänger, jeder widerständige Avantgardist füttert irgendwann die andere Seite. Keine Frage, Einzelstücke mögen den affektiven Auftaktcharakter ausnahmsweise halten können, werden aber nur deswegen so gern besprochen, weil sie die gegebene Drift nicht gänzlich ausweglos erscheinen lassen. Dennoch bestätigen die Archive der Architekturgeschichte die ungleichen Verhältnisse. Diese Widerstandsarchitekturen sind die Ausnahmen, das Seltene, das unbedingt Erwähnenswerte, das man sich oft genug als generelle Strömung wünscht. Doch das passiert nicht. Nie ist aus dem Situativen, Individuellen, Aufmerksamen in der Architektur eine solide Bewegung geworden – oder wie Pipilotti Rist lapidar feststellt: „Das Dilemma der meisten Utopisten: Pragmatiker sind einfach besser organisiert.“9 Witzig formuliert – wie so oft bei Rist. Doch wie recht sie mit dieser Einschätzung hat, beweist die gigantische Umwertung, die damit passiert ist. Wenn einmal ganze Landstriche in Massenmoderne getaucht sind, verlieren sämtliche anderen Architekturen, egal wie einzigartig, historisch wertvoll und engagiert sie konzipiert sind, ihren definitorischen Boden. Was ist jede europäische Innenstadt im Vergleich zum modernen Peripheriegürtel, der sie mittlerweile umgibt? Was ist ganz Paris in Relation zum mittlerweile transkontinentalen Suburb-Teppich von Los Angeles bis China, was sind sämtliche Bauten Le Corbusiers, die Bauten sämtlicher Pritzker-Preisträger im Vergleich zum täglichen Zuwachs an fabrikfrischer Serienarchitektur? Hier zeigt sich eine spezifische Facette des Scheiterns der Moderne, die bislang nicht artikuliert worden ist, nämlich die totale Marginalisierung des gesamten historischen und qualitativen Architekturbestands durch die reine Präsenz der 8 Michael Sorkin. „War is Swell”. In: Donald Albrecht. Hrsg. World War II and the American Dream. How Wartime Building Changed a Nation. National Building Museum. MIT Press. 1995. Seite 240 9 Pipilotti Rist. Himalaya. Kunsthalle Zürich. 1999. Letzte Seite

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Massenmoderne in der Welt. Seit der Massenmoderne hat Architektur keine Geschichte mehr, sondern nur noch nostalgische Inseln des Einzigartigen im Meer des repetitiven Daueroutputs. Seit der Massenmoderne kennt Architektur Qualität nur noch als seltene Anomalie. Hinzukommt, dass die Massenmoderne die erste Architektur ist, die nicht mehr revidierbar ist. Während man bei allen anderen historischen Epochen mit Denkmal- und Ensembleschutz gegen das potentielle Verschwinden anarbeitet, provoziert die Massenmoderne die gegenteilige Angst. Vielfach wünscht man sich ein Verschwinden, oft von ganzen Stadtquartieren, doch das ist nicht wahrscheinlich. Wenn man heute vom ewigen Rom spricht, dann sollte man nicht die historische Mitte im Auge haben, sondern die Stadtquartiere im Umkreis, exakt diese moderne Ringstadt ist das untilgbar Ewige. Dass späte Städte wie Los Angeles sich nun ebenfalls mit ihrer substanziellen Ewigkeit abfinden müssen, ist dabei nur eine kurzfristige Ablenkung. Das Stimmungsbild gegen die Massenmoderne ist damit deutlich skizziert. Doch das war erst die halbe Wahrheit. Wer jetzt Mitleid hat mit dem Situativen, Individuellen der Moderne, mit den hochqualitativen Einzelprojekten und ihren selbstlosen Autoren, der muss nur auf die Nutzerperspektive wechseln, um zu ernüchtern. Schön, dass sich Dr. Philip M. Lovell das Beach House von Rudolph Schindler und dann noch das Health House von Richard Neutra bauen lässt, zwei der größten Ikonen der frühen Moderne. Schön, dass sich Edgar J. Kaufmann Fallingwater von Frank Lloyd Wright und das Kaufmann House von Neutra bauen lässt. Aber was hat der Rest der Bevölkerung davon? Der ist letztlich in der Lakewood-Suburb gelandet, wo man nicht mehr viel spürt vom modernen Pioniergeist oder von moderner Exzellenzarchitektur. Das bedeutet, selbst wenn sich das Situative, Individuelle, Einzigartige zu einer soliden Bewegung konsolidieren würde, so wäre diese Bewegung nicht modern, weder die Architektur noch die Architekten betreffend. Architekten der Moderne verwenden zwar gern industriell vorgefertigte Bauteilkomponenten für ihre Einzelaufträge, vergessen aber wohlweislich, dass konsequente industrielle Logik das sichere Ende des Einzelauftrags und des individuell entwerfenden Architekten wäre. Gleiches gilt für die Architektur. Alle bestaunen gern die tollen Pionierprojekte der Moderne, aber als Einzelstücke sind sie streng genommen nicht modern. Ein einzelnes Haus in der Kings Road ist nicht mehr als ein Versprechen, dass ab jetzt alle so wohnen könnten. Zur Moderne wird es aber erst, 269

wenn es tausendfach ausgeliefert worden ist, wie die Eichler Homes. In der Weißenhofsiedlung in Stuttgart bekommt man es noch deutlicher vorgeführt. Modern zu Ende gebracht ist dort eigentlich nur Mies van der Rohes Geschosswohnbau in seiner wuchtigen Direktheit, die nichts von dem architektonischen Elend verschweigt, das in der weiteren Massenproduktion von Moderne als neue städtische Wirklichkeit zu erwarten ist. Die restlichen Bauten der Weißenhofsiedlung sind wieder nur Versprechen, die meisten davon uneingelöste. Eigentlich müsste man sie mangels Massenverwendung aus der Geschichte der Moderne stornieren. Es ist architekturgeschichtlich also völlig unzulässig, die Massenmoderne als die Bad Bank der Moderne mit den ganzen gescheiterten Projekten zu belasten und den Avantgarderest freizusprechen. Diese Abrechnung ist definitorisch falsch. Moderne muss Produkt für alle sein, keine architektonische Aristokratie. Die Massenmoderne ist also nicht ein zufälliges Unglück, das die Moderne ereilt hat, sondern die Massenmoderne ist die Grundbedingung für vollendete Moderne. Daraus folgt: Moderner Städtebau und moderne Architektur haben sich unbedingt mit dem Quantitativen zu befassen. Und sie haben sich auch mit der destruktiven Wirkung zu befassen, die unweigerlich aus dem Quantitativen resultiert. Egal wie engagiert die Moderne agiert, sie wird dort, wo sie im Auftrag von allen zu Werk geht, immer zuallererst Wüste erschaffen, indem sie eine gigantische Auslöschung produzieren, und erst im nächsten Schritt wieder etwas entstehen lassen. Adolfo Natalini von Superstudio hat also vollkommen recht, wenn er das Planungsverständnis der Moderne als Möblierungsauftrag von Wüsten kurzfasst: „The problem is not to furnish rooms […] The problem is to furnish deserts“.10 Dieser gigantische Möblierungsauftrag der Moderne wird sogar noch schwieriger, denn er mündet in einem unauflöslichen Dilemma: Wie soll sich die Masse der Menschen in einer von der Massenmoderne verwüsteten Welt szenisch und gedanklich einrichten, wenn ihr wieder nur die Massenproduktion als Werkzeug dafür angeboten wird?

10 Adolfo Natalini. „A House of Calm Serenity”. In: Peter Lang, William Menking. Superstudio. Life Without Objects. Skira Editore. 2003. Seite 75; „It is clear that once we have eliminated false problems, connected with the objects we surround ourselves with, objects become a way of knowing ourselves through our choices… Furnishing thus becomes a knowledge-technique, a body of messages about the state of things, and like all techniques of knowledge, its end is to secure serene consciousness deriving from clarity.“ Adolfo Natalini. Ebd. Seite 74

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Der Suburb fällt bei der Bearbeitung dieses Dilemmas eine Sonderrolle zu. Die Großbaustellen der Massenmoderne sind alle noch am Laufen, aber an den meisten hat sich bereits Resignation breitgemacht. Der Geschosswohnbau wehrt sich kaum noch gegen die übliche repetitive Trostlosigkeit; viele Bürobauten werden gar nicht mehr argumentiert, sondern nur noch mit funktionalen Zwängen entschuldigt; das Hochhaus hat bis auf wenige Ausnahmen seit 60 Jahren die gleiche banale Raummorphologie etc. Einzig die Suburb hält hartnäckig am Versuch fest, schönes Leben und Masse zu versöhnen. Dass die Massenproduktion den Inhalt immer überdeckt, gilt natürlich auch für die Suburb. Schönes Leben in endloser Serie kann kein schönes Leben sein. Doch die Suburb hört nicht auf, es dennoch zu versuchen. Diese Trotzigkeit ist dabei allerdings nur die kleine Sensation. Die große Sensation ist der simple Umstand, dass Millionen von Menschen inmitten dieses unmöglichen Versuchs ihr ganzes Leben verbringen. Gestrandet in einem haltlosen Versprechen der Moderne, aber als Menschen umso angestrengter um Haltung bemüht. Davon handelt die vierte Ambition.

Niemand wird vermisst Sie kennen die beiden nicht, aber sie würden Rob und Léon Krier mögen. Die Suburb in Los Angeles ist ein Freilichtmuseum altertümlich anmutender Häuser. Man hat nicht den Eindruck einer sehr progressiven Ästhetik. Das ist schon angesichts der Erörterungen zur Montagearchitektur aufgefallen. Eine nervöse Zeitgenossenschaft stabilisiert ihre unsteten Lebensverhältnisse, indem sie Kulissenarchitektur errichtet, die aussieht, als würde sie schon Jahrhunderte unverändert vor Ort stehen. Doch die Retroarchitekturen in der Suburb sind keine kulturpessimistische Rückwärtswendung, keine Krier’sche Retroakademie, sie sind logistisch das genaue Gegenteil. Denn die Retrohäuschen werden in so furchterregendem Ausmaß multipliziert, dass allein dadurch das historistische Gestaltungsmotiv vollständig getilgt wird. Der optische Widerstand des einzelnen Häuschens ist völlig chancenlos. Die Idee des wertstabilen architektonischen Originals ist mit der systemischen Radikalität der modernen Multiplikationsmaschine nicht vereinbar. Kein Wunder also, dass die beiden Krier-Brüder die reine Multiplikation 271

von Architektur immer aktiv opponiert haben. Man wird einwenden, dass die Massenproduktion von Architektur nicht von der Moderne erfunden worden ist, aber die reine Multiplikation ist dennoch mehr als nur eine weitere quantitative Steigerung. Die Multiplikation ist eine völlig neue Kategorie, weil absolute Präzision hinzukommt. Es macht einen wesentlichen Unterschied, ob in einer Wohnsiedlung massenhaft Ideen, Formen, Architekturen auftauchen, oder ob alle Bewohner die exakt gleichen neuesten Farben, Tapeten, Möbel, Elektrogeräte, Pools, Schuhe, Frisuren etc. vorführen. Als Einzelereignis schön anzusehen, aber als synchron auftretende Klonarmee eine außerweltliche Erscheinung. Wobei die Bezeichnung außerweltlich wörtlich gemeint ist. Die Phänomenologen hatten Geometrie noch als idealen Gegenstand definiert, der in seiner idealen Präzision in der Welt nicht existieren kann. Vollkommen ideal kann er nur gedacht werden. Aber inmitten der massenproduzierten Architektur der Suburb tritt das geometrischmathematische Ideal plötzlich doch in die Welt und löst berechtigtes Erstaunen aus. Für eine menschliche Wahrnehmung, die evolutionär an variablen Lebensprozessen geschult worden ist, kann serielle Präzision also gar nichts Innerweltliches sein. Damit versteht man letztlich auch, warum es zwischen den Krier-Brüdern und den Architekten der Massenmoderne keinen Kompromiss geben kann. Für die Massenmoderne ist die Historie lebloses Terrain, und daher jeder Rückgriff darauf nicht zukunftsfähig. Für die Krier-Brüder hingegen ist die Massenmoderne gerade wegen der außerweltlichen Multiplikation das leblose Terrain, und die Historie folglich die einzige Rettungsdestination. „Wie Kollegen heute diesen repetitiven Dreck, diese Banalität in die Städte tragen können – das ist ungeheuerlich und geschmacklos, das ist öffentliche Kriminalität, Baukriminalität!“11 In diesem Zusammenhang wird die Tendenz der Massenmoderne zur unbedingten Verdinglichung von allem wieder augenfällig. Denn nur ein Ding kann präzise geklont werden. In allem, was lebt oder sich über gelebte Abläufe entwickelt, ist immer noch ein Rest an Varianz eingelegt. Für Architektur gilt das Gleiche. Entwerfen als menschliche Tätigkeit kann man nicht exakt wiederholen, einen fertigen Entwurf aber endlos kopieren oder plagiieren. Der massenmoderne Architekt muss also 11 Rob Krier. In: Dankwart Guratzsch, Rob Krier. „Dieser repetitive Dreck in den Städten – das ist Baukriminalität!“. https://www.welt.de/kultur/plus177218676/Star-Architekt-Rob-Krier-Dieserrepetitive-Dreck-in-den-Staedten-das-ist-Baukriminalitaet.html. 09.06.2018

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kategorisch umdenken. Nur wer Architektur als geistig explorative Tätigkeit verweigert, kann Einfamilienhäuser in Zigtausender-Serie in der Wüste abstellen. Nur wer von Architektur nichts mehr erwartet, der erträgt derart extensive Uniformität. Nur der Erschöpfte wählt die Uniform – könnte man kurzfassen –, aber wer noch am Leben ist, will nicht unsichtbare Masse sein. Der Richtungsstreit zwischen Massenmoderne und Retrorettung ist also festgefahren. Übrig bleibt inmitten der massenmodernen Klonsiedlungen der alltägliche Nutzer, der sich in einem stadtgeschichtlich einmaligen Ambiente wiederfindet, weiten Bereichen totaler Selbstähnlichkeit. Nie zuvor waren so weite Landstriche von der gleichen geklonten Architekturmimik gezeichnet. Die Nutzerperspektive ist hier aber noch aus einem anderen Grund höchst relevant. Man muss nämlich kein Architektur- oder Moderneexperte sein, um einen brüllenden Widerspruch tagtäglich vor sich zu sehen: Wie kann ein System, das Fortschritt und Verbesserung als zentrales Handlungsmotiv fordert, gleichzeitig das immer gleiche Element endlos wiederholen? Religion, Tradition, Leichtgläubigkeit abgeschafft, aber jetzt Sklave einer repetitiven Beharrlichkeit? Damit ist die Moderne in ihrer Essenz genauso verfehlt. Den Experten mag vielleicht aufgefallen sein, dass Moderne und Masse unweigerlich konvergieren, nicht zuletzt zugunsten der breiten Masse der Nutzer. Aber in den meisten Fällen gibt es gar kein geniales Pionierprojekt mehr, das dann massenhaft nachgeahmt wird, sondern das Pionierprojekt betritt die Öffentlichkeit bereits als mediokre Klonserie, die ohne Alternative allen aufgedrängt wird. Die Massenmoderne dient zwar dem Nutzer, verlangt aber zugleich, sich prophylaktisch ruhigstellen zu lassen. Wehe einer fordert eine Ausnahme – lautet der erste Benimmbefehl an den modernen Konsumenten. „Man muss die Geisteshaltung der Serie schaffen: die Geisteshaltung, Häuser in Serie zu bauen, die Geisteshaltung, in Serienhäusern zu wohnen, die Geisteshaltung, Serienhäuser zu begreifen und zu entwerfen.“12 Natürlich kann prinzipiell jede brillante neue Idee die gesamte laufende Serie beschämen und schlagartig als rückständig abqualifizieren, aber wie oft werden derartige Massenserien denn neu aufgesetzt? Bei jeder potentiellen Verbesserungsmöglichkeit? Bei jeder potentiellen 12 Le Corbusier. Der Modulor. Deutsche Verlags-Anstalt. 1985. Seite 34

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Nutzeranregung? Mitnichten. Sobald eine Massenproduktion eingerichtet ist und läuft, entsteht eine enorme systemische Trägheit, die erst bei massivem Versagen den Weg für Erneuerung freigibt. Ernst H. Gombrichs kulturgeschichtlicher Vergleich zum Beharren erscheint wieder in der Argumentationslinie. Im alten Ägypten hatten Kunst und Architektur den Auftrag zu beharren, in der Jetztzeit lautet der Auftrag Innovation. Doch diese simple Gegenüberstellung von Gombrich unterschätzt die Wirkung der Multiplikation durch moderne Massenproduktion. Die kulturell gewollte Beharrlichkeit des Altertums findet ihr absolutes Äquivalent in der multiplikativ ausgelösten Beharrlichkeit der Massenmoderne. Mit der Massenmoderne hat sich also ein neues ägyptisches Zeitalter festgesetzt und Gombrichs Sorge um die Innovation kann man genauso gut anklagend an die Moderne und ihre gesellschaftlichen Eliten richten. Die Moderne bildet mit ihrem Drang nach Innovation zwar vielfältigste Kompetenzhierarchien aus, aber sobald die Moderne zur Massenmoderne wird, sind sämtliche Kompetenzhierarchien zwangsläufig falsch besetzt. An der Spitze steht dann nämlich nicht mehr das aktuell bestmögliche Produkt, sondern genau jenes Produkt, das sich irgendwann in der Vergangenheit als das beste Ausgangsprodukt für eine Massenfertigung angeboten hat. Seither ist es aber zwangs läufig veraltet. Personell gilt das Gleiche. An der Spitze einer Kompetenz hierarchie steht nicht mehr der aktuell genialste Geist, sondern jener Geist, der irgendwann in der Vergangenheit der beste Implementierer einer Massenfertigung war. Die einzig nennenswerte Leistung seither besteht darin, die Massenfertigung des längst veralteten Produkts gegen Verbesserungsansprüche zu verteidigen und dadurch modernen Fortschritt zu verhindern. Das gilt im Übrigen auch für geisteswissenschaftliche Produkte. Dort, wo die Geisteswissenschaften über institutionalisierte Hierarchien die Masse versorgen, wird ebenfalls mehr Aufwand in die Verteidigung des veralteten Wissensstands investiert als in die Erneuerung desselben. Massenproduktion ist in ihrer praktischen Konsequenz also immer ein Aufstand gegen Veränderung und Fortschritt, letztlich sogar ein Aufstand gegen die Zukunft. Die Serie ist ein Gefängnis aus repetitiver Gegenwart. In der Suburb kann man das ausführlich besichtigen. Mit erschreckend wenigen gedanklichen und industriellen Grundelementen werden durch reine Multiplikation ganze Landstriche vollständig besetzt, ohne dass Kontingenz, Idee, Inspiration auch nur ansatzweise eine Chance hätten. 274

Taiichi Ohno erkennt diese fatale Problematik der Massenproduktion und versucht sie zu reparieren. Sein Buch über das Toyota Production System (TPS) ist daher kein Gegenentwurf zu Henry Ford, sondern eine fast entschuldigende Reparatur. Als hätte er beim Meister der Massenproduktion einen peinlichen Fehler entdeckt, den er nun quasi für ihn nachträglich repariert, um die generelle Idee der Massenproduktion zu retten und in die Jetztzeit fortzuschreiben. Selbstverständlich will auch Toyota große Masse produzieren, aber das Serielle der Massenproduktion darf nicht sichtbar sein. Das Serielle muss zum unsichtbaren Werkzeug werden, und das geschieht mit einem Trick. Der Fokus liegt beim TPS auf dem Individuellen. Jedem Kunden wird ein maßgefertigtes Auto angeboten und nicht ein repetitiver Klon wie bei Ford. Diese maßgefertigte Individualität besteht allerdings nur aus geschickt kombinierten Ausstattungsserien und effektiver Oberflächlichkeit. Damit wird eine Individualität des Erzeugnisses suggeriert, die es in der Massenfertigung gar nicht geben kann. Man ist nach wie vor eingeschlossen im Katalog der Serien. Heute ist diese kombinatorische Individualität bei vielen Produkten Standard, Toyota war allerdings führend darin, diese Kombinatorik auch auf die Massenproduktion selbst anzuwenden. Innerhalb der Serienfertigung konnten durch geschickte Ablaufplanung Subserien beliebig ineinander geführt werden. Gleichzeitig wurde die dumpfe optische Theatralik der Ford’schen Massenproduktion vermieden, listigerweise sogar im Massenproduktionsprozess selbst versteckt. Es gibt keine ausufernde Lagerhaltung mehr am Anfang und am Ende der Produktionsstraßen, es gibt keine Erzeugnisse mehr, die auf Halde liegen und stumm und stumpf auf Kunden warten. Nur was bereits einen Abnehmer hat, wird produziert und darf vom Band rollen. Die Architektur hat ähnlich wie TPS die dumpfe Massenproduktion aufgegeben und auf eine kombinatorische Massenproduktion umgestellt. Damit lässt sich die außerweltliche Optik des rein Seriellen mildern und der populäre Architekturgeschmack wird weniger irritiert. Schon bei der Bebauung von Lakewood hat man erkannt, dass man das Serielle zumindest ansatzweise verstecken muss: „My father did not have a passion for his giving; it came from him, perhaps after much spiritual calculation, as a product might come from a conveyer belt. The houses in this suburb were built the same way. As many as a hundred a day were begun between 1950 and 1952, more than five hundred a week. No two floor plans were built next to each other; no neighbor had to 275

stare into his reflection across the street“.13 Le Corbusier entschließt sich ebenfalls zu einer Korrektur seines Anspruchs an die Serie. 1921 in L’Esprit Nouveau fordert er noch die Serie ohne Abstriche. Nach dem Zweiten Weltkrieg publiziert und bewirbt er aber bereits den Modulor, weil er zu Individualität anregt: „Der wunderbare Reichtum an harmonischen Kombinationen entwickelt sich weiter. Er hat keine Grenzen. […] Das ‚Spiel der Füllungen‘ zeigt als erfreuliches Ergebnis, dass im Schoße dieser unfehlbaren Geometrie […] die Persönlichkeit sich in aller Freiheit durchsetzt.“14 In diesen Beschreibungen wird deutlich, dass die kombinatorische Individualisierung nicht nur als Versteckspiel der Massenproduktion gesehen wird, sondern als eigenständiger Innovationshorizont gefeiert wird. Das mag bei Le Corbusier noch lyrisch bemüht klingen, gilt aber vor allem in Amerika bis heute als Inbegriff des gewitzten Erfindens. Man besorgt sich banalste industrielle Komponenten und fügt sie dann zu einer nie dagewesenen Maschine mit nie dagewesener Performance zusammen. Der unheimliche Zwilling dieses kombinatorischen Erfindergenies ist der Terrorist, der aus industriellen Standardkomponenten Bomben oder sonst welche Zerstörungsapparate baut. In jedem Fall ist es Erfinden mit minimalem Aufwand und maximalem Effekt – und gerade deswegen Anklage und Aufforderung an alle anderen: Wenn Erfinden so leicht ist, warum macht ihr das nicht auch? Der Bestellkatalog und das Manual gelten nicht umsonst als genuine amerikanische Literaturformate und als Pflichtlektüre. Sears Catalog, Stewart Brands Whole Earth Catalog, Sweets Catalog, das Internet, Do-it-Yourself-Videos etc. – nur in einer kombinatorisch veranlagten Erfinderkultur wird das Herumstöbern im Gesamtrepertoire der industriellen Massenproduktion zum unumgänglichen Basisauftrag. Doch trotz des unzweifelhaften Erfolges der kombinatorischen Massenproduktion reizt die Gegenfrage: Warum ist Ford nicht selbst auf diese Idee gekommen? Eine Serie als Kombination von Subserien anzulegen, ist doch naheliegend. Und von der anderen Seite gefragt: Welcher Kunde glaubt denn tatsächlich, dass er ein individuelles Auto fährt oder in einem individuellen Suburb-Haus wohnt, nur weil er die Farbe und ein paar Ausstattungsdetails auswählen durfte? Wird die massenproduzierte Serie 13 Donald J. Waldie. Holy Land. A Suburban Memoir. W. W. Norton & Company. 2005. Seite 7 14 Le Corbusier. Der Modulor. Deutsche Verlags-Anstalt. 1985. Seite 98

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womöglich doch nicht so kategorisch abgelehnt? Richard Neutra war zu Beginn seiner Karriere von den Möglichkeiten der industriellen Massenproduktion begeistert und hat erst am Ende seiner Karriere verwundert und einigermaßen widerwillig festgestellt, dass massenproduziertes Brot doch nicht so gut schmeckt, wie er anfangs erwartet hatte.15 Woher kommt diese trotzige Faszination für die Serie? Die Antwort führt wieder in die innere Logik des Seriellen. Man muss nur Neutras Erklärung für die schlechte Qualität des massenproduzierten Brotes umdrehen. Das Brot ist schlecht, weil der Produktionsprozess definiert, wie das Brot zu sein hat und nicht der gute Geschmack. Diese absolute Dominanz des Produktionsprozesses über den Inhalt hat aber gleichzeitig etwas Versicherndes. Das Brot ist jederzeit und in jeder Menge verfügbar – solange man den Produktionsprozess nicht mit Geschmacksfragen stört. Im direkten Vergleich ist Liefersicherheit also wichtiger als Produktqualität. Diese versichernde Eigenschaft ist direkt auf Architektur anwendbar. Architektur ist mit einer doppelten Erwartung konfrontiert. Es wird zwar erwartet, dass sie individuell und besonders ist – die Romantik des Originals ist nicht zu tilgen –, zuallererst aber wird Verlässlichkeit gefordert. Diese doppelte Anforderung ist nicht neu, muss in der Moderne jedoch neu ausbalanciert werden. Die Moderne ist sehr wohl zum individuellen Original in der Lage, kann aber die Stabilisierung am Einzelobjekt nicht leisten. Durch die Umstellung auf Montagearchitektur wird eine bis dahin unbekannte Unsicherheit in die Architektur hineingetragen. Das montierte Haus kann jederzeit demontiert und wegetragen werden, ist somit nur provisorisch anwesend. Es insistiert nicht mehr durch Materialschwere wie das historische Haus, es ist flatterhaft und nervös. Und genau in diesem nervösen Moment tritt die Serie als Retterin auf. Die Moderne kompensiert die Flatterhaftigkeit des Einzelprodukts durch kontinuierlichen Nachschub. Das Haus wird demontiert, zerstört, geht verlustig? Kein Problem, daneben wartet ja schon ersatzweise das nächste und nächste und nächste. Wer das Wort Wegwerfgesellschaft ausschließlich negativ verwendet, übersieht, welche enorme Rückversicherung 15 „Zuerst war es meine Idee gewesen, dass so etwas wie ein neues, fortschrittliches Brotbacken […] ein großartiges, vielversprechendes Abenteuer sein müsste. In Cellophan gewickelte Belieferung und Verteilung über Tausende von Kilometern, […] und dann kostete ich das Brot aus der wundervollen Packung. Es war miserabel. Hatte ich mal wieder unrecht? Eines schönen Tages mag ich recht behalten. Ich bin sogar überzeugt davon.“ Richard Neutra. Auftrag für morgen. Claassen-Verlag. 1962. Seite 216

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die Massenmoderne durch Serienfertigung geleistet hat, sodass Wegwerfen ohne Verlustgefühl praktiziert werden kann. Die Ersatzgarantie ist also das stabilisierende Element der Moderne. In-Serie-Gehen ist mehr als nur eine industrielle Routine, es ist die moderne Form des Sicherheitsdenkens. Verlustangst wird einfach mit einem Überfluss des Gleichen kompensiert. Der Vorwurf an die Massenmoderne, dass sie zu seriell und damit zu monoton agiert, ist also inhaltlich falsch. Die Moderne wäre ohne Serie, ohne die Versicherungsleistung durch die Serie nicht annehmbar und nicht verkaufbar. Der Massenwohnbau der Nachkriegszeit in der Suburb und wohl auch in Europa hat doppelt richtig auf serielle Architektur gesetzt, um dem enormen Bedarf an Wohnraum zu begegnen. Erstens, weil damit tatsächlich schneller gebaut werden konnte, und zweitens, weil die serielle Erscheinung eine beruhigende Wirkung auf alle Wohnungssuchenden hatte. Der serielle Wohnungsbau ist zwar monoton und lebensfremd, aber er demonstriert deutlich, dass es für jeden eine Wohnung geben wird, man muss die Serie nur ungestört weiterlaufen lassen. Erst nachdem die Massenproduktion von Architektur den Bedarfsdruck nach Wohnraum abgearbeitet hatte, kam die Beschwerde über die mangelnde Qualität. Das hätte man schon Jahre davor sehen können, aber es ist eben wie bei Neutra und dem Brot. Am wichtigsten ist die Liefersicherheit, der kritische Geschmack kommt erst danach. Diese doppelte Wahrheit gilt bis heute. Die einen sind immer noch froh, überhaupt ein Haus zu bekommen, und stören sich nicht an der trostlosen Optik der seriellen Suburb, die anderen können sich bereits den Luxus der Geschmacksfrage leisten und die Monotonie der Suburb nörgelnd anklagen. Zurückgefolgert auf die Theorie der Massenproduktion ergibt sich daraus, dass Ford und Toyota im Prinzip die gleiche Versicherungsstrategie verfolgen. Der einzige Unterschied ist, dass Ford die Versicherung offensichtlich anlegt und die Potenz der Multiplikationsmaschine theatralisch vorführt, während Toyota die Versicherung zur Hintergrundleistung macht. Beide Strategien waren und sind ihrer jeweiligen Zeit angemessen. Am Beginn einer neuen Technologie oder in Mangelsituationen ist die Unsicherheit groß und theatralische Kompensation gefordert wie bei Ford. Sobald allerdings eine Sättigung eintritt und von automatischer Mangelnachfrage auf werbende Überredung umgestellt werden muss, reicht eine diskretere Versicherung wie beim TPS. 278

Hat die Moderne damit ihre neue Balance gefunden? Individualität wird zur oberflächlichen, individuellen Note reduziert, damit die Massenproduktion im Hintergrund ungestört laufen kann und ihre Versicherungsleistung erbringt? Ein kluger Kompromiss, den die Architektur in der amerikanischen Suburb bis heute verfolgt. Aber bei genauer Betrachtung erweist er sich als fatale Falschprojektion, weil dadurch eine ungleich größere Verunsicherung erkauft wird: „It is essential to economical manufacturing that parts be interchangeable.“16 „Das Hauptelement der Massenproduktion war nicht – wie viele Leute glauben – das Fließband. Es war vielmehr die vollständige und passgenaue Austauschbarkeit der Bauteile und die Einfachheit ihres Zusammenbaus. Diese Neuerungen in der Fertigung machten das Fließband erst möglich.“17 Massenproduktion muss also nicht nur bis zur Serie, sondern konsequenterweise bis zur Austauschbarkeit gedacht werden. Die Welt und ihre Erzeugnisse in eine unsentimentale Austauschbarkeit zu versetzen, ist ein regelrechter Fetisch der industrieaffinen Architekturlogik. Auch Neutra stellt das freudvoll fest.18 Doch was bedeutet die hochgelobte Austauschbarkeit? Sie bedeutet, dass die Serie nicht nur versichernd reagiert, wenn ein Element demontiert wird, kaputt oder verlustig geht, sondern sie provoziert den vorauseilenden Austausch. Das ist die disruptive Konsequenz der Wegwerfmentalität und wird mit geplanter Obsoleszenz, Hypermodernisierung etc. noch weiter angetrieben. Massenmoderne benennt im Endeffekt also eine Kultur, die einen enormen Abwertungsdruck auf jedes ihrer Erzeugnisse ausübt. Gesamtheitlich betrachtet ist das ziemlich paradox. Die Massenproduktion drängt einem täglich Must-have-Produkte auf, entwertet sie aber gleichzeitig durch die lapidarleichte Austauschbarkeit. Bei der Suburb ist diese Doppelstrategie aus Austauschbarkeit und Abwertung sogar iterativ verschachtelt, von den kleinsten Gadgets zu den Häusern, den städtischen Elementen bis hin zur Suburb selbst. Jede Suburb kann jederzeit durch die nächste Exurb ersetzt und überboten werden. 16 Henry Ford. Today and Tomorrow. Productivity Press. 2003. Seite 74 17 James P. Womack, Daniel T. Jones, Daniel Roos. Die zweite Revolution in der Autoindustrie. Konsequenzen aus der weltweiten Studie aus dem Massachusetts Institute of Technology. Campus Verlag. 1991. Seite 31 18 „Eines der Merkmale der reifen Standardisierung ist die, vielleicht aus Frankreich stammende, aber erst in U.S. zur vollen Geltung kommende Austauschbarkeit gleicher konstruktiver Elemente, so dass Wiederinstandsetzungen zu einfachen Handgriffen werden, anstatt handwerkliche Meisterschaft zu erfordern.“ Richard J. Neutra. Amerika. Die Stilbildung des neuen Bauens in den Vereinigten Staaten. Anton Schroll Verlag. 1930. Seite 20

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Das ist keine Interpretation, sondern konkrete Stadtgeschichte, denn die Suburbs sind als Arbeitersiedlungen im Umfeld großer Rüstungsfabriken während des Zweiten Weltkriegs angelegt worden. Diese Rüstungsstützpunkte wurden strategisch im Land verteilt und mit ihnen auch neue Schlafstädte.19 Doch durch die einseitige kriegsindustrielle Ausrichtung war die Suburb von Anfang an mit einem Ablaufdatum ausgestattet. Manchem Rüstungsbetrieb gelang die Umstellung von Kriegsproduktion auf Zivilproduktion, den meisten jedoch nicht. Lakewood in Los Angeles hat diesen Verfall anschaulich durchgemacht. Als Arbeiterstadt neben dem Douglas Aircraft Plant angelegt und beworben, war nach dem plötzlichen Abgang des großen industriellen Arbeitsgebers die Arbeiteridylle ebenfalls dem Abstieg ausgeliefert. Irgendwo produziert immer irgendjemand billiger und williger. Die Potenz der Multiplikationsmaschine ist also auch soziopolitisch nicht nur versichernd, sie ist gleichermaßen angriffig, abwertend und damit destruktiv. Interessanterweise erkennt aber keiner der Laudatoren der Massenproduktion, auch nicht Neutra, dass die forcierte Austauschbarkeit und Abwertung natürlich den modernen Menschen miteinschließt. In der Politikwissenschaft gibt es dafür ein Bewusstsein. Demokratie sei im Wesentlichen so konstruiert, dass sie unabhängig von der Qualität der Hauptakteure – gemeint sind damit meist Politiker – weitgehend verlässlich funktioniert. Gesetze, Regeln, Standards, Kontroll- und Ausgleichsmechanismen halten einen stabilen Systemrahmen, den die einzelnen Akteure kaum irritieren können, egal wie inkompetent sie sind oder wie oft sie aus dem Amt scheiden und durch neue ersetzt werden. Die Architektur der Moderne hat still und heimlich die gleiche Konstellation installiert. In einer gebauten Umwelt, die nur mehr aus Serien gleicher Elemente zusammengestellt ist, wird auch menschliches 19 „In his uncritical examination of our contemporary metropolitan landscape, Garreau reiterates the traditional suburban thesis. But edge cities are not, as Garreau states, exclusively postwar phenomena. We can trace their conceptual roots back to Ebenezer Howard’s Garden City and the planned dispersion of the nineteenth-century industrial city. America’s World War II defense programs accelerated this urban morphology when epochal migration coupled with rapid industrial expansion and a dispersed spatial pattern for aircraft and other industry. Garreau is incorrect as well when he claims that housing led and continues to lead urban expansion. Rather, wartime satellite developments were dynamic centers with a mix of land uses. Industry provided an economic base, jobs, and people, the foundation necessary for large-scale builders’ experiments in modern community planning.” Greg Hise. „The Airplane and the Garden City“. In: Donald Albrecht. Hrsg. World War II and the American Dream. How Wartime Building Changed a Nation. National Building Museum. MIT Press. 1995. Seite 174

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Verhalten, Denken, Agieren immer gleicher. Wer Architektur für Wohnen, Arbeiten, Freizeit in repetitiver Masse produziert, der produziert auch menschliche Biografien in repetitiver Masse. Der Mensch inmitten der modernen Architektur ist also genauso verdinglicht, in Serie ausgeliefert und dem schnellen Austausch preisgegeben wie die verdinglichte, serielle, austauschbare moderne Umwelt ringsherum. Das bedeutet, das Zeitalter der Massenproduktion hält für den Menschen die gleiche abwertende Erkenntnis parat wie für Autoteile und Hausfassaden. Der Mensch ist genauso wertlos wie jedes andere Wegwerfteil. Wenn er kündigt, aufgibt, unangenehm wird, steht sofort irgendwo ein nächster und nächster und nächster bereit, passgenau und ansatzlos verwendbar. Hire and fire nennt man das salopp in der amerikanischen Personalpolitik, das Prinzip gilt aber für alle Lebensbereiche. Moderne bedeutet: Niemand wird vermisst.

Verteilt und verbaut Fahren und Suburb sind Stimmungszwillinge. Das ist mehr, als bloß durch den ständigen Vorwurf vereint zu sein, die Suburbs würden tägliche Staulawinen über die Autobahnen in die Stadt spülen. Sein-zur-Bewegung benennt eine generelle Kultur des Mobilseins. Die Moderne entwurzelt und macht letztlich alle und alles zu Möbeln, die Architektur, die Menschen und ihre vielen Dingspielzeuge. Kein Wunder, dass Reyner Banham diese Bewegungsbereitschaft auch in der Architektur der Suburb liest. „The traditional American wooden house has always sat lightly on its terrain – a smart hurricane or runaway Mack truck will remove it neatly, leaving just 12 posts and 2 pipes sticking out of the lawn.“20 Man muss allerdings nicht auf den Wirbelsturm warten, um ein Haus in Bewegung zu setzten. Paul Adamson erinnert sich an seine Eltern, die ihr Haus in Unruhe hielten, indem sie sich ständig nach einem neuen umsahen. „Regardless of their satisfaction with their homes, however, my parents embraced house hunting, as did many people we knew, as a weekend recreation.“21 Aufschlussreich an Adamsons Erinnerung ist die Kultivierung der typischen Suburbunruhe zur Freizeitbeschäftigung. Haus, Wohnort, Architektur – alles lustvoll haltlos. 20 Reyner Banham. A Critic Writes. University of California Press. 1996. Seite 117 21 Paul Adamson. Eichler. Modernism Rebuilds the American Dream. Gibbs Smith. 2002. Seite 16

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Die Liste derartiger Bewegungszitate zur Suburb ließe sich mühelos fortschreiben – dennoch eine kleinliche Nachfrage: Wenn eine Gesellschaft ständig in Bewegung ist, warum wohnt sie dann überhaupt in Häusern, warum werden die Häuser im Grund verankert, warum werden Grundstücksgrenzen ausgewiesen und Nummern auf die Bordsteine gemalt? Warum verkleiden die meisten ihr Haus mit falscher Materialschwere und legen ein biedermeierliches Vorgärtchen an? Spätestens der Vorgarten ist doch der Verräter am impulshaft mobilen Leben, er vergeht eher als mit seinen Besitzern umzuziehen. Diese wenig originelle Erkenntnis hat sogar Menschheitsgeschichte geschrieben. Die Sesshaftwerdung der Menschen begann mit dem Gärtnern. Die Suburb hat also nicht nur Mobilitätsinfrastruktur von bisher ungeahnter Dimension erschaffen, sie hat auch das Gegenteil intensiviert und enorme Investitionen in das Hierbleiben getätigt. Angesichts dieser schizophrenen Anlage muss die klischeefröhliche Bewegungsunterstellung an die Suburb noch einmal überprüft werden. Aufschlussreich ist dabei ein besonderer Zeitabschnitt, der das harmlose, vorstädtische Wohnen zum geostrategischen Großprojekt hat werden lassen. Der Nuklearkrieg, der finale Horizont des Kalten Kriegs hat nie stattgefunden, aber er hat Stadtgeschichte geschrieben. Um gegen atomare Schläge resistent zu sein, gibt es zwei diametrale Strategien: Einbunkern oder Zerstreuen. Entweder man entschwindet in eine Schutzarchitektur, die Treffer aushält, oder man verteilt sich so weitläufig in der Horizontalen, dass die Treffer nur einen vergleichsweise geringen Schaden anrichten können. Amerika hat beide Strategien umgesetzt. Die VIPs wären in den großen institutionalisierten Atombunkeranlagen verschwunden, den Rest der Bevölkerung hat man schon vorab durch Suburbanisierung verteilt. Dass feinfühlige Zeitgenossen wie der junge Michael Sorkin diese Zweiklassengesellschaft des Überlebens durchschauen und mit eigeninitiativem Bunkerbau opponieren, beweist lediglich wie selbstverständlich sich die Mehrheit bereits in ihre jeweilige Rolle gefügt hatte: „I remember – during the late-fifties mania – going to the familial backyard and beginning to dig. I was afraid, of course, horrified by the flood of images the media were whipping up in those days, but also angry, disappointed that my parents showed no interest in this latest consumer (it was hoped) durable, not keeping up with the Joneses, another sign that my parents were simply inattentive to the needs of the (post)nuclear family.“22 22 Michael Sorkin. „War is Swell“. In: Donald Albrecht. Hrsg. World War II and the American Dream. How Wartime Building Changed a Nation. National Building Museum. MIT Press. 1995. Seite 235

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Konsequent formuliert ist die Suburb also der antizipatorische Verteilungskrieg der amerikanischen Zivilbevölkerung in Friedenszeiten. Sicherheit durch Überexponiertheit unter penibler Vermeidung von Höhepunkten. Ein städtebaulicher Blur-Effekt, um der Erfassungslogik der transkontinentalen Zerstörungsautomaten kein bevorzugtes Ziel zu bieten. Wäre das World Trade Center als Homeworker-Architektur konzipiert gewesen, verteilt auf unzählige Heimarbeitsplätze in den Weiten der Suburbs, es würde noch immer existieren. Auch bei anderen Extremsituationen beweist die Suburb immer wieder ihre Resistenz gegen Schicksalsschläge. Wenn an der Ostküste Wirbelstürme tiefe Schneisen durch das Atomerwartungsland schneiden, dann sind zwar die Schäden enorm, aber verkraftbarer als bei kompakten Stadtanlagen. Im Westen sind es die Erdbeben und Flächenbrände, denen die breit verteilte Suburb keine neuralgischen Punkte anbietet. Auf unfreiwillige Weise sind die jährlich wiederkehrenden Katastrophen sogar ein notwendiges Systemtraining und eine Systemindoktrination. Erst wenn die Schadensbilder die TV-Bildschirme besetzen, wird die Essenz der Suburb auf den Punkt gebracht: In der Suburb wird erduldet. In der Suburb wird eine beschädigungsoffene Form des Beharrens praktiziert. Rein funktional betrachtet, mag die Verteilung der Menschen in der Suburb vorteilhaft sein. Dennoch ist dafür ein gesellschaftlich enormer Nachteil einzukalkulieren. Die Suburb muss den Urimpuls des Städtebaus umkehren. Statt des Intensivierens und Zusammenbringens wird das Gegenteil, das Auflösen des sozialen Verbands, erzwungen: „The shift was very rapid. If the image of sheltering during the war was collective, of civilians huddled together in the London subways […] the standard issue equipment for the [individual] A-bomb shelter [in the suburb] always included a rifle, to keep everyone else out.“23 Diese brutal anti-solidarische Haltung ist für Menschen kontraintuitiv. Was hat man davon, andere Schutzsuchende zu erschießen? Hilfesuchend wendet man sich doch immer zuallererst an die anderen. Erst wenn diese natürliche Zuflucht versagt, beginnt der existenzielle Einzelkampf. Doch mit dieser intuitiven Reihenfolge ist der Atombombe nicht beizukommen. Die Suburb widersteht der Bombe also durch eine prinzipiell asoziale Anlage. Die Schicksalsschläge des Einen sollen nur noch abgeschwächt auf den Nachbarn durchschlagen. Im besten Fall bleibt jeder mit seinem Schicksal allein. Das ist der 23 Michael Sorkin. Ebd. Seite 235

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Normalzustand in der Suburb – auch in Friedenszeiten: „You leave the space between the houses uncrossed. You rarely go across the street, which is forty feet wide. You are grateful for the distance. It is as if each house on your block stood on its own enchanted island, fifty feet wide by one hundred feet long. People come and go from it, your parents mostly and your friends. Your parents arrive like pilgrims. But the island is remote. You occasionally hear the sounds of anger. You almost never hear the sounds of love. You hear, always at night, the shifting of the uprights, the sagging of ceiling joists, and the unpredictable ticking of the gas heater.“24 Was Donald J. Waldie hier noch beobachtend feststellt, wird in Leisure World bereits zur expliziten Regel: „The major [rule of conduct] one is. Thou shalt not offend thy neighbor.“25 Diese grundlegende asoziale Anlage ist nicht einmal ein Widerspruch zur Moderne, weil Modernsein oft genug verlangt, Distanz einzunehmen. Wenn die Moderne als vernunftbetont, analytisch, reflektiert, ahistorisch, emotionslos beschrieben wird, dann ist damit auf vielfältige Weise Distanznahme gemeint. Das Verteiltsein wird also auch im Sozialen von vielen als Schutzaufstellung gewählt. Moderne Menschen umarmen sich nicht, sondern rufen sich an. Moderne Menschen erleben einen effektiven Souveränitätsgewinn durch die distanzierte Interaktion, weil Kontingenz, Kritik, Widerrede etc. nur aus kontrollierter Distanz realisierbar sind. Wenn Postmoderne im Gegensatz dazu bedeutet, sich wieder schmutzig zu machen, sich zu mischen und viel zu nahezukommen, dann ist damit nicht die Befindlichkeit der oberen Mittelschicht gemeint, sondern es werden die überfüllten Zwangszustände der Unterschicht romantisch theoretisiert. Abermals zeigt sich, dass Postmoderne zur Ablenkung der Verlierer konzipiert wurde. Die Sieger mögen es hingegen lieber distanziert verteilt. Der soziale Schutzraum, den sie beanspruchen, ist ebenfalls nur durch distanzgewordenes Misstrauen haltbar. Die alltägliche Beweglichkeit, die man der Suburb zuschreibt, ist also nur Ausdruck einer Strategie des Verteilens, die den Zwang zum Beharren begleitet, aber nicht opponiert. Dieser scheinbare Widerspruch wird verständlich, wenn man nachvollzieht, wie Gilles Deleuze und Félix Guattari dem Nomaden die Beweglichkeit absprechen: „Der Nomade verteilt sich in einem glatten Raum, er besetzt, bewohnt und hält diesen Raum, und darin 24 Donald J. Waldie. Holy Land. A Suburban Memoir. W. W. Norton & Company. Seite 12, 13 25 John Dorsey. Rossmoor Leisure World. A New Way of Life. 1965. Leisure World Historical Society. 2015

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besteht sein territoriales Prinzip. Es wäre daher falsch, den Nomaden durch Bewegung zu charakterisieren. Toynbee weist zurecht darauf hin, dass der Nomade vielmehr derjenige ist, der sich nicht bewegt. Während der Migrant ein Milieu verlässt, das amorph oder feindlich geworden ist, ist der Nomade derjenige, der nicht fortgeht, der nicht fortgehen will, der sich an diesen glatten Raum klammert, aus dem die Wälder zurückweichen, in dem Steppe oder Wüste wachsen, und der das Nomadentum als Antwort auf diese Herausforderung erfindet.“26 Der SuburbBewohner ist zwar kein Nomade, aber in der Suburb ist eine ähnlich wechselseitige Verbundenheit zwischen Milieu und Bewohner zu beobachten. Insofern kann man einen analogen Schluss ziehen. Der Suburb-Bewohner ist verteilt, das ist sein städtebauliches Prinzip, und das Beharren auf dem Verteiltsein erzeugt wiederum die Suburb. Peter Zumthor variiert diese Logik und spricht einmal von der Verankerung der Architektur im Boden, die sie zum selbstverständlichen Teil der Umgebung macht.27 Das Suburb-Haus übersetzt diese Logik ins Prinzipielle, denn das Haus ist nicht mehr im Boden, sondern in einem strategischen Prinzip verankert. Die Konsequenz dieser Verankerung im Prinzip ist allerdings härter als man vermutet, denn die Verteilung der Wohnbevölkerung hätte im Kriegsfall wieder nur die Idee der Verteilung gerettet, aber nicht alle verteilten Menschen, Häuser, Infrastrukturen. Es hätte sogar gereicht, wenn nur der prinzipielle Bauplan am Leben geblieben wäre. Dank Massenproduktion wäre die Suburb einfach zügig neu möbliert worden. Neue Menschen, neue Häuser, neue Infrastruktur – und alles wäre wieder gut. Man könnte fast schwärmen, dass erst die Bombe das Prinzip der Anlage gewaltsam freilegen würde, und alles, was Substanz hat, würde verschwinden, weil alles Substanzielle letztlich vergänglich ist, Menschen, Häuser, Vorgärten. Übrig bliebe ein übergeordnetes städtebauliches Abstraktum, das erst versagt, wenn nach dem Atomangriff keine Suburbs mehr gebaut würden. Diesen knappen Nachsatz explizieren Deleuze und Guattari zu einem vollen Gegenkonzept, dem Migranten, der sehr wohl beweglich ist, weil er sein angestammtes Milieu verlässt und in ein anderes Milieu übertritt. Zurückgefolgert auf die Suburb wird also eine Bewegung erster und eine Bewegung zweiter Ordnung zu unterscheiden sein. House Hunting, 26 Gilles Deleuze, Félix Guattari. Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie. Merve Verlag. 1992. Seite 524 27 „Diese Bauten scheinen fest im Boden verankert zu sein. Sie wirken als selbstverständlicher Teil ihrer Umgebung […].“ Peter Zumthor. Architektur denken. Lars Müller Publishers. 1998. Seite 17

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leichtfüßige Bauweisen, endlose Autobahnen, ständiges Umziehen, die Trailer Parks, die gesamte Kultur des Mobilseins, sind nur Verteilungsbewegungen erster Ordnung und erzeugen damit die Suburb, sichern sie ab, anstatt sie infrage zu stellen. Eine Bewegung zweiter Ordnung wäre hingegen eine Migration, ein Verlassen der Suburb, indem man gegen das Verteiltsein opponiert. Ein passendes, gleichwohl überraschendes Beispiel für eine architektonische Migration hat Paul Virilio durchdekliniert. Er schreibt ausgerechnet dem Bunker eine solche Bewegung zweiter Ordnung zu: „Während die meisten Bauwerke durch ihr Fundament mit dem Grund verwachsen sind, besitzt der Bunker überhaupt keines; sein Schwerpunkt ersetzt es. Hieraus erklärt sich seine Fähigkeit zu einer gewissen Mobilität, wenn im umliegenden Terrain Projektile einschlagen. In diesem Umstand ist auch der Grund dafür zu sehen, dass man manchmal auf Bunker stößt, die abgeknickt oder umgekippt sind, ohne dass sie große Beschädigungen aufwiesen.“28 Wer in den Bunker geht, ist also ein Architekturmigrant, verlässt das Milieu des beschädigungsoffenen Beharrens an der Oberfläche und tritt ein in den Bewegungsmodus des Sich-Entziehens. Damit wären die Positionen endgültig getauscht, der Bunker ist das elegante Fluchtfahrzeug, die Suburb hingegen die demonstrative Beharrlichkeit. Die Abspaltung des städtebaulichen Prinzips von den tatsächlichen Lebensszenen in der Stadt markiert in jedem Fall einen wesentlichen Dimensionssprung in der Architektur. Ab jetzt ist Architektur in Relation zu ihren Autoren und Auftraggebern das Größer-als. Das städtebauliche Prinzip überragt zwar im Auftrag der Bewohner die bedrohliche Realität, degradiert die gleichen Bewohner aber zugleich zu Handlangern. Jeder macht, bringt sich ein, darf aber nicht selbstständig vorausagieren, sondern ist in eine vorgegebene Befehlskette eingespannt. Die Lebensführung ergibt sich zwingend aus der gebauten Umgebung, die gebaute Umgebung ergibt sich zwingend aus einem urbanen Masterplan, der Masterplan ist die lokale Anwendung eines geostrategischen Überlebensprinzips, und dieses große Prinzip wird wiederum als unverrückbare gesellschaftliche Abmachung erklärt, obwohl sich niemand erinnert, jemals gefragt worden zu sein. Der Film The Truman Show29 hat 1998 dieses Gefangensein in einem systemischen Größer-als eindrucksvoll in Szene gesetzt und dabei auch die Mittäterschaft der Architektur nicht 28 Paul Virilio. Bunker-Archäologie. Carl Hanser Verlag. 1992. Seite 37 29 Peter Weir. The Truman Show. Scott Rudin Productions. 1998

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verschwiegen. Architektur hat generell die Tendenz, den eigenen Autoren und Auftraggebern über den Kopf zu wachsen, aber die Suburb steigert diese gespenstische Autorität bis zur Entmündigung sämtlicher Beteiligten. Daher das stille Unvertrauen und auch die stille Einsamkeit der SuburbBewohner in ihrer eigenen Prinzipkonstruktion. Mit dieser Zurücksetzung umzugehen, lässt nur zwei Wege offen. Entweder man lehnt sich auf gegen die autoritäre Prinzipkonstruktion und fordert eine persönliche Relevanz zurück, oder aber man suspendiert die kritische Frage nach der eigenen Rolle und nimmt die Prinzipkonstruktion schlicht als die gegebene Welt an. The Truman Show inszeniert die finale Auflehnung als Happy End. Yoshiharu Tsukamoto hingegen beschreibt, wie sogar Architekten letztlich vor einem städtischen Größer-als kapitulieren: „What is it about this city of Tokyo, which can allow such unthinkable productions? How have we managed to arrive at such a different placeto European modernity despite being equipped with the same building technology? But one week later, these sort of questions disappear from my mind, together with the feeling that something is wrong.“30 Die große städtebauliche Frage an die amerikanische Suburb lautet nun, was man heute und in Zukunft mit diesem kriegsinspirierten Verteiltsein anfangen soll? Den meisten Suburb-Bewohnern ist nicht einmal bewusst, dass sie irgendwann rein prinzipiell für das Erdulden der Bombe aufgestellt worden sind. Umso absurder, weil der Nuklearkrieg ohnehin nicht mehr kommen wird, und die Suburb ihre Existenzberechtigung längst eingebüßt hat. Es gibt keinen Grund mehr, verteilt zu sein. Eigentlich hätte man parallel mit dem Fall der Berliner Mauer sämtliche Suburbs schleifen müssen. Beides waren schließlich Abwehrarchitekturen aus dem Kalten Krieg. Doch die Suburb existiert noch immer und macht nicht die geringsten Anstalten zu verschwinden.31 Damit zeigt sich endgültig das monströse Talent der Suburb. Aus der vermeintlichen Rettungsarchitektur ist eine extrem penetrante Zwangsarchitektur 30 Momoyo Kaijima, Junzo Kuroda, Yoshiharu Tsukamoto. Made in Tokyo. Kajima Publishing Co., Ltd. 2001. Seite 8 31 „Durch eine Norm werden Erwartungen stabilisiert, und zwar auch und gerade für den Fall, dass anders als erwartet gehandelt wird. Bei Verstößen gegen die Norm ist nicht falsch erwartet, sondern falsch gehandelt worden. Man hat sich zwar in der faktischen, nicht aber in der normativen Seite des Erwartens geirrt. Oder anders gesagt: der Verstoß ist kein Anlass zur Änderung der Norm, kein Anlass zum Lernen; er kondensiert und konfirmiert die Erwartung als Anlass, sie zu betätigen und zu bestätigen.“ Niklas Luhmann. Soziologie des Risikos. Walter de Gruyter. 2003. Seite 62

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geworden, die jedem Wandel, jeder Anpassung mit der gesamten Schwere des So-Seins entgegensteht. Egal woher die Suburb kommt, mittlerweile liegt sie wie ein architektonischer Fallout über der Landschaft mit Halbwertszeiten, die jeden ändernden Impuls verzweifeln lassen. Systemisch nüchtern betrachtet ist die Lage nicht ganz so aussichtslos. In ihrer grundlegenden Matrix ist die Suburb zwar mittlerweile eklatant unpassend, aber diese Unpässlichkeit ist als groteske Disbalance aufgestellt. Die Suburb ist heute auf unerträgliche Weise Mangel und Überschuss zugleich. Mangel, weil die Unpässlichkeit der Suburb bereits destruktiv wirkt. Gemeint sind die szenische Langeweile, die soziale Unterforderung, die Reizdeprivation, die entropische Grundstimmung und die daraus folgenden autoaggressiven Kräfte. Gleichzeitig ist die Suburb ein Überschuss, weil das Zuviel an Distanz, Fläche, Leere, die strukturelle Überdehnung, die prinzipiell asoziale Aufstellung, all das, was für die Bombe reserviert war, bis zum heutigen Tag als stille Reserve in der Suburb steckt. Dass diese Reserve bei diversen Naturkatastrophen teilweise aktiviert wird, ändert nichts am Problem der großen inneren Nutzlosigkeit. Wie soll man diese Reserve jemals gänzlich aktivieren? Man kann die Eignung für die Bombe nicht einfach umbuchen in eine Eignung für inspirierendes Stadtleben. Es bedürfte schon eines tieferen Stadtumbaus, um diese Reserve konstruktiv zu transformieren. Das eigentliche Drama folgt aber erst nach dieser kurzen Zwischenhoffnung. Selbst wenn es eine tolle Nutzungsidee für die stille Reserve in der Suburb gäbe – sie wäre nicht realisierbar, weil der Rückweg verbaut ist. Allerdings nicht zufällig verbaut, sondern das Verbauen ist die einzige lustvolle architektonische Agenda in der Suburb. Das klingt kryptisch, ist aber leicht erklärt. Eine räumlich aufgedehnte, asoziale urbane Struktur ist zwar gegen Atomangriffe gut aufgestellt, man kann mit ihr aber kein Immobilienmarketing betreiben. Die strategischen Distanzen im Gefüge dürfen also nicht als offen mahnende Sturzräume dastehen. Wie versteckt man aber das Zuviel an Platz in der Suburb? Wie verheimlicht man die asoziale Distanz zwischen mir und meinen Nachbarn? In der Beantwortung dieser Frage offenbart sich eine zweite Geschichte der Suburb, die meist nur in kurzen Episoden eingeblendet wird. Der soziale Sturzraum, der die Suburb ausdehnt, ist nämlich aufwendig gefüllt worden, manche meinen vermüllt worden. Womit? Ausgerechnet mit Architektur. Wie ein wuchernder Zellhaufen haben sich die Einfamilienhäuser aufgebläht. Der Standardgrundriss eines einfachen Hauses ist durch iterative 288

Ausdifferenzierung zu einem immer üppigeren Konglomerat angewachsen. Küche, Wohnzimmer, Bad und ein paar Schlafzimmer reichen schon lange nicht mehr, um Middle-Class- oder gar Upper-Middle-Class-Ambiente zu vermitteln. Heute muss es eine Wohnküche sein, plus Nook, plus Family Room, plus Dining Room. Das Wohnzimmer hat sich ebenfalls zu einem Raumensemble vergrößert. Zum Living Room kommen noch ein Game Room, ein Media Room, ein Recreation Room, ein Flex Room, gelegentlich eine Library und immer ein Den in der Nähe des Hauseingangs hinzu. Das Elternschlafzimmer ist zur Owners Suite angewachsen. Das bedeutet, zum eigentlichen Schlafzimmer kommen noch ein Owners Retreat, eine Küchenbar, ein Fitness Room, ausufernde Badezimmer und begehbare Ankleideräume hinzu. Rund um das Haus wuchern schließlich Loggien, Terrassen, Garagen, Vorfahrten, Pools, Poolhäuser, Jacuzzis, Tennisplätze, Pavillons etc., bis die Grundstücksgrenze erreicht ist. Freiraum ist das Einzige, was es hier nicht gibt. Und weil es in all diesen neuen Räumen im Grunde nichts Neues zu tun gibt, werden sie mit immer größeren Sofas, Sitzgruppen, Pflanzenarrangements, Monstergrills, Fitnessgeräten, Dekoelementen, Lichtspielen und Flachbildschirmen vollgestellt. Wobei die vielen Bildschirme keine Konkurrenz zum zentralen Fernseher darstellen, denn der ist längst zum Heimkino angeschwollen. Die oft besprochene Miniaturisierung durch Digitalisierung findet in der Suburb nicht statt, wird sie doch kompensiert durch immer größere Ausgabegeräte und hedonistische Sammelleidenschaft. Dass eine derartige Unzahl an Räumen, Geräten und Gadgets von einer Familie in ihrem typischen Alltag gar nicht mehr nutzbar ist, zeigt sich am besten in den Küchen. Kolossale Side-by-Side-Kühlschränke, Weinkühlschränke, Serien von Back-, Gar- und Grillautomaten, Einbaugeräte, die jede erdenkliche Küchenroutine zur Trickshow verwandeln – und trotzdem wird in diesen Küchen immer weniger gekocht. Wohlstand schützt nicht vor Fertiggerichten, und schützt auch nicht vor einem horriblen Vergleich: Die Suburb ist Vorbereitungsarchitektur für die Bombe, aber die Bombe kommt nicht. Das Suburb-Haus ist Vorbereitungsarchitektur für pralles Leben, aber das pralle Leben kommt ebenfalls nicht. Wie sollte es auch. In den vollgestopften Architektur- und Ausstattungsmüllhalden der zeitgenössischen Suburb ist jeglicher Interaktionsraum verstellt. Für die Moderne ist das eine ungewöhnliche atmosphärische Wendung. Die frühe Moderne hat ihr Publikum noch mit Leere, Kargheit, szenischer Kälte gefordert. In dieser szenischen Exponiertheit konnte 289

man sich durchaus zu sozialer Begegnung angestiftet fühlen, weil man sonst erfroren wäre – wie Vilém Flusser meint. Doch in der Suburb macht die Moderne die genau gegenteilige Erfahrung. Das ist das erste Mal in der Geschichte der Architektur, dass man verblüfft feststellen muss, dass ein Zuviel an Architektur, sogar ein Zuviel an wohlmeinender Architektur, dem Entstehen von gelebter Gemeinschaft im Wege steht. Die einzig positive Überraschung ist, dass man das sorgenvolle Dilemma aus der Einleitung jetzt ohne Sorge positiv auflösen kann: Wie soll man sich in der Wüste szenisch einrichten, wenn einem wieder nur die Massenproduktion als Werkzeug dafür angeboten wird – hieß das Dilemma. Der praktische Umgang mit diesem Dilemma ist mittlerweile zu einer boomenden Industrie angewachsen. Die Wüste wird vorbildlich verbaut. An der Suburb kann man beobachten, wie sich Architektur entwickelt, ohne dass sie durch die konkrete Nutzung im sozialen Verband gestört wird. Im Prinzip wächst hier eine ideale Architektur heran wie auf einer Plantage. Das ist nicht zynisch, sondern definitionsgebend gemeint. Jeder neue Wohntrend, der Komfortsteigerung verspricht, kommt aus der amerikanischen Suburb. Das ist das Labor für ideale Wohnarchitektur, weil nirgends der Druck so hoch ist, szenische Leere mit Architektur und Ausstattung zu füllen. Fluchtpunkt der Entwicklung? Umkehr und ein freiwilliger Verzicht auf Komfortgerätschaften zugunsten einer sozialen Annäherung? Das ist nicht wahrscheinlich. Solange mit Neverland-Ranch, Hearst Castle etc. noch Vorbilder für Komfortsteigerung bereitstehen, werden das House Hunting und die Möblierungswut weitergehen. Der Mensch mag auch in der Suburb ein im Prinzip soziales Wesen sein, aber diese grundsätzliche Anlage scheint dort auf eine mindestens ebenso mächtige evolutionspsychologische Gegenkraft zu stoßen. Der Einzelhaft im Überfluss ist offensichtlich schwer zu widerstehen.

Selbstüberbietung Ist Doxiadis der bessere Beuys? Ein Vergleich, den viele als Überfall werten werden. Aber er ist naheliegend. Joseph Beuys verweist bei seiner Aktion in Kassel ausdrücklich auf ein zugrundeliegendes Netzwerk der Vernunft. Ohne diese Grundlage seien Lebensprozesse nicht sinnvoll – meint er. Constantinos A. Doxiadis baut sein Planungsverständnis auf das 290

gleiche Mission Statement, er kürzt lediglich die Kunstattitüde heraus und macht damit die Vernunft zur alleinigen Instanz. Ergebnis dieser Verschärfung ist Ekistics – so nennt Doxiadis seine neue Methode der Stadtplanung, die konsequent auf die Exekution von Formeln und Kalkulationen reduziert ist. Ein städtebaulicher Entwurf ist bei ihm ein kausaler Optimierungsprozess, bei dem letztlich sogar der entwerfende Architekt als die letzte Quelle der Unvernunft eliminiert werden sollte.32 Der Applaus der massenmodernen Zeitgenossen aus Politik und Wirtschaft der 1960er und 1970er Jahre war ihm sicher, der Umfang seiner weltweiten Planungen kommt Beuys’ Forderung nach dem „Aufbauen einer neuen Kulturhülle um den Erdball“ bedrohlich nahe. Doxiadis ist also eine wichtige zweite Asymptote, die gemeinsam mit Beuys’ Kassel-Projekt ein ganzes Feld vernunftgetriebener Stadtplanung und Stadtarbeit aufspannt. In diesem Vernunftfeld muss sich auch zwangsläufig die amerikanische Suburb wiederfinden. Schließlich ist die Suburb immer noch die große, urbane Selbstbestätigung der Moderne und man setzt voraus, dass gerade dabei die Vernunft die planerische Leitlinie stellt. Vernunft ist ein gewichtiges Wort und Vernunftbehauptungen ziehen den Zweifel geradezu an. So auch hier. Die Nachbetrachtung der Stadt anlagen von Doxiadis ist heute mehr als kritisch. Kein Wunder, die postmoderne Kritik betont bei jeder Gelegenheit, dass gerade das manische Vertrauen auf Vernunft die größte Unvernunft der Massenmoderne darstellt. Mit diesem semantischen Wirbel ist gleichzeitig klargestellt, dass die Postmoderne ein gänzlich anderes Verständnis von Vernunft an urbane Planungen anlegt. Und gemäß diesem anderen Verständnis von Vernunft ist die Suburb gerade dort, wo sie ihrer eigenen Klischeevorstellung entspricht, das beliebteste Beispiel für unvernünftigen Städtebau, eine haarsträubende Hypertrophie der Moderne, die man nur anklagend in städtebauliche Diskurse einbinden will. Selbst zurückgefolgert auf das vormalig rein funktionalistische Verständnis von Vernunft wird die nachträgliche Bewertung nicht besser. In der Verteilung Sicherheit gegen die Atombombe zu suchen, rechtfertigt nur einen kleinen historischen Abschnitt der Suburb-Geschichte, rechtfertigt aber zu keiner Zeit die konkrete architektonische Ausformulierung. Dennoch – so leicht ist die Zuordnung nicht abzuschütteln. Ausgerechnet die amerikanische Suburb, der der 32 „Das moderne Leben will die ‚Ordensregeln‘, der es folgt, als Ausdruck eines Optimierungsprozesses, an dem es selbst beteiligt ist, verstanden wissen.“ Peter Sloterdijk. Sphären III. Schäume. Suhrkamp Verlag. 2004. Seite 484

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akademische Stadtdiskurs heute jede Vernunft abspricht, muss wenigstens im Sinne der ursprünglichen Intention ein Netzwerk der Vernunft unterstellt werden. Die Verwirrung ist damit natürlich nicht gelöst und muss stattdessen mit einer Detailfrage geklärt werden: Gibt es ein spezifisches Verständnis von Vernunft, das so etwas wie die Suburb gutheißen kann? Die Antwort beginnt mit dem Hinweis auf die große Schwachstelle der Vernunft. Diese zeigt sich in Form einer falschen Erwartung, die exemplarisch von Beuys geäußert wird. Beuys meint nicht nur in Kassel, sondern generell, dass sich das Neue nur über das Denken entwickelt.33 Nicht die Inspiration, nicht das geniale Talent, nicht das Glück, der Zufall, die Laune, sondern das Denken stiftet den Auftakt zum Neuen. Doch stimmt das wirklich? Stimmt das eingeschränkt nur für die Hervorbringungen der Moderne? Oder stimmt das noch eingeschränkter nur für die Aktionen von Beuys selbst? Mitnichten. Vernunft ist gut und wichtig, aber Vernunft allein produziert noch keinen eigenen Antrieb. Vernunft hat keine energetische Quelle, um sich selbst einzusetzen, um vernünftiges Handeln auszulösen und am Laufen zu halten. Das ist nicht nur theoretisch richtig sondiert, das ist vor allem täglich gelebte Erfahrung. Wie oft reflektieren Menschen ihre unvernünftigen Handlungen, bereuen sie sogar, und wiederholen dennoch die gleichen unvernünftigen Handlungen wieder und wieder. Jedem ist mittlerweile bekannt, wie man sich ernähren sollte, wie man mit Suchtmitteln umgehen sollte, wie man seine Finanzen organisieren sollte, wie man Konflikte austragen sollte, und doch sind viele menschliche Biografien Aneinanderreihungen von selbstzerstörerischen Unvernünftigkeiten. Und was für die Einzelperson gilt, das gilt in gleichem Ausmaß fürs Kollektiv. Wie oft einigen sich Familien, Arbeitsteams, ganze Gesellschaften oder gar Staaten auf ein vernünftiges Ziel, und arbeiten dann in der Praxis ebenso gezielt daran vorbei. Vernunft allein produziert eben keinen Antrieb – muss man entschuldigend wiederholen. Die Antriebe kommen aus einer viel tieferen Schicht des Menschlichen. Hunger produziert Antrieb, wie auch Egoismus, Angst, Wut, Geilheit, psychopathische Motive und das sonstige vor- oder außerzivilisatorische Repertoire. Die Handlungen, die diesen 33 „Und dass das Neue sich in dem Sinne über das Denken entwickelt, dazu werden wir helfen.“ Joseph Beuys. In: Joseph Beuys, Bernhard Blume, Rainer Rappmann. Gespräche über Bäume. FIU-Verlag. 2006. Seite 42

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vorzivilisatorischen Antrieben entspringen, sind nicht notwendigerweise irrational. Man könnte sie sogar als grundvernünftig bezeichnen, aber nur in Bezug auf die Lebensumwelt, auf die sie evolutionär abgestimmt sind. Überträgt man diese vorzivilisatorischen Antriebe allerdings auf eine Wohlstandsgesellschaft, werden sie sehr schnell destruktiv. Vermutlich hatten Dada, Surrealismus, Situationismus etc. einen unverstellten Blick auf diese ursprünglichen Quellen der menschlichen Antriebe. Gleichermaßen haben sie aufgezeigt, wie irritierend deren Implementierung in die moderne Lebenspraxis ist. Damit ist das Dilemma des Vernunftunternehmens Moderne öffentlich: Die Vernunft will das eine, kann aber nicht. Die Antriebe wollen etwas anderes, sollen aber nicht. Die Moderne kann dieses Dilemma aber nicht einfach unbehandelt hinnehmen, denn dann würde aus dem Dilemma ein Widerspruch. Es wäre schlicht unvernünftig, würde die Vernunft für ihre praktischen Defizite blind sein. Wer zivilisatorische Vernunft also nicht nur abstrakt diskutieren, sondern tatsächlich in die Welt bringen will, muss einen vernunftfremden Antrieb beistellen. Diese Abhängigkeit von einem Fremdantrieb gilt gleichermaßen für vernünftige Architektur. Woher aber könnte dieser Antrieb kommen? Einen klugen Hinweis gibt Richard Neutra. In seinem Buch Amerika. Die Stilbildung des neuen Bauens in den Vereinigten Staaten macht er eine polemisch wertende Gegenüberstellung: Europäischem Rationalismus unterstellt er eine Neigung zu philosophischen Spekulationen, amerikanischen Rationalismus hingegen sieht er klar auf praktische Tätigkeiten ausgerichtet. Als hätte Europa nur Immanuel Kants erstes Hauptwerk, die Kritik der reinen Vernunft, gelesen und Amerika nur Kants zweites Hauptwerk, die Kritik der praktischen Vernunft. Eine Einseitigkeit, die Neutra für Amerika eindeutig als Vorteil wertet.34 Er empfiehlt daher allen Modernen eine – wie er es nennt – Akklimatisierung an das Rationale und Praktische.35 34 „Der für lange Zeit entscheidende Block von Ersteinwanderern an der atlantischen Küste war von puritanische-beschränkter Sachlichkeit. Diese Geistesverfassung, an sich durchaus nicht gleichsetzbar mit Rationalismus, wurde wesentlich für dessen gegenwärtige nordamerikanische Spielart, die sich fest auf die klar messbaren Felder praktischer Tätigkeit bezieht und keine Hinneigung zu philosophischer Spekulation zeigt, wie etwa der französische Rationalismus des 18. Jahrhunderts. Der Verfasser möchte in dieser Einengung des Anwendungsgebietes rationaler Verfahren einen allgemein-gegenwärtigen Fortschritt sehen, im Vergleich zu manchen kaum verflossenen kindlichen Ausschreitungen materialistischer Gedankenspiele.“ Richard J. Neutra. Amerika. Die Stilbildung des neuen Bauens in den Vereinigten Staaten. Anton Schroll Verlag. 1930. Seite 13 35 Richard Neutra. Auftrag für morgen. Claassen-Verlag. 1962. Seite 211

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Ist an dieser Akklimatisierung an das Praktische schon der gesuchte Antrieb zu erkennen? Die Tendenz mutet richtig an, aber zeichnet sich noch nicht klar ab. Neutra konnte noch nicht wissen, dass mit der Bevorzugung von praktischer Vernunft noch viel erheblichere Begriffswandlungen verbunden sind. Zeitgenössische Organisationstheoretiker wie Günther Ortmann pflegen nämlich einen Durchführungspragmatismus, der Vernunft noch viel radikaler relativiert: „Jedenfalls geht es um komparative Relationen, nicht um absolute Maxima – um ein ‚besser als‘, nicht um ein Optimum.“36 „Die Logik der Überbietung stellt andere und weniger anspruchsvolle, realistische, realisierbare Anforderungen an die Praktiker. […] Sie erfordert von den Praktikern nicht die – unmögliche – Bestimmung von Maxima oder Optima, sondern ‚nur‘ operationale Bestimmungen jenes bettersmarterfastercheaper, zu dem man sich genötigt fühlt, […] Sie erfordert ‚nur‘ eine Relationierung, einen Vergleich, die Bestimmung einer Verbesserung gegenüber identifizierbaren Vergleichsobjekten.“37 Das bedeutet, Vernunft wird in der Praxis durch Überbietung ersetzt. Das ist zwar von der hohen Idee der Vernunft ein gutes Stück abgewertet, aber das Antriebsproblem ist damit auf beeindruckende Weise gelöst. Einmal initiiert, kann die Überbietung auf das gesamte Arsenal egoistischer Energien und Impulse zugreifen. Außerdem ist Überbietung niederschwellig verständlich und ausreichend populär, um in vielen Handlungsfeldern den Mainstream zu definieren. Überbietung ist also auf unverschämte Weise Antrieb und Ziel zugleich. Mit dieser Doppelidentität aus Antrieb und Ziel entschärft die Überbietung zusätzlich den großen inneren Widerspruch der Moderne. Gemeint ist das unvereinbare Zweifachversprechen von allgemeiner Vernunft und maximaler individueller Freiheit. Mit beiden Versprechen war die Moderne vor ihre Zeitgenossen getreten und dennoch laufen sie tendenziell gegeneinander. Ersetzt man Vernunft aber durch Überbietung, wird aus einem Idealbegriff eine simple Handlungsanweisung, die höchst individualisierungsfähig ist. Sieger gelten ab jetzt als ersatzvernünftig, egal was sie tun und wie sie es tun. Das Siegen absorbiert im Nachhinein alle anderen Kategorien, von der Vernunft, der Effizienz, der Fortschrittlichkeit, letztlich bis zur Schönheit. Der Sieger im Überbietungswettkampf bekommt am Ende alle Titel. 36 Günther Ortmann. Als Ob. Fiktionen und Organisationen. VS Verlag für Sozialwissenschaften. 2004. Seite 223 37 Günther Ortmann. Ebd. Seite 231

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Wem dieser Best-Practice-Relativismus bereits bedenklich erscheint, der wird endgültig erschaudern, wenn Ortmann die nächste Steigerung der Ersatzvernunft erläutert, wenn selbst das Überbieten nur noch von Vermutungen getragen wird: „Manager handeln, als ob sie wissen könnten, wie sie Überbietungen erzielen könnten.“38 Es gilt also nicht mehr derjenige als ersatzvernünftig, der alle anderen tatsächlich überboten hat, sondern derjenige, der vorab das beste Überbietungsversprechen zu formulieren weiß. Aus dem Idealbegriff der Vernunft ist zuerst ein Wettbewerb um praktische Wirkung geworden und dann ein Wettbewerb um Werbung, um die bessere Form der Suggestion. Es ist geradezu peinlich einzugestehen, dass Überbietungsversprechungen und Überlegenheitsfantasien die Antriebsbasis jedes Vernunftunternehmens sein sollen. Aber was sonst steht zur Verfügung? Vor der Erkenntnis, dass Vernunft nach oben hin weniger Potenzial hat als nach unten hin, haben schon viele kapituliert.39 Christian Lavagno hat sehr präzise herausgearbeitet, wie Friedrich Nietzsche die ideale Abfolge von Vernunft, normativem Handeln und moralisch-ästhetischer Wertschätzung ins Gegenteil verkehrt, und die moralisch-ästhetische Wertschätzung zum großen ersten Antrieb erklärt. Das klingt als Begriff etwas schöner als Ortmanns Überbietungspragmatismus, aber die Abwertung der Vernunft ist nicht minder eklatant. Ein vermeintliches Vernunftunternehmen muss laut Nietzsche also zuallererst gefallen und wird erst danach mit Argumenten und Vernunftunterstellungen abgesichert.40 Wie bei Ortmann wird theoretische Vernunft dabei zum Gefälligkeitsgutachten abgewertet, das eine ambitionierte Stimmung nachträglich zu legitimieren hat. 38 Günther Ortmann. Ebd. Seite 223 39 „Denn die menschliche Vernunft geht unaufhaltsam, ohne daß bloße Eitelkeit des Vielwissens sie dazu bewegt, durch eigenes Bedürfniß getrieben, bis zu solchen Fragen fort, die durch keinen Erfahrungsgebrauch der Vernunft und daher entlehnte Principien beantwortet werden können; […].“ Immanuel Kant. In: Reinhard Hiltscher. Hrsg. Kant. Die Hauptwerke: Ein Lesebuch. Narr Francke Attempto Verlag. 2016. Seite 23 40 „Um Nietzsches Stellung innerhalb der Moderne einschätzen zu können, ist es hilfreich, auf das triadische Modell von theoretischer Erkenntnis, praktischer Normgebung und ästhetischer Wertschätzung zurückzugreifen, das seit Kant die moderne Philosophie prägt. Ich möchte im Folgenden zeigen, […] dass bei Nietzsche alle drei Momente vorkommen, dass sie aber nicht gleichberechtigt sind, sondern vielmehr von ihm in charakteristischer Weise hierarchisch abgestuft werden. In einem ersten Schritt ordnet er das erkenntnistheoretische Moment dem praktisch-normativen unter. Er versucht zu zeigen, dass es keine Erkenntnis ohne Interesse gibt und dass das Interesse einer Philosophie meist in den moralischen Absichten ihres Urhebers liegt, die folglich als die treibende Kraft anzusehen sind.“ Christian Lavagno. Rekonstruktion der Moderne. Eine Studie zu Habermas und Foucault. LIT Verlag. 2003. Seite 74, 75

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Man muss kein Zyniker sein, um in dieser Formel die Grunddramaturgie der Architekturgeschichte zu lesen. Die Moderne mit ihrem Vernunftpathos macht da keine Ausnahme. Architektur ist auch in der Moderne im idealen Verständnis nicht vernünftig geworden, aber man kann eindeutig praktische Prozessketten einer sich steigernden Überbietung nachweisen. Es wurden Dimensionen, Formen, Theorien, Nachhaltigkeiten, Absurditäten genauso gesteigert wie die Kritik daran. Ebenso nachweisen kann man den suggestiven Charakter von Architekturarbeit. Täglich entwerfen Architekten, als ob sie wüssten, wie man in der Überbietungskultur Wirkung erzielt, und täglich artikulieren sie diese Vermutungen im Voraus ohne Belege. Der zeitgenössische Architekturdiskurs ist ohne diese projektive Ausrichtung gar nicht denkbar. Dass Vernunft dabei nur mehr als atmosphärische Duftnote mitgeführt wird, stört den Betrieb nicht weiter, weil diese Form der suggestiven Vernunftpraxis einen anderen Anspruch hat. Es ist nicht mehr die kleingeistige Vernunft der hinterherrechnenden Theoriebuchhalter, sondern die vorausgaloppierende Vernunft der subjektiven Überzeugung, des reinen Glaubens.41 Das ist zwar der glatte Widerspruch zum einstmaligen Vernunftverständnis, doch die Praxis der Überbietung hat auch damit kein Problem. Welche zeitgenössische Managementtheorie kommt schon ohne das große Wort von der Überzeugungsarbeit aus. Gleichermaßen weiß jeder Investor, dass genau dort, wo die Fakten am dürftigsten sind, die größten Profite zu machen sind. Buy the rumor, sell the fact, heißt es an der Börse. Das klingt nach den dünnsten Ausläufern der Relativierung von Vernunft, bildet aber dennoch die Basis für den nächsten Dimensionssprung innerhalb der Kultur der Überbietung. Die Rede ist von der Avantgarde. Jede neue Bewegung ist eine hochriskante Wette auf eine neue zukünftige Werteordnung, die dann den Avantgardisten selbst den ersten Platz einräumt. Avantgarde bedeutet also, Überbietungsanstrengungen im gegebenen Kontext zu verweigern und stattdessen den gegebenen Kontext insgesamt überbieten zu wollen. Eine Überbietung zweiter Ordnung also: „Ich interessiere mich für jene Dinge, die alle für wahr halten, und versuche, das Gegenteil zu beweisen. […] Mein Vater hatte einen Vorsatz, den ich nie von jemand anders gehört habe. ‚Was machst du, was die Konkurrenz noch nicht tut?‘ 41 „Diese fünf Eigenschaften – Tatsachenkonformität, Widerspruchsfreiheit, Reichweite, Einfachheit und Fruchtbarkeit – sind allesamt geläufige Kriterien für die Beurteilung von Theorien.“ Thomas S. Kuhn. Die Entstehung des Neuen. Suhrkamp Verlag. 1978. Seite 423

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Dahinter steckt eine interessante Überlegung. Sie impliziert, dass man immer einen Schritt voraus sein muss. Das ist anregend.“42 Mit diesem Sprung in die Überbietung zweiter Ordnung wird gleichzeitig die Begriffsgrenze erklärt, die konservatives Arbeiten von progressivem Arbeiten unterscheidet. Konservative arbeiten innerhalb der gegebenen Überbietungsregeln, Progressive behaupten zuallererst ein neues Regelsystem. In einer sehr sympathischen Rückschau auf seine frühen Jahre als Architekt erzählt Harry Seidler von so einer Überbietung zweiter Ordnung. Er war von Amerika etwas widerwillig nach Australien gekommen, um für seine Mutter ein Haus zu bauen, das gleichzeitig sein erster selbstständiger Auftrag sein sollte.43 Sympathisch ist seine Rückschau deswegen, weil er es schafft, ein äußerst robustes Überbietungserlebnis zweiter Ordnung so unschuldig aussehen zu lassen. Die Überlegenheit seiner modernen Architektur wäre eher unerwartet passiert, obwohl sie ihn letztlich zum wichtigsten Architekten der Moderne in Australien machen sollte: „Die haben alle so europäisch verboxte kleine Häuser gehabt. Die haben das noch nie gesehen, dass man Glaswände hat und Türen aufmacht und in den Garten hineingehen kann. Und die wollten einfach so was haben, weil die Landschaft, das Klima ist ja sehr offen. Das war nicht Überzeugung in ästhetischer Hinsicht.“44 Man darf diesen Impuls durchaus vom individuell Anekdotischen ins Architekturgeschichtliche hochrechnen. In der Architektur ist eine Ära exakt dann zu Ende, wenn sich in der Disziplin die Einsicht breitmacht, dass die besten Projekte nicht mehr überbietbar sind. Gerade die engagierten, oft jungen Akteure investieren ihre Energie dann lieber in einen Neuanfang, denn dort ist der Wirkungshebel größer. Es wird also nicht endlos wiederholt, nur weil sich etwas bewährt hat, es findet keine schonungslose Qualitätsreflexion statt, die dann ausschlaggebend für eine Neuorientierung wäre, es werden auch keine neuen Affekte in alt gewordene Architekturmotive investiert. Die zentrale Dramaturgie ist viel banaler. Es läuft eine Überbietung erster Ordnung, solange die gegebenen Leistungsparameter noch nicht ausgereizt sind. Wenn sich aber eine Qualitätssättigung einstellt, folgt verlässlich eine Überbietung zweiter Ordnung. Eine konservative Ära wird jeweils von einer progressiven 42 Ken Fisher. In: Claude Baumann, Ken Fisher. „Ich erwarte ein weiteres Superjahr“. http://www. weltwoche.ch. 02.04.2008 43 Rose Seidler House. 1948 44 Harry Seidler. In. Maria Welzig, Gerhard Steixner. Die Architektur und ich. Böhlau Verlag. 2003. Seite 91

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Ära abgelöst. Thomas Kuhn deutet für die Wissenschaftsgeschichte einen ähnlichen Ablauf an. Ein neues Paradigma kann erst dann etabliert werden, wenn dadurch ein neues Rennen um Problemlösungen eröffnet wird: „Ihre Leistung war neuartig genug, um eine beständige Gruppe von Anhängern anzuziehen, die ihre Wissenschaft bisher auf andere Art betrieben hatten, und gleichzeitig war sie noch offen genug, um der neuen Gruppe von Fachleuten alle möglichen ungelösten Probleme zu stellen. Leistungen mit diesen beiden Merkmalen werde ich von nun an als ‚Paradigmata‘ bezeichnen“.45 Trotz dieser systemischen Ähnlichkeit der Überbietungszyklen kennen die Architektur und die künstlerisch-kreativen Disziplinen eine zusätzliche taktische Variante: eine Überbietung durch Unterbietung. Avantgarde ist sogar meistens eine Überbietung durch Unterbietung. Wie sollte für die jungen Akteure einer Avantgarde die Überbietung der etablierten Profis und deren Leistungsniveaus sonst möglich sein? Der erste Schritt der Avantgarde besteht also immer darin, die Kompetenz der etablierten Akteure durch Verweigerung abzuwerten – wobei der Grund für die Abwertung natürlich schöngeredet werden muss: „Wenn es nicht um Ironie ging – was war die Kernidee von Trio? Behrens: Reduzierung. Als wir die Band Ende der siebziger Jahre gründeten, wurde im Rock ‚n‘ Roll alles immer gigantischer: größere Anlagen, größere Lightshows, größere Verstärkerwände. Wir wollten zurück zu den Wurzeln. Außerdem konnten wir uns das ganze Zeug auch gar nicht leisten.“46 Zurück zu den Wurzeln, zu Reduzierung, Verbilligung, schöpferischer Zerstörung etc. – egal wie man es semantisch fasst –, erst nach der umfassenden Abwertung des Bestehenden kann wieder sukzessive Kompetenz neu aufgebaut werden. Das hat die Moderne mit der Absage an die ornamentale Kompetenz des Eklektizismus genauso praktiziert, wie die Postmoderne die perfekte Eleganz des International Style schlagartig abgewertet hat. Heute sieht man, wie mit der gleichen Absicht dekonstruktive Raumdramaturgien oder hightechinspirierte Detailkonstruktionen abgewertet werden. Zaha Hadid, Norman Foster, Santiago Calatrava etc. sind innerhalb ihrer jeweiligen Wertmaßstäbe schlichtweg nicht überbietbar. Nur durch Abwertung entsteht wieder Platz für ein offenes Rennen. In solchen Wertumbrüchen bestätigt sich die sozialistische Grundrechnungsart, wonach die Verlierer immer in der Mehrheit sind, 45 Thomas S. Kuhn. Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. Suhrkamp Verlag. 1976. Seite 25 46 Peter Behrens. In: Danny Kringiel, Peter Behrens. „Gefeiert, gesoffen, den Luxus genossen“. https://www.spiegel.de/geschichte/30-jahre-da-da-da-a-949474.html. 18.01.2012

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und die Verlierermehrheit daher die Regeln bestimmt – vorausgesetzt, sie erkennt sich als solche und organisiert sich. Die Sieger bekommen dann ihren Status mehr oder weniger zynisch ausgezahlt, und das Rennen wird wieder auf Start gestellt. Diese Abwertungen sind nicht immer elegant oder widerstandsfrei, aber sie müssen exekutiert werden, weil ohne ein offenes Rennen die grundlegende Motivation der Kultur der Überbietung zerstört wird. Darf man dann die Wertmaßstäbe insgesamt umkehren und sogar die Kultur der Überbietung zerstörerisch finden? Ja, durchaus. Die größte Schwachstelle der Kultur der Überbietung ist nämlich die systemisch garantierte Sympathie für den Täter. Nicht für jede Tat, aber dennoch für den Typ Täter. Ohne Täter läuft nichts – oder wie Goethe seinen Faust deklinieren lässt: „Im Anfang war die Tat!“47 Damit sind die Einzelsieger im Kompetenzrennen genauso gemeint wie die nachträglichen Verliererkollektive, die dann den nächsten Werteumbruch durchsetzen. Wer gerade tut, hat immer den Vortritt. Systemisch völlig unbrauchbar in einer Kultur der Überbietung sind hingegen die Nicht-Täter. Damit wird aber der Beitrag von Personen, die Ausgleich, Verzicht, Rücksichtnahme, Zurückhaltung etc. praktizieren, vom Unternehmen der Moderne verdrängt. Es gibt keinen Überbietungswettbewerb der Nicht-Täter beim Nicht-Tun – dabei wäre gerade die Nicht-Tat bei vielen Gelegenheiten die vernünftigste Handlung. Wenn man diese Überbietungslogik nun auf die Suburb in Los Angeles anwendet, stößt man allerdings auf eine überraschende Ungereimtheit. Das architektonische Repertoire der Suburb ist bis heute in keinerlei Weise spekulativ oder avantgardistisch, da fällt keine Überbietung ins Auge, weder erster noch zweiter Ordnung. Eigentlich erstaunlich. Es wird zwar ein kollektives Es-ist-nicht-genug praktiziert, die Häuser werden immer größer, geräumiger, komfortabler, technisch und raumatmosphärisch permanent neu ausstaffiert, aber die Architektur selbst ist völlig unambitioniert – wie auch Paul Adamson feststellt: „However, the 47 „Geschrieben steht: Im Anfang war der Sinn. Bedenke wohl die erste Zeile, Daß deine Feder sich nicht übereile! Ist es der Sinn, der alles wirkt und schafft? Es sollte stehn: Im Anfang war die Kraft! Doch, auch indem ich dieses niederschreibe, Schon warnt mich was, daß ich dabei nicht bleibe. Mir hilft der Geist! Auf einmal seh ich Rat Und schreibe getrost: Im Anfang war die Tat!“ Johann Wolfgang von Goethe. Faust. In: Goethe’s Werke: Erster [Zwanzigster] Band, Band 9. J. G. Cotta’schen Verlagsbuchhandlung. 1817. Seite 63

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mass-produced home itself, while still affordable to many, remains stubbornly resistant to design innovations.“48 Architektur wäre durchaus in der Lage, auch am suburbanen Haus Designinnovation zu leisten, doch die architektonischen Extravaganzen finden sich typischerweise nicht in der Suburb. Nirgendwo ist Architektur so generisch, unriskant und uninnovativ wie dort. Joseph Leopold Eichler, dem Gründer von Eichler Homes, war das bereits sehr früh aufgefallen, und er hat darin einen Nischenmarkt erkannt und beliefert. Aber trotz derartiger Nischenanbieter hat sich die architektonische Banalität der Suburb-Architektur bis heute nicht geändert. Wie kann man diesen Widerspruch zur Kultur der Überbietung auflösen? Die Logik der Massenproduktion macht schnelle, reaktive Innovation unmöglich – wäre die prompte Antwort. Aber ist das böse Beharren der Multiplikationsmaschinen bereits die beste Erklärung? Architekten machen den Fehler, architektonische Ambition immer nur innerhalb des Architektonischen zu suchen und zu sehen. Die Architektur in der Suburb verfolgt aber keinen architektonischen Selbstzweck, sondern ist in einen wirtschaftlichen Überbietungswettkampf eingespannt. Die Härte dieses Satzes wird vor allem aus europäischer SozialwohnbauPerspektive gern unterschätzt. In Amerika aber ist Wettbewerb und Zwang zum Wettbewerb allgegenwärtig. Überall wird über die eigentliche Geschäftigkeit hinaus ein Geschäft zweiter Ordnung angestrebt. Hier kauft man nicht bloß ein, sondern versucht einen Deal zu machen. Hier arbeitet man nicht, sondern macht Business. Hier wohnt man nicht, sondern erwirbt ein Haus mit der Absicht, es bald wieder mit Gewinn zu veräußern. In Los Angeles kommt hinzu, dass der Immobilienmarkt der größte Wirtschaftszweig der Region ist, und daher trotz professioneller Freundlichkeit mehr einem Kampfraum gleicht als einem akademischen Diskursclub. Privater Hausbesitz ist in Amerika ein existenzieller IchAG-Faktor, der weit über das reine Wohnbedürfnis hinausreicht. Entsprechend business-minded wird er angelegt und abgewickelt.49 Das Platzen der Immobilienblase 2008 hat dazu einige aufschlussreiche Details 48 Paul Adamson. Eichler. Modernism Rebuilds the American Dream. Gibbs Smith. 2002. Seite 16 49 „Heute reagieren die gated communities eher auf diesen Wunsch nach Werterhalt des Eigentums, als dass sie mit ihren Toren und Mauern vor Kriminalität schützen. Sie erstellen dazu ein absolut verbindliches Regelwerk – CC&Rs (Covenants, Conditions and Restrictions) – welches das Aussehen, die Erscheinung und somit auch das Leben in den Anlagen organisieren.“ Ines Schaber, Jörg Stollmann. „Grenzwanderungen“. In: Akademie der Künste. Hrsg. Topos Raum. Die Aktualität des Raumes in den Künsten der Gegenwart. Verlag für moderne Kunst Nürnberg. 2004. Seite 148

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offengelegt. Erst am Wertverlust der Immobilie, konkret am niedrigeren Verkaufserlös, wird die gesamte Biografie einer Wohngegend abgerechnet. Erst am Verkaufstag wird städtebaulicher und architektonischer Erfolg oder Misserfolg bewertet. Architektur ist in so einem Kontext aber nicht überflüssig oder nebensächlich – ganz im Gegenteil. Die Architektur hat sogar eine sehr konkrete Überbietung zu leisten: Sie muss sich selbst überbieten, sprich eine monetäre Wertsteigerung nachweisen. Der Auftrag an den Architekten lautet: Bau ein Haus, ein urbanes Umfeld, eine Suburb, ein Ambiente, das ab sofort den Weg einer verlässlichen Wertsteigerung beschreitet. Egal, zu welchem Zeitpunkt das Haus in der Zukunft geschätzt, mit Hypotheken belastet oder gänzlich verkauft werden wird, der rein monetäre Wert muss jedes Mal deutlich höher sein. Wer einmal Gelegenheit hatte, mit Vertretern der amerikanischen Mittelschicht über das Thema Wohnen zu sprechen, weiß, mit welcher Alarmbereitschaft diese Wertsteigerungserwartung den Alltag begleitet. In dieser Rechnung kann architektonische Originalität dennoch vorkommen, sie hat aber einen schweren Stand. Avantgardistische Architektur ist auf maximale Wirkung im aktuellen kulturellen Kontext ausgelegt und akzeptiert den darauffolgenden Wertverlust, wenn sich Presse und Fachpublikum sattgesehen haben und zum nächsten Aufreger weiterziehen. Oft will man bestimmte Projekte gar nicht mehr sehen, weil sie bereits zu Tode publiziert und doziert wurden. Die zurückgelassene Architektur bleibt dann auf ihrem Wertverlust sitzen. Jahrzehnte später hilft manchmal ein Revival aus dem Schattendasein, aber darauf zu spekulieren, ist riskant und viel zu langfristig. Für den typischen Suburb-Hausbesitzer ist Avantgarde deshalb eine horrible Vorstellung. Was natürlich auf Gegenseitigkeit beruht. Die Architekturbranche registriert genauso aufgeregt das Schicksal ihrer Preziosen, wenn diese in den Sog der Wertsteigerungspflicht geraten. Gerade in Los Angeles hat man oft genug mitansehen müssen, wie herausragende Architekturen der Moderne, von Rudolph Schindler, Richard Neutra, Paul Rudolph, Irving Gill etc., in diesem monetären Kampfraum unterlegen sind und abgebrochen wurden. Die viel sicherere Strategie der Wertseigerung besteht folglich darin, vorausschauend für den Geschmack des nächsten Hauskäufers zu bauen. Und weil die spezifischen Vorlieben des nächsten Käufers unbekannt sind, wird die Vorausschau iterativ weitergereicht, denn der nächste Käufer 301

erwirbt das Anwesen ja wieder nur mit der Absicht, an den übernächsten Kunden weiterzuverkaufen. Es gibt also kein konkretes Geschmacksprofil, auf das man die Architektur zuschneiden könnte, sondern man setzt in der Planung auf populäre und langlebige Klassiker. Solche Klassiker sind die stabilste Geschmacksrichtlinie, die zur Verfügung steht. Ergebnis ist die bereits erwähnte provinzielle Retrooptik. Für die Architektur als Disziplin bedeutet das, auf ein sehr schmales Spektrum ihrer Kompetenz reduziert zu werden. Das muss nicht jedem gefallen. Dennoch ist es gleichzeitig eine Verlockung, den akademischen Architekturblick aufzugeben und im übergeordneten kapitalistischen Überbietungswettrennen mitzumachen. Wenn man als Architekt in den gesamtwirtschaftlichen Erfolg eines Projekts eingebunden ist, erscheint die Beschäftigung mit neuen architektonischen Formen, Stilen, avantgardistischen Pilotprojekten ohnehin geradezu kleingeistig. Der Mangel an fachlicher Spannung wird also mehr als kompensiert durch existenzielle Wichtigkeit. Zur Belohnung lässt die Mitarbeit an der großen kapitalistischen Überbietung auch den Aufstieg in die Sphäre der Anmaßung und des Größenwahns offen. Dabei sind Amplituden der Aufgeregtheit zu erleben, die eine rein akademische Architekturdebatte nicht zu bieten hat. Der massive Crash am amerikanischen Immobilienmarkt 2008 hat sich im Wesentlichen in den Suburbs abgespielt. Selten zuvor sind derartige Massen an Architektur in die Landschaft gesetzt worden, nur auf Basis von gigantischen monetären Überbietungssuggestionen. Die Kollateralschäden waren entsprechend dramatisch, aber langweilig ist dabei niemandem geworden, auch nicht den Architekten und Developern. Dass sich nach dem Crash die große Bescheidenheit breitgemacht hätte, kann nicht bestätigt werden. Das war systemisch auch nicht zu erwarten – eher das Gegenteil. Denn nach der großen Abwertung ist wieder Luft nach oben und es drängt die Frage: Was ist die nächste große Überbietung in der Suburb?

