Lohnwucher - auch ein arbeitsrechtliches Problem [1 ed.] 9783428510931, 9783428110933

Alexandra Franke setzt sich mit dem Begriff des Lohnwuchers aus zivil- bzw. arbeitsrechtlicher sowie aus strafrechtliche

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German Pages 350 Year 2003

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Lohnwucher - auch ein arbeitsrechtliches Problem [1 ed.]
 9783428510931, 9783428110933

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ALEXANDRA FRANKE

Lohnwucher - auch ein arbeitsrechtliches Problem

Schriften zum Sozial- und Arbeitsrecht Band 221

Lohnwucher auch ein arbeitsrechtliches Problem Von

Alexandra Franke

Duncker & Humblot . Berlin

Die Juristische Fakultät der Freien Universität Berlin hat diese Arbeit im Jahre 200112002 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

D 188

Alle Rechte vorbehalten

© 2003 Duncker & Humblot GmbH, Berlin

Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0227 ISBN 3-428-11093-5 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 § Internet: http://www.duncker-humblot.de

Meinen Eltern

Vorwort Die Problematik Lohnwucher hat bisher nur wenig Beachtung gefunden. Lohnwucher ist jedoch in der Praxis weitaus bedeutsamer, als die wenigen bisher ergangenen Entscheidungen zu dieser Frage vermuten lassen, und die Bedeutung wird in Zukunft vermutlich weiter zunehmen. Die bestehende Wirtschaftslage, insbesondere die hohe Arbeitslosigkeit, aber auch der Kostendruck durch die Konkurrenz von Arbeitgebern aus verschiedenen Ländern mit den unterschiedlichen sozialen Standards, die nachlassende Bedeutung von Tarifverträgen sowie der allgemeine Wettbewerb führen in der Praxis immer häufiger dazu, daß die Arbeitsvergütungen abgesenkt werden. Die rechtlichen Grenzen sind bisher noch ungeklärt; etwaige Sanktionsmöglichkeiten greifen nur selten durch. Diese Tatsache war Anlaß, sich mit dem Begriff des Lohnwuchers sowohl aus zivil- bzw. arbeitsrechtlicher Sicht als auch aus strafrechtlicher Sicht auseinanderzusetzen und Konzepte für einen wirksameren Schutz vor Lohnwucher zu entwickeln. Die Arbeit wurde im Wintersemester 200112002 von der Juristischen Fakultät der Freien Universität Berlin als Dissertation angenommen. Rechtsprechung und Literatur sind in den wichtigen Punkten auf den Stand von Ende 2002 gebracht worden. Die Arbeit wurde von Herrn Prof. Dr. Jochem Schmitt betreut. Ihm möchte ich an dieser Stelle für seine nachhaltige Förderung und Unterstützung herzlich danken. Er hat meine Arbeit stets mit Interesse begleitet, wobei er mir aber zugleich den erforderlichen Freiraum für die Entwicklung meiner Lösungen ließ. Mein Dank gilt weiterhin Herrn Prof. Dr. Claas-Hinrich Germelmann für seine wertvollen Hinweise sowie die Erstellung des Zweitgutachtens. Ganz besonders bedanke ich mich bei meiner Mutter, Frau Dr. Ingeborg Franke. Sie hat mich während meiner gesamten Ausbildung unterstützt und gefördert sowie einen ganz entscheidenden Anteil am erfolgreichen Abschluß dieser Arbeit. Ebenfalls danke ich Herrn Amo Franke und Herrn Andreas Herlitz für ihre konstruktiven Anregungen. Berlin, im Juni 2003

Alexandra Franke

Inhaltsverzeichnis A. Einleitung .........................................................................

23

B. Bedürfnis nach einem Mindestlohn ...............................................

26

1. Die "Probleme mit dem Lohnniveau" ........ . ........ . ...... . . . ...... . .... . ...

27

1. Bedeutung der Entgelthöhe ....... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

27

2. Einfluß der Globalisierung ............ . .....................................

28

3. Realität (zu) niedriger Löhne ................................................

33

11. Schutz vor Niedriglöhnen ......................................................

38

1. Elemente der Entgeltgerechtigkeit ...........................................

38

2. Realisierung der Austauschgerechtigkeit ....................................

39

a) Markt.................. ......... .........................................

40

b) Besonderheiten auf dem Arbeitsmarkt ...................................

41

c) Schutzmechanismen ............................... . .....................

43

aa) Gesetzliche Mindestlöhne ...........................................

43

(1) Das Gesetz über die Festsetzung von Mindestarbeitsbedingungen...................... .......................................

45

(2) Heimarbeitsgesetz ..............................................

46

(3) Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen. . . . . . . . . . . . . .

47

(4) Arbeitnehmer-Entsendegesetz ..................................

49

(5) Zusammenfassung..............................................

51

bb) Tarifvertragssystem .................................................

51

(1) Reichweite tarifvertraglicher Mindestlöhne .....................

52

(2) Qualität tarifvertraglicher Mindestlöhne ................. . .... . .

53

d) Vertragsfreiheit 111. Ergebnis .......................................................................

55 57

10

Inhaltsverzeichnis

C. Inhaltskontrolle bei niedrigen Löhnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

58

I. Individuelle Lohnvereinbarungen .. .. .... . . . .......... . ... . .... . . . ... . ... . ... ..

61

1. Sittenwidrigkeitskontrolle ..... .. ....... . . . ...... . . ....... ... ...... . . . ...... .

61

a) Voraussetzungen ........ .. ..... .. .. ... .. ..... ..... .... ..... .. . ... .. .. . . . .

64

aa) Objektiv: Auffälliges Mißverhältnis ...... .. ..... . ... . ....... . .. . ....

64

(1) Rechtsprechung des BAG . .... ...... .. ...... . . . ...... .... .......

64

(2) Kritik im Schrifttum .. .... .... .. .. .. ... . . . . . .. . . . . ... ....... . ...

68

(a) Wert der Arbeitsleistung .. . .. . ........ . ............ . . . ......

68

(b) Ermittlung des Wertes ... . .. ... ... . . . . ... .. ..... .... ....... .

70

(c) Mißverhältnis. . ........ . ........ ... ....... . . . ...... . ....... .

71

(3) Rechtsprechung der Instanzgerichte . .. .. ..... . ... .. .. . .. . ... . . . .

72

(4) Lohnwucher im Strafrecht . . ........ . . . . . .... .. ...... . ........ ..

78

(5) Kritik und Lösungsvorschlag . .. . . . .. .. ..... . .. . . . ... .... . .. .. . .

80

(a) Einheitliche Beurteilung im Zivil- und Strafrecht . . ....... . .

81

(b) Vergleichsmaßstab ... ....... ... .. . .. . . .. .. . .. ... . . .... ... ...

83

(aa) Tarifvertrag als Anhaltspunkt für den Wert der Arbeit

85

a) Übliche Vergütung ... . . . . .. ... . . .. ... ....... ... .. .

85

ß) Tarifvertrag als Marktwert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

88

(bb) Grenzen der Tarifgeltung . . . . ..... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

90

(cc) Koalitionsfreiheit . . . ... .. . . . . .... . .. .. .... .. .. ... .... .

93

a) Kollektive Koalitionsfreiheit ... . . . ...... . . . ..... ..

93

ß) Negative Koalitionsfreiheit der Arbeitnehmer ... ..

96

(dd) Wertungswidersprüche .... . .......................... .

99

(ee) Ermittlung der üblichen Vergütung........ . . . ....... ..

99

(ff) Zwischenergebnis ......................... . ......... . . 102

(c) Maßstab für das "auffällige" Mißverhältnis .... . .. . ......... 102 (d) Berücksichtigung eines besonderen Unternehmergewinns? . . 107 (e) Absolute Untergrenzen bei der Entgelthöhe? .... . .... .. . ... . 110 (aa) Das "Recht auf ein gerechtes Arbeitsentgelt" gemäß Art. 4 Abs. lESe................... .. ........ . ....... 110 a) Die ESC als Auslegungsrichtlinie . . . ... . . . . . ......

112

ß) Sittenwidrigkeits- / Wucherkontrolle am Maßstab des Art. 4 Abs. 1 ESC .. .. ........ .. ... . .. ... ..... . 113

(bb) Das Recht auf ein angemessenes Arbeitsentgelt gemäß Art. 7 Buchst. a) des IPWSKR ..... .. ................. 117

Inhaltsverzeichnis (cc) Sozialhilfesätze als absolute Untergrenze? .. ..... .. .. .. a) Mindestüberschreitungsgebot von 20% ............ ß) "Nur" Sozialhilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . /,) Anmerkung zur Vergleichsberechnung des ArbG Bremen ............... ... . .. ....... . .. .... . .. . .. . .

11 117 118 119 125

(6) Ergebnis. .. .... .. .............. .............. .. ................. 125 (7) Exkurs: Besonderheiten bei ausländischen Arbeitnehmern ...... 126 (a) Strafrecht ................ .. ................................. 126 (b) Zivilrecht. .. ... .............. . . ..... ... ... . . . . . .. ... ........ 129 (c) Berücksichtigung des "Opfervorteils" bei Grenzgängern? .. . 130 (d) Ergebnis ... ... ... . ...... ... .. . ..... . .... . ... .. .. . ...... . .. .. 132 bb) Subjektiv ... ...... .. .. ......... .... . .. ................ .. ............. 132 (1) Ausbeutungstatbestand (§ 138 Abs. 2 BGB, § 291 Abs. 1 Satz 1

Nr. (a) (b) (c)

3 StGB) ..... .. ..... .. ......... ... . .. .. ...... .. ... . ... . .. . . . . Zwangslage.. .. ... ... .. . .. . .. . ... . .. .. ... .. . ... . ...... .. .. .. Unerfahrenheit . . ....... . .. .. . .. .. .. .. .. .. ... . .. .. . ... .. .. . . Mangel an Urteilsvermögen und erhebliche Willensschwäche .... ... .. .. . . . .. ..... .. .. .. . .... . . .. .. .. . ... .. . ... .. . .. ..

134 134 139 141

(d) Ausbeutung .................. ............ .... . .. .......... .. 142 (2) Exkurs: Besondere Aspekte bei ausländischen Arbeitnehmern .. . 144 (a) Zwangslage... ... . ......... .. .. . .. .. .. .. ... .. . .. .. .. .. .. . .. . 144 (b) Unerfahrenheit .. . ...... .. . .. ... . ...... . ............. . ...... 147 (c) Ausbeutung. .................. .. .. .. . ... .. . .... ..... . . ... . .. 149 (d) § 406 Abs. 1 Nr. 3 SGB III und § 15a Abs. 1 Satz 1 AÜG . .. 150 (3) "Sandhaufentheorem" oder Vermutung für Ausbeutung? .. .. . .. . 150 (4) Verwerfliche Gesinnung (§ 138 Abs. 1 BGB) .. ... . ... .. .. . ..... 154 (5) Zwischenergebnis ...... . ...... ...... ............................ 158 b) Rechtliche Konsequenzen. . ... .. .. .... . ...... .. .. . . . .... .. .. . .. .. . .. .... . 159 aa) Strafrecht

159

bb) Zivilrecht

161

(1) Konkurrenzverhältnis ... ... ... ...... .. . . . .. .. .. ...... ... .... ... . 161

(2) Umfang der Nichtigkeitsfolge . . .. ......... ... . ... . ... ......... .. (a) Grundsatz: Nichtigkeit ex nunc ..... .. .. . . .... . .. .. .. . .. . . .. (b) Nichtigkeit nach § 138 BGB . ... . . ... .. .. . .. .. .. ...... ...... (c) Nichtigkeit nach § 134 BGB i. V. m. § 291 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 StGB .................................................

162 162 164 167

(3) Schadensersatzansprüche .... . . .. .. ........... . . . ............... 168 (4) Exkurs: Besonderheiten bei illegal beschäftigten ausländischen Arbeitnehmern .................... .. .............. . .. ... .... .. .. 169 c) Zusanunenfassung ..................... . .... . ................ .. .......... 173

12

Inhaltsverzeichnis 2. Inhaltskontrolle am Maßstab der Angemessenheit a) Zulässigkeit und Rechtsgrundlagen einer Inhaltskontrolle im Arbeitsrecht

174 175

b) Vorgaben des BVerfG .............. ... ......... ......... .......... ....... 179 c) Umsetzung in der arbeitsgerichtlichen Praxis...... . ....... . ....... . ...... 180 aa) Niedriglohnbezieher als typisierbare Fallgestaltung ... .. .. .. .. ... .. . . 180 bb) Schutz vor ungewöhnlich starker Belastung .... . ... . . . ....... .. .. .. . 182 (1) Instanzgerichtliche Kontrolle niedriger Arbeitsentgelte anhand

der Vorgaben des BVerfG ............. .... ............... ... .. . . 183

(2) Inhaltskontrolle bei Lohnabreden? ..... . ..... . ........ . . . ... . ... 184 (a) § 8 AGBG als Ausdruck einer allgemeinen Schranke .. .. .. . 185 (b) Auswirkungen der Schuldrechtsreform . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 (c) Argument der Monopolstellung .... ... ................. . .... 192 (d) Konsequenz für die Umsetzung der Conclusions V . ..... . . .. 193 d) Ergebnis . .... . .... . ... . ... .. ..... .. ... ... .... . .. ... . . .. . . ... . .. .. ... . . . . . 194 11. Lohnvereinbarungen im Rahmen öffentlich geförderter Arbeitsverhältnisse . .... 194 1. Sittenwidrigkeitskontrolle ................... . ...... . ... . ........ . ........... 194

a) Arbeitsförderung nach dem SGB III . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 aa) Vertragsbeziehungen und Anwendbarkeit des Sittenwidrigkeits- und Wucherverbots ................ . ........... .... ............... . . . .... 196 bb) Vergleichsmaßstab .......... ... .................... . .............. . . 198 cc) "Auffälliges Mißverhältnis" bei öffentlicher Beschäftigungsförderung . ... . ... . ... . . .. .. .. .. . . . ..... .. .. .. . . ... . ... .. ... . ..... .. .. .. .. . 200 (1) "Kritisierte" Rechtsprechung des BAG . . . . . . ... . . .. . . .... . . . . . . . 201

(a) Vergütungshöhe bei ABM-Kräften ..... . ................ .. .. 201 (b) Vergütung bei öffentlich geförderten Ausbildungsverhältnissen .. .. ..... . ... .. .... . ..... . ... .. ... . ..... .. .. .. ..... . .. .. . 202 (2) Entwicklung eines Richtwertes anhand der Rechtsprechung . .... 203 (3) Rechtfertigung des unterschiedlichen Maßstabs? ................ 204 (a) Zulässigkeit einer Ungleichbehandlung .. ........ . . .. ... .... 204 (b) Ausmaß der unterschiedlichen Beurteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 dd) Besonderheiten bei ausländischen Arbeitnehmern ........ . . . . . ... . .. 211 ee) Zwischenergebnis .............. . ............. .. ..................... 212 b) "Hilfe zur Arbeit" .. . ........... . .. . .......... . ... .. ... . .............. . .. 213 aa) Anwendbarkeit des Sittenwidrigkeits- und Wucherverbots .... . ... . .. 214

Inhaltsverzeichnis

13

bb) Vertragsbeziehungen .. ....... . ... . ... . ............. . ....... .. .... . .. 216 cc) Beurteilungsmaßstab ... ............. .. . .. . . . ............ . .. . . . .. .... 218 (1) Vergleiehsmaßstab ...... ... ... .. ... . ............ . ......... . ..... 218

(2) Maßstab für das "auffällige Mißverhältnis" .. .. ...... ... . .... .. . 222 (a) Zulässigkeit einer Ungleichbehandlung ... . .. .. .. ..... ... . . . 223 (b) Ausmaß der unterschiedlichen Beurteilung... ...... ... ... . .. 226 dd) Besonderheiten bei ausländischen Arbeitnehmern ................... 228 ee) Zwischenergebnis. .. ... ......... .. ... . . .. .. ..... ........ . .. . . .. .. . .. 229 e) Subjektive Tatbestandsvoraussetzungen ...... . . .. . ............... . .... . .. 229 d) Rechtliche Konsequenzen.... .. .... . ... ..... .. ..... .. .... ..... .. .... ..... 231 e) Ergebnis .. ... .. .... ... .... .. .... . ... . . . . .. .. ............. ...... .......... 232 2. Inhaltskontrolle am Maßstab der Angemessenheit ......... . ... ... . ...... . ... 233 III. Gerichtliche Kontrollmöglichkeiten bei niedrigen Tarifentgelten . . . . . . . . . . . . . . .. 233 1. Tarifvertrag ................................................................. 234

a) Sittenwidrigkeitskontrolle ...... . .................................... . ... 234 aa) Auffälliges Mißverhältnis .. . .. ........ . .. .. . . .. . .. .. .. . .. ...... . .. . . 236 bb) Weiteres Sittenwidrigkeitselement .. .... . ... .. .............. . . . . .. . .. 237 (1) Wucher im Sinne von § 138 Abs. 2 BGB ........................ 238

(2) Sittenverstoß im Sinne von § 138 Abs. 1 BGB ... . . .. ... . ..... .. 240 cc) Zwischenergebnis ... .. .......... . .. ........ .......... .. . ... .. . ...... 242 b) Inhaltskontrolle ... ... .. ... .............. .... ... ... .......... ... .......... 243 c) Grundreehtskontrolle .. .. ... ......... ..... .. ..... ........... . . ... . . ...... 245 aa) Unmittelbare Grundrechtsgeltung ... ... .... .............. ....... .... 245 bb) Mittelbare Grundrechtsgeltung / Schutzpflichtfunktion . . . . . . . . . . . . . .. 246 ce) Konsequenzen für die Kontrolle niedriger Tarifentgelte? ............. 247 d) Ergebnis ... ............ . .. . .. .... ............ ... .. ..... .. .... .. . .... .. ... 248 2. Bezugnahme auf niedriges Tarifentgelt im Einzelarbeitsvertrag .............. 249 a) Sittenwidrigkeitskontrolle ......... ... . .. .. . ....... . . .. ............... .. . 249 aa) Grundsatz: Maßstab wie bei normativer Geltung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 250 bb) Ausnahme: Maßstab wie bei einzelvertraglichen Arbeitsentgelten ... 250 (1) Teilverweisung ..... ..... . ... .. ...... ........ . . ... ............ .. 251 (2) Bezugnahme auf einen für eine Minderheit geltenden Tarifvertrag ...... ... .. ... .......... . .. .. . .. ............ ... . ... .......... 251

14

Inhaltsverzeichnis b) Inhaltskontrolle . . . . . . . . . . ... .. .. . . .. . .... . . . .... . ......... . ... . ... .... ... 253 c) Ergebnis ... . .......................... . ....... .. ........ . ................ 254

D. Rechtsdurchsetzung ........ . ......... .. ...... . ....................... . .... . ... . ... 255 I. Ursachen für die Probleme bei der Rechtsdurchsetzung ...... . . . .. . .... .. ...... . 255

1. Situation bei einzel vertraglichen Entgeltabreden .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 256 2. Situation bei Tarifentgelten ...... . ....... . ........... . .......... . .. . ......... 258 a) Normative Tarifgeltung .. . ... .. .. . ... . ... . . .. . .. .. .. . . . . ... . ... .. .. ... ... 258 b) Arbeitsvertragliche Bezugnahme . . .. . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . ... 259 11. Lösungsmöglichkeiten .. . ....... .. .......... . ..... .. ....... . ... . . .... . .. .. ... . . 259 1. Verzicht auf eine strafrechtliche Ahndung bei Wucher? .. .. ... . . . ... .. ... . ... 260 2. Rechtsdurchsetzung mittels unabhängiger Instanzen...................... . .. 261 a) Rechtsdurchsetzung bei gesetzlichen Mindestlöhnen .. . ..... .. .. .. ..... . . 262 aa) Amtsklage nach § 25 HAG ...... ... .......... . ............ . . . . . . . . .. 262 bb) Amtsklage nach § 14 MindArbBedG .... .. ...... .. .... . .. .... .... ... 263 b) Rechtsdurchsetzung bei richterlichem Mindestlohn ... . .................. 263 aa) Betriebsräte .. .. .. .. . .. . ... . . . .. .. ... . . . .. . . . ..... . .... . . . . . .. ... . ... 264 (1) Kenntniserlangung......... .. ................................... 264

(2) Rechtsdurchsetzung bzw. Erstattung einer Strafanzeige .. . . ... . . 267 (a) Durchsetzung eines höheren Arbeitsentgelts ................ 268 (aa) Antragsrecht aus § 80 Abs. 1 Nr. 1 BetrVG . .. ... . ... . . 268 (bb) Gewillkürte Prozeßstandschaft des Betriebsrates . . . . . . . 271 (cc) Gesetzliche Prozeßstandschaft als Perspektive ......... 273 (b) Erstattung einer Strafanzeige .. ... . .. ... .. .. . .. . .. .. ..... . . . 275 (3) Zwischenergebnis ... . . .. .. . . ....... . . .. ... .. ... . ..... .. ....... .. 278 bb) Gewerkschaften . . .... . . . .. .. .. . ..... . . . . . .. .. ... . . .. .. .. . . . .. ... . . . . 278 (1) Kenntniserlangung . ....... . .......... .. ..... .... ...... . . . ..... .. 278 (2) Rechtsdurchsetzung bzw. Erstattung einer Strafanzeige . . . .... .. 281 (a) Durchsetzung eines höheren Arbeitsentgelts ....... .. ...... . 281 (b) Erstattung einer Strafanzeige . . . .. ..... . . . . .. .... . .... . . .. . . 284 (3) Zwischenergebnis........... . ....... . . . . .. ............ . ......... 284 cc) Staatliche Verwaltung ... .. .... .. .. .. .. . . ..... ... . ... .. .. .. .... . ... . . 285 dd) Ergebnis und rechtspolitische Perspektiven ....... . ......... . ........ 287

Inhaltsverzeichnis

15

3. Stärkung der Position des Arbeitnehmers.................................... 288 a) Zulässige Rechtsausübung ............................................... 289 aa) Standpunkt der Rechtsprechung zu (Straf-)Anzeigen ................ 289 bb) Vorrang der innerbetrieblichen Konfliktlösung? ..................... 291 (1) Diskussionsstand ..................................... . ......... 292

(2) Parallele zur verhaltensbedingten Kündigung ................... 293 cc) Zulässige Rechtsausübung bei Unbegründetheit der Klage bzw. Strafanzeige? ....................................................... 297 b) Verbot einer Vergeltungskündigung ...................................... 298 aa) Rechtsausübung als "tragender Beweggrund" ....................... 299 bb) Beweisprobleme .............................. .. .................... 299 c) Ergebnis ................................................................. 302 111. Exkurs: ausländische Arbeitnehmer ............................................ 302 E. Gesamtergebnis ................................... . ............... . ............... 304

Literaturverzeichnis . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . .. . . . . . . . . ... 309

Stichwortverzeichnis ................................................................. 345

Abkürzungsverzeichnis a. A.

andere(r) Ansicht

AAB

Allgemeine Arbeitsbedingungen

a. a. O. ABl.EG ABM Abs.

am angegebenen Ort Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften Arbeitsbeschaffungsmaßnahme Absatz

AcP

Archiv für die civilistische Praxis

a. E.

arn Ende

AEntG

Arbeitnehmer-Entsendegesetz

a. F.

alte Fassung

AFG

Arbeitsförderungsgesetz

AGB

Allgemeine Geschäftsbedingungen

AGBG

Gesetz zur Regelung des Rechts der Allgemeinen Geschäftsbedingungen (AGB-Gesetz)

AiB

Arbeitsrecht im Betrieb

AK-BGB

Alternativkommentar zum BGB

AK-Recht

Arbeitskampfrecht

allg.

allgemein

Alt.

Alternative

AN

Arbeitnehmer

Anm.

Anmerkung

AnwBl.

Anwaltsblatt

AP

Arbeitsrechtliche Praxis - Nachschlagewerk des Bundesarbeitsgerichts

ArbG

Arbeitsgericht

ArbGeb

Der Arbeitgeber

ArbGG

Arbeitsgerichtsgesetz

AR-Blattei ES

Arbeitsrecht-Blattei, Entscheidungssammlung

AR-Blattei SD

Arbeitsrecht-Blattei, Systematische Darstellungen

ArbR mit Jahreszahl

Arbeitsrecht, Zeitschrift/ Jahrbuch für das gesamte Dienstrecht der Arbeiter, Angestellten und Beamten

ArbR

Arbeitsrecht

ArbRGegw.

Das Arbeitsrecht der Gegenwart, Jahrbuch für das gesamte Arbeitsrecht und die Arbeitsgerichtsbarkeit, Nachschlagewerk für Wissenschaft und Praxis

ArbSchG

Arbeitsschutzgesetz

Abkürzungsverzeichnis ArbuSozO

Arbeits- und Sozialordnung

ArbVG

Arbeitsvertragsgesetz

ArchsozArb

Archiv für Wissenschaft und Praxis der sozialen Arbeit

Art. AT

Artikel

AuA

Arbeit und Arbeitsrecht Arbeit und Beruf

AuB

17

Allgemeiner Teil

AÜG

Gesetz zur Regelung der gewerbsmäßigen Arbeitnehmerüberlassung (Arbeitnehmerüberlassungsgesetz)

AuR

Arbeit und Recht

AuslG AuslR

Ausländergesetz Ausländerrecht

Az.

Aktenzeichen

BABI.

Bundesarbeitsblatt Bundesarbeitsgericht

BAG BAGE BAT BayObLG

Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichts

BB

Betriebs-Berater

BBiG BBiR

Berufsbildungsgesetz Berufsbildungsrecht

Begr.

Begründung

Beil. BetrVG

Beilage Betriebsverfassungsgesetz

BetrVR BGB

Betriebsverfassungsrecht Bürgerliches Gesetzbuch

BGBI. BGH

Bundesgesetzblatt Bundesgerichtshof

BGHSt BGHZ

Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Strafsachen Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Zivilsachen

BI. BMT-G

Blatt Bundesmanteltarifvertrag für Arbeiter gemeindlicher Verwaltungen und Betriebe Betriebsrat

BR BR-Drucks. BReg. BSG BSHG BT-Drucks. Buchholz

Bundesangestelltentarifvertrag Bayrisches Oberstes Landgericht

Bundesratsdrucksache Bundesregierung Bundessozialgericht Bundessozialhilfegesetz Bundestagsdrucksache Sanunel- und Nachschlagewerk der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, hrsg. von Buchholz

Buchst.

Buchstabe

BVerfG

Bundesverfassungsgericht

2 Franke

18 BVerfGE BVerwG BVerwGE bzgl. bzw.

OB

ders. dies. d.h. DJZ DKK DM DNotZ DÖV DRiZ DuR DVBl. DZWiR EGBGB EGV ErfK Erl. ESC etc. EuGRZ EuZW EWG EWiR EzA EzB EzBAT f., ff. FEVS

FIillE Fn FS GA GedS GG GK GMH

Abkürzungsverzeichnis Sammlung der Entscheidungen des BVerfG Bundesverwaltungsgericht Sammlung der Entscheidungen des BVerwG bezüglich beziehungsweise Der Betrieb derselbe dieselbe das heißt Deutsche Juristen-Zeitung Däubler I Kittner I Klebe Deutsche Mark Deutsche Notar-Zeitschrift Die Öffentliche Verwaltung Deutsche Richterzeitung Demokratie und Recht Deutsches Verwaltungsblatt Deutsche Zeitschrift für Wirtschaftsrecht Einführungsgesetz zum Bürgerlichen Gesetzbuch Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht Erläuterung Europäische Sozialcharta et cetera Europäische Grundrechte Zeitschrift Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht Europäische Wirtschaftsgemeinschaft Entscheidungen zum Wirtschaftsrecht, Kurzkommentare Entscheidungssammlung zum Arbeitsrecht Entscheidungssammlung zum Berufsbildungsrecht Entscheidungssammlung zum Bundes-Angestelltentarifvertrag und den ergänzenden Tarifverträgen folgende, fortfolgende Fürsorgerechtliche Entscheidungen der Verwaltungs- und Sozialgerichte Fitting I Kaiser I Heither I Engels Fußnote Festschrift Goltdammer's Archiv für Strafrecht Gedächtnisschrift Grundgesetz Gemeinschaftskommentar Gewerkschaftliche Monatshefte

Abkürzungsverzeichnis grds.

grundsätzlich

GR(e)

Grundrecht( e)

GS

Großer Senat

GVG

Gerichtsverfassungsgesetz

H.

19

Heft

HAG

Heimarbeitsgesetz

Halbs.

Halbsatz

Hdb

Handbuch

HK

Heidelberger Kommentar

hrsg. von

herausgegeben von

HwBAR

Handwörterbuch des Arbeitsrechts für die tägliche Praxis

IBR

Immobilien- & Baurecht

i.H. a.

im Hinblick auf

InfAuslR

Infonnationsbrief Ausländerrecht

Info also

Infonnationen zum Arbeitslosenrecht und Sozialhilferecht

insbes.

insbesondere

intern.

international

IPWSKR

Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte

i. S. v. i.V.m. IWD JA JMBI.NRW JR Jura juris JuS JW

im Sinne von

JZ

in Verbindung mit Institut der Deutschen Wirtschaft Juristische Arbeitsblätter Justizministerialblatt für das Land N ordrhein-Westfalen Juristische Rundschau Juristische Ausbildung Juristisches Infonnationssystem Juristische Schulung Juristische Wochenschrift Juristenzeitung

Kap.

Kapitel

KJ

Kritische Justiz

KK

Karlsruher Kommentar

Koll. ArbR

Kollektives Arbeitsrecht

KR

Gemeinschaftskommentar zum Kündigungsschutzgesetz

KSchG

Kündigungsschutzgesetz

KSchR

Kündigungsschutzrecht

LAG

Landesarbeitsgericht

LAGE

Entscheidungen der Landesarbeitsgerichte

Lb

Lehrbuch

LK

Leipziger Kommentar

LM

Lindenmaier-Möhring, Nachschlagewerk des Bundesgerichtshofs

2*

20

MID MDR MindArbBedG Motive II MTArb MTB MTL MünchArbR MünchKomm m.w. N. NdsVBI. NDV

n. F. NI NJW NJW-RR NK Nr. NRW NStZ nv. NZA NZA-RR OVG PersR PrivatR Protokolle VII RdA RegE RG RGSt RGZ RichterR

RIW

Rn RS RsDE Rspr. RzK

Abkürzungsverzeichnis Maunz / Dürig Monatsschrift für Deutsches Recht Gesetz über die Festsetzung von Mindestarbeitsbedingungen Motive zu dem Entwurfe eines Bürgerlichen Gesetzbuches für das Deutsche Reich, Band II. Recht der Schuldverhältnisse Manteltarifvertrag für Arbeiterinnen und Arbeiter des Bundes und der Länder Manteltarifvertrag für Arbeiter des Bundes Manteltarifvertrag für Arbeiter der Länder Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch mit weiteren Nachweisen Niedersächsische Verwaltungsblätter Nachrichtendienst des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge neue Fassung Neue Justiz Neue Juristische Wochenschrift NJW-Rechtsprechungs-Report Zivilrecht Nomos-Kommentar Nummer Nordrhein-Westfalen Neue Zeitschrift für Strafrecht nicht amtlich veröffentlicht Neue Zeitschrift für Arbeits- und Sozialrecht NZA-Rechtsprechungs-Report Arbeitsrecht Oberverwaltungsgericht Der Personalrat Privatrecht Protokolle des Sonderausschusses des Deutschen Bundestages für die Strafrechtsreform, 7. Wahlperiode Recht der Arbeit Regierungsentwurf Reichsgericht Entscheidungen des Reichsgerichts in Strafsachen Entscheidungen des Reichsgerichts in Zivilsachen Richterrecht Recht der Internationalen Wirtschaft Randnummer Rückseite Beiträge zum Recht der sozialen Dienste und Einrichtungen Rechtsprechung Rechtsprechung zum Kündigungsrecht, Entscheidungssammlung

Abkürzungsverzeichnis s.

siehe

S.

