Linien – Gesten – Bücher: Zu Henri Michaux 9783110723953, 9783110702620

This study focuses on various scenes of calligraphy, practices and conceptualizations of lines, and questions of book ae

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German Pages 250 [252] Year 2020

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Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
1. Partizipative Linien? Einleitung
2. Zum Zeichnen kommen: plurale Wiederanfänge
3. Von der Schrift abkommen: Schreiben als Geste
4. Meskalin-Szene und ‚Meskalinie‘
5. Chinesischer Strich und europäische Linie: (k)ein Gegensatz
Exkurs: Umwege der Ästhetik oder Trifft Castiglione einen chinesischen literatus?
6. Ästhetische charis im 20. Jahrhundert
7. Performanz und Buch-Kunst
8. Linien sind Verben. Schluss
Coda: „Draw a straight line and follow it“. Nach Michaux
Abbildungsnachweise
Literaturverzeichnis
Namenregister
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Linien – Gesten – Bücher: Zu Henri Michaux
 9783110723953, 9783110702620

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Linien – Gesten – Bücher

Sabine Mainberger

Linien – Gesten – Bücher Zu Henri Michaux

ISBN 978-3-11-070262-0 eISBN (PDF) 978-3-11-072395-3 Library of Congress Control Number: 2020945917 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2020 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: Andreas Eberlein, aromaBerlin Druck und Bindung: Beltz Grafische Betriebe GmbH, Bad Langensalza www.degruyter.com

Für M.

Inhaltsverzeichnis

1. Partizipative Linien? Einleitung 9

1.1. Arbeit an der künstlerischen Linie im 20. Jahrhundert 10 1.2. Linien mit Körper und Gedächtnis 18 Szenen und graphische Ereignisse 19 Das Gedächtnis der Gesten 27

2. Zum Zeichnen kommen: plurale Wiederanfänge 39

2.1. Errante Linie und unlesbare Zeilen 39 2.2. Eine japanische Zeichenszene 45 2.3. Linien und Zeilen: nach Klee 47 2.4. Unterwegs zu einer Poietik der Geste 52

3. Von der Schrift abkommen: Schreiben als Geste 61

3.1. Contra Schrift – pro Buch 61 3.2. Schreiben (und Lesen) als Körpertechnik(en) 65 3.3. Schreibszene mit gebrochenem Arm oder Lob der Linken 68

4. Meskalin-Szene und ‚Meskalinie‘ 77

4.1. Kontrolliert entgleisen: experimentelles Setting und Methode 77 4.2. Epistemischer Gegenstand und Medialität: das Meskalin-Buch 81 4.3. ‚Reines‘ Sehen und und die Persistenz der Geometrie 91 4.4. Meskalin als Stil 96 4.5. ‚Reine‘ Bewegung oder Kollaps des Experimentalsystems: „eine Linie sein“ 98 4.6. Errante Linie – ‚Meskalinie‘ – Linie der Psychose 102

5. Chinesischer Strich und europäische Linie: (k)ein Gegensatz 105

5.1. Die Kunst anzudeuten 105 5.2. Radikalpoesie und Katalog der ‚Charaktere‘ 111 5.3. Tonus, Schwung, Falten, Bahn – chinesisch und europäisch 119 5.4. ‚Monogramm‘ und ‚Polygraphie‘ 123

Exkurs: Umwege der Ästhetik oder 129 Trifft Castiglione einen chinesischen literatus? 6. Ästhetische charis im 20. Jahrhundert 149

6.1. Eine Linie höchster Reinheit? 149 6.2. Abjekte Tänzerinnen: zu Valéry und Michaux 154 6.3. „Grazie der Ungeduld“ – gratuité der Gesten 160

7. Performanz und Buch-Kunst 169

7.1. Gesten mit Horizont 169 7.2. Buch und Zeit 174 7.3. Striche, Zeilen, Rhythmen 185 7.4. Improvisation und Buch-Kunst 194

8. Linien sind Verben. Schluss 207 8.1. Medialität grammatisch 208 8.2. To be at play: werden, teilnehmen, beobachten 213 8.3. Der intelligente Körper improvisiert 218

Coda: „Draw a straight line and follow it“. Nach Michaux 225 Abbildungsnachweise 235 Literaturverzeichnis 237 Namenregister 247

1. Partizipative Linien? Einleitung

„Auch ich bekomme eines Tages, spät, als Erwachsener, Lust zu zeichnen, an der Welt durch Linien teilzunehmen.“1 So beginnt der über siebzigjährige Henri Michaux in Émergencesrésurgences von 1972 die Darstellung seines Künstler-Werdens und die Kommentierung seines bildnerischen Œuvres. Dieser Einstieg wirkt wie eine Persiflage auf Biographien, in denen das Künstlertum von Schlüsselerlebnissen und lebensgeschichtlichen Wenden seinen Ausgang nimmt, auf Erzählungen von Leidenschaften, exorbitanter Begeisterung oder unwiderstehlichem inneren Drang. Hier dagegen soll alles mit einer etwas seltsamen Anwandlung begonnen haben, und mit Kunst hat es scheinbar nichts zu tun. Mehr untertreiben lässt sich schwerlich. Linien sind zu diesem späten Zeitpunkt von Michaux’ Leben und Arbeiten genug da (und es werden im anschließenden Jahrzehnt noch viele dazukommen), aber was heißt ‚durch sie an der Welt teilnehmen‘? Der Ausdruck ist hier ein Synonym für ‚Zeichnen‘; er erläutert dieses Tun freilich auf überraschende Weise: Zeichnen heißt also nicht: sichtbare Dinge etwa durch Umrisse darstellen; es heißt nicht: unsichtbare Dinge entwerfen; nicht: einen Raum und Körper darin konstruieren; nicht: eine Fläche einteilen, nicht: Punkte verbinden, nicht: etwas projizieren, usw., sondern an etwas, was einen umgibt, partizipieren. Das verwundert, da wir an diesem Umgebenden doch immer schon teilhaben, ob wir es wollen oder nicht. Unsere ‚Welt‘ ist, was wir uns nicht aussuchen können. Diese wird hier aktiv bejaht und nur der Modus verändert: Woran der Erwachsene längst teilhat, ist die Sprache, dazukommen soll eine Teilhabe ‚durch Linien‘, womit aber nicht diejenigen der Schrift gemeint sind. Das Wort ‚Linien‘ steht offenbar für alle möglichen nicht-verbalen Aktivitäten. Aber sind nicht Linien auch immer schon vor uns da? Trifft nicht, was für die Sprache und die Schrift gilt, auch für sie zu? Wir wachsen auch in und mit Linien auf. Bevor sich jemand zum Zeichnen entschließen kann, hat sie oder er schon unzählige Linien gezogen, und nicht nur kritzelnd auf Papier, sondern im Sand, im Schnee, in der Luft, hat Kanten nachgefahren, Rillen abgetastet, ist auf einer Linie entlanggelaufen, hat andere überquert, hat sich mit den Füßen einen Weg gebahnt, hat mit Fäden, Schnüren, Seilen, Bändern hantiert… Ganz zu schweigen von den Linien, die sie oder er gesehen hat: auf Bildern, Karten, auf der Straße oder in der eigenen Hand. 1  „Moi aussi, un jour, tard, adulte, il me vient une envie de dessiner, de participer au monde par des ­lignes.“ Henri Michaux: Œuvres complètes. Édition établie par Raymond Bellour, avec Ysé Tran, Paris: Gallimard (­Pléiade), 1998–2004, 3 vol. (künftig abgekürzt OC), III, 545. (Sofern nicht anders gekennzeichnet, stammen die Übersetzungen von S. M.) – Da das Zitat als erster Satz in einem deutschsprachigen Buch fungiert, steht hier ausnahmsweise das französische Original in der Anmerkung statt oben im Text.

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1. Partizipative Linien? Einleitung

Wenn Zeichnen ‚an der Welt durch Linien teilnehmen‘ heißt, dann ist das ein sehr viel weiteres Verständnis dieses Tuns als das übliche. Denn es schließt neben dem künstlerischen auch alle möglichen anderen Arten des Zeichnens ein: technische, wissenschaftliche, kindliche, ephemere alltagspraktische, Notationen sei es von Musik oder Schrift, und letztere im umfassenden Sinn des Wortes, der auch nicht-verbale Schrift einbezieht; man denke an Strichcodes oder physiologische Kurven. Diese Auffassung impliziert auch Linien als Kulturtechniken, die keine inskriptiven sind: das Handhaben von Fäden, das Unterwegssein, vielleicht auch das Erzählen. Sie schließt das Umgehen mit Naturlinien ein: mit Geflechten, Fasern, Spuren und Routen von Tieren, Spinnweben, Sternbahnen… All das mag auf der Ebene der Metaphorik zum Zeichnen gehören, kann aber auch, wie zeitgenössische künstlerische Praktiken zeigen, ganz wörtlich genommen werden: Aktuelles Zeichnen bindet sich nicht mehr an Papier und Stift oder Vergleichbares, sondern vollzieht sich als raumzeitliche Praxis mit allen möglichen Materialien. Der Ausdruck ‚an der Welt durch Linien teilnehmen‘ markiert aber vor allem nicht das menschliche Zugreifen auf anderes, um dem Gegenüber etwas aufzuerlegen, was es selbst nicht hat, sondern ein reziprokes Verhältnis. Teilnehmen heißt mittun in einem komplexen Spiel vieler Akteure und Aktanten, Impulse aufnehmen und selbst geben, auf das Gegenüber achten, Veränderungen wahrnehmen, bewirken und sich dabei selbst verändern, agieren und respondieren, improvisieren, mit-leben. Die Formulierung könnte so gesehen eine sein für unser Verhältnis zu anderen und zu unserer artifiziellen und natürlichen Umgebung, das als komplexes Wechselspiel Gegenstand philosophischen, soziologischen und ethnologischan­thro­pologischen Interesses ist. Michaux hätte mit seinem Ausdruck einen ungewöhnlichen Begriff von ‚Zeichnen‘ und von ‚Linie‘ anvisiert. Und darin eingeschlossen wäre ein bestimmtes, näher zu erläuterndes Verständnis von ‚uns‘ und unserer Beziehung zur sozialen und natürlichen ‚Welt‘. Es ginge um Kunst, insofern sich im zitierten Kontext ein etablierter Künstler zu seinem Werdegang äußert, aber aufgeworfen ist auch das Problem, was diese uns möglicherweise über uns selbst wissen lässt. Wenn sich das präzisieren ließe, wäre Michaux’ sprach- und bildkünstlerisches Unternehmen nicht nur eines von vielen im 20. Jahrhundert, sondern böte die Gelegenheit zu sehr grundlegenden Einsichten, und dies qua graphischer Arbeiten und literarisch-poetischer Texte.

1.1. Arbeit an der künstlerischen Linie im 20. Jahrhundert Doch beginnen wir mit einer engeren Optik: Im 20. Jahrhundert wird die künstlerische Linie in Praktiken und theoretischen Äußerungen mehrfach neu konzipiert. Aus heutiger Perspektive gibt es Schübe um 1900, in den zehner und zwanziger sowie in den fünfziger bis siebziger Jahren. Die vielen innovativen Zugriffe auf das Thema, die in den gattungsmäßig ausfransenden und medial sich zunehmend verflechtenden Künsten zu verzeichnen sind, stehen seit einiger Zeit immer wieder im Fokus von Ausstellungen; diese zeigen eine beeindruckende Vielfalt von ‚Arbeit an der Linie‘ oder – wie Künstler und Künstlerinnen sagen – von ‚Auseinandersetzung‘ mit ihr.

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1.1. Arbeit an der künstlerischen Linie im 20. Jahrhundert

Historisch gesehen beginnt ein Prozess der allmählichen Ablösung der Linie von der Zeichnung spätestens in der Mitte des 18. Jahrhunderts. Eine nicht nur handwerkliche, sondern auch kunsttheoretisch relevante Differenz zwischen Linie und Strich aber tut sich schon lange vorher auf, insbesondere im graphischen Œuvre von Leonardo. Ob sich Andeutungen auf dergleichen schon in den Künstlerlegenden von Plinius d. Ä. entdecken lassen, ist eine Frage des Umgangs mit diesen Texten. In der westlichen bildenden Kunst stellt die Linie jedenfalls ein zentrales Element dar; gemäß den Ursprungsmythen von der Entstehung der Malerei und Skulptur aus dem nachgezogenen Schatten eines Menschen ist sie sogar das konstitutive Element überhaupt. Konzeptualisierungen der Linie haben daher mit sehr weitreichenden Fragen zu tun. Sie führen zu dem Problem, wie die westliche Kultur bildende Kunst überhaupt versteht, zu deren präsumtiven Leistungen, Möglichkeiten, ontologischen Wertigkeit, sozialem Status u. a.m. Verschiebungen in diesen Konzeptualisierungen wiederum indizieren tiefgreifende Veränderungen, die auch weit über das Kunstsystem hinausgehen.2 Einige der von künstlerischer Seite aus vorgenommenen Neupositionierungen im 20.  Jahrhundert sind gut bekannt: Um die Jahrhundertwende werden sie im deutschen Sprachraum im Zusammenhang mit und im Rekurs auf die noch junge Wissenschaft der Psychologie, insbesondere auf die Einfühlungstheorie, formuliert, so etwa von Henry van de Velde oder August Endell. Diese und andere Künstler treffen sich dabei mit den psychologisierenden und wahrnehmungstheoretisch interessierten Kunstwissenschaftlern wie Heinrich Wölfflin, Alois Riegl, Wilhelm Worringer, Aby Warburg u. a.3 Künstlerische und z. T. auch wissenschaftliche und philosophische Pendants haben sie in Frankreich, England und den USA.4 Prominenter haben sich indes zumindest ins populäre Gedächtnis andere Namen eingeschrieben: Als explizite Theoretiker und nicht zuletzt Didaktiker bildkünstlerischer Grund­ elemente wie Punkt und Linie treten Wassily Kandinsky und Paul Klee hervor. Vor allem letzterer hat wie kaum ein anderer über das Phänomen Linie nachgedacht.5 Seine Schriften bestimmen bis heute direkt oder indirekt alle weiteren Überlegungen dazu, und das nicht nur in der bildenden Kunst, sondern auch – oder vielleicht gerade? – in der Philosophie, etwa bei Maurice Merleau-Ponty oder Gilles Deleuze. Jüngst begegnen sie in den Arbeiten des britischen Anthropologen Tim Ingold, der in einer Art ‚aktiven‘ Linie ein Modell für einen neuen ethnologisch informierten Entwurf der Mensch/Um-Welt-Beziehungen findet. Linien haben eine leitende Funktion in diesem neo-ökologischen Denkansatz.6 Theoretisierungen der Linie etwa durch Piet Mondrian oder die russischen Konstruktivisten sind nicht in ver2  Vgl. Sabine Mainberger/Esther Ramharter (Hg.): Linienwissen und Liniendenken, Berlin/Boston: De Gruyter, 2017 (künftig abgekürzt LuL). 3  Vgl. dazu Mainberger: Experiment Linie. Künste und ihre Wissenschaften um 1900, Berlin: Kulturverlag Kadmos, 2010; dies.: „Tragödie der Verleibung“. Zu Aby Warburgs Variante der Einfühlungstheorie, in: Tobias Wilke/Jutta Müller-Tamm/Henning Schmidgen (Hg.): Empirische Ästhetik um 1900, München: Fink, 2014, 105–135; und die einschlägigen Texte, Einführungen und Literaturhinweise von ders. in LuL, 305–307, 375–402. 4  Vgl. die Hinweise dazu in Mainberger: „Tragödie der Verleibung“, ebd. 5  Vgl. zu Kandinsky LuL, 310, 404–408, zu Klee 308–310, 413–417, und v. a. Régine Bonnefoit: Die Linientheorien von Paul Klee, Petersberg: Imhof, 2009. 6  Vgl. dazu unten, 209–214, 216, 219–221.

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1. Partizipative Linien? Einleitung

gleichbarer Weise Gemeingut geworden wie die der beiden Klassiker der Moderne, obwohl jene Wesentliches nicht nur zum praktischen Umgang mit Linien in Fläche, Raum, Zeit und ggf. sogar der Gesellschaft beigetragen haben.7 Man könnte freilich sagen: Die Positionen von Mondrian oder Rodtschenko mussten nicht zu derart expliziten Referenzen werden, denn die Gestaltung der Welt etwa seit 1920 – und nicht nur die visuell sichtbare – hat der von ihnen aus unterschiedlichen Gründen favorisierten Geraden ohnehin zu unbestreitbarer Dominanz verholfen. ‚Moderne‘ – das ist laut Walter Benjamin Surrealismus und Le Corbusier, aber in puncto Linie besteht Erklärungs- und d. h. auch immer Rechtfertigungsbedarf nicht für die mit letzterem assoziierte; die geometrische Linie ist sich als konstruktive Macht des 20. Jahrhunderts selbst genug. Ihre machtvollste Erscheinungsform ist das Raster. Diesem Prinzip steht die Auffassung der Linie als Bewegungsspur, Vektor oder Kraftlinie gegenüber. Zum klaren Bruch mit jeder traditionell bildkonstitutiven Linie aber kommt es einige Jahrzehnte später, wenn, vermittelt durch die Kunstkritik und deren Rezeption in der Philosophie, die Pollock’schen Tropf- und Rinnspuren ein deutliches theoretisches Profil erhalten. Michael Fried erkennt in den großformatigen dripping-Bildern das Prinzip einer konsequent nicht mehr zur Figuration dienenden Linie: Unabhängig von erkennbaren Bildobjekten oder ‚abstrakten‘, etwa geometrischen, Gebilden, erzeugt sie nicht mehr die Differenz von Figur und Grund, und sie erscheint auch selbst nicht als Figur, denn in einem Gewimmel pikturaler Markierungen kann der Blick nichts Bestimmtes mehr fokussieren, auch keine Linie. Deleuze nimmt dies auf und formt daraus, kombiniert mit Theoremen Riegls und v. a. Worringers, sein Konzept der abstrakt-lebendigen Linie. Entscheidend ist dabei, dass er die Linie generell – die künstlerische ist nur das Paradigma – der Dependenz von Raum und Geometrie entwindet und zu etwas Eigenständigem, Primärem erhebt. Das Konzept einer derartigen Linie zieht sich transversal durch sein ganz auf Dynamisierung, Umwertung, Proliferation der Begriffe und ihrer Relationen abgestelltes Denken und verbindet Kunst, Biologie, Politik, Kritik der Psychoanalyse, Soziologie, Mathematik, Literatur und anderes mehr.8 Die bislang nicht allzu vielen, die sich überhaupt Linien als etwas philosophisch und kulturtheoretisch Relevantem zuwenden, rekurrieren – zumindest im deutschsprachigen Raum – noch immer gern auf diese Thesen und Gedankenfiguren.9 Kulturwissenschaftliche Arbeiten in Deutschland, v. a. die in der Germanistik verankerten, finden, wenn es um künstlerische, kartographische, geopolitische, physiognomische u. a. Linien geht, in Deleuzes Überlegungen 7  Vgl. z. B. die einschlägigen Texte, Einführungen und Literaturhinweise dazu von Wolfram Pichler in LuL, 308–310 und 402–413. 8  Zu Linien im Denken von Deleuze (und Guattari) generell vgl. die Quellentexte mit Einführungen und Literaturhinweisen von Richard Heinrich in LuL, 44–48, 68–78, und Esther Ramharter ebd., 85 f., 89–91, 135–138; vgl. auch Christian Moser, ebd., 150, 156, 158, Jörg Dünne, ebd., 205, Wolfram Pichler ebd., 421, und passim. Sein Denken ist in allen in LuL verhandelten Feldern, Philosophie, Mathematik, Ethno- und Anthropologie, Geo- und Kartographie, Kunsttheorie und -geschichte, vertreten. 9  Linienrelevantes findet sich auch in Überlegungen etwa von Michel Serres, z. B. zur Geometriegeschichte, und Michel de Certeau zu Praktiken des Gehens im urbanen Raum. In jüngster Zeit bietet die Kulturgeographie ein produktives theoretisches Repertoire für einige Raum strukturierende Linienfunktionen; vgl. dazu die Quellentexte mit Einführungen und Literaturhinweisen von Jörg Dünne in LuL, 202–281.

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1.1. Arbeit an der künstlerischen Linie im 20. Jahrhundert

ihre maßgebliche Referenz, und zwar nicht zuletzt auch in Hinsicht auf Literatur. In der Spur seiner Lektüre kommt z. B. Melvilles polysemische Rede von lines in Moby Dick in den Blick.10 Zu einem fokussierten Interesse an der Frage, wie literarische Texte alle möglichen Linienfunktionen explorieren, wie sie deren kulturtechnische und künstlerische Dimensionen in den Blick rücken und sich die Versatilität von Konzept, Metapher und Praxis für ihre eigenen Zwecke aneignen, hat dies bisher aber nicht geführt.11 Wollte man die Neukonzeptionen der künstlerischen Linie anhand der künstlerischen Praktiken im 20. Jahrhundert skizzieren, käme das Aufzählen von Namen an kein Ende. Allein die Liste derjenigen, die sie in den ersten Jahrzehnten im Graphischen innovativ gebrauchen, ist lang: Rodin, Klimt, Matisse, Picasso,12 Masson… Dazu kommen (neben Duchamp und seiner Ironisierung der Linie als eines künstlerischen Kultobjekts) all diejenigen, die die Linie aus der Zweidimensionalität in den Raum übertragen, sie zu materialen oder kinetischen Skulpturen machen, und diejenigen, die die Linie ins Performative übersetzen.13 10  Vgl. neben den Rekursen auf den Roman in Mille plateaux (1980) z. B. Un Portrait de Foucault, in: Deleuze: Pourparlers 1972–1990, Paris: Les Éditions de Minuit, 1990, 149–153. 11  Dass die Beziehung von ‚Linien und Literatur‘ noch der Bearbeitung harrt, liegt wohl nicht an der Weitläufigkeit, werden doch auch so schwer begrenzbare Themen wie ‚Literatur und Raum‘ oder ‚Literatur und materielle Kultur‘ inzwischen in Handbüchern präsentiert. Fallstudien zu literarischen Texten, die sich mit jeweils verschiedenen Linienfunktionen (geometrischen, künstlerischen, kartographisch-geopolitischen, genealogischen o. a.) befassen und – das ist für Literatur entscheidend – in denen Übergänge zwischen üblicherweise getrennten Leistungen und Verwandlungen ineinander stattfinden, gibt es natürlich; hier nur ganz wenige (alphabetisch gereihte) Hinweise: Charlotte Kurbjuhn: Kontur. Geschichte einer ästhetischen Denkfigur, Berlin/Boston: De Gruyter, 2014; Mainberger: Paolo Uccellos mazzocchi, Marcel Schwob und die Grenzen der Euklidischen Geometrie, in: Poetica. Zeitschrift für Sprach- und Literaturwissenschaft 46.3–4 (2014), 359–411; dies.: Punkt und Linie zu Masse. Geometrisches in Andrej Belyjs Roman ‚Petersburg‘, in: dies./Esther Ramharter (Hg.): gerade gebogen – Herrschaft der Geometrie über die Linie?, in: Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft (Thementeil) 62.2 (2017), 85–106; Robert Stockhammer: Verortung. Die Macht der Kartographie und die Literatur, in ders.: TopoGraphien der Moderne. Medien zur Repräsentation und Konstruktion von Räumen, München: Fink, 2005, 319–340; Caroline Torra-Mattenklott: Poetik der Figur: zwischen Geometrie und Rhetorik. Modelle der Textkomposition von Lessing bis Valéry, Paderborn: Fink, 2016, insbes. 125–156. 12  Zu dessen Konturlinie als kleinem Horizont, zur Ablösung von Umrissen durch Trajekte und Vektoren vgl. Leo Steinberg: Other Criteria. Confrontations with Twentieth-Century Art, London u. a.: Oxford University Press, 1972, 51–57. 13  Man denke z. B. an Lygia Clark, GeGo (Gertrud Goldschmidt), Eva Hesse, Carolee Schneemann, Michelle Stuart, Michael Heizer, Mimi Gellman, Francis Alÿs. Zu den beiden erstgenannten vgl. LuL, 311, 417–420 und 423 f. Zu künstlerischen Linienpraktiken insbes. der Moderne und Gegenwart vgl. u. a. Hubertus von Amelunxen/Dieter Appelt/Peter Weibel (Hg.): Notation. Kalkül und Form in den Künsten (Ausst.kat.), Berlin: Akademie der Künste, Karlsruhe: ZKM Zentrum für Kunst und Medientechnologie, 2008; Matthias Haldemann (Hg.): Linea. Vom Umriss zur Aktion. Die Kunst der Linie zwischen Antike und Gegenwart (Ausst.kat.), Ostfildern 2010; Elke aus dem Moore/Institut für Auslandsbeziehungen e. V. (ifa) Stuttgart (Hg.): Linie, Line, Linea. Zeichnung der Gegenwart (Ausst.kat.), Köln: DuMont Schauberg, 2010; Cornelia H. Butler/Catherine de Zegher (Hg.): On Line. Drawing through the Twentieth Century (Ausst.kat.), New York: Museum of Modern Art, 2010; Marzia Faietti/Gerhard Wolf (Hg.): Linea II: Giochi, metamorfosi, seduzioni della linea, Florenz: Giunti Editore S.P.A., 2012; dies. (Hg.): Linea III. The Power of Line, München: Hirmer, 2015; Werner Hofmann: Die Schönheit ist eine Linie. 13 Variationen über ein Thema, München: C. H. Beck, 2014; Eric De Bruyn: Beyond the Line, or a Political Geometry of Contemporary Art, in: Grey Room 57 (2014), 24–49; Zentrum Paul Klee, Bern (Hg.): Taking a Line for a Walk (Ausst.kat.), Köln: Snoeck, 2014; İlkay Baliç (Hg.): Spaceliner (Ausst.kat.), Istanbul:

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1. Partizipative Linien? Einleitung

Nicht zuletzt an diesen Verfahren zeigt sich, dass die Grenzen zwischen den Künsten immer durchlässiger werden, oder auch, dass Medien vielleicht immer gemischte sind und die Künste über Mediendifferenzen hinweg aufs engste miteinander verbunden sind. Bildende Kunst wird im 20. Jahrhundert immer bewegter, und dies bei weitem nicht nur, wenn sie Film oder Video nutzt oder ganz in diese übergeht. Sie nähert sich genauso dem Tanz in dessen reformerischen Ausprägungen in den ersten Dekaden des Jahrhunderts und allemal in seiner zeitgenössischen Version, in der das ‚Tanz‘ Genannte nicht mehr von bestimmten Bewegungsformen und Choreographien abhängt, sondern sich allein durch den Körper als Medium bestimmt. Oder sie macht die raumzeitliche Bewegung selbst zum künstlerischen Akt – mit oder ohne sichtbare Spur. Oder sie inszeniert das Linienziehen als soziale und politische Aktion; deren Medium ist der öffentliche Raum jenseits der Galerien. Oder sie nähert sich dem Skripturalen und trifft sich mit der Literatur, die ihrerseits ihre medialen Grundlagen zum Thema macht und Mischungen, Angleichungen, Hybridisierungen pflegt zwischen dem, was jeweils ‚Bild‘ oder ‚Schrift‘ heißen kann. In der Linie des Graphierens können Zeichnen und Schreiben einander bis zur Fusion nahekommen. Ob und ggf. inwiefern auch Akustisches einen Bezug zur Linie hat, liegt weniger auf der Hand als bei den anderen Medien. Visualisiert in einer musikalischen Notation oder einer Inskription als Kurve partizipieren Töne an der Schriftbildlichkeit von Linien,14 aber es gibt auch ganz andere, überraschende Verbindungen. So spricht Artaud z. B. von einer Geometrie, die dem Bild eines Lärms oder Geräuschs entspricht, und für das Theater sei eine ligne ein Lärm. Was das bedeutet, lässt sich freilich nur im Rahmen seiner Theaterkonzeption und ihrer ansatzweisen praktischen Realisierung klären; nicht zuletzt bedarf es dazu eines kundigen Umgangs mit Artauds spezifischer Schreibweise.15 Saiten sind auch dreidimensionale Linien.16 Oder Singen, Tanzen, Linienziehen im Sand und Erzählen verquicken sich wie bei den australischen Aborigenes, und Malerei in dieser Tradition setzt die genannten Praktiken fort.17 Henri Michaux ist in dem hier grob skizzierten Panorama einer der vielen, die sich an der Neukonzeption der künstlerischen Linie beteiligen und damit die Künste insgesamt verändern. Seine Arbeit tangiert allem voran das Verhältnis von Malen/Zeichnen und Schreiben, Arter, 2015. Weitere Ausstellungen allein im deutschsprachigen Raum in den letzten Jahren hießen In erster Linie…, Linienbekenntnisse, Linienscharen, Der Linie folgen, Auf der ganzen Linie!, Walk the Line, (mit Bezug zu LuL) Linienwissen, Die Vielfalt der Linie… 14  Vgl. z. B. Heidy Zimmermann: Notationen Neuer Musik zwischen Funktionalität und Ästhetik, in: Amelunxen u. a. (Hg.): Notation, 198–211, oder Michael Roth: „Draw a Straight Line and Follow It“. Eine Phänomenologie der Linie in der Musik, in: Haldemann (Hg.): Linea. Vom Umriss zur Aktion, 291–307. Vgl auch unten, 225–233. 15  Vgl. z. B. Mainberger: Paolo Uccello juif oder Antonin Artaud und der Hostienfrevel. Mit Überlegungen zu Philippe Soupault, Stephen Greenblatt und Marcel Schwob, in: Comparatio 11.2 (2019), 229–259. 16  Terry Fox spannte für die Performance Suono Interno (1979) durch einen ehemaligen Kirchenraum zwei parallele hundert Meter lange Klaviersaiten und brachte sie drei Tage lang je sechs Stunden zum Klingen. Zu sehen war die Aktion nur durch ein kleines Loch in der Tür. Vgl. Terry Fox: Articulations (Labyrinth/Text Works) (Ausst.-Kat.), Philadelphia: Goldie Paley Gallery, 1992, 28. Dem Blick erschienen die Saiten daher wie tönende Fluchtlinien. 17  Zu Emily Kam Kngwarray (ca. 1910–1996) vgl. Butler/de Zegher (Hg.): On Line, 182–184.

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1.1. Arbeit an der künstlerischen Linie im 20. Jahrhundert

von Schreibakt, Schrift und Geschriebenem und damit die Separation von bildender Kunst und Buch. Er exploriert die Zone dazwischen. Die räumliche Metapher einer ‚Zone‘ kann dieses Tertium freilich nur unzureichend erfassen. Der Name Michaux konnotiert zum einen unbestimmbare Gebilde von Strich, Hieb, Krakel, Schriftartigem, Welten von mikroskopischem Leben, Insekten, Männchen, phantomatischen Gesichtern, zum anderen schwer definierbare Reisebücher, groteske Mini-Erzählungen, litaneihafte Poesie und nicht zuletzt quasi-wissenschaftliche Berichte von Drogenversuchen und Bilder von rausch-induzierten Visionen. Sein gesamtes Œuvre ist, vorläufig und zunächst ganz unspezifisch gesagt, ein bimediales: Zum Teil sind Texte und Bilder unabhängig voneinander, oft aber gehören Gedichte, poetische Prosa und/oder Essays und Bildliches (auf jeweils näher zu bestimmende Weise) zusammen, und diesseits von Texten stehen Skripturales und Pikturales in engster (ebenfalls noch zu analysierender) Beziehung. Schreiben (im Sinn von Textproduktion) und malerisch-graphische Betätigung gehen darin mehr oder weniger pari passu. Ob man Michaux eher als Schreibenden oder als bildenden Künstler auffasst, hängt zumindest heute, da seine Schriften und zumindest ein Teil seiner graphischen und malerischen Arbeiten in einer umfangreichen Werkausgabe vorliegen, da viele Bilder und Zeichnungen in Ausstellungskatalogen reproduziert und im Internet abrufbar sind, eher von der Perspektive der Rezeption ab. Seine eigenen Aussagen haben einen Mythos befördert, demzufolge ein Schriftsteller das Schreiben und die Sprache zugunsten der bildenden Kunst aufgegeben habe, aber seine tatsächliche Produktion entspricht dem nicht. Früheste graphische Blätter stammen wie seine literarischen Anfänge aus den zwanziger Jahren, und noch das letzte Produkt seiner über Jahrzehnte betriebenen Buch-Kunst, Par des traits von 1984, kombiniert schriftartige, unlesbare Graphismen mit Poesie und einer Art Essayistik. Michaux’ Œuvre stellt, könnte man sagen, einen außerordentlichen Glücksfall dar: Es ist nicht nur der konsequente Versuch, angestammte Konzepte und Praktiken der Linie, wie sie eine jahrhundertealte und nicht zuletzt institutionalisierte, akademische Tradition der Zeichnung und einer auf ihr fußenden Malerei vertreten, hinter sich zu lassen; vielmehr wird dieser Versuch in einem höchst seltenen Ausmaß auch verbalisiert. Und dabei handelt es sich nicht nur um etwas wie Künstlerschriften, programmatische Aussagen, Selbstkommentare u. ä. Dergleichen verfassen viele künstlerisch Tätige, und nicht selten haben diese Texte sogar eine gewisse literarische Qualität. Sie beziehen sich aber in der Regel allein auf das Werk (und die Biographie) des Urhebers oder der Urheberin und erfüllen damit ihre explikativen, auf Kommunikation mit dem Publikum, Image-Produktion u. ä. gerichteten Zwecke. Texte von Künstlern und Künstlerinnen dienen vor allem der Rezeptionssteuerung. Michaux’ Schriften funktionieren dagegen anders. Prinzipiell bewegen sie sich ständig in einem breiten Spektrum sprachlicher Artikulation: Es reicht von deskriptiv-analytisch über essayistisch, aphoristisch und narrativ bis lyrisch. Selbst in den Fällen, in denen die Texte als ‚poietologische‘ auftreten, haben sie eine poetische Diktion. Sie stehen daher in anderem Sinn als etwa Klees theoretisierende und kunstpädagogische Schriften neben den bildlichen Arbeiten. Sie sind Texte zu ihnen, nicht über sie. Auch wenn sie Bildliches nur zu begleiten scheinen und nicht ohne dieses veröffentlicht werden, tendieren sie mindestens zur Eigenständigkeit. Damit geht einher,

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1. Partizipative Linien? Einleitung

dass sie selbst der Interpretation bedürfen; sie sind nicht einfach Aussagen über Sachverhalte, in denen die Mühe der Diskursivierung schon geleistet ist. Im Verhältnis von Verbalem und Pikturalem gelten die Hierarchien von Werk und Supplement oder Ergon und Parergon weder in der einen noch in der anderen Richtung; wie beide zusammenspielen, variiert jeweils stark. Auf ein einheitliches Prinzip wie etwa den produktionsästhetischen Primat des Graphischen und die Nachträglichkeit der sprachlichen Artikulation18 lässt es sich nicht bringen. Diese grundsätzliche Pluralität intermedialer Beziehungen macht die Beschäftigung mit Michaux’ Œuvre schwierig, aber auch außerordentlich reich. Mit Linien befasst er sich in mehreren Hinsichten: graphisch-praktisch in den zahllosen bildnerischen Arbeiten;19 imaginierend sowie mit quasi-rituellen Sprechakten in den im engeren Sinn literarischen Texten; beobachtend, räsonierend und polemisch in den essayistischen Schriften, seien es solche zu eigener künstlerischer Arbeit und Programmatik, zu Bildern (auch Schriftbildern) anderer oder zu den Experimenten an ihm selbst mit und ohne Drogen. Im Fokus stehen dabei verschiedene Arten und Aspekte der Linie: So bilden die geome­ trische und die konturierende immer wieder einen negativen Pol und das, was Klee die ‚aktive‘ Linie nennt – eine nicht umziehende, ohne feste Regel ‚promenierende‘ – einen positiven; die Linie in diesem Sinn ist nicht Form, sondern Bewegung und deren Spur. Bei einer derart schlichten Dichotomisierung bleibt es jedoch nicht. Vielmehr erweist sich, dass die Gegensätze einander bedürfen, und das Abgewehrte persistiert unter Umständen gerade dort, wo man es am wenigsten erwartet. Klee hat nach dem Modell grammatischer Unterscheidungen von Verben drei Linientypen unterschieden: Die bereits erwähnte ‚aktive‘ scheint bei Michaux zentral zu sein, die ‚mediale‘ – der Umriss, der eine Fläche umschließt – und die ‚passive‘ Linie – der Rand, der sich aus dem Helligkeits- oder Farbkontrast zweier aneinandergrenzender Flächen ergibt – spielen in seinem Œuvre nur Nebenrollen; zu größeren Reflexionen bieten sie keinen Anlass. Des Weiteren gilt Michaux’ Interesse dem Akt, aus dem eine Linie hervorgeht: der Geste, und zwar – natürlich, möchte man sagen – der körperlichen, nicht nur der imaginären, im Geiste vollzogenen, wie sie einem Philosophen beim Begriff der Linie einfällt.20 Die Linie erzeugende Geste ist aber bei Michaux im Unterschied zum üblichen, auch von Kant aufgerufenen Verständnis nur unter anderem eine des Ziehens; es gibt auch mikrologisches Tüpfeln oder Fließenlassen. Mit dem Interesse an Gestik und Motorik verbindet sich dasjenige an der materialen Beschaffenheit der Linie: am graphischen Ereignis in seinen vielfältigen sinnlichen Eigenschaften. Linie und Strich, Spuren und Marken wiederum erscheinen nicht im Nichts, sondern verhalten sich zu einer Fläche, zu anderen Linien und Strichen, zur Typographie, gelegentlich zur Farbe u. a.m. Bei all dem fällt der Akzent auf die unbestimmte 18  Vgl. Postface zu Mouvements, OC II, 599. Die Worte werden hier auch als systematisch (im Verhältnis zu anderen Worten) nachträgliche, die Zeichnungen dagegen als vorgängerlose stilisiert. 19  Linien dominieren v. a. in den schriftallusiven Arbeiten, in anderen spielen auch Flecken, breites Fließen, kurze Hiebe u. a. eine wichtige Rolle. 20  Vgl. Kants berühmtes Diktum „Wir können uns keine Linie denken, ohne sie in Gedanken zu ziehen.“ Kritik der reinen Vernunft (21787). Kants Werke. Akademie-Textausgabe, Bd. 3, Berlin/New York: De Gruyter, 1968, 121. Immerhin wird die Geste hier nicht ausgeblendet und geht dem Konzept sogar in systematischem Sinn voraus.

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1.1. Arbeit an der künstlerischen Linie im 20. Jahrhundert

Identität der graphischen Phänomene: Sie sind nicht etwas, sondern scheinen etwas werden zu können: Buchstabe oder Männchen; Bandornament, eine Reihe Läufer oder eine geschriebene Zeile; lateinische oder arabische oder doch gar keine Schrift; eine Zusammenballung von Strichen oder ein Schlachtgetümmel… Und sie haben in unsichtbaren imaginierten linienförmigen Wesen verbale Pendants. Sie alle sind nicht stabil und präsent, sondern in permanenter Verwandlung begriffen, sie erscheinen nicht als Resultate einer vorausgegangenen und bei ihrem Anblick vergangenen Tätigkeit, sondern immer als in die Zukunft gerichtet, als etwas Potentielles, über sich Hinausweisendes, als werdende. Ligne heißt vieles in diesem Œuvre: Michaux reimt es auf signe und gebraucht geste (Geste) und mouvement (Bewegung) als Synonyme zu beiden; er spricht oft von trait (Zug, Strich), trace (Spur), tracé (Strecken-, Linienführung), trajet (Bahn, Trajekt); er versammelt Vokabeln von linienförmigen Erscheinungen: ride (Falte, Runzel, Rille), pli (Falte), sillon (Furche), fil (Faden), chemin (Weg), ruissellement (Fluss), ruisseau (Strom), ruisselet (Bach), arches (Bogen), clochetons (Türme), colonnettes (Säulchen), aiguilles (Nadeln) portiques, minarets, stalactites, brèches (Breschen), coupures (Schnitte), cortège und ribambelle (Zug), flèches (Pfeile), tapis roulant (Fließband), lasso, lance (Lanze), fourches (Gabeln), The Thin Man, flagellum…  Dazu kommen die Verben ihrer Hervorbringung und ihrer tatsächlichen oder anscheinenden Bewegung wie ziehen, durchqueren, laufen, fließen, fliegen, rinnen, spalten, kämmen, pflügen... Ein umfangreiches semantisches Feld korrespondiert derart der breiten Palette visueller Linien- und Strichgebilde. Diesen Facetten der Rede von Linien in ihren jeweils unterschiedlichen Kontexten nachzugehen lohnt sich ebenso wie die Analyse der Graphismen selbst. Zu untersuchen sind daher: literarische Texte verschiedener Gattungen; Graphisches diesseits von Bild und Schrift und seine Verbindungen zu Texten in hybriden Publikationsformaten; Praktiken zur Generierung verbaler und visueller Artikulationen; experimentelle Settings. Man kennt diese vor allem aus den Drogenversuchen, sie haben aber auch unabhängig davon eine entscheidende Funktion: als Szenen, in denen der eigene Körper, die Umgebung, Materialien und Instrumente, der mentale Zustand, die Zeit, Hilfsmittel u. a.m. kontrollierten Bedingungen unterworfen werden, damit eine spezifische graphierende Aktivität stattfinden kann. Michaux hat sein erstes Zeichnen ein „dessiner en pauvre“21 genannt, ein ‚armes Zeichnen‘, und es mit dem Spielen einer Gitarre mit nur einem Finger verglichen. Analog dazu könnte man vom Konzept einer ‚armen Linie‘ sprechen: Denn sie ist dürftig im Vergleich zur Linie der traditionellen Meisterzeichnung: zu deren handwerklicher Könnerschaft, Disziplin, staunenswerten Treffsicherheit, Illusionskraft, Idealität, Schönheit… Aber sie hat einen Reichtum eigener Art, für den das westliche Kunstinteresse erst sehr spät ein Auge ausgebildet hat und dessen Diskursivierung ein immenses Problem darstellt. Der Bemühung darum kommt hier die literarische Sprache entgegen. Denn Michaux hat jenes Faszinosum immer wieder sichtbar produziert und zudem auch eine enorme Fülle an Worten dafür gefunden.

21  OC III, 545.

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1. Partizipative Linien? Einleitung

Sein Beitrag zur Arbeit an der künstlerischen Linie im 20. Jahrhundert ist daher komplex. Er dürfte nicht in einer irgendwie qualifizierbaren ‚Michaux-Linie‘ bestehen. Vielmehr – so die Vermutung –weist jenes auf den ersten Blick so unscheinbare ‚an der Welt durch Linien teilnehmen‘ den Weg. Was kann man sich darunter vorstellen? Wie lässt es sich für die Analyse dieses Œuvres operationalisieren? Dazu bedarf es zunächst einer Zwischenüberlegung.

1.2. Linien mit Körper und Gedächtnis Linien sind prinzipiell nicht nur graphische Phänomene, und sie müssen nicht visuell in Erscheinung treten, sondern können, wie in der Geometrie, Konzepte sein, denen die Visualisierung äußerlich bleibt, oder in Praktiken als Beziehungs- und Bewegungsrichtungen wirksam sein; das schließt Diagramme ein, die denkend realisiert werden wollen, aber auch körperliche Aktivitäten, aus denen etwa Bahnen und Wege im Sinne praktizierter Routen hervorgehen. Sind Linien, wie es dem üblichen Wortgebrauch gemäß erwartet wird, sichtbar gezogen, lassen sie sich nicht einfach unter Bild oder Schrift verrechnen, sondern eröffnen quer zu dieser (in der westlichen Kultur bis zur Dichotomie reichenden) Unterscheidung einen eigenen Bereich vielfältiger Tätigkeiten und Funktionen mit grundlegender kulturerzeugender Bedeutung. Im vorliegenden Zusammenhang geht es selten um Linien als Formen, die sich etwa im Verhältnis zu einer gegebenen Fläche analysieren lassen, sondern fast immer um Linienakte, und zwar im engeren Sinn dieses Wortes,22 d. h. um körperliche Erzeugung und Wahrnehmung von Linien, um Bewegungen und das Herstellen oder Entstehenlassen von deren sichtbarer, mehr oder weniger linienförmiger Spur. Während Liniengebilde von einer gewissen Dauer sich als Gegenstand bildender Kunst behandeln lassen, fällt dieses Graphieren auch in den Bereich des Performativen und der entsprechenden Künste: Es ähnelt in manchen Hinsichten Sport und Tanz oder dem Spielen eines Musikinstruments. Für seine Analyse sind daher Konzepte aus den Studien zu Bewegungs- und Auftrittskünsten hilfreich. Diese wiederum gehören zu einem größeren Bereich, der sich mit Praktiken, Routinen, Ritualen, Habitus, Wahrnehmung und Erkenntnis als Tätigkeiten (statt als Repräsentationen), Performativität u. ä. befasst, wobei jeweils körperliche, soziale und historisch-kulturelle Dimensionen ineinandergreifen. Ansätze aktueller philosophischer Anthropologie bieten Theoretisierungen der Leiblichkeit und machen es sich mit den Stichworten Verkörperung (embodiment), enaktiven Prozessen23 und Kultur zur Aufgabe, die genannten Dimensionen 22  In einem weiteren ließe sich der Begriff analog zum Sprechakt (Austin) und zum Bildakt (Bredekamp) auch als Ritual oder als soziale und politische Institution (etwa bei der territorialen Grenzziehung) entwickeln; dies mag aber anderen Studien vorbehalten bleiben. 23  Im Anschluss an Francisco J. Varela/Evan Thompson/Eleanor Rosch: The Embodied Mind. Cognitive Science and Human Experience, Cambridge, MA: MIT Press, 1991, und über sie hinausgehend wird Verkörperung sehr allgemein gefasst als „kontinuierliche[r] Prozess der Vermittlung von Natur und Geist im Leibkörper“. Prinzipiell gilt: „Ohne Körper kein Bewusstsein.“ Dementsprechend ist Wahrnehmung keine „Abbildung sensorischer Stimuli auf ein inneres Modell der Welt, sondern beruht auf einer fortlaufenden sensomotorischen

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1.2. Linien mit Körper und Gedächtnis

zusammenzuführen. Zum Tanz ist auf diesem Hintergrund inzwischen viel gearbeitet worden, und manches davon lässt sich auf das Graphieren übertragen. Aber der Unterschied dazu springt auch ins Auge: Tanz ist diesseits sehr spezieller Ausformungen für die Bühne nicht die Aktivität eines oder einer Einzelnen, sondern lebt von der Interaktion mit anderen – und traditionell zumindest mit der Musik. Genausowenig wie der musikalische Auftritt oder der sportliche Akt aber hinterlässt er Spuren, es sei denn, die Performanzen werden aufgezeichnet oder sind eigens für die Aufzeichnung gemacht; das ändert jedoch nichts daran, dass sie keine inskriptiven Künste sind. Zum Graphieren gehört außer dem agierenden Körper mindestens auch ein Spuren hinterlassendes Instrument und ein aufnahmefähiger Träger. Die Aufzeichnung ist in diesem Fall mit dem Geschehen auf andere Weise verbunden als der technische Mitschnitt mit Tanz, Musik, Theater, Sport oder anderen Performanzen.