Souverän sortiert Angesichts der Dimension und systemischen Dominanz der Suburb ist die nächste Überbietung keine kleine Aufgabe. Besonders energische Überbietungsanstrengungen unternimmt die Gated Community. Eine Stadttypologie, die so rasch wächst, dass sie mittlerweile definitionsgebend 302

ist für das progressive Verständnis von Suburbia. In akademischen Debatten werden Gated Communities gern als Angststädtebau qualifiziert, eben weil sich Stadt plötzlich hinter Gittern und Wachposten verbirgt. In Los Angeles wird das Thema ebenfalls hitzig diskutiert, allerdings entlang der Frage, in welcher Gated Community die meisten Prominenten oder Superreichen wohnen. Die einen reden also von Gefängnis, Rassentrennung und Crime-Paranoia, die anderen von Mega Mansion, Homestory und Infinity Pool. Die einen publizieren Analysen und Kommentare besorgter Soziologen, die anderen Livestyle-Bilder von Beverly Park, Malibu Colony und Emerald Bay. Wer mehr Aufmerksamkeit bekommt, kann man leicht erraten. Damit steht man vor einer generellen Frage: Wie löst man ein Problem, das gar keines ist? Man muss das so deutlich zuspitzen. Selten wird ein städtebauliches, raumorganisatorisches, soziopolitisches Thema von Experten so explizit als Problem erkannt, und gleichzeitig von der Alltagsbevölkerung so gelassen hingenommen. Das liegt zuallererst an der völlig unterschiedlichen Zuordnung. Für die Bevölkerung ist die Gated Community nicht das Problem, sondern die Lösung. Kaum einer bezeichnet diese Lösung als ideal, aber mindestens als pragmatisch, machbar, naheliegend. Als Problem werden hingegen die Umstände gesehen, die immer mehr Menschen veranlassen, in eine Gated Community zu ziehen. Der erste Schritt einer Konsolidierung der Debatte wäre die Konzentration auf die große Dimension. Wenn die Gated Community problembeladen wäre, dann müsste das an den großen Anlagen deutlicher sichtbar sein. Außerdem haben nur die großen Anlagen eine ausdifferenzierte Hermetik entwickelt, die als Systemhintergrund verantwortlich gemacht werden kann. Die kleinen Anlagen hingegen wirken eher wie erweiterte Wohngemeinschaften der Geldelite und sind wohl wenig repräsentativ. Beverly Park beispielsweise besteht aus nicht mehr als 80 Häusern, Malibu Colony aus nicht viel mehr als 100. Das kann immer noch Probleme verursachen, die aber nicht zwingend systemisch erklärt werden können. Die Gated Communities mit hohen Bewohnerzahlen operieren hingegen in Größenordnungen, die nur noch als systemabhängig zu beschreiben sind. Zentral gelegen sind das zum Beispiel City of Rolling Hills auf Palos Verdes mit 1900 Einwohnern;50 City of Hidden Hills im 50 http://www.rolling-hills.org/. 22.04.2019

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Südwesten des San Fernando Valleys mit 2000 Einwohnern;51 und Leisure World Seal Beach mit 9000 Einwohnern.52 Im erweiterten Stadtbereich werden die Gated Communities zahlreicher und tendenziell noch größer. City of Canyon Lake im Riverside County zählt bereits 11.000 Einwohner.53 Die Region mit den meisten Anlagen ist schließlich South Orange County, bekannt vor allem für Laguna Woods Village mit 14.000 Bewohnern,54 und Coto de Caza mit 15.000 Einwohnern.55 Zum Vergleich ist es erhellend anzumerken, dass die Kleinstaaten Lichtenstein und Monaco jeweils nur circa 38.000 Einwohner haben. Große Gated Communities können also in mehreren Organisationskategorien gesehen werden: als sehr große Nachbarschaft oder als sehr kleiner Staat im Staat. Das Selbstverständnis dieser Anlagen oszilliert ebenfalls zwischen diesen beiden Extremen. Umso überraschender ist allerdings, dass die Kritiker auch diese großen Anlagen an der falschen Stelle zu widerlegen versuchen. Der Film United Gates of America zeigt das exemplarisch.56 Der Reporter Charlie LeDuff bezieht ein Haus in Canyon Lake und macht sich dort auf die Suche nach dem Schrecklichen. Und was findet er? Ein Jugendlicher wird vorgeführt, der vielleicht zu oft einen Joint raucht und beim Eignungstest für die Aufnahme bei den US-Marines kläglich versagt. Aber immerhin kann er vorführen, wie man durch ein Loch im Zaun in die Gated Community schlüpft. Eine Frau wiederum gesteht, dass sie vielleicht zu oft die Boyfriends gewechselt hat, gefolgt von den erwartbaren Turbulenzen. Sie kann sich nicht entscheiden, ob sie stolz darauf sein soll oder am Boden zerstört. Sie versucht beides.57 Eine House Party unter Erwachsenen wird noch besucht. Es fließt reichlich Alkohol, dabei wird das Thema Hautfarbe in der Gated Community lautstark diskutiert, wobei nicht klar wird, ob die Lautstärke mit dem Alkohol oder mit dem Thema zu tun hat. Die Diskutanten sind europäischer, asiatischer und afrikanischer Abstammung, aber alle gleich betrunken. Sie scheinen sich zu mögen. Darüber hinaus wird in dem Dokumentarfilm noch investigativ 51 https://hiddenhillscity.org/. 22.04.2019 52 https://www.lwsb.com/. 22.04.2019 53 http://www.cityofcanyonlake.org/. 22.04.2019 54 http://www.lagunawoodsvillage.com. 22.04.2019 55 http://community.dwellinglive.com/czmaster.aspx. 22.04.2019 56 Alex Cooke. United Gates of America. 2006 57 „In Canyon Lake there’s two things to do, three things. You can have an orgy, you can gossip, and you can drink.“ Brianna Whitehall. In: Alex Cooke. United Gates of America. 2006

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herausgefunden, dass es in Canyon Lake sehr wohl Kriminalität gibt und sich nicht alle an alle Regeln halten. Die kritische Frage lautet nun: Ist in dieser Auflistung von Suburb-Szenen irgendein Skandal, irgendeine kategorische Verfehlung, irgendein tragfähiges Argument gegen die Idee der Gated Communities enthalten? Dass sich bei 11.000 Bewohnern zwangsläufig gesellschaftliche Normalität einstellt, inklusive aller alltäglichen Verfehlungen, weiß man in Canyon Lake schon lange und das sollt auch niemanden wundern.58 Derartige Kritikversuche sind aber nicht nur realitätsfremd, sondern sogar kontraproduktiv, weil sie eine falsche Kritikbasis legen. Das Problem der Gated Community besteht nämlich nicht darin, dass sie nicht funktioniert, sondern gerade darin, dass sie sehr wohl funktioniert. Das verhält sich ähnlich wie mit der Phrase, wonach Gewalt keine Lösung sei. Gewalt ist sehr wohl eine Lösung, sogar eine sehr effiziente. Wenn nicht, wäre Gewalt längst aus dem evolutionären Handlungsrepertoire des Menschen verschwunden. Mit der zweifellos strukturellen Gewalttätigkeit der Gated Communities verhält es sich analog. Gerade der höchst zwanghafte und deterministische Anteil an der Gated Community produziert die offensichtlichsten Qualitäten. Rolling Hills auf Palos Verdes zum Beispiel ist schlichtweg ein Paradies. Viele Häuser haben Pferdekoppeln angeschlossen, die bebauten Flächen sind von reichlich freier Landschaft umgeben, großzügig durchzogen von Reitwegen. Eine riesige, reitende Community. Dazu die Hügellage mit Aussicht über Los Angeles und das Meer, im Süden romantische Buchten, wenig überlaufene Sandstrände, und die besten Wellen zum Surfen. Coto de Caza bietet ein ähnlich hochklassiges Ambiente, lediglich mehr Golf und weniger Pferde. Canyon Lake wiederum verlässt sich nicht ausschließlich auf die Wirkung vor Ort, sondern bewirbt sich lautstark mit dem Untertitel A Bit of Paradise. Das ist wie jede Standortwerbung professionell übertrieben, aber vom krassen Gegenteil zu berichten, wäre falsch. Die großen Gated Communities bieten also tatsächlich etwas, das sich alle wünschen – sich

58 „However, Canyon Lake is maturing, and Mayor Gee knows it has the same problems as any aging suburban area – rising crime, youth delinquency, increasing demands for senior-citizen and other social services. The city has had four murders over the years and has about the same burglary rate as any middle-class suburb in Orange or Riverside County. Graffiti is a growing problem.“ Edward J. Blakely, Mary Gail Snyder. Fortress America. Gated Communities in the United States. Brookings Institution Press. Lincoln Institute of Land Policy. 1999. Seite 67

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aber nur wenige leisten können. Aber gerade die Unerreichbarkeit ist die beste Werbung, denn sie macht die Gated Community zum Sehnsuchtshorizont der breiten Bevölkerung. Liegt darin also die Überbietung? Ist es in der Gated Community schlichtweg schöner als in der offenen Suburb? Das könnte tendenziell tatsächlich stimmen, aber die Überbietungsleistung ist noch wesentlich kategorischer. Um das zu erkennen, muss man den Blick auf eine weniger schöne, dafür umso signifikantere Gated Community richten: Leisure World Seal Beach. Gegründet als Retirement Community für Bewohner ab einem Alter von 55 Jahren, versucht die Anlage mit zahlreichen Freizeit- und Serviceangeboten Clubatmosphäre zu erzeugen. Leisure World ist damit erfolgreicher als viele Altersheime, und dennoch dicht und monoton verbaut, eine flache Geografie ohne Aussicht. Im Süden von Los Angeles im Stadtgebiet gelegen, ist Leisure World außerdem städtebaulich umzingelt von einer Autobahn, einem Kraftwerk und einem militärischen Sperrgebiet. Umso mehr verwundert, dass gerade mit dieser städtebaulichen Sackgassensituation geworben wird: „You can be assured, that because the electric power plant and naval weapons station and leisure world itself have created a landlocked effect, the area will maintain a no growth status for the years to come. You can live in Leisure World knowing that things won’t change tomorrow.“59 Dieser Satz aus einem Werbevideo von Leisure World aus dem Jahr 1999 kann als Highlight des Standortmarketings bezeichnet werden. Man bewirbt ein Wohngebiet mit der unverrückbaren Nachbarschaft zu einem riesigen Gaskraftwerk (Haynes Generating Station) und einem noch riesigeren Munitions- und Waffendepot (Naval Weapons Station Seal Beach). Manch einer würde das eher als fürchterliche Lage bezeichnen und auf rettende Veränderung hoffen. Nicht so in der Welt der Gated Communities. Denn in diesem Statement wird deren Hauptaufgabe bekräftigt: Absolute Stabilisierung der eingerichteten Verhältnisse, also die Absicherung von Besitzverhältnissen und Wohlstandserwartungen. Alles andere ist zweitrangig. Während in der offenen Suburb durch unkontrollierten Zuzug oder durch veränderte Nachbarschaften noch eine gewisse Volatilität herrscht, ist in der Gated Community alles festgelegt. Diese Stabilisierungsmanie erkennt man vor allem an der systemischen Ausdifferenzierung der Stabilisierungsregeln, die alle den 59 Leisure World Seal Beach Sales Video. Leisure World Historical Society. Seal Beach. CA. 1999

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gleichen tautologischen Kurzschluss verfolgen: Die Immobilie und ihr Kontext werden tatsächlich immobilisiert. Die schizophrene Doppelidentität der Suburb, nämlich das Beharren auf einem städtebaulichen Prinzip bei gleichzeitigem Mobilsein in den alltäglichen Umständen, wird von der Gated Community aufgekündigt. Ab jetzt herrscht maximal konservativer Design-Freeze. Es darf keinen Raum für spekulative Ideen geben, keinen wertneutralen Raum, in dem Neues stimuliert werden könnte. An Raum für spontane Alternativen ist überhaupt nicht zu denken. Keine unliebsamen Besucher, keine unerwarteten Handlungen, auch optisch kein Verfall, kein Verschleiß, generell kein Passieren. Stattdessen wird ein Suburb-Schema installiert, das auch das alltägliche Mobilsein erheblich einschränkt oder gänzlich aus dem Gefüge herausnimmt. Das beginnt ganz banal mit der Verkehrsberuhigung, es werden einfach Straßen abgesperrt und Durchzug verhindert. Bei Neuplanungen wird ein derartiger Durchzugsraster gar nicht erst zugelassen, statt langen Geraden wird ein Gewirr an Schleifen angelegt, das auffällig oft in demonstrative Sackgassen mündet. Die zentrale Stabilisierungsstrategie der Gated Communities liegt aber in den sogenannten Covenants, Conditions & Restrictions, kurz CC&Rs. Das ist ein privates, communityspezifisches Regelwerk, das die Strategie der Immobilisierung in ein optisches Erscheinungsbild übersetzt. Von der Farbvorgabe für die Frontfassade bis zur Aufenthaltsdauer von Gästen reichen die Anweisungen. Sogar das Mindestalter von Bewohnern kann Teil der Gestaltungsregeln sein. Die formale Vorgabe umfasst also auch die Gestaltung von Gesellschaft. Mancher Kritiker bemerkt, dass über den Umweg der Erscheinungsbildkontrolle indirekt Handlungen angeordnet oder verboten werden.60 Das ist zu mysteriös gedacht, denn die CC&Rs haben keine Hemmungen, auch sehr direkt Handlungsanweisungen auszusprechen, vom verpflichtenden Rasenmähen bis hin zum Verbot, das Auto in der Garageneinfahrt zu reparieren. Zur Immobilisierung der eingerichteten Verhältnisse kommt noch eine Immobilisierung der Tiefenstruktur der Gated Communities hinzu. Die meisten Regeln, Aufforderungen, Angebote, Einladungen etc. haben 60 „Die CC&Rs beschreiben und verbannen eher Gegenstände aus dem Blickfeld, als dass sie unmittelbar Handlungen verbieten, jedoch sind die meisten ästhetischen Vorgaben durch das Verbot eines nicht erwünschten Verhaltens oder eines nicht geduldeten Lebensstils motiviert.“ Ines Schaber, Jörg Stollmann. „Grenzwanderungen“. In: Akademie der Künste. Hrsg. Topos Raum. Die Aktualität des Raumes in den Künsten der Gegenwart. Verlag für moderne Kunst Nürnberg. 2004. Seite 148

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immer dieselbe Tendenz: die Bewohner nach Gleichheit zu sortieren. Pensionisten nach Leisure World, Pferdeliebhaber nach Rolling Hills, Milliardäre nach Beverly Park, Prominente nach Hidden Hills. Keine Gehwege neben der Straße, denn man läuft nicht einfach herum oder begegnet sich zufällig. Man trifft sich gezielt, weil man die gleichen Interessen, die gleiche Religion, die gleiche Partei, die gleiche Lebens planung teilt. Wobei es nicht um die Intensivierung der jeweiligen Eigenheiten geht, sondern um die nachhaltigste Form der Immobilisierung. Man stellt möglichst spannungsfreie Konstellationen her. Das ist wie in der Physik. Ohne Gefälle, ohne Differenz, ohne Gegensatz kann es auch in Zukunft keine Bewegung geben. Jean Baudrillard nennt solche Konstellationen obszön und auch er erkennt darin Endzustände.61 Die gesamte Bewohnerschaft ist in einen sozialen Entropiezustand einsortiert, der aus sich selbst heraus keine progressive Entwicklung mehr erzeugen kann. Damit fällt der Gated Community auch für die Zukunft eine unerwartete Sonderstellung in der Architekturdebatte zu. Am Abend der Postmoderne, nachdem sämtliche Erregungen bereits durchdekliniert und zigfach variiert worden sind, ist die Gated Community eine letzte, stabile Provokation. Eine Provokation, die als verräterischer Auftrag formuliert wird: Um den Wiederverkaufswert ihrer Häuser zu erhalten, verlangen Millionen von Menschen, dass die Architekten ihren Moderneauftrag absichtlich ins Gegenteil verkehren. Architekten in der Gated Community sollen ja kein neues, progressives Architekturambiente herstellen. Es muss stattdessen alles so perfekt langweilig gehalten werden wie bisher. Damit hat die Gated Community auch noch perfekte Endzeitstimmung in der Architekturbranche produziert, denn einen selbstzerstörerischen Auftrag an moderne Architektur kann es nicht geben – aber er ist ernst gemeint. Blickt man zwischendurch auf, wird man fragen, ob das noch die richtige argumentative Spur auf der Suche nach der großen Überbietungsleistung der Gated Community ist. Ja, die Richtung stimmt, und sie inkludiert ausdrücklich die Erkenntnis, dass hier nicht nur für die Architektur, sondern auch für die zeitgenössische Stadttheorie das destruktive Ende erreicht ist. Wenn jede Diversität eliminiert wird, kann 61 „Man spricht von Obszönität, wenn Gleiches sich mit Gleichem vereint. Es gibt nichts Obszöneres als diese Überdosis des Selben, als die absolute Evidenz des Selben in seiner Verdoppelung. […] Das Obszöne ist das Ende jeglicher Szene.“ Jean Baudrillard. „Die Szene und das Obszöne“. In: Dietmar Kamper, Christoph Wulf. Hrsg. Das Schwinden der Sinne. Suhrkamp Verlag. 1984. Seite 287, 291

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kein städtisches Leben entstehen. Wenn Individualität wie ein Befall von Ungeziefer behandelt wird, konvergiert die Gated Community zu einem einzigen Stadtverbot. Damit wäre man mitten in der klassischen akademischen Beschwerdeformel angelangt, die immer den gleichen klischeehaften Streit variiert. Gemeint ist das Gegenüber von regulierter Stadt und freiheitslieben dem Bewohner, der sich als Individuum in einem hermetischen Regelraum nicht mehr wiederfindet und daher in natürlicher Gegnerschaft dazu aufgestellt ist. Die unterdrückende Stadt gegen das wahre Leben – wäre eine noch romantischere Formulierung. Dieser Konflikt bestimmt auch die Gated Community, aber unter überraschend umgekehrten Vorzeichen. Man darf nicht den Fehler machen, die Bewohner der Gated Communities als Verzichts- oder Opfergesellschaft misszudeuten. In der Gated Community wohnen die gehobene Mittelschicht und die Oberschicht, die sich dort mit viel Geld und Hoffnung freiwillig hineingekauft haben. Es ist folglich genauso falsch, die Regelhaftigkeit in der Gated Community als Unterdrückungsregime darzustellen, wie das in vielen Besprechungen der Fall ist. Die Regeln und das regelkonforme Verhalten in der Gated Community werden aktiv gewollt und eingesetzt, nicht in jedem Paragrafen, aber als Tendenz unbedingt, denn genau darauf basieren der kommerzielle Erfolg und der enorme Zuwachs an Gated Communities. Das wirft die bisherigen sozialen Axiome über Städtebau erheblich durcheinander. Es herrscht unter Urbanisten die Vermutung, alle Menschen wären geborene Situationisten, die nur durch böse Obrigkeiten zu regelkonformem Verhalten gezwungen werden. Diese Einschätzung kann man insgesamt revidieren. In der Gated Community findet eine groß angelegte Demonstration gegen situationistischen Städtebau statt. Kein Derive, kein Enable, kein spontanes Handeln und Aneignen, hier soll nicht einmal der Alltag sichtbar werden. In der Gated Community erlebt man den populären Aufstand gegen den ereignisoffenen Stadtraum, den Architekten eigentlich als das ideale Stadtmodell anpreisen. Speziell für engagierte Architekten muss es daher eine massive Kränkung darstellen, dass ausgerechnet jene Kundschaft, die Geld und Sinn für Architektur hat, mit diesem Potenzial stadtzerstörerische Agenden verfolgt und autoaggressive Verbotsarchitekturen bestellt. Raymond Ruyer würde wohl von einem endgültig stumpf gewordenen Bewusstsein sprechen, und 309

damit aus der Kränkung einen Vorwurf machen.62 Doch so leicht kann man derart massive Tendenzen nicht wegkritisieren. Wenn es falsch ist, die Bewohner der Gated Community als unterdrückt darzustellen, dann ist es ebenso falsch, sie zu entmündigen und ihr Handeln als irrelevant abzutun. Vielmehr muss man eine unangenehme Frage stellen: Warum sind überregulierte Stadträume für einen ernstzunehmenden Teil der Bevölkerung so attraktiv? Liegt diese Attraktivität nur in der Stabilisierung des Immobilienwerts oder kommen noch tiefere Motive hinzu? Zuallererst sollte man eine langjährige Konditionierung eingestehen. Über das ästhetische Ergebnis der umfassenden Regulierung in der Gated Community kann man geteilter Meinung sein, aber sichtbar ist dennoch, dass sie ein projektives Werk erzeugt. Damit wird eine brisante Wahrnehmung trainiert: Eine Gesellschaft, die sich strikten Regeln unterwirft, wird dafür mit Werk-Autorenschaft und Werk-Verantwortung belohnt. Eine Gesellschaft, die ihre Stadt formt, formt sich also gleichzeitig selbst. Schon Joseph Beuys hat in Kassel klargestellt, dass seine Bäume nicht nur stadtgärtnerisch intendiert sind, sondern als Symbol für eine neue Gesellschaftsordnung stehen.63 Man muss also der architektonischen Form generell mehr als nur formale Motive unterstellen. Worin die Steigerung dieser nur formalen Motive besteht, wird in der Organisations theorie zum Begriff des Standards angedeutet. Niklas Luhmann nennt Standards Unsicherheitsabsorber. Die gesamte Unsicherheit ein Produkt betreffend, Herkunft, Qualität, Verfügbarkeit etc., lässt sich auffangen, wenn das Produkt von einem Hersteller verantwortet wird, der strengen Regulierungen unterworfen ist.64 Richard Neutra nennt den Standard

62 „Jedes Bewusstsein ist intellektuell charakterisiert durch das Niveau des utopischen Spiels, dessen es fähig ist. Ein stumpfes Bewusstsein äußert sich darin, dass es nur im vertrautesten Objekt-Bereich seiner Umwelt ‚utopisch‘ ist.“ Raymond Ruyer. „Die utopische Methode“. In: Arnhelm Neusüss. Hrsg. Utopie. Begriff und Phänomen des Utopischen. Campus Verlag 1986. Seite 346 63 „Dieser Baum erfüllt nicht einfach eine Gartenamt- und Stadtpflegeaufgabe alleine, sondern steht als ein Symbol für eine neue Gesellschaftsordnung.“ Joseph Beuys. In: Joseph Beuys, Bernhard Blume, Rainer Rappmann. Gespräche über Bäume. FIU-Verlag. 2006. Seite 78 64 „Unsicherheitsabsorption bedeutet, dass wir im Normalgang nicht die Möglichkeit haben, immer wieder von vorne anzufangen, immer den Mitteilenden zu befragen, wieso er das gesagt hat und nicht etwas anderes, worin sein Auswahlhorizont bestand und so weiter.“ Niklas Luhmann. Einführung in die Systemtheorie. Carl-Auer Systeme Verlag. 2002. Seite 303

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sogar ein Schutzmittel gegen das paläotechnische Chaos.65 Auf die Gated Community übertragen bedeutet das, die Zwangsform ist ebenfalls ein Unsicherheitsabsorber und ein Schutzmittel gegen das paläotechnische Chaos. Das ist nahe an der Idee der Stabilisierungsleistung, die der Gated Community bereits zugesprochen worden ist, aber Luhmann intensiviert diese Stabilisierungsleistung noch um eine brisante Zuschreibung. Er attestiert Unsicherheitsabsorbern natürliche Autorität. Daraus folgt, soziale Hierarchie wird wesentlich durch das Vermögen zur Stabilisierung entschieden. Ist Neutras Metapher vom paläotechnischen Chaos schon so ein abwertendes Urteil eines Architekten, der sich als formgebende Instanz natürlicher Autorität sicher ist? Die Gated Community jeden falls tritt in ihrer formalen Perfektion ganz in dieser autoritären Manier auf. Das mag vielen nicht gefallen, sollte aber alle interessieren, denn die Umkehrung dieser Logik ergibt gleichzeitig die härteste Kritik am Situationismus. Die situationistischen Irritationsübungen verunsichern, vielfach ist das genauso intendiert und man sollte den inspirierenden Anstoß durch Verunsicherung nicht leugnen, aber damit ist keine natürliche Autorität zu gewinnen, nicht einmal innerhalb des Kulturbetriebs. Doch ohne eine derartige natürliche Autorität sind durchgreifende Systemänderungen unmöglich. Die naheliegende Frage lautet nun, wem in der Gated Community diese Autorität zufällt. Man wird annehmen, genau jenen, die den Standard eingesetzt haben. Nils Brunsson bekräftigt diese Kausalität ausdrücklich, er personalisiert das Konzept des Standards und weist darauf hin, dass hinter jedem Standard ein Bürge steht, der noch viel besichernder und folglich mächtiger ist als der Standard selbst.66 Derjenige, der 65 „Ursprünglich ein Mittel zur vereinfachten, beschleunigten und vervielfältigten Erzeugung, wird der ‚Standard‘ ein Schutzmittel, eine Form neuartiger Sicherstellung des Verbrauchers, der sonst mit geringen Kenntnissen einer lawinenartig schwellenden neutechnischen Hervorbringung aller Art gegenübersteht.“ Richard J. Neutra. Amerika. Die Stilbildung des neuen Bauens in den Vereinigten Staaten. Anton Schroll Verlag. 1930. Seite 20; „Normung und Standardspezifizierung waren notwendige Vorkehrungen, um in dem paläotechnischen Chaos erst wieder eine Sicherheit des Verbrauchers herbeizuführen; Betrug zu einem rationalen, zu einem messbaren Begriff zu machen“. Richard J. Neutra. Ebd. Seite 21 66 „If we know that someone is complying with a standard with which we ourselves are familiar, this provides us with a good deal of information, obviating the need to ask questions in every individual case. Alternatively, we may not know very much about the content of a standard, but simply assume that it is desirable. […] We even tend to have more faith in the certifier than in the certified – more in the ship-classifying organisation than in the shipowner.“ Nils Brunsson, Bengt Jacobsson. A World of Standards. Oxford University Press. 2005. Seite 169

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den Standard etabliert und überwacht, ist die noch viel höhere Autorität. Diese Rückversicherung funktioniert auch projektiv. Wer Form erzeugt, der erzeugt sich gleichzeitig selbst als die formgebende Instanz, die autoritär über der Form steht. Doch wer ist das nun genau in der Gated Community? „Regeln folgen, dieser Ausdruck hat eine bedrohliche Doppelbedeutung. Dass Akteure Regeln folgen, ist common sense. Dass Regeln Akteuren folgen, genauer: ihrem regelanwendenden Handeln, das, wie gesehen, die Regeln erst vollends konstituiert, so dass ihnen eine inakzeptabel anmutende, kafkaeske Nachträglichkeit zukommt, sieht man erst auf den zweiten Blick.“67 Regeln werden nicht so einfach oktroyiert – lernt man aus dieser Erklärung von Günther Ortmann –, sondern es gibt einen wechselseitig bestätigenden Zusammenhang zwischen Regeln und Verhalten. Wer sich Regeln unterwirft, der erzeugt sie gleichzeitig durch sein regelkonformes Verhalten. Das bedeutet, dass auch die höchste natürliche Autorität dem zufällt, der durch sein Verhalten die Regeln einsetzt und bestätigt. Man erkennt schnell den zirkulären Verlauf von Autorität, der für den Erfolg der Gated Community zentral ist. Die Bewohner unterwerfen sich genau jenem Regelmodell, das sie durch Zuzug, Vertragsunterzeichnung und Kauf selbst eingesetzt haben, und solange sie dieses Regelmodell durch Befolgung aufrechterhalten, bestätigen sie sich selbst als höchste Autorität. Damit wird plötzlich die fragile, aber dennoch funktionierende Überbietungsleistung der hochregulierten Gated Communities sichtbar: Sie erlauben ihren Bewohnern, sich souveräner zu fühlen als in der offenen Suburb. Die strenge Regulierung schnürt zwar das freie Leben der Bewohner ab, aber solange die Bewohner selbst als Regulatoren auftreten, ist der daraus erwachsenden Selbstüberhöhung nicht zu widerstehen. Wenn das nur der skurrile Schlusssatz zu einer skurrilen Stadtanomalie wäre, könnte man jetzt kopfschüttelnd zum nächsten Thema wechseln. Doch darin ist gleichzeitig die schärfste Kritik eingelassen, die man dem kategorischen Imperativ von Immanuel Kant entgegenhalten muss. Schön, wenn jemand so umsichtig handelt, dass sein Handeln als allgemeines Gesetz gelten kann. Aber die Erfahrung lehrt leider, dass die natürliche Autorität des Role Models nie ohne gefährliche Selbstberauschung ausagiert wird. Man muss also der epidemischen Ausbreitung 67 Günther Ortmann. Regel und Ausnahme. Paradoxien sozialer Ordnung. Suhrkamp Verlag. 2003. Seite 47

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dieser Selbstüberhöhung durch Einsetzung von Regelregimen nachgehen. In der Gated Community sind sie lediglich explizit verwirklicht, im Rest von Los Angeles findet man sie implizit am Werk. Die Gefängnisse werden von der Mexican Mafia reguliert, die Lunada Bay von den lokalen Surfern, ganze Stadtteile von Neighborhood Gangs, die Hügelzone von der Geldelite, die Stadtentwicklung von den Developern etc. Klingt wie undifferenzierte Kritik. Ist es auch. Doch gerade diese undifferenzierte Kritik über Regelregime hört man oft, und sie ist Ausdruck eines kollektiven Unbehagens über ein generelles Zuviel an Regelregimen, und damit einem Zuviel an Selbstüberhöhung von Partialgesellschaften in der Stadt. Mit diesem Unbehagen wird auf die essentiellste Auseinandersetzung hingewiesen, die letztlich jede Gesellschaft zu entscheiden hat. Selbstüberhöhung durch Regelregime oder Selbstfindung durch Freiheit – was ist unterhaltsamer, wofür kann man mehr Menschen begeistern? Besonders deutlich wird das im Anlassfall. Wie behandelt man Regelverstöße, also das Beharren auf persönlicher Freiheit, wenn es zu viele explizite und implizite Regeln gibt? Donald J. Waldie lässt wissen, dass in Lakewood die tatsächliche Exekution von Regeln zwischen Heuchelei und Extremismus schwankt: „In the suburbs, a manageable life depends on a compact among neighbors. The unspoken agreement is an honest hypocrisy. Pages of ordonnances in the municipal code are never enforced. They are, in fact, unenforceable.“68 Das klingt nach einem schmutzigen, aber tollen Deal. Man kann die Selbstüberhöhung durch Regeleinsetzung und die Selbstfindung durch Freiheit gleichzeitig uneingeschränkt genießen. Doch die Praxis zeigt, dass dieser schmutzige Deal ein Selbstbetrug ist: „Mr H has covered his yard, a few blocks over from mine, with junk. There may be as many as ten tons or as few as six. The city cannot tell.“69 „After a while, Mr H’s neighbors complain. They have hesitated years before they call city hall. The neighbors say they don’t want to ‚make trouble‘. […] On their behalf, the city’s building department spends the next ten years looking into Mr H’s yard.“70 „After more than ten years, Mr H has exhausted all of the city’s administrative procedures. […] Mr H goes to jail. In all, Mr H spends more than sixty days in the county jail in downtown Los Angeles. He spends more time in jail than a check forger, a first-time car thief, or a man convicted of assault. While in jail, Mr H’s family clears his front and back yards of the inevitable lumber and broken equipment. When he returns from jail, the 68 Donald J. Waldie. Holy Land. A Suburban Memoir. W. W. Norton & Company. 2005. Seite 20 69 Donald J. Waldie. Ebd. Seite 19 70 Donald J. Waldie. Ebd. Seite 20

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yard is empty, and the bank forecloses Mr H’s mortgage. His house is taken from him.“71 Aus dieser Fallerzählung lernt man, dass das unsortierte Schwanken zwischen Heuchelei und Extremismus letztlich doch kein guter Deal ist, sondern ein doppelt schlechter. Niemand wird diese Episode als Beweis für die individuelle Freiheit der einen Seite oder die lustvolle Berauschung an der eigenen Autorität der anderen Seite beschreiben können. Es scheint eher eine endlose Quälerei für beide Seiten gewesen zu sein. Das ist auch im Umgang mit den vielen impliziten Regelregimen in der Stadt zu beobachten, und lässt nur einen Schluss zu: Gelassener Normalbetrieb entsteht nicht zufällig als Abfallprodukt zwischen gescheiterten Extrempositionen, sondern muss als völlig eigenständiger Organisationsmodus eingesetzt und orchestriert werden.

Stille Unordnung Die Bewohner der Gated Community verschaffen sich über den Umweg einer strikten Erscheinungsbildkontrolle Autorität. Eine Formel, die auf Steigerung programmiert ist. Je strikter der Regelungszwang, desto mehr Autorität gäbe es zu gewinnen. Aber ein anderes Argument beginnt mit dieser Steigerung immer lauter zu werden. Wenn Bernhard Waldenfels recht hat und die Produktion von Ordnung gleichzeitig die Produktion von Unordnung auslöst, dann ist bislang nur von der einen Seite eines riesigen Hebeleffekts die Rede.72 Für jede Verhaltensregel, für jede saubere Sortierung, für jede perfekte Form muss es irgendwo eine Regellosigkeit, eine hässliche Unordnung, eine missglückte Unform geben. Irgendwo muss sich längst eine Anti Gated Community in gleicher Ausdehnung und Intensität gebildet haben. Aber wo ist sie? Der erste Impuls auf der Suche nach dieser Gegenwelt würde natürlich aus der Gated Community hinausführen, irgendwohin, wo – in Richard Neutras Worten – paläotechnisches Chaos herrscht. Solche Szenenfinden sich in Los Angeles genug. Doch derartige Exkursionen in die vermeintliche 71 Donald J. Waldie. Ebd. Seite 23, 24 72 „Fremdes entsteht gleichzeitig mit der Ausbildung einer Ordnung; denn die Selektivität einer Ordnung, die alles, was sich ihr unterwirft, ‚so und nicht anders‘ hervortreten läßt, läßt eben damit ein Außen mit entstehen. Dieses Außen gehört der Ordnung zu, indem es dieses überschreitet und unterhöhlt. Was wir als Fremdes bezeichnen, ist etwas, das da ist, indem es sich entzieht“. Bernhard Waldenfels. Verfremdung der Moderne. Phänomenologische Grenzgänge. Wallstein Verlag. 2001. Seite 152

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urbane Verwahrlosung bleiben garantiert erfolglos, weil die Gegensätzlichkeit dieser Zustände nur solange auffällt, wie man die Erinnerung an die Gated Community mitnimmt. Nur wer sich vor dem Passieren schützen will, der entwickelt eine entsprechende Sensibilität für Störungskräfte. Nur ein Architekt der Moderne, der Kontrollansprüche erhebt, erfindet Begriffe wie paläotechnisches Chaos. In Milieus, wo ohnehin das Chaos herrscht, gibt es für diesen Zustand gar keine selektive Wahrnehmung und folglich auch keinen Begriff, es ist schlichtweg das Gegebene. Das Gegenstück zur Ordnung in der Gated Community wird also gefunden, indem es mit der Gated Community mitkonstruiert wird. Wer regeln will, der muss die Kategorie Regellosigkeit erfinden, sonst gibt es nichts, worauf sich die Regel beziehen könnte. Und wer Form produzieren will, der muss gleichzeitig die Kategorie Formlosigkeit erfinden, um überhaupt einen Bearbeitungsgegenstand zu haben. Die Suche oder Konstruktion des Gegenteils der Gated Community muss also direkt in die Gated Community zurückverlegt werden, denn nur dort lässt sich der Gegensatz maximal aufschaukeln. Die Regellosigkeit ist genau dort maximal, wo auch die Regel maximal befolgt wird. Die Unordnung fällt genau dort zuallererst ins Auge, wo die Sortierung am eifrigsten betrieben wird. Die Formlosigkeit erreicht genau dort bedrohliche Ausmaße, wo die Form makellos gehalten wird. Überraschend und skurril, aber mitten in der Gated Community wütet die Anarchie, ganz konkret, nicht nur als Begriff oder Allegorie. Genau hier muss die dunkle Anti Gated Community anwesend sein. Doch man sieht sie nicht. Nicht postmodern denken – lautet der eindringliche Suchhinweis. Die Postmoderne hat ein viel zu enges Verständnis von Störung, weil sie von einer klaren energetischen Erwartung ausgeht. Die postmoderne Störung ist hochdynamisch, laut, demonstrativ. Sie versteht sich als rettende Minderheit und multipliziert ihr Potenzial durch Lautstärke und Theatralik. Doch in der Gated Community ist die energetisch theatralische Rolle bereits von der Ordnungsmaschinerie besetzt. Die Regler und Aufpasser, die Gärtner- und Putztrupps agieren als Dauerdemonstranten. Man darf nicht vergessen, dass in der Gated Community eine doppelte Demonstration stattfindet, es wird erstens eine perfekte Form demonstriert, und es wird zweitens die aufwendige Herstellung und Absicherung der perfekten Form demonstriert. Daraus folgt, die Gegenwelt zur lauten Ordnung muss als stille Unordnung zugegen sein, nicht energetisch und 315

demonstrativ, sondern müde und unsichtbar. Ein ungewohntes Suchprofil, wenn es darum geht, Systemopposition zu identifizieren. Man erinnert sich unwillkürlich an die Anweisungen für Erste-Hilfe-Einsätze. Die am schwersten Verletzten sind immer die Stillen, um die muss man sich zuerst kümmern, heißt es. Wer noch die Kraft hat zu schreien, zu jammern, sein Unglück irgendwie mitzuteilen, der ist vergleichsweise besser dran. Die Stille ist also nicht neutral, sondern sie ist der Hinweis auf einen ernsten Schaden. Nur wer sind die derart schwer Beschädigten in der Gated Community, sodass sie nur noch an ihrer gespenstischen Stille zu erkennen sind? In einem gelernten Reflex wird man jetzt doch wieder die soziale Hierarchie hinunter suchen und das Heer der Dienstleistungssklaven ins Auge fassen: die Zulieferer, Arbeiter, Hausbesorger und sonstigen Servicegehilfen. Auch Kinder, Jugendliche, Mitgezogene, alle jene, die nie aktiv entschieden haben, in einer Gated Community zu wohnen, kämen als stille Opposition infrage. Doch diese Suchrichtung ist falsch. Inmitten des perfekten Erscheinungsbildes sind die Gärtner und Putztrupps, die gelangweilten Teenager, sogar die wenigen ausgelassenen Kinder zumindest als Ausnahme noch im Bild. Als Randnotiz vielleicht, als tatsächliche Störung, die dann schnell entfernt wird, aber immerhin sind sie im Bild und nicht in die totale Stille verbannt. Will man die Suche nicht absichtlich verlängern, bleibt letztlich nur noch eine Personengruppe übrig. Und tatsächlich, besucht man diese Gegenden öfter, fällt nur eine Personengruppe als permanent abwesend auf. Nie im Bild sind die vielen Väter und Mütter, die das Stadtmodell Gated Community letztlich verantworten und bezahlen müssen. Die früh am Morgen still in ihre Autos steigen und in irgendwelche Büros fahren, weil sie die Hypotheken bedienen müssen. Die spät am Abend wieder still nach Hause kommen und den ganzen Formexzess nur mehr kurz, ängstlich kontrollierend aus dem Augenwinkel mitbekommen. Es ist tatsächlich die Stille und Unsichtbarkeit, die den eigentlichen Herd der Unordnung verrät. Noch nie ist eine besitzende und federführende Bewohnerschaft so devot und unsichtbar durch ihre eigene Architektur geschlichen, wie Geister. Auch formverliebte Architekten hoffen, dass sich wenigstens manchmal ein renitenter Nutzer als lebensfrohes Gegenexperiment an der Architektur versucht, oder dass der übermütige Alltag die Architektur gelegentlich überformt. Doch ausgerechnet von jenen, die hier am souveränsten sein sollten, sind keine solchen Lebenszeichen zu erwarten. Die vielen Väter 316

und Mütter haben hier schlichtweg keinen Alltag, sondern praktizieren nur rudimentäre Selbsterhaltungsroutinen hinter perfekten Oberflächen. Die leben hier nicht einmal – könnte man spitz formulieren. Die maximal Stillen identifiziert zu haben, bedeutet aber noch nicht, die spezifische Unordnung zu erkennen, die sie eigentlich auszeichnen sollte. So unordentlich sehen die Väter und Mütter nicht aus – ganz im Gegenteil. Die Unordnung muss also wieder eine äußerlich stille und deshalb innere, verschluckte Unordnung sein, geradeso wie der Stau am Rollfeld ebenfalls verschluckt und als innerer Druck ertragen wird. Mit dieser Suchdirektive ist die Unruhe schon deutlicher zu identifizieren, sie ist die immer größere Spreizung zwischen Anspruch und Erfüllung. Die Unordnung in der Gated Community äußert sich exakt in dieser erstickenden inneren Kluft. Gerade weil die Gated Community zur gestalterischen Perfektion tendiert, ist es für die Eigentümer immer schwieriger, dem hohen Anspruch zu entsprechen. Wenn Regel perfekte Optik bedeutet, dann bedeutet eine Beschädigung der perfekten Optik sofort Regelbruch. Der formale Aufwand ist tatsächlich derart übertrieben, dass jede abflauende Betreuungsleidenschaft sofort als Selbstanklage lesbar wird. Wer sich seine Gärtner nicht mehr leisten kann, wer sein Auto aus Kostengründen doch selbst reparieren will, jeder, der auch nur eine Nuance der formalen Vorgabe verfehlt, sticht sofort als Versager hervor. Schon Donald J. Waldie wusste über Lakewood zu berichten, dass lediglich zu langer Rasen im Vorgarten der Hinweis auf ein tragisches Unglück sein kann: „An empty house is a source of worry. A sheriff’s unit will drive by at noon. Neighbors call city hall with complaints about weeds in the lawn and the unchecked garden. […] Occasionally an empty house will hide a hunched and blackening corpse, in bed, on the kitchen floor, or in the hall. A letter carrier puts mail through a slot in the door to which no one else comes. The house, in this climate, only grows dusty. Eventually someone wonders, when the weeds have gone too long. Some neighbor’s husband, with only a little persuasion, will try doors and attempt to look in. A braver one, standing on a ladder, will break the window over the kitchen sink. In a week or two, with the lawn mowed, the house will be up for sale.“73 An solchen Schilderungen lernt man, dass forcierte architektonische Form trotz der hermetischen Leblosigkeit höchst sensibel ist – im Sinne von sensorisch. Die Gated Community steigert diese Sensibilität bis 73 Donald J. Waldie. Holy Land. A Suburban Memoir. W. W. Norton & Company. 2005. Seite 32, 33

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zur Hysterie. Die Gated Community ist insgesamt eine Alarmarchitektur. Im Gegensatz zu herkömmlichen Alarminstallationen ist der Alarmstress aber autoaggressiv orientiert. Die Ausdrucksleistung geht zwar nach außen, in die Öffentlichkeit, aber die überwachte Person ist der Formgeber selbst, konkret der Eigentümer der Liegenschaft. Er hat sich mit Haus und Garten einen höchst indiskreten Statusindikator geschaffen, der ihn permanent überwacht und verrät. Damit bekommt Form in der Architektur eine völlig neue theoretische Basis. Form ist immer autoaggressiv, mit Form bedroht man sich als Architekt oder Eigentümer immer selbst. Die meisten werden wohl gelassen hinnehmen, dass sich Architekten mit selbstgewählten formalen Ansprüchen unter autoaggressiven Druck setzen, aber dass sich ein ganzes Stadtquartier in autoaggressiven Formstress begibt, ist gesamtgesellschaftlich relevant. Deutlich sichtbar wurde das wieder während der Krise 2008. Als, durch das Platzen der Immobilien- und Hypothekenblase, serienweise Vorgärten verdorrten, taten das in synchronem Ausmaß auch die Finanzbiografien ihrer Besitzer. Und mit dieser ersten Divergenz wurde wie in einer Kettenreaktion die gesamte Aufstellung abgeräumt. Erst als der Wertverfall der Immobilien nicht mehr zu kaschieren war und viele Hausbesitzer ihr Eigenheim zwangsweise verlassen mussten, sind manche plötzlich aus ihrer duldsamen Stille erwacht und haben wutentbrannt die eigene Immobilie beschädigt. Es brauchte also eine massive Enttäuschung über das gescheiterte Wohlstandsmodell, um die vielen Väter und Mütter wieder lebendig werden zu lassen. Eigentlich verrückt und für die Architektur gilt das Gleiche. Erst wenn die Architektur als Schutzmittel versagt, wird sie plötzlich wieder als dialektisches Gegenüber wertvoll, sei es auch nur als Frustgegner. Doch diese Szenen blieben die Ausnahme und es wurde mit Hochdruck der alte erdrückende Zustand wiederhergestellt. Charles Jencks sieht das in seinem Buch Heterotopia unbeschwerter und bescheinigt Los Angeles das Potenzial zu einem World Garden.74 Im großen historischen Vergleich hat er damit vollkommen recht, obwohl 74 „Human interference has turned the city into an amazing garden, a growing zoo for global exotica where, according to the Kinney-inspired adage ‚everything grows, given enough water‘. […] Many L.A. gardeners and landscape architects – unwilling to give up the idea of the city as exotic garden – are returning to desert plants, to native specimens, but with a sensibility altered by recent ecological history and the view that Los Angeles can be a ‚world-garden‘, the growing equivalent of a world city.“ Charles Jenks. Heteropolis. Los Angeles. The Riots and the Strange Beauty of HeteroArchitecture. Academy Editions. Ernst & Sohn. 1991. Seite 129, 130

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er seinen World-Garden-Vergleich nur im engen Sinn botanisch meint. Aber so klein lassen sich gärtnerische Überanstrengungen gar nicht denken, denn die Geschichte der großen Gartenanlagen ist seit jeher eine Geschichte der selbstzerstörerischen Überbietung. Sich mit Gartenanlagen gegenseitig zu übertrumpfen und letztlich selbst zu übernehmen, gehört zur spannenden Entstehungsprosa fast jeder großen Gartenanlage. Jencks bestätigt mit seinem Vergleich also indirekt den autoaggressiven Stress der Bewohner inmitten ihrer aufwendigen Vorgartenidylle, denn unter zeitgenössischen Verhältnisse sind die amerikanischen Suburb-Vorgärten das direkte Anschlussstück an die historischen Gartenexzesse. Trotz Moderne haben sich nicht einmal die Rechnungsposten geändert. Technik und sehr viel Personal braucht es, um den Wettbewerb um gärtnerische Perfektion führen zu können. Dass man in diesem Wettbewerb letztlich immer unterliegen wird, sollte ebenfalls bereits bekannt sein, denn schon in der Renaissance galt: Ein Garten ist verbesserte Natur. Damit bekommt der Gartenwettbewerb einen kategorisch größeren Rahmen. Es ist nicht mehr ein Match Garten gegen Garten oder Gartenarchitektur gegen Gartenarchitektur, sondern ein ultimatives Endspiel: Kultur gegen Natur, lautet die Finalpaarung im Überbietungswettkampf. Und dieses Finale wird am lautesten in der Suburb ausgekämpft. In der Suburb herrscht Krieg – gegen die natürlichen Umstände. Jeder weiß zwar, dass man diesen Krieg nicht gewinnen kann, aber das hält kaum jemand vom Kämpfen ab. Darf man die Beschreibung derart martialisch zuspitzen? Ja, die Kriegsrhetorik kann man getrost anwenden, denn es schleichen zu viele Kriegsinvaliden durch die Suburb und vor allem durch die Gated Community. Zerschnittene Gesichter, gequälte Körper, prothetische Erscheinung. Aufwendig bearbeitet, um nicht selbst als amateurhafte Peinlichkeit aufzufallen. Hier wird die Verdinglichung des Lebens durch die Massenmoderne sogar im Antlitz der Menschen sichtbar. Doch vor perfekter Architekturkulisse ist dennoch jeder Auftritt ein garantierter Reinfall – so professionell zugerichtet kann das Dinggesicht gar nicht sein. Deswegen sind alle in Eile, maskiert und gerne anonym. Die vielen Serviceleute haben diesen Stress nicht, sie sind als Angehörige der Unterschicht entschuldigt. Aber wenn die Hausherrin und der Hausherr das Bild betreten, wird unweigerlich verglichen. Das schöne Haus, die gebeugten Figuren, der blühende Vorgarten, die verlebten Gesichter, das schnelle Auto, der müde Blick, die teure Golfausrüstung, der schwache Abgang. 319

In solchen Szenen offenbart sich die fatale Logik des Kampfes Kultur gegen Natur: Der Krieg gegen die natürlichen Umstände ist mit dem Erhöhen des Einsatzes noch unmöglicher zu gewinnen. In solchen Szenen wird außerdem der kritische Rückblick auf die Moderne um eine Nuance ernster. Denn schon das ästhetische Ideal der Moderne hatte dem Menschen und seinen Überheblichkeitsfantasien nie geschmeichelt. In Richard Neutras Lovell Health House muss der gesündeste Mensch vergleichsweise gebrechlich wirken. In John Lautners SheatsGoldstein Residence muss der modernste Mensch wie ein biologisches Fossil aus einer primitiven Vorzeit aussehen. Das Überheblichkeitsfeeling war also nie ganz makellos, auch nicht in anderen Architekturperioden. Immer wieder musste der Mensch inmitten großartiger Architekturkulissen erheblich an sich selbst arbeiten, um nicht als Schandfleck dazustehen. Und all zu oft hieß auch dann die Lösung schlicht Unsichtbarmachung. Man versteckte die Akteure in so aufwendigen Drapagen und hinter so perfekten Masken, dass kein Leben mehr identifizierbar war. Diese große Beschämung war aber lange nur ein Problem der gesellschaftlichen Eliten, wird aber mittlerweile epidemisch, weil alles, was in der gehobenen Mittelschicht passiert, Modellcharakter hat. Man muss also auch jenseits der Gated Community davon ausgehen, dass allzu hübsche Architektur die Menschen beschämt und herabsetzt. Architekten werden ab jetzt routinemäßig die Bewohner und Nutzer ihrer Architekturen verstecken müssen, es sei denn man will Sanatoriumstimmung vermitteln. Und die Architekten und Raumausstatter können mit Automobilherstellern, Modehäusern, Produktdesignern, Sportgeräteentwicklern die besten Strategien zur Menschretusche absprechen. Das Problem der vergleichsweise hässlichen Kundschaft haben nämlich auch andere ästhetikverliebte Branchen.75 Sie alle kennen den Mensch nur als das Müde, Schwache, Unförmige, Hässliche – kurz: als die einzige unheilbare Unzulänglichkeit. Dieses Eingeständnis hat sich zumindest im Sprachgebrauch bereits festgesetzt. „Menschlich“ ist ein entschuldigendes Synonym für erwartbare Fehlerhaftigkeit. 75 „There is, for instance, a distinct visual and cultural shock in suddenly coming on a Coca Cola dispenser in Latin America or the Arab States: it is apt to look like a visitor from Mars even in the more rural or desert parts of the USA. It has an almost surreal independence of its rough surroundings as it sits snug in its stylists’ chrome and enamel, compact, self-contained – an alien. To many sensitive souls it is an offense that they would rather not see perpetrated; and it also implies a criticism of its surroundings.“ Reyner Banham. A Critic Writes. University of California Press. 1996. Seite 116

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Mancher wird gerade das als letzten hoffnungsvollen Ausweg umdeuten. Der formale Exzess in der gehobenen Suburb oder Gated Community bedeutet ja nicht, dass sich deswegen jeder aus dem Bild drängen lässt. Manche genießen ihre Rolle als Schandfleck im perfekten Bild. Die Beschreibungen zur Liegeöffentlichkeit haben gezeigt, wie die Unverschämten sogar den öffentlichen Raum in den Innenstädten gekapert haben. Wenn man die Perspektive noch weiter öffnet, wird man also beruhigen und auf baldige Besserung verweisen. Von Édouard François bis Terunobu Fujimori gibt es bereits eine weltumspannende Avantgarde des Nicht-Perfekten in der Architektur. Kein Wunder. Wenn sich Architektur in ästhetischer Brillanz bis zur Perfektion überboten hat, dann folgt notwendigerweise eine Überbietung zweiter Ordnung, also ein kategorischer Sprung in ein neues thematisches Terrain. Das Problem an dieser architektonischen Gegenbewegung ist aber, dass sie noch lange nicht Modell geworden ist. Vorläufig bleibt das Dilemma also in seiner gewohnten Aufstellung. Eine ernstzunehmende, weil modellhafte Fraktion der Architekturkundschaft hält immer noch an der Ambition fest, irgendetwas Aufrechtes darzustellen – selbst wenn die letzte aufrechte Geste der Gang in den Hintergrund oder in die gänzliche Unsichtbarkeit ist. Für die Architektdisziplin bedeutet das, eine neuartige Form von substanzieller Krise anerkennen zu müssen. Eine Krise, die allerdings schwer zu fassen ist, weil sie aus stiller Opposition besteht, die nicht kommentiert, nicht konfrontiert, keine demonstrative Agenda verfolgt, keine Message trägt, keine lauten Forderungen erhebt. Eine Opposition, die sich nicht zu einer kritischen Masse zusammenschließt, keine Gegenaktionen, keine Revanche plant.76 Wie könnte sie das auch. Diese stille Architekturopposition kennt und benennt sich nicht einmal selbst, hat kein Selbstbewusstsein und keine Hoffnung. Deswegen tut sie auch nichts, außer sich immer weiter zurückzuziehen. In einer offensichtlichen Kultur der Überbietung, in der jeder von den Siegern lernen soll, bietet sich nur noch die stille Kapitulation als letzter Manövrierraum an.

76 „Das Spektakel der Ausnahme geschieht allein um des Urteils willen, der singulären Beziehung des Subjekts zum Gesetz, der Beziehung des Subjekts zu einem anderen.“ Elisabeth Strowick. Passagen der Wiederholung. Kierkegaard – Lacan – Freud. J.B. Metzler. 1999. Zitiert nach: Günther Ortmann. Regel und Ausnahme. Paradoxien sozialer Ordnung. Suhrkamp Verlag. 2003. Seite 76

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Daraus erwächst letztlich ein völlig neues Verständnis von Underground, aber vor allem löst sich das Waldenfels-Argument auf gespenstische Weise ein. Ordnung produziert als Gegenwelt Unordnung in gleicher Ausdehnung und Intensität – meinte er sinngemäß. Paradoxerweise heißt das aber für die Architektur, dass Form und Formlosigkeit, Engagement und Unterlassung deckungsgleiche Architekturen ausbilden. Das gilt sogar unabhängig davon, welche Seite des Gegensatzes die Architektur konzeptiv verantwortet. Will man Ordnung beweisen, baut man eine Gated Community. Will man die eigene Ungeordnetheit verstecken, baut man exakt die gleiche Gated Community. Und selbst diese vermeintlich sichere Einhegung des Problems muss man noch suspendieren, denn die gespenstische Deckungsgleichheit von architektonischer Ordnung und persönlicher Unordnung gilt selbstverständlich nicht nur in der Gated Community, sondern ist ein allgemeiner Zustand. Überall wird mit Architektur laut geregelt und in der gleichen Architektur still resigniert. Überall wird mit Architektur selbstreferenzielle Autorität inszeniert und dann die gleiche Architektur still als unerträglich erlebt.

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GROSSE ORTUNG

Das größte Projekt der Moderne Je brisanter das Ereignis, desto massiver wird technisch-mathematisch reagiert. Jemand tätigt einen Notruf, wahrscheinlich mit dem Handy, die Antworten auf die Standardfragen „Was?“, „Wer?“, „Wo?“ laufen über Sendemasten ins Telekommunikationsnetz ein. Die Einsatzhubschrauber dröhnen heran, kreisen über der Tatsachenstelle und befehlen über ihre Außenlautsprecher die üblichen Standarddurchsagen nach unten. Selbst die Einsatzfahrzeuge am Boden haben große Identifikationsnummern auf dem Autodach, um sich einem Metakoordinator anzubieten. Der sitzt allerdings nicht im Hubschrauber, sondern in einer fernen, loftartigen Einsatzzentrale und sieht die Stadt noch distanzierter von oben als die Piloten.1 Für die Akut-Choreografen der Reparatureinsätze ist die Stadt nur mehr ein selektives Datenfeld, eine vollelektronische Landkarte ohne Blut, Geschrei und Panik. Die Tatsachen am Boden der Stadt setzen in der Einsatzzentrale stattdessen eine eruptive Welle der Mathematik in Bewegung, die moduliert und projektiert werden muss. In eingeübter Präzision werden die 1 „RACR Division [Real-Time Analysis and Critical Response (RACR) Division] was previously housed four floors underground, in the basement of City Hall East and long ago outgrew the space. The Division, now staffed by 67 sworn and civilian members, has evolved from a small notifications unit into a Regional Crime Center which, while still providing notifications on significant, impactful events, additionally offers situational awareness, an emergency operations component and investigative support for field units.“ Los Angeles Police Department. „Grand Opening of new facility for Real-Time Analysis and Critical Response Division NR09453rh.“ http://www.lapdonline.org/september_2009/ news_view/42863. 15.09.2009

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eingehenden Ereignisdaten in Reaktionshandlungen übersetzt, strikt nach Erfahrungswerten, die wiederum aus statistischen Archiven vergangener Vorfälle errechnet werden. Wie viele Krankenwagen, wie viel Polizei, wie viel Einsatzrisiko. Zählende Zahlen und gezählte Zahlen in mannigfaltiger Verschränkung, sogar Gilles Deleuze und Félix Guattari wären verwirrt.2 Opferprofile, Täterprofile, Analyseberichte, Ereigniskennzahlen etc. fließen wiederum in Ergebnisstatistiken ein, werden evaluiert, mit Daten über ethnische Zugehörigkeit, Haushaltsgröße, Bildungsniveau, Familieneinkommen etc. kombiniert und in das digitale Abbild der Stadt eingeschrieben. Jeder Überfall erfolgt also zweimal. Zuerst überfällt eine außergewöhnliche Tatsache die Stadt, und dann überfallen wissbegierige Zahlensucher die Tatsache und weiden sie aus. Ist die Tatsachenstadt am Boden deshalb auf Rastern, Koordinaten und diagrammartigen Matrizen aufgespannt, um sie datenanalytisch leichter abernten zu können? Wie eine riesige Laboraufstellung sind die flachen Rasterebenen von Los Angeles ausgebreitet, und sie liefern kontinuierlich Tatsachen, anhand derer urbanes Leben wie ein seltsames Geschöpf seziert und manipuliert wird. Es stellt sich tatsächlich die Frage, wer hier wen bedient. Hat sich die Tatsachenstadt eine mathematische Metastadt erschaffen, die ihr organisatorisch zuarbeitet – oder hat sich die Mathematik angewandte Lebensfelder angelegt, um Beuteopfer für ihren digitalen Verdauungsapparat zu züchten? Vor Ort hat man wenig Zweifel an der eigenen Opferrolle, und die Betroffenen am Boden haben auch recht, wenn sie beklagen, dass die Metabeobachter immer zu spät erscheinen, immer erst dann, wenn schon etwas passiert ist, und dass ihr Interesse dann am intensivsten ist, wenn auch der Schaden intensiv und spektakulär ist. Operieren die Einsatzhelikopter nicht am Tag, sondern wie so oft in der Nacht, wird dieses selektive Interesse theatralisch bestätigt. Dann wird ausschließlich der Schadensfall in ein grelles Scheinwerferlicht getaucht und die periphere Normalität im Dunkel des Desinteresses zurückgelassen. Dass nach den Polizeihubschraubern die Pressehubschrauber kommen und eine 2 „Die Zahl verteilt sich selber im glatten Raum, sie teilt sich nicht mehr, ohne jedesmal ihr Wesen zu ändern, die Einheit zu wechseln, von denen jede einen Abstand aber keine Größe repräsentiert. Die artikulierte, nomadische gerichtete Ordnungszahl, die zählende Zahl verweist auf den glatten Raum, so wie die gezählte Zahl auf den gekerbten Raum verweist. So muss man von jeder Mannigfaltigkeit sagen: sie ist bereits Zahl, sie ist noch Einheit.“ Gilles Deleuze, Félix Guattari. Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie. Merve Verlag. 1992. Seite 672

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Tiefensondierung zum Zwecke der medialen Indiskretion durchführen, ist nur noch der letzte, demütigende Beweis dafür, wem hier die Opferrolle oktroyiert wird. Die medienstrategische Präambel, wonach Bad News die eigentlichen Good News sind, ist hinlänglich bekannt, dennoch wird gern vergessen, dass damit nicht nur Nachrichten, sondern zuallererst Lebensbiografien gemeint sind. Spätestens jetzt sollte man eine verweigernde Anklage formulieren. Woraus werden die Metabeobachter und ihr gewinnsüchtiger Tross Kapital schlagen, wenn die Bevölkerung am Boden den Tatsachenstreik ausruft, wenn sie einfach keine Tatsachen mehr liefert und die gesamte urbane Versuchsaufstellung boykottiert? Doch derartige Gedankengänge sind restlos naiv. Die Metabeobachter und Metakoordinatoren sind auch diesbezüglich überlegen, denn wahrscheinlichkeitsmathematisch ist jede der Tatsachen unausweichlich. Die Einsatzzentralen wissen ganz genau, wie viele Morde in welcher Gegend, wie viele Unfälle an welchem Wochenende, wie viele sonstige Sensationen sich in welchem Koordinatenfeld ereignen werden – als zwangsläufige Konsequenz der sozialen Gegebenheiten. Diese Prognosealgorithmen sind mittlerweile so verlässlich, dass bereits Polizeistreifendienste nach diesen Voraussagen in der Stadt verteilt werden. Predictive Policing nennt sich diese Vorausberechnung von Tatsachen, und obwohl es noch ein relativ junges Verfahren darstellt, ist der Erfolg bereits evident.3 Vor allem die Masse der Gelegenheitskriminalität lässt sich erschreckend genau vorausberechnen. Die Zahlenstadt und ihre Regisseure haben die Stadt am Boden also längst überholt, sie sammeln nur ein, was sie bereits fix gebucht haben. Der Stadt am Boden bleibt tatsächlich nur noch die romantische Aufgabe, die Statistik mit konkreten Schicksalen auszustatten. Das ist das letzte Privileg, dem Datenmaterial blutendes Fleisch beizulegen. „[…] während all dies geschah, nutzten sowohl die israelische Armee als auch die KämpferInnen der Hisbollah moderne Karten mit kartesischen Punkten und exakten Koordinaten, die einen effektiver als die anderen, aber dennoch. Beide hatten dieselbe räumliche Vorstellung: ein absoluter Raum aus Mathematik und Geometrie, ein Raum, der keinen Platz bietet für allegorische Zeit oder existenzielle Erinnerungen. 3 „Can math help keep our streets safer? A new study by a UCLA-led team of scholars and law enforcement officials suggests the answer is yes.“ Stuart Wolpert. „Predictive policing substantially reduces crime in Los Angeles during months-long test“. https://newsroom.ucla.edu/releases/ predictive-policing-substantially-reduces-crime-in-los-angeles-during-months-long-test. 07.10.2015

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Beide sind in einem solchen Raum nicht etwa unwichtig, sie haben einfach keinen Platz. Die israelische Armee und die KämpferInnen der Hisbollah waren beide Opfer des größten Projekts der Moderne: der Geometrisierung der Welt.“4 Tony Chakar beschreibt in diesem Textausschnitt ähnliche Begegnungsszenen zwischen blutigen Tatsachen und Mathematik und er gibt ihnen einen erklärenden Titel. Das größte Projekt der Moderne findet hier statt, die Geometrisierung der Welt. Eine Instanz, die so universell souverän ist, dass sie alle Akteure in ihrem Zugriffsbereich zu Opfern macht. Vielleicht eine zu kategorische Beschreibung der Lage, aber wer kann leugnen, dass seit der Moderne eine sukzessive Überwältigung zu beobachten ist. Die Zahlen nehmen nicht nur überhand, sie bilden zunehmend den Boden der Tatsachen, den Auslöser der Tatsachen und den nachträglichen Rechtfertigungsgrund. Die Zahlen ersetzten die Welt und die Kalkulation ersetzt das Schicksal. „Es stellt sich allerdings heraus, dass die Natur nicht gut beschreibbar ist, aber dass sie ziemlich gut berechenbar ist; […] dass der Text der Natur […] nicht in Buchstaben, sondern in Zahlen geschrieben zu sein scheint. Daher haben die Theoretiker (und etwas später die Intellektuellen überhaupt) das Schreiben und Lesen von Buchstaben zugunsten des Schreibens und Lesens von Zahlen aufzugeben.“5 „Das prozessuale historische Denken wird dem formalen kalkulatorischen unterworfen – allerdings um den Preis eines Zahlencodes, den die Gesellschaft als ganze nicht lesen kann und den sie daher blindlings befolgen muss, wie einst die Analphabeten die Texte der Litterati.“6 Das größte Projekt der Moderne, die Geometrisierung der Welt, beschreibt also gleichermaßen einen fundamentalen Konflikt. Mensch versus Mathematik – lässt sich schnell ein Gegensatzpaar bilden – und vielen wird dies als Fortsetzung der Relation Mensch versus Maschine durchwegs schlüssig erscheinen. Ebenso bekannt erscheint der Verlauf des Konflikts. Punktuell wird ein Etappensieg für das Menschliche vermeldet, wenn wie in Burbank die Polizei das Predictive Policing ablehnt und die langjährige Erfahrung der Mitarbeiter höher schätzt.7 4 Tony Chakar. In: Documenta und Museum Fridericianum Veranstaltungs-GmbH. Documenta Magazine No 1, 2007. Modernity? Taschen. 2007. Seite 214 5 Vilém Flusser. Medienkultur. Fischer Verlag. 1997. Seite 49, 50 6 Vilém Flusser. Ebd. Seite 50, 51 7 „But in Burbank, critics said the software’s algorithm couldn’t beat a veteran officer’s intuition and knowledge of his or her patrol area. They also said the algorithm sometimes zeroed in on obvious areas where officers already know there’s crime or silly locations, such as the police station, where people often show up to report crimes.“ Alene Tchekmedyian. „Tech Handcuff for Police?“. https://www. latimes.com/local/lanow/la-me-police-predict-crime-20161002-snap-story.html. 05.10.2016

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Doch derartige Etappensiege werden nur deswegen medial verstärkt hervorgehoben, weil man damit wenigstens einen Konflikt behaupten kann – als letzten verzweifelten Hoffnungsversuch. Tatsächlich aber findet gar kein Konflikt statt, sondern nur eine konsequente Ablöse. Die Mathematik ist der neue Souverän, der Mensch wird regelrecht zersetzt und ersetzt. Interessanterweise sogar auf der Täterseite: „We’re not tailing criminals and looking at how the criminals are making decisions. Rather, we’re looking at actual patterns of events themselves and the location of the events. […] We’re much less focused on the individuals committing the crime than we are on the spatial targets of the crime.“8 Das Predictive Policing in Los Angeles ist also unmittelbar städtebaulich. Kriminalität wird auf die Stadtoberfläche projiziert und an der Stadt selbst als Defizit errechnet. Der Algorithmus könnte natürlich auch nach Menschen suchen, aber wozu sollte er? Die Mathematik hat erkannt, dass es ohnehin keine Menschen gibt, zumindest nicht im Sinne einer eigenwilligen Lebenswelt, die sich der mathematischen Logik entziehen würde: „Jeff Brantingham, a professor at the University of California at Los Angeles, said crime often seems random, but it follows patterns. […] Brantingham said. ‚The best way to capture the way we think about crime patterns is to think about earthquakes.‘ […] Just as earthquakes happen along fault lines, Brantingham explained research has shown crime is often generated by structures in the environment, like a high school, mall parking lot or bar. Additional crimes tend to follow the initial event near in time and space, like an aftershock.“9 Gelegentlich kommt in den Rechenmodellen sogar das Lebendige als Szenario zurück, aber auch derartige Rückgriffe auf das Lebendige sind für die Voraussage menschlichen Verhaltens wenig schmeichelhaft: „Do other types of modeling relate to this problem? […] We looked at some models of microorganisms that change the environment around them and make it more hospitable, which causes aggregations to form.“10 „Maths experts have used geometric equations learned from wild animals to predict the location of fights between rival gangs with almost 99 per cent accuracy. […] Brantingham applied it to 8 Andrea L. Bertozzi. In: Fenella Saunders, Andrea L. Bertozzi, P. Jeffrey Brantingham. „First Person“. https://www.americanscientist.org/article/first-person-andrea-l.-bertozzi-and-p.-jeffreybrantingham. 06.06.2017 9 Justin Juvenal. „Police are using software to predict crime. Is it a ‚holy grail‘ or biased against minorities?“. https://www.washingtonpost.com/local/public-safety/police-are-using-software-topredict-crime-is-it-a-holy-grail-or-biased-against-minorities/2016/11/17/525a6649-0472-440a-aae1b283aa8e5de8_story.html. 17.11.2016 10 Fenella Saunders, Andrea L. Bertozzi, P. Jeffrey Brantingham. „First Person”. https://www. americanscientist.org/article/first-person-andrea-l.-bertozzi-and-p.-jeffrey-brantingham. 01.01.2018

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13 equally sized criminal gangs from the Boyle Heights neighborhood of Los Angeles’ East Side. He and his team, aided by police, identified an area or ‚anchor point‘ which functioned as the gang’s home base and used the Lotka-Volterra equation to draw borders between the turfs, Smithsonian.com reports.“11 Der Städtebau steckt also bereits mitten in dem Konflikt Mensch-versusMathematik und erlebt in der täglichen Praxis, dass dieser Konflikt nicht so simpel zweiwertig ist. Sich strikt für eine Seite zu entscheiden, bedeutet, entweder die technische Realität der Jetztzeit zu verleugnen oder sich der technischen Realität der Jetztzeit auszuliefern. Die Gegensätze, Synergien und Allianzen sind also verworrener, wechselhafter und vor allem opportunistischer, als man das gern sehen würde. Gerade die Architektur illustriert diese lange und schlingernde Loyalitätsproblematik. Die Architektur hatte seit jeher die Hoffnung, im Windschatten der großen Geometrie selbst zu einer Weltinstanz zu werden. Durch die ganze Architekturgeschichte, vom römischen Straßenbau bis zu den Totalutopien von Superstudio, reichen die Anbiederungen der Architektur an die großen, weltumspannenden Linienmacher. Architektur könnte so selbst zu einem Instrument der Weltvermessung und Weltordnung werden. „A single form of architecture, capable of shaping the earth (measuring it, like longitude and latitude), a recognizable architecture.“12 Und wer so groß denkt und agiert, der muss zwangsläufig die alltäglichen menschlichen Lebenswelten hinter sich lassen – wird man schnell entschuldigend eingestehen. Mit dem neuen Welthorizont im Blick ist es leicht und legitim, den einzelnen Ort zu überwinden, die Verantwortung fürs Lokale aufzugeben und auch jene Zaghaftigkeit abzulegen, die aus Empathie und kontextueller Verantwortung entspringt.13 Doch gerade 11 Amanda Williams. „How gang members behave like animals... and maths experts are now predicting where they will fight rivals with 99% accuracy“. https://www.dailymail.co.uk/sciencetech/ article-2299206/How-gang-members-behave-like-animals--maths-experts-predicting-fight-rivals-99accuracy.html. 26.03.2013 12 Superstudio. „The Continuous Monument“. In: Martin van Schaik, Otakar Máčel. Hrsg. Exit Utopia, Architectural Provocations 1956–76. Prestel Verlag. 2005. Seite 131 13 „Die Zeitlosigkeit der Geometrie war den Römern willkommen, weil sie der Epoche, in der sie lebten, eine beruhigende immerwährende Gültigkeit verlieh. Gründeten die Römer zum Beispiel neue Städte im Imperium, so suchten sie die Dimensionen eines Ortes auszumessen und so zu bestimmen, dass die römische Stadtplanung unmittelbar auf das eroberte Gebiet angewandt werden konnte. Dieser geometrische Stempel, der häufig die Zerstörung alter Heiligtümer, Straßen oder öffentlicher Gebäude erforderlich machte, leugnete die Geschichte derjenigen, welche von den Römern besiegt worden waren.“ Richard Sennett. Fleisch und Stein. Der Körper und die Stadt in der westlichen Zivilisation. Suhrkamp Verlag. 1997. Seite 117

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weil die Ambition der Architektur zur Größe so klar vorgezeichnet ist, existiert auch seit jeher die hartnäckige Opposition dazu. Architektur ist nicht ausschließlich Mitläufer der großen Geometrie, sondern arbeitet oft genug gezielt dagegen, mit einer kleinen, angewandten Geometrie, oder verzichtet überhaupt auf Geometrie und erzeugt In-situ-Szenen und Atmosphären. Wenn Gernot Böhme über atmosphärische Räume schreibt, dann definiert er damit ein Architekturverständnis, das ausschließlich auf unmittelbare Wahrnehmungswirkung aufbaut und ohne Danksagung an die große Geometrie auskommt. Dieser Widerstand gegen die große Geometrie wird umso glaubwürdiger, je weniger überhaupt über Architektur nachgedacht wird und je mehr Architektur als handfeste Manipulation am konkreten Umstand praktiziert wird. Doch wenn Architektur im Hier und Jetzt der konkreten Tatsachen engagiert ist, wenn sie mit insistierender Präsenz Widerstandsorte gründet gegen die große Geometrie, dann tut sie das nicht aus romantischen Gründen, sondern aus Selbsterhaltungsklugheit. Die große Geometrie hat die Architektur zwar partizipieren lassen an der geometrischen Weltbeherrschung, gleichzeitig war die Architektur aber immer entmündigt und an die geometrischen Vorgaben geheftet wie Spalierobst. In dieser Mitläuferposition war Architektur nicht in der Lage, ihrer essentiellen Aufgabe nachzugehen, und die lautet: vor Ort, im Kontakt mit dem konkreten Nutzer populär zu sein. Ungeachtet all der heimlichen Wünsche nach Größe ist das die unverzichtbare Überlebensbasis von Architektur, auf die man nicht ungestraft verzichten kann. Und diese Gefahr des mangelnden Engagements vor Ort besteht noch immer. Sobald der Kontakt zur menschlichen Basis abreißt, wird die Architektur als lebensfeindliche Gegnerschaft erlebt. Was aber folgt aus dieser Warnung? Im Grunde nichts, denn Architektur ist auch weiterhin der permanente Doppelagent, Auftragnehmer des größten Projekts der Moderne und gleichzeitig dessen lokalörtliches Widerstandsnest. Betrug und Gegenbetrug. Der Faszination der großen Geometrie ist nicht zu entkommen, und solange Architektur von Menschen gemacht wird, ist auch dem Festkleben im konkreten Widerstand nicht zu entkommen. Manchmal ist dieser Konflikt kleinlich peinlich, aber in Summe ist die Hin-und-Her-Gerissenheit in diesem Konflikt eine tägliche opportunistische Herausforderung. Wer weiß, wann und wo er auf welcher Seite zu navigieren hat, erlebt Architektur in privilegierter Bandbreite. Wer sich allzu oft auf der 329

falschen Seite wiederfindet, kommt aus der Opferrolle tatsächlich nicht mehr heraus. Los Angeles ist als Hintergrund für dieses Großmanöver in Opportunismus exemplarisch, weil hier die Geometrisierung von Stadt und städtischem Leben in jeder Hinsicht ins Extrem gesteigert worden ist. Das produziert im Tagesgeschäft eine äußerst fordernde Vorlage, egal ob man der großen Geometrie folgen oder ihr widerstehen will. Davon handelt die fünfte Ambition.

Totalraster Man tritt vor die Haustür seines Einfamilienhauses, geht die Auffahrt hinunter bis an die Bordsteinkante. Man beugt sich ein wenig darüber hinaus, sieht nach links, sieht nach rechts. Eine lange Gerade kommt vom linken Horizont herangelaufen, zieht ohne Regung an einem vorbei, und läuft weiter bis über den rechten Horizont hinaus. Ein Anwohner der Western Avenue hat dieses Klippenerlebnis jeden Tag zu verarbeiten. Welch wahnwitzige Kollision der Maßstäbe. Die lächerliche Idylle eines fragilen Häuschens ist ohne Vermittlung an die Monstrosität einer 30-Meilen-Geraden herangerückt, einer Architektur der XL-Klasse, vierspurig, sechsspurig, streng nord-süd-orientiert und blind für alles, was nebenher an Nachbarschaft passiert. Dabei ist die Western Avenue nur eine von vielen Geraden in der numerisch durchgerasterten Totalität von Los Angeles. Lokale Lebensszenen, örtliche Ereignisidentitäten, historische Abdrücke und Kontinuitäten bedeuten dabei nicht viel. Lokalität ist hier nur eine fortlaufende Ordnungsnummer im Koordinatenfeld. Selbst der Name Western Avenue vermag keinen konkreten Ort zu benennen, die Western Avenue ist alles, sieht alles, durchläuft alles: Los Feliz im Norden, Sunset Boulevard, Koreatown, Wilshire Boulevard, arme Wohnquartiere, reiche Wohnquartiere, Golfplätze, Fabriken, Shoppingmalls, Autohäuser, vier Freeways, den Pacific Coast Highway, Rancho Palos Verdes im Süden am Meer und dazwischen unzählige Western-Avenue-Adressen. Wie ein Schnitt durch alles, was Los Angeles zu bieten hat. Reyner Banham ist zu Recht von dieser Geraden begeistert und widmet ihr ein ganzes Kapitel in seinem Buch Architecture of Four Ecologies. Paul Virilio würde die Western Avenue eine lineare 330

Rodung nennen.14 Doch diese Metapher enthält eine falsche Reihenfolge. Die Western Avenue wurde nicht nachträglich durch eine bestehende Programmlandschaft geschlagen, wie Georges-Eugène Haussmann das in Paris getan hat. Sie steht für den gegenteiligen Ablauf. Zuerst war die Linie, die lange unnatürliche Gerade, dann kamen die fortlaufenden Nummern, die Koordinaten, und erst danach kam langsam die Stadt. Die einzelnen Programmteile sind erst nach Einrichtung der geometrischen Instanz an die 30-Meilen-Linie geheftet worden, wie kleine Anhängsel, die sonst keine Referenz hätten. Die Straße zerstört oder zerschneidet also kein integratives städtisches Gebilde, vielmehr gäbe es gar keine Stadt ohne die vorauseilende Referenzlinie. „Es ist eine Hauptaufgabe des Staates, den Raum, über den er herrscht, einzukerben oder die glatten Räume als Kommunikationsmittel in den Dienst des eingekerbten Raumes zu stellen.“15 Wer die Vergangenheit der Western Avenue sehen will, muss nur weiter ins Landesinnere fahren. Das halbe Antelope Valley gleicht einer riesigen Land-Art-Installation im Auftrag von Superstudio.16 Braunbeige Halbwüste ohne Programm, ohne Gebäude, ohne Lebensspuren und dennoch mit Nord-Süd-, Ost-West-Rasterstraßen gekerbt, keine Namen, nur W Ave G, W Ave F, 130th St W etc. Wieder eine vorauseilende Formatierung für den späteren Gebrauch. Aber nicht nur, es ist vor allem die Einberufung eines Territoriums in genau jene numerische Totalität, die bereits die Western Avenue und den Großteil von Los Angeles erschaffen hat. Diese numerische Totalität basiert auf einer provokant simplen Formel: Quadratischer Hauptraster 1 × 1 Meile, meist in vier kleinere 14 „Die Straße, erstes ‚militärisches Glacis‘, ist nur eine lineare Rodung, die der ‚göttlichen Schnelligkeit‘ des Streitwagens dargebracht wird, die von den Fahrzeugen verbrannte Erde, geschundene Oberfläche. Die rein instrumentale Straße Mesopotamiens will mit dem Land, das sie durchquert, nichts mehr zu tun haben, sie sucht die geometrische Abstraktion, die Einförmigkeit, Einlinigkeit. Die Geschwindigkeit ruft die Leere hervor, die Leere treibt zur Eile …“ Paul Virilio. Fahren, fahren, fahren … Merve Verlag. 1978. Seite 91 15 Gilles Deleuze, Félix Guattari. Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie. Merve Verlag. 1992. Seite 531, 532 16 „Let us take for example a valley (an optimal living zone) and imagine that we are undertaking a series of homogenizing operations, similar to present cultivation. Let us imagine that we set up a grid for the transmission of energy and information to the entire area. This grid creates a situation of ‚total field‘ in which any point is described by the intersection of two straight lines. The crossing point of the principal lines marks a ‚principal point‘ at which we might imagine a ‚universal plug‘.“ Superstudio. „Supersurface“. In: Peter Lang, William Menking. Superstudio. Life Without Objects. Skira Editore. 2003. Seite 181

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Quadratfelder geteilt mit je 600 × 600 Ordnungsnummern, an die Programme geheftet werden können. Das ist die systemische Basis, die endlos wiederholt wird. Für die weitere Detaillierung dieses Basisrasters gibt es ebenfalls eine klare Vorgabe. Jedes 1/2-Meilen-Quadrat wird in 2 × 8 Rechteckfelder geteilt, mit je 1/4 × 1/16 Meile. Auffallend ist, dass dieser letzte Subraster relativ oft variiert und gebeugt wird, manchmal verschwindet er gänzlich oder wird von einem Rollfeld verschluckt. Der große Basisraster wird hingegen sehr konsequent eingehalten und tritt damit umso markanter als geometrische Unausweichlichkeit in Erscheinung. Außerdem macht der große Basisraster klar, dass die Rasterung einer noch größeren, überregionalen Dimension entstammt. Um diese richtig einzuschätzen, muss man den Blickwinkel allerdings noch erheblich weiter öffnen, denn im Prinzip sind die gesamten USA der gleichen Nord-Süd-Quadratrasterung unterworfen. Im agrarischen Mittelwesten wird dieser Raster in kreisrunde Felder übersetzt, die oft über einen ganzen Bundesstaat hinweg eine bizarre Ansicht von oben ergeben. Die Land-Art-Installation erreicht damit kontinentale Ausmaße. Das historische Narrativ dahinter hatte diese Dimension von Anfang an. Alle gegen Washington, könnte man das Rasterunternehmen der USA kurzfassen. Die Anlage der Hauptstadt Washington von Pierre L’Enfant zeigt eine sternförmige Rasteranlage, ein multiples Karlsruhe, eindeutig dem Zirkulationsmythos verpflichtet, der wenige Punkte in der Stadtanlage als zentrale Impulsgeber heraushebt. Dem gegenüber steht die Land Ordinance von Thomas Jefferson aus dem Jahr 1785, die dem Rest der USA eine gänzlich andere Ordnung auferlegen wollten.17 Jefferson glaubte an den symbolischen Gehalt von geometrischen Anlagen und daher sollte die territoriale Organisation der USA eine Allegorie auf ihre gesellschaftliche Orientierung sein. Demokratie fordert demonstrative Gleichheit, Durchschaubarkeit und uneingeschränkte Anschlussfähigkeit –

17 „Jefferson criticized the ‚monarchical‘ image of Washington; he proposed […] a plan destined to be extended with the greatest regularity over the entire country. Thus, the egalitarianism of American society was spatially formulated. Jefferson’s proposal for unifying the vast open territories of America was essentially a grid system applied in units of one square mile each.“ André Corboz. Looking for a City in America: Down These Mean Streets a Man Must Go. The Getty Center. 1992. Seite 51

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kurz: einen schlichten Quadratraster.18 Auf keinen Fall würde eine egalitäre Gesellschaft die hierarchischen Einschreibungen fortsetzen wollen, die für die Anlage der Hauptstadt Washington vorgesehen waren. Die USA würden stattdessen einen kategorisch neuen Anfang setzen und fortan imstrikten Quadratraster leben. So lautet zumindest die ideale Version der Geschichte. Manche Historiker meinen, dass Jefferson – später immerhin Präsident der USA – mit der großen Geometrie weit weniger zu tun hatte, als ihm heute nachgesagt wird. Außerdem sei die Quadratrasterung keine Erfindung des Jahres 1785 gewesen, sondern habe ihre Vorläufer schon in der frühen Kolonialzeit gehabt. Doch diese historischen Feinheiten erscheinen kleinlich angesichts der posthistorischen Realität des Rasters. Jefferson hat den USA vielleicht nicht die erste geometrische Ordnung verpasst, aber garantiert die letzte. Es ist nicht wahrscheinlich, dass irgendwann eine neue Rasteridee über den Kontinent gezogen wird und Jeffersons Geometrieideal verdrängt. In Los Angeles kann man diese Endgültigkeit eindrucksvoll bestaunen. In der ganzen Stadt finden sich Inseln aus geometrischer Vorzeit. Downtown wurde gemäß des Law of the Indies angelegt, Santa Monica orientiert sich an der Küstenlinie, ehemalige Ranchos blieben vom Totalraster ausgespart, einige Durchzugstraßen bezeugen den Verlauf ehemaliger Bahnlinien, und dann gibt es noch vollendete Skurrilitäten wie das Crescenta Valley, das wie ein Parallelogramm gerastert ist. Nostalgisch wirken diese mysteriösen Spuren einer vergangenen Ordnungslogik, weil sie beweisen, dass Rasterordnung einmal kontingent war, bevor sie von Jefferson in jeder Weise absolut gesetzt wurde. Der große Nord-SüdQuadratraster ist also auch in Los Angeles immer die erste und letzte Orientierung, der erste und letzte ordnende Takt, egal welches raumgreifende Anliegen verfolgt wird. Alles danach ist nur noch ein Kommentar dazu.

18 „The Surveyors […] shall proceed to divide the said territory into townships of six miles square, by lines running due north and south, and others crossing these at right angels […].” „A Century of Lawmaking for a New Nation: U.S. Congressional Documents and Debates. 1774–1875.“ In: Journals of the Continental Congress 28. 1904. Seite 375; „The plats of the townships respectively, shall be marked by subdivisions into lots of one mile square, or 640 acres, in the same direction as the external lines, and numbered from 1 to 36.“ Ebd. Seite 376

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Als Schlusssatz bliebe jetzt nur noch die pathetische Bekräftigung, dass hier in vorbildlicher Weise ein planerisches Werkzeug auf ein höheres gesellschaftliches Ideal hin ausgerichtet wurde. So sollte es immer sein, und doch hat sich Jefferson fundamental geirrt. Wenn man den Raster wertfrei weiterdenkt, bekommt dieser Irrtum langsam Kontur: „Ein Raster ist ein antihierarchisches unendlich erweiterbares System. Da gibt es in gewissen Grundmustern gar keine Unterschiede mehr zu dem, was in der Architektur oder in der Malerei darunter verstanden wird. Das ist für mich ein wichtiges Gedankenexperiment.“19 Und da gibt es auch keinen Unterschied mehr zu dem, was in Demokratie oder Autokratie darunter verstanden wird – könnte man die pragmatische Feststellung der Rasterkünstlerin Esther Stocker weiterschreiben. Der Quadratraster bürgt nicht für Demokratie oder Gleichheit oder sonst eine politische Vorliebe. Mittlerweile finden sich Quadratrasteranlagen auf der ganzen Welt in den unterschiedlichsten politischen Kontexten und Regimen. Jefferson hat also eine falsche Versicherungshoffnung an die große Geometrie gehängt. Es gibt nicht einmal ein Copyright oder einen privilegierten Zugriff der Demokraten auf den Quadratraster, selbst wenn diese den Raster als ihr großes Demokratieprojekt eingesetzt haben. Der Raster ist ja kein Werk im geistig-schöpferischen Sinn, auf das man Rechte anmelden könnte. Es verhält sich exakt umgekehrt. Der Raster steht jedem Individuum, jeder Disziplin, jedem politischen und sonstigen Interesse frei zur Verfügung. Das klingt gefährlich beliebig, doch erst durch diese radikale Egalisierung wird der Raster wirklich zum Vehikel der planerischen Emanzipation. Der Raster ist ein Aufstand gegen den kreativen Planer und sein Beharren auf dem Besonderen. Der Raster ist generell ein Aufstand gegen die Geschichte, die herausragende Ereignisse oder Bezüge unbedingt in das kollektive Stadtgedächtnis einschreiben will. Der Raster ist genauso ein Aufstand gegen die Natur, die mit Topografie und Klima die Ausbreitung von Kulturlandschaft erheblich bestimmt. Der Raster ist sogar asozial, denn er legt keine gemeinschaftlichen Beziehungen fest, sondern nur eine technische Orientierung. Der Quadratraster ist entgegen dem ersten Anschein nicht einmal gerecht, denn er weist niemandem seinen angemessenen Platz in der geometrischen Basis einer 19 Esther Stocker. „Der Raster als expansionsfähiges und antihierarchisches System“. In: Die dritte Haut: Häuser I. Kunstforum International 182. 2006. Seite 246

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Stadtanlage zu, sondern sieht nur gleichförmige Teile vor. Der Quadratraster ist also das radikalste Neutrum, das es in Architektur, Städtebau, Raumplanung etc. je gegeben hat. Mehr als Variante, Option, Ausweg oder sonstige Spielarten der Kontingenz ist der Raster eine eigene Welt, weil er zwar alles verschluckt, aber außer totaler Ernüchterung nichts zurückspiegelt. Trotz dieser zwiespältigen Bilanz wird den Phänomenologen längst aufgefallen sein, dass hier von ihrem Lieblingsgegenstand die Rede ist. Mit dem Raster wird nämlich Geometrie in einer Weise betrieben, wie man sie in der zeitgenössischen Architektur schon fast vergessen hat – gemeint ist Geometrie als idealer Gegenstand. Man wird die NordSüd-Rasteranlage von Los Angeles an vielen Einschreibungen im Boden erkennen und in vielen Lebensroutinen bestätigt finden, aber in seiner fundamentalen Verfasstheit ist der Raster ein rein geistiges Gebilde. Die Aufzeichnungen in Plänen, Karten und die Einkerbungen im Boden der Stadt sichern – in den Worten Jacques Derridas – lediglich die Überlieferungsfähigkeit.20 Aber diese Sicherungsleistung durch Aufzeichnung ist kein Ersatz, bedeutet auch nicht, dass man den Raster wahrnehmen muss, um ihn zu verstehen. Der Raster von Los Angeles muss zuallererst gedacht werden. Der erste Ort des Rasters ist die Großhirnrinde. „Allgemein gesprochen sind ideale Gegenstände für Husserl geistige Gebilde, die ihren Ursprung nicht in der Natur, sondern in der menschlichen Tätigkeit und insbesondere im menschlichen Denken haben. Bereits konstituierte geistige Gegenstände können denn auch nicht sinnlich wahrgenommen werden, sie werden in ihrem Sinngehalt verstanden und im besten Fall auch in ihrer Entstehung nachvollzogen. Ideale Gegenstände haben gegenüber den in objektivem Raum und in objektiver Zeit lokalisierten und nur perspektivisch wahrzunehmenden Naturgegenständen den gewichtigen Vorteil, allgemein zugänglich und mithin auch streng objektiv zu sein. Ideale Gegenstände sind dem veränderlichen Naturgeschehen entrückt und können von keinem individuellen Subjekt als privates Eigentum in Anspruch genommen werden.“21 20 „Nur die Möglichkeit der Schrift sichert die absolute Überlieferungsfähigkeit des Gegenstandes, seine absolute ideale Objektivität und damit die Reinheit seines Bezuges auf eine universale transzendentale Subjektivität. Sie tut dies, indem sie den Sinn von seiner aktuellen Evidenz für ein wirkliches Subjekt und von seiner aktuellen Zirkulation innerhalb einer bestimmten Gemeinschaft emanzipiert.“ Jacques Derrida. Husserls Weg in die Geschichte am Leitfaden der Geometrie. Wilhelm Fink Verlag. 1987. Seite 116 21 Rudolf Bernet. „Vorwort zur deutschen Ausgabe“. In: Jacques Derrida. Ebd. Seite 18

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Diese prägnante Definition klingt wie das Mission Statement des Jefferson-Rasters. Geografen werden entgegnen, dass Jeffersons Raster gar nicht so abgehoben ist, sondern ein sehr pragmatisches Unternehmen. Nicht nur, weil auf die Erdrundung kein schlüssiger orthogonaler Raster auftragbar ist und diese geometrische Unmöglichkeit die Behauptung einer idealen Anlage verunmöglicht. Überzeugender sind vielmehr die Geschichten über die mühsame tatsächliche Landvermessung, die sich nahe an der Natur orientieren musste. Jede Region hat ihren eignen natürlichen Rasterursprung. Meist ein geografisch herausragender Punkt. In Los Angeles sollte das der Gipfel des San Bernardino Peak sein. Der war aber nicht weit genug sichtbar. Letztlich sind in den Wirren der Durchführung drei unterschiedliche Initial Points gesetzt worden. Damit konnte jedenfalls eine lokale Baseline und ein lokaler Principal Meridian fixiert werden, von denen aus die Rasterquadrate aufgetragen wurden. Die Baseline Street/Road/Avenue in San Bernardino ist die konkreteste gebaute Bestätigung. Tatsächlich knickt aber die Baseline Richtung Osten leicht ab und der Meridian vollführt sogar einen Sprung, der südliche Meridian läuft 277 Fuß versetzt vom nördlichen Meridian.22 Wie viel Pragmatik verträgt also eine ideale Konzeption? Gelegentlich wird darauf hingewiesen, dass Jeffersons Vater Landvermesser war und das große Rasterunternehmen möglicherweise aus der Praxis heraus entstanden ist und nicht als idealer Entwurf. Doch wer sich zu tief in die praktischen und biografischen Geschichten der Land Ordinance of 1785 verliert oder an jedem Fractional Township die mangelnde Präzision beklagt, übersieht wie unbedingt überlegen das reine Denken dennoch auftritt. Eine Gruppe von Planern, Politikern, Landvermessern nimmt sich die Freiheit, mit einer einzigen simplen Idee einen ganzen Kontinent zu formatieren. Höher und rücksichtsloser kann man das Denken nicht über die Umstände heben. „Verantwortlich für den idealisierenden Sprung und die geometrische Wahrheit als solche ist immer ein ‚reines Denken‘. Der inaugurale Charakter des idealisierenden Tuns, die radikale und einbrechende Freiheit, die es an den Tag legt, die entschiedene Diskontinuität, die es seinen vergangenen Bedingungen entreißt, all das macht es einer genealogischen Beschreibung unzugänglich.“23 22 http://www.clui.org/section/san-bernardino-meridian. 22.04.2019 23 Jacques Derrida. Husserls Weg in die Geschichte am Leitfaden der Geometrie. Wilhelm Fink Verlag. 1987. Seite 177, 178

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Diese wenig handgreifliche Definition von Geometrie wird von Architekten gern übersehen und die Großtäter der Baubranche, die Grundstücksspekulanten, Developer und Generalplaner, werden wohl mitleidig lächeln, wenn man sie von der Relevanz des reinen Denkens überzeugen wollte. Doch gerade diese Enthobenheit als rein geistiges Gebilde ist die Grundbedingung für den durchdringenden Erfolg des Rasters. Die absolute Geometrie des Quadratrasters befällt das Denken wie ein Virus und man muss kein Autist sein, um daran haften zu bleiben. Sobald die Denkroutinen einmal mit Rasterlogik in Berührung gekommen sind, ist dem Magnetismus dieser Logik nicht mehr zu entkommen. Dem Raster zu folgen, ist bequem, einfach, naheliegend. Rastergeometrie ist emblematisch, einprägsam und schnell reproduzierbar. Damit ist die Masse der Planungsentscheidungen bereits dem Raster verfallen und der Sog dieser Masse zieht dann auch noch die Abweichler hinterher. So wird aus Werbung und Überredung schnell Gängelung und schließlich hermetische Norm und Pflicht. Der Raster bereinigt also sukzessive alles, was vor ihm da war, und installiert stattdessen ein hermetisches Regime, das Kontingenz vergessen lässt. Nur ein aufwendiger und irrationaler Impuls kann einen von diesem Magnetismus befreien, doch wie oft leistet man einen derartigen Aufstand? Die große Geometrie macht alle zu Opfern – erinnert man sich an Tony Chakars Schilderung – und damit ist der alltägliche Zustand von Los Angeles trefflich beschrieben. Eine ganze Stadt lebt im Quadratraster. Wenn Virilio Geometrie und Land zusammendenkt, dann sind zuvorderst die Straße und das Fahren im Fokus. Durchwegs richtig, gerade in Los Angeles, weil die Geometrisierung des Landes beim Fahren am intensivsten erlebt wird. Aber die Durchdringung mit Rastergeometrie geht noch entschieden darüber hinaus. Nicht nur das Straßennetz folgt der Rastervorgabe, auch die Grundstücke sind gerastert, streng nord-süd, und mit ihnen die Häuser, die Zimmer, die Treppen in die Obergeschosse, die Möbel, jedes T-Shirt, das in einem Schrank hängt oder zusammengefaltet in einer Schublade liegt, jedes Bett und die rechtwinkeligen Kissen darauf. Alles hängt am Raster. Man kann tatsächlich in die wildesten Vorstellungen verfallen, dass jeden Abend Millionen Menschen in Los Angeles entweder in Nord-Süd- oder Ost-West-Richtung liegend einschlafen, dass die meisten Kinder in Los Angeles in Nord-Süd- oder Ost-West-Orientierung gezeugt und geboren werden. Und die Friedhöfe? 337

Der Raster durchdringt sämtliche Lebensbereiche, jeden Gegenstand, jede Aktivität, von der Geburt bis zum Tod.24 Aus heutiger Sicht wird man die Rasterung vielleicht prozessual beschreiben wollen, weil nach wie vor neue Straßen, Häuser, Möbel, T-Shirts in die Rastervorlage eingeordnet werden. Diese prozessuale Deutung hat etwas Milderndes, weil damit suggeriert wird, es könnte eine Einflussnahme geben. Man müsste nur in die prozessuale Bewegung hineindriften und hätte dann die Chance, den weiteren Verlauf zu manipulieren. Ein völliger Irrglaube. Es gibt keine Manipulationsmöglichkeit, genauso wenig wie einen prozessualen Charakter des Rasters. Tatsächlich ist die Totalrasterung bereits abgeschlossen und fertig, weil die prinzipielle Rastervorgabe ausnahmslos installiert ist und der Magnetismus bereits global wirkt. Mittlerweile findet man nicht nur T-Shirts und Betten in Nord-Süd-Richtung orientiert, sondern es werden auch Landesgrenzen, Schürfrechte, Zeitzonen, Flugverbotszonen anhand von Breiten- und Längengraden festgelegt. Entlang des Rasters wird also bereits global verdient, gestorben und Silvester gefeiert. Weit über die USA hinaus ist der Raster ein Instrument der Weltordnung.25 Alles ist Raster. Damit ist letztlich das große Dilemma des Totalrasters aufgedeckt. Selten zuvor in der Geschichte waren so viele Menschen in so hohem Maß von einer einzigen Geometrie beherrscht. Wollte man totale Kontrolle, man könnte kein geeigneteres Werkzeug wählen als eine Totalrasterung. Wem das zu abwertend klingt, der kann diese Vorgangsweise wie Christian Lavagno die Ordnung des Diskurses nennen. Der ideale Plan

24 „denn die Ausgänge um sie herum sind versperrt, der Raum unbelebbar, unbrauchbar gemacht, die erhöhten Punkte sind ihnen genauso untersagt, wie ihr ‚natürliches Milieu‘; sie sind alle im Netz, den Gesetzen einer Geoemtrie unterworfen.“ Paul Virilio. Fahren, fahren, fahren … Merve Verlag. 1978. Seite 70 25 „Die imperiale Planung der Römer suchte eine Stadt in einem einzigen Schlag zu entwerfen, die römische Geographie wurde dem Land in dem Moment aufgezwungen, da die erobernde Armee das Territorium gewonnen hatte. Das städtische Gitter diente den Interessen Roms, weil dieses geometrische Bild unabhängig von der Zeit existierte. Aber eine solche Planung setzte voraus, dass es auf dem eroberten Gebiet ‚nichts‘ gab. Es schien den römischen Eroberern in der Tat so, als ob sie in die Leere marschierten, obwohl die Landschaft in Wirklichkeit dicht besiedelt sein mochte […].“ Richard Sennett. Fleisch und Stein. Der Körper und die Stadt in der westlichen Zivilisation. Suhrkamp Verlag. 1997. Seite 139, 140

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schreibt dabei den Gegebenheiten die Wahrheiten vor.26 Es ist, was sein soll. Aus Architektenperspektive eine verlockende Abfolge, weil allerhöchste Souveränität suggeriert wird. Aber der Raster teilt diese Souveränität nicht, sondern bietet nur an, sich zu ergeben. Vielleicht muss man an diesem Punkt Jefferson rehabilitieren, mehr noch, vielleicht muss man sogar wohlwollend unterstellen, dass er als einziger die totale Dimension des Rasters geahnt und seine Vorahnung in ein geniales Manöver gewendet hat. Die Totalrasterung der Welt war im Zuge der Pre-Industrialisierung und Pre-Funktionalisierung ohnehin nicht mehr aufzuhalten. Es war also wesentlich klüger, diese Entwicklung als ein exklusives Projekt der Demokratie umzudeuten, als sich in eine aussichtslose Konfrontation zu verwickeln. Dem Totalraster wird also ein oppositionsfreier Start ermöglicht. Entsprechend total verläuft die weitere Ausarbeitung, und entsprechend total darf die Demokratie ihre Urheberschaft behaupten – auch wenn das mittlerweile niemand mehr glaubt.