Seite, Satz (bei Rechtsnonnen)

SAE

Sammlung Arbeitsrechtlicher Entscheidungen

SGB III

Sozialgesetzbuch Drittes Buch - Arbeitsförderung

SK

Systematischer Kommentar

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sog.

sogenannte(r)

Sonderbeil.

Sonderbeilage

SozR

Sozialrecht, Rechtsprechung und Schrifttum, bearbeitet von den Richtern des Bundessozialgerichts

SozSich

Soziale Sicherheit

Sp.

Spalte

S/S

Schönke I Schröder

StA

Staatsanwaltschaft

StaatsR

Staatsrecht

st. Rspr.

ständige Rechtsprechung

StGB

Strafgesetzbuch

StPO

StrafprozeBordnung

str.

streitig

TV

Tarifvertrag

TVG

Tarifvertragsgesetz

TVP

Tarifvertragsparteien

TVR

Tarifvertragsrecht

umstr.

umstritten

u.v.m.

und vieles mehr

VG

Verwaltungsgericht

vgl.

vergleiche

VuR

Verbraucher und Recht

WiB

Wirtschaftsrechtliche Beratung

WiStG

Wirtschaftsstrafgesetz

WiStR

Wirtschaftsstrafrecht

wistra

Zeitschrift für Wirtschaft, Steuer, Strafrecht

WM

Wertpapier-Mitteilungen, Zeitschrift für Wirtschafts- und Bankrecht

WSI-Mitt.

WSI-Mitteilungen, Monatszeitschrift des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts des deutschen Gewerkschaftsbundes I in der Hans-Böckler-Stiftung

ZAR

Zeitschrift für Ausländerrecht und Ausländerpolitik

z. B.

zum Beispiel

ZfA

Zeitschrift für Arbeitsrecht

ZfF

Zeitschrift für das Fürsorgewesen

ZfS

Zentralblatt für Sozialversicherung, Sozialhilfe und Versorgung, Zeitschrift für das Recht der Sozialen Sicherheit

ZfSH

Zeitschrift für Sozialhilfe

22 ZfSH/SGB

ZHR ZIP ZMR ZPO z. T. ZTR ZZP

Abkürzungsverzeichnis Zeitschrift für Sozialhilfe und Sozialgesetzbuch Zeitschrift für das gesamte Handels- und Wirtschaftsrecht Zeitschrift für Wirtschaftsrecht und Insolvenzpraxis; seit 1983 Zeitschrift für Wirtschaftsrecht Zeitschrift für Miet- und Raumrecht Zivilprozeßordnung zum Teil Zeitschrift für Tarif-, Arbeits- und Sozialrecht des öffentlichen Dienstes Zeitschrift für Zivilprozeß

A. Einleitung Der Wucher ist als Sonderfall des sittenwidrigen (zweiseitigen) Rechtsgeschäfts in § 138 Abs. 2 BGB tatbestandlich umschrieben. Wenn der Begriff Wucher fällt, denkt jeder sofort an Kredit-oder Mietwucher, aber Lohnwucher? Da die Zahlung der Vergütung - oftmals auch als (Arbeits-)Entgelt, (Arbeits-) Lohn, Gehalt oder ähnlich bezeichnet' - die Hauptleistungspflicht des Arbeitgebers ist, die im Gegenseitigkeitsverhältnis zur Arbeitsleistung als Hauptleistungspflicht des Arbeitnehmers steht2 , würde Lohnwucher objektiv ein auffälliges Mißverhältnis zwischen dem Arbeitsentgelt und der vom Arbeitnehmer geschuldeten Arbeitsleistung voraussetzen. Dabei wäre Lohnwucher sowohl bei überhöhten als auch bei zu niedrigen Entgeltabreden denkbar. Lohnwucher zu Lasten des Arbeitgebers wird aber in aller Regel an den subjektiven Wuchervoraussetzungen scheitern - denn daß beim Arbeitgeber eine Schwäche situation ausgebeutet wird, dürfte wohl die seltene Ausnahme sein. Aber auch die Annahme von Lohnwucher zu Lasten von Arbeitnehmern ist nicht ohne weiteres geläufig. Während man sich früher noch recht eingehend sowohl mit dem zivil- als auch strafrechtlichen Schutz vor Lohnwucher bzw. allgemein sittenwidrigen Arbeitsentgelten befaßte 3 , war in neuerer Zeit die Auffassung vorherrschend, daß jeder Erwerbstätige eine angemessene Vergütung erhalte. Die Bundesrepublik Deutschland gilt nach wie vor als Hochlohnland. Vor diesem Hintergrund wurde die Notwendigkeit einer absoluten Untergrenze bei Arbeitsentgelten, sei es gesetzlich oder zumindest richterlich aufgrund des Sittenwidrigkeits- bzw. Wucherverbots, nicht oder nur am Rande diskutiert. Ganz im Gegenteil wird derzeit sogar verstärkt eine Entlastung des "Kostenfaktors Arbeit" als unabdingbare Voraussetzung für die Erhaltung der Konkurrenzfähigkeit deutscher Unternehmen am Arbeitsmarkt sowie für die Reduzierung der Arbeitslosenquote gehandelt. 4 Es muß aber gesehen werden, daß sich bereits zahlreiche Arbeitgeber zur Erhaltung ihrer Wettbewerbsfähigkeit um eine Flexibilisierung und Reduzierung der Lohnkosten bemühen (müssen). I Zur Tenninologie vgl. Arbeitsrechtslexikonl Nebendahl, Vergütung (Grundzüge), 1., S. 1.; Peterl Peter, Der Entgeltanspruch, Rn 35. 2 Vgl. nur MünchArbRI Hanau, § 62, Rn 1; ZöllnerlLoritz, ArbR, § 151., S. 185. 3 Vgl. etwa Bovensiepen, ArbR 1922, Sp. 197-200; Lampe, FS Maurach, S. 375 (387389); Nevoigt, Schutz der Arbeitskraft, S. 96-111; Oertmann, DJZ 1913, Sp. 254-258; Silberschmidt, NZA 1922, Sp. 29 (29-31, 36); Sinzheimer, Schutz der Arbeitskraft, S. 360 (388 - 392). Zahlreiche Nachweise aus dem älteren Schrifttum bei Hahn, Arbeitsstrafrecht, S. 356 (Fn 158). 4 Vgl. etwa Buchner, RdA 1998, S. 265 (267 f.); v. Stebut, RdA 1997, S. 293 (293 f.).

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A. Einleitung

Diese Bemühungen münden nicht selten auch in Versuchen, sich der Verbindlichkeit von Tarifverträgen zu entziehen, um sodann einzelvertraglich niedrigere Arbeitsentgelte zu vereinbaren. Während einzelne ausländische Rechtsordnungen eine gesetzliche Mindestlohngarantie entwickelt habens, verzichtete der deutsche Gesetzgeber im Hinblick auf die grundrechtlich geschützte Tarifautonomie auf die generelle Regelung eines gesetzlichen Mindestlohns. Wenn es also an einer tarifvertraglichen Bindung der Arbeitsvertragsparteien fehlt oder überhaupt kein Lohntarifvertrag besteht, so ist die Entgelthöhe im Rahmen der Vertragsfreiheit frei verhandelbar. Der von den Arbeitgebern wegen zu hoher Arbeitskosten empfundene Druck wird dann häufig an die Arbeitnehmer weitergegeben und somit zu einem Druck auf die Löhne, dem sich die Arbeitnehmer angesichts der hohen Arbeitslosenquote oftmals nicht effektiv widersetzen können. Nicht selten kommt es vor, daß das im Rahmen der Vertragsfreiheit "ausgehandelte" Arbeitsentgelt vom Arbeitgeber einseitig bestimmt wurde, weil dem Arbeitnehmer nur die Wahl blieb, entweder das Arbeitsentgelt zu akzeptieren oder auf den Arbeitsplatz zu verzichten - wie ein Arbeitsrechtler so schön formulierte, "der Wind ist rauher geworden".6 Angesichts der teilweise immer niedriger werdenden Arbeitsentgelte wird zunehmend die Forderung nach einer gesetzlich geregelten Mindestlohngarantie erhoben. 7 Da der Gesetzgeber bislang noch nicht tätig geworden ist, kann nur durch die Rechtsprechung regulierend eingegriffen werden. 8 Ansatzpunkt für eine entsprechende richterliche Korrektur sind die zivilrechtlichen Generalklauseln. Die Arbeitsgerichte haben Entgeltvereinbarungen bisher vor allem am Maßstab von § 138 BGB überprüft. Geht man aber von der veröffentlichten Rechtsprechung der letzten Jahrzehnte aus, so werden die Arbeitsgerichte nur selten zur Überprüfung von Lohnvereinbarungen angerufen. 9 Ob daraus allerdings die Folgerung gezogen werden kann, daß (zu) niedrige Lohnvereinbarungen extreme Ausnahmefälle sind, erscheint zweifelhaft. Die geringe praktische Bedeutung dürfte vor allem auch darauf zurückzuführen sein, daß von der Rechtsprechung - anders als beim Miet- oder Kreditwucher - bisher keine allgemeinen Grundsätze entwickelt wurden, anhand derer das Vorliegen eines auffälligen Mißverhältnisses beurteilt werden könnte. Es besteht für die Arbeitsvertragsparteien 5 Überblick über die gesetzlichen Mindestlöhne in der EU bei Burgess, WSI-Mitt. 1999, S. 471 (481 f.); lWD-Online, 16. 7. 1998, S. 6 f. Weitere Nachweise unter B. 11. 2. c) aa), Fn. 133. 6 Reinecke, Sonderbeil. zu NZA H. 3/2000, S. 23 (30). 7 Vgl. nur Bieback, RdA 2000, S. 207 (209-211); Peter; Gesetzlicher Mindestlohn; dies., AuR 1999, S. 289 (295 f.); Schäfer, Empirische Überraschung, S. 83 (106 f.); Welzmüller, GMH 1985, S. 362 (370). 8 Ähnlich MünchArbR/ Hanau, § 63, Rn 2; Ramm, Anfechtung des Arbeitsvertrages, S.34. 9 Vgl. auch Peter, AuR 1999, S. 289 (290).

A. Einleitung

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eine erhebliche Rechtsunsicherheit, bis zu welcher Höhe ein Arbeitsentgelt noch als zulässig bzw. ab wann es als unzulässig zu qualifizieren ist. Im Zusammenhang mit der Wucherproblematik wird oftmals auch vergessen, daß der zivilrechtliche Wuchertatbestand des § 138 Abs. 2 BGB in § 291 Abs. 1 StGB eine strafrechtliche Korrespondenzvorschrift hat - was sicherlich auch darauf zurückzuführen ist, daß der strafrechtliche Wuchertatbestand generell nur ein "Schattendasein" führt. Um so spektakulärer ist die Entscheidung des 1. Strafsenats des BGH vom 22. 4. 1997 10 , mit der erstmalig eine strafrechtliche Sanktion gegen einen Arbeitgeber wegen Lohnwuchers vom obersten Gericht bestätigt wurde. Dieser Entscheidung kann auch ganz erhebliche Bedeutung für die arbeitsgerichtliche Kontrolle von Entgeltvereinbarungen zukommen, zumal sich die neueren Urteile der Arbeitsgerichte bereits auf die Wertung des BGH bei der Beurteilung eines auffälligen Mißverhältnisses zwischen Arbeitsleistung und -entgelt beziehen. Ausgehend von der Frage nach der grundsätzlichen Notwendigkeit eines richterlichen Schutzes vor zu niedrigen Löhnen (B.), sollen mit der vorliegenden Arbeit die bereits existierenden Leitlinien der arbeitsgerichtlichen Rechtsprechung zum Lohnwucher bzw. allgemein zu sittenwidrigen Arbeitsentgelten dargestellt und unter Berücksichtigung der Entscheidung des 1. Strafsenats des BGH weiterentwikkelt bzw. konkretisiert werden. Zu prüfen ist ferner, ob darüber hinaus über eine Angemessenheitskontrolle ein noch weitergehender Schutz vor niedrigen Arbeitsentgelten verwirklicht werden könnte. Da auch die niedrigen Arbeitsentgelte im Rahmen öffentlich geförderter Arbeitsverhältnisse kritisiert werden, ist der Frage nachzugehen, ob die bei "normalen", ungeförderten Arbeitsverhältnissen entwikkelten Grundsätze auf die Beurteilung von Arbeitsentgelten in geförderten Arbeitsverhältnissen übertragen werden können oder zu modifizieren sind. Schließlich bleibt zu klären, ob auch im tariflichen Bereich ein richterlicher Schutz vor (zu) niedrigen Tarifentgelten verwirklicht werden und ob ihm überhaupt praktische Bedeutung zukommen kann (C.). Unabhängig von der Frage, wie über die Gerichte ein effektiver Schutz vor unzureichenden Arbeitsentgelten verwirklicht werden kann, stellt die effektive Rechtsdurchsetzung ein generelles Problem dar. Denn während des bestehenden Arbeitsverhältnisses verzichten Arbeitnehmer in aller Regel auf eine gerichtliche Geltendmachung ihrer Ansprüche und erst recht auf die Erstattung einer Strafanzeige, um ihren Arbeitsplatz nicht zu gefährden. Um dieses tatsächliche Hindernis für einen effektiven Rechtsschutz zu beheben, müßte eine Rechtsdurchsetzung mit möglichst geringen Arbeitsplatzrisiken gewährleistet werden (D.).

10 BGH vom 22. 4. 1997, BGHSt. 43, S. 53 = AP Nr. 52 zu § 138 BGB = AuR 1997, S. 453 = OB 1997, S. 1670 =JR 1999, S. 164 = JZ 1998, S. 627 = NZA 1997, S. 1167.

B. Bedürfnis nach einem Mindestlohn Im internationalen Vergleich ist die Bundesrepublik Deutschland eine sehr reiche Gesellschaft mit einem hohen Lohnniveau.' Dennoch darf nicht übersehen werden, daß auch bei den hiesigen Arbeitnehmern die Einkommensunterschiede relativ groß sind und es Arbeitsverhältnisse mit zum Teil sehr niedrigen Arbeitsentgelten gibt. Die Problematik, ob und inwieweit niedrige Löhne als zu niedrig, unangemessen oder ungerecht zu bewerten sind, stand bislang jedoch nicht im Mittelpunkt der allgemeinen öffentlichen Auseinandersetzung. Soweit niedrige(re) Löhne zur Diskussion stehen, geht es zumeist um die Sicherung der Konkurrenzfähigkeit deutscher Unternehmen auf dem globalen Markt ("Standort Deutschland") und um die Senkung der Arbeitslosenquote. Dies erklärt sich daraus, daß die Löhne und Lohnnebenkosten als zu hoch und damit mitverantwortlich für Standortprobleme angesehen werden. 2 Niedrigere Löhne werden deshalb als Notwendigkeit für die Erhaltung der Wettberwerbsfähigkeit deutscher Unternehmen im globalen Markt gesehen; sie werden in einem Atemzug mit Wachstums-, Beschäftigungs- und Produktivitätssteigerung genannt. Hinsichtlich der hohen Arbeitslosigkeit ist auch zu berücksichtigen, daß hiervon vor allem die gering(er) qualifizierten Arbeitnehmer betroffen sind. Um die Arbeitslosigkeit bekämpfen zu können, wird deshalb vielfach der Ausbau eines Niedriglohnsektors für unumgänglich gehalten, etwa durch Einführung eines "Kombi-Lohnes", bei dem niedrigere Löhne durch staatliche Transferzahlungen ausgeglichen werden. 3 Es mehren sich jedoch inzwischen die Stimmen, die niedrige Löhne als wettbewerbsverzerrendes Sozialdumping und als Ursache für "Armut in der Arbeit" ("working poor") fürchten. 4 Bei "Armut in der Arbeit" geht es um die Fälle, in I Vgl. nur Bispinck, Tarifliche Niedrigeinkommen, S. 35; Flassbeck, WSI-Mitt. 1995, S. 699 (699, 702); Frieling, Sittlicher Mindestlohn?, S. 7 m. w. N. 2 So etwa bei Buchner, RdA 1998, S. 265: hohe Arbeitskosten wirken investitionshemmend. Fischer, BB 1994, S. 278 (279 f.); v. Stebut, RdA 1997, S. 293 (293 f.); anders Flassbeck, WSI-Mitt. 1995, S. 699 (702-704). 3 Vgl. hierzu Gunkel/KöllmannIKüpperIPeren, ArbGeb 1997, S. 392 (392 f.); Hundt, ArbGeb 1997, S. 384; Löwisch, AuA 1998, S. 119 (119 f.); Reß, ArbGeb 1998, S. 9 (10 f .); Stihl, BB 2oo0/H. 9, "Die erste Seite"; ZEW, Der Tagesspiegel vom 11. 11. 2000, S. 19. Kritisch Adamy I Steifen, Abseits des Wohlstands, S. 131 ff. (insbes. 135 - 138); Bäcker I Hanesch, WSI-Mitt. 1997, S. 701 (703-712); Sitte, GMH 1998, S. 36 (40 ff., insbes. 44-47). 4 So etwa AdamylSteifen, Abseits des Wohlstands, S. 108-114; Bäcker, Sozialer Fortschritt 1999, S. 241 (248 f.); Sitte, GMH 1998, S. 36 (37); Peter, GMH 1998, S. 90 (90 f.); Welzmüller, Niedrige Arbeitseinkommen, S. 129 (129-131).

I. Die "Probleme mit dem Lohnniveau"

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denen trotz Erwerbstätigkeit keine ausreichende Existenzsicherung erreicht werden kann. 5 Bereits seit Anfang der 90er Jahre äußerten die EU-Kommission und das EU-Parlament schwere Bedenken gegen "unangemessene" oder "ungerechte" Entgelte und forderten in mehreren Stellungnahmen und Entschließungen ein politisches Gegensteuern. 6 Deshalb wird auch in Deutschland in zunehmenden Maße die Notwendigkeit einer absoluten Untergrenze bei Arbeitsentgelten diskutiert. Inwieweit allerdings ein Bedürfnis dafür besteht, aufgrund des Sittenwidrigkeits- bzw. Wucherverbots oder sogar auf der Grundlage einer Angemessenheitskontrolle eine Art "richterlichen Mindestlohn" zu entwickeln, hängt entscheidend davon ab, ob tatsächlich teilweise (zu) niedrige Arbeitsentgelte gezahlt werden und ob die nach gegenwärtigen Recht bestehenden Schutzvorkehrungen ohne einen solchen "richterlichen Mindestlohn" nicht ausreichen (würden), um ein Mindestmaß an Entgeltgerechtigkeit her- bzw. sicherzustellen.

I. Die "Probleme mit dem Lohnniveau" Bevor im Folgenden auf das derzeitige Lohnniveau in der Bundesrepublik Deutschland bzw. auf die Existenz und den Umfang von Niedriglöhnen eingegangen wird, sollen zunächst die besondere Bedeutung der Entgelthöhe und der Einfluß des globalen Wettbewerbs auf die Arbeitsbedingungen aufgezeigt werden.

1. Bedeutung der Entgelthöhe Daß der Höhe des Arbeitsentgelts im wirtschafts- und sozialpolitischen Bereich soviel Aufmerksamkeit gewidmet wird, erklärt sich nicht zuletzt aus der zentralen Bedeutung, die dem Arbeitsentgelt für die Arbeitnehmer einerseits und die Unternehmer anderseits zukommt. Auch in der heutigen Zeit benötigt die ganz überwiegende Mehrzahl der Arbeitnehmer das Arbeitsentge1t zur Sicherung ihrer Existenzgrundlage sowie der ihrer Familien. 7 Zwar hat der Wohlstand in den letzten Jahrzehnten insgesamt zugenommen; dennoch kann man kaum behaupten, daß beim Arbeitsentgelt der Aspekt der Existenzsicherung in den Hintergrund getreten ist. 8 Neben der bloßen Existenzsicherung spielen auch die Verbesserung des Lebensstandards und die Mehrung des Welzmüller; Niedrige Arbeitseinkommen, S. 129. Vgl. etwa Stellungnahme der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, ABI. EG Nr. C 248, S. 7 -9; Entschließung des Europäischen Parlaments, ABI. EG Nr. C 115, S. 4447. 7 Vgl. nur v. Amim, Die Verfallbarkeit, S. 47; Fastrich, RdA 1997, S. 65 (75); Hildebrandt, Inhaltskontrolle im ArbR, S. 97; Peterl Peter; Der Entgeltanspruch, Rn 5. 8 Ebenso Hildebrandt, Inhaltskontrolle im ArbR, S. 97 f. 5

6

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B. Bedürfnis nach einem Mindestlohn

Wohlstands eine erhebliche Rolle, zu deren Verwirklichung dem Arbeitnehmer regelmäßig nur das Arbeitsentgelt als wichtigste Einkommensquelle zur Verfügung steht. 9 Die Entgelthöhe hat insoweit entscheidenden Einfluß darauf, in welchem Ausmaß der einzelne Beschäftigte und seine Familie am jeweils erreichten gesellschaftlichen Wohlstand partizipieren können. Ein weiterer wichtiger Gesichtspunkt ist die Altersvorsorge, die ebenfalls im wesentlichen mittels des Arbeitsentgelts, nämlich in Form von Abzügen der Sozialversicherungsbeiträge, gesichert wird. Nur durch ein weitgehend kontinuierliches sozial versicherungspflichtiges Arbeitsverhältnis mit mittlerer Einkommenshöhe kann ein existenzsicherndes Alterseinkommen gewährleistet werden. Das gleiche gilt für Einkommens-Transfers im Falle von Arbeitslosigkeit, da deren Höhe ebenfalls am vorangegangenen individuellen Arbeitsentgelt bemessen wird. \0 Dem Interesse der Arbeitnehmer an einem möglichst hohen Arbeitsentgelt steht das entgegengesetzte Interesse der Unternehmer gegenüber. Aus deren Sicht stellen sich die Lohnkosten als erstrangiger Kostenfaktor dar, dessen Höhe maßgeblichen Einfluß auf die Wettbewerbsfähigkeit des Unternehmens hat ll und den es daher auch so niedrig wie möglich zu halten gilt. 12 Zur Erhaltung der Wettbewerbsfähigkeit im globalen Markt werden niedrigere Löhne vielfach als unumgänglich angesehen. Allerdings sind die Unternehmen durchaus auch zur Zahlung von höheren Arbeitsentgelten bereit; die (Differenzierung in der) Entgelthöhe dient nämlich auch als Mittel zur Gewinnung und Erhaltung geeigneter Arbeitskräfte sowie zur Erhöhung der Leistungsbereitschaft. 13 Eine derartige Entgeltdifferenzierung ist aber vor allem für kleinere Unternehmen - nur möglich, wenn ein gewisser finanzieller Spielraum für leistungsbezogene Vergütungen verbleibt. Dies ist nur dann der Fall, wenn das unterste Lohnniveau nicht zu hoch angesetzt wird. Diese gegenläufigen Interessen von Unternehmern und abhängig Beschäftigten kennzeichnen die sozial- und wirtschaftspolitische Diskussion um die Entgelthöhe.

2. Einfluß der Globalisierung Bei der Auseinandersetzung mit dem Niveau der Arbeitsentgelte in Deutschland muß bedacht werden, daß die deutschen Unternehmen angesichts der offenen Märkte und des intensiven Wettbewerbs unter einem erheblichen wirtschaftlichen Vgl. auch Hildebrandt, Inhaltskonrolle im ArbR, S. 98. Vgl. hierzu AdamylHanesch, Erwerbsarbeit und soziale Ungleichheit, S. 161 (176178); Welzmüller; Niedrige Arbeitseinkommen, S. 129 ( 134). 11 Siehe Zöllner; ZfA 1993, S. 169; ferner PeterlPeter; Der Entgeltanspruch, Rn 1; v. Stebut, RdA 1997, S. 293. 12 So Däubler; ArbR 1, Rn 32; Peterl Peter; Der Entgeltanspruch, Rn 6; v. Stebut, RdA 1997, S. 293; ZöllnerlLoritz, ArbR, § 1. 1. 1. a), S. 2. 13 Vgl. etwa Peterl Peter; Der Entgeltanspruch, Rn 6; Zöllner; ZfA 1993, S. 169. 9

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I. Die "Probleme mit dem Lohnniveau"

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Druck stehen und dies zunehmend auch Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt hat. Denn soweit arbeitsrechtliche Standards Kosten verursachen, folgt fast unweigerlich der Vorwurf einer "marktwidrigen" Weubewerbsbeschränkung. Dies gilt um so mehr, je geringer die Handelshemmnisse gegenüber ausländischen Produzenten sind und infolgedessen die Konkurrenz auf dem Markt steigt. 14 Dabei werden in der Bundesrepublik Deutschland vor allem auch die hohen Löhne als Standortbzw. Wettbewerbsnachteil gewertet. 15 Zwar kann die Bundesrepublik trotz relativ hoher Löhne eine Reihe von Standortvorteilen vorweisen, etwa qualifizierte Arbeitskräfte, eine gut ausgebaute Infrastruktur, gutes soziales Klima u. v. m. 16 Gleichwohl gerät die Bundesrepublik durch die verschärfte Weltmarktkonkurrenz unter Druck. Die niedrigen Lohn- und Lohnnebenkosten, niedrigeren sozialen Standards etc. ennöglichen "Billigangebote" ännerer Länder. 17 Um die Wettbewerbsfähigkeit zu erhalten oder gar zu steigern, nutzen Unternehmen aus Ländern mit hohen Lohn- und Lohnnebenkosten die niedrigen Sozialstandards ännerer Länder aus, indem sie in "Billiglohnländern" produzieren. 18 Das gilt insbesondere für arbeitsintensiv produzierende Unternehmen. 19 Für die Arbeitnehmer in der Bundesrepublik Deutschland bedeutet eine solche (mögliche) Produktionsverlagerung in das Ausland, daß sie entweder eine Einschränkung der sozialen Standards akzeptieren oder aber - zumindest auf längere Sicht - mit einem Verlust des Arbeitsplatzes rechnen müssen. Ein typisches Beispiel hierfür bietet der dem Beschluß des ArbG Marburg zugrunde liegende Sachverhalt, nach dem die Finna Viessmann nur deshalb auf eine Verlagerung der Produktion nach Tschechien verzichtete, weil sich die deutsche Belegschaft mit einer Verlängerung der Wochenarbeitszeit ohne Lohnausgleich "im Tausch" gegen eine Arbeitsplatzgarantie für drei Jahre einverstanden erklärt hatte (sog. "Bündnis für Arbeit")?O Keinesfalls weniger problematisch als eine Produktionsverlagerung in das Ausland ist es, wenn ausländische Unternehmen aus änneren Ländern ihre Arbeitnehmer vorübergehend - etwa für Saisonarbeit oder in Produktionsspitzenzeiten - in die Bundesrepublik entsenden. Durch Rechtswahl können die Arbeitgeber das für sie günstigere Arbeitsvertragsstatut des Heimatlandes vereinbaren (Art. 30 Abs. 1 Vgl. Däubler; ArbR 1, Rn 62. Vgl. etwa Buchner; RdA 1998, S. 265: hohe Arbeitskosten sind ein Investitionshemmnis; Fischer; BB 1994, S. 278 (279 f.): Löhne und Gehälter müssen am internationalen Wettbewerb orientiert werden; v. Stebut, RdA 1997, S. 293 (293 f.). Vgl. aber Rieble, Arbeitsmarkt, Rn 287 f.: Nachteil ist wettbewerbskonform. 16 Däubler; ArbR 1, Rn 63; ausführlich ders., DB 1993, S. 781-787. 17 Siehe nur Däubler; ArbR 1, Rn 66. 18 Vgl. Müller; Die Entsendung, S. 24 f. Kritisch Däubler; ArbR 1, Rn 66. Dagegen ausdrücklich billigend Rieble, Arbeitsmarkt, Rn 334. 19 Vgl. etwa Müller; Die Entsendung, S. 24 f.; WortmannlOesterheld, Produktionsverlagerungen, S. 53 (55). 20 V gl. ArbG Marburg vom 7. 8. 1996, NZA 1996, S. 1331; ArbG Marburg vom 7. 8. 1996; NZA 1996, S. 1337. Ferner ArbG Frankfurt a. M. vom 28. 10. 1996, NZA 1996, S. 1340. 14

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B. Bedürfnis nach einem Mindestlohn

i. V. m. Art. 27 Abs. I EGBGB). Mangels Rechtswahl findet nach den kollisionsrechtlichen Regeln des Internationalen Arbeitsrechts gemäß Art. 30 Abs. 2 Nr. I EGBGB auf das Arbeitsverhältnis zwischen dem ausländischen Arbeitgeber und seinem voriibergehend in die Bundesrepublik entsandten Arbeitnehmer ohnehin das Arbeitsrecht des Heimatlandes Anwendung 21 ; es gelten für sie weiterhin die dort üblichen Löhne, die oftmals nicht einmal die Hälfte der in Deutschland üblichen Arbeitsentgelte ausmachen,z2 Auf diese Weise wird das unterschiedliche Niveau der Arbeitsbedingungen und die sich hieraus ergebenden niedrigeren Arbeitskosten als günstige Marktposition ausgenutzt. Die deutschen Unternehmen stehen oftmals vor der Alternative, entweder "die Segel zu streichen" oder sich eines ausländischen Subunternehmens zu bedienen. 23 Dies ist die typische Konstellation, die gemeinhin als "Lohn- oder Sozialdumping" bezeichnet wird: statt die Arbeiten durch die eigenen (deutschen) Arbeitnehmer durchführen zu lassen, schaltet ein inländisches Unternehmen ein fremdes Unternehmen (sog. Subunternehmen) und dessen Arbeitnehmer ein, da diese wegen geringerer Lohnkosten preiswerter arbeiten können. 24 Die Konsequenz ist, daß derartige Unternehmen durch den Einsatz ausländischer Subunternehmen Kostenvorteile haben und Unternehmen mit "normalen" Lohnkosten und somit mittelbar auch die deutschen Arbeitnehmer verdrängt werden,z5 Die europaweite Wettbewerbsfreiheit auf dem Arbeitsmarkt aufgrund der Freizügigkeit der Arbeitnehmer nach Art. 39 EGV und der Niederlassungsfreiheit gemäß Art. 43 EGV sowie der Dienstleistungsfreiheit nach Art. 49 EGV für Selbständige und Unternehmen bildet insoweit die legale Grundlage für einen derartigen Unterbietungswettbewerb. 26 Neben dem Einsatz solcher "entsandten Arbeitnehmer" gibt es noch die Beschäftigung Illegaler, bei denen die Arbeitsbedingungen noch weitaus schlechter sind und dementsprechend auch der "Unterbietungseffekt" noch größer ist. 27 Bezeichnen-

21 Deshalb kann in diesen Fällen ein Günstigkeitsvergleich nach Art. 30 Abs. I EGBGB nicht zu einer besseren Stellung des Arbeitnehmers führen. Vgl. hierzu Deinert, RdA 1996, S. 339 (341). - Allgemein zum Arbeitskollisionsrecht vgl. Müller, Die Entsendung, S. 109 ff. (112-116, 119-122); Schaub, ArbR-Hdb, § 6, Rn 9-29; ZöllnerlLoritz, ArbR, § 9 III., S. 135 -138. 22 Däubler, ArbR I, Rn 68. Bezogen auf die Baubranche: Däubler, DB 1995, S. 726; KoberskilSahllHold, AEntG, 3; Mayer, BB 1993, S. 1428 (1429). 23 V gl. Däubler, DB 1995, S. 726. 24 Hierzu etwa Däubler; DB 1995, S. 726; Rieble, Arbeitsmarkt, Rn 305, zu den einzelnen Erscheinungsformen vgl. Rn 306-309. Kritisch zum "Dumping"-Begriff, da es hierbei nur um Ausnutzung bestehender Wettbewerbs vorteile und nicht um ein Anbieten unter Wert geht: Berthold, Sozialunion in Europa, S. 36; Gerkenl Löwischl Rieble, BB 1995, S. 2370. 25 Hierzu Rieble, Arbeitsmarkt, Rn 305. Ferner Koberskil Sahll Hold, AEntG, Ein!., Rn 14. 26 Vgl. auch Blanke, AuR 1999, S. 417 (418); Deinert, RdA 1996, S. 339 (340). Für ausländische Arbeitnehmer aus Nichtmitgliedstaaten der EU besteht hingegen das Erfordernis der Arbeitsgenehmigung nach § 284 Abs. 1 Satz SGB 111. 27 Hierzu Däubler, DB 1995, S. 726; Deinert, RdA 1996, S. 339 (340).