Szenen und graphische Ereignisse Graphieren lässt sich jedoch als Szene beschreiben: als eigens geschaffene Situation mit bestimmten zeitlichen und räumlichen Parametern, in der ein menschlicher Akteur mit verschiedenen Materialien oder nicht-menschlichen Aktanten in eine komplexe Interaktion tritt. Dabei geht geteiltes Wissen unterschiedlicher Art in die Tätigkeit ein: etwa eines um Ziel und Zweck des Tuns, um dessen sozio-kulturellen Status, des Weiteren stummes, im Körper sedimentiertes Wissen: ein Können, das Papier, Stift oder Pinsel betrifft, Finger- und Körperhaltung, das Verhältnis von linker und rechter Hand, ein koordiniertes Wechselspiel mit den Augen, aber auch Normen des Zeichnens oder die Beherrschung einer Schrift u. a. m. Eine Interaktion eines eigenbeweglichen und handelnden Wesens mit seiner Umwelt.“ Es ist eine „geschickte Aktivität, welche die Veränderungen der sensorischen Reize zur Eigenbewegung des Organismus fortlaufend in Beziehung setzt.“ (Vgl. dazu auch unten, 214 f.) Über diese kognitionswissenschaftliche Dimension hinaus ist eine Theorie der Verkörperung eine „des gelebten Leibes“; sie sucht demgemäß eine Perspektive der ersten Person (des erlebenden Subjekts) mit derjenigen der dritten Person (des Beobachters) zu vermitteln. Gregor Etzel­müller/Thomas Fuchs/Christian Tewes: Einleitung. Verkörperung als Paradigma einer neuen Anthropologie, in dies.: Verkörperung. Eine neue interdisziplinäre Anthropologie, Berlin/Boston: De Gruyter, 2017, (1–30) 8–10. Zum breiten Spektrum der kognitionswissenschaftlichen Konzeptionen vgl. Shaun Gallagher: Embodiment: Leiblichkeit in den Kognitionswissenschaften, in: Emmanuel Alloa/Thomas Bedorf/Christian Grüny u. a. (Hg.): Leiblichkeit. Geschichte und Aktualität eines Konzepts, Tübingen: Mohr Siebeck, 22019, 354–377. Der ebenfalls von Varela, Thompson und Rosch eingeführte Begriff Enaktivismus führt das Verkörperungsparadigma weiter gemäß dem Prinzip: „Der lebendige Organismus bringt aktiv seine Welt hervor […] Er repräsentiert die Umwelt nicht, sondern er interagiert mit ihr, und im Zuge dieser Interaktion konstituiert sich die artspezifisch erlebte Welt eines Lebenwesens.“ Daher ist das Bewusstsein „kein internes Weltmodell, sondern das Integral der gesamten Organismus-Umwelt-Interaktion zu einem gegebenen Zeitpunkt.“ Etzelmüller/Fuchs/Tewes (ebd.), 10. Dazu gehören auch Wertungen, Emotionen, Handlungen u. a. Intersubjektivität wird ebenfalls verkörpert gedacht. Und nicht zuletzt bestehen Verschränkungen und Wechselwirkungen zwischen naturalen und sozial-kulturellen Lebensformen; letztere wirken sich z. B. auch auf Funktionen des Sehens aus, weshalb sich diese nicht ohne die Berücksichtigung kultureller Parameter erklären lassen; vgl. ebd., 13 f. Andere Definitionen von embodiment akzentuieren vor allem das Verhältnis des Einzelnen zum sozialen Kollektiv, wichtig ist aber auch hier, dass die im Zuge der Enkulturation aufgenommenen Vehaltensweisen und Überzeugungen individuell und auf der Ebene des Körpers ‚erlebt‘ werden. Vgl. Carrie Noland: Agency and Embodiment. Performing Gesture/Producing Culture, Cambridge, Mass.: Harvard Univ. Press, 2009, 9. Näheres dazu vgl. unten, 27–37.

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1. Partizipative Linien? Einleitung

derartige Szene des Graphierens hat viel mit der des Schreibens gemeinsam. Diese wird z. B. bestimmt als „historisch und individuell variantes, aber unauflösbares Ensemble von Sprache, Instrumentalität und Gestik. Regeln der Rhetorik und Poetik, Sprachgeschichte und sprachgeschichtliche Referenzen spielen ebenso eine Rolle wie schreibtechnologische Veränderungen und körperliche Konstitutionen. In der Schreibszene finden sich Körper, Technik, Linguistik und […] räumliche Konstellationen zusammen“.24 Nicht nur Sprache, sondern auch Leiblichkeit, Materialität, Medialität, Praktiken u. a. also finden hier Berücksichtigung. Selbst wenn man sich auf die Szene im engeren Sinn beschänkt, auf das schreibende Tun einer einzelnen Person,25 wird, dabei deutlich: Schreiben ist alles andere als ein solipsistisches Geschäft. Als Szene verstanden transgrediert es vielmehr immer schon das Individuum. Schon lange, bevor dieses mit seinem Geschriebenen an die Öffentlichkeit tritt, ist es in alle möglichen historischen, sozialen, kulturellen etc. Zusammenhänge involviert; auch wenn es schreibend physisch allein ist, interagiert es mit anderen, und dies nicht nur über die nie privat zu denkende Sprache. Welche Rolle diese in Szenen des Graphierens spielt, ist schwer zu bestimmen; sie ist nicht gänzlich abwesend, aber anders beteiligt als in der eines Texte produzierenden Schreibens. Schließlich sind wir alle sprechende oder zumindest sprachkompetente Wesen und bleiben es auch, wenn wir tanzen, Sport treiben oder körperliche Arbeiten verrichten. Wie spielt diese Tatsache jeweils bei einer nicht verbalen Aktivität mit? Oder wird Sprache ausgehebelt, wenn wir malen oder Klavier spielen? In welchem Sinn kann sie ggf. suspendiert werden? Vertreter und Lehrer der genannten Künste oder etwa Psychotherapeuten, die diese anwenden, dürften mit derartigen Problemen vertraut sein. Wenn Sprache auf die Ausübung non-verbaler Künste hinderlich wirkt, so lassen sich doch andererseits sprachlich vermittelte Vorstellungen des eigenen Körpers auch befördernd einsetzen; das gezielt imaginierte Körperschema etwa wirkt auf die Motorik zurück, u. ä. Analog zur Schreibszene lässt sich die des Zeichnens darstellen.26 Auch sie bringt Körper, Technik, räumliche Komponenten, Materialien etc. zusammen;27 wo im Set der Schreibszene ‚Sprache‘ steht, mag man hier soziokulturell spezifische ‚visuelle Kompetenz‘ einsetzen.

24  Kerstin Stüssel: Schreibszene Manhattan, in dies./Gabriele Wix (Hg.): Thomas Kling. Zur Leitcodierung. Manhattan Schreibszene, Göttingen: Wallstein, 2013 (81–94), 82; im Anschluss an den Roland Barthes’ Konzept der écriture ausbauenden Aufsatz von Rüdiger Campe: Die Schreibszene, Schreiben, in: Hans Ulrich Gumbrecht/K. Ludwig Pfeiffer (Hg.): Paradoxien, Dissonanzen, Zusammenbrüche. Situationen offener Epistemologie, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1991, (759–772) 760. 25  Die Literaturwissenschaft geht inzwischen weit darüber hinaus: Sie befasst sich ausgehend von der Schreibszene mit der Entgrenzung des Textes zum Kontext, mit Paratexten, dem Status der Autorschaft, dem Werkbegriff, den institutionellen Zusammenhängen und Akteurnetzwerken aus Vertretern von Literatur, Verlagen, Bibliotheken, Archiven, Universitäten etc.; die Schreibszene weitet sich derart zur Editions- und Publikationsszene. Vgl. Stüssel ebd., 83 f. 26  Vgl. Wolfram Pichler/Ralph Ubl: Vor dem ersten Strich. Dispositive der Zeichnung in der modernen und vormodernen Kunst, in: Werner Busch/Oliver Jehle/Carolin Meister (Hg.): Randgänge der Zeichnung, München, Fink: 2007, 231–255. 27  Und auch hier bieten sich (s. 20, Anm. 25) Ausweitungen an zur Befragung des Werkbegriffs und der künstlerischen Autorschaft, zur Auftrags-, Ausstellungs-, Reproduktions-, Editions-, Publikationsszene o. a. Zur

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1.2. Linien mit Körper und Gedächtnis

Die Szene des Graphierens umfasst die des Schreibens und die des Zeichnens, wenn graphierend sowohl lesbare Schrift und Text als auch alle möglichen anderen Marken erzeugt werden, die von Krakeln und Kritzeln bis zur figürlichen Zeichnung reichen können. Die Szene des Graphierens hat dagegen nur eine Schnittmenge mit der des Schreibens, wenn nichts Entzifferbares geschrieben wird, das Geschehen und seine sichtbaren Resultate aber erkennbar auf Schreiben und Schrift bezogen bleiben; das ist z. B. der Fall, wenn Schreibbewegungen gemimt werden oder die Anordnung von Marken auf der Fläche sich an der eines Schriftbildes orientiert. Bei derartigen Phänomenen wird mit dem Fehlen von Lesbarkeit der Bezug zur Sprache abgeschnitten, die Zugehörigkeit zum Schreiben besteht aber fort durch die Reminiszenzen an dessen Gestik und besondere Bildlichkeit, also in Hinsicht auf motorische Aspekte der schreibenden Betätigung und auf visuelle Aspekte der Schrift. Schreibgestik und Schriftbildlichkeit machen nur einen kleinen Teil der bildlichen Möglichkeiten aus. Blickt man von Seiten der Zeichnung und Malerei (deren Prototyp zumindest in der westlichen Kultur die Repräsentation sichtbarer Dinge mithilfe ikonischer Zeichen ist) auf derart Schriftartiges, dann würde man es nicht unbedingt zu Zeichnung oder Malerei zählen. Schreibgesten und Schriftbild scheinen daher einen Zwischenbereich zwischen Schrift und Bild auszumachen. Sie muten skriptural an, sparen aber die üblicherweise als primär angesehene Leistung von Schrift: die Notation menschlicher Rede, aus. Als im Sinn Nelson Goodmans dichtes Symbolsystem (im Unterschied zum artikulierten) sind sie Bild, reduzieren das breite Spektrum des Bildlichen aber auf einen engen Ausschnitt, wobei gerade das üblicherweise von einem Bild Erwartete (die Repräsentation) entfällt. Daher kann man einerseits von einer Szene des Graphierens im weiteren Sinn sprechen: Sie enthält das ganze Spektrum von Schreiben und das ganze von Zeichnen und vereinigt sie miteinander. Man mag dabei an Leonardos Hefte denken, an Stendhals mit Grundrissen und Karten durchsetzte Autobiographie Vie de Henry Brulard, an Paul Valérys oder Antonin Artauds Cahiers, an Dieter Roths promiskuöses Zeichnen und Schreiben o. a. Eine Szene des Graphierens im engeren Sinn enthält dagegen den spezielleren Bereich eines ‚asemischen‘ oder ‚abstrakten‘ Schreibens, das in praxi bestimmten ‚anikonischen‘ Arten von Zeichnen nahekommt oder in sie übergeht; so etwa im Phänomen des Kritzelns, in erfundenen Schriften in der bildenden Kunst, in den Arbeiten von Cy Twombly, Carlfriedrich Claus oder anderen.28 k­ omplexen Szene des Katalogierens – das Material, zu dem ein Werkverzeichnis erstellt werden soll, befindet sich z. T. in einer Privatwohnung – vgl. Franck Leibovici: Henri Michaux. Voir (Une enquête), Paris: PUBS, 2014. 28  Die hier vorgenommene Differenzierung dient praktischen Zwecken, sie erhebt nicht den Anspruch, Theorie zu sein. Auf empirischer Grundlage lässt sich der Unterschied zwischen Schrift und Bild nicht definieren, dergleichen ist aber hier auch nicht die Absicht. Meinen Hinweisen liegen Erfahrungen mit ‚gemischten‘ Materialien zugrunde. In ihnen bilden ‚eindeutig Schrift‘ und ‚eindeutig Bild‘ die Pole einer Skala, dazwischen erstrecken sich alle Möglichkeiten des Graphischen, Graphematischen, Graphistischen. ‚Asemisches‘ Schreiben, Kritzeln usw. bilden aus dieser Sicht, auch wenn sie immer wieder mit doppelten Verneinungen als ‚weder Schrift noch Bild‘ charakterisiert werden, keinen weiteren kategorialen Bereich, sondern gehören zu Varianten, bei denen jeweils bestimmte Merkmale oder Funktionen des üblicherweise von Schrift oder Bild Erwarteten modifiziert oder zum Verschwinden gebracht werden. – Zur aktuellen Konjunktur ‚asemischen‘ Schreibens (und zu Michaux als einem Vorläufer) vgl. Peter Schwenger: Asemic: The Art of Writing, Minneapolis: Univ. of Minnesota Press, 2019.

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1. Partizipative Linien? Einleitung

Bemühungen um die theoretische Unterscheidung von Schrift und Bild samt den mit der Distinktion sich abzeichnenden Rand-, Grenz- und Zwischenphänomenen, etwa dem Kritzeln oder der künstlerischen Ikonoskriptur,29 betreffen vor allem die Ergebnisse des Graphierens und deren Funktion in Systemen; sie werden auf semiotischer Ebene gegeneinander abgegrenzt, im Rahmen von Symbol-, Bild-, Schrift- und Notationstheorien konzeptualisiert. In Hinsicht auf die Szene interessiert jedoch mehr das Tun selbst: das Graphieren als komplexe Aktivität und Prozess des Erzeugens oder Entstehenlassens von Spuren. Eine praxeologische Betrachtung nimmt dementsprechend die gegebenen Bedingungen eines derartigen Ereignisses ins Visier, das Ensemble der beteiligten Faktoren, die Modalität des Geschehens wie die Rhythmen des Ablaufs (Beschleunigungen, Verzögerungen, Unterbrechungen, Reprisen), die Synergien der unterschiedlichen Komponenten, Interventionen, Störungen, Emergenzen... Aus dieser Perspektive sind die Szenen des Graphierens auch den Versuchen in einem experimentellen System affin, denn dazu gehört unabdingbar die Produktion von Spuren. Die wissenschaftliche Praxeologie hat die Nähe (und freilich auch die Differenz) dieser Art Aufzeichnungsprozesse zu literarischen und künstlerischen Szenen deutlich gemacht. Labor, Atelier und Schreibtisch sind miteinander verwandt: Sie sind Orte, an denen im Zuge eines graphierenden Tuns Neues – etwas, von dem man nichts weiß und nach dem sich nicht suchen lässt – emergieren kann. Einfach gesagt wird beim wissenschaftlichen Versuch zuerst der Blick auf einen kleinen Ausschnitt der Realität verengt und ein ‚System‘ gewählt, in dessen Rahmen sich alles Weitere abspielt. (Schriftsteller und Künstler setzen vergleichbar Parameter für ihre Arbeit; am greifbarsten ist die Parallele, wenn sie ihr Tun willkürlich gesetzten contraintes, Formzwängen, unterstellen.) Unter kontrollierten Voraussetzungen, zu denen Materialien, Praktiken, Theorien, Akteure und nicht-menschliche Aktanten (Apparate, Instrumente) gehören, findet eine Suche statt, die sich auf der Grenze zwischen Wissen und Nichtwissen bewegt. Da wirklich Neues sich nur einstellen, aber nicht herbeigeführt werden kann, gilt es, eine für diese Möglichkeit geeignete Umgebung zu schaffen; das Experiment stellt eine derartige empirische Struktur dar, in der der Forscher im „Zustand des Nichtwissens um das Nichtwissen handlungsfähig“30 ist. In diesem Ambiente werden nun Spuren oder Grapheme erzeugt. Denn auch ein Biologe etwa hat es nicht unmittelbar mit Zellgenen zu tun „– er weiß ebensowenig wie jeder andre, was das ‚wirklich ist‘ –, er arbeitet mit experimentell in einem Repräsentationsraum produ-

29  Das weitläufige Feld kann hier nicht generell skizziert werden. Es sei nur grundsätzlich auf die Arbeiten der Graduiertenkollegs ‚Schriftbildlichkeit‘ von Sybille Krämer und ‚Sichtbarkeit und Sichtbarmachung‘ von Dieter Mersch verwiesen. Zum Kritzeln vgl. z. B. Christian Driesen/Rea Köppel/Benjamin Meyer-Krahmer (Hg.): Über Kritzeln, Zürich: Diaphanes, 2012; Driesen: Theorie der Kritzelei, Wien/Berlin: Turia & Kant, 2016; Barbara Wittmann: Bedeutungsvolle Kritzeleien. Eine Kultur- und Wissensgeschichte der Kinderzeichnung, 1500–1950, Zürich: Diaphanes, 2018. Zu Ikonoskriptur vgl. Brirgit Mersmann: Schriftikonik: Bildphänomene der Schrift in kultur- und medienkomparativer Perspektive, Paderborn: Fink, 2015. 30  Hans-Jörg Rheinberger: Man weiss nicht genau, was man nicht weiss. Über die Kunst, das Unbekannte zu erforschen, in: Neue Zürcher Zeitung, 5.5.2007 (o. P.).

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1.2. Linien mit Körper und Gedächtnis

zierten Graphemen.“31 Was in diesen Raum eintritt – in einem biologischen Labor mögen es Mäuse oder Chemikalien sein –, ist in jedem Moment mit Verfahren der Aufzeichnung verbunden. Es wird in Inskriptionen verwandelt, in fixierte und zugleich bewegliche Daten. Nur in dieser Form haben die Dinge und Geschehnisse hier Existenz. In dieser Form aber sind sie der Ordnung und Umordnung zugänglich, können gelesen werden, ausgewertet, verschoben, mit anderen verknüpft etc. Die Aufzeichnung leistet dabei die entscheidende Transformation, die den epistemischen Gegenstand, d. h. „formale Sequenzen von Dingen, graphematische Ketten von Ereignissen“,32 erst konstituiert. Auch wenn wissenschaftliche Laborversuche – anders als etwa die Produktion eines literarischen oder geisteswissenschaftlichen Textes – nicht per se und nicht allein aus Vorgängen des Schreibens und ggf. Zeichnens bestehen, wenn sie nicht wie das Schreiben von vornherein paper work sind, kommen Aufzeichnungen keinesfalls sekundär hinzu. Diese verwandeln vielmehr alle möglichen heterogenen Komponenten in ein symbolisches Idiom, seien es Zahlen, Schrift, technische Bilder wie Kurven oder Diagramme o. a. Sie erzeugen den Gegenstand, denn nur derart Inskribiertes lässt sich analysieren und nicht zuletzt interpretieren. Wenn der Forscher „wissen will, was sie [die Grapheme, S. M.] bedeuten, hat er keine andere Möglichkeit, als diese Artikulationen von Graphemen durch andere zu interpretieren.“33 Wissenschaftliche Experimente sind, wie wissenschaftssoziologische und ‚laborarchäologische‘ Studien deutlich gemacht haben, Aufzeichnungs­szenen.34 In einem weiten (Derrida’schen) Sinn von Schrift sind epistemische Dinge selbst graphematische Spuren.35 Gegen diesen maximal elargierten Schriftbegriff sei jedoch daran erinnert, dass Inskriptionen allein nichts erklären. So sehr man sie gegen naiven Empirismus und mentalistische Auffassungen von wissenschaftlichem Tun in Stellung bringen muss, so wenig dürfen sie zu einer Macht an sich mystifiziert werden. Ihre Relevanz gewinnen sie nur aus dem Setting36 oder der Szene, zu der eben auch Materialien und Akteure diesseits ihrer graphematischen Verflüchtigung gehören. Gleichwohl verbietet sich in Hinsicht auf die in Experimentalsystemen oder Aufzeichnungsszenen zum Einsatz kommenden Medien jedes naive Verständnis. Sie können nicht als passive, neutrale Instrumente gelten, die etwas les- oder sichtbar machten, das auch ohne sie ‚in der Natur‘ existierte; vielmehr müssen sie als etwas in den Blick kommen, was an dem Unternehmen selbst und der Produktion des Wissensobjektes mindestens aktiv beteiligt ist. 31  Hans-Jörg Rheinberger: Alles, was überhaupt zu einer Inskription führen kann (1994), z. B. in: Ulrich Raulff/ Gary Smith (Hg.): Wissensbilder. Strategien der Überlieferung, Berlin: Akademie Verlag, 1999, (265–277), 273. 32  Ebd., 271. 33  Ebd., 273. 34  Genannt seien hier nur Bruno Latour: Drawing Things Together, in: Michael Lynch/Steve Woolgar: Representation in Scientifc Practice, Cambridge, Ma./London, UK: MIT Press, 1990, 19–68, und Hans-Jörg Rheinberger: Zettelwirtschaft, z. B. in: Sandro Zanetti (Hg.): Schreiben als Kulturtechnik. Grundlagentexte, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2012, 441–452; vgl. auch 23, Anm. 31. 35  „Die Erzeugung von Spuren im materiellen Repräsentationsraum einer Wissenschaft ist nichts anderes als ein Schreibspiel. Epistemische Dinge sind Artikulationen von Graphemen.“ Rheinberger: Alles, was überhaupt zu einer Inskription führen kann, 273. 36  Vgl. Latour: Drawing Things Together, 25, 40–42, 48. Der für ihn entscheidende Mobilisierungsprozess, der mit den Inskriptionen tut, was sie mit den dreidimensionalen ‚realen‘ Dingen getan haben, steigert aber seinerseits die Entmaterialisierung.

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Künstlerischen und literarischen Arbeitsszenen lassen sich insbesondere diejenigen wissenschaftlichen Experimente vergleichen, bei denen Inskriptionen nicht nur dazu dienen, überhaupt verwertbare Daten zu erzeugen, sondern bei denen Graphien selbst Gegenstand des wissenschaftlichen Interesses sind. Das ist z. B. der Fall in der experimentellen Graphologie: Das Geschriebene wird von der Testperson selbst, nicht von einem technischen Gerät, hervorgebracht, und der Forscher analysiert diese vom Versuch veranlassten und provozierten Spuren. Ein anderes Beispiel ist der Fall, dass Psychologen Kinder zeichnen lassen, um anhand dieser Graphismen Einblick in die psychische Verfassung der Kinder zu erlangen und ggf. therapeutisch auf sie einzuwirken. Wie der schreibende Erwachsene erzeugt auch das zeichnende oder kritzelnde Kind die Spuren selbst, die dann analysiert und gedeutet werden. Es produziert sie unter vorgegebenen Bedingungen, in einer mehr oder weniger artifiziellen Situation, im Rahmen bestimmter Vorannahmen, aber vor allem: Dieses Graphieren findet unter den Augen des Forschers statt, nicht selten auch im Dialog mit ihm. Diese Tatsache insbesondere unterscheidet „die psychographische Zeichenszene von der herkömmlichen literarischen, künstlerischen und wissenschaftlichen“:37 Sie ist intersubjektiv verfasst. Bei Kindern (aber man darf wohl ergänzen: auch bei Kranken und insbesondere psychisch Kranken) kommt dazu, dass diese Situation sozial asymmetrisch, d. h. von einem Autoritätsgefälle bestimmt, ist. Welche Konsequenzen eine derartige Konstellation zeitigt, wie der experimentierende Wissenschaftler mit- und hineinwirkt und es bei den Kinderzeichnungen etwa ein Verhältnis wechselseitiger Mimesis gibt, ist eine komplexe Frage. Für den vorliegenden Zusammenhang sind derartige Forschungen nicht zuletzt aus folgendem Grund interessant: Sie haben mit der Problematik einer uneindeutigen Graphie zu tun. Was im Versuch provoziert wird und als Forschungsinstrument dienen soll, ist semiotisch instabil; es ist nicht Schrift, aber auch nicht im üblichen Sinn Zeichnung, und es sind auch nicht Spuren, deren Deutung eine eigene epistemologische Praxis darstellt, die sich klar von den Kulturtechniken Lesen, Schreiben, Zeichnen und Rechnen abgrenzen lässt. Vielmehr ist im „Falle der experimentell und therapeutisch hervorgebrachten Selbstaufzeichnungen […] die Untersuchung von Schrift und Zeichnung darauf angewiesen […], die Graphismen als das zu behandeln, was sie vor jeder semiotischen Unterscheidung oder Lektüre sind: graphische Relikte, die auf eine kaum zu kalkulierende Fülle mehr oder weniger kontingenter Faktoren ihrer Hervorbringung verweisen und die den Interpreten beständig vor die Frage stellen, was hier überhaupt Zeichen ist und wofür; Inskriptionen, deren Signifikanz niemals von der Geste ihrer Hervorbringung abgelöst werden kann – und die ohne die Analyse dieser Gesten unverständlich bleiben müssen; Spuren, die in manchen Fällen zwar durchaus schlüssig ausgewertet und gelesen werden können, aber gleichzeitig immer auch die Undurchschaubarkeit und Komplexität des spurenerzeugenden Subjekts zur Anschauung bringen.“38 Die humanwissenschaftlichen Szenen veranlassen Graphismen, um diese als Spuren psychischer Ereignisse zu lesen. Literarische und künstlerische Szenen des Graphierens können 37 Wittmann: Bedeutungsvolle Kritzeleien, 18. 38  Ebd., 19.

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ihnen als Ereignisse und Aufzeichnungen provozierende Settings ähneln, aber sie zielen nicht auf die Erzeugung von etwas, das seinen Sinn erst noch aus einer Auswertung gewinnen muss. Was sie entstehen lassen (und oft auch zugleich beobachten), steht vielmehr für sich; es bedarf keiner Deutung, denn es ist kein Vehikel zum psychischen Zustand des Produzenten, auch wenn Manuskripte oder Skizzen oft in diesem Sinne gebraucht werden. Die Schreib- oder Zeichenszene ist in diesen Fällen dazu da, das graphische und/oder graphematische Produkt hervorzubringen, nicht um ein sonst unzugängliches Inneres kenntlich zu machen; sie steht im Dienst des Erzeugnisses oder, wenn die literarische oder künstlerische Tätigkeit nicht als teleologisch auf ein Endprodukt zielende begriffen wird, auch nur des graphierenden Prozesses selbst. Das wissenschaftliche Experiment stellt dagegen die Abläufe und Produkte umgekehrt in seinen Dienst; für sich genommen haben sie keinen Wert.39 Sofern die entstandenen Graphismen nicht für die Dokumentation der wissenschaftlichen Arbeit von Interesse sind, können sie daher im Anschluss an das Experiment auch entsorgt werden. Literarisch-künstlerische Schreib- und Zeichenszenen haben traditionell ihr Ziel in einem Produkt von bleibendem Interesse, wobei sich freilich in puncto Aufbewahrung die Wege gemäß der Unterscheidung von Auto- und Allographie trennen. In Hinsicht auf die Spuren unterscheiden sich die Arbeitsprozesse voneinander und von den wissenschaftlichen: Bei literarischen Schreibszenen wird, sobald ein bestimmter Text oder Textzustand erreicht ist, vieles im Schreibprozess Angefallene weggeworfen – es sei denn, Schreibende haben selbst Interesse an der Aufbewahrung und einer tatsächlichen oder möglichen Dokumentation des Prozesses, oder Erben, Nachlassverwalter u. a. haben es und sammeln die Spuren. Verbale Notate können sich einer derartigen Aufmerksamkeit seit geraumer Zeit relativ sicher sein. Nicht so dagegen Kritzeleien, Schemata und andere nicht-skripturale Graphismen (vor allem, wenn sie nicht wiederum eindeutig als piktural zu erkennen sind): Dergleichen geht auf dem Weg vom Schreibtisch zu den verschiedenen Arten der Publikation besonders häufig ‚verloren‘. Von Ausnahmen abgesehen, nehmen sich erst in jüngerer Zeit etwa Nachlasseditionen auch dieser Spuren an; dass Texte nicht nur aus schreibenden Aktivitäten hervorgehen, sondern auch aus graphierenden im weiteren Wortsinn, kommt erst langsam (unterstützt von aktuellen Reproduktionstechniken) ins breitere Bewusstsein. Bei künstlerischen Zeichenszenen sieht es dagegen anders aus: Nicht nur sind Skizzen seit langem begehrte Sammelobjekte. Selbst wenn sich in aktueller Kunst das Interesse gelegentlich ganz auf die Performanz verschiebt und Graphismen tendenziell unwichtig sind, werden diese gern aufbewahrt, ausgestellt, pu-

39  Da in der humanwissenschaftlichen Schreib-/Zeichenszene die Produktion der Graphismen und ihre Analyse und Deutung miteinander verbunden sind, gibt es Parallelen zu literarischen und künstlerischen Arbeitsprozessen auf der einen Seite und zur literatur- und kunstwissenschaftlichen Untersuchung von graphischen Materialien wie Manuskripten, Skizzen etc. auf der anderen. Freilich sind auch diese Betätigungen nicht ganz getrennt: Die erstere enthält auch Vorgänge der Analyse und Deutung, die letztere auch solche der Gegenstandskonstitution. In jedem Fall berühren sich Studien zu literarischen und künstlerischen Schreib- und Zeichenprozessen mit denen zur experimentellen Wissensgenerierung. – Eine Parallele zwischen editionsphilologischer Arbeit und Experimentalsystem zieht Jörg Paulus: Philologie der Intimität. Liebeskorrespondenz im Jean-Paul-Kreis, Berlin/Boston: De Gruyter, 2013, 38.

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bliziert und ggf. teuer verkauft; mehr noch als Dokumente einer Aktion oder eines Auftritts sind sie Trophäen des Kunstbetriebs. Michaux hat nur begrenzt Einblick in seine Arbeitsprozesse gegeben, und in die des literarischen Schreibens sehr viel weniger als in die bildkünstlerischen. Das schriftstellerische (inklusive das mit Text verbundene bildnerische) Œuvre ist in einer Gesamtausgabe zusammengetragen, aber die malerischen und graphischen Arbeiten verteilen sich auf viele Museen, Sammlungen und Privatbesitzer; eine Übersicht in einem vollständigen Werkkatalog steht noch aus. Vieles von dem, was ggf. zur Rekonstruktion seines Arbeitens nützlich sein könnte, etwa Spuren seiner Lektüren in Büchern, ist durch Weggeben und Verschenken zerstreut worden. Eines aber ist greifbar und wird auch von Archivmaterialien ergänzt: die Beziehung der literarischen und der künstlerischen Szene zum wissenschaftlichen Versuch. Selten liegt sie so auf der Hand wie hier. Vor allem aber besteht sie nicht nur in einer Analogie. Michaux arrangiert experimentelle Situationen – vorwiegend, aber nicht nur mit Drogen; er veranlasst Ereignisse und deren Spuren, wobei er oft bestimmte Konstellationen wiederholt und daran gezielt nur einen einzelnen Parameter verändert.40 Er verfährt also im künstlerischen Produktionsvorgang wie ein experimentierender Wissenschaftler, der den Effekt einer bestimmten Komponente im Setting kontrolliert; und er unternimmt verschiedene Arten der nachträglichen Aufzeichnung, Auswertung und Analyse. Umgekehrt nutzt er auch Situationen des erschwerten Schreibens und Malens als unfreiwillig unternommene Experimente. Die kontingente, unfallbedingte Behinderung erhebt er zur Versuchsanordnung, die die Fokussierung auf einzelne Aspekte eines im Normalzustand ganzheitlichen Bewegungs- und Wahrnehmungsprozesses erlaubt. In der Alteration erweisen sich diese Abläufe als durchaus unselbstverständliches Zusammenwirken vieler unterschiedlicher Faktoren.41 In all diesen Versuchen ist er allein; die Positionen des Forschers und der Testperson koinzidieren.42 Die Szenen der Alteration (so könnte man die Drogen- und Krankheitsszenen auf ­einen Nenner bringen) teilen diese Tatsache mit den Settings zum literarischen und künstlerischen Arbeiten, aber auch mit bestimmten wissenschaftlichen Szenen: Der Selbstversuch ist ja nicht prinzipiell unwissenschaftlich; nicht wenige Experimente haben Forscher an sich selbst durchgeführt, je nach Fragestellung kann etwa in der wissenschaftlichen Psychologie die Introspektion ein passendes Verfahren sein, etc. Für die Aufzeichnung drogen­in­duzierter Halluzinationen gibt es keine Alternative zum Selbstversuch, jedenfalls nicht, wenn die Erlebnisse selbst, und nicht nur die neuronale Aktivierung u. ä. von

40  Zum Beispiel bei gleichem Material den aufnehmenden Grund, also etwa Filzstift auf verschiedenen Papiersorten, oder bei gleicher Gestik das Instrument, etwa Filzstift statt Pinsel. Mit dieser Modifikation wiederholt er die Graphismen der Mouvements aus den fünfziger Jahren in den achtzigern. Für den Hinweis auf dieses systematische Vorgehen danke ich Franck Leibovici. Vgl. auch Yaël Kreplak/Samuel Hayat/Franck Leibovici: Établir le catalogue raisonné de l’œuvre d’un artiste, construire la singularité d’un regard. Entretien avec les Archives Henri Michaux, Tracés 34 (2018) 229–245 (https://journals.openedition.org/traces/8096; zuletzt aufgerufen am 22.09.2019; online o. P.) 41  Vgl. unten, 68–75. Zum erschwerten Malen vgl. Comme un ensablement… (1981), OC III, 1145–1154. 42  Zur Beteiligung anderer Personen vgl. unten, 79.

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Interesse sind.43 Aber schon die Erzeugung graphischer Spuren im Rausch mag anders ausfallen, wenn sie von einem beobachtenden Wissenschaftler angeleitet wird; und vermutlich würden sich die Analyse der Spuren wie auch die der nachträglichen verbalen Beschreibungen und visuellen Darstellungen der Rauscherlebnisse von den Michaux’schen unterscheiden, wenn professionelle Forscher sie unternähmen. Sofern die Versuche für ihre Fragestellungen überhaupt brauchbar wären, würden sie die Graphismen, Texte und Zeichnungen im Sinne der disziplinär gültigen Diskurse auswerten – was Michaux weder kann noch will. Seine Drogenexperimente sind so gesehen eine Spezialform sowohl der literarisch-künstlerischen wie der humanwissenschaftlichen Schreib- und Zeichenszene: Sie zielen – im Unterschied zu anderer Drogenliteratur und -kunst – nicht auf die Produktion von poetischen Texten und künstlerischen Bildern; vielmehr betrachten sie sich selbst als Exploration: Das bedeutet nicht Abenteurerei, Forschungsreise als Metapher oder mentalen Exotismus; das Anliegen ist vielmehr tatsächlich Erkenntnis, und das will ernst genommen werden.44 Andererseits entstehen sie nicht in einem fachwissenschaftlichen Rahmen und unterziehen sich nur sehr eingeschränkt den Anforderungen an wissenschaftliche Experimente. Aus der institutionellen Perspektive sind sie also weder Forschung noch Literatur und Kunst. Gleichwohl aber wird man den veröffentlichten Ergebnissen weder epistemischen noch ästhetischen Wert absprechen. Michaux’ Versuche sind offenbar physiopsychographische Szenen besonderer Art, die eine eigene Analyse erfordern.

Das Gedächtnis der Gesten In humanwissenschaftlichen, literarischen oder (traditionellen) künstlerischen Szenen des Graphierens spielt dieses als Übergang zum Semiotischen, zu Repräsentation oder Notation, eine entscheidende Rolle. Aber Szenen des Graphierens können auch dessen andere Seite in den Blick rücken: das körperliche Tun. Damit werden unumgänglich zwei Begriffe relevant: der der Geste und der des körperlichen Gedächtnisses. Sie sind eng miteinander verknüpft, insofern in Gesten45 ein erworbenes körperliches Wissen vorliegt; vergangene Erfahrungen und Erlebnisse sind darin gespeichert und werden in Bewegungen jeweils aktualisiert. Im Hinblick auf das Gedächtnis eines Individuums und damit eines bestimmten einzelnen Körpers ist das selbstverständlich. Wir alle haben ein reiches Repertoire an Gesten, von denen die wenigsten absichtlich gelernt wurden, geht ihre Erwerbung doch zum Teil schon 43  Die Perspektive der ersten, nicht nur der dritten Person hat für die Neurophänomenologie entscheidende Funktion; vgl. unten, 78, Anm. 10. 44  Michaux unternimmt seine Versuche zu einem Zeitpunkt, als ‚Wissen‘ noch nicht das alles übergreifende Paradigma darstellt, dem auch Literatur und Künste unterstehen, sofern sie irgend Relevanz für sich reklamieren wollen, und als noch nicht darüber diskutiert wird, ob es etwas wie ‚künstlerische Forschung‘ gibt. 45  Ich verwende im Folgenden einen weiten Begriff der Geste und nicht den engen, der sie als Synonym der Gebärde auffasst, d. h. als Sprechen begleitende (speech illustrators) oder an dessen Stelle tretende (emblems) Bewegungen. Zu dieser Unterscheidung vgl. David Matsumoto/Hyisung C. Hwang: Culture and Nonverbal Communication, in: Judith A. Hall/Mark L. Knapp (Hg.): Nonverbal Communication, Berlin: De Gruyter, 2013, (697–728), 711–714.

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in die frühesten Lebensphasen zurück. Dass wir mindestens zwei verschiedene Arten von Gedächtnis haben, ein bewusstes und ein ‚tiefer sitzendes‘, kennen wir aus der Aneigung von Fertigkeiten, und die Sprache bezeugt es in Redewendungen: Manches können wir ‚im Schlaf ‘, das wirklich Gelernte sitzt ‚im kleinen Finger‘, oder auch: ‚Der Körper vergisst nicht‘. Das gilt freilich nicht nur für einmal erworbenes motorisches Können wie Fahrradfahren oder Schwimmen, also für das sogenannte prozedurale Gedächtnis, sondern auch für sinnliche Eindrücke und allemal für physische und psychische Verletzungen, für das Schmerzgedächtnis und die traumatische Erinnerung. Wie gerade geringfügigste Erfahrungen in einem Gedächtnis der Glieder bewahrt werden, hat Prousts Recherche eindrucksvoll beschrieben. Die Kapazitäten der mémoire involontaire reichen sehr viel weiter als die dem Bewusstsein zugängliche Erinnerung, aber sie entziehen sich dem direkten Zugriff; sie sind vorhanden und wirksam und zugleich unverfügbar, strukturell ähnlich wie das Unbewusste und das Trauma, durch einen geringfügigen Anstoß aber können sie auch reaktiviert werden und einen Strom vergessener Details entbinden. Man kann zwischen ex- und implizitem oder episodischem und Leibgedächtnis unterscheiden. Neurologisch beruht letzteres auf spezifischen Mustern neuronaler Aktivierung, ist vor allem subkortikal organisiert, d. h. in den basalen Ganglien, im Kleinhirn und im limbischen System angesiedelt. Diese Zuordnung impliziert, dass man nicht von einem repräsentationalen Gedächtnis sprechen kann, nicht von ‚Bildern‘ oder ‚Karten‘ der externen Realität, sondern nur von offenen Loops möglicher Interaktionen.46 Doch wie auch immer der Sachverhalt zu erklären ist: Die von der episodischen, bewussten oder, im Sinne Prousts, willkürlichen Erinnerung unterschiedene Art ist von immenser Bedeutung, auch und gerade, weil dieses Gedächtnis sich nicht kommandieren lässt.47 Und es zeitigt seine Wirkungen nicht nur im Leben des Individuums: Gesten werden zwar von einem einzelnen Körper gelernt, gespeichert und performiert, aber sie gehören ebenso der Sozialität und Kommunikation an. Gesten vermitteln ihn mit anderen in einem interleiblichen Austausch; sie werden durch Nachahmung erworben, und selbst wenn sie nicht gezielt eingesetzt werden, von anderen als signifikant aufgefasst. Im Vollzug von Praktiken durchdringen sie den einzelnen Körper mit Erlebnissen, Wertungen und Überzeugungen des Kollektivs; insofern sind sie eines der Bindeglieder zwischen Physio46  Vgl. Thomas Fuchs: Collective Body Memories, in: Christoph Durt/Thomas Fuchs/Christian Tewes (Hg.): Embodiment, Enaction, and Culture. Investigating the Constitution of the Shared World, Cambridge, Mass./ London, UK, 2017: MIT, (332–353) 336. Dieser und ähnliche Bände (s. 18 f., Anm. 23) versuchen, das embodiment-Konzept von Varela, Thompson und Rosch um die Dimension der Kultur zu erweitern. Das ‚implizite‘ Gedächtnis differenziert Fuchs in sechs verschiedene Arten aus; vgl. The Phenomenology of Body Memory, in: Sabine C. Koch/Thomas Fuchs/Michela Summa/Cornelia Müller (Hg.): Body Memory, Metaphor and Movement, Amsterdam/Philadelphia: Benjamins, 2012, 9–22. Knowing how oder erlerntes, auf dem prozeduralen Gedächtnis beruhendes Können wie Fahrradfahren u. ä., aber ebenso etwa die Vertrautheit mit bestimmten Wahrnehmungsmustern werden auch mit Rekurs auf A. R. Luria (vgl. v. a. The Working Brain, 1973) ‚kinetische Melodien‘ genannt; vgl. Heidrun Panhofer: Body Memory and its Recuperation through Movement, in: Vicky Karkou/Sue Oliver/Sophia Lycouris (Hg.): The Oxford Handbook of Dance and Wellbeing, New York: Oxford University Press, 2017, (114–127) 117–120. Vgl. auch unten, 74 und 166 f. 47  Vgl. dazu auch z. B. Maxine Sheets-Johnstone: Kinesthetic Memory, in: Koch u. a. (Hg.): Body Memory, 43–72.

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logie und Kultur. Ihr Spektrum reicht von unwillkürlichen Reaktionen (erröten, lachen...) bis zu sprachartigen arbiträren Zeichen (winken, zwinkern…), von Körpertechniken wie Sitzen oder Gehen bis zur bewussten Gebärde mit Hand oder Kopf und von einfachsten Bewegungen, über die alle verfügen (nicken, mit den Schultern zucken…) bis zu elaboriertesten wie denen beim Dirigieren oder Tangotanzen. Während sich die einen problemlos der Semiotik oder Linguistik zuschlagen lassen,48 ist bei den anderen daran zu erinnern, dass auch die physiologische Reaktion nicht nur biologische Voraussetzungen hat; sie stammt vielmehr aus einem seinerseits von Anfang an sozialisierten und enkulturierten Körper.49 Die in Gesten aufbewahrte Vergangenheit ist die eines ganzen Kollektivs, dem der Einzelne angehört. Man kann Gesten als gelernte Techniken bezeichnen, in denen kulturelle Konditionierungen niedergelegt, bestätigt und weitergegeben werden.50 Sie sind Inskriptionen einer sozialen Gruppe in die Körper ihrer Mitglieder, somit Teil eines kollektiven Leibgedächtnisses.51 Dieses besteht im Unterschied zum kollektiven Gedächtnis (Halbwachs), das sich v. a. in Schriften und kulturellen Artefakten, also in expliziten, insbesondere verbalen Erinnerungen an die Vergangenheit, manifestiert, in sozialen Praktiken wie Ritualen, Performanzen und synchronen Bewegungen (etwa im Straßenverkehr oder bei Team-Sportarten). Für die sozial geteilte Erinnerung kommt Gesten eine entscheidende Rolle zu: Kulturen nutzen den Körper nachgerade als lebendiges Gedächtnis.52 Sie vertrauen ihm grundlegende 48  Theorien der Gesten gibt es seit der Antike (bei Quintilian), aber sie gelten i. d.R. den kommunikativen, wie sprachliche Zeichen funktionierenden. Vgl. Noland: Agency and Embodiment, 15. Gesten können der Sprache jedoch nicht untergeordnet werden. Evolutionsbiologisch ermöglicht das Zeigen vielmehr die Sprache, aber diese Geste ist auch ohne die evolutionäre Perspektive eine komplexe, dem Sprechen gleichwertige Praxis. Vgl. Michael Tomasello: Die Ursprünge der menschlichen Kommunikation, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2009; Raymond Tallis: Michelangelo’s Finger. An Exploration of Everyday Transcendence, London: Atlantic Books, 2010; Gottfried Boehm, Sebastian Egenhofer, Christian Spies (Hg.): Zeigen. Die Rhetorik des Sichtbaren, München: Fink, 2010; Lambert Wiesing: Sehen lassen. Die Praxis des Zeigens, Berlin: Suhrkamp, 22013. Vgl. auch verschiedene Beiträge in Sabine Marienberg (Hg.): Symbolic Articulation. Image, Word, and Body between Action and Schema, Berlin/Boston: De Gryuter, 2107, z. B. Jürgen Trabant: Language and Image as Gesture and Articulation, 47–69. 49  Zum Verhältnis von Universalität, d. h. biologischer Bedingtheit, und Kulturspezifik gibt es unterschiedliche Auffassungen; auch eine primäre und eine sekundäre, durch Ausbreitung und Homogenisierung entstehende Universalität von Gefühlsausdrücken in Gesten werden unterschieden; vgl. Matsumoto/Hwang: Culture and nonverbal communication. 50  Sie werden dabei auch erprobt und ggf. in Frage gestellt; vgl. dazu unten, 31 ff. und 67 f. Ihren sozialen und damit letzten Endes auch interaktiven Charakter haben Gesten, insofern der einzelne Körper sozialisiert und situiert ist; das gilt auch für unwillkürliche Gefühlsäußerungen wie Schreien, Weinen o. ä. Viele Gesten, z. B. die Körperhaltung, werden „unbewusst gesendet, aber bewusst empfangen“; Christoph Antweiler: Gesten im Kulturvergleich, in: Christoph Wulf/Erika Fischer-Lichte (Hg.): Gesten. Inszenierung, Aufführung, Praxis, München: Fink, 2010, (348–361) 357. 51  Es wird definiert als „für die Mitglieder der sozialen Gruppe charakteristisches Ensemble von Verhaltensund interaktiven Dispositionen, die im Laufe früherer geteilter Erfahrungen entwickelt wurden und nun ähnliche Interaktionen der Gruppe präfigurieren.“ Vgl. Fuchs: Collective Body Memories, 341. Die Geschichte geteilter Interleiblichkeit führt u. a. dazu, dass die Individuen in gemeinsamen Performanzen, Spielen und Ritualen sich als aufeinander ein- und abgestimmt erfahren; vgl. ebd., 347. 52  Vgl. Bourdieus Theorie der Praxis und Paul Connerton: How Societies Remember (1989); vgl. Fuchs, ebd., 333 und 340, und Rafael F. Narváez: Embodiment, Collective Memory and Time, in: Body & Society 12.3 (2006), (51–73) 62.