Evaluierter Ort Bethlehem Baptist Church, 1944 von Rudolph Schindler geplant, Adresse: 4901 S. Compton Ave. Wer kennt die Compton Avenue? Niemand. Ergänzt man Ecke East 49th Street, wird die Sache plötzlich klar, mehr als klar sogar, denn man bekommt mehr Information, als man will. Wer eine Adressangabe an der 49sten Straße erhält, kann nicht mehr verhindern, dass er damit gleichzeitig in die Gesamtanlage der Stadt eingewiesen wird. Vor der 49sten werden mindestens 48 Straßen verlaufen, und deren Straßennamen werden die Zahlen von 1 bis 48 sein. Über die Lage der 140sten Straße in Relation dazu wird man ebenso wenig spekulieren müssen, selbst wenn sie noch gar nicht gebaut ist. In den knappen Angaben, die man erhält, um sich überhaupt in der Stadt zu orientieren, ist bereits die gesamte Logik der Stadt enthalten, sogar über den Ist-Zustand 26 „[D]  as moderne Denken kennt zwei Arten der Wahrheit, von denen die eine zur ‚Ordnung des Objekts‘, die andere zur ‚Ordnung des Diskurses‘ gehört. Im ersten Fall orientiert sich der Diskurs an den Fakten, so dass man es mit Analysen poisitivistischen Typs zu tun hat; im zweiten Fall stellt der Diskurs ideale Modelle auf und schreibt dadurch den Gegebenheiten die Wahrheiten vor – es handelt sich folglich um einen kritisch-eschatologischen Diskurs.“ Christian Lavagno. Rekonstruktion der Moderne. Eine Studie zu Habermas und Foucault. LIT Verlag. 2003. Seite 213, 214

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hinaus. Genau darin liegt das ungewollte Mehr an Information, das man in Los Angeles aufgedrängt bekommt. Diese Aufdringlichkeit wäre nicht weiter besprechenswert, wenn sie sich im bloßen Mehr an Information erschöpfen würde. Der eigentliche Schaden entsteht jedoch indirekt. Indem eine simple Adressangabe die gesamte Aufschlüsselung der Stadtanlage aufdrängt, ist gleichzeitig eine scharfe Absage an die individuelle Adresse getätigt. In Los Angeles ist örtliche Individualität nicht mehr ansprechbar und nicht mehr aussprechbar. Wer versucht, auf einen individuellen Punkt hinzuweisen, der weist zuallererst auf die Totalität der Gesamtanlage hin. Dieser kollektiven Sprachstörung ist nicht zu entkommen. In einer ersten Bewertung wird man trotzdem die Anwenderfreundlichkeit der numerischen Stadtorganisation betonen, egal welche Sprachstörungen damit einhergehen. Hauptsache, man kann die Stadt nun selbstständig verrechnen, ohne Stadtpläne, ohne antrainierte Mental Maps, ohne Vorort-Erfahrung. Im Straßen- und Adresslayout lässt sich wie in einem Koordinatenfeld navigieren, und so legt sich die Totalität der numerischen Anlage wie ein erster Orientierungsfilter über jeden Wahrnehmungsinhalt. Die alltägliche Konsequenz dieser Überblendung würde Christoph Asendorf als Amalgamraum bezeichnen.27 Die ideale mathematische Anlage und die reale Anlage werden gleichzeitig gesehen und gleichzeitig verarbeitet.28 Man haftet mit den Autoreifen an der Realanlage der Stadt, steckt aber mit dem Kopf in der Idealanlage der Stadt, folgt den asphaltierten Einschreibungen am Boden, nimmt sie aber vor dem Hintergrund der idealen Vorausinformation wahr. Man fährt und rechnet, biegt ab und denkt einen rechten Winkel, fährt zurück und subtrahiert Adressnummern und Querstraßen, fährt noch mehr 27 „Heute finden sich vielleicht am ehesten in der Militärluftfahrt Ausrüstungen, die noch einmal ein wirklich neuartiges Raumbild entstehen lassen, für das man den Terminus ‚Amalgamraum‘ vorschlagen könnte. […] Jetzt bekommen die Insassen alle Informationen in ein Monokel eingespiegelt, einen vielleicht 4 cm großen Kleinbildschirm, der, am Helm befestigt, vor dem rechten Auge sitzt. Während dieses einen nie abreißenden Informationsfluss aufnimmt, steuert der Pilot mit dem anderen Auge die Maschine, was eine nur sehr schwer erlernbare Gleichgewichtsleistung des Gehirns voraussetzt.“ Christoph Asendorf. „Bewegliche Fluchtpunkte – der Blick von oben und die moderne Raumanschauung“. In: Christa Maar, Hubert Burda. Hrsg. Iconic Worlds. Neue Bilderwelten und Wissensräume. DuMont Buchverlag. 2006. Seite 43, 44 28 „Gerade weil die Idealität des geometrischen Raumes nicht phantasiemäßig ist, also nicht sinnlich, kann sie sich paradoxerweise auf die Gesamtheit der sinnlichen Welt beziehen und ist eine angewandte Geometrie möglich; und das so weit, daß sie sich für uns mit der ‚wahren Natur‘ vermengt, die sie zugleich verbirgt.“ Jacques Derrida. Husserls Weg in die Geschichte am Leitfaden der Geometrie. Wilhelm Fink Verlag. 1987. Seite 168

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Additionen und Subtraktionen und wird immer souveräner. Denn je strikter die reale Anlage der idealen Anlage angepasst ist, desto mehr entfernt man sich vom Boden und findet sich nur noch über die Stadt hinausgehoben. Man denkt dann nur noch den idealen Plan und verlässt die Stadt gänzlich. Doch diese denkende Schwebelage ist höchst instabil. Schon im nächsten Augenblick kann irgendeine Tatsache vom Ideal abweichen und sogleich tritt eine unerträgliche Asynchronität auf, die einen sofort wieder auf die Verhältnisse vor Ort zurückverweist. Ein Unfall, eine Störung, ein Stau, oder man fährt einfach einen Berg hoch und findet sich plötzlich in verschlungenen Serpentinen wieder, die jedem idealen Plan widerstehen. Gelegentlich verfängt man sich in einem Rollfeld und auch dort steht man plötzlich außerhalb des idealen Plans. Doch gerade an den Versagensfällen wird die prinzipielle Hierarchie geschärft: Dort, wo die Anlage dem Raster entspricht, erscheint der Raster als harmlos bestätigende Norm. Dort, wo die Anlage aber vom Raster abweicht, wird der Raster plötzlich aktiv. Das bloße Wissen um die Idealanlage macht die Totalität des Rasters zu einer aufdringlichen Soll-Instanz, die jede Anomalie erst als solche qualifiziert. Der ideale Raster hat immer recht. Tatsächlich sind weite Teile von Los Angeles nicht dem Raster entsprechend angelegt, aber gerade sie werden vom Raster dominiert, weil ihr erstes Identifikationsmerkmal die Abweichung vom Ideal ist. Architektursyntaktisch ist das eine kategorische Umwertung. Denn die Abweichung ist von nun an der neue Steckbrief dessen, was man in Besprechungen zur Stadtdramaturgie gern einen Ort nennt. Ein Ort wird in Los Angeles nicht als selbstbestimmtes städtisches Individuum erlebt, sondern zuallererst als Störung, als Defizit, als mehr oder weniger schwerer Fehler im idealen System. Und ausgerechnet die Topophilen, die sich mit erhöhter Aufmerksamkeit dem individuellen Ort nähern, werden eine durchweg fehlerhafte Stadt vorfinden, denn eine Differenz, mindestens eine Ungenauigkeit zum Ideal wird es überall geben. Kein Ort kann präziser, geordneter, regeltreuer sein als der große Raster. Individualität wird also immer in die andere Richtung weisen und als mehr oder weniger peinliche Unzulänglichkeit in Erscheinung treten. Das muss als Konsequenz keinen generell mitleidigen Blick auf das Lokale bedeuten. Vielfach wird die Abweichung von der Norm sogar als positive Eigenschaft gesucht und gewertet – aber dennoch ist ein Wertgefälle installiert, das nicht zu relativieren ist. Der Ort ist immer der Fehler im System. 341

Als schnelle Entgegnung wird einem sofort Kevin A. Lynch einfallen, der in seinem Buch Das Bild der Stadt eine exakt gegenteilige Wertung ausarbeitet. Während man sich in Los Angeles am maximal neutralen Quadratraster orientiert und das Besondere als Unzulänglichkeit registriert, schlägt Lynch vor, sich am Besonderen zu orientieren und die Normalstadt als defizitären Hintergrund auszublenden. Bei Lynch ist also das Normale der Fehler im System. Reyner Banham macht sich diese Sichtweise zu eigen, wenn er die großen Rasterebenen von Los Angeles kurz und knapp als langweilig bezeichnet: „the only parts of Los Angeles flat enough and boring enough to compare with the cities of the Middle West.“29 Ordnungssyntaktisch ist damit die Postmoderne auf die kürzest mögliche Formel gebracht: Nicht mehr die Regel hat recht, sondern die Ausnahme. Diese postmoderne Umkehrung unterstellt natürlich einen Konflikt zwischen groß und klein, und kalkuliert mit den sehr einseitigen Sympathien, die jeden ungleichen Konflikt begleiten. Große, böse, unterdrückende Ordnung versus kleine, inspirierende, befreiende Ausnahme. Doch dieses Sympathiespiel ist eine gefährliche Verniedlichung, wie gerade die Vorgehensweise von Lynch verrät.30 Er wendet sein postmodernes Orientierungssystem exemplarisch auch auf Los Angeles an, aber nicht auf das große, typische Los Angeles mit Banhams langweiligen Rasterebenen, sondern nur auf das vergleichsweise marginale DowntownAreal, das durch seine frühe Entstehung gar nicht nach Jeffersons Totalraster angelegt ist. Lynch trifft also bereits vorab eine grob verfälschende Auswahl. Er sucht sich einen abnormalen Stadtbereich und ausgerechnet an dieser kleinen städtischen Anomalie erörtert er sein Orientierungssystem, das für Los Angeles insgesamt nur unzutreffend sein kann. Warum macht er das? Die Antwort auf das Warum führt überraschenderweise zum Totalraster zurück. Es geht Lynch gar nicht um Orientierung. Er verwendet Orientierung nur, um seine postmoderne Stadtchoreografie zu promoten. Sensation ist gleich Ort, lautet die einfache Regel dieser Choreografie und jenseits davon gilt das Gegenteil: Banalität ist gleich Unort. Wem das immer noch unverdächtig oder als sympathische Solidarität mit der bedrängten Ausnahme erscheint, der hat die Härte der Methode nicht erkannt. Mike Pearson ist da bereits abgeklärter, er empfiehlt, 29 Reyner Banham. Los Angeles: The Architecture of Four Ecologies. University of California Press. 2001. Seite 155 30 Kevin Lynch. Das Bild der Stadt. Friedrich Vieweg & Sohn Verlag. 1989

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choreografische Absichten zugespitzt zu verstehen. Für ihn ist Choreografie durch Voreingenommenheit charakterisiert: „Indem sie die Aufmerksamkeit vorrangig auf bestimmte Orte richtet, kann es vorkommen, dass sie andere Orte, die nicht in ihre Interessensphäre fallen, unbeachtet lässt, ignoriert oder ganz bewusst nicht anerkennt. Die Choreographie zeichnet sich durch Voreingenommenheit aus, ihre Ergebnisse sind sozusagen parteiisch.“31 Und genau in dieser Voreingenommenheit gleichen sich der Totalraster von Jefferson und die postmoderne Stadtchoreografie von Lynch. Die Voreingenommenheit ist beides Mal die systemische Instanz. In Jeffersons Totalraster erscheint ein Ort nicht als selbstbezügliches Ereignis, sondern als mehr oder weniger ausgeprägte Abweichung vom vordefinierten Ideal. Aber auch bei Lynch darf kein Ort selbstbezüglich in Erscheinung treten. Zuallererst wird wieder ein vordefinierter Bewertungsfilter installiert, der präzise auf Sensation geeicht ist, und erst danach dürfen sich Orte oder Architekturen bei den Sensationssuchern um Anerkennung bewerben. Man darf Lynchs vermeintliche Hingabe an den besonderen städtischen Ort also nicht naiv lesen. Sein Eintreten für die Ausnahme und die Sensation wirkt zwar sympathischer als das Festkleben an einem strikt quadratischen Totalraster, aber Lynchs Stadtchoreografie ist nichts anderes als die postmoderne Version eines Totalrasters. Wie die große Geometrie nimmt auch Lynch ausschließlich bewertend wahr, er evaluiert. „Wir kennen bis heute drei große Typen der Organisation von Menschen, die stammesmäßige, die territoriale und die numerische.“32 Soweit die Organisationstrilogie von Gilles Deleuze und Félix Guattari, doch in dieser Liste fehlt der wichtigste Organisationstyp unter zeitgenössischen Verhältnissen. Die evaluierende Organisation ist heute das erste Instrument jeder Systemorganisation. Das betrifft nicht nur technische, sondern gleichermaßen soziale Systeme und es bedeutet immer eine Zumutung. Die Evaluierung ist die hochaggressive Doppelpackung aus Erfassung plus Bewertung und damit die verschärfte Weiterführung der Wahrnehmungsdefinition. Der Unterschied zwischen Sehen und Wahrnehmen ist reichlich erläutert worden: Wahrnehmen ist Sehen mit Absicht, bei der Wahrnehmung wird der Akt des Sehens bereits durch eine Selektiongeschleust. Die Evaluierung ist allerdings eine entscheidende Steigerung, 31 Mike Pearson. „Lexikon“. In: Documenta und Museum Fridericianum Veranstaltungs-GmbH. Documenta Magazine No 3, 2007. Education. Taschen. 2007. Seite 48 32 Gilles Deleuze, Félix Guattari. Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie. Merve Verlag. 1992. Seite 536

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Evaluierung bedeutet, aus der Perspektive einer Totalität wahrzunehmen und zu bewerten. Wahrnehmung war noch das individuelle Suchlicht eines begehrenden Subjekts, Evaluierung aber ist Unterwerfung durch flächendeckende Verurteilung. Wer evaluiert wird, hat permanent Urteilslast zu tragen. Das klingt hart, beschreibt aber präzise das massive Ungleichgewicht zwischen einem alles erfassenden Souverän und den einzelnen Erfassungszielen, die diesem permanenten Zugriff ausgeliefert sind. Ausgeliefert allerdings auch im Sinne der Verurteilungskriterien, denn die Evaluierung ist das Ende der Kontingenz, sie lässt nur gelten, was sie bereits kennt.33 Das Feld wird mit einer hermetischen Matrix aus vorgefertigten Meinungen, Erwartungen, Regeln und Benchmarks gescannt. Das Bekannte ist der absolute Souverän. In Managementtheorien taucht zwar öfter das Wort Wildcard auf, das unerwartete Hervorbringungen bezeichnet, die man als evaluierende Instanz ausnahmsweise nicht übersehen sollte, weil sie hohen Innovationswert versprechen. Aber gerade die Einführung einer Rettungskategorie für Unvorhergesehenes beweist, wie hoffnungslos hermetisch der evaluierende Blick im Normalfall ist. Wobei man zumindest als halbe Entschuldigung gelten lassen muss, dass eine Evaluierung nicht frei konzipierbar ist, sondern stattdessen der Ablauf die Evaluierung bestimmt. Womit wieder von der großen Geometrie die Rede ist, allerdings in einer noch abstrakteren Form als bereits vom raumplanerischen Totalraster bekannt. Der Ablauf einer Evaluierung ist immer ein totaltechnischer, denn nur ein Technocode ist in der Lage, Masse zu filtern und Masse zu beschreiben, einfühlsame Prosa würde daran scheitern.34 Das bedeutet, jedes Bewertungskriterium muss in einen Algorithmus übersetzt werden, der dann automatisiert bewertet. Die Logik des Technocodes ist dann wieder die vorausdefinierte Instanz, die entscheidet, was überhaupt evaluiert werden kann und was nicht. Dieser technische Ranking-Horror gilt gleichermaßen für Lynch, auch seine sensationssensiblen, teilweise romantischen 33 „Auf ähnliche Weise bestand der vorrangige Effekt der wissenschaftlichen Regeln darin, einen Standard zu schaffen – eine erfolgreiche Version der normalen Wissenschaft, die Kartografen befähigte, eine Mauer um ihre Zitadelle der ‚wahren‘ Karte zu errichten. Deren zentrale Bastionen waren Abmessungen und Standardisierungen, und dahinter gab es ein ‚nicht-Kartografie‘-Land, wo eine Armee der ungenauen, ketzerischen, subjektiven, bewertenden und ideologisch verzerrten Bilder auf der Lauer lag.“ John Brian Harley. In: An Architektur. Produktion und Gebrauch gebauter Umwelt 11. 2004. Seite 8 34 „denn die Technocodes sind die ‚Schriftsprachen‘ der Zukunft.“ Vilém Flusser. Kommunikologie. Fischer Verlag. 2000. Seite 145

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Stadtstimmungen müssen letztlich in Formeln und Ergebnistabellen übersetzt werden, die dann automatisiert postmoderne Rankings bezeugen. Wie viel Retrozitate braucht es, um als kultig zu gelten; wie viel Ethnozitate braucht es, um als natürlich zu gelten; wie viele auskragende Bauteile braucht es, um als neues Landmark-Gebäude zu gelten. Evaluierung ist in ihrer betriebswirtschaftlichen Essenz also ein riesiges Übersetzungsunternehmen von Leben in Zahlen. Computersysteme haben für diese Übersetzung sogar ein neues Wesen erschaffen: die Technoidentität eines Menschen nennt man dort einen User. Für die Technoidentität eines architektonischen Ortes gibt es noch keinen äquivalenten Begriff, aber der lässt sich schnell finden. Weil auch der architektonische Ort zunehmend parametrisiert und protokolliert wird, sollte man nicht mehr nur vom Ort, sondern auch von der Ortung reden. Die Ortung ist die Technoidentität des Ortes, sie ist die Summe der planlichen, fotografischen, statistischen, betriebswirtschaftlichen etc. Erfassungsdaten eines Ortes. Diese Übersetzung des Ortes in eine Ortung ist aber nicht nur eine technische Verdoppelung, sondern sie löst einen systemischen Sprung aus. Denn als Übersetzungsunternehmen beginnt die Evaluation nicht mehr nur bewertend wahrzunehmen, sondern eine eigene Welt zu synthetisieren. Die Ortungsdaten werden gesammelt, verknüpft und bilden sukzessive ein in sich interagierendes Gebilde. Die ursprünglich direkte Beziehung zwischen Mensch und User oder Ort und Ortung wird dabei abgelöst durch eine systemische Solidarität. Mensch, Ort, Leben sehen sich gleichermaßen am Boden der Tatsachen abgestellt, während ihnen User, Ortung und alle anderen Technoidentitäten als hermetische Evaluierungswelt gegenüberstehen. Denkt man diese Synthetisierung in den Plural, wird klar, was heute die eigentliche Stadt ist: ein allwissendes Zahlengebilde, das alle verfügbaren Daten beherrscht. Manchmal überkommt einen dennoch naive Freude, wenn man auszugsweise Pläne, Diagramme, algorithmische Modelle, Erfassungsinhalte, Kaufkrafteinschätzungen, Erdbebenwahrscheinlichkeiten, Geburtenstatistiken etc. in die Hand bekommt und damit Entscheidungen fundieren kann. Aber man muss nicht paranoid sein, um an dieser naiven Freude schnell zu ersticken. Denn während man einen dieser Datenauszüge stotternd entziffert, hat das große digitale Ortungsgebilde alle Daten permanent im Kopf. Jeder Mensch und jeder Ort wird also ständig beschämt und marginalisiert von einem zweiten, digitalen Los Angeles, 345

einer Metastadt der Zahlen und Daten, die in dunkler Überlegenheit zu dem existiert, was in Los Angeles Tag für Tag in der Tat passiert. John Brian Harley erinnert daran, dass der gewöhnliche Straßenatlas eines der meisterverkauften Taschenbücher in den USA ist, und er macht darauf aufmerksam, dass dies nicht ohne massive Wirkung bleiben kann.35 Eine Aussage aus dem Jahr 2004. Mittlerweile wirkt seine Angst klein, denn er hatte 2004 die Eröffnung der Online-Kartendienste noch nicht miteinkalkuliert. Über das Flugbild der Stadt wird eine immer dichtere Matrix aus bewerteten Informationen gelegt, die in ihrer Überlegenheit nicht einmal mehr Diskretion kennt. Namen, Logos, Sterne, Fotos, weiterführende Links, Erfahrungsberichte und noch mehr Tiefeninformation zu jedem Punkt. Man muss unweigerlich an Yona Friedman denken, an seine Idee der Megastadt über der Stadt. Nur ist die Überstadt von heute praktischerweise rein digital, in ihrer erdrückenden Souveränität aber nicht minder brutal.36 Diese beklemmende Diagnose der Jetztzeit lässt viele in die Vergangenheit schielen auf der Suche nach befreiten Zuständen. Doch die wird man so schnell nicht finden. Mit der Land Ordinance of 1785 werden die USA in Quadrate aufgeteilt, und 5 Jahre später, 1790, findet der erste United States Census statt. Die erste Volkszählung und damit die erste Evaluierung dessen, was das große amerikanische Quadratland an Bevölkerung zu bieten hat. Alles was danach kam und noch kommen wird, ist nur eine Detaillierung dieses prinzipiellen Auftakts. Der Städtebau muss sich also seit mindestens 200 Jahren in diese neue Hierarchie fügen. Wer auf Stadt Einfluss nehmen will, muss zuerst durch die Ortungen navigieren, um davon Entscheidungen für den Umgang mit dem Ort abzuleiten. Den oft gehörten Einwand, dass die mathematischen Ortungen den originalen architektonischen Ort nur verstümmelt wiedergeben, manchmal nur noch eine kümmerliche Karikatur darstellen, darf man 35 „Man sollte zum Beispiel die Tatsache bedenken, dass der gewöhnliche Straßenatlas eines der meistverkauften Taschenbücher in den USA ist, und dann versuchen abzuschätzen, wie dieses die Wahrnehmung der USA durch den gewöhnlichen Amerikaner beeinflusst haben mag.“ John Brian Harley. In: An Architektur. Produktion und Gebrauch gebauter Umwelt 11. 2004. Seite 18 36 „Wenn sie erst einmal in den veröffentlichten Text eingebettet sind, bekommen die Linien in der Karte eine Autorität, die sich nur schwer verdrängen lässt. Karten sind autoritäre Bilder. Ohne dass wir uns dessen bewusst sind, können Karten den Status Quo bestätigen und legitimieren. Während sie manchmal die Mittel des Wandels sind, können sie genauso gut zu konservativen Dokument werden. Doch in beiden Fällen ist die Karte niemals neutral. Wo sie neutral zu sein scheint, ist es die heimtückische ,Rhetorik der Neutralität‘, die uns zu überzeugen versucht.“ John Brian Harley. Ebd. Seite 18

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zustimmend abnicken – und trotzdem vergessen. Tatsache ist, dass ohne Ortung kein Ort mehr auffindbar, kontaktierbar, verwertbar, weiterentwickelbar ist. Und das ist als Drohung an alle zu verstehen, die heute mit einem Ausstieg aus der digitalen Unterdrückung liebäugeln. Wer nicht wenigstens auf einem Partialsystem der großen Geometrie als Eintrag auftaucht, der existiert tatsächlich nur noch für sich selbst, als intime Verlassenschaft, ganz auf sich selbst zurückgefallen – und das hat noch nie gereicht. Gegenreflex: Muss man die Stadt, den Ort, das Individuum nicht in Schutz nehmen vor der großen Ortung und den Konsequenzen, die sie auslöst? „Das von ihnen angesprochene Spannungsfeld zwischen ‚Care‘ und ‚Control‘ ist eine Arbeitshypothese. Es ist banal, Überwachung als negativ, unterdrückend oder gar konspirativ anzusehen und gleichzeitig ‚über etwas wachen‘, ‚sich um etwas kümmern‘ oder ‚schützen‘ als positiv und akzeptabel.“37 David Lyon äußert zum Thema Überwachung einen logischen Einwand, der auch für die große Ortung eine einseitige Beurteilung suspendiert. Denn die flächendeckende Evaluierung ist nicht nur ein aggressiver Übergriff, sondern gleichzeitig die größte je dagewesene Integrationskraft. Diese Integration darf man allerdings nicht nur allegorisch verstehen, sondern konkret kulturtechnisch. Die Postmodernen haben vom Ende der großen Geschichten und vom Ende der großen Ordnungen geträumt und gewarnt zugleich. Recht haben sie, hier wird ihnen nicht widersprochen. Aber statt großer Geschichten gibt es jetzt allesumfassende Algorithmen, und der Verlust der großen Ordnungen ist ersetzt worden durch die großen Ortungen. Nach dem Ende der epischen Formate ist die permanente Rasterfahndung die letzte versammelnde Routine. Die Gesellschaft hat sich also doch nicht in endloser Differenz und Hyperindividualität zerfranst, denn es finden sich ja alle wieder harmonisch vereint in den großen Datenbanken. Ausgewandert und doch in den ewigen Passagierlisten und Biometrikarchiven anwesend. Ins psychotische Exil hineingesteigert und doch als Patientenkartei jederzeit ansprechbar. Geschichtsvergessen und doch in den Google-Straßenaufnahmen für die ewige Geschichtsschreibung gespeichert. Jedes noch so verweigernde Element wird dabei aufgespürt und über einen digitalen Steckbrief verfügbar 37 David Lyon. „Wir haben gerade erst begonnen. Überwachen zwischen Klassifikation und Ethik des Antlitzes“. In: Leon Hempel, Jörg Metelmann. Hrsg. Bild – Raum – Kontrolle. Suhrkamp Verlag. 2005. Seite 24

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gehalten. Wer von hier weiterdenkt, wird die architekturgeschichtliche Rolle von Google Street View und ähnlichen weltumspannenden Archiven nicht mehr übersehen und nicht mehr unterschätzen können. Vor allem weil damit nicht nur algorithmisch gefiltert wird, sondern weil jetzt ganze szenische Abbilder erfasst werden. Letztlich wird sogar die Übersetzung von Leben in Zahlen überflüssig werden, weil sich die Welt unmittelbar ins binäre Archiv verdoppeln lässt. In diesen Skizzen wird wieder ein Groß-Klein-Konflikt unterstellt, der für den Einzelnen stimmen mag, aber gerade in der Konfrontation mit Architektur ein umgekehrtes Verhältnis annimmt. Während der ortende Blick von oben früher nur wenigen vorbehalten war, ist seit der Transparentmachung der Stadt durch Jeffersons Quadratraster der Aufstieg der Masse in das Oben eingeleitet worden. Wer ein Quadrat denken kann, der kann ganz Los Angeles von oben sehen. Und diese Einsetzung der Masse in die Draufsicht wird gerade heute weiter ausgearbeitet und popularisiert, mit Satellitenbildern, Smartphones, GPS, Geocaching etc., und das alles so forciert, dass man einen generellen Umsturz der Perspektive akzeptieren muss. Wer heute in eine Stadt kommt, wer heute auf Architektur trifft, der hat vorausrecherchiert; wer ein Geschäft betritt, ist vorher mit Bewertungen, Empfehlungen, Gutscheinwerbungen ausgestattet worden. Es war für den Einzelnen noch nie so leicht, souverän aufzutreten. Wobei auch hier wieder die Kombination aus Erfassung und Bewertung den enormen Druck erzeugt. Der derart vorinformierte Architekturkunde ist für die Architektur selbst durchaus zur Plage geworden. Inmitten der Vorauswelle aus Sternen, Hauben, Rankings, Likes kann die Architektur vor Ort kein ungezwungenes Verhältnis mehr stiften. Jeder weiß schon vorher, ob etwas schmecken oder nicht schmecken wird. Wo ist denn die Postmoderne, wenn man sie braucht? – könnte man ironisch fragen. Wo ist Antonin Artaud und seine akute Gegenwart, wenn alles schon vorerlebt ist? Wo ist Gernot Böhme und seine Ekstase der Dinge, wenn man nur noch auf Bekanntes trifft? Damit kommt man letztlich zur Problemstelle der großen Ortung, die am schwersten wiegt. Es kann einem mehr als nur langweilig werden, wenn man so souverän ist, alles vorher schon sieht, kennt, durchschaut. Sturz in die Banalität, so nennt es Jean Baudrillard in einer erweiterten Betrachtung.38 Der einzige 38 Jean Baudrillard. „Die Szene und das Obszöne“. In: Dietmar Kamper, Christoph Wulf. Hrsg. Das Schwinden der Sinne. Suhrkamp Verlag. 1984. Seite 284

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Sturz, der in einer offensichtlichen Welt noch passieren kann. Das Fatale darin ist, dass man dabei nicht einmal mehr einen Sturz erleben wird, sondern nur die Einsicht, dass man bereits am Ende von allem angekommen ist.

Perfektes Architekturstalking Menü natürlich – meist weiß man schon vor Betreten des Restaurants, was man essen wird. Der Counter steht an der erwarteten Stelle, die Menüorder verläuft im bekannten Wortlaut, die üblichen Toiletten befinden sich hinter der üblichen Tür, bald darauf verlässt man das Schnellrestaurant. Einige Stunden später, an einer gänzlich anderen Adresse der Stadt, das gleiche Prozedere. Wieder McDonald’s, gleiches Menü, gleicher Counter, gleiche Kurzkonversation, gleiches Lächeln, gleiche Toilette, alles gleich. Man könnte das Restaurant bereits blind benutzen, so auswendig kennt man die Architektur und die Nutzungsroutinen darin. Wahrnehmungstheoretisch ist man gar nicht mehr am konkreten Ort, sondern in einem längst verinnerlichten Wiederholungsbild. Los Angeles als Stadtmodell wird erst dann verständlich, wenn man beginnt, seine Déjà-vus nicht mehr ganz so gelassen zu nehmen. Üblicherweise sucht man wie Kevin A. Lynch in Städten das Besondere, Einzigartige und übersieht dabei absichtlich die bekannten Geschäftsund Restaurantketten. In Los Angeles aber ist genau diese Masse an Bekanntem nicht mehr zu ignorieren. Wo man auch hinkommt, überall trifft man auf identische Architekturen, Handlungssequenzen, Ereignisszenen. Man tankt bei Chevron, isst bei McDonald’s oder Wendy’s, kauft bei Sears, Ralphs, Ross Dress for Less, Kmart, Payless ShoeSource. Für jeden Wunsch und jeden Service fällt einem sofort eine Kette ein, die sich mit gewohnten Routinen zur Verfügung hält. Man muss das Netzwerk aus Verlässlichkeit nie verlassen, das betrifft die Abläufe genauso wie die Architektur. Wenn man in der zeitgenössischen Stadt nach Architektur sucht, die als Referenz für absolute Erwartungssicherheit gelten kann, dann ist das eindeutig die Kette. Egal welche Irritationen einem in allen anderen Architekturen widerfahren, die Kette bietet sich jederzeit als Ort der unbedingten Verlässlichkeit an. Verstärkt wird dieser Effekt durch die Tendenz der Kette, sich zu All-inclusive-Konglomeraten zu formieren. Ein Supermarkt, eine Tankstelle, eine Apotheke, eine Bank, ein Friseur, ein Schuhgeschäft, natürlich 349

ein bis zwei Fast-Food-Läden und ein Familienrestaurant, meist Sizzler oder Denny’s, alles eingelassen in die gewohnten CorporateIdentity-Architekturen. „What is a city? You could say that a city is a bath every 100 meters, or a computer every 40 meters, etc. These are quantifiable data making up a city.“39 Andrea Branzi von Archizoom hat die Logik der Kette schon sehr früh auf das generelle Verständnis von Stadt angewandt. Die systematische Verteilung von verlässlichen Servicepunkten ergibt eine moderne Stadt. Genauso funktioniert Los Angeles. Stadt entspringt nicht mehr dem Hier und Jetzt, sondern wird vom Infrastruktur-Algorithmus des Totalrasters initiiert. Das Ergebnis sind keine Bottom-up-Orte, sondern Statistik-down-Ortungen. Es findet idealerweise keine Anpassung an den lokalen Verhältnissen statt. Man kann an der einzelnen Kettenfiliale nicht ablesen, wo man sich gerade befindet, in welcher Position oder Relation zur übrigen Stadt. Die Kette konterkariert geradezu Lynchs Stadtchoreografie. Statt Orientierung durch Individualisierung bewirkt die Kette das genaue Gegenteil, totale Desorientierung durch Verweigerung jeglicher Spezifik. Man erinnert sich wieder an die Serie, eine Idee, die mit der Moderne groß geworden ist und die Suburb wesentlich bestimmt. Wenn man Suburb-Häuser in Serie herstellen kann, dann kann man ebenso Schnellrestaurants und jede andere Architektur in Serie herstellen. Verfahrenstechnisch ist das kein Unterschied. Aber aus der Sicht des Nutzers ist die Kette dennoch eine gänzlich andere Kategorie als die Serie. Die Serie ist nur durch ihre gleichzeitige Präsenz als Serie architektonisch relevant. Das montierte Haus ist in Unruhe, aber daneben steht ja schon ersatzweise das nächste und nächste und nächste. Nur in dieser demonstrativen Redundanz erfüllt die Serie ihren Zweck, die Unruhe der Montagearchitektur zu kalmieren. Die Kette hingegen verfolgt eine heimliche, infiltrative Strategie. Die tatsächliche Verteilung der Kette wird nicht aktiv kommuniziert, streng genommen weiß man als Kunde gar nichts von einer Kette. In Amerika gibt es über 12.000 McDonald’s-Restaurants, aber wer hat jemals zwei nebeneinander gesehen? Im Prinzip kennt man nur einen einzigen McDonald’s, dem man aber auf gespenstische Weise viel zu oft begegnet, egal wohin man fährt. 39 Andrea Branzi. Lecture. Berlage Institute. Rotterdam. 30.10.2001. Zitiert nach: Sander Woertman. „The Distant Winking of a Star, or The Horror of the Real”. In: Martin van Schaik, Otakar Máčel. Hrsg. Exit Utopia, Architectural Provocations 1956–76. Prestel Verlag. 2005. Seite 153

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Für die territoriale Wahrnehmung bedeutet das eine verstörende raumzeitliche Verkrümmung der Stadt. Ständig glaubt man am gleichen Ort vorbeizukommen. Noch viel verstörender ist allerdings die Frequenz der Heimsuchung. Es kursieren Statistiken, wonach 50 Prozent der Amerikaner weniger als 3 Autominuten von einer McDonald’s-Filiale entfernt wohnen. Derartige Angaben korrelieren sehr gut mit der Nutzerperspektive. Für 50 Prozent der Amerikaner ist McDonald’s immer da, wenn man ihn braucht. Man kann diese Nähe aber auch kritisch wenden und alarmiert feststellen, dass 50 Prozent der Amerikaner keine Chance haben, McDonald’s zu entkommen, er ist mit maximal 3 Minuten Distanz hinterher. „Du wirst meiner Liebe nicht entkommen“, prophezeit der Fleischer in Ödön von Horváths Geschichten aus dem Wiener Wald der Marianne, die dann tatsächlich das ganze Theaterstück hindurch die Flucht versucht, um letzten Endes doch von der fordernden Liebe des Fleischers heimgesucht zu werden.40 I’m lovin’ it lautet der Werbeslogan des Großfleischers McDonald’s, listig suggestiv legt er den Verfolgten den Liebesschwur in den Mund. Wohl mit doppeltem Erfolg. Kaum jemand hat noch nie in einen Burger gebissen und kaum jemand hat sich danach als Opfer gefühlt. Es ist wohl Zufall, dass McDonald’s im Großraum Los Angeles erfunden wurde. Aber die Idee, ein Restaurant nicht mehr als Gebäude mit Service, sondern als Verfolgungsnetzwerk zu führen, passt zum Orts- bzw. Ortungsverständnis der modernen Stadt. Architekturgeschichtlich interessant ist außerdem die technische Umsetzung der Verfolgung. Der Einstieg ist noch weitgehend plausibel. Welcome to McDonald’s Speedee Service System – das stand groß auf den Leuchttafeln der ersten McDonald’s-Filialen. Gleichzeitig wurde man vom namensgleichen Maskottchen Speedee angelächelt, einem Koch, der als Person eine völlig neue Form der Restaurantgeschwindigkeit verkörperte. Richard und Maurice McDonald hatten 1948 begonnen, ihr Restaurant nach ihrem eigens entwickelten Speedee Service System zu führen. Damit hatten sie die Stimmung ihrer Zeit besser verstanden als alle anderen Anbieter. Eine Gesellschaft, die erst kürzlich durch die Wirtschaftskrise der 1930er Jahre und dann noch durch den Zweiten Weltkrieg manövriert war, verspürte offensichtlich ein Bedürfnis nach schneller und günstiger Essensversorgung. Die euphorische 40 Ödön von Horváth. Geschichten aus dem Wiener Wald. Propyläen Verlag. 1931

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Aufbruchsphase nach den entbehrungsreichen Jahren wollte niemand durch langes Herumsitzen verpassen. Der Beginn der Verfolgung besteht also darin, ein unwiderstehliches Geschwindigkeitsangebot zu machen. Doch in den frühen 1960er Jahren erfolgt plötzlich ein signifikanter Imagewandel. Das Speedee-Maskottchen verschwindet, und stattdessen wird eine neue Werbefigur in den Vordergrund gerückt: Ronald McDonald, ein Clown. Das ist paradox, denn McDonald’s ist essentiell immer noch ein Anbieter von Geschwindigkeit. Geschwindigkeit ist auch immer noch das, was die Firma am besten kann. Aber plötzlich werden das Kernangebot und die Kernkompetenz hinter einem Clown versteckt. Man wird fragen, was hat ein Clown mit effizienter Restaurantführung zu tun? Nichts, außer dass er von der effizienten Restaurantführung ablenken soll. Verständlicher wird dieser Imagewandel erst, wenn man ihn architekturgeschichtlich abgleicht. Speedee war Moderne, mit Ronald McDonald beginnt die Postmoderne. Ist Postmoderne also nur radikale Moderne mit vordergründiger Ablenkung? Wird die Moderne überhaupt erst richtig wirksam, wenn sie still im Hintergrund arbeiten kann und im Vordergrund eine postmoderne Ablenkung installiert wird? Für McDonald’s stimmt das unbedingt – für die Idee der Verfolgung ebenfalls. In einem gesättigten Markt ist ein unwiderstehliches Angebot auf der funktionalen Ebene nicht mehr ausreichend, um Kunden zu binden. Jetzt muss das initiiert werden, was Gernot Böhme Begehren nennt. Eine unstillbare, also irrationale Forderung nach mehr. Dafür steht der Clown. Sein Erfinder Ray Kroc ist in den frühen 1960er Jahren das neue Mastermind von McDonald’s und betreibt mit dieser postmodernen Imageaufstellung die Expansion zur amerikaweiten und mittlerweile weltweiten Restaurantkette. Bei der Kette sind Versorgung und Verfolgung also auf listige Weise synchron geschaltet. Das eine ist ohne das andere nicht zu haben. Angesichts der Ortung ist schon auf David Lyons Bemerkung über die Untrennbarkeit der Begriffe Care und Control hingewiesen worden. Die Kette bestätigt diese gefährliche Konvergenz. Damit etabliert die Kette aber eine gänzlich neuartige Architektur-Nutzer-Beziehung, für die es in der Architekturgeschichte keine Vorlage gibt. Zur Orientierung kann aber die thematisch verwandte Mensch-Technik-Relation als Anschauungshintergrund herangezogen werden. Vilém Flusser hat dazu in seiner 352

Medientheorie eine prägnante historische Kategorisierung in vier Perioden aufgelistet: Hand, Werkzeug, Maschine, Apparat.41 Was meint Flusser damit? In der Maschinenperiode bildet die Maschine den Mittelpunkt und der Mensch wird im Kreis herum aufgestellt.42 Dieser Huldigungskreis wird bis in die Organisation der gesamten Fabrikanlage und darüber hinaus in den Städtebau verlängert. Gänzlich anders aufgestellt war laut Flusser die archaische Werkzeugperiode davor, bei der das Werkzeug noch um den Menschen herum organisiert war. Ein handwerkliches Idyll, das nicht immer gestimmt haben muss, aber dennoch als eigenes Aufstellungsschema wertvoll ist. Vor allem, weil Flusser für die Jetztzeit eine Renaissance dieser idyllischen Zentrierung um den Menschen vermutet. Menschen gruppieren sich heute nicht mehr lebenslang im Huldigungskreis um eine Riesenmaschine, sondern haben ein Smartphone in der Hand. Flusser nennt das die Apparateperiode und Reyner Banham erklärt dazu, wie unbedingt amerikanisch die Liaison von Mensch und Apparat ist: „This point has its significance in the history of American technology: where distances were great and transport difficult, costs of freightage could overwhelm the economic value of a low-grade product. Whatever was shipped had to have a high selling price, or social value, relative to its bulk and weight, otherwise it was not worth the trouble. […] For this is another key characteristic of the gizmos that changed the face of America: they do not require high skill at the point of application, they leave craftsmanship behind at the factory. Ideally, you peel off the packaging, fix four bolts and press the Go button.“43 Klingt gut und hoffnungsvoll, der Mensch wieder im Zentrum. Doch ist das glaubwürdig? Die Relation Mensch-Technik war nie freiwillig und gelassen und wird es auch nicht mehr werden. Der Mensch ist ein Mangelwesen und Technik das einzige taugliche Hilfsmittel. Wenn also der Mensch ein Werkzeug in die Hand nimmt, dann akzeptiert er sich 41 „Betrachtet man nun demgemäß die Menschheitsgeschichte als Geschichte der Fabrikation und alles andere als zusätzliche Kommentare, dann kann man grosso modo folgende Perioden darin unterscheiden: Hände, Werkzeuge, Maschinen, Apparate.“ Vilém Flusser. Medienkultur. Fischer Verlag. 1997. Seite 165 42 „Beim Werkzeug ist der Mensch die Konstante und das Werkzeug die Variable: der Schneider sitzt in der Mitte der Werkstatt, und wenn eine Nadel zerbricht, ersetzt er sie durch eine andere. Bei der Maschine ist sie die Konstante und der Mensch die Variable: Die Maschine steht in der Mitte der Werkstatt, und wenn ein Mensch alt oder krank wird, ersetzt ihn der Maschinenbesitzer durch einen anderen.“ Vilém Flusser. Ebd. Seite 166 43 Reyner Banham. A Critic Writes. University of California Press. 1996. Seite 112

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als Mangelwesen, das nur noch mit Prothese funktioniert. Und wenn die Maschine die Mitte der Fabrik und des gesamten Stadtteils einnimmt, dann ist aus der Prothese bereits ein Zentralgestirn geworden, um das die vielen menschlichen Mangelwesen in protoreligiöser Anbetung kreisen. Und wenn Banham von der amerikanischen Lust am Knopfdrücken auf irgendwelchen technischen Gadgets berichtet, dann wird damit ein mittlerweile etabliertes Suchtverhalten des Mangelwesens Mensch gegenüber seinem Hilfsmittel Technik eingestanden. Damit ist auch klar, was der Unterschied zwischen der Werkzeugperiode und der Apparateperiode ist. Das Werkzeug nahm man in die Hand, um ein Bedürfnis zu befriedigen. Danach konnte man es fallen lassen. Doch der zeitgenössische Apparat ist das Objekt der Begierde und wird nicht mehr freiwillig aus der Hand gegeben. Der Apparat ist auf totale Innigkeit ausgerichtet und haftet viel zu indiskret am Menschen, werbend aufgenötigt, bald herbeigesehnt, letztlich hochverehrt. Die Relationen sind dennoch unsortiert, Verfolgung und Versorgung sind immer noch nicht klar voneinander zu trennen. Kein Smartphone ohne Bindungsvertrag, E-Books und Tablets, die überallhin mitgenommen werden wollen, und noch viel mehr Gadgets, die sich tief in die alltäglichen Abläufe hineinreklamieren, nötig oder unnötig: Herzschrittmacher, Hörgeräte, Pulsmesser, Smartwatches etc. Und die Zukunft der Apparate soll noch infiltrativer werden. Versteckte Minicomputer in Kühlschränken, Laufschuhen, Skijacken, natürlich allesamt miteinander vernetzt. Das bedeutet, die Apparate schließen sich zu Verfolgungsrudeln zusammen, tratschen heimlichmiteinander über den Nutzer und verabreden sich zu koordinierten Aktionen. Wenn das kein perfektes Stalking ist! „Es steht fest, dass der menschliche Körper in nächster Zukunft zum Übungsplatz für Mikromaschinen wird, die ihn, so sagt man, kreuz und quer durchstreifen, ohne Schmerzen zu verursachen. Das sind sie also, die letzten Prothesen, die neuen Automaten: Animaten.“44 Paul Virilio verschärft den Automaten also zum Animaten und skizziert mit dieser phobischen Vorausschau den ultimativen Albtraum eines Stalkingapparats. Das Hilfsmittel Technik dringt nun in das Mangelwesen Mensch ein und repariert, ergänzt, ersetzt es von innen. Damit ist der evolutionäre Umbau des Mangelwesens Mensch in ein technobasiertes Allmachtswesen vorgezeichnet. 44 Paul Virilio. Fluchtgeschwindigkeit. Carl Hanser Verlag. 1996. Seite 71

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Virilios Animaten-Vision ist ein typisch postmodernes Cross-over aus Science-Fiction und dekonstruktiver Selbstsicht – könnte man relativierend beschwichtigen –, aber es liefert ein taugliches Anschauungsbild für das Verhältnis von Mensch und Architektur im Bannkreis der Kette. Die Kette spannt ebenfalls ein undurchdringliches Netz aus Hyperpräsenz und etabliert damit eine Innigkeit mit dem Menschen, die architekturgeschichtlich völlig neu ist. McDonald’s und ähnlich erwartungssichere Ketten sind verinnerlichte Architekturen. Raumzustände, die man im Grunde nie verlässt, sondern in einem rhythmischen Szenenwechsel herunterdimmt und dann doch bald wieder aktualisiert. Es ist auch wahrnehmungsanalytisch höchst aufschlussreich, dass selbst in einem visuell völlig überreizten Ambiente die Filialen von McDonald’s und vieler anderer Ketten sofort augenscheinlich sind.45 Das kann nicht nur an der raffinierten Gestaltung der Restaurants liegen, sondern muss ein Hinweis darauf sein, dass der Kunde bereits so tief von der Kette infiltriert ist, dass selbst banale optische Trigger sofort registriert werden. Das McDonald’s-Logo ist dann kein äußerer Reiz mehr, sondern ein innerer Pulsschlag, der die Präsenz der Kette im aktuellen Kontext permanent abgleicht. Solange die Kette als präsent bestätigt wird, ist alles in bester Ruhe und man kann sich anderen Wahrnehmungen widmen. Panik bricht erst bei Kontaktverlust aus. Mit der Verinnerlichung der Kette bekommt das Insistieren in der Architektur ein neues Kapitel. Vormoderne Architektur insistiert durch Materialschwere, Montagearchitektur insistiert durch Serie, und die Kette insistiert durch Verinnerlichung. Wie jede Form des architektonischen Insistierens hat auch die Strategie der Verinnerlichung ihre eigene Logik der Verteilung. Die materialschwere Architektur besetzt üblicherweise die historischen Stadtzentren, die Montagearchitektur definiert vor allem die Peripherie, und die Verinnerlichung durch die Kette hat ihre Höhepunkte in den einkommensschwachen Bezirken. Für Los Angeles gibt es Statistiken, die genau diesen Zusammenhang schlüssig belegen. Je einkommensschwächer eine Wohngegend, desto stärker ist sie von Ketten besetzt. Je reicher eine Wohngegend, desto schwerer haben es die Ketten. 45 „The most beautiful thing in Tokyo is McDonald’s. The most beautiful thing in Stockholm is McDonald’s. The most beautiful thing in Florence is McDonald’s.” Andy Warhol. The Philosophy of Andy Warhol (From A to B & Back Again). Harcourt Brace Jovanovich. 1975. Seite 71

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Diese Statistiken werden zumeist bei Debatten über Nahrungsmittelqualität, Essverhalten, Übergewicht etc. zitiert, haben aber eine wesentlich weitreichendere Bedeutung. Den Armen der Stadt wird ein routinierteres Leben auferlegt als den Reichen. Das passt zu Managementtheorien, wonach Mitarbeiter der unteren Hierarchieebene Dienst nach Vorschrift machen müssen, während die oberen Hierarchieebenen die Ausnahmen verwalten. Lässt sich diese Diagnose in einen Fluchtplan umdeuten? Muss man also nur reich werden oder zumindest in die Mittelschicht aufsteigen, um der Verinnerlichung durch die Ketten zu entkommen? Das ist als Tendenz logisch richtig, man darf aber nicht vergessen, dass so mancher Kette noch eine deutliche Steigerung der Aufdringlichkeit gelingt. Am Pico Boulevard begrüßt die Restaurantkette Norms die Passanten mit der Aufschrift We Never Close. Doch dieses We Never Close ist nicht nur ein überengagiertes Serviceversprechen, es ist zuallererst eine demonstrative Überheblichkeit dem Kunden gegenüber. Norms ist 24 Stunden und 7 Tage in der Woche geöffnet, und in Bernard Tschumis Verständnis – Event ist gleich Architektur – handelt es sich dabei um eine permanente Architektur. Sämtliche Limits, die ein gewöhnlich Lebendiges unweigerlich konturieren, werden selbstbewusst verweigert. Eine 24-Stunden-Architektur muss keinen Tag-Nacht-Rhythmus einhalten, quält sich nicht durch Aufwachphasen, Ruhepausen, Erschöpfungszustände, erleidet keinen Verschleiß, keinen Verfall, keine sichtbaren Störungen und kein absehbares Ende. Jeder Kunde scheint mehr Energie aufwenden zu müssen, um in der Früh überhaupt aus dem Bett zu steigen, als so eine 24-Stunden-Architektur, um nächtelang durchzuarbeiten. Nicht einmal mit schlechter Laune will man dem Kunden in seiner Menschlichkeit entgegenkommen. Wer einmal in der Früh am Counter eines McDonald’s-Restaurants einem dauerlächelnden, perfekt frisierten und perfekt parlierenden Mitarbeiter eine Bestellung diktiert hat, der darf Hans Kollhoff vorwerfen, dass er Stadt nicht verstanden hat. Stadt will gar nicht altern, weder die moderne noch die europäische oder sonst eine Stadt. Alternde Menschen wollen vielleicht Städte altern sehen, weil sie nicht die einzigen Existenzen mit heranrückendem Verfallsdatum sein wollen. Aber die Stadt selbst wollte noch nie den traurigen Lebensbogen ihrer Bewohner synchron mitgehen. Und die moderne Stadt besitzt jetzt endlich die technischen Mittel, um die Analogie des Lebendigen hinter sich zu lassen und in eine Kategorie vorzustoßen, in die kein Mensch wird folgen können. Moderne Städte sind auf permanente 356

Perfektion ausgerichtet, ihre Bewohner nicht. Moderne Städte haben keine Limits, keine Fehler, keine Schwächen, ihre Nutzer schon. Die menschlichen Limits der Nutzer sind die letzten Limits überhaupt. Mit dem Schritt in die Permanenz hat die Kettenarchitektur die Verinnerlichung zur finalen Übernahme maximiert. Die Kette ist jetzt nicht mehr verinnerlichtes Hilfsmittel, sondern überwältigender Souverän. Wo man sich auch hinbemüht, die Kette ist schon längst da und lächelt einen mitleidig an. Vor allem Stadtbezirke mit hoher Kettendichte wirkten tatsächlich wie Zooanlagen. Die Ketten kontrollieren das gesamte Territorium, und die notdürftig artgerecht gehaltenen Menschen kommen in regelmäßigen Abständen an die Versorgungsstellen. Hat Peter Lang solche idyllischen Bilder imaginiert, als er zu seinen totalen Rasterwelten bemerkte: „Life will be the only environmental art“?46 Die zoologische Idylle im Gesamten ist dennoch erschreckend, spätestens wenn man die alltäglichen Paradoxien miterlebt. Einerseits wird statistisch hervorgehoben, wie hoch in den Weiten der ortlosen Rasterebenen das zivilisatorische Fehlverhalten ist: Schulabbrüche, Kriminalität, zerrüttete Familienverbände etc. Gleichzeitig schaffen es die Ketten, die gleichen zerrütteten Menschen in höchstem Maß auf fehlerfreie Handlungsroutinen zu dressieren. Der Protest gegen die eigene Lebenslage findet typischerweise nicht beim Anstellen im McDonald’s statt. Die Ketten haben auch im Alltag alles unter Kontrolle. Für das architektonische Projekt der Moderne insgesamt ist die Souveränität der Kette ein Desaster. Gerade die Überheblichkeit ist ein wichtiger menschlicher Antrieb, der oft nur mit Architektur realisierbar ist. Wozu hat man Architektur sonst? Menschen bauen festen Boden, um sich herauszustellen, sie bauen Stützkonstruktionen, um in exaltierte Höhen aufzusteigen, sie stapeln Ebenen übereinander, um sich durch Kontingenz über die zwangsläufigen Verhältnisse zu heben. Und plötzlich tritt ihnen Architektur als kategorisch überlegen entgegen. Was für ein hinterhältiger Betrug. Die Krücke ist plötzlich zum Chef geworden, der Hintergrund zum Mittelpunkt, das Werkzeug zum Werk. Inmitten des CC&Rs-regulierten Architekturperfektionismus der Gated Communities war bereits eine ästhetische Zurücksetzung zu verkraften. Eine aufwendig 46 Superstudio. „Supersurface“. In: Peter Lang, William Menking. Superstudio. Life Without Objects. Skira Editore. 2003. Seite 183

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verschönerte Architektur beschämt die natürlich-hässlichen Bewohner. Das galt allerdings nur für die gehobene Mittelschicht, die sich den architektonischen Perfektionismus leisten kann und will. Aber im Umgang mit der Kette sind jetzt alle an der Reihe, eine satte Beschämung zu erfahren. Die Daueragilität der Kette und ihr robust routiniertes Auftreten machen jeden Kunden zum vergleichsweise stotternden Tölpel. Wer die Schande noch größer erleben will, der versucht sich dagegen zu wehren. Denn dann springen die ganzen antrainierten Anti-Eskalationsmanöver an. Auf jede provokante Frage bekommt man eine abgeklärte Antwort, für jeden wütenden Blick ein unaufgefordertes Angebot. Schreit man hysterisch herum, werden die Höflichkeiten überschwänglich, die Gutschein-oder-Geld-zurück-Besänftigungsroutine beginnt und man merkt, die Kette ist strategisch tatsächlich perfekt eingestellt, allerdings nicht auf Kunden, sondern auf Idioten. Gerade der Umgang mit Idioten ist derart unaufgeregt professionell, dass klar wird, die Kette erwartet an ihren Countern gar nichts anderes als Idioten. Die Kette ist im Krisenfall also noch souveräner als im Normalfall. Besser kann man eine Hierarchie nicht absichern. Aber man hat doch als Mensch noch andere Möglichkeiten, die Souveränität der Kette anzugreifen. Wenn schon nicht durch Protest, dann aber doch durch Selbstperfektionierung. Man verwendet einfach technische Prothesen, um selbst souverän zu werden. Man kann per Smartphone bestellen, sich beschweren, bewerten, fordern, gegenstalken. Man kann mit einer eigenen Homepage die Selbstdarstellung optimieren. Man kann mit Anwälten, Coaches, Trainern, Ghostwritern, Raumausstattern, Architekten und Chirurgen die eigene Erscheinung professionalisieren. Man kann sogar sein Porträtfoto digital verschönern, die Biografie auffrisieren, eine gesamte Onlineidentität faken, sodass man sich von keiner Kette mehr zum Idioten machen lassen muss. Jeder hat doch bereits irgendwo so ein Ersatz-Über-Ich platziert, das versucht, all die anderen zu beschämen. Ist das Idiotenschicksal doch nicht zwangsläufig? Sind es doch nicht das Einkommen oder die Wohngegend, die entscheiden, wie sehr man von der Kette verfolgt und beschämt wird, sondern der individuelle Wille dagegen zu halten? Die einen haben sich längst ergeben und sind verschluckt worden, die anderen wehren sich noch mit höchstem Einsatz? Zyniker würden jetzt fragen, wer glücklicher ist. Relevanter ist jedoch die Erkenntnis, dass sich auch der höchste Einsatz nicht lohnt: 358

„Ist es aber durchgehend automatisiert, so wird seine Funktion dadurch vollendet, aber auch abgeschlossen: Es wird ‚ausschließlich‘. Der Automatismus bildet einen abgeschlossenen Bereich, aus dem der Mensch zu einem nicht mehr verantwortlichen Zuschauer geworden – verdrängt ist. Das ist übrigens der Traum von einer der Maschine unterworfenen Welt, einer formell vollendeten Technizität, im Dienste einer nicht mehr aktiv mitschaffenden und vor sich hindösenden Menschheit“.47 Jean Baudrillards Beschreibung zeigt sehr präzise die systemische Problemlinie, aus der man folgern kann, dass auch die Perfektion einen abgeschlossenen und somit ausschließlichen Bereich bildet. Das bedeutet, das technisch perfektionierte Ersatz-Ich wechselt sofort die Seite und lässt das real jämmerliche Idioten-Ich alleine auf der Verliererseite zurück. Man wird dann nicht nur vom perfekten Gegenüber beschämt, sondern auch noch vom eigenen hochfrisierten Ersatz-Ich. Martin Heidegger hat Denken einmal mit der kurzen Formel „Denken bedeutet sich das Sein vorzustellen“ erklärt.48 Für die vom Perfektionismus Ausgeschlossenen muss man die Formel modulieren: Menschsein heißt, sich das eigene Zurückgeblieben-Sein vorzustellen, oder salopp formuliert: Die einzige menschliche Beschäftigung, die es im Zeitalter der modernen Corporate-Perfektion noch gibt, und das im Übermaß, ist, sich den ganzen Tag zu schämen.

0,001 Prozent Lautner Je reicher die Wohngegend, desto verschlungener der Straßenraster. In Beverly Hills, zwischen Santa Monica Boulevard und Sunset Boulevard, ist das gesamte Straßenlayout in fächerförmige Wellen gelegt, eine markante Anomalie inmitten der orthogonalen Anlage von Los Angeles. Gated Communities an der Stadtperipherie imitieren diesen Willen zur Ausnahme mit schleifenförmigen Straßenknäueln. Dabei wird nicht nur der Subraster gebeugt, auch der Hauptraster, der wenigstens einmal pro Meile die große Rasterordnung wiederherstellen sollte, windet sich in mutwilligen Schleifen. Die Hügelketten von Pacific Palisades bis Los Feliz nutzen ihre zwingende Topografie, um den Quadratraster abzuschütteln und durch ein Serpentinen- und Sackgassengewirr zu ersetzen. 47 Jean Baudrillard. Das System der Dinge. Über unser Verhältnis zu den alltäglichen Gegenständen. Campus Verlag. 1991. Seite 140, 141 48 Martin Heidegger. Was heißt Denken? Max Niemeyer Verlag Tübingen. 1984.

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Exklusive Adressen mit Fernsicht erreicht man nur über Straßen, die sich aus dem Magnetismus der großen Rastergeometrie herauslösen und eine lokal-sensitive Geometrie bemühen. Der systemischen Transparenz und Widerstandsfreiheit der linearen Rasterstraße wird dabei die Undurchsichtigkeit und Unberechenbarkeit der spontanen Krümmung entgegengehalten. Solche Straßen tragen dann auch einen richtigen Namen und nicht bloß eine fortlaufende Nummer. Widerstand von oben? Ja. Wer Geld hat, der investiert es gegen den Totalraster, gegen Jeffersons Demokratiemanifest und zieht sich in Widerstandsgeometrien zurück. Anhand der Rasterführung lässt sich also bereits erahnen, ob eine Wohngegend wohlhaben ist oder nicht. Niemand, der eine bevorzugte Stellung in der Gesellschaft errungen hat, will synchron mit allen anderen im Nord-Süd-Bett liegen. Deshalb beginnt Donald J. Waldie sein Buch über Lakewood mit der Offenlegung des sozio-geometrischen Selbstbetrugs der gesamten Anlage: „He thought of them as middle class even though 1,100-square-foot tract houses on streets meeting at right angles are not middle class at all.“49 Elite ist eben nicht im Quadrat aufgestellt. Elite ist, wer Straße, Haus, Bett an seiner individuellen Geometrie orientiert. Daraus folgt, dass der Widerstand gegen den Totalraster immer nur ein exklusives Vergnügen für wenige sein wird, ganz im Gegenteil zum Totalraster selbst, der sich als Ideal kostenlos zur Verfügung hält. Die vergleichsweise ruppige Alternative zur Widerstandsgeometrie ist der Widerstands-SUV. Beim Fahren wird die Rasterung am direktesten vermittelt und ein geländegängiges Auto ist ein potentieller Widerstand gegen jegliche Rastereinschreibung am Boden. Mit einem offroadfähigen Auto ist potentiell überall ein individueller Weg und folglich eine individuelle Geometrie. Selbst wenn niemand tatsächlich mit seinem SUV quer durch die Rasterfelder pflügt, wie das in Actionfilmen gern zelebriert wird, so ist doch die Demonstration des reinen Vermögens bereits die halbe Tat. Und wieder zeigt sich, wer Geld hat, der investiert es gegen den Raster und das oktroyierte Ideal. Im Extremfall sogar in Form eines Derivats aus der Militärindustrie. Mit dem Hummer, dem ÜberSUV der 2000er Jahre, wird die Opposition gegen den Raster kategorisch ausgeweitet, denn in Friedenszeiten ein Kriegsfahrzeug durch die Stadt zu pilotieren, bedeutet, die Zivilgesellschaft direkt anzugreifen. 49 Donald J. Waldie. Holy Land. A Suburban Memoir. W. W. Norton & Company. 2005. Seite 1

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Thomas Jeffersons demokratisches Grundmotiv zur Rasterung des Landes ist damit ebenfalls im Visier. Und auch hier gilt: Die Demonstration des reinen Vermögens ist bereits die halbe Tat. Die nächste Frage folgt zwangsläufig: Wohin führt so eine individuell verschlungene Geometrie, egal ob tatsächlich oder nur allegorisch befahren? „Ein wenig wie bei jenem Architekten, für den die Gerade und der rechte Winkel absolute Zeichen von Zivilisation waren, die Geomorphologie aber das Urchaos, so hat offenbar die Popularisierung, das heißt die angebliche Demokratisierung der hohen Geschwindigkeiten die starre Gerade weit über alles Verschlungene gestellt, über die unheilvolle Gestalt der sich windenden Schlange und die Kurve, die das Tempo der Fahrt bremst und durch die Zentrifugalkraft gefährlicher macht; all das lässt ein mythisches, ein mythologisches Klima auferstehen, in dem es wieder von Drachen, Meeresschlangen und labyrinthischen Gängen wimmelt – Gestalten einer durchquerten, durchfahrenen Welt.“50 Paul Virilio beschreibt den Ausstieg aus der starren Geraden und dem rechten Winkel als Ankunft in einer allegorischen Urzeit. Man verlässt die Ortung und landet mitten in einer Überraschungsparty aus seltsamen und aufdringlichen Sensationen. Ein szenischer Überschuss, der unerwartet kommt, doch er ist unausweichlich. Aus der Ortung auszusteigen, bedeutet ja nichts anderes, als von der Abgelenktheit dem Hier und Jetzt gegenüber in eine präzise Aufmerksamkeit dem Hier und Jetzt gegenüber zu wechseln, und präzise Aufmerksamkeit löst immer einen Überschuss an Erlebnissen aus. Es ist also exakt dieser plötzliche Überschuss, der einen Ort auszeichnet, im Unterschied zur Ortung, die das Einfache und Banale ist. Das ist der Grund, warum die geometrische Lage in Los Angeles höchst unterschiedlich ausgepreist wird: am Ort zu wohnen, ist teuer, an der Ortung zu wohnen, hingegen billig. Dennoch zieht sich ein latenter Widerspruch durch diese marktwirtschaftliche Gegenüberstellung. Die mathematisch präzise Quadratrasterung einer Stadt oder eines ganzen Kontinents ist doch eine hypertrophe Technokratie, eine aufwendige Überfrachtung dessen, was einmal eine bescheidene, gegebene Landschaft war. Gleichermaßen hochkomplex und teuer erscheint die Installation der gesamten Ortungsmaschinerie im Vergleich zu dem, was man oft mit gelangweilter Geringschätzung einen Ort nennt. Den gibt es doch geschenkt? Wie kann der plötzlich so wertvoll und teuer sein? In der saloppen Geringschätzung des gegebenen 50 Paul Virilio. Fahren, fahren, fahren … Merve Verlag. 1978. Seite 23, 24

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Ortes und der ehrfürchtigen Überschätzung der Ortung steckt ein doppelter Irrtum. Ortung bedeutet, ein Regime der totalen Vereinfachung über das Land zu legen. Das ist quantitativ tatsächlich ein gigantisches Unternehmen und löst ebenso gigantische Umwertungen in der Realität aus. Aber es ist trotzdem ein Unternehmen mit dem Ziel der Simplifizierung, Gleichmachung, Verbilligung. Und dort, wo die Ortung etabliert ist, stellt sich diese Verbilligung konsequent ein. Mensch, Stadt, Architektur etc. sind nur noch als algorithmisch vereinfachte Ersatzwesen präsent – und damit ist der Normalzustand beschrieben. Los Angeles besteht überwiegend aus billigen Irgendwos, die ihre Routinearbeit im Totalraster erledigen.51 Sich diesem Totalraster widerstandslos hinzugeben, ist das Natürliche. Sich von den kommerziellen Derivaten der großen Ortung vereinnahmen zu lassen, ist das Selbstverständliche. Kostenlose E-Mails, News, Services per Internet in Anspruch zu nehmen und dafür die Evaluierungsmaschine mit persönlichen Daten zu füttern, ist der Inbegriff des einfachen User-Lebens. Mit Ernst H. Gombrich kann man sogar erklären, warum diese passive Hingabe so naheliegend ist. Laut Gombrich ist der Anfang der Kunst das Finden und nicht das Machen. Man sieht eine Erscheinung, einen Schatten, eine Textur und erkennt darin eine Figur, ein Gesicht, ergänzt das ein wenig und hat ein Bild erschaffen. Das ist sinnbildlich verstanden der leichte und deswegen häufige Weg zu einem kreativen Erzeugnis, weil nicht viel kreiert werden muss. Ungleich schwerer ist es hingegen, ohne jede vorgefundene Assoziationsgrundlage vollständig neu zu erfinden und aufzutragen. Das bedeutet auch für die Architektur, dass eine Ortung immer leichter, schneller und umfangreicher zu haben ist als ein aktiv geschaffener Ort. Ein Ort ist also schon aus der anthropologischen Perspektive ein seltenes Ereignis. Ort bedeutet, der Reduktion und Verbilligung widerstanden zu haben. Ort ist gelungene Widerstandsarchitektur. Schon allein die Tatsache, dass man sich an einen Ort erinnert, beweist den Erfolg. Ein Ort ist nicht das tausendste Irgendwo in der Stadt, sondern eine Außerordentlichkeit. Das hat Kevin A. Lynch mit seiner impliziten Formel ,,Sensation ist gleich Ort‘‘ richtig erfasst. Das Problem

51 „It is, without doubt, one of the world’s great urban vistas – and also one of the most daunting. Its sheer size, and sheer lack of quality in most of the human environments it traverses, mark it down almost inevitably, as the area of problems.“ Reyner Banham. Los Angeles: The Architecture of Four Ecologies. University of California Press. 2001. Seite 151, 154

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ist nur, dass Lynch die Kosten unterschlägt. Doch diese Kosten sind enorm. Bernhard Waldenfels macht im Hinblick auf Ordnungssysteme die wichtige Bemerkung, dass Einzelsätze und Einzelhandlungen per se nicht gegeben sind, sondern erst durch Ablösung von ihrem Kontext und durch Neutralisierung ihrer Bezüge herauspräpariert werden.52 Gleiches gilt für den Ort. Auch der Ort muss aufwendig aus einem weitreichenden Feld der nichtigen Ortung herauspräpariert werden. Doch wie oft passiert das schon? Selten bis nie. Glücklich soll sich also schätzen, wer diese Sonderleistung durch Historie oder Geografie geschenkt bekommt und nicht gänzlich neu erbringen muss, alle anderen sind gezwungen, die Außerordentlichkeit außerordentlich teuer zu bezahlen. Für die mittellose Mehrheit, die sich nun für immer vom teuren Ort ausgeschlossen fühlen darf, kommt allerdings noch eine zweite Frustration hinzu. Ausgerechnet die wenigen Widerstandsarchitekturen, die sich anbieten, entpuppen sich als Auftragsnehmer der großen Ortung. Überrascht? Der große, billige, zynische Totalraster und das teure, elitäre Labyrinth arbeiten heimlich zusammen? Ein scheinbarer Widerspruch, der jedoch zum erfolgreichen Modellfall geworden ist – wie die Shoppingcenter-Architektur von Jon Jerde zeigt: „Eine solche Raumgymnastik provoziert einen Zustand, den wir als den ‚Jerde Transfer‘ bezeichnen können: den Augenblick, in dem die Bewegungen eines Käufers unter der exzessiven räumlichen Stimulation zusammenbrechen. Käufer verlieren den Überblick darüber, wo sie sich befinden, wohin sie gehen und wie sie dorthin gelangen werden.“53 Während man früher bei Shoppingcentern auf eine möglichst klare Mental Map abgezielt hat, die sich nur von einer ebenso klaren Gesamtgeometrie abstrahieren ließ, so arbeitet man heute am gezielten Gegenteil, an der bewussten Verwirrung durch labyrinthische Geometrie. Ziel ist, dem Kunden ein lustvolles Verlorensein und Feststecken in den lokalen Umständen aufzunötigen. Hier wird einem also ganz gezielt die Verbindung zur Ortung abgeschnitten und stattdessen der lokale Ort aufgedrängt. Nur wer die Selbstortung im erweiterten Kontext, die höhere 52 „Zunächst gilt es festzuhalten, dass es selbständige Einzelsätze und Einzelhandlungen oder deutungsfreie Basissätze und Basishandlungen nicht ‚gibt‘, sondern dass sie durch Ablösung von ihrem Kontext und durch Neutralisierung ihrer Bezüge herauspräpariert werden.“ Bernhard Waldenfels. Ordnung im Zwielicht. Suhrkamp Verlag. 1987. Seite 51 53 Daniel Herman. „Mall Over“. In: Akademie der Künste. Hrsg. Topos Raum. Die Aktualität des Raumes in den Künsten der Gegenwart. Verlag für moderne Kunst Nürnberg. 2004. Seite 133

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reflektorische Ebene verliert, kann vollständig dem Hier und Jetzt der Warenverlockung ausgeliefert werden. Ohne Denken kauft es sich einfach hemmungsloser. Mit dem Jerde-Transfer ist der Widerstand gegen die Ortung also zum taktischen Missbrauch geworden. Die große Ortung hat begriffen, dass sie gelegentlich ihr Gegenteil inszenieren muss, um noch effektiver arbeiten zu können. Gilt das auch für die Rasteranlage von Los Angeles? Wird die Mittelschicht nur deshalb in verschlungene Subraster gelockt, um sie von der Dominanz des Hauptrasters und der großen Ortung insgesamt abzulenken? Man muss es vermuten. War der architektonisch inszenierte Ort nicht immer schon ein heimlicher Zuarbeiter der großen Ortung? Lynch und seine Idee des architektonisch Besonderen lassen genügend zynische Ableitungen zu. Wer an wenigen Merkpunkten im Stadtgefüge architektonische Sensationen positioniert, hat genug fürs Stadtmarketing getan und kann dafür den großen Rest der Stadt der routinierten Langeweile ausliefern. Wer ein paar spektakuläre Museen in die Stadt stellt, braucht sich dafür beim Massenwohnbau nicht zu engagieren. Wer ein paar populäre Fußgängerzonen etabliert, kann dafür den Rest der Stadt dem Individualverkehr ausliefern etc. Mit dieser zynischen Koalition aus Ort und Ortung ist allerdings eine argumentative Sackgasse erreicht, weil die Suche nach einer kategorischen Alternative zur großen Ortung nunmehr gänzlich ausweglos erscheint. Das Einzige, was jetzt noch helfen kann, ist Fundamentalopposition, eine Architektur bzw. ein Architekt, der verlässlich eigenwillig ist. Im Kontext von Los Angeles ist das John Lautner. Seine Architektur ist in ihrer Logik und Erscheinung über Jahre hinweg einzigartig. Schon dieser solitäre Status macht Lautner als kategorische Alternative glaubwürdig. Er startet seine Architektenkarriere in Los Angeles mit einer Rundumablehung der vorgefundenen Verhältnisse, und diese Ablehnung wird zu einem ständigen Mantra: „Oh, it was depressing. I mean, when I first drove down Santa Monica Boulevard, it was so ugly I was physically sick for the first year I was here. Because after living in Arizona and Michigan and Wisconsin, mostly out in the country, and mostly with good architecture, and string quartets and things of beauty, this was the ugliest thing I’d ever seen. And so I was just sick, that’s all. […] The buildings, you know. If you tried to figure out how to make a row of buildings ugly, you couldn’t do it any better than it’s been done (here). I mean, they’re just ugly, naturally ugly all the way. There isn’t a single legitimate, good-looking 364

thing anywhere, you know. (laughter)“.54 „I mean, to me almost everything in Southern California is a farce. I mean, it’s not good enough for anything really, but it’s sold all the time.“55 Dieser fundamental ablehnende Affekt betrifft allerdings nicht nur Los Angeles, John Lautner hält auch zur Moderne seiner Zeit sehr deutlich Abstand: „So I think when I started I was lucky in a way just to be recognized as a modern architect. But aside from that, I had nothing to do with the kind of architecture the other so-called modern architects were doing at the time. I was doing right from scratch my own idea of the best solution. I started that way, and I’ve been that way all my life.“56 Einzig sein Verhältnis zu Frank Lloyd Wright ist überschwänglich bewundernd. Rudolph Schindler beurteilt er schon distanziert, wenngleich nicht ganz abwertend. Aber zu Richard Neutra fallen Lautner nur sehr missbilligende Kommentare ein und sobald vom International Style die Rede ist, wird seine Ablehnung emotional aufbrausend. Lautner polemisiert wiederholt gegen die Moderne als Stil, als Glasbox, als formale Routine: „So I was delighted that they finally discovered that modern was dead because I thought that they were going to go on forever with the (Ludwig Mies) van der Rohe stuff“.57 So weit, so unterhaltsam. Man muss nicht jede von Lautners Schimpfreden wörtlich nehmen, aber dennoch ist seine Rundumablehnung produktiv. Sie trägt schließlich seine ganze Werkbiografie: „But anyway, in my architecture, what I’ve done is try, in spite of Los Angeles, to create the most beautiful oasis within – in the city, in spite of it being in Los Angeles.“58 Lautners Häuser sind also Exilhabitate, Gegenentwürfe zum Los Angeles seiner Zeit. Aber jetzt folgt die entscheidende Frage: Wie konzipiert Lautner seine Oasenarchitektur? Wie entkommt er der Ortung, der großen Geometrie, dem Totalraster, der Mainstreammoderne? In der Rückschau ist er sogar der nachträglichen Vereinnahmung durch die Postmoderne entkommen. Wie das? Lautners Architektur ist Ergebnis einer für die Branche untypisch direkten und unkomplizierten Herangehensweise. Er interpretiert Moderne in übersteigerter Weise als individuelles Befreiungsprojekt. Wobei die allererste Befreiung seinen eigenen professionellen Status betrifft. 54 John Lautner. In: Marlene L. Laskey, John Lautner. Responsibility, Infinity, Nature. John Lautner Interview by Marlene L. Laskey. The Regents of the University of California. 1986. Seite 60, 61 55 John Lautner. Ebd. Seite 206 56 John Lautner. Ebd. Seite 179 57 John Lautner. Ebd. Seite 167, 168 58 John Lautner. Ebd. Seite 177

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Lautner hatte nie eine akademische Architekturausbildung absolviert, sondern als Werkstudent bei Wright in Taliesin gearbeitet und dort einen gänzlich unakademischen Zugang zur Architektur erfahren: „Because there were no courses, there were no rules, there were no regulations, and nobody was teaching anything.“59 „Complete living was the training. […] Something more academic would have been a big bore.“60 „So I knew that if I went to a typical architectural school, I’d just be absolutely dead.“61 Lautner kennt also gar nicht die Rituale der akademischen Selbstbezüglichkeit und Hermetik, weil er den akademischen Zugang schon von Weitem ablehnt. „Architecture in its truest sense may not be academically defined.“62 Lautner meinte stattdessen, das Risiko einer Architektenkarriere eingehen zu können, denn im Notfall würde er einfach als Klempner arbeiten, wieder ohne formelle Ausbildung, aber seine handwerklichen Erfahrungen aus Taliesin würden dafür schon ausreichen.63 Sein Plan B war also, selbst Hand anzulegen, noch dazu am unspektakulärsten Teil der Architekturherstellung. Dieser Plan B klingt pragmatisch, aber man darf die kategorische Konsequenz nicht übersehen. Paolo Portoghesi konnte der Moderne noch vorwerfen, dass sie die schmutzige Materie durch die reine Idee ersetzt und als Anfangsbedingung der Architektur nicht die Hütte, sondern die Geometrie setzt.64 Aber Lautner, den Klempner-Architekten, konnte er damit nicht gemeint haben. Lautner hat zum Geometriemachen ein sehr ursprüngliches Werkzeugverständnis, auch seine Geometrie muss Hand 59 John Lautner. Ebd. Seite 32 60 John Lautner. Ebd. Seite 35 61 John Lautner. Ebd. Seite 29 62 John Lautner. In: Frank Escher. Hrsg. John Lautner, Architect. Birkhäuser. 1998. Seite 6 63 „I mean, the only reason that I was able to keep on was that I had this in the back of my mind when I first started – since I did all this plumbing and steam fitting, particularly at Taliesin, I said to myself, ‚Well, if for some reason I could never make it, or get through, with architecture, at least I can become a plumber or something like that for a living.‘ So I had a kind of, a sort of a backup feeling that I could do something regardless.“ John Lautner. In: Marlene L. Laskey, John Lautner. Responsibility, Infinity, Nature. John Lautner Interview by Marlene L. Laskey. The Regents of the University of California. 1986. Seite 62, 63 64 „Um die Praxis des Entwerfens bis auf den Grund zu reinigen, schrieb das funktionalistische Statut eine Art Regression von der Materie zur Idee vor. An den Anfang jeder räumlichen Formgebung hat es nicht mehr – wie die theoretische Tradition des Klassizismus – die Hütte gesetzt, sondern die Geometrie, die ursprünglichen Formen des euklidischen Universums und vor allem den Würfel, den Grund- und Urtyp, von dem durch Vereinfachung oder Hinzufügung aller Grundelemente des funktionalen Vokabulars abgeleitet werden können: der Pfeiler, der Träger, die Platte, das Stockwerk, das Bohren und dann die Zusammensetzungen aus diesen Basiselementen.“ Paolo Portoghesi. Ausklang der modernen Architektur. Verlag für Architektur Artemis. 1982. Seite 9

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anlegen, muss bauen und klempnern. Lautner macht aus der reinen Geometrie schmutziges Material vor Ort: „The undulating, freely cut roof edge suits the dramatic setting of rocks and waves. This made a free and ungeometric flowing space for living intimately with the ocean and the site.“65 An Lautners Architektur lernt man, dass der Widerstand gegen die große Geometrie nicht darin besteht, überhaupt keine Geometrie mehr zu verwenden, der Widerstand liegt vielmehr in der Umkehrung der Hierarchie. Die Geometrie seiner Architektur ist nicht deren Anfangsbedingung, sondern wird von den vorauseilenden Tatsachen mitgerissen. Die Geometrie ist kein idealer Souverän, der den Tatsachen die Konturen vorschreibt, sondern die Geometrie zeichnet nur nach, was die Tatsachen vorauspassieren lassen.66 Wie pragmatisch, geländegängig und uneitel Lautners Geometrie dabei ausfällt, zeigt das Detail. An Richard Buckminster Fuller erinnern zum Beispiel die geodätischen Schalen, die er vorzugsweise über seine Wohnzimmerlandschaften drapiert, aber oft sind sie Fremdkörper, widerspenstig in die Verhältnisse gebastelt, zerdrückt und beschädigt. Reichlich unsortiert finden sich Nebenraumzonen und mäandernde Zimmertrakte hinzugestellt, halb angefügt, halb weghängend, nicht selten mit einem strukturalistischen Motiv unterlegt. Die triangulären Rasterexperimente Wrights schimmern gelegentlich durch, aber nicht als bewusstes Zitat, sondern eher als ungezwungener Kurzbesuch. Die Strukturen sind auch nie konsequent ausgearbeitet, sondern nur angedeutet, pragmatisch gebrochen. Ähnlich pragmatisch ist die Auswahl der architektonischen Elemente, die das geometrische Netz erzeugen und markieren. Lautner stellt dünnste Platten und Schalen neben roh gezimmerte Holzkonstruktionen, setzt in seinen Innenräumen vorgefundene Felsbrocken unmittelbar neben Pflanztröge und Teppichlandschaften. Noch zwangloser agiert er beim Verhältnis von innen und außen, das zur ständigen Baustelle ausartet. Teilweise werden gar keine Abtrennungen gebaut und der Wohnraum verläuft sich ins Freie, nachträglich müssen 65 Frank Escher. Hrsg. John Lautner, Architect. Birkhäuser. 1998. Seite 235 66 „Diese Linie ist zunächst dekorativ, an der Oberfläche, sie ist aber eine materielle Dekoration, die keinerlei Form zeichnet, sie ist eine Geometrie, die nicht mehr im Dienst des Wesentlichen und Ewigen steht, eine Geometrie, die auf ‚Probleme‘ oder ‚Akzidenzen‘ verpflichtet wird, Ablation, Adjunktion, Projektion, Überschneidung. Sie ist also eine Linie, die fortwährend ihre Richtung ändert, gebrochen, abgeknickt, abgelenkt, auf sich gewendet, eingerollt oder über ihre natürlichen Grenzen hinaus verlängert, ersterbend in einem ‚ungeordneten Krampf‘.“ Gilles Deleuze. Francis Bacon – Logik der Sensation. Wilhelm Fink Verlag. 1995. Seite 33

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dann doch wieder Glaswände versetzt werden, ungelenk, quer durch den Pool, ohne Detail, störrisch provisorisch. Bei vielen seiner Pläne ist auch nach wiederholter Analyse nicht klar, wo genau der Baukörperanschluss zu finden ist. Diese turbulent anmutende Art, Architektur in die Welt zu setzen, darf aber nicht als postmoderne Koketterie missverstanden werden. Lautners geerdete Geometrie hat keine Erinnerung mehr daran, dass sie einmal von den Phänomenologen als ideale Instanz geliebt worden ist, folglich musste seine Geometrie auch nicht den Gang ins tragische Postmoderne antreten. Lautner zeichnet keine dekonstruktiven Liniengewitter, um Jacques Derrida zu gefallen. Ungebürstet, gelegentlich sogar unbeholfen, sind seine gebauten Striche die radikale Antithese zur intellektuellen Bemühtheit der Eisenman’schen Diagrammkonstrukte oder zur formalen Hermetik einer Hadid’schen Linienlandschaft. Nicht einmal aus der Rückschau einer chaostheoretisch abgeklärten Jetztzeit sind seine Linienkonvolute logisch auflösbar, weil keine Muster, keine Prozessketten, keine Algorithmen erkennbar sind. Wenn man den geometrischen Kontext seiner Zeit rekapituliert, von strukturalistischen über frühminimalistische bis hin zu proportionsautistischen Mühungen, dann betreibt Lautner eine in die Moderne übersetzte gotische Hypothese.67 Unter diesem Titel gelingt Gilles Deleuze und Félix Guattari der Nachweis, dass Architektur gerade in ihren höchsten Ambitionen nicht von idealer Geometrie getragen wird, sondern von einer „archimedischen operativen Geometrie“.68 Das klingt kompliziert, ist es aber nicht. Das zentrale Bekenntnis der gotischen Hypothese ist sogar sehr simpel: Die Lust am Staunen übersteigt den Willen zum Verstehen. Wie folgenschwer ein solch simples Bekenntnis sein kann, beweist die Praxis. Die Lastabtragung der gotischen Kirchenarchitektur war nämlich mit der Mathematik ihrer Zeit nicht berechenbar. Dazu hätte man die 67 „Das gilt auch für die Differentialrechnung. Lange Zeit hatte sie nur einen parawissenschaftlichen Status: sie wurde als ‚gotische Hypothese‘ behandelt, und die Königswissenschaft erkannte ihr nur den Wert einer bequemen Konvention oder einer wohlbegründeten Fiktion zu.“ Gilles Deleuze, Félix Guattari. Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie. Merve Verlag. 1992. Seite 498 68 „Man hat sicher an die theorematische Wissenschaft von Euklid gedacht, um für dieses Unternehmen eine Grundlage zu finden. Man glaubte, in Zahlen und Gleichungen eine intelligible Form zu finden, die geeignet wäre, Flächen und Volumen zu gestalten. Aber der Legende zufolge gab Bernhard von Clairvaux diesen Versuch bald als zu ‚schwierig‘ auf und bezog sich auf die Besonderheit einer archimedischen operativen Geometrie, auf eine projektive und deskriptive Geometrie, die als mindere Wissenschaft galt und eher eine Mathegraphie als eine Mathelogie war.“ Gilles Deleuze, Félix Guattari. Ebd. Seite 500

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Differenzialrechnung gebraucht, die aber damals noch nicht existierte. Die akademisch saubere Lösung wäre gewesen, auf die riskanten gotischen Tragkonstruktionen zu verzichten und weiterhin im romanischen Stil zu bauen, denn die einfache Geometrie der Romanik war bereits berechenbar. Doch die ungeheure Präsenz, die außerweltliche Dramatik, die bis dahin unvergleichliche Wirkung der gotischen Kathedralen ist unwiderstehlich. Einfach verzichten, nur weil die Kontrollinstanzen zu beschränkt waren, um der Sensation zu folgen? Niemals! Die Lust am Staunen überragt eben den Willen zum Verstehen. Die Kathedralen wurden folglich ohne Rückversicherung durch die hohe Mathematik gebaut, was einer beschämenden Unterwerfung gleichkam, denn die Verantwortung für den Bau lag nun allein bei den Ausführenden, die mit Erfahrungen, praktischen Näherungen und oft tödlichen Versuchen operierten. Dieses handgreifliche Annäherungsverfahren nannte man bald abwertend die gotische Hypothese. Damit wurde noch einmal begrifflich die Unvereinbarkeit mit der hohen Mathematik betont, doch die Überlegenheit war nicht mehr zu leugnen. Die Spekulation bestimmte von nun an das staatstragende Bauvorhaben. Eigentlich ein scharfer innerer Widerspruch, weil sich gerade das Staatswesen durch die Abgrenzung vom Spekulativen definiert. Ein Dilemma, das Deleuze und Guattari ausführlich beschreiben. Für sie ist die gotische Hypothese ein prominentes Beispiel, um ihre Theorie der nomadischen Wissenschaften zu illustrieren.69 Als Architekt muss man daraus dringend lernen, die Kunst des Machens nicht zu unterschätzen. Es hat sich in der Architekturbranche ein Überlegenheitsanspruch des Theoretisierens, Idealisierens und Intellektualisierens festgesetzt, der tendenziell blind ist für die Kompetenz des tatsächlichen Machens, Bauens, Gelingens. Der Überlegenheitsanspruch rührt nicht selten daher, dass Machen ohne Kompromiss eben nicht machbar ist und damit die reine Lehre niemals erfüllt wird. Lautner darf in diesem Zusammenhang als einer der wenigen leidenschaftlichen Fürsprecher der Machbarkeit bezeichnet werden. Er verweist auch gern 69 „Es gibt zwei formal unterschiedliche Konzeptionen von Wissenschaft und, ontologisch, ein einziges Interaktionsfeld, in dem eine Königswissenschaft sich unaufhörlich die Inhalte einer nomadischen oder vagen Wissenschaft aneignet, und wo eine nomadische Wissenschaft die Inhalte der Königswissenschaft unaufhörlich in die Flucht treibt. Letzten Endes zählt nur die immer bewegliche Grenze.“ Gilles Deleuze, Félix Guattari. Ebd. Seite 505

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auf das Erlebnis des Machens als seinen Begeisterungseinstieg in die Architektur. Sein Vater baute in Michigan ein Blockhaus, allein, ohne große technische Hilfsmittel, und der junge Lautner half ihm dabei.70 Ein Erlebnis, das Lautner so tief beeindruckt hat, dass er es als lebenslanges Machbarkeitspathos mit sich trug. Ein Anspruch, den Lautner in Los Angeles allerdings permanent enttäuscht sieht. Seine Beschwerde über die Inkompetenz der ausführenden Firmen ist ebenso ein permanentes Mantra. Eine Klage, die man bei Architekten nicht selten hört, aber Lautner verblüfft, weil er gerade bei der Machbarkeit plötzlich kompromisslos wird. Ausgerechnet dort, wo Kompromiss verständlich und verzeihlich wäre, bleibt er hart. Selbst wenn seine Kompromisslosigkeit das Ende eines Projekts bedeutet, gibt er nicht nach und hebt damit den Level für gelungene Architektur in groteske Höhen. Ausgesprochen amüsant ist diese Hartnäckigkeit nachzulesen in seinen Erzählungen zum Projekt Silvertop. In Lautners Worten ein „ideal job“.71 Doch wenn man die Eckdaten des Projekts rekapituliert, wird schnell klar, mit welch unnachahmlichem Furor dabei gegen alle Routinen der Branche, der Stadt, der gemäßigten Vernunft gearbeitet worden ist: Der Beginn ist bereits mondän: Lautner legt um den Hochpunkt eines prominenten Hügelgrundstücks mit Aussicht auf Silverlake eine verschlungene Privatstraße, um die er eine ebenso verschlungene Privatresidenz entwirft. Der Bauherr ist der Millionär Kenneth Reiner. Dann folgen die Superlative: 10 Jahre Bauzeit; der Auftrag umfasst bauen, recherchieren, neu erfinden; der Bauherr beginnt sich so sehr für Architektur zu interessieren, dass er die Kosten ignoriert, sogar Arbeiter seiner eigenen Firma für die Entwicklung und Herstellung von Prototypen für das Haus beschäftigt; jedes Bauteil, jede mechanische Komponente wird selbst entworfen und gebaut; jeder gewünschte externe Experte wird hinzugezogen; der Bauherr finanziert Forschungsreisen nach Europa; 45 Ausnahmegenehmigungen vom Building Code sind erforderlich; der Bauherr verklagt sogar die Stadt wegen des Building Code, und finanziert am Ende ein Komitee, das die Änderung des Building Code in Los Angeles 70 „This is really the start of my architecture. My father liked doing carpentry work, construction work, in the summer vacation. And, so my mother designed a cabin, a log cabin, like a, it was like a Swiss chalet. I was twelve years old, and my father and I built it on a rocky point peninsula out into Lake Superior. And this was a fantastic family project, with mother designing it, and my father and I executing it. “ John Lautner. In: Marlene L. Laskey, John Lautner. Responsibility, Infinity, Nature. John Lautner Interview by Marlene L. Laskey. The Regents of the University of California. 1986. Seite 6 71 John Lautner. Ebd. Seite 121

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zum Ziel hat. Das ironische Ende des Ideal Job ist allerdings, dass der Bauherr selbst nie in Silvertop wohnen wird. Er hatte sich allerdings während der Bauzeit ein Haus in Silverlake gekauft, um in der Nähe der Baustelle zu wohnen. Lautner ist sich der Außergewöhnlichkeit des Projekts durchaus bewusst, allerdings wieder nur im Sinne eines überzogenen Anspruchsdenkens. So wie beim Projekt Silvertop sollte es immer laufen, um Good Architecture machen zu können. Lautners Architektur macht dieses überzogene Anspruchsdenken einzigartig, aber für die Idee des Widerstands gegen den Totalraster ist das fatal. Präziser formuliert: Für die Popularisierung des Widerstands ist es fatal. Lautner beweist zwar, dass Widerstand machbar ist. Aber wer traut sich wirklich zu, seine Widerstandspraxis nachzuahmen? Welcher Architekt oder Bauherr will sich das antun? Lautner erklärt selbst sehr offen, dass er eine Millionenstadt wie Los Angeles als Reservoir braucht, um jedes Jahr wenigstens 10 bis 15 Individualisten als Bauherren zu finden.72 Er arbeitet also nur für 0,001 % der Bevölkerung. Und das ist die finale Wahrheit über den Widerstand gegen den Totalraster und die große Ortung. Widerstand ist zwar für jeden machbar, aber er muss erst in der Tat gemacht werden. Und daran scheitert er meistens – mit Ausnahme der 0,001 Prozent.

In Effizienz Man fährt, blickt durch das linke Seitenfenster über die Gegenfahrbahn hinweg auf die vorbeiziehende Stadt, sieht Schüler auf einem Football-Feld spielen, sieht Menschen in einem Geschäft verschwinden, sieht Autofahrer an einer Tankstelle hantieren. Eine seltsame Ferne und Unerreichbarkeit liegt in diesen Ansichten. Man kann nicht unmittelbar anhalten und in die seitliche Szene eintreten. Man müsste zuerst ein langwieriges Annäherungsmanöver absolvieren: abbremsen, Straßenseite 72 „Laskey: You have never come to terms with Los Angeles. Lautner: No, no. Well, I’m just one of many who are here because there is work. One way or another, there’s work. I’ve never liked it, but I know that I couldn’t exist in San Francisco. They just do one kind of cute, little thing. They’re tighter and more narrow-minded and more status and more everything. And at seven hundred thousand people while there’s seven million here – So I know I have to be where there’re millions of people to get a few individuals per year. And that’s why I say I work for .001 percent of the population, so I get about ten or fifteen out of seven million each year. That’s all the individuals I can find. There just aren’t very many, I guess.“ Marlene L. Laskey, John Lautner. Ebd. Seite 93

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wechseln, Parkplatz suchen, aussteigen, womöglich ein Stück zu Fuß gehen etc. Die Szene, in die man einsteigen wollte, wäre längst vergangen – oder sollte man besser sagen: verfahren? Fußgänger leben noch in unmittelbarer Gleichzeitigkeit mit der Stadt, können sofort zufassen und in die städtische Gegenwart eintreten. Beim Fahren ist das exakt umgekehrt. Wer fährt, spürt intuitiv, dass alles, was nebenan in der Stadt passiert, einer anderen Dimension angehört. Seitlich hinauszublicken ist wie ein melancholischer Rückblick auf ein einstmaliges Stadtleben, das für immer verloren ist. Diesen melancholischen Blick auf die Stadt kann man in Los Angeles täglich üben, aber man sollte dabei nicht vergessen, dass man sich damit in einer koketten Weinerlichkeit übt. Unzugänglich ist das seitliche Stadtleben ja nur, weil man sich entschieden hat, es zurückzulassen. Wer fährt, ist nicht hier, sondern voraus. Wer fährt, hat etwas Wichtigeres in Aussicht. Die begleitende Stadt und ihre Szenen sind also gestrig, anzuhalten wäre ein Rückschritt, ein Versagen, mindestens eine Panne. In solchen Stimmungen eskaliert das Fahren unweigerlich in Richtung ungestörter Fahrt, in Richtung schneller Fahrt. Von den Cruisern weiß man, dass es auch anders geht. Low and Slow bringt einen wieder ins unmittelbare Stadtleben zurück. Doch Low and Slow als eigene Fahrkultur gibt es nur, weil es auch das Gegenteil gibt: High and Fast. Wer den Highway wörtlich nimmt, der will am Weg zum Wichtigen nicht unterbrochen werden. Oder als kategorische Richtung formuliert: Der Highway führt aus der Stadt hinaus auf die Autobahn. Zwischendurch lockt die Idee, das Thema hier nüchtern abzukürzen. Das Wichtige, das die meisten Fahrer vorantreibt, ist doch nur ihre Arbeitsstätte, die sie erreichen wollen, oder ihr Wohnhaus auf dem Rückweg. Die vielen gewerblichen Fahrten sind in ihrer Wichtigkeit ebenso wenig sensationell. Wie wichtig können all diese Destinationen sein, um dafür ins High and Fast abzuheben und ungebremst der Autobahn zuzufliegen? Doch wer Fahren als schlicht mechanische Bewegung zwischen A und B definiert, übersieht das übergeordnete Wichtige. Das sieht man erst, wenn man wie George Lucas einen anthropologischen Blickwinkel einnimmt. Dann wird plötzlich klar, dass High and Fast den Eintritt in eine unmenschliche Ortsdimension bedeutet, die unabhängig vom konkreten Ziel attraktiv ist. Auf der Autobahn wird das mehr als augenfällig. Man bekommt Zieloptionen in abnormaler Überfülle und Gleichzeitigkeit serviert. Die anthropologische Ausnahmesituation 372

besteht aber nicht darin, dass man nun überall hinfahren kann, sondern dass man mit all diesen Zielen bereits widerstandsfrei verbunden ist. Für ein Lebewesen, das jahrtausendelang gelernt hat, Vorankommen mit Mühsal, Hindernis, Limitierung zu assoziieren, ist ein derart widerstandsfreies Verbundensein mit multiplen Zielen eine nicht artgerechte Lebenslage. Es ist ein fantastischer Überschuss, eine fantastische Übersouveränität, die zwangsläufig glücklich macht. Versucht man diese glückliche Stimmung theoretisch zu fassen, wird es allerdings schwierig. Das evolutionäre Gedächtnis eines eher am Ort feststeckenden Gehwesens hat für eine derartige Überfülle an Örtlichkeit keine Denkkategorien vorbereitet. So etwas müsste ein paar tausend Jahre lang trainiert werden, um selbstverständlich abzulaufen. Wie also könnte eine theoretische Fassung der Überfülle an Örtlichkeit aussehen? Noch halbwegs schmerzfrei gelingt es, die Autobahn nicht mehr als singuläres Ereignis, auch nicht als zusammenhängendes Ereignis, sondern das Autobahnnetz insgesamt als gesamtheitliches Ereignis zu denken. Sich aber dann vorzustellen, dass die Autobahn das Überall ist und man augenblicklich im Überall navigiert, ist bereits ein Denkabenteuer. Wenn man schließlich daran erinnert, dass High and Fast immer den Ausschluss vom Hier und Jetzt bedeutet, wird die Ortsadresse der Autobahn auf unangenehme Weise paradox: überall, aber nie hier. Eine schöne Formel, um ein Theorieseminar einzuleiten, aber so kann man kein Infrastrukturgroßprojekt beschreiben, ohne die Nutzer restlos zu verstören. Anschlussfähiger ist wohl eher die Einsicht: Die Autobahn ist das für das menschliche Ortsverständnis skurrilste, irritierendste, herausfordernste und sensationellste Bauwerk, aber aus Selbstschutz nie als solches deklariert worden. Man möchte sogar unterstellen, dass den Autobahnbauern die Ökokritik an ihrem Produkt ganz gelegen kommt, denn damit wird die Autobahn auf die Größenordnung von Mülltrennung und Freilandeiern reduziert. Als wäre da nichts außer zu viel böser Beton in der Landschaft. Die gesamte übermenschliche Ortsdimension der Autobahn ist damit bis heute öffentlich uneingestanden. Paul Virilio hat einmal Geschwindigkeit als Ort beschrieben und damit angedeutet, zu welch theoretischen Turbulenzen das Denken über das beschleunigte Fahren anregt.73 Aber solche Definitionen sind nie populär geworden – 73 „In Geschwindigkeit, das ist so ähnlich wie in China, einer anderen Gegend, einem anderen Kontinent, den wir zu kennen vorgeben […].“ Paul Virilio. Fahren, fahren, fahren … Merve Verlag. 1978. Seite 19

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ganz im Gegenteil. Nie zuvor in der Geschichte des Bauens wurde und wird ein so großartiges Bauwerk wie die Autobahn argumentativ so kleinlich behandelt. Je mehr man über dieses Versteckspiel nachdenkt, desto klarer wird die fast zynische Methode. In der Hexenküche der Moderne werden die heißesten Dinge am nüchternsten verpackt. Lächerlich, aber erfolgreich. Als verdächtigste Verpackung erweist sich jene mit der Aufschrift: Effizienz. Unter genau diesem technokratischen Label betritt auch die Autobahn die Stadt Los Angeles. Geschichtlich eingeordnet fällt damit der Blick auf die 1950er Jahre. Modernsein bedeutet, in Effizienz zu leben – das war in den 1950er Jahren kein großes Geheimnis mehr. Aber in einer eruptiven Welle wurde aus dieser Erkenntnis plötzlich eine neue städtische Realität. Die unmittelbare Gleichzeitigkeit der vormodernen Stadt war nicht länger haltbar und wurde in verschiedene Dringlichkeitsdimensionen aufgefächert. Und so hob sich in nur wenigen Jahren ein ganzes Autobahnnetz aus der Stadt heraus. Doch an der wuchtigen Präsenz der neuen Autobahn konnte jeder erkennen, dass die Differenzierung der modernen Stadt in verschiedene Dringlichkeitsdimensionen nicht symmetrisch verläuft. Das treibende Motiv war vielmehr ein destruktives Ungleichgewicht, das bis heute akut ist. Wenn in der alten, integrativen Stadtstruktur ein bestimmtes Projekt nicht mehr effizient ablaufen kann, dann löst es sich als eigenständige Struktur aus der Stadt heraus. Die Stadtautobahn ist ganz klar so ein drängendes Effizienzprojekt, das nur durch Separierung einlösbar ist. Seiter gibt es die einen, die im Hier feststecken, und in die anderen, die losgelöst im Überall navigieren. Die Differenz zwischen Stadt und Autobahn ist also wertend. Die vorbeiziehende Autobahn ist das Effiziente und Moderne, die Stadt hier und jetzt bleibt als ineffiziente Verlassenschaft zurück. Das negative Image der Autobahn in den Augen derer, die nicht gerade darauf fahren, gründet nicht zuletzt auf dieser unweigerlichen Abwertung. „Es ist die Botschaft Jules Vernes’, dass es in einer technisch gesättigten Zivilisation keine Abenteuer mehr gibt, sondern nur noch Verspätungen. Darum legt der Autor Wert auf die Beobachtung, dass sein Held keine Erfahrungen macht. Herrn Foggs imperiales Phlegma muss sich durch keine Turbulenz beirren lassen, weil er als Globalreisender dem Lokalen keinen Respekt mehr zollt.“74 Peter Sloterdijks 74 Peter Sloterdijk. Sphären II. Globen. Suhrkamp Verlag. 1999. Seite 838

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Zusammenfassung der Attitüde des Phileas Fogg betont den unversöhnlichen Charakter des modernen Effizienzreisenden, der nur widerwillig im Lokalen anlandet, weil ihn das am Fortkommen hindert. Richard Sennett würde diesen mangelnden Respekt am Lokalen wohl als Angst deuten, als Angst vor Berührung und Kontakt.75 Doch egal wie man die Stimmung auslegt, sie ist eher passiver Effekt als Absicht. Die losgelöste Effizienz trägt immer Scheuklappen und bleibt gern auf ihre eigene Dynamik konzentriert, freudig konzentriert sogar. „Die mühelose Fortbewegung begründet eine irreale Glückseligkeit, ein Herausgehobensein aus der Existenz und der Verpflichtung“.76 Dabei driftet das Lokale unweigerlich aus dem Blickfeld, wird nebensächlich oder gar unsichtbar. Als dämpfenden Nachsatz muss man allerdings anfügen, dass dieses glückselige Ausgelassensein im Überall immer nur eine Episode sein wird. Aus der Ferne wirkt jede Richtungsoption noch wie ein klares Ziel, doch je näher man kommt, desto mehr verflüchtigt es sich. Die Autobahn führt einen ja nicht direkt in ein Ziel hinein, stattdessen begegnet einem irgendwann ein Abfahrtsanzeiger und man landet wieder in der alten, ineffizienten Stadt. Die örtliche Potenz der Autobahn hat also ein Kleingedrucktes: Die Autobahn ist nur aus der Ferne das Überall, im Konkreten ist sie das Nirgendwo. Die Autobahn ist nur sehnsuchtsfähig, aber nicht satisfaktionsfähig. Das macht die Autobahn in Summe nicht wertlos, aber wer sie benutzt, sollte genau wissen, wo er sie verlässt. Das ist genauso wichtig wie die schnelle Fahrt darauf. In dieser Anweisung liegt gleichermaßen die tiefere Einsicht in Bezug auf die Effizienz im Generellen. Alle Effizienzprojekte haben das gleiche Anschlussproblem wie die Autobahn. Entsprechend gleichlautend ist die Anweisung für den Gebrauch. Es ist klug, Effizienz zu benutzen, sie wird einen weit bringen, aber wer nie aussteigt, wird an allem vorbeifliegen. Die Frage ist nun, wie leicht gelingt so ein Ausstieg? Effizienz neigt in jedem Kontext zur Ansteckung, zur Vernetzung und Vereinnahmung. Deshalb schließen sich effiziente Teilsysteme zu einem eigenen Totalraster zusammen, der wie jeder Totalraster einen enormen Magnetismus auf sein 75 „Dieser Wunsch, den Körper von Widerstand zu befreien, ist verbunden mit der Angst vor Berührung – einer Angst, die deutlich in der modernen Stadtplanung zum Vorschein kommt.“ Richard Sennett. Fleisch und Stein. Der Körper und die Stadt in der westlichen Zivilisation. Suhrkamp Verlag. 1997. Seite 25; „Heute bedeutet Ordnung das Fehlen von Kontakt.“ Richard Sennet. Ebd. Seite 28 76 Jean Baudrillard. Das System der Dinge. Über unser Verhältnis zu den alltäglichen Gegenständen. Campus Verlag. 1991. Seite 87

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Umfeld ausübt. Wie die Vernunft befällt die Idee der Effizienz das Denken wie ein Virus und beginnt Entscheidungen in ihrem Sinne auszurichten und eine logische Hermetik zu etablieren. So sind neben der Autobahn noch sehr viele andere Effizienznetzwerke entstanden, die in gleicher Weise aus dem Normalbetrieb herauspräpariert wurden und seither unabhängig davon agieren. Das Bahnnetz tut das schon sehr lange, die Luftkorridore sind überhaupt eine eigene Welt. Mittlerweile muss man auch viele Internetdienste, GPS, Mobiltelefonie etc. als eigene Effizienznetzwerke begreifen, ähnliches gilt für Notdienste, militärische Dienste, sogar für die organisierte Kriminalität. Effizienz ist in vielerlei Hinsicht eine eigene Welt in der Welt, die wie die Autobahn in kontrollierter Distanz zum Normalbetrieb funktioniert. Wer sich einmal für ein Leben in Effizienz entschieden hat, wird nichts anderes mehr sehen wollen. In den frühen Jahren des Autobahnbaus hatte man für das schwierige Nebeneinander von Normalbetrieb und elitärer Effizienz noch eine Wahrnehmung und versuchte, den Konflikt planerisch zu entschärfen. Der erste Freeway in Los Angeles war der Arroyo Seco Parkway. 1940 eröffnet, verband er Downtown mit dem nordwestlich gelegenen Pasadena. Die Fahrbahnen waren wie erwartet kreuzungsfrei für Schnellverkehr ausgelegt, erstaunlicherweise aber beidseitig von zwei breiten Grünzonen begleitet. Daher auch der Name Parkway. Hand in Hand mit dem Schnellverkehr wurde also eine enorme Parklandschaft in das Stadtgebiet eingebracht und der konfrontative Vergleich zwischen Normalstadt und neuer Effizienz vermieden. Gleichzeitig wurde Los Angeles an eine skurrile Allianz gewöhnt: Effizienz und Natur in architektonischer Harmonie vereint. Ein Tandem, das nicht selbstverständlich erscheint. Was hat diese skurrile Allianz zusammengeführt? Die Antwort ist ein synergetischer Effekt. In der Frühphase des 21. Jahrhunderts ersonnen, verbindet das Parkway-Konzept den Rückgriff auf vorurbane Romantik kongenial mit dem Vorgriff auf hyperurbane Moderne.77, 78 Die Natur, die klassische Sehnsuchtsdestination des Städters wird vermählt mit dem Fernweh, der neuzeitlichen 77 Vgl. Greg Hise, William Deverell. Eden by Design. The 1930 Olmsted-Bartholomew Plan for the Los Angeles Region. University of California Press. 2000 78 „After all, America grew up mainly in the last hundred years very rapidly, so there’s a great nostalgia for the wilderness. By the wilderness I mean areas that man has never touched.“ Robert Smithson. In: Eugenie Tsai, Cornelia Butler. Robert Smithson. University of California Press. 2004. Seite 88

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Sehnsuchtsdestination des ungebremsten Mehr. Das Angebot lautet: Das städtische Hier und Jetzt ist aufgehoben, dafür gibt es überschäumende Natur und das direkte Verbundensein mit jedem vorauseilenden Ziel. Formal entsprechend wurden beide Sehnsuchtsdestination als bandartige Strukturen gedacht, die durch die Stadtlandschaft schneiden und übergeordnet orientiert sind. Bei der Autobahn ist das Konzept Realität geworden, heute liegt ein ausdifferenziertes Autobahnnetzwerk über der Stadt. Hingegen wurden die durchgängigen Parkbänder des OlmstedBartholomew Plan jenseits des Arroyo Seco Parkway nicht realisiert. Eine Unterlassung, die als chronischer Schmerz durch die Stadtgeschichte geistert, weswegen die ursprünglich geplanten Parkbänder bis heute zumindest als Wunschbild immer wieder aktiviert werden. Dieses mittlerweile ritualisierte Trauern um den Olmsted-Bartholomew Plan verdeckt aber den Blick auf die sehr wohl realisierten Naturbänder, die durch die Stadt ziehen. Die Rede ist wieder von der Autobahn – aber in einem gänzlich anderen Verständnis. Die Autobahnbauten selbst sind das Naturereignis. Die aufragenden Betontische brechen wie Gebirgszüge durch das Stadtgebiet. Die abgesenkten Strecken wirken wie bedrohliche Faltungen der Erdkruste. Bei den Autobahnkreuzungen türmen sich diese Faltungen dann zu teils gigantischen Knäueln in die Höhe, begleitet von Gräben, Erdhaufen, Erdrücken, die wie Muren- oder Lavaflüsse die Stadtlandschaft verschüttet haben. Ein Naturereignis, brutaler anzusehen als ein begleitender Park, aber immer noch das gleiche außerstädtische, außerzivilisatorische Element der höchsten Kategorie. Die Autobahn ist – könnte man als existenzialistische Kurzdefinition ausgeben. Rem Koolhaas würde es schlicht Fuck Context nennen. Als Zaungast hat man die Ungetüme jedenfalls zu akzeptieren und zu staunen, gelegentlich klagt man noch ein wenig, merkt aber trotzdem, dass die Faszination überwiegt. Wenn man die Stadtautobahnen einmal als Naturereignis erkannt hat, ist es auch nicht mehr verwunderlich, dass die großen Autobahnkreuzungen in Los Angeles wie Hausberge verehrt werden. Rio de Janeiro hat den Zuckerhut. Los Angeles hat den East Los Angeles Interchange. Wie eine Naturkatastrophe war der Verkehrsknoten in den frühen 1960er Jahren westlich von Downtown passiert. Boyle Heights, bis dahin eine idyllische Hügelzone und Gemeinde, wurde allseitig abgeschnürt und ist zur Insel verkümmert. Eine gigantische tektonische Verschiebung in der Stadt, auch sozialgeografisch. Heute wird der East Los Angeles Interchange stolz als der am meisten frequentierte Autobahnknoten der Welt 377

präsentiert. Bill Keene, ein bekannter Verkehrs- und Wettermoderator der 1980er Jahre, nannte die Kreuzung dennoch spöttisch Malfunction Junction. Eine Bezeichnung, die nicht mehr sehr geläufig ist, dafür wurde der gewitzte Keene selbst zum Namenspatron für einen anderen Autobahnknoten. Der Bill Keene Memorial Interchange, gebaut in den frühen 1950er Jahren im Norden von Downtown, war immerhin der erste Stack Interchange der Welt. Auf vier Ebenen überkreuzen sich Richtungsfahrbahnen und Verbindungsschleifen. Drama und Meisterleistung genug, um von der Los Angeles Section der American Society of Civil Engineers als Landmark gelistet zu werden.79 Der am meisten fotografierte Knoten in Los Angeles ist hingegen der Judge Harry Pregerson Interchange und damit Teil der szenografischen Popkultur der Stadt. In der weiten Ebene sind seine aufgeständerten Rampen wie Girlanden in die Luft gezeichnet, erratisch und einschüchternd. Der Clarence Wayne Dean Memorial Interchange wiederum schneidet mit seinen vielen Spuren und Rampen in die Hügelketten im Norden von Los Angeles hinein. Da kollidiert menschgemachte Meganatur direkt in die vorgefundene Landschaftstektonik hinein, mit langen Schürfen und Schnitten. Ein lehrreiches Gipfeltreffen der topografischen Großkräfte der Stadt, und ein Beweis dafür, wie schön ignorante Effizienz sein kann. Städtebaulich ist aber das systemisch brisanteste Gipfeltreffen noch unbesprochen. Die Rede ist vom Verhältnis der Autobahn zum Quadratraster. Als die Autobahn in den 1950er Jahren aus der Stadt herausgehoben wurde, war das gleichzeitig ein Ausstieg aus dem Quadratraster. Die Autobahn legt seither ihr völlig eigenmächtiges geometrisches Netz über die Stadtlandschaft. Die Trassen folgen zwar in ihrer überregionalen Ausrichtung als Interstate Highway System einer Nord-Süd- und einer Ost-West-Orientierung. Wer die Logik der Nummerierung kennt, kann wieder wie in einem Totalraster navigieren. Doch diese Totalrasteranlage ist nur in der kontinentalen Dimension wirksam. Lokal ist davon nichts mehr zu bemerken, ganz im Gegenteil. Im Stadtgebiet kommen zu den Interstates noch lokale Zubringer und Highways in Autobahnausführung hinzu, die in Summe keiner klar erkennbaren Rastergeometrie mehr unterliegen. Wer also das Stadtgebiet von Los Angeles nach Widerstand gegen den Quadratraster absucht, wird unweigerlich der Autobahn begegnen. 79 http://www.ascelasection.org. 22.04.2019

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Quer durch die Meilenquadrate beweist sich das Autobahnnetz als massive Störung der idealen Anlage. Die Hauptrasterstraßen werden mühsam mit Brücken und Unterführungen weitergeleitet oder akzeptieren die monströsen Autobahnbauwerke als unüberwindliche Hürde, die Subraster brechen abrupt ab, die Stadt terminiert. Besprechenswert ist diese geometrische Eigenwilligkeit der Autobahnen aber vor allem, weil damit ein deutlicher Vorwurf ausgedrückt wird. Der Quadratraster ist offensichtlich als Basisgeometrie für Effizienz ungeeignet. Die Effizienz hat sich davon distanziert und ihre eigene Geometrie etabliert. Eine Abwertung, die überrascht. Thomas Jeffersons Quadratraster war zwar der demokratischen Idee verpflichtet, basiert aber auf einer streng funktionalistischen Logik. Die strikte Normung von Distanzen, Flächen und Orientierungen hat die Anforderungen der Industrialisierung vielfach vorweggenommen und in Städtebau übersetzt. Doch aus der Perspektive der Autobahn soll dieser Quadratraster trotzdem ineffizient sein? Und die eigenwilligen Autobahnlinien mit ihren langen Kurven und gemogelten Geraden sollen dagegen die neue geometrische Effizienz darstellen? Die Auflösung dieses scheinbaren Widerspruchs liegt tatsächlich in der geänderten Perspektive. Virilio konnte Geschwindigkeit und starre Gerade noch synonym denken. Doch aus der Perspektive der Autobahn wirkt diese starre Geometrisierung vormodern, weil sie zuallererst einem theatralischen Formalismus gehorcht. Die Autobahn hingegen macht aus der starren Geraden keinen Fetisch, sondern sucht die ergebnisorientierte Gerade. Gerade ist dabei nicht mehr, was dem geometrischen Ideal folgt, sondern Gerade ist, was Input und Output, Auftrag und Ergebnis, Einsatz und Gewinn am schnellsten verbindet. Der tatsächliche Verlauf der Verbindung ist dabei nebensächlich, denn die Beurteilungsperspektive dreht sich ebenfalls um. Wer auf der Autobahn fährt, sieht keine Kurven und Schleifen. Wer auf der Autobahn fährt, unterscheidet nur freie Fahrt und Störung der freien Fahrt. Aus der Perspektive des Autobahnfahrenden wirkt stattdessen die alte Quadratrasterstadt, obwohl strikt linear angelegt, plötzlich verschlungen, verknotet, kompliziert und höchst ineffizient. Die theatralischen Quadrate sind dann das, was Virilio als mythologische Welt beschreibt, in der es von Drachen, Meeresschlangen und labyrinthischen Gängen wimmelt.80 Ein Urchaos, oder in 80 Paul Virilio. Fahren, fahren, fahren … Merve Verlag. 1978. Seite 23, 24

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Abwandlung eines Satzes von Derrida: eine voroptimierte Welt, angeordnet in einem nicht effizienten Raum und einer nicht effizienten Zeit.81 Die Autobahngeometrie macht klar, dass auch für die Phänomenologen eine neue Zeit angebrochen ist. Die neue, effiziente Geometrie ist kein schönes Bild mehr, das sich fehlerlos in Gedanken ausmalen lässt. Da gibt es keine perfekten Geraden und Kurven mehr, die man künstlerisch auf Leinwand übersetzen kann, als Huldigung an die Unmöglichkeit der Realisation des Ideals. So brav und gemütlich ist effiziente Geometrie nicht zu haben. Effiziente Geometrie ist hinterhältig, opportunistisch, taktisch und unberechenbar. Sie erscheint plötzlich als Ergebnis, aber klärt sich nicht auf. Sie taucht wieder ab, aber plant nicht voraus. Man kann an der effizienten Geometrie keine T-Shirts und Kopfkissen ausrichten, kann keinen weiteren Verlauf prognostizieren, nicht einmal auf die Wiederholung von bereits absolvierten Sequenzen darf man hoffen. Dieser Wechsel der geometrischen Instanz von theatralisch zu diffus beschreibt gleichermaßen eine neue Phase der Moderne. Man muss heute keine wohlargumentierten Auftritte mehr absolvieren, um als Moderner zu gelten. Wer heute beweisen will, dass er modern ist, der muss schlichtweg Erfolg haben. Wie ist egal. Der Kontostand ist das Werk, und dieses Werk muss nicht publiziert werden, muss nicht zur Debatte und Kritik angeboten werden. Wie die effiziente Geometrie weiß die effiziente Moderne genau, dass sie taktisch abtauchen muss, um quer durch die bekannten Regelsysteme schneiden zu können. Im Zuge der Beschreibung des evaluierten Ortes ist dieser Gang ins Heimliche schon angedeutet worden, wenn offensichtliche Bewertungen von hintergründigen Algorithmen abgelöst werden, wenn die Ergebnisse dieser hintergründigen Evaluierungen nicht mehr explizit werden, sondern ebenfalls still und heimlich in den Datenbanken weitergereicht werden. Die Moderne ist also insgesamt heimlich geworden, unheimlich sogar, konspirativ, verdächtig, kein offener Hoffnungshorizont mehr für alle, sondern ein Tunnelsystem für verschwiegene Sieger. „What I mean by transparency is a bit different from being able to see. For me, information society is mainly about not seeing.“82 81 „daß diese vorgeometrische Welt eine Welt von Dingen war, angeordnet in einem nichtexakten Raum und einer nichtexakten Zeit.“ Jacques Derrida. Husserls Weg in die Geschichte am Leitfaden der Geometrie. Wilhelm Fink Verlag. 1987. Seite 163 82 Kazuyo Sejima. In: Kazuyo Sejima, Ryue Nishizawa. „Making the Boundary“. In: El Croquis 99. 2000. Seite 14

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Klingt diese Beschreibung der Effizienz als unheimliches Werkzeug der zeitgenössischen Moderne zu wertend? Gerät die Frage nach der Effizienz damit zu schnell in eine moralische Sackgasse, die vor allem das systemische Potenzial der Effizienz übersehen lässt? Gerade im Hinblick auf die vereinnahmende Tendenz jedes Totalrasters zeigt die Effizienz nämlich eine verlässlich selbstreinigende Praxis. Einem ideologisch formalisierten Totalraster wie dem Quadratraster von Jefferson ist viel schwerer zu entkommen. Selbst wenn sich ein besserer Demokratieraster finden würde, die USA blieben dennoch quadratisch aufgerastert, weil der Quadratraster als emblematisches Bild bereits Kulturgeschichte geworden ist. Die Effizienz ist da wesentlich weniger zimperlich. Der Zweifel an der Effizienz hat schon ganz andere Gebilde ins Wanken gebracht. Sogar demokratische Routinen und die Demokratie insgesamt müssen sich immer wieder von der Effizienzanklage beschämen und bedrängen lassen. Am interessantesten an der unverschämten Angriffigkeit der Effizienz ist aber die kannibalische Neigung. Effizienz stürzt sich mit besonders verschlingender Lust auf sich selbst. Sobald der Nachweis gelingt, dass gewinnbringender, schneller, agiler agiert werden kann, ist das gesamte bisherige Effizienzgebilde entwertet und abgeschafft. Das destruktive Talent der Effizienz wirkt dann als befreiende Kraft. Wobei nicht nur die Intensität der Befreiung, sondern auch die Geschwindigkeit verblüfft. Offensichtlich wird nichts schneller alt als die Effizienz von gestern. Darin liegt womöglich sogar die einzige Rettung vor der großen Ortung, den penetranten Evaluierungen und wuchernden Datenbanken. Sobald sich aus der großen Geometrisierung der Welt kein Vorteil mehr errechnen lässt, ist sie vergessen.