1. Die "Probleme mit dem Lohnniveau"

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derweise sollen im Jahr 1996 etwa 190.000 deutsche Bauarbeiter arbeitslos gewesen sein, während mindestens 200.000 "Billigarbeitnehmer" aus anderen EU-Staaten sowie aus den Ländern Mittel- und Osteuropas zu untertariflicher Bezahlung legal oder illegal - tätig geworden sind. 28 Mitunter werden die Zahlen noch höher geschätzt. 29 Inzwischen wird dieses ("Dumping"-)Problem zumindest auf dem Bausektor mit Hilfe des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes (AEntG) bekämpft. 3o Jedoch haben auch andere Branchen, wie etwa das Hotel- und Gaststättengewerbe, große Schwierigkeiten mit dem Sozialdumping und der illegalen Beschäftigung. 31 Der Konkurrenzkampf mit ausländischen Unternehmen, die wegen geringerer Lohnkosten wesentlich günstigere Preise als deutsche Unternehmen mit "normalen" Lohnkosten bieten können, führt aber nicht nur dazu, daß die inländischen Unternehmen entweder ein ausländisches Subunternehmen einschalten oder samt dazugehöriger Arbeitnehmer verdrängt werden. Vielmehr kann der durch den Preisunterschied erzeugte Wettbewerbsdruck auch dazu führen, daß deutsche Unternehmen selbst "billigere" Arbeitskräfte einsetzen32 , um konkurrenzfähig zu bleiben. Ein typisches Beispiel hierfür bietet der Einsatz ausländischer Grenzgänger oder Saisonarbeiter aus Niedriglohnländern, da diese häufig für niedrigere Löhne als den in Deutschland üblichen arbeiten (können), weil sie anders als die deutschen Arbeitnehmer nicht den erhöhten Lebenshaltungskosten ausgesetzt sind. Zwar findet - anders als bei entsandten Arbeitnehmern - mangels Rechtswahl nach Art. 30 Abs. 2 Nr. 1 EGBGB das deutsche Recht Anwendung 33 und auch im Falle der Rechtswahl wäre die Schutzvorschrift des Art. 30 Abs. 1 EGBGB zu beachten. Darüber hinaus erklärt Art. 34 EGBGB zwingende Bestimmungen für beachtlich. 34 In Deutschland existiert jedoch kein gesetzlich garantierter Mindestlohn, und auch die in Tarifverträgen festgelegten Entgeltregelungen finden mangels beiderseitiger Tarifbindung (§§ 3,4 Abs. 1 TVG) keine zwingende Anwendung 35 , so 28 Hickl, NZA 1997,513 (513 f.); Angaben zu den divergierenden Stundenlöhnen bei Deinert, RdA 1996, S. 339 (S. 339 a. E. und Fn 2); Müller, Die Entsendung, S. 24. 29 So etwa Böhm, NZA 1999, S. 128 (129); PohllSchäfer, Niedriglöhne (Vorwort), S. 9; Schäfer, Armut trotz Arbeit, S. 57 (58). 30 Hierzu unter B. II. 2. c) aa) (4). 31 Vg!. Hold, AuA 1996, S. 113 (117); KoberskilSahllHold, AEntG, Ein!., Rn 10; Peter, GMH 1998, S. 90 (92). Kritisch zur Beschränkung des AEntG auf den Bausektor auch Deinert, RdA 1996, S. 339 (352). 32 Vg!. auch Mayer, BB 1993, S. 1428 (1429); Müller-Gugenberger I Heitmann, WiStR, § 37, Rn 5. 33 Vg!. allgemein Palandtl Heldrich, Art. 30 EGBGB, Rn 7; speziell zu Grenzgängern siehe Wethl Kerwer, RdA 1998, S. 233 (236 f.). 34 Zum Verhältnis von Art. 30 Abs. 1 und Art. 34 EGBGB vg!. Müller, Die Entsendung, S.119-122. 35 Zumindest der ausländische Arbeitnehmer wird nicht tarifgebunden sein. Zur Frage, ob eine Erstreckung tariflicher Regelungen auf ausländische Arbeitnehmer im Wege einer All-

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B. Bedürfnis nach einem Mindestlohn

daß sich die Lohnhöhe aus dem Vertragsstatut ergibt und die Vertragsparteien mangels zwingender Vorgaben an keine Mindestlohnhöhe gebunden sind. Wenn auch EU-Ausländer nach Art. 7 Abs. 1 der Freizügigkeitsverordnung (EWG) Nr. 1612/ 68 36 einen Diskriminierungsschutz hinsichtlich der Entlohnung genießen und für die nicht aus EU-Staaten stammenden Arbeitnehmer über das Erfordernis einer Arbeitsgenehmigung sichergestellt werden soll, daß sie nicht zu schlechteren Arbeitsbedingungen als vergleichbare deutsche Arbeitnehmer beschäftigt werden (vgl. § 285 Abs. 1 Nr. 3, § 286 Abs. I Nr. 2 SGB III), so hat die Praxis doch gezeigt, daß sich der bezweckte Schutz nicht immer verwirklichen läßt. 37 Der durch den Einsatz "billiger Arbeitskräfte aus dem Ausland" mögliche Unterbietungswettbewerb führt letztlich auch dazu, daß teilweise die Sozialstandards inländischer Arbeitskräfte abgesenkt und ihnen niedrigere Löhne gezahlt werden. Um nämlich wettbewerbsfähig bleiben zu können, bemühen sich allgemein deutsche Unternehmen in zunehmenden Maße um eine Flexibilisierung und Reduzierung der Lohnkosten. Dabei beschränken sich entsprechende Bemühungen nicht nur auf die Entwicklung und Einführung flexibler Arbeitszeit- und Lohnmodelle; vielmehr wird nicht selten versucht, sich - etwa durch Tarifflucht 38 , sog. betriebliche Bündnisse für Arbeie 9 , Ausgründungsmodelle (sog. Outsourcing)4o oder eine Mitgliedschaft in Arbeitgeberverbänden ohne Tarifbindung (sog. OT-Mitgliedschaften)41 - der Verbindlichkeit der Flächentarifverträge zu entziehen. Aber selbst in der Baubranche ist trotz allgemeinverbindlicher Tarifverträge und des AEntG eine untertarifliche Entlohnung der Bauarbeiter nach wie vor weit verbreitet. 42 Der von den Arbeitgebern wegen hoher Lohnkosten empfundene Druck wird oftmals zu einem Druck auf die Löhne. Angesichts der "billigeren Arbeitskräfte" gemeinverbindlicherklärung möglich ist, vgl. etwa Däubler; DB 1995, S. 726 (727); Deinert, RdA 1996, S. 339 (344-347) jeweils m. w. N. 36 Abgedruckt bei Däubler/Kittner/Lörcher; Intern. ArbuSoz02 , Nr. 411, S. 951. 37 Dies wird durch den der Entscheidung des BGH vom 22. 4. 1997, BGHSt 43, S. 53 zugrundeliegenden Sachverhalts deutlich belegt. 38 Hierzu Bauer/Diller; DB 1993, S. 1085; Däubler; ZTR 1994, S. 448; ders., NZA 1996, S. 225; Feger; AiB 1995, S. 490. 39 Vgl. BAG vom 20. 4. 1999, AuR 1999, S. 408; ArbG Marburg vom 7. 8. 1996, NZA 1996, S. 1331; ArbG Marburg vom 7. 8. 1996, NZA 1996, S. 1337; ArbG Frankfurt a. M. vom 28. 10. 1996, NZA 1996, S. 1340; Bauer; NZA 1999, S. 957; Bepler; AuA 1999, S. 558 (558 f.); Walker; FS Wiese, 1998, S. 603 (604 f.). 40 Hierzu Bauer; NZA 1999, S. 957 (961 f.); Bauer/Diller; DB 1993, S. 1085 (1088 f.); Däubler; ZTR 1994, S. 448 (454 f.); ders., NZA 1996, S. 225 (232 f.); Feger; AiB 1995, S. 490 (504); Rieble, Arbeitsmarkt, Rn 1254. 41 Vgl. BAG vom 24. 2. 1999, NZA 1999, S. 995 = RdA 2000, S. 104 mit Anm. von Zachert, a. a. 0., S. 107 (108) = SAE 2000, S. 141 mit Anm. (und Darstellung der möglichen Gestaltungsvarianten der OT-Mitgliedschaft) von Besgen, a. a. 0., S. 144-149. Weitere Literaturnachweise bei Schaub, ArbR-Hdb, § 206, Rn 25 (Fn 40). Ausführlich zu dieser Problematik Besgen, Mitgliedschaft ohne Taritbindung; Ostrop, Mitgliedschaft ohne Taritbindung. 42 Vgl. auch Opolony, BB 2000, S. 510.

I. Die "Probleme mit dem Lohnniveau"

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aus dem Ausland und der hohen Arbeitslosigkeit in Deutschland sind in zunehmendem Maße auch deutsche Arbeitnehmer (mehr oder weniger freiwillig) bereit, ein Arbeitsverhältnis zu schlechteren Konditionen als den jeweils branchenüblichen einzugehen. So sollen etwa in der Baubranche neben den entsandten und illegal beschäftigten Ausländern teilweise auch deutsche Arbeitnehmer einen Stundenlohn von nur 5 DM erhalten haben. 43 Mit der vorliegenden Arbeit soll nicht der Frage nachgegangen werden, inwieweit das soziale Dumping (durch den Einsatz) ausländischer Firmen mit Billigarbeitskräften unterbunden werden kann. 44 Vielmehr soll problematisiert werden, ob und wie zum Schutz derjenigen (inländischen und ausländischen) Arbeitnehmer, die in der Bundesrepublik von einem dort ansässigen Unternehmen beschäftigt werden, eine unterste Entgeltgrenze geschaffen werden muß bzw. kann.

3. Realität (zu) niedriger Löhne Da die Bundesrepublik im internationalen Vergleich nach wie vor als "Hochlohnland" gilt45 , besteht die Vorstellung, daß man im allgemeinen von einer angemessenen Vergütung für abhängig Beschäftigte ausgehen könne und die Arbeitnehmer in der Lage seien, einen Lohn im Bereich des Üblichen zu erhalten.46 Gleichwohl ist der übliche Lohn nicht notwendig ein Garant dafür, daß dieser auch "gerecht" oder "angemessen" ist. 47 Dabei wird gerade bei Vollzeittätigkeit erwartet, daß ein existenzsicherndes Entgelt gezahlt wird. 48 Soweit dem Arbeitsentgelt die Funktion einer nicht nur ausreichenden, sondern angemessenen Existenzsicherung beigemessen wird, soll dieses auf jeden Fall oberhalb des Sozialhilfeniveaus liegen. 49 Wann allerdings genau ein Arbeitsentgelt niedrig, unangemessen oder unzureichend ist, kann nicht anhand einer starren Größe gemessen werden. In der wissenschaftlichen Diskussion um Niedrigeinkommen wird deshalb ein relativer Maßstab zugrundegelegt. 5o Dabei haben empirische Untersuchungen ergeben, daß in Angaben nach Schäfer, Armut trotz Arbeit, S. 57 (58). Vgl. zu dieser Problematik z. B. Däubler, DB 1995,726-731; ausführlich Müller, Die Entsendung; Mayer, BB 1993, 1428-1431; Rieble, Arbeitsmarkt, Rn 305 -338. Die Ausführungen beziehen sich zwar auf den Bausektor (z. T. noch auf die Zeit vor Erlaß des AEntG), jedoch gelten sie für andere Bereiche entsprechend. 45 Siehe nur BäckerlHanesch, Niedrigeinkommen, S. 79; Bispinck, Tarifliche Niedrigeinkommen, S. 35; Flassbeck, WSI-Mitt. 1995, S. 699 (699, 702); Frieling, Sittlicher Mindestlohn?, S. 7 (m. w. N. in Fn 7); v. Stebut, RdA 1997, S. 293. Vgl. auch das Schaubild bei Clasen, BAB!. 1999, S. 5 (9). 46 So etwa Frieling, Sittlicher Mindestlohn?, S. 7. 47 Vg!. auch Heinsius, Rechtsgut des Wuchers, S. 113; Renzikowski, Anm. zu BGHSt vorn 22.4. 1997, IR 1999, S. 166 (169). 48 So insbesondere Peter, Mindestlohn ohne Gesetz?, S. 241 (242); Peterl Peter, Der Entgeltanspruch, Rn 176. 49 Peter, Gesetzlicher Mindestlohn, S. 21. 43

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B. Bedürfnis nach einem Mindestlohn

der Bundesrepublik Deutschland die Anzahl von Niedriglöhnen generell gestiegen ist und sich ganze Niedriglohnsektoren entwickelt haben. 51 Bereits seit Anfang der 90er Jahre befürchteten die EU-Kommission und das EU-Parlament im Zuge des verschärften Wettbewerbs innerhalb der Europäischen Union "unangemessene" oder "ungerechte" Arbeitsentgelte. Zur Überprüfung dieser Befürchtungen setzte die EU-Kommission Ende 1990 eine internationale Expertengruppe ein, die eine Bestandsaufnahme über zu niedrige Arbeitseinkommen vornehmen sollte. 52 Als Maßstab für die Annahme von Niedriglöhnen oder sogar "Armut in der Arbeit" ("working poor") wurden Schwellenwerte ermittelt, welche in einem bestimmten Prozentverhältnis unterhalb des nationalen Einkommensmedian 53 liegen. Ein zu niedriges Einkommen wird durch Unterschreiten eines Schwellenwertes definiert. Bis zum Schwellenwert von 50 % des Durchschnitts aller sozialversicherungspflichtigen Vollzeiteinkommen ist danach von "Armut in der Arbeit" auszugehen. 54 Dieser Schwellenwert ist inzwischen von der EU-Kommission sowie anderen supranationalen Einrichtungen als Maßstab für Einkommensarmut anerkannt. Auch in der wissenschaftlichen Diskussion über "Armut in der Arbeit" wird der 50 %-Schwellenwert allgemein als Armutsgrenze gebraucht. 55 Der Bereich der Niedriglöhne wird jedoch etwas höher angesetzt - er reicht bis zum Schwellenwert von 66 % des Durchschnitts aller sozial versicherungspflichtigen Vollzeiteinkommen. Dieser Grenzwert ist an die Spruchpraxis des Sachverständigenausschusses zu Art. 4 der Europäischen Sozialcharta (ESC) angelehnt, wonach nur diejenige Vergütung als "angemessenes Arbeitsentgelt" im Sinne von Art. 4 ESC angesehen wird, die über 68 % des nationalen Durchschnittslohns liegt (Condu50 Vgl. Peter; Gesetzlicher Mindestlohn, S. 21; Welzmüller, Niedrige Arbeitseinkommen, S. 129 (139): Maßgebend ist der Abstand zum jeweils erreichten gesellschaftlichen Lebensstandard. 5! Vgl. die Daten bei Schäfer, WSI-Mitt. 1991, S. 711 (715 -720); ders., Armut trotz Arbeit, S. 57 (61-71); ders., Empirische Überraschung, S. 83 (92-104); für den tariflichen Bereich vgl. Bispinck, Tarifliche Niedrigeinkommen, S. 35 (41-49). 52 Darstellung der wichtigsten Ergebnisse in teilweise aktualisierter Form: Schäfer, WSIMitt. 1991, S. 711 (712-720). Schäfer war als Mitglied des Gremiums mit der Erstellung des Gutachtens über Niedriglöhne in der Bundesrepublik Deutschland betraut. 53 Der Einkommensmedian ist das Einkommen, das die eine Hälfte der Einkommensbezieher mit ihren Arbeitseinkommen unterschreitet, die andere Hälfte aber überschreitet. Der Median stellt dabei den l00%-Maßstab bzw. das Standardeinkommen dar und vermittelt einen Maßstab für einen repräsentativen Einkommens- bzw. Lebensstandard. Vgl. Schäfer, WSI-Mitt. 1991, S. 711 (712). 54 Schäfer, WSI-Mitt. 1991, S. 711 (712 f.). 55 Vgl. etwa Adamy I Steffen, Abseits des Wohlstands, S. 84 f.; Bäcker, Sozialer Fortschritt 1999, S. 241 (242); BäckerlHanesch, Niedrigeinkommen, S. 203; Peter, Gesetzlicher Mindestlohn, S. 22; Schäfer, WSI-Mitt. 1991, S. 711 (713); ders., Armut trotz Arbeit, S. 57 (59); ders., Empirische Überraschung, S. 83 (90); Sitte, GMH 1998, S. 36 (37); kritisch aber Andreß, Leben in Armut, S. 82.

I. Die "Probleme mit dem Lohnniveau"

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sions V).56 Zwar wurde von der damaligen Expertengruppe noch ein 80 %Schwellenwert verwandt57 ; als Niedriglohn- und Annutsgrenze werden jedoch mittlerweile in erster Linie die Schwellenwerte von 50 % und 66 bzw. heute 68 % angesetzt. 58 Für das Jahr 1986 wurde der geschätzte Durchschnittsverdienst aller Wirtschaftssektoren in der Bundesrepublik Deutschland mit 3.098 DM brutto (inklusive etwaiger Einmalzahlungen) beziffert59, so daß die 50 %-Grenze bei 1.549 DM und die 66 %-Grenze bei 2.045 DM lag. Nach den Ergebnissen der Expertenkommission erhielten in der Bundesrepublik Mitte der 80er Jahre von 17 Millionen sozialversicherungspflichtigen Vollzeitbeschäftigten über eine Million einen Niedriglohn, der unterhalb der Grenze zur Einkommensarmut lag. Ein Arbeitseinkommen unterhalb des 66 %-Schwellenwertes mußten sogar 2,3 Millionen akzeptieren. 60 Nach einer neueren und differenzierteren Untersuchung von 1997 mußten 1990 von rund 18,6 Millionen sozial versicherungspflichtigen Vollzeitbeschäftigten mehr als zwei Millionen einen Niedriglohn unterhalb des 50 %- und über fünf Millionen einen Niedriglohn unterhalb des 68 %-Schwellenwertes hinnehmen. 61 Auch 1992 belief sich die Zahl der Vollzeitbeschäftigten, die weniger als die Hälfte des Durchschnittseinkommens verdienten und somit als arm gelten, nach wie vor auf rund zwei Millionen. 62 Hinzu kommt, daß die Niedriglöhne nicht alle nur knapp unter dem 50 %-Schwellenwert liegen. Vielmehr existieren sogar Niedrigsteinkommen, bei denen trotz Vollzeittätigkeit nicht einmal mehr 20 % des Durchschnittseinkommens erreicht werden. Dieser Niedriglohnbereich hat sich seit 1975 sogar verdreifacht. Aber auch die Zahl der Vollzeitbeschäftigten, die nur zwischen 20 und 50 % des Durchschnitts verdienen, ist gestiegen. 63 Dabei sind 56 Schäfer; WSI-Mitt. 1991, 711 (713). Art. 4 Abs. 1 ESC formuliert "Das Recht der Arbeitnehmer auf ein Arbeitsentgelt ... , weIches ausreicht, um ihnen und ihren Familien einen angemessenen Lebensstandard zu sichern." Das gerechte Arbeitsengelt wird in Conclusions V zu Arl. 4 Abs. 1 ESC konkretisiert: "Gemessen am jeweiligen nationalen Durchschnittslohn soll ein Niveau von 68% erreicht werden." Siehe hierzu auch unten B. H. 2. c) aa). 57 Schäfer; WSI-Mitt. 1991, S. 711 (712 f.). 58 Vgl. Schäfer; Empirische Überraschung, S. 83 (90). 59 Angaben nach einem Bericht der Bundesregierung, vgl. bei Däubler I Kittner I Lörcher; Intern. ArbuSoz0 1, Nr. 320, III. (3), S. 585. 60 Vgl. dazu im einzelnen Schäfer; WSI-Mitt. 1991, S. 711 (715 -720). Die Zahl der Niedriglohnbezieher wäre noch größer, wenn als Bezugspunkt für die Schwellenwerte nicht der Einkommensmedian aller Vollzeitbeschäftigten, sondern nur der Einkommensmedian von vollzeitbeschäftigten Männem zugrunde gelegt worden wäre. Schäfer; a. a. 0., S. 719 f. 61 Schäfer; Empirische Überraschung, S. 83 (92-94). Anders als bei der internationalen Expertengruppe wird als Standardeinkommen nicht der Einkommensmedian, sondern das arithmetische Mittel zugrunde gelegt, weil hierbei das Gewicht besonders hoher Einkommen trotz geringer Fallzahl der entsprechenden Einkommensbezieher in der Berechnung berücksichtigt werden kann. Ein Vergleich der Ergebnisse mit denen der Expertenkommission ist daher nur bedingt möglich. Vgl. Schäfer; a. a. 0., S. 91. 62 Sitte, GMH 1998, S. 36 (37). 63 Vgl. hierzu im einzelnen Schäfer; Empirische Überraschung, S. 83 (102 f.).

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insbesondere Frauen und in Dienstleistungsberufen Tätige von Niedriglöhnen betroffen64 : 76 % aller ganzjährig vollzeitbeschäftigten Niedriglöhner sind Frauen und knapp 72 % aller Niedriglohnbezieher stammen aus Dienstleistungsbereichen. 65 Gleichwohl läßt sich das Problem niedriger Löhne nicht als bloßes "Frauenproblem" verstehen. 66 Denn Niedriglöhne sind in bestimmten Wirtschaftszweigen, vor allem im Handel, Nahrungs- und Genußmittelgewerbe, Textil- und Bekleidungsgewerbe generell besonders stark verbreitet67 , so daß auch Männer, insbesondere Arbeiter hiervon betroffen sind. 68 Der Anteil der männlichen Niedriglohnbezieher ist sogar gestiegen. 69 1995 belief sich der Anteil der Männer an den vollzeitbeschäftigten Arbeitnehmern mit einem Bruttomonatseinkommen von 2.000 DM bis 3.000 DM bereits auf zwei Dritte1. 7o Daneben erhalten auch jüngere Beschäftigte (insbesondere unter 20 Jahren) sowie Beschäftigte über 64 Jahren häufig nur niedrige Löhne. 71 Schließlich ist ein Rückgang der "Normal"-Arbeitsverhältnisse, also der Vollzeitbeschäftigungen zu verzeichnen, während atypische Beschäftigungsverhältnisse zunehmen72 und häufig mit besonders niedrigen Vergütungen einhergehen. Bereits ein Drittel aller abhängigen Arbeitsplätze sind atypische Beschäftigungsverhältnisse. 73 Wären bei den Untersuchungen über das Ausmaß von Niedriglöhnen neben den Vollzeitbeschäftigten auch Teilzeitbeschäftigte berücksichtigen worden, wäre das Ergebnis noch gravierender ausgefallen?4 Die Möglichkeit der Arbeitnehmer, einen existenz sichernden Verdienst durchzusetzen, ist demnach nicht immer gegeben. Insbesondere drohende oder bereits bestehende Arbeitslosigkeit können ein Grund dafür sein, daß sich die Betroffenen mit nicht mehr existenzsichernden Löhnen abfinden. 75 Durch die verschärften Zumutbarkeitsregeln des SGB III und die Konzeption des Sozialhilferechts, nach der 64 Schäfer, WSI-Mitt. 1991, S. 711 (716-720); ders., Annut trotz Arbeit, S. 57 (63 f., 69-71); ders., Empirische Überraschung, S. 83 (95 -100). 65 Schäfer, Empirische Überraschung, S. 83 (95 -100): Niedrigeinkommen unter 50 % des Durchschnittseinkommens. 66 Vgl. auch Peter, AuR 1999, S. 289 (295). 67 Schäfer, Annut trotz Arbeit, S. 57 (63 f.); Welzmüller, Niedrige Arbeitseinkommen, S. 129 (130). 68 Welzmüller, Niedrige Arbeitseinkommen, S. 129 (130). 69 Schäfer, Empirische Überraschung, S. 96. 70 Siehe AdamylSteffen, Abseits des Wohlstands, S. 108 f.: bezogen auf die neuen Bundesländer. 71 Schäfer, Empirische Überraschung, S. 83 (96, 99). 72 Frieling, Sittlicher Mindestlohn?, S. 8; Peter, AuR 1999, S. 289 (295); Schäfer, Empirische Überraschung, S. 83 (84). 73 Vgl. etwa Kommission für Zukunjtsfragen, Erwerbstätigkeit und Arbeitslosigkeit, S. 43, 46 f.; Schäfer, Empirische Überraschung, S. 84; ders., WSI-Mitt. 1997, S. 669 (674). 74 Hierzu Schäfer, WSI-Mitt. 1991, S. 711 (720). 75 Vgl. auch Frieling, Sittlicher Mindestlohn?, S. 8; Spindler, AuR 1999, S. 296.

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Sozialhilfebezieher grundsätzlich Arbeitsgelegenheiten aller Art anzunehmen haben ("Arbeit vor Sozialhilfe"), wird entsprechender Druck auf die Arbeitssuchenden ausgeübt. 76 Neben der bestehenden oder drohenden Arbeitslosigkeit trägt auch die oftmals fehlende tarifliche Sicherung zu Niedriglohnzahlungen bei. Bezeichnenderweise existieren in weiten Teilen des Dienstleistungssektors keine Tarifverträge 77 und gerade die Dienstleistungsberufe sind besonders häufig von Niedriglohnvereinbarungen betroffen78 . Gleichwohl ist die Vorstellung, daß die in Tarifverträgen festgelegten Lohnsätze stets vor Einkommensarmut schützen und somit zur Existenzsicherung ausreichen 79, nicht immer zutreffend. 8o Ob niedrige Arbeitseinkommen noch geeignet sind, das Existenzminimum zu sichern, hängt maßgeblich von der Haushaltsgröße ab. Mit der Haushaltsgröße wächst nämlich bei Niedrigeinkommen auch das Armutsrisiko. 81 Geht man von den Sozialhilfesätzen im Rahmen der "Hilfe zum Lebensunterhalt" nach dem BSHG als Existenzminimum aus, so wird dieses je nach Familienkonstellation häufig nicht oder nur kaum überschritten. Insbesondere in Ein-Verdiener-Familien und bei Alleinerziehenden wird der Sozialhilfesatz oft nicht erreicht: In den alten Bundesländern belief sich im Jahre 1999 der durchschnittliche Bedarf im Rahmen der "Hilfe zum Lebensunterhalt" bei Ehepaaren mit einem Kind auf2.421 DM, bei zwei Kindern auf 2.931 DM, bei drei Kindern auf 3.462 DM. Bei Alleinerziehenden mit einem Kind unter sieben Jahren betrug die "Hilfe zum Lebensunterhalt" 1.941 DM, bei zwei Kindern zwischen sieben und 13 Jahren 2.556 DM. 82 Soweit bei Niedrigeinkommen das Sozialhilfeniveau nicht erreicht wird, kann es allerdings durch die Sozialhilfe aufgestockt werden. Dabei ist die Sozialhilfe so konzipiert, daß einem Hilfesuchenden, der einer Erwerbstätigkeit nachgeht und nur ergänzende Sozialhilfe bezieht, ein höheres Nettoeinkommen verbleibt, als einem vergleichbaren nichterwerbstätigen Hilfeempfänger. 83 Ende 1995 bezogen rund 110.000 erwerbstätige Menschen ergänzende Sozialhilfe; dabei soll es sich jedoch nach einer Schätzung nur um ein Viertel der Erwerbstätigen mit einem Einkommen im sozialhilferelevanten Bereich handeln, während die restlichen drei Viertel von der Möglichkeit ergänzender Sozialhilfe keinen Gebrauch machen. 84 76 Kritisch: Sitte, GMH 1998, S. 36 (41 f.); Spindler, AuR 1999, S. 296 (296). Hierzu auch unten C. I. 1. a) bb) (1) (a) und C. 11. 1. c). 77 Vg!. Clasen, BAB!. 1999, S. 5 (6). 78 Schäfer, Empirische Überraschung, S. 83 (96 - 100). 79 So etwa AdamylHanesch, Erwerbsarbeit und soziale Ungleichheit, S. 161 (162). 80 Zu Art und Umfang tariflicher Mindestlohnsicherung vgl. unten C. 11. 2. c) bb). 81 Hierzu Welzmüller, Niedrige Arbeitseinkommen, S. 129 (131). Ferner AdamylStejJen, Abseits des Wohlstands, S. 112; Peter, Mindestlohn ohne Gesetz?, S. 241. 82 Vgl. Breuerl Engels, Sozialhilfe, S. 25 (Stand: 1. 7. 1999); der Betrag setzt sich aus den Regelsätzen, dem Mehrbedarf, der Kaltmiete, den Heizkosten sowie einmaligen Leistungen zusammen. Die "Hilfe zum Lebensunterhalt" wird jedoch nur dann in voller Höhe des Bedarfs geleistet, wenn keinerlei anrechenbares Einkommen oder Vermögen vorhanden ist. 83 Vgl. nur StejJen, SozSich 1994, S. 372 (373).