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Prinzipien an, indem sie ihm diese von frühester Kindheit an als richtiges oder unrichtiges Gebaren vermitteln und in der Ausbildung bestimmter Automatismen und habitueller Verhaltensweisen verankern. An sich unbedeutende (und physiologisch nicht begründbare), aber kulturspezifische Details wie etwa die unterschiedliche Nutzung von rechter und linker Hand beim Essen oder Grüßen werden derart in den Körper implementiert und tragen als mnemonische Kürzel ganze Weltbilder weiter. Kosmologische, metaphysische, ethische und politische Auffassungen werden in Gesten deponiert, in der Wiederholung bekräftigt und als implizite, der bewussten Kontrolle und intentionalen Veränderung nicht zugängliche verbreitet und weitergegeben. Diese Art Erinnerung persistiert in körperlichen Interaktionen und Praktiken. Sie behauptet sich und erbt sich über Generationen fort, indem sie beständig reaktualisiert wird. Während Artefakte dem Verfall oder möglicher Zerstörung unterliegen und verbale Überlieferungen abreißen können, zeichnet sich das kollektive Leibgedächtnis durch enorme Haltbarkeit aus; man denke etwa an sozio-kulturelle Auffassungen von Geschlechterdifferenzen, die sich nicht zuletzt in eingeübten Körperhaltungen zeigen, z. B. in der Art zu sitzen oder die Stimme zu gebrauchen. Als immer wieder neuer Vollzug schmiegt sich diese Erinnerung wechselnden Gegebenheiten an. Sie ist in diesem Sinn ebenso beständig wie flexibel, und sie dauert umso länger, je mehr sie sich veränderten Situationen anzupassen vermag. Im weiten Sinn umfassen Gesten alle menschlichen Körperbewegungen von der Wiederholung einer Routine bis zur selbstbewussten Performanz. Jeder Gebrauch des Körpers ist darin enthalten, denn, wie Marcel Mauss gezeigt hat, wird er auch in ganz basalem, scheinbar nur biologischen Notwendigkeiten unterliegendem Tun auf je besondere Weise gebraucht; auch Gehen, Schlafen, Essen, Sexualpraktiken u. v.a. tragen die Signaturen unterschiedlicher Gesellschaften. All diese Tätigkeiten sind nicht einfach nur Naturvollzüge, sondern Gesten, in denen sich Physiologisches, Psychologisches und Soziologisches verbinden.53 Sie stellen die primäre Ebene dessen dar, was auf komplexeren als Habitus oder als kollektives Leibgedächtnis gefasst wird.54 Im Sinn dieses Ansatzes durchdringt Kultur tatsächlich alle Ebenen, von der präreflexiven motor perception bis zu höchsten Formen der Bedeutungsproduktion; und umgekehrt wird Bewusstsein auf jeder Ebene verkörpert.55 Metaphorisch gesprochen hat sich die Gesellschaft in den Körper und seine Bewegungen ‚eingeschrieben‘. Das Bild ruft Konzepte der Subjektivität von der tabula rasa bis zur tödlichen Tätowierung in Kafkas Strafkolonie auf. Schon lange fungiert es als Topos.56 Doch dieser ist 53  Vgl. unten, 65–67. 54  Bourdieus Habitus-Konzept umfasst auch Vorlieben, geschmackliche Neigungen, bewusst gewählte Verhaltenweisen, Überzeugungen u.v.m. Fuchs rückt es ganz nah an den Begriff des kollektiven Leibgedächtnisses. 55  Vgl. Christian Tewes/Christoph Durt/Thomas Fuchs: Introduction: The Interplay of Embodiment, Enaction, and Culture, in: dies. (Hg.): Embodiment, Enaction, and Culture, (1–21) 3. 56  Wenn ich recht sehe, verbindet es die machtkritischen Subjektivierungstheorien von Foucault u. a. mit der aktuellen phänomenologisch inspirierten Anthropologie, deren Wege sich sonst selten kreuzen; vgl. Matthias Jung/Michaela Bauks/Andreas Ackermann (Hg.): Dem Körper eingeschrieben. Verkörperung zwischen Leiberleben und kulturellem Sinn, Wiesbaden: Springer, 2016. Zu einer Verbindung der eigentlich inkompatiblen Ansätze Bourdieus und Merleau-Pontys vgl. Andreas Ackermann: Körper als Text? Körper, Rituale und die Grenzen einer Metapher, ebd., 75–107. Er plädiert für die (phänomenologische) Rede von ‚Leib‘, ‚leiblich‘ etc.

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im vorliegenden Zusammenhang allzu suggestiv; er verleitet dazu, die Beziehung von Gesten und Gedächtnis nach einem einfachen Modell zu denken: den individuellen Körper als Inskriptionsfläche für Kultur und Gesellschaft, als nur in-formiert oder imprägniert durch das Kollektiv, als nur rezipierenden, Gewalt erleidenden o. ä. Techniken werden jedoch ebensowenig einfach passiv aufgenommen, wie sie schlechthin auf Widerstand stoßen; sie sind keine schlichte Einprägung und kein (mörderisches) Diktat, dem sich der Körper als stets resistente, rebellische Kraft entgegensetzte. Die mnemonische Funktion der Gesten bedeutet auch nicht nur eine immobilisierende Last des Vergangenen, die den Körper im Überkommenen wie in einem Panzer gefangen hielte. Nach Nietzsche wird das zu Merkende eingebrannt, doch Gesten gleichen nicht nur Narben schwerer Verletzungen und Traumata. Sie sind weder Natur noch bloßer soziokultureller Reflex. Vielmehr werden sie performiert: Sie wiederholen und bestätigen soziale Gewohnheiten, halten Rituale aufrecht und setzen Traditionen fort. Zugleich aber sind sie eine Aktivität, und eine solche besteht nie allein aus Routinen. Denn auch wenn sich Soziokulturelles vom ersten Lebensmoment an in den Körper ‚inskribiert‘, beschränkt sich dieser nicht auf die Rolle eines Spurenträgers; seine Bewegungen aktualisieren das ‚Eingeschriebene‘ jederzeit, aber ohne es dabei nur zu reproduzieren. Der Körper hat seine eigene Dynamik; seine Bewegungsmöglichkeiten übersteigen die Anforderungen einer gegebenen Situation, sie sind viel mehr, als ihm abverlangt wird oder nützt. Quer zu allen eingeübten Gesten gibt es eine motorische Eigenmacht. Und er reagiert nicht nur auf seine Umgebung, sondern tritt auch in ein aktives Verhältnis zu ihr, er respondiert. Körperliche Bewegungen eines Lebewesens sind keine Mechanismen, die die Glieder, irgendwelchen Impulsen folgend, eben ausführen; zur Kinesis gehört vielmehr unabdingbar die Kinästhesie, die Selbstwahrnehmung des sich bewegenden Körpers. Sie gilt auch als eine Art sechster Sinn. Der Körper macht eine Erfahrung mit sich selbst, an die weitere, komplexe anschließen.57 Kinästhetische Sensationen sind freilich nicht identisch mit Gesten. Vielmehr entsteht erst dort, wo ein Körper soziokulturell konditioniert wird, aber auch ein Feedback gibt, die Möglichkeit einer Abweichung zwischen ‚Inskription‘ und Aktualisierung. Nur ein kultur- und körpertechnisch geformtes Individuum kann seinen Körper als einen wahrnehmen, der mit dem kollektiven Leibgedächtnis nicht unbedingt übereinstimmt; wenn es dieses verkörpert, kann seine Selbsterfahrung doch auch in Dissens dazu geraten. Ein derartiges potentielles Auseinandertreten stellt einen Spielraum dar, es ist die Voraussetzung für Veränderung oder etwas wie Handlungsmöglichkeit.58

und gibt embodiment auch mit ‚In-der-Welt-Sein‘ wieder. Aber droht damit im Deutschen nicht auch wieder die Gefahr, den gegen semiotische Verengungen in die Aufmerksamkeit gerückten Körper aus dem Blick zu verlieren? ‚Inskription‘ ist natürlich auch ein Schlüsselterm in den erwähnten Studien und Theoretisierungen wissenschaftlicher Experimentalpraktiken; vgl. oben, 22 f. Andererseits steht die ein epistemisches Paradigma indizierende Text- und Schriftmetaphorik für Kulturwissenschaften auch zu Recht in der Kritik. 57  Vgl unten, 71. 58  Vgl. Noland, Agency and Embodiment, 1–17 u. pass.

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Gesten lassen sich nicht angemessen beschreiben ohne diese Verschlaufung von Kinesis und Kinästhesie. Sie verknüpft die Eingebundenheit des Körpers, den Aspekt der Wiederholung, mit dem der Variation oder Differenz, das im Einzelnen verkörperte Kollektiv mit der Möglichkeit eines produktiven Überschusses. Als in diesem Sinn verschlungenes Band sind Gesten die entscheidende Grundlage für die Teilhabe an Gesellschaft und Kultur. Sie erlauben Bestätigung und Immersion ebenso wie eine Abweichung, die schon auf der Ebene des interozeptiven oder kinästhetischen Gewahrwerdens beginnt und sich zur Bewusstheit entwickeln kann. Ein derartiges Verständnis von Gestik unterscheidet sich von einer rein naturwissenschaftlichen oder naturalistischen Konzeptualisierung eines sich bewegenden Körpers; es geht aber auch über letzten Endes deterministische Modellierungen hinaus, wie sie in diversen kultur- und sozialwissenschaftlichen Theorien der Subjektivierung und der Praxis vorliegen.59 Diese unterschätzen tendenziell, marginalisieren oder lassen untheoretisiert, was zum soziokulturellen Leben doch auch ganz wesentlich gehört: die Möglichkeit, Routinen ggf. zu verändern, die Chance, etwa durch die Bildung neuer sozialer Gruppen, einen neuen Habitus zu begründen,60 oder auch performative Akte oder Rituale denjenigen, die sie mit Autorität vollziehen, zu entreißen, sie anzueignen und umzufunktionieren.61 Gesten können wie performative Akte mit ihrem Kontext brechen, das heißt aber mitnichten, dass sie dies einfach aufgrund ihrer Iterierbarkeit immer tun würden.62 Jede Wiederholung erzeugt auch eine Dif-

59  Noland nennt Strukturalismus, Foucault, Freud, Lacan, Starobinski, Bourdieu… und stellt ihnen als ebenso einseitig Deleuzes Vitalismus gegenüber, der die Fähigkeiten des Subjekts übertreibe. (Man könnte dieser letzteren Seite sicher Certeau hinzufügen, aus der Sicht des Strukturalisten Philippe Descola auch Tim Ingold.) Bemerkenswert ist v. a. ihr Hinweis, eine Zeitlang habe man Gesten als Kulturtechniken deterministisch gedacht, z. B. im Sinne von Kittler, dies sei aber nun von einem phänomenologischen Ansatz abgelöst worden; ebd., 219, Anm. 11. Seit ca. dreißig Jahre wird die Phänomenologie u. a. im Zusammenhang mit dem Boom der Neurowissenschaften und als kritische Positionierung dazu neu bewertet; vgl. Shaun Gallagher/Dan Zahavi: The Phenomenological Mind. An Introduction to Philosophy of Mind and Cognitive Science, London: Routledge, 2008. Von sozialwissenschaftlicher Seite rekurriert man z. B. auf die phänomenologische Wahrnehmungstheorie mit ihrer Betonung der Aktivität des Subjekts und dessen Leiblichkeit, um Theorien sozialer Praxis zu ergänzen, die v. a. die objektivierten Strukturen und Machtbeziehungen analysieren. Vgl. Sophia Prinz: Dispositive und Dinggestalten. Poststrukturalistische und phänomenologische Grundlagen einer Praxistheorie des Sehens, in: Hilmar Schäfer (Hg.): Praxistheorie. Ein soziologisches Forschungsprogramm, Bielefeld: transcript, 2016, 181–198. Im deutschsprachigen kultur- und literaturwissenschaftlichen Diskurs ist dagegen diese Richtung noch immer weitgehend anathema. – Fuchs rechnet das Konzept des Körpers als inskribierter Textur zu den Repräsentationstheorien, denen die ‚neue‘ Anthropologie kritisch entgegentritt. 60  Vgl. Rafael F. Narváez: Embodied Collective Memory. The Making and Unmaking of Human Nature, Lanham/ Boulder etc.: Univ. Press of America, 2013; vgl. auch 29, Anm. 52. 61  Vgl. die Kritik an Bourdieu in Judith Butler: Haß spricht. Zur Politik des Performativen, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2006, 242–248. Über die Berechtigung dieser Kritik lässt sich streiten, ist die Funktion des Habitus-Begriffs doch gerade, zwischen dem Individuum und dem Kollektiv eine Zwischeninstanz zu konzipieren, die sowohl für die Regel wie für deren Veränderungsmöglichkeit einsteht. Zumal in den sozialen Gruppen der Intellektuellen und Künstler gehören Kritik, Innovationsfreudigket, Kreativität u. ä. zum Habitus; er enthält also die Ermöglichung von Neuem. Dies wäre auch auf die körperliche Dimension von künstlerischem Tun zu beziehen. 62  Vgl. Butlers Kritik an Derrida ebd., 230–235; vgl. auch ebd., 252.

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ferenz, damit entsteht jedoch noch kein Bruch mit den Institutionen, Ritualen, Traditionen, Praktiken, die die Geste instantiiert; die Wiederholungen bestätigen nicht ausschließlich, was ihnen vorausgeht, aber sie unterminieren es auch nicht per se. Nicht jeder Unterschied macht einen Unterschied. Die Gesten müssen sich vielmehr als spezifische Arten analysieren lassen: Handelt es sich um Parodien, kritische Appropriationen, liminalen Gebrauch, riskante Erprobungen oder anderes? Mit welchen sozialen Gruppen als Trägern einer künftigen Praxis sind sie ggf. zu verbinden? In diesem Sinn, nicht als prinzipielles Strukturmerkmal des Performativen, wäre Veränderung eine dem soziokulturellen und körperlichen Leben intrinsische Möglichkeit.63 Das nämliche Problem betrifft auch die Beziehung zwischen Vergangenheit und Gegenwart, aus der die Zukunft hervorgehen muss. Gesten bringen als Verkörperungen des Kollektivs eine mit anderen geteilte Vergangenheit zur Geltung, aber das heißt nicht, dass sie die Gegenwart einem Zwang zum Immergleichen unterwerfen. Eher ist das Verhältnis der Zeiten zueinander eine Art Verflechtung, in der geteilte Vergangenheit einer Zukunftsoffenheit nicht schlechthin im Weg steht, sondern auch deren Ressourcen bildet; aktualisieren heißt nicht kopieren. Das Gespeicherte wird auch uminterpretiert, als Moment eines leiblich-sozialen Lebens gehört es zu einem sozusagen plastischen Vorgang.64 Dergleichen wäre im Unterschied zur bloßen Gewohnheit etwas wie Improvisation: Beide sind nicht identisch, aber diese ist auch nicht ohne jene zu haben. Aus einer u. a. phänomenologisch inspirierten Perspektive ist „der menschliche Körper nicht nur Grundlage, sondern Teil eines verkörperten lebendigen und erfahrenden Wesens, das zusammen mit anderen Mitgliedern einer Kultur die geteilte Welt, in der es lebt, hervorbringt, deren Bedeutung gewahr werden, sie auf bedeutungsvolle Weise ändern kann und zugleich von der kulturellen Bedeutung geformt ist.“65 Auch die Bestimmung des kollektiven Leibgedächtnisses muss daher in Hinsicht auf die Frage der Zukunftsoffenheit ergänzt werden: Es wird individuell verkörpert, aber es ist z. B. selbst nicht unbedingt etwas Homogenes. Weit davon entfernt, nur ein inertes Sediment darzustellen, enthält es vielmehr konfligierende Aktivitäten, Dynamiken der Konkurrenz und dementsprechend der Umschichtung oder Um63  Einen Überblick über sozialwissenschaftliche Ansätze, die versuchen, die oben genannten Defizite, insbes. Dualismen wie die von Struktur und individueller Handlungsfähigkeit oder Routine und Kreativität zu überwinden, gibt z. B. Schäfer (Hg.): Praxistheorie; zur Möglichkeit, in der Praxeologie mit einem differenztheoretischen Wiederholungsbegriff zu arbeiten, vgl. ders.: Praxis als Wiederholung, ebd., 137–159. Zur Konzeptualisierung von Praxis und Praktiken als Vermittlung zwischen dem Pol der Wiederholung und dem des Misslingens, der Neuinterpretation und der Konflikthaftigkeit des Vollzugs, somit als Ort für Ordnung und kulturelle Innovation, vgl. auch Lucas Haasis/Constantin Rieske: Historische Praxeologie. Zur Einführung, in: dies. (Hg.): Historische Praxeologie. Dimensionen vergangenen Handelns, Paderborn: Schöningh, 2015, (7–54) 34. 64  Vgl. Narváez: Embodiment, Collective Memory and Time, 64. Ähnlich argumentiert auch T. Ingold, vgl. unten, 220. Eine klare Unterscheidung zwischen (passivem) ‚Speichern‘ und (aktivem) ‚Erinnern‘ ist nicht möglich, da es sich um dynamische Vorgänge handelt; ‚Gedächtnis‘ deckt das ganze Spektrum ab, muss aber je nach Akzentuierung spezifiziert werden. 65  Vgl. Tewes/Durt/Fuchs: Introduction, 10. Der Vorteil dieses Ansatzes liegt ebenso auf der Hand wie sein Nachteil: die zumindest aus kulturwissenschaftlicher Sicht allzu viel offenlassende und tendenziell ubiquitäre Rede von ‚Bedeutung‘.

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ordnung. Vielleicht ist es weniger als die überschaubare Kampfkonstellation der Psychoanalyse66 zu denken denn als ein (Nietzscheanisches oder Deleuze’sches) Gewimmel divergierender Kräfte. Damit entspräche es den pluralistischen Gesellschaften der Gegenwart, die immer weniger ihre Dominante ausmachen können. Schemata wie das von herrschender und subversiver Macht oder von einer autoritativen und vielen rebellischen Potenzen, von unifizierender Hoch- und diversifizierender populärer Subkultur u. ä. greifen dafür nicht mehr; vielmehr sind viele soziale Gruppen und Gruppierungen am Werk, die noch bestehende relativ große und relativ mächtige Einheiten auflösen. In dieser Fluidität entstehen neue Gesten, Praktiken, Verhaltens- und Interaktionsweisen, die zeigen, dass auch das kollektive Leibgedächtnis nicht nur träge ist.67 Nicht zuletzt muss man diesen Begriff selbst in den Plural setzen. In ausdifferenzierten modernen, zumal multikulturellen, Gesellschaften gibt es auch mehrere kollektive Leibgedächtnisse, und ein einzelner Körper mag ein Kreuzungspunkt für derartige Vervielfältigung sein – oder besser: eine multiple Verknäuelung zweiter Naturen. Ein Individuum weist dann auch gemäß seiner Mobilität zwischen verschiedenen sozialen Feldern mehr als einen einzigen Habitus auf. In Michaux’ Œuvre spielen Gesten eine herausragende Rolle. Wie ‚Linie‘, ‚Zeichen‘, ‚Bewegung‘ sind sie ein Stichwort des Schriftsteller-Künstlers selbst.68 Gesten begegnen hier auf mehreren Ebenen: Zum einen werden sie verbal repräsentiert, stehen also narratologisch gesprochen auf der Ebene der histoire: Gesten anderer Akteure und die eigenen sind in diesen Fällen Gegenstand der Beobachtung, Beschreibung, Kommentierung, Reflexion; so etwa auf den Reisen durch Asien, wo der europäische ‚Barbar‘ die Sprachen nicht versteht. Er ist aufs Sehen reduziert und muss gestisch interagieren und kommunizieren. In der literarischen Fiktion werden fremde Sozietäten erdacht, deren mit bizarren Körpern versehene Akteure seltsame Verhaltensweisen zeigen und merkwürdige Sitten pflegen. Ihnen widmet sich eine phantastische Ethnographie. Zum anderen werden Gesten (hier in schriftlicher, nicht gesprochener Form) verbal vollzogen, sie begegnen auf der Ebene des discours als im weiteren Sinn performative Akte des Erzählens oder Beschreibens o. a. Im engeren Sinn des Wortes trifft man auf performative Gesten wie Beschwörungen oder ‚Exorzismen‘, freilich als literarische Textform, ohne die zugehörige Institution. Nicht zuletzt gibt es, jeweils in geschriebener Form, Artikulationspro66  Vgl. Narváez: Embodiment, Collective Memory and Time, 67 f. 67  Man mag an Veränderungen des Essens oder Straßenverkehrs durch ökologische Sensibilisierung oder an die neuen nicht-heterosexuellen Milieus denken. 68  Dabei ist ein weiter Begriff von Geste im Spiel, nicht etwa der des Zeigens, der Sprachvorbereitung, -begleitung oder ihres Ersatzes. Ältere Studien zu Michaux rekurrieren auf die Semiotik, etwa auf Kristeva, jüngere auf Phänomenologie, Anthropologie, Ethnologie, namentlich auf Merleau-Ponty und die Mauss-Schüler Leroi-Gourhan und (den weniger bekannten) Marcel Jousse; zu dessen Anthropologie du geste vgl. Marie-Aline Villard: Poétique du geste chez Henri Michaux: mouvement, regard, participation, danse, Littératures. Université de Grenoble, 2012, 57–64 u. pass. Zur historischen Bedeutung seiner Arbeit, etwa zur Auffassung von Worten als Gesten, für die Generation zwischen den zwei Weltkriegen vgl. auch Noland: Agency and Embodiment, 230, Anm. 8 und 9. Vgl. auch unten, 193, Anm. 70.

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1.2. Linien mit Körper und Gedächtnis

zesse wie rhythmisches Sprechen, litaneiartige Wiederholungen, lange Aufzählungen, Glossolalien u. a.m. Sie sind Gesten des Zur-Sprache-Bringens, ein Tasten nach Verbalisierung, oder auch der mutwilligen Verballhornung, des Anschlags auf die kommunikative Äußerung: Versuche zu sehen, wie weit sich die Entgrammatikalisierung treiben lässt, oder umgekehrt Annäherungen an die Schwelle zwischen Formlosem und Formulierung. Gesten werden außerdem graphisch vollzogen: So löst sich die Gestik des händischen Schreibens von der Notation, wird selbständig und bringt allerhand schriftähnliche, aber unlesbare Graphismen hervor. Schließlich werden Gesten aber auch auf seiten der Rezipienten provoziert: Bücher und Bilder veranlassen üblicherweise Lesen und Betrachten, hier werden beide außerdem durch bimediale Kombinationen in ungewöhnliche Beziehungen zueinander versetzt; auf welche Weise sie alternierend vollzogen werden und sich dabei gegenseitig komplementieren können, ist jeweils erst zu eruieren. Auf die schriftartigen Graphismen antworten Zeichen suchende, projektive, Gestalt gebende Aktivitäten sowie Bewegung und Rhythmen mitvollziehende Empathie. Bemerkenswert aber ist vor allem, dass auch Körperhaltung und Haptik der Rezipienten involviert werden: Unkonventionelle Arten von Büchern sperren sich gegen angestammte Kultur- und Körpertechniken. Sie stellen gewohnte Praktiken des Buchgebrauchs auf die Probe und erzwingen modifizierte Handhabungen eines vertrauten dreidimensionalen Objekts. Gesten verbinden den Einzelnen mit seiner sozialen Gruppe; sie sind deren lebendes Gedächtnis. Bei Michaux kommt insbesondere eine Gruppe ins Visier, die freilich enorm groß ist: die der im lateinischen Alphabet Literalisierten.69 Halten Soziologen sie überhaupt für eine ‚Gruppe‘ mit spezifizierbarem Gedächtnis und Habitus? Schriftsteller und Künstler des 20. Jahrhunderts, die sich, zumeist angeregt von fremden Schriftarten, kritisch mit der westlichen Schrift- und Buchkultur befassen, tun das, auch wenn sie sich nicht auf entsprechende wissenschaftliche Konzepte beziehen. Alphabetisches Schreiben und Lesen sind Kulturtechniken, an denen in westlichen Ländern – nach Jahrhunderten zunehmender, Schichtund Geschlechterdifferenzen überwindender Literalisierung – der weitaus größte Teil der Bevölkerung partizipiert. Über die Bedeutung, die das Alphabet seit seiner Etablierung in der griechischen Antike für ‚das westliche Denken‘ hat, ist viel nachgedacht worden. Seine Auswirkung auf das Gedächtnis, sein Zusammenhang mit Logik, Kritikfähigkeit, Skepsis, Demokratie, Geldwirtschaft u. a. wurden und werden noch immer erwogen. Seltener kommt dagegen in den Blick, dass alphabetisches Schreiben auch im Körper verankert wird, dass es wie andere Gesten eine Körpertechnik impliziert, die Haltungen und Bewegungsabläufe formt. Die atomisierten, flexibel kombinier- und permutierbaren Zeichen lassen leicht vergessen, dass auch sie zunächst aus körperlichen Bewegungen hervorgehen oder mit solchen verbunden sind, und dies nicht nur beim Schreiben mit der Hand. Sensomotorische und kin­ ästhetische Dimensionen hat auch die Bedienung einer Tastatur, ob sie einer mechanischen Schreibmaschine angehört oder als virtuelle auf einem Smartphone erscheint. Künstlerische 69  Wenn das Stichwort Alphabet fällt, ist immer das lateinische gemeint; über andere wie das griechische, kyrillische, hebräische, arabische, koreanische o. a. macht er sich keine Gedanken.

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1. Partizipative Linien? Einleitung

Arbeiten haben das inzwischen als fruchtbares Feld entdeckt, nicht zuletzt in der Welt der Elektronik.70 In phänomenologischen und anthropologischen Überlegungen zu Gesten ist das Tippen ein wiederkehrendes, ja, man hat den Eindruck, unvermeidliches Beispiel.71 Tastaturen sind freilich weltweit inzwischen alphabetische; auch beim Schreiben chinesischer Schriftzeichen werden sie benutzt. Daher sind die Gesten ihrer Bedienung nicht mehr nationalkulturell spezifisch, wie sich überhaupt viele körpertechnische Unterschiede in der globalisierten Welt verschleifen. Michaux hat derartige Differenzen noch in einer ganz anderen Schärfe vor Augen. Er ist einer von denen, die vor allem die Gestik alphabetischer Literalisierung (nicht die Art der Zeichen und ihr systemisches Funktionieren) in die Aufmerksamkeit rücken. Und das ist kein marginaler Aspekt; denn was die Theoretiker der Kulturtechniken primär interessiert: der Zusammenhang medialer Praktiken mit Machtdispositiven, gerät hier vermittelt durch die körperliche Konditionierung ins Visier. Die Gesten des alphabetisierten Individuums verkörpern die zugehörige (Schrift-)Kultur, hier die sich am Unterschied zur chinesischen profilierende europäische oder ‚westliche‘. Und wenn diese Gesten Schrift produzieren, aktualisieren sie nicht nur die Fähigkeit, gewisse Buchstabengestalten in bestimmter, standardisierter Weise auf eine Fläche zu setzen; sie performieren auch, was sie an Sozialem und Kulturgeschichtlichem enthalten: Der alphabetisierte Körper erinnert und instantiiert es in jedem Schreiben. Er performiert – das ist zumindest die Annahme – westlichen Intellektualismus: dessen Leib-Seele-Dualismus und entsprechende Werthierarchien, die abstraktiven Tendenzen, die Dominanz des Optischen über die Haptik, die Präferenz der Logik gegenüber anderen Arten der Verknüpfung und Verkettung, den Überhang des Sprachlichen über das Bildliche, den Vorrang der mündlichen Kommunikation vor anderen interaktiven, Bedeutung schaffenden Kompetenzen u. a.m. Im Habitus hängen damit ein besonderes Raum-Denken zusammen, das zur Symbolform der Perspektive führt, oder das Interesse für Gesetze, für logische Begründungen und universelle Geltung statt für Sitten und Praktiken. Kurz: Wenn ‚die westliche Kultur‘ logo-phonozentrisch ist, dann wird dies auch verleiblicht. Es stellt auch das Problem eines schreibfähigen Körpers dar, und zwar selbst dann, wenn dieser nicht schreibt oder nur noch tippt oder wischt. Hand und Auge werden ihre Konditionierung nicht einfach los. Zugleich gilt aber ebenso: Auch der alphabetisierte Körper ist nicht auf die bloße Reproduktion des Inskribierten festgelegt, sondern produziert Varianten und Überschüsse. Dass es fürs handschriftliche Schreiben kein Skript gebe, sondern jeder Schreibakt ein Improvisieren sei,72 dürfte nicht zutreffen, denn Schriftzeichen können nur um den Preis der Unerkennbarkeit unbegrenzt variieren; aber wenn Leserlichkeit kein Ziel darstellt, kann sich die Geste des Schreibens in einem breiten Spektrum entfalten und dabei immer noch Merkmale der

70  Vgl. dazu z. B. Noland: Agency and Embodiment, 118–129; vgl. auch unten, 233. 71  Vgl. z. B. Merleau-Pontys Beschreibung in der Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin: De Gruyter & Co., 1966, 173 f. 72  „There is […] no script for script“; Tim Ingold/Elizabeth Hallam: Creativity and Cultural Improvisation. An Introduction, in: dies. (Hg.): Creativity and Cultural Improvisation, Oxford/New York: Berg, 2007, (1–24) 13.

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1.2. Linien mit Körper und Gedächtnis

skripturalen Betätigung haben. Michaux testet mit seinen schriftallusiven Graphismen diese Spielräume aus.73 Wenn er Schreiben als Facette des Leibgedächtnisses in den Fokus rückt, so arbeitet er andererseits am Träger kulturellen Gedächtnisses schlechthin: am Buch. Auch dieses wird hier u. a. zur Gelegenheit kinetisch-kinästhetischer Erfahrungen. Es wird zu einem integrativen Medium, das alle Aspekte des Œuvres aufzunehmen vermag und die herkömmliche Funktion, Reservoir von Texten und bis zu einem gewissen Grad von Bildern zu sein, überschreitet. Damit wirkt es auf die Alphabet-, Bild- und Buchkultur auch wieder zurück. Diese hört auf, selbstverständliche Voraussetzung zu sein; vielmehr wird sie vom impliziten Rahmenwerk zur sichtbar gemachten Grenze unserer graphierenden Tätgkeiten. Sie erscheint als kontingent und erweist sich zugleich als erweiterungs- und ergänzungsfähig; sie lässt sich hybridisieren. Gesten und Gedächtnis sind auch plastisch.

* Wie hängt – jenseits des Biographischen – Michaux’ Beitrag zur Arbeit an der künstlerischen Linie mit der Teilnahme an der ‚Welt‘ durch Linien zusammen? Vorläufig und einstweilen noch sehr schematisch kann man sagen: Die alphabetische, die Zeichen konsequent der Phonetik unterstellende Schrift gilt als Inbegriff der Linearisierung ehedem multidirektioneller Graphismen.74 Insofern Buchstaben, sofern sie als Notation fungieren sollen, nicht in beliebiger Reihenfolge geschrieben und gelesen werden können, gibt Schrift eine Bewegungsrichtung vor. Die Produktion und Betrachtung von Zeichnungen ist in dieser Hinsicht weniger reglementiert; sie können eine sprachund schriftlastige Sozialisierung ergänzen. Doch was bei Michaux zur prinzipiellen Linearität phonetischen Schreibens und den schriftbildlichen Linien (Zeilen) von Texten hinzukommt, sind nicht zeichnerische Linien schlechthin. Denn seine künstlerische Produktion schließt gerade Prototypen der für westliche Bildkultur konstitutiven Linie aus: die geometrisch-raumkonstruktive Linie und den zeichnerisch-mimetischen Umriss. An deren Stelle treten vor 73  Sie machen nicht das ganze bildkünstlerische Werk aus, begegnen aber doch auch in den größerformatigen Bildern, etwa in den Grandes encres. Wirkungsgeschichtlich sind sie zu Michaux’ Markenzeichen geworden. 74  Vgl. André Leroi-Gourhan: Hand und Wort. Die Evolution von Technik, Sprache und Kunst, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1988, 237–270. – Dass Alphabetschrift die Zeichen konsequent der Phonetik unterstelle, ist natürlich eine Vereinfachung und Vereinseitigung. Wie bei jeder Schrift ist auch beim Alphabet die schriftbildliche Dimension relevant, und seit es das Alphabet gibt, wird es auch unabhängig von der phonetischen Notation eingesetzt; vgl. z. B. Sybille Krämer: Schriftbildlichkeit, in: Stephan Günzel/Dieter Mersch (Hg.): Bild. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart/Weimar: Metzler, 354–360; Sybille Krämer/Eva Cancik-Kirschbaum/Rainer Totzke (Hg.): Schriftbildlichkeit. Wahrnehmbarkeit, Materialität und Operativität von Notationen, Berlin: Akademie Verlag, 2012. Zur Unterscheidung eines surrogationalistischen Konzepts von Schrift (das diese nur als Notation der Rede auffasst) und eines autonomistischen vgl. Annette Gilbert: Bewegung im Stillstand. Erkundungen des Skripturalen bei Carlfriedrich Claus, Elizaveta Mnatsakanjan, Valeri Scherstjanoi und Cy Twombly, Bielefeld: Aisthesis, 2007, 22–27. Zu einem weiteren und einem engeren Begriff von Schrift – nur in letzterer wird die Kodierung phonetisch dimensioniert – vgl. auch Ludwig D. Morenz: Schrift, in: Ludger Kühnhardt/ Tilman Mayer (Hg.): Bonner Enzyklopädie der Globalität, Wiesbaden: Springer VS, Bd. 1, 2017, 489–494.

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1. Partizipative Linien? Einleitung

allem Linien, die aus den Gesten eines alphabetisierten Körpers hervorgehen, aus Schreibbewegungen, die aber nicht dem Schreiben dienen. Die Neukonzeption der künstlerischen Linie impliziert derart eine doppelte Dissidenz: von traditionellen zeichnerischen Linienfunktionen und von der Notationsfunktion der Schrift. Übrig bleiben Bewegungsspuren. Sie halten Flüchtiges fest. Ihre Gestalt ist zwangsläufig linienförmig, aber viele von ihnen bleiben außerdem an die Ordnung der Zeile gebunden und damit an eine für Lesbarkeit wesentliche Bedingung von Schrift. Vor allem die in Buchform veröffentlichten schriftallusiven Graphismen sind in diesem Sinn linearisierte Dynamogramme. Sich nicht nur sprachlich auf die ‚Welt‘ beziehen zu wollen, heißt also nicht nur, Visuellem mindestens gleichen Rang wie dem Verbalen einzuräumen; akzentuiert werden vielmehr der sich bewegende Körper und die kinästhetische Sensibilität, verknüpft allerdings mit einem inskriptiven Medium. Die Möglichkeit einer Partizipation durch Sport oder körperliche Arbeit kommt daher (nicht nur aus Gründen der persönlichen physischen Kondition) nicht in Frage. Der Tanz ist dagegen zumindest metaphorisch mit der Graphie liiert; in der modernen Literatur ist der Konnex mit Schreiben und Schrift sogar topisch. Seit Mallarmé gilt der Tanz als Körperschrift, die Tanzszene sozusagen als eine der unsichtbaren Aufzeichnung oder des Schreibens ohne Spur. In Michaux’ Œuvre geht die Beziehung zum Tanz jedoch darüber hinaus; auch wenn es nicht oft explizit davon handelt, scheint der Tanz etwas wie das eingeschlossene Ausgeschlossene zu sein. Dass er Linien zieht, doch keine hinterlässt, grenzt ihn aus; als in höchstem Maß entwickelte Bewegung und kultivierter Bewegungssinn ist er indes ständig am Horizont.75 Die Partizipation an der ‚Welt‘ durch Linien besteht bei Michaux – dem Mehrfachsinn des Wortes ligne gemäß – aus pluralen Praktiken: Es sind graphierende, autoexperimentelle, literarisch schreibende und buchästhetische. Dabei agiert der Künstler-Schriftsteller jedoch mitnichten allein. So individualistisch er sich selbst verstehen oder die Kritik ihn stilisieren mag:76 An seinen Unternehmungen partizipiert immer schon die ‚Welt‘. Eine Szene des Graphierens involviert ebenso wie die des literarischen Schreibens oder die des Umgangs mit einem Buch Akteur(e) und nicht-menschliche Aktanten. Gesellschaft und Kultur spielen dabei ständig mit: Sie sind präsent in Sprache und Schrift, Räumen, Materialien, Instrumenten, im Körper und seinen Gesten. Wie sie interagieren, versuchen die folgenden Ausführungen zu zeigen.

75  Vgl. dazu unten, 72 f., 154–160, 203 u. pass. 76  Dass Michaux sich keiner literarischen oder künstlerischen Richtung zuordnen lasse, wird immer wieder betont, doch ist damit wenig gesagt; zur komplizierten Frage der ‚Singularität‘ vgl. auch Kreplak/Hayat/Leibovici: Établir le catalogue raisonné.

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2. Zum Zeichnen kommen: plurale Wiederanfänge

2.1. Errante Linie und unlesbare Zeilen Der späten Selbstdarstellung Émergences-résurgences von 1972 ist eine Linienzeichnung vorangestellt (Abb. 1).1 Sie steht am Beginn des Buches: der Geschichte von Michaux’ Künstler-Werden, und zeigt laut Verfasser den Beginn dieses Weges. Sie ist Anfang im doppelten Sinn: auf der Ebene des autobiographisch Erzählten, der histoire, und auf der des Erzählens, des discours. Aber damit nicht genug: Der angeblich klar markierbare Anfang der künstlerischen Tätigkeit ist auch noch der erste Schritt in einer schematischen Entwicklungsgeschichte des symbolischen Agierens, in der die persönliche Entwicklung des erwachsenen Michaux mit der des Kindes überblendet ist und etwas wie eine interne Logik der Symbole angedeutet scheint: Von der Linienzeichnung führt der Weg zu Zeichen, zuerst zu Piktogrammen, dann zur Schrift, genauer: zur alphabetischen, und das Zeichnen muss einer jenem Anfänglichen entfremdeten verbalen Kultur erst wieder abgerungen werden. Von den Vorstößen und Rückschritten bei diesem Ringen berichten die autobiographischen Bemerkungen. Das narrative Schema ist also eines vom verlorenen und wiedergefundenen Ursprung – ein probates Muster der (Künstler-) Autobiographie. Neben dieser Erzählung bietet Émergences-résurgences Kunsttheoretisches und Produktionsästhetisches; die Form ist (in der Endfassung) eine lose Sammlung voneinander relativ unabhängiger Kurztexte,2 die sich mehr oder weniger klar auf die abgedruckten Beispiele der eigenen Arbeiten beziehen. Ursprungskonstruktionen gehen – nicht nur bei Michaux – mit primitivistischen, sprach- und kulturkritischen Gedankenfiguren einher, hier etwa mit dem Vorwurf an die geschriebene Sprache, es mangle ihr an rusticité (Bodenständigkeit), während es in der Malerei leichter sei, zum primitif oder primordial zurückzufinden.3 Andererseits hat Michaux immer wieder Ursprungslegenden ironisiert, darunter auch – und gerade – die vom Ursprung der Malerei.4 Sollte er seine eigenen Anfänge derart mythisieren? Und wenn, wäre das ein Stück Naivität oder eine raffinierte Selbstinszenierung? Diese Frage nötigt zu einer näheren Beschäftigung mit den ersten Seiten des Buches. 1  Die Zeichnung erschien zuerst in: Les Feuilles libres, n. 45–46, Juni 1927, 113; vgl. OC I, 959 und 1371 f. (Die Abb. in OC I, 959, ist im Verhältnis zu der in Les Feuilles libres und in Émergences-résurgences auf den Kopf gestellt.) Der Verbleib der Originalzeichung ist leider auch Franck Leibovici, dem Verfasser des Werkverzeichnisses, unbekannt (p. c.). 2  Vgl. OC III, 1607. 3  Vgl. ebd., 549 f. 4  Vgl. unten, 149.

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2. Zum Zeichnen kommen: plurale Wiederanfänge

1  Henri Michaux, Émergences-résurgences, 1972, © Éditions Gallimard.

Die mit spitzem Stift gefertigte Zeichnung scheint auf den ersten Blick – und so präsentiert sie Michaux auch im Text – aus nur einer einzigen Linie zu bestehen, die zittrig nervös auf- und ab- und hin- und herfährt, sich um sich selbst schlingt, aber in allen Wendungen einfach nicht aufhört, sondern immer weiter und weiter ihren unbestimmten Weg geht.5 Insgesamt stellt die Zeichnung nichts Erkennbares dar, und wohl eher zufällig wirken zwei benachbarte Verdichtungen wie zwei Augen, was dem Ganzen jedoch einen starken Blickfang gibt. Michaux hat diese dem Anspruch nach eine Linie ausführlich beschrieben, und zwar in der für ihn typischen Art. Viele Details der Verbalisierung treffen zu, und Metaphern geben suggestive Interpretationen, so dass der ekphrastische6 Text auch eine gewisse Selbständigkeit im Verhältnis zu seinem Gegenstand behauptet. Michaux reiht Charakterisierungen aneinander, oft mit Infinitiven, das flektierte Verb steht, wenn es überhaupt vorkommt, in einen Relativsatz, Präpositionen (hier sans) werden wiederholt. Das gleiche Verfahren wendet er auch in seinen Gedichten an; bei dem Text hier würde es genügen, die Substantive und Syntagmen mit Infinitiv und gleicher Präposition untereinander zu setzen und die narrativen Sätze zu eliminieren oder zu verknappen, dann ergäbe auch dieser Text eine Art Poem:

5  Bei näherem Hinsehen zeigen sich mehrere Linien, wenn auch wenige (oder täuscht die Reproduktion?). Es gibt Unterbrechungen und Neueinsätze; die erste mag oben links begonnen haben, die letzte und das Ende sind zumindest auf der Reproduktion nicht klar auszumachen. 6  Das Wort wird hier nicht im Sinn der rhetorischen Tradition gebraucht, sondern im heute wieder erweiterten Sinn als technischer Term für die Beschreibung jeglichen visuellen Artefakts in einem (literarischen) Text.

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2.1. Errante Linie und unlesbare Zeilen

Une ligne plutôt que des lignes. Ainsi je commence, me laissant mener par une, une seule, que sans relâcher le crayon de dessus le papier je laisse courir, jusqu’à ce qu’à force d’errer sans se fixer dans cet espace réduit, il y ait obligatoirement arrêt. Un emmêlement, ce qu’on voit alors, un dessin ­comme désireux de rentrer en lui-même. […] Comme moi la ligne cherche sans savoir ce qu’elle cherche, refuse les immédiates trouvailles, les solutions qui s’offrent, les tentations premières. Se gardant d’‚arriver‘, ligne d’aveugle investigation. Sans conduire à rien, pas pour faire beau ou intéressant, se traversant elle-même sans broncher, sans se détourner, sans se nouer, sans à rien se nouer, sans apercevoir d’objet, de paysage, de figure. À rien ne se heurtant, ligne somnambule. Par endroits courbe, toutefois non enlaçante. Sans rien cerner, jamais cernée. Ligne qui n’a pas encore fait son choix, pas prête pour une mise au point. Sans préférence, sans accentuation, sans céder entièrement aux attirances. … Qui veille, qui erre. Ligne célibataire, qui tient à le rester, à garder ses distances, qui ne se soumet pas, aveugle à ce qui est matériel. Ni dominante, ni accompagnatrice, surtout pas subordonnée.7

Die Linie mäandert ziellos, ja, irrt herum und lässt sich dabei so wenig beirren wie ein Schlafwandler. Sie ist auf der Suche und verweigert sich schnellen Ergebnissen; insofern beansprucht sie als methodos, Umweg, doch, Untersuchung oder Erkundung (investigation) zu sein und damit auch epistemischen Wert zu haben, wenn jene auch blind vonstattengeht: Die Erkenntnisse sind offenbar nicht für den Augensinn, aber vielleicht für die Haptik oder das motorische Gedächtnis. Ästhetische Absichten werden ausdrücklich zurückgewiesen, die klassischen (‚schön‘) ebenso wie die modernen (‚interessant‘). Mimetische Leistungen kommen nicht in Frage, und damit entzieht sich die Linie jeder möglichen Brauchbarkeit für traditionelle malerische und zeichnerische Gattungen: Stillleben, Landschaft, Porträt, historia... Da sie keine misslungenen Schritte kennt, macht sie keine pentimenti: In Reuezügen wendet sich eine zeichnerische Linie auf sich selbst zurück und wiederholt ihren Weg noch einmal etwas anders – diese tut nichts dergleichen. Dass sie sich nicht verknotet und nirgendwo anknüpft, unterstreicht ihre Mobilität; der Bewegungsfluss kommt von sich aus nicht zum Stillstand. Wohl aus diesem Grund kann sie auch keinen Umriss bilden, denn in einer sich schließenden Figur, einer umzogenen Fläche, herrschte Ruhe.

7  OC III, 545 f.; „Eine Linie eher als Linien. So beginne ich, lasse mich von einer führen, einer einzigen, die ich, ohne den Stift vom Papier zu heben, laufen lasse bis ihr Herumirren auf diesem beschränkten Raum zu einem Halt kommen muss. Man sieht ein Gewirr, eine Zeichnung wie danach verlangend, in sich selbst zurückzukehren. […] / Wie ich, sucht die Linie ohne zu wissen, was sie sucht, verweigert die schnellen Funde, die sich anbietenden Lösungen, die naheliegenden Versuchungen. Linie der blinden Erkundung, die sich hütet ‚anzukommen‘. / Ohne irgendwohin zu führen, nicht um für schön oder interessant zu gelten, sich selbst durchquerend ohne Stocken, ohne abzuweichen, ohne anzuknüpfen, ohne anzuknüpfen an irgendetwas, ohne gewahr zu werden eines Dinges, einer Landschaft, einer Figur. / Schlafwandlerische Linie, an nichts sich stoßend. / Geschwungen an manchen Stellen, und doch nichts umgarnend. / Ohne etwas zu umkreisen, niemals eingekreist. / Linie, die ihre Wahl noch nicht getroffen hat, zu einer Festlegung noch nicht bereit. / Ohne Vorliebe, ohne Betonung, ohne den Anziehungen nachzugeben. / … Die wach bleibt, die herumirrt. Zölibatäre Linie, die darauf hält, es zu bleiben, Abstand zu wahren, die sich nicht unterwirft, blind gegenüber allem Körperlichen. Nicht ton­an­ge­bend, nicht begleitend, vor allem nicht untergeordnet.“ Henri Michaux: Zeichen. Köpfe. Gesten. Aus dem Französischen und mit einer Nachbemerkung versehen von Helmut Mayer, Bern/Wien: Piet Meyer, 2014, 7 f.

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2. Zum Zeichnen kommen: plurale Wiederanfänge

Sie entstammt ungeplanten Prozessen; die Hand agiert nicht, sondern überlässt den Lauf des Instruments und seiner Spur den Gegebenheiten des Materials, und das Aufhören bewirken – fern von jedem ‚Vollenden‘ oder auch nur Abschließen – kontingente Zwänge wie das kleine Papierformat. Der Zustand der Produktion ist einer der Indifferenz: ohne Begehren, Neigungen, Gewichtungen. Alle Vorkommnisse sind gleichwertig – wie im Traum oder auch wie im Tagtraum.8 Entscheidungen über die Zugehörigkeit der Linie zu einem Zeichensystem und damit über ihre Funktion (als skriptural oder piktural), die normalerweise sehr früh fallen und die, soll Schrift zustande kommen, auch fallen müssen, sind aufgeschoben. Die Frage, was diese Linie sein, als was sie aufgefasst werden soll, ist suspendiert; die Linie harrt sozusagen noch ihrer Identifikation, die einer Arretierung gleichkäme. Wie auch dem Ende ihres Zölibats. Spielt dessen Erwähnung auf Corporal Trims dynamischen Schnörkel an, als er zum Lob des Nicht-Heiratens begeistert seinen Stock in die Luft schwingt? Oder auf Duchamps selbstgenügsame Junggesellenmaschine? Diese Linie wahrt Abstand, heißt es: vermutlich von allen möglichen Leistungen, die Linien üblicherweise erbringen. Drei, die sich auf die traditionelle zeichnerische (und zugleich auf Eheverhältnisse) beziehen lassen, werden ausdrücklich verweigert: dominieren oder tonangeben: Das Konzeptuelle und Intelligible (‚Männliche‘) hat Vorrang vor dem Sinnlichen (‚Weiblichen‘), der Farbe, dem Helldunkel, die Figur vor dem Grund, dem Weißen, Amorphen; begleiten: Die traditionelle Linie zieht einen Umriss nach, der ihr an einem Gegenstand der Natur oder dessen Schatten vorausgeht, oder sie ergänzt als Illustration einen Text, ist Supplement zum Verbalem; sich unterordnen: Dem gezeichneten Umriss etwa dient die Körper und Licht suggerierende Schraffur, der Binnenkontur differenziert nachträglich eine umschlossene Fläche aus, etc. In diesem Sinn sind Michaux’ Qualifizierungen nicht aus der Luft gegriffen. Diese Linie erscheint v. a. als Fortsetzung von Klees reisender, promenierender, ‚aktiver‘ Linie, nur hält sie nicht immer wieder inne und formt sich nicht zu erkennbaren Gestalten, wie es in der Schöpferischen Konfession als kleine ‚Reise‘ beschrieben wird.9 Michaux’ Linie ist im Vergleich dazu eine unreglementiert prozedierende, nicht-figurative. Damit ist jedoch keine ‚Michaux-Linie‘ gefunden10 und sein Beitrag zur Neukonzeption der künstlerischen Linie im 20. Jahrhundert bei weitem nicht ausgemacht. Denn abgesehen davon, dass diese Linie Michaux’ sonstiger Praxis nur bedingt entspricht und er figurative Reminiszenzen nicht gescheut hat, fehlt dem Konzept – gemessen an dem, was er alles mit Linien anfängt und zu ihnen zu sagen hat – noch sehr viel: Die beschriebene Linie stammt von einem Stift, sie resultiert aus der Bewegung eines feinen Punktes: der Spitze, die auf dem Papier aufsetzt und eine Spur ausschließlich durch Ziehen hinterlässt. Michaux macht oder lässt später noch ganz andere Linien entstehen: aus zahllosen winzigen Strichlein, fast Punkten bestehende z. B., aber vor allem solche mit dem Pinsel. Der wird anders gezogen als der Stift, und gelegentlich wird 8  Vgl. dazu unten, 102 und 164 f. 9  Vgl. dazu unten, 50. 10  Die somnambule Linie wird oft mit der surrealistischen écriture automatique identifiziert. Michaux hat diese jedoch ausdrücklich kritisiert und seine Unternehmungen – mit Recht – davon abgesetzt; vgl. Surréalisme (1925), OC I, 58–61, und ebd., 1012 f.