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ÜBERZEICHNUNG

Obsession mit dem Vordergrund Ornamente, Figuren, Girlanden und den ganzen billigen Stuckdekor abschlagen, entsorgen und dann die Oberflächen glatt verputzen, innen wie außen. Entstuckung nennt man das. In den 1920er Jahren war das noch Pioniertat einiger weniger Architekten wie Peter Behrens, Erich Mendelsohn und der Architekten des Neuen Bauens, hauptsächlich in Berlin, aber auch anderswo. Der junge Richard Neutra fand sich ebenfalls inmitten dieser strengen Bereinigungswelle der frühen Moderne wieder. Er war Mitarbeiter bei Mendelsohn in Berlin von 1921 bis 1923, später wohl schon so etwas wie ein Juniorpartner, bevor er sich entschied, nach Amerika zu gehen. Warum? Amerika war weit weg und gerade deswegen der schnellere Weg in die Moderne. In Los Angeles konnte Neuerung als befreiter Neuanfang betrieben werden. In Wien oder Berlin durfte man hingegen nur den langen Weg in die Moderne gehen, magenkrank und gemütskrank wie Adolf Loos. In Europa beginnt Neuerung generell verkehrt orientiert, Neuerung ist hier zuallererst eine vorwurfsvolle Rückschau auf das bereits Bestehende. Nicht „Ich starte neu!“, sondern „Du musst dich ändern!“, lautet der erste Auftrag. Besonders deutlich wird das, als die frühe Moderne um Sichtbarkeit kämpft. Es reicht nicht, dass sukzessive moderne Gebäude entstehen und die Moderne damit im Stadtbild vorstellig wird. Der Kampf um Sichtbarkeit wird vor allem als demonstrative Anklage an das historische Stadtbild ausgetragen und mit der Entstuckung wird der Schuldspruch vor aller Öffentlichkeit exekutiert. Die Moderne erringt Sichtbarkeit, indem 383

sie der historischen Architektur ihr Gesicht abschlägt. Nicht nur für paranoide Beobachter muss die frühe Moderne wie eine hinterhältige Attentäterin erschienen sein, die sich zuallererst als Beschädigung am Bestehenden offenbart, bevor sie selbst Gestalt annimmt. Umwegig, unsympathisch und grotesk, aber mit zunehmendem Furor. Spätestens nach 1945 ist die Entstuckung nicht mehr Pioniertat weniger Avantgardisten, sondern in ganz Deutschland wird massiv gegen die architektonische Oberflächlichkeit vorgegangen. Lügnerisch wären die Fassaden aus dem 19. Jahrhundert, voller in haltsleerem Dekorum, das den Kopf mit falschem Stolz vernebelt – lautete die direkte Anklage.1 Wer sich den Blick auf die Wahrheit mit Lügenfassaden verstellt, der wird wieder hinter Lügenparolen in den Krieg ziehen – so das Metaargument dazu. Einmal passiert, zweimal passiert, also ja kein drittes Mal. Nur glatter Putz ist ehrlich, weil hintergründig und still. Und deswegen ist das Stillmachen durch Entstuckung zwar eine groß angelegte Zerstörung, aber es ist die beste aller Zerstörungen, es ist ein Schöpfungsakt – zumindest lautet so Slavoj Žižeks Definition von Stille: „Der erste Schöpfungsakt ist daher, Stille zu erzeugen – nicht die Stille wird durchbrochen, sondern sie selbst durchbricht und stört das beständige Gemurmel des Realen und öffnet so eine Lichtung, in der Worte gesagt werden können.“2 Aus heutiger Perspektive fällt es schwer, das Abschlagen von Fassadendekor als Schöpfungsakt zu deklarieren. Aber innerhalb des modernen Aufbruchs hat radikale Übergriffigkeit durchaus eine schöpferische Bedeutung. Die Moderne zelebriert den Neuanfang, indem sie die ganze überlieferte Kulturlandschaft zur Terra Nulla abwertet. Das kurze Textstück von Žižek lässt sich aber nicht nur als bestätigende Wortspende für die Übergriffigkeit der Entstucker gebrauchen, es weist gleichzeitig auf deren großes Versagen hin. Der Hinweis ergibt sich aus Žižeks Auflistung der drei wesentlichen Instanzen einer generellen Theorie des Zeichens: dem initialen Gemurmel des Realen, gefolgt von der erzwungenen schöpferischen Stille, wiederum gefolgt vom Auftritt 1 „die MSC [Maximal Stress Cooperation]-decorum-Theorie […] behauptete, alle Kulturen seien aggressiv, man müsse allen Kulturen misstrauen, und man müsse vor allem seiner eigenen Kultur misstrauen. […] Kulturen sind MSC-decorum gesteuert. So ist es immer, außer wir bekommen den organisatorischen Kern von MSC und decorum zu fassen.“ Heiner Mühlmann. MSC. Die Antriebskraft der Kulturen. Springer Verlag. 2005. Seite 10 2 Slavoj Žižek. Parallaxe. Suhrkamp Verlag. 2006. Seite 247

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der bedeutsamen Botschaft. Die spezifische Reihenfolge, in die Žižek die drei Instanzen setzt, erzeugt eine enorme dramaturgische Spannung. Doch genau an dieser dramaturgischen Spannung sind die Entstucker letztlich gescheitert. Sie eröffnen mit der aggressiv vorgetragenen Entstuckung eine brisante Definitionserwartung: Welcher authentische Kern bleibt übrig, wenn man Architektur von Dekorationen, Ornamenten, Formalismen bereinigt? Was ist Architektur in ihrem reinsten Innersten? Eine gewichtige Frage und die intimste Frage an Architektur überhaupt. Schweres Pathos umgibt solche deklarativen Momente, und gerade deswegen hört man Tom Wolfe verächtlich lachen.3 Er weiß instinktiv, dass immer dort, wo das Pathos groß wird, das Argument umso kleiner ausfällt.4 Anfang der 1980er Jahre macht er sich lautstark über die gescheiterte Moderne lustig, eben weil sie an der Definition von bereinigter Architektur so kläglich versagt hatte. Welche neue Essenz der Architektur hatte man denn nach der großen Bereinigung gefunden? Im konkreten Entwurfs- und Baubetrieb der Architektur war lediglich ein plärrender Befehl zu hören: Funktionalismus! Das war also die neue Essenz der Architektur, je stringenter, desto besser. Der Funktionalismus war der Bewehrungshelfer der Architektur nach ihrer sündhaften Liaison mit der dekorativen Lüge. Die Architektur der Moderne war also nicht lange frei in ihrer definitorischen Selbstfindung, sondern wurde vom Funktionalismus bevormundet. Schweigen und dienen war der neue Auftrag. Rückblickend meinen viele, die Architektur wäre am funktionalistischen Schweigegebot verarmt. Diese depressive Einschätzung ist zumindest in einer Hinsicht nicht richtig. Erstaunlicherweise konnte die Architektur gerade durch das Fügen in die funktionalistische Vormundschaft sehr schnell zur gesellschaftlichen Zentralinstanz aufsteigen. Eine Aufgabe, die wesentlich wertvoller eingeschätzt wurde, als für den sensationslustigen Eklektizismus des 19. Jahrhunderts die Stimmungsattrappe zu spielen. Die Architektur der Hochmoderne war das geläuterte Schaf und damit der Primus unter den umzuerziehenden Disziplinen, dessen Beispiel alle anderen folgen sollten.

3 „The European artist! What a dazzling figure!“ Tom Wolfe. From Bauhaus to Our House. Bantam Books. 1999. Seite 8 4 „Pathos bedeutet, dass wir von etwas getroffen sind, und zwar derart, dass dieses Wovon weder in einem vorgängigen Was fundiert, noch in einem nachträglich erzielten Wozu aufgehoben ist.“ Bernhard Waldenfels. Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden. Suhrkamp Verlag. 2006. Seite 43

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Dennoch darf man den Entstuckern gegenüber nicht allzu überheblich argumentieren. Funktionalismus mag eine schwache Antwort auf die Frage nach dem Wesen bereinigter Architektur sein, aber lässt die Frage überhaupt eine überzeugende Antwort zu? Die gesamte Bereinigungsidee unterstellt ja, dass Architektur wie eine Kokosnuss organisiert ist. Schmutzige Schale, reinweißer Kern. Doch wie plausibel ist dieses SchaleKern-Modell? Plausibel ist einzig die Untersuchung, in welchem Zustand die Architektur den Auftrag der Moderne am besten erfüllen kann, verschmutzt oder bereinigt? Diese Untersuchung kommt aber schnell zu gänzlich anderen Befunden. Das, was die Entstucker eine verlogene Schmutzschicht nennen, ist nichts anderes als das Mithineingezogensein der Architektur in den menschlichen Alltag, der bekanntlich ohne Lüge nicht funktionieren würde. Jedes soziale System braucht die oberflächliche Lüge, um zu funktionieren. Architektur für Menschen ist da keine Ausnahme. Der ganze unreflektierte Kitsch und optische Unrat, der die Architektur befällt, macht sie erst sozial funktional. Wer diese Schmutzschicht zerstört, der macht Architektur für den alltäglichen Betrieb funktionsunfähig. Daraus folgt wiederum, dass der alltägliche Maßstab des Funktionierens eine gänzlich andere Definition von Funktionalismus erzwingt. Gefordert ist ein angewandter Funktionalismus, der sich im Dienst einer angewandten Vernunft am Alltag schmutzig macht. Eine ähnliche begriffliche Wendung erfährt die Idee der individuellen Freiheit, die ebenfalls gern in idealer Reinheit gedacht wird. Könnte der Mensch wirklich frei entscheiden, dann würde er immer das Schöne, Wahre, Gute anstreben – so die romantische Unterstellung – und die Moderne damit automatisch in jene edle Klarheit führen, die von der Entstuckungselite vorbereitet wird. Der formale Zwang durch die Entstuckung ist dann gar kein Zwang, sondern nur eine vorweggenommene Befreiung. Doch individuelle Freiheit ist ohne die prinzipielle Freiheit zur Ausschweifung ins Trübe nicht glaubwürdig. Sogar die Lüge darf nicht generell verboten werden. Und die Moderne selbst muss sich als Schauplatz für all diesen Leichtsinn zur Verfügung stellen, sonst verfehlt sie ihren Auftrag. Gerade dort, wo die Moderne hochaktuell ihren Kurs aushandelt, darf es für nichts und niemanden ein Sprechverbot geben. Wahrheitszwang ist Diskursverweigerung. Die Architektur steht also vor einem ähnlichen ästhetischen Dilemma wie die Idee der freien Meinungsäußerung. Erst an der Freiheit zur deftig unschönen Meinungsäußerung wird die Freiheit wirklich eingelöst. 386

Als wertvolle Hinterlassenschaft aus der Ära der Entstucker bleibt somit eine wichtige Aufklärung: Die definitorische Basis von Architektur ist nicht die Reinheit, sondern die lebendige Verschmutzung, genau das, was Žižek das Gemurmel des Realen nennt.5 Architektur ist in ihrer natürlichen Erscheinung eine indifferente Melange aus Strichen, Bauteilen, Referenzen, Anhaftungen, Fehlern, Formalismen, Zufälligem und Unerklärlichem. Deswegen gleichen sich die Bilder von gelebter Architektur, nachdem sie ein paar Jahre in Betrieb war, egal ob man die Stadtkerne in Europa, die Downtowns in Amerika oder die alt gewordenen Suburbs in Los Angeles durchstreift. Architektur befindet sich immer in einer Zeichenlärm-Homöostase, in einem inneren Drang zum Gemurmel, das jede Stille irgendwann wieder überlagert. Das Gemurmel des Realen als gesunde Mitte jeder architektonischen Erscheinung festzulegen, hat aber noch erheblich tiefere Auswirkungen auf die Stille-Idee der Moderne. Wenn sich die weiß-glatte Architekturandacht nicht natürlich stabilisieren lässt, was ist dann der schöpferische Akt des Stillmachens noch wert? Was soll das für ein schöpferischer Aufbruch in eine neue Architekturrealität sein, wenn sich diese bald wieder in der alltäglichen Zeichenlärm-Homöostase verliert? So schnell darf einem schöpferischen Akt nicht die Lebenskraft ausgehen. Natürlich kann man pflichteifrig nachsetzen und die schöpferische Stille, die Entstuckung und Bereinigung weiterhin reklamieren und nachbessern. Aber das ist dann keine Schöpfung mehr, sondern pingelige Hausmeisterei – und damit ist exakt die Abzweigung beschrieben, die von den Vertretern der doktrinären Stille genommen worden ist. Als Erstschlag gegen die große Lüge mag die Entstuckung ein wertvoller Moment gewesen sein, ein großer Sieg und ein klares Stille-Statement. Aber wie kleinlich und peinlich wird so ein Sieg, wenn dann täglich übertüncht, zensuriert und unterdrückende Gewalt angewendet wird, wenn Architekten und Nutzer permanent erzogen, gegängelt, bevormundet werden, um die schöpferische Stille zu halten? Zumindest in der akademischen Architektur ist die Entstuckung immer noch eine bedeutende Szene in der Theorie des Zeichens, und in einzelnen Projektkategorien wie White-Cube-Museen wird die weiße Architekturandacht nach wie vor hochgeschätzt. Doch auch in diesen 5 „Die Urtatsache ist nicht die Stille (die darauf wartet, vom göttlichen Wort durchbrochen zu werden), sondern der Lärm, das verworrene Gemurmel des Realen, in dem es noch keinerlei Unterscheidung von Figur und Hintergrund gibt.“ Slavoj Žižek. Parallaxe. Suhrkamp Verlag. 2006. Seite 247

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akademischen Schutzräumen ist die Kritik längst laut.6 Wenn die Kunst totale Konzentration braucht, warum erzeugt sie diese Konzentration nicht selbst durch Anstiftung und Überwältigung? Warum muss die Architektur durch kahlweiße Hausmeisterei aushelfen? Ist der White Cube nur ein Sanatorium für Kunst, die in Normalumständen nicht durchsetzungsfähig ist? Derartige Debatten lassen vermuten, dass jenseits der akademischen Architektur die Auseinandersetzung weitgehend entschieden ist. Das Buch Die gemordete Stadt aus dem Jahr 1964 wird gern als Endpunkt der Entstuckung in Deutschland angeführt und als Wendepunkt hin zu einer Wertschätzung historischer Fassadenbilder. Der Trend lag aber bereits sehr viel breiter in der Luft und von Entstuckung war bald keine Rede mehr, eher von Stadtbildverlust, wenn historische Fassaden zu Schaden kamen.7 Dieser Stimmungsumschwung ist nicht zuletzt dem Eingeständnis geschuldet, dass die Moderne bis dahin schon so viel Schaden angerichtet hatte, dass man altem Putzdekor keine Weltbedrohung mehr zutrauen wollte. Was aber folgte auf die lebensfremde Idee der Entstuckung? Hatte die Architekturdisziplin daraus gelernt, das Gemurmel des Realen fortan als definitorische Nulllinie der Architektur zu akzeptieren? Nein, ganz im Gegenteil. Nach der Hysterie um die Stille hat sich die Architekturdisziplin zügig in eine Hysterie um die maximale Lautstärke gestürzt. So schnell kann eine Branche die Wertmaßstäbe umkehren. Jahrelang musste das Gemurmel des Realen zum Schweigen gebracht werden, und dann musste es plötzlich übertönt werden. Nach den strengen Entstuckern war plötzlich Robert Venturi der Theoriestar der Architektur. Sein Learning from Las Vegas, verfasst gemeinsam mit Denise Scott Brown und Steven Izenour, war befreiende Polemik und Theoriemanifest zugleich, weil es zeigte, wie lustvoll sich frivole Konsumenten und frivole Architektur in der Wüste zu einem Aufstand gegen die maßvolle Stille verabredet hatten.8 Ergebnis war der größte Exzess an oberflächlicher 6 „you’re expected to look at works in galleries as though they dropped from heaven. It’s a kind of secular religiosity, it seems to me.“ Robert Smithson. In: Eugenie Tsai, Cornelia Butler. Robert Smithson. University of California Press. 2004. Seite 88 7 Wolf Jobst Siedler, Elisabeth Niggemeyer. Die gemordete Stadt. Abgesang auf Putte und Straße, Platz und Baum. F. A. Herbig Verlagsbuchhandlung. 1964 8 Robert Charles Venturi, Denise Scott Brown, Steven Izenour. Learning from Las Vegas. MIT Press. 1972

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Architektur, den man bis dahin gesehen hatte. In Berlin abgeschlagen, in Las Vegas pompös wiedererstanden. Man darf den Titel Learning from Las Vegas also gern als ironische Spitze lesen. Genau jenen dogmatischen Moderneerziehern, die Architektur und Konsumenten mit formaler Strenge belehren wollten, wurde jetzt eine postmoderne Lektion in Oberflächlichkeit erteilt, und die Instruktoren waren ausgerechnet die Unerzogenen, die Totalverweigerer der doktrinären Stille. Das sind revolutionäre Settings und plastische Momente in der Geschichte jeder Disziplin. Mit dieser Auftaktlektion von Venturi, Scott Brown und Izenour beginnt eine tumultartige Konjunktur des Zeichens in der postmodernen Architektur bis hin zur Entwicklung einer architekturspezifischen Zeichensprache, die immer dichter mit Symbolismen, Codierungen und Verweiskaskaden operiert. Die neue Wichtigkeit des Zeichens war allerdings an eine strenge Bedingung geknüpft. Nur Oberflächlichkeiten, die von den akademischen Instanzen der Architekturdisziplin aufgewertet worden waren, durften Teil der postmodernen Zeichenarchitektur werden. Alle anderen Dekorationsversuche wurden hingegen weiter belächelt. Für Las Vegas hatten Venturi, Scott Brown und Izenour gebürgt, das war von nun an kein banales Lichttheater mehr, sondern wissenschaftliches Anschauungsmaterial. Folglich waren auch Venturis eigene Bauten beliebtes Ziel des akademischen Bedeutungsstalkings. Wie viele Seminarstunden sind bislang verbraucht worden, um die goldene Antenne über dem Gemeinschaftsraum am Dach des Guild House zu interpretieren? Und wie viele Seminarstunden sind gebraucht worden, um zu erörtern, warum sie wieder entfernt worden ist? Für die Diskursambition der Postmoderne waren das goldene Zeiten. Die komplexe und widersprüchliche Tiefendimension des neuen Zeichenraums wurde ganz bewusst der durchschaubaren Aufrichtigkeit der Moderne entgegengehalten. Doch ist diese plötzliche Zeichenekstase glaubwürdig? Kann eine Branche wirklich in so wenigen Jahren eine theoretische 180-Grad-Wendung vollziehen? Überflüssige Frage, denn im konkreten Fall war das gar nicht notwendig. Erstaunlicherweise hat die Architektur ihre prinzipielle dee vom Zeichen ohne Änderung von der Moderne auf die Postmoderne übertragen. Das klingt paradox, folgt aber einer simplen Logik: Für die Postmoderne war das Zeichen obsessiver Vordergrund, für die Moderne aber ebenfalls. Für die Entstucker war das Zeichen immer die große 389

Sensation, als Verschmutzung der Architektur, als Fokus der Kritik, als Ziel der Korrekturmaßnahmen. Selbst als der Fassadendekor abgeschlagen war, blieb das Zeichen immer noch Vordergrund. Was könnte präsenter sein als ein drohender Feind? Das Zeichen, das Ornament, die oberflächliche Lüge war also nie weg, sondern ist durch die panische Gegnerschaft erst zum architekturgeschichtlichen Schwergewicht geadelt worden. Erst nachdem das Ornament zum Verbrechen erklärt worden war, konnte man theorieschwere Debatten über Ornamente führen. Nur wer den vermeintlich werthaltigen Kern der Architektur vor verfälschender Oberflächlichkeit retten will, gesteht der verfälschenden Oberflächlichkeit enormes Potenzial zu, zumindest als destruktive Kraft. Der Erfolg von Venturi, Scott Brown und Izenour besteht also kurioserweise darin, die bereits vorhandene Obsession mit dem Vordergrund erneut zu befeuern – und das gelingt ihnen, indem sie die einstmalige Bedrohung in eine willkommene Rettung umdeuten. Aus einer existenziell-ernsten Zeichen-Horrorshow haben sie eine intellektuell-ironische ZeichenHorrorshow gemacht. Aber sie haben die gleichen Akteure in ihren alten Rollen auftreten lassen. Architekturgeschichtlich ist die postmoderne Neuauflage der Zeichenhysterie ein kritischer Kollaps. Bislang waren die Entstuckung in Deutschland und die Zeichenhybris in Las Vegas die zwei markantesten Gegenpole der Theorie des Zeichens in der Architektur. Wenn aber beide Ereignisse die gleiche Obsession mit dem Vordergrund zum Inhalt haben, fallen sie ineinander und erzeugen keine dialektische Spannung mehr. Anstatt eine kontroverse Zeichendebatte zu befeuern, werden die gleichen Abläufe variiert. Deutlich wird das vor allem beim Streben nach Sichtbarkeit. Die Obsession mit dem Vordergrund hat die Moderne übergriffig werden lassen und zur Entstuckung angestiftet. Die Postmoderne tut das Gleiche. Wieder reicht es nicht, dass sukzessive postmoderne Bauten entstehen und im Stadtbild präsent werden. Wieder drängt die neue Architektur auf mehr Sichtbarkeit, als sich aus dem bloßen Zuwachs an neuer Substanz ergibt. Diesmal allerdings nicht, indem man anderen Bauten das Gesicht abschlägt, sondern indem man sich die Gesichter anderer Bauten einverleibt. Niemand in Las Vegas hatte Leuchtfassaden aufgestellt, um postmodern zu sein. Aber nach Venturis, Scott Browns und Izenours Vereinnahmung war Las Vegas plötzlich die postmoderne Architekturhauptstadt – zumindest für die akademischen Vertreter der Disziplin. 390

Dieser einschränkende Nachsatz deutet auf eine weitere Wiederholung der Architekturgeschichte hin. Die Entstuckung war ein Projekt der akademischen Elite und nie breitenwirksam. Für Venturis, Scott Browns und Izenours Zeichentheorie gilt das Gleiche. Der postmoderne Überschwang war letztlich genauso wenig zu vermitteln wie die zwanghafte Stille der Entstucker. Wer will schon sensationslustige Verweiskaskaden an seinem Haus haben? Und wer will in einer Duck wohnen, die der Bezeichnung gerecht wird? Im Urlaub ja, als Postkartenmotiv vielleicht, aber nicht im Alltag. Der visuelle Exzess, den Venturi, Scott Brown and Izenour beschrieben haben, existiert nicht einmal mehr in Las Vegas. Der Strip von 1972 ist längst Geschichte und das Las Vegas von heute hat sich dem auch sonst üblichen Gemurmel des Realen angenähert. Der Zeichenlärm-Homöostase ist auch durch Überschwang nicht dauerhaft zu entkommen. Die fehlende Mainstreampopularität von architektonischen Ideen muss nicht das letzte Qualitätskriterium sein, doch im konkreten Fall bekräftigt sie eine verstörende Konklusion: War die gesamte Zeichendebatte der letzten fast 100 Jahre ein kontinuierliches Ablenkungsmanöver von Architekten für Architekten? Ein hermetischer Selbstbetrug mit vielen engagierten Exkursen, aber mutwillig blind für das Naheliegende? Die Architekturgeschichte gibt sich gern kausal-eifrig und dekliniert Konzepte, Argumente, fachliche Logik und lässt die psychische Verfassung des Architekten verschämt beiseite. Architektur soll nicht als Ergebnis narzisstischer Stimmungen erscheinen. Aber welche andere naheliegende Erklärung findet man für die moderne und postmoderne Obsession mit dem Vordergrund? Wenn zwei aufeinanderfolgende Architekturepochen trotz behaupteter gegensätzlicher Inhalte dennoch von der gleichen Zeichenobsession befallen sind, dann hat das notgedrungen mehr mit der psychischen Verfassung der Architekten zu tun als mit fachlichen Erwägungen. Die Zeichendebatte der letzten 100 Jahre behandelt also weniger die tatsächliche Rolle des Zeichens in der Architektur, sondern ist vor allem ein Psychogramm der Zeichenverrücktheit eines ganzen Berufsstandes. Die eigentliche Pointe kommt aber noch. Durch die psycho-pathologische Personalisierung der Zeichendebatte ändert sich das zentrale Bedrohungsbild. Bislang war das Zeichen eine externe Gefahr, die auf die Architektur zukommt und die man entweder abwehren oder akademisch 391

kuratieren muss. Deshalb tritt der Architekt in der Moderne als Entstucker der Überzeichnung auf und in der Postmoderne als deren intellektueller Dompteur. Auf keinen Fall durfte man die Architektur mit dem Zeichen alleinlassen, denn dann würde das Zeichen die Überhand gewinnen. Das Zeichen kann ja viel gezielter auf Wirkung getrimmt werden, hat jede Möglichkeit, schneller, freier, größer, billiger, aufdringlicher zu sein als jede Architektur. Nicht mehr die Architektur wäre dann der Souverän, sondern das Zeichen würde die großen Kategorien vorlegen. Die Oberflächlichkeit wäre dann wichtiger als die Tiefendimension. Die Fassade wichtiger als der Raum. Das Flüchtige wirkungsstärker als das Beständige. Die kurze Sensation wertvoller als die Nachhaltigkeit. Kurz, die Architektur würde in allen Belangen überzeichnet werden. Doch diese Gefährdungsgeschichte ist falsch erzählt, weil die Rolle des Bösen darin falsch besetzt ist. Die Architekten selbst sind die Überzeichner und bedrohen mit ihrer Obsession nach Vordergrund die eigene Architektur. Sinngemäß gilt deshalb: Man darf die Architektur nicht mit den Architekten alleinlassen, denn sonst beginnt die Überzeichnung. Die Architekten selbst bevorzugen den Vordergrund und fürchten den Hintergrund. Keiner will Hintergrund sein. Und alle ausnahmsweisen Fürsprachen pro Hintergrund sind nur der Versuch, den Hintergrund punktuell doch hervorzuheben. Wobei die Schizophrenie der Doppelbaustelle Architektur durchaus unterhaltsam anzusehen ist. Es sind natürlich die Architekten, die die Tiefendimension von Architektur ausarbeiten und mit einem hohen ideellen Wert aufladen. Doch es sind die gleichen Architekten, die ihre Arbeit an der Tiefendimension mit ihrer Sucht nach oberflächlicher Aufmerksamkeit entwerten. Wenn die Entstucker also von einer Verschmutzung der Architektur reden, dann kann diese Verschmutzung nur die Obsession eines ganzen Berufsstandes nach Vordergrund meinen. Womit auch abschließend geklärt ist, warum die Entstuckung letztlich unmöglich erfolgreich sein konnte. Wie will man selbst die eigenen Obsessionen bereinigen? Nachfrage: Kann man wirklich jedem Architekten eine Obsession mit dem Vordergrund nachsagen? Es muss doch Architekten geben, die Zeichenhaftigkeit so moderat einsetzen, dass damit noch keine selbstzerstörerische Wirkung auf die Architektur ausgelöst wird. Nein, ein moderates Überzeichnen gibt es nicht. Das ist die unweigerliche Falle des Zeichenbegriffs und Žižek weist indirekt darauf hin, wenn er das Gemurmel des Realen als jenen Zustand definiert, „in dem es noch keinerlei 392

Unterscheidung von Figur und Hintergrund gibt.“9 Der Begriff Zeichen beschreibt aber exakt das Gegenteil, Zeichen bedeutet, bereits zwischen einer Figur im Vordergrund und einem Rest im Hintergrund unterschieden zu haben. Wer zeichnet, erzeugt zwangsläufig Vordergrund und Hintergrund zugleich. Es faltet sich automatisch ein hierarchischer Raum auf. Damit sind Zeichen und Überzeichen praktisch synonym, Zeichner und Überzeichner ebenso. Es ist also keine Übertreibung, wenn Bernhard Waldenfels feststellt, „dass jede Wahrnehmung eine Diskriminierungsleistung vollbringt.“10 Es muss absichtlich eine Unterscheidung eingeführt werden, um überhaupt etwas diskriminieren zu können, und diese Diskriminierung steht am Anfang. Wer vom Zeichen redet, der hebt etwas hervor und diskriminiert den Rest. Das alles zwingt noch nicht notwendigerweise zur Obsession, es zeigt aber, dass die Logik des Zeichens auf Steigerung und Brisanz ausgelegt ist und wesentlich leichter ins Obsessive führt als ins Moderate. Trotzdem ist noch eine Frage offen. Ist das Eingeständnis, dass die Zeichendebatte in der Architektur bislang lediglich die Obsession der Architekten nach Vordergrund abgebildet hat, bereits eine solide Basis für eine neue Theorie des Zeichens in der Architektur? Peinliche Geständnisse wirken mindestens befreiend, man kann endlich diffuse Antriebe klarer identifizieren, Scheindebatten aufgeben und insgesamt entspannter bilanzieren. Der entscheidende Vorteil ist aber die Freilegung einer soliden Energiequelle, die weit über den Kreis der professionellen Architektur hinaus wirksam ist. Die Obsession nach Vordergrund kann letztlich nicht nur eine Eigenart der Architekten sein, sondern muss als große anthropologische Tendenz unterstellt werden. Angesichts dieser Unterstellung ist klar, was zu tun ist. Der Zeichentheorie muss insgesamt ein breiterer Entfaltungsraum gegeben werden, über die professionellen Grenzen der Architekturdisziplin und die Begriffsgrenzen des klassisch Architektonischen hinaus. Die Entstuckung in Berlin und der bunte Überschwang in Las Vegas versuchen ihre 9 Slavoj Žižek. Parallaxe. Suhrkamp Verlag. 2006. Seite 247 10 „Etwas hebt sich als Figur von einem Hintergrund ab. Diese Grundvoraussetzung der Gestalttheorie ist weniger schlicht, als sie aussieht. Sie besagt immerhin, dass jede Wahrnehmung eine Diskriminierungsleistung vollbringt, dass also Differenzen am Anfang stehen und keine schlichten Elemente.“ Bernhard Waldenfels. Verfremdung der Moderne. Phänomenologische Grenzgänge. Wallstein Verlag. 2001. Seite 70

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Aussagen zum Zeichen zu akademisch abzuhandeln. Eine erstickende theoretische Hermetik, die sich allzu schnell auf die Frage verengt, wie Architektur auszusehen hat. Eine relevante Zeichentheorie muss sich aber von der Frage nach dem richtigen Look für Architektur emanzipieren und die gesamte Durchdringung der gebauten Lebenswelt mit Zeichenambition abfragen. Das bedeutet konkret, das Zeichen darf nicht mehr als Teilaspekt der Architektur gesehen werden, sondern als ein alles verschlingendes architektonisches Großprojekt. Erst in dieser großen Anlage wird es dem Anspruch der Moderne gerecht. Denn Moderne bedeutet, jedes Werkzeug zum Einrichten eines Menschen in der Welt zu einem Werkzeug zur Bearbeitung der Welt im Ganzen zu vergrößern. Landwirtschaft, Energiewirtschaft, Transportwesen, Tourismus etc. haben ähnliche Dimensionssprünge vom Persönlichen oder Szenischen ins Große und Globale absolviert. Das Zeichen ist ein vergleichbares Kaliber und muss den Dimensionssprung ins Große, letztlich Globale ebenfalls absolvieren. Los Angeles eignet sich als Hintergrund für diesen Dimensionssprung des Zeichens in zweifacher Weise. Erstens ist Los Angeles bislang nicht bekannt dafür, die Zeichendebatte in der Architektur besonders akademisch verengt oder überhöht zu haben – ganz im Gegenteil. Die Zeichendebatte im gebauten Umfeld öffnet sich hier in maximaler Breite, weil sie vor allem über die Street-Art angetrieben wird. Integrativer, niederschwelliger und populistischer kann man die Zeichendebatte nicht anbieten. Das zweite Talent zur Ausweitung der Zeichendebatte übersteigt schließlich sogar Los Angeles selbst. Wer von hier aus nach den größten Architekturzeichen fahndet, der landet in der Wüstenregion im Hinterland. Eine Gegend, die der Ausweitung des Denkens und Handelns ins Große keine kleinlichen Bedenken entgegensetzt. Von dort aus muss die verengte Zeichendebatte in der Architektur neu gestartet werden, um die Theorie des Zeichens insgesamt von einem neuen Anfang auf einen neuen Horizont hin auszurichten. Davon handelt die sechste Ambition.

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Schweres Zeichen Reyner Banham zeichnet. Auf der Rückseite von Scenes in America Deserta sieht man den Architekturtheoretiker mit einem mickrigen Klapprad durch die Mojave-Wüste fahren.11 Keine routinierte Fahrt, eher eine erste Fahrt. Obwohl nur in einem Bild festgehalten, kann man die zaghafte Bewegung auf rohem Grund sehen, ernst, konzentriert und mit deutlich erhobenem Blick. Derart aufblickend fahren viele durch die Wüste. Nicht mit dem Rad wie Banham, aber das Auto erlaubt ähnlich andächtige Ausfahrten. Wem Los Angeles zu eng wird, der sucht im Hinterland, in der Mojave-Wüste, den Horizont ab, meist ohne konkretes Ziel, meist ohne konkretes Ergebnis. Die Bilanz derartiger Fahrten ist dennoch solide, auch fürs architektonische Grundverständnis: Nichts als Oberflächen, egal ob man geht, fährt oder die Steilhänge hinaufklettert, man klebt immer an irgendeiner Oberfläche. Doch diese Oberfläche ist für ein Oberflächenwesen, das so gern ein Raumwesen wäre, ein provokantes Schicksal. Hier reiben zwei gigantische Raumvolumen aneinander: Luftraum und Materialraum. Man weiß um die Existenz und die Beschaffenheit beider, ist aber fast dümmlich an die Schnittstelle geworfen. Schlampig geworfen noch dazu, denn der Kopf steckt ja in der Luft und die Füße stecken im Dreck. Lächerlich und unbefriedigend obendrein, denn ein bisschen Abheben und ein bisschen Einsinken sind noch kein volles Raumerlebnis. So spitzfindig können Kategoriegrenzen sein, sogar am Abend der Postmoderne. Schlechte Stimmung also, und diese schlechte Stimmung hat Architekturgeschichte geschrieben, denn sie hat einen toten Winkel aufgespannt. Während man geht, lebt, da ist, hinterlässt man Abdrücke im Boden. Das weiß jeder und doch will es keiner wissen, denn wer blickt schon ständig nach unten oder gar zurück? Auch Banham zeichnet mit seinem Rad eine Spur in den Wüstenboden, aber das scheint ihn nicht zu interessieren. Wer Ambition hat, blickt voraus, blickt hinauf, folgt exaltierten Stimmungen und ist absichtsvoll blind für das Untenliegende.12 11 Tim Street-Porter, Reyner Banham, „Silurian Lake“. In: Scenes in America Deserta. MIT Press. 1989 12 „Nun begann Törleß seine Erinnerungen zu durchblättern. Die Sätze, in denen er hilflos das Geschehene – dieses vielfältige Staunen und Betroffensein vom Leben – konstatiert hatte, wurden wieder lebendig, schienen sich zu regen und gewannen Zusammenhang. Wie ein heller Weg lagen sie vor ihm, in den sich die Spuren seiner tastenden Schritte geprägt hatten.“ Robert Musil. Die Verwirrungen des Zöglings Törleß. Rowohlt Verlag. 1978. Seite 131, 132

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Bei Banham wird dieses Desinteresse am Boden noch verstärkt durch das fragile Fahrrad, das ihn fast schwebend über den Wüstenboden hebt. Aber er ist in falscher Schwebe, denn ohne das Rad, das die Drecksarbeit macht und den Boden furcht, müsste er selbst Fußabdrücke in den Boden setzen. Eine maximal banale Szene wird hier beschrieben, und trotzdem weist Banham damit auf die natürliche erste Erscheinung des Zeichens in der Architektur hin. Mit diesem Hinweis auf die Abdrücke im Boden ist gleichzeitig der Anfang der Zeichentheorie gesetzt.13 Man kann diesen Anfang auch als Kritik lesen, weil damit eine langanhaltende Blindheit dem Naheliegenden gegenüber festgestellt wird. Das Zeichen war immer da, man hatte es nur nicht sehen wollen. Man muss das Zeichen in der Architektur also nicht neu erfinden, auch nicht suchen, sondern man steht förmlich darauf. Die erste Einschreibung ist der eigene Fußabdruck, das erste Zeichenwerkzeug ist der eigene Fuß, und der aufstampfende Mensch ist der erste Zeichner. Wer jetzt meint, dass damit eine banale Nebensächlichkeit mutwillig aufgewertet wird, muss sich nur die Aufzeichnungen der ersten Mondlandung ansehen und anhören. Neil Armstrongs erster Fußabdruck bezeugt wie kein anderer Moment die stolze Ankunft auf dem Himmelskörper.14 Banham macht im Hinterland von Los Angeles im Prinzip das Gleiche. Ein Mensch auf einem Himmelskörper setzt eine Spur. Hinzukommt, dass mit dem Fußabdruck gleichzeitig der erste Plan vorliegt, denn Plan (Ebene) und Planta (Fußsohle) verweisen schon durch die Wortherkunft aufeinander. Das hat man in der Architektur bereits vergessen, obwohl es für das Berufsverständnis grundlegend ist. Genau jene Gravitationsschwere, die den Menschen daran hindert, ein Raumwesen zu sein, schenkt ihm ohne Mühe den ersten Plan. Dieser Primat des Physischen gibt schon dem ersten Zeichen ein kompromissloses Format, das es nicht mehr relativieren kann. Und zwangsläufig muss dieses physikalische Verständnis vom Zeichen auch jenseits des Fußabdrucks gelten. Paul Virilio wollte mit seiner Philosophie zurück zur Physik.15 Die Zeichentheorie kann gar nicht anders. 13 „I can think of no better material than earth to bear the imprint of daily life over the years“. Takeshi Nakagawa. „The Japanese House“. In: Space, Memory, and Language. i-House Press. 2006. Seite 3 14 „That’s one small step for a man, one giant leap for mankind.” Neil Armstrong. 21.07.1969 15 „Die Sünde der Philosophie ist nicht so sehr, einen Ursprung zu haben, sondern mit der Physik gebrochen zu haben. Ich persönlich verbinde sie wieder mit der Physik. Ich zähle mich viel eher zur Physik als zur Philosophie … oder ich stehe auf Seiten der großen physikalisch-philosophischen Wiederentdeckungen.“ Paul Virilio. In: Henning Schmidgen. Hrsg. Ästhetik und Maschinismus. Texte von und zu Félix Guattari. Merve Verlag. 1995. Seite 30

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Jede Einschreibung ist in erster Konsequenz eine Beschädigung und konkurriert mit der inhaltlichen Bedeutung. Die akademische Zeichentheorie übersieht also generell, was jeder weiß, der zeichnet. Jedes Zeichen verletzt den Zeichengrund. Jedes Zeichen ist noch vor der Vermittlung bedeutungshaltiger Codes zuallererst eine ganz einfache manuelle Kerbung, eine Materialbearbeitung. Der Titel „Gemalt, gekerbt, geritzt“, unter dem Christian Kaufmann Ethno-Kunst bespricht, gilt universal.16 „Daher heißt ‚schreiben‘ (scribere, graphein) ursprünglich ‚ritzen, graben‘, und ‚lesen‘ (legere, legein) heißt ursprünglich ‚klauben‘.“17 Die neuzeitlichen digitalen Zeichen machen dabei keine Ausnahme. Ohne materielle Umwälzung und Zerstörung, mögen sie noch so geringfügig sein, ist das Zeichen nicht denkbar. Grafikkarten, Bildschirme, Beamer werden genauso kaputtgezeichnet wie die klassischen Bild- und Zeichenträger. Daraus folgt, dass von nun an jedes Zeichen als Beschwerde vorgetragen wird, und das im doppelten Wortsinn. Das erste Zeichen ist ein schweres Zeichen, etwas, das sich eingräbt, während man es setzt. Gleichzeitig haftet dem ersten Zeichen in der Architektur immer etwas Lästiges, Aufdringliches, Anklagendes an. Es ist also tautologisch, wenn man im Zuge einer Beschwerde aufstampft, gegen Türen und Einrichtungen tritt oder seinem Gegenüber eine Ohrfeige verpasst. Beschweren ist immer Anklage und physische Beeinträchtigung zugleich. Zeichnen und Zeichner werden unweigerlich zu einem pubertären Vandalismus gezwungen. Egal wie seriös man die Zeichenarbeit angeht, man wird dabei immer etwas kaputtmachen und immer jemandes Komfortzone massiv beeinträchtigen. Diesen unweigerlichen pubertären Vandalismus des Zeichens hat die Zeichentheorie bislang nicht ausreichend reflektiert und die Architekturtheorie überhaupt ignoriert. Wohl aus Selbstschutz, denn sonst müsste man jede Gebrauchsspur persönlich nehmen. Die Architektur wäre dann unter unerträglicher Daueranklage, denn die Gebrauchsspuren arbeiten unablässig gegen den Körper der Architektur. Nicht nur der Boden wird getreten, die zerstörerische Beschwerde kriecht genauso die Wände hoch und befällt alle Bauteile. Die Tritte, Schläge, Kollisionen lösen die Beläge, die Wände bröseln, die Ecken und Kanten werden abgeschlagen, 16 Christian Kaufmann. „Gemalt, gekerbt, geritzt. Ornamente als Bilder in der Kunst Melanesiens“. In: Richard Hoppe-Sailer, Claus Volkenandt, Gundolf Winter. Hrsg. Logik der Bilder. Dietrich Reimer Verlag. 2005. Seite 135 17 Vilém Flusser. Medienkultur. Fischer Verlag. 1997. Seite 44

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die Lasteintragung öffnet Fugen und Risse, das Wasser dringt ein, malt Schlieren an die Oberflächen und korrodiert die Materialen. Schicksal und Natur sind eben launisch, auch da bestätigt sich der pubertäre Vandalismus unweigerlich. Lange wirkt das dennoch harmlos, womöglich sogar romantisch, wenn sich die melancholische Gebrauchsskizze in die Architektur einarbeitet. Aber letztlich zermürbt es die Architektur, rückt sie näher und näher an ihr physikalisches Ende. Wie hieß es in der Maschinentheorie? Die spezifische Grenze der Maschine ist nicht die Störung, sondern der Verschleiß.18 In der Architektur ist das nicht anders, zumindest was den Maschinenkörper der Architektur betrifft. Begriffe wie abgewohnt oder gezeichnet benennen diese Doppelerscheinung aus Melancholie und Zerstörung. Für die akademische Idee vom Zeichen in der Architektur ist das in Summe ein Totalschaden. Denn die Unbedingtheit, mit der das Zeichen die Zerstörung der Architektur betreibt, macht alles zweitrangig, was sonst den Kern der Zeichendebatte ausmacht. Gemeint ist der Inhalt, die Bedeutung des Zeichens. Wer mit ansehen muss, wie die schweren Zeichen die Substanz der Architektur abtragen, hat keinen Blick für Bedeutungen. Die Bestandssicherung vermisst nur die zerstörerische Intensität der Kratzer, Risse, Löcher, Fehlstellen in der Architektur, egal woher sie kommen und wohin sie deuten. Notwendige Gebrauchsspuren, mutwillige Zerstörungsspuren, falsche Nutzung, Zufall, Protest, Kunst – alles die gleiche wildwuchernde Zerstörungskraft. Die erste Konsequenz dieses Primats des Physischen ist eine unfreundliche Umwertung: Sobald ein schweres Zeichen gesetzt wird, gibt es immer irgendjemanden, der dieses Zeichen als unwiderrufliche Beschädigung seiner selbst tragen muss. Jonathan Meese erklärt Malerei axiomatisch über das Verhältnis von Druck auf Träger: „Die ‚Malerei‘ fällt Meese so leicht, dass sie einfach nur ein radikalster Ausgleich von Druckverhältnissen ist. ‚Farbe auf Untergrund‘ ist Malerei, d. h. ‚Farbe‘ drückt sich auf einen ‚Träger‘ und fertig.“19 Das „fertig“ am Ende des Zitats meint: Träger, nimm die Last an. 18 „die technischen Maschinen funktionieren offensichtlich nur unter der Bedingung ihres störungsfreien Verlaufes; ihre spezifische Grenze ist der Verschleiß, nicht die Störung […].“ Gilles Deleuze, Félix Guattari. Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie I. Suhrkamp Verlag. 1974. Seite 41 19 Jonathan Meese. In: Stefan Zavernik, Jonathan Meese. „Karriere als Ideologie ist Scheiße!“ https://www.achtzig.com/2016/11/jonathan-meese-ueber-selbstdarstellung-diktatur-und-instinkt/. 06.01.2016

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Es gibt kein Entkommen. Gewalt in einem Theaterstück zwischen zwei Schauspielern ist immer auch ganz reale Gewalt zwischen zwei Menschen – bestätigt René Pollesch.20 Santiago Sierra zeigt das ohne Umschweife, wenn er sechs arbeitslosen Männern je 30 US-Dollar zahlt, um ihnen dafür eine Linie auf den Rücken tätowieren zu lassen.21 Le Corbusier hat es indirekt versucht. Nackt und ungefragt hat er ein Mural auf Eileen Grays Villa in Roquebrune-Cap-Martin gemalt, und dann das Wandbild auch noch ohne Nennung der Hausbesitzerin publizieren lassen. Unverschämter kann man seinen Anspruch nicht manifestieren. I Own You – würde man das heute kurzfassen. Ein Slogan, der oft genug auf gehackten Websites zu lesen war, und in ungeschönter Deutlichkeit die Überlegenheit des Zeichens über das Medium ausdrückt. Ein Zeichen zu setzen, ist also immer eine Überheblichkeit dem Zeichenträger gegenüber. Jeder Strich, jeder Marker, selbst jedes belanglose Gekritzel stellt fordernd die Hierarchiefrage. Wer zeichnet und wer ist der Gezeichnete? Wer darf einschreiben, wer darf wie groß und wie tief ein Zeichen einprägen? Und welche Oberfläche, welche Person, welches Medium hat diese Einschreibung fortan zu erdulden? Marshall McLuhan hatte noch das Gegenteil behauptet. Seine Aussage „The Medium is the Message“ bescheinigt dem Medium eine kategorische Überlegenheit dem Zeicheninhalt, dem Zeichen und letztlich dem Zeichner gegenüber. Dem hat bereits Pipilotti Rist nörgelnd widersprochen: „The Medium is not the Message“.22 Das klingt empört und Rist hat recht. McLuhan ignoriert gänzlich die Psychologie des Zeichnens. Hätte er recht, würde es die gesamte Street-Art-Szene in Los Angeles nicht geben. Warum sollte irgendjemand zeichnen, wenn man dabei nur die eigene Unterlegenheit, Unfreiheit dem Medium gegenüber erleben würde, und dessen Gängelung zu ertragen hätte? Das Gegenteil ist der Fall. Man setzt Zeichen ins Material, die nicht aus dem Material kommen, sondern dem Material aufgebürdet werden. Man zeichnet 20 „Ein Mann schlägt seine Frau. Also muss ich einen Schauspieler dazu bringen, eine Schauspielerin zu würgen, zu ohrfeigen und auszuziehen, bis das Publikum denkt: ‚Ah, das ist wirklich gut!‘ Aber sie übersehen, was wirklich passiert: dass tatsächlich auf Anweisung eines Regisseurs Gewalt ausgeübt wird, die was mit den Leuten macht.“ René Pollesch. In: Frank-M. Raddatz. Brecht frisst Brecht. Neues Episches Theater im 21. Jahrhundert. Henschel Verlag. 2007. Seite 207 21 „Six unemployed young men from Old Havana were hired for $30 in exchange for being tattooed.“ Santiago Sierra. 250 cm Line Tattooed on 6 Paid People. Espacio Aglutinador. Havana, Cuba. Dezember 1999. http://www.santiago-sierra.com. 22.04.2019 22 Pipilotti Rist. In: Du. Die Zeitschrift der Kultur 57. 1997. Seite 17

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aus Überheblichkeit. Alles beginnt mit einem Ego, das sich so effektiv und deutlich wie möglich in Szene setzen will – wie Daniel „Chaka“ Ramos wissen lässt: „I wasn’t doing anything artistic. It was just getting my name up there […] I wanted everybody on the edge of their seat, wondering, ‚Who is this guy?‘ It leaves an anticipation in the air of what’s going to get hit next. I didn’t talk about it. Just me, a spray can and a wall on the streets of L.A. Just a feeling of being able to get the public looking, to leave them in wonderment.“23 Mit diesem ungeschönten Eingeständnis der Überheblichkeit wird die Idee der Exaltation wieder relevant. Die Street-Art in Los Angeles ist Exaltation, sehr direkt und verlässlich. Zugespitzt formuliert, ist Zeichnen, Sprayen, Ritzen etc. die Revanche des Oberflächenwesens am Material. Denn das drohende Material wird in seiner materiellen Präsenz verdrängt und zum tragenden Hintergrund für die eigene Selbstüberhöhung degradiert. Der Begriff Medium impliziert bereits die Unterwerfung und Domestizierung. Damit kann man die Liste der verfügbaren Exaltationen weiterschreiben. Die erste Exaltation war das Herstellen von Distanz in der Vertikalen, das Halten über dem Plan. Die zweite Exaltation war die Aufnahme von Bewegung in der Horizontalen, das billige Fliegen für jedermann. Die dritte Exaltation, die Einschreibung vor Ort, kommt völlig ohne Bewegung aus und doch wird damit eine fantastische Sphäre eröffnet. Der weiche Boden zwang noch zur Relation Mensch-Material, die Zeichnung aber etabliert die Relation Mensch-Aufzeichnung. Das führt direkt in die Selbstbezüglichkeit und die Hypertrophien der Einbildung und Anmaßung. In der Relation Mensch-Material tritt das Material immer als Korrektiv auf, als bedrohliche Tatsache, die man hinzunehmen hat, und an der allzu wilde Ausflüchte scheitern. Aber die Relation Mensch-Aufzeichnung ist auf Eskalation programmiert, nichts hält einen mehr zurück, keine materielle Schwere, keine physikalische Barriere. Vor allem die Entdeckung, dass man nicht nur zwangsläufige Abdrücke ins Material setzten kann, sondern auch mutwillige, wirkt beschleunigend. Man kann jetzt ausschweifen. Wahres, Falsches, Spekulatives, sogar Nichtiges ist gleichermaßen einschreibbar. Das Material leistet keinen selektiven Widerstand. Damit sind nicht 23 Daniel „Chaka“ Ramos. Zitiert nach: Mike Boehm. „Chaka, from graffiti to gallery”. https:// www.latimes.com/archives/la-xpm-2009-apr-25-et-chaka25-story.html. 24.04.2009

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nur protokollarische Abdrücke des Lebens möglich, sondern provokante Frei-Zeichen. Das Frei-Zeichen ist also nicht mehr passive Aufzeichnung des Lebens, sondern es emanzipiert sich und verfolgt eigenständige darstellerische Absichten. Es kann ein Leben bezeugen, das gar nicht stattfindet. Es kann behaupten, was man nicht ist und nicht tut und nicht hat. Die Doppelbedeutung des Zeichens als Beschwerde und physische Beeinträchtigung dreht damit in spektakulär projektive Richtung. Das Wünschen forciert ab jetzt den Plan und nicht mehr das tatsächliche Können oder das tatsächliche Sein. Der Plan ist dann nicht nur Anklage gegen das Material, sondern er ist eine umfassende Anklage gegen die Realität. Diese aufwallenden Eruptionen der Zeichenfantasie folgen unweigerlich auf die Entdeckung von widerstandsfreien Räumen. Die Gier holt Schwung und testet die Limits aus – doch da melden sich keine Limits. Folglich wird der Schwung immer ausladender und gieriger. Ohne diesen eskalierenden Übermut des Frei-Zeichens wäre nicht nur die Street-Art, sondern auch die Architekturgeschichte ein karges Ereignis. Doch das Frei-Zeichen öffnet gleichermaßen einen gewaltigen Horizont des Missbrauchs. Jetzt wird auch präziser erkennbar, wie das Zeichen zur Lüge wird. Die Lüge betrifft weniger den Inhalt eines Zeichens, sondern den Grund seines Erscheinens. Lügenhaft ist das Frei-Zeichen, weil es nur noch vom Zeichenwunsch geschrieben wird und nicht mehr passiv Tatsachen protokolliert. Das klingt wie eine Anleitung zum zeitgenössischen Pop-ArtÜbermut, aber Heiner Mühlmann lässt in einer tiefsinnigen Analyse wissen, dass bereits die vormoderne Architekturerscheinung vom Frei-Zeichen bestimmt ist: „Die Fassaden dieser Gebäude waren ausgeschmückt mit Monumentalinschriften, Reliefs, Statuen und Statuengruppen in Giebeln. Sie stellten eindeutig und für alle sichtbar den Bezug zu den Gründungsereignissen her.“24 Die Formulierung „Bezug zu den Gründungsereignissen“ lässt deutlich durchblicken, dass auch hier nicht direkt protokolliert, sondern nachträglich frei nachgezeichnet worden ist. Das bedeutet, die erste Übertragung von den Gründungsereignissen in die Architekturfassaden war bereits gefälscht. Jedes der Gründungsereignisse hatte mit Sicherheit genügend direkte Spuren in die Welt, die Stadt und die Architektur geschrieben. Mühlmann versteht unter Gründungsereignissen keine 24 Heiner Mühlmann. MSC. Die Antriebskraft der Kulturen. Springer Verlag. 2005. Seite 57

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Kleinigkeiten – von den größten Schlachten der Römer bis zum Einsturz der World-Trade-Center-Türme reichen seine Beispiele. Aber die unmittelbaren Spuren der Gründungsereignisse, die zerstörten Städte, zerfurchten Landschaften, Blutspuren, werden bis heute eher beseitigt als konserviert. In die Fassaden zeichnen stattdessen die Architekten, Künstler, Stuckateure ihre fantastische Version der Gründungsereignisse ein. In all diesen konkreten Beobachtungen des Frei-Zeichens ist der immer gleiche vorwurfsvolle Tonfall zu vernehmen, der letztlich jedes Zeichen begleitet. Fatalerweise verliert sogar das protokollarische Zeichen, das direkt von einem Gründungsereignis eingeschrieben wird, schnell an Glaubwürdigkeit. Nur im Moment der Einschreibung ist es unverdächtig, aber sobald das Ereignis vergangen ist, fehlt der unmittelbare Bürge, und der Manipulationsverdacht stellt sich sofort ein. „Sprache ist ihrem Wesen nach Erfindung“, formuliert Roland Barthes.25 Heute würde man sagen, jedes Zeichen ist im Fake-News-Verdacht verfangen. Ein Problem, mit dem die gesamte Geschichtswissenschaft kämpft. Welches überlieferte Zeichen ist wirklich Protokoll, welches ist geschöntes Protokoll, welches ist frei erfunden? Diese endlose Verwirrung erklärt die radikale Idee der Entstuckung der Moderne. Architektur soll sich nicht mehr als Medium für eine manipulative Erinnerungskultur hergeben.26 Und Architektur soll sich prophylaktisch vom Zeichen fernhalten, weil kein Zeichen für seinen Wahrheitsgehalt bürgen kann. Doch so zu tun, als würden keine einschreibenden Ereignisse stattfinden oder keine manipulativen Absichten den Kulturbetrieb durchwühlen, kann ebenfalls nur Lüge sein. Daraus folgt, das Zeichen ist letztlich in jeder Erscheinung, sogar im Verschwinden, suspekt, und es wird klar, dass dem Dilemma nicht handstreichartig zu entkommen ist. Hinzukommt, dass der Zweifel nicht nur am Zeichen haftet, sondern gleichermaßen auf die Seite des Rezipienten überspringt. Selbst wenn ein Zeichen als protokollarisch eingeschätzt wird – wer garantiert, dass es nachträglich richtig gelesen wird? Lesen bedeutet immer, etwas in bereits 25 Roland Barthes. Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie. Suhrkamp Verlag. 1985. Seite 96 26 „Die Gründungsereignisse mit ihren starken emotionalen Stimuli […] werden nicht nur in die biologischen Gedächtnisse von aufeinander folgenden Generationen eingespeichert, sie werden auch in städtische, d. h. topographische Räume ausgelagert und bilden hier physische Erinnerungsorte.“ Heiner Mühlmann. MSC. Die Antriebskraft der Kulturen. Springer Verlag. 2005. Seite 57

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bekannte Begriffe zu übersetzen. Aber wenn das Zeichen das bereits Bekannte übersteigt, dann kann die Lesung nur falsch sein. Wie soll ein mittelalterlicher Zeitgenosse ein Zeichen der Antike richtig lesen, wenn er von der gesamten Antike nichts weiß? Wie soll ein zufälliger Passant entstuckte Gründerzeitbauten richtig einordnen, wenn er von der Idee der Entstuckung noch nichts gehört hat? Wie soll ein zufälliger Passant die formale Ironie von Venturi-Bauten richtig einordnen, wenn er von der Idee der Postmoderne noch nichts gehört hat? Wie sollen Robert Venturi, Denise Scott Brown, Steven Izenour und deren Studenten die Zeichen in Las Vegas richtig lesen, wenn sie die Lichterpracht lediglich aus der Perspektive moderneenttäuschter akademischer Sensationssucher lesen? Die Bilanz ist also insgesamt fatal. Das Zeichen ist als Inhaltsträger und Kommunikationsgegenüber eine hoffnungslos suspekte Kategorie. Dennoch oder gerade deswegen ist das Zeichen das langjährige Liebkind der akademischen Betreuer, aber auch mit Entgegenkommen nicht zu disziplinieren. Selbst wenn man sich sehr bemüht, so grenzt die Wahrscheinlichkeit, das Zeichen misszuverstehen, an Gewissheit. Verstörend verlässlich ist einzig die physische Gewalttätigkeit, die das Zeichen bei jedem Auftritt irgendjemandem antut. Im Werkzeugkasten der Architektur ist das Zeichen also auch weiterhin der pubertäre Vandale, auftrittsstark, aber prinzipiell destruktiv. Das ist prägnant zusammengefasst die traurige verbale Beurteilung des Übeltäters. Noch trauriger ist allerdings, dass kein Ende des Terrors abzusehen ist. Die gebaute Realität wird weiterhin von schweren Zeichen umgegraben und der größte Teil dieser penetranten Zerstörungsarbeit passiert im Auftrag des exaltierten Leichtsinns. Für viele ist das der Inbegriff der Lebensfreude, im wörtlichen Sinn; für viele ist das schwer zu ertragen, auch im wörtlichen Sinn.

Staunende Andacht Zeichnen ist ein exaltierter Aufstand gegen die Realität. Dennoch muss der Zeichner zumindest in einer Hinsicht strategischen Realitätssinn beweisen. Irgendwann ist nämlich die Tragfähigkeit des jeweiligen Mediums ausgereizt. Nicht jedes Medium ist endlos tragfähig. Das rehabilitiert Marshall McLuhans The-Medium-is-the-Message-Formel noch nicht, aber verweist auf eine Dynamik, die dem Zeichnen immanent ist. 403

Sobald ein Medium keine neuen Zeichen mehr tragen kann, suchen oder erfinden die ambitionierten Zeichner einfach ein neues Medium, und das Überzeichnen setzt sich in gesteigerter Dimension fort. Ein Satz, der sinngemäß bereits bekannt ist. Die Kultur der Überbietung gilt auch hier, und ein ausgereiztes Medium aufzugeben und auf ein tragfähigeres umzusteigen, ist nichts anderes als eine Überbietung zweiter Ordnung. Für die Kategorisierung von Medien ergibt sich daraus eine klare Abfolge. Die Zeichner forcieren das jeweils größere und tragfähigere Medium, dort, wo der Zeichenhorizont am weitesten erscheint und die Unterwerfung des Mediums noch großartiger verbucht wird. Wenn man Friedrich Kittlers Hinweis aufgreift, wonach der Inhalt eines Mediums stets ein anderes Medium ist, dann wäre das tragfähigste Medium jenes, das alle anderen Medien in sich aufzunehmen vermag.27 Nein, die Rede ist jetzt nicht von digitalen Medien, sondern von der Land-Art. Die Land-Art hat spät, aber doch den Boden wiederentdeckt als das größte und tragfähigste Medium für Einschreibungen, allerdings nicht den abgezirkelten Boden im Raum, im Atelier, im Museum, sondern den weltumspannenden Boden. Raus aus der Architektur, raus aus der Kunst und dem bisherigen Kunstverständnis und neu beginnen mitten in Slavoj Žižeks Gemurmel des Realen – so lautet verkürzt der Auftrag an die Land-Art. Die Einfachheit, womöglich Banalität der Wiederentdeckung des Bodens als Medium ist umgekehrt proportional zur Großartigkeit der Möglichkeiten, die sich dadurch auftun. Ähnlich diametral überrascht der Zeitpunkt. Ende der 1960er Jahre nehmen Künstler wie Bruce Nauman die Videokamera in die Hand und etablieren damit ein spektakulär neues, technisch avanciertes Medium für künstlerisches Arbeiten. Im Gegensatz dazu zeichnet Walter de Maria sein Mile Long Drawing in die Mojave-Wüste und führt Kunst auf den ältesten Zeichengrund zurück, den es geben kann.28 Plötzlich ist der 27 „McLuhans Formel ‚The medium is the message‘ bzw. wie er selber in den letzten Jahren gespottet hat, ‚The medium ist the massage‘ – diese Formel braucht man nur mit ihrer weniger bekannten Explikation zu verbinden, derzufolge der Inhalt eines Mediums stets ein anderes Medium ist, um der Medienwissenschaft konkrete Arbeitsfelder aufzuschließen. So liegt es, um das nächstbeste Beispiel zu nehmen, im Verhältnis zwischen Spielfilm und Fernsehen auf der Hand, dass der populärste Inhalt von Fernsehsendungen der Spielfilm ist, der Inhalt dieses Spielfilms natürlich ein Roman, der Inhalt dieses Romans natürlich eine Typoskript, der Inhalt dieses Typoskrips usw. usw., bis man irgendwann wieder beim babylonischen Turm der Alltagssprache anlangt.“ Friedrich Kittler. Optische Medien. Berliner Vorlesung 1999. Merve Verlag. 2002. Seite 24 28 Walter de Maria. Mile Long Drawing. 1968

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banale Boden im Blickfeld der Kunst. Die Land-Art ist also paradoxerweise eine neue alte Kunstform. Wie bei jeder Avantgarde gibt es erste, tastende Projekte, aber bald schon zeigt sich, dass man mit der Land-Art eine künstlerische Selbstverständlichkeit wiederentdeckt hat, und entsprechend schnell werden die anfänglichen avantgardistischen Projekte selbstbewusst und übergroß. Michael Heizers Werk zeigt diese sprunghafte Entwicklung exemplarisch. Schon seine ersten Arbeiten im Jahr 1968, die Nine Nevada Depressions, sind ausladende Einschreibungen in den Wüstenboden. Die Nummer 9 aus dieser Serie, Isolated Mass/Circumflex, misst bereits 40 Meter. Die Primitive Dye Paintings aus dem Jahr 1969 strecken sich schon bis zu 90 Meter weit aus. Und im selben Jahr beginnt die Arbeit am berühmt gewordenen Double Negative, das bis heute nur in statistischen Superlativen charakterisiert wird: Über 200.000 Tonnen Steinmaterial werden bewegt, um eine circa 9 Meter breite, 15 Meter tiefe und knapp 500 Meter lange Kratzspur in die Wüstentopografie zu zeichnen. Wobei zeichnen meint, zu sprengen und zu bulldozern. Heizer schont sich auch selbst nicht, sondern betreibt seine Megazeichnungen im Infight mit dem Material: „my personal associations with dirt are very real. I really like it, I really like to lie in the dirt.“29 Dieser totale Einsatz beweist, dass große Zeichner nicht von Materialphobie befallen sein dürfen wie die ersten Modernen. Egal wie hysterisch die Exaltation wird, der Zeichner flüchtet nicht in die Distanz, sondern bleibt schreibend am Material dran, macht sich am Material schmutzig. Das verlangt Selbstbewusstsein, zeigt aber auch unmissverständlich, wie hemmungslos LandArt agieren will, und welch totalen Anspruch sie an das Zeichnen stellt. Doch gerade diese ungebremste Ambition zur Größe treibt die Land-Art umso schneller auf ihr Finale zu. Und wieder trifft es Heizer exemplarisch. Seit 1972 schon arbeitet er an seinem City-Projekt, einer riesigen LandArt-Installation in der Wüste von Nevada. Mit einem Team von Arbeitern baggert er jahrzehntelang den Wüstenboden um, schiebt Hügel, Furchen, Wälle in die Landschaft, betoniert skulpturale Strukturen und vertreibt jeden, der einen Blick auf das unfertige Projekt werfen will. Nur wenigen Auserwählten hat er vorzeitig Einblick gewährt. Erst wenn es fertig ist – keiner weiß wann – will er City der Öffentlichkeit zugängig machen. 29 Michael Heizer. In: Jack Flam. Hrsg. Robert Smithson: The Collected Writings. University of California Press. 1996. Seite 248

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Aber diese autistische Ruhe ist erheblich bedroht. Eine neue Bahnlinie sollte in nächster Nähe zu seinem Land-Art-Projekt gebaut werden und das empfand Heizer als bösen, aufdringlichen Strich durch seine große Zeichnung. Der Streit hat Heizer enorm zugesetzt und er hat angekündigt, sein unfertiges Großprojekt zu sprengen, wenn ihm die Bahnlinie zu nahe kommt. Für den Streit ist wesentlich, dass die Bahnlinie in die Yucca Mountains führen sollte, um dort ein neues Endlager für Atommüll zu erschließen. Diese brisante Destination hebt den Streit auf eine existenzielle Ebene, denn die Yucca Mountains sind nicht nur Lagerplatz für Atommüll, sie sind gleichzeitig Teil der Nevada National Security Site, einem der größten Testgelände für Atomwaffen. Heizer hat sich die kritische Nähe zu dem Testgelände selbst ausgesucht, die Endzeitstimmung sei Teil seiner Kunst.30 Womit Heizer aber bei der Konzeption von City im Jahr 1972 vermutlich nicht gerechnet hat, sind die mittlerweile allgemein zugängigen Satellitenfotos. Jeder kann im Internet die Koordinaten des Projekts eingeben und es von oben betrachten. Jeder kann sich die geplante Bahntrasse vorstellen und ihren Verlauf verfolgen. Und während man das tut, macht man eine irritierende Entdeckung. Erstens ist die Wüste als solche bereits eine großartige Zeichnung – wozu noch Land-Art, fragt man sich. Vielleicht eine zu unbedachte Frage, also zoomt und schiebt man weiter in den Luftbildern herum. Doch die Irritation bleibt. Nicht weit von Heizers City entfernt findet man kreisrunde grüne Felder in die Wüste gelegt, automatisch bewässert und deshalb so präzise gezirkelt, strikt im Jefferson-Raster. Vor dem Hintergrund der beigegrauen Wüste ein enorm prägnantes Emblem in der Landschaft. Grandioser, abstrakter, künstlicher als Heizers Projekt. Ist der Farmer nebenan also der noch grandiosere Land-Art-Künstler? Überbietet er mit ein paar banalen Feldern Heizers Lebenswerk, immerhin die größte Land-Art-Installation der Neuzeit? Die Antwort darf man schuldig bleiben, denn bald zeigen die Luftbilder noch wildere Zeichnungen im Wüstenboden, eine noch größere Überbietung, womöglich die finale. Hunderte Bombenkrater dicht nebeneinander, ein Narbenteppich, wie man ihn auf der Erde sonst nirgendwo 30 „  ‚Part of my art,‘ Heizer explained when he picked Garden Valley, ,is based on an awareness that we live in a nuclear era. We’re probably living at the end of civilization.’“ Michael Heizer. In: Michael Kimmelman. „Art’s Last, Lonely Cowboy“. https://www.nytimes.com/2005/02/06/magazine/ arts-last-lonely-cowboy.html. 06.02.2005

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findet, ein absolut außerirdischer Anblick, dazwischen Straßen und andere Strukturen, vielfach unerklärliche Linien und Abdrücke im Gelände. Yucca Flats nennt sich dieser Landstrich, seit den 1950er Jahren Testgelände für mehr als 700 Atombombenversuche, vermutlich das irrwitzigste Land-Art-Projekt auf der Erde. Wenn man den Fallout der oberirdischen Explosionen als extrovertierten Teil der Aktivitäten bewertet, sind die halben USA von der Bomben-Land-Art gezeichnet. Man versteht nun, warum Heizer ob der atomaren Nachbarschaft von Endzeitstimmung spricht, und man versteht, warum er von dieser Stimmung angezogen ist, mit seiner Kunst sogar partizipieren will. Aber der Vergleich erdrückt ihn. Der Vergleich macht jede seiner Anstrengungen um Größe und Großartigkeit peinlich klein und kleinlich. Spontan erinnert man sich, dass Heizer gedroht hat, sein City-Projekt in die Luft zu sprengen, wenn ihm die Bahnlinie zu nahe kommt. Was für eine lächerliche Drohung, wenn in nächster Nähe über 700 Atombomben gezündet worden sind, darunter der Sedan Nuclear Test, der einen Krater von fast 400 Metern Durchmesser hinterlassen hat. Ironischerweise durchgeführt im Zuge der Operation Plowshare 1962, die den zivilen Einsatz von Atombomben für Bauprojekte testen sollte. Aus heutiger Sicht eine irrwitzige Idee, aber der Witz wurde testweise realisiert, 10 Jahre bevor Heizer sein City-Projekt gestartet hat. Nach dieser kurzen Exkursion in die geografische Nachbarschaft beginnt sich die Konfliktlinie zwischen Heizer und den Eisenbahnbauern zu verschieben. Findet hier wirklich ein Kampf Kunst gegen Industriepolitik statt? Nur vordergründig, denn Heizers wirkliches Problem ist nicht die Zerstörung, sondern die unweigerliche Überbietung seines Lebenswerks. Heizer hat sich mit der brutalsten Zeichnung angelegt, die je in die Erdoberfläche geschrieben worden ist, und jedes Kind kann heute via Satellitenaufnahmen mitansehen, wie diese Zeichnung weiter wächst und alles in den Schatten stellt, was sonst an Zeichnung existiert. Die Rede ist dabei nicht mehr nur von den Bombenkratern in Yucca Flat oder der Bahnlinie, die Heizer bedroht, sondern insgesamt vom Projekt der Moderne. Die Moderne ist die Überzeichnung schlechthin. Auch wenn es pathetisch klingt, die Weltoberfläche, ganz unmittelbar, ist der neue größte Zeichengrund der Planer. In kontinentalem Ausmaß beschreibt die Moderne den Boden, mit Straßen, Häfen, Flugplätzen, Kraftwerken, Leitungstrassen, Stauseen, Flussregulierungen, Sportanlagen, Tagebauminen, Schutthalden, Anbauflächen, 407

Waldrodungen, Trümmerlandschaften etc. Und ständig erfindet die Moderne neue Zeichentechniken, um die Überzeichnung noch eindrucksvoller auftragen zu können. Selbst Renaturierung ist mittlerweile eine moderne Zeichentechnik und wird mit dem gleichen totalplanerischen Furor aufgetragen wie die Verwüstungen. Die Moderne kann alles zeichnen. Wie schwer diese Überzeichnung aufgetragen wird, muss man jeden Tag sorgenvoll beobachten. Jeder Strich gräbt den Boden um und wirft Material auf, und gelegentlich klumpt die gigantische Überzeichnung zu Brocken, die man aus der lokalen Perspektive als Objekte wahrnimmt. Häuser, Hallen, Fabriken, Türme, Brücken glaubt man zu erkennen. Aber die lokale Ansicht verstellt den Blick auf die große Zeichengeste, die aus der totalen Perspektive eindeutig als dahinlaufende Spur, als vorwärtsstrebende Linie, als flutende Fläche zu erkennen ist. Damit ist auch ausgedrückt, dass Architektur plötzlich in einer zweiten, überdimensionalen Rolle engagiert ist. Lokal ist Architektur immer noch ein kristallines Objekt und wird selbst von alltäglichen Gebrauchsspuren überzeichnet. Aber im großen Maßstab erscheint Architektur aggressiv fluid und überzeichnet als eifriger Handlanger der Moderne die Welt. Immer öfter wird diese fluide Zeichenbewegung der Moderne für die menschliche Wahrnehmung übersetzt. Mit Statistiken wird der laufende Landverbrauch durch Bauwirtschaft, Industrie, Landwirtschaft belegt. Filme im Zeitraffer zeigen das Wachstum von Städten, das Austrocknen von Seen, das Abschmelzen von Gletschern. Dann wird der flüssige Charakter der Überzeichnung Moderne auf gespenstische Weise sichtbar, auch in seiner Unausweichlichkeit. Die Überzeichnung Moderne scheint sich auf monströse Weise verselbstständigt zu haben und frisst sich unablässig durch die Naturlandschaft. Nicht mehr wir bauen, sondern es überzeichnet. Doch trotz der maximalen Größe der globalen Architekturzeichnung muss man planungsanthropologisch von einer Infantilisierung sprechen. Denn es gibt keinen globalen Masterplan Moderne, der als abstrakte Vorstufe zur Realisierung irgendwo ersonnen und reflektiert wordenwäre. Es gibt keine ausgearbeiteten Alternativen, vergleichende Kritiksitzungen, partizipative Abstimmungen, Expertengutachten, nicht einmal eine Öffentlichkeitsarbeit. Das findet alles höchstens lokal statt, aber im globalen Maßstab ist die Moderne selbst der Plan, und dieser größenwahnsinnige Plan wird in Realtime direkt in den Boden gekritzelt, von 408

unzähligen Zeichnern, unkoordiniert, unzivilisiert, ungebremst. Man muss sogar von einer umgekehrten Kausalität ausgehen. Gerade weil die Moderne nie zu Ende gedacht worden ist, kann sie weiterhin so schwungvoll in die Welt geschrieben werden. Wäre im Projekt der Moderne der finale Zustand ihrer Verlautbarungen als Feedback-Spiegel eingebaut, würde wohl auch die Überzeichnung der Moderne von Bedenken, Hemmungen und Zaghaftigkeiten gebremst werden. Doch die gibt es nur in der lokalen Perspektive. Aus der totalen Perspektive ist die Moderne immer noch flott und unbekümmert. Erst in diesem Verständnis klingt ein Statement von Peter Lang von Superstudio plausibel, mit dem er den pubertären Größenwahn moderner Planung kurzfasst: „We believe in a future of ‚rediscovered architecture‘, in a future in which architecture will regain its full power, abandoning all ambiguity of design and appearing as the only alternative to nature.“31 Die Welt ist natürlich schon vor der Moderne und vor Superstudio für Einschreibungen in Anspruch genommen worden, aber spätestens ab der Moderne wird daraus die finale Überzeichnung, weil kein adäquater Widerstand des Mediums Welt mehr auszumachen ist. Heizer war also von Anfang an chancenlos. Er vertritt in seinem Konflikt die alte, lokal bemühte, schwer arbeitende und mit der Welt und ihren Umständen ringende Perspektive. Verglichen mit der großen, rücksichtslosen Lässigkeit der Moderne erscheint er dabei nicht nur klein und unbedeutend, sondern auch gestrig und unelegant. Dennoch ist Heizers Streit ein wertvoller Streit, weil er zumindest die architekturgeschichtliche Rolle der Land-Art hervorhebt. Die Land-Art ist ein nachträglich eingefügtes Missing Link in der Geschichte der Architektur, das noch dazu eine fantastische Abkürzung ausleuchtet. Vom Boden, der ersten Architektur, und dem Fußabdruck, dem ersten Plan, vermittelt die Land-Art direkt zur größten Architektur und dem größten Plan, dem Projekt der Moderne. So zügig und total ist Architekturgeschichte vor der Land-Art nie wahrgenommen worden. Mit dem totalen Blick auf die weltumzeichnende Moderne wird allerdings ein Aspekt der Architekturgeschichte reanimiert, den die Moderne eigentlich stillgelegt wissen wollte. Die Rede ist von der metaphysischen Bedeutungsaufladung des Bauens. An dieser Grabesruhe hatte 31 Superstudio. In: Peter Lang, William Menking. Superstudio. Life Without Objects. Skira Editore. 2003. Seite 122

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bereits die Postmoderne gerüttelt und an die lange, kultische Tradition des Bauens erinnert. Sonderlich gefährlich war diese Erinnerung allerdings nicht, denn meist ist daraus nur ein Spiel mit symbolischen Verweisen geworden. Noch dazu war die Postmoderne in ihren symbolischen Spielen so offensichtlich, dass man dazu leicht Distanz halten konnte, wenn man nicht mitmachen wollte. Bei der Land-Art ist die Religion allerdings nicht so spielerisch und oberflächlich beteiligt, sondern bildet oft die zentrale Motivation für das gesamte Projekt. Heizer ist einmal nach der Rolle der Kunst gefragt worden, und hat eine überraschend eindeutige Antwort gegeben: „I guess I’d like to see art become more of a religion. […] In the sense that it wouldn’t have a utilitarian function anymore“.32 Wer will also leugnen, dass Referenzprojekte der Land-Art wie The Lightning Field von Walter de Maria, Star Axis von Charles Ross oder Sun Tunnels von Nancy Holt religiöse, mindestens protoreligiöse Aufbauten sind. Donald Judd hat Marfa zu einer regelrechten Tempelstadt ausgebaut mit heiligen Hallen für die Kunst und einer freiwilligen Gläubigengemeinde darum versammelt. James Turrells Roden Crater wiederum wird immer mehr zu seinem persönlichen Tal der Könige mit Gängen, Kammern, spiritistisch, labyrinthisch, verschwiegen, aber mit gigantischem Eifer. Zum Problem wird diese religiöse Aufladung der Land-Art aber nicht durch das offene Eingeständnis, sondern weil sie so kritiklos hingenommen wird. Mehr noch, es gehört bis heute zum guten Ton, beim Kontakt mit Land-Art ergriffen und andächtig zu sein. Stellt man die Land-Art nun als Missing Link in die Architekturgeschichte ein, wird diese kritiklose Religiosität ebenfalls kritiklos importiert. Bei der Postmoderne kam die Religion noch durch die zynische, skurrile oder spielerisch symbolische Tür herein und blieb damit Minderheitenthema. Mit der Land-Art kommt die Religion aber plötzlich durch die – salopp formuliert – coole Tür herein und ist damit sehr viel schwerer einzuhegen. Warum muss man den Einfluss der Religion in der Architektur überhaupt einhegen? Weil so importiert in die Architektur, die schlimmste Kritik an der Moderne wahr wird. Stimmt es also doch, dass die Moderne nur eine verkappte Religion ist, ein Hirngespinst ohne Substanz, aber mit vielen Doktrinen und ebenso vielen unterwürfigen Gläubigen? Die vergleichsweise verhaltene Kritik am Größenwahn der Moderne wäre jedenfalls mehr als nur 32 Michael Heizer. In: Jack Flam. Hrsg. Robert Smithson: The Collected Writings. University of California Press. 1996. Seite 247

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ein Indiz dafür. Gläubige kritisieren nicht, denn das wäre ein unerträglicher Widerspruch. Damit wird auf einmal das reziproke Paradoxon des schweren Zeichens überdeutlich: Je größer das Zeichen, desto kleiner die Kritik. Über den Kratzer im Auto oder am Knie kann man sich überproportional aufregen, aber die Überzeichnung Moderne darf sich immer noch austoben, wie sie will. Denn die Moderne hat einfach alle angestiftet, von der geerdeten Perspektive sukzessive auf die totale Perspektive des unbedingten Moderneglaubens umzustellen. Wie erfolgreich diese Anstiftung zum Glauben ist, kann jeder an sich selbst szenisch testen, denn auch die eigene Stimmung passt leider ebenfalls zu gut. Was passiert denn, wenn man in die schöne Lage kommt, Stadt oder Kulturlandschaft von oben zu betrachten? Hat man jemals beim Landeanflug auf egal welche Stadt laut geschimpft wegen der schlechten Aussicht, den vielen hässlichen Häusern, den lauten Straßen, den stinkenden Fabriken, dem enormen Landverbrauch, der druckvollen Zerstörung von Lebenswelt? Diese Lamenti tauscht man doch erst aus, wenn man gelandet ist. Wer noch fliegt und die Gesamtheit der menschproduzierten Architektur als stetig wachsende Zeichnung auf der Landschaft liegen sieht, verfällt stattdessen in einen gänzlich unkritischen Zustand. Aus der totalen Perspektive ist das Wachstum der modernen Überzeichnung eine berauschend schöne Kaligrafie auf der Welt, die man beeindruckt beobachtet. Aus der totalen Perspektive gibt es eben keine Moral oder Empathie – nur staunende Andacht.