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B. Bedürfnis nach einem Mindestlohn

Tendenziell ist ein "Zurückbleiben der Schwächsten" festzustellen. Allerdings muß man sich bei dieser Niedriglohndiskussion bewußt sein, daß es, je nachdem wie hoch man die Niedriglohn- oder Armutsgrenzen setzt, nicht mehr nur um die bloße Existenzsicherung einkommensschwacher Bürger geht, sondern darüber hinaus um die Gerechtigkeit der Einkommensverteilung. 85

11. Schutz vor Niedriglöhnen Da auch bei Vollzeittätigkeit zum Teil ausgesprochen niedrige Arbeitsentgelte gezahlt werden, stellt sich die Frage nach der Entgeltgerechtigkeit sowie nach den gegenwärtigen Mitteln zur ihrer Sicherstellung. 1. Elemente der Entgeltgerechtigkeit Soweit man mit dem Prinzip der Entgeltgerechtigkeit nach dem "angemessenen" oder "gerechten" Lohn sucht, ist zu berücksichtigen, daß sich - zurückgehend auf die aristotelische Abgrenzung zwischen der iustitia commutativa und der iustitia distributiva 86 - die Erkenntnis durchgesetzt hat, daß der Grundsatz der Entgeltgerechtigkeit zwei Elemente mit eigenem Wirkungsbereich beinhaltet. 87 Zum einen umfaßt er die Austauschgerechtigkeit (iustitia commutativa), welche das angemessene Verhältnis von Leistung und Gegenleistung in der Beziehung der Arbeitsvertragsparteien betrifft. Zur Lohngerechtigkeit gehört zum anderen aber auch die sog. Verteilungsgerechtigkeit (iustitia distributiva), bei der es um die gerechte Verteilung der Löhne innerhalb einer Gruppe von Arbeitnehmern eines Be. triebes oder Unternehmens geht. 88 Bei Fragen der Entgeltgerechtigkeit stehen in der arbeitsrechtlichen Praxis zumeist Gleichbehandlungsfragen im Vordergrund. 89 Neben dem allgemeinen Gleichheitssatz in Art. 3 Abs. 1 GG, dem Gebot der Entgeltgleichheit von Männern und Frauen (Art. 141 EGV, Art. 3 Abs. 2 GG und § 612 Abs. 3 BGB) sowie speziellen Benachteiligungsverboten kommt dem allgemeinen (arbeitsrechtlichen) 84 Vgl. Adamy I Steifen, Abseits des Wohlstands, S. 113 f. Als Ursachen für diese verdeckte Armut werden etwa Unkenntnis über die Sozialhilfeberechtigung, Scham oder Sorge wegen eines eventuellen Rückgriffs der Ämter auf Familienangehörige aufgeführt. Adamy I Steifen, a. a. 0., S. 83; Bäcker, Sozialer Fortschritt, 1999, S. 241 (248). 85 Vgl. Brenner, ArchsozArb 1978, S. 1 (2); Frieling, Sittlicher Mindestlohn?, S. 9. 86 Aristoteles, Nikomachische Ethik, Buch V, IBO b ff. (S. 99 f.). 87 Vgl. nur Bötticher, RdA 1953, S. 161 (162); Hilger, RdA 1975, S. 32 (32 f.); allgemein zu den Erscheinungsformen der Gerechtigkeit: Hueck, GedS Dietz, S. 241 (252 - 254). 88 Hierzu etwa Bötticher, RdA 1953, S. 161 (162); Hilger, RdA 1975, S. 32 (32 f.); Peterl Peter, Der Entgeltanspruch, Rn 105; Zöllner, ZfA 1993, 169. 89 Peter I Peter, Der Entgeltanspruch, Rn 106.

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Gleichbehandlungsgrundsatz90 , der einen grundlegenden Rechtsgedanken im Recht der Arbeitsverhältnisse verankert, besondere Bedeutung zu. Dabei dient der Grundsatz der Gleichbehandlung der Verwirklichung der austeilenden (bzw. Verteilungs-)Gerechtigkeit. 91 Ohne näher auf die einzelnen Voraussetzungen und Problemkreise des Gleichbehandlungsgrundsatzes einzugehen92 , läßt sich festhalten, daß bei der Verteilungsgerechtigkeit lediglich die relative Entgelthöhe im Verhältnis der Be1egschaftsmitglieder untereinander eine Rolle spielt. 93 Für die Frage nach einer erforderlichen Mindestlohnhöhe läßt sich deshalb mit dieser Gerechtigkeitsvorstellung nichts gewinnen. Soweit es um die Mindestlohnhöhe und damit um die absolute Entgelthöhe geht, wird an das Modell der Austauschgerechtigkeit angeknüpft94 , nach dem Leistung und Gegenleistung in einem angemessenen Verhältnis zueinander stehen müssen. In dieses Gerechtigkeitsverständnis wird auch die Forderung nach gleichem Lohn bei gleicher Leistung eingeordnet95 , weil der Vergleich mit anderen Löhnen bei gleicher Leistung insoweit nur als Indiz für die Bewertung der eigenen Leistung diene. 96 Unter dem Gesichtspunkt der Austauschgerechtigkeit wird teilweise auch die Forderung aufgestellt, daß bei jeder Vollzeittätigkeit ein existenzsichemdes Entgelt zu zahlen sei. 97 2. Realisierung der Austauschgerechtigkeit Für die Verwirklichung der Austauschgerechtigkeit stellt sich die Frage, wie das angemessene Verhältnis zwischen Arbeitsleistung und -entgelt und somit der "gerechte" Lohn zu ermitteln ist. Obwohl die Menschen, seit sie über Gerechtigkeit nachdachten, stets auf der Suche nach dem gerechten Preis waren 98 , erweist sich seine Bestimmung als ausgesprochen schwierig. 99 Dies ist darauf zurückzuführen, Zu den Unterschieden siehe z. B. Schaub, ArbR-Hdb, § 112, Rn 1-10 m. w. N. Hueck, GedS Dietz, S. 241 (253); MünchArbRI Richardi, § 14, Rn 4; ZöllnerlLoritz, ArbR, § 171., S. 216. 92 Vgl. Z. B. Schaub, ArbR-Hdb, § 112, Rn 11- 41; Zöllnerl Loritz, ArbR, § 17, S. 215227. 93 Peter I Peter; Der Entgeltanspruch, Rn 20. 94 Peter I Peter; Der Entgeltanspruch, Rn 20. 95 Bötticher, RdA 1953 S. 161 (162). So fordert etwa Art. 24 Abs. 2 der Landesverfassung Nordrhein-Westfalen: .. Der Lohn muß der Leistung entsprechen und den angemessenen Lebensbedarf des Arbeitenden und seiner Familie decken. Für gleiche Tätigkeit und gleiche Leistung besteht Anspruch auf den gleichen Lohn. Das gilt auch für Frauen und Jugendliche." Kritisch zu dieser Forderung: Rieble, Arbeitsmarkt, Rn 190-193. 96 Siehe etwa Bötticher, RdA 1953, S. 161 (162); MünchArbRI Richardi, § 14, Rn 4. 97 So Peter, Mindestlohn ohne Gesetz?, S. 241 (242) m. w. N.; PeterlPeter, Der Entgeltanspruch, Rn 176. 98 Vgl. Bartholomeyczik, AcP 166, S. 30 (40); geschichtlicher Überblick über die Bestimmungsversuche des gerechten Preises auf den Seiten 39 - 51. 90

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B. Bedürfnis nach einem Mindestlohn

daß es an einem objektiven Maßstab zur Festlegung des absolut richtigen und einzig "gerechten" Preises - und damit auch Arbeitsentgelts - fehlt. 100 Für die Bestimmung des richtigen Entgelts kann deshalb nur ein subjektiv-relativer Lösungsweg in Betracht kommen. 101 Dementsprechend ist es in unserer auf Privatautonomie und Marktwirtschaft aufbauenden Rechtsordnung auch grundsätzlich Sache der Vertragsparteien, über den Umfang von Leistung und Entgelt frei zu bestimmen. a) Markt

Nach Aristote1es besteht Austauschgerechtigkeit, wenn die Tauschpartner einander Gleiches geben; das Gleiche ist die Mitte zwischen dem Zuviel und dem Zuwenig. 102 Der Weg zur ausgleichenden Gerechtigkeit liegt danach in einem Komprorniß der Tauschpartner über den richtigen Preis. Ansatzpunkt hierfür ist der Markt, er ist Ort und Modus für jede Preisbildung. 103 Da auch die Arbeit eine tauschbare Leistung ist, richten sich die Gelegenheit zur Arbeit sowie der Lohn, der als Preis für die Arbeitsleistung zu zahlen ist, nach Maßgabe des (Arbeits-)Markts 104 und damit nach der Automatik von Angebot und Nachfrage.105 Die Lohnhöhe wird grundsätzlich frei vereinbart. Anbieter und Empfänger der (Arbeits-) Leistung einigen sich auf einen Preis (Lohn). Die Richtigkeit und damit die Gerechtigkeit des auf diese Weise gefundenen Preises soll aus dem Markt-Modell und der ihm zugrunde liegenden Vertragsfreiheit folgen. 106 Ausgangspunkt ist die Konzeption des Arbeitsvertrages als gegenseitiger Vertrag, bei dem jeder Vertragspartner seine eigene Leistung nur um der Gegenleistung willen erbringt. Dabei bleibt es jeder Partei des Vertrages überlassen, mit welchem Gegenwert bzw. Preis er sich für seine Leistung (noch) einverstanden erklärt. Ein Vertragsschluß kommt nur zustande, 99 Vgl. nur Bartholomeyczik, AcP 166, S. 30 (51- 53); Bydlinski, Privatautonomie, S. 151 f.; Frieling, Sittlicher Mindestlohn?, S. 112-115, der den gerechten Lohn für eine "Fata Morgana" hält; Larenz, AT, § 2. v., S. 45 f.; Renzikowski, Anm. zu BGHSt vom 22.4.1997, JR 1999, S. 166 (169); Richardi, JA 1986, S. 289 (297). 100 Vgl. auch Frieling, Sittlicher Mindestlohn?, S. 114 f.; Gast, BB 1991, S. 1053 (1058). Zum "gerechten Lohn" im TV vgl. Gamillscheg, Koll. ArbR, § 7. 11. 1. A) (2), S. 285; Kempen/Zachert, TVG, Grundl., Rn 89. Allgemein zum "gerechten Preis": Canaris, NJW 1987, S. 609 (613); Staudinger/ Coester; § 8 AGBG, Rn 2. 101 Ebenso Gast, BB 1991, S. 1053 (1058); ähnlich Frieling, Sittlicher Mindestlohn?, S. 115 f.: mangels eines objektiven und absoluten Maßstabs ergibt sich für die Privatautonomie ein zusätzlicher Legitimationsgrund. 102 Aristoteles, Nikomachische Ethik, Buch V, 1132 a (S. 103). 103 Vgl. etwa Gast, BB 1991, S. 1053 (1058). 104 SO Z. B. Frieling, Sittlicher Mindestlohn?, S. 5 m. w. N.; Gast, BB 1991, S. 1053 (1058); Richardi, JA 1986, S. 289 (296); Rieble, Arbeitsmarkt, Rn 88 f. 105 Vgl. Hilger; RdA 1975,32 (33); ferner Hanz, NDV 1998, S. 253 (254). 106 Vgl. etwa Gast, BB 1991, S. 1053 (1058); Frieling, Sittlicher Mindestlohn?, S. 115 f., der jedoch den Begriff des Richtigkeitsindiz des Vertrages bevorzugt.

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wenn beide Parteien die Wertverhältnisse zwischen Leistung und Gegenleistung für akzeptabel halten. Da beide Vertragspartner jeweils für sich den größtmöglichen Vorteil erreichen wollen, ist ein Vertragsschluß im Regelfall nur durch einen Komprorniß, durch eine Einigung möglich, bei dem die Interessen eines jeden Vertragsteils in gebührendem Maße berücksichtigt werden. 107 Die Annahme, daß der Vertrag zu einem angemessenen und gerechten Interessenausgleich führt, ist allerdings nur gerechtfertigt, wenn die wesensnotwendige Voraussetzung der Vertragsfreiheit gegeben ist. Entscheidend ist, daß die Privatautonomie auf dem Prinzip der Selbstbestimmung beruht und dementsprechend auch erfordert, daß die Bedingungen freier Selbstbestimmungen tatsächlich vorliegen. IOS Die Vertragspartner müssen annähernd gleich stark sein, um ihre Interessen dem anderen gegenüber behaupten zu können. 109 Daher taugt die Vertragsfreiheit auch nur bei einem annähernd ausgewogenen Kräfteverhältnis der Vertragspartner als Mittel eines angemessenen Interessenausgleichs. 110 b) Besonderheiten auf dem Arbeitsmarkt

Besonderheiten für den Arbeitsmarkt folgen aus dem Umstand, daß die menschliche Arbeit nicht als gewöhnliche tauschbare Ware angesehen werden kann. Ein Großteil der Menschen ist nämlich auf unselbständige Arbeit angewiesen, weil sie sich auf diese Weise den Lebensunterhalt verdienen müssen. 111 Der typische Arbeitnehmer benötigt das regelmäßige Arbeitsentgelt und kann deshalb nicht eine Zeitlang nur wenig oder gar nicht arbeiten, nur weil das Arbeitsverhältnis für ihn nicht so lukrativ ist. Vielmehr wird er sich notfalls mit einem niedrigen Lohn begnügen, wenn ihm keine günstigere Einkommensquelle zur Verfügung steht. Diese Abhängigkeit der Arbeitnehmer von ihrem Arbeitsentgelt kann 107 Hierzu etwa Frieling, Sittlicher Mindestlohn?, S. 116; Gast, BB 1991, S. 1053 (1058). Ferner Coester-Waltjen, AcP 190, S. 1 (14 f.); Hildebrandt, Inhaltskontrolle im ArbR, S. 17 f. jeweils m. w. N. Grundlegend zur Richtigkeitsgewähr des Vertrages Schmidt-Rimpler, AcP 147, S. 130 (151-156). 108 Statt vieler BVerfG vom 7.2. 1990, BVerfGE 81, S. 242 (254 f.); BAG vom 16.3. 1994, NZA 1994, S. 937 (939); Hildebrandt, Inhaltskontrolle im ArbR, S. 18. 109 So etwa Gast, BB 1991, 1053 (1058); Hildebrandt, Inhaltskontrolle im ArbR, S. 2; Wolf, RdA 1988, S. 270 (272). Sofern allerdings die Voraussetzung einer selbstbestimmten Entscheidung vorliegen, bleibt es dem einzelnen überlassen, ob und in welchem Umfang er seine Interessen wahrt. Vgl. Hildebrandt, a. a. 0 ., S. 18. HO Vgl. nur BVerfG vom 7. 2. 1990, BVerfGE 81, S. 242 (254 f.); BVerfG vom 19. 10. 1993, NJW 1994, S. 36 (38 a. E.); BAG vom 16. 3. 1994, S. 937 (939); Dieterich, RdA 1995, S. 129 (131); Hildebrandt, Inhaltskontrolle im ArbR, S. 2, 18 f. Vgl. hierzu auch unten C. 11. HI Vgl. nur v. Amim, Die Verfallbarkeit, S. 47; Däubler, ArbR 2, Rn 46; Hildebrandt, InhaItskontrolle im ArbR, S. 97; Peterl Peter, Der Entgeltanspruch, Rn 5; Vossen, Tarifdispositives RichterR, S. 76.

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zu einem "anomalen" (Markt-)Verhalten führen (sog. Konkurrenzparadoxon): bei sinkenden Arbeitseinkommen sehen sich die Arbeitnehmer gezwungen, die Einkommensverluste durch Mehrarbeit auszugleichen, anstatt auf die Lohnsenkung mit Reduzierung der Arbeit zu reagieren.1I2 Ein Überangebot an Arbeitskräften verstärkt diesen Effekt und kann zu einer weiteren Lohnsenkung führen. 1l3 Zwar wird vorgebracht, daß bereits durch die Sozialhilfe ein solcher Unterbietungswettbewerb zwischen den Arbeitnehmern verhindert werde. 114 Aber abgesehen davon, daß auch im Sozialhilferecht eine Tendenz zu Niedriglöhnen angelegt ist 1l5 , sinken jedenfalls die Möglichkeiten des Arbeitssuchenden zur Durchsetzung seiner Lohnvorstellung mit der Zahl der Bewerber, die sich um den betreffenden Arbeitsplatz bemühen.116 Da also Arbeitnehmer normalerweise existentiell auf den Arbeitsplatz angewiesen sind, befinden sie sich regelmäßig in einer gegenüber dem Arbeitgeber ungünstigeren Verhandlungsposition und sind nicht in der Lage, ihre Interessen gleichgewichtig zu vertreten. 117 Zwar benötigt auch der Arbeitgeber Arbeitskräfte, jedoch sind diese für ihn zumeist leicht austauschbarYs Soweit aber das Verhandlungsgleichgewicht der Parteien gestört ist, führt die Vertragsfreiheit aus der Sicht des Arbeitnehmers zu einer "Halbfreiheit", nämlich zu einer einseitigen Bestimmung des Vertragsinhalts zugunsten des ArbeitgebersY9 So war der "freie" Arbeitsvertrag zu Beginn der Industrialisierung im 19. Jahrhundert von sozialen Mißständen geprägt. Niedrige Löhne, extrem lange Arbeitszeiten sowie Frauen- und Kinderarbeit in Fabriken und Bergwerken u. v. m. waren an der Tagesordnung. 120 Vor diesem Hintergrund erklärt sich die - auch heute noch angenommene - beson112 Vgl. v. Amim, Die Verfallbarkeit, S. 47 f.; Frieling, Sittlicher Mindestlohn?, S. 5; Pikker; ZfA 1986, S. 199 (253-256); Rieble, Arbeitsmarkt, Rn 91 (m. w. N.); Domdorf, FS Gnade, S. 39 (41 f.); a. A. Reuter; RdA 1991, S. 193 (194 f.); Zöllner; ZfA 1994, S. 423 (432); zweifelnd auch Hönn, Kompensation, S 198. 113 Siehe v. Amim, Die Verfallbarkeit, S. 47 f.; Frieling, Sittlicher Mindestlohn?, S. 5; Klippei, FS Söllner, -S o 161 (182); Picker; ZfA 1986, S. 199 (253-256); a. A. Zöllner; ZfA 1994, S. 423 (432). 114 So etwa Reuter; RdA 1991, S. 193 (194 f.) m. w. N. 115 Hierzu auch unten C. I. 1. a) aa) (5) (e) (cc) (ß). 116 Vgl. Frieling, Sittlicher Mindestlohn?, S. 5 (m. w. N.); ferner Broxl Rüthers, ArbR, Rn 3; allgemeiner Gamillscheg, AcP 164, S. 385 (411). ll7 Vgl. v. Amim, Die Verfallbarkeit, S. 46 f. ; Dieterich, RdA 1995, S. 129 (135); Fastrich, RdA 1997, S. 65 (75); Frieling, Sittlicher Mindestlohn?, S. 5; Mayer; AiB 1994, S. 662 (663 f.); MünchArbRI Richard/, § 14 Rn 61 i. V. m. 63; Singer; ZfA 1995, S. 611 (612); Vossen, Tarifdispositives RichterR, S. 76; Wolf, RdA 1988, S. 270 (272). Grundsätzliche Bedenken hiergegen bei Zöllner; AcP 176, S. 221 (229-236); gegen Zöllner ausdrücklich Pikker; ZfA 1986, S. 199 (252). 118 So etwa Fastrich, RdA 1997, S. 65 (77); Hildebrandt, Inhaltskontrolle im ArbR, S. 99. 119 Frieling, Sittlicher Mindestlohn?, S. 5 f.; Gast, BB 1991, S. 1053 (1058); HuecklNipperdey, Lb ArbR I, § 3 H., S. 9; Peter; AuR 1999, S. 289 (290). 120 Hierzu Dütz, ArbR, Rn 8; HuecklNipperdey, Lb ArbR I, § 3 II., S. 9; Söllner; Grundriß ArbR, § 2 III. 1., S. 10.

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dere Schutzbedürftigkeit der Arbeitnehmer, die jedoch auf unterschiedliche Ursachen zurückgeführt wird. 121 Es läßt sich jedenfalls festhalten, daß der Mechanismus des individuellen Vertragsschlusses nach wie vor in nur begrenztem Maße zur Entgeltgerechtigkeit beitragen kann. 122 Nach einer empirischen Untersuchung werden die Arbeitsverträge überwiegend nicht individuell ausgehandelt, sondern vom Arbeitgeber durch vorgefertigte Vertragsformulare einseitig bestimmt. 123 Mit derartigen Vertragsformularen verfolgt der Arbeitgeber in erster Linie seine eigenen Interessen, womit häufig die Gefahr einer Risikoverlagerung auf die Arbeitnehmerseite verbunden ist. 124 Diese Praxis der Vertragsgestaltung weist auf eine Störung der Verhandlungsparität bei der Begründung von Arbeitsverhältnissen hin. 125

c) Schutzmechanismen Angesichts der grundsätzlich ungleichen Machtpositionen zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer stellt sich die Frage, wie dennoch die Entgeltgerechtigkeit sichergestellt werden kann. Ein aus der unterlegenen Position des Arbeitnehmers resultierendes Schutzbedürfnis wird zwar teilweise hinsichtlich des Arbeitsentgelts angezweifelt l26, läßt sich aber angesichts der Anzahl der Niedriglohnbezieher und der zum Teil extrem niedrigen Arbeitsentgelte wohl kaum mehr bestreiten. Ob allerdings ein Bedürfnis nach einem "richterlichen Mindestlohn" besteht, hängt davon ab, ob die gegenwärtigen Schutzmechanismen umfassend vor zu niedrigen Arbeitsentgelten schützen (können) oder ob es ergänzend einer richterlichen Korrektur bedarf. aa) Gesetzliche Mindestlöhne Zur Realisierung gerechter und angemessener Löhne kommen zunächst gesetzliche Entgeltrege1ungen in Betracht, welche eine bestimmte Entgelthöhe zwingend vorschreiben. Zwar sieht Art. 7 Buchst. a) des Internationalen Paktes über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (IPWSKR)127 gerechte und günstige ArbeitsbedinÜberblick bei Frieling, Sittlicher Mindestlohn?, S. 6. Peter I Peter, Der Entgeltanspruch, Rn 41. 123 Vgl. Hanaul Preis, Der Arbeitsvertrag, 1 B, Rn 3 - 7. 124 Hanaul Preis, Der Arbeitsvertrag, 1 B, Rn 89 - 94. 125 Ebenso Lieb, ArbR, Rn 52 i. V. m. Rn 113; Preis, AuR 1994, S. 139 (141); Rieble, Arbeitsmarkt, Rn 101; Stoffels, Anm. zu BAG vom 16.3. 1994, SAE 1995, S. 176 (178); dagegen: Zöllner! AcP 176, S. 221 (231- 236). 126 So etwa Zöllner, AcP 176, S. 221 (230-232); siehe auch Fastich, Inhaltskontrolle im PrivatR, S. 261 f., 270; Hönn, Kompensation, S. 196 f. 121

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gungen vor, insbesondere die Gewährleistung eines Arbeitsentgelts, das allen Arbeitnehmern mindestens ein angemessenes Entgelt für die geleistete Arbeit und zugleich einen angemessenen Lebensunterhalt für sich und ihre Familien sichert. Er enthält jedoch kein innerstaatliches Recht, sondern begründet lediglich eine völkerrechtliche Verpflichtung der Bundesrepublik. 128 Auch Art. 4 Abs. lESe regelt das Recht auf ein Entgelt, das ausreicht, um Arbeitnehmern und ihren Familien einen angemessenen Lebensstandard zu sichern. 129 Nach überwiegender Ansicht kommt der ESC aber ebenfalls keine innerstaatliche, sondern nur völkerrechtliche Bedeutung ZU. 130 Die innerstaatliche Umsetzung dieser Garantien wird in der Bundesrepublik Deutschland jedoch den Tarifparteien überlassen. 13l Denn diesen ist durch Art. 9 Abs. 3 GG die Aufgabe zugewiesen, insbesondere Löhne und sonstige Arbeitsbedingungen in einem von staatlicher Rechtsetzung freigelassenen Raum in eigener Verantwortung und im wesentlichen ohne staatliche Einflußnahme durch unabdingbare Kollektivvereinbarungen frei zu regeln. 132 Deshalb hat der deutsche Gesetzgeber auch im Gegensatz zu zahlreichen anderen Ländern 133 auf die (generelle) Regelung einer Mindestlohngarantie verzichtet. Vielmehr ist er nur subsidiär und korrigierend in jenen Bereichen tätig geworden, in denen das Tarifsystem den Arbeitnehmern den erforderlichen Schutz nicht zu bieten vermag. 134

Abgedruckt bei Däublerl KittnerlLörcher, Intern. ArbuSoz02 , Nr. 130, S. 153. 128 Vgl. nur Martinek, FS Floretta, S. 237 (245 f.); MünchArbRI Hanau, § 62, Rn 23; Söllner, Grundriß ArbR, § 6 III. 2., S. 45; zum Inhalt von Art. 7 siehe Zuleeg, RdA 1974, S. 321 (328). 129 Abgedruckt in Däublerl Kittner / Lörcher, Intern. ArbuSoz02 , Nr. 320, S. 628. 130 Siehe BroxlRüthers, ArbR, Rn 39; Martinek, FS Floretta, S. 237 (243); Müller, DB 1984, S. 2692 (Rn 1); Schaub, ArbR-Hdb, § 193, Rn 5; Zöllnerl Loritz, ArbR, § 9 1. 2. S. 124 (m. w. N.). Zur innerstaatlichen Bedeutung vgl. unten C. 1. 1. a) aa) (5) (e) (aa) (a). 13l Vgl. MünchArbRI Hanau, § 62, Rn 23; Knopp, RdA 1965, S. 4 (6): Art. 4 ESC ist bereits durch die Einrichtung des Tarifvertragssystem verwirklicht. Eine entsprechende Aussage findet sich zu Art. 7 IPWSKR in der Denkschrift der BReg., BT-Drucks. 7/658, S. 22: Angemessene Arbeitsentge\te werden "durch ein Netz von Tarifverträgen auf der Grundlage des TVG gewährleistet". Kritisch hierzu Zuleeg, RdA 1974, S. 321 (328). 132 Vgl. BVerfG vom 24. 5. 1977, BVerfGE 44, S. 322 (340 f.) m. w. N. Zu Umfang und Qualität tairflicher Mindestlohnsicherung vgl. unten B. 11. 2. c) bb). 133 Überblick über gesetzliche Mindestlöhne in der EU bei Burgess, WSI-Mitt. 1999, S. 471 (481 f.); Däubler, TVR, Rn 1605-1608; Salowsky, RdA 1986, S. 382-384. Ausführlich zur Mindestlohngesetzgebung in Frankreich, den Niederlanden und den USA: Peter, Gesetzlicher Mindestlohn, S. 146-165 (m. w. N.). Zur Einführung eines gesetzlichen Mindestlohnes in Großbritannien: Skidmore, AuR 1999, S. 172 (173-175); ferner Burgess, WSIMitt. 1999, S. 471 (473- 480). Zu den Mindestlohnsätzen in Großbritannien, USA, Belgien, Frankreich und Japan siehe AuR 1998, S. 316. 134 Siehe auch Peter, Gesetzlicher Mindestlohn, S. 69, 138; ferner MünchArbRI Hanau, § 62, Rn 21. 127

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(1) Das Gesetz über die Festsetzung von Mindestarbeitsbedingungen Die Subsidiarität gesetzlicher Entgeltregelungen gegenüber den tarifvertraglichen Entgeltfestsetzungen wird in dem Gesetz über die Festsetzung von Mindestarbeitsbedingungen I35 (MindArbBedG) vom 11. 1. 1952 deutlich. So bestimmt § I Abs. 1 MindArbBedG ausdrücklich, daß die Regelung von Entgelten und sonstigen Arbeitsbedingungen grundsätzlich in freier Vereinbarung zwischen den Tarifvertragsparteien durch Tarifverträge erfolgt. Die engen Voraussetzungen, unter denen der Erlaß von Mindestarbeitsbedingungen zulässig ist, sollen dem Vorrang tarifvertraglicher Festsetzungen Rechnung tragen. 136 Nur für den Fall, daß entweder Gewerkschaften oder Vereinigungen von Arbeitgebern für den Wirtschaftszweig oder die Beschäftigungsart überhaupt nicht bestehen oder aber nur eine Minderheit der Arbeitnehmer oder Arbeitgeber umfassen (§ 1 Abs. 2 Buchst. a) MindArbBedG), ist der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung zur Festlegung einer untersten Entgeltgrenze (§ 4 Abs. 4 MindArbBedG) und damit zur "Schließung einer natürlichen Lücke in unserem Tarifvertragssystem,,137 ermächtigt. Soweit aber repräsentative Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände existieren, kommt eine staatliche Festsetzung von Mindestarbeitsbedingungen selbst dann nicht in Betracht, wenn die Tarifvertragsparteien keine Einigung über den abzuschließenden Tarifvertrag erzielen. 138 Darüber hinaus ist eine Festsetzung von Mindestarbeitsbedingungen an die weiteren Voraussetzungen gebunden, daß eine derartige Regelung zur Befriedung der notwendigen sozialen und wirtschaftlichen Bedürfnisse l39 der Arbeitnehmer erforderlich erscheint (§ 1 Abs. 2 Buchst. b) MindArbBedG) und eine Regelung der Entgelte nicht schon durch Allgemeinverbindlicherklärung eines Tarifvertrages erfolgt ist (§ 1 Abs. 2 Buchst. c) MindArbBedG).140 Auch aus § 8 Abs. 2 MindArbBedG geht der absolute Vorrang tarifvertraglicher Regelungen hervor. Darüber hinaus wird der Grundsatz der Selbstverwaltung im Rahmen des Verfahrens durch entsprechende Beteiligung der Sozialpartner berücksichtigt. 141 Mit Hilfe dieses Gesetzes kann auch kein allgemein gültiger Mindestlohn geschaffen werden, vielmehr dient es nur der subsidiären und ergänzenden Entgeltfestsetzung in einzelnen tariffreien Erwerbsbereichen. 142 In den knapp 50 Jahren BGBI.1952I, S.17. Vgl. Fitting, RdA 1952, S. 5 (6); KoberskilSahl/Hold, AEntG, Einl., Rn 20. 137 So Hessel, BB 1952, S. 64; ähnlich Hueek/Nipperdey, Lb ArbR I, § 25. IV. 1., S. 148. 138 Fitting, RdA 1952, S. 5 (6). 139 Zu dieser Voraussetzung vgl. Fitting, RdA 1952, S. 5 (6); Hueck/Nipperdey, Lb ArbR 11/1, § 35. V., S. 678 f. ; kritisch: Frieling, Sittlicher Mindestlohn?, S. 202 f. 140 Zum Vorrang einer Allgemeinverbindlicherklärung vgl. Fitting, RdA 1952,5 (6); Hersehel, BABI. 1952, S. 36 (38). 141 Vgl. Däubler; TVR, Rn 1586; Hueek/Nipperdey, Lb ArbR I, § 7 VII., S. 30 (Rn 10). Zum Verfahren vgl. Fitting, RdA 1952, S. 5 (6-8); Hersehel, BABI. 1952, S. 36 (38 f.). 142 Siehe etwa Koberskil Sahl/ Hold, AEntG, Einl., Rn 20; Peter; Gesetzlicher Mindestlohn, S. 134 f. m. w. N. 135