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2.1. Errante Linie und unlesbare Zeilen

2  Henri Michaux, Émergences-résurgences, 1972, © Éditions Gallimard.

er gar nicht gezogen, sondern er tupft, dreht sich auf der Stelle, rutscht, streift den Träger im Hieb… Die Unterschiede im fließenden Material sind erheblich: Tusche, Wasserfarbe, Acryl, (selten) Öl, Mischungen, in unterschiedlichen Graden von Feucht- und Festigkeit; manches kommt auch ohne Pinsel zum Einsatz. Sie erzeugen Fließ-, Rinn-, Tropfspuren, Trocknungsränder, fransige, faserige und zerlaufene, verschwimmende Striche, breite Schmierer, die dickeren Pasten gelegentlich sogar Dreidimensionales: Grate links und rechts von einem Graben, einer Druckspur in weicher Masse, einer Kuhle oder Furche. In Frottagen hinterlassen Kreiden staubartige Ansammlungen von Pünktchen und schattige Streifen; als Linien erscheinen durchgeriebene Kanten. Filzstifte verschiedener Stärke ergeben auf unterschiedlicher Papierstruktur jeweils andere Linien. Nicht zuletzt gibt es negative: Aussparungen, in denen sich der Grund zeigt…11 Als unbestimmt irrende Linie lässt sich auch die unter Drogen oder nach dem Drogenkonsum entstehende nicht fassen: Diese hat eigene phänomenale Merkmale, und sie kommt ganz anders zustande. Vor allem aber fehlt der schlafwandlerischen Linie die Beziehung zur skripturalen: zur Schriftzeichen mimenden Linie und zur räumlicher Anordnung der gemimten Zeichen, das heißt zu der einer rechteckigen Fläche immer impliziten Lineatur. Diese Spielart zeigt eine zweite Abbildung am Anfang des Buches (Abb. 2): fünf Zeilen kleiner Liniengebilde, die an kursive Handschrift erinnern, aber keine erkennbaren Schrift11  Soll man sagen, er habe mit der frei prozedierenden Linie begonnen und sie dann zugunsten eher malerischer Phänomene wie Strich und Fleck hinter sich gelassen? Aber wann beginnt und wann hört eine Linie auf, eine zu sein? Zumindest jenseits eines klassischen Dispositivs der Zeichnung ist das schwer zu sagen.

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2. Zum Zeichnen kommen: plurale Wiederanfänge

zeichen darstellen; die Gebilde verketten sich, nur in der letzten Zeile stehen sie auf Abstand. Das Ganze ist ein Ausschnitt – der untere Teil – der ‚Narration‘ genannten ‚Zeichnung‘ von 1927. Neben der namens ‚Alphabet‘ (und der ‚Einlinienzeichnung‘) aus dem gleichen Jahr gehört sie zu Michaux’ ersten graphischen Arbeiten. Beide sind Schriftbilder ohne Schrift; die Titel signalisieren den Versuch einer kühnen Umwertung: Die Medien des Schriftstellers sollen der Verbalität entzogen und allein der Visualität zugeführt werden. Dazu genügt nicht die Betonung der in jeder Schrift, auch dem Alphabet, vorhandenen visuellen Komponenten, sondern identifizierbare Zeichen müssen ganz verschwinden zugunsten von irregulären Kleinformen, die dank ihrer Materialität – dünne schwarze Linien auf weißem Grund –, dank ihrer (Selbst-)Ähnlichkeit als mehr oder weniger verschlungene Formen, aber vor allem dank der Anordnung – horizontale Sequenzen gleicher Länge sind untereinander gesetzt, an beiden Seiten bleibt ein Rand – wie Zeilen eines mit Schrift bedeckten Blattes wirken. Der Erzählung in Émergences-résurgences gemäß folgen auf die somnambule eine Linie Piktogramme, die aber als regellose keine Schrift bilden könnten, und dann die Schrift. Mit ihr ist das Verlangen nach ungesteuertem Linienirrlauf erst einmal eingeschläfert, jedoch nicht endgültig tot. Angedeutet werden darin die Alphabetisierung des Kindes als schließlich erfolgreiche Sozialisierung in einer primär oder sogar allein verbalen Kultur und die spätere Wiederentdeckung einer nicht alphabetischen écriture. Wie diese oder mit dieser taucht auch – so darf man das Narrativ wohl ergänzen – die Möglichkeit einer anderen symbolischen Artikulation wieder auf: In der Malerei und den unlesbaren Graphismen entstehen Pendants jener ersten Linie. Ob die fünf Zeilen ein Beispiel der regellosen Piktogramme sein sollen? Jedenfalls ist bemerkenswert, dass Michaux trotz der Emphase auf der einen Linie noch eine zweite Linienformation abdrucken lässt, die nun klar auf Schrift anspielt. Es scheint, dass die Anfänge seiner künstlerischen Betätigung nicht nur vom Konflikt der Medien Sprache und Bild geprägt sind, wie es das Motto andeutet,12 sondern eine Spaltung auch schon die früheste nicht-verbale Produktion prägt: in eine, die unzweideutig piktural sein wird, und in eine des Skripto-Pikturalen. Und neben beiden reißt – aller Polemik gegen Logozentrismus und allen Zweifeln an der Sprache zum Trotz – die literarische Betätigung nicht ab. Auch die tiefe Krise, als Michaux beim Sterben seiner Frau das Schreiben unmöglich ist, das Malen-Zeichnen ihm aber eine gewisse Erleichterung gewährt, ändert daran nichts:13 Für Schriftsteller und Schriftstellerinnen im 20. Jahrhundert ist Sprachskepsis nicht nur unvermeidlich, sondern selbst ein Movens

12  „Né, élevé, instruit dans un milieu et une culture uniquement du ‚verbal*‘ / je peins pour me déconditionner. [*et avant l’époque de l’invasion des images]“; OC III, 543. „Geboren, aufgewachsen und geschult in einem Milieu und einer Kultur einzig des ‚Verbalen‘*, / male ich, um mich zu entkonditionieren. [*und vor der Epoche der Bilderflut]“. Zeichen. Köpfe. Gesten, 5. (Übers. modif. von S. M. Die eckigen Klammern bezeichnen hier eine Fußnote. Sofern nicht anders angegeben, stammen Hervorhebungen, zusätzliche Anführungszeichen u. ä. in Zitaten jeweils aus dem Original.) 13  Er hat wohl eine Zeit lang nicht geschrieben, aber das schon vorher konzipierte Portrait des Meidosems entsteht in unmittelbarer Nähe zu diesem Ereignis und ist davon durchzogen, vgl. OC II, 1103–1106.

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2.2. Eine japanische Zeichenszene

literarischer Produktion. Michaux spricht davon, der Sprache den Rücken zu kehren,14 mehr mit Strichen als mit Worten voranzugehen, zu malen, um sich der verbalen Konditionierung zu entziehen, er attackiert die Sprache, insbesondere die geschriebene, nennt die Schrift ein vergiftetes Geschenk15 usw. Aber er hat sich – und das fällt angesichts seines Erfolges als bildender Künstler besonders auf – nie vom Schreiben verabschiedet. In frühen Texten kämpft er gegen die langue commune mit Neologismen und glossolalischer Poesie; aber wenn er später die Lexik selbst weniger angreift, heißt das nicht, dass er sich nicht weiterhin an der Sprache riebe. Diese Auseinandersetzung hat nur subtilere und in Verbindung mit Ikonischem und Skripto-Pikturalem vielfältigere Formen angenommen. Seine pauschalen Angriffe auf Sprache und Schreiben widerlegt er ständig performativ. Michaux findet nicht einen Ausweg aus Sprachzweifeln und -verzweiflung in Malerei und ‚abstrakter‘ Schrift oder gestischer écriture;16 vielmehr sind seine schriftstellerischen und seine graphisch-malerischen Aktivitäten produktiv, insofern sie die Herausforderungen des 20. Jahrhunderts an alle Künste annehmen, ihre medialen Bedingtheiten zu befragen – und mit diesen ihre kulturspezifischen in den Blick zu nehmen.

2.2. Eine japanische Zeichenszene In diesem Sinn präsentiert Émergences-résurgences auch einen nicht-europäischen Umgang mit dem Zeichnen und erzählt von Michaux’ Entdeckung der bildenden Kunst durch die Begegnung mit ‚zeichnungsfreudigeren‘ fernöstlichen Kulturen. Nach dem gedoppelten Anfang mit zwei Linienbildern und der Erzählung vom Verlust jenes ersten Graphierens ist die Anekdote vom amerikanischen Commodore Perry darstellungsstrategisch ein Neueinsatz: nun beim Fremden und Fernen. Autobiographisch soll die Erfahrung mit Japan, aber vor allem mit China eine Art Bekehrung zur bildenden Kunst bewirkt haben. Dieser Aussage ist nur bedingt zu trauen, aber sie vermehrt die künstlerischen Anfänge um einen weiteren17 und splittert den inszenierten Ursprung weiter auf. Die Anekdote erzählt von einem bemerkenswerten Gebrauch zeichnerischer Fähigkeiten oder genauer: von einer Szene des Zeichnens besonderer Art. Beim Versuch, die Öffnung der japanischen Häfen zu erzwingen, wartet der Flottenkommandant im Juli 1853 in Edo auf Vertreter der unwilligen Gegenseite. Statt mit diesen den Vertrag signieren zu können, sieht er sich auf einmal von lauter ‚kleinen Männern‘ umgeben, die nicht zwecks Handel gekommen

14  Vgl. OC II, 599. 15  Vgl. OC III, 544 und 549 f. 16  Mersmann spricht sogar von Flucht; vgl. Graphische Abstraktion. Das schriftikonische Konzept der Écriture bei Henri Michaux, in: dies.: Schriftikonik, (180–197), 183. 17  Darüber hinaus gibt es noch zwei negative Anstöße autobiographischer Art: zwei Fälle, in denen Michaux schmerzhaft mit seiner absoluten Unfähigkeit zu zeichnen konfrontiert ist. Er blamiert sich als junger Soldat vor seinem Offizier und als reisender ‚Barbar‘ vor einer jungen Japanerin; vgl. OC III, 661 und 666.

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sind, sondern zum Zeichnen.18 Kaum sind die amerikanischen Schiffe wieder auf See, zirkulieren in Tokio schon Drucke, die die seltsamen Dampf- und Segelschiffe zeigen, in allen Details samt der Langnasen an Bord. „Dans quel autre pays, pareille ‚réception‘?“19 In einer Situation, da Japan Beziehungen zu den westlichen Staaten aufgenötigt werden und es keine Chance zur Gegenwehr hat, ist dieses Zeichnen eine Art diplomatisches Handeln. Die Bedrängten willigen weder direkt ein noch verweigern sie sich ausdrücklich, sie registrieren erst einmal. Handeln und Handel werden aufgeschoben. Bei der (unvermeidlichen) Wiederkehr der Schiffe aber sind die Heimgesuchten vorbereitet. Das Zeichnen erfüllt die Funktion von Fotografien: Ganz schnell werden detaillierte Abbilder hergestellt20 und in Multiplikationsmedien verbreitet. Es schafft das Wertvollste überhaupt: Wissen. In diesem Sinn ist der ‚Empfang‘ nicht nur eine Art, sich gewaltlos, mit bewundernswert geschickten und für die Ankömmlinge scheinbar ehrenvollen Aktivitäten der Einschüchterung zu entziehen, sondern in höchstem Maß gewitzt: Denn die beste Art, die Feinde zu überwinden, ist nicht zu kooperieren, sondern sie zu kopieren. Eine bewährte (nicht nur) asiatische Kampftaktik.21 Die Zeichnungen der herbeigeeilten Japaner selbst entsprechen hier ganz der europäischen Bildkunst; sie tun, was alle Modernen, Michaux inklusive, an dieser schmähen, nämlich repräsentieren. Sie geben mimetisch sichtbare Dinge wieder, halten sie fest, bevor sie wieder verschwinden, reproduzieren sie so getreu wie möglich in zwei Dimensionen. Und damit schaffen sie die Grundlage, das Repräsentierte selbst herzustellen: Dampf- und Segelschiffe samt Ausrüstung wie canots (und canons). Das zeichnerische ‚Abbild‘ ist weder respektvolle Geste noch erstaunliche Manifestation von Begeisterung oder Neugier; es erlaubt vielmehr, die Machtausübung umzukehren: Die ‚Nachahmung‘ gesehener fremder Objekte dient als Modell für den Bau eigener Verkehrs(- und Vernichtungs)technik.22 Zeichnen antwortet hier auf die Androhung von Gewalt, und es schafft die Voraussetzung für eine ebensolche Antwort. So gesehen, nimmt es nicht wunder, dass Michaux seine Konversion zur Malerei doch lieber mit der chinesischen verbinden möchte.23 Seit er chinesische Malerei kennengelernt habe, sei er endgültig für die Welt der Zeichen und Linien gewonnen („je suis acquis définitivement au monde des signes et des lignes“24). Der Reim von signe und ligne ist dabei mehr als ein punktuelles phonetisches Spiel; während Michaux’ Darstellung nach in der westlichen

18  In der Originalquelle, die Michaux aber vielleicht nicht kannte, ist die Rede von Künstlern; vgl. OC III, 1612. 19  OC III, 548. „In welch anderem Land ein solcher ‚Empfang‘?“ Zeichen. Köpfe. Gesten, 11. 20  Die Geschwindigkeit und Geschicklichkeit hebt die Originalquelle hervor. 21  Das Stereotyp der Japaner als emsiger Kopierer westlicher Technologie war zumindest zur Zeit der Abfassung von Émergences-résurgences noch dominant. 22  Japan war bekanntlich keine östliche Friedensmacht. In dem frühen Reisebuch Un Barbare en Asie ist Michaux’ Bild des Landes ein durchweg negatives; die Menschen dort scheinen ihm nur von Disziplin, Drill, militärischem Gebaren, Unterdrückungswillen, Kontrollwahn geprägt. Sie sind eine Art asiatischer Preußen, denen der kategorische Imperativ im Leib sitzt. Michaux hat später Schwierigkeiten mit diesem Buch, gerade für das Japanbild entschuldigt er sich auch halb, aber er zieht das Buch nicht zurück. Die Perry-Anekdote vermittelt ein positiveres Bild des Landes, ist aber auch nicht ohne Ambivalenzen. 23  Darin liegen Graphieren und Kriegsführung freilich mitunter auch nahe beisammen. Vgl. unten, 200. 24  OC III, 548.

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2.3. Linien und Zeilen: nach Klee

Kultur die Zeichen die irrende Linie verdrängen, haben Japan und China ein anderes Verhältnis sowohl zum Zeichnen wie zum Zeichen: Hier bestehe kein Konflikt zwischen Malen/ Zeichnen und Schreiben oder Graphischem und Graphematischem; beides heißt hier signes graphiques. Und die chinesischen Ideogramme fungieren als Gegenmodell zum Alphabet, ja, gelten sogar als potentielle Universalschrift. Damit folgt Michaux der Spur jahrhundertelanger Mythisierung und partieller Missverständnisse; andererseits aber geht er mit Ideogrammen auch in ganz unorthodoxem Sinne um.25

2.3. Linien und Zeilen: nach Klee Dem Muster, eine semi-fiktionale autobiographische Erzählung von der persönlichen Entdeckung der bildenden Kunst mit der Aufmerksamkeit auf Linien und deren einfallsreicher Beschreibung zu verbinden, folgt schon fast zwanzig Jahre vor Émergences-résurgences der kleine Text Aventures de lignes.26 Er zeigt, in welchem Maße Michaux einerseits Klee verpflichtet ist, deutet aber auch zumindest an, wo sich ihre Wege trennen. Für den Schweizer Maler bildete die Linie mit all ihren Möglichkeiten ein, wenn nicht das Gravitationszentrum.27 Er hat ihr eine geradezu unerschöpflich scheinende Fülle von Varianten abgewonnen und mehr als irgendjemand darüber geschrieben – vor Michaux. Dieser schließt, wie bereits ersichtlich, in mancher Hinsicht an Klees Linienpraktiken an.28 Seltener untersucht wird indes, wie er Klees Verbalisierungen aufgreift und ihre literarischen Potentiale steigert – zu einem genuin Michaux’schen Text.29 In der Selbstdarstellung Quelques renseignements sur cinquante-neuf années d’existence von 1959 behauptet Michaux, er habe Malerei zunächst gehasst; sie schien ihm nur überflüssiger Weise die sichtbare Welt zu verdoppeln.30 Erst Klee, auf dessen Werk er 1925 gestoßen sei, später Max Ernst und Giorgio de Chirico hätten ihn die Idee der Malerei überhaupt akzeptie25  Vgl. unten, 105–127. 26  OC II, 360–363; vgl. dazu ebd., 1190–1192, sowie Bonnefoit: „Linien-Abenteurerei“ zwischen Dichtung und Wahrheit – Das Klee-Bild von Henri Michaux und sein Fortwirken in Frankreich, in: Gregor Wedekind (Hg.): Polyphone Resonanzen. Paul Klee und Frankreich – La France et Paul Klee, Berlin/München: Deutscher Kunstverlag, 2010, 159–179. 27  Vgl. Bonnefoit: Die Linientheorien von Paul Klee, und z. B. Mainberger: ‚Aktive‘ Linie – kreatives System. Zu Titeln und Register beim späten Paul Klee, in: Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft 50/1 (2005), 111–137. 28  Vgl. z. B. Bonnefoit: „Schriftbilder“ im Werk von Paul Klee und Henri Michaux, in: Zentrum Paul Klee (Hg.) Taking a Line for a Walk, 148–159. 29  Linien-Abenteuer werden in Michaux’ bimedialem Tun immer wieder gesucht und beschworen, vgl. z. B. Lecture, OC II, 332; Dessiner l’écoulement du temps, OC II, 373; Émergences-résurgences, OC III, 551 und 602; Essais d’enfants, dessins d’enfants, OC III, 1334; … Peindre, OC III, 1400. Der Aventures betitelte Text von 1937 (vgl. OC I, 684–688, und 1293 f.) hat dagegen nichts mit Linien zu tun. 30  „…‚comme s’il n’y avait pas encore assez de réalité, de cette abominable réalité […]. Encore vouloir la répéter, y revenir!‘“ OC I, (CXXIX–CXXXV) CXXXII; „‚als gäbe es nicht genug Wirklichkeit, genug von dieser abscheulichen Wirklichkeit […]. Sie auch noch wiederholen wollen, auf sie zurückkommen!‘“. Vgl. auch Émergences-résurgences, OC III, 646 und 1614.

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ren lassen.31 Offenbar geht ihm an ihren Arbeiten jener Klee’sche Fundamentalsatz auf, dass Kunst – auch und gerade bildende – nicht das Sichtbare wiedergibt, sondern sichtbar macht. Zwei Jahre später veröffentlicht Michaux selbst erstmals eine Zeichnung: jene somnambule Linie,32 und fertigt jene bereits genannten ersten essais d’écriture, ‚Alphabet‘ und ‚Narration‘, an.33 Bemerkenswert sind die von ihm berichteten Bedingungen für die Genese dieser schrift­ artigen Bilder. Demnach ist die Produktionssituation ausschlaggebend: Beim Versuch, nach Ecuador zu reisen, muss er monatelang in einem Hotelzimmer auf die Abfahrt des Schiffes warten. In einem Zustand der Suspension, an einem Nicht-Ort, beginnt er definitiv zu malen und zu zeichnen.34 Wenn das eine Legende über seinen künstlerischen Anfang ist, dann doch eine gut erfundene. Denn nichts könnte Michaux’ visuelle Arbeiten überzeugender plausibilisieren als ihre Geburt aus einer provisorischen Existenz und einem Warten von ungewisser Dauer. Zeichnen geht hier nicht aus einer Intention hervor, es emergiert vielmehr aus der Beschäftigungslosigkeit, aus einem Mangel an Fokussierung und Kontext, ist sichtbare Manifestation dessen, was bestenfalls Passage sein kann, eines Leerlaufs oder Nullzustands von Tätigkeit und Erfahrung. Der irrenden Linie ist die Ziellosigkeit anzusehen und ihrer Beschreibung auch ausdrücklich zu entnehmen, aber die Szene, aus der sie hervorgegangen ist, lässt Michaux in Émergences-résurgences unbestimmt. Dabei machen v. a. diese Faktoren die Unterschiede zum traditionellen Zeichnen aus. Kenner mögen Blätter eines Renais­sanceKünstlers finden, die auf der Ebene der Phänomenalität jener somnambulen Linie verwandt scheinen oder von denen sich zumindest Ähnliches wie über diese sagen ließe; die Differenz aber zeigt sich beim Blick auf die Szene des Graphierens als ganze. Denn was in sie eingeht, ist z. B. im einen Fall eine suspendierte Virtuosität, im anderen ein (im traditionellen Sinn) Nicht-Zeichnen-Können.35 Eine Kompetenz aussetzen zu lassen und sie gar nicht zu haben, sind aber zwei sehr verschiedene Dinge. Die aus der Kontrolle entlassene Hand bringt unter dieser Voraussetzung jeweils etwas ganz Anderes hervor. Linien-Künstlerinnen und -Künstler des 20. Jahrhunderts verschieben ihre Aufmerksamkeit gern in Richtung auf das Performative. Die Pointe liegt dann im Entstehungsprozess, nicht im sichtbaren Resultat. Das jeweilige Verfahren zur Spurenerzeugung macht das Werk aus. Bei Michaux muss man das Vorgehen dagegen meist aus Andeutungen rekonstruieren. Aventures de lignes erscheint 1954 in der französischen Ausgabe der Klee-Monographie von Will Grohmann als Avant-propos.36 Wie viele Texte Michaux’ hat auch dieser eine Dop31  Zu Zweifeln an der ‚Bekehrung‘ zur Malerei vgl. auch Jean-Pierre Martin: Henri Michaux, Paris: Gallimard, 2003, 149. 32  Vgl. oben, Abb. 1. 33  Abbildungen finden sich u. a. in Alfred Pacquement: Henri Michaux, peintures, Paris: Gallimard, 1993, 22–23. 34  Vgl. Chronologie 1927, OC I, LXXXIX. 35  Michaux hat in Émergences-résurgences öfter seine absolute Unfähigkeit im traditionellen Zeichnen betont. Die erwähnten biographischen Anekdoten (vgl. oben, 45, Anm. 17) stehen allerdings nur in der nicht publizierten Erstfassung. 36  Will Grohmann: Paul Klee, Stuttgart: W. Kohlhammer/Paris: Éditions Flinker, 1954, 5–8. Vgl. dazu ­Bonnefoit: „Linien-Abenteurerei“ und Mainberger: Schreiber-Zeichner: zum Beispiel Henri Michaux, in: Maria Heilmann/Nino Nanobashvili/Ulrich Pfisterer/Tobias Teutenberg (Hg.): Lernt Zeichnen! Techniken zwischen Kunst

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2.3. Linien und Zeilen: nach Klee

pelfunktion: Er ist verbaler Begleiter – Parergon zum Werk eines anderen Künstlers sowie Paratext zu kunstwissenschaftlicher Prosa – und tendenziell eigenständiger literarischer Text. Beim Betrachten von Klees Bildern in einer Ausstellung sei erst allmählich das Liniennetz auf ihnen zutage getreten; anders als die eigentümlich material wirkenden Farben zeigt es sich offenbar nur einem zweiten, eindringlicheren Blick. Im Text entspricht diesem ein Wechsel von einem rückblickend erzählenden, im Imperfekt verfassten Teil zu einem deskriptiven, typisierenden und enumerativen: Von den Linien handelt der sozusagen analytische und entsprechend im Präsens verfasste umfangreiche Mittelteil. Er reicht bis dorthin, wo eine andere graphische Kategorie Aufmerksamkeit verlangt: nach den Linien die Flecken. Sie werden mit Ursprung und Archaischem konnotiert. Dunkle Verborgenheit und Geheimnis, v. a. aber ihre Phänomenologie – „ses taches qui paraissent encore maculatrices, venues du fond“37 – verbinden sie mit den Farben. Diese sind selber Flecken und offenbar das, woraus die Linien hervorgehen. Die Textbewegung scheint sich dementsprechend zu schließen. Und vielleicht ist es dieses Zurückweisen auf den Anfang, was den Schreibenden auf einmal innehalten lässt: „Je m’arrête.“38 Nicht nur mit der Metaphorik von der mütterlichen Ursprungshöhle, zu der die dunklen Flecken geführt haben, auch mit der Reprise des Anfangs scheint eine Grenze erreicht; eine typographische Punktlinie unterbricht das Textbild und verhindert gewissermaßen ein mögliches weiteres Raunen und esoterische Anwandlungen. Zwischen der Rede von den Farben und der von den Flecken also erstreckt sich die von den Linien. Der Passus enthält achtzehn Abschnitte oder Typen, lose und auf verschiedene Arten charakterisiert, ohne strikte Kriterien ausgewählt und aneinandergereiht. Die einzelnen Arten werden nicht simpel nach gleichen Merkmalen klassifiziert, sondern eher improvisierend aufgesammelt und gruppiert. Sie bilden eine variabel gebaute, rhythmisch strukturierte Sequenz: zuerst Linien im Plural, dann im Singular, doch nicht ohne Abweichungen auch von dieser Regel: „Celles… Celles… Les… Les… Celles… Les… Les… Une… Une… Une… Lignes… Voici une… Une… Une… Une… Une… Une… […] Une…“ heißen die Anfänge der Abschnitte. Litaneihaft werden die vielen verschiedenen Linienarten nacheinander aufgerufen. Ihre vielfältigen Eigenschaften sind dabei nicht nur Klee’schen Bildern entnommen, sondern auch dessen Verbalisierungen, namentlich in der Schöpferischen Konfession und im Pädagogischen Skizzenbuch: so die promenierenden und die reisenden Linien oder die Linie, die einer anderen begegnet.39 Bei Klee spaziert ein Punkt,40 die Linie ist definiert als Unterwegssein; die Vorstellung von ‚Linien-Abenteuern‘ könnte diesem Ansatz kaum näher sein. Andere

und Wissenschaft 1525–1925, Passau: Dietmar Klinger, 2015, 139–149. Das Buch von Grohmann erschien erneut als Klee. 74 Œuvres de 1908 à 1940, Paris: Éditions Flinker, 1974. 37  OC II, 363. „Flecken, die wiederum wie aus der Tiefe herausgewachsene Stockflecken aussehen“; Linien– Abenteuer. Über Paul Klee, übers. von Kurt Leonhard, in: Henri Michaux: Das bildnerische Werk, hg. von Wieland Schmied, München: Bayerische Akademie der Schönen Künste München, 1993, (53–57) 57. 38  OC II, 363. „Ich halte inne.“ Ebd., 75. 39  Das ist öfter bemerkt worden. – Die deutsche Übersetzung wäre in dieser Hinsicht zu korrigieren: Es gibt keinen Grund, die Adjektive oder Partizipien zu substantivieren, denn sie alle qualifizieren die Linie(n). 40 Im Pädagogischen Skizzenbuch von 1925.

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Linien mischen sich mit der „Punktsaat“ (Klee): „Celles qui vivent dans le menu peuple des ­poussières et des points“,41 wieder andere bilden eine hybride Musiknotation: „Sinueuse, une ligne de mélodie traverse vingt lignes de stratification.“42 Wenn sie mit dem Träumen assoziiert wird, entspricht das einem Topos der französischen, surrealistisch imprägnierten Klee-Rezep­ tion. Annäherung an die Kinderzeichnung und die Erwähnung des biographischen Moments Sklero­dermitis zeugen des Weiteren von kurrentem Wissen über den Schweizer Künstler. ­Typisch für Michaux aber sind seine rituell und tendenziell obsessiv wirkenden Repetitionen und Serien. Nicht nur seine Bilder lassen sich als Radikalisierung Klee’scher Prinzipien sehen, auch dieser Text liest sich wie eine Hybridisierung der „Reise ins Land der besseren Erkenntnis“43 in der Schöpferischen Konfession. Aus der beschaulich-heiteren Landpartie wird ein Trip ins urbane Gewimmel, aus der ruckelnden Fahrt der nervöse Gang des Metropolenbewohners. Klees kleine Linien-Geschichte koppelt Strategien der Erzeugung von narrativer Spannung und sprachlicher Unbestimmtheit mit der sukzessiven Nennung von graphiktheoretischen und v. a. linientypologischen Begriffen, und zwar aufsteigend vom Einfachsten (Punkt, Linie) zum Komplexeren. Über den toten Punkt hinweggesetzt sei die erste bewegliche Tat (Linie). Nach kurzer Zeit Halt, Atem zu holen (unterbrochene oder bei mehrmaligem Halt gegliederte Linie). Rückblick, wie weit wir schon sind (Gegenbewegung). Im Geiste den Weg dahin und dorthin erwägen (Linienbündel). Ein Fluß will hindern, wir bedienen uns eines Bootes (Wellenbewegung). Weiter oben wäre eine Brücke gewesen (Bogenreihe). Drüben treffen wir einen Gleichgesinnten, der auch dahin will, wo größere Erkenntnis zu finden. Zuerst vor Freude einig (Konvergenz), stellen sich allmählich Verschiedenheiten ein (­selbständige Führung zweier Linien). Gewisse Erregung beiderseits (Ausdruck, Dynamik und Psyche der Linie).44

Ein späterer Abschnitt versammelt sie variierend als einfache Aufzählung, ohne die Suggestion einer Fortbewegung. Die ‚Reise‘ wird indes nicht als vergangene erzählt, sondern gemeinsam mit dem Rezipienten im Augenblick des Lesens unternommen; sie ist eher szenisch als narrativ angelegt. Sie hat weder ein Ziel, noch findet sie in einem bestimmten Raum statt: Eine Hand hat vielmehr eine Fläche beschrieben, und ein Auge folgt den Spuren dieses Tuns. Die bereiste Gegend entsteht in der Folge der Episoden (und der Sequenz der Begriffe) im Akt der Lektüre. Reisen heißt hier lesen und lesend die nur von Stichworten evozierte Landschaft sehen. Schritt für Schritt, Satz für Satz geht sie aus dem Vollzug der Bewegung hervor: aus der Performanz. Nur am (vorläufigen) Ende der Reise öffnet sich mit dem Erzähltempus par excellence der Raum der Erinnerung. Die im Text aufgerufenen physiologisch-motorischen Bewegungen (Fortbewegung, Atmung, Temperaturempfindung) und die psychische Bewegung (Wut) werden zur Wendung in die Vergangenheit: zur Erinnerung an Fieber in der Kindheit. Klees energetische Linienlehre hat hier – ihrem Titel ‚Konfession‘ gemäß – zumindest das Potential zur Autobiographie.

41  OC II, 361. „Solche, die im Kleinvolk der Staubflocken und der Punkte leben“; Linien-Abenteuer, 53. 42  Ebd., 362. „Eine gewundene Linienmelodie durchquert zwanzig Linienschichten.“ Ebd., 56. 43 Klee: Das Bildnerische Denken, hg. v. Jürg Spiller, Basel/Stuttgart: Schwabe, 1971, 76. 44 Ebd.

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2.3. Linien und Zeilen: nach Klee

Michaux verfährt ähnlich, aber anders als bei Klee entfaltet sich seine Skala der Linien ganz ohne einen Gehend-Sehenden. Statt einer Formen generierenden Fortbewegung wechseln von Abschnitt zu Abschnitt die Anblicke: Une ligne pour le plaisir d’être ligne, d’aller, ligne. Points. Poudre de points. Une ligne rêve. […] Une ligne attend. Une ligne espère. Une ligne repense un visage. Lignes de croissance. Lignes à hauteur de fourmi […] Voici une ligne qui pense. Une autre accomplit une pensée. Lignes d’enjeu. Ligne de décision. Une ligne s’élève.45

Wie beim Besuch einer Ausstellung springt die Imagination von Bild zu Bild und verweilt bald länger, bald kürzer, je nachdem, wie viele Qualifizierungen einer Linie es zu lesen gibt. Die Beschreibungen des zu Sehenden sind dabei fast immer Animationen: Die Linien werden gestalthaft wahrgenommen, als Menschen in Bewegung, Insekten, sprechende Mienen oder als Naturgeschehen wie Wachsen und Keimen. Zoo- und Anthropomorphisierungen abstrakter Formen, vor allem aber ihre Fusion mit Vegetabilem finden bei Klee in den Bildern statt – Michaux bemerkt selbst den Primat des Pflanzlichen –, und sie werden unterstützt von den suggestiven Titeln. Belebung ist hier auch eine Sache der Sprache; die Titel dürften als Intertexte bei Michaux’ Sprachfindungen mitgewirkt haben. An einer Stelle geht die Evokation Klee’scher Gestalten gleitend in die von Michaux’ Gedichten über; der Ausdruck „lignes-signes, tracé de la poésie“46 lässt bildende Kunst, Schrift und Dichtung bis zur Ununterscheidbarkeit zusammenrücken, und die folgende Kennzeichnung gilt lignes, denen Texte des Verfassers und nicht zuletzt der vorliegende selbst entsprechen: „Les folles d’énumération, de juxtapositions à perte de vue, de répétition, de rimes, de la note indéfiniment reprise“.47 Die deutsche Übersetzung muss vereindeutigen, was im Französischen immer einen Doppelsinn trägt: Das Wort ligne verbindet als Linie und Zeile Zeichnen und Schreiben und beide mit der Art Texte, für die der Zeilenwechsel konstitutiv ist: mit Liste und Gedicht. Michaux’ Poesie speist sich fast immer aus Aufzählungen. Dieser Text zeugt mit seiner ausgebreiteten Fülle vom Versuch, möglichst viele Linien-Varianten zu nennen und sich möglichst wenige entgehen zu lassen. Er hat etwas von einem Katalog, wie er sich für Kunstausstellungen mit begleitenden Buchpublikationen gehört, doch freilich ist er ungeordnet, ohne Alphanumerik, und erlaubt nicht, etwas in der üppigen Sammlung zu finden. Wer eine bestimmte Linienart heraussuchen will, muss alles noch einmal lesen. Aventures de lignes würde man einen Gelegenheitstext nennen, wenn Michaux’ Tätigkeit, die malerisch-graphische wie die literarische, nicht immer wieder ihren Anstoß ‚von außen‘ erhalten hätte. Émergences-résurgences zufolge ist der externe Impuls – der Zufall, die Bemer45  OC II, 362. „Eine Linie nur aus Vergnügen, Linie zu sein, als Linie zu laufen. Punkte. Pünktchenpulver. Eine Linie träumt. […] / Eine Linie wartet. Eine Linie hofft. Eine Linie erinnert sich an ein Gesicht. / Wachstumslinien. Linien wie Ameisen […] / Da ist eine Linie, die denkt. Eine andere vollendet einen Gedanken. Linien, die sich aufs Spiel setzen. Linien, die sich entschließen. / Eine Linie erhebt sich.“ Linien-Abenteuer, 56. 46  OC II, 361. „Liniensignale an den Wegrändern der Poesie“; ebd., 56. 47  Ebd. „Solche, die süchtig nach Aufzählung sind, nach Aneinanderreihung ohne Ende, nach Wiederholungen, Reimen, nach einer endlos wiederkehrenden Note“. Ebd.

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kung oder Frage eines Beobachters, die Gelegenheit, ein unerwarteter Vorschlag – geradezu das Prinzip dieser Produktivität. Sie lässt sich von irgendetwas auf den Weg bringen, entdeckt und entwickelt ihre Möglichkeiten à propos. Das relativiert immer wieder und nicht nur bei Texten den Werkstatus.48 Wenn die Behauptung des äußeren Anstoßes nicht ihrerseits nur wieder eine Stilisierung ist, dann besagt sie zumindest dies: Die künstlerische Betätigung, gleichgültig, in welchem Medium und welchen Genres, hat tendenziell immer den Charakter der Äußerung ad hoc; ob Malen, Schreiben oder etwas dazwischen: Kunst heißt hier Improvisieren. Metaphern dafür sind ‚Reisen‘ und ‚Abenteuer‘. In Michaux’ Œuvre haben sie reichhaltige Konnotationen. In diesem Fall sind die Reisen in phantastische oder reale Länder in die Räume einer Ausstellung verlegt, und die Abenteuer finden beim Betrachten und Lesen statt. Beide Vokabeln sind kunsttheoretische Stichworte, denn der Avant-Propos zu Klee enthält wie andere mit Kunst befasste Texte Michaux’ – zu Matta, Zao Wou-Ki, Picasso, de C ­ hirico, chinesischer Kalligraphie u. a. – etwas zu dem verhandelten Gegenstand, aber auch und gerade Poietologisches zu Michaux’ eigener Arbeit. ‚Reise‘ und ‚Abenteuer‘ akzentuieren den Bewegungscharakter: die stete Bereitschaft für Unerwartetes, Überraschungen, nicht Geplantes und die Nicht-Planbarkeit im Ganzen – wie es schon die frühe Irrlinie zeigt und ihre retrospektive Betrachtung hervorhebt. Aber zugleich lassen sich Vor- und Zufälle nur in bestandene, erzählbare oder post festum anschaubare ‚Abenteuer‘ verwandeln, wenn sie auf entsprechende Fähigkeiten der Transformation treffen. Zum Improvisieren gehört immer ein Können, eine Routine. Und die Umwandlung von bloß Kontingentem in Kunst hat ihre Grenzen: Der tödliche Unfall von Michaux’ Frau setzt die Schreibfähigkeit außer Kraft. Im visuellen Medium aber hat – zumindest retrospektiv gesehen – das schreckliche Ereignis zu einer neuen Art der Malerei geführt. Zu den Voraussetzungen eines Kunstbegriffs, für den das Improvisieren offenbar zentral ist, erfährt man in Aventure de lignes allerdings nichts; nach Überlegungen zu seinen Implikationen muss man an anderen Stellen suchen.

2.4. Unterwegs zu einer Poietik der Geste Zeichnerische und malerische Linien erscheinen in diesem Text gestalthaft; sie sind Akteure in extrem verknappten Mini-Szenen: Die ‚Handlungen‘ gehen dabei oft nicht über die mit einem einzigen Verb benannten hinaus, zu einer raumzeitlichen Situierung und Interaktion kommt es meist nicht. Eine Erzählung mit Plot oder ein Miniaturdrama kann daraus nicht werden. Ein anderer, etwas früherer Text Michaux’ verfährt umgekehrt: Alle möglichen fiktiven Akteure in knappsten Erzählungen und ‚Szenen‘49 wirken immer wieder wie zeichnerische 48  Vgl. auch unten, 169. 49  Die gattungsmäßige Identität der Texte ist – wie meist bei Michaux – schwer zu bestimmen: Narratologisch sind die hier zu betrachtenden im Sinne Genettes iterative Erzählungen, d. h., sie erzählen einmal, was wiederholt geschieht; sie stehen im Präsens; beides lässt sie wie Beschreibungen wirken. Von Szenen kann man nicht im dramentheoretischen Sinn sprechen. Vgl. auch unten, 59, Anm. 92.

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2.4. Unterwegs zu einer Poietik der Geste

oder malerische Linien. Sie sind linienförmig, bewegen und gruppieren sich wie Striche auf Papier, ähneln in ihrer Konsistenz und ihrem Verhalten dem von Malmitteln, wobei sie meist ex negativo an dergleichen erinnern, nämlich durch wunderliche Außerkraftsetzungen der physikalischen Gesetze. Die Rede ist von der Sammlung literarischer Kurztexte, deren Titel – invers zur Zeichnung namens ‚Narration‘ – eine Gattung der bildenden Kunst aufruft: Portrait des Meidosems von 1948. Die darin evozierten Räume sind nicht mehr die des Reisens, aber doch die eines befremdlichen Landes, und außerdem die der Malerei, die sozusagen in den Texten umgeht.50 Die Erstveröffentlichung enthielt auch Lithographien mit unbestimmbaren, oft tier- oder menschenartigen Gestalten auf schwarzem Grund, und z. T. lassen sich Texte und Bilder direkt aufeinander beziehen.51 ‚Meidosems‘ und ‚Meidosemmes‘ sind undefinierbar; die Wortschöpfung mag die griechischen Wörter eidos (Bild), sēma (Zeichen), mē (nicht), mēdeis (niemand) verknüpfen, anagrammatisch das lateinische Wort idem (der-/dasselbe) und moi (ich) enthalten, die Ini­ tiale M mag auf den Namen ihres Erfinders und/oder auf den seiner Frau52 hinweisen oder das Possessivpronomen mon (mein) abkürzen, die Silbe [:emme] klingt wie aime (liebt),53 me heißt ‚mir‘/‚mich‘, id oder Id ist die französische Übersetzung des Freud’schen ‚Es‘… Meidosem ist also ein Kofferwort, zu übersetzen vielleicht, wenn überhaupt, mit ‚(N)Ich(t)Bild-Zeichen‘ oder ‚Nicht-(M)Ich-Bild-Zeichen‘ oder etwas dieser Art. Unter Klees späten Linienzeichnungen gibt es die Serie der ‚Eidola‘54 genannten; vielleicht waren sie auch in der Ausstellung zu sehen, die Michaux 1948 besucht hat und auf die Aventures de lignes anspielt. Sie rufen oft Gestalten aus dem Reich der Toten auf und geben ihnen Titel, die an die vormalige Bedeutung der nun zu Schemen Gewordenen erinnern; „weiland General“, „weiland Schauspielerin“ u. ä. Im Vergleich mit dieser Serie geht Michaux in seinen Meidosem-Bildern wie in der Sprachverwendung wieder seinen typischen Schritt über Klee hinaus: in die Negation, ins Groteske, nicht Identifizier- und nicht Übersetzbare. Dieses ‚nicht‘ ist aber kein ‚nicht mehr‘, sondern – und auch das ist typisch – ein ‚noch nicht‘: Michaux’ Gestalten haben weniger mit Vergangenheit und Erinnerung zu tun als mit Zukunft und einem möglichen Werden. Wie sehen Meidoseme aus, wie verhalten sie sich? Eine Frage ziemlich am Anfang der Quasi-Ethnographie ihres seltsamen Landes lautet: Können vierunddreißig Lanzen durcheinander ein Wesen ausmachen? (Man stellt sich Paolo Uccellos Lanzengewirr auf den Bildern der Schlacht von San Romano vor, Stangen wie Mikadostäbe…) Die Antwort ist Ja, denn ein Meidosem hat sein Eins-Sein zerstört und damit die Spaltung zwischen Ich oder Wir und einem Gegenüber: Die Lanzen gegen Feinde durchdringen ihren eigenen Körper. Eine Lanze 50  Vgl. OC II, 1104. 51  Vgl. die Abbildungen in OC II, 245–258, sowie ebd., 1125–1130. 52  Zum Zusammenhang ihres tödlichen Unfalls mit der Entstehungsgeschichte und ggf. auch Interpretation des Textes sowie einer Lithographie und einer Zeichnung vgl. OC II, 1105 f. 53  Vgl OC II, 1107, Anm. 1. 54  Eidōlon: Simulacrum, Phantasma, Gespenst, Erscheinung, Trugbild, Götzenbild, Idol, Einbildung, Phantasie, Bild (das sichtbare Bild im Unterschied zur unsichtbaren Idee)...

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entsteht auch aus einer Nase, formt sich zur Balancierstange, mit der Meidoseme gehen, und zwar, um nicht abzustürzen, zum Zug formiert. Überhaupt ziehen sie gern im Gänsemarsch auf, kommen scharenweise, einer nach dem anderen.55 Sie nehmen die Form der Blase an, um zu träumen, die der Liane, um sich fortzubewegen.56 Sie sind leichte Fäden, die sich danach sehnen, sich umeinander zu schlingen, sie warten auf den Luftzug, der sie hochhebt. Ein Meidosem biegt sich um und um, wirft sich zurück wie ein Lasso.57 Sie kennen keine Umgrenzung; und tatsächlich gehen die gemalten Wesen auf Michaux’ Lithographien aus Strichen hervor, ganz ohne gezogenen Kontur. Als hundertfache Fäden werden sie krampfartig von elektrischem Zittern durchlaufen; damit reagieren sie auf die feste Welt.58 Extreme Elastizität ist ihre Lust; sie sind fest oder flüssig je nach ihren Gefühlszuständen.59 Dehnbar und biegsam ändern sie ständig die Form, um eine größere, schnellere zu suchen, aber nur vorübergehend, sie kehren gern zum Ausgangszustand zurück; was sie wollen, ist intensiver leben. Die Gestaltwechsel sind unzählbar: Von einem Nebel zu einem Stuhl gibt es unendliche Passagen.60 Mancher hat mehr Arme als der Krake, jeder erscheint mit Beinen und Händen bis zum Hals, aber sie sind nicht auf Fang aus. Ihr Kopf verzweigt und verästelt sich. Das Fließen bestimmt ihr Dasein; es ist ihre Art, affiziert zu werden. Sie sind transparent: Man sieht ihre Wirbelsäule unterm Ektoplasma durchscheinen, aber sind es Wirbel?61 Haben sie nicht eher einen weichen Körper? Ist es nicht, wie wenn ein Traktor auf den Furchen eines nicht zu Ende gepflügten Feldes anhält? Leichtigkeit charakterisiert besonders die weiblichen Meidoseme: Eine begegnet auf langen dünnen, gebogenen Beinen, groß und graziös.62 Andere steigen Bäume hoch, innen, mit den Säften, um ihre geringe feste Form in Zweigen, Blättern, Moosen und Stielen zu verlieren. Und sie steigen hinunter in die Wurzeln, in die Erde. In diesem Auf- und Nieder findet Zeugung statt. Leicht sind die Meidoseme auch, wenn sie, Fasern und Fäden nach hinten gelegt, als Trupp mit Fallschirmen herabkommen. Sie schweben leicht schräg herunter, mit kleiner Abdrift von der Senkrechten.63 Dabei sind sie ganz unbesorgt, denn bis zum Aufprall bleiben ihnen noch ein paar Sekunden: Seelenruhe ist eine ihrer großen Stärken. Mehr noch als die Bewegung nach unten zeichnet sie die nach oben aus: Meidoseme sitzen auf Dächern und Vorsprüngen, auf hohen Leitern, sie können nicht am Boden bleiben, steigen, sobald sie Nah-

55  Vgl. OC II, 215; vgl. auch ebd., 203. Derartige Formationen meint man später in den Zeichnungen von Saisir zu finden, vgl. z. B. OC III, 964 f. 56  Vgl. OC II, 202. 57  Vgl. ebd., 216. 58  Vgl. ebd., 203 f. 59 Diese matière-émotion (Michel Collot) erhält zu Recht immer wieder Aufmerksamkeit. Vgl. auch Mathieu Perrot: „Donner du mou»: le mal et le mou dans la poésie d’Henri Michaux, in: Céline Cadaureille/Emma Viguier (Hg.): La dynamique du mou, Toulouse: Presses universitaires du Midi, 2016, 65–81. 60  Vgl. OC II, 208 und 214. 61  Vgl. ebd., 209–211. 62  Vgl. ebd., 203. 63  Vgl. ebd., 212 f. Man mag an die Atome in der antiken Lehre vom clinamen denken; vgl. Évelyne Grossman: La défiguration. Artaud – Beckett – Michaux, Paris: Les Éditions de minuit, 2004, 100–103.