Harter Hintergrund „When I was a teenager, Chaka’s name was on everything. His style was really plain and easy to read – your grandma could read it. This guy’s name was on everything from San Francisco to Los Angeles: shutters, utility boxes, walls, poles, buses. Basically wherever your eye would rest to focus the name was there. His crew mates knew who he was but people at large didn’t know. He was this mystery. Especially for a 14-year-old kid, you’re not going to be in the ‚in crowd‘, so it was like magic to you. How does this guy do it? Does he sleep? You’re just starting to wonder all these things.“33 „And then the shadow was revealed in 1991 when he was arrested. He was 33 Cristian „Smear“ Gheorghiu. In: Juan Devis. „Smear Interview. My SoCal Art History”. https:// www.kcet.org/shows/artbound/cristian-smear-gheorghiu-my-socal-art-history-0. 04.10.2012

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this kid. His arrest really left an impression on me. It was really serious because at that point graffiti had never been in your face. You saw it on the streets, in the corners, on the walls, but as far as for the public at large, the media had never really acknowledged it the way they did until Danny Ramos, a.k.a. Chaka, got arrested. I was about 14 years old, standing around watching news with my parents. Suddenly they show the video of how the police tricked him and lured him into admitting who he was. They asked, ‚Hey, what are you doing over there?‘ with their hidden cameras. He went up there and pointed at his graffiti and then it was just everywhere. Itwas like wildfire. Everyone was talking about it and wanted to do graffiti. It was big especially for an urban kid seeing this. It made you feel like you could have a voice too. You could make a big impact. Chaka is an L.A. graffiti legend even to this day.“34 In diesen Erinnerungen von Cristian Gheorghiu alias Smear an sein großes Sprayer-Vorbild Chaka wird die klischeehafte Romantik der Graffiti-Szene in Los Angeles eindrucksvoll ausgemalt. Doch das ist nur die halbe Wahrheit. Denn nicht minder eindrucksvoll sind Berichte über die Strafverfolgung der Sprayer: „In 2006, Sight was handed the harshest sentence any artist or law enforcement official can recall for graffiti vandalism: Eight years and four months in state prison. Released after four years for good behavior, he’s perhaps the most dramatic casualty to date in L.A.’s war on street art – a multipronged effort that views young graffiti artists as public enemy No. 1 and has destroyed even those graffiti-style murals painted with full consent of building owners. As galleries and museums increasingly recognize the movement’s artistic value, government officials only become more determined to wipe it from the streets.“35 Mehr als 8 Jahre Strafe für Graffiti? Ja, mittlerweile gibt es eine ganze Generation von Street-Art-Künstlern in Los Angeles, deren Biografien längere Gefängnisaufenthalte aufweisen, unter ihnen Gheorghiu, Cyrus Yazdani alias Buket und GKAE. Manche davon sind mittlerweile als Künstler anerkannt und in der Galerieszene etabliert. Üblicherweise ist für eine derartige Karriere eine rebellische Vergangenheit kein Nachteil. Doch die Strafen sind so hoch, dass man sie selbst aus der Rückschau eines mittlerweile erfolgreichen Künstlers nicht einfach cool weglächeln kann. Los Angeles ist aber nicht nur hinter den Übermalern her. Jeder Hausbesitzer muss sich am Kampf gegen Graffiti beteiligen. Die Sec. 91.6306 des Los Angeles Municipal Code stellt diesbezüglich eine 34 Cristian „Smear“ Gheorghiu. Ebd. 35 Simone Wilson. „Los Angeles’ War on Street Artists“. http://digitalissue.laweekly.com/ publication/?i=124808&article_id=1164322&view=articleBrowser&ver=html5. 30.08.2012

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klare Forderung: „In all buildings, the first nine feet, measured from grade, of exterior walls and doors shall be built and maintained with a graffiti-resistant finish […] or a renewable coating of an approved anti-graffiti material, or a combination of both. Exception: A building where the building owner files a ‚Covenant and Agreement Regarding Maintenance of Building (Graffiti Removal)‘ with the Department, agreeing to remove the graffiti within seven days of the graffiti being applied or within 72 hours of being notified by the Department to remove the graffiti.“36 Diese Strenge und Dringlichkeit beim Imagemanagement hätte man Los Angeles gar nicht zugetraut. Erstens, weil Graffiti trotzdem allgegenwärtig ist, und zweitens, weil die Stadt mit optischer Extravaganz sonst sehr großzügig umgeht. Aber beim Überzeichnetwerden zeigt man keine Gnade. Damit folgt Los Angeles einer Strategie aus New York. Dort wusste David L. Gunn, der Vorsitzende der U-Bahn-Behörde schon in den 1980er Jahren, wie mit unerwünschten Überzeichnungen umzugehen ist. Sobald ein U-Bahn-Wagon besprüht worden war, ließ er ihn sofort aus dem Verkehr ziehen und umgehend wieder neutral lackieren. Gunn wollte den Sprayern keine Besitznahme gönnen, keine triumphale Einfahrt gezeichneter Wagons in die öffentlichen Stationen. Zeichner zu demotivieren, ist also ziemlich einfach, man muss nur die Überheblichkeit und Besitznahme möglichst schnell revidieren, dann suchen sich die Zeichner einen anderen Untergrund, der sich in Besitz nehmen lässt. Eileen Gray hat ähnlich kategorisch reagiert. Das Wandbild, das Le Corbusier ungefragt auf ihre Hauswand gemalt hatte, ließ sie abschlagen und die Bruchstücke über die Klippen werfen. Eine sehr private Entstuckung, die Gray hier praktiziert hat, aber resolut und damit typisch modern. Vor allem die weiße Moderne des International Style wollte sich für niemandes Überheblichkeit zum Trägermedium machen. Darin spiegelt sich das Selbstverständnis der Moderne als letzter Stil und als logisches Finale der gesamten Architekturgeschichte. Die Moderne dachte nicht daran, noch einmal überzeichnet zu werden. Von wem auch, was hätte nach Freiheit und Vernunft Besseres kommen sollen? Dieser absolute Überlegenheitsanspruch der Moderne ist oft kritisiert worden. Erschwerend kommt hinzu, dass die Moderne ihre Unantastbarkeit zur regelrechten Abwehrhaltung ausbaut. Los Angeles ist mit seinem 36 „Los Angeles Municipal Code. Sec. 91.6306. Anti-Graffiti Finish to Exterior Walls“. https:// codelibrary.amlegal.com/codes/los_angeles/latest/lamc/0-0-0-177416. 13.05.2020

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Kampf gegen Graffiti nur expliziter als alle anderen. Deutlich wird das sonst eher indirekt, im Verhältnis zur Gebrauchsspur, dem ersten, natürlichen Architekturzeichen. Die Nutzung erzeugt unablässig Gebrauchsspuren, die als erosive Zeichnung den Körper der Architektur langsam abtragen und zerstören. Dieser dumpfe Realismus ist die ehrlichste Auszeichnung für Architektur. Sie zeigt, wo, wie und wie intensiv Architektur genutzt wird. Eine unverfälschte Bilanz ihrer Inanspruchnahme, die aber zu einer verstörenden Erkenntnis anstiftet. Ausgerechnet intensiv genutzte Architektur wird schneller abgetragen als unbrauchbare Architektur. Das theoretische Ende dieser Tendenz wäre eine Architekturlandschaft, die an unbrauchbaren Gebäuden sukzessive erstickt, während die brauchbaren Architekturen hoffnungslos kaputtgetrampelt werden und letztlich verschwinden. Diese ungleiche Zerstörung ist für Architektur, die im Sinne des Funktionalismus als gebauter Abdruck der Nutzung konzipiert ist, ein erschreckendes Dilemma. Denn konsequent gefolgert gibt es dann nur eine einzige Bestandsgarantie: Wer sich gegen Abnutzung wehren will, muss die Nutzung insgesamt abwehren. Doch wie soll das gelingen? Soll man absichtsvoll nutzlos sein? Ja – darf man schnell antworten, auch wenn das angriffig klingt. Kunst praktiziert das oft sehr gezielt, indem sie sich nicht verfügbar, nicht aufklärbar, nicht quantifizierbar macht. Sakral- und Sonderbauten erlauben sich ähnliche Distanzierungen, auch hier erwächst der Bestandsschutz aus der Verweigerung alltäglicher Nutzungsroutinen. Sogar in gelebtem Architekturambiente fallen immer wieder einzelne Szenen auf, die für den Statuserhalt wichtig sind und folglich nicht intensiv genutzt werden dürfen. Aber der Mainstream der Architektur kann sich nicht so leicht der Benutzung entziehen, schon gar nicht im offenen Konflikt mit dem Funktionalismus. Die Moderne entwickelt also einen indirekten Widerstand und wehrt sich nicht gegen die Nutzung, sondern gegen den Nutzer. Das ist hinterhältig und klug zugleich, denn der Nutzer zeichnet ja ganz wesentlich die Gebrauchsspuren in die Architektur. Aber wie wehrt man sich gegen den Nutzer? Ganz einfach, durch harte Oberflächen, die so hermetisch gefasst sich, dass sich keine Gebrauchsspur einprägen kann, kein Kratzer, kein Abdruck, keine Delle. Zusätzlich noch Anti-Graffiti-Beschichtung, alterungsresistente Materialien und als letzte Versicherung ein strenges Reinigungsregime. Jeder Fingerabdruck wird getilgt. Mittlerweile wird sogar an selbstheilenden Materialen und Lacken geforscht. Die Oberflächen 414

der Architektur sind dann nicht nur passiv resistent, sondern aktiv abweisend. Wie bei einer Immunreaktion wird dem Gebrauch entgegengewirkt. Damit ist endgültig klar, dass moderne Architektur keine Verbündete des Nutzers ist, keine dritte Haut – wie Architekten ihre Häuser gern nennen. Die modernen Oberflächen erlauben keine intime Beziehung mit der Architektur, sind kein Begegnungs- oder Berührungsangebot, sondern Sperrschichten. An der modernen Architektur perlt der Nutzer ab wie Schmutz. Nach dieser harschen Zurückweisung steht der Nutzer vor einer existenziellen Frage: Wenn es nicht mehr gelingt, Eindruck zu machen, dann ist man doch gar nicht mehr hier? Zu Hause, im Büro, in der Stadt, alles hart, glatt, sauber, aber existenzbedrohend, denn die Moderne hat ihrer Architektur die Verleumdung beigebracht. Die Architektur verweigert das Alibi, bezeugt die Anwesenheit ihrer Nutzer nicht mehr. Man kann hundertmal schwören, schreien, sich mit allen anderen Nutzern verabreden und gegenseitig der unbedingten Anwesenheit versichern. Hilft alles nicht. Ohne Beweis keine Tatsache. Modernsein bedeutet, niemand ist da. Nachsetzen muss man, dass die Postmoderne daran nichts ändern wird. Es ist nicht bekannt, dass ausgerechnet die postmodernen Oberflächen offen für Einschreibungen gewesen wären. Fensterrecht in Robert A. M. Sterns Bauten? Undenkbar. Fensterrecht in Robert Venturis Bauten? Niemals vorgekommen. Fensterrecht in Las Vegas? Auch nicht dokumentiert. Die postmodernen Oberflächen sind bunt und redselig, aber sie gehören wenigen Autoritäten und nicht der Allgemeinheit darin oder davor. Architekten, Inszenatoren, Lichtdesigner, Werbemacher und sonstige Zeichenspezialisten choreografieren die Eindrücke, alle anderen werden vom Eindruckmachen ausgeschlossen. Der Nutzer wird nach wie vor verleugnet. Schreiben gegen das Vergessen, Schreiben gegen das Verschwinden – mahnende Aufforderungen aus der Literatur fallen einem ein. Die gesamte Erfindung der Schrift ist ein Aufstand gegen das Verschwinden, gegen das Vergessen- und Übersehenwerden. Schreiben lernen ist wie schwimmen lernen. Permanent herumrudernd muss man Zeichen aussenden, sonst versinkt man in Unsichtbarkeit. Deshalb schlägt das Fensterrecht von Friedensreich Hundertwasser die passende Brücke zur Architektur. Man lehnt sich aus dem Fenster und all jene Bereiche der 415

Fassade, die man mit einem Pinsel erreichen kann, gehören einem zur Bemalung, Selbstdarstellung, Selbstbestätigung der Existenz.37 Das klingt für viele schon nach Anmaßung und Überschreitung, aber das Fensterrecht ist nur die Vervollständigung des Rechts, da zu sein. Ein Recht gilt ja auch sonst erst, wenn es veröffentlicht worden ist. Ohne kontrollierte Bekanntmachung ist es nicht rechtswirksam. Das Recht braucht also eine publikatorische Mindestlautstärke, um tatsächlich zum Recht zu werden. Die von Hundertwasser geforderte Fassadenmalerei ist sinngemäß eine Pflichtübung für jedermann. Wer sich das Recht nimmt, da zu sein, in einem Haus zu wohnen, zu leben, zu arbeiten, hat dieses Dasein für alle anderen deutlich auszuzeichnen. Wer jetzt unkontrollierbares Zeichenchaos am Körper der Architektur befürchtet, liegt richtig – und doch ist genau das die reinste Form von Architekturgeschichte. Raum ist Stauung, geschichtlicher Raum ebenfalls. „Es ist richtig, dass Nomaden keine Geschichte haben, sie haben nur eine Geographie.“38 Gilles Deleuze und Félix Guattari deuten in dieser knappen Aussage ein Gegensatzpaar an. Der Nomade hat zu viel Boden, schreibt beim Umherziehen in den glatten Raum hinaus, ohne seinen eigenen Spuren wieder zu begegnen. Deswegen hat er keine Geschichte. Der Sesshafte schreibt hingegen auf zu wenig Boden. Die Abdrücke überlagern sich zwangsläufig, und diese permanente Überlagerung ist Geschichte. Allerdings nur, wenn die alten Einschreibungen durch die neuen Einschreibungen hindurch blicken und so eine chronologische Tiefe bezeugen. In diesem Gegensatzpaar von Deleuze und Guattari fehlt aber der moderne Mensch, denn die Umkehrung gilt ebenfalls. Was nicht eingeschrieben wird, kann nie Geschichte werden. Die Moderne macht ihre Nutzer zu Harmlosen, denen schon die allererste Abschrift ihres Daseins verwehrt wird. Egal ob zu wenig oder zu viel harte Oberflächen vorhanden sind, Geschichte wird dadurch in jedem Fall verunmöglicht. Das werden nicht alle als großen Schaden werten. Für die Moderne als Aufbruchprojekt ist Geschichtsvergessenheit kein großes Hemmnis. 37 „Ein Mann in einem Mietshaus muß die Möglichkeit haben, sich aus einem Fenster zu beugen und – so weit seine Hände reichen – das Mauerwerk abzukratzen. Und es muß ihm gestattet sein, mit einem langen Pinsel – so weit er reichen kann – alles außen zu bemalen, so daß man von weitem, von der Straße sehen kann: Dort wohnt ein Mensch, der sich von seinen Nachbarn, den einquartierten versklavten Normmenschen, unterscheidet.“ Friedensreich Hundertwasser. „Die Fensterdiktatur und das Fensterrecht.“ http://www.hundertwasser.de/deutsch/texte/philo_fensterdiktatur.php. 22.01.1990 38 Gilles Deleuze, Félix Guattari. Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie. Merve Verlag. 1992. Seite 543

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Was die Moderne als Vernunftprojekt aber sehr wohl kümmern sollte, ist Verblödung: „KSH: Dann würden Sie sagen, dass die Grenze des Anschaulichen die Grenze des Beweisbaren ist? Schreiber: Nicht exakt, aber aphoristisch zugespitzt. Was wir nicht visualisieren können, also was wir nicht wenigstens mit einer abstrakten bildlichen Darstellung noch anschaulich erfassen können, das entzieht sich wahrscheinlich auch unseren Erkenntnismöglichkeiten.“39 Was in diesem Zitat höflich formuliert wird, lässt sich auch unhöflicher zuspitzen: Wer sich in seinen Eindrücken in der Architektur, im Boden, in der Welt nicht widerspiegelt, der wird ebenfalls in seinen Erkenntnismöglichkeiten eingeschränkt und verblödet unweigerlich. Die Basis des Lernens und Verbesserns ist die Reflexion der eigenen Entscheidungen und Handlungen. Wenn sich diese Entscheidungen und Handlungen aber nicht mehr abzeichnen und somit der reflektorischen Nachbetrachtung entziehen, ist die ganze Übungsaufstellung unbrauchbar. Es bleiben dann nur indirekte oder nebulös erinnernde Reflexionen, die aber kein so zwingendes Korrektiv erzeugen wie die direkte Konfrontation mit den Aufzeichnungen von Ereignissen. Im Umgang mit Architektur wird diese Verblödung sehr konkret. Wer keine unmittelbare Rückmeldung bekommt über sein Handeln in der gebauten Umwelt, der verliert das Verständnis für Architektur, für ihre Funktionsweise und ihre innere Logik. In einer Architektur aus harten Oberflächen geht sogar das Bewusstsein verloren, dass Architektur plastisch ist, veränderbar, verbesserbar, erneuerbar.40 Die Konsequenz sind Nutzer, die sukzessive zu Architekturanalphabeten werden und sich den vorgefundenen Verhältnissen unkritisch hingeben. Vielen Architekten mag das durchaus willkommen sein, weil ihre Architektur damit unangetastet bleibt. Aber als allgemeine Konditionierung ist das fatal, denn es bedeutet nichts weniger als das Ende der Moderne als gemeinschaftliches Entwicklungsprojekt. Der Ausweg aus dieser Sackgasse verläuft indirekt und beginnt mit der Entdeckung eines latenten Widerspruchs: Der moderne Mensch ist dem Zwang zur Harmlosigkeit genauso ausgeliefert wie der großen Ortung. 39 Klaus Sachs-Hombach, Peter Schreiber. In: Klaus Sachs-Hombach. Wege zur Bildwissenschaft. Herbert von Halem Verlag. 2004. Seite 89 40 „Wer die Fähigkeit, zu spielen, verliert, verliert auch das Gefühl dafür, dass die Welt plastisch ist.“ Richard Sennett. Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität. Fischer Verlag. 2004. Seite 339

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Diese beiden Instanzen wirken aber gegenläufig. Einerseits wird man von Überwachungstechniken und Auswertungsalgorithmen permanent überfallen und in weltverdoppelnde Datensammlungen eingeschrieben. Aber gleichzeitig hinterlässt man als Nutzer in der Architektur vor Ort keinen Eindruck mehr. Einem Zuviel an digitaler Präsenz steht ein Zuwenig an aktueller Präsenz gegenüber. Wobei man bei dieser Diagnose die Klassenunterschiede nicht ausblenden darf. Wer installiert die harten Oberflächen und zieht seinen souveränen Nutzen daraus, und wer wird davon zurückgewiesen? Wer choreografiert die große Ortung und zieht seinen souveränen Nutzen daraus, und wer ist bloß Datenmaterial und manipulierbare Masse? Kapitalistische Elite gegen ausgebeutete Restbevölkerung also? Lauter und hedonistischer Livestyle gegen stille und verschwiegene Untertanenschaft? Und wer macht was, nachdem der Klassenunterschied dekonstruiert worden ist? Wenn beim Bau des siebentorigen Theben die Könige die Felsbrocken nicht selbst herbeigeschleppt haben, dann gilt dieses Mithineingezogensein auch für die Einschreibungen der vermeintlichen Elite.41 Der einfache Arbeiter kann sein Dasein nicht direkt in die harten Oberflächen der modernen Architektur einschreiben, aber für wen wird die Moderne als übergroße Zeichnung in die Landschaft geschrieben? Für wessen Wohlstandserwartung und Wählerstimme werden Suburbs, Shoppingcenter und Verkehrsinfrastruktur in die Welt planiert? Die doppelte Rolle der Architektur gilt also auch für die Diskussion über harte Oberflächen. Als lokales Architekturobjekt hat sich die Moderne hart und abweisend gemacht, aber im globalen Maßstab ist die Weltoberfläche immer noch weich und muss jede neue Architektureinschreibung durch die Moderne hinnehmen. Gibt es die Nutzerkategorie harmlos also gar nicht? Ist niemand mehr harmlos, weil in der großen Dimension alle am Kaputtzeichnen der Welt beteiligt sind? Genau an diesem Narrativ setzt die Ökologiebewegung an und trägt damit die prinzipielle Idee der harten Oberflächen in die globale Dimension. Nur ist der Änderungsauftrag diesmal umgekehrt orientiert. Nicht der Boden der Welt sollte plötzlich hart werden, um sich der unzähligen Nutzer erwehren zu können. Stattdessen will die 41 „Wer baute das siebentorige Theben? In den Büchern stehen die Namen von Königen. Haben die Könige die Felsbrocken herbeigeschleppt?“ Bertolt Brecht. „Fragen eines lesenden Arbeiters“. In: Jan Knopf. Hrsg. Brecht Handbuch. Band 2: Gedichte. Springer Verlag. 2001. Seite 281

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Ökologiebewegung die menschlichen Nutzer leicht machen, sodass sie keine Abdrücke mehr hinterlassen. Mit dem Begriff des ökologischen Fußabdrucks wird diese Forderung sehr deutlich benannt und bemessen. Je weniger Fußabdruck, desto besser. Aus den Harmlosen sollen jetzt schwerelose Geister werden, die durch freiwilligen Verzicht auf Aufdringlichkeit die Welt retten. Damit ist auch eine klare Absage an das Recht des existenziellen Zeichensetzens verbunden. Die Ökologiebewegung unterscheidet nicht zwischen elitären Zeichen oder Zeichen von jedermann, sondern spricht allen das Recht auf Einschreibung ab. Kein globales Fensterrecht für niemanden. Rein mathematisch ist das vollkommen korrekt. Wie sähe denn die Welt aus, wenn jeder sein Recht auf individuelle Zeichensetzung ungehemmt ausleben würde? Wie sähe die Welt aus, wenn jeder wie Michael Heizer durch die Gegend baggern würde, nur um der Welt sein Lebenswerk aufzudrängen? Ökologiebewusstsein bedeutet also, eingesehen zu haben, dass das Medium Welt nicht genug Boden hat, um jede Zeichenambition zu tragen. Bei einer Weltbevölkerung von über 7 Milliarden ist das Geistwerden gleichermaßen Pflicht und Selbstrettung. Pikanterweise stellt sich an diesem höchst plausiblen Auftrag zum Geistwerden das Problem der Verblödung noch einmal ultimativ. Wenn sich jemand im lokalen Kontext ohne die Wahrnehmung der eigenen Spuren in der Welt nicht ausreichend reflektieren kann, dann gilt doch das Gleiche im globalen Maßstab. Ist das nun die finale Auswahl für die Zukunft der Menschheit? Verzicht auf Einschreibung, Verzicht auf Reflexion und damit kollektive geistige Verarmung durch ökologisch korrektes Geistwerden – oder sollen doch alle 7 Milliarden weiterhin schwere Zeichen setzen, deren Wirkung geistreich reflektieren und den Lernerfolg mit Weltzerstörung bezahlen? Die brauchbarste Antwort auf diese polemische Schicksalswahl ist die dauerhafte Verschiebung der Antwort. Noch sind nicht alle 7 Milliarden Erdenbewohner zu Geistern ohne ökologischen Fußabdruck mutiert. Und solange das nicht der Fall ist, bietet die Ökologiebewegung eine umgekehrte Lernstrategie an. Nicht an der Wirkung der nächsten Einschreibung gilt es zu lernen, sondern an der Wirkung der nächsten Nicht-Einschreibung. Jede gezielte Unterlassung von Weltzerstörung böte genügend direkte Effekte, die man reflektieren und zur Steigerung seiner Planungsintelligenz nutzen könnte. Ausreichend Gelegenheit zum lehrreichen Nicht-Zeichnen gäbe es für mehr als eine Generation. 419

Die praktische Frage wäre noch, wie man die kollektive Umgewöhnung der Harmvollen in Harmlose erzwingen will? Noch verschärfter stellt sich diese Frage für die Architekturbranche. Wieso sollten gerade Architekten mit ihrer Obsession nach Vordergrund plötzlich freiwillig am Geistwerden mitarbeiten? Auch da ist ohne Zwang kein Verzicht zu erwarten. Die Zwanghaftigkeit ist auch der große Vorwurf, der die Ökologieewegung von Anfang an begleitet. Ob der Vorwurf zutrifft oder längst Legende geworden ist, spielt eigentlich keine Rolle, denn viel entscheidender wäre die Wiederentdeckung des enormen Potenzials an freiwilliger Zurückhaltung, das nachweislich bereits existiert. Die Zeichenpraxis weist dabei die Blickrichtung. Wie oft ist Hundertwassers Fensterrecht denn wirklich in Anspruch genommen worden? Vordergründig wird mit Nicht-Dürfen argumentiert. Aber stimmt das? Wie viel Fensterrecht ist bei Eigenheimen in der Suburb dokumentiert? Welcher Hausbesitzer wählt bewusst weiche Oberflächen und lässt sie zum Aufzeichnungsmedium der eigenen alltäglichen Verrichtungen werden? Die harten Oberflächen sind nicht nur von der Moderne erzwungen, sondern oft genug freie Wahl. Auch in den Eigenheimen schweben viele Menschen wie fremde Geister durch eine Inszenierung, die auf keinen Fall durch authentische Abdrücke gestört werden darf. Selten, aber doch ist sogar im professionellen Architekturbetrieb die demonstrative Leerstelle im Dauergekritzel ein sinnstiftender Aktionismus, um das Dasein zu bezeugen und zu feiern. „When 30 years ago I stated that ‚I am an architect‘ and ‚I can make true architecture because I do not build.‘ I did not quite realise how correct that intuition was.“42 Diesen mittlerweile populär gewordene Verweigerungsslogan von Léon Krier gegen die Massenmoderne wollen viele Ökoarchitekten auf alle modernen menschlichen Aufdringlichkeiten angewandt sehen. Die Steigerung dieses Zeichenverzichts sind Künstler, die Teile ihrer Werk biografie zerstören. Nicht immer mit Kalkül wie John Baldessari, sondern tatsächlich, um sich davon zu befreien und eine neue Leichtigkeit zurückzugewinnen.43 Konsolidieren sich derartige Einzelverweigerungen zu einem neuen Mainstream? Partiell ja. Für Veröffentlichungen im Internet wird 42 Léon Krier. „Growth: Maturity Or Over-development?“. In: Deependra Prashad, Saswati Chetia. Hrsg. New Architecture and Urbanism: Development of Indian Traditions. Cambridge Scholars Publishing. 2010. Seite 16 43 John Baldessari. The Cremation Project. 1970

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bereits mehrheitlich ein Recht auf Vergessen gefordert, um jedem die Chance zu geben, seine Onlinegeschichte loszuwerden. Angesicht der wachsenden Videoüberwachung und Erfassung von Reise- und Bewegungsdaten wird die Forderung nach Geschichtslosigkeit im analogen Raum ebenfalls mehrheitlich unterstützt. Jeder will sich unsichtbar durch die Welt bewegen dürfen, ohne algorithmischen Verfolgern gegenüber Rechenschaft ablegen zu müssen. In Los Angeles wird diesem Wunsch nach Unsichtbarkeit noch weiter entsprochen, denn die Stadt zählt zur Kategorie der Sanctuary Cities. Konkret ist damit geregelt, dass Personen Zugang zu Verwaltungsdienstleistungen gewährt wird, ohne dass dabei ihr Aufenthaltsstatus überprüft wird. Die lokale Exekutive macht sich also absichtlich blind für die Einwanderungsgeschichte der Bewohner. Die Bewohner wiederum können als unsichtbare Geister durch die Bürokratie schweben – zumindest was ihre Herkunft betrifft. Die Kritik an dieser Großzügigkeit ist mindestens genauso laut zu vernehmen wie die soziale Rechtfertigung. Nimmt man die Moderne als oberste Richterin, dann ist die Entscheidung eindeutig. Es gilt dann nicht nur das Recht auf Sichtbarkeit für jedermann, sondern es hat konsequenterweise auch das Gegenteil Recht zu sein. Wer will, darf Geist werden, wer will, darf alles zurücklassen, vergessen, geografisch, biografisch und kulturell. Anders ist das moderne Recht auf individuelle Freiheit nicht einzulösen, und das betrifft nicht nur Migranten, sondern alle, denn laut Moderne sind wir alle entwurzelt und ins Unbekannte unterwegs. Auf einer generellen Ebene ist das Geistwerden also ein unverzichtbarer Systembestandteil. Wenn Zugänge mittlerweile barrierefrei gestaltet werden müssen, dann hat das konsequenterweise auch für die Ausstiege zu gelten. Das Geistwerden wäre dann ein universales Recht auf den finalen Notausstieg aus jeder Form von sozialer oder politischer Einhausung, im Extremfall sogar aus der Moderne selbst.

Leichter-als-Kritik Robert Smithson hätte gern Überzeichen gesetzt. Als Artist Consultant der Architekten Tippetts-Abbett-McCarthy-Stratton begleitete er deren Planungsvorschlag für den Dallas/Fort Worth International Airport. Dabei war er mit der ausladenden Dimension einer Flughafenanlage 421

konfrontiert und begann, Kunst ebenfalls als ausladende Earthworks zu denken.44 Nach dieser Anstiftung zur Größe wollte Smithson weiter mit industriellen Überzeichnern zusammenarbeiten. Vor allem nach Spiral Jetty denkt er sehr konkret in diese Richtung weiter: „So right now I’m trying to involve myself in the mining industry itself, in the recycling of disused mining areas involving reclamation projects. This would be involved with one of the larger economic processes that exist, namely mining. The other one I would say is farming“.45 Smithson hätte also vermutlich nicht wie Michael Heizer gegen die Eisenbahn gekämpft, sondern mit ihr kooperiert, um an ihrer übergroßen Zeichendimension teilzuhaben. Doch man ließ ihn nicht. Smithsons Arbeit als Artist Consultant für die Flughafenplaner muss als Scheitern verbucht werden. Der Planungsvorschlag der Architekten wurde nicht angenommen, und nichts von Smithsons Earthwork-Ideen realisiert. Im Großen sind es also nicht die harten Oberflächen, sondern der harte Wettbewerb, der am Zeichensetzen hindert. Für Smithson war das jedenfalls ein Vorgeschmack auf das, was jede übergroße Einschreibung unweigerlich mit sich bringt. Vollkommene Abhängigkeit von den Entscheidungen, Hilfestellungen, Realisierungsanstrengungen anderer. Man kann nicht einfach hingehen und machen. Wie aber hat Heizer die großen Einschreibungen geschafft? Sponsoren gesucht, überzeugt, sonstige Unterstützung gesucht, allein gearbeitet, im Team gearbeitet, streckenweise weiß man es nicht genau, mühsam jedenfalls und auch ein Grund, warum zum Beispiel sein City-Projekt seit 40 Jahren noch immer nicht fertig ist. Doch es hat nicht jeder 40 Jahre Zeit, um sein Vermächtnis in die Wüste zu baggern. Manche wollen oder müssen schneller und erledigungsgetriebener arbeiten. Smithson wurde nicht einmal 40 Jahre alt. Er hat also recht behalten, sich unabhängig zu machen. Nicht nur von der unternehmerischen Schwerfälligkeit der großen Kunst, sondern auch von der physischen Schwere des Zeichens. Das Zeichen muss leichter, verfügbarer, handhabbarer werden. Aber wie macht man ein Zeichen leicht? Obwohl Smithson mit den Flughafenplanern keine Land-Art realisieren konnte, findet sich doch im Nachlass dieses gescheiterten Kooperationsprojekts die Formel für das leichte Zeichen, das Smithson unter 44 Vgl. Jack Flam. Hrsg. Robert Smithson: The Collected Writings. University of California Press. 1996. Seite 177 45 Robert Smithson. In: Eugenie Tsai, Cornelia Butler. Robert Smithson. The Museum of Contemporary Art. University of California Press. 2004. Seite 86

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dem Begriff Non-Site entwickelt: „The nonsites came as a result of my thinking about putting large-scale earthworks out on the edge on the airfield, and then I thought, how can I transmit that into the center? The terminal was there, yet there was no evidence of these things out there, so I thought of putting television out there and transmitting these things back in, and telescopes.“46 Der Schwere der Land-Art ist also nicht zu entkommen, aber man kann diese materielle Schwere in eine mediale Leichtigkeit übersetzen, und man kann diese Übersetzungsarbeit als eigenständiges Kunstformat etablieren. Genau das tut Smithson, indem er das leichte Zeichen zum dialektischen Paar Site/Non-Site ausarbeitet. Site meint dabei ganz unprätentiös einen bestimmten Naturraum: „The site, in a sense, is the physical raw reality – the earth or the ground that we are really not aware of when we are in an interior room or studio“.47 Non-Site hingegen benennt die Repräsentation der Site in einer Galerie oder einem anderen Ausstellungsraum. Die Repräsentation besteht dabei aus einem maßgeschneiderten Container, in den Smithson Materialproben von der Site legt, hinzu kommen Pläne, Diagramme und Fotografien der Site. „I have developed the Non-Site, which in a physical way contains the disruption of the site. The container is in a sense a fragment itself, something that could be called a three-dimensional map.“48 Methodisch wirkt Smithsons Site/Non-Site-Dialektik akademisch harmlos, ist aber eine entschiedene Revision der klassischen LandArt-Idee. Künstler wie Heizer wollten die Land-Art mit strategischer Absicht übergroß werden lassen, um sie den üblichen Verfügbarkeiten des Kunstbetriebs zu entziehen, haben ob der Größe aber letztlich die Kontrolle über ihre Kunst verloren. Mit der Non-Site dagegen erlangt der Künstler wieder die volle Souveränität über sein Kunstwerk zurück. Smithson kann mit seiner Non-Site jeden noch so großen Sachverhalt auf ein handhabbares Format übersetzen. Ein riesiges Stück Naturlandschaft schrumpft durch die Übertragung auf einen Container in Möbeldimension. Das Material darin ist nur mehr eine Ansammlung von Stichproben. Die gesamte Non-Site kann manipuliert, herumgereicht, ausgestellt, verkauft etc. werden. Es braucht keine Sponsoren, Bagger, jahrelange Geduld mehr, um eine Non-Site zu erstellen. Man kann wieder hingehen und sofort machen. 46 Robert Smithson. In: Jack Flam. Hrsg. Robert Smithson: The Collected Writings. University of California Press. 1996. Seite 211, 212 47 Robert Smithson. Ebd. Seite 178 48 Robert Smithson. Ebd. Seite 111

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Schon diese kurzen Charakterskizzen zeigen, dass Smithson mit seinem dialektischen Paar Site/Non-Site ein wichtiges Kapitel der Zeichentheorie geschrieben hat. Er etabliert mit der Non-Site eine Methode der Befreiung. Zwar hat jedes Zeichen, auch die Non-Site, einen materiellen Anteil. Aber Smithson setzt ja nicht auf absolute Leichtigkeit, sondern auf relationale Leichtigkeit. Man sollte die Non-Site also nicht leichtes Zeichen nennen, sondern trefflicher Leichter-als-Zeichen. Genau diese relationale Leichtigkeit ist das geniale Manöver – in direkter Proportionalität. In genau jenem Maß, wie die Non-Site leichter ist als die Site, öffnet sich auch der neue Freiraum. Es wird also gleichzeitig eine Dynamik etabliert, die zu weiterer Erleichterung anstiftet. Damit wird definitorisch abgesichert, dass auch Befreiung immer relational zu verstehen ist. Planerische Freiheit wird genau dort groß, wo ihr die Leichter-als-Abkürzung gelingt. Im Prinzip hatte man die große Freiheit ja schon viel früher erwarten dürfen, mit der bloßen Entdeckung, dass man nicht nur unvermeidliche Zeichen setzen kann, sondern auch freie Zeichen. Aber das ist zu naiv gedacht. Erst mit der Leichtigkeit des Auftrags wird Freiheit von einer theoretischen Option zur alltäglichen Praxis. Erst auf billigem Papier schreibt und kritzelt jeder, wie und was er will. Erst mit der Erfindung digitaler Zeichenträger wird Ausdrucksfreiheit allgemein niederschwellig. Erst mit Graffiti wird Kunst eine demokratische Übung – wie Cristian „Smear“ Gheorghiu von Jean-Michel Basquiat lernt: „What really hooked me about his work and I’m sure a lot of other artists in L.A. and around the world was that you could do it. You could put the ingredients together, it may not look as good as him because he had the intuitive way of doing his work, but you didn’t have to go to school for it. You could just start doing it, keep working at it until you have your language down too. You built it up. You fed it, worked at it but you didn’t need that formal training as long as you had something interesting to say, as long as you had an interesting way of communicating it with the canvas. It could be done. It gave me that inspirational push.“49 Graffiti zeigt allerdings auch, wie komplex relationale Leichtigkeit werden kann. In der Graffiti-Szene ist darstellerische Ambition leichter umsetzbar als im klassischen Kunstbetrieb – so gesehen ist Graffiti ein Leichter-als-Zeichen. Sobald man aber mit Graffiti ausreichend öffentliche Aufmerksamkeit erlangt hat, wäre eine Rückkehr in den klassischen 49 Cristian „Smear“ Gheorghiu. In: Juan Devis. „Smear Interview. My SoCal Art History“. https:// www.kcet.org/shows/artbound/cristian-smear-gheorghiu-my-socal-art-history-0. 04.10.2012

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Kunstbetrieb vorteilhaft, weil dort Aufmerksamkeit leichter ökonomisch verwertbar ist. Galeriekunst ist der Leichter-als-Weg zum Geld. Kein Wunder, dass einige Street-Art-Künstler diesen Karriere-Umweg entlang der wechselseitigen Leichtigkeit gegangen sind und noch viel mehr junge Künstler damit spekulieren. Das hat auch die Staatsanwaltschaft von Los Angeles erkannt und versucht, diesen Umweg zu verhindern. Die Logik ist nicht unschlüssig: Aus der Perspektive der Staatsanwaltschaft ist Graffiti ein schweres Zeichen, das enormen Schaden anrichtet und folglich eine Straftat darstellt. Aber aus einer Straftat Gewinn zu ziehen, ist unzulässig, selbst wenn der Gewinn nur überregionale Aufmerksamkeit und Bekanntheit bedeutet. Weil das vielen in der Kunstwelt zu juristisch argumentiert erscheint, bekräftigt die Staatsanwaltschaft ihre Rechtsmeinung gern mit einem direkten Vergleich: Künstler, die ohne illegale Praktiken um Aufmerksamkeit ringen, haben erhebliche Nachteile im Vergleich zu Street-Art-Künstlern, denen das gesamte Arsenal der Sensationspresse freiwillig oder unfreiwillig zuarbeitet. Die Staatsanwaltschaft fordert deshalb eine doppelte Entstuckung: Zum einen müssen die Graffiti vor Ort entfernt werden – oft von den Graffitikünstlern selbst als besondere Form der Bestrafung; zum anderen darf der Name aus den illegalen Graffiti-Jahren nicht als Künstlername im legalen Kunstbetrieb verwendet werden. Niemand soll wissen, dass der Künstler Cristian Gheorghiu einmal der berühmt-berüchtigte Sprayer Smear war. Ob das gelingt, ist fraglich, die prinzipielle Intention ist dennoch aufschlussreich. Was in der Street-Art-Szene noch legistisch austariert wird, ist systemisch dennoch breitest implementiert. Jede Disziplin hat sich mittlerweile ihre Leichter-als-Parallelwelt eingerichtet, um dort Ambition sofort in Ausdruck zu übersetzen. Der konkrete Bürobetrieb der Architektur ist dafür das treffendste Beispiel. Lange bevor gebaut wird, errichten die Architekten in ihren Büros Non-Sites und füllen sie mit unzähligen Skizzen, Plänen, Modellen, Materialproben. Während des Bauens werden die Non-Sites noch umfangreicher: mehr Pläne, mehr Muster, neurotischer Schriftverkehr, und nach Ende der Bauphase kommt dann noch die Lawine an Fotografien hinzu, sowie Publikationen, Nachbesprechungen, Vorträge und Archivierungen. Vieles davon überflüssig, selbstreferenziell, delirierend, und gerade deswegen lieben die Architekten ihre Non-Sites. Das ist ihr Fantasieland, nur dort können sie Souveränität und Eigensinn behaupten. Auf den realen Sites der Architektur, an denen Finanzierung, 425

Realisierung, konkrete Nutzung passieren, an denen die schweren Zeichen gesetzt werden, haben die Architekten wesentlich weniger zu bestimmen. Deswegen lebt die Branche auch sehr gut mit dem völligen Rückzug in die Leichtigkeit. Gemeint sind architektonische Produktionen, für die es gar keine Site gibt, und die stattdessen nur als medienwirksame Non-Sites initiiert und ausgearbeitet werden. Doch gerade die enorme Praxistauglichkeit der Site/Non-Site-Dialektik darf nicht von der Grundidee ablenken. Die Non-Site ist aus dem Scheitern geboren. Die Realität ist zu groß, zu sperrig, zu unverfügbar für den Künstler, den Architekten, das Publikum. Das Verhältnis von Site und Non-Site ist also nicht so sauber akademisch, wie es vermittelt wird, sondern ein verklemmter Plan B. Smithson hat einfach Realitätsflucht zum Kunstformat aufgewertet. Streckenweise lesen sich seine Texte zwar wie nüchterne Lehrbehelfe zur Konstruktion von medialer Parallelwelt, jeder Satz eine postmoderne Lektion, der Geruch des Scheiterns begleitet aber dennoch jede der künstlerischen Ausarbeitungen der Site/Non-SiteIdee. Smithson hat für dieses systemische Scheitern natürlich ein besseres Wort, er nennt die Non-Site einen abstrakten Container.50 Abstraktion klingt auf den ersten Blick tatsächlich nicht nach Scheitern, in Andres Veiels Worten eher wie eine Rettung: „Durch die formale Abstraktion wird die Illusion der Unmittelbarkeit permanent gebrochen, um Distanz zur Monstrosität der Tat aufzubauen. Diese Distanz habe ich in der Arbeit gesucht und gebraucht, sonst hätte ich die permanente Auseinandersetzung mit der Tat nicht durchgehalten, ich wäre sonst einfach am Entsetzen hängen geblieben.“51 Klingt vernünftig, zur Monstrosität der Tat Distanz zu halten. Aber kann man Abstraktion damit immer gutheißen? Und noch viel wichtiger: Kann man mit dem Verweis auf die rettende Distanz den Geruch des Scheiterns abstreifen? Gilles Deleuze macht klar, dass mit der Abstraktion etwas verloren geht: „Die Abstraktion wäre einer dieser Wege. Ein Weg allerdings, der den Abgrund oder das Chaos und auch das Manuelle auf ein Minimum reduziert: Sie bietet uns eine Askese, ein spirituelles Heil. In einer intensiven spirituellen Anstrengung

50 „instead of putting something on the landscape I decided it would be interesting to transfer land indoors, to the nonsite, which is an abstract container“ Robert Smithson. In: Jack Flam. Hrsg. Robert Smithson: The Collected Writings. University of California Press. 1996. Seite 178 51 Andres Veiel. In: Frank-M. Raddatz. Brecht frisst Brecht. Neues Episches Theater im 21. Jahrhundert. Henschel Verlag. 2007. Seite 245

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erhebt sie sich über die figurativen Gegebenheiten, sie macht aber auch aus dem Chaos einen bloßen Graben, den man überschreiten muss, um abstrakte und signifikante Formen zu entdecken.“52 „Kandinsky definierte die abstrakte Malerei durch die ‚Spannung‘; nach Bacon aber fehlt gerade die Spannung der abstrakten Malerei am stärksten: Indem sie die Spannung ins Innere der optischen Form verlegt, neutralisiert sie sie.“53 Da ist es also wieder, das Scheitern. Wie bei Smithson semantisch elegant umkleidet, aber essentiell das Gleiche. Man muss also nüchtern zwischenbilanzieren: Leichter-als bedeutet immer harmloser-als, langweiliger-als, schwächer-als. So bunt, grell, provokant können die leichten Zeichen gar nicht sein. Das führt zu einem erstaunlichen Dilemma. Das Zeichen wird leichter, um freier zu sein, doch die Freiheit bezahlt das leichte Zeichen, indem es harmloser, langweiliger, schwächer wird. Führt die Leichter-als-Strategie das Zeichen in die totale Irrelevanz? Und wenn ja, wie groß wäre der Schaden? Der Schaden wäre maximal – kann man vorwegnehmen. Denn das gesamte Projekt der Moderne hängt am Vermögen des leichten Zeichens. Warum? Weil Kritik ein leichtes Zeichen ist, und das Projekt der Moderne ohne Kritik nicht steuerungsfähig ist. Von Immanuel Kants Kritik der reinen Vernunft bis hin zur alltäglichen Aufforderung zur Selbstkritik reichen die Steuerungsübungen. Wie sollte die Moderne ohne potente Kritik sonst ihren Kurs überprüfen, verbessern, weiterplanen? Man darf hier gern Architekturkritik als Beispiel heranziehen. Das leichte Zeichen Architekturkritik begleitet das schwere Zeichen Architekturpraxis evaluierend, vorausschauend, akademisch verdoppelt. Wie bei Smithsons Site/ Non-Site-Dialektik stehen sich eine gebaute Realität und eine geschriebene Disruption verweisend gegenüber. Kritik ist also nicht momentane Stimmungsäußerung, sondern kontinuierliche Arbeit an der totalen Opposition – wie Michel Foucault definiert: „Als erste Definition der Kritik schlage ich also die allgemeine Charakterisierung vor: die Kunst, nicht dermaßen regiert zu werden.“54 Wenn man jetzt noch anfügt, dass es immer die Realität ist, die als ultimative Regentschaft auftritt, dann hat Hans Freyer

52 Gilles Deleuze. Francis Bacon – Logik der Sensation. Wilhelm Fink Verlag. 1995. Seite 64 53 Gilles Deleuze. Ebd. Seite 67 54 Michel Foucault. Was ist Kritik? Merve Verlag. 1992. Seite 12

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vollkommen recht, wenn er Kritik ins Format der Utopie einstellt.55 Wie unbedingt sich Architekturarbeit an diesem utopischen Verständnis von Kritik zu orientieren hat, lässt Rem Koolhaas wissen: „Architektur hat ja nur dann Berechtigung, wenn sie eine Utopie formuliert.“56 Genau in dieser Dimension muss Kritik und kritische Architektur betrieben werden, denn nur aus einer vollständig ausgearbeiteten Utopie können Kriterien destilliert werden, die glaubhaft genug sind, um Realität kritisch zu überholen. Alle, die dennoch versuchen, diese aufwendige Erarbeitung von Kritikkriterien abzukürzen, seien gefragt: Woher sonst sollten die Kriterien für Kritik kommen? Die Kritik kann den Gegenstand, den sie zu bewerten hat, nicht die Kriterien der Bewertung vorgeben lassen. Das wäre Selbstkontrolle und gänzlich unglaubwürdig. Das Gegenteil muss der redliche Standard sein. Die Kritik muss die Bewertungskriterien mitbringen, und sie muss sie davor in einem alternativen Setting entworfen, getestet und präzisiert haben. Und genau dafür ist die Utopie zuständig. Die Utopie ist ein Testfeld zur Entwicklung von Kriterien für Kritik. Wobei man hinzufügen muss, dass Kritik als Verfahren wichtiger ist als der Inhalt der Kritik. Denn jede Kritik, egal was sie an Opposition entwirft, teilt der Realität vor Ort mit, dass sie nicht alternativlos ist, sondern auch anders sein könnte. Damit ist der eigentliche Auftrag des leichten Zeichens formuliert: Das leichte Zeichen muss nachweisen, dass die Realität kontingent ist, dass sie geändert und verbessert werden kann, dass generell alles anders hätte ausfallen können. Erst durch diesen Nachweis und die dadurch ausgelöste Krisenstimmung wird abwägendes, problemlösendes Denken und Handeln sinnvoll: „Kritik und Krise sind ein unzertrennliches Paar. Bereits sprachlich gehen sie auf eine gemeinsame Wurzel zurück. […] Unzertrennlich waren Kritik und Krise zugleich im Streit um Priorität – wer kontrolliert wen? Krise, das verweist auf die Eigenmacht der Prozesse, des unumkehrbaren Konfliktverlaufs, der auf Lösung drängt. Kritik beansprucht 55 „Indem die Utopie das ganze Feld der Möglichkeiten zeigt, weist sie auf den Mißbrauch hin, den die notwendig willkürliche Gewohnheit in sich trägt. Die Alternativ-Möglichkeiten bieten zugleich Raum für Erfindung und für Kritik. Man kann nicht das kritisieren, was man für unabänderlich hält. Für alle Bereiche der Utopie läßt sich ebenso wie für die ganz elementare utopische Methode sagen: Jeder Umweg ist eine Erfindung und zugleich auch Kritik an der Torheit des geraden Weges.“ Hans Freyer. „Die utopische Methode“. In: Arnhelm Neusüss. Hrsg. Utopie. Begriff und Phänomen des Utopischen. Campus Verlag. 1986. Seite 355 56 Rem Koolhaas. „Das Versäumnis der Moderne. Die Berliner Schloßdebatte und die Krise der modernen Architektur“. In: Arch+ 175. AMO Pro-jektionen. 2005. Seite 83

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nicht weniger als die Krise zu entdecken, ja zu erzeugen – weiß sie doch, wo die Zukunft liegt, das größere Recht, der Fortschritt und die neue Zeit, wenn nicht gar das Heil der Menschheit“.57 Damit steht das leichte Zeichen letztlich vor einem gigantischen Dilemma. Einerseits ist es unweigerlich harmloser, langweiliger, schwächer als die Realität. Andererseits soll es durch utopiegroße Kritik an der Realität nichts weniger, als das Heil der Menschheit weisen – wie Dieter Hoffmann-Axthelm dramatisch formuliert. Wie soll das funktionieren? Eine ambitionierte Antwort auf diese Frage hat Francis Bacon vorgeschlagen, denn er hat es immer schon gewusst. Die Harmlosigkeit ist die größte Gefahr der Malerei, letztlich jeder repräsentativen Zeichenanstrengung, weil sie nur indirekt arbeitet. Repräsentation bedeutet immer Umweg, Verzögerung, Vermittlung, Erklärung. Nie ist die Wirkung akut und absolut. „I don’t want to avoid telling a story, but I want very, very much to do the thing that Valéry said – to give the sensation without the boredom of its conveyance. And the moment the story enters, the boredom comes upon you.“58 Die Anstrengungen, die Bacon nun anstellt und die Deleuze staunend erörtert, haben ein klares Ziel. Wie malt man das Unmögliche? Wie malt man ein Bild, das keine Repräsentation ist, sondern auf den Betrachter direkten, körperlichen Eindruck macht, obwohl es nur ein Bild an der Wand ist? „Darum gewinnt auch die Sensation, wenn sie den Körper über den Organismus hinweg trifft, eine exzessive und spasmodische Wendung, sie durchbricht die Schranken der organischen Aktivität. Mitten im Fleisch wird sie unmittelbar auf die Nervenbewegung oder die vitale Emotion geleitet. Man möchte glauben, dass Bacon Artaud in vielen Punkten begegnet: Die Figur ist exakt der organlose Körper […]; der organlose Körper ist Fleisch und Nerven; eine Welle durchströmt ihn und zeichnet Ebenen in ihn ein; die Sensation ist gleichsam das Zusammentreffen der Welle mit Kräften, die auf den Körper einwirken, ‚affektive Athletik‘, gehauchter Schrei; wenn sie derart auf den Körper bezogen ist, bleibt die Sensation nicht länger repräsentativ, sie wird real; und die Grausamkeit wird immer weniger an die Darstellung von etwas Schrecklichem gebunden sein, sie wird nur die Einwirkung der Kräfte auf den Körper oder die Sensation (das Gegenteil des Sensationellen) sein.“59 57 Dieter Hoffmann-Axthelm. „Krise der Kritik – Kritik der Krise“. In: Arch+ 200. Kritik. 2010. Seite 16 58 Francis Bacon. In: David Sylvester. Interviews with Francis Bacon. Thames & Hudson. 1997. Seite 65 59 Gilles Deleuze. Francis Bacon – Logik der Sensation. Wilhelm Fink Verlag. 1995. Seite 32, 33

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Die eindringlichen Beschreibungen von Deleuze legen nahe, dass Bacon es schafft, das leichte Zeichen wieder in ein schweres Zeichen zurückzuverwandeln. Doch präzise kategorisiert ist Bacons Malerei raffinierter, als nur eine Repräsentation in eine Realisation zurückzuverwandeln. Bacons schweres Zeichen ist eigentlich ein infiltratives Zeichens, es ist nicht der aufstampfende Fuß, es furcht, kratzt, schneidet nicht an der Oberfläche herum, sondern die Sensation dringt in den Körper ein und überfällt die vitalen Zentren im Inneren. Deleuze beschreibt das völlig richtig als biochemischen Vorgang mitten im fleischlichen Körper des Betrachters. So gelingt es, den Mangel an substanzieller Schwere zu kompensieren und die Monstrosität der Tat – wie Veiel es formuliert – tiefenwirksam zu übermitteln. Neuromarketing nennt das die Werbebranche. Eine wohl zu abgeklärte Bezeichnung für den Kunstbetrieb. Trotzdem ist den Branchen gemein, dass die Herstellung von direkter innerer Betroffenheit die wichtigste Form der Vermittlung darstellt. Das gesamte reflektierende und relativierende Abwehrarsenal der menschlichen Wahrnehmung gilt es schockartig zu unterlaufen. Man kann die infiltrierende Sensation nicht mehr verhindern, leugnen, wegargumentieren, die Wirkung ist unausweichlich und radikal. Für Bacon ist damit aber das Ziel noch nicht erreicht. Er zielt mit seinem infiltrativen Überfall auf die vitalen Zentren des Betrachters letztlich auf die ultimative Überzeichnung ab. Realität wird nicht mehr repräsentiert, sondern mit dem leichten Zeichen neu erschaffen: „I believe that realism has to be re-invented. It has to be continuously re-invented. In one of his letters Van Gogh speaks of the need to make changes in reality, which become lies that are truer than the literal truth. This is the only possible way the painter can bring back the intensity of the reality which he is trying to capture. I believe that reality in art is something profoundly artificial and that it has to be re-created. Otherwise it will be just an illustration of something – which will be very second-hand.“60 Ähnlich ultimativ denkt Smithson die Überzeichnung. Dabei erzeugt die Repräsentation Kategorien, die Realität überhaupt erst erscheinen lassen. „My view of language is physical rather than mental, or the physical precedes the mental. Whether it’s poetic or not – well, it’s okay with me.

60 Francis Bacon. In: David Sylvester. Interviews with Francis Bacon. Thames & Hudson. 1997. Seite 172

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Actually poets, in a sense, formulated the entire landscape view back in the eighteenth century. It wasn’t architects and gardeners who invented the landscape, it was poets and essayists.“61 Spätestens hier muss man zweifelnd zwischenfragen, ob in diesen Zitaten von Deleuze, Bacon und Smithson nicht zu abgehoben Souveränität suggeriert wird. Wie groß sind denn die fleischlichen Sensationen, die laut Deleuze im Körper eines Bildbetrachters ausgelöst werden? Es ehrt Bacon, dass er infiltrative Betroffenheit mit rein malerischen Mitteln erzeugen will, aber Henry Rollins kommt doch wesentlich direkter zum Ziel. Das ist zumindest sein Claim to Fame in den frühen Punk-Jahren. Der geht einfach live auf sein Publikum zu und bedrängt, berührt, schlägt es wirklich. Dumpf und polemisch wirkt das, aber es ist die solideste Methode, um reale körperliche Betroffenheit herzustellen. Die Idee von Bacon, Deleuze und Smithson, mit leichten Zeichen die Realität zu überschreiben, kann aber dennoch gelingen, eindringlicher als bei Performance-Handgreiflichkeiten. Wie, zeigt ausgerechnet das zweite Scheitern von Smithson: Die Land-Art wollte raus aus dem Museum und dem üblichen Kunstverständnis. Doch Smithson trägt seine Non-Sites wieder brav ins Museum zurück und unterwirft sie der Hausordnung des üblichen Kunstbetriebs. Was bringt diese Domestizierung? Methodisch führt Smithson damit die Idee der Non-Sites konsequent weiter. Schon die Non-Site ist die domestizierte Version der Site, und mit dem Gang ins Museum werden konsequent die nächsten Domestizierungsschritte ausgelöst. Die musealisierte Non-Site kann in Ausstellungen und Archivschränke integriert werden. Von dort kann sie fotografiert, verfilmt, exzerpiert und wiederum in Publikationen integriert werden. Die Publikationen können wiederum in Gesamtkataloge, Bibliotheken, Wohnzimmerambiente integriert werden. Treibt man diese Integrationssukzession in den Marketingbereich hinein, dann sind Poster, T-Shirts, Servietten und Badezimmerfliesen als weitere Domestizierungsschritte denkbar. Diese iterative Logik erinnert an Vilém Flussers iterative Logik des Mediums, wonach der Inhalt eines Mediums meist ein anderes Medium ist. Der Inhalt einer Domestizierung ist ebenfalls die nächste Domestizierung.

61 Robert Smithson. In: Eugenie Tsai, Cornelia Butler. Robert Smithson. The Museum of Contemporary Art. University of California Press. 2004. Seite 89

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So weit so undramatisch, zumindest aus der Perspektive der Non-Sites. Aber aus der Perspektive der Sites droht ein umso dramatischerer Schaden. Die Site ist das Original, ein singuläres Ereignis, doch schon die Non-Site ist die erste unautorisierte Kopie, die sich selbstständig macht. Und mit jedem weiteren Domestizierungsschritt wird die originale Site noch einmal kopiert und immer weiter verbreitet. Und je leichter das Trägermedium wird, desto ungezügelter ist die mediale Multiplikation – zumindest potentiell. Denn entscheidend ist die Abrechnung: Wenn die mediale Multiplikation nicht gelingt, dann passiert nichts Wesentliches. Das leichte Zeichen bleibt, was es ist: harmloser, langweiliger, schwächer als das Original. Gelingt die Multiplikation jedoch, weil plötzlich jeder die Site über die vielen medialen Repräsentationen kennenlernt, dann passiert sehr wohl etwas Wesentliches. Die medial multiplizierte Ersatz-Site überzeichnet die Original-Site und wird zum Souverän. Regisseur James Cameron meint, dass heute ein Film schon vor dem Drehbeginn eine Marke sein muss, sonst schafft man die Finanzierung nicht.62 Debatten um Schönheitsideale, Leistungserwartung, Produktqualität kommen ebenfalls nicht ohne den Verweis auf die übergroßen medialen Bilder aus, an denen die Realität unweigerlich bewertet wird. Architektur praktiziert die gleiche Umkehrung der Souveränität. Herausragende Gebäude werden zuallererst medial promotet und erst danach gebaut – oder auch nicht. Das gilt für Flughäfen genauso wie für Museen, Bürotürme und ganze Stadterweiterungen. Sogar durchschnittliche Gebäude wie Fertigteilhäuser müssen zuallererst vermarktet werden, um dann einen Baustart zu erleben – oder auch nicht. Noch interessanter ist die Souveränitätsumkehr allerdings im Bestand. Selbst Gebäude, die seit 1000 Jahren Realität sind, lernt die Öffentlichkeit zuallererst und zuallermeist als rein mediale Repräsentation kennen, durch Reiseführer, Bildbände, Videos, Fotografien, Werbehintergründe etc. In all diesen Fällen ist die mediale Repräsentation keine nachfolgende Kritik des Gebäudes, sondern tatsächlich eine vorauseilende Instanz, und entweder das Original vor Ort entspricht dann dem medialen Versprechen oder es enttäuscht. Wer Architekturexkursionen oder 62 „Das bedeutet, man dreht von irgendetwas schon Erfolgreichem eine Fortsetzung, denn jeder in Hollywood weiß, wie wichtig es ist, dass der Film, bevor er in die Kinos kommt, bereits eine Marke ist. Wenn eine Marke schon existiert, ‚Harry Potter‘ etwa oder ‚Spider-Man‘, sind Sie Lichtjahre voraus.“ James Cameron. In: Philipp Oehmke, Lars-Olav Beier, James Cameron. „All der Mist passiert wirklich“. http://magazin.spiegel.de/EpubDelivery/spiegel/pdf/76121088. 03.01.2011

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Stadtbesichtigungen veranstaltet, weiß um diesen oft beklemmenden Moment. Das Original vor Ort hat keine Chance auf eine unvoreingenommene Begegnung. Das Original vor Ort ist immer in Gefahr, schwächer, pragmatischer, glanzloser als die hochglanzpublizierten Repräsentationen dazustehen. In diesen enttäuschenden Momenten wird dann genau das wahr, was Bacon in seiner Malerei gesucht hat: „realism has to be re-invented […] lies that are truer than the literal truth“. Folgt man dieser Umkehrung, dann verliert das Original sogar seine letzte herausragende Eigenschaft, nämlich das Original zu sein. Stattdessen wird die am weitesten verbreitete mediale Repräsentation zum neuen Original. Das gebaute Objekt vor Ort wäre dann nur noch eine substanzielle Kopie, oft sogar eine schlechte. In genau diesen beklemmenden Momenten der Überzeichnung steckt letztlich das gesamte Potenzial des leichten Zeichens, ein anderes gibt es nicht. Für die klassische Architekturkritik muss man allerdings feststellen, dass sie dieses Potenzial bei Weitem nicht ausschöpft, meist gar nicht ausschöpfen will. Denn für Architekturkritiker ist die Herablassung in die mediale Leichtsinnigkeit ein Verrat an ihrer Mission. Geniale Polemiken gegen moderne Architektur wie von Tom Wolfe oder Rob und Léon Krier werden von der Architekturbranche reflexartig abgewertet, aber nie semantisch eingemeindet. Die Wirkungslosigkeit der Architekturkritik liegt also an den Kritikern selbst und nicht am prinzipiellen Vermögen des leichten Zeichens. Was die Architekturkritik daraus zu lernen hat? Zuallererst darf man den oft gehörten Vorwurf an die Kritiker, sie würden es sich leicht machen, als absurd zurückweisen. Auch die Selbsthemmung vieler Kritiker, ins Leichte auszuweichen, sollten sie dringend ablegen. Kritik muss leicht sein, um der Gravitation des Originals zu entkommen und Opposition zu erzeugen. Je leichter, desto besser sogar. Bei der Notwendigkeit der weiten Verbreitung allerdings ist das Scheitern schwerer abzuwenden. Wie soll Architekturkritik plötzlich Reichweite erlangen? Da scheint keine schnelle Lösung in Sicht. Das betrifft die gesamte Architekturbranche ohne Ausnahme. Lösung des Dilemmas? Gibt es keine – und die Lage ist umso peinlicher, weil die mangelnde Massenpräsenz von Architekturkritik nicht einmal eine Leerstelle hinterlässt, die zumindest durch demonstrative Leere eine Warnung wäre. Im alltäglichen Betrieb fällt der Mangel an Architekturkritik gar nicht auf, weil zeitgenössische Architektur ohnehin genug kritischen Gegenwind erfährt. Gemeint ist das alltägliche 433

Schimpfen von jedermann über zeitgenössische Architektur. Das wird von der Architekturbranche kaum wertgeschätzt, eher gefürchtet, weil gern polemisch, verkürzt und sensationseifrig geschimpft wird. Diese unprofessionelle Architekturkritik ist auch keine sorgsam ausgearbeitete utopische Alternative, sondern nur ein eruptives Stimmungsbild. Als solches aber authentisch und ob der weiten Verbreitung enorm wirksam. Nicht wenige Projekte sind von medial geschickt multipliziertem Unbehagen gestoppt oder erheblich beeinflusst worden. Damit wäre die Wirksamkeit des leichten Zeichens als gestaltendes Architekturwerkzeug abermals bewiesen, aber kaum ein Architekt freut sich über den Beweis – zumindest nicht, wenn es das eigene Projekt betrifft.

Neue Notation Muss man Bernard Tschumi alles glauben? Jede neue Architektur braucht eine neue Notation?63 Klingt derart verkürzt nicht selbstverständlich, lässt sich aber sauber deklinieren: Eine neue Notation bedeutet nichts anderes als ein neues leichtes Zeichen, mit dem neue Utopien entworfen werden, anhand deren wiederum neue Qualitätskriterien für das Überzeichnen von Realität gewonnen werden. So ließe sich die Welt verändern. Das Problem der mangelnden Reichweite von allzu akademischen Utopien und deren zwangsläufige Wirkungslosigkeit löst Tschumis Formel natürlich nicht, aber sie ist dennoch analytisch produktiv. Aus den Notationen der Architekten lässt sich zumindest ihre weltverändernde Ambition herauslesen, und damit kann die Architekturgeschichte insgesamt in sehr prägnante Kapitel unterteilt werden. Den Anfang der modernen Notation machen Architekten, die Bilder zeichnen, die nichts erklären, nichts rechtfertigen, sondern ein großes Vorhaben verkünden. Es ist einiges an Bewunderung zu spüren, wenn Rem Koolhaas über Hugh Ferriss schreibt, über dessen dramatische Architekturillustrationen im New York der 1920er Jahre, als die Moderne mit wuchtigen Hochhausprojekten die Stadtlandschaft überfällt.64

63 „However precise and generative plans, sections, and axonometrics may be, each implies a logical reduction of architectural thought to what can be shown, to the exclusion of other concerns.“ Bernard Tschumi. The Manhattan Transcript. Academy Editions. 1994. Seite XX 64 Rem Koolhaas. Delirious New York. 010 Publishers. 1994

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Wie sonst sollte man diesen neuen Gebäudetyp darstellen, wenn nicht als sakrales Ungeheuer, das sich im Schwarz-Weiß-Kontrast vor dem Betrachter auftürmt. 40 Jahre später ist diese Art der Architekturillustration niemandem mehr zumutbar. Die Architektur hatte längt die massive, sakrale Vordergründigkeit ins exakte Gegenteil verkehrt. Archigram zeichnen in den 1960er Jahren Architektur als bunte, fragile Hintergründigkeit und belegen damit eine völlig neue Stimmungslage. Den Vordergrund besetzen stattdessen großflächig schöne, junge Menschen, aus Modemagazinen ausgeschnitten und in die Architekturzeichnungen eincollagiert. Nach dem Scheitern der Moderne haben Architekten nicht mehr die Kompetenz, das Leben im Vordergrund selbst zu zeichnen, sondern müssen die Populärkultur um Ersatzvornahme bitten. Die Architektur im Hintergrund bemüht sich eilfertig, den geborgten Spaß im Vordergrund zu bedienen, trotzdem ist der unbedingte Anspruch auf Realisierung verschwunden. Die Illustration muss jetzt die gesamte architektonische Ambition tragen, muss überschäumend, fantastisch ausschweifend und doch eine geschlossene Welt sein. Das betrifft nicht nur Projekte, sondern ganze Architektenbiografien. Wer doch realisieren will, muss eine neue Ausdrucksform erfinden. Der Architekt ist nach dem Scheitern der Moderne nach wie vor im Generalverdacht, ein doktrinärer Weltzerstörer zu sein. Wie aber zeichnet man sich aus diesem Generalverdacht hinaus? Am besten mit Axonometrien, wenn nötig aufgelöst wie Möbelbauanleitungen. Alles wird offen deklariert und erklärt. Die Architektur will zeigen, dass sie jetzt keine Geheimnisse mehr hat und die Architekten keine Hintergedanken. Das ist die neue Außendarstellung – und sie ist natürlich eine Scharrade. Die Architekten haben nämlich schnell gelernt, sich aus dieser deklarierenden Offenheit hinauszustehlen. Dazu wird einfach die deklarierende Offenheit ins Groteske übertrieben. Die Axonometrien werden immer detailverliebter, komplexer, technokratischer, für Normalnutzer unmöglich zu verstehen. Prinzipiell kundenfreundlich wie das Kleingedruckte bei Verträgen und doch eine unfreundliche Machtdemonstration. Diese technokratische Hermetik wird erst abgelöst von den Prozessarchitekten. Nicht mehr den Endzustand gilt es jetzt aufzuzeichnen, sondern der Entwurfsprozess insgesamt wird offengelegt. Damit verlagert sich der Arbeitseinsatz. Die Zeichnungen erscheinen nicht mehr unvermittelt aus dem Nichts am Ende eines nebulösen Entwurftauchgangs, sondern werden zeitnah erstellt. Der Architekt protokolliert im Idealfall 435

laufend seine Recherche, seine Gedankengänge, seine Entscheidungen und wirbt um Zustimmung. Der gesamte Prozesshabitus bemüht sich informativ, objektiv, partizipativ zu wirken, und ist von unzähligen Diagrammen begleitet. Diese Diagramm-Labyrinthe sind jedenfalls die neue Notationsroutine, analytische Diagramme, performative Diagramme, aufgeheitert mit Logos und szenischen Skizzen, je nach situativer Stimmung fokussiert oder listig unentschieden.65 Wenn man diese kurzen historischen Skizzen weiterdenkt, steht man unweigerlich vor der Frage, welche Form der Notation als nächste Architekturgeschichte schreiben wird. Gibt es ein neues Zeichen der Zeit? Eine Frage, die nicht ins Leere gestellt ist, sondern auf ein breites Repertoire an zeitgenössisch relevanten Architekturnotationen trifft. Wird das neue Zeichen aus dem Computer kommen, CAD, BIM oder irgendeine Foto-App? Oder ist eine Renaissance des analogen Zeichens zu verkünden, Graffiti und Street-Art für jedermann? Oder gar eine neue Sachlichkeit, elaborierte Werkzeichnungen, die detailtechnische Perfektion als einzig unverwüstliche Architekturäußerung einmahnen? Frägt man die Praxis der zeitgenössischen Architekten ab, drängen sich andere Notationsroutinen auf. Der Fotorealismus hat sich längst als ultimative Bringschuld etabliert. Immer einladende Wetterstimmung, selbst wenn es regnet und schneit, subtile Lichteffekte, agile Nutzer, ansteckend freudvolle Gewissheit. Zeichnungen, die nur vorschlagen, andeuten, versuchen, traut man heute nicht mehr. Der Fotorealismus hingegen macht die Zukunft verbindlich. Diese vorweggenommene Hypersichtbarkeit des Endzustands ist natürlich eine heimliche Absage an den prozessualen Entwurf. Das fotorealistische Projekt betritt bereits als Endzustand die Öffentlichkeit. Doch wieviel Zeit verbringen die Architekten tatsächlich mit der Herstellung von klassischen Zeichnungen und Renderings? Lässt man die reine Zeitbilanz entscheiden, dann sind Tabellen, Datenblätter, Normen, Protokolle die sehr viel wichtigere Notation. Ist dann der Text die neue Architekturnotation? Derart verkürzt klingt das sogar spannend, weil man plötzlich auf eine Aufwertung von Theorie, Geschichtsschreibung, kritischem Journalismus und noch vielen anderen Vertextungen von Architektur 65 „the architects of the neo-avant-garde are drawn to the diagram because – unlike drawing or text, partis pris or bubble notation – it appears in the first instance to operate precisely between form and word.“ R. E. Somol. „Dummy Text, or The Diagrammatic Basis of Contemporary Architecture“. In: Peter Eisenman. Diagram Diaries. Thames & Hudson. 2001. Seite 8

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hoffen könnte. Doch so bunt wird es nicht werden. Der wichtigste Architekturtext ist nämlich der Vertrag, und daran wird sich soschnell nichts ändern. Der Vertrag ist die einzige Notation, die das Schicksal des Projekts mit dem Schicksal des Architekten verklammert. Daraus erwächst eine Autorität und Tatkraft, die keine andere Notation überbieten kann. Mit diesem Zwischenstand auf der Suche nach dem Zeichen der Zeit werden nicht viele Architekten glücklich werden. Es sind auch noch nicht alle Alternativen evaluiert. Aber dennoch deutet sich bereits eine Tendenz an – nämlich die Überfülle. Es gibt viele Notationen – zu viele? Permanent werden neue utopische Kapitel eröffnet und die wollen ausformuliert werden. Dem kritischen Gehalt dieser utopischen Kapitel wurde vorgeworfen, nicht genug Verbreitung zu erzielen, um relevant zu sein. Diesen Vorwurf muss man präzisieren. Die Ambition zur Verbreitung gibt es sehr wohl, aber sie scheitert nicht zuletzt an der falschen Adressierung. Die meisten Notationen sind nämlich nach innen gerichtet. Die Architekturbranche erstickt sich selbst mit der Überfülle an leichten Zeichen, sie wuchern über Tische, Regale, Ausstellungswände, Bildschirme, Terminkalender. Kein Architekt kann ernsthaft auch nur einen Bruchteil dessen verarbeiten, was ihm Kollegen, Konsulenten, Fachpresse täglich an Publikationen, Vorträgen, Webpages, Foldern, Flyern, Info-E-Mails aufdrängen. Letztlich notieren und publizieren alle an allen vorbei. Eine Überforderung, die destruktiver wirkt, als man gemeinhin vermutet. Die Architekturbranche erfüllt exemplarisch Terry Eagletons Befürchtung einer utopischen Praxis, die in Selbstblockade mündet: „Der Textkult würde so die zweifache Funktion jeder Utopie erfüllen: Einerseits liefert sie uns das schwache Abbild einer Freiheit, die sonst vielleicht nicht als gedankliches Leitbild präsent wäre, wobei sie jedoch gleichzeitig einige der Energien bindet, die wir möglicherweise in ihre Realisierung investiert hätten.“66 Man muss hier noch einmal daran erinnern, worum es auf der Suche nach der neuen Notation eigentlich geht. Die Suche folgt immer noch Tschumis Argument, wonach eine neue Notation das Erkennungsmerkmal einer neuen Architektur wäre. Aber wie bewertet man dann einen Zustand, in dem zu viele neue Notationen um Aufmerksamkeit ringen? Das würde ja zwangsläufig bedeuten, dass es gleichermaßen ein Zuviel an Innovationsversuchen gibt, die hektisch um Aufmerksamkeit ringen. 66 Terry Eagleton. Die Illusionen der Postmoderne. J.B. Metzler. 1997. Seite 23

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So könnte man die Jetztzeit durchaus beschreiben. Es herrscht ein geschäftiges Innovationsbrodeln vor, ein alltäglicher Innovationseklektizismus, der im permanenten Gedränge keine Schwerpunkte bilden kann. Wie will man aber ohne Innovationsschwerpunkte Aufmerksamkeit generieren? Die methodisch radikalste Reaktion auf diese Überfülle ist folglich die Umkehr der Abstraktionsrichtung – so wie Vilém Flusser sie vorschlägt: „Die Absicht jeder Abstraktion ist, die konkrete Umwelt aus einem Abstand heraus in den Griff zu bekommen. Nie war dies notwendiger als gegenwärtig. Die Umwelt, von der wir Abstand zu nehmen haben, ist die nebelhafte Welt der uns programmierenden Informationen. Sie sind das Konkrete, von dem wir abstrahieren müssen.“67 Für Architektur heißt diese Umkehrung der Abstraktionsrichtung: Der Architekt setzt sich nicht mehr via Notation von der schwerfälligen Realität ab, sondern die Flucht in die Realität, weg von den erstickenden Notationsroutinen, ist die neue Befreiungsbewegung.68 Unmittelbar vollzogen, ist das tatsächlich befreiend. Deswegen gibt es so viele Architekten, die wieder selbst Hand anlegen, die Bauen als direkten manuellen Auftrag begreifen. Selbst wenn sie dabei der Monstrosität der Tat begegnen – wie Andres Veiel anmerkt – und sich wieder all die Schwernisse aufladen, die sie durch den Rückzug auf das leichte Zeichen eigentlich hinter sich lassen wollten. Was soll man aber nun von einer Fluchtdestination halten, die man noch vor Kurzem unbedingt verlassen wollte? Klingt verrückt. Noch verrückter ist allerdings der nächste Schritt. Die Abstraktionsrichtung umzukehren, bedeutet letztlich, in eine unablässige Pendelbewegung zu fallen. Wohin sollte es denn sonst gehen? Zuerst wird mit dem leichten Zeichen etwas kühle Abstraktion praktiziert, wenn das zu langweilig wird, wechselt man sensationshungrig zurück zur Monstrosität der Tat, und wenn das wiederum zu überwältigend wird, dann flüchtet man doch wieder zum leichten Zeichen zurück etc. – Hauptsache, in regelmäßigen Abständen wird kategorische Distanz eingenommen und die Perspektive gewechselt. 67 Vilém Flusser. Medienkultur. Fischer Verlag. 1997. Seite 187 68 „Zu Beginn der siebziger Jahre hatte ich Lust, mich so weit wie möglich von der Wirklichkeit zu entfernen und eine annähernd irreale Welt zu schaffen. Zu dem Zeitpunkt herrschte übrigens in ganz Japan dieselbe Art des Vorgehens. Darin kam unsere kreative Haltung zum Ausdruck, denn die Wirklichkeit bestand ‚abgetrennt‘ von unserer Vorstellung von der Gesellschaft. Ausgehend von dieser ‚abgetrennten‘ Wirklichkeit habe ich versucht, eine reine ‚Oberflächen-Architektur‘ zu schaffen – wie das Bild auf einem Bildschirm –, um die materielle Gegenwart des Objekts zu verwischen.“ Toyo Ito. In: Marianne Brausch, Marc Emery. Hrsg. Fragen zur Architektur. 15 Architekten im Gespräch. Birkhäuser. 1995. Seite 57

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In Summe beschreibt diese Pendelbewegung zwischen Notation und Tatsächlichkeit einen abwechslungsreichen Architektenalltag. Das bedeutet, auch wenn es methodisch verrückt erscheint, so ist es dennoch das beste Unterhaltungsprogramm, das sich Architekten einrichten können. Und die wenigsten wird dabei schmerzen, dass die Suche nach einer neuen Notation der Zeit in dieser alltäglichen Pendelbewegung gefangen ist. Es gibt halt keine neue Abstraktionsrichtung – wird man dann achselzuckend akzeptieren –, folglich keine neuen Kriterien für Kritik, folglich keine neue Architektur. Ende der Geschichte. Gibt es wenigstens substanzielle Gegenstimmen zur Unausweichlichkeit der endlosen Pendelbewegung? Benjamin H. D. Buchloh entlockt Gerhard Richter eine resignative Bestätigung der Unausweichlichkeit: „Es ist der Widerspruch, sehr wohl zu wissen, dass Du mit den Mitteln, mit denen Du arbeitest, nicht das erreichen kannst, was Du anstrebst, aber nicht bereit zu sein, deine Mittel zu ändern“.69 Richter antwortet taktisch elegant: „Das ist doch kein Widerspruch, sondern ein ganz normaler Zustand. Wenn du willst, das ganz normale Elend. Und das ließe sich doch nicht mit der Wahl anderer Mittel und Methoden ändern.“70 Richter provoziert mit dieser resignativen Diagnose geradezu die Fundamentalopposition – noch dazu eine polemisch brutale: Wenn die Wahl anderer Mittel keine Änderung bringt, wie wäre es dann mit der Wahl anderer Akteure? Wer hat denn festgelegt, dass die neue Notation nur von den Architekten kommen darf? Wer hat denn festgelegt, dass nur die Architekten eine neue Abstraktionsrichtung erfinden und daraus neue Kriterien für Kritik ableiten dürfen? Wer Architektur nicht nur den Architekten zuschreibt, sondern gesamtgesellschaftlich betrachtet, wird also eine gänzlich andere Richtung auf der Suche nach der neuen Architekturnotation einschlagen. Noch nie gab es so viele Berichte, Fotografien, Videos von Architekturnutzern, die sich als Embedded Journalists ihrer jeweiligen Architekturumstände betätigen. Oft wird nur das eigene Haus, die eigene Wohnung, das eigene Zimmer in Szene gesetzt und doch wird damit in Summe ein neues Kapitel in der Geschichte der Architekturnotation eröffnet: die Exhibition. 69 Benjamin H. D. Buchloh. „Interview mit Benjamin H. D. Buchloh 1986“. In: Gerhard Richter. Text 1961 bis 2007. Schriften, Interviews, Briefe. Verlag der Buchhandlung Walther König. 2008. Seite 183 70 Gerhard Richter. Ebd. Seite 183

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Dieses Thema ist bei der Übernahme des Öffentlichen durch das Private schon festgestellt worden. Die Exhibition findet aber evidenterweise nicht nur real im Stadtraum, sondern auch massenmedial statt. Direkt oder indirekt werden die neuen digitalen Präsentationsplattformen zum Show Window der eigenen Architekturlage umfunktioniert. Die ersten, die das Unterhaltungspotenzial dieser Form der Architekturexhibition erkannt haben, waren die Boulevardmedien. Irgendwann ist die Homestory zur Pflicht jedes Publikumslieblings geworden. Edelexhibition der Edelarchitektur. Heute erlebt man die millionenfache Gegen-Exhibition der No-Names aus ihren No-Name-Architekturen als kollektives Unterhaltungsspiel. Ein Massenphänomen, nur vergleichbar mit der Flut an Amateurpornos, die irgendwann die professionelle Pornobranche mit Masse und Schamlosigkeit herausgefordert haben. Spätestens nach diesem Vergleich stellt sich die Qualitätsfrage: Will man ernsthaft die millionenfache Nutzerexhibition als neue Architekturnotation der Zeit auszeichnen? Die vielen Bilder und Videos aus den schrecklich dekorierten No-Name-Architekturen sind zwar für Neueinsteiger unterhaltsam, folgen aber dennoch einer schnellen Ermüdungskurve. So viele sehenswerte Notationen sind aus den privaten Höhlen bislang nicht ans Licht gekommen. Man bestätigt sich eher millionenfach in seiner robusten Gewöhnlichkeit. Ist das die neue Abstraktionsrichtung der Architektur, aus der die neuen Kriterien für Kritik destilliert werden? Wird das in Summe die Architektur verändern? Ja, das wird die Architektur verändern, denn die Erfindung des Neuen bedeutet immer auch die gleichzeitige Umwertung des Alten. So auch hier. Die neue Architekturexhibition der vielen Nutzer ist gleichzeitig eine Anklage an die klassische Architekturpublikation, die ohne Nutzer auskommt. Zwar ist immer vom Nutzer die Rede, aber nur indirekt, stellvertretend aus dem Mund des Architekten. Die direkt Betroffenen hingegen kommen kaum ins Bild, geschweige denn zu Wort. Publiziert wird Architektur meist vor der tatsächlichen Inanspruchnahme. Was sich dann nach dem Abzug der Fotografen und Eröffnungsredner in den Räumen wirklich abspielt, ist weitgehend unbekannt. Wenn dann nach Jahren des Betriebs der Glanz des Neuen endgültig der Patina der alltäglichen Nutzung gewichen ist, erscheint es geradezu unhöflich, die abgewohnte Architektur noch einmal ins Bild zu setzen. Das gilt nicht nur für Wohnungen, sondern auch für viele gewerbliche Bauten, Bürobauten und öffentliche Gebäude. 440

Diese umfassende mediale Verdrängung von Lebensszenen in die Unsichtbarkeit hat man in der Architekturdisziplin noch gar nicht bemerkt, weil man bislang der Meinung war, dass Architekturarbeit ohnehin vor versammelter Öffentlichkeit passiert. Aber das Gegenteil ist die statistische Wahrheit. Architektur ist ein gigantisches Unternehmen zur Herstellung von Unsichtbarkeit. Architektur versteckt Menschen und menschliche Lebenswirklichkeiten so umfangreich und konsequent, dass man bereits von einem anthropologischen Totalumzug sprechen muss. Der Großteil der Menschheit ist in ein uneinsehbares, rektanguläres Höhlensystem umgezogen. Selbst in Millionenstädten kann man stundenlang Menschenleere erleben, obwohl der Nächste nur eine Wandstärke weit entfernt ist. Entschuldigend muss man anfügen, dass es bislang hoffnungslos war, massenmedial in dieses private Höhlensystem vorzudringen. Selbst interessierte Architekten und Journalisten waren immer auf die freiwillige Kooperation der Höhlenbewohner angewiesen, und sind oft genug an deren Absagen gescheitert. Die Branche musste also darauf warten, bis sich die Höhlenbewohner freiwillig und massenhaft selbst exhibitionieren. Dieses jahrhundertelang praktizierte Verstecken der konkreten Lebensszenen hat jedenfalls zur Folge, dass der tatsächliche Wert der Architektur bislang nicht geprüft werden konnte. Rein quantitativ betrachtet, haben Architekten immer noch keine Ahnung, was ihre Architektur letztlich wert ist. Für die Kritik der Branche gilt das Gleiche. Bewertet werden in der Überzahl fertig absolvierte Planungsphasen, nicht aber fertig absolvierte Nutzungsphasen. Die Vertreter des Authentischen werden jetzt trotzdem aufheulen. Selbst wenn man die Qualitätsfrage großzügigerweise suspendiert, so stellt sich dennoch die Frage nach dem Wahrheitsgehalt der neuen Architekturnotation. Gibt es im gesamten Medienbetrieb etwas Falscheres und Dubioseres als die massenhafte Zurschaustellung von Hobbyexhibitionisten? Nichts an diesen Bildern ist vertrauenswürdig – ganz im Gegenteil. Diese Form der Zurschaustellungen basiert doch gerade auf billiger Verfälschung und dümmlicher Scharrade. Das stimmt als mehrheitliche Tendenz zweifellos, wäre aber im Übrigen nicht schlimmer als der durchschnittliche Wahrheitsgehalt von professionellen Architekturnotationen. Aber das ist gar nicht der entscheidende Punkt. Wesentlich ist wieder nur, welche Form der Innovation von der neuen Notation erzwungen wird – und das lässt sich präzise voraussagen: 441

Im Sturm der eigenen leichten Zeichen hat die Architekturbranche vergessen, dass der konkrete Gebrauch der Architektur durch die Nutzer die zuverlässigste Abstraktionsrichtung darstellt, und folglich die solideste Grundlage für Kriterien der Kritik bietet. Nichts ist unerbittlicher als die konkrete Handlung eines konkreten Nutzers in einer konkreten Situation, egal wie dubios oder verfälscht diese Handlung letztlich medial verwertet wird. Wichtig ist allein, dass die Architektur in Betrieb genommen wird und im Betrieb ihren Wert festlegt. Diese Realisation ist das zentrale Architekturereignis, das bislang zu wenig beachtet und begleitet worden ist. Positiv formuliert darf man die vielfache Exhibition der Nutzer also als Einladung verstehen, tatsächlich nachzuvollziehen, was vor Ort in der Architektur passiert. Ultimativer formuliert bedeutet das: Das bloße Wissen um die Exhibitionsbereitschaft der Architekturnutzer wird die Architekten zu erhöhter Nutzerempathie zwingen. Diese enge Feedback-Arbeit wird aber nicht nur die Architektur verändern, sondern auch den Beruf des Architekten. Architekturkritik, die der konkreten Nutzung vor Ort entspringt, muss mühsam in Echtzeit aufgesammelt werden. Nichts an dieser Arbeit ist multiplizierbar, nichts automatisierbar, nichts delegierbar. Jeder, der den kritischen Impuls der konkreten Nutzung erfahren will, muss selbst als Co-Nutzer antreten, muss miterleben, wie auch die Architektur in der Nutzung lebendig wird. Architektur wird dann zum Pflegeberuf. Wenig glamourös, wenig idyllisch, weil viel zu herausfordernd und anstrengend, dafür belastbar in Erkenntnis und Urteil. Für den Geschwindigkeitsanspruch der Moderne ist das dennoch eine Katastrophe, so lange auf eine Erkenntnis warten zu müssen. Schnelles Bauen, schnelles Entwerfen braucht also weiterhin das leichte Zeichen als flottes Korrektiv und Überholmanöver. Aber dort, wo die Geschwindigkeit gedrosselt werden kann, entsteht im Kontrast dazu eine neue Zeit- und Qualitätszone der Architektur.

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EXO-ARCHITEKTUR

Stiftungsereignisse Schlechter Geruch, seltsame Anatomie und dramatisch überlegene Technik – das sind die Merkmale des Fremden, müssen die Japaner gedacht haben. Ersteres war keine Einbildung, Seemänner im 17. Jahrhundert wuschen sich nicht extra für den Landgang. Bei der seltsamen Anatomie beginnt aber bereits die Einbildung. Die frühen japanischen Darstellungen der Holländer zeigen grob verzerrte Körper, ihre ganze Anatomie war verrückt, die Beine viel zu lang, dafür gedrungene Oberkörper. Tatsächlich entstand der verzerrte Eindruck nur durch die Pluderhosen der Holländer, die hoch an der Taille ansetzen, über dem Knöchel enden und seitlich weit ausladen, sprich pludern. Eigentlich eine leicht zu durchschauende Sache, aber offenbar nicht, wenn einem der gelassene Blick abhandengekommen ist. Dazu hatten die Japaner auch allen Grund, denn da waren diese riesigen Schiffe der Holländer, technische Konstruktionen, die man in Japan in dieser Ausführung und Potenz nicht kannte. Ein japanisches Schiff segelte zu dieser Zeit nicht über die Weltmeere, ein holländisches Schiff hingegen mit beeindruckender Selbstverständlichkeit. Dieser demonstrative Beweis technischer Überlegenheit löste ein derart hohes Stressniveau bei den Japanern aus, dass die Begegnung mit den Fremden gar nicht gelassen ablaufen konnte. Wenige Jahre vor den Holländern waren bereits die Portugiesen in Japan angelandet und schon die initiale Begegnung mit den fremden Weltumseglern hinterließ eine fundamentale erste Erkenntnis: Das Fremde erzeugt einen enormen invasiven Druck, vor allem wenn es als überlegenes 443

Fremdes antritt. Dann ist es die ultimative Herausforderung. Die Japaner mussten also sehr schnell den invasiven Druck des Fremden managen und die erste Managementmaßnahme war der Furor, ein wütender Gegendruck. Man verwies die Portugiesen des Landes, tötete ihre christlichen Missionare, verfolgte und tötete Konvertiten, so sie den neuen Glauben nicht aufgaben. Doch kann man die Begegnung mit dem Fremden so leicht ungeschehen machen? Die zweite Erkenntnis, die man in Japan verarbeiten musste, wird wohl noch fundamentaler gewesen sein als die erste: Die Begegnung mit dem Fremden ist irreversibel. Man wird das Fremde nicht wieder los, nicht einmal mit Gewalt. Das Fremde ist auch nach dem Rauswurf noch anziehend und faszinierend. Man kann immer noch fantastische Erwartungen hegen und ganz reale Vorteile erzielen. Der invasive Druck des Fremden besteht also nicht nur in der Aufdringlichkeit des Fremden, sondern mindestens zur Hälfte in der eigenen Lust an der Begegnung mit dem Fremden. Dieses Eingeständnis hat direkte Auswirkungen auf die Choreografie der Begegnung. Die erste Managementmaßnahme, der Furor, war nicht in der Lage, die wechselseitigen Anziehungen zu organisieren. Daher folgte ein völlig anderer Managementversuch – und der war Architektur. Ab hier wird die Geschichte der Begegnung mit dem Fremden zum generellen Lehrstück für Architekten. Man lernt, wie die Ausarbeitung eines raumorganisatorischen Gastrechts Zivilisiertheit erzeugt und wie die Architektur dabei als höchst konstruktives Werkzeug eingesetzt wird. Beschränken, lenken, konsolidieren, dosiert riskieren – heißen die Anforderungen an die Architektur. Eruptive Aggression soll in eine vermittelnde Struktur übersetzt werden, aus affektiver Energie soll kontrollierte Energie werden, aus gewaltsamer Begegnung soll gebaute Begegnung werden. Die konkrete Gestalt dieser konstruktiven Architektur war eine fächerförmige Insel vor Nagasaki, im Jahr 1636 fertig aufgeschüttet, circa 70 × 180 Meter groß und mit dem Festland nur über eine bewachte Brücke verbunden. Dejima hieß die Insel, dorthin wurde das Fremde verbannt und gleichzeitig eingeladen. Dejima war somit Gefängnis, soziale Quarantänestation und gastlicher Begegnungsort mit dem Fremden zugleich. Zuerst für einen befriedeten Umgang mit den Portugiesen errichtet, übernahmen schon bald die Holländer mit der Dutch East India Company die Insel und nutzten sie 200 Jahre lang, um präzise geregelten Kontakt mit Japan zu betreiben. Die Regeln waren tatsächlich präzise und strikt. Die Holländer durften die Insel nur mit Sondererlaubnis verlassen; 444

sie mussten ein Aufenthaltsgeld zahlen; die ankommenden Schiffe wurden vor dem Entladen von den Japanern durchsucht und die Geschütze, die Munition, das Schießpulver und das Steuerruder für die Dauer des Aufenthalts konfisziert. Das bedeutet, ein Teil der überlegenen Technik wurde temporär stillgelegt. Vollkommen stillgelegt wurde das Missionieren. Im Gegensatz zu den Portugiesen verzichteten die Holländer darauf. Kein großer Verzicht, denn mit jedem Schiff, das ankam, stellten die Holländer eine noch viel größere Glaubensfrage: Wer glaubt an die Unausweichlichkeit des technischen Fortschritts und wer glaubt, dem technischen Fortschritt widerstehen zu können? Diese Frage wurde auf Dejima 200 Jahre lang verhandelt und bestätigt den Erfolg der Inselarchitektur. Wobei der halbe Erfolg dieser Architektur auf Eigenschaften beruht, die vom heutigen Architekturverständnis nicht gern gelobt werden. Die Inselarchitektur ersetzt ja nicht nur die Gewalt, sie ersetzt gleichermaßen das Vertrauen. Etwas ist angekommen, das sich jenseits des sozialen Vertrauenshorizonts befindet, und in diesem Jenseits wird es gehalten, Architektur als Abstandshalter. Das klingt unfreundlich, Architektur will heute zuallererst Vermittler sein. Aber gerade das alltägliche Agieren zwischen den idealen Kategorien ist die hohe Kunst. Pure Anziehung ist einfach, pure Abstoßung ebenfalls, aber Halten auf Distanz ist schwierig. Die Anziehung und die Abstoßung müssen gegeneinander ausbalanciert werden. Anlanden ja, aber nur dosiert; ablehnen ja, aber nicht vertreiben; abtauschen ja, aber nur gefiltert. Anstrengend ist diese permanente Balanceübung, weil nie eine stabile Lage erreicht wird, alles muss in Dauerbewegung justiert werden. Höchste Aufmerksamkeit ist gefordert, weil jede Unterlassung, jede Fehleinschätzung die gesamte Konstellation ins Kippen bringt. Der Langzeiteffekt dieses nervösen Alltagsbetriebs wirkt dennoch paradox. Durch die permanente gegenseitige Beobachtung und Reaktion ist das Halten über Distanz letztlich verbindender als intendiert. Das Halten über Distanz wird zur regelrechten Beziehungsarbeit, das die ehemaligen Gegner synchronisiert und höchst intim aufeinander ausrichtet.1 1 „Erst wenn Grenzen zu Kontaktflächen werden, wird Fremdheit zu bedeutsamer Erfahrung. So lässt sich festhalten, dass nur dann, wenn wir uns näher gekommen sind, die Fremdheit des anderen überhaupt erst in Erscheinung tritt. Fremdheit ist daher keine Eigenschaft von Dingen oder Personen, sondern ein Beziehungsmodus, in dem wir externen Phänomenen begegnen […].“ Ortfried Schäffter. „Modi des Fremderlebens“. In: Ortfried Schäffter. Hrsg. Das Fremde. Erfahrungsmöglichkeiten zwischen Faszination und Bedrohung. Westdeutscher Verlag. 1991. Seite 12

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Man kann sogar von Hingabe reden, denn bei dieser Beziehungsarbeit ist nur erfolgreich, wer sich das Gegenüber emphatisch aneignet und dessen Aktionen uneitel antizipiert. In diesem Modus intimer Auseinandersetzung pflegen Japaner und Holländer auf Dejima einen über 200 Jahre andauernden Distanztanz, der erst endet, als die verbliebenen Differenzen überfallartig eingeebnet werden. 1853 laufen die Schwarzen Schiffe unter dem Kommando von Matthew C. Perry in die Bucht von Tokyo ein und erzwingen die Öffnung aller japanischen Häfen für den Handel mit den USA. Japan ergibt sich dem Druck und durchläuft eine rasante Phase der Verwestlichung. Dejima als subtile Vermittlungsarchitektur wird dabei nicht mehr gebraucht. So verschwindet das Fremde letztlich immer: durch Absorption im neuen Normalbetrieb. Architektonisch bedeutet das ebenfalls ein Verschwinden. Sobald das Fremde nicht mehr fremd ist, braucht es keine Distanzarchitektur und keine Insel mehr. Tatsächlich ist Dejima längst verlandet und in das Stadtgebiet von Nagasaki eingewachsen. Als Exilterritorium ist Dejima ebenfalls vergangen. Nur wer die Geschichte der Insel kennt, wird ihre Außerordentlichkeit heute noch nachempfinden können. Mittlerweile gibt es Ambitionen, den verlorenen Inselcharakter von Dejima wieder deutlicher zu markieren, der ehemalige Inselbereich wurde bereits als historische Erinnerungs- und Erlebnisstätte rekonstruiert. Auch das ist typisch für das Fremde: Nach dem Vergehen der Brisanz folgt oft ein zweites Leben als Folklore. Die Architektur vollzieht die gleiche Wandlung, büßt ebenfalls ihre Brisanz ein und taucht als folkloristische Staffage wieder auf. Dieser leichtgewichtige Ist-Zustand der Dejima-Episode soll aber nicht vergessen lassen, dass Nagasaki noch einmal als Begegnungsort mit dem Fremden Weltgeschichte geschrieben hat. Es ist eine mehr als bittere Ironie, dass ausgerechnet Nagasaki am 9. August 1945 einen Atombombenangriff hinnehmen musste. Im Gegensatz zu Hiroshima war Nagasaki kein primäres Ziel, sondern der Wetterzufall am Tag des Abwurfs hat die Stadt zum Ziel gemacht. Die Koinzidenz ist dennoch an Dramatik nicht zu überbieten. Ausgerechnet jene Stadt, die den Umgang mit dem Fremden stellvertretend für ganz Japan über so lange Zeit gekonnt balanciert hat, wird wieder stellvertretend für ganz Japan von der härtesten Form der Fremdkonfrontation getroffen. Was man daraus lernt? Die peinlichste Lektion überhaupt: Jahrhundertelang den Umgang mit dem Fremden zu lernen und zu üben, ist keine verlässliche Sicherheit, um nicht doch wieder aufs Fatalste vom Fremden überrascht zu werden. 446

Vergrößert man nun die Betrachtung, stellt sich die Frage, inwieweit Dejima heute noch für den Umgang mit dem Fremden gleichnishaft sein kann – nicht nur im akut Szenischen, sondern vor allem in der Deutlichkeit der Akteure und Kategorien. Oder muss eine zeitgenössische Gesellschaft nicht längst einen signifikant anderen Umgang mit dem Fremden etabliert haben? Sucht man nach einer neuen Referenzstadt, um diese Frage zu beantworten, lohnt der Blick nach Los Angeles. Dort ist das Fremde in moderner und postmoderner Aufstellung zugleich zu besichtigen, und schon der Einstieg in die Betrachtung beginnt mit einer fundamentalen Umkehrung: Alle in Los Angeles tragen den Mythos des Angekommenseins in sich. Egal mit wem man spricht, egal welche Stadtteilgeschichte man rekapituliert, immer wieder wird die Schlüsselszene hervorgehoben, in der man als Fremder in Los Angeles ankam. Am Rande von Downtown befindet sich das El Pueblo de Los Angeles Historical Monument, das als historischer Stadtmittelpunkt angesehen und aufmerksam betreut wird. Nur diesem kleinen Ort in Los Angeles wird zugestanden, bereits hier gewesen zu sein. In Dieter Lenzens Verständnis ist das der einzig sesshafte Bereich der Stadt.2 Der Rest besteht aus angeklebten Inseln des Fremden, teils noch in Unruhe, teils bereits verlandet. Im Vergleich zu Dejima sind hier die Positionen also auf seltsame Weise vertauscht. Eine ganze Stadt voller Ankömmlinge und weit und breit keine Einheimischen, die man beeindrucken könnte. Praktisch ist das allerdings kein großes Dilemma, denn es muss nur eine neue Relation eingerichtet werden. Es geht nicht mehr darum, wie das Fremde mit dem Einheimischen umgeht, sondern wie die vielen fremden Personen, Gruppen, Stadtteile jeweils miteinander umgehen. Aus einer einfachen Gegenüberstellung wird ein mannigfaltiges Relationsnetz. Lenzen meint noch: „der Fremde ist ein Problem der Sesshaften, die nicht wissen, ob jener Fremde in guter oder böser Absicht kommt.“3 Diese Beobachtung haben heute vor allem urbane Gesellschaften als Lektion kritisch verinnerlicht. Niemand will mehr der Sesshafte sein, man ist tendenziell lieber in Bewegung, denn nur aus der Bewegung sind alle Optionen offen. Folglich lösen sich auch die eindeutigen Rollenzuschreibungen auf. Man kann wahlweise selbst als Fremder 2 „Der Fremde ist also der Reisende, der in die Nähe der Ansässigen gerät und aus ihrer Sicht ein Fremder ist.“ Dieter Lenzen. „Multikulturalität als Monokultur“. In: Ortfried Schäffter. Ebd. Seite 148 3 Dieter Lenzen. Ebd. Seite 148

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auftreten und damit Aufmerksamkeit erregen, oder man kann gezielt auf ein interessantes Fremdes zugehen und die Überraschungsintensität selbst justieren. „Irgendwie riecht das ganz toll hier, nicht? […] Wenn ich gewusst hätte, dass Kunst so gut riecht, hätte ich viel früher ein Museum besucht“.4 Besser kann man den zeitgenössischen Alltagsbetrieb mit der euphorisierenden Wirkung des Fremden nicht beschreiben. Die Japaner haben den schlechten Geruch des Fremden noch als Zeugnis einer existenziellen Bedrohung gedeutet. Doch mittlerweile riecht das Fremde ganz toll und erzeugt wie bei Melanie Griffith im Film Blondinen küsst man nicht eine aufgeregte Anstiftung. Damit ist gleichzeitig eingestanden, dass es bei der Begegnung mit dem Fremden nicht mehr um Leben und Tod geht, sondern das fluide Herumreichen der Fremdrolle beschreibt ein intellektuelles Gesellschaftsspiel. Man mag die Filmfigur, die vom bloßen Geruch der großen Kunst angestiftet wird, für naiv halten – die filmische Szene legt das jedenfalls nahe –, aber sie zeigt exemplarisch, warum das Gesellschaftsspiel mit dem Fremden so populär ist: Es geht um das Stiftungsereignis – wie Bernhard Waldenfels es nennt. Deswegen geht man ins Museum, deswegen begibt man sich auf Reisen, deswegen sucht man das Fremde auf: „Solche Stiftungsereignisse, in denen Neues in die Welt tritt, und dies nie ohne eine gewisse Gewaltsamkeit, die sich bis ins Traumatische steigern kann, findet sich in allen Bereichen der Kultur und in allen Phasen des Lebens. Die Fremderfahrung, die sich in solchen Ereignissen bekundet, lässt sich weder durch geeignete Maßnahmen herbeiführen, noch wie ein sicheres Erbe aufbewahren. Sie lässt sich weder durch Begründung sichern, noch argumentativ erzwingen“.5 Waldenfels betont in diesem Zitat die Gewaltsamkeit, die so ein Stiftungsereignis mit sich bringt. Hat das intellektuelle Gesellschaftsspiel mit der inspirierenden Wirkung des Fremden also doch gefährliche Abgründe, die man fürchten müsste? Bei Dejima war die Gewaltsamkeit noch direkt in Erinnerung und auch weiterhin Option, zumindest im Fall des Versagens der Inselarchitektur; bei der Atombombe muss man die Gewaltsamkeit nicht näher erklären. Für den Kulturbetrieb definiert Andres Veiel, worin die gewaltsame Wirkung der Begegnung mit dem Fremden maximal bestehen kann: „Wir distanzieren uns ganz bewusst von jeder Form von unmittelbarer Gewaltdarstellung, weil erst die Distanz 4 Melanie Griffith. In: Luis Mandoki. Blondinen küsst man nicht. Touchstone. 1993 5 Bernhard Waldenfels. Verfremdung der Moderne. Phänomenologische Grenzgänge. Wallstein Verlag. 2001. Seite 130

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zum brutalen Geschehen die Reflexion möglich macht. Brecht hat einen ganz entscheidenden Kerngedanken formuliert, wenn er sich gegen die Überwältigungsstrategie wendet, denn in dem Moment setzt das Denken aus. Mein Gehirn wird durch die Unmittelbarkeit der sinnlichen Erfahrung zugekleistert. Das ist das großartige an Die Maßnahme – bei aller Kritik, die ich sonst an dem Stück habe –, es verweigert sich dieser Unmittelbarkeit. Das ist heutzutage sogar noch aktueller, weil wir in allen Medien alles live erleben können, eine permanente Hysterisierung durch das sogenannte Authentische stattfindet, was vom Erkenntniswert mehr oder weniger gegen Null tendiert.“6 Intellektuelle Wehrlosigkeit steht also zu befürchten, wenn man dem Fremden unmittelbar gegenübertritt. Im Moment der Begegnung findet keine Reflexion statt, keine Beobachtung zweiter Ordnung, keine Synchronisation, kein Verstehen, noch nicht einmal Kommunikation, man ist schlichtweg überwältigt. Salopp formuliert ist die akute intellektuelle Wehrlosigkeit der Preis für die erquickende Wirkung des Stiftungsereignisses. Ein zu hoher Preis? Ein Preis jedenfalls, der das zeitgenössische Gesellschaftsspiel mit dem Fremden nicht mehr ganz so gewinnbringend erscheinen lässt. Darf man dann in der Moderne überhaupt noch Stiftungsereignisse zulassen? Ja, denn ohne Stiftungsereignisse gibt es kein Denken. Im Moment des Stiftungsereignisses setzt zwar das Denken aus – wie Veiel meint –, aber danach springt das Denken umso dringender an. Das klingt paradox, aber wie stimmig dieser paradoxe Umweg ist, erkennt man, wenn man versucht, die Reihenfolge umzudrehen: Gibt es Denken als Erstschlag? Kann man kluge Gedanken aus dem Nichts schöpfen, intellektuell vorformatieren und erst danach in die Welt hinaus senden, auf dass sie sich dort mit bestätigenden Lebensszenen aufladen? Nicht in freier Wildbahn, wird Waldenfels einwerfen. Es braucht etwas, „das jedem Reaktionsversuch, jeder Lernbemühung und jedem Verarbeitungsprozess vorauseilt als ein nicht einzuholender Anfang, als eine Initiation.“7 Das Stiftungsereignis kommt dem Denken also immer zuvor, und das Denken ist immer hoffnungslos hinterher. Denken ist Aufräumarbeit danach. Sollte es nicht sein, man könnte/dürfte/sollte vorausdenken, aber wer tut das schon. Als Pate für die unweigerliche Nachträglichkeit des Denkens dient immer der frühkindliche Spracherwerb. Man kann einem 6 Andres Veiel. In: Frank-M. Raddatz. Brecht frisst Brecht. Neues Episches Theater im 21. Jahrhundert. Henschel Verlag. 2007. Seite 243 7 Bernhard Waldenfels. Verfremdung der Moderne. Phänomenologische Grenzgänge. Wallstein Verlag. 2001. Seite 52

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Kleinkind den Sinn eines Wortes nicht erklären, weil es die Worte der Erklärung genauso wenig versteht. Man kann nur wiederholte sprachliche Anstöße anbieten, in der Hoffnung, dass das Kind selbst zu diesem Anstoß ein Eigenverständnis entwickelt, das dem Sinn des Wortes entspricht. Das Lernen durch die Begegnung mit dem Fremden funktioniert genauso. Man muss die Anstöße hinnehmen und dann den eigenen Verständnisapparat einsetzen, um Muster zu erkennen und daraus Bedeutungen abzuleiten. Das ist letztlich auch der bleibende Gewinn, den es in der Auseinandersetzung mit dem Fremden zu erzielen gibt. Die Begegnung mit dem Fremden überfordert zwar kurzfristig, aber langfristig wird man umso klüger. Der Vergleich mit dem Spracherwerb zeigt außerdem, dass Klügerwerden durch die nachträgliche Verarbeitung von Stiftungsereignissen keine Option, sondern Pflicht ist. Noch einmal verschärft gilt das für die Teilnahme an der Kultur der Überbietung. Gilles Deleuze und Félix Guattari beschreiben, wie unausweichlich der anstiftende Druck ist, die Potenz der nomadischen Wissenschaften des Fremden den Königswissenschaften der Sesshaften einzuverleiben: „Es ist, als ob der ‚Gelehrte‘ der nomadischen Wissenschaft ins Kreuzfeuer geraten wäre: zwischen die Kriegsmaschine, die ihn nährt und inspiriert, und den Staat, der ihn zum geordneten Denken zwingt. Die Figur des Ingenieurs (vor allem im militärischen Bereich) mit all ihrer Ambivalenz ist ein Beispiel für diese Situation. Am wichtigsten sind dabei vielleicht die Auseinandersetzungen an der Grenze, bei denen die nomadische Wissenschaft einen Druck auf die staatliche Wissenschaft ausübt und umgekehrt die staatliche Wissenschaft sich Ergebnisse der nomadischen Wissenschaft aneignet und sie umwandelt. […] der Staat eignet sich diese Dimension der Kriegsmaschine nicht an, ohne sie zivilen und metrischen Regeln zu unterwerfen, die die nomadische Wissenschaft stark einschränken, kontrollieren, lokalisieren und verhindern, dass sie Auswirkungen auf den gesamten gesellschaftlichen Bereich hat.“8 Hinzufügen muss man, dass die Dosierung der Einträge der nomadischen Wissenschaften eine alltägliche, aber auch eine geschichtliche Stellgröße hat. Es gibt Zeiträume, in denen der Eintrag von Fremdanregungen an innerer Selbstzufriedenheit scheitert. Die Disziplin hält sich bereits für ausreichend klug und will nicht herausgefordert werden. Es gibt aber auch das Gegenteil: Zeiten, in denen der Eintrag von Fremdem 8 Gilles Deleuze, Félix Guattari. Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie. Merve Verlag. 1992. Seite 497, 498

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Konjunktur hat, sogar rettend erscheint, weil die Selbstgewissheit abhandengekommen ist. In der Architektur ist die Postmoderne die letzte Hochzeit der Fremdeintragungen. Die Architektur will und muss sich ändern. Die Königsdisziplin Moderne gilt als gescheitert und es gibt keinen Grund mehr, die Grenzen der Disziplin geschlossen zu halten. Die Postmoderne macht also die Kategoriegrenzen auf und flutet die Architekturdisziplin mit allen nur verfügbaren Fremdanstiftungen. Ziel ist nicht nur eine punktuell inspirierende Fremdbegegnung, sondern die Neudefinition des gesamten Daseinsauftrags der Architektur. Dazu wird sogar die Zentralposition, von der aus die Disziplin beobachtet und bewertet wird, verfremdet. Der kritische Blick des Außenstehenden ist der neue Souverän. Einerseits ganz pragmatisch, weil man sich der unbefangenen Kontrolle durch Nicht-Architekten anvertrauen will, andererseits ist die Postmoderne von der romantischen Idee des Gerettetwerdens berauscht, und Gerettetwerden bedeutet gleichzeitig, den Retter als übermächtig auszuzeichnen.9 Darin liegt letztlich der zentrale Vorwurf, den man mittlerweile der Postmoderne macht, dass sie an ein Wunder glaubt und dass dieses Wunder unbedingt von außen kommen soll. In der Spiegelung ergibt das wiederum den zentralen Vorwurf an die Moderne, die an nichts glaubt, außer an sich selbst. Größer als diese gegenseitigen methodischen Vorwürfe ist allerdings die hoffnungsvolle Frage: Hat die Postmoderne die Architektur letztlich gerettet, durch Dauerkonfrontation mit dem Fremden? Nach Jahrzehnten voller Stiftungsereignisse durch unzählige Fremdanleihen müsste die Disziplin mittlerweile enorme Lernfortschritte erzielt haben. Ist die allerhöchste Weisheit bereits erreicht? Diese ironische Zuspitzung ist nicht falsch. Die Postmoderne war zu Beginn turbulent und plakativ, doch schon bald immer versonnener bis hin zur Überintellektualisierung der Architektur. Allerhöchste Weisheit wird man trotzdem nicht bescheinigen wollen, weil die Dauerkonfrontation mit dem Fremden bald an Schärfe eingebüßt hat. Die Begegnungen mit dem Fremden wurden immer routinierter, die Stiftungsereignisse immer absehbarer, das Fremde selbst zu einem allzu bekannten Fremden. 9 „Andererseits erscheint das Fremde in Gestalt der universellen Außenwelt als die totale Dimension von überwältigend bedrohlicher Übermacht.“ Ortfried Schäffter. „Modi des Fremderlebens“. In: Ortfried Schäffter. Hrsg. Das Fremde. Erfahrungsmöglichkeiten zwischen Faszination und Bedrohung. Westdeutscher Verlag. 1991. Seite 17

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Ortfried Schäffter bezeichnet das als standardisierte Fremdrollen, und nennt als Beispiel den Eroberer oder den Händler.10 Für die Architektur kann man die Liste ergänzen mit dem Visiting Critic, den interdisziplinären Workshops, den partizipativen Projekten, dem Flirten mit der Popkultur, den unzähligen Anleihen aus Kunst, Philosophie, Soziologie, den ebenso unzähligen Exkursionen und Fotosafaris durch sämtliche Städte und Kulturlandschaften dieser Welt. Es ist zwar immer noch verlockend, den Szenerien und Anekdoten dieser freundlichsten und verträglichsten Dimension des Fremden nachzuspüren. Trotzdem sollte man die aufkommende Inflation der Anstiftungswirkung nicht unterschätzen, denn sie deutet auf eine gefährliche Einseitigkeit hin: Das postmoderne Fremde soll die Architektur lediglich anregen, anti-modern zu sein – sonst nichts. Die Postmoderne öffnet die Kategoriegrenzen nur, um die Architektur vernunftkritisch, rationalisierungskritisch, funktionalismuskritisch, massenproduktionskritisch, technikkritisch, industriekritisch, hierarchiekritisch etc. zu machen. Doch das ist alles bereits in das zeitgenössische Verständnis von Architektur eingepreist und bestätigt die Postmoderne lediglich darin, postmodern zu sein. Das postmoderne Anything Goes war immer nur als Einladung an den bereits bekannten anti-modernen Kuriositätengarten formuliert, nie darüber hinaus. Der Soziologe Wolfgang Streeck würde das pathologisches Lernen nennen, weil es nur auf Selbstbestätigung gerichtet ist.11 Die Gegenprobe präzisiert den Vorwurf. Keinesfalls wollte das postmoderne Anything Goes Fremdanregungen zulassen, die zu einer Wiederaufnahme oder gar Übersteigerung der Moderne anstiften könnten, zu einer noch radikaleren Funktionalisierung, Rationalisierung, Technisierung der Architektur. Und damit kommt man zur offenen Flanke des aktuellen Architekturverständnisses. Vor allem die akademische Postmoderne hat sich so sehr auf anti-moderne Impulse ausgerichtet, dass sie für die immer noch höchst aktive radikale Moderne keine Wahrnehmung hat. Doch ausgerechnet die radikale Moderne ist heute das herausfordernde Fremde, dem sich die Disziplin insgesamt stellen muss. Nicht zuletzt weil die radikale 10 Ortfried Schäffter. Ebd. Seite 13 11 „Dazu gibt es die Freiheit der Rede und der Presse mitsamt dem von der Verfassung geschützten Recht, innerhalb weiter Grenzen auch über die Stränge zu schlagen. So, und nur so, werden gefährliche kollektive Sentimentalisierungsschleifen gebrochen und wird pathologisches, nur noch auf Selbstbestätigung gerichtetes Lernen überwunden.“ Wolfgang Streeck. In: Wolfgang Storz,Wolfgang Streeck. „Wieso Europa so nicht funktionieren kann“. https://oxiblog.de/interview-mit-wolfgangstreeck/. 28.05.2016

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Moderne eine eigene Exo-Architektur entwickelt hat, die dem akademischen Verständnis von Architektur vollkommen äußerlich ist – wie Deleuze und Guattari formulieren würden. Ein Un-Mögliches besonderer Art, für das man im akademischen Architekturbetrieb kein Bearbeitungs-, kein Verwendungs- und kein Verständnisrepertoire findet.12 Stattdessen wird die Exo-Architektur konsequent ausgeblendet: keine Besprechungen, keine Kritik, keine Exkursionen. Wer nur im akademischen Architekturmilieu navigiert, weiß nicht einmal etwas von dieser radikal-modernen Gegenwelt. Doch Wegsehen war noch nie eine gute Strategie im Umgang mit dem Fremden. Gerade weil die Exo-Architektur dem postmodernen Verständnis von Architektur als völlig unversöhnliches Fremdes gegenübersteht, muss man die Aufmerksamkeit umso fokussierter darauf richten. Allzu schwer sollte diese Exo-Architektur ja nicht zu finden sein. Wenn sie bislang nur durch aktives Wegsehen und Verleugnen im Dunkeln gehalten worden ist, dann müsste man sich nur umdrehen und seinen Augen trauen. Davon handelt die siebente Ambition.