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seines Bestehens ist das MindArbBedG nie angewandt worden 143, was allerdings höchst unterschiedlich eingeschätzt wird. Die einen schließen hieraus auf die Funktionsfähigkeit des Tarifvertragssystems l44 bzw. auf ein mangelndes Bedürfnis nach entsprechenden gesetzlichen Regelungen 145, während andere die praktische Bedeutungslosigkeit des Gesetzes nicht auf ein fehlendes Bedürfnis nach Mindestarbeitsbedingungen zurückführen l46 , sondern auf Mängel in der Konzeption des Gesetzes. 147 (2) Heimarbeitsgesetz

Staatliche Lohnregelungen sind nicht nur im MindArbBedG, sondern auch im Heimarbeitsrecht vorgesehen. Für die in Heimarbeit Beschäftigten können die obersten Arbeitsbehörden der Länder Heimarbeitsausschüsse errichten (§ 3 Abs. I Satz 1, § 4 HAG), die Entgelte und sonstige Vertragsbedingungen bindend festsetzen (§ 19 Abs. 1 HAG). Nach § 19 Abs. 3 HAG entfalten sie dann dieselbe Wirkung wie ein allgemein verbindlicher Tarifvertrag, wirken also in gesetzes gleicher Weise auf die Heimarbeitsverhältnisse ein. Konsequenz ist, daß von den bindenden Festsetzungen nur zugunsten der Beschäftigten abgewichen werden kann. Mit der Möglichkeit der bindenden Festsetzungen nach § 19 HAG wird der besonderen Schutzbedürftigkeit der Heimarbeiter Rechnung getragen, die auf den geringen gewerkschaftlichen Organisationsgrad und die starke Abhängigkeit von konjunkturellen Schwankungen zurückzuführen iSt. 148 Soweit das Tarifsystem wegen des geringen Organisationsgrads in diesem Bereich Lücken aufweist, gewährt das HAG den Heimarbeitern den erforderlichen Schutz, indem es einen möglichst eng an das Tarifsystem angelehnten Ersatz schafft. 149 Anders als im Rahmen des MindArbBedG sind im Heimarbeitsrecht zahlreiche bindende Festsetzungen erfolgt. Gleichwohl bestätigt auch das HAG die Subsidiarität staatlicher Regelungen gegenüber dem Tarifsystem. 150 Denn nach § 19 Abs. 1 Satz 1 HAG ist ebenso wie nach § 1 Abs. 2 Buchst. a) MindArbBedG die bindende Festsetzung von Entgelten nur zulässig, wenn Gewerkschaften oder Vereinigungen der Auftraggeber entweder nicht vorhanden sind oder aber nur eine Minderheit der MünchArbRI Richardi, § 15, Rn 31; Schaub, ArbR-Hdb, § 162, Rn 3. So etwa Fitting, RdA 1952, S. 5 (9); Herschel, BABl. 1952, S. 36. 145 Vgl. etwa HuecklNipperdey, Lb ArbR I, § 7 VII., S. 30 (Fn 10); Arbeitsrechtslexikonl Nebendahl, Vergütung (Grundzüge), 11. 4., S. 10. 146 Däubler; ArbR 1, Rn 454; Peter; Gesetzlicher Mindestlohn, S. 135. 147 Peter; Gesetzlicher Mindestlohn, S. 185 - 188; kritisch auch: Frieling,Sittlicher Mindestlohn?, S. 204-206. 148 Vgl. MünchArbR I Heenen, § 238, Rn 1,5; SchmidtIKoberski/Tiel1UJnnIWascher; HAG, § 19, Rn 1. 149 BVeifG vom 27. 2. 1973, BVerfGE 34, S. 307 (317 f.); Peter; Gesetzlicher Mindestlohn, S. 136. 150 Vgl. hierzu Schmidtl Koberski/Tiel1UJnnIWascher; HAG, § 19, Rn 8, 16, 19. 143

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Auftraggeber oder Beschäftigten umfassen. Weitere materielle Voraussetzung ist, daß unzulängliche Entgelte gezahlt werden, was insbesondere dann anzunehmen ist, wenn diese unter Berücksichtigung der sozialen und wirtschaftlichen Eigenart der Heimarbeit unter den tarifvertraglichen Löhnen für gleiche oder gleichwertige Betriebsarbeit liegen (§ 19 Abs. 1 Satz 2 HAG). Die Tariflöhne werden hier als Vergleichsmaßstab vorgegeben, um auf dieses Weise eine Annäherung an die tariflichen Entgelte zu erreichen. 151 Wenn in Tarifverträgen bereits Regelungen für in Heimarbeit Beschäftigte enthalten sind, hat sich der Heimarbeitsausschuß an den tariflichen (Entgelt-)Regelungen zu orientieren, weil das HAG von der Richtigkeit tarifvertraglicher Vereinbarungen ausgeht. 152 Ein Nebeneinander von Tarifvertrag und bindenden Festsetzungen ist also grundsätzlich möglich, jedoch sollen zum Schutz der Tarifautonomie keine günstigeren Regelungen als die im Tarifvertrag festgesetzt werden (§ 19 Abs. 1 Satz 3 HAG). Auch im Verfahren für den Erlaß von bindenden Festsetzungen wird der Vorrang der Tarifautonomie zum Ausdruck gebracht. 153 Der Tarifautonomie wird also auch im Rahmen des HAG der Vorrang eingeräumt. Anders als das MindArbBedG beschränkt sich das HAG jedoch nicht auf die Sicherung eines untersten Mindeststandard, sondern dient dem Ziel eines angemessenen Entgelts. 154 (3) Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen

Mit Hilfe der Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen nach § 5 TVG kann ebenfalls eine Art von gesetzlichen Mindestlohn geschaffen werden. Da die Rechtsnormen eines Tarifvertrages grundsätzlich nur für jene Arbeitsverhältnisse normativ gelten, in denen Arbeitgeber und Arbeitnehmer tarifgebunden sind (§§ 3,4 Abs. 1 TVG), kommt dem Tarifvertrag an sich nur eine beschränkte Geltung zu. Die Allgemeinverbindlicherklärung bildet insoweit ein staatliches Instrument, mit dessen Hilfe die Rechtsnormen eines Tarifvertrages in seinem Geltungsbereich auch die bisher nichttarifgebundenen Arbeitgeber und Arbeitnehmer (sog. Außenseiter) erfassen (§ 5 Abs. 4 TVG). Die von den Tarifvertragsparteien vereinbarten Tariflöhne entfalten dann für sämtliche Arbeitsverhältnisse im Geltungsbereich des Tarifvertrages normative Wirkung. 151 Schaub, ArbR-Hdb, § 163 A., Rn 24. Es ist jedoch auf die dem Heimarbeiter entstehenden Betriebskosten ebenso Rücksicht zu nehmen, wie auf die ersparten Aufwendungen (z. B. Wegezeiten, Fahrtkosten). Vgl. MünchArbRI Heenen, § 238, Rn 62. 152 Vgl. SchmidtlKoberskilTiemannlWascher, HAG, § 19, Rn 22; ferner Peter, Gesetzlicher Mindestlohn, S. 136. 153 Hierzu BVeifG vom 27.2. 1973, BVerfGE 34, S. 307 (318 f.): Die Repräsentation sowohl der Auftraggeber als auch der Beschäftigten wird soweit wie möglich aufrechterhalten. Ferner Schmidtl Koberski I Tiemann I Wascher, HAG, § 19, Rn 8. 154 Vgl. Fitting, RdA 1952, S. 5 (8 f.); SchmidtlKoberskilTiemannlWascher, HAG, § 19, Rn 31. Zum MindArbBedG Herschel, BABl. 1952, S. 36.

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Mit der Einrichtung dieses staatlichen Regelungsinstruments ist das Ziel verbunden, auch tarifliche Außenseiter vor sozial unangemessenen Lohn- und Arbeitsbedingungen zu schützen. 155 Ob ihr darüber hinaus eine wettbewerbslenkende Funktion zukommen soll, ist umstritten. 156 Jedenfalls steigt in Zeiten nachlassender Konjunktur und hoher Arbeitslosigkeit die Bereitschaft der (nichtorganisierten) Arbeitnehmer, zu untertariflichen Arbeitsbedingungen zu arbeiten. Soweit ein Tarifvertrag für allgemeinverbindlich erklärt wird, kann auch der nichttarifgebundene Arbeitnehmer nur zu den tariflichen Mindestarbeitsbedingungen eingestellt werden. Auf diese Weise wird verhindert, daß die Arbeitgeber bei der Einstellung die nichtorganisierten Arbeitnehmer den organisierten vorziehen und die nichttarifgebundenen Arbeitgeber wegen geringerer Lohnkosten einen Wettbewerbsvorteil gegenüber den Konkurrenten haben. Diese Wirkung einer Allgemeinverbindlicherklärung läßt sich zumindest in tatsächlicher Hinsicht nicht leugnen. 157 Unabhängig von den engen Voraussetzungen des § 5 Abs. 1 Satz 1 TVG kann eine Allgemeinverbindlicherklärung wegen eines "sozialen Notstandes" (§ 5 Abs. 1 Satz 2 TVG) erfolgen, wenn das Lohnniveau soweit gesunken ist, daß die Arbeitnehmer nicht mehr ihre notwendigen sozialen und wirtschaftlichen Bedürfnisse befriedigen können. 158 Das soll etwa anzunehmen sein, sobald die Voraussetzungen für einen Sozialhilfeanspruch erfüllt sind.159 In der Praxis ist auf § 5 Abs. 1 Satz 2 TVG allerdings noch nie zurückgegriffen worden l60 , vielmehr wurden die Tarifverträge bislang nur unter den Voraussetzungen des § 5 Abs. 1 Satz 1 TVG für allgemeinverbindlich erklärt. Auch im Rahmen des Verfahrens einer Allgemeinverbindlicherklärung wird der prinzipielle Vorrang des Tarifsystems gewahrt. 161 Denn nach § 5 Abs. 1 TVG kann 155 Statt vieler Däubler, TVR, Rn 1244; ReichellKoberskilClasenlMenzel. TVG, § 5, Rn 3; WiedemannlWank. TVG, § 5, Rn 2; ZöllnerlLoritz. ArbR, § 37 III. 1., S. 417. 156 Bejahend etwa Däubler, TVR, Rn 1244; Dütz. ArbR, Rn 521; KempenlZachert, TVG, § 5 , Rn I f., 5 a. E.; LöwischlRieble. TVG, § 5, Rn 4-7; MünchArbRI Löwisch 1, § 261, Rn 4-7; Schaub. ArbR-Hdb. § 207. Rn 1 f.; Söllner, Grundriß ArbR, § 181. 1., S. 153 f.; WiedemannlWank. TVG, § 5, Rn 4 f. m.w.N); ablehnend BAG vom 24.1. 1979, AP Nr. 16 zu § 5 TVG, BI. 5; KüpperlSander, IW-Gewerkschaftsreport 1999, S. 35 (36); MünchArbRI LöwischlRieble. § 268, Rn 6 f.; Rieble. Arbeitsmarkt, Rn 301-304; ZöllnerlLoritz. ArbR, § 37 III. 1., S. 417. 157 Ebenso Rieble. Arbeitsmarkt, Rn 301. 158 Hueck/ Nipperdey, Lb ArbR lI/I, § 35. v., S. 678; Wiedemann I Wank. TVG, § 5, Rn 77. 159 So etwa Anseyl Koberski, AuR 1987, S. 230 (232); Däubler, TVR, Rn 1255; Gamillscheg, Koll. ArbR, § 19. 5. c), S. 897; WiedemannlWank, TVG, § 5, Rn 77 (m. w. N.); kritisch Frieling, Sittlicher Mindestlohn?, S. 204: eine subsidiäre Lohnsicherung kann schon erforderlich sein, bevor sich die Löhne dem Sozialhilfeniveau annähern. Ablehnend nunmehr auch: ReicheIlKoberski/ClasenIMenzel, TVG, § 5, Rn 65. 160 Siehe ReicheIl Koberski/Clasenl Menzel. TVG, § 5, Rn 65 (a. E.). 161 Vgl. etwa Böhm. NZA 1999, S. 128 (130); Schotz. Anm. zu BVerfG vom 18.7.2000, SAE 2000, S. 266 (268).

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der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung einen Tarifvertrag nur dann für allgemeinverbindlich erklären, wenn eine der Tarifvertragsparteien dies beantragt und sich hierfür in dem aus Vertretern der Spitzenorganisationen der Arbeitgeber und Arbeitnehmer bestehenden Ausschuß eine Mehrheit findet. 162 Eine Allgemeinverbindlicherklärung gegen den Willen einer der Tarifvertragsparteien ist demnach nicht möglich. Insgesamt ist die Bedeutung der staatlichen Mindestlohnfestsetzungen in Form einer Allgemeinverbindlicherklärung eher gering einzuschätzen. Anfang 1999 waren von rund 47.300 gültigen Tarifverträgen nur 588 für allgemeinverbindlich erklärt, also lediglich 1,2 %. Hinzu kommt, daß es sich hierbei nicht nur um Entgelttarifverträge handelt; lediglich 89 VOn den 588 allgemeinverbindlichen Tarifverträgen betrafen Lohn, Gehalt und Ausbildungsvergütung.163 (4) Arbeitnehmer-Entsendegesetz

Auch für den Bausektor ist mit dem Arbeitnehmer-Entsendegesetz vom 26. 2. 1996 164 (AEntG) die Grundlage dafür geschaffen worden, eine Art Mindestlohn festzulegen. Erklärtes Ziel des Gesetzes war und ist die Bekämpfung der Praxis ausländischer Unternehmen, Arbeitskräfte mit einer Vergütung von nur 20 bis 50 % des deutschen Lohnniveaus auf den deutschen Baustellen zu beschäftigen und somit Marktanteile zu gewinnen. 16S Mit Hilfe dieses Gesetzes sollen die Wettbewerbs situation der deutschen Bauunternehmer und damit auch die Arbeitsmarktchancen der deutschen Bauarbeiter verbessert, darüber hinaus aber auch einer Aushöhlung der Tarifautonomie entgegengewirkt werden. 166 Das mit dem Gesetz eröffnete Instrumentarium bestand zunächst allein darin, einen für allgemeinverbindiich erklärten Tarifvertrag sowohl auf inländische l67 als auch auf ausländische "Billigarbeitskräfte" anzuwenden, wenn dieser ein für alle Arbeitnehmer einheitliches Mindestentgelt enthält. Die bisher im AEntG enthaltene Beschränkung auf die unterste Lohngruppe eines Tarifvertrages ist mit der Neurege162 Allgemein zu den Voraussetzungen und dem Verfahren einer AVE vgl. Schaub, ArbRHdb, § 207, Rn 6-16. 163 Angaben nach Reichet! Koberski/ Clasen/ Menzel, TVG, § 5, Rn 2; laut Übersicht (auf S. 5) erfolgten vergütungsreIevante AVE vor allem in folgenden Wirtschaftsgruppen: Textilindustrie (5), Baugewerbe (7), Handel (23), Entsorgung, Reinigung und Körperpflege (31) sowie sonstige private Dienstleistungen (9). 164 BGBI. 1996 I, S. 227; vgl. dazu Hanau, NJW 1996, S. 1369-1373. 165 Darstellung der sozialen Situation bei Däubler; DB 1995, S. 726; Hickl, NZA 1997, S. 513 (513 f.) ; KoberskilSaht!Hold, AEntG, Einl., Rn 2-4; Mayer; BB 1993, S. 1428 (1428-1430). 166 Koberskil Saht! Hold, AEntG, Einl., Rn 6. 167 Zur Frage, ob das AEntG vom 25.2. 1996 und damit auch die Kontroll- und Sanktionsbestimmungen auf inländische Arbeitsverhältnisse Anwendung finden vgl. Hanau, NZA 1998, 1249 (1249 f.); kritisch Böhm, NZA 1999, S. 128 (129). 4 Franke

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lung des AEntG 168 entfallen, so daß sämtliche tariflichen Löhne einschließlich Überstundensätze auf die ins Inland entsandten Arbeitnehmer erstreckt werden können. 169 Die Neufassung des AEntG sieht darüber hinaus in § 1 Abs. 3a vor, daß der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung durch Rechtsverordnung die in einem Tarifvertrag niedergelegten Mindestarbeitsbedingungen der Baubranche auf tarifliche Außenseiter im Inland sowie auf Arbeitsverhältnisse zwischen einem Arbeitgeber mit Sitz im Ausland und ihrem im Geltungsbereich der Rechtsverordnung beschäftigten Arbeitnehmer für anwendbar erklären kann. In verfahrensrechtlicher Hinsicht ist lediglich erforderlich, daß zumindest eine Tarifvertragspartei einen entsprechenden Regelungsbedarf sieht und daher eine Allgemeinverbindlicherklärung beantragt hat. Eine erfolglose Durchführung eines Allgemeinverbindlichkeitsverfahrens nach § 5 TVG ist hingegen entbehrlich. 17o In diesem Punkt unterscheidet sich das AEntG n. F. entscheidend von dem MindArbBedG, dem HAG sowie der im TVG vorgesehenen Möglichkeit einer Allgemeinverbindlicherklärung. In diesen Gesetzen wird stets der Vorrang der Tarifautonomie zum Ausdruck gebracht und dem durch eine besondere Verfahrensbeteiligung der Tarifvertragsparteien Rechnung getragen. Dies ist aber bei § 1 Abs. 3a AEntG gerade nicht bzw. nicht in diesem Umfang der Fall. Genau an diesem Unterschied entfachen sich die Diskussionen um die Verfassungsmäßigkeit des § 1 Abs. 3a AEntG l7l , die aber inzwischen vom BVerfG mit dem Beschluß vom 18. 7. 2000 bejaht wurde. 172 Es bestehen jedoch nach wie vor Zweifel, ob die Erstreckung von Mindestarbeitsbedingungen auch auf nur vorübergehend im Inland tätige Arbeitnehmer mit den Grundsätzen des europäischen Binnenmarkts sowie der in Art. 49 EGV garantierten Dienstleistungsfreiheit vereinbar ist. 173 Eine weitere Besonderheit des AEntG gegenüber dem MindArbBedG, HAG sowie dem TVG besteht darin, daß die Nichtgewährung der festgelegten Mindestlöhne eine Ordnungswidrigkeit (§ 5 Abs. 1 Nr. 1 AEntG) darstellt und folglich mit einem Bußgeld geahndet werden kann. 174 168 Art. 10 des Gesetzes zu Korrekturen in der Sozialversicherung und zur Sicherung der Arbeitnehmerrechte vom 19. 12. 1998, BGBI. I, S. 3843. 169 Siehe Däubler, NJW 1999, S. 601 (607). 170 Vgl. Däubler, NJW 1999, S. 601 (607); v. Danwitz. RdA 1999, S. 322 (323); zustimmend wohl auch Meyer, NZA 1999, 121 (127). 171 Für Verfassungsmäßigkeit des AEntG etwa Blanke. AuR 1999, S. 417 (424-426); Däubler, NJW 1999, S. 601 (607); dagegen für Verfassungswidrigkeit des AEntG: v. Danwitz. RdA 1999, S. 322 (324-327, insbes. S. 326 zur Vereinbarkeit mit der Tarifautonomie); Küpper/Sander, IW-Gewerkschaftsreport 1999, S. 35 (37 f.); Scholz. Anm. zu BVerfG vom 18.7.2000, SAE 2000, S. 266 (267 -271). 172 BVerfG vom 18. 7. 2000, DB 2000, S. 1768 = SAE 2000, S. 265: Die in § 1 Abs. 3a AEntG vorgesehene Verfahrensbeteiligung der Tarifvertragsparteien ist ausreichend. 173 Widerspruch zu EG-Recht: Küpper/Sander, IW-Gewerkschaftsreport 1999, S. 35 (36); anders: Blanke. AuR 1999, S. 417 (422-424). Vgl. bereits zum AEntG (a. F.) etwa bei Gerken/Löwisch/Rieble. BB 1995, S. 2370 (2373 f.); Hanau. NJW 1996, S. 1369 (1371 f.).

H. Schutz vor Niedriglöhnen

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(5) Zusammenfassung

Auch wenn in der Bundesrepublik kein einheitlicher gesetzlicher Mindestlohn gilt, existieren gleichwohl Grundlagen für eine staatliche Festsetzung von Mindestlöhnen in Teilbereichen des Arbeitsmarktes, in denen der Schutz des Tarifsystems aufgrund seiner Eigenart nicht voll durchgreift. Aus der Möglichkeit staatlicher Festsetzung von Mindestlöhnen läßt sich schließen, daß unsere Rechtsordnung auf einen Schutz vor unangemessen niedrigen Löhnen und Entgelten gerichtet ist bzw. ein Absinken der Arbeitsentgelte unter eine "inakzeptable unterste Grenze" verhindern Will. 175 Gleichwohl verläßt sich der Gesetzgeber zur Herstellung von Lohngerechtigkeit in erster Linie auf das Tarifvertragssystem. bb) Tarifvertragssystem Die Zurückhaltung des Gesetzgebers im Tätigkeitsbereich der Tarifvertragsparteien beruht auf der Vorstellung, daß die unmittelbar Betroffenen ihre jeweiligen Interessen besser kennen und dementsprechend gerechtere Regelungen aushandeln können, als es dem Gesetzgeber möglich wäre. 176 Dahinter steht der Gedanke, daß auf der Ebene des kollektiven Arbeitsrechts mit den Tarifparteien und insbesondere der Möglichkeit des Arbeitskampfes machtgleiche Partner erreicht werden, die durch ihre (Tarif-)Verträge Arbeitsbedingungen schaffen. Wegen der Machtgleichheit der Tarifpartner soll auf der tarifvertraglichen Ebene das Vertragsmodell und die damit verbundene Richtigkeitsgewähr verwirklicht sein. 177 Dabei ist es gerade das Ziel der Tarifautonomie, durch kollektives Handeln die strukturelle Unterlegenheit der einzelnen Arbeitnehmer beim Abschluß von Arbeitsverträgen auszugleichen und auf diese Weise ein annähernd gleichgewichtiges Aushandeln der Löhne (und Arbeitsbedingungen) zu erreichen. 178 Angesichts des Einflusses und der Bedeutung der Gewerkschaften wird grundsätzlich davon ausgegangen, daß bei tariflichen Regelungen speziell auch auf die schutzwerten Interessen der Ar174 Zur Durchsetzung des Entge1tschutzes nach dem MindArbBedG und HAG siehe unten D. 11. 2. a). 175 Ähnlich HuecklNipperdey, Lb ArbR HIl, § 36. v., S. 679.; Peter, Gesetzlicher Mindestlohn, S. 138. 176 Vgl. etwa BVerfG vom 27.2. 1973, BVerfGE 34, S. 307 (317). 177 Siehe etwa BAG vom 4.9. 1985, AP Nr. 123 zu § 611 BGB (Gratifikation), BI. 3; BAG vom 10.6. 1980, AP Nr. 64 zu Art. 9 GG (Arbeitskampf), BI. 4; BAG vom 10. 3. 1982, AP Nr. 47 zu § 242 (Gleichbehandlung), BI. 5; BAG vom 6. 9. 1995, AP Nr. 22 zu § 611 BGB (Ausbildungsbeihilfe), BI. 4; Broxl Rüthers, ArbR, Rn 4; Dütz, ArbR, Rn 572; Gamillscheg, Koll. ArbR, § 7. 11. 1. a) (1), S. 284 f.; ders., RdA 1968, S. 407 (409); Rieble, Arbeitsmarkt, Rn 1211; Singer, ZfA 1995, S. 611 (626-629): Richtigkeitsgewähr jdfs. bei Interessenparallelität im Lager der jeweils Repräsentierten. Kritisch Gast, BB 1991, S. 1053 (1058); Kempen / Zachert, TVG, Grundl., Rn 88; Wiedemann, TVG, § 1, Rn 225 - 226. 178 BVerfG vom 26.6.1991, BVerfGE 84, S. 212 (229).

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beitnehmer gebührend Rücksicht genommen wird. 179 Dementsprechend wird erwartet, daß ein differenziertes Tarifwerk über die bloße Befriedigung der notwendigen sozialen und wirtschaftlichen Bedürfnisse einzelner Arbeitnehmergruppen hinausgeht und auf die Festsetzung angemessener Löhne zielt. 18o (1) Reichweite tarifvertraglicher Mindestlöhne

Der tarifvertragliche Schutz ist nur begrenzt, da die in Tarifverträgen getroffenen (Entgelt-)Regelungen nicht alle Arbeitsverhältnisse erfassen. Nur in jenen Arbeitsverhältnissen, die unter den Geltungsbereich l81 des jeweiligen Tarifvertrages fallen und in denen sowohl Arbeitgeber als auch Arbeitnehmer nach § 3 Abs. I TVG tarifgebunden sind l82 , gilt das Tarifentgelt unmittelbar und zwingend und damit als unabdingbarer Mindestlohn. Aufgrund des stetig sinkenden gewerkschaftlichen Organisationsgrades unterliegen weniger als 30 % der Arbeitsverhältnisse dem unmittelbaren und zwingenden Schutz der Tarifnormen. 183 Da Tarifverträge in den übrigen Arbeitsverhältnissen keine unmittelbare und zwingende Wirkung entfalten, vermag der Tariflohn in diesem Bereich kein normativ wirkendes Mindestlohnniveau zu schaffen. Andererseits ist die Reichweite der tariflichen Entgeltregelungen nicht auf die unmittelbar Tarifgebundenen beschränkt. Denn auch bei nicht Tarifgebundenen werden die Regelungen des einschlägigen Tarifvertrages oftmals durch eine einzelvertragliche Bezugnahmeklausel zum Bestandteil des Arbeitsvertrages und damit ebenfalls zur verbindlichen Grundlage des Entgeltanspruchs. In diesen Fällen gilt der Tarifvertrag jedoch nicht normativ, sondern lediglich aufgrund einer vertraglichen Vereinbarung, so daß später auch eine Abweichung von den Tarifnormen zuungunsten des Arbeitnehmers möglich iSt. 184 Berücksichtigt man neben den Fällen der beiderseitigen Tarifbindung und einer Allgemeinverbindlicherklärung auch die Anwendung von Tarifverträgen aufgrund einer einzelvertraglichen Bezugnahme, so richtet sich das Arbeitsentgelt nach einer Schätzung in 80 bis 90 % aller Arbeitsverhältnisse direkt oder mittelbar nach der tariflichen Entgeltentwicklung. 185 Diese Tatsache besagt allerdings noch nichts 179 Vgl. nur BAG vom 4. 12. 1969, AP Nr. 32 zu § 620 BGB (Befristeter Arbeitsvertrag), BI. 2; BAG vom 30. 9. 1972, AP Nr. 36 zu § 620 BGB (Befristeter Arbeitsvertrag), BI. 2 RS; BAG vom 6.2. 1985, AP Nr. 1 TVG (Tarifverträge: Süßwarenindustrie), BI. 4. 180 So Fitting, RdA 1952, S. 5 (9). 181 Zum räumlichen, betrieblichen, fachlichen, persönlichen und zeitlichen Geltungsbereich vgl. Schaub, ArbR-Hdb, § 203, Rn 2-50; ZöllnerlLoritz, ArbR, § 37 11., S. 414-417. 182 Zur Tarifbindung vgl. Söllner, Grundriß ArbR, § 16 IV., S. 143 f.; ZöllnerlLoritz, ArbR, § 37 1., S. 411- 414. 183 Vgl. PeterlPeter, Der Entgeltanspruch, Rn 2. 184 Zur einzelvertraglichen Bezugnahme vgl. Gaul, NZA 1998, S. 9 (9-11); Etzel, NZA Beil. Nr. 1/ 1987, S. 19 (25 - 29). 185 Vgl. die Angaben bei HanaulPreis, Der Arbeitsvertrag, I B, Rn 25; Streek, GMH 1996, S. 86 (87). Ferner Clasen, BABI. 1999, S. 5 (6).