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rung zu sich genommen haben, wieder nach oben. Sie ähneln Vögeln. Sie genießen Luftwirbel; manche sind wie Raketen, wie Geschosse, so schnell, dass ihnen das Auge nicht folgen kann.64 In den Himmel fliegen, ohne Kopf, nichts als Flügel sein ist das Inbild ihres Glücks – und das Schlussbild der Textsammlung. Permanente Metamorphosen also, Formwechsel wie bei Amöben, Gleiten mit und in Flüssigkeiten wie Mikrolebewesen im Wasser, unindividuierte Vielzahl wie bei Ameisen, tendenzielle Schwerelosigkeit wie bei Vögeln und Insekten, engelhafte Wesen am Ende, doch ganz ohne Botenfunktion und menschliche Gestalt,65 pures Fliegen: Verwandlung in die Flugbahn selbst, Überwindung jeglicher physikalischer und physiologischer Gesetze… Dem lassen sich ähnliche Identitätswechsel auch in anderen Texten zur Seite stellen: Ein Ich z. B. war nicht nur Ameise, sondern auch deren Weg. Es wird nacheinander Boa, Wal, Harpunierer, Boot, Kapitän, Kabel, Planken, Stachelhäuter u. a.66 Dergleichen Wesen haben sich die kindlich polymorphen Lustmöglichkeiten bewahrt, kommen ohne feste Identität aus, lassen sich nicht definitiv von Tieren, Pflanzen, Artefakten, Materie unterscheiden: Diese animots – ‚WorTiere’, Seelenworttiere, Lebendwörter – können alles sein und alles werden.67 Sie sind keine Organismen mit Zeugung, Geburt und Tod; dergleichen ist ausgelagert, außer Kraft gesetzt. Sie haben keinen festen Körper mit klar unterscheidbarem Innen und Außen, sondern klaffen auf, sind gehöhlt und durchlöchert, vom Leeren durchdrungen; sie spotten der Euklidischen Geometrie, sind Wesen eines elastischen, sich verformenden Raums. Ihre Welt ist durch und durch dynamisiert: auch die Physik lebendig, der Kosmos vitalisiert. Nicht zuletzt enthält das diffuse Leben der Meidoseme ein Ideal an Lebensführung: Widerstand gegen Hindernisse leistet hier das Weiche und Amorphe. Sie entziehen sich direkten Angriffen wie das am Ende unbesiegbare Wasser; sie sind höchst empfindlich, feinstnervig, omniperzeptiv und doch stoisch gelassen beim Absturz: eine unkörperliche Verkörperung von Serenität, ihre unfassbare Wesenheit ist Weisheit…68 Meidoseme sind derart Phantasmen einer anderen, utopischen Art, einen Körper zu haben und lebendig zu sein. Man hat in ihnen – auf der Spur von Deleuze und seinen z. T. von Michaux inspirierten Konzepten – Körper-Seele-Verbindungen ohne steuerndes Zentralorgan gesehen, eine Zerebralität aus unendlichen Faltungen.69 Einer ähnlichen Lesart nach indi64  Vgl. OC II, 222 und 206. 65  Das unterscheidet sie von den Engelsgestalten in Klees ‚Eidola‘, diesen an spitzen, flügelartigen Zipfeln erkennbaren Begleiterfiguren. 66 Vgl. Mes propriétés, OC I, 479 f. Vgl. Grossman: La défiguration, 91. 67  Das Kofferwort findet sich ebd., 88. 68  Sie steht im Gegensatz zu den finsteren Stellen mit teilweise biographischem Hintergrund: zum schwarz verbrannten Gesicht etwa, das auch Sujet einer Lithographie ist (vgl. OC II, 210 und 1126), und zu einem befremdlichen Text zu Konzentrationslagern; vgl. OC II, 218. 69  Vgl. OC II, 1106 f. Portrait des meidosems erscheint 1949 in der Textsammlung La Vie dans les plis, einer von Deleuzes wesentlichen Referenzen für sein Konzept der Falte in Le pli. Leibniz et le baroque von 1988. Zu Deleuzes Denken ‚mit‘ Michaux vgl. z. B. André Pierre Colombat: Le Philosophe critique et poète: Deleuze, Foucault, et l’œuvre de Michaux, in: French Forum 16.2 (1991), 209–225; Raymond Bellour: The Image of Thought: Art or Philosophy, or Beyond?, in: David Norman Rodowick (Hg.): Afterimages of Gilles Deleuze’s Film Philosophy, Minneapolis/London: Univ. of Minnesota Press, 2010, 3–14, sowie dessen Kommentare in OC II, 1097–1099.

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2. Zum Zeichnen kommen: plurale Wiederanfänge

zieren sie ein präverbales und prä-identitäres, pulsionelles, molekulares Denken, wo Humanes und Nicht-Humanes sich mischen.70 Das Wort ‚Meidosem‘ verweist auf Semiotisches, nicht zuletzt auf Schriftzeichen. Die undefinierbaren Gestalten – diese defigurierten Figuren – lassen sich mit ihnen assoziieren. Das legt ihre Bezeichnung als große „singes filamentaux“71 nahe: Das Substantiv (Affen) ist ein Anagramm von signes (Zeichen), das Adjektiv eine Kontraktion aus filamenteux (fadenförmig, Singular) und fondamentaux (grundlegend, Plural), ein bizarrer Doppelgänger also von signes fondamentaux (grundlegende Zeichen). Dementsprechend sieht Grossman in den Meidosemen personnages-lettres, eine phantasmatische Fusion aus Buchstaben oder Wörtern und Menschendarstellungen.72 Tatsächlich wirken viele Graphismen Michaux’ so, vor allem die wohl bekanntesten in Mouvements: Die darin so genannten signes scheinen Schriftzeichen-Männchen, anthropomorphe Buchstaben, skriptural anmutende Strichfigürchen.73 Auch Meidoseme haben etwas Zeichenartiges, sind aber keine Zeichen, sondern bestenfalls auf dem Weg, welche zu werden, und ohne je anzukommen. Die imaginierten Verwandlungs- und die phonetischen Zeichenspiele des Textes mag man als pré-signes74 ansehen: In ihnen deutet sich Signifikation an, ohne wirklich stattzufinden; eine fassbare Bedeutung des Textes oder eine gestalthafte Erkennbarkeit auf den Bildern scheint auf und entzieht sich der Stabilisierung. Die Meidosem-Phantasien betreffen auch Sprache und Schreiben, doch die Zeichen ‚vor‘ den Zeichen sind in diesem Fall nicht etwas wie distinkte, frei bewegliche Buchstaben, die durch Zusammensetzung Wörter, Sätze, Text ergeben und als korpuskulare Kleinstelemente oder Atome einen poetischen Kosmos aufbauen.75 Diese bei Alphabet und Druckkultur naheliegende Metaphorik führt hier – und vielleicht nicht nur hier – tendenziell in die Irre. ‚Meidosemische’, der Sprache und Schrift vorausgehende Zeichen treten nicht aggregativ zusammen, eher muss man sie sich als Bewegungen vorstellen: nicht als kombinierbare Punkte (Buchstaben, Grapheme, Phoneme, Morpheme, Wörter…), sondern als Linien oder Bahnen ziehende Aktivitäten, als Trajekte im Moment ihrer Realisierung. Meidoseme haben nicht nur oft eine gelängte Form; sofern sich überhaupt etwas von ihnen aussagen lässt, sind sie vielmehr Bewegung. Im Stillstand, als solide Entitäten gibt es sie nicht. Mit anderen Worten: Sie verweisen zwar auf Verbales und Skripturales, aber nicht auf die Letternform und nicht auf das System der Zeichen und deren Konstellationen (wie es strukturalistische Ansätze immer favorisieren), sondern auf die im Körper beginnenden Prozesse der Erzeugung von Zeichen. 70  Vgl. Grossman: La défiguration, 87. Sie rückt dies in die Nähe von Artauds chair pensante (denkendem Fleisch) oder Pèse-nerfs (Nervenwaage) in der so betitelten Textsammlung von 1925 und in die von Merleau-Pontys Konzept des Fleisches als vibrierender, pulsierender Materie. 71  OC II, 208. 72  Vgl. Grossman: La défiguration, 98. Das französische Wort personnage meint neben der funktionalen Person und Persönlichkeit (etwa im öffentlichen Leben) auch die persona, Rolle oder Maske, auf dem Theater, die dargestellte Person auf einem Bild, den Protagonisten eines literarischen Textes u.a.m. 73  Vgl. unten, 61 ff., 169–174 u. pass. 74  Vgl. Grossman: La défiguration, 100. 75  So beschreibt es Grossman im Sinne des strukturalistischen Sprachmodells.

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Michaux lenkt in allen seinen Arbeiten, auch in den Texten, die Aufmerksamkeit auf die Dimensionen des Temporalen, der Aktivitäten, der Genese. Am Zeichen (sēma) interessiert demgemäß weniger seine Funktion als Zeichen denn das körperliche (sōma) Tun, dem es sich verdankt. Ein Sprachkonzept, das dem nahesteht, wäre eher das von Merleau-Ponty oder das an den französischen Phänomenologen und Wilhelm von Humboldt kritisch anschließende von Jürgen Trabant als das von Saussure.76 Wenn sich Michaux’ Texten, auch den fiktionalen, etwas wie eine Theoretisierung der noch nicht zugeordneten Linie entnehmen lässt, dann sind es Überlegungen dazu, welchen körperlichen Praktiken und physischen Materialien sie entstammen. Hilfreich ist hier der Blick auf die ursprünglich zu Portrait des Meidosems gehörigen Lithographien und die ‚Meidosemme‘ betitelte Zeichnung. Die Meidoseme werden verbal auffällig oft als Liniengestalten beschrieben, und die (heute in der Pléiade-Ausgabe zugänglichen) Bilder enthalten solche in allen möglichen Varianten: Kratzspuren in der schwarzen Farbe, wie mit einer kleinen Drahtbürste gezogen, hingebürstet oder gekämmt,77 ein Schwarm v-förmiger Häkchen,78 ­breite Furchen, als wären sie kreuz und quer gepflügt,79 Spuren wie in Schlamm.80 Schwer wirkende Pinselstriche erinnern an ein Ackern auf feuchtem Grund, wie es der Text erwähnt.81 In Émergences-résurgences beschreibt Michaux alle möglichen Mal-Szenen: ihre Materialien, den Ort, Handhaltungen, Gedanken, Befindlichkeiten, Techniken, und dann eine ganz neue: Pflügen, Malen als Furchenziehen in dicker weicher Farbpaste. Rechts und links der Furche erheben sich Massen, die Pinselspur bildet eine Hohlform, eine Kehle, die nicht mehr gefüllt wird.82 Derartige konkave Rinnen gibt es trotz anderer Technik auch auf den Meidosem-Bildern.83 Die erwähnte Zeichnung einer ‚Meidosemme‘ schließlich zeigt eine Art Wurzel, oben raketenförmig, zu allen Seiten Ausläufer mit feinen Fasern an den Enden; sie erinnert an die Ginseng-Wurzeln in Gläsern, die asiatische Märkte und gelegentlich europäische Apotheken anbieten. Die vielgestaltigen Inhalte wirken phantastisch anthropomorph. Surrealisten und ihnen Affine schätzten dergleichen als Sammelobjekte. Fundamentale fädenartige singes-signes ahmen oder äffen nichts nach und äffen uns doch, indem sie das Sehen-als-etwas nirgends zur Ruhe kommen lassen. Filament: organisches Erzeugnis, lang und dünn wie ein Faden, erklärt der Petit Robert. Speichelfaden, Schimmelgeflecht, die Hagelschnur im Ei sind Beispiele; eine literarische Referenz ist Buffon.84 Die 76  Vgl. z. B. Language and Image. Trabant kritisiert allerdings die mangelnde Berücksichtigung der sozialen Dimension bei Merleau-Ponty. 77  Vgl. OC II, z. B. 245 und 248. 78  Vgl. ebd., 258. 79  Vgl. ebd., 254. 80  Vgl. ebd., 252. 81  Vgl. ebd., 211. 82  Vgl. OC III, 601. 83  Vgl. OC II, 252. 84 Vgl. Le Petit Robert 1. Dictionnaire alphabétique et analogique de la Langue Française, réd. dir. par Alain Rey/Josette Rey-Debove, Paris: Le Robert, 1990, 782. – In der Kunsttheorie der Linie sind biologische Bezüge selten. Eine Ausnahme stellt die brasilianische Künstlerin Lygia Clark dar. Sie spricht von einer organischen

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2. Zum Zeichnen kommen: plurale Wiederanfänge

Beispiele haben offenbar mit Anfang und Auflösung des Lebendigen zu tun. Sind diese Fäden und Fasern – Linien mit Volumen –, seien sie vegetabil oder animalisch, nicht mindestens so fundamental wie die Buchstaben? Lassen sie sich doch ebenso zum Zeichnen und Malen nutzen wie zum Schreiben. Die westliche Geschichte der ‚Graphie’ hat ihren Ausgang vom Ritzen genommen: von graphein als graben, einritzen, zerkratzen, daher z. B. auch ‚reißen’ und writing. Hartes Material wird entfernt, die Ritzspur ist dreidimensional: eine konkave, negative Form.85 Das Filament ist dagegen eine konvexe, positive. Es klebt zusammen, ist viskos, affinös, verzweigt sich, baut Geflechte auf. Faden- oder Linienformen erscheinen aber nicht nur beim Zeichnen/Malen und Schreiben als sichtbare auf der Fläche. Fasern und Fäden gehören auch zum Akt ihrer Herstellung: als Pinselhaare und Borsten. Federkiele sind hart gewordene organische Absonderungen. Gleichen die Meidoseme in ihrer Vielzahl nicht Haaren, biegsamen Bündeln und Büscheln, halb-lebendigem Material, das sich aus dem Körper herausschiebt, ihm aber nicht untersteht? Die Bewegungen der Haare lassen sich nicht steuern. Wer hätte in den Fortsetzungen des Körpers Empfindungen?86 Doch nicht genug mit den fädigen und röhrengestaltigen semi-organischen Instrumenten: Echte Tinte ist ein animalisches Produkt; im Wasser ausgestoßen, macht es, bevor es sich zur dunklen Zone verdichtet, dicke Fäden und Schlieren. Malmaterial klebt, fließt mehr oder weniger zäh, haftet aneinander, an den Instrumenten, am Träger.87 Malgründe bestehen oft aus gewobenen oder gepressten Fasern, sie bilden Reliefs, bestimmen die Faktur des Bildes, machen sich als visuelles und haptisches Moment geltend, erinnern an die vegetabile Herkunft des Trägers…88 Wir müssen uns also ‚mental‘ ebenso aufs Filament wie aufs Fundament einlassen: Die unzähligen nicht im Zeichen oder Bild zum Stehen kommenden Mikrobewegungen, die weder dem Ich noch dem Id (Es) zugerechnet werden können, sind genauso relevant wie die feste Basis unseres Symbolsystems, die unbestimmbaren Linien wiegen nicht weniger als die kodifizierten Lettern. Ein Meidosem ist formbar wie ein Pinselstrich.89 Doch wie formbar ist ein solcher und insbesondere derjenige von Michaux? Die chinesische Kalligraphie verfügt über eine umfangreiche Typologie von Pinselstrichen: Sie wird gelehrt und gelernt, es gibt eine ganze Liste von Namen, Schautafeln mit Formen, Beispiele der gebotenen und der abgelehnten.90 Einige Linie, einem Raumfaden, der mit Speichelfaden und Nabelschnur zu tun hat; vgl. ihren Text und die Hinweise von Pichler in LuL, 311, 417–420. 85  Diese Verfahren konnotieren auch Gewalt und Verletzung. Einer der ersten Belege für das Wort spricht vom Aufritzen der Haut durch einen gegnerischen Pfeil; vgl. Ilias IV, 135–147. Vgl. Maria Luisa Catoni: Symbolic Articulation in Ancient Greece. Word, Schema, and Image, in Marienberg (Hg.): Symbolic Articulation, (131–152) 134, Anm. 6. Das heißt, das graphein ist auch grundlegend mit Krieg, also sozialem Konflikt, verbunden. 86  Und doch sind es, wie Aby Warburg immer wieder gezeigt hat, gerade die toten Auswüchse, die auf Bildern von jeher ein Wesen lebendig erscheinen lassen. 87  Vielleicht ist die Phantasie von ‚paralysiertem‘, am Fließen gehindertem Öl in Pays de la magie auch eine von Malmaterial; vgl. OC II, 99. 88  Im Falle Michaux’ spielt dies beim Papier eine wesentliche Rolle; vgl. unten, 185 f. 89  So Grossman: La défiguration, 100. 90  Vgl. z. B. Jean-François Billeter: L’art chinois de l’écriture. Essai sur la calligraphie [1989], Genf: Skira 2005, 45–84. Eine von Michaux benutzte Darstellung erwähnt die sukzessive Vermehrung von 8 auf schließlich 84

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2.4. Unterwegs zu einer Poietik der Geste

westliche Zeitgenossen Michaux’ haben sich darum bemüht, diese unendlich ausdifferenzierte Kunst zu lernen. Michaux hat sich nicht einmal ansatzweise daran versucht, aber auch nicht an einer Kunst der westlichen Strichführung (von van Gogh, Cézanne, Picasso, Matisse… hätte er lernen können). Eine große Variationsbreite der seinigen hat er absichtlich einem Agieren ohne Ausbildung überlassen. Ob sein Pinselstrich umgekehrt so flexibel ist wie die Meidoseme, wäre an seinen Bildern zu studieren, und wenn er es ist, wäre zu fragen, woher die Vielfalt kommt.91 Eine steuernde Hand kann es nicht sein; eher eine, die sich selbst nur minimal bewegt und ihren über sie hinauslaufenden losen Fortsetzungen erlaubt, in komplexen Kurven zu schwingen – wie die an einem zentralen Faden pendelnden Kleist’schen Marionetten. Die seltsame Existenzweise und das Gebaren der Meidoseme figurieren jedenfalls u. a. Entstehungsprozesse von potentiell signifikanten visuellen und/oder verbalen Erscheinungen. Sie sind (zumindest auch) Imaginationen produktiver Prozesse. In eher fiktionalen als narrativen oder dramatischen Miniaturen92 bieten sie eine Poietik, eine Reflexion von Formungen und Umformungen aller, nicht nur sprachlicher Art. Im Fokus stehen dabei Regungen, Reizungen, Vibrationen, Fließen, Schweben, Gleiten, Sinken, Sprünge, Rhythmen... – körperliche Vorgänge, aus denen möglicherweise Zeichen hervorgehen, Gesten im weiten Wortsinn. Sie werden eher beschrieben als inszeniert, und erzählt bestenfalls so, wie ethnographische Literatur von dem erzählt, was nicht dem Reisenden einmal als Abenteuer widerfährt, sondern was in den exotischen Ländern immer wieder geschieht und getan wird: von ungewohnten Praktiken und Sitten. Portrait des Meidosems berichtet von unbekannten Arten sich zu bewegen, Kinder zu zeugen, Gefühle zu haben, sich auszuruhen u. a., von iterierten Betätigungen; deshalb ist sein Tempus auch das Präsens. Es ‚porträtiert’ ein fremdes ‚Volk’, eine erfundene fremde Kultur; diese zeigt sich nicht in spektakulären einzelnen Akten, sondern in einer breiten Palette von Aktivitäten diesseits gezielter Handlungen. Damit setzt der Text fort, was schon in den Berichten über asiatische Länder Thema ist: befremdliche Gewohnheiten, Routinen, Üblichkeiten. Dazu gehört z. B. auch die jeweils spezifische Art, nackt zu sein oder Kleider zu tragen – ‚das Leben in den Falten’ zeigt sich als ein soziokulturelles –, und dem Reisenden ohne Sprachkenntnisse eröffnen die Theater entscheidende Einblicke: Mimik

verschiedene Stricharten, die ‚Postures‘ genannt werden, an anderer Stelle die Vermehrung von 14 auf 72; vgl. Chiang Yee: Chinese Calligraphy. An Introduction to its Aesthetic and Technique, London: Methuen, 21954, 171 und 151 (beide Stellen von Michaux markiert). Die Vielfalt der Striche geht mit der ganz und gar anthropomorphen Beschreibung des einzelnen Schriftzeichens wie auch anderer Komponenten des Schreibens, etwa der Pinselspitze, einher. Das Zeichen muss z. B. „stand stably on its foot (or feet) without an appearance of lameness or stumbling“; ebd., 171. Vgl. auch unten, 118, Anm. 52. 91  Zur Ausdifferenzierung des Filzstiftstrichs durch den Gebrauch wechselnder Materialien vgl. unten, 185. 92  Grossman spricht von tragiko-burlesken Dramen, vgl. La défiguration, 100; doch haben die kurzen Texte keine Handlung, keinen plot. Wie bei vielen modernen Dramen und Erzählungen überwiegt die Fiktionalität Dramatik und Narrativik; vgl. Armen Avanessian/Anke Hennig: Präsens. Poetik eines Tempus, Zürich: Diaphanes, 2012. Jerôme Roger schlägt im Zuge seiner minutiösen Analyse von Michaux’ Sprache vor, von einem in den Kategorien der Grammatik nicht verzeichneten „présent disruptif“ zu sprechen, einer im Grunde ryhthmischen Kategorie des Denkens; vgl. Henri Michaux. Poésie pour savoir, Lyon: Presses universitaires de Lyon, 2000, 126.

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und Gebärden bezeugen andere Körper- und Kulturtechniken. Dass dergleichen Äußerliches nicht nur äußerlich ist, ließe sich mit dem Hinweis auf mit ihnen verbundene Selbsttechniken kommentieren; Michaux spricht vom Sich-Kleiden als einer „technique de l’âme“.93 Portrait des Meidosems handelt von ähnlichen Dingen im Modus der Fiktion; was Reisebücher als Beobachtung präsentieren, wird hier phantasiert. Aber für ihre epistemische Funktion verschlägt das nichts, denn entscheidend an den Phantasien ist die klare Verschiebung des Fokus: Die Frequenz der Rede von Linienartigem im Text wie die material und körperlich bedingten Linien der Graphiken lenken die Aufmerksamkeit weg von allen irgendwie gegebenen, fixen Formen und leiten sie hin zu den Aktivitäten. Diese kommen in der Fiktion den seltsamen Wesen zu, auf poietologischer Ebene aber dem Körper des realen Akteurs. Sie sind Bewegungen aller Art und als solche zunächst einmal Gesten. Insofern entwerfen die Meidosem-Texte nicht nur Wunschbilder einer anderen leiblichen Existenz, sondern führen teils ganz konkret, teils ex negativo zur Praxis des Graphierens.

93  OC I, 397; „Seelentechnik“.

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3. Von der Schrift abkommen: Schreiben als Geste

3.1. Contra Schrift – pro Buch Bewegungen, die sichtbare Spuren von Gesten sind und z. T. auch selbst Gesten genannt werden, sind das Thema von Michaux’ bekanntestem Werk Mouvements von 1951.1 In der Selbstdarstellung Émergences-résurgences erwähnt er es nur indirekt; es war wohl so bekannt, dass eine Seite mit den charakteristischen Graphismen genügte, um das Künstlerbuch in Erinnerung zu rufen. Die mit Pinsel und Tusche erzeugten Gebilde heißen hier – wie auch in der Buchpublikation – signes, und gemeint sind Zeichen diesseits der Sprache. Wenn sie mit Schrift zu tun haben, dann mit einer nicht-verbalen. Michaux’ Beschreibung fokussiert auf ihre anthropomorphe Erscheinung: Mit Armen, Beinen, Rumpf, Kopf scheinen sie Männchen zu sein, doch verzerrte, verdrehte, gedehnte, in diverse Richtungen verzogene. Sie unterliegen, so die phantasievolle Kommentierung, allen möglichen Arten von Gewalt, werden mißhandelt, gevierteilt, gegeißelt (flagellé). Ihre Extre­ mi­täten umgeben die Körper wie das zytologische flagellum: fadenförmige Gebilde auf der Oberfläche der Zellen, mit denen diese sich fortbewegen; der homme-flagellum gleicht einem gegeißelten oder sich geißelnden Menschen und einer derartigen Zelle, einem Geißeltierchen, einer Geißelalge vielleicht. Er ist Opfer und zugleich Akteur der peitschenden Bewegung. Wie in den Meidosem-Phantasien werden auch hier biologische und graphisch-graphematische Erscheinungen fusioniert: Zellen und Zeichen. Die Graphismen erinnern morphologisch auch an Wurzeln – wie die gezeichnete ‚Meidosemme‘ ausdrücklich als solche dargestellt ist.2 Die Vorstellung von Misshandlung und Bewegung, die Gestalten entstehen lassen, deformieren, defigurieren, ist selbst die Stilisierung einer Praxis, die zwischen aktiv und passiv alterniert oder in der Schwebe bleibt: Die schwarze Flüssigkeit, die ein Pinsel aufs weiße Papier bringt, fließt, läuft, tropft, dehnt sich aus, und das Auge staunt über die merkwürdigen ‚Wesen‘, die wörtlich unter der Hand entstehen. Dem Gestaltensehen sind kaum Grenzen gesetzt.

1  Vgl. auch unten, 169–174. 2  Vgl. oben, 57. Im Kontext einer schriftmythischen oder auch nur phantasmatischen Verquickung von Natur und Zeichen mag man auch an die Radikale nicht-alphabetischer Schriften denken, so Mersmann: Schriftikonik, 189. Michaux selbst stellt trotz des Stichworts Wurzel weder hier noch in Idéogrammes en Chine einen Zusammenhang mit den Schriftzeichen her. Als Elemente, mit deren Hife die Fülle der Zeichen geordnet wird, gehören die Radikale oder clefs (Schlüssel) auch eher zu einem entmythisierenden Umgang mit Schrift; vgl. unten, 111–118.

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3. Von der Schrift abkommen: Schreiben als Geste

3  Henri Michaux, aus der Reihe Mouvements, 1950-1951, Archives Henri Michaux, © ADAGP.

Was auf dem weißen Grund sichtbar wird, scheinen menschliche Körperhaltungen, Posen, Attituden zu sein, deren Sammlung einen Katalog oder eine Enzyklopädie ergäbe.3 (Abb. 3) Die europäische Kunstgeschichte kennt dergleichen: Wo die Darstellung des menschlichen Körpers im Mittelpunkt stand, wetteiferten Künstler in der Erfindung immer neuer Varianten. Musterbücher trugen dergleichen in größter Breite zusammen und stellten es zur Verfügung. Spätrenaissance und Manierismus ließen es sich besonders angelegen sein, Menschenkörper in ungewöhnliche Stellungen zu bringen, zu überdehnen, mit anderen zu verknäueln, aus unerwarteten Perspektiven mit extremen Verkürzungen und Stauchungen zu zeigen. Michaux erwägt indes eine andere Enzyklopädie menschlicher Haltungen: Seine kleinen Anthropoiden stellen eben nicht verrenkte Menschenleiber dar. Sie spielen nur auf sie an. Vielleicht könnten sie – es bleibt eine Frage – ein „catalogue d’attitudes intérieures, une encyclopédie des gestes invisibles“4 sein, d. h. die Visualisierung von unzähligen das Leben ausmachenden Bewegungen des Körperinneren und/oder dem Auge aus anderen Gründen entzogenen äußeren Bewegungen, z. B. von zu schnellen, zu winzigen. 3  Vgl. OC III, 583. 4  OC III, 583; ein „Katalog der inneren Haltungen, eine Enzyklopädie der unsichtbaren Gesten“; Zeichen. Köpfe, Gesten, 49. Zu einem Katalog von Posen in der Gegenwartskunst mit Bezug zu Michaux vgl. unten 159 f.

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3.1. Contra Schrift – pro Buch

Das Zeichnen wäre dann eine Art Auf-Zeichnen, wie es die Physiologie des späten 19. Jahrhunderts mit ihren Kurvenschreibern und der Chronophotographie versuchte.5 Nur ginge es dabei nicht um das Übersetzen von Bewegung wie Pulsschlag oder Atmung in visualisierte, messbare Quantitäten und nicht um die Zerlegung von Körperbewegung in eine sukzessive Reihe einzelner arretierter Posen: Die graphischen Männchen wären vielmehr eine Art Phantombilder von Gesten diesseits ihrer sichtbaren Ausführung; sie würden im Inneren gemacht, unter der Wahrnehmungsschwelle des Betrachters und sogar der Akteure selbst. Die ‚inneren Haltungen‘ und ‚unsichtbaren Gesten‘ wären etwas Virtuelles, das real werden kann, aber nicht muss; die Graphismen zeigten eine Vielzahl diverser Bewegungen, bevor sie gefiltert und all diejenigen aussortiert würden, die nicht in irgendeiner Weise zweckdienlich wären. Das Zeichnen hätte dann – anders als die technischen Verfahren Mareys und anderer – nicht reale, verborgene körperliche Bewegungen sichtbar gemacht, sondern potentielle; der homme flagellum in seinen unzähligen Posen veranschaulichte unsere nicht genutzten motorischen Möglichkeiten... Das Künstlerbuch Mouvements führt eine ganze Reihe von Publikationen an, in der Graphis­men und literarische Texte zusammen auftreten und ein Tertium zu oder ein Sowohlals-auch von bildender Kunst und Literatur bieten: Paix dans les brisements (1959), Par la voie des rythmes (1974), Saisir (1979), Par des traits (1984).6 Während in Portraits des Meidosems narrative Fiktion von einigen wenigen Lithographien begleitet wird, ist in diesen Publikationen das Verhältnis umgekehrt: Mit Ausnahme von Par la voie des rythmes, das keinerlei Text enthält,7 werden jeweils Bilder verbal begleitet, und zwar von Gedichten und Essays. Auch die Art der Bilder ist freilich anders: In allen Fällen handelt es sich um schriftartig wirkende graphische Gebilde; diese treten nicht als Einzelbilder auf (wie die visuellen ‚Porträts‘ der Meidoseme), sondern, wie es von Schriftzeichen zu erwarten wäre, jeweils in Serien. Michaux hat sich immer wieder gegen Sprache und Schrift gewandt und ihnen Zeichnen-Malen als bessere Symbolik gegenübergestellt. Tatsächlich aber hat er es mindestens mit einer doppelten Gegnerschaft zu tun: mit der gegen traditionelle westliche Bildkunst, die mit Repräsentation, Konturzeichnung, technischer Virtuosität, geometrischem Raum und Per­ 5  Zu Michaux’ früherem Wunsch nach einem filmischen Zeichnen („Dessin cinématique“) und einem physiologischen Aufzeichnen (im Sinn der Marey’schen ‚graphischen Methode‘, ohne dass Name und Begriff fallen) vgl. Dessiner l’écoulement du temps, OC II, (371–374) 371. Er habe die Momente des Lebens sichtbar machen wollen, die innere, wortlose Phrase, die in Windungen sich abrollende Schnur. 6  Michaux hat seit den späten dreißiger Jahren eigene Bilder und Text kombinierende Bücher publiziert; soweit ich sehe, sind es (ohne die oben im Text genannten und die Drogenbücher mit Zeichnungen): Peintures 1939, Arbres des tropiques 1942, Exorcismes 1943, Labyrinthes 1944, Apparitions 1946, Peintures et dessins 1946, ­Meidosems 1948, Quatre cent hommes en croix 1956, Vents et poussières 1962, Comme un ensablement… 1981 (eher ein Heftchen). Émergences-résurgences (1972) spielt darin als Auftragswerk eine Sonderrolle. Von diesen Büchern sowie von denjenigen mit Meskalinzeichnungen unterscheiden sich die Publikationen mit schriftartigen Graphismen deutlich; sie knüpfen an die ersten graphischen Arbeiten und an die ‚Alphabete‘ der frühen vierziger Jahre an (vgl. z. B. OC I, 930–933, und unten, 64, Anm. 8); zu Idéogrammes en Chine vgl. unten, 105–127. Meine Untersuchungen zu Michaux’ Buch-Kunst beschränken sich auf diesen Typus. 7 In Parcours (zuerst 1965) begleitet ein Vorwort des Verlegers René Bertelé zwölf schriftartige Radierungen; vgl. OC III, 429–444.

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3. Von der Schrift abkommen: Schreiben als Geste

spek­tiv­konstruktion identifiziert wird, und mit der gegen Alphabetschrift und Schrift im Sinn phonetischer Notation. An der europäischen Kunsttradition arbeitet er sich mit der Suche nach Linien ab, die im Negativen einen gemeinsamen Nenner haben: Sie vermeiden Umriss und geometrische Linie. Dem Komplex Sprache-Schrift wiederum opponieren nicht einfach, wie er mehrmals behauptet, Zeichnen und Malen; sie sind nicht – oder nur unter sehr besonderen Umständen, für eine begrenzte Zeit einmal – Alternativen zum Verbalen. Michaux hat auch nicht nur wie viele andere im 20. Jahrhundert an der Entwicklung abstrakter Bildkunst mitgearbeitet, nicht nur auf der Spur von Klees ‚abstrakter Schrift‘ und auf der von Giuseppe Capogrossi und Georges Mathieu Bilder mit und aus Zeichen gemacht; er betreibt nicht nur écriture (im Sinn von Schriften und Schreiben diesseits der Lesbarkeit) als bildende Kunst. Ein nicht unerheblicher Teil seiner literarisch-künstlerischen Betätigung richtet sich vielmehr auf die kritische Befragung nicht nur von Bild und Schrift, sondern der westlichen Schrift- und Buchkultur. Wie viele andere im 20. Jahrhundert auch nimmt er dabei ein phonozentrisches Schriftkonzept samt seinen Konsequenzen ins Visier. Während seine Polemiken jedoch in ihrer Pauschalität den Gegenstand verfehlen und seine Ideen zu Natur- und Universalschriften, selbst erfundenen Ideogrammen u. ä. ins Leere laufen,8 geht er praktisch, mit seinen literarischen und künstlerischen Mitteln, höchst einfallsreich gegen die Beschränkungen jenes Konzepts an. Er interessiert sich dabei für alle möglichen Alternativen: Fernöstliches, Prähistorisches, Phantastisches, Utopisches. Vor allem aber stellt er in praxi Versuche an, die Elastizität der okzidentalen Schrift- und Buchkultur auszutesten. Die genannten Publikationen haben einiges gemeinsam: Die graphischen Phänomene, die sie versammeln, spielen optisch immer auf Schrift an. Sie haben, auch wenn sie nicht leserlich sind, schriftähnliche oder schriftartige Züge, sie sind nicht Grapheme, sondern Graphismen, nicht skriptural, sondern ‚skriptoid‘. Die Anspielung auf Schrift ist dabei konkreter eine auf das Schreiben, und zwar das handschriftliche, auf den Schreibakt, den körperlichen Vollzug, die Geste des Schreibens. Das bringt sie in die Nähe zum Kritzeln und entfernt sie von der Typographie. Michaux modifiziert diese selten, und wenn, dann das Druckbild der Seite etwa mit zentriertem Satz, aber nicht – wie etwa russische Futuristen oder Vertreter Konkreter Poesie – einzelne Schriftzeichen.9 Wie sehr auch immer das Buch als etwas Lesbares in Frage gestellt wird – in einem Fall bis hin zum völligen Verzicht auf Schrift –, bildet es doch den Horizont, den Rahmen, in dem die graphischen Erscheinungen, die Marken, oder die Marken und die Texte zusammen zu einer Einheit gelangen. Die Blätter mit Graphismen ließen sich ja genauso gut einzeln präsen8  Die Idee von 1938 zu 900 Ideogrammen und einer Grammatik hat er selbst aufgegeben, in vielen Interpretationen wird sie ihm aber bis zum Schluss unterstellt; zu einer derartigen Lesart vgl. v. a. Nina Parish: Henri Michaux. Experimentation with Signs, Amsterdam/New York: Rodopi, 2007. Von Michaux’ Interesse insbesondere an piktographischen Zeichen und archaischen Schriften (um ihrer visuellen Gestalt, nicht um ihrer Notationsfunktion willen) zeugt auch das wenig bekannte Notizbuch ‚Album Aquarelle‘; vgl. dazu Franck Leibovici: Henri Michaux, in: Thierry Davila (Hg.): Uniques. Cahiers écrits, dessinés, inimprimés (Ausst.kat.), Paris: Flammarion, 2019, 172–175. 9  Vgl. unten, 175 und 181 f.

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3.2. Schreiben (und Lesen) als Körpertechnik(en)

tieren, z. B. in Mappen, als Loseblattsammlungen, wie Zeichnungen in Archiven und Galerien gesammelt werden (und wie man sie heute im Michaux-Archiv betrachten kann); genauso gut ließen sich Texte oder lesbare Schrift auf losen einzelnen Blättern anbringen.10 Das gebundene Buch ist hier durchaus keine Notwendigkeit, sondern eine gewählte und gewollte Option; es liegt eine positive Entscheidung für das Buch vor, und d. h. auch für dessen Beschränkungen, z. B. in der Seitengröße, und ebenso für dessen spezifische Möglichkeiten der Multiplikation und Distribution. Die Entstehung der Mouvements ist bezeichnend: Michaux hat über tausend Blätter mit Graphismen angefertigt und nur einige wenige davon publiziert, dies aber eben gebunden, in Buchform.11 Er geht an die Grenzen der Schrift, indem er Pseudo-Zeichen produziert, deren Reiz aber besteht in der Reminiszenz an Schrift. In Par la voie des rythmes geht er an die Grenzen des Buches, indem er ausschließlich Graphistisches binden lässt, aber die Materialästhetik des Buches wählt: so z. B. Papier, Schwarz-Weiß als Farben, Seitenformat, die mit dem Aufschlagen und Blättern verbundene Haptik. Auch in juristisch-institutioneller Hinsicht ist das textlose Par la voie des rythmes ein Buch: Es hat zumindest heute, in den Nachdrucken des Verlags Fata Morgana, eine ISBN, ist in Katalogen von Buchhandel und Bibliotheken verzeichnet, wird als Buch vertrieben, aufbewahrt und verwaltet.12 Die verschiedenen Varianten von Michaux’ Buch-Kunst zeigen alle eine Präferenz für den graphierenden Akt einerseits und für die Einrichtung Buch andererseits. Beide stehen in deutlicher Spannung zueinander, und diese Spannung treibt immer weiter graphistische Praktiken und Überlegungen hervor, die gegen Schrift und Buch angehen und dabei jeweils neue Spielarten von Buch-Kunst erzeugen.

3.2. Schreiben (und Lesen) als Körpertechnik(en) Um einen Schreibakt vollziehen zu können, ohne zu schreiben, um mit Schrift und Buch anders als üblich umgehen zu können, muss das Vertraute und Eingefleischte erst einmal aus seiner Selbstverständlichkeit heraustreten. Schreiben und Lesen sind nicht nur Kulturtechniken und insofern nicht einfach zu suspendieren, sondern auch, und das findet meist weniger Beachtung, Körpertechniken im Sinne von Marcel Mauss. Seinem bekannten Aufsatz von 1934 zufolge sind dies Arten, wie Menschen in verschiedenen Gesellschaften traditioneller 10  Bibliophile Ausgaben verfahren gelegentlich so und bieten z. B. Portrait des Meidosems ungebunden in einer Schachtel dar oder Idéogrammes en Chine als gefaltete nur lose ineinandergelegte Bogen. 11  Vgl. unten, 169. Das malerische und zeichnerische Werk beläuft sich auf ca. 9–10.000 Arbeiten, vgl. Leibovici: Henri Michaux. Voir, 7, und Kreplak/Hayat/Leibovici: Établir le catalogue raisonné. Das Gesamtverzeichnis soll ein Pendant zur Werkausgabe der Pléiade sein. Diese ist also nur in Hinsicht auf das literarische Werk ‚vollständig‘. Sie enthält auch die Bücher mit Abbildungen, stößt aber technisch immer wieder an ihre Grenzen. Die Abbildungen sind klein, scheinen durch das Dünndruckpapier durch, und insbesondere gehen ungewöhnliche Formate verloren. 12  Eine verkaufstechnische Kurzbeschreibung des Buches (in livre-rare-book.com, Ref.nr. 3931; URL s. Bibliographie) heißt übrigens „illustré par l’auteur“, als setzte das nicht einen Text voraus.

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3. Von der Schrift abkommen: Schreiben als Geste

Weise ihren Körper gebrauchen.13 Demnach differiert die Art, wie wir schwimmen oder ein Werkzeug benutzen, von der Art, wie Angehörige einer anderen Generation, Ethnie oder Nation dies tun. Mauss’ wohl berühmtestes Beispiel sind die Beobachtungen, die er im Ersten Weltkrieg an Soldaten machte: Beim Ausheben von Gräben kamen englische Truppen mit französischen Spaten nicht zurecht, was zur Folge hatte, dass jedes Mal, wenn eine Division aus dem einen Land eine aus dem anderen an der Front ablösen sollte, 8000 Spaten ausgetauscht werden mussten.14 Dergleichen Unterschiede beschränken sich nun laut Mauss nicht auf spezielle handwerkliche oder sportliche Fertigkeiten. Vielmehr ist alles Mögliche, was wir gemeinhin für natürlich und damit für universell halten – Essen, Schlafen, Gehen, zuweilen selbst das Atmen – jeweils eine Technik, die erworben wird, sich im Körper dauerhaft sedimentiert und diesem zugleich die unveränderliche Signatur einer bestimmten Gesellschaft einprägt. Eine Gesellschaft unterscheidet sich von einer anderen durch die Art, wie sie dergleichen elementare Vollzüge gestaltet. Körpertechniken wirken auf mehreren Ebenen; Mauss bezeichnet sie als physisch-psycho-soziologisch.15 Sie stehen zwischen dem individuellen Körper und dem sozialen Kollektiv, zwischen den biologischen Notwendigkeiten und deren jeweils kontingenter Weise der Durchführung; formelhaft gesagt vermitteln sie Natur und Kultur. Letztere beginnt im Körper, manifestiert sich in Präferenzen, Gewohnheiten, der Art sich zu bewegen, in Haltungen und Gesten. Auch diese sind nicht das unbeschriebene Blatt menschlicher Existenz, sind nicht, wie es das 18. Jahrhundert imaginierte und das Repertoire kulturkritischer Ideologeme es immer wieder will, das Unverstellte und Ursprüngliche, der Ausdruck des ‚wilden‘ Körpers unter den Entstellungen der Zivilisation. Kultur ist vielmehr immer schon da, und ebenso Technik: „Der Körper ist das erste und natürlichste Werkzeug des Menschen. Oder, ohne vom Werkzeug zu reden, das erste und natürlichste technische Objekt und zugleich technische Mittel des Menschen ist sein Körper.“16 Nun sind Essen, Gehen, Schlafen und dergleichen etwas anderes als Schreiben und Lesen, gehören letztere doch nicht zum biologischen Lebensvollzug. Aber was für das Verhältnis von Körper, Spaten und Erde gilt, lässt sich auch auf das von Körper, Spuren erzeugendem In­ stru­ment und Spuren aufnehmender Fläche übertragen. Und auch das Lesen, selbst das leise und ohne Lippenbewegungen vor sich gehende, hat seine körperlichen Aspekte in Augenbe13  Vgl. Die Techniken des Körpers, in ders.: Soziologie und Anthropologie, Bd. 2, München/Wien: Hanser, 1975, (197–220), 199. 14  Vgl. ebd., 201. 15  Vgl. ebd., 218. 16  Ebd., 206. Leroi-Gourhan, Mauss’ Schüler, hat das insbesondere auf die Hand bezogen und ihr die für die zivilisatorische Entwicklung entscheidende Rolle neben derjenigen der Sprache zugeschrieben. Dabei erbringt nicht die Hand als solche – ihr anatomischer Bau, die biologische Gegebenheit des versetzten Daumens etc. – die evolutionsgeschichtlich wesentliche Differenz, sondern die in bestimmter Weise vollzogene, also technisierte oder kultivierte, Bewegung der Hand. Leroi-Gourhan hat u. a. eine Theorie der Geste formuliert. Statt um ‚Hand und Wort‘, wie die deutsche Übersetzung seines bekannten Buches lautet, geht es um Geste und Rede (Le geste et la parole). Vgl. auch unten, 189 f.

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wegungen, Sitzhaltung, Betätigung der Hände beim Halten des Buches und beim Blättern, Zustand der Schultern und des Nackens u. a.m. Georges Perec hat nachdrücklich gezeigt, wie eine derartige Beobachtung des Lesens eine Geschichte unseres (sozialisierten) Körpers erschließt, und sich dabei auf Mauss’ grabende Soldaten bezogen.17 Körpertechniken sind Routinen. Sie erlauben uns, von ihnen abzusehen und uns anderen, komplexeren Aktivitäten zuzuwenden. Aber zugleich hängen wir von ihnen ab, und fataler Weise eben nicht nur in Hinsicht auf den physiologischen Teil unserer Aktivitäten; das Denken selbst wird von ihnen unterstützt oder, wenn sie gestört sind, behindert. Doch wenn Individuen in Körpertechniken von ihrer Gesellschaft, Epoche, Generation, Kultur determiniert sind, wenn jene nicht nur individuelle Gewohnheiten (habitudes) darstellen, sondern ihren Habitus ausmachen,18 wenn sich – mit Mauss und Bourdieu gesprochen – in den gestischen Vollzügen des Einzelnen die kollektive praktische Vernunft verkörpert, welche Möglichkeiten bleiben dann, jenen Vollzügen auch einmal zu entkommen oder sie wenigstens zu modifizieren? Stehen sie Veränderung und Innovation nur entgegen oder bieten sie auch Chancen dazu? Damit ist – wie in der Einleitung bereits angesprochen – die weitreichende Frage aufgeworfen, welche Handlungsspielräume oder, technischer und zurückhaltender ausgedrückt, welche Möglichkeit von agency es für den Einzelnen inmitten sozio-kultureller Konditionierung gibt und welche Rolle dem Körper dabei zukommt.19 Dessen Funktion ist gerade dann interessant, wenn man ihn nicht naiv als ein ungezähmtes Präkulturelles unterstellt. Geht man davon aus, dass in den Körper Kultur und Gesellschaft als Körpertechniken eingeschrieben sind, dass jene in Gesten und körperlichen Performanzen wiederholt, bekräftigt, tradiert werden, dann stellt sich die Frage, ob und ggf. wie mit Gesten und körperlichen Performanzen die Möglichkeit verbunden ist, das Erlernte zu wiederholen, aber nicht nur zu wiederholen. Es liegt nahe, sie den performativen Sprechakten zu parallelisieren. Diese reproduzieren, aber sie gehen nicht darin auf: Sie produzieren auch ständig Abweichungen von den Routinen und erzeugen Varianten, darunter solche, die sich als kritische, umwertende, nachdrücklich modifizierende, ggf. subversive analysieren lassen. Gesellschaft und Kultur, die sich via Körpertechniken dem einzelnen Körper einschreiben, die er sich einverleibt hat und nun verkörpert, werden ihrerseits durch den Vollzug der Gesten verwirklicht, bekräftigt, aufrechterhalten; diese sind aber auch selbst ein Medium oder eine Gelegenheit – und in den Künsten womöglich sogar eine privilegierte –, eben jene Kultur und Gesellschaft herauszufordern. Gesten sind verkörperte Sozialität und Kultur, aber Verkörperung heißt eben nicht 17  Vgl. Lire: esquisse-sociophysiologique, in: Esprit 1 (1976), 9–20; deutsch: Lesen: sozio-physiologischer Abriss, in: Georges Perec: Tisch-Ordnungen. Essays von 1973 bis 1982, Graz: Ritter, 2013, 14–29. 18  Mauss rekurriert auf den aristotelischen Begriff hexis und übersetzt ihn absichtlich nicht mit habitude, sondern mit dem lateinischen Wort habitus; vgl. Die Techniken des Körpers, 202 f. Zur darin impliziten Polemik gegen Bergson und Ravaisson vgl. Tullio Viola: Gewohnheit und Intuition zwischen Frankreich und Amerika. Félix Ravaisson und das 20. Jahrhundert, in: Frauke Annegret Kurbacher/Philipp Wüschner (Hg.): Was ist Haltung? Begriffsbestimmung, Positionen, Anschlüsse, Würzburg: Königshausen & Neumann, 2016, (41–61) 52–54. 19  Vgl. oben, 31 ff.