Vierter Ort Ausgerechnet das kleinste Museum der Stadt bietet die beste Einführung in das zeitgenössische Fremde. The Center for Land Use Interpretation tut genau das, was der Name verspricht.13 In zahlreichen Recherchen wird informiert, wie jenseits des Stadtgebiets von Los Angeles, in den Weiten der Mojave-Wüste und darüber hinaus, die seltsamsten Gebilde und Anlagen aufgestellt sind. Orte besonderer Brisanz, viele geheim und gar nicht vollständig erfassbar. Kraftwerke, Fabriken, Mienen, militärische Anlagen, Gefängnisse, Deponien, Testgelände für Industrie und Technik, und noch viele andere Unternehmungen und Installationen. Die stärkste Angriffsarmee der Welt unterhält dort ihre Basen und Trainingsplätze zur weiteren Steigerung ihrer Potenz. Die gefährlichsten Verbrecher und traurigsten Biografien sitzen dort ihre Exiljahre im 12 „Fremdes, das als Außer-ordentliches den Möglichkeitsspielraum einer Ordnung überschreitet und das sich in der Unzugänglichkeit und Nichtzugehörigkeit bekundet, erweist sich als Un-mögliches besonderer Art.“ Bernhard Waldenfels. Verfremdung der Moderne. Phänomenologische Grenzgänge. Wallstein Verlag. 2001. Seite 73 13 http://www.clui.org. 22.04.2019

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Gefängnis ab. Die besten Techniker des Landes arbeiten dort an den ungeheuersten Prototypen, ohne sich für Gelingen oder Scheitern öffentlich rechtfertigen zu müssen. Die Industrie übersetzt dort fantastische Ideen in konkrete Zukunftstechnologien, die dann als neuestes Must-have über die Bevölkerung hereinfallen. Sogar Las Vegas muss als Insel des Fremden qualifiziert werden, die in Schutzdistanz zum zivilisatorischen Normalbetrieb aufgestellt ist. Paranoider Fluchtpunkt des ausgelagerten Fremden sind Anlagen wie Skunk Works und ähnliche Sperrgebiete, wo besonders feinsensorische Mitmenschen sogar Aliens vermuten. Mit der Vermutung von Aliens wird allerdings der größtmögliche Widerspruch zum moderat postmodernen Charakter des Fremden behauptet. Das Fremde, als ein bedrohliches Anderes, gibt es also immer noch, es hat nur seinen Gehalt und seine Gestalt geändert. Aliens sind es trotzdem keine, denn das bedrohliche Fremde ist heute kein Besucher aus der weiten Ferne wie in Dejima. Das bedrohliche Fremde sind heute die Exzesse der modernen Fortschrittlichkeit, die dem eigenen Kulturkreis entspringen. Diese Exzesse wachsen laufend aus dem Normalbetrieb heraus und erreichen irgendwann eine Intensität, die sie für den Normalbetrieb unerträglich machen. Dann werden sie aussortiert. Das gilt für Verbrecher genauso wie für Sondermüll oder Raketenfabriken. „Das Fremde ist nichts, was man bei günstigen Bedingungen vorfindet.“14 „Radikale Fremdheit beginnt nicht damit, dass ich Fremdem eigenmächtig entgegensehe und entgegentrete, sie beginnt vielmehr als Fremdheit in uns selbst.“15 „Das Fremde ist nun nicht länger eine Angelegenheit unterschiedlicher Welten, es ist das Produkt unterschiedlicher Weltansichten geworden.“16 Allgemein kartografiert bedeutet das: Alles, was sich bedrohlich verfremdet, wird aus dem Stadtgebiet von Los Angeles herausgenommen und in die Wüste verlagert. Man muss sich das wie einen permanenten diskreten Exodus vorstellen, denn wie in Dejima ist das präzise Distanzmanagement des Fremden eine Frage von Leben und Tod. Übrig bleibt ein normalisiertes Stadtgebiet und ein diffuser Auslagerungs- bzw. Belagerungsring des Abnormalen jenseits davon. 14 Martin Gross. „Ferne/Nähe“. In: Ortfried Schäffter. Hrsg. Das Fremde. Erfahrungsmöglichkeiten zwischen Faszination und Bedrohung. Westdeutscher Verlag. 1991. Seite 59 15 Bernhard Waldenfels. Verfremdung der Moderne. Phänomenologische Grenzgänge. Wallstein Verlag. 2001. Seite 55 16 Martin Gross. „Ferne/Nähe“. In: Ortfried Schäffter. Hrsg. Das Fremde. Erfahrungsmöglichkeiten zwischen Faszination und Bedrohung. Westdeutscher Verlag. 1991. Seite 61

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Systemtheoretisch ist diese Aufstellung robust und produktiv. Die Trennung schärft nicht nur die Gegensätze, die jeweiligen Identitäten können sich überhaupt erst durch die Trennung konstituieren: Nur eine Zivilisation, die den Krieg ablehnt und das Kriegshandwerk aus dem Alltag verbannt, kann ziviles Leben etablieren; nur eine Rechtsordnung, die Verbrechen sanktioniert und aus dem alltäglichen Umgang aussortiert, ist als Rechtsordnung gerechtfertigt; nur wer stadtplanerisch gegen den Überfall arbeitet, kann den Normalfall versprechen.17 Los Angeles tut also nichts anderes, als geordnete Verhältnisse herzustellen, begrifflich und territorial. Jeder kann sich entscheiden, ob er drinnen oder draußen leben will. Definitorisch ist damit dennoch ein Widerspruch Stadtgeografie geworden. Das Fremde nimmt in zwei völlig gegensätzlichen Erscheinungsformen Aufstellung: In der Mitte des postmodernen Normalbetriebs ist das Fremde ein intellektuelles Gesellschaftsspiel, und ringsherum ist das Fremde eine Frage von Leben und Tod. In der Mitte ist das Fremde eine anregende Inspiration, und ringsherum ist das Fremde eine furchterregende Bedrohung. In der Mitte ist das Fremde eine beliebige Rolle, die je nach Lust und Laune eingenommen wird, und ringsherum ist das Fremde ein Sperrgebiet. Auch architekturgeschichtlich ist die Aufstellung doppeldeutig. Das Stadtgebiet von Los Angeles pflegt einen postmodern mehrdeutigen Umgang mit dem Fremden, diese post moderne Zentralzone ist aber eingelegt in eine noch viel größere, eindeutig moderne Aufstellung, die ganz klar zwischen harmlos und gefährlich unterscheidet. Wer jetzt endgültig verwirrt ist, soll sich Los Angeles einfach als die längst überfällige Komplettierung der Charta von Athen vorstellen. Schon damals empfahl die Moderne eine prinzipiell konzentrische Stadtanlage mit klarer funktionaler Trennung: „Das Geschäftszentrum muss sich im Brennpunkt der Verkehrsstraßen befinden, die gleichzeitig die Verbindung vermitteln zu den Stadtteilen des Wohnens, der Industrie und des Handwerks, zur öffentlichen Verwaltung, zu einigen Hotels und zu den verschiedenen Bahnhöfen (Eisenbahn- und Omnibusbahnhöfe, Schiffs- und Flughäfen).“18 Doch die frühe Moderne integrierte nur Wohnen, Arbeiten und Freizeit als 17 „Axiom I: Die Kriegsmaschine ist dem Staatsapparat äußerlich.“ Gilles Deleuze, Félix Guattari. Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie. Merve Verlag. 1992. Seite 482 18 Thilo Hilpert. Hrsg. Le Corbusiers „Charta von Athen“. Texte und Dokumente. Kritische Neuausgabe. Vieweg Verlag. 1988. Seite 145

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grundsätzliche Lebenswelten in ihr Stadtmodell, alle drei Lebenswelten sind aufgeklärt und absehbar. Ein brisantes Fremdes kam im modernen Stadtmodell nicht vor. Wahrscheinlich dachte man, das sei überflüssig, denn das jenseitige, unerklärliche, bedrohlich Fremde war die Gegenwelt der Moderne, die durch die Ausbreitung der Moderne ohnehin verschwinden würde. Aus heutiger Sicht war dieses Ignorieren des bedrohlichen Fremden ein Irrtum, noch dazu ein überraschender, wenn man die Umstände der Entstehung der Charta von Athen berücksichtigt. 1933 veranstaltete die Architektenschaft unter Federführung von Le Corbusier den IV. Kongress der Congrès Internationaux d’Architecture Moderne an Bord des Schiffs Patris. Der Kongress wurde als Kreuzfahrt von Marseille nach Athen abgehalten und dabei das Thema „Die Funktionale Stadt“ erörtert. Schon damals hätte man bei jeder Hafeneinfahrt in einer der Zwischendestinationen, bei jedem Landgang über das Thema des Fremdseins nachdenken können. Aber spätestens als Le Corbusier 1943 die Charta von Athen im von der Wehrmacht besetzten Paris veröffentlichte, hätte man für das bedrohliche Fremde eine deutliche Benennung finden müssen. Tat man aber nicht. Mittlerweile ist diese Blindheit nicht mehr haltbar. Weder im historischen Rückblick noch in der zeitgenössischen Rundumschau. Es muss also für Orte, die dem Explizieren und Intensivieren des Fremden gewidmet sind, eine eigene Kategoriebezeichnung angelegt werden. Ganz im Sinne der Charta von Athen geht die Architektur immer noch von drei Ortkategorien aus. Der Erste Ort ist die Wohnung, der Zweite Ort ist die Arbeitsstätte und am Dritten Ort findet die Freizeit statt. In Weiterführung dieser Reihenfolge sollte man Orte des Fremden als Vierte Orte bezeichnen. Diese neue Ortkategorie erweitert dann auch das konzentrische Stadtmodell der Moderne um einen äußeren Satellitenring von Vierten Orten, der wie ihn Los Angeles das Fremde auf kontrollierter Distanz hält. Auf der Suche nach der Exo-Architektur ist damit eine klare Destination benannt. Wenn sich die radikale Moderne in der Wüste ihre Vierten Orte eingerichtet hat, dann muss genau dort eine spezifische Architektur am Werk sein, die das Fremde wie in Dejima einhaust, diszipliniert und organisiert. Und tatsächlich, bald hat man die Exo-Architektur im Blick: Zäune, Wälle, Stützmauern, Masten, Brücken, Gerüste, Kühltürme, Kräne, Abklingbecken, Maschinenhäuser, Hallen, Stahlgerippe ohne Feinschliff, Blechdrapagen ohne Choreografie, Beton ohne 456

Sichtbetonqualität, Farbe ohne Farbsinn, Größe ohne Rechtfertigung, Erscheinung ohne Überlegung. Das ist also die Exo-Architektur am Vierten Ort. Aber ist das, was man hier sieht, dem akademischen Architekturverständnis tatsächlich so fremd? War die Disziplin nicht schon einmal staunend vor der Industriearchitektur gestanden und hatte sich zur großen Umarmung entschlossen? Manifestartig setzt Le Corbusier vor fast 100 Jahren Bilder des Viaduc de Garabit, von Getreidesilos, Fabriken, einer Turbine und von Kohlekränen am Rhein als „Mahnungen an die Herren Architekten“19 auf den Lehrplan der frühen Moderne. Was ist aber der Unterschied zwischen der industrieinspirierten Architektur der frühen Moderne und der Exo-Architektur am Vierten Ort? Der Unterschied beginnt bereits in der Stunde Null der Übertragung der Anleihen aus der Industrie in das Architekturverständnis der Moderne. Systemtheoretisch aufmerksam pflegt die Moderne sofort eine präzise Auseinandersetzung an der Grenze – wie Gilles Deleuze und Félix Guattari formulieren würden –, die Le Corbusier stellvertretend für die gesamte frühe Moderne führt. Er huldigt ausführlich dem industriellen Bauen, beschwört aber in jedem Satz die damit erzielbare Ästhetik, Schönheit, Harmonie.20 Das war aber nie der Auftrag des industriellen Bauens. Von Ästhetik, Schönheit, Harmonie redet man nur, wenn man einem menschlichen Betrachter gefallen will, und nicht wenn man industriellen Erfordernissen folgen muss. Die frühe Moderne schätzte das industrielle Bauen also nur als Bauteilkatalog. Hinzu kamen noch ein paar methodische Anleihen: die Serie, die Präzision etc. Aber zu dem, was der innere Auftrag des zitierten industriellen Bauens war, fand man keinen Zugang, ganz im Gegenteil. Nachdem der Bauteilkatalog zusammengesammelt war, kehrte man schnell wieder zurück zum bereits bekannten Auftrag der Architektur. Gemeint ist die Empfindungssphäre des Menschen. Der Dienst am Menschen in all seinen Befindlichkeiten 19 Le Corbusier. Ausblick auf eine Architektur. Bauwelt Fundamente 2. Ullstein Verlag. 1963. Seite 35 20 „Ingenieur-Ästhetik, Baukunst: beide im tiefsten Grunde dasselbe, eins aus dem anderen folgend, das eine in voller Entfaltung, das andere in peinlicher Rückentwicklung. Der Ingenieur, beraten durch das Gesetz der Sparsamkeit und geleitet durch Berechnungen, versetzt uns in Einklang mit den Gesetzen des Universums. Er erreicht die Harmonie. Der Architekt verwirklicht durch seine Handhabung der Formen eine Ordnung, die reine Schöpfung seines Geistes ist: mittels der Formen rührt er intensiv an unsere Sinne und erweckt unser Gefühl für die Gestaltung; die Zusammenhänge, die er herstellt, rufen in uns tiefen Widerhall hervor, er zeigt uns den Maßstab für eine Ordnung, die man als im Einklang mit der Weltordnung empfindet, er bestimmt mannigfache Bewegungen unseres Geistes und unseres Herzens: so wird die Schönheit uns Erlebnis.“ Le Corbusier. Ebd. Seite 21

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war und ist noch immer die Hauptberufung des guten Architekten. Deleuze und Guattari behalten also recht, der Eintrag des Fremden passiert immer durch einen Filter, der das Fremde zivilisiert und domestiziert – und der Filter, den die frühe Moderne anlegt, ist der menschliche Maßstab. So modern, so industriell durfte die moderne Architektur also gar nicht werden, dass sie nicht letztlich doch dem Menschen wie eine Frottage abgenommen werden und rückverbunden bleiben sollte. Nicht umsonst ist der Ozeandampfer Le Corbusiers Ideal, weil dort industrielles Bauen bereits um den Menschen herum konzipiert ist. Wenn es nur um das rein Industrielle gegangen wäre, hätte Le Corbusier auch einen Öltanker als Ideal aufgreifen können. Doch am Öltanker passiert keine Vermenschlichung des Industriellen, wie sehr wohl beim Automobil oder beim Passagierflugzeug, die Le Corbusier deswegen wertschätzt und empfiehlt. Dennoch ist der menschliche Maßstab ein Begriff, der mittlerweile etwas peinlich anmutet, vor allem weil er von der Postmoderne zu nörgelnd verwendet worden ist. Man erinnert sich an Rob Krier, der empfiehlt, Wohnhäuser nicht höher zu bauen, als man bereit ist, Treppen zu Fuß hochzusteigen.21 Wohnhäuser ohne Aufstiegshilfe sind heute kein Beweis mehr für den menschlichen Maßstab. Aber die Moderne hatte noch eine große Idee vom menschlichen Maßstab. Wieder ist es Le Corbusier, der diesen Maßstab ohne Hemmung propagiert. In der Charta von Athen wird bereits 1933 unter den Lehrsätzen gefordert: „Das natürliche Maß des Menschen muß als Basis für alle Maßstäbe dienen, die eine Beziehung zum Leben und zu den verschiedenen Funktionen des Daseins haben sollen.“22 Ein einfacher, klarer Satz. Doch bald darauf veröffentlicht Le Corbusier den Modulor und damit wird aus dem einfachen Satz der Charta von Athen der totale Anspruch, sämtliche Dimensionen des Gebauten dem menschlichen Maß zu unterwerfen. Mit dem Zwang zum menschlichen Maßstab ist also das entscheidende Kriterium benannt, das die Exo-Architektur am Vierten Ort verweigert, oft nicht einmal kennt. Exo-Architektur muss keinen kulturellen Diskurs repräsentieren, muss nicht gefallen, sondern darf so brachial pragmatisch, monströs, ruppig, brutal sein wie notwendig. 21 „Man sollte ein Haus nicht höher bauen, als man mit Vergnügen Treppen hochsteigen kann.“ Léon und Rob Krier. Architektur-Bibel. 1976. Seite 13 22 Thilo Hilpert. Hrsg. Le Corbusiers „Charta von Athen“ Texte und Dokumente. Kritische Neuausgabe. Vieweg Verlag. 1988. Seite 157

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Niemand, der Exo-Architektur baut, muss soziosensible Ideenwettbewerbe gewinnen, populäre Publikationen füllen, Werkvorträge vor kritischem Publikum halten oder gefühlige Nutzerbeschwerden beantworten. Das sind alles die menschlichen Maßstäbe der klassisch menschlichen Architekturkarriere, die für den Exo-Bereich nicht gelten. Exo-Architektur folgt stattdessen einer gänzlich anderen Qualitätsskala und die misst nur die Brisanz, die von der Exo-Architektur verwaltet wird. Die längste Brücke, der giftigste Inhalt, die gefährlichsten Verfahren, das aberwitzigste Vorhaben. Und diese Brisanz rechtfertigt die Architektur und suspendiert alle Qualitätsparameter der menschlichen Gegenseite. Damit ist auch klar festgestellt, wer die Anpassungsleistung zu erbringen hat. Im Umgang mit Exo-Architektur hat sich der Mensch anzupassen. Ergebnis sind Schutzkleidungen, Hilfseinrichtungen, limitierter Zugang bis hin zur völligen Unbetretbarkeit oder Unbenutzbarkeit von Räumen und Anlagen. Exo-Architektur schließt im Extremfall den Menschen völlig aus. Dennoch muss man mit der nächsten kritischen Frage sondieren, ob die Absage an den menschlichen Maßstab immer notwendigerweise erfolgt, oder ob diese Absage nicht doch gelegentlich als absichtliches Projekt verfolgt wird. Im Umland von Los Angeles gehören Borax- und Zementmienen, Mülldeponien und ähnliche Industrieanlagen zu den zwangsläufig unmenschlichen Anlagen. Beim Spaceport America, dem Fort Irwin National Training Center oder den Hyundai-Kia Motors Proving Grounds wird hingegen ganz gezielt an die Schmerzgrenze des menschlichen Maßstabs hintrainiert oder hinentwickelt. Komplexer wird die Zuordnung bei Desert Raves, die sich zu reinen Unterhaltungszwecken um Grenzerfahrungen des Menschlichen bemühen und nur deshalb die Distanz in der Wüste suchen. Gleiches gilt für den Willow Springs International Raceway und ähnliche Erlebnisdestinationen. Motivatorisch noch komplizierter verschachtelt zeigen sich schließlich Anlagen wie die California City Correctional Facility. Da wird das Ringen um den menschlichen Maßstab zur gesellschaftspolitischen Agenda. Wer im Gefängnis sitzt, hat den vereinbarten menschlichen Maßstab einer Gesellschaft bereits grob verletzt. Was aber ist die korrekte Reaktion darauf? Die Gefängnisinsassen wieder an den gesellschaftlich vereinbarten menschlichen Maßstab heranzuführen oder ihnen ihren unmenschlichen Maßstab durch räumliche Verbannung vorzuführen? Die Verlagerung eines Gefängnisses in die Wüste ist dabei eine eindeutig Entscheidung. 459

Architekturgeschichtlich hinzufügen muss man, dass auch der Moderne Exkursionen ins Unmenschliche passiert sind – allerdings unabsichtlich – und deshalb von der Postmoderne abgestellt wurden. Unmenschliches durfte nie offiziell Teil des akademischen Architekturverständnisses sein. Die Architekten waren fortan wieder für das Menschliche zuständig, und die anderen für das andere. Diese Proporzregelung kann aber nicht verhindern, dass Exo-Architektur seit jeher eine sehr spezifische Drohung für die Architekturdisziplin darstellt. Sie tritt immer im Auftrag der Wichtigkeit und Notwendigkeit auf, geradezu erpresserisch, denn ohne Exo-Architektur kann das Fremde am Vierten Ort nicht im Zaum gehalten werden. Oder will jemand Fabriken, Kraftwerke, Gefängnisse, Versuchslabore oder das irreale Las Vegas ohne architektonischen Schutzwall operieren lassen? Exo-Architektur konkurriert mit der akademischen Architektur also nicht um qualitative Überlegenheit, sondern um generelle Überlegenheit. Und noch immer personalisiert sich diese Konkurrenz – wie Le Corbusier erkannt hat: Architekt gegen Bauingenieur, Architekt gegen Anlagenbauer, Architekt gegen Maschinenbauer, heißen die konkreten Konflikte. Taktisch klug verwendet Le Corbusier den menschlichen Maßstab in dieser Auseinandersetzung, um den modernen Architekten über den industriellen Planer zu stellen. Zuallererst muss sich der Architekt allerdings als Künstler bewähren. Das ist der menschliche Maßstab, den der Architekt selbst zu erfüllen hat. Als Lohn für das Künstlersein wird ihm Überlegenheit attestiert: „Die Durchbildung der Form ist der Prüfstein für den Architekten. Dieser erweist sich an ihr als Künstler oder als einfacher Ingenieur. Die Durchbildung der Form ist frei von jedem Zwang. Es handelt sich dabei nicht mehr um Herkommen oder Überlieferung, noch um konstruktive Verfahren, noch um Anpassung an die Bedürfnisse des Gebrauchs. Die Durchbildung der Form ist reine Schöpfung des Geistes; sie ruft den gestaltenden Künstler auf den Plan“.23 Doch welcher Architekt will sich heute noch als Künstler aufspielen und gerade deswegen Überlegenheit einfordern? Le Corbusier hatte dieses Selbstbewusstsein, heute rückt man als Architekt lieber beiseite und überlässt den Hardcore-Technikern das Feld. Diese verschämte Zurückhaltung der klassisch menschorientierten Architekten wird man nur überwinden, wenn man ein konkretes Verständnis für Exo-Architektur entwickelt. Das ist leicht gesagt, führt aber zu einer 23 Le Corbusier. Ausblick auf eine Architektur. Bauwelt Fundamente 2. Ullstein Verlag. 1963. Seite 24

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herausfordernden Frage: Wie entwirft man Exo-Architektur? Nur wer diese praktische Frage beantwortet, darf tatsächlich von Verständnis reden. Die Erörterung dieser Frage zwingt schnell zu einer langen Liste an Absagen. Alles, was es an üblichen entwerferischen Schablonen gibt, erscheint ungeeignet. Schon der schüchterne Versuch, neutrale Architektur zu machen, wirkt dümmlich. Neutral hieße ja, den Eindruck des Stiftungsereignisses zu ignorieren und die aufwühlende Realität des Fremden ungerührt zum Ausdruck zu bringen. In Gefängnissen, in denen die Todesstrafe exekutiert wird, hieße das, den Tod eines Menschen neutral auszustellen. Das tun nicht einmal die juristischen Befürworter der Todesstrafe. Sollte die Exo-Architektur stattdessen emphatisch sein, einen mitfühlenden Ausgleich schaffen und damit zumindest heimlich einen menschlichen Maßstab einbringen? Hieße das konkret, ein Gefängnis wohnlich oder zumindest atmosphärisch offen zu gestalten? Auch hier schlägt die gute Absicht zu schnell in dümmlichen Zynismus über. Vielleicht sind Gefängnis und Death Row zu heikle Bauaufgaben, um die Frage einer angemessenen Architektur zu erörtern. Bei der Edwards Air Force Base oder bei Hightech-Fabriken könnte man affirmativ agieren. Mehr noch, wo sonst wäre patriotischer Symbolismus oder feierliche Corporate Identity angebrachter? Aber was wollte man damit erreichen? Die Brisanz des Fremden ist durch Symbolismen und gestalterische Feierlichkeit nicht zu steigern. Sobald die Symbole groß werden, wird eher die Ernsthaftigkeit klein. Aber könnte nicht genau das eine Strategie sein? Verkleinern, verheimlichen, camouflieren? Letztlich ist auch das unlogisch, weil tautologisch. Üblicherweise ist in der distanzierten Lage zur Stadt der Grad der notwendigen Verstecktheit bereits inkludiert. Zusätzliche architektonische Versteckspiele am Vierten Ort sind also nicht generell sinnvoll. Versucht man die Frage beobachtend zu beantworten, passiert etwas Überraschendes: Die Frage verflüchtigt sich. Zunächst einmal entdeckt man, dass am Vierten Ort sehr wohl symbolistische Architektur verwendet wird, genauso wie neutrale Architektur, beigebraune Versteckspiele findet man ebenso wie beschwichtigende Gestaltungsversuche. Das gesamte, angeblich untaugliche Repertoire ist anwesend in der Wüste. Aber seltsamerweise stört der ganze Stileklektizismus vor Ort weniger als in der theoretischen Vorausschau. Das brisante Fremde bleibt davon höchst ungerührt – oder genauer formuliert: Die Exo-Architektur, egal wie sie stilistisch konzipiert ist, kann nicht verbergen, dass sie etwas Brisantes 461

verwaltet. Das Erkennungsmerkmal der Exo-Architektur ist also ihre unweigerliche Transparenz. Das bedeutet, man kann entwerfen, wie man will, die Exo-Architektur wird ohnehin durchdrungen von der Brisanz des Fremden. Wie eine Frottage drückt sich die Brisanz durch die Exo-Architektur und wird als dominierende Erscheinung emittiert. Alle stilistischen Hinzufügungen der Architektur verstummen hingegen und sind nebensächlich. Daraus folgt, Exo-Architektur verwaltet nicht nur das Fremde, Exo-Architektur erbringt darüber hinaus eine enorme Vermittlungsleistung. Wie umfangreich diese Vermittlungsleistung ausfällt, wird klar, wenn man die Begegnungen mit dem Fremden quantifiziert. Kaum jemand begegnet dem Fremden direkt. Nur Auserwählte hatten auf Dejima Zutritt, Gleiches gilt für den Vierten Ort im Umkreis von Los Angeles. Kraftwerke, Testgelände, Militäreinrichtungen, Gefängnisse etc. dürfen ebenfalls nur von Auserwählten betreten werden. Der Rest der Bevölkerung wird auf Distanz gehalten und von den Exo-Architekturen lediglich indirekt mit Brisanz bestrahlt. Es kann zwar kaum jemand genau benennen, womit er da gerade bestrahlt wird, aber die Brisanz spüren dennoch alle. Architekturtheoretisch ist man damit in einer seltsamen Lage. Ausgerechnet die bedrohliche Realität des Fremden lässt das vermeintlich leichtgewichtige Thema der Architekturatmosphäre höchst relevant werden. Darüber wird sonst eher in bunten Abhandlungen zu schöner Wohnen und noch schöner Urlauben doziert. Atmosphärenarchitektur folgt dabei nur Lifestyle-Koordinaten von aufregend bis gemütlich. Doch angesichts des brisanten Fremden ist das Thema Atmosphäre plötzlich grundlegend. Gernot Böhme hat dieses grundlegende Verständnis zur atmosphärischen Emission mit markanten Begriffen bedacht: „Das Ding wird so nicht mehr durch seine Unterscheidung gegen anderes, seine Abgrenzung und Einheit gedacht, sondern durch die Weisen, wie es aus sich heraustritt. Ich habe für diese Weisen, aus sich herauszutreten, den Ausdruck ‚die Ekstasen des Dings‘ eingeführt. Es dürfte nicht schwerfallen, Farben, Gerüche und wie ein Ding tönt, als Ekstasen zu denken. […] Es gilt aber auch, die sogenannten primären Qualitäten, nämlich etwa Ausdehnung und Form, als Ekstasen zu denken.“24 So klar und einleuchtend Böhmes Beschreibungen sind, so bezeichnend ist es, dass ein Philosoph die Architekten an die wichtigste Wirkung ihrer Arbeit 24 Gernot Böhme. Atmosphäre. Suhrkamp Verlag. 1995. Seite 32, 33

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erinnern muss: „Weil unsere Welt in diesem gesteigerten Maße auf die Explikation, auf die Äußerlichkeit aus ist, kann man über die Architektur sagen, daß sie genuin und immer politisch ist und das in gewisser Weise immer war. Die Architektur hat z. B. im Kirchenbau Atmosphären des Heiligen oder der Demut erzeugt, und sie war immer eingespannt in die Produktion von Herrschaftsatmosphären. Gerichtsgebäude oder Schlösser sind Architekturen, die soziale Hierarchien sinnlich manifest machen. Sie werden nicht nur für einen neutralen Beobachter anschaulich gemacht, sondern sie greifen in die Befindlichkeit derjenigen ein, die sich diesen Gebäuden nähern oder sie betreten. Diese Funktion hat Architektur auch heute noch. Und so wird auch von der Architektur abhängen, in welcher Art von Gesellschaft wir leben. Sie ist unmittelbar politisch, weil sie Grundbefindlichkeiten in der technischen Zivilisation produziert.“25 Das, was Böhme über Schlösser, Kirchen und Gerichtsgebäude feststellt, gilt selbstverständlich für jede Architektur. Besonders interessant sind die Ekstasen der Architektur aber als Kriterium der Unterscheidung. Die eine Architektur ekstasiert den menschlichen Maßstab, die andere Architektur ekstasiert den unmenschlichen Maßstab. Die eine Architektur ekstasiert das Harmlose, die andere Architektur ekstasiert das Bedrohliche. Diese kategorische Unterscheidung ist kaum zu irritieren oder zu dekonstruieren und taugt daher als Definition für die Architektur des Fremden. Exo-Architektur ekstasiert das Fremde. Diese spezifische Ekstase hat allerdings eine bedeutende Konsequenz. Wenn das Fremde durch die Exo-Architektur vermittelt wird, dann fällt alles, was über die Begegnung mit dem Fremden besprochen worden ist, atmosphärisch der Exo-Architektur zu. Sie wirkt bedrohlicher als jede Architektur des menschlichen Maßstabs und ist deswegen die tiefere Anstiftung. Und wenn Andres Veiel beklagt, dass das „Gehirn […] durch die Unmittelbarkeit der sinnlichen Erfahrung zugekleistert“ wird, dann weiß man jetzt, dass dieser Vorwurf vor allem die Wirkung von Exo-Architektur beschreibt. Der wirklich bittere Witz kommt aber erst in der Abrechnung des Gewinns. Wenn die akute Überwältigung die stärkere nachträgliche Reflexion und Lernerfahrung auslöst, dann lernt man von der Begegnung mit der bösen Exo-Architektur mehr als von der Begegnung mit der guten Architektur des menschlichen Maßstabs. Geheimnis ist das keines. Nicht umsonst sind Orte wie der Hoover Dam beliebte Ausflugsziele, obwohl es dort nichts anderes zu 25 Gernot Böhme. Ebd. Seite 18

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sehen gibt als die einschüchternde Gewalt der unmenschlichen technischen Moderne. Aber offensichtlich gibt es ein verlässliches menschliches Sensorium, das einen dorthin führt, wo die größten Erkenntnisgewinne zu erzielen sind. Genauso wenig Geheimnis ist die natürliche soziale Autorität von Menschen, die sich an Vierten Orten bewegt haben und sich den dortigen Stiftungsereignissen ausgesetzt haben. Grenzerfahrungen gemacht zu haben, ist eine solide Form der Überlegenheit. Das gilt für Astronauten nach der Rückkehr genauso wie für Gefängnisinsassen nach der Entlassung. Dass die akademische Architektur diese anstiftende Wirkung der Exo-Architektur noch nicht erkannt hat und nicht für sich nutzt, ist aber nur der erste Teil der Niederlage. Der zweite Teil der Niederlage folgt schließlich im städtebaulichen Maßstab: Die Charta von Athen versammelt Arbeiten, Wohnen, Freizeit und Lernen in ihrem Modell der Stadt. Los Angeles fügt distanzierte Satelliten des Fremden außerhalb der Stadt hinzu. Daraus ergibt sich für die höchste Lernambition eine klare Direktive. Um die brisanteste Anstiftung zum Denken zu erlangen, fährt man nicht mehr in die Stadt hinein, sondern in die Gegenrichtung, aus der Stadt hinaus. Eine härtere Diagnose ihres Versagens kann man der zeitgenössischen Stadt nicht ausstellen.

Fremdwerden Reentry: George Spencer-Brown. Warum man über solche Dinge nachdenkt, als Architekt? Weil man Zeit hat. Auf dem Weg von Los Angeles hinaus in die Wüste war man noch mit Aufgeregtheit beschäftigt. Es ging in Richtung der wilden, gefährlichen Satelliten des Fremden. Es galt den Vierten Ort zu entdecken. Außerdem ist man auf solchen Fahrten nie allein, das Klischee fährt mit und verklebt die Wahrnehmung. Man ist ja nicht der erste, der in der Wüste nach wilden Sensationen sucht. Der Rückweg hingegen ist umso länger und nachdenklicher. Der Vierte Ort erschien doch nicht so fremd; oder man kam nicht nahe genug heran; oder man durfte sehr wohl hinein und wurde belehrt, wie prinzipiell verträglich die Anlage ist; oder man hatte sich an die Fremdheiten dort schneller gewöhnt als erwartet. Die Sensationen des Fremden erwiesen sich jedenfalls als inflationär. Das war zu erwarten und esdrängt die Frage: Wohin als Nächstes? 464

Noch weiter hinaus in die Wüste? Wird die Sensation umso größer, je länger man davor im Auto sitzt? Diese Formel kann letztlich nicht stimmen, und damit kehrt sich der Verdacht um: Musste man überhaupt den weiten Weg in die Wüste machen, um dem Fremden zu begegnen? Für ein paar schockierende Begegnungen hätte man auch in der Stadt bleiben können. Nachts im McArthur Park der Drogenszene nachstöbern; die Bohrtürme auf den künstlichen Inseln im Hafenbecken ausspähen, nicht fächerförmig wie in Dejima, aber immerhin Inseln, fast eine Kopie der Aufstellung vor Nagasaki. Schrottplätze, dubiose Hallen, verlassene Industriebrachen, ungewöhnliche technische Konstruktionen, Kraftwerke, Militär, Gefängnisse, Geheimnisse – all das gibt es auch verstreut im Stadtgebiet. Und genau diese Entdeckung führt zum Begriff Reentry. Wer das Land teilt in normal und fremd, wird auch im normalen Stadtgebiet wiederum Normales vorfinden und nicht ganz so Normales. Die Unterscheidung wird tiefer, neurotischer, schaukelt sich auf. Mit dieser Suchperspektive präsentiert sich ganz Los Angeles als molare Masse mit inhärenten Inseln des potentiell Fremden in permanenter Drift und Änderung des Aggregatzustands. Überall muss man mit dem Auftauchen des Fremden rechnen, spontan kurzfristig, als beginnende Verfremdung, als diskretes Widerstandsprojekt, als plötzliche laute Aufwallung. Und jederzeit kann sich in jedem Teil der Stadt das Fremde als Vierter Ort konsolidieren, ein Quartier mit seltsamen Aktivitäten, ein Gebäude mit fragwürdigem Inhalt, eine Szenerie mit Abgrund. „Könnte es sein, dass die Kriegsmaschine in dem Augenblick, wo sie, vom Staat besiegt, nicht mehr existiert, ihren höchsten Grad an Irreduzibilität beweist und sich in Denk-, Liebes-, Sterbe-, oder Schöpfungsmaschinen auflöst, die über vitale oder revolutionäre Kräfte verfügen und in der Lage sind, den siegreichen Staat wieder in Frage zu stellen?“26 Es laufen also zwei Entdeckungen gegenläufig: Die Fremdheiten in der Wüste konnte man mit ein paar Besuchen tendenziell aufklären, doch zurück in der Normalstadt entdeckt man plötzlich Fremdheiten, wo man sie bislang nicht gesehen hatte. Die Theorie des Fremden bestätigt diese Umkehr: „Im Allgemeinen neigt man ja zu der Ansicht, uns seien die Dinge zunächst fremd, um dann in einem lang wierigen Akt der Erkundung Name und Charakterisierung zu erhalten. Offensichtlich verhält es sich aber umgekehrt: Die Fremdheit stellt sich immer erst hinterher ein. 26 Gilles Deleuze, Félix Guattari. Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie. Merve Verlag. 1992. Seite 489

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Sie wäre demnach nicht der Zustand eines Mangels (ich verstehe etwas nicht), sondern der eines Vermögens, (ich erkenne oder spüre eine Differenz, eine Lücke). […] Fremdheit ist eine Arbeit an den bisher selbstverständlichen Bildern des Anderen. Kurz: Sie ist eine Leistung.“27 Und diese Leistung wird umfangreich erbracht – muss man ergänzen. Mit erstaunlicher Nachdrücklichkeit werden leicht auffällige Aspekte des Lebens zu Fremdheiten erklärt und aus dem alltäglichen Leben herausgenommen. Nach der Herausnahme können sie isoliert und in ihrer jeweiligen Auffälligkeit so weit intensiviert werden, bis sie der Normalgesellschaft letztlich wirklich als bedrohliche Fremdheiten erscheinen und mit dem Alltag unvereinbar sind. Ein klassischer Zirkelschluss, mutwillig und oft absurd, dennoch eine der wichtigsten Organisationsstrategien. Nur so ist es möglich Kranksein, Totsein, Wissenschaftlichsein, Erfinderischsein, Kunstsein etc. überhaupt zu Fremdheiten hochzuzüchten und damit einen Vierten Ort zu gründen. Manchmal erscheint es leicht, der Isolierung und Intensivierung zuzustimmen, Intensivstationen im Krankenhaus bekennen sich sogar namentlich zu ihrer Sonderrolle und funktionieren auch nur durch Intensivierung und Isolierung. Aber bei Typologien wie Museum, Kirche, Hotel, Botschaft, Forschungsstätte, Universität etc. ist die Fremdheit tatsächlich mutwilliges Projekt. Kunst, Glaube, Gastlichkeit, Diplomatie, Wissenschaft und Lehre könnten auch aus der Mitte des Alltags heraus praktiziert werden. Doch man entscheidet sich strategisch anders: „Die Anfangsbedingung der Wissenschaft ist ihre Asozialität; ihr Selbstbewusstsein fließt aus dem Bruch mit den Idolen des Stammes, der Höhle und des Marktes. Sie kann sich nur entfalten durch die Umwandlung des Wissenschaftlers vom Mitbürger in den Fremden, der im Namen einer externen Wahrheit zu den Laien redet.“28 Der Wissenschaftler, der Student, der Gläubige, der Reisende, der Botschafter, der Kranke, der Tote folgt also dem gleichen Prozess der Fremdwerdung wie Giftstoffe, Waffen und Sondermüll. Alles Ausscheidungsprodukte der Normalgesellschaft, wieder mit Exo-Architektur präzise verpackt und am Vierten Ort auf Distanz gehalten. Kein Vierter Ort ohne ausdifferenziertes Grenzregime – lernt man schnell. Dazu passt, dass auch ein großer Teil der Exo-Architektur aus vielfältigsten Grenzbauwerken besteht: Zäune, Wälle, Mauern, Brücken, Tore, Schleusen, Gräben, Wachtürme etc. Alles kein Zufall, denn die 27 Martin Gross. „Ferne/Nähe“. In: Ortfried Schäffter. Hrsg. Das Fremde. Erfahrungsmöglichkeiten zwischen Faszination und Bedrohung. Westdeutscher Verlag. 1991. Seite 59 28 Peter Sloterdijk. Sphären III. Schäume. Suhrkamp Verlag. 2004. Seite 436, 437

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Grenze am Vierten Ort ist wesentlich mehr als nur ein Hilfsmittel für den reibungslosen Betrieb. Die Konfrontation mit einer Grenze ist vielmehr die zentrale Sensation, die an vielen Vierten Orten angeboten wird: „Die Abwesenheit eindeutiger Grenzen frustriert uns nicht etwa, sie konfrontiert uns vielmehr mit der Grenze als solcher, dem inhärenten Hindernis zur Befriedigung. Die wahre Funktion ausdrücklicher Grenzen besteht folglich darin, die Illusion aufrechtzuerhalten, wir könnten durch ihre Übertretung das Grenzenlose erreichen.“29 Konsequent gefolgert ist die Grenze also die Mindestleistung, die ein Vierter Ort zum Funktionieren braucht. Der fremde Inhalt könnte prinzipiell auch von den Ausgeschlossenen hinzuimaginiert werden. Welche konkreten Typen der Vierte Ort in Los Angeles ausbildet, kann man zügig recherchieren. Skid Row in Downtown Los Angeles ist ein Paradebeispiel für den klassischen Ablauf. Überall in der Stadt reifen ständig Ein-Personen-Inseln des Fremden heran, die der Mehrheitsbevölkerung fremd werden, sich abwenden und gleichzeitig abgewandt werden und dann großen magnetischen Linien folgend zueinander streben. Die systemischen Parallelen sind tatsächlich frappant. So wie wirtschaftliche und geoexploratorische Gezeitenkräfte Abenteurer aus Portugal und Holland bis an die japanische Küste getragen haben, so sind es soziopolitische und zutiefst menschliche Gezeitenkräfte, die Tausende Obdachlose, Alkoholiker, psychisch Kranke und Drogensüchtige zum Skid-Row-Phänomen mitten in Los Angeles zusammenführen, dem größten Dejima für gesellschaftliche Außenseiter in den USA. Mehr als 10.000 Outcasts, davon mehr als 2000 Obdachlose, versammeln sich im Umfeld weniger Häuserblocks. Die Szenen vor Ort präsentieren sich entsprechend drastisch. Wie eine Alienkolonie siedeln die Outcasts die Gehsteige entlang. Viele kaum sichtbar in ihren selbstgesponnenen Kokons aus Karton-, Kunststoff- und Zeltkonstruktionen. Manche Besucher nennen den Gestank als den schlimmsten Eindruck, andere verweisen auf die horriblen Auftritte der zahlreichen offensichtlich psychisch Gestörten. Die Ortskundigen haben einen abgeklärteren Blick und sorgen sich mehr um die permanenten Neuzugänge, die anfangs kaum als problembeladen auffallen, aber dann in kurzer Zeit ihre persönliche Entfremdung demonstrieren. 29 Slavoj Žižek. Parallaxe. Suhrkamp Verlag. 2006. Seite 401

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Den gleichen Ablauf der gesteigerten Fremdwerdung zeigt der Gebäudetyp Hotel – allerdings nicht als Tragödie wie in Skid Row, sondern als Komödie. In den aufregendsten Fällen ist das Hotel tatsächlich ein Exil für extreme Charaktere, denen der soziale Normalbetrieb nicht mehr gelingen will. Chateau Marmont, Beverly Hills Hotel, Sunset Marquis, Rockstars, Schauspieler, Literaten, Künstler, reiche Erben etc., es gibt unzählige Geschichten und Legenden, die von der Exzentrik des Lebens im Hotel erzählen. Obwohl immer nur Ausnahme, hat die Brisanz dieser Momente den gesamten Gebäudetyp Hotel durchdrungen und aufgewertet. Jeder konnte, wenn auch nur für kurze Zeit, ebenfalls ins Hotel gehen und damit das Fremdwerden probieren. Das letzte Kapitel zum Hotel als exzentrischem Ort wurde 2017 im Zuge der Harvey-Weinstein-Skandalgeschichten geschrieben. Dabei durfte man lernen, dass man Jobinterviews immer dann vom Büro ins Hotel auslagert, wenn man einen mindestens befremdlichen Interviewablauf plant. Man darf annehmen, dass die betroffenen Hotels diese Ereignisse nicht gern in ihre Legenden-Chronologie aufnehmen werden. Trotz dieser Eskapaden aus jüngerer Zeit deuten die wilden Geschichten über prominente Gäste aber mehrheitlich in die Vergangenheit. Denn seit der zivilisatorische Normalbetrieb mit Exzentrikern kein Problem mehr hat, ist dem Hotel der Nachschub an exzentrischer Kundschaft tendenziell abhandengekommen. Der Gebäudetyp Hotel ist kein bevorzugter Ort des Fremden mehr, sondern endgültig ein Beherbergungsbetrieb für das massenhaft Normale. Die verloren gegangene Aufregung durch exzentrische Insassen muss aber ersetzt werden, im hoffnungslosesten Fall durch exzentrische Architektur und Ausstattung. Ergebnis dieser Ersatzstrategie ist das Design-, Architekten- oder Künstlerhotel. Der Designer, der Architekt, der Künstler muss dann den exzentrischen Ersatzbewohner spielen und ästhetische Gebrauchsspuren hinterlassen, die eine Fremdheit ausstrahlen, die Stiftungsereignisse auszulösen vermag. Manchmal ist das tatsächlich recht unterhaltsam, aber im Vergleich mit den ehemaligen exzentrischen Insassen eine inflationäre Kategorie. Am Museum lässt sich noch anschaulicher zeigen, wie gezielt Intensivierung und Isolierung eingesetzt werden, um Atmosphären des Fremden zu choreografieren. Das Museum soll als Destination ein niederschwelliger Ort sein, um möglichst viel Publikum anzuziehen. Shops, Cafés, Veranstaltungen, Rundgänge, Vernissagen etc. geben sich beiläufig und kumpelhaft. Als Ort der Hochkultur soll das Museum aber 468

Extremzustände der Kunst bieten und fördern. Nur in solch einer Exilumgebung kann Jonathan Meese ungestraft seine „Heil“-Rufe zur Diktatur der Kunst ausleben. Macht er das Gleiche außerhalb dieser Exilumgebung, agiert er in der Nähe einer Straftat. Im Prinzip war das der Inhalt des Gerichtsverfahrens zu Meeses Hitlergruß im Zuge eines Interviews am Rande der documenta 12.30 Das Museum muss also innerhalb eines Hauses die Gegensätze Normal und Extrem gleichermaßen anbieten und erzeugen. Mehr noch, das Museum muss die paradoxe Aufgabe erfüllen, den niederschwellig angelockten Besucher sukzessive von unbedarft zu von-der-Kunst-zutiefst-ergriffen umzustimmen. Der ergriffene Besucher darf aber die Kunst auf keinen Fall tatsächlich angreifen. Wieder ein Paradoxon. Die Nähe zur Kunst ist zwar das beste Angebot, das ein Museum machen kann, gleichzeitig müssen aber kostbarste Kunstschätze vor jeglicher Beeinträchtigung geschützt werden. Museen sind eigentlich Tresorräume mit Publikumsbetrieb. All diese dramaturgischen Widersprüche sind nur durch differenzierte innere Grenzziehungen einzulösen. Ähnliche innere Grenzchoreografien erlebt man in Kirchen, wenn höchste Hingabe an Religion und touristische Beiläufigkeit im gleichen Raum stattfinden sollen. Eine praktische Unmöglichkeit, die nicht vereinbarend, sondern wieder nur ausschließend gelöst werden kann, räumlich oder zeitlich. Nach diesen Beispielskizzen zur Produktion von Fremdheit stellt sich allerdings die Frage, ob das noch der ursprünglichen Definition des zeitgenössischen Fremden entspricht. Die radikale Moderne und ihre angewandten Derivate sind als das brisante Fremde erklärt worden, und die Anlagen in der Wüste haben das bestätigt. Aber was ist mit dem mutwilligen Vierten Ort inmitten des Stadtgebiets von Los Angeles und dem ganzen choreografierten Fremdtheater? Werden nicht genau so die leichtgewichtigen Formen des Fremden inszeniert, die einleitend als postmodernes Unterhaltungsprogramm beschrieben worden sind? Für die Intensivstation im Krankenhaus stimmt das nicht, aber für die Schönheitsklinik schon. Skid Row wird man ebenfalls ungern als Unterhaltungsprogramm beschreiben wollen, aber letztlich ist es ebenfalls 30 „Meese hat in der ‚Meese-Gruß-Affäre‘ gespielt, also alle Ideologien weggespielt … das hat das Gerichtswesen anerkannt.“ Jonathan Meese. In: Stefan Zavernik, Jonathan Meese. „Karriere als Ideologie ist Scheiße!“ https://www.achtzig.com/2016/11/jonathan-meese-ueber-selbstdarstellung-diktatur-und-instinkt/. 06.01.2016

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nur ein exzessiver Lifestyle, den die Stadt auch wesentlich undramatischer managen könnte. Oder glaubt wirklich jemand, dass Skid Row den vernünftigsten Umgang mit gesellschaftlichen Außenseitern demonstriert? Als grobe Tendenz wird man also doch eine theatralische Leichtgewichtigkeit unterstellen, die rückblickend auch die raumplanerische Motivation bestätigt. Bei der Positionierung als externer Satellit ist die Distanzierung eine Erleichterung. Die spezifische Natur des Fremden ist durch die Distanzierung schlicht stressfreier zu managen. Beim Vierten Ort innerhalb der Stadt ist es exakt umgekehrt. Die spezifische Natur des programmatischen Inhalts bräuchte keine Absonderung, aber man will die Intensivierung und Isolierung – und man will sie als direkte Kontrastaufstellung zum Normalbetrieb. Dieses latente Brisanzgefälle darf aber nicht blind machen für die treibende Rolle der innerstädtischen Vierten Orte für die Beschleunigung der Moderne. Um diese beschleunigende Wirkung deutlich zu machen, muss man zuallererst erkennen, dass der Zeitgeist eigentlich diametral gegen die Abkapselung von Vierten Orten gestimmt ist. Das klingt überraschend nach den Berichten über die aufwendige Choreografie von unterhaltsamen Fremdheiten, aber es ist evident. Die momentane Phase der Moderne fordert und praktiziert erhöhte Mitteilungsbereitschaft. Man will und muss sich mehr deklarieren als je zuvor – und wer nicht mitmacht, der wird einfach geoutet. Das haben Einzelpersonen, Institutionen, sogar Geheimdienste schon erleben müssen. Die direkt Betroffenen sind dann meist wenig begeistert, aber der Mainstream ist dennoch klar in Richtung maximaler Offenheit und Transparenz orientiert. Gefängnisse, Fabriken, Forschungslabore, Kirchen, Hinterzimmer – die Öffentlichkeit will wissen, was dort passiert. Öffentlichkeit, egal ob digital oder analog, ist heute ein Geständnisraum, Berichtsraum, Aufklärungsraum, in dem enttarnt, entmystifiziert und jedes Thema bis zur völligen Erschöpfung dekonstruiert wird. Fremdheit ist dabei nur kurz aufblitzendes Rohmaterial, bevor es zerlegt, verdaut und lehrreich in Bekanntes übersetzt wird. Diese Zeitgeistdiagnose läuft also auf eine klare Konfrontation hinaus: Vierter Ort gegen öffentlichen Raum. Heimlicher Extremismus gegen öffentliches Eingeständnis. Die Parteilichkeit in diesem Streit ist ebenso schnell erkennbar. Weil der öffentliche Raum die Ideale der Offenheit und Aufklärung vertritt, gehören ihm die akademischen Sympathien. Der Vierte Ort und seine Geheimniskrämerei haben hingegen kaum laute Fürsprecher. Deswegen wird das Verschwinden 470

des öffentlichen Raums besorgt registriert und als allgemeiner Verlust bilanziert, dem Aufklaren und Verschwinden von Vierten Orten aber als gesellschaftlicher Fortschritt applaudiert. Fremdheit soll nicht produziert, sondern aufgearbeitet werden. Gegen diese breite Parteilichkeit zugunsten des öffentlichen Raums ist in erster Lesung nichts einzuwenden. Wer könnte etwas gegen die Aufklärung haben, nicht nur als große Allegorie, sondern auch als konkrete gesellschaftliche Praxis. Aber in zweiter Lesung wird die Sache heikler. Den Vierten Ort und den öffentlichen Raum als Gegensatzpaar zu definieren, bedeutet zwangsläufig, Vierte-Ort-Phänomene wie Skid Row als Versagen des öffentlichen Raums zu qualifizieren. Diese Konklusion bleibt einem nicht erspart, egal wie hoch man die Aufklärung schätzt. In Los Angeles gibt es ausreichend guten Willen und ausreichendes Knowhow, um ein erfreuliches Gemeinwesen zu initiieren und räumlich zu manifestieren. Aber in Skid Row passiert das nicht. Und es passiert auch an vielen anderen Orten der Stadt nicht. Überall wird man Zeuge, wie der öffentliche, aufklärerisch gestimmte Raum in unzählige Vierte Räume hineinkollabiert, die als ihr bestes Angebot Selbstbezüglichkeit und Hermetik versprechen. Eigene Regeln, eigene Routinen, eigene Antriebe und Motive, eigene Geschichte, eigenes Schicksal, immer schärfer abgekoppelt vom unmittelbaren Kontext. Skid Row ist wenige Blocks von der Los Angeles City Hall und dem Museum of Contemporary Art entfernt, grenzt an Little Tokyo und die touristische Downtown, überschneidet sich mit dem Fashion District und dem Arts District. Jeder dieser Orte versucht, sein eigenes intensiviertes Innenleben zu verteidigen in Abgrenzung zu den anderen. Nicht alle sind programmatisch so traurig wie Skid Row, aber die Tendenz der Hermetik ist dennoch antiaufklärerisch und anti-öffentlich. Damit ist ein großer städtebaulicher Widerspruch offengelegt. Warum gibt es den Vierten Ort überhaupt? Die Isolierung und Intensivierung widersprechen doch dem aufklärerischen Zeitgeist, jeder Vierte Ort verdrängt doch den hochgeschätzten öffentlichen Raum. Warum werden dann immer noch Vierte Orte eingerichtet? Oft sogar als regelrechte Gegenbewegung. Für jeden Vierten Ort, der aufgeklart wird, taucht ein anderer ins Fremde ab. Für jedes Hinterzimmer, das durchlüftet wird, richtet irgendwo, irgendwer eine neue, trübe Höhle ein. Für jedes Leak, das im Internet ans Licht gezerrt wird, entsteht ein neues Untergeschoss im Darknet. Für jede Person, die sich outet, verstrickt sich eine 471

andere in abgrundtiefe Lügen. Das klingt wie die Most-Wanted-Liste der Aufklärer, aber man kann die Liste der absichtlichen Entfremder auch ins Unverdächtige hinein verlängern. Es tendiert auch der ambitionierte Musiker, Literat, Wissenschaftler, Nerd, Sportler, Abenteurer etc. zur Geheimloge. Man muss also akzeptieren, dass der Vierte Ort vielfach als Schutzraum eingerichtet wird. Ob zum Schutz von schönen oder hässlichen, legalen oder illegalen Aktivitäten, ändert nichts an der prinzipiellen Motivation. Damit dreht sich plötzlich die Gefährdungsrichtung um. Der Vierte Ort ist dann kein tragischerweise kollabierter öffentlicher Raum mehr, sondern er ist ein aktiv hergestellter Schutzraum vor der andrängenden Aufklärung. Warum das? Am besten erklärt man es anklagend: Im aufgeklärten Raum entsteht nichts. So klug und engagiert und wohlwollend können die Aufklärer gar nicht sein. In ihrem Gegenblick will niemand zur Tat schreiten, vor allem nicht zur intensiven Tat. Logisch ist das schlüssig nachvollziehbar. Die thematisch breite Äußerungsfreiheit im aufgeklärten Raum ist nur haltbar, wenn keinerlei Intensivierung und damit keinerlei überproportionale Verdrängung stattfindet. Das bedeutet, man darf im öffentlichen Raum zwar alles ansprechen und ein wenig anprobieren, aber man darf nichts davon forcieren. Das Mäßigungsgebot ist die unerlässliche Funktionsbasis des aufgeklärten, öffentlichen Raums. Damit ist der aufgeklärte, öffentliche Raum aber niemals der Ort, an dem die starken Impulse für die weitere Beschleunigung der Moderne erzeugt werden. Die aufgeklärte Öffentlichkeit erlebt sich sogar selbst als träge und passiv – und erlebt diese prognostizierbare Trägheit gleichzeitig als gegenseitiges Friedensangebot. Implizit weiß das jeder. Deswegen wird das notorisch Virulente immer auf das unheimliche Fremde projiziert, egal ob es in drohender Distanz aufgestellt ist oder ob es nebenan in verschlossenen Vierten Orten operiert. Die Öffentlichkeit hegt die wildesten Vermutungen, was alles in geheimen Laboren, Industrieanalgen, Militäranlagen, aber eben auch in Krankenhäusern, Hotels, Universitäten etc. abläuft. Dass dort träge Langeweile herrscht, unterstellt jedoch niemand. Der Vierte Ort ist also ein Brutraum für Intensivtäter und ihre Intensivtaten, und pflegt damit das exakt gegensätzliche Freiheitsverständnis zum aufgeklärten Raum. Die thematische Freiheit ist am Vierten Ort zwar typischerweise eng eingeschränkt, jede Anlage hat ihre oft manisch monothematische Ausrichtung, aber dafür ist die Freiheit der maximalen Forcierung und 472

Intensivierung uneingeschränkt. Dort nimmt jede Tat ihren Anlauf, ihren Auftakt, durchläuft die ersten Versuche und steigert sich ins Extrem. Erst wenn die Taten eine kritische Dimension überschreiten, brechen sie gelegentlich in den aufgeklärten Raum hinein oder die aufgeklärte Öffentlichkeit nimmt Notiz. Nicht selten gestresst und überfordert, weil ihr wieder ein Fortschrittsschub abverlangt wird. Die große Mehrheit der Aktivitäten bleibt jedoch am Vierten Ort kaserniert. Das klingt mysteriös, ist es auch, macht aber den Vierten Ort in jedem Fall zur Sehnsuchtsdestination für alle Ambitionierten – oder zumindest für alle, die von der aufgeklärten Trägheit gelangweilt sind. Braucht man also die unheimliche Tendenz zur Separierung und Intensivierung, um die Moderne voranzutreiben? Das Leistungs- und Fortschrittsniveau, das eine Kultur der Überbietung in allen Lebensbereichen fordert, ist tatsächlich nur durch die Inanspruchnahme von unheimlichen, sogar pathologischen Energiequellen aufrechtzuerhalten. Kein Wunder, dass manche die gesamte Leistungsgesellschaft westlicher Machart als unheimlich, sogar pathologisch qualifizieren.

Ich-Fabrik Ist Disneyland ein Vierter Ort? Eine unvermeidliche Testfrage für die theoretische Kontur des Fremden und seiner architektonischen Fassung. Das prinzipielle Setting der Anlage zeigt tatsächlich Ähnlichkeiten mit dem Vierten Ort. Ein Satellit am Rande von Los Angeles – zumindest zum Zeitpunkt der Entstehung –, limitierter Zugang, hohe Grenzbefestigung ringsherum, dahinter intensivierte Geschäftigkeit, sehr spezifischer Inhalt, Micky Maus und andere Aliens. Aber was an Disneyland ist wirklich fremd? Das vorerst Interessante an dieser Frage ist die Vermutung, dass Disney mit seinen Themenparks tatsächlich den Gegenbeweis zu erbringen scheint. Das Fremde wird durch atmosphärische Kulissen ersetzt, die lediglich dem harmlosen Klischee des Fremden entsprechen. Doch die Stiftungsereignisse, die sich Disney davon erwartet, sollen umso intensiver und anhaltender sein. Disney versucht Spannung ohne tatsächliche Bedrohung, Glück ohne tatsächliche Besserstellung, Aufregung ohne tatsächliche Ungewissheit herzustellen. Alles, was man sich vom Fremden erwartet, Anstiftung, Reflexion, Erkenntnis, Aufklärung, gäbe es dann 473

ohne initiales Schockmoment, ohne Bedrohung, ohne schwarze Pädagogik, nur durch die Kraft der direkten Affektübertragung. Michael Hardt meint, dass Affektübertragung ohnehin die Basis jeder Dienstleistung ist.31 Disney ist mit seiner Idee also nicht allein, sondern überträgt sie nur großmaßstäblich auf Architektur. Faszinierende Methode und eine enorm aktuelle Versuchsaufstellung, denn die Architektur hat insgesamt den Verkaufshit Erlebnis entdeckt und wird ihn so schnell nicht mehr aufgeben, ist doch gerade die Erlebnisarchitektur das Versöhnungsgeschenk der durch die Massenmoderne unpopulär gewordenen Architektur an ihre Kundschaft. Die Erfindung und die Beliebtheit des Theme Park müssen vor diesem historischen Hintergrund gedacht werden. Deswegen noch einmal die Frage: Ist Disneyland womöglich der raffinierteste Vierte Ort überhaupt? Die Auflösung dieser Frage hängt an der Tragfähigkeit der Erlebnisvermittlung. Gernot Böhme hat sehr präzise ausgearbeitet, wie eine derartige Vermittlung funktioniert. Zuallererst muss eine umfassende Atmosphäre eingerichtet werden: „Das primäre Thema von Sinnlichkeit sind nicht die Dinge, die man wahrnimmt, sondern das, was man empfindet: die Atmosphären. Wenn ich in einen Raum hineintrete, dann werde ich in irgendeiner Weise durch diesen Raum gestimmt. Seine Atmosphäre ist für mein Befinden entscheidend. Erst wenn ich sozusagen in der Atmosphäre bin, werde ich auch diesen oder jenen Gegenstand identifizieren und wahrnehmen“.32 Als Nächstes muss die Wirkung der Atmosphäre aktiviert werden. Die übliche Methode dafür ist Aufdringlichkeit: „Ihrer Natur nach sind Atmosphären ergreifend und von einer unauffälligen Aufdringlichkeit. Es sind Wirklichkeiten, die sich als Realität geben.“33 Böhme beschreibt die Aufdringlichkeit des Atmosphärischen als natürliche Kraft, unauffällig und trotzdem wirksam. Walt Disney und sämtliche Erlebnisarchitekten seither vertrauen eher auf die gezielte Überdosierung der Aufdringlichkeit. Die Wahrnehmung wird dabei so intensiv mit einem abgestimmten Reizportfolio besetzt, dass alle anderen 31 „die Unterhaltungsindustrie und die verschiedenen anderen Kulturindustrien sind in ähnlicher Weise auf die Erzeugung und das Management von Affekten fokussiert. Die affektive Arbeit, die in menschlicher Interaktion und Kommunikation zu finden ist, spielt bei allen Dienstleistungsindustrien, vom Fastfood-Betrieb bis zum Anbieter von Finanzdienstleistungen eine mehr oder minder wichtige Rolle.“ Michael Hardt. „Affektive Arbeit“. In: Marion von Osten. Hrsg. Norm der Abweichung. Institut für Theorie und Gestaltung und Kunst. Edition Voldemeer. Springer Verlag. 2003. Seite 218 32 Gernot Böhme. Atmosphäre. Suhrkamp Verlag. 1995. Seite 15 33 Gernot Böhme. Ebd. Seite 47

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Gedanken verdrängt werden. Das bedeutet, der Glaube an die Erlebnisarchitektur ist gleichzeitig der Glaube an die Übertragung von Affekten und Stimmungen mit geringer Inflation. Niklas Luhmann würde das die Herstellung von festen Kopplungen nennen. Erst mit einer festen Kopplung lässt sich ausschließen, dass die Besucher im Disneyland an Schlümpfe, Lego oder ihre Alltagssorgen denken. Der letzte und wichtigste Schritt in der Erlebnisvermittlung ist schließlich die Aktivierung des Besuchers selbst. Böhme formuliert wieder äußerst sanftmütig, die Absicht wird trotzdem deutlich: „Atmosphären, wie man sie in Umgebungen, aber auch an Dingen oder an Menschen empfindet, sind, das ist meine zweite These, das zentrale Thema der Ästhetik. Sie untersucht den Zusammenhang der Qualitäten von Umgebungen und der Befindlichkeiten. Sie fragt, wie bestimmte, durchaus objektiv feststellbare Eigenschaften von Umgebungen unser Befinden in diesen Umgebungen modifizieren.“34 Erst am Ende des Textstücks von Böhme zeigt sich der manipulative Anspruch, der bereits von den Funktionalisten bekannt ist. Nicht nur die Architektur gilt es zu gestalten, sondern auch der Nutzer muss gestaltet werden. Die Funktionalisten haben das letztlich nicht geschafft, die Erlebnisarchitekten versuchen es dennoch. Statt Zwang soll diesmal die Kraft der atmosphärischen Suggestion helfen. Die Ambition der Atmosphärenmacher geht sogar noch in die Zugabe. Der Nutzer soll zum Mitspieler im Ambiente werden – wie Philip Ursprung dekliniert: „Der Begriff des Betrachters, der ja eine vornehmlich visuelle, räumlich distanzierte Wahrnehmung voraussetzt, wird denn auch allmählich ersetzt durch Begriffe wie ‚Mitspieler‘, ‚Teilnehmer‘, ‚Benutzer‘ oder ‚Besucher‘. Und der Begriff der Rezeption wird durch Begriffe wie ‚Immersion‘ oder gar ‚Konsumption‘ ersetzt. Begriffe für dynamische Räumlichkeit wie ‚Kristallisation‘, ‚Mosaik‘, ‚Textur‘, ‚Falte‘, ‚Expansion‘ und eben ‚Atmosphäre‘ haben Konjunktur, während Begriffe, die von einem linearen Dispositiv ausgehen wie ‚Distanz‘, ‚Kausalität‘ und ‚Ausdruck‘ an Wert verloren haben. Ein ‚Draußen‘, so die Theorie, ist nicht mehr denkbar.“35 Immersion bedeutet also eine deutliche Veränderung im Architekturnutzer selbst. Wer immersiert ist, der ist nicht mehr bei sich, sondern in Atmosphäre. Kein Wunder, dass Yayoi Kusama das Aufgehen in Atmosphäre als Verrücktwerden schildert: „Als ich eines Tages in New York eben dabei war, eine Leinwand ohne Komposition mit Netzen und Punkten zu bemalen, 34 Gernot Böhme. Ebd. Seite 15, 16 35 Philip Ursprung. „Alles oder Nichts?“ In: Akademie der Künste. Hrsg. Topos Raum. Die Aktualität des Raumes in den Künsten der Gegenwart. Verlag für moderne Kunst Nürnberg. 2004. Seite 102

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geriet mein Pinsel unwillkürlich über die Leinwand hinaus und fing an, den Tisch, dann den Boden und den ganzen Raum mit Netzen und Punkten zu übermalen (es war vermutlich eine Halluzination). Ich blickte erstaunt auf meine Hände und sah, dass darauf rote Punkte waren. Ich versuchte, hinter den Punkten herzujagen, die sich von meinen Händen überallhin ausbreiteten, und die karminroten Netze und Punkte von den Fenstern runterzukriegen, aber sie breiten sich weiter rasend schnell aus und drohten meine Hände und meinen Körper völlig zu bedecken. Ich schrie vor Angst und rief einen Krankenwagen. Man brachte mich ins Bellevue-Krankenhaus, wo der behandelnde Arzt zu mir sagte: ‚Gehen Sie in eine psychiatrische Klinik und lassen sie sich dort behandeln. Ihnen fehlt nichts; ihre Erscheinungen haben mit ihrem Geisteszustand zu tun.‘ In der Folge bekam ich jede Nacht Herzrhythmusstörungen. Dieser Vorfall brachte mich dazu, Objekt- und Event-Künstlerin zu werden. Die Veränderungen in meiner Art, Kunst zu machen, sind allesamt Folgen einer Unausweichlichkeit, die aus mir selbst kommt.“36 Kusamas unterhaltsame Schilderung führt zu einem generellen Verdacht. Ist ein verwirrter Geisteszustand eine unbedingte Voraussetzung, um wirklich in einem Stimmungsraum aufgehen zu können? Die Geschichte der Architekturimmersion erhärtet diesen Verdacht mit prägnanten Fällen. Von Kurt Schwitters Merzbau über Absalons Cellules bis hin zu Elvis Presleys Graceland ist Immersion immer von der dringenden Vermutung begleitet, dass derartige Einhausungen in totaler Stimmung kein normales Verhalten darstellen. Muss Immersion also personalisiert werden? Steht am Beginn jeder Immersion ein Verrückter, der gar nicht anders kann, als sich in seiner Verrücktheit einzuspinnen?37 In jedem Fall ist damit das wichtigste Gestaltungselement einer immersierenden Atmosphäre benannt: der Animateur. Was wäre Graceland ohne Elvis, was wäre Disney ohne Walt Disney und was wäre Disneyland ohne die vielen Animationsfiguren. Atmosphäre plus Animateure – das ist also das Businessmodell der Erlebnisarchitektur. Klingt einfach und plausibel. Aber funktioniert Affektübertragung wirklich so routiniert und reibungslos? Die Totalität verrückter Hingabe wird verlässlich bestaunt, das zeigen viele Bei spiele aus der Kulturgeschichte. Aber gleichzeitig ist totale Hingabe dem 36 Yayoi Kusama. In: Seung-duk Kim. „Yayoi Kusama im Gespräch“. In: Kunsthalle Wien. Hrsg. Yayoi Kusama. 2002. Seite 9 37 „Wichtigster Bestandteil des Merzbaues war natürlich Kurt Schwitters selbst. Er war Merz.“ Karin Orchard. „Das Haus ist vergangen“. In: Akademie der Künste. Hrsg. Topos Raum. Die Aktualität des Raumes in den Künsten der Gegenwart. Verlag für moderne Kunst Nürnberg. 2004. Seite 291

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Mainstream auch schon immer sehr suspekt. Menschen haben ein untrügliches Sensorium für die Verrücktheit anderer. Man sieht sich den Wahnsinn gerne an, aber wenn möglich aus sicherer Distanz. Joseph Imorde hat ein ganzes Buch zum Thema der Affektübertragung verfasst. Er schildert darin eindringlich den Ergriffenheitsmythos des Barockzeitalters, als das laute und theatralische Weinen zum Werkzeug der Affektübertragung verwendet wurde. Weinen und Glauben, Weinen und Gemeinschaft sein. Höchste soziale Autorität hatten dabei wieder die Animateure, all jene, die derartige Affektschübe aus sich selbst heraus zünden und dann auf alle anderen übertragen konnten. Ganze Gefühlswellen wurden so über das Weinen initiiert und hochgeschaukelt, ganze Kirchengemeinschaften durch das gemeinsame Weinen in synchrone Schwingung versetzt. Doch Imorde ist ein guter Dramaturg. Sobald man dem Autor glaubt, dass im Barock ständig tief ergriffene Tränengemeinschaften dahingeheult haben, lässt er durchblicken, dass die Affektübertragung durch das Weinen wohl doch nicht allzu weit gereicht hat: „Clemens VIII. zeichnete sich durch eine bis dahin selten bei Päpsten beobachtete Fähigkeit aus, fast immer und überall Tränen zu vergießen. Zeit seines Pontifikats wurde bemerkt und von den Zeitgenossen aufgezeichnet, dass er bei den heiligen Handlungen lang und laut weinte. […] Am 6. Dezember 1594 weinte seine Heiligkeit in der deutschen Nationalkirche S. Maria dell’Anima in Gegenwart unzähliger Gläubiger, die alle darum bemüht waren, es ihm nachzutun und in sein Weinen einzufallen.“38 „Dieser ununterbrochene Austritt des Augensekrets, […] sei den Römern im Verlaufe des Pontifikats immer ‚spanischer‘ vorgekommen. […] Es sei wohl ganz unzweifelhaft, dass dieses sich bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit einstellende krampfhafte Weinen von langer Dauer als nervöse Schwäche anzusehen sei, der der Papst nicht Herr werden konnte. […] 1937 revidierte Baumgarten dann seine Meinung und konstatierte nun richtiger eine ‚allgemeine, ganz allgemeine Mode‘ der geistlichen Empfindsamkeit.“39 Imordes Buch über das Weinen wird also irgendwann zu einem Aufklärungsbuch über die höchst begrenzte Wirkung der Affektübertragung. Die Krise geht dabei ausgerechnet vom Animateur aus, steckt aber letztlich das gesamte atmosphärische Setting an. Luhmann würde sagen: ,,Gut so!‘‘ Weil Affektübertragung gar nicht so ungebremst funktionieren soll. In einer Gemeinschaft sollen die Affekte 38 Joseph Imorde. Affektübertragung. Gebr. Mann Verlag. 2004. Seite 106, 107, 108 39 Joseph Imorde. Ebd. Seite 108, 109

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des Einen gar nicht vollständig auf den Nächsten überspringen. Das würde das ganze soziale System unsicher machen, anfällig für hysterische Wellen, die dann alle gleichzeitig aus der Bahn werfen. Eine gute Dosis Ignoranz wirkt hingegen sozial stabilisierend. Lose Kopplung also. Letztlich ist man sogar erleichtert, dass die Menschen im Barock genauso situationskluge Gefühlsschauspieler waren wie die Menschen heute. Oft genug gibt es eine gesellschaftliche Konvention oder Mode, so zu tun, als wäre man mitfühlend, aber das ist nur eine kollektive Schauspielleistung, mehr nicht. Wer könnte das besser wissen als die Profis des Schauspielbetriebs. René Pollesch erklärt, wie massiv die mangelnde Ergriffenheit des Publikums eine ganze Theateraufführung umwertet: „Neulich hat mir ein Tänzer von Sasha Waltz erzählt, dass er während einer Vorstellung im Zuschauerraum sah, wie eine ältere Frau ihrem Mann einen runterholte. Die Schauspieler denken natürlich nicht, dass sie an einem Porno arbeiten, aber es ist so. Die Leute gehen ins Theater, um geil zu werden. Aber alle tun immer so, als sei das ein Art Nebenproblem, eine Nebenhandlung und thematisieren das lieber nicht. Denn wenn das Thema wäre, müsste man die Schauspieler ein bisschen mehr anziehen oder schützen. Man kann nicht darauf bauen, dass Nacktheit eine Metapher ist, wenn die Metapher ganz konkret genommen oder gesehen wird und zwar abweichend vom Kulturbegriff.“40 Diese Schilderung ist drastisch, nicht nur als konkrete Szene, sondern weil damit einem wichtigen Moment der Theatergeschichte die argumentative Basis entzogen wird. Hat es das Illusionstheater gar nie gegeben, weil ohnehin niemand von dem Geschehen auf der Bühne illusioniert war? Hat es den durch Illusion vereinnahmten Betrachter auch nie gegeben? Hat Bertolt Brecht mit seiner Idee der Verfremdung auf der Bühne nur das nachvollzogen, was in den Besucherreihen ohnehin abläuft an Verfremdung durch Abgelenktheit? Das desinteressierte, schlechte Benehmen des Publikums wäre dann sogar eine viel stärkere Verfremdung als Brecht sie inszenatorisch auslösen könnte. Heiner Goebbels nennt das den unfreiwilligen V-Effekt: „Die brechtsche Schauspieltheorie bereitet sehr präzise auf das vor (oder hätte darauf vorbereiten sollen), was heute die ‚Krise der Repräsentation‘ genannt wird. Also kurz gesagt: dass wir nicht mehr glauben, was uns der Schauspieler auf der Bühne vormachen will. Denn genau damit geht der V-Effekt um. Den unfreiwilligen V-Effekt findet 40 René Pollesch. In: Frank-M. Raddatz. Brecht frisst Brecht. Neues Episches Theater im 21.Jahrhundert. Henschel Verlag. 2007. Seite 208

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man am ehesten noch im konventionellen Theater, wenn dort Fehler gemacht werden, wenn die Kulisse plötzlich umfällt, wenn der Schauspieler sich verspricht, wenn eine Lampe kaputt geht oder was auch immer.“41 Die hier dozierte Krise der Repräsentation lässt auch für die Erlebnisarchitektur nichts Gutes vermuten, weder für Disneyland noch für sämtliche Vorgänger und Nachahmer. Wie wirkungsvoll war die Barockarchitektur zu ihrer Zeit in der Vermittlung? Oder haben die Leute auch in der Kirche masturbiert wie im Theater? Wenn ja, ist das der Erlebnisarchitektur als Versagen anzulasten? Wohl kaum. Die gesunde Immunität gegen die Affektübertragung von Mensch zu Mensch wirkt gleichzeitig als gesunde Immunität gegen die Affektübertragung von Erlebnisarchitektur auf Mensch. Menschen sind durch Erlebnisarchitektur doch nicht so leicht in Stimmung zu bringen, weil Erlebnisarchitektur zu wohlwollend am menschlichen Maßstab konzipiert ist. Jeder weiß doch, dass im Disneyland nichts Gefährliches, Bedrohliches passieren wird. Das ist wohltuend und versichernd, aber eben schon im Ansatz zu harmlos, um tiefgreifende emotionale Erschütterungen auszulösen. Erlebnisarchitektur produziert folglich auch keine so intensiven Stiftungsereignisse wie das unmenschliche Fremde. Ist damit die Ausgangsfrage beantwortet? Disneyland ist kein Vierter Ort? Disneyland klein zu argumentieren, ist schon mehrfach versucht worden, in vielen anderen Zusammenhängen. Darin spiegelt sich die Hoffnung der Architekten, Disney endlich loszuwerden als große, drohende Überbietung. Doch gerade diese permanente latente Angst muss zu denken geben. Irgendetwas am Disneyland ist mindestens so herausfordernd wie das Fremde am klassischen Vierten Ort. Michael Sorkin gibt mit einer nüchternen Betrachtung einen ersten Hinweis, wie man diese herausfordernde Wirkung von Disney doch noch entschlüsseln könnte: „But Disney finds its resonance not simply in the familiar mendacities of its counterfeit architecture but in its project of pure consumption, its vision of the city as a factory for leisure. In this, it perfectly parallels Ike’s own passage from the trenches to the links, afflicted equally by the narrow dimensions of its recast purpose.“42 Disneyland ist also eine Fabrik. Das klingt lapidar dahingesagt ohne definitorische Konsequenz. Aber wenn man in Sorkins 41 Heiner Goebbels. In: Frank-M. Raddatz. Ebd. Seite 125 42 Michael Sorkin. „War is Swell“. In: Donald Albrecht. Hrsg. World War II and the American Dream. How Wartime Building Changed a Nation. National Building Museum. MIT Press. 1995. Seite 243

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Fabrikvergleich Vilém Flussers Verständnis von Fabrik einsetzt, dann bekommt die Formel sehr wohl eine enorme Bedeutungsschwere: „Hingegen ist der weniger zoologische als anthropologische Name homo faber weniger ideologisch. Er meint, dass wir zu jenen Arten von Anthropoiden gehören, welche irgend etwas fabrizieren. […] Hiermit ist ‚Fabrik‘ das charakteristische menschliche Merkmal, das, was man einst die menschliche Würde genannt hat. An ihren Fabriken sollt ihr sie erkennen.“43 „Wer also nach unserer Vergangenheit fragt, der sollte vor allem in Fabrikruinen graben. Wer nach unserer Gegenwart fragt, der sollte vor allem die gegenwärtigen Fabriken kritisieren. Und wer die Frage nach der Zukunft aufwirft, der stellt die Frage nach der Fabrik der Zukunft.“44 Die Fabrik ist also nicht irgendein Ort, sondern für Menschen ein definitorischer Hauptort, weil man sich dort selbst wiederfindet. Flusser meint, dass man dort sogar selbst fabriziert wird. Man ist, was man tut: „Demnach sind Fabriken Orte, wo Gegebenes in Gemachtes umgewandelt wird und dabei immer weniger ererbte und immer mehr erworbene, gelernte Information ins Spiel kommt. Es sind jene Orte, in denen die Menschen immer weniger natürlich und immer künstlicher werden, und dies deshalb, weil das umgewendete Ding, das Fabrikat, auf den Menschen zurückschlägt: […] Fabriken sind Orte, an denen immer neue Menschenformen hergestellt werden: zuerst der Handmensch, dann der Werkzeugmensch, dann der Maschinenmensch und schließlich der Apparatmensch.“45 Der Mensch will also deswegen herstellen, weil er sich durch das Herstellen neu erfinden kann. Man begegnet dann einem neuen, bislang fremden Ich – und genau diese Begegnung hat allerhöchsten Unterhaltungswert. Wie entsteht dieses neue Ich, wie sieht es aus, was kann es, und was tut es? Die Beobachtung zweiter Ordnung bringt also letztlich den Unterhaltungswert, den die Beobachtung erster Ordnung nicht liefert. Goebbels und Pollesch vermuten in genau die gleiche Richtung, wenn sie feststellen, „dass dieser naturalistische Glaube an die Repräsentation sehr begrenzt ist und dass wir ein viel größeres Vergnügen haben, wenn wir uns immer wieder mal zuschauen beim Betrachten. Wenn man be wusst reflektiert, wo man ist, besitzt das eine größere Wahrheit, als wenn man sich nur als naiver Zuschauer verhält.“46 „Bei vielen Stücken wird der Ort eigentlich nicht definiert, so dass niemand weiß, wo das Ganze eigentlich spielt. Ist man zu 43 Vilém Flusser. Medienkultur. Fischer Verlag. 1997. Seite 164 44 Vilém Flusser. Ebd. Seite 165 45 Vilém Flusser. Ebd. Seite 165, 166 46 Heiner Goebbels. In: Frank-M. Raddatz. Brecht frisst Brecht. Neues Episches Theater im 21. Jahrhundert. Henschel Verlag. 2007. Seite 126

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Hause? Ist man im Hotel? Ist man unterwegs? Wo man ist, das bleibt unklar. Aber das ist nie eine Metapher, denn wir arbeiten mit der Bühne. So gesehen ist alles auch ganz konkret, weil es immer darum geht, durchzuspielen, was passiert, wenn jemand die Bühne betritt.“47 Im Theater agiert der Mensch also immer noch als Homo Faber, ihn interessiert das Fabrizieren von Theater mehr als das vorgeführte Stück. Im Theater erlebt man, wie Schauspieler gemacht werden, wie Regisseure gemacht werden, wie Bühnenbilder gemacht werden, wie Karrieren gemacht werden, wie man selbst zum Publikum gemacht wird, und man erlebt, welch seltsame Dinge all diese „neuen“ Menschen anstellen. Vermutlich hätte es Antonin Artaud und sein Herstellen von Gegenwart auf der Bühne durch Performance gar nicht gebraucht, weil Theater das ohnehin ist. Das Theater ist als Fabrikationsunternehmen enorm performativ und gegenwärtig. Ein gigantischer Betrieb kann in Echtzeit beim Entstehen beobachtet werden. Für das Geschäftsmodell der Erlebnisarchitektur ist der Unterhaltungswert des tatsächlichen Fabrizierens vor Ort ebenfalls die einzige erfolgversprechende Basis. Disney ist gemessen an dieser Anforderung höchst aufregend, erlebt man doch eine der besten Atmosphärenfabriken live bei der Arbeit. Deswegen gehen auch Architekten staunend durch Disneyland, gelegentlich nörgelnd, aber viel öfter bewundernd und immer interessiert, wie bei einem Backstagerundgang. Damit fällt auch die Frage weg, ob Disney ein authentisches Stiftungsereignis auslösen kann. Was könnte anstiftender sein als zu erleben, wie die erfolgreichste Anstiftungsfabrik versucht, das intensivste aller Stiftungsereignisse zu inszenieren? Das ist, wie dem besten Zauberer dabei zuzusehen, wie er sein bestes Zauberkunststück auf der Bühne durchführt. Niemand muss an Zauberei glauben, um dennoch von dieser Aufführung beeindruckt zu sein. Genau mit diesem Zirkelschluss arbeitet Disney. Zumindest in der Demonstration allerhöchsten Bemühens ist Disney enorm beeindruckend. Letztlich gelingt damit sogar die nachträgliche Qualifizierung von Disneyland als Vierter Ort. Verglichen mit dem, was der Mainstream an alltäglichem Bemühen kennt und praktiziert, ist Disney tatsächlich eine fremde Welt. Entsprechend sind die Reaktionen der Besucher. Wie bei der Begegnung mit Außerirdischen wird mit Staunen, Überforderung, langsamer Adaption und schließlich mit sehr langer gedanklicher Nacharbeit geantwortet. 47 René Pollesch. In: Frank-M. Raddatz. Ebd. Seite 210

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Wer die Kategorisierung der Orte noch im Gedächtnis hat, wird jetzt eine Doppelbezeichnung erkannt haben. Fabriken sind als Arbeitsstätten eigentlich der Kategorie der Zweiten Orte zugeordnet. Bedeutet das nun, dass jede Arbeitsstätte, jede Fabrik ein Vierter Ort ist? Nein, man muss den Unterschied noch einmal deutlich betonen: Wenn in einer Fabrik nur in bekannten Routinen dahingearbeitet wird und folglich nur Selbstbestätigung passiert, dann bleibt die Fabrik das, was sie in der bisherigen Kategorisierung bereits war, eine Arbeitsstätte und folglich ein Zweiter Ort. Eine Fabrik wird erst dann zum Vierten Ort, wenn das Fabrizieren exzessiv intensiviert wird. Das Mission Statement lautet dann: durch maximale Ambition und Intensivierung eine Überschreitung ins Unmenschliche zu leisten. Unmenschlich deswegen, weil durch das Fabrizieren das bisherigen Menschformat überschritten wird, um zu einem neuen Menschformat zu kommen. Im Idealfall ist dieses neue Menschformat dem bisherigen äußerlich aber gleichzeitig überlegen – genauso wie Deleuze und Guattari das Verhältnis von Königswissenschaften und nomadischen Wissenschaften beschreiben. Flussers Werkzeugmensch ist dem vorangegangenen Handmensch in genau dieser Weise äußerlich und überlegen, der Maschinenmensch wiederum dem Werkzeugmensch etc. Das neue Menschformat muss dann jeweils neu kennengelernt, aufgearbeitet und schließlich absorbiert werden wie jedes Fremde, um dann wieder aufs Neue überschritten zu werden. Es ist also auch Disney als Anstiftungsfabrik herausgefordert, eine ständige Intensivierung und Selbstüberschreitung zu leisten. Wenn nicht, wird sogar aus dem Disneyland eine belanglose Freizeitanlage, wie es bereits viele gibt. Ist diese Gefahr der Belanglosigkeit der Grund, warum Flusser seine Idee vom Homo Faber schnell wieder aus der Fabrik entlässt und zum Studenten und Wissenschaftler weiterdekliniert? „Das lässt erahnen, wie die Fabriken der Zukunft aussehen werden: nämlich wie Schulen. […] Und den Apparatmensch der Zukunft haben wir uns eher als einen Akademiker denn als einen Handwerker, Arbeiter oder Ingenieur vorzustellen. […] Sobald aber Apparate die Maschinen verdrängen, wird ersichtlich, dass die Fabrik nichts anderes ist als angewendete Schule und Schule nichts anderes als Fabrikation von erworbenen Informationen.“48 Ist die Bildungs- und Forschungseinrichtung somit die Überschreitung der Fabrik? Und ist sie der Ort der zyklischen Selbstüberschreitung? Wenn ja, dann wären mit dem Studenten und 48 Vilém Flusser. Medienkultur. Fischer Verlag. 1997. Seite 169, 170

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dem Wissenschaftler tatsächlich Akteure gefunden, die die zyklische Selbstüberschreitung unausweichlich leisten. Das klingt fast zu schön, um wahr zu sein. Damit ist keine unterschwellige Kritik an den aktuellen Bildungs- und Forschungseinrichtungen angedeutet, sondern eine Warnung von Flusser. Wer sich selbst überschreitet, könnte in der Irrenanstalt landen – meint er. Die Irrenanstalt wäre dann ein sehr spezifischer Vierter Ort der Verfremdung bzw. Unmenschlichkeit: „Die zweite Industrierevolution hat den Menschen aus seiner Kultur verdrängt wie die erste aus der Natur, und daher ist die Maschinenfabrik als eine Art von Irrenanstalt zu betrachten.“49 An diesem Punkt merkt man, dass Flussers Idee vom Homo Faber gar nicht auf Selbstüberschreitung ausgelegt ist, sondern nur auf Selbstbestätigung als Mensch. Der Mensch soll die Entfremdung von Natur und Kultur sogar überwinden.50 Damit ist aber gleichzeitig eingestanden, dass Flussers Homo Faber nicht alle Fabrikationsrichtungen offenstehen sollen. Aber wie will man ohne Ergebnisoffenheit vom Homo Faber reden? Das wäre dann doch eher ein Homo Pflichterfüller. Diesen Widerspruch in Flussers Argumentation könnte man gelassen hinnehmen, wenn Flusser nicht von der Schule als Zukunftsfabrik reden würde. Gerade im Bildungsbereich muss man darauf bestehen, dass ohne Selbstüberschreitung kein Erlebnis zu vermitteln ist. Die Schule ist ebenfalls nur in der Intensität eines Vierten Ortes anstiftend. Ziel der Schule muss sein, dass man sie als ein anderer Mensch verlässt, als man sie betreten hat. Wenn möglich jeden Tag. Und auch hier gilt: Wer die Chance zur Selbstüberschreitung ernst nimmt, muss alle Fabrikationsrichtungen offenlassen. Man kann es sogar ultimativer zuspitzen: Die intensivste Anstiftung kommt immer von der diametralen Gegenwelt des bereits Bekannten, vom maximal Fremden und Bedrohlichen.51 Ortfried Schäffter

49 Vilém Flusser. Ebd. Seite 166 50 „Es ist daher damit zu rechnen, dass die wahnsinnige Entfremdung des Menschen aus der Natur und Kultur, so wie sie in der Maschinenrevolution ihren Höhepunkt erreicht, wird überwunden werden können. Die Fabrik der Zukunft wird keine Irrenanstalt mehr sein, sondern eher ein Ort, worin die schöpferischen Möglichkeiten des homo faber verwirklicht werden.“ Vilém Flusser. Ebd. Seite 167 51 „Das radikal Fremde taucht ferner als Überschuss auf, als das Unerlernbare in allem Lernen, das sich steigert, je näher wir ihm kommen, je mehr wir von ihm wissen und begreifen.“ Bernhard Waldenfels. Verfremdung der Moderne. Phänomenologische Grenzgänge. Wallstein Verlag. 2001. Seite 52

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nennt diese Gegenwelt einen externen Spielraum, Waldenfels einen Exzess – aber die Gegenwelt kann auch Flussers Irrenanstalt bedeuten.52, 53 Doch ohne diese riskante Konfrontation gibt es kein neues Ich.

Zukunft ohne Wunder Man kommt sich vor wie ein Idiot. Das ist der praktische Beweis dafür, dass man gerade ein Stiftungsereignis durchlebt. Der konkrete Grund für diese akute Zurücksetzung des Selbstbewusstseins ist eine doppelte Ankunft. Das Fremde erscheint nämlich nie allein am Horizont. Das Fremde kommt immer zu zweit, begleitet von einer ebenso fremden Parallelwelt, deren Existenz das fremde Ding verkörpert, vorstellt, bestätigt und aufdrängt. Das erste Schiff der Weltumsegler kam nicht allein, sondern es kam begleitet vom Zeitalter der ersten Globalisierung. Auch der erste Computer kam nicht allein, sondern mit ihm kam das Zeitalter der Digitalisierung. Die Liste dieser Doppelauftritte kannman nach Belieben verlängern, der überwältigende Erfolg ist jedes Mal gesichert. Das muss auch James Cameron gedacht haben, als er 1984 den Film Terminator vorstellte. Mit dem Terminator erschien nicht nur eine fremdartige Mensch-Maschine auf der Kinoleinwand, sondern der Terminator war der Überbringer des Weltuntergangs. Dramaturgisch gewitzt gab sich Cameron aber nicht mit der bloßen Voraussicht auf den Weltuntergang zufrieden, sondern er setzte ihn als Tatsache in die Zukunft. Erst nach dieser einleitenden Ernüchterung beginnt die Filmgeschichte, die im Wesentlichen aus einer Zeitreise besteht. Aus der post-apokalyptischen Zukunft wird ein Terminator in die Gegenwart zurückgeschickt, der den Menschen das Fürchten lehrt, indem er den Doppelauftritt des Fremden szenisch durchdekliniert. Sehr überzeugend in seiner Potenz als devastierendes Ding und absolut schockierend als Beleg dafür, wie die zukünftige Welt aussehen wird. 52 „Das Fremde erhält für ein dynamisches Ordnungsgefüge die Funktion eines externen Spielraums, der entwicklungsfördernde Impulse und strukturelle Lernprozesse erschließen hilft und in dem auch unvorhersehbare Entwicklungen möglich werden.“ Ortfried Schäffter. „Modi des Fremderlebens“. In: Ortfried Schäffter. Hrsg. Das Fremde. Erfahrungsmöglichkeiten zwischen Faszination und Bedrohung. Westdeutscher Verlag. 1991. Seite 22, 23 53 „Das radikal Fremde läßt sich nur fassen als Überschuß, als Exzeß, der einen bestehenden Sinnhorizont überschreitet.“ Bernhard Waldenfels. Topographie des Fremden. Suhrkamp Verlag. 1997. Seite 37

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Mancher wird einwenden, dass der erste Terminator zur Zeit seines Erscheinens im Jahr 1984 nicht mehr sehr neu war. Eine roboterhafte Mensch-Maschine wirkte reichlich nostalgisch verglichen mit dem, was bereits 1982 in Blade Runner an technoiden Unruhestiftern aufgeboten worden war.54 Ridley Scotts Replikanten marschierten nicht ungelenk als Ein-Mann-Abbruchunternehmen durch die Welt und hatten auch keine Maschinenschäden, an denen wie in der Autowerkstatt geschraubt wurde. Rutger Hauer und Daryl Hannah turnten stattdessen wie Popstars durch eine düster gewordene Menschenwelt. Da erschien die technische Zukunft plötzlich viriler und appetitlicher als die menschliche Gegenwart. Doch der Zweifel an der technischen Fortschrittlichkeit des Maschinen-Terminators wurde mehr als kompensiert durch Arnold Schwarzeneggers berühmten Filmsatz „I’ll be back“. Damit meinte er nämlich nicht nur die eigene Wiederkehr, sondern er brachte die unablässige Heimsuchung aller technoiden Unruhestifter auf die prägnanteste Formel. Dem ersten Terminator folgte also zügig der nächste technisch verbesserte Terminator II im gleichnamigen Nachfolgefilm, bis man sich schließlich entschloss, in regelmäßigen Abständen Terminatoren aus der Zukunft auf die Filmleinwand zu schicken, genauso wie man neue Autos, neue Smartphones, neue Diäten in den üblichen Update-Zeiträumen über die Menschheit herfallen lässt. Man muss Camerons Terminator-Drehbuch nicht wörtlich wertschätzen, aber das zeitlos Kluge an seiner Filmgeschichte ist das Zusammenstürzen von drei Begriffen in eine einzige drastische Erscheinung: Beim Terminator werden das Fremde, das Technische und das Zukünftige synonym. Damit kann man die längst überfällige Frage überspringen, ob das Fremde immer technisch ist und die Parallelwelt, die das Fremde mit sich bringt, immer eine technologische Neuzeit ist. Diese Ahnung hatte man ja schon viel früher, aber der Publikumserfolg des Terminators bestätigt diese Ahnung auf kurzem Weg. Das Fremde und das Zukünftige sind garantiert vielgestaltiger, aber ausgerechnet der technische Anteil am Fremden löst den lautesten Alarm aus. Warum? Menschen sind techniksensibel. Sie erkennen vor allem überlegene Technik schnell und intuitiv, schon im Kindesalter, selbst wenn sie die Technik noch gar nicht verstehen. Wobei Technik zweifältig gemeint ist, Technik als Sachsystem und/oder Technik als Methode. Jemand besitzt 54 Ridley Scott. Blade Runner. 1982

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eine Maschine, die man selbst noch nicht besitzt, und/oder jemand beherrscht eine Fertigkeit, die man selbst noch nicht beherrscht. Die Wirkung ist zweimal die gleiche. Man erlebt sich als Mangelwesen. In der Überlegenheit der fremden Technik spiegelt sich deutlich die eigene Unterlegenheit. Exakt diese Disbalance wirkt alarmierend und aktivierend, denn es ist eine anthropologische Grunderfahrung des Menschen, dass sich überlegene Technik durchsetzt. Wobei durchsetzen ultimativ zu verstehen ist, selbst wenn das heute gern als kreative Zerstörung schöngeredet wird. Die neue Technik zwingt sich unweigerlich als neuer Maßstab auf, der alles Bisherige schlagartig abwertet. „Die Gefahr, die von Wissenschaft ausgeht, liegt genau umgekehrt darin, dass es gelingt. Die Gefahr geht von Wahrheiten aus, denn mit Unwahrheiten kann niemand […] etwas anfangen. Nur die Wahrheit kann gefährlich werden, und dies aufgrund des ihr inhärenten Zwangs zur Anerkennung und ihres technischen Funktionierens.“55 Das ist in verstärkter Weise die Atmosphäre der Moderne. Moderne ist Kalter Krieg. Modernsein bedeutet permanenter Alarmzustand, weil man annehmen muss, dass jederzeit irgendwo irgendwer an einer überwältigenden Überbietung arbeitet, die dann über einen hereinbricht. Der schlimmste Moment für einen Modernen ist also nicht die Begegnung mit dem Unmodernen, Zurückgebliebenen, sondern die Begegnung mit der nächsten großen Erfindung. Dann steht man plötzlich selbst als der Unmoderne da. Hinzu kommt, dass einem genau im Moment des Überbotenwerdens die unausweichliche Zeitlichkeit der Überbietung demonstriert wird. Cameron hat recht, die technische Überbietung erscheint immer als Agent aus der Zukunft. Salopp möchte man nachfragen: Woher sollte das überlegene Technische denn sonst kommen, wenn nicht als Alien aus der Zukunft? Die Historiker werden einwenden, dass es immer wieder sprunghafte Rückbesinnungen gegeben hat, gerade wegen der Fortschrittlichkeit alten Wissens. Wie oft ist die Antike als Zukunftsprojekt reaktiviert worden? Aber diese punktuellen kulturellen Rücksprünge können die generelle Richtung des technischen Fortschritts nicht langfristig irritieren. An kaum einem Machwerk lässt sich zeitlicher Fortschritt besser ablesen als an Technik. Nicht an Kunst, nicht an Religion, nicht an Politik. Technik schreibt die deutlichsten Jahresringe in die

55 Niklas Luhmann. Soziologie des Risikos. Walter de Gruyter. 2003. Seite 218

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Geschichte. „Vergangenheit ist der Blödsinn von gestern“,56 fasst Martin Gross prägnant zusammen. Konrad Paul Liessmann hat in seinem Buch Zukunft kommt! sehr schlüssig herausgearbeitet, dass momentan eine außerordentliche Fokussierung auf die Zukunft stattfindet.57 Hinzufügen muss man, dass nur eine technisch durchwirkte Gesellschaft eine derartige Hysterie um die Zukunft entwickeln kann, denn eine technisch durchwirkte Gesellschaft nimmt Gross’ Satz persönlich. Angesichts neuer Technik erlebt man sich selbst als der Blödsinn von gestern. Und man darf noch einen zweiten Satz von Gross persönlich nehmen: „weil die Vergangenheit verstummt, und die Gegenwart unter unseren Händen veraltet. Allein die Zukunft ist uns gegenwärtig“.58 Wenn das stimmt, dann begegnet man angesichts neuer Technik seiner eigenen Zukunft. Man sieht sein eigenes besseres Ich vor sich. Man kommt sich also nicht nur vor wie ein Idiot, man erlebt gleichzeitig, wer man werden wird, nachdem man die technische Lektion angenommen und den Idioten in sich überwunden hat. Technische Neuerung tritt also im Modus der Selbsterpressung auf. Man wird vor die existenzielle Wahl gestellt: Will man der eigene Blödsinn von gestern sein oder sein neues, verbessertes Ich? Eine dritte Option wird nicht angeboten, dekonstruktive Auswege ebenso wenig. Zur Orientierung muss man noch einmal daran erinnern, wie man in diese ultimative Lage gekommen ist. Es ist die Begegnung mit dem Fremden, die sich letztlich als Aufforderung zur überfälligen Selbstkonfrontation entpuppt. Der zukunftsfähige Architekt fragt also nicht, wer oder was ihm da gegenübersteht, sondern wie sehr er sich von seinem längst bekannten Ich entfremden muss, um selbst Zukunft sein zu können. Sehr viele zeitgenössische Abwehrschlachten gegen das Fremde, nicht nur in der Architektur, sind Ausweichmanöver vor genau dieser peinlichen Selbstkonfrontation. Wem diese Definition zu eng erscheint, dem muss man vorwerfen, immer noch in einem verworrenen Mysteriengarten zu leben, zumindest was den Begriff des Fremden betrifft. Was sollte das Fremde denn sonst sein, wenn nicht das bessere 56 Martin Gross. „Ferne/Nähe“. In: Ortfried Schäffter. Hrsg. Das Fremde. Erfahrungsmöglichkeiten zwischen Faszination und Bedrohung. Westdeutscher Verlag. 1991. Seite 69 57 Konrad Paul Liessmann. Zukunft kommt! Über säkularisierte Heilserwartungen und ihre Enttäuschung. Styria Verlag. 2007 58 Martin Gross. „Ferne/Nähe“. In: Ortfried Schäffter. Hrsg. Das Fremde. Erfahrungsmöglichkeiten zwischen Faszination und Bedrohung. Westdeutscher Verlag. 1991. Seite 68

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zukünftige Ich? Der weltumsegelnde Holländer, das Alien in Area 51, der Terminator? Zur romantischen Unterhaltung kann man solche Fremdbilder immer noch pflegen, aber zukunftsfähig sind sie nicht. Die spezifische Frage lautet nun: Wie geht die Architektur mit dem Zusammenstürzen von Fremdheit, Technik und Zukunft um? Erstaunlich voraussichtig – kann man antworten. Vor allem die frühe Moderne erkennt die heraufziehende Drohung des Technischen sofort als übermächtige Instanz. Die Architektur wartet also nicht zögernd, bis sie überrannt wird, sondern stürzt sich kopfüber der neuen technischen Zukunft entgegen. In den Terminator-Filmen laufen alle vor den MenschMaschinen aus der Zukunft davon, anstatt selbst Mensch-Maschinen zu werden. Die Architektur hingegen hat sich regelrecht entleibt, um als Architekturmaschine wiederaufzuerstehen. Das ist selbstlos und klug zugleich. Die Architektur hat begriffen, dass sie nur über das Technischwerden selbst als überwältigendes Fremdes aus der Zukunft auftreten kann. Ein Auftritt, für den es in der Architekturöffentlichkeit nicht immer den größten Applaus und die größte Wertschätzung gab. Aber das war gar nicht nötig, weil sich die Architekturmaschine wie jede überlegene Technik letztlich aufzwingt. Am bildstärksten zeigt diese Transformation das 1931 publizierte Buch Konstruktion der Architektur und Maschinenform von Iakov Chernikhov. Zumindest rückwirkend als eines der Gründungsdokumente der Moderne aufgewertet, blättert man Seite um Seite durch Perspektivzeichnungen von technoiden Gebilden, die in Summe die Konvergenz von Architektur und Maschine belegen sollen. Ist die Architektur also bestens aufgehoben in der innigen Liaison mit der Maschine? Nicht ganz, denn gerade der optische Überschwang der Hochzeit zwischen Architektur und Maschine wirkt bald verdächtig. Der Nachweis der Konvergenz zwischen Architektur und Maschine wird von Chernikhov irritierenderweise ausschließlich formal geführt. Keine einzige der zahlreichen Perspektiven wird als konkretes Projekt belegt, kein konkreter Inhalt, kein Raumprogramm, kein Grundriss, kein Schnitt. Nichts außer den Perspektivbildern, die als technoide Drapagen einen bestimmten architektonischen Look vorgeben. Trotz der Unzahl an faszinierenden Bildern ist die Methode selbst verstörend oberflächlich. Ist die behauptete Konvergenz zwischen Architektur und Maschine nur eine Scheinehe? Hat eine tiefere Verbindung zwischen den zwei Disziplinen gar nie stattgefunden? Wenn man die sonstigen 488

Publikationen von Chernikhov in die Interpretation miteinbezieht, verfestigt sich dieser Eindruck. Vor Konstruktion der Architektur und Maschinenform erscheint Fundamentals of Modern Architecture (1929) und danach Architectural Fantasies (1933). Inhalt und Methode sind bei allen drei Büchern im Prinzip gleich, wieder Perspektivzeichnungen, die einen modernen architektonischen Look durchdeklinieren. Man darf die drei Buchtitel also getrost ineinanderblenden und staunen, wie oberflächliche die Liaison von Architektur und Maschine abgehandelt wird, und wie dreist diese Oberflächlichkeit zum Fundament der Moderne erklärt wird. Noch mehr Staunen verdient allerdings die Langlebigkeit dieser Scheinehe zwischen Architektur und Maschine. Generationen von nachfolgenden Architekten haben Chernikhovs optische Vorlage in ihren Projekten umgesetzt, aber ebenfalls kaum vertieft. Im Bauhaus werden Studenten anhand von Chernikhovs Vorlagen trainiert; bei der Expo 67 in Montreal ist bereits eine ganze Maschinenarchitekturlandschaft in Szene gesetzt; bei der Expo 70 in Osaka wird die Maschinenarchitektur zum Metabolismus gesteigert; und sogar die Hightech-Architektur der 1990er Jahre ist immer noch in Chernikhovs Look gewandet. Mit Architekten wie Bernard Tschumi gelingt parallel dazu sogar der Sprung von der Moderne in die Postmoderne. Die Architekturmaschine wird zerstückelt und optisch dekonstruiert. Shin Takamatsu schließlich treibt es auf die Spitze. Seine Gebäude sehen aus wie die Manga-Version von Gilles Deleuze und Félix Guattaris Maschinenallegorie im ersten Absatz von Anti-Ödipus.59 Doch auch das war nur ein ästhetisches Zu-Ende-Steigern der Maschinentheatralik und keine wirkliche Vertiefung der Verbindung zwischen Architektur und Maschine. Ein definitives Ende des Chernikhov-Looks ist auch heute noch nicht festzustellen, selbst wenn der allzu dumpfe Maschinen-Look aus der Mode gekommen ist. Irgendwann erschien schließlich der Computer als neue Post-Maschinenikone am Technohorizont, und die Architektur 59 „Es funktioniert überall, bald rastlos, dann wieder mit Unterbrechungen. Es atmet, wärmt, ißt. Es scheißt, es fickt. Das Es ... Überall sind es Maschinen im wahrsten Sinne des Wortes: Maschinen von Maschinen, mit ihren Kupplungen und Schaltungen. Angeschlossen eine Organmaschine an eine Quellemaschine: der Strom, von dieser hervorgebracht, wird von jener unterbrochen. Die Brust ist eine Maschine zur Herstellung von Milch, und mit ihr verkoppelt die Mundmaschine. Der Mund des Appetitlosen hält die Schwebe zwischen einer Eßmaschine, einer Analmaschine, einer Sprechmaschine, einer Atmungsmaschine (Asthma-Anfall). In diesem Sinne ist jeder Bastler; einem jeden seine kleinen Maschinen.“ Gilles Deleuze, Félix Guattari. Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie I. Suhrkamp Verlag. 1974. Seite 7

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hat sich zur nächsten Scheinehe entschlossen. Seither hört man von Architekten mehr Hingebungsvolles über digitale Architektur als über Maschinenarchitektur. Aber das Grundproblem bleibt dasselbe. Die Liaison mit der Technik ist ein Fake. Die behaupteten Technopartner wissen nicht einmal etwas von der Liaison mit der Architektur. Es sind auch Jahrzehnte nach Chernikhov keine Publikationen aus dem Maschinenbau bekannt, in denen die Maschinenbauer von der unbedingten Verschmelzung mit der Architektur schwärmen. Auch die Informatiker sind bisher nicht mit Liebesschwüren an die Architektur aufgefallen. Hat überhaupt jemals eine technische Disziplin von einer Verbindung mit der Architektur geschwärmt? Dieses oberflächliche Technostalking der Architekten ist gelinde gesagt verdächtig und peinlich, aber vor allem ist es die falsche Strategie. Man muss hier daran erinnern, dass laut Niklas Luhmann der Kern des Technischen die Simplifikation ist und nicht irgendein überschäumender technoider Look. Aufschlussreich wird Luhmanns Idee der Simplifikation allerdings erst in der weiteren Deklination: „Technik, im umfassenden Sinne begriffen, ist funktionierende Simplifikation, ist eine Form der Reduktion von Komplexität, die sich konstruieren und realisieren lässt, obwohl man die Welt und die Gesellschaft nicht kennt, in der dies geschieht: ausprobiert an sich selber.“60 Luhmann ist sehr präzise, er spricht von funktionierender Simplifikation. Exakt diese Wortkombination dreht das Argument ist eine tautologische Richtung. Sobald etwas funktioniert, tritt tatsächlich eine Vereinfachung ein, schlagartig sogar. Die ganze Unsicherheit verschwindet, die ganzen alternativen Ideen und Varianten können weggepackt werden, die Aufmerksamkeit kann reduziert werden. Plötzlich klärt sich das Feld und man erwacht hinein in eine Klarheit und Einfachheit. Dieses aufgeklärte Erwachen ist also das Ziel der Technik. Wenn man diese Aufgeklärtheit als Forderung an Architektur heranträgt, werden sich jetzt all jene bestätigt fühlen, die schon immer funktionierend simplifizierte Architektur als einzig zukunftsträchtig angesehen haben. Die Wortfolge liest sich etwas holprig, aber die meisten werden darunter klug reduzierte Architektur verstehen. Diese Interpretation irritiert noch niemanden – aber nur weil die Übertragung der Technikdefinition immer noch zu oberflächlich ist. Tiefgründig wird sie 60 Niklas Luhmann. Beobachtungen der Moderne. VS Verlag für Sozialwissenschaften. 2006. Seite 21

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erst, wenn man sie persönlich nimmt und auf sich selbst als Architekt anwendet. Dann ist die Irritation plötzlich groß, denn wie muss man sich einen funktionierenden simplifizierten Architekten vorstellen? Die Wortfolge liest sich wieder ungewöhnlich konstruiert, aber in der Tendenz skizziert sie ein Selbstverständnis, das eher als Vorwurf taugt. Nicht wenige Beobachter werfen der Baubranche insgesamt vor, bereits zu viele simplifizierte Akteure wüten zu lassen, die außer kurzsichtiger Funktionalität keine Handlungsorientierung kennen. Ambitionierte Architekten wollen daher wesentlich mehr sein und wesentlich mehr leisten. Für sie gilt immer noch Le Corbusiers Künstlermysterium, kaum mehr so forsch vorgetragen wie von Le Corbusier selbst, aber als Idee ist es nach wie vor richtungsweisend: „Baukunst heißt mit rohen Stoffen Beziehungen herstellen, die uns anrühren. Baukunst steht jenseits von Nützlichkeitsfragen. Baukunst ist eine Frage des Gestaltens. Geist der Ordnung, Einheit des Gestaltungswillens. Sinn für Zusammenhänge; die Baukunst schaltet mit Größen. Aus trägen Steinen baut die Leidenschaft ein Drama.“61 In dieser lyrischen Skizze der Architektenarbeit schimmert Boris Groys’ Definition des Künstlerseins durch. Der Künstler ist laut Groys jemand, der eine mysteriöse Aufwertung anstellt.62 Eine Aufwertung, die nicht argumentierbar ist, sondern nur behauptet werden kann. Eine Aufwertung, die auch nur vom Künstler selbst angestellt werden kann. So entsteht moderne Kunst, und so entsteht sinngemäß moderne Baukunst – zumindest laut Le Corbusier. Doch genau in dieser mysteriösen Aufwertung liegt das Problem der Architektur. Kann diese Aufwertung vom Gebauten zur Baukunst überhaupt gelingen? Im Kunstkontext werden derartige mysteriöse Aufwertungen buchhalterisch über steigende Marktpreise und prominente Ausstellungsorte nachgewiesen. Aber wie will man in der Architektur eine behauptete Aufwertung verbindlich nachweisen? Zeichnen die höchsten Mietpreise die baukünstlerisch besten Wohnungsarchitekturen aus? Zeichnet der größte Lernerfolg der Kinder die baukünstlerisch wertvollsten Grundschulen aus? Wie verlässlich werden baukünstlerische Juryentscheidungen bei Architekturwettbewerben von den Nutzern wertgeschätzt? Kann eine Fachelite der Mainstreamöffentlichkeit vorschreiben, welche Architektur Baukunst zu sein hat und welche nicht? In der Kunst werden solche vorgegebenen Wertschätzungen vom Publikum 61 Le Corbusier. Ausblick auf eine Architektur. Bauwelt Fundamente 2. Ullstein Verlag. 1963. Seite 118 62 Boris Groys. Über das Neue. Versuch einer Kulturökonomie. Carl Hanser Verlag. 1992

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meist unkritisch angenommen, in der Architektur hingegen überhaupt nicht. Le Corbusiers Malerei wird man der breiten Öffentlichkeit heute widerstandsfrei als Kunst verkaufen können, aber seine Architekturen immer noch nicht, und sein Städtebau ist nach wie vor eine Zumutung. An diesen kurzen Skizzen lernt man, dass Gelingen in der Architektur ein so extrem volatiler Wert ist, dass man gar nicht mehr von Gelingen reden kann. Man muss sich also damit abfinden, dass Groys’ Idee der mysteriösen Aufwertung unmöglich von Kunst auf Architektur übertragbar ist. Bedeutet das dann, dass es auch keine Baukunst mehr gibt? Auch diese Frage sollte man wieder personalisieren. Bedeutet die Unmöglichkeit einer verbindlichen Aufwertung, dass es keinen Baukünstler mehr geben kann? Die Antwort lässt sich entlang einer Konvention prägnant illustrieren: Dem Künstler wird nicht zugemutet, sein Werk zu erklären und zu interpretieren, schon gar nicht die behauptete mysteriöse Aufwertung. Er stellt das Werk lediglich vor, mehr muss er nicht tun. Dann kommen intellektuelle Fremdarbeiter hinzu und erledigen Interpretation, Erklärung, Einordnung, Wertschätzung. Dem Künstler wird also zugestanden, in seiner eigenen mysteriösen Wertewelt zu verbleiben, ohne Rechtfertigung. Wer das einem Architekten ebenfalls zugesteht, macht ihn zum Baukünstler. Wer jedoch vom Architekten direkte, nachvollziehbare Auskunft über den Wert seiner Architekturarbeit verlangt, verunmöglicht das Baukünstlersein. Diese direkte Rechtfertigungspflicht unterscheidet den Architekt vom Künstler und ordnet ihn dort zu, wo ihn Le Corbusier nicht haben wollte: in die Nähe des Maschinenbauers, Ingenieurs, Technikers. Le Corbusier ahnte wohl, dass mit der Rechtfertigungspflicht des Technikers nicht nur eine lästige Zusatzarbeit auf den Architekten zukommen würde, sondern eine vollständige Neuformatierung des architektonischen Denkens gefordert wäre. Luhmann macht diese Ahnung schonungslos konkret: „Deshalb kann man Technik auch als weitgehende kausale Schließung eines Operationsbereichs begreifen. Das Resultat von Technisierungen ist also eine mehr oder weniger erfolgreiche Isolierung von Kausalbeziehungen mit der Folge, dass (1) Abläufe kontrollierbar, (2) Ressourcen planbar und (3) Fehler (einschließlich Verschleiß) erkennbar und zurechenbar werden. […] Aber wenn es möglich ist, kann man die Vorteile der Isolierung spezifischer Kausalverläufe gewinnen.“63

63 Niklas Luhmann. Soziologie des Risikos. Walter de Gruyter. 2003. Seite 97, 98

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So also denkt ein Techniker und kein Künstler. Die einzige Architektengruppe, die das ansatzweise ähnlich praktiziert, sind die Ökoarchitekten. Da wird ein universeller Leistungsstandard angelegt, offengelegt und ausführlich erläutert. Oft entscheidet dann eine einzige Energiezahl, ob ein Gebäude gut oder schlecht ist. Das versteht jeder. Deswegen gelingt es der Ökoarchitektur auch am besten, die logische Nähe von anstiftender Fremdartigkeit, Technik und Zukunftsfähigkeit zu verkörpern – nicht nur in der Einschätzung der Architekturkollegen, sondern auch in der Einschätzung der breiten Öffentlichkeit. Jenseits der Ökoarchitektur hat sich diese entmystifizierte Bewertung von Architektur aber noch nicht durchgesetzt. Zu Unrecht, denn all jene Architekten, denen dieser rechtfertigungsbereite Technopositivismus zu nüchtern erscheint, haben die befreiende Dimension nicht erkannt. Technoarchitektur bedeutet, es gibt keine Geschmacksdebatten, keine verworrenen Gestaltinterpretationen, keine allegorischen Konzepte, keine semantischen Spielchen, keine Ausflüchte ins Transzendente mehr. In der Technik gibt es keinen mysteriösen Sprung zur Meisterschaft wie in der Kunst. In der Technik wird der Weg zum höchsten Ziel ausgeforscht und für alle offen ausgesteckt. Technische Neuerung wird sogar erst anerkannt, wenn sie von jedem jederzeit wiederholbar ist. Juristische Limitierungen der Wiederholbarkeit über Patentrecht, Lizenzrecht etc. bestätigen lediglich die Niederschwelligkeit der rein technischen Nachahmung. Technik ist also Zukunft ohne Wunder für jedermann. Sinngemäß ist auch technische Architektur architektonische Zukunft ohne Wunder für jedermann. Systemisch ist das an Menschenfreundlichkeit nicht zu überbieten, selbst wenn es sich im konkreten Gebrauch nicht immer so anfühlt.