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darüber, in welchem Umfang die Entgeluarifverträge in den nichUarifgebundenen Arbeitsverhältnissen zu Anwendung gelangen, mit anderen Worten, ob lediglich auf die tarifliche Grundvergütung oder auch auf tariflich vorgesehene Zulagen und Zuschläge oder einmalige Leistungen Bezug genommen wird. Der Umfang der Verweisung kann aber zu erheblichen Unterschieden in der Entgelthöhe führen. (2) Qualität tarifvertraglicher Mindestlöhne

Soweit sich die Höhe des Arbeitsentgelts nach einem Tarifvertrag richtet, ist fraglich, inwieweit der Arbeitnehmer vor Niedriglöhnen geschützt ist. Vielfach wird den in Tarifverträgen festgelegten Lohnsätzen der Charakter von Mindestlöhnen beigemessen, welche - jedenfalls bei Vollzeitbeschäftigung - erfolgreich vor Einkommensarmut schützen und somit zur Existenzsicherung ausreichen. 186 Dabei wird es auch als Verdienst der Tarifautonomie angesehen, daß "Hungerlöhne" praktisch kaum noch anzutreffen sind. 187 Dennoch muß gesehen werden, daß die Differenzierungen der tariflichen Entgelte bereits erheblich sind und stetig zunehmen. So sehen die 1998 geschlossenen Tarifverträge eine stärkere Differenzierung und zum Teil auch Absenkung der Tarifvergütung vor - sie enthalten Einstiegstarife für neu eingestellte Arbeitnehmer, Berufsanfänger und Langzeitarbeitslose sowie Entgeltkorridore mit bis zu 10 % geringeren Entgelten. Ferner können Tarifverträge zur Beschäftigungssicherung, nach denen das Arbeitsentgelt entsprechend der Arbeitszeitverkürzung abgesenkt werden kann, aber auch Kleinbetriebs-, Öffnungs- und Härteklauseln zu einem geringeren Entgelt führen. 188 Nach einer Auswertung der Lohn- und Gehalts- bzw. Entgelttarifverträge aus 650 Bereichen führt die tarifvertragliche Lohndifferenzierung dazu, daß die Grundvergütung bei Vollzeitbeschäftigung je nach Branche, Region und Vergütungsgruppe mehr als 20.000 DM pro Monat beträgt, während sie in anderen Bereichen nicht einmal 1.000 DM (brutto) erreicht. 189 Darüber hinaus existieren ganze Branchen und Tätigkeitsbereiche, in denen die tariflichen Grundvergütungen zum Teil auf einem ausgesprochen niedrigen Niveau angesiedelt sind. 19o In der Bundesrepublik haben sich über die Jahrzehnte typische Niedriglohnbranchen entwickelt; außerdem treten Niedrigeinkommen auch in Teilbereichen einer Branche, in bestimmten Regionen sowie im unteren Vergütungsbe186 So etwa AdamylHanesch. Erwerbsarbeit und soziale Ungleichheit, S. 161 (162). Ähnlich Beuthien. RdA 1969, S. 161 (165); Rieble. Arbeitsmarkt, Rn 930: Tarifverträge schaffen angemessene Löhne, vgl. auch Rn 1756: Tarifentgelte definieren nicht nur das eben noch Angemessene, sondern das "vernünftigte, richtige Entgelt". 187 Siehe Preis. AuR 1994, S. 139 (144). 188 Vgl. im einzelnen Clasen. BABI. 1999, S. 5 (5, 8 f.). 189 Clasen. BABI. 1999, S. 5 (9): Stand vom 31. 12. 1998. 190 Vgl. im einzelnen Bispinck. Tarifliche Niedrigeinkommen, S. 35 ff. (insbes. 41- 49).

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reich auf. 191 So erhält beispielsweise eine Näherin in der bayrischen Bekleidungsindustrie einen tariflichen Bruttogrundlohn von 2.456 DM. Der Tarif für einen Filmvorführer in einem Filmtheater in Frankfurt a. M. beträgt 2.306 DM. Eine Friseurin ("Erste Kraft") in der Pfalz bekommt einen Grundverdienst von 2.240 DM. Eine Floristin im 3. Jahr hat in Niedersachsen einen tariflichen Entgeltanspruch von 2.137 DM. Eine Fischverpackerin in Cuxhaven erhält 2.011 DM. In Niedersachsen bekommt eine Verkäuferin ab dem 2. Berufsjahr eine Grundvergütung von 2.144 DM, eine ungelernte Verkäuferin im Bäckerhandwerk erhält im Saarland 1.620 DM. Der tarifliche Entgeltanspruch eines Pagen in einem saarländischen Hotel beträgt 1.616 DM. I92 Für tarifliche Niedrigeinkommen ließen sich zahlreiche weitere Beispiele finden, wobei 1995 das monatliche Grundgehalt für Angestellte in der rheinland-pfälzischen Lederwaren- und Kofferindustrie mit 1.252 DM die niedrigste Vergütungsgruppe darstellte. 193 Insgesamt ergab eine empirische Untersuchung von Bispinck, daß in sämtlichen der 43 untersuchten Tarifbranchen zumindest die unterste Vergütungs gruppe (Anfangsstufe) unter der Grenze von 2.000 DM lag. Dabei lag das Bruttoeinkommen bei immerhin zehn Branchen unterhalb von 1.600 DM, in weiteren 13 Branchen unter 1.800 DM. Selbst die nächsthöheren Gruppen erreichten häufig noch nicht den Grenzwert von 2.000 DM. 194 Tarifliche Niedrigeinkommen finden sich jedoch nicht nur in den untersten Vergütungsgruppen. Auch die mittlere Vergütungsgruppe lag in 32 der 43 Tarifbranchen unter dem Niveau von 2.500 DM. Damit erhielten auch diejenigen Arbeitnehmer, die nach einer abgeschlossenen, also regelmäßig dreijährigen Berufsausbildung tarifgerecht eingruppiert wurden, bei einer angenommenen Wochenarbeitszeit von 37,5 Stunden einen Stundenlohn bzw. -gehalt von umgerechnet nicht mehr als 15 DM l95 - und dabei handelt es sich um Bruttolöhne. Dies gilt wiederum nicht nur für die Anfangsstufe der mittleren Vergütungsgruppen; so liegen im Friseurgewerbe Rheinland-Pfalz neben der mittleren selbst die vier weiteren Vergütungsgruppen unterhalb des Grenzwertes von 2.500 DM. 196 Hinzu kommt, daß tarifliche Niedrigeinkommen nicht nur in wirtschaftlich schwa191 Hierzu Bispinck, Tarifliche Niedrigeinkommen, S. 35 (48- 49). Vgl. auch Bäcker/ Hanesch, Niedrigeinkommen, S. 109 f. 192 Vgl. ausführlich Bispinck, Tarifliche Niedrigeinkommen, S. 35 (44, 47, 53-54) nach Angaben des WSI-Tarifarchivs (Stand 31. 12. 1995). Speziell für niedrige tarifliche Grundvergütungen in NRW: Bäcker/Hanesch, WSI-Mitt. 1997, S. 701 (707) nach Angaben des WSI-Tarifarchivs (Stand: 31. 12. 1996); dies., Niedrigeinkommen, S. 90 nach Angaben des WSI-Tarifarchivs (Stand. 31. 12. 1996). 193 Bispinck, Tarifliche Niedrigeinkommen, S. 35 (53). 194 Bispinck, Tarifliche Niedrigeinkommen, S. 35 (44, 53 f.). Speziell für NRW vgl. Bäkker/Hanesch, Niedrigeinkommen S. 106 f. 195 Bispinck, a. a. 0., S. 35 (39, 45, 55): z. B. bayrische Bekleidungsindustrie; Schuhindustrie im Bundesgebiet; Einzelhandel Niedersachsen; Florist-Fachbetriebe Niedersachsen und Bayern und als Schlußlicht Lederwaren- und Kofferindustrie Rheinland-Pfalz mit nur 1.547 DM. Speziell für NRW: Bäcker/Hanesch, Niedrigeinkommen, S. 103 f. 1% Bispinck, Tarifliche Niedrigeinkommen, S. 45 f.

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chen Unternehmen vorkommen. Auch in einem Weltkonzern wie McDonald's werden sehr niedrige Arbeitsentgelte gezahlt. 197 Bereits anhand dieser Beispiele wird sichtbar, daß auch die tarifvertraglichen Lohnsätze nicht immer ein existenzsicherndes Einkommen garantieren (können). Sobald Unterhaltsverpflichtungen bestehen, erweisen sich viele Tarifentgelte gemessen am durchschnittlichen Bedarf im Rahmen der "Hilfe zum Lebensunterhalt" als unzureichend l98 : Dieser belief sich nämlich im Jahre 1999 bei Ehepaaren mit einem Kind auf 2.421 DM, bei zwei Kindern auf 2.931 DM, bei drei Kindern auf 3.462 DM. Bei Alleinerziehenden mit einem Kind unter sieben Jahren betrug die "Hilfe zum Lebensunterhalt" 1.941 DM, bei zwei Kindern zwischen sieben und 13 Jahren 2.556 DM. 199 Geht man hingegen von einem Alleinstehenden aus, so liegen selbst die niedrigen Tarifeinkommen in der untersten Vergütungsgruppe in aller Regel - zumindest noch knapp - oberhalb des maßgeblichen Sozialhilfesatzes in Höhe von 1.181 DM 2OO • Da die - einzelvertraglich und auch tariflich festgelegten - Arbeitsentgelte je nach Familienkonstellation nicht immer bzw. teilweise nur kaum zur Existenzsicherung ausreichen, wird zunehmend die Forderung nach einem allgemeingültigen nationalen Mindestlohn gestellt. Während teilweise die Verhandlungsmacht der Gewerkschaften noch derart eingeschätzt wird, daß sie ohne weiteres ein Einkommensniveau deutlich oberhalb des Sozialhilfeniveaus sicherstellen können201 , wird ein allgemeingültiger tariflicher Mindestlohn immer öfter nur als (subsidiäre) Alternative zu einem gesetzlichen Mindestlohn diskutiert und die Forderung nach der Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns immer konkreter. 202

d) Vertragsfreiheit

Wenn keine rechtlichen Einschränkungen bestehen, gilt im Arbeitsrecht das Prinzip der Vertragsfreiheit. 203 Soweit also gesetzliche Vorgaben an die MindestSiehe Peter, AuR 1999, S. 289. Vgl. auch Peter, Gesetzlicher Mindestlohn, S. 72; allgemein, also nicht speziell auf Tarifentge1te bezogen Welzmüller, Niedrige Arbeitseinkommen, S. 129 (130 f.). 199 Angaben nach BreuerlEngels, Sozialhilfe, S. 25. 200 Zum Sozialhilfesatz vgl. Breuerl Engels, Sozialhilfe, S. 25. Vgl. auch die Vergleichsberechnung bei Hanz, NDV 1998, S. 253 (254). 201 Welzmüller, Niedrige Arbeitseinkommen, S. 129 (135). 202 Vgl. etwa Bieback, RdA 2000, S. 207 (209 f.); Hensche, Sozialismus 1/1999, S. 36 (44); Peter, Mindestlohn ohne Gesetz?, S. 241 (248 f.); dies., GMH 1998, S. 90 (95 f.); dies., AuR 1999, S. 289 (295); PohllSchäfer, Niedriglöhne (Vorwort), S. 12; Schäfer, WSIMitt. 1991, S. 711 (722 f.); ders., Armut trotz Arbeit, S. 57 (76); ders., Empirische Überraschung, S. 83 (105); Welzmüller, GMH 1985, S. 362 (370). 203 Allgemeiner Überblick zur Vertragsfreiheit und den Einschränkung im Arbeitsrecht bei Söllner, Grundriß ArbR, § 28 I. 2., S. 248-251; ZöllnerlLoritz, ArbR, § 11 III., S. 158-161. 197 198

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B. Bedürfnis nach einern Mindestlohn

lohnhöhe nicht einschlägig sind und es auch an einem nonnativ wirkenden Entgelttarifvertrag fehlt, können die Arbeitsvertragsparteien die Entgelthöhe im Arbeitsvertrag frei vereinbaren, ohne an eine absolute Untergrenze gebunden zu sein. Da die Möglichkeiten zur staatlichen Lohnregelung sehr begrenzt sind und weniger als 30 % der Arbeitsverhältnisse unter die nonnative Wirkung von Tarifverträgen fallen, liegt es auf der Hand, daß in der ganz überwiegenden Zahl der Arbeitsverhältnisse die Entge1thöhe frei vereinbart wird. Ist die Entgelthöhe frei verhandelbar, so steht man jedoch wieder vor dem Problem, daß der "durchschnittliche" Arbeitnehmer oftmals nicht in der Lage sein wird, seine Interessen gleichgewichtig gegenüber dem Arbeitgeber zu vertreten. Denn auch wenn sich die Stellung der Arbeitnehmer im Vergleich zu früheren Jahrzehnten zweifelsohne verbessert hat, bleibt es in den weder gesetzlich noch tariflich erfaßten Bereichen dabei, daß der Arbeitgeber gegenüber einem einzelnen Arbeitnehmer "sein Übergewicht ausspielen kann".204 Dies gilt um so mehr, als Arbeitnehmer angesichts der hohen Arbeitslosigkeit nicht selten vor der Alternative stehen werden, entweder das Angebot des Arbeitgebers zu akzeptieren oder aber auf einen Vertragsschluß zu verzichten. Gerade unter diesen Voraussetzungen sind die Arbeitgeber in der Lage, den wegen zu hoher Arbeitskosten empfundenen (Wettbewerbs-)Druck weiterzugeben und ein niedriges Arbeitsentgelt durchzusetzen. Dabei sind in nichttarifgebundenen Arbeitsverhältnissen auch solche Lohnvereinbarungen zulässig, die erheblich unterhalb des Tariflohnes liegen. 205 Was das im Einzelfall bedeuten kann, läßt sich vor dem Hintergrund der von Bispinck206 zu tariflichen Niedrigeinkommen durchgeführten Untersuchung lebhaft vorstellen. Da sich die mit dem Grundsatz der Vertragsfreiheit verbundene Vorstellung eines angemessenen Interessenausgleichs bei der Vereinbarung der Arbeitsvertragsbedingungen nicht (immer) verwirklicht, muß angesichts der Bedeutung des Arbeitsentgelts für die Beschäftigten - vor allem im tariffreien Bereich - jedenfalls gewährleistet werden, daß das Arbeitsentgelt nicht "ins Bodenlose sinkt". Ob hierzu ein allgemeingültiger gesetzlicher Mindestlohn - in welcher Höhe auch immer - erforderlich und vor allem ob er sozial- und wirtschaftspolitisch überhaupt sinnvoll ist, mag dahinstehen. Solange es jedenfalls an einem allgemeingültigen gesetzlichen Mindestlohn fehlt, kann und muß zumindest durch die Rechtsprechung "Auswüchsen der Vertragsfreiheit" entgegengewirkt und durch eine Art "richterlichen Mindestlohn" eine unterste Entgeltgrenze festgesetzt werden?07 Gerade vor diesem Hintergrund könnten das Sittenwidrigkeits-, speziell das Wucherverbot Bedeutung erlangen. Noch stärker wäre der über einen "richterlichen Mindestlohn" bewirkte Schutz selbstverständlich, wenn Arbeitsentgelte einer Angemessenheitskontrolle unterzogen und entsprechend korrigiert werden könnten. 204 So auch v. Arnim, Die Verfallbarkeit, S. 52 f.; Hildebrandt, Inha1tskontrolle im ArbR, S. 99. Vgl. auch Schändorf, AAB, S. 4 f. 205 So BAG vorn 10. 12. 1958, BAGE 7, S. 125 (128). 206 Bispinck, Tarifliche Niedrigeinkornrnen, S. 35 ff. (insbes. 41 - 49). 207 Vgl. auch MünchArbRI Hanau, § 63, Rn 2 a. E.

III. Ergebnis

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III. Ergebnis Es existieren zwar zahlreiche Vorkehrungen, mit deren Hilfe den Arbeitnehmern ein Mindestlohn gesichert werden soll - so wird neben einzelnen Möglichkeiten zur gesetzlichen Lohnfestsetzung vor allem durch die Entgelttarifverträge ein Mindestlohnniveau geschaffen. Da aber gesetzliche Vorgaben die Ausnahme bilden und auch Tarifverträge nur bei beiderseitiger Tarifbindung oder Allgemeinverbindlicherklärung nonnativ gelten, existiert für die Mehrzahl der Arbeitsverhältnisse keine zwingende Untergrenze, so daß die Entgelthöhe frei verhandelbar ist. In der Praxis bewirkt aber die Vertragsfreiheit bezüglich des Arbeitsentgelts oftmals die einseitige Bestimmung durch den Arbeitgeber und damit teilweise auch sehr niedrige Vergütungen. Vor diesem Hintergrund besteht das Bedürfnis, auf der Basis des Sittenwidrigkeits- bzw. Wucherverbots eine unterste Entgeltgrenze und damit eine Art "richterlichen Mindestlohn" zu schaffen.

c. Inhaltskontrolle bei niedrigen Löhnen Mangels eines gesetzlichen Mindestlohnes existiert keine absolute und zwingende Untergrenze, die von den Tarif- oder Arbeitsvertragsparteien bei Entgeltvereinbarungen zu beachten wäre. Vielmehr gilt für die Tarif- wie für die Arbeitsvertragsparteien das zivilrechtliche Selbstbestimmungsmodell der Vertragsfreiheit. Für letztere gilt dies selbstverständlich nur bei fehlender Bindung an einen Entgelttarifvertrag. Im Rahmen der Vertragsfreiheit bleibt es den Vertragsparteien überlassen, ihre gegenläufigen Interessen angemessen auszugleichen. Die im Rahmen der Privatautonomie getroffenen Regelungen sind vom Staat grundsätzlich zu respektieren. 1 Gleichwohl vermag die Vertragsfreiheit nur dann zu einem angemessenen Interessenausgleich zu führen, wenn zwischen den Vertragspartnern ein annäherndes Verhandlungsgleichgewicht besteht und somit für beide Seiten eine freie Selbstbestimmung gewährleistet ist. 2 Inzwischen hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, daß es Fälle gestörter Vertragsparität gibt, in denen von einem angemessenen Interessenausgleich im Vertrag nicht mehr ausgegangen werden kann? In der Literatur und Rechtsprechung wird die Vertragsfreiheit keineswegs mehr als uneinschränkbares Prinzip angesehen, denn "die Vertragsfreiheit kann um ihrer selbst willen nicht unbeschränkt sein, sie hebt sich anderenfalls als Rechtsinstitut selbst auf, weil sie nicht mehr die Freiheit der Selbstbestimmung gewährleistet, sondern einseitige Fremdbestimmung zur Folge hat. ,,4 Grundlegend für die Vertragsrechtslehre sind vor allem zwei jüngere Entscheidungen des BVerfG. So führte das BVerfG in seiner "Handelsvertreterentscheidung" vom 7. 2. 19905 aus, daß Schranken der Privatautonomie unentbehrlich seien; denn wenn einer der Vertragsteile ein so starkes Übergewicht habe, daß er 1 Beispielhaft BVerfG vorn 7. 2. 1990, BVerfGE 81, S. 242 (254); BAG vorn 16. 3. 1994, NZA 937 (939) =AP Nr. 16 zu § 611 BGB (Ausbildungsbeihilfe). 2 Vgl. nur BVerfG vorn 7. 2. 1990, BVerfGE 81, S. 242 (254 f.); BVerfG vorn 28. 1. 1992, AuR 1992, S. 187 (189); BAG vorn 16. 3. 1994, NZA 1994, S. 937 (939); Dieterich, RdA 1995, S. 129 (131); Hildebrandt, Inhaltskontrolle im ArbR, S. 17 -19; Larenz/Wolj. AT, § 2, Rn 49. 3 Zum Wandel des Verständnisses in der Vertragsrechtslehre vgl. Dieterich, RdA 1995, S. 129 (131); Limbach, JuS 1985, S. 10 (10-13). 4 Stellvertretend für das Schrifttum siehe Fischer; DRiZ 1974, S. 209 (212). 5 BVerfG vorn 7.2. 1990, BVerfGE 81, S. 242 (254-256) = AP Nr. 65 zu Art. 12 GG mit zustimmender Anm. von Canaris, a. a. 0., BI. 7 - 8 = JZ 1990, S. 691 mit zustimmender Anm. von Wiedemann, JZ 1990, S. 695 (696 f.).

c. Inhaltskontrolle bei niedrigen Löhnen

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vertragliche Regelungen faktisch einseitig bestimmen könne, dann bewirke dies für den anderen Vertragsteil Fremdbestimmung. Es sei sodann Aufgabe der Gesetzgebung und der Rechtsprechung, ausgleichend einzugreifen. Soweit es an zwingenden gesetzlichen Vorgaben fehle, richte sich der entsprechende Schutzauftrag der Verfassung an den Richter, der im Falle gestörter Vertragsparität mit den Mitteln des Zivilrechts für einen angemessenen Ausgleich zu sorgen habe. Mit der sog. "Bürgschaftsentscheidung" vom 19. 10. 1993 bestätigte das BVerfG6 diese Auffassung und sprach sogar von einer richterlichen Pflicht zur Inhaltskontrolle, wenn der Inhalt des Vertrages für eine Seite ungewöhnlich belastend und als Interessenausgleich offensichtlich unangemessen sei. Die Gerichte hätten insoweit zu klären, ob die belastende Regelung aus einer strukturell ungleichen Verhandlungsstärke resultiere und gegebenenfalls im Rahmen der Generalklausein korrigiert werden müsse. 7 Zwar besteht nach wie vor keine Einigkeit darüber, ob sich der Arbeitnehmer bei Abschluß des Arbeitsvertrages typischerweise in einer ungünstigeren Verhandlungsposition befindet. 8 Weil der Arbeitnehmer aber normalerweise auf den Arbeitsplatz angewiesen ist, wird überwiegend von einer unterlegenen Verhandlungsposition des Arbeitnehmers und somit von einer gestörten Vertragsparität ausgegangen. 9 Diese Auffassung darf sich durch die Rechtsprechung, insbesondere auch durch das BVerfG bestätigt fühlen. lO Sicherlich kann man nicht für sämtliche Arbeitnehmer davon ausgehen, daß sie nicht in der Lage sind, ihre Interessen bei Vertragsschluß gleichgewichtig zu vertreten. Insbesondere solche Personen, die etwa wegen ihrer besonderen Qualifikation für das Unternehmen besonders wichtig sind, dürften reale Chancen haben, ihre Interessen bei der Vertragsgestaltung durchzusetzen. Soweit jedoch Arbeitnehmer zu Niedriglöhnen oder gar "Hungerlöhnen" beschäftigt werden, läßt sich bereits aus dieser Tatsache schließen, daß es bei Vertrags schluß an einem annähernd ausgewogenen Verhandlungsverhältnis der Vertragspartner fehlte. Niemand würde aus freien Stücken einen Niedriglohn vereinbaren. ll In diesem Bereich stellt sich daher die Frage, inwieweit mit den MitBVerfG vom 19.10.1993, NJW 1994, S. 36 =BVerfGE 89, S. 214. BVerfG vom 19. 10. 1993, NJW 1994, S. 36 (39) mit zustimmender Anm. von Preis/ Rolfs, DB 1994, S. 261 (264). 8 Kritisch etwa Zöllner, AcP 176, S. 221 (insbes. 229 - 243); ebenso Rieble, Arbeitsmarkt, Rn 847 f., 926; allgemein: Banholomeyczik, AcP 166, S. 30 (57): Machtlage der Vertragsschließenden ist nicht meßbar. 9 Statt vieler Dieterich, RdA 1995, S. 129 (135); Fastrich, RdA 1997, S. 65 (75); Hildebrandt, Inhaltskontrolle im ArbR, S. 97 -99; Lieb, ArbR, Rn 115; MünchArbRI Richardi 1, § 14, Rn 61 i. V. m. 63; Singer, ZfA 1995, S. 611 (612); Wolf, RdA 1988, S. 270 (272); trotz Kritik am Imparitätsargument auch Zöllner/Loritz, ArbR, § 1 I. 1., S. 2. Hierzu ausführlich unten C. I. 2. c) aa). 10 Vgl. BVerfG vom 28.1. 1992, AuR 1992, S. 187 (189); BAG vom 31. 3.1966, AP Nr. 54 zu § 611 (Gratifikation), BI. 2 RS; BAG vom 16. 3. 1994, NZA 1994, S. 937 (940) mit zustimmender Anmerkung von Mayer, AiB 1994, S. 662 (663 f.); zustimmend Däubler, Anm. zu ArbG Reutlingen vom 16. 1. 1996, AiB 1996, S. 500. 6 7

C. Inhaltskontrolle bei niedrigen Löhnen

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teIn des Zivilrechts der Vertragsfreiheit Schranken zu setzen sind, um bei gestörter Vertragsparität für einen angemessenen Ausgleich zu sorgen. Als Grundlage für eine gerichtliche Überprüfung von individuellen Lohnvereinbarungen kommen die zivilrechtlichen Generalklauseln in Betracht. Klassische Grenze 12 eines jeden Rechtsgeschäfts ist das Verbot sittenwidriger Vereinbarungen nach § 138 BGB. Daneben wäre im Rahmen der § 242 oder § 315 BGB eine richterliche Inhaltskontrolle im Sinne einer Angemessenheitskontrolle von Lohnvereinbarungen zu erwägen. Dabei ist bereits vorab festzuhalten, daß für die Beurteilung der Sittenwidrigkeit und (Un-)Angemessenheit verschieden enge Maßstäbe anzulegen sind. 13 "Noch niedrigere" Löhne sind aber oftmals in solchen Arbeitsverhältnissen anzutreffen, die mit öffentlichen Mitteln gefördert werden, so etwa im Rahmen von Arbeitsbeschaffungs- und Strukturanpassungsmaßnahmen. Aufgrund des besonderen Zwecks dieser Arbeitsverhältnisse wird zwar die arbeitsvertragliche Vereinbarung niedriger(er) Vergütungen als zulässig angesehen. 14 Soweit aber bei individuellen (Niedrig-)Lohnvereinbarungen in "normalen", also ungeförderten Arbeitsverhältnissen eine gerichtliche Kontrolle und möglicherweise eine Korrektur "nach oben" erfolgen kann, ist zu prüfen, ob auch bei mit öffentlichen Mitteln geförderten Arbeitsverhältnissen eine entsprechende Betrachtung möglich oder sogar geboten iSt. 15 Schließlich finden sich Niedriglöhne nicht nur bei individuellen Lohnvereinbarungen. Vielmehr sind auch in Tarifverträgen Vergütungen festgesetzt, die dem Niedriglohnbereich zuzurechnen sind. 16 Allerdings wird bei tariflichen Regelungen allgemein von einer materiellen Richtigkeitsgewähr ausgegangen, weil sie die Vermutung für sich haben, daß sie den Interessen beider Seiten gerecht werdenP Vor diesem Hintergrund ist es problematisch, ob und inwieweit tarifliche Niedriglöhne einer gerichtlichen Sittenwidrigkeits- oder gar Angemessenheitskontrolle und gegebenenfalls einer Korrektor unterzogen werden können.

Vgl. auch Peter, Mindestlohn ohne Gesetz?, S. 241 (244). Preis, AuR 1994, S. 139 (144). 13 Statt vieler Fastrich, RdA 1997, S. 65 (70). Dazu unten C.!. 1. a) aa) (5) (e) (aa) (ß). 14 So etwa BAG vom 18. 6. 1997, SAE 1998, S. 33 (35) zu ABM; BAG vom 11. 10. 1995, SAE 1997, S. 113 (116) zu mit öffentlichen Mitteln finanzierten Ausbildungsverhältnis. 15 Spind/er, AuR 1999, S. 296 (298): hält eine unterschiedliche Beurteilung für widersinnig. 16 Siehe oben B. 11. 2. c) bb) (2). 17 Siehe nur BAG vom 4. 9. 1985, AP Nr. 123 zu § 611 BGB (Gratifikation), BI. 3; BAG vom 10. 6. 1980, AP Nr. 64 zu Art. 9 GG (Arbeitskampf), BI. 4; BAG vom 10. 3. 1982, AP Nr. 47 zu § 242 BGB (Gleichbehandlung), BI. 5; BAG vom 6.9. 1995, AP Nr. 22 zu § 611 BGB (Ausbildungsbeihilfe), BI. 4; Gamillscheg, Koll. ArbR, § 7. 11. 1. a), S. 284 f. m. w. N.; Zachen, AuR 1988, S. 248 (249). 1I

12

I. Individuelle Lohnvereinbarungen

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I. Individuelle Lohnvereinbarungen 1. Sittenwidrigkeitskontrolle

Das BAG und die Instanzgerichte haben Lohnvereinbarungen am Verbot sittenwidriger Vereinbarungen nach § 138 BGB gemessen. Dabei erweist sich § 138 BGB in der Tat als eine Norm, mit deren Hilfe gestörte Vertragsparität ausgeglichen und einem Mißbrauch wirtschaftlicher Macht entgegengewirkt werden kann. 18 Wenn § 138 BGB als Kontrollrnaßstab für die Lohnhöhe herangezogen wird, muß zwischen dem (allgemeinen) Sittenwidrigkeitstatbestand in Absatz 1 und dem (besonderen) Wuchertatbestand in Absatz 2 unterschieden werden. So ist ein (Arbeits-)Vertrag wegen Sittenwidrigkeit nach § 138 Abs. 1 BGB nichtig, wenn er nach Inhalt, Zweck und Beweggrund gegen das Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden verstößt. 19 Nichtig wegen Sittenwidrigkeit sind nach § 138 Abs. 2 BGB insbesondere wucherische Rechtsgeschäfte. Von Wucher ist bei einem Arbeitsvertrag auszugehen, wenn eine Zwangslage, eine Unerfahrenheit, ein Mangel an Urteilsvermögen oder eine erhebliche Willensschwäche eines anderen ausgebeutet wird und der Wert der Arbeitsleistung und die Arbeitsvergütung in einem auffälligen Mißverhältnis zueinander stehen. 2o Sofern es an den subjektiven Voraussetzungen des § 138 Abs. 2 BGB fehlt, kann immer noch Sittenwidrigkeit nach § 138 Abs. 1 BGB anzunehmen sein, wenn neben der Äquivalenzstörung weitere Umstände vorliegen, aufgrund derer es nach Inhalt, Beweggrund und Zweck zu einem Verstoß gegen die guten Sitten kommt21 (sog. wucherähnliches Rechtsgeschäft). Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn das Verhalten der begünstigten Partei auf einer verwerflichen Gesinnung beruht. 22 Von "Lohnwucher" im Sinne von § 138 BGB wird etwa gesprochen, wenn ein Arbeitnehmer für eine unverhältnismäßig niedrige Vergütung arbeiten muß23 , oder 18 Vgl. nur Hildebrandt, Inhaltskontrolle im ArbR, S. 24; Palandtl Heinrichs, § 138, Rn 5; Peter, Gesetzlicher Mindestlohn, S. 112. 19 BAG vom 1. 4. 1976, AP Nr. 34 zu § 138 BGB, BI. 2 RS = NJW 1976, S. 1958; BGH vom 29. 4.1953, LM Nr. 1 zu § 138 (Ca) BGB, BI. 1; BGHvom 8.12.1982, BGHZ 86, S. 82 (88); BGHvom 28.2.1989, BGHZ 107, S. 92 (97); Savaete, AuR 1957, S. 97. 20 Vgl. Pohl, Mängel des Arbeitsvertrages, Rn 30; Schaub, ArbR-Hdb, § 35, Rn 3. Allgmein zu § 138 Abs. 2 BGB: PalandtlHeinrichs, § 138, Rn 65-74; SoergellHefermehl, § 138, Rn 72 - 82. 21 Vgl. Hueck/Nipperdey, Lb ArbR I, § 32. IV. 3. a), S. 196; MünchArbRI Richardi, § 14, Rn 63; Nikisch, ArbR, § 20. IV. 4. a), S. 190; Schaub, ArbR-Hdb, § 35, Rn 3; SoergelJ Hefermehl, § 138, Rn 73. 22 So etwa BAG vom 10. 9. 1959, AP Nr. 1 zu § 138 BGB, BI. 2 RS, 3; BAG vom 11. 1. 1973, AP Nr. 30 zu § 138 BGB, BI. 3; BGH vom 21. 5. 1957, LM Nr. 2 zu § 138 (Ba) BGB, BI. 871 RS; BGHvom 12. 3.1981, BGHZ 80, S. 153 (156); Nikisch, ArbR, § 20. IV. 4. a), S. 190; Staudingerl Sack, § 138, Rn 389. 23 Vgl. Arbeitsrechtslexikonl Nebendahl, Vergütung (Grundzüge), 11. 2. g) aa), S. 7; Schaub, ArbR-Hdb, § 35, Rn 4.