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3. Von der Schrift abkommen: Schreiben als Geste

schlichte Determination, sondern eine dynamische wechselseitige Beziehung. Der Körper ist strukturiert und wirkt seinerseits strukturierend; er hängt von Bedeutungen ab und ist aktiv und nicht nur tautologisch an ihrer Produktion beteiligt. Wenn Künste die soziokulturellen Routinen auf den Prüfstand zu stellen vermögen, dann sind Michaux’ Arbeiten so ein Fall. Er hat auf unterschiedlichen Wegen versucht, die Automatismen der uns einverleibten Schreib-, Lese- und Buchkultur bewusst zu machen und zu modifizieren: Der eine Weg besteht darin, normale physische und psychische Funktionen gezielt außer Kraft zu setzen oder extrem zu alterieren, nämlich durch die Einnahme von Drogen, und im Zustand der Nachwirkungen zu zeichnen sowie retrospektiv über die gemachten Erfahrungen verbal zu berichten. Die chemische Induktion anomaler Wahrnehmungen und Bewusstseinszustände ist die aufsehenerregendste seiner Methoden; sie bezieht sich aber nur nebenbei auf die Arbeit am Schreiben als Körpertechnik. Eine andere Methode ist weit weniger spektakulär – und daher auch weniger bekannt –, aber durchaus auch erkenntnisfördernd: Sie besteht darin, sich in einer Situation der unfreiwillig suspendierten Routine – konkret mit gebrochenem Arm – genauestens zu beobachten. Ein dritter Weg ist der der gezielten Auseinandersetzung mit anderen Schriften als der des lateinischen Alphabets, mit Piktogrammen und insbesondere mit chinesischen Ideogrammen, wozu unvermeidlich eine Beschäftigung mit der fernöstlichen Kultur des Schreibens und Malens gehört. Eng damit verbunden, aber auch klar davon zu unterscheiden ist schließlich die Fokussierung der Aufmerksamkeit auf den Akt und die Geste des Schreibens. Dabei geht es ganz praktisch um die Frage, wie man das ein für alle Mal gelernte Schreibenkönnen wieder verlernen kann und was sich mit einem ggf. erworbenen Nicht-Können anfangen lässt. Der folgende Abschnitt gilt der Beobachtung einer gestörten Körperfunktion und entsprechender Körpertechniken.

3.3. Schreibszene mit gebrochenem Arm oder Lob der Linken Der zuerst 1962 erschienene Text Bras cassé (Gebrochener Arm)20 rekurriert eingangs auf eine Reihe psychologischer Experimente eines, wie Michaux behauptet, Wiener Psychologen. Tatsächlich handelt es sich um Versuche, die der Amerikaner George Malcolm Stratton, ein Schüler Wilhelm Wundts, in den 1890er Jahren mit seinen Studenten angestellt hatte und von denen Merleau-Ponty in seiner Phénoménologie de la perception von 1945 berichtet; möglicherweise bezieht Michaux seine Kenntnis daraus.21 Die Versuche bestanden darin, dass Testpersonen Brillen aufgesetzt bekamen, die oben und unten sowie rechts und links vertauschten. Damit mussten sie – laut Michaux – sich im Kreis bewegen, aufwärts und abwärts

20  Eine erweiterte Fassung erschien 1973. Die folgenden Überlegungen beziehen sich auf diese noch einmal in Face à ce qui se dérobe (1975) publizierte Version, heute in OC III, 853–879. 21  Zu den Quellen und Michaux’ Abweichungen davon vgl. OC III, 1682. Im Folgenden werden seine Darstellungen, nicht die von Merleau-Ponty und Stratton wiedergegeben.

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3.3. Schreibszene mit gebrochenem Arm oder Lob der Linken

gehen, einen Ball fangen, Rad fahren; die Ergebnisse waren desaströs. Nach etwa acht Tagen änderte sich die Sache indes, sie konnten sich aufrecht halten, in die Pedale treten, die Bälle fangen etc. Nun nahm man ihnen die Brillen ab und ließ sie ohne diese auf den Sattel steigen. Wieder fielen sie hin, machten groteske, lächerliche, verfehlte Bewegungen. Erneut mussten sie lernen, ihre Haltungen und Gesten auf die Situation einzustellen. Die körperlichen Praktiken wurden also durch eine invertierte Gegenstandswahrnehmung22 außer Kraft gesetzt, aber nach einer gewissen Zeit hatten sie sich der neuen Lage angepasst und funktionierten wieder. Die Routinen oder Körpertechniken hatten eine gewisse Trägheit und waren daher zunächst dysfunktional, aber sie erwiesen sich doch als plastisch und taten nach einer Übergangszeit, in der sie in die Irre führten, wieder ihren Dienst. Den Bericht von diesen Experimenten nutzt Michaux als Folie für eine eigene Versuchsanordnung: Analog dazu fungieren nun ein gebrochener Arm, eine postoperative Komplikation, eine sieben Monate währende Nichtbrauchbarkeit der Rechten als Brille, die ihren Träger einer speziellen Form von ‚Entkonditionierung‘ aussetzt.23 Der physische Schmerz erzeuge ähnlich abwegige Wahrnehmungen und irreführende Empfindungen.24 Die zufällig, durch einen Sturz, entstandene Situation wird umgemünzt in eine privilegierte Gelegenheit zur Erkenntnisgewinnung.25 Der körperliche Schmerz – eine Erfahrung, die anders als psychisches Leiden, normalerweise nicht verbalisiert wird und als nicht sozialisierbar gilt26 –, erhält hier epistemische Funktion. Die lädierte eigene Person dient als experimentelles Setting für wahrnehmungsphysiologische und -psychologische Beobachtungen, wobei der leidende Körper sowohl Gegenstand wie Mittel ist. Michaux macht sich, wenn man so will, zum Experimentalsystem Ich-mit-gebrochenem-Arm. Dieses enthält diverse Komponenten: den linken Arm, den eingegipsten rechten, den Körper insgesamt, anhaltenden Schmerz, ein beobachtendes, notierendes, formulierendes, analysierendes Ich. Das Ganze stellt eine Art Langzeitversuch dar, denn die zu registrierenden Veränderungen vollziehen sich im Lauf von Monaten,

22  In Strattons Experimenten ging es um Sehen ohne die (normale) Inversion des retinalen Bildes. Er und viele andere nach ihm gingen davon aus, dass nach einer gewissen Zeit nicht nur das motorische Verhalten an die verzerrte Wahrnehmung angepasst wird, sondern auch die Wahrnehmung korrigiert wird; die letztere Annahme wurde jedoch inzwischen widerlegt. Vgl. David E. J. Linden/Ulrich Kallenbach/Armin Heinecke u. a.: The Myth of Upright Vision. A Psychophysical and Functional Imaging Study of Adaptation to Inverting Spectacles, in: Perception 28 (1999), 469–481. 23  Michaux war im Dezember 1957 gestürzt; die Verletzung wuchs sich zu einem größeren Problem aus und bereitete nicht zuletzt extreme Schmerzen. Vgl. auch oben, 44, Anm. 12. 24  Vgl. OC III, 856. 25  Der Unfall ereignete sich in einer Phase, da Michaux mit Drogenversuchen befasst war; vgl. OC II, XLV, und OC III, 1680. Der Text wurde dann zusammen mit anderen postdrogalen ‚poetischen Träumereien‘ veröffentlicht; vgl. ebd. Mir geht es dagegen um die Gemeinsamkeit dieser Situation mit den Versuchen als eines quasi-wissenschaftlichen Experiments. Vgl. dazu auch Anne-Élisabeth Halpern: Henri Michaux. Le laboratoire du poète, Paris: Seli Arslan, 1998, 82–85. Ich stelle die Versuche nicht chronologisch dar, sondern im Sinn einer Steigerung ihrer Reichweite und der Aktivität des Experimentierenden: zuerst die zufällige, dann die selbst gewählte Situation; zuerst die Beobachtung der primär physischen, dann die der psychophysischen Alteration. 26  „… comment associer quelqu’un à une fracture, à une péritonite, à un cancer?“ OC III, 878, Anm. A. „… wie kann man mit jemandem einen Bruch, eine Bauchfellentzündung oder Krebs teilen?“

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3. Von der Schrift abkommen: Schreiben als Geste

Auswirkungen sind aber auch noch nach Jahren zu spüren. (Bei der Publikation des Textes liegt der Unfall selbst fünf Jahre zurück.) Gemäß dieser langen Dauer sind die Aufzeichnungen von Bras cassé unterschiedlicher Natur: Im ersten Teil27 haben sie den Charakter eines minutiösen Protokolls des Krankheitsverlaufs oder einer Art Schmerztagebuch; dieses besteht aus offenbar situationsgebundenen Notizen wie denen zum Zustand nach der Operation, z. B.: „Réveil. […] / Feu. Feu. Feu incessamment répété. / […] Je m’y endors. / Réveil. / Le feu reprend. / […] / Visite.“28 Die Empfindungen sind kleinschrittig vermerkt, aber nicht oder nur unscharf datiert mit Angaben wie ‚nach diesem Morgen‘ oder ‚vier Tage später‘.29 Stellenweise wird aber auch deutlich, dass es einen Unterschied zwischen situativen Notizen und ihrer späteren Ausarbeitung gibt; so wechselt das Tempus vom Präsens zum Präteritum oder Aufzeichnungen, die im Moment des Erlebens gemacht wurden, werden als solche zitiert: „Je retrouve dans mes notes ceci: ‚Immonde, ignoble le toucher.‘“30 Im zweiten Teil handelt es sich explizit um nachträgliche Rekonstruktionen der Lage: „Des années ont passé. Affaire terminée. / […] La situation, il me semble, était celle-ci: […]“31 Die Notate der Empfindungen stehen also auf mehreren Ebenen: Sie werden als Daten gesammelt und dann mindestens zweimal ausgewertet: aus kürzerem zeitlichen Abstand im Zustand der Erkrankung und noch einmal nach der Genesung. Bemerkenswert ist dabei u. a., dass die – über den Bruch hinausgehende und damit die eigentliche Schmerzursache betreffende – medizinische Diagnose selbst kaum Bedeutung für die Verbalisierung zu haben scheint. Sie steht nicht einmal im Text, sondern wird nur in einer Endnote mitgeteilt: „algo-neurodystrophie décalcifiante“.32 Diese Aussparung hat Methode: Michaux gibt gerade nicht die physiopathologischen Erklärungen wieder und nicht einmal die klinische Beschreibung des ‚posttraumatischen Hand-Schulter-Syndroms‘;33 wenn er seine körperlichen Empfindungen formuliert, suspendiert er vielmehr gezielt das medizinische Wissen. Er verfährt sozusagen phänomenologisch: Er beschreibt, und zwar gelegentlich explizit in der ersten Person, was es heißt, in dieser Situation zu sein, wörtlich: wie es sich anfühlt, jene Störungen bestimmter Körperfunktionen zu haben.34 Das impliziert die unausweichlich metaphorische Charakterisierung der Schmerzen – sie variiert so reichhaltig, wie es keine medizinische Beschreibung je interessieren würde –, aber auch die halluzinatorische Wahrnehmung des verletzten Körperteils, verzerrte Vorstellungen vom eigenen Körper als ganzem und 27  Es handelt sich um den Text von 1962; ein zweiter Teil wurde 1973 hinzugefügt, zur Differenz vgl. Roger: Henri Michaux, 85. 28  OC III, 862 f. „Aufwachen. […] / Feuer, Feuer, Feuer, dauernd immer wieder. / […] Ich schlafe ein. / Aufwachen. Das Feuer beginnt wieder. / […] / Visite.“ 29  Vgl. ebd., 864 und 865. 30  Ebd., 870. „In meinen Notizen stoße ich auf: ‚Das Tasten widerlich, abstoßend.‘“ 31  Ebd., 872. „Jahre sind vergangen. Die Sache ist erledigt. / […] Die Situation, scheint mir, war so: […]“ 32  Ebd., 879. „Algoneurodystrophie mit Verkalkung“. 33  Vgl. ebd., 869. 34  Vielleicht könnte eine fachkompetente Lektüre des Textes in seinen Beschreibungen ein oder zwei der medizinisch unterschiedenen Stadien erkennen. Zu Michaux’ psychiatrischen, neurologischen u. a. Lektüren vgl. Roger: Henri Michaux, 75–87.

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3.3. Schreibszene mit gebrochenem Arm oder Lob der Linken

nicht zuletzt psychische Beeinträchtigungen wie Gefühle des Reduziertseins, den Verlust an Selbstvertrauen u. a.m. Der eine Knochen hat die ganze Person, ja deren ganzes Leben eingenommen. Diese Extension scheint physisches Leiden unassimilierbar zu machen, es bestimmt das Selbst- und Lebengefühl insgesamt: „Cœnesthésie, mare nostrum, mère de l’absurde“.35 Bemerkenswert ist u. a. der Bericht von einer Erfahrung kurz nach dem Sturz. Der Verletzte liegt in einem Hotelzimmer, wo er etwas Unterstützung von einem einfachen jungen Zimmermädchen erhält. Er betrachtet sie, spiegelt sich in ihr (angeblich erotisch affiziert und zugleich ohne Begehren) und sieht wie eine Offenbarung, was ihm selbst so sehr fehlt: „cette admirable chose qu’est l’unité d’une personne – ce qui à elle-même l’unissait en un tout harmonieux.“36 Es ist die einzige Stelle, an der – abgesehen von den behandelnden Ärzten – in der Krankheitsgeschichte überhaupt eine andere Person eine Rolle spielt. Die Frau ist von seinem Betrachten gerührt, was wiederum als erotisch-begierdeloser Zustand charakterisiert wird. In diesem Sinn findet zwischen ihr und dem Verletzten eine schweigende Interaktion der Blicke statt: Wahrnehmung der und des Anderen, Wahrnehmung des Wahrgenommenwerdens, Wahrnehmung eben dieser Wahrnehmung, Selbstwahrnehmung im Spiegel der Anderen, Gewahren eines besseren Selbst, das die eigene Fragmentierung überwindet... Die Passage erinnert ebenso an Überlegungen Sartres wie Lacans. Das reziproke Sehen als komplexe intersubjektive Dynamik ist allerdings ein seltenes Ereignis in Michaux’ Versuchsanordnung. Als beglückendes ephemeres Erlebnis, vermittelt durch einen anderen Menschen und allemal durch eine Frau, scheint die Erfahrung isoliert zu bleiben. Der Akzent fällt vielmehr auf die Doppelung des eigenen Selbst in ein Subjekt und ein Objekt des Beobachtens oder in ein Schmerz fühlendes und ein Schmerz beschreibendes und auf die immer neuen Arten, in denen ein einzelner Körperteil sozusagen aufdringlich wird. Das System Ich-mit-gebrochenem Arm funktioniert nur ausnahmsweise als intersubjektives. Während in der Begegnung der Blicke eine plötzliche Intuition von Ganzheit entsteht, kommen andere Erkenntnisse in einem längeren Prozess zustande. Mit Hilfe von Notaten und im Zuge der schrittweisen Verbalisierung entsteht im System Wissen über Raumwahrnehmung, Orientierung, motorische Koordination, Kin- und Könästhesie und vor allem über das Verhältnis der beiden Körperhälften zueinander. Der alterierte Zustand hat viele Gesichter. Die rechte Hand gleicht einer Mauer, die Finger sind völlig unbeweglich, der ganze Arm ist empfindungslos, die Hand täuscht über ihren Ort am Körper und im Raum, aber sie haben alle den gleichen Effekt: Sie reduzieren den 35  OC III, 856. „Könästhesie, mare nostrum, Mutter des Absurden.“ ‚Cœnesthésie‘ oder ‚cénesthésie‘, im Deutschen Kön- oder Zönästhesie (und andere Schreibweisen): Vital-, Lebens-, Leibgefühl, Leibempfinden. Zur Begriffsgeschichte vgl. z. B. Fuchs: Coenästhesie. Zur Geschichte des Gemeingefühls, in: Zeitschrift für Klinische Psychologie, Psychopathologie und Psychotherapie 43 (1995), 103–112. Während die Kinästhesie unabdingbar jede Bewegung begleitet, ist sie eine Art Vorbote für die tiefere und verbreitetere Empfindung der Könästhesie; in dieser sammelt sich das ganze Leben des Körpers, das als Präsenz im Raum, Wohl- oder Unwohlsein etc. wahrgenommen wird; so Jean Starobinski: Le monde physionomique, in: Michaux écrire et peindre. Magazine Littéraire 364 (1998), 53–54. Vgl. auch Roger: Henri Michaux, 79, und Villard: Poétique du geste, v. a. 229–233. 36  OC III, 861. „… dieses Bewundernswerte, das die Einheit einer Person ist, – das, was sie mit sich selbst zu einem harmonischen Ganzen einte.“

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3. Von der Schrift abkommen: Schreiben als Geste

ausschließlichen Rechtshänder auf seine linke Seite. Dieser entdeckt, beklagt und verflucht sich als „homme gauche“.37 Wie die Stereo-Optik verlorengeht, wenn ein Auge fehlt, so gehen dieser Analyse nach mit der Ausschaltung eines Armes Stereo-Eindrücke bzw. Stereo-Ästhesie verloren. Als dann irgendwann das Gefühl in den Handklumpen zurückkehrt, ist das eine überraschende Erfahrung: Die Wiederkehr der Sensibilität ist nicht erfreulich, sondern wirkt abstoßend und ekelhaft. Und die frühere Normalfunktion der Hand, „le naturel de mon geste“,38 erscheint nun als Meisterleistung, so sehr war das Fehlen jener Funktion zum Normalzustand avanciert. Den Beobachter führt das zu einer prinzipiellen Einsicht: „Il n’y a pas, en cette vie, de naturel vraiment naturel. Seulement de l’adaptation. De l’usage, un usage un peu prolongé, des usages...“39 Alle Gesten gehen demnach auf mehr oder weniger langen Gebrauch und wechselnde Gebrauchsweisen des Körpers zurück. Sie sind, mit anderen Worten, Körpertechniken. Was Natur zu sein scheint, besteht aus mehr oder weniger alten, mehr oder weniger flexiblen, in jedem Fall kontingenten Weisen, den Körper in der Situation zu justieren. Mit ihr zusammen bilden seine Praktiken ein lernfähiges Ensemble. Michaux’ Erkenntnis ist bemerkenswert, denn sie zeigt – einmal mehr –, dass seine Versuche mit dem eigenen Körper nicht das naive Ziel verfolgen, zu einer vermeintlich authentischen Artikulation vorzudringen. Physisches Leiden enthüllt hier – ähnlich wie in den Drogenexperimenten – keine verschüttete Wahrheit; als solches bedeutet es vielmehr ein doppeltes Leiden: nämlich an der Beeinträchtigung der üblichen Funktionen und am Scheitern des Versuchs, sich auf veränderte Bedingungen einzustellen. Nicht nur sind dadurch die Körpertechniken gestört, sondern auch die Fähigkeit, sie anzupassen oder zu modifizieren, mithin ihre grundsätzliche Plastizität. Als Komponente in einem Experimentalsystem hat das Leiden indes einen anderen Status: Es dient als epistemisches Instrumnt. Wie die Normalität invertierende Brille hat es zu der Einsicht geführt, dass selbst elementare Funktionen unserer Glieder gelernte Bewegungen sind. Lernen aber ist nichts anderes als die Einschreibung von Kultur und Gesellschaft in den Körper. Wie dieser ein enkulturierter und sozialisierter ist, so werden jene in seinen Gesten performiert und damit ihrerseits verkörpert. Diese prinzipielle Erkenntnis ist nicht die einzige, die der erzwungene Selbstversuch erbringt. Eine weitere und entscheidende besteht in der allmählichen Entdeckung der Linken, genauer: des Linkischen und seiner besonderen Möglichkeiten. Nach der Genesung gilt es, das tatsächlich neue Wissen um die spezielle Motorik der linken Hand, um ihre ungeschickte Gestik, zu bewahren. Dem Beobachter liegt nun daran, à entretenir sa différence. Sa personnalité, il fallait la faire mieux sortir, s’établir. Danse de la main gauche. Mime de la main gauche. Style de la main gauche. Quel plaisir! Quelle conquête de la mettre à s’exprimer, à être elle-même, gauche franche, uniquement ‚gauche’. Si insuffisante qu’elle soit encore, ses progrès ne furent pas nuls. Il ne s’était pas agi d’en faire une virtuose.

37  Ebd., 859. 38  Ebd., 871; „das Natürliche meiner Geste“. 39  Ebd., 871. „Es gibt in diesem Leben kein wahrhaft natürliches Natürliches. Nur Adaptiertes. Gewohnheit, eine etwas längere Gewohnheit, Gewohnheiten...“

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3.3. Schreibszene mit gebrochenem Arm oder Lob der Linken

Autre est son rôle. Si elle devenait brillante, elle perdrait son être et, plus grave, ce avec quoi elle me met sourdement en relation. J’en ai besoin sûrement. Tout le monde en a besoin pour demeurer en harmonie avec les particuliers aspects du réel auxquels la droite (et la zone du cerveau concernant cette droite) trop active, trop efficace est insensible. On a besoin sans doute de sa tendance à être en retrait, inactive, subsensible, d’une certaine façon étrangère, lointaine, non participante, parente du végétatif, du secret, de l’envers. […] Vraisemblablement elle aide à amortir l’effet d’une droite trop présente, trop immédiate, trop pour le pouvoir, elle doit collaborer à dégonfler les prétentions et les illusions sur la valeur des conquêtes, des interventions, des ambitions.40

Die Konnotationen der beiden Seiten gehen in dieser Charakterisierung durchaus über das Physiologische hinaus: Sie enthalten Aspekte traditioneller sozialer Zuschreibungen, die moralische Wertungen und nicht zuletzt Klischees der Geschlechterunterscheidung implizieren.41 Michaux ruft sie auf und versucht sich an einer Umwertung. Er stimmt das Lob der Linken an: der gaucherie, des Linkischen, Ungelenken, Unbeholfenen, Ungelernten, des Gegenteils zum technisch Versierten, Virtuosen, Meisterlichen. Dergleichen ist eher als primitivistisches Credo aus der Kunst vertraut als in Hinblick auf das Schreiben: Beim Rechtshänder ist die Linke diejenige, die diese Körpertechnik nicht beherrscht; sie ist sozusagen Analphabet geblieben,42 und dies stellt eine selbstverständliche Implikation unserer Schriftkultur dar. Die Linke ist der ‚Barbar‘ in der literalisierten Welt. Roland Barthes hätte sich darauf beziehen können, als er an Cy Twomblys gestischen Schrift-Bildern das ‚Linke‘ und Linkische herausstellte.43

40  Ebd., 877. „… ihren Unterschied [zur Rechten, S. M.] aufrechtzuerhalten. Ihre Persönlichkeit […]. Tanz der linken Hand. Pantomime der linken Hand. Stil der linken Hand. Was für eine Lust! Was für ein Gewinn, sie sich ausdrücken, sie selbst sein zu lassen, ungehemmte Linke, einzig und allein ‚links‘. / Wie unzulänglich sie auch sein mag, ihre Fortschritte waren nicht Null. Es ging nicht darum, aus ihr eine Virtuosin zu machen. / Ihre Rolle ist eine andere. Wenn sie brillant würde, verlöre sie ihr Wesen und, schlimmer noch, das, womit sie mich heimlich in Beziehung bringt. Ich brauche sie ganz gewiss. Alle brauchen sie, um mit den besonderen Aspekten der Wirklichkeit in Harmonie zu bleiben, für die die allzu aktive, allzu tüchtige Rechte (und der dieser Rechten entsprechende Gehirnbereich) unempfindlich ist. / Man braucht zweifelsfrei ihre Tendenz, sich zurückzuhalten, inaktiv zu sein, unterempfindlich, gewissermaßen fremd, fern, nicht-teilnehmend, mit dem Vegetativen verwandt, dem Geheimnis, der Rückseite. […] / Wahrscheinlich hilft sie, die Wirkung einer zu präsenten, zu unmittelbaren, zu machtorientierten Rechten zu verringern, sie muss dazu beitragen, die Ansprüche und die Illusionen über den Wert der Eroberungen, Interventionen, Ambitionen herunterzuschrauben.“ 41  Die zum Feld der französischen Soziologie von Émile Durkheim, Henri Hubert und Marcel Mauss gehörige Studie von Robert Hertz: La prééminence de la main droite. Étude sur la polarité religieuse (in: Revue philosophique 68 (1909), 553–580), auf die Mauss in seinen Ausführungen zu den Körpertechniken hinweist, zeigt an ethnologischem Material verschiedener Kulturen, inwiefern die Prävalenz der rechten Hand nicht naturbedingt ist, sondern eine soziale Institution: Auf der Grundlage der religiösen Polarität von heilig und profan werden die Ordnung der Gesellschaft, des Raumes, des Kosmos, der Geschlechter und eben auch des Körpers artikuliert und erscheinen als Quasi-Natur. In einer modernen Gesellschaft des 20. Jahrhunderts sind davon nur, aber eben doch erkennbare ferne Echos übrig. Die weitreichende Symbolik der Körperhälften spielt für Michaux allerdings nur eine untergeordnete Rolle; sein Augenmerk liegt nicht auf den Semantiken, sondern auf ihrer leiblichen Basis. 42  Vgl. Alice Godfroy: Danse et poésie. Le pli du mouvement dans l’écriture. Michaux, Celan, du Bouchet, Noël, Paris, Honoré Champion, 2015, 233. 43  Vgl. Non multa sed multum (1979), in: Roland Barthes: Cy Twombly, Berlin: Merve, 1983, (7–35) 15 f.

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3. Von der Schrift abkommen: Schreiben als Geste

Nachdrücklich klar wird an Michaux’ Beschreibungen vor allem – und hier kommt offenbar jene beglückende Erfahrung mit der jungen Frau zum Tragen –, dass die Beeinträchtigung der linken Körperhälfte Konsequenzen für den ganzen Körper und die ganze Person hat. Beim literarischen Schreiben oder künstlerischen Malen schlägt der Zustand sogar durch auf Stil, Einfallsreichtum, Plastizität, Varietät u. ä.44 Die daraus gewonnene Lektion besteht aber nun gerade nicht in der Vorstellung, beide Seiten müssten zu möglichst gleichen Fertigkeiten gebracht werden. Nicht die Rechtshändigkeit auszudehnen kann das Ziel sein, sondern im Gegenteil: „Accentuer l’asymétrie, et non pas la réduire, voilà ce qui importe, qu’il faudrait enseigner et que doit apprendre, (pour le réussir mieux que moi), toute personne qui cherche à se connaître.“45 Einen Zugewinn an Erfahrungsmöglichkeit und Selbsterkenntnis verspricht nicht die Dominanz der einen Körperseite (und der ihr komplementären Gehirnhälfte) – mithin auch keine einseitige Aufwertung –, sondern im Gegenteil die Betonung der Asymmetrie. Das Ergebnis des unfreiwilligen Selbstversuchs heißt demnach: Diversität geht über Egalität. Die Nicht-Äquivalenz der beiden Körperhälften stellt eine Ressource dar: Sie ist produktiv, sofern die Ungeschicktheit der Linken nicht länger als Defizienz, sondern als Differenzqualität aufgefasst wird. Derart bereichert sie das Spektrum der motorischen Möglichkeiten und bietet ein kritisches Komplement zur Rechten. Beidhändigkeit wäre auf dem Hintergrund dieser Erkenntnisse nicht als doppelte Rechtshändigkeit wünschenswert, sondern als Zusammenspiel irreduzibel unterschiedlicher Fähigkeiten, die – anders als bei der Prävalenz der Rechten – ihre Gewichtungen auch flexibel austauschen können. In diesem Sinn würden die ‚kinetischen Melodien‘46 von Linker und Rechter zweistimmig erklingen. Michaux fragt in Bras cassé nach den Bedingungen der Möglichkeit, mit der Hand zu schreiben. Er sucht diese Bedingungen ex negativo zu eruieren: anhand der Unmöglichkeit, die Rechte auf gewohnte Weise zu gebrauchen. Die Alterationen des Arms, des ganzen Körpers, des mentalen Zustandes sind Thema des Berichts, in der fragmentierten Artikulation der Schmerzbeschreibungen werden sie aber nicht nur repräsentiert, sondern immer wieder auch präsentiert. Bis zu welchem Grad die stakkato-artig aufeinanderfolgendenen Notate tatsächlich situative sind oder sich nachträglicher stilistischer Arbeit verdanken, lässt sich indes nicht sagen, da es keine Manuskripte gibt, an denen sich die tatsächliche Textgenese nachvollziehen ließe oder die Beispiele für Schreibprozesse in dieser Krankheitsphase enthielten. Allemal kann man nicht autoptisch studieren, wie die Graphie der aushelfenden Linken und die zu ihrer Funktion zurückkehrenden Rechten aussahen. Analysen von (aus anderen Gründen) verzerrten Graphien lassen sich indes an anderen Arbeiten Michaux’ anstellen. Denn das Linkische, wenn auch nicht die Linke, hat er schon seit Ende der zwanziger Jahre praktisch fruchtbar gemacht. Der Gewinn aus diesem Text liegt dagegen auf anderer Ebene: Eine Apologie des Linkischen könnte nichts weiter als ein primitivistisches, kulturkritisches Ideologem

44  Vgl. OC III, 878, Anm. B. 45  Ebd., 879, Anm. L. „Die Asymmetrie betonen und sie nicht reduzieren, darauf kommt es an, das müsste man lehren, und das muss (für ein besseres Ergebnis als bei mir) jeder lernen, der sich erkennen will.“ 46  Vgl. oben, 28, Anm. 46, und unten, 166 f.

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3.3. Schreibszene mit gebrochenem Arm oder Lob der Linken

sein, ein Topos der Moderne; hier aber entstehen auf auto-experimenteller Basis empirische Erkenntnisse zur Funktion der Linken. Die ungelenke Geste erzeugt eine linkische Linie, sei es eine des Schreibens oder des Zeichnens. Diese wird hier aufgewertet, aber mit Gründen, die auf physiopsychologischen Beobachtungen beruhen. Die Bemühung um dergleichen führt weit weg von Ursprungsverklärungen, aber sie besteht auch nicht in einfachen Übernahmen wissenschaftlicher Theoreme. Vielmehr zeigt ein Text wie dieser, dass Experimentalpraktiken in der Wissenschaft und in den Künsten eine gemeinsame Schnittmenge haben: Sie sind organisierte Szenen des Fragens und Befragens, Beobachtens, Aufzeichnens, Bearbeitens der Aufzeichnungen usw. Die ‚Schreibszene mit gebrochenem Arm‘ ist eine teils beschriebene, teils auf der Ebene komplexen, epistemischen Schreibens47 inszenierte. Der Autor stellt sie eingangs selbst als Versuchsanordnung vor, in deren Rahmen er dann als Beobachter und Beobachteter auftritt.48 Damit lehnt sich die Untersuchung zur Wirkung des fatalen Sturzes an die Drogenexperimente an.49 Bei der Exploration der Halluzinogene werden allerdings das Setting, Experimentleiter und Testperson, die Durchführung der Versuche und nicht zuletzt die Aufzeichnungsverfahren selbst in ganz anderem Maß als hier in den Fokus gerückt und in den Publikationen selbst mitpräsentiert.

47  Epistemic writing ist im Schreibstrategiemodell von Carl Bereiter die komplexeste, nämlich Gedanken erarbeitende und Wissen hervorbringende Weise des Schreibens; vgl. Development in Writing, in: Lee W. Gregg/ Erwin R. Steinberg (Hg.): Cognitive Processes in Writing, Hillsdale: Erlbaum, 1980, 73–93. Der Begriff wird auch von der Literaturwissenschaft und der oben erwähnten Schrift- und Schriftbildtheorie gebraucht. Vgl. Gilbert: Bewegung im Stillstand, 163–166, und Krämer: Schriftbildlichkeit, 356. 48  Den textuellen Rahmen setzt der einleitende kursiv gedruckte Text, der von den Versuchen mit den Brillen berichtet; vgl. OC III, 856. 49  Vgl. oben, 69, Anm. 25.

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4. Meskalin-Szene und ‚Meskalinie‘

4.1. Kontrolliert entgleisen: experimentelles Setting und Methode Auch Drogen können als Brillen dienen, die Wahrnehmung, Raum- und Zeiterfahrung, Körpergefühl und vieles andere durcheinanderbringen und auf dem Umweg über die Alienation zu Erkenntnissen des im gewohnten Zustand unbemerkt Bleibenden verhelfen; sie alterieren Körpertechniken ebenso wie psychische und mentale Funktionen.1 Das Enden der Wirkung gleicht dem Absetzen der Brille, durch das allein die Normalität jedoch noch nicht zurückkehrt. Im einen wie im anderen Fall muss der Körper sich wieder umstellen, und das beansprucht Zeit. Michaux’ Bücher zu Drogen stellen diese Experimente ausführlich dar und bedienen sich dabei multipler Verfahren der Verbalisierung und Visualisierung. Zu diesen gehört im ersten und bekanntesten Buch der Reihe, Misérable Miracle (1956), auch der Abdruck von Notaten aus dem Rauschzustand selbst. Dennoch handelt es sich nicht um Dokumentationen der Experimente. Vielmehr bieten alle Bücher zu den Drogenerfahrungen deren mehr oder weniger vermittelte Darstellungen. Man hat es mit Erinnerungen, Rekonstruktionen, Übersetzungen und Übersetzungen von Übersetzungen2 in jeweils abgeschlossenen präsentablen Formen zu tun, nicht mit Protokollen des tatsächlichen Ablaufs der Experimente.3 Auch die Genese eines der Drogenbücher, etwa von datierten Notaten zur Einnahme bis zur Endredaktion der Texte, lassen sich daran nicht nachvollziehen.4 Misérable miracle, L’Infini turbulent (1957), Paix dans les brisements (1959),5 Connaissance par les gouffres (1961), Les

1  Auch Schläfrigkeit und Halbwachheit sind in diesem Sinn von Interesse und werden von Michaux beobachtet. Müdigkeit sei seine Droge, schreibt er im Nachwort zu Misérable miracle; vgl. OC II, 767; zur Tagträumerei vgl. unten, 102 und 164 f . Man beachte den Unterschied zum sonst üblichen Ansatz, in dem der Rausch das Ziel darstellt; hier dagegen ist die Droge eine von mehreren Möglichkeiten experimenteller Untersuchung und Erkenntnisgewinnung. Das Verhältnis dieser Erkenntnisse zu fachwissenschaftlichen in engerem Sinn berühren die folgenden Ausführungen aber nur gelegentlich. 2  Vgl. Helmut Pfeiffer: Schiffbrüche mit Bewusstsein. Droge, Zeichnung, Schrift bei Henri Michaux, in: Jörg Dünne/Christian Moser (Hg.): Automedialität. Subjektkonstitution in Schrift, Bild und neuen Medien, München: Fink, 2008, (161–185) 175. 3  Ein veritables (von einer anderen, nicht identifizierten Person zusammengestelltes) Protokoll des Ablaufs gibt es von dem vermutlich ersten Versuch Michaux’ mit LSD; vgl. Edith Boissonnas/Henri Michaux/Jean Paulhan: Mescaline 55. Édition établie, annotée et prefacée par Muriel Pic, Paris: Éditions Claire Paulhan, 2014, 245–254. 4  Vgl. OC II, 1281–123, zu den handschriftlichen Carnets de la drogue vgl. OC III, 263–284 und 1543–1548; vgl. auch Pfeiffer: Schiffbrüche, 166 f. 5  Vgl. unten, 174–185.

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4. Meskalin-Szene und ‚Meskalinie‘

grandes épreuves de l’esprit et les innombrables petites (1966) sind weniger Zeugnisse dieser Erfahrungen6 als Bücher über sie, und zwar komponierte. Sie stellen eine eigene Art Literatur dar:7 Weder sind sie wissenschaftliche Aufsätze oder Abhandlungen noch Texte, die unter Drogen geschrieben sind und/oder deren Wirkung auf literarisches Schreiben erproben. Ihr erklärtes und in der Rezeption auch immer wieder bestätigtes Interesse ist ein epistemisches, nicht Kreativitätssteigerung, Lustgewinn, Entfesselung des Unbewussten (wie in der écriture automatique), Risikospiel, erhabene Seelenzustände, Mystisches, Religionsersatz o. ä.8 Will man dieses Interesse präziser bestimmen und nicht nur generell als eines der Selbsterkenntnis (die immer zu autobiografischer Selbstkonstitution gehört), müsste man wohl sagen: Es geht um die Erkenntnis physiopsychischer Vorgänge im breiten Sinn, von Empfindungen, Gestik, Motorik etc. bis zu kognitive Prozessen. Gemeint sind die normalen Abläufe: das, was der gewöhnlichste Mensch tut, ohne darauf zu achten, die Arbeit der Routine, nicht die Ideen, die als etwas Besonderes gälten; das Normale, nicht das Unnormale, sei enorm; dessen komplexe, bewundernswürdige Mechanismen wollen diese Forschungen aufdecken.9 Doch dabei kommt es – und das ist ein Charakteristikum dieser Unternehmungen – nicht auf die naturwissenschaftliche Erklärung der Vorgänge an, sondern auf eine möglichst differenzierte Beschreibung des Erlebens. Die Verfahren sind: Selbstbeobachtung unter Einwirkung der Droge, also Introspektion;10 Schreiben in verschiedenen Phasen des Versuchs; Zeichnen, Analyse und Beschreibung der graphischen und verbalen Erzeugnisse post festum; Ausarbeitung der Verbalisierung auf mehreren Ebenen bis hin zur Auseinandersetzung mit wissenschaftlicher Literatur. 6  Bis zu einem gewissen Grad werden sie heute ergänzt durch Informationen in der Werkausgabe; aber zu den Schwierigkeiten, die Reihe sukzessiver Schritte eines Versuchs und Schreibprozesses zusammenfügen, vgl. 77, Anm. 4. 7  Auch eine eigene Art Buch, vgl. dazu unten, 81–90. Eine weitere Publikation zum Thema ist der 1963 mit Éric Duvivier gedrehte 35-minütige ‚medizinische‘ Film Images du monde visionnaire; vgl. OC III, 221–262 und 1526–1542. 8  Zur Abgrenzung von rituellem Drogenkonsum, wie er Artaud interessiert, vgl. Pfeiffer: Schiffbrüche, 176 f. Er akzentuiert an Michaux’ Drogengebrauch die Selbsttechnik, also die Subjektkonstitution. Davon wäre die epistemische Ausrichtung noch einmal zu unterscheiden; im Motto zu Connaissances par les gouffres heißt es z. B., die Drogen langweilten uns mit ihren Paradiesen, sie sollten uns eher ein wenig Wissen geben. Vgl. OC III, 3. 9  Anders als etwa in der Psychoanalyse geht es nicht um die Freilegung von Verdrängtem u. ä. Wie bei der körperlichen Gesundheit sollen die Störungen vielmehr Aufschluss geben über das sonst als selbstverständlich Geltende. Die Dysfunktionen des esprit seien die Lehrmeister. Eher als das Denken-Können der Metapyhsiker seien es die Demenzen, Behinderungen, Delirien, Ekstasen und Agonien, das Nicht-mehr-denken-Können, in dem wir uns wirklich entdeckten; vgl. Les Grandes Épreuves de l’esprit, OC III, 316. 10  Zu dieser Dimension vgl. Jay Hetrick: The Neurophenomenology of Gesture in Michaux, in: Helena de Preester (Hg.): Moving Imagination. Explorations of Gesture and Inner Movement, Amsterdam: John Benjamins, 2013, 263–280. Demnach lassen sich Michaux’ Einsichten in Grundfunktionen des menschlichen Gehirns durch Oliver Sacks’ neurowissenschaftliche Migräne-Forschungen unterstützen. „In accord with Francisco Varela’s vision for a neurophenomenology that takes equal account of first- and third-person investigations, Michaux’s and Sacks’ findings mutually reinforce each other, and, together, help construct a neurophenomenology of gesture.“ Ebd., 263. Zu den aus Varelas Sicht vielversprechendsten Modellen von first-person-investigation gehört phänomenologische Praxis; vgl. ebd., 279.

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4.1. Kontrolliert entgleisen: experimentelles Setting und Methode

Über das Setting der Experimente informieren die Darstellungen nur bedingt. So gibt es in Misérable miracle etwa gelegentlich, aber nicht systematisch und konsequent, Angaben zum Ort, zum Zeitpunkt, zur Menge des eingenommenen Stoffs, z. B. ganz am Anfang: „Dans une chambre obscure après ingestion des 3/4 d’une ampoule de 0,1 g de Mescaline.“11 Zu Beginn des fünften Kapitels, das von einem besonderen Experiment berichtet, heißt es: „Mescaline encore[.] Six mois plus tard je prends six ampoules, soit 0,6g“.12 Andere Zeitangaben lauten „Vers la cinquième heure qui suit l’ingestion“, „le lendemain“, „dix jours après“, „trois semaines après“, „plus de trois mois écoulés“.13 Über welchen Zeitraum sich die Versuche ungefähr erstrecken, kann man daraus entnehmen, Anfangs- und Endpunkt werden aber nicht präzis benannt. Auch zu Zahl und Häufigkeit der Versuche gibt es nur sporadisch Informationen, z. B. einmal am Rand „TROISIÈME EXPÉRIENCE“.14 Nur gelegentlich werden Stadien oder Phasen markiert.15 Dass an den Versuchen auch andere Personen beteiligt sind, erfährt der Leser nur nebenbei: anhand von Initialen wie A… oder S... oder der Erwähnung eines ‚Arztes‘. In Hinsicht auf ihre Identität und die Art ihrer Beteiligung – nicht alle nehmen auch die Droge, manche agieren als Zeugen oder als Helfer – bleibt der Text selbst sehr diskret.16 Es gibt keine Daten zu Geschlecht, Alter, Gewicht, gesundheitlicher Verfassung o. ä. der Probanden. Auch die zum Schreiben unter Drogenwirkung benutzten Dinge – Bleistift, Papier, deren Art, Größe…17 – werden nicht benannt, ab und zu als visuelle und verbale Impulsgeber benutzte Bücher nicht spezifiziert, und bibliographische Angaben zur wissenschaftlichen Literatur sind zumindest in Misérable miracle spärlich. Die Verdunkelung des Raums findet buchstäblich am Rand Erwähnung, die Isolation von der Außenwelt mag man sich dazudenken. Von vorbereitenden Maßnahmen ist nicht die Rede, die Vorsorge für den Notfall wird jedoch gelegentlich deutlich.18

11  OC II, 622 (Rand). „In einem dunklen Zimmer nach Einnahme einer 3/4 Ampulle von 0,1 gr Meskalin“. Unseliges Wunder. Das Meskalin. Aus dem Französischen von Gerd Henniger, München: Carl Hanser, 1986 (künftig abgekürzt UW), 15 (Rand). 12  OC II, 723 (Rand). „Wieder Meskalin. Sechs Monate später nehme ich sechs Ampullen, d. h. 0,6 Gramm. “ UW, 101 (Rand). 13  OC II, 691 und 694–696. „Um die fünfte Stunde nach Einnahme“, „am nächsten Tage“, „zehn Tage später“, „drei Wochen später“, „mehr als drei Monate vergangen“; UW, 66 und 70–73. 14  OC II, 648. „Drittes Experiment.“ Henniger hat sich in seiner Übersetzung für ‚Erfahrung‘ entschieden, offenbar mit dem Interesse, den Schriftsteller und das Literarische zu betonen; vgl. UW, 38. Vgl. auch unten, 80. Das fünfte Kapitel berichtet über das vierte Experiment. 15  Vgl. OC II, 672. 16  Informationen gibt der Apparat der Werkausgabe, vgl. ebd., 647 und 1298. Zu den zwei verschiedenen Berichten, von Jean Paulhan und Maurice Saillet, vgl. ebd., 1279–1281, zu weiteren ‚Zeugen‘ des Unternehmens von Misérable Miracle (es sind v. a. Verleger) vgl. ebd., 1274, und die Namenliste ebd., 1291; sie hält auch fest, wer an welchem der Versuche teilgenommen hat. Die Angaben sind indes nicht vollständig: Die Schweizer Dichterin Edith Boissonnas fehlt. Der Text nennt statt der Initialen ihres Namens nur ‚eine Frau‘; vgl. ebd., 651 und 1299, sowie Boissonnas/Michaux/Paulhan: Mescaline 55, 13 und 176, Anm. 1. Anhand ihrer Briefe wird hier der Ablauf der ersten drei Versuche am 2., 3. und 9. Januar 1955 rekonstruiert. Sie entsprechen den ersten drei Kapiteln in Misérable Miracle; vgl. Pic: Préface, ebd., (9–74) 24. 17  Vgl. OC II, 1283. Michaux bevorzugt Bleistift, weil er besser und schneller gleitet. 18  Von diesen Dingen handeln die Ende Dezember 1954 beginnenden Briefe; vgl. Boissonnas/Michaux/Paulhan: Mescaline 55, z. B. 93–95.

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4. Meskalin-Szene und ‚Meskalinie‘

Die konkreten raumzeitlichen Umstände, Werkzeuge, Materialien, die personale Konstellation – alles, was eine Szene oder eine Versuchsanordnung ausmacht – bleiben also eher vage. Der Akzent der Darstellung liegt nicht auf der experimentellen Praxis, sondern auf den Empfindungen und Gesichten und der Problematik ihrer Mitteilung.19 Die wenigen Hinweise zu Setting und Durchführung reichen indes aus, um auf praxeologischer Ebene einige Parallelen zwischen den epistemischen und den künstlerischen Unternehmungen Michaux’ hervortreten zu lassen. Wie bei der Anfertigung der Graphismen etwa der Mouvements, aber auch anderer quasi-skripturaler graphischer Arbeiten, wie auch in der Situation mit dem gebrochenen Arm geht es um eigens geschaffene oder um zufällige, doch zur Versuchsanordnung umdeklarierte Situationen, die Routinen unterbrechen. Dort sind es körperliche, bei den Drogenversuchen in einem breiten Spektrum psychophysiologische. Die Versuche ‚entkonditionieren‘ den Akteur. Meskalin bewirkt dies auf besonders drastische und besonders aufsehenerregende Weise, eben weil es nicht nur Körpertechniken alteriert. Das Prinzip aber ist nicht völlig anders.20 Beim Produzieren schriftähnlicher graphischer Gebilde in der Krankheitsphase nach dem Sturz und bei den Drogenversuchen werden jeweils eingespielte Funktionsweisen vorübergehend zum Entgleisen gebracht. Dieses Derangement erfolgt (außer bei dem Unfall) kontrolliert: Der Akteur, der zugleich Versuchsleiter und Versuchsperson ist, ändert gezielt bestimmte Parameter seiner üblichen physischen und physiopsychischen Aktivitäten (oder erklärt, wie beim gebrochenen Arm, zufällig geänderte Parameter zu Testbedingungen) und beobachtet die Konsequenzen. Experimente sind diese Praktiken auch unter einem weiteren Aspekt: Versuche müssen, wenn sie zu aussagekräftigen Ergebnissen führen sollen, in Reihen stattfinden. Hier werden sowohl die künstlerischen wie die epistemischen Praktiken jeweils vielfach wiederholt.21 Michaux hat, wie bereits erwähnt, bei der Arbeit an den Mouvements nicht einige, sondern über 1200 Seiten mit Graphismen angefertigt und nur einen Bruchteil davon für die Publikation verwendet. Auch bei den Drogenversuchen begnügt er sich nicht mit einigen wenigen; die wären tatsächlich nur expérience im Sinn von Erfahrung, nicht im Sinn von Experiment gewesen: nur Abenteuer, nicht Erkenntnis. Die Explorationen unterscheiden sich dabei vor allem in der Reichweite der in einem Setting vorgenommenen Veränderungen. Dass die modifizierende Intervention – die ‚Brille‘ – sich aber nicht nur lokal auswirkt und sich nicht auf ‚nur Physisches‘ begrenzen lässt, zeigt sich auch in den Fällen ohne Einnahme von Drogen. 19  Vgl. dazu Pfeiffer: Schiffbrüche. Ihm zufolge kommt es weniger auf die in der Immanenz des Bewusstseins ablaufenden Prozesse an als auf die Möglichkeitsbedingungen ihrer Kommunikation und Archivierung. Im Unterschied dazu möchte ich die Modifikation von Schreiben und Zeichnen als gelernten, physiopsychischen Aktivitäten in den Fokus rücken. 20  Die Forschung stellt oft eine Analogie zwischen Reisen und Drogenerfahrung her; letztere sei ein Ailleurs wie die realen und phantastischen Länder. Das ist freilich eine ebenso topische wie problematische Metaphorik. Zu einer anderen Darstellung des Verhältnisses vgl. Marília Jöhnk: Poetik des Kolibris. Verfahren der kleinen Reiseprosa bei Gabriela Mistral, Mário de Andrade und Henri Michaux (Diss., HU Berlin, 2020, 230–309). Für den Einblick in die unveröffentlichte Arbeit danke ich der Verfasserin. 21  Die unfreiwillige Situation von Bras cassé hat eine ebenso unfreiwillige Wiederholung mit einem verletzten linken Fuss; vgl. Comme un ensablement… (s. 26, Anm. 41).