Gegenblick Es ist beinahe zum Verzweifeln. Das Fahren lässt die statische Fixierung des Gesehenen nicht zu. Man versucht ein Bild zu betrachten, aber schon fließt es einem durch die Wahrnehmung. Eine Tankstelle setzt an, ihr Narrativ zu vermitteln, mit Logo, Gestaltpräsenz, Preisschildern, geschäftigen Kunden, aber da fällt ihr schon ein Fast-Food-Restaurant ins Wort und breitet seine Corporate-Lifestyle-Überredungen aus, im nächsten Augenblick verdrängt von Plakatwänden und Überkopfanzeigern. 493

Relevant ist immer nur der Auftritt des Neuen im Aufmerksamkeitsfeld des Fahrers. Die Szenen, Bilder, Zeichen werden nicht ein- und ausgeblendet, sondern stroboskopisch überblendet, ein unablässiges Kommen. Fahren ist wie ein Wasserfall durch die Augen. Im Zentrum dieses Wasserfalls an Bildern befinden sich aber nur das Standbild der Straße und die daran haftenden Regelsysteme, von der Logik der Rasterstadt bis zur Benzinanzeige im Armaturenbrett. Das Stadtleben erscheint dem Autofahrer als Lochbild, als ringförmiger Nebel aus peripherer Anmache. Die straßenbegleitenden Ereignisse werden also nur beiläufig wahrgenommen, aus dem Augenwinkel durchgeblättert, aber nicht voll in Betracht gezogen. Nur die ausnahmsweise Unaufmerksamkeit beim Fahren eröffnet ein kurzes Aufmerksamkeitsfenster für die Ereignisse am Straßenrand. Auf diese Ausnahme kann man als Animationsmacher natürlich spekulieren, trotzdem gilt: Der Zwang zum Vorbeischauen bestimmt die Wahrnehmung in Los Angeles. Innerhalb des skizzierten peripheren Animationsnebels gibt es allerdings Ausreißer. Nicht häufig, aber oft genug, um von einem eigenen Phänomen sprechen zu können. Die Ausreißer unterscheiden sich von ihrer Umgebung vordergründig durch einen markanten Dimensionssprung. Kontinuierlich peripherer Animationsnebel und plötzlich steht da eine riesenhafte Figur im Stadtmeer herum. 30 Meter Höhe können diese Riesenbilder schon erreichen, was im meist flach bebauten Los Angeles eine weithin sichtbare Präsenz garantiert. Immer sind es besondere Gestalten, Idealkörper, perfektioniert, oft Prominente, John Lennon und Yoko Ono werben für Apple, drei jugendliche Models tragen Markenkleider, Lion King promotet den gleichnamigen Film etc. Sämtliche Helden der letzten Dekaden sind irgendwann groß in der Stadt gehangen. Im Prinzip banale Werbebilder, die aber so klug in den Aufmerksamkeitsraum des Autofahrers gestellt sind, dass sich der enorme Aufwand lohnt. Das hat offensichtlich auch die Kunst erkannt und setzt ähnlich große Bilder in die Stadtlandschaft. Kent Twitchell ist dabei nicht nur der bekannteste, sondern der strategisch lehrreichste. Seine Riesenbilder zeigen prägnant, wie so ein Auftritt konstruiert wird. Es reicht nämlich nicht, die Figuren nur übergroß darzustellen. Genauso wichtig ist die frontale Ausrichtung. Die Figuren treten dem Betrachter direkt, auffordernd entgegen. Nie werden die Figuren überrascht vom Betrachter, nie erlauben sie sich lomografische Attitüden oder nachlässige Abgewandtheit. 494

Sie halten selbstbewusst und diszipliniert ihre Pose und sehen einen direkt an. Große Augen, insistierender Blick, manche Bilder schaffen es, den Betrachter magnetisch zu fixieren. Die Essenz dieser Direktheit hat Dean Stockton aka D*Face in Szene gesetzt. Look Into My Eyes nennt er sein Mural auf der Fassade des The LINE Hotel, das fast nur aus Augen besteht.64 Für die direkte Übertragung von Stimmungen und Suggestionen gibt es keine eindringlichere Methode. Hier muss keine Farb-, Logo- oder Zeichenerscheinung auf einen emotionalen Grundgehalt rückcodiert werden, sondern man wird durch den strengen Gegenblick sofort angesprochen. Dennoch muss man mit einem Vergleich zwischenfragen: Der Versuch, im Stadtraum bildtechnisch Eindruck zu machen, ist nicht neu und nicht exklusiv. Anhand von Leuchtfassaden wie am Times Square kann man nachweisen, dass lediglich das überdimensionale Auftürmen von banalsten Preisschildern, Produktwerbungen und sonstigen bunten Spektakeln eine euphorisierende Wirkung auf Menschen hat. Auch dabei werden gelegentlich Figuren und Gesichter eingeblendet. Dennoch ist der Times Square in Summe ein anderes Phänomen. Dort wird kein gezielter visueller Gegenblick gesucht, sondern ein einhüllender Wirkungsraum erzeugt durch Intensivbestrahlung mit Farbe und Licht. Der Mensch wird dabei nicht als erkennendes Wesen angesprochen, sondern nur gewärmt, wie ein Tier, das gar nicht anders kann, als auf das urbane Sonnenbad mit Wohlgefallen zu reagieren. Die Riesenbilder in Los Angeles sind also wesentlich mehr als nur urbane Wärmelampen für den beiläufigen Betrachter. Das lässt schon die Ähnlichkeit mit überdimensionalen Herrschaftsfiguren erahnen, wie man sie aus anderen Zeiten und anderen Kulturen kennt. Auch im machtpolitischen Kontext ist die frontal gegenblickende Riesenfigur ein Klassiker. In Los Angeles haben sich nur die Persönlichkeiten geändert, statt Lenin wird Lennon plakatiert, statt von Ramses wird man von Ed Ruscha eindringlich angeblickt. Twitchell nennt sein zweites RuschaRiesenbild sogar The Return of Ed Ruscha. Der Titel ist nicht aus der Luft gegriffen. Twitchell hatte 1987 mit dem Ed Ruscha Monument sein erstes Ruscha-Riesenbild fertiggestellt, das 2006 jedoch übermalt worden war. Das zweite Ruscha-Riesenbild dann als Wiederkehr zu betiteln, beweist strategischen Sinn für große Dramatik. Auch sonst wählt Twitchell gern 64 The LINE Hotel. 3515 Wilshire Boulevard, Ecke South Ardmore Ave. Los Angeles.

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Titel, die auf den Dominanzanspruch seiner Riesenbilder hinweisen: Steve McQueen Monument, Strother Martin Monument, The Holy Trinity with the Virgin, 111th Street Jesus etc. Diese Tendenz zur frontal gegenblickenden Monumentalität konsolidiert die Riesenbilder als eigene Wesenskategorie. Sie sind die theatralische Klischeeversion des Fremden und damit das eindrucksvollste Fremde, das einem im Stadtgebiet von Los Angeles überhaupt begegnen kann. Ohne Vierten Ort, ohne Schutzabstand, ohne Moderation tritt einem das Fremde offen entgegen. Wie ein Besucher aus einer anderen Welt. Und wie bei jedem Fremden ist der Auftritt ein doppelter. Die Riesenbilder treten einem nicht allein gegenüber, sondern werden wieder von einer fremden Welt begleitet. Aus Roland Barthes theoretischen Abhandlungen zur Fotografie kann man die Fremdheit dieser Welt herausdestillieren: „Der Name des Noemas der Photographie sei also: ‚Es-ist-so-gewesen‘ oder auch: das Unveränderliche.“65 „Ich könnte es auch anders ausdrücken: was die Natur der Photographie begründet, ist die Pose. […] Ich übertrage die Unbewegtheit des Fotos, das ich vor Augen habe, auf die in der Vergangenheit gemachte Aufnahme, und dieses Innehalten bildet die Pose.“66 „Mag das Foto auch ‚modern‘, mit unserer noch so lauten Alltäglichkeit vermischt sein, so gibt es dennoch in ihm einen rätselhaften Punkt von Inaktualität, eine seltsame Stauung, Inbegriff des Stillstands“.67 Auffällig, wie konsequent Barthes Fotografie mit Bewegungslosigkeit charakterisiert. Die Großbilder in Los Angeles bestätigen ihn. Es ist genau dieser monumentale Stillstand, den die Großbilder als fremde Welt in das sonst so fluide Stadtleben einbringen. Der monumentale Stillstand ist offensichtlich und wirksam, beinhaltet aber eine raffinierte indirekte Strategie. Beharren könnte ja auch ein kleines Bild – denkt man. Aber das ist ein Irrtum. Die alltägliche Umsetzung des Beharrens zwingt zur außerordentlichen Dimension. Nur durch die enorme Größe können die Riesenbilder den Aufmerksamkeitsraum des Betrachters schon aus großer Distanz in Anspruch nehmen und während der gesamten Annäherung stabil besetzen. Oft sieht man die Riesenfiguren schon am Horizont als regelrechte Landmark und fährt über mehrere Querstraßen und Ampelperioden langwierig darauf zu. 65 Roland Barthes. Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie. Suhrkamp Verlag. 1985. Seite 87 66 Roland Barthes. Ebd. Seite 88 67 Roland Barthes. Ebd. Seite 101

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Während die sonstige straßenbegleitende Animation permanent vorbeischwimmt, bleiben die Riesenbilder unverändert im Blick.68 Größe wird also in Dauer übersetzt. Was das bedeutet? Zu Beginn noch nicht viel. Der Betrachter blickt das Riesenbild an und das Riesenbild blickt zurück. Mit dem dauerhaften Fixieren des Betrachters wird die wechselseitige Beziehung aber gefährlich intensiviert. Hier eskaliert etwas. Georges Didi-Hubermans Buchttitel Was wir sehen blickt uns an benennt keine gelassene Relation, sondern ist nur der Auftakt für eine Steigerung. Der insistierende Gegenblick ist etwas, das uns „anblickt, uns betrifft, uns heimsucht“.69 Da wird plötzlich eine Unbedingtheit und Wirkungstiefe erkennbar, die jedem schon Schwierigkeiten bereitet hat. Es gibt in verschiedenen Kulturen sehr divergierende Regelungen, wie bei Begrüßung und Gesprächsführung der Blickkontakt mit dem Gegenüber zu handhaben ist. Doch egal ob Blick und Gegenblick explizit erwünscht oder genauso explizit verpönt sind, allein die Regelanstrengung beweist die nachhaltige Wirkung. Der erste Blickwechsel ist die Einladung, der zweite Blickwechsel ist die Verabredung – und als drittes folgt garantiert eine physische Interaktion. Das kann eine freundliche Zuwendung, ein distanzverkürzender Schritt, aber auch ein wilder Angriff sein. Slavoj Žižek kürzt den emotionalen Content dieser Momente heraus und kommt so zur eigentlichen Essenz: Der Dauerblick ist eine existenzielle Bestätigung des Seins. „Angst rührt hier von der Aussicht her, nicht die ganze Zeit dem Blick des Anderen ausgesetzt zu sein, so dass das Subjekt den Blick der Kamera als eine Art ontologische Garantie seines Seins braucht.“70 Eine wuchtige Steigerung, die Žižek da einbringt. Zwischen Subjekt und gegenblickender Instanz, egal ob Kamera oder Riesenbild, passiert also dramatisch mehr als nur ein visueller Austausch. Die Riesenbilder sind eine Garantie des Seins für alle, die in den Sichtkegel ihres insistierenden Blicks geraten sind. Selbst wenn man sich von der Dramatik der 68 „Das erklärt auch, warum das Noema der Photographie verkümmert, wenn diese Photographie in Bewegung gerät und zum Film wird: im Photo hat sich etwas vor eine kleine Öffnung gestellt und ist dort geblieben (so jedenfalls empfinde ich es); doch im Film hat sich vor der gleichen kleinen Öffnung etwas vorbeibewegt: die Pose wird von der ununterbrochenen Folge der Bilder beseitigt und geleugnet […].“ Roland Barthes. Ebd. Seite 88 69 „Nun beginnen wir zu verstehen, dass jedes sichtbare Ding, so ruhig und so neutral es dem Schein nach auch sein mag, unausweichlich wird, wenn es von einem Verlust getragen wird – sei es durch eine einfache, aber zwingende Ideenassoziation oder durch ein Sprachspiel –, und uns von daher anblickt, uns betrifft, uns heimsucht.“ Georges Didi-Huberman. Was wir sehen blickt uns an. Zur Metapsychologie des Bildes. Wilhelm Fink Verlag. 1999. Seite 15 70 Slavoj Žižek. Lacan in Hollywood. Verlag Turia + Kant. 2000. Seite 25, 26

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Formulierung nicht vereinnahmen lässt, so ist dennoch klar, welche große Aufgabe einem Element des Stadtraums dabei zugeschrieben wird. Für Architekten sollte interessant sein, dass Žižek diesen Gegenblick prinzipiell auch der Architektur zutraut: „Wir begegnen hier der Antinomie zwischen dem Auge und dem Blick in Reinform: das Auge des Subjekts erblickt das Haus, aber das Haus – das Objekt – scheint irgendwie den Blick zu erwidern.“71 Architektur, die zurückblickt? Architektur, die durch den Gegenblick eine ontologische Garantie des Seins erfüllt? Darf man Žižeks Andeutung eines gegenblickenden Hauses so stark aufwerten? Im Namen der Postmoderne muss man deutlich sagen: Ja. Die Postmoderne war sehr stolz auf ihre sprechenden Fassaden, Architektur wurde sogar insgesamt als Sprache deklariert. Das ist Gegenblick genug, um auch der Architektur zuzutrauen, die ontologische Garantie des Seins zu leisten. Dennoch stellt sich langsam die Frage der Zuständigkeit. Wer glaubt denn noch, die Lizenz zum Gegenblick zu haben und damit die ontologische Garantie des Seins leisten zu können? Die riesigen Werbebilder im Stadtraum sind schon besprochen, die großformatige Kunst ebenso, laut Žižeks Zitat die Filmkamera und schließlich noch sprachbegabte Häuser. Doch das ist noch nicht alles. Die große Ortung leistet ebenfalls den Gegenblick. Care und Control sind zwar totaltechnisch, indiskret und autoritär in der Ausführung, die ontologische Garantie des Seins ist dadurch aber nicht minder massiv. Das bedeutet, die garantierende Leistung an sich ist nichts Exklusives, aber die Qualität der Garantie changiert. Es gibt einen Unterschied zwischen einem Brief von einer Behörde, einer freundlichen Architekturfassade und einem riesigen aufgemalten Ed Ruscha, der einem in die Augen blickt. Der Unterschied der Herkunftsadresse des Gegenblicks und dessen technische Ausführung werden aber noch übertroffen von einer wesentlich tiefergehenden Unterscheidung, und die hat wieder mit dem Fremden zu tun: „Der Fremde sieht Dinge, die der Einheimische nicht sieht. Dem Fremden ist das Selbstverständliche nicht selbstverständlich; deshalb muss er genauer hingucken als der Einheimische. Fremdsein schärft den analytischen Blick, und damit beginnt die Kreativität.“72 Wolfgang Streeck beschreibt hier den Gegenblick aus 71 Slavoj Žižek. Ebd. Seite 23 72 Wolfgang Streeck. In: Ferdinand Knauß, Wolfgang Streeck. „In jedem Einwanderungsland entstehen Enklaven“. https://www.wiwo.de/politik/deutschland/wolfgang-streeck-in-jedemeinwanderungsland-entstehen-enklaven/13304226.html. 11.03.2016

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der Perspektive des Fremden. Doch egal wie man die Relation analytisch verfolgt, allein die Fremdheit zwischen den beiden Blickpartnern ist wesentlich, denn dadurch wird der Gegenblick wertvoller. Wertvollerer Gegenblick bedeutet wiederum, dass auch die ontologische Garantie des Seins umfassender ausfällt. Es werden Dinge in ihrem Sein garantiert, die sonst übersehen werden. Die Garantie des Seins ist analytischer, genauer. Es zahlt sich also aus, das Fremde gezielt anzublicken oder sich dem Blick des Fremden gezielt auszusetzen. Ein Gewinn, den implizit jede Städtereise, jedes Blind Date, jeder Kreativworkshop verspricht. Man verabredet sich mit dem Unbekannten und erlebt dann eine Seinsbestätigung, die einem die Begegnung mit dem Bekannten nicht beschert. Die Definition des Fremden als das zukünftige, verbesserte Ich passt ebenfalls in diese gewinnversprechende Aufstellung. Was könnte einen in seinem Sein mehr bestätigen und motivieren als die antizipierende Begegnung mit seinem besseren Ich? Laut Streeck kommt aber noch eine wichtige Steigerung hinzu. Fremdheit intensiviert den Gegenblick so weit, dass die Kreativität beginnt. Žižeks Garantie des Seins wird also kreativ. Aber was wird kreiert? Richard Sennett gibt die Antwort: „Es besteht ein enger Zusammenhang zwischen Zivilisiertheit und Urbanität. Zivilisiertheit bedeutet, mit den anderen so umzugehen, als seien sie Fremde, und über diese Distanz hinweg eine gesellschaftliche Beziehung zu ihnen aufzunehmen. Die Stadt ist eine Siedlungsform, die das Zusammentreffen einander fremder Menschen wahrscheinlich macht. Die öffentliche Geographie der Stadt ist die institutionalisierte Zivilisiertheit“.73 Sennett gelingt in diesem Zitat eine einleuchtende und höchst konstruktive Verschränkung der Begriffe Fremdheit und Zivilisiertheit, und in weiterer Folge Fremdheit und Urbanität. Zivilisiertheit und Urbanität verlangen also geradezu, Fremdes einzuladen oder Bekanntes gezielt zu verfremden.74 Am höchsten wäre ein Zivilisationsniveau dann, wenn es sich am intensivsten mit dem maximalen Fremden auseinandersetzt. Das ist eine überraschende Formel, denn nicht selten wird das Gegenteil verlangt. Zivilisation müsse vor dem Fremden geschützt werden, und die Mitglieder einer Zivilisation sollten möglichst bei sich bleiben. Die einen 73 Richard Sennett. Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität. Fischer Verlag. 2004. Seite 336 74 „Die Verfremdung schafft nicht nur Mehrdeutigkeit anstelle des Eindeutigen. Sie schafft auch Distanz. Friedrich Dieckmann spricht von ,produktiver Distanz‘.“Frank-M. Raddatz. Brecht frisst Brecht. Neues Episches Theater im 21. Jahrhundert. Henschel Verlag. 2007. Seite 264

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wollen also Zivilisiertheit durch die andauernde Konfrontation mit dem Fremden erzeugen und steigern, die anderen wollen Zivilisiertheit durch den Ausschluss des Fremden schützen. Wer hat recht? Der Gegensatz dieser zwei Sichtweisen löst sich tendenziell auf, wenn man daran erinnert, was nun praktisch zu folgen hat. Es reicht natürlich nicht, sich einfach nur dem Fremden auszusetzen oder Bekanntes zu verfremden. Das allein erzeugt noch keine Zivilisiertheit. Es gilt stattdessen, Streecks Handlungsanweisungen präzise abzuarbeiten. Das Fremde muss genauer, analytischer angesehen werden, und man selbst muss sich der genauen Analyse durch das Fremde anbieten. Salopp formuliert: Zivilisiertheit bedeutet, man ist aneinander höchst interessiert. Zivilisiertheit ist Spitzenforschung am Gegenüber. Und Zivilisiertheit verlangt, jede Möglichkeit der Selbstverbesserung aufmerksam zu studieren. Eine Schwerstarbeit, die noch dazu unablässig und ohne Abkürzung durch Routinen oder Nachlässigkeit in Echtzeit erarbeitet werden muss. Denkt man die Idee des Homo Faber noch hinzu, wird daraus im besten Fall eine selbsttragende Welle. Eine Gesellschaft fabriziert Zivilisation durch tiefes gegenseitiges Interesse aneinander und findet nicht nur das Ergebnis, sondern bereits das Fabrizieren dieses Zivilisationsprozesses attraktiv und ansteckend. Die Umkehrung gilt genauso. Sobald man die Anstrengung einstellt oder abmindert, bricht die Zivilisationswelle in sich zusammen. Ergebnis ist dann eine reine Agglomeration von Menschen und Umständen ohne Sinn und Kohäsion. Indirekt ist damit eine Anklage an Architektur formuliert. Zivilisiertheit ist keine Einbahnstraße, sondern ein Wechselspiel. Aber wie viele Gebäude in Los Angeles bieten sich aktiv für dieses Wechselspiel an? Exo-Architektur wird vom Fremden durchdrungen und hätte den stärksten Aufforderungscharakter für einen aufklärerischen und zivilisationsstiftenden Austausch. Aber die markantesten Exo-Architekturen stehen einsam in der Wüste herum. Der Vierte Ort in der Stadt bietet sich prinzipiell auch an, aber tatsächlich ist der Zugang limitiert, zeitlich und/oder örtlich. Entsprechend limitiert ist der Beitrag zum kollektiven zivilisatorischen Wechselspiel. Welche Architektur steht also der großen Mehrheit zur Verfügung, um durch permanenten Gegenblick Zivilisiertheit und Urbanität zu kreieren? Oder ist das eine zu passive Anklage? Warum muss die Architektur den ersten Schritt machen? Es gibt in Los Angeles die überraschende 500

Gewohnheit, dass sich fremde Menschen auf der Straße spontan begrüßen, ohne dass der Gruß verlangt oder herausgefordert worden wäre. Man geht einfach aneinander vorbei, sieht sich an, grüßt und lächelt oder macht zumindest ein freundliches Gesicht. Das sind wertvolle Startmomente eines zivilisierten Umgangs. Ähnliches beobachtet man in Skid Row. Dort sind Menschen versammelt, die der Normalgesellschaft fremd geworden sind, und trotzdem suchen Mitglieder der Normalgesellschaft ganz gezielt diesen Ort auf, weil sie an den Schicksalen und am Geschehen dort aufrichtig interessiert sind. Eine Anstrengung, die auf beiden Seiten Zivilisiertheit fördert. Man könnte diesen Beispielen folgend verlangen, dass die Normalgesellschaft auch auf die umgebende Architektur aktiver zugeht, interessierter, analytischer hinblickt als bisher, und damit die Grundaufstellung für einen zivilisationsstiftenden Abtausch schafft. An diese Forderung anschließen sollte man unbedingt einen konkreten Testlauf, um zu zeigen, wie eine derartige Aktivierung konkret funktioniert. Man nehme also das auffälligste Gebäude, das einem auf seinen Routinewegen begegnet und beginne mit dem aktiv forschenden Blick. Zum Beispiel 1025 N Highland Ave. Ein sehr hohes Gebäude inmitten einer flach bebauten Umgebung. Optimaler Einstieg, auch für eine Analyse. Man findet schnell heraus, dass es sich um das Hollywood Storage Building handelt. Gebaut von den Architekten Morgan, Walls & Clements im Spanish Colonial Revival Style, beauftragt vom Developer Charles E. Toberman, auch Mr. Hollwood genannt. Ein Mann mit Sinn für Architekturikonen, denn er ließ auch das Grauman’s Chinese Theatre, das Grauman’s Egyptian Theatre, das Hollywood Roosevelt Hotel, die Hollywood Bowl und viele andere markante Gebäude errichten, die man ebenfalls als Ziel für einen aktiv forschenden Blick anvisieren könnte. Fertiggestellt im Jahr 1926, war das Hollywood Storage Building jedenfalls sofort eine Architekturikone der Stadt, lange sogar das höchste Gebäude. Aber noch viel wichtiger: Es stand exemplarisch für die Aufbruchstimmung im Los Angeles der 1920er Jahre. Hinzu kamen bald Legenden über all die Preziosen, die angeblich in dem Gebäude gelagert wären, vor allem Kostüme und Ausstattungen für die Filmindustrie und ihre Stars. Dass in dem Gebäude nicht nur gelagert wurde, sondern auch die Evening Herald Radio Station mit zusätzlichen Veranstaltungsräumen im obersten Geschoss untergebracht war, trug erheblich zur Legendbildung bei, vor allem während der Jahre der Prohibition. 501

Dem Gebäude heute in der Stadt mit diesem Hintergrundwissen zu begegnen, bedeutet tatsächlich, für einen Moment lang eine Stadt mit historischer Tiefe und aktueller Werthaltigkeit zu kreieren. Mehr noch, plötzlich geht da ein Sphäre der Urbanität auf, zwischen einem interessanten Gebäude und einem interessierten Betrachter – wie Sennett mit seiner Zivilisationsformel prognostiziert. Und wieder zeigt sich, dass Raum nicht einfach so gegeben ist, sondern gestiftet werden muss durch eine strategische Stauung, die man hier konsequenterweise Architekturzivilisation nennen müsste. Derartige Momente der Architekturzivilisation könnte man in Los Angeles unzählige initiieren, denn zu recherchieren, zu finden und zu verstehen gäbe es genug. Gleichzeitig erkennt man wieder, wie fragil diese zivilisatorischen Momente konstruiert sind. Sie werden nur für eine bestimmte Zeit eingerichtet, in Realzeit moduliert und irgendwann wieder fallen gelassen. Umso wertvoller ist also die konkrete Begegnung mit dem Hollywood Storage Building – nur ein Detail fehlt noch. Man müsste dringend das Riesenbild abnehmen, das momentan an dem Gebäude hängt und es fast vollständig verhüllt. Das ist nämlich die aktuelle Erscheinung des Hollywood Storage Building. Es dient schon seit längster Zeit als Träger für übergroße Werbebilder. Diese Konstellation zeigt also die klassische Arbeitsteilung in der modernen Stadt: Die Architektur ist der passive Hintergrund, die Werbung initiiert den aktiven Gegenblick. Die wertvolle Tiefeninformation liegt tatsächlich im wörtlichen Sinn in der verborgenen Tiefe, die Oberflächlichkeit hingegen macht den Eindruck. Wie sollte es auch anders sein. Aber könnte man das Riesenbild nicht einfach abnehmen, in einem stadtrestauratorischen Demonstrationsakt? Ja, aber das würde nichts an der Tatsache ändern, dass das Werbebild den Gegenblick besser leistet als die Architektur dahinter, egal wie aktiv man ihr entgegenkommt. Architektur ist im Vergleich chancenlos, weil die Werbebilder präzise auf den Gegenblick hin entworfen sind. Das ist ihr einziger Auftrag. Man muss sich also damit abfinden, dass der intensivste Gegenblick in der modernen Stadtlandschaft nicht durch Architektur gestiftet wird, sondern durch Klischeefremdheiten, die von der Werbeindustrie in die Stadt gesetzt werden. Nur der Hollywood-Schriftzug am Berg kann da annähernd mithalten, aber der ist ja auch ein Werberelikt. Der große Rest der Architektur wird hingegen verlässlich übersehen – mit der Konsequenz, dass weite Teile der Stadt als karges ZivilisationsFlatland brach liegen. 502

Ist das nicht peinlich für die Architekten, dass sie sich die Zuständigkeit für Zivilisiertheit, Urbanität und sogar Stadtraumbildung haben wegnehmen lassen? Müssen die Architekturfakultäten jetzt Institute für Stadtwerbung gründen, um der zivilisierenden und urbanisierenden Rolle der Werbung gerecht zu werden? Typischer für die akademische Architektur wäre allerdings ein Aufruf zum Gesinnungswandel: Es bräuchte noch viel mehr Straßenkunst, sprechende Architektur, proaktive Architektur, fremde Architektur, anstiftende Architektur, um wieder eine zivilisatorische und urbanisierende Instanz zu werden – hört man die akademischen Vertreter der Disziplin bereits fordern. Als Belohnung für diese Kreativleistung in städtischer Dimension wäre dann ein kollektives, selbstbestätigendes High als Zivilgesellschaft zu erwarten. Ein perfekter Deal. Warum also ist so ein großes architekturbasierendes Kreativprojekt nicht längst institutionalisiert, ausgestattet mit Budget und Verordnungsdruck? Die Antwort ist naheliegend. Los Angeles funktioniert auch ohne zivilisationseifrige Architektur und ohne zivilisationseifrige Idee von Stadt.

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KATASTROPHENZEIT

Besserer Antrieb? Die Provokation provoziert nicht mehr. Nicht wenige Beschreibungen der Jetztzeit sind Ausarbeitungen dieses semantischen Kollapses und sie sind immer Trauertexte. Man hatte sich daran gewöhnt, in regelmäßigen Abständen provoziert zu werden. Man hatte sich außerdem daran gewöhnt, dass die jeweils vorherrschende Provokationskategorie irgendwann an Schärfe verliert und verblasst. Aber dann kam verlässlich die nächste Provokationskategorie und das Spiel ging wieder von vorne los. Alle 10 bis 20 Jahre ist so eine neue Provokationskategorie über die Architekturdisziplin hereingerollt und hat für neuen Antrieb gesorgt. Im konkreten Moment war das nicht immer angenehm, aber in Distanz betrachtet eine wohltuende Sicherheit, denn Provokation ist der beste Impuls, um die eigene Antriebsschwäche zu kompensieren. Die Kultur der Überbietung ist ohne Provokation nicht praktizierbar, ohne permanente Herausforderung würde nicht so viel gearbeitet, geforscht, gedacht und erneuert. Der Homo Faber würde zum antriebslosen Homo Freizeit ermüden. Der Provokation insgesamt einen Mangel an Kraft zu unterstellen, bedeutet also, eine historische Zäsur von enormer Tragweite festzustellen. Die Provokation als prinzipielle Idee und Kulturmotor hat sich erschöpft. Die einzige Hoffnung in dieser Lage ist die Beobachtung, dass es der Branche insgesamt nicht an Antrieb fehlt. Wenn der große Sinn der Provokation also nur die Einspeisung von Antriebsenergie in die Architekturbranche war, dann hat die Architektur offensichtlich einen 505

neuen Antreiber gefunden. Einen besseren womöglich? Besser wäre garantiert das falsche Wort – so viel kann man vorwegnehmen –, aber wirkungsvoller sehr wohl. Rekapituliert man die Geschichte der Provokation in der Architektur seit Beginn der Moderne, zeigt sich sehr deutlich, warum die Provokation als Antreiber an Kraft verloren hat und irgendwann zwangsläufig von einer größeren Antriebsart ersetzt werden musste. Begonnen hat das Provokationszeitalter der Moderne ziemlich großspurig. Der Eröffnungswitz der Moderne bestand nämlich darin, bereits als finale Provokation anzutreten – zumindest ist das ihr stolzes Selbstverständnis. Paolo Portoghesi beschreibt diesen provokanten Endgültigkeitsanspruch der Moderne anhand der Rationalismusforderung: „Die ganze Geschichtsschreibung, wenigstens bis vor einigen Jahren, hat den Rationalismus evolutionistisch als Endpunkt und Synthese aller vorausgegangenen Bewegungen und Tendenzen gedeutet, als den Punkt, an dem die Industriegesellschaft ihre endgültige architektonische Ausdrucksform gefunden hat, also nicht als Stil im traditionellen Sinne, das heißt als etwas, was von Natur aus durch etwas anderes ersetzt werden kann, das folgt, sondern als Aufhebung jeden Stils, als endgültige Verwirklichung eines Programmes, das sich nicht ändern kann, wenigstens so lange nicht, wie die Industriegesellschaft besteht.“1 Dieser Endgültigkeitsanspruch der Moderne bedeutet gleichzeitig die Entmündigung aller nachkommenden Architekten. Mit der Machtergreifung der Moderne sind alle großen Fragen beantwortet, es gilt nur noch, die modernen Vorgaben zu lernen und umzusetzen. Wenig überraschend macht sich schnell eine edukative Aufdringlichkeit breit. Le Corbusier, Richard Neutra, Walter Gropius etc. lassen keinen Zweifel daran, dass ihre Entwürfe Lehrstücke sind, die alle zu kennen und zu verinnerlichen haben. Die Moderne zeigt der Welt, wie die Welt zu funktionieren hat. Provokation durch Edukation. Diese edukative Aufdringlichkeit führt zwangsläufig zu einem sehr selbstbewussten Machbarkeitsverständnis. Die Moderne besteht auf Realisation. Die Massenmoderne ist in diesem Sinne kein Bruch mit den avantgardistischen Anfängen der Moderne, sondern nur der positive Skaleneffekt. Mit wachsendem Unbehagen musste man also mitansehen, welch gigantische Fakten die Moderne in die Städte und in die Landschaften stellt. Provokation durch Realisation. 1 Paolo Portoghesi. Ausklang der modernen Architektur. Verlag für Architektur Artemis. 1982. Seite 9

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Die Postmoderne stellt sich ganz entschieden gegen dieses massive Realisierungsselbstbewusstsein. Es beginnt die Zeit der Paper Diplomas. Viele Architekturabsolventen verweigern den Entwurf eines konkret realisierbaren Gebäudes und legen stattdessen einen theoretischen Text als Abschlussarbeit vor.2 Es ist sogar möglich, danach eine rein schriftstellerische Architekturkarriere anzustreben. Theoretisch gerahmt und fundiert wird diese postmoderne Realisierungsskepsis unter dem Begriff Critical Architecture oder kurz Criticality. Dabei wird die Theorie endgültig zur neuen Kommandozentrale der Architekturdisziplin erklärt, die der Praxis des Architekturmachens die Bedingungen diktiert. Sollte die Praxis nicht folgen, dann ist die Verweigerung das schnelle und konsequente Mittel der Wahl. Auf den modernen Stolz des Machens folgt der postmoderne Stolz des Nicht-Machens. Provokation durch Negation. Selbstblockade durch überzogene Forderungen? So lässt sich das Problem der Critical Architecture kurzfassen. Wenn sich Architektur erst dann der Realität zuwendet, wenn die Realität den hohen Ansprüchen der Theorie gehorcht, kommt man letztlich nie zum Bauen. Doch während vor allem die US-amerikanische Postmoderne wortreich die Ver weigerung kultiviert, werden in Südamerika und Asien ganze Millionenstädte neu gebaut. Die theorieschwangere Verweigerung gerät damit schnell in den Verdacht der Irrelevanz. Die nächste Architektengeneration entschließt sich also zur radikalen Umorientierung. Nicht mehr die reine Theorie ist der Ausgangspunkt der Architektur, sondern die Realität wird so, wie man sie aktuell vorfindet, akzeptiert und bearbeitet. Durch Tiefenrecherche und taktische Intelligenz sucht man im Gegebenen eine Nische, um doch noch ein innovatives Projekt zu platzieren. Das gelingt zuallererst den niederländischen Architekten so überzeugend, dass ein regelrechter Wettbewerb entsteht, wer die wildesten Gegebenheiten aufspürt, um daraus architektonischen Gewinn zu schlagen. „Wie kann man besser gegen etwas revoltieren als wenn man es in einer Übersteigerung bejaht?“3 Dass Überheblichkeit, Ironie und Unterwerfung dabei nicht 2 „An der ETH in Zürich war es zu Beginn der 1970er Jahre ebenfalls total unmöglich, Architekturprojekte zu machen und zu zeichnen, weil dies als reaktionär verschrien war. Projekte hatten aus Texten und Statistiken mit planungsmethodischem Ansatz zu bestehen. Das meiste war unbrauchbarer Mist, weil weder theoretisch interessant noch von irgendwelchem praktischen oder ästhetischen Nutzen.“ Jacques Herzog. In: Dietmar Steiner. Steiner’s Diary: Über Architektur seit 1959. Park Books. 2016. Seite 15 3 Stephan Moebius. Simmel lesen. Moderne, dekonstruktive und postmoderne Lektüre der Soziologie von Georg Simmel. ibidem-Verlag. 2002. Seite 69

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immer klar voneinander zu trennen sind, gehört zum Unterhaltungswert der neuen Methode. Provokation durch Affirmation. Die Kritik an der affirmativen Entwurfshaltung ist hart und eindringlich. Man würde durch die Affirmation jeden noch so schlechten Zustand indirekt bestätigen und stabilisieren. Das sei der schlimmste Betrug am großen Moderneziel der Verbesserung der Welt. Eine Kritik, die wohl stimmt, die man aber nicht gelassen hinnehmen will, wenn man nächtelang recherchierend durch Informationsberge gräbt, um einen Ansatzpunkt für ein innovatives Realprojekt zu finden. Der moralisch erhabene Kritiker erscheint da schnell als jemand, der sich mit sonoren Verweigerungstiraden lediglich viel Arbeit ersparen will. Der Critical Architecture wird die Verweigerung als bloße Faulheit ausgelegt und anklagend retourniert. Man wird die Welt nicht verbessern, ohne sich die Hände schmutzig zu machen, und vor allem nicht, ohne überhaupt fleißig Hand anzulegen. Damit ist das neue Architektenselbstverständnis geklärt. Der neue Recherchearchitekt sieht sich im Gegensatz zu den Verweigerern als fleißiger Arbeiter an den Umständen. Als Embedded Architect sammelt er unablässig Informationen, Einblicke, Feedback und baut darauf seine gesamte Architekturlogik. Aus Entwürfen werden regelrechte Expertisen, aus Projektvorträgen werden Welterläuterungsseminare, und wer die überraschendsten Informationen präsentiert, hat die höchste Architekturautorität. Provokation durch Information. Um aus der analytischen Recherche in die projektive Recherche überzugehen, braucht man allerdings ein methodisches Repertoire. Das muss man nicht neu erfinden, sondern es reicht die Entdeckung, dass ausgerechnet die postmodernen Lockerungsübungen des Gestaltens enorm produktiv werden, wenn man sie aus der engen Theoriezwangsjacke befreit. Das Zeitalter des Sampelns, Collagierens, Assemblierens, Zitierens, Fabulierens beginnt in der Architektur. Aus der theoriestrengen Früh-Postmoderne wird die übermütige Spät-Postmoderne. Die geisteswissenschaftliche Form der Innovation ist die Erkenntnis; die Spät-Postmoderne ersetzt die Erkenntnis durch das Erlebnis – und beklagt gleichzeitig den intellektuellen Verlust. Die technische Form der Innovation ist die Erfindung; die Spät-Postmoderne ersetzt die Erfindung durch die Variante – obwohl sie ahnt, dass sie damit Krisenterrain betritt.4 4 „Diese Wucherung von Versionen einer Theorie ist ein typisches Symptom einer Krise.“ Thomas S. Kuhn. Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. Suhrkamp Verlag. 1976. Seite 83

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„Postmoderne Mestizen-Welt, in der nicht länger Neues gesucht, sondern Bekanntes rekombiniert wird“, nennt es Peter Sloterdijk.5 Der Vorteil dieser begrifflichen und methodischen Inflation ist erhöhter Output. Jetzt wird Architektur wirklich produktiv, überschwänglich, aufdringlich, populistisch. Schnelle Idee folgt auf schnelle Idee. Retrotrend folgt auf Retrotrend. Projekte tauchen immer überfallsartiger auf, werden immer überschäumender präsentiert, vermarktet, eröffnet. Der Kulturraum wird insgesamt zum Buffetbetrieb, es regiert die „Poesie des überfüllten Arsenals“.6 Provokation durch Akkumulation. Mit der Provokation durch Akkumulation ist man nicht nur im Mainstream der Jetztzeit angekommen, sondern es ist gleichzeitig ein systemischer Kipppunkt erreicht. Nachdem alles bereits in die Architektur hineinakkumuliert wurde, wird der nächste Provokationsimpuls konsequenterweise aus dem Inneren des Akkumulationsbetriebs heraus erwartet. Das bedeutet, die Blickrichtung der Branche schwenkt auf totale Selbstbeobachtung ein. Thomas S. Kuhn hat festgestellt, dass in Zeiten der Normalwissenschaft vermehrt Magazine erscheinen. Die Wissenschaft weiß, was sie wie zu tut hat und berichtet laufend darüber in Artikellänge. In Zeiten des theoretischen Richtungsstreits hingegen erscheinen mehr Bücher. Die offene Frage, wohin sich die Disziplin neu orientieren soll, muss fundamentaler ausgehandelt und argumentiert werden. Diese Zuweisung von Publikationsmedien kann man weiterschreiben. In Zeiten des spät-postmodernen Akkumulationsbetriebs werden die Publikationsformate zwangsläufig massiger und dichter. Der Gesamtkatalog ist das finale Medium, am besten als Papiermonstrum am Wohnzimmertisch und zusätzlich als digitale Version online. Begriffe wie Hierarchie, Gattung, Ordnung und System sind dabei abgeschafft. Es regiert der Haufen. Neben den großen offiziellen Archiven und Datenbanken entstehen noch unzählige private Datensammlungen, externe Festplatten voller Datenmüll und metastasierenden Ordnerkaskaden. Diese Gesamtkataloge werden natürlich nicht mehr Wort für Wort gelesen, sondern durchsucht. Das erste Kapitel ist immer die Suchmaske. Kreative sind heute also doch keine Oberflächenwesen, sondern graben sich wie vormoderne Materialmenschen durch die unendlichen 5 Peter Sloterdijk. Tau von den Bermudas. Über einige Regime der Einbildungskraft. Suhrkamp Verlag. 2001. Seite 53 6 Peter Sloterdijk. Ebd. Seite 52

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Datenhaufen – wie Tiere im Unterholz, optisch kaum zu unterscheiden vom Suchmaterial, der gleiche Text-Bild-Logo-Mix an Wänden, auf Sofas, T-Shirts, Websites, Tragetaschen und unfertigen Ganzkörpertattoos. Wer aus dieser Wühlerei wiederaufsteigen will in die Höhen des Künstleroder Architektseins, muss den Archiven taktisch klüger, schneller und unverschämter Wiederverwertbares entnehmen als all die anderen. Unter dem Titel The Art Damien Hirst Stole werfen die Stuckisten Damien Hirst vor, massiv plagiiert zu haben.7 Doch egal ob der Vorwurf stimmt oder nicht, er kommt zu spät. Denn genau das ist heute die Kunst: „Die eigentliche Arbeit besteht dabei im Betrachten, was so entstand, und im Entscheiden, ob das dann akzeptabel ist. Vielleicht hat so ein Verfahren auch etwas mit ‚Readymade‘ zu tun, denn die Readymade-Objekte ließ man entstehen, egal von wem, und die eigentliche Arbeit ist das Betrachten und die Entscheidung, ob das brauchbar ist. Ich glaube, dass das auch sehr typisch für unsere Kunst heute ist.“8 War es in der Kunstgeschichte jemals anders? – muss man weiterfragen: „Wenn man davon ausgeht, dass die Fähigkeit des frühen Menschen, etwas zu entdecken, diejenige, es selbst zu erfinden, übersteigt, so spricht das für die Annahme, Zufallsbilder seien maßgeblich am Ursprung bildnerischen Schaffens beteiligt.“9 Mit dieser anthropologischen Rechtfertigung von Christian Janecke kann man schließlich jede Suchhemmung fallen lassen. Statt Inspiration ist nur noch Instinkt gefordert, statt Imagination Indiskretion. Provokation durch Selektion. „Entscheidend ist, dass die Fabrik der Zukunft jener Ort sein muss, an welchem homo faber zu homo sapiens sapiens werden wird, weil er erkennt haben wird, dass Fabrizieren dasselbe meint wie Lernen, nämlich Informationen erwerben, herstellen und weitergeben.“10 Wer Vilém Flussers Handlungsanweisung befolgt, müsste sich in der Jetztzeit bestens aufgehoben wissen. Noch nie hatten so viele Menschen so leichten Zugriff auf so viele Informationen und Lerninhalte. Vor allem Kreative müssten beim Wühlen durch die gigantischen Archive von paradiesischen Zuständen schwärmen. Doch so euphorisch ist die Stimmung nicht. Die Sucher im Archiv haben schnell einen Mangel entdeckt, der sich nicht wegrelativieren lässt. Das Archiv ist ein Gefängnis. Das gilt für das Archiv als Raum genauso wie für die 7 Charles Thomson. „The Art Damien Hirst Stole“. http://www.stuckism.com/Hirst/StoleArt. html. 01.10.2010 8 Gerhard Richter. Text 1961 bis 2007. Schriften, Interviews, Briefe. Verlag der Buchhandlung Walther König. 2008. Seite 280 9 Christian Janecke. Kunst und Zufall. Verlag für moderne Kunst Nürnberg. 1995. Seite 90 10 Vilém Flusser. Medienkultur. Fischer Verlag. 1997. Seite 171

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Idee des Archivs als totaler Sammlung und sogar für das Internet als Versprechen des totalen Zugriffs. Mit dem Verschwinden des offenen Horizonts wird alles zum Innenraum. Das wesentliche Kriterium für die Insassen ist also nicht die behauptete Überfülle, sondern überraschenderweise das Gegenteil: die Hermetik. „In ihrer verwalteten Form ist die Möglichkeit nur mehr eine Option. Als solche ist sie heute zum zentralen Mittel der Kontrolle des gesellschaftlichen Lebens geworden. Der Handlungsspielraum des einzelnen wird zunehmend durch die Einschränkung von Handlungsmöglichkeiten auf vorstrukturierte Handlungsangebote bestimmt. […] In einer perfiden Verkehrung des Freiheitsbegriffs vermittelt sich dabei gesellschaftlich erzeugter Handlungsdruck als individuelle Handlungsfreiheit.“11 Die permanente Aufforderung, aus der Überfülle zu wählen, erinnert also lediglich an die strukturelle Unfreiheit der gesamten Konstellation. Doch je größer die Überfülle drinnen wird, desto größer wird gleichzeitig die Lust auf das Draußen, selbst wenn das Draußen ein Nichts wäre. Das führt nicht sofort zum Ausbruch aus der unfreien Optionenwelt, aber es verändert das Auswahlverhalten. Wenn die Lust auf das Neue auf das Jenseits der Archive projiziert wird, dann bleibt für die Auswahl innerhalb der Archive nur noch demonstrative Langeweile übrig. Jeder mutiert zur Diva, genervtes Nein-Sagen wird zum täglichen Mantra. Und je mehr Optionen sich aufdrängen, desto geringschätziger wird das Nein-Sagen. Die Stadt, die Architektur, die Kultur wird zur ärgerlichen Masse an Beifang, auf der Suche nach dem großen Treffer, den man inmitten des Optionenhaufens nicht mehr zu finden glaubt. „I think that one of the most interesting things about trying to make architecture today is not what you choose to do but what you choose not to do.“12 Ist also ausgerechnet das Nein-Sagen die letzte gestalterische Handlung und Hoffnung? Noch einmal Provokation durch Negation? Nein, denn die Negation der Postmoderne war noch ein aktives und lautes Unterscheidungsprojekt. Das Nein-Sagen im Zeitalter der Überfülle ist jedoch passiv-aggressiv, tendenziell sogar autoaggressiv, denn es erfolgt müde, leise, genervt, oft nur indirekt, durch liegen lassen, nicht mehr wollen, müde werden, wegdriften, weggehen. Provokation durch Depression. 11 Jan Verwoert. „Mehr als nur möglich“. In: Akademie der Künste. Hrsg. Topos Raum. Die Aktualität des Raumes in den Künsten der Gegenwart. Verlag für moderne Kunst Nürnberg. 2004. Seite 90 12 Steven Holl. „Steven Holl 1986–2003. In Search of a Poetry of Specifics“. In: El Croquis 78, 93, 108. 2003. Seite 27

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Aber da ist doch noch das Fremde. Wenn die traurig-träge Langeweile zu groß wird, dann erscheint doch garantiert das rettende Fremde und bringt kurzweilige Aufregung und nachhaltige Veränderung. Ja, das Fremde hilft tatsächlich gegen das Ersticken in Langeweile. Dennoch wäre es der schlimmste Fehler, den man aus der Erörterung des Fremden mitnehmen könnte, der nächsten Hermetik gegenüber blind zu werden. Die Versuchung ist nämlich groß, das Bekannte und das Fremde als die zwei Reichshälften einer neuen universellen Ganzheit zu sehen. Das wäre ja wieder eine hermetische Ordnung. Zwar größer gefasst, aber laut Terry Eagleton trotzdem eine verzweifelte Vorstellung: „Es ist nicht ausgeschlossen, dass angesichts der offensichtlichen Abwesenheit einer Alternative zu unserem herrschenden System, eines utopischen Raumes jenseits davon, einige verzweifelte Theoretiker auf die Idee verfallen könnten, die Alternative zum System im System selbst zu suchen. Sie könnten, mit anderen Worten, die Utopie auf das projizieren, was wir bereits in der Realität haben; sie könnten, sagen wir, in der Beweglichkeit und den Randzonen der kapitalistischen Ordnung, im Hedonismus und in der Pluralität des Marktes oder der bunten Medienvielfalt und in der Disko eine Freiheit und Erfüllung finden, die die puritanischeren politisch Denkenden unter uns noch beharrlich auf eine immer fernere Zukunft verschieden.“13 Damit ist man bei der entscheidenden Frage angelangt. Ist das tatsächlich das Ende der kognitiven Geografie? Ist die Depression im Überfluss der finale Zustand?14 Nicht ganz, Jan Verwoert schafft es, zumindest einen zaghaften Fluchtplan zu skizzieren: „Die Herausforderung besteht somit in der Erfindung von Gesten, die bestimmt genug sind, um einen Raum als Möglichkeitsraum zu markieren und einen signifikant anderen Sinn für den Begriff der Möglichkeit zu vermitteln, dabei aber zugleich ausreichend unbestimmt bleiben, um nicht die restlos durchgestaltete Form einer Option, einer autoritativ vorgegebenen Erfahrung, anzunehmen.“15 Man ist dennoch überrascht, dass Verwoert glaubt, dass Gesten ausreichen, um die große Depression in den hermetischen Optionsräumen zu durchbrechen – 13 Terry Eagleton. Die Illusionen der Postmoderne. J.B. Metzler. 1997. Seite 24 14 „Wie weit wir auch reisen: wir kommen dort an, wo wir schon immer waren, bei uns selbst – und das heißt: bei unseren Begriffen und Sehgewohnheiten. Existiert demnach nichts, was uns wirklich fremd sein könnte? Leiden wir unter einer hartnäckigen Nähe der Dinge?“ Martin Gross. „Ferne/ Nähe“. In: Ortfried Schäffter. Hrsg. Das Fremde. Erfahrungsmöglichkeiten zwischen Faszination und Bedrohung. Westdeutscher Verlag. 1991. Seite 59 15 Jan Verwoert. „Mehr als nur möglich“. In: Akademie der Künste. Hrsg. Topos Raum. Die Aktualität des Raumes in den Künsten der Gegenwart. Verlag für moderne Kunst Nürnberg. 2004. Seite 92

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und dass man diese Gesten auch noch selbst erfinden könnte. Die Praxis lehrt jedoch, dass Gesten nicht reichen und auch der eigene Antrieb nicht reicht. Bernhard Waldenfels bestätigt diesen Verdacht mit einem energetischen Hinweis: „Eine Überschreitung, die ihrer selbst Herr wäre, würde keine Grenzen überschreiten, sie würde diese nur verschieben. Grenzüberschreitung bedeutet deshalb immer auch Selbstüberschreitung. Diese radikale Form der Überschreitung kann ihre Schwungkraft nicht aus sich selbst nehmen, aus selbstgefertigten Planungen und Entschlüssen, sondern nur aus einer Bewegung, die schon begonnen hat.“16 Verwoert und Waldenfels fügen sich mit ihren Sätzen in die lange Reihe der zeitgenössischen Theoretiker, die zwar einen sehr guten Sinn für die entscheidenden Ereignissen und Notwendigkeiten haben, aber offensichtlich vor dem Wort zurückschrecken. Warum? Das einzige Ereignis, das mit schier unerschöpflicher Energie die permanente Überschreitung garantiert, ist die Katastrophe. Die Katastrophe ist der einzige uneinholbare, offene Horizont. Kein Akkumulationsarchiv, kein Optionenbuffet, kein hermetischer Regelbetrieb hat die Katastrophe je domestiziert und für den Innenraum brauchbar gemacht. Wenn es gelänge, würde das Ereignis nicht Katastrophe heißen. Die Katastrophe ist die maximale Exponierung – das gilt für Menschen und Gesellschaften genauso wie für Disziplinen und Projekte. Ad hoc ist es dennoch schwer, die wuchtige Steigerung zu ermessen, die der Umstieg von der Provokation auf die Katastrophe als Antriebskraft bedeutet. Totale Kategorien, wie das Ende, der Abbruch, der Umsturz, das Böse, der Krieg etc., scheinen längst dekonstruiert und weichgetextet. Wenn Wolfgang Bonß vom Agieren jenseits der Versicherung redet, dann klingt das immer noch wohltemperiert: „Stattdessen – und dies macht den emanzipatorischen Charakter des neuzeitlichen Risikohandelns aus – geht es darum, ‚sichere‘ Erwartungshorizonte zu durchbrechen, andere Handlungskombinationen auszuprobieren und Zukunft offenzuhalten.“17 Alles ist Spielzeug – nennt Jonathan Meese dieses unbeschwerte Herumwirbeln mit dem vermeintlich Schwerfälligsten. Doch Meeses Spielzeugglauben ist eine konstruierte Verweigerung und eine typisch postmoderne Opposition zur aufgeklärten Moderne. Die große Tendenz ist hingegen eine gänzlich andere. Gerade weil die Moderne ihr Territorium reinigt, kontrolliert und in 16 Bernhard Waldenfels. Ordnung im Zwielicht. Suhrkamp Verlag. 1987. Seite 194 17 Wolfgang Bonß. Vom Risiko. Unsicherheit und Ungewißheit in der Moderne. Hamburger Edition. 1995. Seite 54

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selbstversicherndes Licht taucht, entwickelt sie gleichzeitig ein feines Sensorium für die Dimension der Katastrophe. Bonß hält ein Sensorium für Ungewissheit noch für typisch menschlich, doch in der Moderne wird auch dieser menschliche Aspekt radikalisiert.18 Nur die Moderne, nur die totale Aufklärung und Explizierung von allem ist in der Lage, die Katastrophe als unausweichliche Realität zu erkennen. Die vormoderne Katastrophe ist immer noch ein Mysterium, das, eben weil es ein Mysterium ist, auch mysteriöse Auswege zulässt. Man muss halt viel beten und glauben. Doch solch gemütliche Ausflüchte lässt die Moderne nicht zu. Die Moderne kennt kein ewiges Leben, keine Rettung, keine Erlösung, weder für den Einzelnen noch für das Projekt Menschheit. In der Moderne wird der Tod, das Ende, der Weltuntergang absolut gesetzt, zumindest bis das Gegenteil bewiesen ist. In dieser harten Fassung ist die Katastrophe natürlich fordernder als der übliche Alltagsbetrieb der Provokation. Mit der Katastrophe verfliegt die depressive Langeweile genauso wie das divenhaft-müde NeinSagen, denn die Katastrophe stellt die Maximalforderung, sie fordert das Kernkapital des gesamten Modernezeitalters heraus. Das Versprechen, ein Weltverbesserungsunternehmen zu sein, ist in Katastrophenzeiten nicht haltbar. „Die oft auch als ‚neue Risiken‘ bezeichneten Gefahren zweiter Ordnung sind ein vergleichsweise junges, aber folgenreiches Phänomen. Denn sie stellen den Fortschrittsoptimismus der ‚einfachen‘ Risikogesellschaft nachhaltig in Frage.“19 Das ist der Grund, warum die Katastrophe mehr ist als bloß eine weitere Provokation, mehr als nur Provokation durch Destruktion. Die Katastrophe ist die einzige Herausforderung der Moderne, die als permanente Überforderung wirkt. Die Moderne ist der Katastrophe nicht gewachsen. Der Antrieb, der dieser Überforderung entspringt, ist dementsprechend existenziell und massiv, kann aber an der Überforderung letztlich nichts ändern. Für Los Angeles ist das nichts Neues. Die Stadt lebt schon seit Langem im Bewusstsein ihres unweigerlichen Untergangs – lediglich der genaue Zeitpunkt wird als Unbekannte gehandelt. Das große Erdbeben ist in Los 18 „Für Parsons wie für Redlich stellt sich Ungewissheit als eine anthropologisch tiefsitzende Erfahrung dar, die als spezifisch menschlich anzusehen ist und letztlich zum Kernbestand des Menschlichen gehört. Als fehlende Gewissheit zukünftiger Ereignisse setzt Ungewissheit ein Wissen darüber voraus, dass die Zukunft auch anders ausfallen kann; sie ist nicht denkbar ohne ein Bewusstsein des eigenen Selbst.“ Wolfgang Bonß. Ebd. Seite 37 19 Wolfgang Bonß. Ebd. Seite 83

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Angeles immer in Erwartung, hinzukommen die globalen Katastrophenszenarien vom Nuklearangriff in den Jahren des Kalten Kriegs bis zum Klimawandel der Jetztzeit, von dem sich die Stadt auch nur das Schlimmste erwartet. In seinem Buch Ecology of Fear ergänzt Mike Davis diese Großkatastrophen geradezu genussvoll mit allen möglichen Alltagskatastrophen. Vor Dürre, Flut, Verbrechen, Selbstjustiz, Grundstücksspekulation, Hangrutschung und sogar vor selten gewordenen Berglöwen wird da wortreich gewarnt.20 Das ist keine wissenschaftliche Katastrophenrecherche mehr, sondern Prepper-Pornografie – und vermutlich deswegen populär geworden. Denn die abgeklärte Beschäftigung mit der Katastrophe ist dramaturgisch sehr viel ärmer, weil die Katastrophe keine Flavors kennt. Egal wie oder womit man in die Hölle fährt, das Ergebnis ist immer das gleiche. Aus dieser populären Angsthysterie kommt man nur noch mit relativierendem, therapierendem Zureden heraus. Publikatorisch ist das der Umstieg von Mike Davis auf Michael Moore, der mit Blick auf die gesamten USA erklärt, dass sich die Amerikaner mit ihrer Angstneigung selbst im Wege stehen. Das klingt wohlmeinend, doch Moore argumentiert eben zu wohlmeinend und nicht zynisch genug. Warum wird denn gerade in Los Angeles die Angst vor der Katastrophe so konsequent kultiviert? Weil Unterhaltungsprofis wissen, wie toll die Angst die Euphorie antreibt. Das ist der hedonistische Kurzschluss, den Moore nicht sehen will. Von der Angst angetrieben zu werden, ist nicht nett und nicht angenehm, aber die Euphorie ist dennoch garantiert. Nichts ist ekstatischer als Leben und Handeln unter dem Diktat des Ernstfalls. „Nicht die Not befiehlt, wir wählen eine Schwierigkeit.“21 So nennt Sloterdijk das Spiel mit den euphorisierenden Energieschüben aus den Angsttiefen. Was oft nur Extremsportarten oder Extremberufen unterstellt wird, ist dabei massentauglicher, als es auch die Architekten wahrhaben wollen. Die konzipieren ihre Architekturen und Stadtquartiere gern als Wohlfühlversprechen. Dabei ist der Ritt auf der Angst-Euphorie-Welle der letzte große Antrieb für eine Gesellschaft, die gegenüber jeder anderen Provokation umfassend durchimmunisiert ist.22 20 Mike Davis. Ecology of Fear: Los Angeles and the Imagination of Disaster. Vintage. 1992 21 Peter Sloterdijk. Sphären III. Schäume. Suhrkamp Verlag. 2004. Seite 725 22 „Dabei macht die diachrone Analyse zunächst deutlich, in welchen Stufen das bewusste Eingehen von Unsicherheiten zu einem Produktivitätskennzeichen moderner Gesellschaften wird und die Versicherung zu einer komplementären sozialen Basisinstitution.“ Wolfgang Bonß. Vom Risiko. Unsicherheit und Ungewißheit in der Moderne. Hamburger Edition. 1995. Seite 235

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Im Wissen um diese grundsätzliche Gefühlsdramaturgie pflegt Los Angeles jedenfalls eine weltweit einzigartige Doppelidentität. Die Stadt ist enorm produktiv im Verbreiten von ansteckender Zuversicht. Sie ist aber genauso produktiv im Verbreiten von Endzeiterwartungen. Im globalen Vergleich gibt es keine Stadt, die eine derartige Stressbandbreite so vollumfänglich ausagiert. Relevant ist das vor allem, weil Los Angeles damit eine spezifische Schizophrenie vorweggenommen hat, die mittlerweile global gelebt wird. Die Katastrophenzeit ist der neue International Style. Totales Vergnügen und totaler Alarm sind das neue weltumfassende Yin und Yang. Die Architektur befindet sich dabei in exponierter Verantwortung, weil sie die Katastrophe zugleich auf der Täterseiteund auf der Opferseite begleitet. Die Architektur muss also ebenfalls lernen, jede Idee, jedes Projekt, jede konkrete Arbeit durch die schizophrenen Stimmungsloopings der Katastrophenzeit zu steuern. Wird die Architektur dadurch wenigstens besser, wertvoller, nachhaltiger, aufregender? Schwer zu sagen, weil die Beurteilungskriterien durch die gleichen Stimmungsloopings gewirbelt werden. Davon handelt die achte und letzte Ambition.

Malibu-Effekt Man nehme die Casa Malaparte und stelle sie irgendwo in einer Vorstadt auf, zum Beispiel in einer Suburb von Los Angeles. Nein, nein – werden die Topophilen schreien. Schon die Vorstellung einer derartigen Verschiebung ist gänzlichen abwegig. Die Casa Malaparte ist von ihrem dramatischen Ort auf Capri nicht zu trennen, die gesamte Logik der Architektur nimmt den Ort auf und verinnerlicht ihn. Stimmt nicht, wird man mit Blick auf die prominente Außentreppe antworten. Auch die Casa Malaparte ist teilweise transplantierte Architektur und trägt einen anderen Ort in sich: Lipari, die Treppe zur Kirche, ein Erinnerungsstück des Bauherrn, das er mit nach Capri genommen hatte. Und dann noch sein Schreibzimmer mit Sehnsuchtsblick aufs Meer hinaus – wohin wünscht man sich, wenn man dort täglich sitzt und in die Ferne schaut? Also keine Zaghaftigkeiten: Man nehme die Casa Malaparte und verschiebe sie in die amerikanische Vorstadt. Was bleibt davon? Klobiges Haus mit seltsamer Außentreppe, ein paar originelle Glasdetails. Noch etwas? Wenn man die Referenzgeister aus dem Haus 516

vertreibt, wenn man den dramatischen Felsen von Capri amputiert, dann bleibt von der Casa Malaparte nichts übrig. An dem Haus ist als Architektur nichts dran. Weder als Objekt noch als performativer Auftritt, nicht in den Vorentwürfen des Adalberto Libera, nicht in der gebauten Version von Curzio Malaparte. Frech gefolgert: In der amerikanischen Vorstadt, ohne dramatisches Setting, hätte sich Malaparte mehr anstrengen müssen, um legendär zu werden. Er hätte alles, was er durch die dramatische Lage auf der Insel Capri geschenkt bekommen hat, selbst in die Architektur eintragen müssen. Die Casa Malaparte ist also weniger eine Ikone der modernen Innovationskraft, sondern eher eine Ikone des besten Aufwertungstricks der Architektur insgesamt: Drama wirkt wertsteigernd – zumindest in einer Kultur auf Sensationssuche. Überträgt man diese Einschätzung auf Los Angeles, findet man schnell ein äquivalentes Szenario. Alles, was dort am Wasser steht, sieht toll aus. Der singuläre Malaparte-Effekt wird dabei zum vielfachen Malibu-Effekt. Sämtliche Häuser an der Küste erfahren durch die exponierte Lage eine enorme Aufwertung. Nicht nur Zyniker werden diesen Effekt methodisch lesen: Man verschiebe einfach irgendein durchschnittliches Haus von der Suburb an die Wasserkante und die Architektur wird plötzlich erstrahlen. Selbst John Lautner profitiert von diesem Effekt. Brav in eine gedrängte Häuserreihe gestellt, ist sein Stevens House genauso gedrängt und introvertiert wie die Nachbarhäuser. Keine wild ausladenden Raumlandschaften wie sonst in seinen Entwürfen, sondern vergleichsweise knappe und gepresste Räume. Doch sobald das Meer als tiefer Hintergrund in den Blick kommt, werden auch die kleinsten Zimmer weit und offen. Rudolph Schindlers Lovell Beach House wieder um ist von seinem Umfeld abgewertet worden. Gebaut wurde es als freistehendes Haus, dem Wüten des Meeres übermütig entgegengehalten. Perfektes Drama und sofort als Ikone zu erkennen. Ganz so ikonografisch ist die Wirkung heute leider nicht mehr. Die Nachbarschaft ist durchgehend verbaut, das Lovell Beach House ist zu einem halben Lovell Town House geworden und zumindest straßenseitig unauffällig. Die revolutionäre Frühmoderne, die Aufgeregtheit der Pionierarchitektur ist nur noch von der Meerseite aus zu erahnen. Jetzt könnte man natürlich noch weitersuchen und den MalibuEffekt auch jenseits des Strands testen. Exponierte Lagen gibt es genug, vor allem entlang der Hügelzone von Pacific Palisades bis Los Feliz. Sobald der Hang steiler abstürzt und die Aussicht dramatischer wird, 517

erscheint auch die Architektur erhabener. Die meisten Case Study Houses stehen am Berg, Drama Queen unter ihnen natürlich das Haus von Pierre Koenig. Über die Abbruchkante hinausgerückt, wirkt es, von akuten Naturkräften unterspült und herausgefordert, trotzdem selbstbewusst. Als Suburb-Haus wäre Koenigs Entwurf immer noch modern gewesen, aber nur in seiner konstruktiven Logik und räumlichen Leichtigkeit. Um das Haus zum Referenzprojekt für ein neues Zeitalter werden zu lassen, bedurfte es aber der Exponiertheit hoch über dem Stadtmeer. Heute ist es eher die Exponiertheit in der Wüste, die Architektur mit Katastrophendrama aufwertet. Jeder Ökoarchitekt, der als zivilisatorischer Überlebensprophet ernst genommen werden will, muss seine Architektur Off-Grid in der Wüstensonne schmoren lassen. Wem das zu umwegig erscheint, der kann den Malibu-Effekt auch direkt in die Architektur einarbeiten. Jeder Turmbau arbeitet mit der Aufwertung durch Katastrophenneigung. Je höher, desto weniger wird die Architektur kritisiert, sondern nur noch bestaunt. Man fragt sich, ob moderne Architektur ohne Drama überhaupt jemals konkurrenzfähig gewesen wäre. Nur schlichte weiße Kisten gemächlich in die Landschaft zu legen, wirkt nicht sonderlich mitreißend. Ohne aufwertenden Gegenblick der Katastrophe hätte auch das Projekt der Moderne kleinlich gewirkt. Nach dieser szenischen Feststellung wird man zuallererst nachfragen, ob da nicht metaphorisch übertrieben wird. Kann man den Blick vom Hanghaus oder Strandhaus auf den offenen Horizont hinaus wirklich als Gegenblick der Katastrophe qualifizieren? Es fühlt sich ad hoc jedenfalls nicht sehr katastrophal an. Wer alltäglich zu dicht an den anderen wohnt, wird ein paar Stunden Ausblick ins offene Nichts sogar als Entspannung genießen. Dem kann man nicht widersprechen, aber wie immer macht die Dosis die Medizin. Als Dauerzustand und ausschließliche Orientierung bleibt die Exponierung ins Nichts hinaus das extremste Exitmanöver, das stationäre Architektur realisieren kann. Die Abkehr von allen Rückversicherungen und Eingebundenheiten. Eine bessere Definition für Katastrophenlust wird man nicht finden. Und das ist keine Koketterie. Am Strand in Malibu stehen die Häuser regelrecht in der Brandung, an manchen Abschnitten müssen bereits Maßnahmen zur Stabilisierung getätigt werden. Gleiches gilt für die Häuser oben in der Hügelzone, die geologisch instabil ist und nach jedem Unwetter an einer anderen Stelle abrutscht. Lautners Garcia House hat im Film Lethal Weapon 2 die Rolle des abstürzenden Hanghauses vollendet 518

elegant gespielt. Seither weiß jeder, was passiert, wenn man sich unversichert zu weit hinauf wagt. Medial in Dauerwiederholung publiziert werden schließlich die wiederkehrenden Brandkatastrophen, die aus dem Hinterland bis in die bewohnten Zonen vordringen. Dann sieht man am TV-Schirm ganze Siedlungen in Flammen aufgehen. Zu den Katastrophenbildern hört man dann, dass viele Häuser in den exponierten Lagen gar nicht versichert werden können, eben weil sie so oft von Schäden betroffen sind. Es droht im Katastrophenfall also tatsächlich der Totalverlust. Die zweite Nachfrage muss zwangsläufig den Betroffenen gelten. Wird mit dem Malibu-Effekt das traurige Schicksal von unfreiwillig Exponierten schöngeredet? Garantiert nicht. Der Malibu-Effekt betrifft ausschließlich die teuren Stadtbezirke. Kaum eine Naturkatastrophe in und um Los Angeles, die nicht überproportional die Villen von Prominenten und Begüterten dahinraffen würde. Es praktiziert also ausgerechnet jene Bevölkerungsschicht, die sich jede nur erdenkliche Rückversicherung und Eingebundenheit leisten könnte, die demonstrative Katastrophenexponiertheit. Zynisch könnte man fragen, warum überlassen die Reichen nicht den Armen die gefährlichen Hügel und unsicheren Strandlagen und ziehen sich in die vergleichsweise sicheren Ebenen zurück? South Central ist vor Naturkatastrophen deutlich besser geschützt als Pacific Palisades. Der Malibu-Effekt ist also ein Upperclass-Phänomen. Mit dieser überraschenden soziologischen Zuordnung wird der MalibuEffekt noch mysteriöser. Gesichert sagen kann man lediglich, dass die Aufwertung durch den Malibu-Effekt die Risikolage am Meer oder am Berg mehr als nur kompensieren muss, sonst würde das ganze Phänomen nicht existieren. Wie aber funktioniert der Malibu-Effekt? Woher kommt die architektonische Aufwertung? Die Architektur selbst ändert sich ja nicht, man darf den Effekt also nicht bei der Architektur selbst suchen, sondern beim Betrachter und Bewerter. Damit ist man bei den Kriterien der Bewertung von Architektur angelangt. Genau diese Kriterien scheinen bei den Risikolagen am Wasser oder am Hang auf erstaunliche Weise nicht zu gelten. Ein faszinierendes evolutionäres Freispiel im kompetitiven Feld der akademischen Kritikeifrigkeit, das jede Architektur gern besäße. Wie schaffen es zum Beispiel die topografisch ignoranten Hanghäuser, der Kritik von Reyner Banham zu entkommen? Der hatte sich gewundert, dass an den Hügeln im Norden von Hollywood so routiniert 519

schlecht gebaut wird, banale Präriehäuser auf ungelenken Unterkonstruktionen, anstatt raumdramaturgisch angemessener Hangarchitektur. Wie relativiert der Malibu-Effekt diese Kritik? Durch projektive Ignoranz. Die ungelenken Unterkonstruktionen bemerkt man ja nur, wenn man von unten zu den Häusern hinaufblickt. Letzteres ist vor allem Banhams Kritikerperspektive. Doch das ist die gänzlich falsche Blickrichtung. Die Häuser an der Dramakante kennen die Perspektive von unten gar nicht. Niemand baut dort oben ein Haus, um es sich dann von unten anzusehen und ungelenke Stützkonstruktionen zu beklagen. Selbst ausgefeilte Raumdramaturgie im Haus selbst ist kein Grund, am Hang zu bauen, das könnte man ja überall haben. Außerdem sieht man die ausgefeilte Raumdramaturgie nur, wenn man in die Häuser hineinblickt. Doch wer an den Dramakanten der Stadt baut, will nicht ins Haus hineinblicken, sondern ist zuallererst am Drama interessiert, und das erscheint nur, wenn man sich vom Haus aus dem offenen Horizont zuwendet. Idealerweise kommt die Architektur nicht einmal ins Blickfeld – wie Lautner beim Entwurf der Silvertop Residence für Kenneth Reiner entscheidet: „He [der Bauherr] had collected six lots on a hilltop overlooking Silver Lake because he wanted to be able to see water, and that’s one of the few places around that you could see water in the Los Angeles area except for the ocean, of course. […] He liked the hilltop, and I made the design that I figured maintained the hilltop as much as possible. The basic scheme was two curved brick walls that sort of blank out the bedrooms and kitchen and other functional facilities of the house and also the neighbors. So that those walls open to the view east and west, and just keep the whole hilltop almost the way it was without building. And then by putting an arched roof over those curved walls, that created a free space that did not destroy the original hilltop, and created privacy from the neighbors and everything else.“23 Lautner schildert den Effekt sehr idyllisch: „privacy from the neighbors and everything else.“ Doch das meint auch private Ruhe von den Kritikern. Die werden zwar nicht so explizit ausgeblendet wie die anderen Ablenkungen, aber durch die radikale Hinwendung auf den offenen Horizont systemisch verweigert. Kritik würde ja bedeuten, das Haus vor dem Hintergrund der gesamten Architekturdisziplin vergleichend zu besprechen. Das wäre eine gänzlich andere Blickrichtung, nicht privat, sondern ein 23 John Lautner. In: Marlene L. Laskey, John Lautner. Responsibility, Infinity, Nature. John Lautner Interview by Marlene L. Laskey. The Regents of the University of California. 1986. Seite 119, 120

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öffentliches Gruppenbild mit sämtlichen utopischen Alternativen, die jede Kritik automatisch generiert. Das will weder Lautner persönlich leisten, noch will er das seiner Architektur zumuten. Wie alltagstauglich diese Kritikvermeidung durch die Hinwendung auf den offenen Horizont ist, kann jeder praktisch durchtesten. Wer will einer Architektur, die auf der Klippe balanciert, schon vorwerfen, dass sie nicht funktional ist. Wer will einer Architektur, die der Brandung entgegengehalten ist, schon vorwerfen, dass sie nicht schön ist. Wer will dekonstruktive Tiefenanalysen anstellen, wenn die tatsächliche Katastrophe bevorsteht. Die Routinen der klassischen Architekturkritik erscheinen da schnell nörglerisch, der Dramatik des Settings nicht angemessen. Im Übrigen würde lobende Kritik genauso unangemessen wirken. Definitorisch steht aber jetzt ein heikler Schritt bevor. Bauherren, die sich in exponierte Lagen hinaus kaufen, sind üblicherweise wohlhabend genug, um sich kritikfeste Architektur zu bestellen. Der Malibu-Effekt muss also über die Befreiung von Kritik hinausgehen. Aber wie? Kritik bedeutet die Herstellung einer Mannigfaltigkeit. Es gibt die zu kritisierende Architektur und kritisch hinzuimaginiert jede Menge utopischer Alternativen. Wenn man sich nun stur auf den Horizont hinaus orientiert und somit von dieser kritischen Mannigfaltigkeit abwendet – wo landet man dann? In der Einfältigkeit – wo sonst? Ist das zu semantisch argumentiert? Sind Häuser am Hang oder am Meer zwangsläufig einfältig, also dumm? Ja, diese Bedeutung muss man vorerst einmal hinnehmen. Denn Denken in Alternativen ist die Definition von intelligent. Die Abwendung vom Denken in Alternativen kann dann nur das Gegenteil bedeuten. Aber ist das nicht grotesk? Riskiert man tatsächlich sein Millionenanwesen, nur um die Einfältigkeit zu erleben? Was ist der Gewinn der Einfältigkeit? „Wenn als real zu gelten hat, was uns als Todgeber gegenübertreten kann, stellt der Feind die reinste Inkarnation des Realen dar, und mit dem Wiederauftauchen der Möglichkeit von Feindschaft steht die Rückkehr des Realen alten Stils bevor.“24 Das, was Peter Sloterdijk hier mit der Möglichkeit von Feindschaft erklärt, gilt gleichlautend für die Möglichkeit der Katastrophe. Der Effekt ist identisch, nämlich die Rückkehr des Realen. Die Katastrophe lässt das Reale in exzessiver Eindeutigkeit heraustreten und verdrängt damit sämtliche Stimmen, Alternativen, 24 Peter Sloterdijk. Zorn und Zeit. Suhrkamp Verlag. 2006. Seite 74, 75

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Kommentare und Kritiken, die sonst über der Architektur schwirren und die Realität hochgeistig vernebeln. Genau das ist mit dem Einfältigwerden gemeint. Letztlich darf man diesen Zustand des Total-Realen sogar im polemischen Verständnis dumm nennen, denn das Total-Reale denkt ja wirklich nicht, reflektiert nicht, kommentiert nicht, wie all die Journalisten, Architekturkritiker, Makler, Nutzer und Betrachter. Das Reale ist hoffnungslos dumm. Der Witz am Zustand des Total-Realen ist aber, dass man die Dummheit der Situation im konkreten Augenblick nicht erkennt. Die eigene Beobachtung zweiter Ordnung ist ja ebenfalls abgeschafft. Niemand, der einer Katastrophe entgegenblickt, reflektiert seine Lage, sondern ist ausschließlich in der Lage – wie Maximilian Werndl eindrucksvoll schildert. „Basejumper, Motorradrennfahrer, Apnoetaucher oder Klippenspringer sind alle dem Gefühl der maximalen Gegenwärtigkeit verfallen. […] Das habe ich als Basejumper auch bei meinen Sprüngen erlebt: Nichts ist dann noch da. Alles, was gerade noch wichtig war, worüber ich mir vielleicht Sorgen gemacht habe, ist weg. Das ist wie ein Katapult, das einen ins Jetzt schleudert.“25 Das klingt immer noch technisch, wird aber sehr sinnlich erlebt – wie Christoph Ransmayr beschreibt: „Paradoxerweise ist man oft gerade dort, wo vermeintliche Gefahren drohen – in der Wüste, im Hochgebirge, auf dem offenen Meer –, also an Orten, wo man mit dem Überleben beschäftigt ist, mit dem nächsten Schritt, mit der Suche nach Nahrung, Wasser, einem Schattenplatz, derart von Leben erfüllt, dass man sich für Momente unsterblich glaubt“.26 Die Einfältigkeit des total Realwerdens ist also nichts anderes, als vollkommen im Leben zu sein. Man kann es auch ausschließend erklären: Wenn alle Ablenkungen wegfallen, dann ist die akute Lebendigkeit das Einzige, was noch übrig bleibt, um einen zu erfüllen. Und genau diese Reduktion und Konzentration auf das Lebendigsein ist letztlich die aufwertende Wirkung des Malibu-Effekts. Vor allem weil diese Lebendigkeit nicht nur eine Selbsterfahrung ist, sondern die unmittelbaren Umstände gleichermaßen aufwertet – wie Jojo Moyes beschreibt: „In gewisser Weise hat mir meine Beschäftigung mit möglichen Katastrophen aber geholfen, das Gute intensiver zu genießen. Wenn man sich 25 Maximilian Werndl. In: Lisa Duhm, Maximilian Werndl. „Vor dem Schlafengehen habe ich einen Blick auf die Todesliste geworfen“. https://www.spiegel.de/lebenundlernen/job/maximilian-werndlim-interview-extremsport-ist-eine-sucht-a-1264058.html. 25.04.2019 26 Christoph Ransmayr. In: Wolfgang Paterno, Christoph Ransmayr. „Autor Christoph Ransmayr über Zeit, Tod und erste Romansätze“. https://www.profil.at/kultur/autor-christoph-ransmayr-zeit-tod-romansaetze-7657622. 25.10.2016

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ständig bewusst macht, was alles schiefgehen kann, lernt man es sehr zu schätzen, wenn das Gegenteil geschieht.“27 Angewendet auf das Malibu-Setting bedeutet das: Wer sich mit seinem Strandhaus dem offenen Horizont entgegenstellt, der spürt sich und sein Haus mit einer intensiveren Lebendigkeit. Aus Vermögen im Sinne eines abstrakten monetären Werts wird Vermögen im Sinne einer intensiv spürbaren Fähigkeit. Das bedeutet noch nicht, dass die Architektur oder man selbst der Katastrophe standhalten wird, aber es bedeutet in jedem Fall eine enorme Aktivierung. Jetzt erst spürt man, was man ist und was man hat. Man ist maximal grandios – im wörtlichen Sinn. Wie allgemeingültig diese Aufstellung ist, und wie sehr Architektur darin verfangen ist, deutet Sloterdijk an: „Die Moderne hat das empfangsbereite Warten auf Zeichen in technische Apparate wie Rundfunkgeräte und Telephone projiziert, deren Existenz rückwirkend zu sagen erlauben, was menschliche Häuser nach einer anderen Seite immer schon gewesen sind – nämlich Empfangsstationen für Botschaften aus dem Außergewöhnlichen.“28 Aus Sloterdijks Beschreibung kann man eine definitorische Unterscheidung herauslesen. Armsein bedeutet, die Katastrophe passiv zu erwarten. Passiv, weil einen die Frage lähmt: Worauf wird man durch die Katastrophe reduziert werden? Was wird als Essenz des eignen Seins lebendig werden, wenn man kein Vermögen hat? Wird man dann ausgerechnet sein Unvermögen intensiver spüren als sonst? Reichsein hingegen bedeutet, der Katastrophe aktiv entgegenzutreten. Wer ein großes Vermögen hat, der kann jetzt auf eine entsprechend euphorisierende Lebendigkeit hoffen. Diese Unterscheidung von arm und reich hat oft, aber nicht zwingend mit Geld zu tun, sondern mit dem, was man im vielfachen Wortsinn an eigenem Vermögen in sich trägt. Folgt man dieser Spur der Vermögensaktivierung, lernt man allerdings schnell, dass der Malibu-Effekt in der Architektur nur eine vergleichsweise niedrig dosierte Aktivierung erzeugt. Ungleich stärker wirkt die Aktivierung in maschinenbaunahen Settings. Der Katastrophe tritt man als Vermögender noch viel direkter im Rennwagen, im Privatjet, auf der Hochseejacht, als Weltraumtourist oder überhaupt mit einer eigenen Raketenfirma entgegen. Auch historisch betrachtet ist der Maschinenbau 27 Jojo Moyes. „Ich neige zum Katastrophisieren: Ständig stelle ich mir vor, was alles schiefgehen kann“. https://www.zeit.de/zeit-magazin/2016/45/jojo-moyes-traum. 19.11.2016 28 Peter Sloterdijk. Sphären III. Schäume. Suhrkamp Verlag. 2004. Seite 516

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der unübertroffene Lebendigmacher. Am anschaulichsten bei Großmaschinen wie Schiffen, Flugzeugen, Kränen, Raketen, Raumstationen etc., die im Gegensatz zur Architektur höchst agil und beweglich werden. Sie stellen sich nicht passiv empfangsbereit auf, sondern streben oft stürmisch auf die Katastrophe zu. Eine Wette mit Gott. Mein Hirn gegen deine Bestimmung. Vom Maschinenbau bekam man schon sehr früh vorgeführt, dass Modernsein bedeutet, sich seinem eigenen Vermögen auszuliefern und auf Rettungsdienste göttlicher Herkunft zu verzichten. Fabelhaft vorgeführt 1959 mit der Lenin, dem ersten atomgetriebenen Eisbrecher. Nicht nur der lebensfeindliche Horror der Eiswüste ringsumher wird mit der Maschine erobert und nutzbar gemacht, sondern auch der lebensfeindliche Horror des Atomreaktors mitten drin in der Maschine wird kontrolliert und als Arbeitssklave eingesetzt. Mit der Lenin beweist die Moderne, dass sie keinen Gott braucht und den Teufel für sich arbeiten lässt. Prägnanter hätte man den Erziehungsauftrag an den modernen Menschen nicht ausgeben können. Kontrolliere mit deinem Vermögen dein Inneres und dann kontrolliere mit deinem Vermögen dein Äußeres. Kontrolle durch Vermögen in beide Richtungen. Und wichtig: Es gibt keine Fehler angesichts der potentiellen Katastrophe, sondern es gibt nur totalen Erfolg oder totales Versagen, Leben oder Tod. Dieser anekdotische Ausflug in den hypertrophen Maschinenbau soll zeigen, in welche Dimensionen sich die Architektur noch vorwagen muss, um den Anforderungen der Katastrophenzeit zu entsprechen. Architekturprojekte werden also ebenfalls exponierter, anmaßender, euphorisierender werden müssen, um im Vergleich zum Maschinenbau relevant zu bleiben. Ansatzweise passiert das bereits. Der Eindruck der forschen Unreflektiertheit ist bei diesen Größtarchitekturen nicht immer zu verhindern, der Eindruck der forschen Lebendigkeit aber ebenso wenig.