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c. Inhaltskontrolle bei niedrigen Löhnen

wenn er trotz angemessener Arbeitsleistung ein Entgelt erhält, mit dem er nicht den Lebensunterhalt seiner Familie bestreiten kann?4 Eine Lohnvereinbarung kann auch dann sittenwidrig sein, wenn der Arbeitnehmer für eine durchschnittliche Vergütung zahlreiche Nebenverpflichtungen erfüllen 25 oder ohne ausreichende Vergütung das volle wirtschaftliche Risiko der Arbeit tragen muß26 , etwa weil der Lohn von einem bestimmten Arbeitserfolg abhängig gemacht wird und dem Arbeitnehmer im Falle eines Mißerfolges trotz ordnungsgemäß geleisteter Arbeit keine Vergütung garantiert ist. 27 Auch wenn man sich im Grundsatz darüber einig ist, daß § 138 BGB ein Verbot sittenwidriger Löhne statuiert, besteht dennoch nach wie vor keine Klarheit darüber, wann von sittenwidrigen Löhnen bzw. Lohnwucher auszugehen ist. 28 Sicherlich gibt es Fälle, in denen nach übereinstimmender Ansicht von einem auffälligen Mißverhältnis zwischen Arbeitsleistung und -entgelt ausgegangen wird. So liegt es etwa, wenn einem Arbeitnehmer unter Berücksichtigung der ihm nach dem Arbeitsvertrag obliegenden Verpflichtung letztlich kein Lohn verbleibt29 oder er wegen seines angeblichen Praktikantenstatus die volle Arbeitsleistung unentgeltlich erbringen soll.30 Einigkeit besteht auch noch insoweit, als extrem niedrige Arbeitsentgelte vereinbart werden, wie etwa die Vereinbarung einer Überstundenvergütung von 1,30 DM mit einem Auszubildenden, wenn die Überstunden in keinerlei Zusammenhang mit der Ausbildung stehen31 oder aber die mit einem angestellten Rechtsanwalt getroffene Vergütungsvereinbarung über 610 DM bzw. später über 1300 DM bei einer wöchentlichen Arbeitszeit von 35 Stunden - und das über vier Jahre?2 Zweifellos wucherischen Charakter bescheinigte das BAG in seinem nichtveröffentlichten Urteil vom 4.2. 1981 einem Arbeitsentgelt, das nicht einmal ein Fünftel des üblichen Lohnes für vergleichbare Tätigkeiten ausmachte. 33 Die Liste entsprechender Beispiele ließe sich mühelos verlängern?4 Jenseits dieser ein24 Bürger/Oehrrumn, HwB AR, Rn 7; Ennan/ Brox, § 138, Rn 65; Hueck/ Nipperdey, Lb ArbR I, § 32. IV. 3. a), S. 195; Schaub, ArbR-Hdb, § 35, Rn 4. 25 Siehe Pohl, Mängel des Arbeitsvertrages, Rn 33 a. E.; Schaub, ArbR-Hdb, § 35, Rn 4. 26 BAG vom 10. 10. 1990, NJW 1991, S. 860 (861): Verlustbeteiligung; Bürger/Oehmann, HwB AR, Rn 9; MünchArbR/ Richardi, § 46, Rn 18; Schaub, ArbR-Hdb, § 35, Rn 4. 27 Siehe LAG Hamm vom 3. 10. 1979, BB 1980, S. 105 f. (Umsatzbeteiligung einer Serviererin); LAG Hamm vom 16. 10. 1989, ZIP 1990, S. 880 (886 f.) mit zustimmender Anm. von Gaul, a. a. 0., S. 889 (890 f.); Bürger/Oehmann, HwB AR, Rn lOa; Hueck/Nipperdey, Lb ArbR I, § 32. IV. 3. a), S. 196. 28 Ebenso Däubler, TVR, Rn 1590. 29 Vgl. etwa LAG Bremen vom 27. 9.1974, AP Nr. 33 zu § 138 BGB, BI. 2 RS. 30 LAG Rheinland-Pfalz vom 8.6. 1984, NZA 1986, S. 293 (294). 31 Vgl. ArbG Rheine vom 13. 11. 1991, NZA 1992, S. 413. 32 Vgl. ArbG Bad Hersfeld vom 4. 11. 1998, NZA-RR 1999, S. 629 bestätigt durch LAG Hessen vom 28. 10. 1999, NZA-RR 2000, S. 521. 33 BAG vom 4.2.1981, Az.: 5 AZR 1008178 (unter H. 1. der Gründe) nv., - juris. 34 Weitere Beispiele bei Reinecke, Anm. zu BGHSt vom 22. 4. 1997, AuR 1997, S. 453 (455); ders., Sonderbeil. zu NZA H. 3/2000, S. 23 (31).

I. Individuelle Lohnvereinbarungen

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deutigen Fälle von "Hungerlöhnen" wird es aber problematisch. Anders als etwa bei Miet- oder Ratenkreditverträgen fehlt es bislang an allgemein anerkannten Grundsätzen für die Annahme eines auffälligen Mißverhältnisses. Ungeklärt ist insbesondere, welcher Lohn als Vergleichsmaßstab heranzuziehen ist und welcher Prozentsatz als Sittenwidrigkeitsgrenze unterschritten werden muß. 35 Es wird sogar angenommen, daß sich allgemeine Regeln für die Beurteilung sittenwidriger Löhne nicht finden lassen. 36 Hinzu kommt, daß auch die Ansichten über die Rechtsfolgen im Falle sittenwidriger Lohnvereinbarungen auseinander gehen. Vergegenwärtigt man sich die veröffentlichte Rechtsprechung der letzten Jahrzehnte, so ist die gerichtliche Überprüfung von Lohnvereinbarungen auch eher die Ausnahme. Diese Tatsache wird sicherlich zu Recht darauf zurückgeführt, daß mangels einer gesetzlich festgelegten oder durch die Rechtsprechung entwickelten absoluten Untergrenze eine große Rechtsunsicherheit darüber besteht, ab welcher Höhe ein niedriger Lohn angemessen, gerade noch zulässig oder schon rechtswidrig ist. 37 In diesem Zusammenhang wird daher die Entscheidung des 1. Strafsenats des BGH vom 22. 4. 1997 38 als geradezu "spektakulär" angesehen 39 , mit der erstmals die Verurteilung eines Arbeitgebers zu einer Geldstrafe wegen Lohnwuchers vom obersten Gericht bestätigt wurde. Mit dieser Entscheidung ist die Erwartung verbunden, daß die vom Strafsenat entwickelten Maßstäbe für Lohnwucher durch die Arbeitsgerichte übernommen werden. 4o Im Folgenden sollen die bisherigen Tendenzen in der arbeits gerichtlichen Rechtsprechung zu sittenwidrigen Lohnvereinbarungen aufgezeigt und anschließend unter Berücksichtigung der Entscheidung des 1. Strafsenats des BGH mögliche Ansätze zur Konkretisierung der Voraussetzungen sowie der Rechtsfolgen entwickelt werden. Dabei wird die arbeitsrechtliche Beurteilung und damit der zivilrechtliche Sittenwidrigkeitsschutz im Vordergrund stehen. Angesichts der Entscheidung des BGH werden aber auch Aspekte zur Beurteilung des strafbaren Lohnwuchers angesprochen - zumal der Schutz vor Lohnwucher auch durch eine strafrechtliche Ahndung verbessert werden könnte. 35 Vgl. auch Feldhoff, Anm. zu ArbG Herne vom 5. 8. 1998, PersR 2000, S. 87 (88); Reinecke, Anm. zu BGHSt vom 22. 4.1997, AuR 1997, S. 453 (455). 36 So Savaete, AuR 1957, S. 97 (99). 37 Vgl. Peter, AuR 1999, S. 289 (290); allgemeiner Däubler, TVR, Rn 1600. 38 BGH vom 22. 4. 1997, BGHSt 43, S. 53 =AP Nr. 52 zu § 138 BGB = AuR 1997, S. 453 mit Anm. von Reinecke, a. a. O. = DB 1997, S. 1670 = JR 1999, S. 164 mit Anrn. von Renzikowski, a. a. 0., S. 166 = JZ 1998, S. 627 mit Anm. von Bemsmann, a. a. 0., S. 629 = NZA 1997, S. 1167. Zu dieser Entscheidung ferner Martin, JuS 1998, S. 183; Nägele, BB 1997, S. 2162; Reineke, IBR 1997, S. 392; Taschke/Schmitz, WiB 1997, S. 996. 39 Peter, AuR 1999, S. 289 (290); Reinecke, Anm. zu BGHSt vom 22. 4.1997, AuR 1997, S. 453 (454): spricht sogar von einem "Meilenstein in der Geschichte des Arbeitsstrafrechts". 40 Vgl. Däubler, ArbR 2, Rn 796; ähnlich Peter, AuR 1999, S. 289 (293); Nägele, BB 1997, S. 2162 (2163 a. E.): das Urteil des BGH bietet praxisgerechte Grundlage für § 138 Abs.2BGB.

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C. Inhaltskontrolle bei niedrigen Löhnen a) Voraussetzungen

Eine Lohnvereinbarung verstößt gegen die guten Sitten, wenn zwischen der Arbeitsleistung des Arbeitnehmers und der Vergütung des Arbeitgebers ein auffälliges Mißverhältnis besteht und zusätzlich der Ausbeutungstatbestand des § 138 Abs. 2 BGB verwirklicht ist oder sonstige besondere Umstände (§ 138 Abs. 1 BGB) hinzutreten. aa) Objektiv: Auffälliges Mißverhältnis Unabhängig davon, ob die Sittenwidrigkeit einer Lohnvereinbarung mit § 138 Abs. 2 oder Abs. 1 BGB begründet wird, ist in objektiver Hinsicht stets ein auffälliges Mißverhältnis zwischen der Arbeitsleistung und der Vergütung erforderlich.41 Zur Feststellung eines auffälligen Mißverhältnisses bedarf es eines Vergleiches von Leistung und Gegenleistung. Zu diesem Zweck werden gemeinhin der wahre, objektive Wert der beiderseitigen Leistungen ermittelt und diese sodann gegeneinander abgewogen. 42 Dabei bietet der Vergleich der geschuldeten Leistung mit dem verkehrs- bzw. marktüblichen Äquivalent einen Anhaltspunkt dafür, ob Leistung und Gegenleistung noch in einem verkehrsübliche Äquivalenzverhältnis oder in einem Mißverhältnis stehen. 43 Sodann ist unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalles zu entscheiden, ob ein auffälliges Mißverhältnis zugunsten des Wucherers vorliegt. 44 Ausgehend von diesen Grundsätzen ist zu klären, wann zwischen Arbeitsleistung und -entgelt ein auffälliges Mißverhältnis angenommen werden kann. (1) Rechtsprechung des BAG

In der Entscheidung vom 10. 9. 1959 bejahte das BAG ein auffälliges Mißverhältnis zwischen Arbeitsleistung und -entgelt mit der Begründung, daß Leistung und Gegenleistung in einem vom Gerechtigkeitsgesichtspunkt aus nicht mehr zu billigenden Mißverhältnis zueinander stünden und die Bahnen des regelmäßigen, den Belangen beider Teile gerecht werdenden Leistungsaustausches völlig verlassen worden seien. 45 In dem der Entscheidung vom 10. 3. 1960 zugrundeliegenden 41 Zu § 138 Abs. 1 BGB: BAG vom 10. 9. 1959, AP Nr. 1 zu § 138 BGB, BI. 2 RS, 3; BAG vom 4.2. 1981, AP Nr. 45 zu § 242 BGB (Gleichbehandlung), BI. 2 RS, 3. 42 BGH vom 4. 12. 1953, LM Nr. 1 zu § 138 (Ba) BGB, BI. 388; BGH vom 2. 5. 1969, LM Nr. 4a zu § 138 (Ba) BGB, BI. 2; BGH vom 14. 7. 1969, WM 1969, S. 1255 (1257); Ermanl Pa 1m2 , § 138, Rn 15 f.; Palandtl Heinrichs, § 138, Rn 66. 43 Vgl. etwa RG vom 25. 2. 1909, JW 1909, S. 215; Müssigbrodt, JA 1980, S. 697 (698 unter 2., S. 699 unter b) zu Darlehensverträgen. Ähnlich Soergell Hefermehl, § 138, Rn 74. 44 BGHvom 10.12.1959, LM Nr. 4 zu § 138 (Ba) BGB, BI. 1; Soergell Hefermehl, § 138, Rn 74; StaudingerlSack, § 138, § 138, Rn 177. 45 BAG vom 10. 9. 1959, AP Nr. 1 zu § 138 BGB, BI. 3 RS.

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Sachverhalt konnte ein Mitarbeiter in sechs Monaten maximal 667,50 DM verdienen. Einen solchen Verdienst bezeichnete das BAG als "Hungerlohn", der sittenwidrig sei. 46 Soweit das BAG den Begriff "Hungerlohn" verwendet, sieht es sich dem Vorwurf ausgesetzt, daß seine Entscheidung auf subjektiven und moralischen Wertungen beruhe. 47 Anders als in den vorhergehenden Entscheidungen führte das BAG im Urteil vom 11. 1. 1973 48 näher aus, wie die Sittenwidrigkeit eines Lohnes wegen eines auffälligen Mißverhältnisses zwischen Leistung und Gegenleistung nach seiner Auffassung zu ermitteln sei. Danach soll für die Beurteilung, ob eine Lohnvereinbarung als sittenwidrig einzustufen sei, in aller Regel auf die Arbeitsleistung als solche, auf deren Dauer und Schwierigkeitsgrad, auf die körperliche und geistige Beanspruchung, die Arbeitsbedingungen schlechthin (Hitze, Kälte, Länn) abzustellen sein und nicht etwa auf den sog. Aneignungswert für den Unternehmer. 49 Dabei betonte das BAG, daß die Sittenwidrigkeit einer Lohnvereinbarung nach dem "Anstandsgefühl aller gerecht und billig Denkenden" zu beurteilen sei; nach deren Anschauung müsse objektiv ein auffälliges Mißverhältnis zwischen Leistung und Gegenleistung vOrliegen. 5o Zwar umschreibt die Allgemeinformel des Anstandsgefühls aller billig und gerecht Denkenden lediglich den noch allgemeineren Begriff der guten Sitten im Sinne von § 138 Abs. 1 BGB. 51 Wenn man also ein sittliches Unwerturteil nach § 138 Abs. 2 BGB damit begründen will, daß - neben weiteren subjektiven Voraussetzungen - ein auffälliges Mißverhältnis vorliegt, muß an sich die allgemeine Feststellung eines auffälligen Mißverhältnisses der Frage vorgelagert sein, ob dieses Mißverhältnis unter Berücksichtigung der konkreten Umstände auch gegen das Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden verstößt und deshalb sittenwidrig ist. 52 Letztlich ging aber auch das BAG diesen Weg. Denn es konzentrierte sich bei der Prüfung der Sittenwidrigkeit auf die allgemeine Feststellung, ob objektiv ein auffälliges Mißverhältnis zwischen Leistung und Gegenleistung vorlag. Wenn Peter in diesem Zusammenhang kritisiert, daß die in § 138 Abs. 2 BGB aufgeführten (subjektiven) Wuchertatbestände nicht näher untersucht wurden53 , berücksichtigt · sie nicht, daß das BAG bereits das Vorliegen

46 BAG vom 10. 3. 1960, AP Nr. 2 zu § 138 BGB, BI. 5 mit zustimmender Anmerkung von Hueck, a. a. 0., BI. 6. 47 So Peter; AuR 1999, S. 289 (290). 48 BAG vom 11.1.1973, AP Nr. 30 zu § 138 BGB = SAE 1974, S. 33 = DB 1973, S. 727 = EzA § 138 BGB Nr. 10 = AR-Blattei ES, 1150 Nr. 1. 49 BAG vom 11. 1. 1973, AP Nr. 30 zu § 138 BGB, BI. 3. 50 BAG vom 11. 1. 1973, AP Nr. 30 zu § 138 BGB, BI. 3. 51 MünchKomm/ Mayer-Maly, § 138, Rn 12 f. 52 VgI. hierzu Kreutz, Anm. zu BAG vom 11. 1. 1973, SAE 1974, S. 35 (36). 53 Peter; Gesetzlicher Mindestlohn, S. 114.

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eines auffälligen Mißverhältnisses verneinte54 und sich deshalb weitere Ausführungen zum subjektiven (Ausbeutungs-)Tatbestand erübrigten. Im vorliegenden Zusammenhang interessiert jedoch vor allem die Art und Weise, auf die das BAG in der Entscheidung vom 11. 1. 1973 55 das Vorliegen eines auffälligen Mißverhältnisses feststellte. In diesem Verfahren hatte der Kläger den entsprechenden Tariflohn als Vergleichsmaßstab herangezogen und die Sittenwidrigkeit seines Stundenlohnes damit begründet, daß er erheblich unter dem tariflichen Stundenlohn lag - tatsächlich lag er knapp 30 % unterhalb des für vergleichbare Arbeiten gültigen Tariflohnes. Das BAG lehnte es jedoch ausdrücklich ab, bei der Prüfung der Sittenwidrigkeit nur von dem Tariflohn auszugehen; vielmehr sei das allgemeine Lohnniveau des jeweiligen Wirtschaftsgebiets zugrunde zu legen. Als Begründung führte es aus, daß nicht die Verkehrssitte der jeweiligen Branche, sondern das "Rechtsgefühl aller gerecht und billig Denkenden" maßgebend sei. 56 Eine sich nicht durch besonders erschwerte Arbeitsbedingungen auszeichnende Arbeitsleistung sei jedenfalls dann noch in einem von der Rechtsordnung gebilligten Maße entlohnt, wenn auch andere Arbeiten ähnlichen Zuschnitts, wie etwa Hilfsarbeiten in der Industrie, nicht oder nur unwesentlich höher entlohnt würden. 57 Im Endeffekt bedeutet dies, daß niedrige Löhne schwerlich als sittenwidrig verworfen werden können, wenn etwa eine verbreitete Übung besteht, Hilfsarbeitern nur sehr niedrige Löhne zu zahlen. 58 Die Entscheidung des BAG vom 4. 2. 1981 59 betraf die Höhe der Vergütung einer weniger als zur Hälfte beschäftigten Realschullehrerin. Deren auf eine Vollzeitbeschäftigung hochgerechnete monatliche Bruttovergütung betrug 1.485 DM im Jahr 1973 und 1.890 DM im Jahr 1976, während das vergleichbare Tarifgehalt für vollzeitbeschäftigte Lehrer mit 2.139,59 DM bzw. 2.726,31 DM brutto beziffert wurde. Diese untertarifliche Bezahlung führte nach Auffassung des BAG noch nicht zu einem auffälligen Mißverhältnis von Arbeitsleistung und -entgelt, zumal die Klägerin ohnehin nicht vom Geltungsbereich des Tarifvertrag erfaßt war. 60 Auch in der Entscheidung vom 2. 4. 1981 61 mußte sich das BAG mit dem Problem des Lohnwuchers auseinandersetzen. In diesem Fall erhielt ein Deutsch- und Polnischlehrer an einer privaten Sprachschule bei 42 Unterrichtsstunden ein Gehalt von 1.820 DM. In diesem Fall verneinte das BAG ein auffälliges Mißverhältnis zwischen Arbeitsleistung und Entgelt unter anderem mit der Begründung, daß Vgl. BAG vom 11. I. 1973, AP Nr. 30 zu § 138 BGB, BI. 3. BAG vom 11. I. 1973, AP Nr. 30 zu § 138 BGB. 56 BAG vom 11. I. 1973, AP Nr. 30 zu § 138 BGB, BI. 2 RS, 3. 57 BAG vom 11. I. 1973, AP Nr. 30 zu § 138 BGB, BI. 3. 58 Däubler, ArbR 2, Rn 794 sieht darin den Grund dafür, daß "Hungerlöhne" nur in absoluten Extremfällen erfaßt werden. Kritisch ferner Peter, Gesetzlicher Mindestlohn, S. 116. 59 BAG vom 4.2. 1981, AP Nr. 45 zu § 242 BGB (Gleichbehandlung). 60 BAG vom 4.2. 1981, AP Nr. 45 zu § 242 BGB (Gleichbehandlung), BI. 2 RS, 3. 61 BAG vom 2.4.1981, Az.: 2 AZR 963/78 (nv.). 54

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der Arbeitnehmer keine abgeschlossene Lehrausbildung in Deutschland habe und an seinen Unterricht nur sehr geringe Anforderungen gestellt worden seien, weil er sich lediglich in seiner Heimatsprache mit Ausländern habe unterhalten müssen. Hinzu kam, daß der Arbeitnehmer unabhängig von der geleisteten Unterrichtsstundenzahl ein Garantiegehalt von 1.200 DM erhielt. 62 Nähere Angaben dazu, wie ein auffälliges Mißverhältnis zwischen Arbeitsleistung und Entgelt zu ermitteln ist, fehlen. In einem späteren Verfahren im Jahre 198963 mußte das BAG darüber entscheiden, ob ein vereinbarter Stundenlohn von 8,50 DM brutto sittenwidrig ist. Auch hier hatte die Klägerseite den Tariflohn als Vergleichsmaßstab herangezogen und den vereinbarten Stundenlohn für sittenwidrig gehalten, weil er 26 % unterhalb des vergleichbaren Tariflohnes lag. Die Klägerin erhielt einen Monatsverdienst von 1.381,25 DM brutto. Ihr Nettoverdienst belief sich auf 966 DM und lag damit unterhalb des für sie maßgeblichen Sozialhilfesatzes, welcher 1.314 DM betrug. 64 Auch in dieser Entscheidung hielt das BAG es für zutreffend, daß bei der Prüfung der Sittenwidrigkeit nicht nur auf einen Vergleich mit den Tariflöhnen des jeweiligen Wirtschaftszweiges abgestellt werden dürfe, sondern vielmehr das allgemeine Lohnniveau heranzuziehen sei. 65 Für die Beurteilung eines auffälligen Mißverhältnisses zwischen Arbeitsleistung und Stundenlohn bestätigte das BAG seine Auffassung, daß es in der Regel auf die Arbeitsleistung als solche, auf deren Dauer und Schwierigkeitsgrad, auf die körperliche und geistige Beanspruchung, die Arbeitsbedingungen schlechthin ankomme. Ausgehend von diesem Grundsatz verneinte das BAG ein auffälliges Mißverhältnis, weil die Klägerin nur einfache Hilfstätigkeiten von geringem Schwierigkeitsgrad und ohne hohe geistige Beanspruchung habe ausführen müssen. 66 Anders als in der Entscheidung vom 11. 1. 1973 differenzierte das BAG genau zwischen der Prüfung, ob der Stundenlohn wegen Lohnwuchers nach § 138 Abs. 2 BGB oder nach § 138 Abs. 1 BGB sittenwidrig ist. 67 In seiner Entscheidung vom 21. 6. 2000 befaßte sich das BAG erneut mit der Problematik sittenwidriger Arbeitsentgelte und bestätigte dabei letztlich seinen bisherigen Standpunkt bezüglich des Vergleichsmaßstabs. Es führte aus, daß das Vorliegen eines auffälligen Mißverhältnisses zwischen Arbeitsleistung und -entgelt nicht nur anhand eines Vergleiches mit den Tariflöhnen des jeweiligen Wirtschaftszweiges, sondern anhand des allgemeinen Lohnniveaus im Wirtschaftsgebiet zu BAG vom 2. 4. 1981, Az.: 2 AZR 963/78 (unter III. 2. b) der Gründe) nv., - juris. BAG vom 22. 3.1989, Az.: 5 AZR 151/88 (nv.). 64 Vgl. BAG vom 22. 3. 1989, Az.: 5 AZR 151/88 (Tatbestand) nv., - juris. 65 BAG vom 22.3. 1989, Az.: 5 AZR 151/88 (unter IV. 1. der Gründe) nv., - juris. Im weiteren Verlauf der Urteilsbegründung läßt das BAG es jedoch dahin stehen, ob das allg. Lohnniveau oder die tariflichen Regelungen zum Vergleich heranzuziehen seien. 66 BAG vom 22. 3. 1989, Az.: AZR 151/88 (unter IV. 1. der Gründe) nv., - juris. 67 BAG vom 22.3. 1989, Az.: 5 AZR 151/88 (unter IV. 1. - § 138 Abs. 2 BGB, unter IV. 2. § 138 Abs. 1 BGB) nv., - juris. 62 63

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beurteilen sei. 68 Auch in seiner Entscheidung vom 23. 5. 2001 hält das BAG an seiner Auffassung fest. 69 Bei dieser Entscheidung handelt es sich bislang um die letzte des BAG zur Problematik sittenwidriger Löhne.

(2) Kritik im Schrifttum Die Rechtsprechung des BAG zur Sittenwidrigkeitskontrolle bei Arbeitsentgelten ist teilweise auf erhebliche Kritik im Schrifttum gestoßen. Abgesehen davon, daß bei der Entscheidung des BAG vom 11. 1. 1973 70 eine "bemerkenswerte Diskrepanz" zwischen Urteilsbegründung und amtlichem Leitsatz bemängelt wird 7l , wird vor allem die Art und Weise der Beurteilung eines auffalligen Mißverhältnisses zwischen Arbeitsleistung und -entgelt kritisiert. Soweit sich das BAG für die Feststellung eines auffalligen Mißverhältnisses zwischen Arbeitsleistung und -entgelt auf die Frage beschränkt, ob die Arbeitsleistung nach Dauer, Schwierigkeitsgrad, körperlicher oder geistiger Beanspruchung sowie hinsichtlich der Arbeitsbedingungen schlechthin noch ausreichend entlohnt werden, setzt das Gericht sich dem Vorwurf aus, daß es "eine rationale Gedankenführung zwischen Gesetz und Einzelfallentscheidung vermissen" lasse, weil es darauf verzichte, den objektiven Wert der Arbeitsleistung zu ermiueln. 73 Dem ist insoweit zuzustimmen, als das Vorliegen eines auffälligen Mißverhältnisses nur dadurch beurteilt werden kann, daß die beiderseitigen Leistungen (ihrem Wert nach) gegeneinander abgewogen werden. Dies setzt aber zwingend die Kenntnis des Wertes der Arbeitsleistung voraus. 74 (a) Wert der Arbeitsleistung Zwar ist die Bestimmung des objektiven Wertes der Arbeitsleistung durchaus mit Schwierigkeiten verbunden. Dies ist jedoch kein Einzelproblem, weil auch bei der bereicherungsrechtlichen Abwicklung fehlerhafter Arbeitsverträge der objektive Wert der Arbeitsleistung zu ermitteln ist. 75 Sicherlich wird gerade auch unter BAG vom 21. 6. 2000, DB 2000, S. 1920 (1921). BAG vom 23 . 5. 2001, AuR 2001 , S. 509 (510) mit kritischer Anm. von Peter, a. a. 0 ., S. 510 (510 f .). Zustimmend hingegen Hanau, Anm. zu BAG vom 23.5. 2001, EWiR 2002, S. 419 (419 f .). 70 BAG vom 11. 1. 1973, AP Nr. 30 zu § 138 BGB. 68 69

So Kreutz, Anm. zu BAG vom 11. 1. 1973, SAE 1974, S. 35 (36, unter 11. 3. a). BAG vom 11. 1. 1973, AP Nr. 30 zu § 138 BGB (1. Leitsatz sowie 2. b) der Gründe, B!. 3); bestätigt durch BAG vom 22.3 . 1989, Az.: 151/88 (unter III. 1. der Gründe) nv.,71

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juris.

73 So Kreutz, Anm. zu BAG vom 11. 1. 1973, SAE 1974, S. 35 (36). Zustimmend Peter, Gesetzlicher Mindestlohn, S. 117. 74 Vg!. auch Kreutz, Anm. zu BAG vom 11. 1. 1973, SAE 1974, S. 35 (36); Peter, Gesetzlicher Mindestlohn, S. 117; dies., AuR 1999, S. 289 (291). 75 Ebenso Kreutz, Anm. zu BAG vom 11. 1. 1973, SAE 1974, S. 35 (36).

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dem Aspekt, daß die Ennittlung des objektiven Wertes der Arbeitsleistung erhebliche Schwierigkeiten bereitet, überwiegend eine bereicherungsrechtliche Rückabwicklung fehlerhafter Arbeitsverträge im Grundsatz abgelehnt. 76 Bei bestimmten Konstellationen wird aber auch von diesem Standpunkt aus eine bereicherungsrechtliche Rückabwicklung befürwortet,77 so daß es letztlich auch hier einer Bestimmung des Wertes der Arbeitsleistung bedarf. Zunächst ist festzustellen, daß der Nutzen der Arbeitsleistung für den Unternehmer (der sog. Arbeitseifolg) keinen Einfluß auf den Wert der Arbeitsleistung haben kann. 78 Denn der (Erfolgs-)Wert der einzelnen Arbeitsleistung für den Unternehmer läßt sich in der Regel kaum zuverlässig bestimmen, da sich der Arbeitserfolg häufig erst aus dem Zusammenspiel der Arbeit mehrerer ergibt. 79 Hinzu kommt, daß der Arbeitnehmer (im Gegensatz zur Rechtslage beim Werkvertrag) nicht den Erfolg seiner Tätigkeit schuldet, sondern nur das Leisten der vertraglich festgelegten Arbeit nach Weisung des Arbeitgebers. Es ist allein Sache des Arbeitgebers, aus der ordnungsgemäß erbrachten Arbeitsleistung einen wirtschaftlichen Nutzen zu ziehen. 8o Daher muß eine wertvolle Arbeit nicht notwendig von Nutzen für den Unternehmer sein, umgekehrt ist eine "nutzlose" Arbeit aber nicht unbedingt wertlos. 81 Deshalb ist der Erfolgswert der Arbeit für den Unternehmer ohne Bedeutung für die Feststellung des wahren, objektiven Wertes der Arbeitsleistung, wie er im Rahmen der Beurteilung eines auffälligen Mißverhältnisses zu bestimmen ist. Hiervon geht auch das BAG zutreffend aus, wenn es für die Beurteilung eines auffälligen Mißverhältnisses auf die Arbeitsleistung als solche abstellen will. 82 Dies wird auch von den Kritikern dieser Entscheidung eingeräumt. 83 76 So etwa Brox, BB 1964, S. 523 (527); Canaris, BB 1967, S. 165 (167); Sack, RdA 1975, S. 171 (172 f.); Überblick über den Diskussionsstand bei Eckert, AR-Blattei, Rn 31-41; Walker, JA 1985, S. 138 (140-149, insbes. 141). Dazu unten C. I. 1. b) bb) (2). 77 Vgl. etwa Walker, JA 1985, S. 138 (149) m. w. N. 78 Siehe auch Boemke, AR-Blattei, Rn 216; Konzen, Anm. zu BAG vom 11. 1. 1973, AP Nr. 30 zu § 138 BGB, BI. 5; Kreutz, Anm. zu BAG vom 11. 1. 1973, SAE 1974, S. 35 (36 f.); Pohl, Mängel des Arbeitsvertrages, Rn 32. Im Rahmen des Bereicherungsrechts: Beuthien, RdA 1969, S. 161 (164 f.); Käßer, Fehlerhafter Arbeitsvertrag, S. 85; Lieb, Ehegattenmitarbeit, S. 96. 79 Ähnlich Beuthien, RdA 1969, S. 161 (165): Bei Gruppenarbeit verliert die Arbeitsleistung des einzelnen Arbeitnehmers ihren individuellen Charakter, so daß der Nutzen für den AG kaum feststellbar ist. Ebenso Kreutz, Anm. zu BAG vom 11. 1. 1973, SAE 1974, S. 35 (36 f.). 80 Zum objektiven Wert der Arbeit im Rahmen der §§ 812 ff. BGB: Beuthien, RdA 1969, S. 161 (164 f.); Käßer, Fehlerhafter Arbeitsvertrag, S. 85 f.; ähnlich Lieb, Ehegattenmitarbeit, S. 96; Walker, JA 1985, S. 138 (141). 81 Vgl. auch Kreutz, Anm. zu BAG vom 11. 1. 1973, SAE 1974, S. 35 (37). 82 BAG vom 11. 1. 1973, AP Nr. 30 zu § 138 BGB, BI. 3; bestätigt durch BAG vom 22.3. 1989, Az.: 151/ 88 (unter IV. 1. der Gründe) nv., - juris. 83 Konzen, Anm. zu BAG vom 11. 1. 1973, AP Nr. 30 zu § 138 BGB, BI. 5, Kreutz, Anm. zu BAG vom 11. 1. 1973, SAE 1974, S. 35 (37). Zur möglichen Bedeutung eines besonderen Unternehmergewinns siehe unten C. I. 1. a) aa) (5) (d).