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4.2. Epistemischer Gegenstand und Medialität: das Meskalin-Buch

4.2. Epistemischer Gegenstand und Medialität: das Meskalin-Buch Im Avant-propos zu Misérable miracle befasst sich Michaux explizit mit der Problematik der Mediatisierung der gemachten Erfahrung. „Ceci est une exploration. Par les mots, les signes, les dessins.“22 Er unterscheidet mithin drei Arten, Meskalin zu erforschen und die Erfahrungen mitzuteilen. Beides, Erkunden und Bekunden, lässt sich nicht voneinander trennen, denn das Erkunden besteht zumindest zum Teil darin, dass die Droge das Schreiben und das Verbalisieren affiziert, und Notizen im Rauschzustand demonstrieren ad oculos eben dieses Affiziertwerden; sie sind seine Spuren und unmittelbaren Zeugen. Erkunden und Bekunden driften aber auch von Anfang an auseinander, weil sich das Gewimmel rasend schnell wechselnder Wahrnehmungen jeder möglichen Kommunikation, allemal der sprachlichen, entzieht. Wörter, Zeichen und Zeichnungen stehen als Medien der Erfahrung und Mitteilung zur Verfügung (akustische fehlen indes und generell apparative Aufzeichnungsmedien): Die Trias entspricht bis zu einem gewissen Grad der Peirce’schen Unterscheidung in symbolische Zeichen (mots), indexikalische (signes) und ikonische (dessins). Konkret gibt es aber auf den Blättern mit graphischen Spuren auch Buchstaben, also symbolische Zeichen, und die Zeichnungen indizieren auch eine von der Droge veränderte Motorik; ebenso scheinen bestimmte Arten der Verbalisierung, wie etwa Wörterreihungen, vom Meskalinrausch veranlasst. Es empfiehlt sich daher, Michaux’ Unternehmen zu beschreiben, ohne sich auf diese Terminologie festzulegen. Misérable miracle nutzt Verbales und Visuelles jeweils auf mehreren Ebenen: Es gibt drei oder, wenn man will, sogar vier verschiedene Arten von Bildern: (1) typische Meskalin-Zeichnungen (dessins); (2) Autographen von Schreibversuchen unter Drogen (signes); auch von scription ist die Rede, an der diejenigen, die eine Handschrift (écriture) zu lesen wüssten, mehr lernen könnten als aus jeder Beschreibung; das einzelne Blatt wird auch als „[l]e texte primordial, plus sensible que lisible, aussi dessiné qu’écrit“ bezeichnet, und die ganzen Notate dieser Art zusammen als „le manuscrit“;23 (3) eine Art Schautafel mit Linientypen (und verbaler Legende). Dazu kommt noch (4) das Diagramm der chemischen Formel von Meskalin, das dem Buch als eine Art visueller Paratext vorangeht;24 es kombiniert geometrische Linien – Geraden bilden ein Sechseck – mit Buchstaben und ist eigentlich eindeutig etwas, was im üblichen Sprachgebrauch ‚Zeichen’ heißt; trotzdem fällt es für Michaux nicht unter signes (und wird auch sonst nicht als eine weitere ‚Darstellung’ von Meskalin reflektiert). Er ­reserviert hier25 diesen Term für die handschriftliche Graphie, die dem Geschehen am nächsten steht; das 22  OC II, 619. „Dies ist eine Erkundung. Mit Wörtern, Zeichen und Zeichnungen.“ 23  OC II, 619; „der ursprüngliche Text, der eher sinnlich wahrnehmbar als lesbar und ebenso gezeichnet wie geschrieben ist“, „das Manuskript“. ‚Bild’ sind diese Notate im reproduktionstechnischen Sinn: Die Handschrift wird als Abbildung (analog) in den Text (digital) eingefügt. 24  Es stammt aus dem Versuchsbericht des Mailänder Psychiaters Giovanni Enrico Morselli: Contribution à la psychopathologie de l’intoxication par la mescaline. Le problème d’une schizophrénie expérimentale (Journal de psychologie normale et pathologique, 33 (1936), (368–392) 369); vgl. OC II, 766, 1294 f. und 1309. 25  Michaux gebraucht das Wort nicht immer im gleichen Sinn: In anderen Texten heißen signes gerade die alphabetischen Zeichen, die wissenschaftliche, auch die ‚entfremdete‘ Schrift, in den Mouvements wiederum sind sie synonym mit Gesten.

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4. Meskalin-Szene und ‚Meskalinie‘

‚Manuskript’ habe direkt und auf einmal das Thema, die Rhythmen, die Formen, das Chaos ebenso wie die innere Gegenwehr und ihre Zerreißungen übersetzt; diese Zeichen – sie bewegen sich am Rand der Leserlichkeit oder sogar schon jenseits davon – könnten aber auf keine Weise genügen. Eine Möglichkeit ist demnach von Anfang an ausgeschlossen: die, das Publikum vorwiegend mit den Manuskripten zu konfrontieren – die Blätter hätten chronologisch geordnet, mit Transkriptionen und Kommentaren versehen werden können –, also eine Art kritischer Ausgabe nur der tatsächlich im Rausch entstandenen Notate; doch die Option eines derartigen Dossiers gab es nie.26 Alles habe vielmehr noch einmal geschrieben („récrit“) und in den den Autographen fremdesten Modus, in Drucktext, verwandelt werden müssen; „le mur de la typographie“27 habe die größte Schwierigkeit bereitet. Diesen Darstellungsproblemen, insbesondere dem zuletzt genannten, begegnet Misérable miracle mit verschiedenen Verfahren – und durchaus erfolgreich: Die Entstellung der Handschrift bis zur Auflösung in bloße Zickzackbewegungen wird in Form von Abbildungen gezeigt. Das heißt, im Fall der Autographen liegt die Lösung in der Medienkombination. Essay und Faksimiles stehen im Buch nebeneinander, es scheint Bericht und Analyse durch Blicke ins Archiv zu ergänzen und zumindest zwei Zeitschichten des Textes vorzuführen. Andere Herausforderungen liegen in den Wirkungen der Droge auf das Auftauchen von Sprachmaterial – z. B. in den insistenten Wiederholungen eines einzelnen Worts – und in der Frage, wie sich verbal überhaupt von extrem vielen, schnell wechselnden, sich überlagernden oder gleichzeitig auftretenden Wahrnehmungen ein Eindruck geben lässt. Die zumindest approximative Lösung dafür liegt bemerkenswerter Weise gerade in der als Haupthindernis apostrophierten Typographie, genauer im Druckbild der Seite: Der Text der fünf Kapitel von Misérable miracle besteht, wie bei Michaux üblich, aus unregelmäßig langen Stücken – das längste zieht sich über wenige Seiten, das kürzeste nicht einmal über zwei Zeilen; sie sind durch Leerzeilen, Asterisken und/oder Punktlinien voneinander getrennt. An den Rändern umgeben sie rechts und links Marginalien und unten Fußnoten, der Satzspiegel ist daher ­schmal, die Längsseiten sind mit kleinerer kursiv, der untere Rand mit kleinerer recte gesetzter Schrift mehr oder weniger dicht besiedelt (Abb. 4). Im Ergebnis erscheint die ‚typographische Mauer’ also mehr als üblich durchbrochen. Da die Doppelseiten bald voller, bald leerer sind, variiert das Textbild erheblich, und dieser Wechsel erzeugt beim Blättern einen gewissen Eindruck von Unruhe. Das Lesen selbst wird nicht nur von den Abbildungen und den Leerräumen angehalten, sondern Rezipienten haben immer wieder Optionen: Die Marginalien sind keine Zwischentitel, sondern eher eine Art Abkürzungen,28 wobei diese gerade nicht in begrifflich gefassten Pointierungen bestehen. Orientierung geben die Marginalien nur teilweise, und zusätzliche Informationen nicht immer. Müssen sie gelesen werden? Die gleiche Frage stellt sich für die Fußnoten. Welche Texte einer Seite Le26  Gallimard wollte, dass Michaux auf Abbildungen ganz verzichtete; vgl. OC II, 1275; schon das ‚Album‘ aus vergleichsweise wenig Text und Bildern war dem Verlag zu unkonventionell. Misérable miracle erschien daher zunächst bei Rocher in Monaco. 27  OC II, 619; „die Mauer der Typographie“. 28  Vgl. OC II, 620.

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4  Seitengestaltung in der Originalausgabe von Henri Michaux, Misérable Miracle, 1956.

ser überhaupt zur Kenntnis nehmen und in welcher Reihenfolge, können und müssen sie nach jedem Umblättern wieder neu entscheiden. So vermehrt das unkonventionelle Schriftbild die möglichen Lesewege und bringt in die starre Ordnung der Zeilen eine gewisse Dynamik. Michaux rückt all diese Maßnahmen in seinem Vorwort unter das Vorzeichen der Unzulänglichkeit und der Verfehlung. Damit geht er zu seiner Art der Darbietung genauso auf Distanz wie zum Sujet selbst, zur Droge als präsumtiver Lusterfahrung und (Baudelaire’schem künstlichen) Paradies. Beide Distanzierungen sind indes hochgradig ambivalent: Die schrecklichen Erfahrungen mit Meskalin und die extrem kritischen Äußerungen dazu haben ihn nicht von weiteren, etwa ein Jahrzehnt währenden Versuchen mit dieser und anderen Drogen abgehalten.29 Und ebenso zweischneidig ist die Qualifizierung seiner Darstellung. Die Zeichnungen können nur post festum angefertigt werden und sind nur Annäherungen an die Visionen; vom Spektakel der Farben Kunde zu geben, hat er offenbar nicht versucht. Die Texte sind im Verhältnis zum ‚Manuskript’ mehrfache Übersetzungen. Die Autographen sind kaum oder gar nicht lesbar und bedürften einer besonderen (wohl nicht methodisierbaren) Ent­zifferungs­kunst. Alles in allem scheint die Darstellung der Meskalinversuche also höchst unbefriedigend ausgefallen zu sein. Andererseits aber bestehen diese unzulänglichen Mitteilungen in einer besonderen Art Literatur, die Drogen nicht verklärt, sondern ihre Erfahrungen beleuchet, ohne sie auf die szientifische Perspektive zu reduzieren. Darüber hinaus 29  Zum Abschied von Meskalin und anderen Drogen vgl. das Addendum IV zu Misérable miracle (1968–1971), OC II, 784.

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münden die Strategien zur Lösung der Darstellungsprobleme auch und gerade in eine besondere Art Buch, d. h. in eine besondere Variante des mit mehreren Sinnen zu gebrauchenden Gegenstandes. Misérable miracle ist (unter den Drogen-Publikationen) das erste Beispiel auf diesem Weg. In Paix dans les brisements werden die Kombinationen aus manueller Graphie und Typographie und die Versuche, den statischen Drucktext, ja, das ganze Buch zu mobilisieren, zu einer außerordentlichen Blüte kommen.30 Der erste Absatz des Avant-Propos zu Misérable miracle heißt vollständig zitiert: „Ceci est une exploration. Par les mots, les signes, les dessins. La Mescaline est l’explorée.“31 Das ist eine sehr elliptische Ausdrucksweise für einen komplexen Sachverhalt. Die knappen Sätze sagen u. a., dass der epistemische Gegenstand der Versuche nicht etwa das aus dem Peyotl gewonnene Alkaloid ist; als solches wäre Meskalin Gegenstand einer chemischen Untersuchung. Es könnte auch einer pharmakologischer oder ritualgeschichtlicher Forschung sein. Hier ist Meskalin indes ein epistemischer Gegenstand, insofern es in Worten, Zeichen und Zeichnungen begegnet. Der Untersuchungsgegenstand ist also nicht einfach ‚la Mescaline’, sondern die Droge, sofern und in der Art, wie sie verbal und visuell in Erscheinung tritt, oder auch ihre verbalen, graphematischen und graphischen Manifestationen, die ebenso Performanzen im Rauschzustand selbst wie Rekonstruktionen sein können. Dass es um die genannten Erscheinungsweisen geht, ist nicht selbstverständlich. Ebensogut könnte man ja die Meskalin-induzierten Veränderungen akustischer Artikulation (Sprechen, Singen…) studieren oder diejenigen anderer körperlicher Bewegungen als der graphierenden Hand (Gehen, Radfahren, Bälle Fangen...); in diesem Fall wären Selbstbeobachtung und selbst vorgenommenes Aufzeichnen freilich ein schweriges Unterfangen oder nur mit zusätzlicher Technik wie Ton- oder Videoaufnahmen zu leisten. Michaux ist in seinem Experiment Versuchsleiter, Testperson und mit der Hand zugleich noch Inskriptionsgerät. Eine derartige dreifache Rolle in einem experimentellen Setting ist nur möglich, wenn der zu erforschende Gegenstand von seiner Mediatisierung nicht zu trennen ist: wenn es also nicht um die Wirkung von Meskalin auf die Sinne oder die Motorik schlechthin geht, sondern um die Sinnlichkeit und Gestik graphierender Tätigkeit, die z. T. auch die sprachliche Artikulation involviert. Die Frage von Misérable miracle heißt also von Anfang an nicht nur: ‚Was erlebt man unter Meskalin?’ Sie heißt auch nicht nur: ‚Wie lässt sich ein Meskalin-Erlebnis registrieren und kommunizieren?’ oder ‚Wie konstituiert sich ein Meskalin konsumierendes Selbst medial, d. h. in Worten, Zeichen und Zeichnungen?’32 Die Frage von Misérable miracle heißt vielmehr auch: ‚Was geschieht unter Meskalin mit Gestik, Motorik, Wahrnehmung und Selbstwahrnehmung eines graphierenden Subjekts? Wie verhalten sich diese Dimensionen seiner Aktivität zueinander? Wie verändern sich die Körpertechniken Schreiben und Zeichnen? Was wird aus den Gesten, die unsere graphische und graphemati-

30  Vgl. unten, 174–185. 31  OC II, 619. „Dies ist eine Erkundung. Mit Wörtern, Zeichen und Zeichnungen. Das Erkundete ist das Meskalin.“ 32  Vgl. Pfeiffer: Schiffbrüche.

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5 und 6  Henri Michaux, Misérable Miracle (1956) 1972, © Éditions Gallimard.

sche Kultur verleiblichen?’ Antworten auf diese Fragen geben zunächst die Autographen und Zeichnungen und vermittelter die Beschreibungen der physiopsychischen Zustände. Michaux interessieren – zumindest laut dem Bericht von Jean Paulhan über ihren gemeinsamen Versuch – vor allem die Veränderungen der Schrift durch die meskalintypische extreme Beschleunigung aller Abläufe. Als Michaux im Rauschzustand Notizen machte, erwartete er sich diesem Zeugnis seines Freundes zufolge „pas la moindre révélation de ce qu’il écrivait, mais – écrivant à grande vitesse – de la direction et de la forme des lignes et de leur dessin“.33 Die Autographen zeigen, wie bestimmte Schreibgesten immer wieder repetiert werden und sich dabei so verändern, dass die Möglichkeit, einen Graphismus als token zu einem type anzusehen, verloren geht. Scheint etwa ein mehrfaches Auf und Ab zunächst ein kleines einzelnes oder doppeltes ‚m’ zu sein, so wird es in der Multiplikation zu einem Krakel (Abb. 5).34 Andere Buchstaben verziehen sich zu langen lasso-artigen Schlingen oder laufen in eine Reihe von Strichen aus (Abb. 6). 33  OC II, 1280; „nicht die geringste Offenbarung von dem, was er schrieb, sehr wohl aber – er schrieb sehr schnell – von der Richtung und der Form der Linien und ihrer Zeichnung“. Pfeiffer übersetzt lignes mit ‚Zeilen‘, wozu der Ausdruck leur dessin (‚ihrer Zeichnung‘) allerdings nicht passt; vgl. Schiffbrüche, 167. 34  Eventuell steht das Blatt in Bezug zu den Worten „les lettres ‚m‘ du mot ‚immense‘ […], les doubles jambages de ces ‚m‘ de malheur s’étirent en doigts de gants, en boucles de lasso“; ebd., 624; „iMMense terremoto Mense. Des mots remarquables aux lettres plus grandes que des viaducs“; ebd. (Rand); „an den Buchstaben ‚m‘ des Wortes ‚immens‘, […] [dehnen sich] die doppelten Auf- und Abstriche dieses unglücklichen ‚m‘ wie Hand-

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Was vermöchten diese Spuren ggf. zu eröffnen? Paulhan sieht in Michaux’ beschleunigter Schreibbemühung die Suche nach neuen Alphabeten, aber dass es darum geht, scheint eher zweifelhaft: Denn jede Schrift, auch eine nicht alphabetische, braucht types, hier dagegen sieht man keine neuen entstehen, sondern jede mögliche Relationierung von type und token ­verschwindet. Insofern sind die Autographen „ebenso gezeichnet wie geschrieben“35 bzw. gehen Buchstaben in Zeichnung über; die Logik des artikulierten, digitalen Systems weicht der des dichten, analogen.36 Die Formen der Schriftzeichen entfernen sich von den gelernten und werden unlesbar, manchmal wandeln sie sich aber auch wieder zurück in Buchstaben und Schrift. Die Nähe oder Ferne von Schriftzeichen bezeugt offenbar unterschiedliche Geschwindigkeiten, mit der sich die Hand wie eine Art Kurvenschreiber bewegt. Anders als bei Kurven aber sind die zackigen Ausschläge in keinerlei Raster eingetragen und die Bewegungsspuren werden nicht zerlegt; Intensitäten oder Frequenzen ließen sich an ihnen nicht messen. Prinzipiell fehlt jede Form von Analyse; die ‚Manuskripte’ werden nur gezeigt. Sie sind weder bestimmten Phasen im Gesamtprozess des Versuchs noch einzelnen Textstellen im Buch zugeordnet; die Abbildungen haben nicht einmal eine Legende, vielmehr werden sie in drei Gruppen jeweils en bloc abgedruckt. Sie präsentieren Derivationen vom Schreiben als solche. Und eben darin mag ihr Wert liegen: Sie zeigen Formen, die die eingeübten Gesten nie hervorgebracht hätten (und die, wären sie nicht in einem Experiment provoziert worden, niemand aufbewahren und veröffentlichen würde). Die Notate sind (mit ganz wenigen Ausnahmen) auch in den unbestimmtesten Krakeln noch Bewegungen des Schreibens: Sie gehen auf und ab und folgen annähernd in Zeilen aufeinander. In diesem Sinn – in Hinsicht auf die Gestik und die topographische Organisation, nicht in Hinsicht auf das System der Zeichen – gehören sie zur Ordnung des Schreibens. In ihnen deutet sich aber kein neues Alphabet an, keine aus dem Körper stammende Universalschrift o. ä.; vielmehr bereichern sie die graphierenden Artikulationen um sonst verworfene ‚linkische’ Bewegungen. Die Zeichnungen treten ebenfalls gebündelt auf, zweimal je acht, alternierend mit den Autographen, wobei der erste Block Zeichnungen vor den Autographen steht; die chronologische Ordnung des Buches37 gilt also nicht für die Präsentation des Aufzeichnungsprozesses. Darin kämen die Autographen zuerst; denn sie entstehen im Moment des Rausches, die Zeichnungen dagegen nachträglich. Diese passen zu den verbalen Beschreibungen und umgekehrt, doch nur auf der Ebene allgemeiner Charakterisierungen; auf individuelle Blätter beziehen sich die Beschreibungen nicht. Anders als die mit Bleistift angefertigten Auto­graphen

schuhfinger, wie Lassoschlingen“; UW, 17; „iMMens terremoto Mens Bemerkenswerte Wörter mit Buchstaben größer als Viadukte“; ebd. (Rand). 35  Vgl. oben, 81. 36  Dieser Wechsel kann auch abrupt sein, vgl. die Abbildungen OC II, 702 ff.: Hier sieht man, dass Schreiben und Zeichnen alternieren, nicht graduell ineinander übergehen. 37  Vgl. Postface, OC II, 766: „Ce livre suit l’ordre chronologique.“ „Dieses Buch folgt der chronologischen Ordnung.“ UW, 151.

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7 und 8  Henri Michaux, Misérable Miracle (1956) 1972, © Éditions Gallimard.

sind die Zeichnungen gravures (Stiche)38 (Abb. 7 und 8). Sie zeigen alle – im Unterschied zu den Schreibgesten – horizontale Bewegungen der Hand; unablässig wiederholt flitzen sie hin und her und sparen meist jeweils einen vertikalen Leerraum aus. Gelegentlich sind diese Negativformen mit einer Linie nachgezogen, diese vertikalen Linien aber konturieren nicht wirklich: Sie schließen keine Fläche ein, sondern markieren nur die Stellen, wo die waagrechten Bewegungen umkehren. Die horizontalen Striche können auch winzig klein werden, bis zur Punktgröße, so dass vom Ziehen nur ein stakkatohaftes Tüpfeln übrig bleibt; geschlossene Formen fehlen. In einer Art Übersicht hat Michaux die Formen zu typisieren versucht (Abb. 9). Die Legende heißt: „Vibrations et formes élémentaires qui soustendent la plupart des apparitions et poussent à voir une pullulation de pointes, de hampes, de clochetons et de collonettes microscopiques ainsi que des formes élancées, fines, cintrées, indéfiniment repétées et de petites formes convulsives aux déplacements égaux d’avant en arrière et d’arrière en avant –“.39 Die aufgezeichneten Typen und die Beschreibung beziehen sich erkennbar nicht nur auf die in Misérable miracle abgedruckten Zeichnungen (diese enthalten allerdings keine kurvigen 38  Vgl. OC II, 1272. 39  OC II, 678. „Elementare Vibrationen und Formen, die den meisten Erscheinungen zugrundeliegen und ein Wimmeln von Punkten, Stangen, Türmchen und winzigen Säulchen sehen lassen ebenso wie schlanke, dünne, gebogene, unendlich wiederholte und kleine zuckende Formen mit gleichmäßigen Ausschlägen vor und zurück und zurück und vor – “.

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9  Henri Michaux, Misérable Miracle (1956) 1972, © Éditions Gallimard.

Formen und keine Auf- und Ab-Gesten wie beim Schreiben). Deutlich wird an ihnen der rekursive Charakter der Formen: Kleine Zickzackbewegungen bauen eine größere Zickzackform auf. Systematisiert sind die Formen allerdings nicht; einige sehen sich allzu ähnlich. Eher scheinen sie ad hoc aufgelesen. Das Blatt wird auch nicht im Text verortet, sondern nur wie ein weiteres, etwas anders geartetes handschriftliches Notat beigegeben. Das Verhältnis dieser Übersicht zu den Beschreibungen bleibt daher unklar. Geht sie ihnen voran? Oder befördern visuelle Typenbildung und Verbalisierung einander? Trotz Chronologie und erkennbar unterschiedlicher Nähe zum Drogenrausch stehen die verschiedenen ‚Übersetzungen’ im Buch offenbar absichtlich nebeneinander. Und die Typisierung wird beiläufig eingespielt, damit ihr niemand einen höheren Rang einräumt als den anderen Darstellungen. Den größten Raum hat Michaux seinen verbalen Beschreibungen gegeben. Der skeptischen Bewertung im Avant-propos nach ist das eigentlich erstaunlich. Warum derart wort­ reich schreiben, wenn von allen Mediatisierungen die sprachliche die problematischste ist?40 Die ‚Wörter’ machen einer heutigen Analyse die größte Mühe, weil sie auf verschiedenen Ebenen agieren: In den Autographen sind sie, sofern leserlich, ‚Primärtext’, die erste Schicht der Dokumentation. Im ausgearbeiteten Text gibt es Beispiele, wie die Verbalisierung von 40  Textgenetisch war das Verhältnis von Text und Abbildungen zunächst durchaus anders. Saillet, der die Veröffentlichung vermittelte, veranlasste Michaux, den Umfang des Textes von 60 auf 100 Seiten zu erhöhen; vgl. OC II, 1275 f. Dass aus dem geplanten ‚Album‘ ein veritables Buch wird, ist also der Intervention einer anderen, mit der Publikation befassten, Person zu verdanken. Michaux hat sich die Idee freilich zu eigen gemacht. Daher ist die Frage mit dem Hinweis auf die Genese nicht erledigt. Vgl. auch oben, 82, Anm. 26, und unten, 169.

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Meskalin alteriert wird, aber es ist wiederum die Sprache, die neben ihrer Fähigkeit zu berichten, zu beschreiben, zu kommentieren, zu kritisieren auch diese Alteration zu analysieren vermag. Wie die Graphie wird auch die sprachliche Äußerung von der Beschleunigung affiziert, nachträglich aber ist sie das entscheidende Medium der weiteren Bearbeitung und Mitteilung. Hier ein Beispiel, wie die Sprache als Zeichen manipulierende, aber auch als körperlich-motorisches Tun von der Droge modifiziert und dieser Zustand post festum kommentiert wird: Das Wort intolérable ist aufgetaucht und zieht, anders als im Normalzustand, wo es nichtssagend sei, eine ganze Kette von morphologisch ähnlichen Wörtern hinter sich her: „[l]’irrémédiable, l’intarrisable, l’impitoyable, l’increvable, l’indéfinissable, l’indéracinable, ­l’­infatigable […] et une ribambelle qu’il me faut bien, au moins ici, interrompre. Mais alors non seulement je ne pouvais interrompre la sotte énumération, mais j’avais à les parcourir tous, à les prononcer mentalement vite et fort et très désagréablement. (Un bizarre pont élastique me reliait en effet à chacun d’eux.)“41 Das eine Wort ruft unwiderstehlich die anderen auf, als Laute, die bestenfalls nachträglich Sinn erhalten. Meskalin steigert sozusagen das Grundprinzip, dass Zeichen iteriert (und variiert) werden müssen, doch sie steigert das Prinzip in dem Maße, dass es dysfunktional wird. Unzählige Vokabeln mit Präfix in und Endung able tauchen auf, und keine Instanz wählt aus. Der asyntaktische Modus des Aufzählens kennt keine Verknüpfungsregeln, die zum Sortieren geeigneter und ungeeigneter Elemente führen könnten; jedes passt, aber die bloße Option koinzidiert mit der Realisierung. Das Paradigma ist kein Repertoire, sondern selbst die Rede. Im Herandrängen der Wörter verselbständigt sich das Sprachvermögen und reduziert sich auf die Produktion von Signifikantenketten. Die Droge hat es usurpiert. „… à sa façon, elle [la Mescaline, S. M.] s’est exprimée. Elle m’a exprimé.“42 Dieser Zustand wirkt fast wie ein körperlicher Zwang: „Horrible cette coopération obligatoire, presque musculaire, avec le déshonorant cortège des mots.“43 Wie die Droge beim Schreiben die Graphie verzerrt und zur Wiederholung der gleichen Bewegung nötigt, so greift sie auch beim Sprechen die Geste an: die Artikulationsbewegung. Im Beispiel hier entstehen bei der Wiederholung Varianten – oder zumindest präsentiert der Endtext nur solche –, in anderen Fällen wird das gleiche Wort ohne Modifikation wiederholt.44 Das bekannteste Beispiel für dieses Phänomen steht im Vorwort: „… je trouve, dans mon journal, ces mots, écrits plus de cinquante fois, gauchement, 41  Ebd., 641; „das Unwiederbringliche, das Unversiegbare, das Unbarmherzige, das Unermüdliche, das Undefinierbare, das Unentwurzelbare, das Unermüdbare […] sowie eine ganze Reihe, die ich zumindest hier nicht fortsetzen kann. Aber zu diesem Zeitpunkt war es mir nicht nur unmöglich, diese idiotische Aufzählung zu unterbrechen, sondern ich mußte alle diese Wörter durchgehen, sie im Geiste schnell und laut und höchst unangenehm aussprechen. (In der Tat verband mich eine wunderliche elastische Brücke mit jedem einzelnen von ihnen.)“ UW, 28 f. 42  Ebd.; „… es [das Meskalin, S. M.] hat sich […] auf seine Weise zum Ausdruck gebracht. Es hat mich zum Ausdruck gebracht.“ UW, 29. 43  Ebd. (Rand, kursiv). „Grauenhaft diese zwangsläufige, beinahe muskuläre Zusammenarbeit mit dem un­eh­ ren­haften Gefolge von Wörtern.“ UW, ebd. (Rand). 44  Z. B. ebd., 645 f.: „des lippes, des lippes […]“, oder ebd., 646: „de lippes larges, de lippes larges […]“.

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difficilement: Intolérable, Insupportable.“45 Die Stelle macht deutlich, dass ein wesentlicher Unterschied zwischen Manuskript und publiziertem Text im Grad der Wiederholungen besteht. Die entsprechenden Kürzungen müssen massiv gewesen sein.46 Die insistenten Aufzählungen sind indes das verbale Pendant zu den visuellen Wiederholungen: „Liée au verbal, elle [la Mescaline, S. M.] rédige par énumération. Liée à l’espace et à la figuration, elle dessine par répétition. Et par symétrie (symétrie sur symétrie)“.47 In beiden Fällen werden elementare Gesten angehalten und multipliziert, statt sie ihre übliche Bewegung hin zu etwas Komplexerem nehmen zu lassen: Sprachliche Artikulation besteht normalerweise in syntaktischen Verkettungen, in ‚Phrasierungen’, nicht in einer Vervielfachung gleicher oder ähnlicher Elemente.48 Aufzählen repetiert eine Geste: Wie das Zählen fügt es jedesmal ein Item hinzu. Aber wie dieses Hinzufügen nicht zu Verknüpfungen führt, so auch nicht zur numerisch geordneten Reihe. Bildgraphische Bewegungen zeichnen sich normalerweise durch extreme Variabilität aus. In den Meskalinzeichnungen macht die Hand dagegen vielleicht zwei, drei unterschiedliche Bewegungen, kaum mehr. Formen – es sind immer die von Bändern und Streifen – resultieren nur aus der zigfachen Wiederholung der wenigen Gesten, in bestimmten Fällen führt das zu Flächen füllenden Mustern. Aufzählungen, Wiederholungen und Symmetrie – man könnte sagen: einfache Formen – gelten hier als meskalin-typische Kompositionsschwäche.49 Doch was auf diese Weise negativ charakterisiert wird, hat noch eine wesentliche andere Komponente: den Rhythmus. Nicht-mechanische, variierende Wiederholung erscheint optisch als rhythmisierte Bewegung. Die resultierenden Formen haben auf der Fläche auch eine Richtung: von oben nach unten, selten ganz gerade, meist mit Neigung von oben links nach unten rechts – wie es dem Schreiben entspricht – oder von oben rechts nach unten links. Die aus Zickzack resultierenden Bänder laufen mehr oder weniger parallel. Auf manchen Blättern gruppieren sie sich wie Feilspäne um einen Magnetpol in gekrümmten Linien; einige ordnen sich auch um eine ausgesparte Kreisform wie gekrümmte Speichen oder Schaufeln eines Rades. Diese Zeichnungen insbesondere lassen den Gedanken an energetisch wirkende Zentren aufkommen, die die graphischen Marken ausrichten. Die Kraftzentren können dabei auch ganz am Rand oder außerhalb der Bildfläche liegen. Intendierte Komposition gibt es nicht, aber sehr wohl emergente Muster und Rhythmen.

45  Ebd., 621. „... ich finde in meinem Tagebuch die folgenden Wörter, mehr als fünfzigmal, linkisch, mit Mühe geschrieben: Unerträglich, Unausstehlich.“ Vgl. UW, 11. 46  Zum Wegfall der meskalin-typischen Superlative im Text vgl. ebd., 693. 47  Ebd., 674. „Im Bereich des Verbalen redigiert es durch Aufzählung. Im Bereich des Raumes und der visuellen Gestalten zeichnet es durch Wiederholung. Und durch Symmetrie (Symmetrie auf Symmetrie)“. 48  Bei Michaux geht es dezidiert um ein sozusagen phrasierendes Aufzählen, nicht um schriftbildliche Listen; in letzteren hat das Fehlen der Syntax andere Gründe, es ist kein Mangel gegenüber dem Satz, sondern eine besondere Möglichkeit der Schrift als einer Technik, die nicht notwendig im Dienst phonetischer Notation steht. 49  Vgl. auch OC II, 642. Die gleichen Merkmale weisen aber auch viele Texte und Bilder Michaux’ ohne Meskalin auf. Er bietet dazu sozusagen keine positive Poetik und Ästhetik.

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4.3. ‚Reines‘ Sehen und die Persistenz der Geometrie

4.3. ‚Reines‘ Sehen und die Persistenz der Geometrie Michaux hat die Visionen unter Meskalin verallgemeinernd charakterisiert. Die Veränderungen betreffen Raum- und Zeitvorstellung, sinnliche Wahrnehmung, Appetit, sexuelles Begehren, Anteilnahme, Sprechen, Denken… Den optischen Eindrücken gilt dabei die größte Aufmerksamkeit; die visuellen Formen ergeben ein breites Panorama, dessen Spezifik mehr oder weniger direkt aus der ungeheuren Beschleunigung der Reize resultiert: Alles ist in ununterbrochener Bewegung, zittert, zuckt, vibriert, wimmelt. Die Formen sind zwergenhaft, unzählig viele, gestreckt, überlängt, dünn, grazil. Gestalthaft deutet der Betrachter sie als entsprechende architektonische Formen: Minarette, nadelförmige Säulchen, Türmchen, Rauten. Die Linien sind jeweils mehrfach gebrochen. In einer anderen Phase scheint alles wie auf einem Fließband vorbeizuziehen. Die Ausschläge der Vibrationen sind multipliziert, am Anfang blitzartig, weisen anomale Amplituden und viele Spitzen auf. Erschütterungen und permanentes Beben erwecken den Eindruck eines ruinösen Prozesses, ohne dass etwas zerfiele.50 Prinzipiell ist der Proband unfähig, überhaupt noch eine sanfte und harmonische Kurve wahrzunehmen, stattdessen sieht er nur noch die angestoßene, gesprungene, ziselierte, gekörnte. Die Droge macht unempfindlich für Oberflächen, empfänglich ist er nur für Strukturen und Gerüste, für Architekturen, für Kristallines; Coleridges Traumpalast von Kubla Khan scheint Michaux die typische Drogenvision zu sein.51 Der Berauschte kennt keine ‚Freuden der Morphologie‘ mehr, für ihn zählen nur die Anordnungen, Organisationen, Einteilungen. Er sieht viel, aber die Imagination ist entsinnlicht. Die Optik spaltet sich völlig ab von anderen körperlichen Sinnen und damit von der Leiblichkeit überhaupt: Die Bilder sind nichts als visuell. Selbst Fotografien nackter weiblicher Körper affizieren den Betrachter nicht. Das komplexe Gefühl des Tastbaren, Modellierten fehlt; die Vorstellung von der Empfindung des Anderen im Innern der eigenen Brust, der Schultern, der Beine, die einen glauben lässt, man spüre den anderen Körper, während man den eigenen spürt, dieses beglückende Bewusstsein gibt es nicht mehr. Die Formen sprechen nicht mehr, sind nicht mehr Formen für den Wahrnehmenden. Ihr Fest ist zu Ende, der Betrachter im Zustand körperlicher Anti-Versuchung. Das Gefühl für den Körper der anderen geht verloren, weil man das für den eigenen verloren hat.52 Die Könästhesie, das leibliche Gesamtgefühl, also entfällt, und damit auch die Beziehung auf andere leibliche Wesen. Meskalin verwirklicht ein reines Sehen. Dieses ist jedoch keine emanzipierte Visualität, wie es sich etwa Konrad Fiedler denkt und viele bildende Künstler es im 20. Jahrhundert beschwören. Das von der Droge bewirkte Visuelle steht vielmehr in größter Nähe zum Begrifflichen, ist Sprungbrett zum rein Mentalen und Abstrakten. Die im Rausch gesehenen Bilder sind sozusagen wissenschaftliche; in Hinsicht auf die Entkörperlichung gleichen sie geometrischen Figuren oder Diagrammen; sie sind Schemata.53 Wenn die

50  Vgl. ebd., 671. 51 Vgl. L’Infini turbulent, OC II, 863 f. 52  Vgl. ebd., 862 f. 53 Vgl. Misérable miracle, OC II, 675.

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4. Meskalin-Szene und ‚Meskalinie‘

Zickzacklinien auf Meskalinzeichnungen zuweilen technisch produzierten physiologischen Kurven ähneln, dann entspricht das diesem Gefühl von etwas körperlos Gesehenem. Der Experimentator wird also in seinem Tun auf bemerkenswerte Weise von seinem Gegenstand unterstützt: Er muss sich nicht groß darum bemühen, sachlich und kühl zu bleiben, es bedarf keiner Anstrengung, sich nicht verführen zu lassen, und die Transformation des Erfahrenen zum epistemisch Brauchbaren übernimmt das Meskalin zu einem guten Teil schon selbst; es sorgt für wissenschaftliche Objektivation: „Elle châtre l’image, la désensualise. Elle fait des images cent pour cent pures. Elle fait du laboratoire.“54 Im normalen Sehen gibt es keine reine Wahrnehmung: Objekte erscheinen nicht ohne ihre Gebrauchsmöglichkeiten, nicht ‚als solche‘, sondern als Gegenstände, die sich auf bestimmte Weise benutzen lassen, mit denen man etwas machen kann. Auf einen Stuhl kann man sich setzen oder ihn als Trittleiter benutzen, um das Fenster oben zu öffnen, ein Kind mag darunter kriechen, um sich zu verstecken. Zum Kehren wird er umgedreht auf den Tisch gestellt und signalisiert ‚Wir haben geschlossen‘. Auch wenn man nur Sitz und Lehne sieht, sind dank Appräsentation (Husserl) auch die tragenden Beine gegenwärtig. Ein Jongleur erkennt in ihm ein mögliches Objekt, mit dem er seine Virtuosität beweisen kann. All das und vieles andere sind die affordances, die die Wahrnehmung eines lebendigen Wesens eröffnet.55 Die vielen Möglichkeiten, etwas mit dem Gegenstand anzufangen, lassen sich nicht von seiner Wahrnehmung abtrennen; die ‚Angebotsstrukturen‘ eignen nicht dem Objekt, sondern erschließen sich in der perzeptiven Beziehung. Genau das aber entfällt unter Meskalin: Es realisiert, so scheint es, etwas wie den philosophischen oder wissenschaftlichen Traum von einem Sehen ohne verkörpertes Subjekt, ohne einen leiblichen, in seine Umwelt involvierten Akteur. Was unter diesen Bedingungen entsteht, dürfte eine Repräsentation sein, wie sie sich entsprechende Wahrnehmungsund Bewusstseinstheorien denken: innere Karten von der äußeren Welt, abgeschnitten von den subjektiven Betätigungen, von Sensomotorik, Gefühlen, individuellem und kollektivem Leibgedächtnis. Ein Empfindungsloser sieht, ein Wesen ohne kinästhetisches und könästhetisches Gefühl, ohne Verlangen, ohne Interesse, ohne Bezug zu anderen, er ist nichts als Sehen. Unter Meskalin mutiert der Wahrnehmende zur Karikatur eines traditionellen Philosophen. Dieser Zustand scheint geometrischen Formen einen Vorrang einzuräumen; sie sind Objekte purifizierter Wahrnehmung, weil sie eigentlich gar keine Wahrnehmungsobjekte sind, sondern mentale Konstrukte. Vom entsinnlichenden Meskalin würde man eine entsprechende Produktion erwarten. Doch die Situation ist komplizierter. Die prototypischen Linien der Euklidischen Geometrie: gerade und als Kurve und Kreis gebogene, finden sich, wie beschrieben, in den Visionen nicht; die paradigmatischen Linien des Meskalins sind vielmehr gebrochene und umbrechende, zerhackte, fragmentierte. Geraden zerkrümeln in der permanenten Vibration.56 Während in geometrischen Figuren Flächen umschlossen werden,

54  OC II, 673. „Es kastriert das Bild und entsinnlicht es. Es stellt hundertprozentig reine Bilder her. Es ist Laborarbeit.“ UW, 53 (Übers modif. v. S. M.) Vgl. auch unten, 94. 55  Vgl. James J. Gibson: The Ecological Approach to Visual Perception, Boston: Houghton Mifflin, 1979. 56  Vgl. OC II, 671, Anm.

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4.3. ‚Reines‘ Sehen und die Persistenz der Geometrie

bleiben unter Meskalin alle Formen offen; sie kennen kein Innen und kein Außen. Linien kreuzen sich nicht, sondern laufen annähernd parallel und bilden mehr oder weniger dichte Bündel. Meskalin zerstört Formen durch Stöße und Erschütterungen, sie zerfallen im dauernden Beben; alles ist instabil. Insofern scheint der Genuss von Meskalin genau das zu leisten, was dem Maler Michaux wie vielen anderen im 20. Jahrhundert ein zentrales Anliegen war: die Überwindung der Raumkonstruktion, der traditionellen Verpflichtung der Tafelmalerei auf Perspektive und damit auf die Geometrie. Michaux bezeichnet diese als Fessel des Vorstellungsvermögens, sie ist ein Pendant zum Alphabet: Wie dieses das Schreiben und Denken strukturiert, so die Geometrie die Raumauffassung. An beiden elementaren Bedingungen westlich-europäischer Kultur arbeitet sich Michaux’ künstlerisches Tun mit Hilfe gezielter Alterationen ab. Meskalin könnte geradezu als die ideale Methode erscheinen, sich von beiden zu lösen: In der beschleunigten Graphie geht der Bezug auf distinkte Zeichen verloren, die Zeichnungen wiederum kennen keinerlei Raumtiefe und Körperlichkeit. Meskalin könnte als ‚Befreier‘ fungieren. Interessanterweise ist das aber nicht der Fall. Die Antithese zur Geometrie hat nämlich noch eine andere Seite: Meskalin wirkt auch geometrisierend. Aus dem Ruin der Formen tauchen gelegentlich wieder diejenigen Linien auf, die normalerweise Halt und Orientierung geben: die Linien des Rasters.57 Wimmelnde Strichlein und Punkte formieren sich zu rechtwinkligen Kreuzen, zu einem zuckenden, aber strikten Gitter. Dieses erfüllt jedoch keinerlei tragende, festigende, einteilende Funktion. Und Ähnliches gilt für ein anderes räumliches Ordnungsprinzip, das sich mit ungeheurer Vehemenz geltend macht: die Achsensymmetrie. Kaum einer der Versuche, die Visionen zu rekonstruieren, weist diese Disposition nicht auf. Scheinen die Linienformationen die klassische Geometrie zu verneinen, so persistiert diese doch in Raster und Symmetrie. Beide Prinzipien gehören zu dem unsinnlichen, mentalistischen Charakter der Bilder. Mit diesem behauptet sich die Geometrie indes noch auf andere, unerwartete Weise.58 Meskalin verwandelt alles in Rennen ohne Ruhe und Gelegenheit zur Kontemplation; daher gibt es keine panoramatischen Überblicke, Ganzheiten, Synopsen.59 Die Zeit ist immens – eine Minute hat dreitausend Augenblicke –, der Raum ein Punktgewimmel; eine Welt aus Symmetrie, Wellenbewegung, Wiederholung, Multiplikation entspringt aus Krämpfen.60 Reihung fungiert als Modell des Unendlichen.61 Die Entkörperlichung setzt sich in den Nachwirkungen fort: als Interesselosigkeit und, da das ameisenhafte Gewimmel im Unbewußten anhält, als Verlust jeglichen Sinns für Einfaches und Großes.62 57  Vgl. Abb. OC III, 616 und 628. 58  Vgl. unten, 94 f. Hetrick weist auf Parallelen zwischen den von Meskalin induzierten geometrischen Visionen und Halluzinationen bei Migräne hin; vgl. The neurophenomenology of gesture, 275–278. 59  Vgl. OC II, 676. 60  Vgl. ebd., 680. 61  Das Wort série drückt für Michaux etwas Begrenztes aus, unter der Beschleunigung aber wird die Reihe zum Modell des Unbegrenzten, Unendlichen; vgl. ebd., 682, und Anm., ebd. 62  Vgl. ebd., 694.

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4. Meskalin-Szene und ‚Meskalinie‘

10  Henri Michaux, Misérable Miracle (1956) 1972, © Éditions Gallimard.

Mit den genannten purifizierenden Verfahren produziert Meskalin schon selbst etwas, worauf das experimentelle Tun hinauswill. Es ist nicht nur der Gegenstand der Untersuchung, sondern begegnet auch auf der Ebene dieses Tuns; es bietet sich sozusagen als genuin wissenschaftlicher Gegenstand an, der seine eigene Erforschung befördert. Eine Art Metalepse scheint stattzufinden.63 Der Versuch und sein Objekt sind ineinander verschlauft: Die gleiche entsinnlichte Wahrnehmung taucht wie bei einem Möbiusband auf der einen Seite als wissenschaftliche Haltung, auf der anderen als deren Exzess und dysfunktionale Essenz auf.64 Die Entleiblichung des Sehens tangiert auch alle möglichen anderen perzeptiven, affektiven und mentalen Funktionen. Eine Art Hyperintellektualität erzeugt nicht nur labormäßig reine Bilder, sie setzt auch eine Kaskade von Explikationen und Reflexionen in Gang und führt in schöner Rekursion zu den Überlegungen, die eben dies formulieren. Meskalin wirkt auf Sprechen/Schreiben und Denken und daher auch auf Sprechen/Schreiben und Denken über Meskalin. Seine Schwäche – die Entsinnlichung – ist Motor seiner Diskursivierung. Noch in den vom Rausch entferntesten Darlegungen erscheint so die Droge auch als nicht-menschlicher Mit-Akteur im experimentellen System. Meskalin ist das Erkundete, aber auch ein Aktant des Erkundens. Der Selbstversuch schließt in einer Figur der Ironie seine eigene Darstellung mit ein. „Ironie, c’était la Mescaline, par son défaut mescalinien même, qui me donnait l’illusion de comprendre la Mescaline, me jetait dans des explications au premier degré et me faisait faire imprudemment cent réflexions… et ce livre.“65 Dies wirft ein Licht auf das visuelle Motto am Anfang des Buches: das chemische Diagramm für Meskalin (Abb. 10). Es ist ein Paradebeispiel für ein Bild, aus dem die Sinnlichkeit eskamotiert ist. Visualität reduziert sich hier auf ein Hexagon, Großbuchstaben und Zahlzei63  Ein Wechsel sozusagen von der histoire- auf die discours-Ebene vollzieht sich, wenn der Proband beim Lesen des Wortes ‚Halluzination‘ selbst eine Halluzination hat; vgl. OC II, 653. Der Gegenstand ‚eine bestimmte Art zu imaginieren‘ springt auf den Akteur über und lässt ihn in eben dieser Weise imaginieren. Es ist wie ein Ansteckungsvorgang, wie Magie oder auch das Performativwerden der Sprache. 64  Die Droge tendiert zur Tautologie; sie spiegelt nur zurück, was schon da ist, vergrößert, schafft aber nichts Neues – das war schon Baudelaires Befund über Haschisch; vgl. Charles Baudelaire: Paradis artificiels, in: ders.: Œuvres complètes. Texte établi, présenté et annoté par Claude Pichois, Paris: Gallimard, 1975–1976, 2 vol., I (375–398), 409. 65  OC II, 676. „Ironischerweise war es das Meskalin, dem ich, gerade durch seine ihm eigenen Defekte, die Illusion verdankte, ich würde das Meskalin verstehen, und das mich im Anfangsstadium in Erklärungen stürzte, mich unvorsichtigerweise zu hundert Überlegungen verleitete… und zu diesem Buch.“ UW, 57.