Sky-down Der schlimmste Kitsch, ausgerechnet von John Lautner: „The overriding essence is found in the intangibles – life – heart – soul – spirit – freedom – enduring within the structure“.29 Wer traut sich heute noch, so über Architektur zu 29 John Lautner. In: Frank Escher. Hrsg. John Lautner, Architect. Birkhäuser. 1998. Seite 4, 5

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reden, vor allem wenn sie fortschrittlich modern sein soll? Lautner hatte offensichtlich keine Hemmungen. „The dominance of Superficiality must be ignored!“30 Die Liebe fehlt noch als großes Finale der Liste. Love is in the Air übertitelt ja bekanntlich nicht nur ein populäres Lied, sondern reklamiert für alle Intangibles ihre abgehoben-souveräne Position. Und nüchtern betrachtet? Welche andere Overriding Essence könnte Architektur denn sonst noch aufweisen? Heute wird eine Architektur herbeigewünscht, die sozial, nachhaltig, ökologisch, ökonomisch, flexibel etc. sein soll. Alles wichtig für die irdische Verträglichkeit, aber kann das die oberste Kriterienebene sein? Wer das Wirken der kreativen Disziplinen im Blick hat, wird in der bisherigen Auflistung eine ganz besondere Intangible Overriding Essence vermissen: die Schönheit. Le Corbusier wird noch deutlicher und fordernder: „Wir schulen unser Formgefühl an den reinen Zweckformen der Technik und Industrie. Das sind die Kinder unseres Geistes. Anerkennen wir sie, so eröffnen sich uns neue Schönheiten. Schönheiten adeln.“31 Dass Schönheiten adeln, hört man heute nicht mehr oft. Der Schönheitsbegriff ist stattdessen in zwei Definitionsrichtungen zerfallen. Einerseits ist die Schönheit ein klassisch funktionaler Begriff, der das eine vom anderen unterscheidet. Gleichzeitig ist die Schönheit ein soziopolitisches Projekt. Dabei gilt es, das Elitäre am Begriff zu dekonstruieren und jedermann Schönheit zuzusprechen. Zügiger auflösbar ist dabei die funktionale Definition, vor allem wenn man die Evolutionsbiologie erklären lässt: Welchen evolutionären Vorteil sollten Menschen je gehabt haben, Schönes von Nicht-Schönem zu unterscheiden? Keinen. Deswegen schlägt die Evolutionsbiologie vor, den Begriff der Schönheit schlicht mit Gesundheit zu ersetzen. Dann ist die Relevanz sofort plausibel. Wer auf den ersten Blick Gesundes von Krankem unterscheiden kann, hat einen Überlebensvorteil. Diese funktionale Definition schwingt bei Le Corbusier deutlich mit. Durch die Schulung an der Technik und Industrie soll die Architektur gesunden und sich von den formalen Krankheiten der Vormoderne befreien. Lautner argumentiert ähnlich. Er verwendet den Begriff Sick wiederholt als selbstbeschreibende Reaktion auf die Hässlichkeit von Los Angeles, während Beauty bei ihm immer als Verweis auf Natur und Natürlichkeit zu finden ist. Auch heute noch werden Gebäude, die nicht gefallen, als Krankheiten 30 John Lautner. Ebd. Seite 8, 9 31 Le Corbusier, Pierre Jeanneret. Zwei Wohnhäuser. Karl Krämer Verlag. 1991. Seite 25

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beschimpft. Semantisch hat sich die Gleichsetzung von Schönheit mit Gesundheit also eingeprägt. Häufig hören dürfte man diese Herabsetzung allerdings nicht, denn statistisch gesehen ist das Gesunde die Norm, das Kranke lediglich die Ausnahme. Das bedeutet, die große Mehrheit ist ohnehin schön. Damit ist plötzlich das politische Projekt der Demokratisierung der Schönheit völlig ohne Widerstand eingelöst. Schönheit im Sinne von Gesundheit war noch nie ein Exklusivrecht der Elite, sondern der Normalfall. Und doch scheint Le Corbusier mit seiner Idee der Schönheit deutlich höher zu zielen. Dass Schönheiten adeln, kann man nicht mehr als Beschreibung des Normalfalls bezeichnen. Es muss also noch eine dritte Definition von Schönheit geben, eine adelige, unbedingt elitäre: „Ich würde mir wünschen, man spräche unter dem Thema der Schönheit heute auch vom Phänomen der großen, der atemberaubenden Schönheit.“32 Wolfgang Welsch teilt in diesem Zitat die Schönheit implizit in eine bodenständige und eine abgehobene Version. Atemberaubende Schönheit kann man tatsächlich nicht mehr salopp mit dem Normalfall Gesundheit übersetzen. Atemberaubend meint eher das Gegenteil. Die Erlösung aus dem Normalfall und die Einberufung in das Übernatürliche. Damit wird der Furor des politischen Projekts der Schönheit sofort wieder akut. Da ist er also doch, der exklusive Schönheitsbegriff der Elite. Und er weicht ganz gezielt so eklatant vom Geschmacksverständnis der Normalbevölkerung ab, weil die Elite ja zuallererst vom Normalsein erlöst werden will. Wobei die Erlösung doppelt propagiert wird, als Einberufung in das Übernatürliche und/oder als Kokettieren mit dem Tod – Hauptsache nicht als Normalmensch dahinvegetieren. Lässt sich diese elitär-fatalistische Idee der Schönheit auf Architektur übertragen? Gibt es in der Architektur neben der normalen, gesunden Schönheit auch so etwas wie einen architektonischen Heroin Chic? Der noch dazu ganz bewusst gesetzt wird, um sich von der Normalarchitektur zu distanzieren? Ja, den gibt es garantiert. Aber daraus muss man kein Drama machen, die Freude am Pluralismus kann das nicht trüben. Wichtiger ist zu verstehen, dass die Anrufung der Intangibles auch in der Architektur die Erlösung vom Normalen sucht. Bei Lautner ist es die Erlösung von der Banalität der Architekturpraxis seiner modernen Zeitgenossen: „But the exposure to Frank Lloyd Wright was an exposure to strong 32 Wolfgang Welsch. „Wiederkehr der Schönheit?“ In: Archithese 5. 2005. Seite 13

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philosophy and principles of materials and principles of life and beauty and all kinds of realities of the universe, which you can ponder forever; while being exposed to fifty different latest styles by fifty different architects leaves a student – I mean, he doesn’t know where he is. He doesn’t know anything, I guess.“33 Die Intangibles sind also keine irdischen Dingeigenschaften im alltäglichen Wettstreit mit anderen Dingeigenschaften, sondern eine höchste Instanz, die dem alltäglichen Normalen kategorisch überlegen ist. Wer diese Beschwörung des höchsten Vermögens für eine metaphysische Ausschweifung hält, unterschätzt die radikale praktische Konsequenz: „Of course, regardless of specifics, I always insist that the final form must be beautiful. This is a quite separate consideration from the planning process.“34 Diese unverdächtige Bemerkung von SANAA enthält ein für Architekten beachtenswertes methodisches Paradox. Schönheit ist eine „separate consideration from the planning process“. Was ist darunter zu verstehen? Garantiert nichts Harmloses, wenn man Peter Zumthors praktischen Anweisungen folgt: „Paradoxerweise arbeiten wir jedoch nicht an der Form, wir arbeiten zunächst an all den anderen Dingen: am Klang, an den Geräuschen, an den Materialien, am Körper der Architektur, der sich, wie ich eingangs erwähnte, aus der Konstruktion, der Anatomie, der Logik des Konstruierens zusammensetzt.“35 „Aber, wenn es am Schluss für mich nicht schön aussieht – ich sage jetzt bewusst einfach nur schön, es gibt Bücher über Ästhetik –, wenn mich diese Form nicht anrührt, dann gehe ich ganz zurück und beginne wieder von vorne.“36 Hier wird ein erstaunlich brutales Verfahren offengelegt. Zumthor will am Ende schöne Architektur haben, aber er weigert sich, Schönheit als direkten Parameter in den Entwurfsablauf zu integrieren. Genau das für ihn entscheidende höchste Kriterium will er offensichtlich nicht in die Niederungen des alltäglichen Entwurfsbetriebs hinabzerren und damit entwerten. Erst am Ende betritt die Schönheit als höchste Richterin die Szene und urteilt über alles. An der Schönheit entscheidet sich dann, ob davor die richtige Körperlichkeit, Materialität, Geruchsaura etc. gewählt worden ist, an der Schönheit entscheidet sich Glück oder Unglück der gesamten Arbeit. „Und ich denke, wenn eine Arbeit geglückt ist, hat sie 33 John Lautner. In: Marlene L. Laskey, John Lautner. Responsibility, Infinity, Nature. John Lautner Interview by Marlene L. Laskey. The Regents of the University of California. 1986. Seite 179, 188 34 Kazuyo Sejima. „Kazuyo Sejima and Ryue Nishizawa 1983–2000. Making the Boundary”. In: El Croquis 77(I), 99. 2001. Seite 28 35 Peter Zumthor. „Atmosphären“. In: Arch+ 178. 2006. Seite 35 36 Peter Zumthor. Ebd. Seite 35

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eine Form angenommen, von der ich dann häufig überrascht bin, obwohl wir lange daran gearbeitet haben. Eine Form, von der ich denke: Hätte ich mir am Anfang nie vorstellen können, dass sie so wird. Ich empfinde große Freude, bin auch stolz, wenn dieser Moment eintrifft.“37 An Zumthors Entwurfsablauf bestätigt sich, welche parareligiöse Autorität einer Intangible Overriding Essence eingeräumt wird. Man verbietet sich, sie im Alltag zu berühren, hofft aber dennoch auf ihr erlösendes Erscheinen. Verweigert sie ihren Segen, bestraft man sich selbst und opfert die gesamte bisherige Arbeit und fängt wieder von vorne an. Trotzdem kann man sich für diese erlösende Einberufung in das höchste Vermögen nur demütig bewerben, wieder und wieder, aber man kann die Hochfahrt nicht direkt ansteuern oder gar erzwingen. Manchen wird dieses abgehobene Verständnis von Schönheit an Friedrich Schiller erinnern, der sich von der ästhetischen Erziehung des Menschen nicht weniger als den Aufstieg in die Freiheit erwartet hatte. Nur konsequent, dass Le Corbusier diesen Aufstieg mit Adeln bezeichnet. Was das alles mit der Katastrophe zu tun hat? Laut Gerhard Richter kann es nicht treffender werden. Zuerst doziert er noch, dass allein die Vernunft ein tauglicher Widerstand gegen die Katastrophe wäre.38 Doch dann muss er zugeben, dass die menschliche Vernunft allein nicht ausreicht. Die Rettung vor der Katastrophe kann man sich doch nicht in den irdischen Vernunftniederungen erarbeiten, sondern im Gegenblick der Katastrophe kann man wieder nur auf eine mirakulöse Hochfahrt ins höchste Vermögen hoffen, das einen auf ebenfalls mirakulöse Weise das Richtige tun lässt: „Die resignierende Einsicht, dass wir nichts machen können, dass Utopie sinnlos wenn nicht verbrecherisch ist, hatte ich immer. Mit dieser ‚Struktur‘ entstanden die Fotobilder, die Farbfelder, die Grauen Bilder. Bei alldem behielt ich im Hinterkopf den Glauben, dass sich Utopie, Sinn, Zukunft, Hoffnung einstellen mögen, sozusagen unter der Hand, als etwas, das einem unter37 Peter Zumthor. Ebd. Seite 35 38 „Erdbeben sind für uns alle, auch für mich erschreckend und faszinierend zugleich, ich meine, man kann der Versuchung nicht widerstehen, einmal eins erleben zu wollen. Als Lissabon von einem Erdbeben erschüttert wurde, protestierte Voltaire öffentlich im Namen der Vernunft! Im übertragenen Sinn war Voltairs Protest durchaus vernünftig, denn die Faszination, die ein Erdbeben auf jeden von uns ausübt, entspricht unmittelbar den unbewussten Kräften, die in uns am Werk sind. Diese Kräfte von infernalischer, mörderischer Gewalt, die Mord und Krieg heraufbeschwören können, sind nur durch die Vernunft in Schach zu halten.“ Gerhard Richter. Text 1961 bis 2007. Schriften, Interviews, Briefe. Verlag der Buchhandlung Walther König. 2008. Seite 135

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läuft, weil die Natur, also wir, unendlich besser, klüger, reicher ist als das, was wir mit unserem kurzen, begrenzten, engen Verstand uns ausdenken können.“39 „Und was erwartest du? Dass eben etwas entsteht, was ich nicht kenne, nicht planen konnte, was besser, klüger ist als ich, was auch dann allgemeiner ist.“40 In Richters Anrufung des höchsten Vermögens wird ein Obenunten-Denken deutlich, das an den Malibu-Effekt erinnert. Wieder ist es der Gegenblick der Katastrophe, der auf- oder abwertet. Der MalibuEffekt hebt die Immobilienpreise nach oben und den Wert von Architekturkritik nach unten. Bei Richter scheitert die Vernunft als höchste Instanz, dafür setzen Zumthor und Le Corbusier die Schönheit als letzte Richterin ganz hinauf. Bei so viel Volatilität stellt sich natürlich die Frage nach der Choreografie. Diese Auf- und Abwertungen bloß schicksalhaft hinzunehmen und auf das höchste Vermögen nur unterwürfig zu hoffen, ist methodisch etwas karg. Kann man das höchste Vermögen nicht doch als Destination aktiv und direkt ansteuern? Gilles Deleuze und Félix Guattari skizzieren mit Verweis auf Paul Klee eine solche aktive Herangehensweise, um das eigene Vermögen sprunghaft zu erhöhen, sich also selbst zu adeln. Sie nennen es kosmisches Ausbrechen. „Wie stellt Paul Klee diesen letzten Schritt dar, der keine irdische ‚Gangart‘ mehr ist, sondern ein kosmisches ‚Ausbrechen‘? Und warum ein so gewaltiges Wort wie Kosmos, um von einem Vorgang zu sprechen, der präzise sein soll? Klee sagt, daß man eine ‚Gebärde in Stößen‘ ausführt, um sich von der Erde zu lösen, daß man sich ‚unter dem Diktat von Schwungkräften, welche über die Schwerkräfte triumphieren‘, über sie erhebt.“41 Als Handlungsanweisung klingt kosmisches Ausbrechen zunächst ziemlich wolkig. Solide wird es erst, wenn man es wörtlich nimmt. Nicht nur als Handlungsanweisung, sondern als generelle Orientierung. „Wenn es ein modernes Zeitalter gibt, dann ganz gewiss das Zeitalter des Kosmischen.“42 So nennen Deleuze und Guattari das gesamtgesellschaftliche Streben nach dem höchsten Vermögen. Wie akut erhellend diese neue Perspektive ist, beweist wiederum Zumthor, dem aus der kosmischen Höhe ein bemerkenswerter Satz über die Einordnung von Architektur gelingt: „Ich finde es recht betrachtet unglaublich, dass wir in der Architektur ein Stück aus 39 Gerhard Richter. Ebd. Seite 130 40 Benjamin H. D. Buchloh, Gerhard Richter. „Interview mit Benjamin H. D. Buchloh 1986“. In: Gerhard Richter. Ebd. Seite 182 41 Gilles Deleuze, Félix Guattari. Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie. Merve Verlag. 1992. Seite 460 42 Gilles Deleuze, Félix Guattari. Ebd. Seite 466

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der Weltkugel herausnehmen und in eine kleine Kiste bauen und plötzlich gibt es ein Innen und ein Außen. Einfach fantastisch“.43 Tatsächlich fantastisch – vor allem, weil der Satz zeigt, dass der abgehobene Blick auf die Overriding Essence der Architektur nicht zwingend Kitsch sehen muss, sondern zu sehr technischen Beobachtungen führen kann. Deleuze und Guattari beschreiben das Zeitalter des Kosmischen ebenfalls als technische Herausforderung: „All das scheint außerordentlich allgemein zu sein und geradezu hegelianisch auf einen absoluten Geist zu verweisen. Und dennoch ist es Technik, sollte es Technik sein, nichts als Technik. Die wesentliche Beziehung ist nicht mehr die von Materialien und Formen; (oder Wesenheiten und Attributen); und sie liegt auch nicht in der kontinuierlichen Entwicklung der Form oder der kontinuierlichen Variation der Materie. Sie stellt sich jetzt als eine direkte Beziehung von Material und Kräften dar.“44 Überträgt man diese Skizzen über den gezielten Aufstieg in das höchste Vermögen auf die Architektur, kommt sehr deutlich die Kontur von Richard Buckminster Fullers Arbeit zum Vorschein. Seine Cosmic Conception hebt Architektur aus dem kleinlichen Chaos des Bodenständigen heraus und etabliert architektonisches Denken als höchstes Werkzeug der Weltbeobachtung und Weltrettung: „Gemeint ist die Fähigkeit, komplexe Zusammenhänge für Erhalt und Pflege der Lebensgrundlage nicht nur zu erkennen, sondern im Denken und Handeln wirksam werden zu lassen.“45 Technik ist dabei weniger Reparaturdienst auf Erden, sondern wieder eine Allegorie der Rettung von oben. Nicht bottom-up, sondern sky-down. „Mir war klar, dass nur ein transzendentales Modell ingenieursmäßiger Konstruktions- und Entwurfsarbeit beziehungsweise ein technisches Verfahrensmuster zum Erfolg führen könnte, das auf der Grundlage eines dynamischen Welt-Stadt-Planes aufbaut.“46 Fuller bestätigt in diesen prinzipiellen Feststellungen das bereits bekannte Oben-unten-Denken im Gegenblick der Katastrophe. Ihm eigen ist jedoch die aggressive Konkretisierung der Hierarchie der Vermögensverwaltung. Harsch abwertend urteilt er über Spezialisten, die ihre Arbeit auf das angewandte Detail fokussieren, ohne ins Prinzipielle abzuheben. 43 Peter Zumthor. „Atmosphären“. In: Arch+ 178. 2006. Seite 34 44 Gilles Deleuze, Félix Guattari. Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie. Merve Verlag. 1992. Seite 467 45 Robert Kaltenbrunner. „Architektur und Nachhaltigkeit – eine schwierige Beziehung“. In: Manfred Hegger, Matthias Fuchs, Thomas Stark, Martin Zeumer. Energieatlas. Nachhaltige Architektur. Edition Detail. Birkhäuser. 2008. Seite 19 46 Richard Buckminster Fuller. Bedienungsanleitung für das Raumschiff Erde und andere Schriften. Philo Fine Arts. 2010. Seite 195, 196

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Sämtliche Spezialisten müssten daher Generalisten unterworfen werden – meint Fuller. Aber davon gäbe es zu wenige – was laut Fuller die allgemeine Misere der Welt erklärt: „Die Gesellschaft bestand damals wie heute fast nur noch aus spezialisierten Sklaven für Erziehung, Management, Wissenschaft, Büroroutine, Handwerk, Landwirtschaft, Schaufel-und-Spitzhacke-Arbeit und ihren Familien. Unsere heutige Gesamtgesellschaft hat niemanden, der eine so komprehensive und realistische Weltkenntnis hätte, wie sie einst die großen Piraten besaßen.“47 „Wir fangen damit an, die Rolle von Spezialisten, die es nur mit Teilen zu tun haben, zu vermeiden. Wir lassen uns wohlüberlegt expandieren, anstatt uns zusammenzuziehen, wir fragen: ‚Wie können wir ganzheitlich denken?‘ Wenn es wahr ist, dass das größere Denken auf die Dauer das effektivere ist, müssen wir fragen: ‚Wie groß können wir denken?‘“48 Architekten und Planern traut Fuller ausnahmsweise etwas mehr Weitblick zu, aber die Teilung der Welt in kurzsichtige Spezialisten und weitblickende Generalisten relativiert er auch mit dieser Ausnahme nicht: „Die Architekten und die Planer, besonders die Planer, haben, obwohl sie als Spezialisten eingestuft werden, einen etwas weiteren Blickwinkel als andere Berufe. […] Daher halte ich es für das richtigste, uns in die Rolle von Planern zu versetzen und mit dem komprehensiven Denken im größten Maßstab, dessen wir fähig sind, zu beginnen.“49 Fullers Insistieren auf der kosmischen Perspektive bleibt aber gänzlich unverstanden, wenn man seine Motivation dahinter nicht kennt. Fuller ist nicht einfach in die kosmische Perspektive hinaufgeboren worden, sondern der Gang durch eine sehr persönliche Katastrophe hat ihn dorthin geführt. Der Tod seines ersten Kindes, ein paar finanziell schwierige Jahre, Selbstmordgedanken und die erlösende Geburt des zweiten Kindes veranlassen Fuller, das „Chaos im Baugewerbe“50 zu verlassen und in die „blinde Verabredung mit dem Prinzipiellen“51 zu flüchten. Einen derartigen Auf- und Ausstieg von einer Bottom-up-Perspektive hinauf zu einer Sky-down-Perspektive sieht man in Zeiten der Not öfter. Friedrich Schiller, zeitlebens von schweren Krankheiten geplagt und früh verstorben, lässt ähnlich wie Fuller Brotgelehrte gegen philosophische Köpfe antreten und verspricht den philosophischen Köpfen – und damit auch sich selbst – eine „Bahn zur 47 Richard Buckminster Fuller. Ebd. Seite 39 48 Richard Buckminster Fuller. Ebd. Seite 54 49 Richard Buckminster Fuller. Ebd. Seite 53, 54 50 Richard Buckminster Fuller. Ebd. Seite 194 51 „Meine blinde Verabredung mit dem Prinzipiellen schien für mich die einzige Möglichkeit zu sein, meine Arbeit nach Kräften in den Dienst der Beschleunigung technisch vorteilhafter Gesamtvernetzung zu stellen […].“ Richard Buckminster Fuller. Ebd. Seite 195

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Unsterblichkeit“.52 Vermutlich erscheint das Prinzipielle, Allegorische, Wolkige, jedenfalls Nicht-Konkrete immer als Rettungsdestination, wenn das konkrete Leben unerträglich wird: „Das Gefüge stößt nicht mehr mit den Kräften des Chaos zusammen, es vertieft sich nicht mehr in die Kräfte der Erde und des Volkes, sondern öffnet sich für die Kräfte des Kosmos.“53 Doch für Fuller war seine Cosmic Conception nicht nur Rettung, sondern gleichzeitig Auftrag: „Es war für mich ersichtlich, dass der Tod unserer Tochter an ihrem vierten Geburtstag im Jahre 1922 durch die damals unbeachteten Umweltprozesse verschuldet worden war, deren Faktoren völlig unkontrolliert und unbegriffen integriert wurden, obgleich man ihrer durch Präventions-Design hätte Herr werden können.“54 Fullers Cosmic Conception soll also Präventionsdesign liefern, denn Prävention ist das höchste Vermögen im Gegenblick der Katastrophe. Prävention ist die einzige Erlösung, die man direkt ansteuern kann. Auf Lautners „life – heart – soul – spirit – freedom“ kann man nur hoffen, aber an der Prävention kann man sofort und fortwährend Hand anlegen. Prävention ist folglich die projektive Fassung seiner Sky-down-Perspektive und kann als eigene Architekturkategorie ausgezeichnet werden, als Präventionsarchitektur. Die Konsequenz dieser Sky-down-Perspektive ist allerdings höchst paradox und gerade mit Blick auf Fullers Arbeiten kritisch bemerkt worden. Die Rede ist von einem massiven Qualitätsproblem. Fullers Dymaxion Car wird als äußerst schlecht fahrbar beschrieben, sein Dymaxion House als bauphysikalisch unbrauchbar und nicht vermarktbar. Seine ganze Werkbiografie ist eine Serie von Prototypen, die nie raffiniert worden sind, sondern nur eine prinzipielle Absicht demonstrieren. Wie also sollen diese Prinzipkonstruktionen der Katastrophe widerstehen, wenn sie bereits am Alltagsbetrieb scheitern? Hinzukommt, dass die Katastrophe in Anlehnung an Peter Sloterdijks Worte „die reinste Inkarnation des Realen“ ist und die mangelnde Qualität der Fuller’schen Präventionsarchitektur folglich einer Realitätsverweigerung gleichkommt.

52 Friedrich Schiller. Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte? (Antrittsvorlesung in Jena, 26.05.1789). Akademische Buchhandlung. 1789. Seite 32 53 Gilles Deleuze, Félix Guattari. Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie. Merve Verlag. 1992. Seite 466, 467 54 Richard Buckminster Fuller. Bedienungsanleitung für das Raumschiff Erde und andere Schriften. Philo Fine Arts. 2010. Seite 191, 192

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Als salopp-polemische Ausrede für das Qualitätsproblem wird gelegentlich Fullers Sehschwäche genannt. Das wäre der Grund, warum er lieber das Prinzipielle sehen wollte und das konkrete Detail übersah. Solchen schicksalhaften Konstellationen wird gerne etwas Allgemeingültiges unterstellt. Sind wir im Gegenblick der Katastrophe nicht alle von Sehschwäche befallen? Ist das nicht die gefährlichste Eigenschaft der Katstrophe überhaupt, dass man sie nicht präzise voraussehen kann. Die Katastrophe unterwirft sich nicht der Risikokalkulation, der antizipierenden Vernunft, der redlichen Vorbereitung. Die Katastrophe ist das Jenseits dieser Versicherungsversuche. Woran sollte Präventionsarchitektur also Naturmaß nehmen, um dann präzise zu funktionieren? Der Auftraggeber der Präventionsarchitektur kann folglich nur das Prinzipielle sein und nicht der konkrete Anlassfall. Fullers Sehschwäche wäre dann methodisches Vorbild für alle. Sein lebenslanger Umgang mit verschwommenen Bildern hat ihn nämlich gelehrt, verschwommene Erscheinungen zumindest in ihrer Essenz richtig zu deuten. Mehr Zielgenauigkeit gibt die Katastrophe nicht her. Mit Fullers Sehschwäche lassen sich zweifellos tolle Fabeln über seine Arbeit konstruieren. Dennoch muss gelten: Die mangelnde Qualität seiner Präventionsarchitektur ist nicht hinnehmbar, schon gar nicht im Kontext der Moderne, die laufend auf Verbesserung drängt. Das bedeutet, die mangelnde Qualität ist entweder aufklärbar oder Präventionsarchitektur ist als Kategorie nicht zu rechtfertigen. Der Ausweg aus diesem Ultimatum erfolgt über einen Umweg. Während Fuller mit seiner Cosmic Conception in prinzipiellen Höhen gegen die Katastrophe kämpft, machen alle anderen was? Begrifflich nachgefragt: Was ist das irdische Gegenstück zur kosmischen Präventionsarchitektur? „Denn insbesondere bei Gefahren zweiter Ordnung wird das oberste Ziel zunehmend darin gesehen, dass der Versicherungsfall gar nicht erst eintritt, da er nicht oder nur ungenügend bewältigt werden kann. An die Stelle der Kompensation tritt also immer stärker die Aufgabe der Prävention“.55 Wolfgang Bonß nennt in dieser kurzen Gegenüberstellung das zweite relevante Schlüsselwort. Das Gegenteil der Präventionsarchitektur ist somit die Kompensations architektur. Sie kennt keine kosmische Perspektive mehr, keine 55 Wolfgang Bonß. Vom Risiko. Unsicherheit und Ungewißheit in der Moderne. Hamburger Edition. 1995. Seite 232

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deutungsvolle Sehschwäche, keine allegorischen Aufträge, keine strategische Arroganz, sondern praktiziert konkrete Verbesserung der konkreten Umstände.56 Klingt erfrischend plausibel, Architektur absichtlich kurzsichtig anzulegen und zur situativen Präzision zu zwingen. Real vorliegende Probleme kann man nämlich sehr wohl genau vermessen und passgenau lösen. Das wäre eine höchst wertvolle Arbeit. Die von Fuller als Sklaven beschimpften Spezialisten könnten sich mit Kompensationsarchitektur vollumfänglich rehabilitieren und die abgehobenen Generalisten tagtäglich beschämen. Doch das Gegenteil passiert – zumindest ist das Fullers Kritik ausgerechnet an der Baupraxis seiner modernen Architektenkollegen: „Veröffentlicht auch nur einer von ihnen, was seine Bauten wiegen, welche Mindestanforderungen im Hinblick auf Windstärken, Überschwemmungshöhen, Erdbeben, Feuer, Pest, Epidemien etc. im Entwurf vorgesehen sind und als was sie sich später herausstellen, wie groß ihr Transportgewicht und -volumen ist und wie viel Arbeitsstunden insgesamt aufgewendet wurden?“57 „Kurz, sie befassten sich nur mit dem Problem, die Oberfläche von Endprodukten zu modifizieren, wobei diese Endprodukte notwendigerweise Subfunktionen einer technisch veralteten Welt waren.“58 Daraus folgt, die Kompensationsarchitektur kompensiert gar nicht die konkreten Schäden von konkret stattfindenden Katastrophen und deren Aus- und Nachläufern. Was aber macht die Kompensationsarchitektur dann? Die Antwort darauf gibt wieder Gerhard Richter: „Die Angst ist im Gegenteil nur Zeichen für unsere Gewissheit, nichts ändern zu können; und nur zur Besänftigung der Angst reagieren wir mit Ersatzhandlungen wie mit Tropfen auf heiße Steine und handeln so nicht anders als unsere Vorfahren, die mit Gebeten und Opfergaben gegen die Natur angingen. Diese geht weiter in ihrer ganz natürlichen Erbarmungslosigkeit. […] Ihr sind wir ausgeliefert in Ohnmacht und Schmerz und können nichts anderes als lindern und trösten. Die Linderung ist immer kindisch: ein paar grüne Ecken an den Parkplätzen – der Trost ist immer verlogen: falsche Versprechungen einer schönen Zukunft. Es scheint das zu sein, was

56 „I think that it is an error to premise contemporary architecture on archaic cosmology. My policy is not to perpetuate these kind of fictions, but instead to put an end to them, I consider it anachronistic to take an impossible concept, present it as something of eternal importance, and completely base your architecture upon it.“ Kazuyo Sejima. „Kazuyo Sejima and Ryue Nishizawa 1983–2000. Making the Boundary”. In: El Croquis 77(I), 99. 2001. Seite 26 57 Richard Buckminster Fuller. Bedienungsanleitung für das Raumschiff Erde und andere Schriften. Philo Fine Arts. 2010. Seite 207, 208 58 Richard Buckminster Fuller. Ebd. Seite 208

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uns ausmacht.“59 Die Kompensationsarchitektur kompensiert also nur die Angst vor der Katastrophe durch billige Ablenkung. Sie kompensiert die Realität der Bedrohung und Betroffenheit, anstatt die tatsächlichen Katastrophenschäden zu verarbeiten. Das allein ist schon bemerkenswert, der entscheidende Effekt ist aber ein energetischer. Indem die Kompensationsarchitektur von der Katastrophe ablenkt, verhindert sie gleichzeitig die Aktivierung durch den Gegenblick der Katastrophe. Keine Angst mehr, keine Panik mehr, aber auch kein Realwerden, kein Lebendigwerden, keine Euphorie mehr. Die Kompensationsarchitektur bewirkt das präzise Gegenteil des Malibu-Effekts. Die Brisanz verschwindet, das Vermögen relativiert sich, die intellektuelle Geschwätzigkeit setzt ein, alles scheint möglich, niemand muss. Stillstand und Langeweile breiten sich aus. Mit diesem abrupten, energetischen Abschwung durch die Kompensation wird wiederum klarer, worin Prävention betriebswirtschaftlich besteht. Die Präventionsarchitektur will keinen energetischen Abschwung, sondern hält den Blick unablässig auf die Katastrophe gerichtet und reitet folglich auf einer permanenten Welle der Aktivierung. Der Präventionsarchitekt ist ständig in euphorischer Lebendigkeit, ständig in rettender Mission unterwegs: „One day when I was driving him to the airport for one of his many trips, he said to me, ‚Jaime, we have half an hour now during this drive. What is the most important thing we can be thinking about?‘“60 Weltrettung in einer halben Stunde? Ja, denn für Fuller war Weltrettung Dauerauftrag – so erzählt es zumindest sein Mitarbeiter, und die Erzählung ist höchst glaubwürdig. 80 Meter Regallänge an Weltrettungsberichterstattung hat Fuller mit seinen Dymaxion Chronofiles hinterlassen. In 15-Minuten-Takt-Aufzeichnungen kann man darin sein Leben als Architekt und Katastrophen-Fighter nachlesen. Entscheidender als die Detaileinträge ist allerdings das Summenbild: Wer außer Fuller will sich einen derartigen Stressmarathon antun? Niemand. Präventionsarchitektur als Dauerauftrag ist einfach zu anstrengend, für die Architekten und letztlich sogar für die Nutzer. Zwar wird von der großen Katastrophe schnell einmal sorgenvoll geredet, sogar von Architekten, die sich in den gegebenen Umständen sonst verblüffend

59 Gerhard Richter. Text 1961 bis 2007. Schriften, Interviews, Briefe. Verlag der Buchhandlung Walther König. 2008. Seite 281 60 Jaime Snyder. In: Jaime Snyder. Hrsg. R. Buckminster Fuller. Operating Manual for Spaceship Earth. Lars Müller Publishers. 2008. Seite 7

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eloquent zurechtfinden.61 Aber meist erscheinen diese Apelle als semantische Parabelflüge in prinzipielle Höhen, denen keine adäquate Präventionsanstrengung folgt: „Marc Emery: Bewegungen der Moderne haben stets eine ideale Zukunft entworfen. Jan Kaplicky: So ist es. Und heute will sich niemand mehr überhaupt auf eine bestimmte Zukunft festlegen. Seit zwanzig Jahren oder noch mehr haben wir von keiner architektonischen Voraussage mehr gehört. Wann wurde das letzte Statement über die Zukunft abgegeben und von wem? Archigram und Fuller, und seither nichts mehr.“62 Daraus folgt: Die mangelnde Qualität der Fuller’schen Erzeugnisse muss man insgesamt pardonieren. Fuller kann nachweisen, dass er selbst sein maximal Möglichstes zur Erlösung von der Katastrophe getan hat. Dass die Fraktion der Präventionsarchitektur insgesamt personell schwach besetzt ist und die ungleich größere Fraktion der Kompensationsarchitekten lieber an der Ablenkung als an der Schadensminderung arbeitet, kann man Fuller und seiner Idee von relevanter Architekturarbeit nicht als Malus anrechnen.

Dunkles Prozessgeheimnis Hat niemand Thomas S. Kuhn gelesen? Gerade für Architekten würde sich die Lektüre empfehlen, denn die Wissenschaftstheorie ist in der Evaluierung ihrer methodischen Abläufe schon sehr früh sehr viel aufklärerischer gewesen als die Architektur. Paradigmenwechsel – heißt es bei Kuhn. Die Welt der Wissenschaft schreitet nicht kontinuierlich vorwärts, sondern in Stufen. Eine Zeit lang geht es eher veränderungsarm dahin, dann ereignet sich plötzlich ein steiler Innovationssprung. Die veränderungsarme Phase nennt Kuhn Normalwissenschaft, wenn anhand der bestehenden Theorien aktuelle Probleme gelöst werden. Doch irgendwann erschöpft sich diese Routine, und zwar dann, wenn eine kritische Anzahl an aktuellen Problemen mit den bestehenden Theorien nicht mehr gelöst werden kann: „Die Entdeckung beginnt mit dem Bewusstwerden einer Anomalie, das heißt mit der Erkenntnis, daß die Natur in irgendeiner 61 „Da führen wir zuweilen hochintellektuelle Diskussionen über sehr enge, abgezirkelte Bereiche und über Details, und dabei befördert uns unsere Blindheit gegenüber dem globalen Aspekt direkt in die Katastrophe.“ Rem Koolhaas. In: Marianne Brausch, Marc Emery. Hrsg. Fragen zur Architektur. 15 Architekten im Gespräch. Birkhäuser. 1995. Seite 100 62 Marianne Brausch, Marc Emery. Ebd. Seite 79

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Weise die von einem Paradigma erzeugten, die normale Wissenschaft beherrschenden Erwartungen nicht erfüllt hat.“63 Die unmittelbare Reaktion auf diese Unstimmigkeit ist jedoch erstaunlich: „Angesichts einer unzweifelhaft fundamentalen Anomalie werden die ersten Anstrengungen des Wissenschaftlers oft dahin gehen, sie schärfer herauszuarbeiten und ihr Struktur zu geben. Wenn er sich nun auch darüber klar ist, daß die Regeln der normalen Wissenschaft nicht ganz richtig sein können, wird er sie doch strenger als je befolgen, um zu sehen, wo und wie sie im Bereich der Störungen angewandt werden können.“64 Die Krise der bestehenden Theorien wirkt also stabilisierend – zumindest kurzfristig. Auf Krise folgt Beharren. Eine Beobachtung, die man auch von Krisen jenseits des Wissenschaftsbetriebs kennt. Es ist, als ob sich erst eine kritische Masse an Fehlern, Langeweile oder Überdruss aufstauen muss, bevor eine Veränderung eingeleitet wird. Das lässt wiederum methodisch klare Ableitungen zu. Es dürfen zum Beispiel Zwischenschritte im Arbeitsablauf nicht offenbleiben, sondern sie müssen fertiggestellt und mit der zusätzlichen Schwere eines Entscheids belastet werden. Erst so akkumuliert sich jene kritische Schwungmasse, die aus einer anbahnenden Schieflage schließlich einen großen Veränderungsimpuls generiert. Der Bruch mit den bestehenden Theorien passiert dann umso schneller. Doch was folgt auf den finalen Bruch mit den bestehenden Theorien? Zuallererst ergreift eine breite Unsicherheit das Feld der Disziplin. Gleichzeitig zerfällt die koordinierte Wissensverwaltung und die Akteure suchen weitgehend unkoordiniert in allen Richtungen nach neuen Theorien. Jetzt wird spekuliert, agitiert, im Wettbewerb experimentiert, riskiert und jenes wilde Schauspiel veranstaltet, das man Richtungsstreit nennt. Diese chaotische Phase des Richtungsstreits kann Jahre oder gar Jahrzehnte dauern, bis sich die Disziplin wieder auf eine neue Matrix an Theorien verständigt hat.65 Dann ordnen sich die Verhältnisse, Ruhe und Bestimmtheit kehren ein, und die Disziplin etabliert wieder eine neue Phase der Normalwissenschaft auf Basis des neuen Paradigmas. Dieses Stufenmodell wird von Kuhn im Wesentlichen für die technischen Disziplinen nachgewiesen. Doch es lässt sich universeller anwenden. Historiker haben erkannt, dass es in der Geschichte ebenfalls 63 Thomas S. Kuhn. Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. Suhrkamp Verlag. 1976. Seite 65, 66 64 Thomas S. Kuhn. Ebd. Seite 99, 100 65 „Wie bei politischen Revolutionen gibt es auch bei der Wahl eines Paradigmas keine höhere Norm als die Billigung durch die jeweilige Gemeinschaft.“ Thomas S. Kuhn. Ebd. Seite 106

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längere Phasen des Nicht-Passierens gibt, gefolgt von plastischen Phasen, die in kurzer Zeit rasante Umbrüche bringen. Die Evolutionsbiologie beforscht das gleiche stufenförmige Entwicklungsmodell unter dem Begriff Punctuated Equilibrium. Die Architekturdisziplin bestätigt Kuhns Stufenmodell gleichermaßen. Die Kultur der Überbietung kennt ebenfalls zwei unterschiedliche Phasenzustände. Den geordneten Überbietungswettkampf innerhalb der anerkannten Regeln und die turbulente Überbietung zweiter Ordnung, wenn eine Avantgarde versucht, die Disziplin insgesamt neu auszurichten. Kann man insgesamt von einer anthropologischen Figur sprechen, die alle menschgemachten Aktivitäten strukturiert? Oder ist es die totale Synchronisation menschlichen Handelns mit den Rhythmen der Natur, die ebenfalls Ruhephasen auf stürmische Phasen passieren lässt? Als Architekt stellt man jedenfalls verblüfft fest, dass Kuhns Modell nicht nur den großen Lauf der Architekturdisziplin betrifft, sondern auch den einzelnen architektonischen Entwurf. Jeder Entwurf startet als Normalwissenschaft. Die ersten Entwurfslinien werden mit dem vorhandenen Repertoire an Methoden und gestalterischen Vorlieben gezogen. Dass einzelne Teilprobleme damit nicht optimal lösbar sind, wird routiniert ignoriert. Erst wenn die Unpässlichkeit ein kritisches Ausmaß annimmt, spürt man in den Arbeitsteams die aufkommende Unruhe. Die drohende Erkenntnis, dass mit dem gewohnten Repertoire kein Ergebnis zu erzielen sein wird, verursacht merklich Stress. Und genau wie es Kuhn für die Wissenschaft beschreibt, ist auch jetzt die erste Reaktion ein trotziges Beharren. Letzte, angestrengte Versuche werden unternommen, mit Druck und Strenge wird noch einmal das alte Repertoire angewandt – gefolgt von der umso präziseren Evidenz des Versagens. Es funktioniert wirklich nicht. Und damit ist man mitten in der Panikstimmung angelangt. Dass Kuhn diese Phase als produktiv beschreibt, weil man durch das Versagen seines gesamten bisherigen Knowhows die Kontur der Unstimmigkeit besser kennenlernt, beruhigt im Architekturbüro niemanden. Denn jetzt heißt es Abschied nehmen von alten Gewissheiten, um etwas Neues zu finden. Aber wo und wie? Allen ist klar, dass jetzt erst der mühsame Teil der Arbeit beginnt, die Nächte lang werden, die Versuche hektischer, die Debatten hitziger, die Vorschläge eruptiver, gleichzeitig die Leerläufe schmerzhafter. Solche Phasen können Wochen dauern, bis sich im erschöpften Summenbild des Chaos eine

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Tendenz abzeichnet, die Richtungsqualität hat. Irgendwann entdeckt man diese rettende Tendenz, stolpert darüber, und baut sie zur neuen Idee aus. Dann klären sich langsam die Verhältnisse, die Papierstapel auf den Ablagetischen können sortiert werden, die wuchernden Varianten qualifiziert werden, die vielen Fehlversuche weggeworfen werden. Erleichterung kehrt ein im Team, aber Glücksgefühle tun das nicht. Dazu war der Gang durch den Wahnsinn zu anstrengend, zu zeitraubend, zu peinlich, zu dilettantisch anmutend, zu unschön anzusehen. Die große Überraschung folgt aber erst in der Außendarstellung der skizzierten Arbeitsabläufe. Obwohl sie präzise Kuhns Stufenmodell entsprechen, wird nichts davon öffentlich hergezeigt. Es wird weder eine Phase der Normalwissenschaft eingestanden, denn damit würde man ja zugeben, dass man über weite Strecken nach Schema arbeitet und nicht permanent um Innovation bemüht ist. Genauso wenig wird ein Paradigmenwechsel zugegeben, denn das würde den bisherigen Teil der Werkbiografie schlagartig abwerten. Architekten wollen viel lieber ewig aktuelle Klassiker erfunden haben. Gänzlich verschwiegen wird schließlich die Phase des Kontrollverlusts zwischen der Normalwissenschaft und dem finalen Paradigmenwechsel. Der aufreibende Gang durch den Wahnsinn wird peinlichst unter Verschluss gehalten. Niemand soll wissen, dass es so etwas wie einen tage- oder wochenlangen Kontrollverlust in einem professionellen Architekturbüro überhaupt geben kann. Die tatsächlichen Geschehnisse im Büro zu verschweigen, ist allerdings erst der Beginn der Geheimniskrämerei. Als Nächstes folgt der betrügerische und/oder pathologische Teil, wenn anstelle des Gangs durch den Wahnsinn ein gänzlich anderer Entwurfsablauf erzählt wird. Was ist gemeint? In ihren Vorträgen und Publikationen berichten Architekten gern von einem Entwurfsprozess, der einem kontrollierten Gang zum Glück gleicht. Von einer Problemausgangslage wird zügig auf eine tolle Innovation hingearbeitet, ohne Krise, ohne Selbstzweifel. Die kleinen Umwege zwischendurch erweisen sich umgehend als umso inspirierender; jede Idee zündet sofort die nächste Idee; jede Erkenntnis führt logisch zur nächsten Erkenntnis; jede kleine Lösung fügt sich selbstverständlich in die große Lösung. Es muss ein Traum sein, eine derartige Erfolgsdramaturgie abzuarbeiten – sind sich Vortragende und Publikum einig, und denken dabei verschämt an die tatsächlichen Albträume.

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Architekten stehen nicht in jedem Kontext unter Geständnispflicht – wird man einwenden. Und auch Kuhns Aufrichtigkeit zu den Abläufen in den technischen Wissenschaften muss man relativieren. Er berichtet ja nicht von seiner eigenen Arbeit, sondern von der Arbeit der anderen. Da ist Aufrichtigkeit immer einfacher. Er hätte sein Stufenmodell ja auch mit Geständnissen aus seinen eigenen Arbeitsabläufen als Autor illustrieren können. Man darf also von einer disziplinübergreifenden Geheimnis krämerei ausgehen, die nur ausnahmsweise Fenster der tieferen Einsicht zulässt. Diese weite Verbreitung der Geheimniskrämerei unter Kreativen bedeutet zuallererst, dass man sie nicht verurteilen kann. Die Verschämtheit ist wie das Arbeiten in Ruhe- und Schubphasen wohl ebenfalls wesenhaft im Menschen angelegt. Niemand will vermeintliche Schwäche momente öffentlich verlautbaren. Doch die Moderne verlangt ausdrücklich nach Explikation und Kommunikation. Die Welt glauben zu machen, dass man ohne zermürbendes Ringen zu Errungenschaften kommt, ist das Gegenteil von Moderne, und umso lauter muss man daher nach der weiteren Konsequenz der Geheimniskrämerei fragen. Zur Aufklärung dieser Frage empfiehlt es sich, den peinlichsten Teil in Kuhns Stufenmodell noch einmal in den Fokus zu nehmen – gemeint ist die Phase des Kontrollverlusts. Dabei fällt auf, dass Kuhn diese Phase szenisch kaum ausmalt, obwohl er sich insgesamt zur detailgenauen Aufklärung entschließt. Die Normalwissenschaft davor und den finalen Paradigmenwechsel danach beschreibt er buchfüllend, aber die Phase des Kontrollverlustes dazwischen notiert er lediglich als magische Leerstelle: „weil die Entdeckung einer neuartigen Erscheinung notwendigerweise ein komplexer Vorgang ist, in dem sowohl erkannt werden muss, dass etwas ist, als auch, was es ist.“66 Diese vage definitorische Fassung der entscheidenden Phase in der Erneuerung einer Disziplin verwundert. Gibt es dazu nicht mehr zu sagen? Noch verwunderlicher ist, dass sogar die juristische Definition von Erfindung genauso vage bleibt. Es wird zwar eingestanden, dass etwas Außergewöhnliches passiert, aber nicht erklärt was. § 4 PatG: „Eine Erfindung gilt als auf einer erfinderischen Tätigkeit beruhend, wenn sie sich für den Fachmann nicht in naheliegender Weise aus dem Stand der Technik ergibt.“ Dass die Undeutlichkeit dieser Beschreibung nicht nur am trockenen Juristenjargon liegt, beweist schließlich Shin Takamatsu, der vollendet poetisch 66 Thomas S. Kuhn. Die Entstehung des Neuen. Suhrkamp Verlag. 1978. Seite 244

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formuliert, aber außer den schon bekannten düsteren Andeutungen ebenfalls nichts Greifbares aussagt: „It’s a paradox of darkness. Every architectural detail, form, material, or spatial composition is directed inward until at a critical point the pressure is transformed into outward violence. Kirin Plaza Osaka represents my best work in that vein.“67 Umso erleichterter ist man, bei Gilles Deleuze endlich das Schlüsselwort zu lesen: die Katastrophe. Die Phase des Kontrollverlusts zwischen der Normalwissenschaft und dem neuen Paradigma ist die Katastrophe, nichts anderes. Deleuze destilliert diese Erkenntnis aus der Beobachtung der Arbeitsweise des Malers Francis Bacon, der genau wie Kuhn feststellt, dass ein kontinuierlicher Arbeitsablauf immer nur die gleichen Klischees reproduziert, aber keinen Innovationssprung.68 Bacon setzt also gezielt Phasen des Kontrollverlusts in den Arbeitsablauf, die das Bild von Klischees befreien und für das Passieren öffnen. Genau diese Phasen des Kontrollverlustes nennt Deleuze Katastrophe: „Der Maler begegnet hier den größten Gefahren für sein Werk und für sich. Dies ist eine Art von stets wiederkehrender Erfahrung bei den verschiedensten Malern: der ‚Abgrund‘ oder die ‚Katastrophe‘“.69 Selten ist ein einziges Wort so krampflösend und aufklärend zugleich. Wie sonst sollte man die zähen Tage und Nächte im Büro nennen, während man etwas sucht, das man noch nicht kennt und dabei nicht nur Geduld, Geld, Freude und Freunde verliert, sondern vor allem den Glauben an alles, was man bislang geglaubt hat. Katastrophe – das Wort fällt auch nicht selten in solchen Zeiten, schimpfend, wenn man sich selbst beim Stolpern zusieht. Deleuze schimpft diese Phase aber nicht Katastrophe, sondern er definiert sie methodisch als solche. Für ihn ist die Katastrophe eine unerlässliche Durchgangsphase, die absolviert werden muss. „Unter allen Künsten ist die Malerei sicher die einzige, die notwendig, ‚hysterisch‘ ihre eigene Katastrophe integriert und sich folglich als eine Flucht nach vorne konstituiert. In den anderen Künsten ist die Katastrophe nur 67 Shin Takamatsu. In: San Francisco Museum of Modern Art. Shin Takamatsu. Rizzoli. 1993. Seite 67 68 „Der Maler hat eine mehr oder weniger präzise Idee dessen, was er tun will, und diese präpikturale Idee genügt, um die Wahrscheinlichkeiten ungleich zu machen. Es gibt also auf der Leinwand eine regelrechte Ordnung von gleichen und ungleichen Wahrscheinlichkeiten. Und ich kann zu malen beginnen, wenn die ungleiche Wahrscheinlichkeit fast zur Gewißheit wird. Wie aber läßt es sich im Augenblick, da ich begonnen habe, anstellen, daß das, was sich male, kein Klischee ist? Man wird schnell ‚freie Markierungen‘ innerhalb des gemalten Bildes machen müssen, um die entstehende Figuration in ihm zu zerstören und der Figur eine Chance zu geben, die das Unwahrscheinliche selbst ist.“ Gilles Deleuze. Francis Bacon – Logik der Sensation. Wilhelm Fink Verlag. 1995. Seite 58 69 Gilles Deleuze. Ebd. Seite 64

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beigeordnet. Der Maler aber durchlebt die Katastrophe, umklammert das Chaos und versucht, aus ihm herauszukommen.“70 Der Maler selbst muss laut Deleuze ebenfalls durch die Katastrophe hindurch, muss sich selbst einlassen in das totale Ringen mit den Umständen: „In der Einheit von Katastrophe und Diagramm entdeckt der Mensch den Rhythmus als Materie und Material. […] Action Painting, ‚rasender Tanz‘ des Malers um das Gemälde oder besser im Gemälde“.71 Dank Deleuze weiß man nun also, was durch die Geheimniskrämerei der Kreativen und die Prozesslüge der Architekten versteckt wird. Die Wissenschaft, die Architekten, jeder Kreative kämpft sich irgendwann durch die Katastrophe, sie alle begegnen dem Ultimativen – aber kaum jemand berichtet den anderen darüber. Das wohl wichtigste Knowhow der Kreativbranche wird nicht solidarisch verwaltet, sondern als peinliches Egogeheimnis verwahrt. Aus kleinlicher Verschämtheit lässt man sich gegenseitig blöd sterben. Deleuze hat also vollkommen recht, wenn er die Katastrophenphase mit drastischen Beschreibungen ausleuchtet und endlich als kollektives Lehrstück aufbereitet. Der Lernerfolg wird aber trotzdem nur gering sein. Warum? Weil auch die Recherchen von Deleuze eine gefährliche Verkürzung beinhalten. Die Katastrophe, die er mit drastischen Beschreibungen ausleuchtet, endet letztlich gar nicht so katastrophal – zumindest nicht für das aufbereitete Fallbeispiel des Malers Bacon. Ja, es wird etwas turbulent und chaotisch im Atelier, und ja, gelegentlich überlebt ein Bildentwurf die turbulente Katastrophenphase nicht – wie Bacon zugibt. Aber letztlich ist er mit seinen Gängen durch die Katastrophe zum weltberühmten Maler aufgestiegen. Ähnlich domestiziert wären wohl auch die Katastrophengeständnisse, die man von Architekten in Vorträgen hören würde. Denn wer wird zu Vorträgen und Publikationen eingeladen? Doch nur jene, die der Katastrophe entkommen sind, die doch noch ein innovatives Projekt gefunden haben, die doch noch ihr Büro vor dem Untergang retten konnten. Letztlich ist auch Kuhns Wissenschaftsgeschichte aus der Siegerperspektive erzählt. Paradigmenwechsel heißt ja nichts anderes, als der Katastrophe entkommen zu sein durch eine neue tragfähige Idee. 70 Gilles Deleuze. Ebd. Seite 64 71 Gilles Deleuze. Ebd. Seite 65, 66

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Wolfgang Streeck würde dieses nachträgliche Domestizieren der Katastrophe geschichtsloses Systemdenken nennen.72 Der szenische Horror lässt sich aus der Siegerperspektive schnell wegrelativieren und übrig bleibt eine buchhalterisch trockengelegte Liste von bloßen Manipulationsschritten. Mit dieser buchhalterischen Trockenlegung kann man jeden Buschbrand, jedes Erdbeben, jeden Krieg zum Kreativwerkzeug umdefinieren, oder den Gang durch den Wahnsinn im Architekturbüro als Entwurfsprozess verkaufen. Haben die großen, religiös motivierten Schöpfungsgeschichten die Katastrophe nicht immer schon als Megawerkzeug der Weltgestaltung beschrieben? Die nachträgliche systemische Domestizierung der Katastrophe ist also nicht gänzlich neu und wohl von höchster Stelle legitimiert. Aber die grobe Einseitigkeit der Berichterstattung ist damit gleichermaßen zementiert. Denn systemisch betrachtet ist beim Gang durch die Katastrophe die Siegerperspektive einer glücklichen Minderheit vorbehalten. Neben den wenigen Überlebenden hinterlässt die Katastrophe umso mehr Geschädigte – erst sie geben dem fürchterlichen Ereignis den Namen. Doch die Geschädigten der Katastrophe kommen nie direkt zu Wort, weder im geschichtslosen Systemdenken noch in der geschichts bewussten Erinnerung. Was tut ein Physiker, wenn sein bisheriger Theoriebaukasten kollabiert, er aber keinen neuen findet? Was tut ein Architekt, dem der Entwurfsprozess in die Katastrophe stürzt und nicht wieder auftaucht? Was tut Peter Zumthor, wenn sein Entwurf am Ende nicht schön ist? Wenige Architekten verhalten sich in dem Moment so, wie Deleuze das Action Painting beschreibt, und nutzen den Abbruch der versichernden Strukturen, um sich selbst in das Chaos der Katastrophe einzulassen und mit Bauteilen, Konzeptparametern, Referenzen und Erklärungen herumzuwirbeln und dann das unaufgeräumte Ergebnis in die Galerie zu tragen. Die meisten versagen stattdessen still und werden für die Disziplin unsichtbar. 72 „In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, insbesondere aber auch nach dem Ende des Krieges und dann in der, ich will mal sagen, Phase der Enthistorisierung der Welterfahrung hat sich die Soziologie dann, ähnlich wie die Ökonomie, in ein geschichtsloses Systemdenken begeben, in dem eigentlich irgendwie alles gleich ist und wo evolutionäre Vorstellungen, also die Vorstellung, dass es so etwas wie historische Entwicklung gibt, historische Brüche, sozusagen zurücktritt gegenüber allgemeinen, systematischen Eigenschaften von sozialen oder eben auch ökonomischen Systemen.“ Wolfgang Streeck. In: Mathias Greffrath, Wolfgang Streeck. „Alles kommt einmal zum Ende“. https://www. deutschlandfunk.de/kapitalismus-alles-kommt-einmal-zum-ende.1184.de.html?dram:article_ id=313737. 12.04.2015

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Doch genau diese Unsichtbarkeit und publikatorische Stummheit der großen Mehrheit der Katastrophengeschädigten ist der größte Schaden für die Disziplin insgesamt. Denn nur die Geschädigten erleben die Katastrophe überhaupt als solche. Nur die Geschädigten könnten ohne Relativierung Auskunft über die Katastrophe geben. Keine finale Rettung, keine systemische Domestizierung, keine nachträgliche Kompensation trübt ihre Einschätzung. Daraus folgt, wenn die Architekturdisziplin oder die Moderne insgesamt ein professionelles Verständnis für das Ultimative erlangen will, muss sie ab jetzt die Geschädigten zu Wort kommen lassen. Nicht nur ausnahmsweise, nicht nur für mahnende Auftritte und ganz sicher nicht aus Mitleid, sondern aus professionellem Interesse und in professionellem Umfang. Was man dabei gewänne, lässt sich klar voraussagen. Ließe man die Geschädigten zu Wort kommen, würden sie nicht nur vom individuellen Scheitern der eigenen Kreativarbeit berichten, sondern eine noch viel furchterregendere Offenbarung machen. Sie würden Zeugnis darüber ablegen, wie das gesamte Handlungsrepertoire der Moderne an der Katastrophe versagt. Jürgen Habermas verfasst ein Jahrhundertwerk zum kommunikativen Handeln, aber die Katastrophe verhandelt nicht, sondern nötigt, überfällt, zerstört, legt neu fest.73 Joseph Beuys fordert „ein SichBereitstellen für eine permanente Konferenz“ – aber die Katastrophe konferiert nicht.74 Beuys will rationale Gründe finden für die Prioritätenfrage – aber

73 „In die Theorie des kommunikativen Handelns fließen zunächst dadurch utopische Motive ein, dass sie mit idealisierenden Unterstellungen operiert. […] Die erste Idealisierung besteht in der Unterstellung, dass wir es in einer kommunikativen Situation bei unserem Gegenüber mit einem jederzeit bewußt und absichtsvoll Handelnden zu tun haben. Mit anderen Worten, wir unterstellen, dass der andere dem Begriff des rationalen Aktors gerecht wird, […] Die zweite Idealisierung besteht in der Unterstellung, dass für den Fall, dass in einer Interaktion Probleme des wechselseitigen Verstehens auftreten oder Geltungsansprüche problematisch werden, die Möglichkeit besteht, das kommunikative Handeln auszusetzen und auf die Ebene des Diskurses überzuwechseln, wo dann die Probleme beseitigt und die Ansprüche geklärt werden können. […] Die dritte Idealisierung besteht in der Annahme der ‚idealen Sprechsituation‘ […].“ Christian Lavagno. Rekonstruktion der Moderne. Eine Studie zu Habermas und Foucault. LIT Verlag. 2003. Seite 205, 206 74 „Also diese andere Ebene ist eine Dialogform. Schon diese andere Ebene erfordert ein Offensein für die jeweils andere Meinung und ein Sich-Bereitstellen für eine permanente Konferenz […].“ Joseph Beuys. Ein kurzes erstes Bild von dem konkreten Wirkungsfelde der Sozialen Kunst. FIU-Verlag. 2006. Seite 12

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die Katastrophe ist bereits die ultimative Priorität.75 Voltaire protestiert im Namen der Vernunft gegen das Erdbeben von Lissabon. Aber die Katstrophe ist nicht vernünftig. Die Moderne propagiert den permanenten Aufbruch. Aber die Katastrophe ist der totale Abbruch aller Kausalitäten, Prozesse, Strukturen, Vereinbarungen, Planungen und Erwartungen. Das Fremde war noch vorstellig, kontaktierbar, angreifbar, selbst wenn die Auseinandersetzung fatal enden konnte. Aber die Katastrophe stellt sich nicht vor, lässt sich nicht auf Distanz halten oder in Verhandlungen aufschließen. Es gibt keinen Vierten Ort für die kontrollierte Begegnung mit der Katastrophe. Selbst die primitivsten menschlichen Anstöße funktionieren nicht. Man kann die Katastrophe nicht verspotten, nicht provozieren, nicht beeindrucken. Die Katastrophe ist nicht einmal ein Gegenüber, hat keinen eigenen Körper, keine eigene Dramaturgie, keinen eigenen Projektauftrag. Die Katastrophe benennt lediglich den unmöglichen Zustand, in den Körper, Energie, Dramaturgie und Projekt verfallen sind. Dieses totale Versagen des gesamten Handlungsrepertoires der Moderne konnte man schon immer ahnen, denn es lässt sich bereits beim Zufall beobachten, der jedes noch so ausgeklügelte System ins Stottern bringt. Wenn der Verhandlungspartner zu brüllen beginnt, wenn Rohstoffpreise sprunghaft steigen, wenn politische Intervention ein Projekt erfasst, wenn der Nutzer sich plötzlich gegen die Architektur wehrt, wenn einem selbst das Interesse am eigenen Projekt abhandenkommt. In all diesen Fällen stellt sich ein kurzer Stillstand, ein Schweigen und Staunen ein, und jeder weiß, dass dieser kurze Systemaussetzer eigentlich ein Systemabbruch ist, selbst wenn sich schnell jemand findet, der die Stille nicht länger aushält und einen zügigen Neuanfang stiftet. Der Zufall ist also die Mikrokatastrophe und das ist der Grund, warum viele Theoretiker den Zufall nicht so harmlos finden, wie er sich in der Praxis manchmal hinnehmen lässt. „Action painting, informelle Malerei, Aleatorik mochten das resignative Moment ins Extrem treiben: das ästhetische Subjekt dispensiert sich von der Last der Formung des ihm gegenüber Zufälligen, die es länger zu tragen verzweifelt; es schiebt die Verantwortung der Organisation gleichsam dem Kontingenten selbst zu.“76 75 „die die verschiedenen Meinungen an einen Tisch bringt […] und im Vergleich feststellt, welcher der jeweils wichtigste Schritt im Erreichen des notwendig zu erreichenden sei, also […] auf einem logisch durchdachten Weg die rationalen Gründe zu finden für die Prioritätenfrage. Die Prioritätenfragen ist dasjenige, was uns überhaupt hierhin gebracht hat, d. h. die Not der Zeit führt die Menschen zusammen.“ Joseph Beuys. Ebd. Seite 12 76 Theodor W. Adorno. Ästhetische Theorie. Suhrkamp Verlag. 2003. Seite 329

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Angesichts dieser furchterregenden Aussichten auf das Scheitern des gesamten Handlungsrepertoires der Moderne an der Katastrophe ist es verständlich, dass die Überlebenden dieser Umstände die Geschädigten lieber nicht zu Wort kommen lassen. Doch damit unterdrücken sie neben den tieferen Erkenntnissen zur Katastrophe auch die wichtigste Lektion, die man aus der Katastrophe mitnehmen kann. Denn nicht nur die Kreativarbeit setzt im Zweifelsfall auf die Flucht nach vorne – doch die Katastrophe lässt auch diesen letzten Rettungsweg nicht zu. Von den Geschädigten kann man also lernen, dass es oft genug notwendig ist, zu kapitulieren, den Schaden hinzunehmen, die Lage zu akzeptieren. Der Änderungsdruck, der Anpassungsdruck ist strikt einseitig. Das bedeutet, dass auch der Arbeitseinsatz strikt einseitig ist. Man bekommt von der Katastrophe nichts geschenkt. Man bekommt höchstens Klarheit darüber, dass man sämtliche Reparaturen und Wiederherstellungen selbst leisten muss. Und das heißt, man bekommt letztlich doch etwas geschenkt: das Müssen. Das ist zurückgespiegelt in den Biorhythmus der langen Arbeitstage im Architekturbüro keine Kleinigkeit. Das Wollen erweist sich nämlich gerade in den schwierigsten Phasen als eher fragiler Antrieb. Das Müssen aber trägt – gelegentlich sogar durch die Katastrophe hindurch.

Konstruktive Verschwendung „I pile action upon action so that I may abandon it all in an instant.“77 Shin Takamatsu fasst die Entstehung eines Entwurfs zusammen, der als Sturz durch die Katastrophe entsteht. Eine schlanke Relation zwischen Aufwand und Ergebnis scheint ihm dabei nicht wichtig zu sein.78 Damit bestätigt er die Erfahrung vieler, die durch die Katastrophe gegangen sind. Der Abbruch der Kausalitäten, das Kollabieren der bisherigen Glaubenssätze, das Wühlen durch den Schrotthaufen der Ideen und Konzepte ist alles andere als ökonomisches Arbeiten. Es ist die pure Verschwendung. Nur in den gemäßigten Phasen der Normalwissenschaft kann man an 77 Shin Takamatsu. In: San Francisco Museum of Modern Art. Shin Takamatsu. Rizzoli. 1993. Seite 60 78 „At such a moment, and it’s truly an instant, the work and process leading up to that instant, and any memory of that work and process […] disappear. In other words, a discontinuity is achieved in an instant, and the work is born.“ Shin Takamatsu. Ebd. Seite 60

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Input-Output-Effizienz denken, aber bevor man sich zum rettenden Paradigmenwechsel durchgearbeitet hat, ist eine gigantische Materialschlacht zu bestehen. So verlässlich, dass man eine Abhängigkeit behaupten kann. Nur das totale Aufbrauchen sämtlicher Ressourcen erzeugt jene aufgeklärte Erschöpfung, die den Blick für das Neue freimacht. Verschwendung muss sein. Doch Verschwendung ist für das Arbeitsverständnis der Moderne keine beiläufige Feststellung, sondern automatisch ein Vorwurf, der eine große Perspektive aufmacht. Bereits Richard Neutra erklärt ein steigendes Zivilisationsniveau mit einem sinkenden Grad an Verschwendung: „In U.S. gerät so jeder nicht weitgehend industriell normierte Konstruktionsvorgang in Widerspruch mit dem Bestreben, das die Richtung der gegenwärtigen Zivilisation ganz allgemein bezeichnet: den Leerlauf von Aufwendungen zu vermeiden.“79 Diese Form der Effizienzmaximierung ist nicht von jeder Kreativdisziplin übernommen worden, aber gerade weil Architektur in ihrer eklektizistischen Vergangenheit enorme Ausschweifungen veranstaltet hat, ist die Moderne vom Gegenteil fasziniert: von industrieller Stringenz, von zielgenauem Arbeitseinsatz, von umweglosem Optimieren, von blank geputzter Leistung, von knappen und korrekten Deals.80 Endgültig doktrinär wird die Ausschweifungsvermeidung, nachdem der Funktionalismus die Moderne gekapert hat. Das illustrieren Helena Mattsson und Sven-Olov Wallenstein in einer sehr prägnanten Rückschau auf die schwedische Moderne, die als Basisauftrag der Modernisierung die Zwangsbegeisterung der Konsumenten für den Verschwendungsstopp vorsieht. Semantisch bemerkenswert ist dabei, dass diese scharfe Absage an die Verschwendung ausgerechnet mit klassischen Verschwendungsbegriffen wie Luxus und Exzess formuliert wird: „Für uns Moderne […] muss Luxus eine Frage der Qualität und nicht des Pomps sein: Wir haben es nicht mehr mit dem alten barbarischen Luxus zu tun, und selbst dieser Typus verschwenderischer Verausgabung muss jetzt dem funktionalen Imperativ unterworfen werden. Es muss nicht eigens betont werden, dass dies keine Beschreibung einer neuen Wirklichkeit ist, sondern ein Versuch, sie heraufzubeschwören, sie als Bild zu projizieren. Es geht darum, zukünftige KonsumentInnen auszubilden und zu formen, Subjekte, 79 Richard J. Neutra. Amerika. Die Stilbildung des neuen Bauens in den Vereinigten Staaten. Anton Schroll Verlag. 1930. Seite 22 80 „Gegenstände und ihre Eigenschaften erfasst man nicht mehr eindrucksmäßig, auch nicht bloß messend oder wägend, sondern vor allem nach ihrem funktionalen Anteil an einer erwarteten Leistung.“ Richard J. Neutra. Ebd. Seite 43

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die Überfluss, Luxus und Exzess als der Funktion innewohnende Momente begehren sollten. Wahrer Luxus, wahrer Exzess ist das, was einen Exzess an Funktionalität aufweist, das, was wirklich nützlich ist.“81 Die Kulturgeschichte der Verschwendungsvermeidung erhält aber erst mit dem TPS, dem Toyota Production System, sein neuzeitliches Manifest. In Architekturkreisen gilt immer noch Henry Ford als makelloser Held der strengen Produktivität, tatsächlich aber hat Taiichi Ohno mit dem TPS das eigentliche Jahrhundertwerk vorgelegt und damit industrielle Logik neu erfunden. Von Lean Production über Just-in-time-Zulieferung und Pull-Prozessen bis hin zu neuen Formen von Arbeitsstress reichen die Themen der TPS-Nachbesprechungen. Die Essenz von TPS ist aber die Vermeidung von Verschwendung – Muda, wie es im Japanischen genannt wird.82 Die Vermeidung von Waste ist zwar schon bei Henry Ford ein Thema, aber systemisch eine Randerscheinung. Bei Ohnos TPS hingegen wird Muda zur Allegorie der Unproduktivität, zum industriellen Feindbild schlechthin, das feinkategorisch durchdekliniert wird: „Verschwendung in Form von Überproduktion, in Form von Wartezeiten, beim Transport, bei der Bearbeitung selbst, im Lager, in Form überflüssiger Bewegungen, in Form von defekten Produkten.“83 Verschwendung oder Nicht-Verschwendung wird damit zum Schicksalsauftrag. „Gegenwärtige Kapazität = Arbeit + Verschwendung“.84 Daraus folgt ebenso formelhaft: Verschwendung muss vollständig eliminiert werden, um die Gleichung zu bereinigen. Ergebnis der Bereinigung ist schließlich der perfekte Arbeitsablauf, den Ohno so kurzfasst: „Doing the right things right, first time around.“85 Entsprechend alarmistisch reagiert das TPS, wenn dann doch ein Fehler im Produktionsprozess auftritt. Sofort werden die Montagebänder gestoppt und alle Arbeiter suchen nach dem Fehler und beheben ihn. Das TPS kennt keine postmoderne Störungsverliebtheit, sondern nur die totale Fehlerpanik. Damit sind auch die Hierarchien klar. Bei Ford werden defekte Produkte am Band gelassen, weil der Weiterlauf der Produktion wichtiger ist als alles andere. Der fehlerhafte Ausschuss wird 81 Helena Mattsson, Sven-Olov Wallenstein. „Acceptera! Der schwedische Modernismus am Scheideweg“. In: Documenta und Museum Fridericianum Veranstaltungs-GmbH. Documenta Magazine No 1, 2007. Modernity? Taschen. 2007. Seite 73, 74 82 „Die Grundlage des Toyota-Produktionssystems ist die völlige Beseitigung der Verschwendung.“ Taiichi Ohno. Das Toyota-Produktionssystem. Campus Verlag. 1993. Seite 30 83 Taiichi Ohno. Ebd. Seite 46 84 Taiichi Ohno. Ebd. Seite 45 85 Taiichi Ohno. Ebd. Seite 13

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dann eben in der Nachbearbeitung repariert oder endgültig ausgeschieden. Aber das TPS darf bei der Verschwendung nicht nachsichtig sein, weil es insgesamt als Gegenutopie zur Verschwendung konzipiert ist. Die kollektive Fehlersuche muss daher als regelmäßiges Systemtraining verstanden werden, das die Arbeiter mental fokussiert: „Erkenne ein Problem, starre auf einen Gegenstand, bis fast ein Loch hindurchgebohrt ist, und finde seine wahre Natur heraus.“86 Dass diese permanente Fehlerpanik enormen Stress auf die handelnden Personen ausübt und gleichzeitig rigide Formen der Gruppenhaftung erzwingt, ist kein Schaden, sondern eine systemstabilisierende Dauererziehung. „In allen Utopien herrscht ein selbstverständlicher Patriotismus, eine unbedingte Aufopferungsfreudigkeit und ein wahrhaft fanatischer Wille zur Mitarbeit. Wenn der Gegenredner zweifelnd fragt, woher auf einmal diese vorzüglichen Eigenschaften kommen, so antwortet ihm das typisch utopische Argument, dass Utopia die Bürger, die es brauche, selbst erzeuge. Die Utopien nehmen in der Tat von ihren Menschen unbedingten Besitz.“87 Trotz dieser Stresszumutung ist die Anziehungskraft und logische Stringenz des TPS bis heute ungebrochen, gleichermaßen evident ist der praktische Erfolg. Als Basisbeweis hat TPS Toyota zum höchst produktiven Autohersteller gemacht. Eine industriegeschichtlich bemerkenswerte Leistung, die weit über die Autobranche hinaus Vorbildcharakter hat. Relativieren kann man derartige Erfolgsgeschichten nur durch ein Gegenkonzept von adäquater Dimension, und das hat die Ethnologie beschrieben. Die Rede ist von der reinen Gabe. Eine archetypische Handlung von Mensch zu Mensch, so alt wie die Menschheit selbst, praktiziert in allen Kulturen und immer von enormer soziokonstruktiver Konsequenz. Nur die reine Gabe stiftet Vertrauen, Bindung, Anhänglichkeit und Abhängigkeit. Roland Barthes ist sich im Klaren darüber, dass Sprache allein kein Vertrauen stiftet, weil sie nicht für sich bürgen kann.88 Die alltägliche Erfahrung bestätigt das. Auf die schöne Rede folgt selten die schöne Tat, sondern die unschöne Ausrede – sonst 86 Taiichi Ohno. Ebd. Seite 115 87 Hans Freyer. „Die Gesetze des utopistischen Denkens“. In: Arnhelm Neusüss. Hrsg. Utopie. Begriff und Phänomen des Utopischen. Campus Verlag. 1986. Seite 310 88 „Nichts Geschriebenes kann mir diese Gewissheit geben. Darin liegt das Übel (vielleicht aber auch die Wonne) der Sprache: dass sie für sich selbst nicht bürgen kann. [… W] ill man sie zur Wiedergabe von Tatsächlichkeiten befähigen, so bedarf es eines enormen Aufwandes: wir bemühen die Logik oder, wenn es daran mangelt, den Schwur“. Roland Barthes. Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie. Suhrkamp Verlag. 1985. Seite 96

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nichts. Die Gabe aber ist ein deutlich potenteres soziales Manöver, sie ist im Moment der Ausführung bereits verbindend. Nicht immer zum Wohlsein aller Beteiligten. Deswegen dekliniert Marcel Mauss die Gabe auch in wenig altruistische Kontexte hinein: Wenn die Gabe mit einer Gegengabe erwidert wird, oder erwidert werden muss; wenn die Gabe mit einer impliziten Verpflichtung verbunden ist; wenn die Gabe nicht freiwillig, sondern obligatorisch erfolgt; wenn die Gabe eine Hierarchie festschreibt und Abhängigkeit erzwingt. Doch gerade diese situationsbedingte Geländegängigkeit macht die Gabe zum Allzweckkleber, um soziale Verbände zu bauen. Ohne diese innere Kohäsionskraft sind auch die schönsten Momente im sozialen Zusammensein ohne verlässliches Fundament. Zum Thema Verschwendung gehört die Gabe aber vor allem, weil sie genau das ist – eine Verschwendung.89 Mauss nennt sie eine edle Verschwendung: „So kann und soll man zu archaischen und elementaren Prinzipien zurückkehren; man wird dann Handlungsmotive entdecken, die zahlreiche Gesellschaften und Klassen noch kennen: die Freude am öffentlichen Geben; das Gefallen an ästhetischem Luxus; das Vergnügen der Gastfreundschaft und des privaten oder öffentlichen Festes.“90 In diesen Beispielen zum Geben macht Mauss eine innere Spannung deutlich, die man gleichlautend aus der Wirtschaft kennt. Wenn alle überschwänglich geben, also konsumieren, dann entsteht tatsächlich ein summarischer Wachstumseffekt, der für die Gesellschaft im Ganzen vorteilhaft wirkt. Das bedeutet aber noch nicht, dass sich jede einzelne Gabe für jeden einzelnen Geber lohnt. Ganz im Gegenteil. Entgegen der summarisch-systemischen Sicherheit bleibt für jeden einzelnen Geber ein erhebliches individuelles Risiko. Die eigene Gabe könnte ohne Gegengabe bleiben, der eigene Aufwand ohne Gewinn, die eigene Vorlage ohne Rückzahlung. Die Gabe ist also das Gegenteil eines knappen und korrekten Deals. Sie muss im Moment des Gebens tatsächlich als Verschwendung verbucht werden. Das Einzige, was man sich damit einkauft, ist die berechtigte Hoffnung auf einen freundlichen Return. 89 „Zum einen kehren wir, wie wir es in der Tat tun müssen, zu den alten Bräuchen der ‚edlen‘ Verschwendung zurück. Es ist wichtig, daß – wie in den angelsächsischen Ländern und vielen anderen zeitgenössischen Gesellschaften, ob wild oder hochzivilisiert – die Reichen (freiwillig oder durch Zwang) wieder dahin kommen, sich gleichsam als die Schatzmeister ihrer Mitbürger zu betrachten.“ Marcel Mauss. Die Gabe. Form und Funktion des Austausches in archaischen Gesellschaften. Suhrkamp Verlag. 1968. Seite 162 90 Marcel Mauss. Ebd. Seite 163

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Dass berechtigte Hoffnung bereits einen Wert darstellt, beweist die Umkehrung. Ohne Gabe, ohne edle Verschwendung kann gar nichts Freundliches zurückkommen. Ein knapper Satz, der den Fehler des Funktionalismus in der Architektur präzise zusammenfasst. Von der Frankfurter Küche bis zu Pruitt-Igoe – immer wenn der Funktionalismus die Architektur dominiert, werden korrekte und knappe Deals gebaut. Aus industrieller Perspektive makellos. Eine wertschätzende Bindung zur Architektur kann damit aber nicht initiiert werden, denn die Häuser sind keine Gabe. Sie stiften kein Vertrauen, sie erfüllen nur das Notwendigste, und die Nutzer spiegeln dieses Verhalten und bringen dieser Architektur ebenfalls nur das Notwendigste entgegen. Kein Wunder, dass Paolo Portoghesi rekapitulierend die funktionalistische Moderne als einen Katalog an Verboten, Verminderungen, Verzichten zusammenfasst.91 In hocheffizienten Organisationen wie dem TPS wird absichtlich eine soziale Stressatmosphäre erzeugt, um Arbeiter zur Verschwendungsvermeidung zu erziehen. Doch in solch einem Stimmungsambiente will keine Gesellschaft wohnen und bei sich sein – im Übrigen will in solch einem Ambiente auch niemand mehr freiwillig arbeiten. Was man daraus lernt? Immer wenn Menschen involviert sind, ist das Minimum nie genug. Architektur muss mehr sein als nur ein Deal. Architektur ist sozial nur anschlussfähig, wenn sie das Moment der Gabe beinhaltet. Deswegen vertrauen Menschen verkitschten Architekturen und formalem Überschwang eher als reinweißer Kargheit. Nicht weil ihnen der Kitsch gefällt, sondern weil der Kitsch als Gabe gelesen wird. Das überflüssige Mehr an Gestaltung könnte ja ein Geschenk des Architekten oder Eigentümers sein. Vielleicht sogar ein Beweis der Wertschätzung für die Nutzer, für den Ort, zumindest ein Hinweis auf die Freude des Architekten über das Gelingen des Werks. Wer seine eigene Arbeit toll findet, der neigt eben zur Übererfüllung. Das kann dann schon einmal kitschig aussehen, ist aber in jedem Fall anschlussfähiger als der Eindruck der kalten Abrechnung. Wieder ist es nur eine berechtigte Hoffnung, die man mit der Gabe initiiert. Aber inmitten ganzer 91 „Dieses [funktionalistische] Statut ist, wie wir sehen werden, nicht die einfache Formulierung eines Prinzips, und zwar des Abhängigkeitsverhältnisses von Form und Funktion, das sicher nicht dazu beiträgt, die moderne Architektur von der antiken zu unterscheiden. […] Es ist vielmehr ein Katalog von Verboten, Verminderungen, Verzichten und Beschränkungen, die einen sprachlichen Bereich sozusagen negativ umschreiben, wobei sie Zerrüttung, Ausdörrung und ständige Veränderung zugesteht, aber nicht Erneuerung von Grund auf und den Schwung zu neuem Leben.“ Paolo Portoghesi. Ausklang der modernen Architektur. Verlag für Architektur Artemis. 1982. Seite 8

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Stadtquartiere voller hoffnungsloser Architektur ist das trotzdem herausragend. An Neutras Zivilisationsformel darf man also getrost zweifeln und sie umformulieren: Zivilisation ist nicht die Vermeidung von Verschwendung, sondern ganz im Gegenteil: Zivilisation ist die gezielte Ausarbeitung einer Kultur der konstruktiven Verschwendung. Trotz dieser ermutigenden Definition von Verschwendung ist noch eine Detailfrage offen. Wie sieht nun eine architektonische Verschwendung aus? Müssen es tatsächlich wieder die alten Ornamente sein, der längst abgetakelte Pomp und Kitsch an den Fassaden? Oder muss man raffinierter argumentierten? Wenn der Funktionalismus das Epizentrum der Verschwendungsvermeidung ist, dann könnte funktionsfreie Architektur verschwenderisch wirken. Räume, die niemandem nutzen; Straßen, die nirgendwohin führen; Stadtlandschaften, die keine Urbanität bilden. Experimentell gemeint klingt das nach Konzeptkunst, unternehmerisch gemeint ist das jedoch die Formel für die endgültige Weltzerstörung. Das kann kein konstruktiver Vorschlag sein. Langsam wird klar, wie wichtig die Präzisierung von Mauss ist, der von edler Verschwendung redet und nicht bloß von irgendwelchen Verschwendungen. Gesucht ist also eine edle Verschwendung in der Architektur. Edel heißt den soziokonstruktiven Anteil der Verschwendung so hoch wie möglich anzunehmen. Übersetzt man das strikt monetär, dann wird einem einfallen, dass die zeitgenössische Wirtschaft Dienstleistungen generell höher einstuft als die Manipulation von Substanzen und Objekten. Daraus folgt sinngemäß, dass auch die edle Verschwendung in der Architektur weniger das Objekt Architektur anvisiert, sondern vor allem die Dienstleistung Architektur. Ziel muss sein, Architekturdienstleistung soziokonstruktiv zu verschwenden. Eine Forderung, auf die sämtliche Akteure in der Branche mit Kopfschütteln reagieren werden. Man wird entgegnen, dass Architekten noch nie so viele Stunden, Tage, Nächte verschwendet haben wie heute. Das stimmt vermutlich, und damit dreht sich die Suche nach der edlen Verschwendung in ein Zirkelargument. Ja, es gibt die Verschwendung von Architekturdienstleistung bereits, am tollsten in genau jener Phase, die als Gang durch die Katastrophe beschrieben worden ist. Aber niemand erfährt etwas davon, weil sie von den Architekten versteckt und verschwiegen wird. Die Architekten verschwenden sich also heimlich, gewinnen und verlieren ihre Schlachten heimlich, und beklagen sich 552

dann, dass sie von den Nutzern als kalte Funktionalisten beschimpft werden, die ihnen kalte, knappe Deals aufnötigen. Wie dumm dieses Versteckspiel ist, zeigt der direkte Vergleich mit der Unterhaltungsbranche. Welche Sportart verzichtet darauf, in aller Öffentlichkeit die Anstrengung und Selbstverschwendung ihrer Akteure und ihres Betriebs darzustellen und sich dafür wertschätzen zu lassen? Welcher Sportler würde sich in der Öffentlichkeit als abgeklärter Prozessprofi darstellen, der ohne Anstrengung und Drama vom Start zum Ziel gelangt? Welche Sportart verzichtet auf die Verliererinterviews, die oft viel tiefere Emotionen vermitteln als der Siegerjubel. Oft wird sogar Klage geführt, dass im Sport zu sehr auf Unfälle, Dramen, Verlierer etc. fokussiert wird. Aber im Sinne der Publikumsbindung ist das dennoch klug konzipiert. Man muss diese plakativen Exzesse aus dem Sport nicht unbedingt in der Architektur nachstellen, aber die Architektur muss dennoch von den Unterhaltungsprofis lernen, dass nur die Offenlegung der totalen Selbstverschwendung für den Zuschauer anschlussfähig ist. Würden die Nutzer ohne Zensur sehen, was sich beim Gang durch die Katastrophe an Kämpfen, Krämpfen, Versuchen und Experimenten abspielt, wäre das Image des Architekten in der Öffentlichkeit ein fundamental besseres. Der Architekt könnte gerade in der Katastrophenphase, wenn er am verwundbarsten, unprofessionellsten, unglücklichsten agiert, zum echten Publikumsliebling werden. Denn in dieser Phase ist er am wenigsten Architekt, sondern ein erschöpfter Zeitgenosse, der sich gegen den Untergang wehrt. Was für eine Show. Ein besseres, spannenderes und vor allem anschlussfähigeres Fest der edlen Verschwendung wird man als Architekt nicht anbieten können. Damit wären die Nächte im Büro zwar nicht kürzer, aber im soziokulturellen Sinn höchst konstruktiv.

Lächerliches Monument Was tut man, wenn man seinen Freund und Kollegen tot in einer Mülltonne findet? Man geht an den Strand. Zumindest ist das der Vorschlag, den der Film To Live and Die in L.A. macht.92 Zwei Agenten des Secret Service ermitteln gegen einen Geldfälscher in Los Angeles. Einer der Agenten wird dabei getötet, der andere entdeckt die Leiche 92 William Friedkin. To Live and Die in L.A. 1985

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in einer Mülltonne irgendwo in der Wüste hinter der Stadt – und sofort folgt der Filmschnitt auf Wasser, Wellen, Strand, dann auf das Gesicht des trauernden Agenten, der aufs Meer hinausblickt. Als Nächstes rückt das Strandhaus ins Bild, das er zur Trauer aufgesucht hat. Ist es überhaupt Trauer? Wozu blickt man in so einem Moment sonst aufs Meer hinaus? Um der bereits passierten Katastrophe hinterherzutrauern, oder ist man plötzlich sensibilisiert für die eigene bevorstehende Katastrophe? Das wäre im konkreten Fall dramaturgisch naheliegend, denn der trauernde Agent wird gegen Ende des Films ebenfalls getötet – das ist zumindest die offizielle Filmversion. Der Film ist allerdings mit zwei verschiedenen Enden gedreht worden. In einer Version überlebt er, in der anderen Version stirbt er. Am Strand ist also noch nichts entschieden. Film ist Fiktion – muss man nüchtern einwerfen –, doch die sinnierende Katastrophennachbehandlung am Strand ist auch jenseits der filmischen Fiktion ein derart hartnäckiges Klischee, dass man dieser Tendenz nachgehen muss. Hinzu kommt, dass bereits der Malibu-Effekt mit der Katastrophe zu tun hat. Ist der Strand insgesamt ein Katastrophenwallfahrtsort? Wenn ja, wie passt das zusammen? Die einen bauen hier ihr Haus, um im Gegenblick der Katastrophe lebendig zu werden, die anderen wiederum kommen kurzfristig zur Katastrophenlinderung an den Strand. Verwirrend. Deutlich zurückhaltender, dafür solide recherchiert argumentiert der Soziologie Robert B. Edgerton. Er hat aus zahlreichen Besucherbefragungen herausdestilliert, dass der Strand sehr wohl ein Ort der Linderung ist: „These kinds of remarks were typical: ‚The beach can wash away problems.‘ ‚The beach puts everyone in a good mood.‘ ‚The beach is special; everyone’s so relaxed. Something magical happens to everyone.‘ ‚People come here to relax, no one’s looking for trouble.‘ ‚It’s so mellow and laid back here, my mind just goes on its own trip.‘ ‚The ocean and the sun calm everyone down; the sun is really so debilitating that all you can do is relax.‘ ‚When I get down on the warm sand, and listen to the surf and feel the lovely breeze, all my worries and anxieties fade away; when everyone is feeling like that how could there possibly be any trouble?‘“93 Diese Beruhigungsgeständnisse klingen nach nicht viel, haben aber einen enorm positiven Summeneffekt – wie Edgerton in der Einleitung zu seinem Buch vorwegnimmt. Er selbst beginnt seine Recherchearbeit am Strand ebenfalls 93 Robert B. Edgerton. Alone Together. Social Order on an Urban Beach. University of California Press. 1979. Seite 146, 147

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bereits positiv gestimmt. Eigentlich zu einseitig positiv gestimmt für einen objektiv analysierenden Wissenschaftler: „This book examines what these many and diverse people do that enables them to get along together when they go to the beach. It attempts to determine what they find enjoyable and how they avoid trouble. More specifically, it is concerned with how it is possible for these many thousands of strangers of all ages and ethnic groups to come to a strip of sand, remove almost all of their clothing, spend a day in close proximity to one another, often drink alcohol and smoke marijuana, and yet manage to avoid conflict with one another. The book asks what kind of social order exists at the beach and how this order is achieved.“94 Reyner Banham hat ebenfalls keine Zweifel an der entspannenden Gesamtwirkung des Strands, den er sogar als eigene Ecology definiert, konkret als „Ecology I: Surfurbia“.95 Banham braucht insgesamt nur vier Ecologies, um ganz Los Angeles zu kartografieren, der Strand ist für ihn also ein wesentlicher Teil davon. Den Nachweis der Besonderheit führt Banham aber weniger über die räumlichen oder architektonischen Gegebenheiten des Strandes. Wie Edgerton konzentriert er sich vor allem auf die Menschen, um die entspannende Wirkung zu beschreiben: „The culture of the beach is in many ways a symbolic rejection of the values of the consumer society, a place where a man needs to own only what he stands up in – usually a pair of frayed shorts and sunglasses. There is a sense in which the beach is the only place in Los Angeles where all men are equal and on common ground.“96 Der Mensch ist am Strand also seiner symbolischen Mandate entledigt und nur noch er selbst. Edgerton beschreibt, wie diese befreiende Reduktion sogar die Polizisten erfasst. Sie tauschen die übliche Dienstuniform gegen eine Stranduniform, die wieder an Banhams Shorts-and-Sunglasses-Ideal erinnert: „a police officer still had the awkward problem of crossing the sand to apprehend a suspect. Even the most athletic officer looked clumsy, if not comical, attempting to rush across soft sand while dressed in full uniform, including black leather shoes. […] Officers patrolling in this unit are armed with regulation revolver and baton, but they wear sneakers, short pants, and a white T-shirt marked with a police emblem. Thus, while they are identifiable as police officers, they can be as mobile on the sand as any suspect.“97 94 Robert B. Edgerton. Ebd. Seite 2 95 Reyner Banham. Los Angeles: The Architecture of Four Ecologies. University of California Press. 2001. Seite 19 96 Reyner Banham. Ebd. Seite 20, 21 97 Robert B. Edgerton. Alone Together. Social Order on an Urban Beach. University of California Press. 1979. Seite 55

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Damit wäre der Strand als gesamtheitliches Stimmungsbild erfasst. Hier ist weniger Action als die Serie Baywatch vermuten lässt, stattdessen ist alles friedlich und entspannt. Doch das Bild stimmt nicht. Edgerton und Banham legen den gleichen Weichzeichner über den Strand wie die vielen Besucher. Doch der vernebelt den Blick. In der Detailerläuterung zur entspannten Polizeiuniform deutet sich nämlich eine gänzlich andere Logik an. Die Entspannung am Strand erfolgt nicht freiwillig, sondern ist funktional erzwungen. Das ändert die Perspektive erheblich. Ist der gesamte beruhigende Effekt des Strands funktional erzwungen? Schließlich ist der Strand nicht nur für Polizisten loses Material in Wallung, tiefer Boden, suspekt und flüchtig. Der Strand zwingt alle in seine existenzielle Weichheit, die im „Verlust des festen Bodens, der Erdoberfläche, des Schauplatzes resultiert, an dem das Abenteuer der Identität des Menschen auf dieser Welt stattfindet.“98 Hier ist also für niemanden eine tragfähige Bodenbühne, um überheblich werden zu können, hier kann niemand sein Ego auftürmen und absichern. Ohne individuelle Egogebilde werden auch die gesellschaftlichen Summeneffekte der Egoanstrengungen unterbunden. Wie soll eine Gesellschaft hier Geschichte schreiben, wenn nur ephemere Kurzgeschichten möglich sind? Irgendwann kommt das Wasser und der Wind und die Einschreibungen sind verschwunden. Das akkumulative Entstehen und Praktizieren von Kultur ist hier nicht realisierbar – und damit fallen auch alle Verteidigungsaffekte und Kulturkämpfe weg. Mancher wird den funktionalen Zwang zur Entspannung immer noch unkritisch hinnehmen. Hauptsache, das Ergebnis ist wohltuend. Aber wer den funktionalen Zwang zur Entspannung so unkritisch einschätzt, hat das eigentlich Sensationelle daran nicht erkannt: Der Strand ist nämlich eine Katastrophe! Nein, nicht vom Gegenblick des offenen Horizonts und der Exponiertheit ist hier die Rede, sondern vom Sandstrand selbst. Man steht hier mitten in der Katastrophe. Übertreibung? Noch einmal: Nein, denn es gibt nicht nur die laute, spektakuläre Katastrophe, die einen akut herausfordert und oft genug akut überfordert. Es gibt gleichermaßen die stille Katastrophe: „I like the idea of quiet catastrophes taking place“.99 Robert Smithson gelingt diese scharfsinnige Wortschöpfung, und genauso scharfsinnig ist die Beschreibung: „It’s already destroyed. It’s a slow process 98 Paul Virilio. Fluchtgeschwindigkeit. Carl Hanser Verlag. 1996. Seite 53 99 Robert Smithson. In: Jack Flam. Hrsg. Robert Smithson: The Collected Writings. University of California Press. 1996. Seite 249

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of destruction. The world is slowly destroying itself. The catastrophe comes suddenly, but slowly. […] I prefer the lava, the cinders that are completely cold und entropically cooled off. They’ve been resting in a state of delayed motion. It takes something like a millennium to move them.“100 Das Ergebnis dieser stillen Katastrophe sind Low Profile Landscapes oder Entropic Landscapes – wie Smithson sie nennt.101 Der Strand ist ebenfalls so eine entropische Landschaft, in Echtzeit durch die stille Katastrophe erzeugt. Smithson sieht sich in seiner Beschäftigung mit der stillen Katastrophe als Außenseiter. Die laute Katastrophe sieht er hingegen näher am allgemeinen menschlichen Maßstab passieren: „You know, one pebble moving one feet in two million years is enough action to keep me really excited. But some of us have to simulate upheaval, step up the action. Sometimes we have to call on Bacchus. Excess. Madness. The End of the World. Mass Carnage. Falling Empires.“102 Doch diese vermeintliche Zuordnung ist falsch. Tatsächlich ist die stille Katastrophe näher am Menschen. Die laute Katastrophe ist das seltene, eruptive, auffällige Ereignis, aber die stille Katastrophe passiert ständig, durch überfordernde Kräfte, die unablässig Druck ausüben. Doch das will niemand sehen, zumindest nicht in der faktischen Konsequenz. Smithson spricht von einer: „tendency of the artist […] to exclude the whole problem of nature“.103 Diesen Vorwurf kann man verallgemeinern. Die stille Katastrophe wird die meiste Zeit ausgeblendet, obwohl man als Mensch und Körper ebenfalls eine entropische Landschaft ist, in Echtzeit von der stillen Katastrophe durchwirkt. Wenn man aber wie Smithson den Erkenntnisblick für die Entropie einmal gelernt hat, dreht sich die Dramaturgie der Welt um. Es gibt dann keinen offenen Horizont mehr, der darauf wartet, dass man ihn mit eigenen Aktivitäten bestellt, sondern es gilt zuallererst, die Entropie als die viel größere und generelle Aktivität anzuerkennen. Das schließt eigene Aktivitäten nicht aus, ganz im Gegenteil, aber sie werden vom entropischen Kontext radikal umgewertet. Man stellt seine eigenen Aktivitäten wie Versuchsbojen in die gesamtheitliche entropische Drift, um dann zu beobachten, wie sie aufgelöst werden. Das gilt für Objekte, Menschen und Handlungen gleichermaßen. Edgerton hat dieses langsame Fallen in die entropische Drift mit verstörenden Szenen illustriert: „I’ve been going to the 100 Robert 101 Robert 102 Robert 103 Robert

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same place on the beach for years [near tower 18] but I’m sort of nervous while I’m parking my car in the lot. I get out of that lot in a big hurry and get out on the sand. The sand is like a sanctuary for me. Once I’m there I relax and mellow out. Usually I lay [sic] down and sleep for a while, or at least I close my eyes. To me it’s a way of showing myself how safe and cozy I am, like a little kid in bed who pulls the covers over her head. I think that sleeping also turns off any creeps who might be planning to come over and bug me.“104 In dieser Szene wird eingestanden, dass die angebliche Sicherheit am Strand lediglich durch Fatalismus hergestellt wird. Wer einschläft, um sich selbst persönliche Sicherheit zu suggerieren, hat jede Form von Awareness aufgegeben. Ähnlich fatalistisch wird die niedrige Kriminalitätsrate erzeugt, konkret durch passive Duldung: „This pattern of avoiding confrontations is characteristic of the beach. Most potentially troublesome rule violations evoke no response whatsoever. For the most part, people appear to ignore behavior altogether. As a police officer said, they seem to ‚tune out‘ one another. When a rule violation does provoke some reaction, the most common one is for the offended party simply to move some distance away. Words are not usually exchanged and accounts are seldom demanded, but when a complaint is uttered, or a ‚dirty look‘ is given, that seems to be as far as the offended person cares to go, since the next step tends to be away from confrontation and almost always involves an increased physical separation between the parties involved.“105 Daraus folgt, dass sogar der Common Ground, den Banham unterstellt, nicht als aktive soziale Formation erzeugt wird, sondern alle in die gleiche passive Isolation gefallen sind. Das ist letztlich gar kein Common Ground. Wer die Aktivitäten anderer, egal ob kriminell oder nicht, völlig ignoriert, der gibt die Idee der Gesellschaft auf. Und es folgt sogleich die nächste Verfallsstufe. Wer nur noch in seinem eigenen Territorium seinem eigenen Trip nachhängt, der hat sich von der Welt verabschiedet: „These words are characteristic of men and women alike: ‚When I get to the beach I pick out my little plot of sand and set down my towel. For the next few hours that is my own little world; it belongs to me.‘ Many added that once a beachgoer claimed a territory, he or she entered his or her private psychological experience. These comments, one by a man, the other by a woman, were commonplace: ‚Everyone is in his own private dream world,‘ and ‚Everyone has his own little territory and is on his own trip‘.“106 104 Robert B. Edgerton. Alone Together. Social Order on an Urban Beach. University of California Press. 1979. Seite 169 105 Robert B. Edgerton. Ebd. Seite 96 106 Robert B. Edgerton. Ebd. Seite 150

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Langsam wird klar, worin die stille Katastrophe besteht und wie sie arbeitet. Es ist das atmosphärische Angebot, nachzulassen, langsamer zu werden, passiv zu werden, die Dinge passieren zu lassen. Als Belohnung dafür stellt sich Wohlbefinden ein. Das Wohlbefinden ist wiederum die Verlockung, noch weiter nachzulassen, noch passiver zu werden, die Dinge noch fatalistischer passieren zu lassen. Diese ansteckende Passivität ist bereits als architektonisch kuratierte Liegeöffentlichkeit aufgefallen. Von Smithson kann man lernen, dass damit ein universeller Grundzustand beschrieben ist, den man überall und immer unterstellen darf, auch ohne ihn restlos erklären zu können. „The ‚blackout‘ that covered the Northeastern states recently, may be seen as a preview of such a future. Far from creating a mood of dread, the power failure created a mood of euphoria. An almost cosmic joy swept over all the darkened cities. Why people feel this way may never be answered.“107 Die fachspezifisch naheliegende Frage wäre nun, wie sich Architektur zu dieser generellen entropischen Drift verhält. Smithson beschreibt jedenfalls präzise, wie die Entropie auch architekturnahe Konzepte erfasst und in schaurig schönen Nihilismus auflöst: „As action decreases, the clarity of such surface-structures increases. This is evident in art when all representations of action pass into oblivion. At this stage, lethargy is elevated to the most glorious magnitude.“108 „Questions about form seem as hopelessly inadequate as questions about content. Problems are unnecessary because problems represent values that create the illusion of purpose. The problem, of ‚form vs. content‘, for example, leads to illusionistic dialectics that become, at best, formalist reactions against content. Reaction follows action, till finally the artist gets ‚tired‘ and settles for a monumental inaction.“109 „As the cloying effect of such ‚values‘ wears off, one perceives the ‚facts‘ of the outer edge, the flat surface, the banal, the empty, the cool, blank after blank; in other words, the infinitesimal condition known as entropy.“110 Diese Beschreibungen könnte man als Architekt als zu kunsttheoretisch zurückweisen, doch Smithsons Recherche zur Entropie beinhaltet eine ausdrücklich an Architektur gerichtete erschreckende 107 Robert Smithson. In: Jack Flam. Hrsg. Robert Smithson: The Collected Writings. University of California Press. 1996. Seite 11 108 Robert Smithson. Ebd. Seite 14 109 Robert Smithson. Ebd. Seite 11, 12 110 Robert Smithson. Ebd. Seite 13

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Nachricht. Vor allem moderne Architektur sieht er als entropische Landschaft: „The much denigrated architecture of Park Avenue known as ‚cold glass boxes‘, along with the Manneristic modernity of Philip Johnson, have helped to foster the entropic mood. The union Carbide building best typifies such architectural entropy.“111 „The slurbs, urban sprawl, and the infinite number of housing developments of the postwar boom have contributed to the architecture of entropy. Judd, in a review of a show by Roy Lichtenstein, speaks of ‚a lot of visible things‘ that are ‚blank and empty‘, such as ‚most modern commercial buildings, new Colonial stores, lobbies, most houses, most clothing, sheet aluminum, abd plastic texture, the formica like wood, the cure and modern patterns inside jets and drugstores.‘“112 Es wird wohl viele Architekten spontan reizen, die Moderne gegen den Vorwurf der entropischen Erscheinung zu verteidigen. Die ganze Moderne ist doch ein Aufruf zu befreiter Vitalität. Man wird auch unzählige moderne Projekte finden, die befreite Vitalität vorführen und feiern. Und selbst wenn man die Moderne nicht vollständig von der Entropie lossprechen kann, so stellt sich die Frage vergleichend umso dringlicher: Wieso sollte die Moderne entropischer sein als alle anderen Architekturepochen? Die Moderne will der letzte Stil sein, aber nicht der erschöpfteste aller Stile. Die Antwort auf diese Detailfrage ergibt sich aus der Erörterung der großen Frage: Wie kann man der allumfassenden entropischen Drift entkommen? Gar nicht – wird die Theorie kurz und entschieden antworten. Die stille Katastrophe ist unausweichlich. Doch der Blick auf den Strand zeigt, dass sich nicht alle widerstandslos ergeben. Tatsächlich wird dort die stille Katastrophe durch Aufsichtspersonal und Verhaltensregeln eingehegt. Die wichtigste Regel dabei ist die Begrenzung der Kontaktzeit. Die Hingabe an die entropische Drift am Strand wird nur für wenige Stunden am Tag für die Besucher geöffnet. Spätestens am Abend wird abgebrochen. In der Nacht ist der Aufenthalt am Strand gänzlich verboten. Die Hingabe an die entropische Drift ist also nur ein kurzfristiges Spiel und kein endgültiges Schicksal. Und sogar während der wenigen Spielstunden am Tag wird der Strand nicht zum Todesacker, weil Polizisten und professionelle Lifeguards die eingetrübte Awareness der Besucher kompensieren. Diese kompensatorische Awareness-Leistung ist der Inhalt 111 Robert Smithson. Ebd. Seite 12 112 Robert Smithson. Ebd. Seite 13

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der gesamten Baywatch-Serie. Immer sind es die wachsamen Helden der Baywatch-Belegschaft, die unbedarfte Strandbesucher vor jeder nur erdenklichen Form von Untergang retten. Dass sich der Hauptretter der Serie, der von David Hasselhoff gespielte Mitch Buchannon, in seinem Filmleben zwischen einer Karriere als Architekt oder als Lebensretter entscheiden muss, ist dabei nur eines von vielen fabelhaften Details der Serie. Hätte er als Architekt die Menschen ebenfalls vor dem Untergang in den entropischen Architekturlandschaften der Moderne gerettet? Hätte er die haltlos Lethargischen aus den kalten Glasbox-Architekturen befreit, die sinnfrei Umherdriftenden aus dem Häusermeer der Suburbs evakuiert? Man muss es annehmen und bedauern, es nicht vorgeführt bekommen zu haben. Aus der professionellen Kuratierung der stillen Katastrophe am Strand kann man also durchaus etwas lernen. Der Aufstand gegen die Entropie ist als Widerstrand gegen die Dauer angelegt. Zugespitzt bedeutet das: Die Flucht in den Augenblick ist die einzige Rettung. Wer jetzt entgegnet, dass diese Rettung ebenfalls nur einen Augenblick lang anhält, der hat den Trick nicht verstanden. Wer im Augenblick ist, der reflektiert nicht über den Sinn des Augenblicks und schon gar nicht über die Dauer des Augenblicks hinaus. Am überzeugendsten bestätigen das die Kinder am Strand. Sie sind die verlässlichen Widerstandsarbeiter gegen die Entropie. Sie graben durchs lose Material mit absurdem Eifer. Die entropische Drift scheint sie nicht zu erfassen, weil sie im Augenblick arbeiten und auch das Gelingen im Augenblick erleben. So weit, so überzeugend. Aber wie intensiviert man die Flucht in den Augenblick? Sucht man am Strand nach der professionellen Flucht in den Augenblick, dann fällt eine ganz besondere Personengruppe ins Auge. Die größten Helden im Gegenblick der Entropie sind doch nicht die Lebensretter von Baywatch, sondern die Bodybuilder von Venice Beach. Bereits die ungezwungene Bodybuilding-Euphorie der 1960er und 1970er Jahre hat den Gegensatz zwischen lockender Lethargie und aggressiver Ambition gleichnishaft vorgeführt. Wie zum Trotz positioniert die Bodybuilding-Szene ihre Homebase, das Gold’s Gym in Venice Beach, im Gegenblick der stillen Katastrophe. Und dann beginnt der Aufstand. Muskelaufbau und Körperformung als Demonstration der Selbstbestimmung. Das feierliche Ziel der gesamten Anstrengung ist schließlich die Pose. Das ist der Bodybuilding-Begriff für die Flucht in den Augenblick. Genau in diesem kurzen Augenblick der darstellerischen 561

Perfektion wird die gesamte Anstrengung davor und danach konzentriert. Gleichzeitig wird in diesem Augenblick des größten Glücks die gesamte Anstrengung davor und danach abgeworfen und vergessen. So zumindest beschreiben die Wettkampfteilnehmer die geglückte Flucht in den Augenblick. Der populärste Held dieses Aufstands gegen die Entropie ist bis heute Arnold Schwarzenegger, aber die strengsten Ideologen sind zweifellos die Mentzer-Brüder Mike und Ray. Sie entwickeln eine extreme Form des High-Intensity-Trainings, das sogar den Großteil ihrer Bodybuilding-Zeitgenossen überfordert. Ziel dabei ist, die Flucht in den Augenblick maximal zu radikalisieren. Dazu wird nicht nur der seltene Wettkampf, sondern auch der gesamte Trainingsablauf veraugenblickt. Das Training wird möglichst kurzgehalten, mit möglichst wenigen Übungswiederholungen, dafür wird jede Wiederholung mit maximaler Intensität ausgeführt. Jede Bewegung wird dabei zum augenblicklichen Exzess, der kein davor und kein danach kennt. Von einem Spiel mit oder gegen die Entropie kann da jedenfalls keine Rede mehr sein. In dieser exzessiven Form ist die Flucht in den Augenblick ein tragischer Deal – regelrecht teuflisch. Der stillen Katastrophe entgeht man nämlich nur durch den Sprung in die laute Katastrophe, indem man sich durch Übermotivation, Überambition und Überanstrengung selbst umbringt. Genau das ist mit der Flucht in den Augenblick letztlich gemeint. Eine andere Erlösung gibt es nicht. Und genau das haben die Mentzer-Brüder geradezu vorbildlich gezeigt. Am 10. Juni 2001 stirbt Mike Mentzer mit 49 Jahren an Herzversagen. Nur zwei Tage später stirbt sein Bruder Ray Mentzer mit 47 Jahren ebenfalls an Herzversagen. Bei beiden wird außerdem von einer Überdosis Morphin berichtet, angeblich verabreicht zur Schmerzlinderung aufgrund jahrelanger Krankheiten und Gebrechen. Ein offizieller Zusammenhang dieses Schicksals mit ihrem High-Intensity-Training ist nie bewiesen worden, aber worauf sollte die Radikalisierung der High-Intensity-Idee perspektivisch sonst hinauslaufen? Auf ein ewig geruhsames Leben oder auf ein kurzes intensives Leben? Ist dieses Bild nun gleichnishaft auch für Architektur? Zumindest der Kampf der Moderne gegen die Entropie wird nicht selten als lächerliche Freakshow ausgetragen, wie man sie vom Bodybuilding kennt. Wenn durch Übermotivation, Überambition und Überanstrengung groteske 562

Architekturposen eingenommen werden, deren Halbwertszeit nicht über den Augenblick hinausreichen. Smithson ist hier ausnahmsweise gnädig zur Architektur, die Lächerlichkeit lässt er unterwähnt, er nennt solche Posen sogar neue Monumente: „Instead of causing us to remember the past like the old monuments, the new monuments seem to cause us to forget the future. Instead of being made of natural materials, such as marble, granite, or other kinds of rock, the new monuments are made of artificial materials, plastic, chrome, and electric light. They are not built for the ages, but rather against the ages. They are involved in a systematic reduction of time down to fractions of seconds, rather than in representing the long spaces of centuries. Both past and future are placed into an objective present. This kind of time has little or no space; it is stationary and without movement, it is going nowhere, it is anti-Newtonian, as well as being instant, and is against the wheels of the time-clock.“113 Doch so schön der Augenblick auch gewesen sein mag. Nachdem sich die Helden in die laute Katastrophe des Augenblicks gestürzt haben, bleiben die vielen kleinen Feiglinge inmitten einer ernüchternden Summenrechnung zurück. Die verfügbare Menge an Ambition ist für alle Akteure zu allen Zeiten gleich, lediglich die Verteilung kann man variieren. Gerade weil die Moderne so gern in lächerliche Monumente für den Augenblick investiert, bleibt für die Strecke dazwischen vergleichsweise wenig Ambition übrig. Damit teilt die moderne Architektur das Schicksal aller Unternehmungen, die die Flucht in den Augenblick als ihr wichtigstes Manöver praktizieren. Smithson erkennt das an der Moderne, weil er ausnahmsweise nicht ihre großen Momente betrachtet, sondern die epischen Strecken zwischen den Highlights. Smithson hört nicht, was moderne Architekten in ihren propagandastarken Auftritten verkünden. Er zitiert auch nicht aus übereifrigen Manifesten und hoffnungsvollen Projektabsichten. Er sieht nur hin, was hinterlassen worden ist, nachdem die großen Augenblicke vergangen, die Architekten verschwunden, die Manifeste vergessen, die Projekte unkommentiert in Betrieb gegangen sind. Und ja, diese Zwischenstrecken machen tatsächlich einen erschöpfteren Eindruck, als man das von anderen Architekturepochen kennt. Mit dieser Summenrechnung zur Ambitionsverteilung in der Moderne ist gleichzeitig eine dramaturgische Frage aufgeworfen, die keinem Architekten erspart bleibt. Jeder muss sich jeden Tag entscheiden, auf 113 Robert Smithson. Ebd. Seite 11

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welcher Seite er heute spielen will: auf der Seite der manischen Widerstandsarchitekten, die lächerliche Monumente für den Augenblick bauen, oder auf der Seite derer, die sich lieber in die allgemeine Drift fallen lassen und dabei Potenzial, Zeit, Gelegenheit ungenutzt verstreichen lassen? Welche der beiden Seiten unterhaltsamer ist, kann ebenfalls jeder für sich selbst entscheiden. Aber eine Katastrophe ist es am Ende auf jeden Fall.

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