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(b) Ennittlung des Wertes So sehr man sich im Grundsatz darüber einig ist, daß für die Feststellung des Wertes auf die Arbeitsleistung als solche abzustellen ist, so problematisch erweist sich die Ermittlung des Wertes im konkreten Fall. Soweit das BAG in der Entscheidung vom 11. 1. 1973 die Sittenwidrigkeit einer Lohnvereinbarung nach dem Rechtsgefühl aller gerecht und billig Denkenden bestimmen will und mit dieser Begründung für die Beurteilung der Sittenwidrigkeit das allgemeine Lohnniveau des betreffenden Wirtschaftsgebiets heranzog statt der Tariflöhne der entsprechenden Branche84 , ist es auf erhebliche Kritik im Schrifttum gestoßen. 85 Vor allem wird es als völlig unverständlich und nicht überzeugend angesehen, daß nur ein bestimmtes Wirtschaftsgebiet in der Bundesrepublik Deutschland als Vergleichsmaßstab herangezogen wird. 86 Durch diese Vorgehensweise werde der für die Sittenwidrigkeit maßgebliche Beurteilungsmaßstab zu Lasten der Arbeitnehmer eingeschränkt. 87 Statt dessen soll sich der Wert der Arbeitsleistung mit Rücksicht darauf, daß der Staat in einer marktwirtschaftlichen Wirtschaftsordnung auf die Festsetzung gerechter Löhne verzichtet hat, nach dem Arbeitsmarkt richten. 88 Da für die verschiedenen Tätigkeiten keine "Börsenkurse" existieren, sei der Tariflohn der jeweiligen Branche, hilfsweise der übliche Lohn heranzuziehen. 89 Der Tariflohn sei vor allem deshalb als Vergleichsmaßstab vorzugswürdig, weil er das Ergebnis eines allgemein akzeptierten und vielfach praktizierten Verfahrens sei. Soweit das BAG es jedoch ausdrücklich ablehne, den entsprechenden Tariflohn als Vergleichsmaßstab zugrunde zu legen, könne die Beurteilung eines auffälligen Mißverhältnisses nur Ausdruck subjektiver Wertungen des Gerichts sein. 9o Dies sei auch der Grund dafür, daß sich bislang keine allgemeine Sittenwidrigkeitsgrenze für den Bereich der Arbeitsentgelte habe entwickeln können und sich in jedem Einzelfall erneut die Frage stelle, ob die Entgelthöhe unterhalb der Sittenwidrigkeitsgrenze liege. 91 BAG vom 11. 1. 1973, AP Nr. 30 zu § 138 BGB, BI. 2 RS, 3. Vgl. Konzen, Anm. zu BAG vom 11. 1. 1973, AP Nr. 30 zu § 138 BGB, BI. 4 RS, 5; Kreutz, Anm. zu BAG vom 11. 1. 1973, SAE 1974, S. 35 (36 f.); Peter; Gesetzlicher Mindestlohn, S. 114; dies., AuR 1999, S. 289 (290 f.). Birk, ZfA 1974, S. 441 (478): verwirft das "Rechtsgefühl aller gerecht und billig Denkenden" in diesem Zusammenhang als "Leerformel". 86 So Konzen, Anm. zu BAG vom 11. 1. 1973, AP Nr. 30 zu § 138 BGB, BI. 4 RS; Kreutz, Anm. zu BAG vom 11. 1. 1973, SAE 1974, S. 35 (36); Peter; Gesetzlicher Mindestlohn, S. 114; dies., AuR 1999, S. 289 (290). 87 So Peter; Gesetzlicher Mindestlohn, S. 114. 88 Kreutz, Anm. zu BAG vom 11. 1. 1973, SAE 1974, S. 35 (37); Peter; AuR 1999, S. 289 (291). 89 Konzen, Anm. zu BAG vom 11. 1. 1973, AP Nr. 30 zu § 138 BGB, BI. 5; Kreutz, Anm. zu BAG vom 11. 1. 1973, SAE 1974, S. 35 (37); Peter; Gesetzlicher Mindestlohn, S. 120; dies., AuR 1999, S. 289 (291). Ferner Beuthien, RdA 1969, S. 161 (165) zum Wertersatz nach § 812 Abs. 2 BGB. 90 So vor allem Peter; Gesetzlicher Mindestlohn, S. 114; dies., AuR 1999, S. 289 (291). 91 Peter; Mindestlohn ohne Gesetz?, S. 241 (245). 84 85

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(c) Mißverhältnis An der Rechtsprechung des BAG zur Sittenwidrigkeitskontrolle bei Arbeitsentgelten wird weiterhin bemängelt, daß das BAG bislang darauf verzichtet habe, Orientierungswerte für die Annahme eines auffälligen Mißverhältnisses festzulegen. 92 Tatsächlich fehlen in sämtlichen Entscheidungen des BAG zur Höhe von Löhnen nähere Ausführungen zu der Frage, welcher Prozentsatz des herangezogenen Vergleichslohnes unterschritten werden muß, um - objektiv - einen Sittenverstoß zu indizieren. So wurde in der Entscheidung vom 11. 1. 1973 93 ein Stundenlohn für zulässig erachtet, der knapp 30 % unter dem vergleichbaren Tariflohn lag. Gerade bei dieser Diskrepanz zwischen vereinbarten Stundenlohn und tariflicher Vergütung wurde vom BAG erwartet, daß es nähere Angaben zur möglichen Sittenwidrigkeitsgrenze im Entgeltbereich macht. 94 Auch in der Entscheidung vom 22. 3. 1989 95 verzichtete das BAG darauf, eine Sittenwidrigkeitsgrenze zu konkretisieren und erklärte einen Stundenlohn für zulässig, der 26 % unterhalb des vergleichbaren Tariflohnes lag. In seiner Entscheidung vom 23. 5. 2001 räumte das BAG selbst ein, bisher keine Richtwerte entwickelt zu haben, bei deren Vorliegen ein auffälliges Mißverhältnis anzunehmen sei. Ob ein Richtwert von 2/3 des üblichen Lohnes sachgerecht sei, ließ es offen. Jedenfalls scheide ein auffälliges Mißverhältnis aus, wenn das vereinbarte Arbeitsentgelt oberhalb dieser Grenze liege. 96 Sicherlich stellt das BAG entgegen der kritischen Stimmen im Schrifttum nicht auf den Tariflohn als Vergleichsmaßstab ab. Dies spielt aber letztlich für das grundsätzliche Problem, daß Richtwerte für die Annahme eines auffälligen Mißverhältnisses fehlen, keine Rolle. Denn das BAG hätte auch Orientierungs werte zu dem von ihm bevorzugten Vergleichswert, dem allgemeinen Lohnniveau im jeweiligen Wirtschaftsgebiet, entwickeln können. Da das BAG in seiner Entscheidung vom 22. 3. 1989 auch ein Arbeitsentgelt unterhalb des für den betreffenden Arbeitnehmer maßgeblichen Sozialhilfesatzes nicht als sittenwidrig beurteilte, wird ihm vorgehalten, daß ein derartiges Urteil nur auf subjektiven Wertungen des Gerichts beruhen könne. 97 Insbesondere stünde eine solche Rechtsprechung im Widerspruch mit dem Grundsatz der gerechten Entlohnung im Sinne von Art. 4 Abs. 1 ESC. 98

92 Siehe etwa Kreutz, Anm. zu BAG vom 11. 1. 1973, SAE 1974, S. 35 (37); Peter; Gesetzlicher Mindestlohn, S. 115. 93 BAGvom 11. 1. 1973, APNr. 30 zu § 138 BGB. 94 Kreutz, Anm. zu BAG vom 11. 1. 1973, SAE 1974, S. 35 (37, unter 11. 3.b) a. E.). 95 BAG vom 22.3.1989, Az.: 5 AZR 151/88 nv., - juris. 96 BAG vom 23. 5. 2001, AuR 2001, S. 509 (510) mit kritischer Anm. von Peter, a. a. 0., S. 510 (510 f.). 97 So insbes. Peter, AuR 1999, S. 289 (291). 98 Däubler/ Kittnerl Lörcher, Intern. ArbuSoz02 , Nr. 320,11. (3) (c), S. 611. Hierzu unten C. I. 1. a) aa) (5) (e) (aa).

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Zusammenfassend läßt sich feststellen, daß insbesondere das Fehlen klarer und objektiver Beurteilungsmaßstäbe für die Sittenwidrigkeit bei Lohnvereinbarungen bemängelt wird. Da der Rechtsprechung des BAG zu sittenwidrigen Lohnabreden keine verallgemeinerungsfähigen Aussagen zu entnehmen sind, können die betroffenen Arbeitnehmer in der Tat die Erfolgsaussichten einer Klage nur schwer einschätzen. Dies wird als Grund dafür gesehen, daß nur selten Lohnvereinbarungen einer gerichtlichen Überprüfung unterzogen werden. 99 (3) Rechtsprechung der Instanzgerichte

Die Instanzgerichte legen für die Feststellung eines auffälligen Mißverhältnisses zwischen Arbeitsleistung und -entgelt verschiedene Beurteilungsmaßstäbe zugrunde. lOo So wird in einigen Entscheidungen der angemessene 10 I oder übliche lo2 Lohn als Vergleichsmaßstab herangezogen. Allerdings wird betont, daß auch die Vereinbarung eines unüblichen Lohnes zulässig sei 103, vor allem sei ein bloß unangemessener Lohn noch weit entfernt von einem sittenwidrigen. 104 In diesem Zusammenhang wies das LAG Frankfurt a. M. darauf hin, daß weder der tarifliche Lohn generell als angemessen noch eine untertarifliche Lohnzahlung als sittenwidrig beurteilt werden könne 105 , denn der Tariflohn könne auch besonders günstig ausfallen und über dem üblichen Niveau liegen. 106 Wenn allerdings der Tariflohn und nicht der übliche übertarifliche Lohn gewährt werde, könne noch nicht von einer sittenwidrigen Lohnvereinbarung gesprochen werden. IO? Teilweise wird in den Urteilsbegründungen auch direkt auf die Ausführungen des BAG-Urteils vom 11. 1. 1973 108 Bezug genommen. Der Rechtsprechung des BAG folgend legte etwa das LAG Köln im Jahre 1986 seiner Beurteilung das allgemeine Vergütungsniveau für entsprechende Tätigkeiten und nicht die entsprePeter, AuR 1999, S. 289 (290). Nachweise für die ältere Rechtsprechung zu sittenwidrigen Lohnvereinbarungen (ab 1904) bei Frieling, Sittlicher Mindestlohn?, S. 14 (Fn 1). 101 LAG Berlin vom 17.7. 1961, DB 1961, S. 1458. Im Ergebnis wird aber zur Ermittlung des Mißverhältnisses auf den Tariflohn abgestellt (S. 1459). 102 LAG Bremen vom 5. 1. 1955, AP Nr. 3 zu § 611 BGB (Lohnanspruch), 1. Leitsatz. In der Urteilsbegründung wird dann der Tariflohn als Vergleichsmaßstab herangezogen (BI. 1 RS, 2). Ferner LAG Frankfurt a. M. vom 6. 9.1950, AP 51 Nr. 193, S. 167. Nach LAG Frankfurt a. M. vom 2. 7. 1952, AP 53 Nr. 143, S. 38 ist auch auf das betriebsübliche Lohnniveau abzustellen. 103 LAG Frankfurt a. M. vom 6.9. 1950, AP 51 Nr. 193, S. 167 mit zustimmender Anm. von Dietz, a. a. 0 ., S. 168. 104 LAG Frankfurt a. M. vom 2. 7. 1952, AP 53 Nr. 143, S. 37. 105 LAG Frankfurt a. M. vom 2.7. 1952, AP 53 Nr. 143, S. 39. 106 LAG Frankfurt a. M. vom 2. 11. 1951, DB 1952, S. 60: in diesem Fall sei von dem Mittel zwischen tariflichen und üblichen Lohnniveau als Vergleichsmaßstab auszugehen. 107 LAG Baden-Württemberg (Mannheim) vom 29. 12. 1961, AuR 1962, S. 125. 108 BAG vom 11. I. 1973, AP Nr. 30 zu § 138 BGB. 99

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chende tarifliche Vergütung zugrunde und erklärte damit im Ergebnis eine Unterschreitung des Tariflohnes um mehr als die Hälfte für zulässig. 109 Einen zusätzlichen Rechtfertigungsgrund für die niedrige Vergütung sah das Gericht darin, daß bei nebenberuflichen Tätigkeiten der Aspekt der Existenzsicherung nicht im Vordergrund stehe. 110 Auch das ArbG Essen führte unter Berufung auf die angeführte Entscheidung des BAG aus, daß nicht allein auf den Tariflohn als Vergleichsmaßstab abzustellen sei, sondern auch das allgemeine Lohnniveau des betreffenden Wirtschaftsgebiets berücksichtigt werden müsse. 111 Dennoch ist abweichend von der Rechtsprechung des BAG bei den Instanzgerichten verstärkt die Tendenz festzustellen, auf den Tariflohn der jeweiligen Branche als Vergleichsmaßstab zurückzugreifen. So hatte das ArbG Göttingen 112 1960 über das Bruttomonatsgehalt einer Fakturistin in Höhe von 358 DM zu entscheiden und für die Feststellung der Sittenwidrigkeit dieser Lohnvereinbarung die entsprechenden Tarifgehälter als Vergleichsmaßstab herangezogen. Dabei ergab sich, daß der vereinbarte Lohn 20 % unter dem vergleichbaren Tariflohn lag. Nach Auffassung des Gerichts sei eine solche Unterschreitung des Tariflohnes lediglich unangemessen; dies führe aber noch nicht zur Sittenwidrigkeit des Lohnes. l13 Das LAG Bremen 1l4 griff im Jahre 1955 ebenfalls auf den Tariflohn als Vergleichsmaßstab zurück und erachtete den vereinbarten Stundenlohn für zulässig, weil er sich auf zwei Drittel des Tariflohnes belief. Auch eine derartige untertarifliche Bezahlung könne nur als unangemessen angesehen werden; sie begründe jedoch kein auffälliges Mißverhältnis zwischen Arbeitsleistung und -entgelt. 115 Im Jahr 1961 legte das LAG Berlin 1l6 für die Beurteilung eines auffälligen Mißverhältnisses den Tariflohn für vergleichbare Arbeiten in der entsprechenden Branche zugrunde und verneinte eine Sittenwidrigkeit, weil der vereinbarte Lohn nur unerheblich unter dem Tariflohn lag und die Klägerin darüber hinaus weder eine abgeschlossene Berufsausbildung noch praktische Erfahrungen für die auszuübende Tätigkeit besaß. Dies rechtfertige die Erwartung der Arbeitgeberin, daß die Arbeitsleistung nicht dem Durchschnitt entsprechen würde, und somit auch die niedrige Vergütung. ll7 Nach Auffassung des Gerichts könne von einer sittenwidrigen LAG Köln vom 5.2.1986, LAGE Nr. 1 zu § 2 BeschFG, S. 5 f. LAG Köln vom 5.2.1986, LAGE Nr. 1 zu § 2 BeschFG, S. 6 f. 111 ArbG Essen vom 1. 2. 1977, BB 1978, S. 255 (256). 112 ArbG Göttingen vom 8.12. 1960, DB 1961, S. 882. 113 ArbG Göttingen vom 8. 12. 1960, DB 1961, S. 882. Nach dem Vortrag der Klägerin entsprach ihr Gehalt nicht einmal dem einer Packerin oder Arbeiterin. 114 LAG Bremen vom 5. 1. 1955, AP Nr. 3 zu § 611 BGB (Lohnanspruch). 115 LAG Bremen vom 5. 1. 1955, AP Nr. 3 zu § 611 BGB (Lohnanspruch), BI. 1 RS, 2 mit zustimmender Anm. von Larenz. a. a. 0., BI. 3. 116 LAG Bertin vom 17.7.1961, DB 1961, S. 1458. 117 LAG Bertin vom 17.7. 1961, DB 1961, S. 1458 (1459): Der Lohn der Klägerin betrug 185 DM, während sich der Tariflohn für vergleichbare Arbeiten im 1. Berufsjahr auf 189 DM, 109 110

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C. Inhaltskontrolle bei niedrigen Löhnen

Lohnvereinbarung erst dann ausgegangen werden, wenn das vereinbarte Entgelt die Hälfte oder weniger des angemessenen Entgelts betrage. 118 Dabei zog das LAG den Tariflohn als angemessene Vergütung und damit als maßgeblichen Vergleichsmaßstab heran. Aber ebenso wie das BAG 1l9 ging auch das LAG Berlin davon aus, daß die Sozialhilfesätze nicht notwendig eine zwingende Untergrenze bilden. 120 Dies soll insbesondere dann gelten, wenn die von den Sozialpartnern festgelegten Vergütungssätze ebenfalls nur geringfügig über dem Sozialhilfeniveau liegen. 121 Nach Ansicht des ArbG Hagen könne als Beurteilungsmaßstab für die Angemessenheit des Lohnes allenfalls jener Sozialhilfesatz dienen, der dem jeweiligen Arbeitnehmer als Alleinstehenden zustehen würde. 122 Bezogen auf das Jahre 1976 beurteilten demgegenüber das ArbG Essen 123 sowie die Berufungsinstanz LAG Düsseldorf124 das Bruttogehalt einer Bürohilfe als sittenwidrig, weil es mit zunächst 450 DM fast 50 % und später mit 550 DM immer noch knapp 40 % unter dem entsprechenden Tariflohn lag. Nach Ansicht des ArbG Essen diene der entsprechende tarifliche Lohn als Richtschnur für die Angemessenheit von Leistung und Gegenleistung. 125 Eine ähnliche Wertung liegt der Entscheidung des ArbG Wesel vom 3. 5. 1995 zugrunde. Das Gericht hielt unter Bezugnahme auf die Entscheidungen des ArbG Essen und LAG Düsseldorf die mit einem ausländischen Arbeitnehmer getroffene Lohnvereinbarung für sittenwidrig, weil sie deutlich unter der Hälfte der tariflichen Vergütung lag. 126 Auch das LAG Berlin 127 wertete in seiner Entscheidung vom 20.2. 1998 einen Stundenlohn von 9,98 DM brutto für einen gelernten Heizungsmonteur zweifelsohne als sittenwidrig, weil dieser Lohn nicht einmal 42 % des entsprechenden Tariflohnes erreichte. Auf dieser Linie liegt auch die Entscheidung des LAG Bremen vom 3. 12. 1992 128 , bei der es um die Sittenwidrigkeit der mit einer Datentypistin getroffenen Lohnvereinbarung ging. In dem zu entscheidenden Fall belief sich das Bruttomonatsgehalt der Klägerin bei einer 40-Stunden-Woche auf zunächst im 2. Berufsjahr 203 DM belief. Selbst bei Zugrundelegung der 203 DM lag der Lohn der Klägerin nur knapp 9% unter dem Tariflohn. 118 LAG Berlin vom 17. 7. 1961, DB 1961 , S. 1458. 119 Vgl. BAG vom 22.31989, Az.: 5 AZR 151/88 nv., - juris. 120 LAG Berlin vom 17. 7. 1961, DB 1961, S. 1458 (1459). 121 LAG Berlin vom 17. 7. 1961, DB 1961, S. 1458 (1459). 122 ArbG Hagen vom 24. 6. 1987, NZA 1987, S. 610 (611). 123 ArbG Essen vom 1. 2. 1977, BB 1978, S. 255 (256). 124 LAG Düsseldorf, vom 23. 8. 1977, BB 1978, S. 256 = AuR 1978, S. 218 = DB 1978, S.165. 125 ArbG Essen vom 1. 2. 1977, BB 1978, S 255 (255 f.). 126 ArbG Wesel vom 3. 5. 1995, AuR 1995, S. 475 (476) = AiB 1996, S. 126 (127) mit zustimmender Anm. von Däubler, a. a. 0., S. 127 (127 f.). 127 LAG Berlin vom 20. 2.1998, AuR 1998, S. 468. 128 LAG Bremen vom 3.12.1992, AiB 1993, S. 834.

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620 DM, später auf 750 DM. Grundsätzlich hätte auch das LAG auf den Tariflohn als entscheidende Vergleichsgröße abgestellt. Nur weil es an einer entsprechenden tariflichen Vergütung fehlte, zog das Gericht bei der Überprüfung der Lohnvereinbarung den vom Statistischen Landesamt ermittelten durchschnittlichen Bruttomonatsverdienst für vergleichbare Tätigkeiten heran. Dabei ergaben die Berechnungen, daß das Arbeitsentgelt zunächst 72 % und später 66 % unter dem für die Tätigkeit üblichen Entgelt lag. Darin sah das LAG Bremen nicht nur ein auffälliges, sondern ein "krasses und besonders auffälliges Mißverhältnis" zwischen Arbeitsleistung und Entgelt. 129 Die Wertung des LAG Düsseldorf wird auch in der Entscheidung des ArbG Herne 130 aufgegriffen, in der es um ein Arbeitsverhältnis im Pflegebereich ging. Die Klägerin war zunächst arbeitslos und nach einem sechs wöchigen "Lehrgang zur Schwesternhelferin / Pflegediensthelfer" bei einem ambulanten Pflegedienst eingestellt worden, wo sie bei einer wöchentlichen Arbeitszeit von 38,5 Stunden ein Gehalt von 1.500 DM brutto erhielt. Darüber hinaus war die Leistung von Überstunden durch das Gehalt abgegolten, so daß die Klägerin nach ihrem Vortrag teilweise einen Stundenverdienst von nur 6,65 DM brutto bzw. 4 DM netto erzielte. 131 Für die Beurteilung eines auffälligen Mißverhältnisses zwischen Arbeitsleistung und Entgelt hätte grundsätzlich auch das ArbG Herne den Tariflohn als entscheidenden Vergleichsmaßstab herangezogen. 132 Nur weil kein einschlägiger Tarifvertrag für den in Rede stehenden Tätigkeitsbereich bestand, ermittelte das Gericht den Vergleichsmaßstab durch eingehende Erkundigungen bei den Wohlfahrtsverbänden über die bei ihnen für entsprechende Tätigkeiten üblichen Arbeitsentgelte 133 , wobei deren Vergütungsregelungen wiederum an die Tarife im öffentlichen Dienst angelehnt sind. 134 Den Einwand des Arbeitgebers, deren Vergütungsniveau könne wegen erheblicher öffentlicher und kirchlicher Zuschüsse nicht maßgeblich sein, hielt das Gericht für nicht beachtlich. 135 Konkret haben die Erkundigungen des Gerichts jedenfalls ergeben, daß vergleichbare Pflegedienste der Wohlfahrtsverbände für derartige Tätigkeiten deutlich über 2.500 DM brutto pro Monat zahlen. Das ArbG Herne bejahte ein auffälliges Mißverhältnis, weil das vereinbarte Entgelt um mehr als 40 % unterhalb des üblichen Entgeltniveaus für solche Tätigkeiten lag. 136 lAG Bremen vom 3.12. 1992, AiB 1993, S. 834 (835, unter 2 der Gründe). ArbG Herne vom 5. 8. 1998, Sozialrecht aktuell 1999, S. 31 mit zustimmender Anm. von Hölscher, a. a. 0., S. 35 (35 f.) = AiB 2000, S. 366 mit Er!. von Grimberg = PersR 2000, S. 87 mit zustimmender Anm. von Feldhoff, a. a. 0., S. 87 (87 f.). 131 ArbG Herne vom 5.8. 1998, Sozialrecht aktuell 1999, S. 31 (33). 132 ArbG Herne vom 5.8. 1998, Sozialrecht aktuell 1999, S. 31 (34). 133 ArbG Herne vom 5.8. 1998, Sozialrecht aktuell 1999, S. 31 (35). 134 Vg!. Feldhoff, Anm. zu ArbG Herne vom 5.8. 1998, PersR 2000, S. 87 (88). 135 ArbG Herne vom 5. 8. 1998, Sozialrecht aktuell 1999, S. 31 (35) mit zustimmender Anm. von Hölscher, a. a. 0., S. 35 (36). 136 ArbG Herne vom 5.8.1998, Sozialrecht aktuell 1999, S. 31 (34 f.). 129

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C. Inhaltskontrolle bei niedrigen Löhnen

Ein auffälliges Mißverhältnis zwischen Arbeitsleistung und -entgelt bejahte auch das ArbG Reutlingen im Jahre 1996 bei der mit einem Leiharbeitnehmer vereinbarten Lohnabrede, die nur wenig über der Hälfte des tariflichen Mindestlohnes lag. 137 Allerdings weist diese Entscheidung insofern eine Besonderheit auf, als die Sittenwidrigkeit der Lohnabrede nicht nur mit dem untertariflichen Niveau begründet wurde, sondern auch damit, daß dem Entleiher der dreifache Betrag in Rechnung gestellt wurde. 138 Während der Leiharbeitnehmer lediglich einen Bruttostundenlohn von 11 DM erhielt, mußten die Entleiher für dessen Tätigkeit 33 DM pro Stunde zahlen. Für die Beurteilung, ob zwischen Leistung und Gegenleistung ein auffälliges Mißverhältnis besteht, wird also von den Instanzgerichten zunehmend auf den Tariflohn als Vergleichsmaßstab abgestellt. Unklar ist jedoch nach wie vor, ab welchem Prozentsatz untertariflicher Bezahlung von einem Sittenverstoß ausgegangen werden kann. Zumindest läßt sich der Rechtsprechung entnehmen, daß jedenfalls die Hälfte des Tariflohnes für vergleichbare Tätigkeiten nicht unterschritten werden darf. 139 Es wird daher vielfach kritisiert, daß das Sittenwidrigkeitsverbot allenfalls in Extremfällen greift. 14o Darüber hinaus wird die große Rechtsunsicherheit bemängelt, weil selbst dann, wenn - etwa wie durch das LAG Düsseldorf l41 oder das ArbG Herne l42 - eine 40%ige Unterschreitung des vergleichbaren Tariflohnes als sittenwidrig bewertet wird, immer noch unklar ist, ob eine entsprechende Wertung auch etwa bei einer 30%igen Unterschreitung erfolgen würde. 143 Diese Unsicherheit bestätigt sich auch durch die Entscheidung des ArbG Hagen, nach der eine Unterschreitung des niedrigsten Tariflohnes um ca. 26 % noch nicht ausreichen soll, um ein auffälliges Mißverhältnis zu begründen. Eine solche Lohnvereinbarung liege nämlich noch im Rahmen des durch die Vertragsfreiheit gewährleisteten Gestaltungsspielraums. l44 In der Tat ist das Fehlen einer "richterlichen Untergrenze" bei Arbeitsentgelten für die Wirksamkeit des Sittenwidrigkeitsverbots nicht besonders förderlich und um 137 ArbG Reutlingen vom 16. I. 1996, AiB 1996, S. 499 mit zustimmender Anm. von Däubler; a. a. 0., S. 500. 138 ArbG Reutlingen vom 16. I. 1996, AiB 1996, S. 499 (500) mit zustimmender Anm. von Däubler; a. a. 0., S. 500 (501). Dazu auch unten C. I. I. a) aa) (5) (d). 139 Vgl. auch ErfKl Schlachter, § 612 BGB, Rn 3; ferner Ermanl Hanau lO , § 612, Rn 21; MünchArbR I Hanau, § 63, Rn 6: Hälfte des Marktlohnes. 140 Däubler; ArbR 2, Rn 794; Peter; Mindestlohn ohne Gesetz?, S. 241 (245); Peterl Peter, Der Entgeltanspruch, Rn 185. 141 LAG Düsseldorfvom 23.8.1977, DB 1978, S. 165. 142 ArbG Herne vom 5.8. 1998, Sozialrecht aktuell 1999, S. 31 (35). 143 Peter; Gesetzlicher Mindestlohn, S. 116; Peter; Mindestlohn ohne Gesetz?, S. 241 (245); Peterl Peter, Der Entgeltanspruch, Rn 185; allgemein: Feldhoff, Anm. zu ArbG Herne vom 5. 8. 1998, PersR 2000, S. 87 (88); ferner kritisch wegen Fehlens allgemein anerkannter Grundsätze für die Annahme eines auffälligen Mißverhältnisses: Reinecke, Anm. zu BGHSt vom 22. 4. 1997, AuR 1997, S. 453 (455). 144 ArbG Hagen vom 24. 6. 1987, NZA 1987, S. 610 (611).

I. Individuelle Lohnvereinbarungen

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so erstaunlicher, als die zivilgerichtliche Rechtsprechung zur Anwendung immer festerer Maßstäbe tendiert. So hat der BGH bei Kreditverträgen regelmäßig dann ein auff