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4.3. ‚Reines‘ Sehen und die Persistenz der Geometrie

chen. Bild heißt in diesem Fall Schema, Schriftbildlichkeit, Spatialität, statischer Charakter, Formel, die Begriffliches abkürzt, nicht Form, die auch für sich stehen kann; im Sinn von Peirce ist es ein (dem Gegenstand strukturähnliches) Ikon und kein Index, wofür Michaux in Misérable miracle das Wort signe verwendet.66 Dass das Diagramm am Eingang des Buches steht wie eine Flagge, unter der alles Folgende segeln wird, ist eigentlich merkwürdig. Denn Chemie spielt in den Überlegungen gerade keine Rolle, der naturwissenschaftliche Diskurs überhaupt höchstens eine ganz marginale. Beginnt das Buch also mit dem, wovon es sich abstößt? Steht das Diagramm hier als Emblem dessen, was Misérable miracle hinter sich zu lassen verspricht? Es mag auch dessen epistemische Zielsetzung signalisieren und diejenigen, die Drogenapologetik erhoffen, vor falschen Erwartungen warnen. Für diejenigen, die nüchterne Betrachtung scheuen, kann es das Signal sein: Keep out! Aber auf dem Hintergrund des oben Beschriebenen mag dem visuellen Paratext auch noch eine andere als diese performative Funktion zukommen: Etwas, was nur Bilder für den Intellekt produziert, wird selbst von einem wissenschaftlichen Zeichen repräsentiert. Und noch mehr: Das chemische Diagramm ist auch ein Muster des von Meskalin erzeugten Bildtyps. Zeigt sich also darin nicht wunderbar jene Ironie, dass Meskalin selbst an der Darstellung seiner Erkundung beteiligt ist? Das visuelle Motto indiziert die entsinnlichende Wirkung der Droge, und zugleich ist ein Paradigma der Entsinnlichung ein Gestaltungselement des Buches; die Abstraktionsneigung des Meskalins macht sich derart auch und gerade an dieser prominenten Stelle geltend. Das erste – verbale – Motto bildet dazu in gewisser Weise das Komplement. Es spricht von der Schwierigkeit der Verbalisierung: „… et l’on se trouve alors, pour tout dire, dans une situation telle que cinquante onomatopées différentes, simultanées, contradictoires et chaque demi-seconde changeantes, en seraient la plus fidèle expression.“67 Onomatopöien sind motivierte Zeichen. In vielen ‚kratylischen‘ Sprachkonzepten gelten derartige Laute als Urworte und ihr generierendes Prinzip als Erzeugungsverfahren von Poesie. In diesem Sinn wird der Wunsch nach derartiger ‚originärer‘ Sprachschöpfung geäußert – doch im Konjunktiv. Ein derartiger Weg lässt sich nicht beschreiten. Michaux versucht es nicht einmal; nirgends gibt es im Text von Misérable miracle Ballungen von Onomatopöien. Andererseits indiziert aber auch das chemische Diagramm nicht, wie sich von den Drogenerlebnissen Rechenschaft ablegen lässt. Die beiden Motti scheinen die Pole von Wissenschaft und poetischem Lallen anzuzeigen, aber dieser Gegensatz bestimmt nicht das Buch selbst. Dieses realisiert vielmehr etwas Komplexeres.

66  Vgl. oben, 81. 67  OC II, 617; „… und man ist hier, kurz gesagt, in einem Zustand, den am besten fünfzig verschiedene, gleichzeitige, einander widersprechende und jede halbe Sekunde wechselnde Onomatopöien zum Ausdruck brächten.“

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4. Meskalin-Szene und ‚Meskalinie‘

4.4. Meskalin als Stil Ein großer Teil von Misérable miracle beschreibt visuelle Formen. Sie machen einen ‚Meskalin-Stil’ aus.68 Dieses Stichwort lässt aufhorchen. Geht es (doch nur) um Ästhetisches, und zwar im eingeschränkten formalistischen Sinn? Schwächt das nicht das ganze Unternehmen? Wie ist es mit dem Erkenntnisinteresse zu vereinbaren? Aber was heißt hier überhaupt ‚Stil’? Das Wort für das Schreibgerät stilus fungiert ursprünglich als Metonymie für den Duktus, die von Inhalten unabhängige Handschrift, bevor es auf literarische und künstlerische Artikulationsweisen übertragen wird. Was bedeutet es in diesem Zusammenhang? In Hinsicht auf Michaux’ bildkünstlerische Produktion lassen sich Meskalinzeichnungen und -bilder klar von anderen Bildtypen unterscheiden, etwa von den Groteskköpfen oder den skriptural wirkenden Graphismen. Sie differieren in Techniken, Material und etwas, was post festum als Sujet erscheint – Gesichter, Insekten, Schrift, baumartige Gebilde… –, aber vor allem in der Art, wie das Spuren erzeugende Instrument geführt wird, in der Gestik der Hand, der maniera im ursprünglichen Wortsinn. Meskalinarbeiten sind im Vergleich zu den anderen Zeichnungen und Bildern unverwechselbar. Ihr Stil ist in diesem Sinn allerdings nicht Michaux’ individuelle ‚Hand’, sondern eine von mehreren graphischen Möglichkeiten. Der Begriff umfasst hier auch die zugehörigen Techniken und, wenn man will, Gattungen.69 Er ist eine Option für einen Künstler mit einem gewissen Spektrum an graphisch-malerischer Betätigung: einer von mehreren Personal- oder Individualstilen, die er pflegt (ohne dass dies persönlichen Ausdruck bedeutete); mit dem polnischen Kunsthistoriker Jan Białostocki würde man das Modus nennen.70 Aber wenn es darum ginge, dienten die Meskalin-Versuche doch nur dazu, das bildkünstlerische Repertoire zu bereichern. Wenn es bei Michaux nicht um Drogenliteratur geht, dann vielleicht doch um Drogenkunst? Eine derartige Erweiterung des eigenen Spektrums ist ein legitimes Anliegen, aber nicht das (alleinige) von Michaux. Die Meskalin-Erscheinungen werden, wie schon erwähnt, oft mit architektonischen Elementen verglichen, wegen ihrer gelängten Gestalt mit Türmen, Säulen, Minaretten, Bögen etc. Deren Linien sind vielfach gebrochen, was die Erinnerung an mexikanische Künste hervorruft, an „statues zapotèques et toltèques; et temples aztèques“.71 Die rein formale Ähnlichkeit bringt derart den Individualstil oder Modus Meskalin mit einem kollektiven Stil in Verbindung. Unterstützt wird diese Assoziation von der Tatsache, dass bestimmte indianische Kulturen Peyotl im rituellen Kontext gebrauchten.72 Meskalin stammt aus diesem Zusammenhang und verweist

68  Vgl. OC II, 671. 69  Vgl. Pfeiffer: Schiffbrüche, 177 f. 70  Vgl. Jan Białostocki: Das Modusproblem in den bildenden Künsten, in ders.: Stil und Ikonographie. Studien zur Kunstwissenschaft, Dresden: Verlag der Kunst, 1966, 9–35, und Andrea Pinotti: Formalism and The History of Style, in: Matthew Rampley/Thierry Lenain/Hubert Locher u. a. (Hg.): Art History and Visual Studies in Europe, Leiden: Brill, 2012, 75–90. 71  OC II, 671; „zapotekische und toltekische Statuen und aztekische Tempel“; UW, 50. 72  Vgl. ebd., 677. Der Hinweis auf Mexiko ist auch einer auf Artaud, der die Droge bei den Tahahumaras kennengelernt hat. Es ist die einzige Stelle, an der sich Michaux auf den indianischen Gebrauch bezieht; das Ritual

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4.4. Meskalin als Stil

auf ihn zurück, auch wenn es zur bevorzugten Droge europäischer Künstler und Intellektueller geworden war.73 Die in Michaux’ Äußerung implizite spekulative These ist demnach, dass charakteristische visuelle Eigenheiten altmexikanischer Skulptur und Architektur mit der Formenwelt des Meskalin- bzw. Peyotl-Rausches zu tun haben; die Visionen haben ihre externen Entsprechungen.74 Eine kausale Beziehung wird damit nicht behauptet, aber die Halluzinationen passen zu den Formen, die auch ohne Droge sicht- und tastbar sind. Ihre Gemeinsamkeit liegt in einer Art des Sehens. Stil bedeutet hier also eine besondere Weise der Wahrnehmung, e­ inen Anschauungsmodus. Einmal wird er individuell provoziert, einmal von einer Gesellschaft und Kultur als kollektives Erlebnis erzeugt. Beide Male aber handelt es sich darum, gezielt die physiopsychischen Bedingungen des Sehens zu modifizieren. Von ihnen hängt es ab, ob wir vorzugsweise lang gestreckte, zackige, schlanke, spitze etc. Gestalten sehen oder andere. Entsprechend fallen die Ornamente und Formen der visuellen Künste aus: mexikanisch oder mauresk (‚Minarette’) oder – Michaux’ Stilcharakteristik legt vor allem dies nahe – gotisch, hoch­gotisch, flamboyant-gotisch, in Hinsicht auf wimmelnde Kleinstformen und Wellen b ­ arock.75 Eine Wahrnehmungsweise bringt einen Stil hervor, und im Stil zeigt sich eine Art, die Dinge und sich selbst zu sehen, eine ‚Welt-Anschauung’ – diese Idee vertraten prominente kunsthistorische Stillehren des frühen 20. Jahrhunderts, namentlich die von Wölfflin, Riegl und Worringer. Michaux mag sie nicht gelesen haben, aber in der prinzipiellen Gedankenfigur, die Wahrnehmung, Psychophysiologisches und Stil zusammenschließt, trifft er sich mit ihnen:76 Der ‚Meskalin-Stil’ ist mehr als eine individualkünstlerische Option, er ist eine Perspektivierung, die kollektiv geteilt werden kann. In diesem Sinn stellt er – wie die mexikanischen Künste – eine andere Kultur dar. Und wenn Michaux verschiedene Drogen miteinander vergleicht, dann vergleicht er Wahrnehmungsstile oder aisthetische Kulturen. Die Versuche mit den Halluzinogenen werden oft mit Reisen in fremde Länder parallelisiert, bei Michaux sind die exotischen Gefilde reale und imaginäre; Drogengenuss und Reisen verbindet dann durchaus topisch das Abenteuer. „Ailleurs“ ist das Michaux’sche Stichwort dafür,77 das die und dessen Erneuerung unter modernen europäischen Bedingungen liegen jedoch nicht in seinem Interesse; vgl. Pfeiffer: Schiffbrüche, 176 f. 73  Vgl. ebd., 164. 74  Man mag sich natürlich fragen, ob Michaux’ Visionen nicht von Abbildungen mexikanischer Kunst wenigstens mitbestimmt sind. 75  Vgl. OC II, 624. 76  Der Gegensatz von haptisch und optisch und die Vorstellung einer historischen Entwicklung der Wahrnehmungsweisen, wie sie die genannten Kunsthistoriker trotz des Formalismus annehmen, fehlen freilich. In Wölfflins Kunsthistorischen Grundbegriffen sind die Anschauungsformen nicht mehr wie in seinem Frühwerk psychophysiologische, leibliche Apriori, sondern Transzendentalien nach dem Kant’schen Modell. Die Entwicklung von ‚linear‘ zu ‚malerisch‘ gbt es aber auch. – Es verwundert nicht, dass Deleuze insbesondere die Worringer’sche Charakteristik von nordischem Liniendekor, Gotik und Barock, die schon bei dem deutschen Kunsthistoriker ineinander übergehen, mit Michaux’ Phantasien zu Falten und den Deskriptionen von drogen­ induzierter schizophrener Wahrnehmung (Artauds Wahnsinn inklusive) kurzschließt. Die Elemente liegen bei Michaux alle vor, sie werden nur nicht mit Hilfe philosophischer Theoreme, mit Rekurs auf Foucault und Leibniz, verknüpft oder über transversale Begriffsdynamiken miteinander verschaltet. 77  Unter diesem Titel erscheinen 1948 die drei kleinen Bücher Voyage en Grande Garabagne, Au pays de la magie und Ici, Poddema. Vgl. auch oben, 80, Anm. 20.

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4. Meskalin-Szene und ‚Meskalinie‘

Parallele zu rechtfertigen scheint. Eine andere Analogie zwischen den Experimenten und den Reisen aber scheint weiter zu führen: Der Reisende trifft auf andere Kulturen, und deren Andersheit tritt ihm – vor allem dort, wo die Sprache ihm keinen Zugang erlaubt – zunächst in visuellen Formen entgegen.78 Er beobachtet sie und versucht, sie zu beschreiben – so verfahren Michaux’ frühe ‚ethnographische’ Texte –, erklären aber kann er sie nicht. Die Erfahrungen von Drogen und fremden Welten sind analog, insofern Kulturen sich zwar beschreiben, doch nicht begründen lassen. Wenn Drogen als Kulturen, Stile, Anschauungsformen betrachtet werden, als perzeptive Einstellungen, die ihrerseits nicht schlechthin gegeben, sondern modifizierbar und plastisch sind – so wie Theoretiker des späteren 20. Jahrhunderts, etwa George Kubler, den Stil-Begriff fassen79–, dann werden Drogen auch ohne ausdrückliche Kritik in höchstem Maße relativiert: Sie zeigen eine andere Sicht, aber nicht die wahre. Sie enthüllen nichts. Michaux entmystifiziert sie, insofern er sie als Produzenten von Welt-Sichten darstellt: als Brillen. Optische Instrumente aber haben keine Aura.

4.5. ‚Reine‘ Bewegung oder Kollaps des Experimentalsystems: „eine Linie sein“ Ein, wenn nicht das Stil-Merkmal des Meskalins ist die Achsensymmetrie. Rechts und links einer ‚idealen’,80 d. h. nicht gezogenen, sondern nur gedachten, Linie gehen dicht an dicht parallele Linien hin und her. (Hat diese Disposition mit der Selbsterfahrung zu tun, mit dem so folgenreichen Verhältnis der beiden Körperhälften zueinander?) In den Zeichnungen erscheint die Achse als Leerraum. Die Negativform auf dem Papier ist indes die harmlose Rekonstruktion dessen, was diese im Rausch bedeutet: eine Furche, einen Graben, einen Spalt, eine Fraktur. Eine solche geht durch den Schädel hindurch und noch mehr: durch das Innerste der Person.81 Der Eindruck, derart durchteilt zu sein, besteht nicht nur, solange Meskalin wirkt, sondern nachhaltig: Die Furche behauptet sich sogar noch drei Wochen nach der Einnahme. Sie ist eine der prägnantesten meskalin-typisch gelängten Formen. In den Visionen erscheinen Vorstellungen von Messern, lang wie Flugbahnen, von Bögen wie in barocken Kathedralen und Viadukten, von Streifenmustern, Sturzbach, Fluss, elektrischen Strömen, Spaltung, Breschen, einem meterlangen Arm, Rakete, Giraffe mit endlos langem Hals, Lippen, Treppen... und dominant der Riss, die unvergessliche Furche. Wenn Michaux im vierten Versuch versehentlich eine Überdosis einnimmt, werden die länglichen Dinge und die Längsspalte des eigenen Körpers und Ichs in höchstem Maße for-

78 Vgl. Un Barbare en Asie (1933). 79  Vgl. Pinotti: Formalism. 80  Vgl. OC II, 680. 81  Vgl. ebd., 625 f., 696. Vgl. auch das Blatt der Carnets de la drogue mit dem Umriss eines Menschen, der von oben bis unten von einer senkrechten Linie durchzogen ist. In den Notaten dazu heißt es u. a.: „clivage au sommet de la moitié de la tête / du crâne“; OC III, 279; „Spaltung an der höchsten Stelle der Kopfhälfte / des Schädels“.

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4.5. ‚Reine‘ Bewegung oder Kollaps des Experimentalsystems: „eine Linie sein“

ciert. Im Zentrum dieses Experiments stehen schreckliche Erfahrungen mit derjenigen Form, die sie teilen: mit der Linie. Meskalin wird laut Michaux zur Erforschung des Wahnsinns eingesetzt, von experimentell erzeugten Psychosen.82 Im besagten Versuch gerät er selbst in einen derartigen Zustand. Die Überdosis produziert eine außerordentlich gefährliche psychische Alteration, in der er unausgesetzt Lust hat, zu töten, zu zerstören, zu verbrennen, zu zerschneiden.83 Die Überdosis lässt den Probanden Linien sehen, immer mehr Linien, riesige leichte Spinnenfäden;84 große Zs ziehen durch ihn hindurch, dann gebrochene Ss und unvollständige Os. Er fühlt sich als eine Bahn in der Zeit; dazu hat sich die übliche Furche gewandelt. In ihr fließt eine Flüssigkeit, die ihn das Gleiten von einer Sekunde zur nächsten spüren lässt. Die Linien folgen aufeinander ohne Unterlass, gelängte groteske Gesichter tauchen auf, Kurvenlinien, enorme Wellen, und wieder Linien. „… les lignes, les damnées lignes d’écartèlement.“85 Sie werden immer größer, so groß, dass er sie nicht aufs Papier brächte; daher gibt er den Versuch auf, sie mit Bleistift zu notieren.86 Irrsinnig schnell ‚kämmen‘ Hunderte von Kraftlinien sein Wesen (être) durch; kaum dass es sich zu sammeln sucht, zieht wieder und wieder ein ‚Rechen‘ hindurch. Mit unmenschlicher Geschwindigkeit bahnt sich ein elektrischer Bohrer seinen Weg durch das Persönlichste der Person und verwickelt das Ich in einen intensiven Kampf. „L’horreur était surtout en ce que je n’étais qu’une ligne“ – ein Schrumpfwesen, heißt das, im Vergleich zum üblichen Zustand, denn: „Dans la vie normale, on est une sphère, une sphère qui découvre des panoramas.“87 Die Kugel-Metapher impliziert Ausdehnung und Volumen, radiale Beziehungen, multidirektionelle Bewegungsmöglichkeit und als Begrenzung des umgebenden Raums sich verschiebende Horizonte. „Ici seulement une ligne. Une ligne qui se brise en mille aberrations. La lanière du fouet d’un charretier en fureur, c’eût été pour moi du repos.“88 Und er spricht von sich als „[l]’accéléré linéaire, que j’étais devenu“.89 Eine Linie ‚sein‘ ist eine Katastrophe. „Tout moi devait passer par cette ligne. Et par ses secousses 82  „… la Mescaline est une expérience de la folie. Elle est employée pour son étude, rare encore, mais qui ne le restera pas: celle des psychoses expérimentales.“ OC II, 692. „Meskalin ist eine Wahnsinnserfahrung. Es wird zu Studienzwecken verwendet, selten noch, aber das wird sich ändern: zum Zwecke experimenteller Psychosen.“ UW, 68. 83  Vgl. den Rückblick darauf in L’Infini turbulent, OC II, 873. Das fünfte Kapitel von Misérable Miracle ‚Expérience de la folie‘ heißt in der Erstausgabe ‚Schizophrénie expérimentale‘, in einer Manuskriptkorrektur ‚Psychose expérimentale‘; vgl. ebd., 1273. Von ‚Schizophrénie expérimentale‘ spricht Morselli, der ebenfalls von einer Überdosis Meskalin berichtet. Vgl. auch Boissonnas/Michaux/Paulhan: Mescaline 55, 14 f. ­Während Morselli damit allein ist und sich vorsorglich in die Klinik flüchtet, hat Michaux Saillet bei sich, der diktierte Äußerungen festhält, vg. OC II, 1291–1294. Sie sind von dem ausgearbeiteten Text extrem weit entfernt. 84 Vgl. Misérable miracle, OC II, 724. 85  Ebd., 734; „die Linien, die verdammten Linien der Vierteilung“; UW, 105. 86  Vgl. ebd., 735. Die Stelle zeigt, dass er auch im Rausch, nicht nur nachträglich, zu zeichnen versucht. 87  Ebd., 737. „Das Grauen bestand vor allem darin, dass ich weiter nichts als eine Linie war. Im normalen Leben ist man eine Kugel, eine Kugel, die Rundblicke eröffnet.“ UW, 109. 88  Ebd., 737. „Hier nichts als eine Linie. Eine zu tausend Abweichungen gebrochene Linie. Der Peitschenriemen eines zornigen Kutschers wäre für mich eine Erholung gewesen.“ Ebd., 109. 89  Ebd. „Der linear Beschleunigte, zu dem ich geworden war …“ Ebd.

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4. Meskalin-Szene und ‚Meskalinie‘

épouvantables.“90 Es ist ein furchtbarer Kampf, in dem nicht ein ‚Gedanke‘ Ich wird, sondern sich das Ich auf einen solchen zusammenzieht. Man wäre geneigt, dergleichen als poetische Formulierung anzusehen, in der, mit Wittgenstein zu reden, die Sprache feiert. Aber dem Selbstverständnis des Schreibenden nach dient ein derartiger Ausdruck dazu, wenigstens nachträglich die gefühlte Anomalie ins Wort zu heben. Er macht gerade nicht die Lizenzen der Literatur geltend. Agrammatische Formulierungen sind eine der vielen Schreibstrategien, die hier zur Anwendung kommen, freilich eine extreme. Sie fallen auf, weil Beschreibung und Analyse sich sonst zwar stilistische Eigentümlichkeiten erlauben wie Wiederholungen, Aufzählungen, Rhythmisierung, die Grammatik aber respektieren. Die Linienvisionen sind wohl auch darum eine dominante Erfahrung, weil das erhöhte Tempo des Wechsels von einem Eindruck zum nächsten den Schein eines Kontinuums zwischen beiden hervorruft. Sie dürften zumindest unter anderem ein Effekt der Geschwindigkeit sein. Sie haben aber nicht zuletzt darum eine so prominente Rolle in den Experimenten, weil sie als graphische das sind, worin sich die Meskalinwirkungen manifestieren und woran sie sich beobachten lassen. Michaux untersucht, wie erwähnt, die Effekte der Droge an einem normalerweise graphierend tätigen und im Experiment auch als Aufzeichnungsinstrument fungierenden Subjekt. Das Ich sieht und zieht Linien. Im Fall der Überdosis scheitert beides: Die Linie ist nichts Visuelles und Gestisches mehr. Etwas kategorial Anderes tritt ein: Das Ich sieht nicht mehr der permanenten Flucht des Gesehenen als Spektakel zu,91 sondern die Spaltung in ein erlebendes und ein beobachtendes Ich kollabiert.92 Man kann sagen: Die Position des Versuchsleiters im System entfällt, und die Versuchsperson erfährt sich, überwältigt von dem Geschehen, selbst als eine wimmelnde Linie, als rasende Bewegung. Eine sichtbare Linie (im Unterschied zur nur konzeptuellen) hat unter normalen Umständen immer zwei Aspekte: die Bewegung des Ziehens und/oder des Blicks und deren Resultat. Sie ist raum-zeitliches Geschehen, Vollzug oder Performanz und visueller Gegenstand. In Hinsicht auf das erstere Moment gehört sie mehreren Sinnen sowie Motorik,

90  Ebd., 738: „Mein ganzes Ich musste durch diese Linie hindurch. Und durch ihre schrecklichen Erschütterungen.“ Ebd. (Übers. modif. von S. M.) Verlust der Körperform und des Volumens oder der stofflichen Konsistenz gehören auch zu Erfahrungen mit anderen Drogen; unter Psilozybin etwa hat der Proband den Eindruck, Teig zu werden; vgl. Connaissance par les gouffres, OC III, 20. 91  Vgl. OC II, 724. 92  Vgl. ebd., 735 f. Michaux strebt prinzipiell, nicht nur in den Drogenversuchen, diese Doppelung des Ich an; die Koinzidenz der beiden Ich-Funktionen setzt er dagegen mit der (religiösen) Hingabe (se donner, don) gleich, zu der er nicht bereit ist. Vgl. Anm. ebd. In den von Saillet festgehaltenen Notizen heißt es: „identification à soi-même – plus rien vu, / En quelques secondes, passé de l’ordre de la vue / à l’ordre de l’être / Peut-être coincé par une idée → identification de moi à moi. / […] être fou se présenter en ligne de pensée“; ebd., 1293; „Identifikation mit sich selbst – nichts mehr gesehen, / In ein paar Sekunden von der Ordnung des Sehens übergegangen / zur Ordnung des Seins / Vielleicht von einer Idee gezwungen → Identifikation meiner mit mir. / […] verrückt sein sich als Gedankenlinie präsentieren“. Vgl.: „Moi uniquement une pensée, […] moi rétréci à elle“; ebd., 738. „Ich einzig und allein ein Gedanke, […] ich zu ihm verengt.“ UW, 110.

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4.5. ‚Reine‘ Bewegung oder Kollaps des Experimentalsystems: „eine Linie sein“

Gestik, Kinästhesie an, in Hinsicht auf das letztere (tendenziell) nur dem Sehen.93 Wenn Michaux versucht, graphische Aufzeichnungen im alterierten Zustand zu machen, testet er das Verhältnis von Gestik, Wahrnehmung und Selbstwahrnehmung. Für effiziente Bewegungen müssen sie zusammenpassen. Wenn sich die Wahrnehmung verändert, kommen auch die Bewegungen und die Gefühle durcheinander und noch mehr: Ein lebendiger Körper in Bewegung nimmt sich selbst wahr, und nur die Propriozeption94 ermöglicht ihm, sich zu koordinieren, auf seine Umgebung einzustellen und ein kinetisch-kinästhetisches Selbst hervorzubringen. Die Überdosis Meskalin hat mit ihrer maßlosen Beschleunigung diesen Zusammenhang profund gestört. Wie unter der Wirkung der Droge Bilder ‚rein visuell‘ sind, so wird nun offenbar Bewegung als ‚reine‘ erfahren: abgespalten von anderen Sinnen und von jeder möglichen dieser Beschleunigung entsprechenden körperlichen ­Bewegung. Im Gefühl, ‚eine Linie zu sein‘, hat sich, wie es scheint, die Kinästhesie verselbständigt und pervertiert. Der Proband bewegt sich kaum,95 aber seiner Selbstwahrnehmung nach rast er. Nimmt er sein neuronales Innenleben wahr, die elektrischen Ströme in den Nervenbahnen? Bemerkt er, was wir im Normalzustand nicht bemerken: dass wir kontinuierliche Aktivität sind und sich diese selbst fühlt? Wird dies hier, völlig entkörperlicht, zu einem reinen Bewusstseinsinhalt? Ist es dieses Auseinandertreten elementarer physiopsychischer Funktionen, der Verlust ihrer Integration zu einem einheitlichen Ganzen, das sich als schreckliche Furche manifestiert, als Riss durch das Selbst? Zumindest scheint die Durch­ trennung des Bandes zwischen (möglicher) Perzeption und Propriozeption ein Moment der meskalin-induzierten ‚Schizophrenie‘. Eine andere Beschreibung des Zustands ist, dass das Ich selbst in der Furche fließt – es nimmt die Linie sozusagen von innen wahr, aber dieses Innere ist kein räumliches,96 sondern das Ich fühlt zeitliche Sukzession. Sich mit der Linie identifizieren heißt körper- und raumlos sein, eindimensional, aber noch mehr: immateriell, Unterwegssein in reibungsloser Geschwindigkeit.97 Die Linie hat hier ihr zweites, spatiales Moment verloren. Sie ist nur noch zeitlich, pure Performanz, Vollzug ohne 93  Tendenziell, weil auch beim Sehen von etwas Flächigem andere Sinne beteiligt sind; der Sachverhalt ist hier vereinfacht und zugespitzt dargestellt. 94  Der im frühen 20. Jahrhundert von dem britischen Neurophysiologen Charles Scott Sherrington geprägte Begriff bezeichnet, einfach gesagt, die Wahrnehmung von Lage und Bewegung des Körpers im Raum; auch vom ‚sechsten Sinn‘ oder ‚Körpersinn‘ ist die Rede sowie von ‚Tiefensensibilität‘, an der Lage- (Stellungs-), Bewegungs- sowie Kraft- (Widerstands-)sinn unterschieden werden. Vgl. z. B. https://medlexi.de/Propriozeption (zuletzt aufgerufen am 07.06.2020). Zur Selbstwahrnehmung des sich bewegenden Körpers, die weit über die Wahrnehmung von Positionen im Raum hinausgeht, zur Kinästhesie, die gerade das Fühlen der Dynamik meint, vgl. Sheets-Johnstone: Kinesthetic memory, z. B. 62. 95  Vermutlich sitzend macht er nur kleinere Bewegungen wie schreiben, sich den Kopf frottieren, Orangenschnitze essen, eine Kugel in der Hand drehen. 96  Das Ich sieht nicht mehr – anders als der ins Innere einer Linie blickende Künstler Rolf Winnewisser: Unter enormer Vergrößerung erweist sich die graphische Linie als körnige Fläche mit fransigen Rändern, im ‚Inneren‘ ist sie alles Andere als eine Linie. Vgl. Ein Blick ins Innere der Linie, in: Sabine Mainberger/Esther Ramharter (Hg.): gerade gebogen, 19–34. 97  Das gemahnt an Virilios Dromologie.

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4. Meskalin-Szene und ‚Meskalinie‘

jede Vergegenständlichung, reine Aktualität. Und es gibt keinen Performierenden. Damit entfällt im System auch die Funktion des inskribierenden Instruments. Nicht nur, weil alles viel zu schnell geht, kann es von dieser Linie keine graphische Aufzeichnung geben, weder die indexikalischen Zeichen aus dem Rauschzustand noch die ikonische Rekonstruktion danach. Das Gefühl, ‚eine Linie zu sein‘, kann weder in signes noch in dessins zum Ausdruck kommen. Dennoch bleibt die von der Überdosis ausgelöste Psychose dem Meskalin-Stil verplichtet, ja, sie steigert ihn zum Exzess: Denn der Wahnsinn produziert nicht ganz andere Imaginationen als der dosierte Rausch; er insistiert vielmehr auf der Linie als dessen Spezifikum, ‚nur‘ wird diese existenziell. Was vorher Vision war, halluzinierte Sichtbarkeit, virtuelles Gegenüber, ist das Ich nun selbst. Damit bricht das experimentelle Dispositiv zusammen. Als Versuch ist dies ein Unfall, ausgelöst hat ihn ein Zufall. Nur aus der Erinnerung, wenn das Setting wiederhergestellt ist, kann von der folie berichtet werden, und zwar exklusiv sprachlich. Das Medium, das den größten Horror vergegenwärtigt und zugleich auf Distanz hält, sind die arbiträren Zeichen, die mots.

4.6. Errante Linie – ‚Meskalinie‘ – Linie der Psychose Wenn sich die Linien der Meskalinzeichnungen irgendwie synthetisierend charakterisieren lassen, dann am besten in Abgrenzung von zwei anderen Arten: von der frühen ‚somnambulen‘ und der eben beschriebenen ‚wahnsinnigen‘. Michaux’ Linie des ‚armen‘ Zeichnens irrt herum und bewegt sich zugleich unbeirrt fort. Sie ist eine singularische, ‚zölibatär‘ nicht nur, insofern sie sich an keine repräsentierende Funktion binden lässt, sondern auch, insofern sie einzeln auftritt und sich in dieser Singularität vollkommen selbst genügt. In ihrem Verlauf macht sie keinerlei Wiederholungen; jede Teilstrecke folgt einer unvorhersehbaren eigenen Regel. Dieser ziellose Bewegungsmodus entspricht ziemlich genau dem, was Michaux andernorts als den des Tagtraums beschreibt: Ihn kennzeichnen „nonchalance indécidée“ und „errer négligemment“.98 „Rêverie, qui constamment fait, défait, refait, redéfait […] qui va partout, qui ne se propose pas de terminer, d’aboutir, d’arriver, de construire“.99 Die Träumerei der graphierenden Hand hinterlässt dementsprechend eine hin- und her-, vor- und wieder zurücklaufende Spur. Im Unterschied zu dieser Linie des metaphorischen ‚Schlafs‘ oder der rêverie, der Linie, „qui erre“, ist die des

98  Beide Zitate in Façons d’endormi, façons d’éveillé (1969), OC III, 519; „unentschiedene Nonchalance“ und „lässiges Herumirren“; vgl. dazu Pfeiffer: Traum und Tagtraum: Henri Michaux. Über eine Geburt der Poetik aus der Traumkritik, in: Susanne Goumegou/Marie Guthmüller (Hg.): Traumwissen und Traumpoetik: onirische Schreibweisen von der literarischen Moderne bis zur Gegenwart, Würzburg: Königshausen & Neumann, 2011, (157–178) v. a. 171–177. 99  OC III, 520. „Träumerei, die ständig etwas herstellt, auflöst, wiederherstellt, wiederauflöst […], die überallhin läuft, die nicht enden, aufhören, ankommen, bauen will“.

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4.6. Errante Linie – ‚Meskalinie‘ – Linie der Psychose

erinnerten Rausches eine der „mille aberrations“.100 Die eine geht einen erratischen Weg, die andere hat gar keinen; die Meskalin-Linie ist nicht um- oder abwegig, sondern lässt sich überhaupt nicht auf das Paradigma des Weges beziehen, sie ist tatsächlich weglos. Michaux behauptet, er habe eine Brown’sche Bewegung fixiert,101 d. h. zufällige, irreguläre Bewegungen in alle Richtungen. In Flüssigkeit oder Gas resultieren sie aus Kollisionen von Teilchen mit Molekülen, sind daher ruckartig; unterm Mikroskop zeigen sie sich als Gewimmel. Alles bewegt sich, das Ganze aber steht still, da keine Bewegung dominiert. Die Assoziation damit passt indes nur für eine bestimmte Art Meskalin-Bilder; viele andere zeigen keine multidirektionellen Bewegungen, sondern wenige oder sogar nur zwei, die einander insistierend wiederholen: die einen annähernd parallel, die anderen antithetisch: hin-her, zick-zack, wobei die eine Richtung die andere aufhebt. All diese Linien sind hyperaktive, konvulsivische, spasmische. Beim Blick auf das ganze Blatt dominiert jedoch als Eindruck von einem Verlauf die Bewegung quer zu den Zickzack-Verläufen, entlang des zwischen ihnen liegenden Leerraums oder einer baumartigen Formation. Die Linien der Meskalinzeichnungen treten immer im Plural auf: scharenweise, zu Bündeln und Haufen zusammengedrängt, z. T. überlagern sie sich. Ihre Verdichtung führt zu porösen Flächenerscheinungen mit der Struktur faseriger, am Rand ausfransender Gewebe. Andere zerkrümeln zu Strichlein und Pünktchen, die sich ihrerseits wie Späne oder Staub zu parallelen Streifen, Bändern oder Gittern formieren. Wenn die Zickzacklinien loser aufeinander folgen, gemahnen sie an die unregelmäßigen Ausschläge physiologischer Kurven. Sie treten oft paarig auf, zu beiden Seiten der Symmetrieachse. Diese verläuft als nur gedachte Linie durch die Mitte der Negativform. Die vibrierenden Linien erinnern an visualisierte physikalische und biologische Mikrobewegungen. In der Aussparung scheinen diese sichtbar gemachten Welten aufzureißen und sich auf ein ‚Nichts‘ zu öffnen. Als weißer Grund emergiert die Furche, die alles durchziehende ‚Schize‘. Meskalin wirkt als intensivierende, verzerrende Brille: Es eröffnet nichts Neues, sondern steigert die üblichen physiopsychischen Vorgänge ins Unangenehme oder sogar Unerträgliche. Sind jene Vorgänge normalerweise unausgesetzte mikrologische Aktivität und Bewegung, so werden sie nun exzessiv beschleunigt. Aus rhythmischen Wiederholungen, die regulär sind, aber Varianzen implizieren und für eine dynamische Stabilität und Kontinuität sorgen, werden zwanghafte, mechanische, selbstidentische Repetitionen; ihr Insistieren wirkt quälend, Michaux nennt es höllisch.102 Die Nachträglichkeit des Zeichnens, das Auseinandertreten von Graphieren und Sehen, vergrößert sich zur Unmöglichkeit, im Rausch überhaupt zu zeichnen; Auge und Hand lassen sich zu keinem Wechselspiel koordinieren. Meskalinbilder entstehen immer nur post festum. Die Rollendifferenz des Selbstversuchs verzerrt sich zur bösen Karikatur: Die Testperson wird zum Opfer eines zynischen Beobachters; die Droge schwingt sich zum Protagonisten auf, sie reißt gewissermaßen das Unternehmen an sich und betreibt mit ih100  Vgl. oben, 41, und 99. 101 Vgl. Misérable miracle, OC II, 621. 102  Vgl. OC III, 629.

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4. Meskalin-Szene und ‚Meskalinie‘

rem inhärenten Intellektualismus ihre eigene Erforschung. „C’est avec mes terribles secousses, qu’elle faisait son spectacle.“103 Die bei Experimenten immer gegebene Asymmetrie zwischen Forscher und Proband pervertiert sich zu einem Machtspiel, in der letzterer sich als hilflos erfährt. Selbstdistanz gilt sonst als wünschenswert,104 nun ist sie gewaltsam; ein nicht mehr zu schließender Riss klafft auf. Die für die Meskalinzeichnungen typische Furche scheint all diese Spaltungen zum Ausdruck zu bringen. Der graphierende Akteur ist auf allen Ebenen, von der Sensomotorik über die Wahrnehmung und Selbstwahrnehmung bis zum Bewusstsein, ‚entkonditioniert‘, und zwar in exzessiver Weise. Die Alterationen aber werden, trotz aller Hindernisse, mitgeteilt und sind nicht zuletzt graphisch sichtbar. Im Unterschied zu dieser ‚Meskalinie‘ verlässt die ‚existenziell‘ gewordene Linie jede Räumlichkeit, Visualität und Körperlichkeit. Das Ich vollzieht nicht die Bewegung, sondern koinzidiert mit ihr. Diese Linie hat kein graphisches Pendant. Über sie kann post festum gesprochen oder geschrieben werden – doch auch das nur in enigmatisch bleibenden Formulierungen. ‚Eine Linie sein‘ erscheint wie manches Geträumte im Traumzustand vollkommen evident und erweist sich, nachträglich verbalisiert, als sinnfrei. In einem poetischen Text wäre eine derartige Formulierung nicht unbedingt anstößig, aber Misérable miracle gehört nicht in diese Rubrik; es stellt vielmehr eine besondere Art von Fallstudie dar: eine von der Gestik des künstlerisch Tätigen und dem Sprachvermögen des literarisch Schreibenden ermöglichte Physiopsychographie. Die exploration, die weder Wissenschaft noch Künsten zuzurechnen ist, aber Aspekte von beiden vereint, gilt nicht nur dem Meskalin, sondern auch der Linie. Diese ist Instrument und Gegenstand der Erkundung. Das provokanteste Ergebnis der Versuche ist die beschriebene Linie der Psychose. Sie bildet einen Grenzwert für jede Theoretisierung der Linie.105 Michaux kommt das Verdienst zu, bis zu dieser Grenze vorgedrungen zu sein.

103  OC II, 621. „Aus meinen gräßlichen Erschütterungen gestaltete sie ihr Spektakel.“ UW, 11. 104  Vgl. oben, 100, Anm. 92. 105  Deleuze geht darüber hinaus zum Pathos, Michaux nicht.

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5. Chinesischer Strich und europäische Linie: (k)ein Gegensatz

5.1. Die Kunst anzudeuten Zur ‚Welt der Zeichen und Linien‘ sei Michaux endgültig durch die chinesische Malerei gelangt.1 Der begrifflich unscharfe, aber einprägsame Ausdruck „des signes et des lignes“ meint in Verbindung mit dem Stichwort Malerei Graphisch-Bildkünstlerisches, obwohl ­signes wie lignes zweideutig sind und sich als Schrift- oder Lautzeichen und Zeilen genausogut auf die Welt der Sprache und Schrift beziehen können. Die chinesische Kultur, so ­einer der sie umgebenden Mythen, muss nicht wie die westliche in Schrift und Bild differenzieren, denn beide seien in ihren Ideogrammen untrennbar miteinander verbunden; diese stellten einen unmittelbareren Zugang zu den Dingen dar als die arbiträren, phonetischen Zeichen des Alphabets. Michaux teilt die Faszination der chinesischen Schrift und bis zu einem gewissen Grad auch den Mythos, wenn er 1970 als Begleittext zu einem Band über Kalligraphie den Text Idéogrammes en Chine2 schreibt. Andererseits weiß er nicht wenig über diese Schrift und ihre Geschichte3 und führt in der Beschäftigung damit seine eigene langjährige Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Schreiben, Zeichnen und Verbalisierien fort. Der poetisch-essayistische Text4 fokussiert das Nachdenken über graphische Linien erneut auf deren gestische und materielle Aspekte, auf Strich und Zug. Ligne tritt hier zu trait in einen polemischen Gegensatz: Die Linie gilt als Phänomen aller anderen ‚Kalligraphien‘ (außer der arabischen),5 der trait dagegen als eines der chinesischen ‚Schreibkunst‘. In der Unterscheidung von Kalligraphie und art de l’écriture trifft Michaux sich mit heutigen Sinologen.6 1  Vgl. oben, 46. 2  Der Text ist als Vorwort zu Tchang Long-Yen (Léon L. Y. Chang): La Calligraphie chinoise. Un art à quatre dimensions, Paris: Club français du Livre, 1971, II–XV, erschienen, und zwar ohne Abbildungen. Selbständig erschien er 1975; zu den Abbildungen vgl. folgende Anmerkung. Vgl. OC III, 1664 und 1666. – Meine Ausführungen beziehen sich auf die Ausgabe der Idéogrammes en Chine von 1975, die Nachweise folgen OC III, 815–851. 3  Wie zutreffend seine Darstellung ist, wird unterschiedlich beurteilt. Kein Zweifel besteht indes daran, dass seine eigenen Schreibversuche kläglich sind. Im Archiv befindet sich neben dem erwähnten Buch von Chiang Yee ein weiteres für Michaux’ Beschäftigung mit der chinesischen Schrift wichtiges Werk: Léon Wieger, S. J.: Caractères chinois: étymologie, graphies, lexiques, Taiwan: Kuangchi Press, 71963, Bd. 2, 1932. Aus diesen beiden Werken hat Michaux Beispiele für die Buchversion von Idéogrammes en Chine entnommen, aus dem Buch von Wieger in anderem Zusammenhang Zeichen von Bronzeinschriften kopiert; vgl. Leibovici: Henri Michaux. 4  Léon L. Y. Chang dankt Michaux für dessen poème; vgl. 105, Anm. 2 (o. P.). 5  Vgl. OC III, 832. 6  Vgl. den Titel von Billeters Buch: L’art chinois de l’écriture. Wie er werde ich trotzdem aus stilistischen Gründen gelegentlich das Wort Kalligraphie für die chinesische Schreibkunst gebrauchen.

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5. Chinesischer Strich und europäische Linie: (k)ein Gegensatz

Die ästhetisierende, dekorative und zugleich unpersönliche Art, mit Schrift umzugehen, hat im westlichen Kultursystem einen eher marginalen Status, während der chinesischen Schreibkunst eine absolut zentrale Position zukommt. Insofern lassen sich beide eigentlich gar nicht vergleichen7 und daher auch nicht gegeneinander ausspielen. Die Konnotationen der Linie sind im Zusammenhang der westlichen Kalligraphie laut Michaux „rigidité […], corset uniforme de noblesse, de liturgie, de gravité puritaine“,8 also Steifheit und Strenge, Zeremoniell, Offiziöses, Unsinnlichkeit, Asketismus, Zwang und damit implizit institutionelle Autorität, Repression, Macht. Das ist bemerkenswert, denn selbst wenn westliche ‚Schönschrift‘ wie andere, vor allem vormoderne, Kunst im Dienst von herrschaftlicher Repräsentation gestanden hat, so gilt das doch allemal auch für die chinesische Schreibkunst; schließlich wurde sie von hohen Beamten eines Machtapparats ausgeübt, der an den genannten Eigenschaften nichts zu wünschen übrigließ. Wie alle Verehrer chinesischer Kunst blendet auch Michaux deren politische und soziologische Seite fast vollständig aus – nicht zuletzt die damalige maoistische Gegenwart, in der sich auch die politische Führung schreibkünstlerisch betätigt.9 Diese Aussparungen fallen besonders auf, weil er Kenntnisse der chinesischen Kulturgeschichte hat und sich vehement für die motorisch-gestische Seite des Schreibens interessiert; eine Gesellschaft und Kultur aber sedimentiert sich im Individuum u. a. in Körpertechniken. In diesem Fall wird die Autorität einer Jahrtausende alten Schrift, kanonischer Texte, die schreibend reproduziert werden, und unanzweifelbarer politischer Macht mit dem Erlernen des Schreibens angeeignet; in sehr viel höherem Maße als in alphabetschriftlicher Kultur ist die chinesische Literalisierung eine im Körper verankerte. Das Praktizieren des Schreibens als Kunst wiederum ist jahrhundertelang Sache einer Macht habenden Elite, die sich von der illiteraten Masse unterscheidet, sich durch die Kultivierung des Schreibens für hohe Ämter qualifiziert und sich in ihrer sozialen Identität bestätigt. Kulturtechnik, Machtausübung und das Betreiben von Kunst liegen extrem nahe beisammen. Die Körpertechnik ist dabei als Selbstdisziplinierung und -kultivierung das individuelle Pendant zur Kontrolle des Staates.10 Sie macht den Einzelnen nicht zur Marionette, aber zum

7  Das im Westen Kalligraphie Genannte gibt es in China auch, gehört aber nicht in die Kategorie der Schreibkunst. Es existiert heute, da der Pinsel nicht mehr das Schreibwerkzeug ist. Vgl. ebd., 11 f. 8  OC III, 832. „Starrsinn […]; ein einheitliches Korsett des Adels, der Liturgie, des puritanischen Ernsts.“ Henri Michaux: Ideogramme in China. Aus dem Französischen von Eleonore Frey, Graz/Wien: Droschl, 1994 (künftig abgekürzt IiC), 22. Eine ähnliche Polemik findet sich auch im Hinblick auf westliche und chinesische Malerei in Émergences-résurgences: Den hingeworfenen, voltigierenden Strichen der letzteren werden die prosaisch, mühselig, beamtenhaft gezogenen der letzeren gegenübergestellt; vgl. OC III, 548. 9  Vgl. dazu z. B. Richard Curt Kraus: Brushes with Power. Modern Politics and the Chinese Art of Calligraphy, Berkeley/Los Angeles/Oxford: Univ. of California Press, 1991. Im Vorwort zur Neuausgabe von Un Barbare en Asie von 1967 (OC I, 279–281) kritisiert Michaux dieses Fehlen des Politischen, zur aktuellen Situation gibt er (wenige) Hinweise in Anmerkungen; vgl. auch OC I, 1117–1123. Auf sein Verhältnis zu chinesischer Schrift und Schreibkunst hat dies aber keine Auswirkungen. 10  Konfuzianischem Denken zufolge bilden „cultivating the self “ und „ordering society“ ein unteilbares Ganzes; vgl. Kraus: Brushes with Power, 38.

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5.1. Die Kunst anzudeuten

Komplizen der Macht. Der in vielen Hinsichten vehemente Kritiker westlicher Kultur ignoriert diese Zusammenhänge. Repressive Implikationen hat die Kultivierung der Schrift nicht nur wegen extremer Asymmetrien an Macht, Wohlstand und Bildung in der chinesischen Gesellschaft; enorme Zwänge bestimmen auch das Leben jener literalisierten Elite: Sie ist virilen, kriegerischen Idealen verpflichtet. Die Schreibkunst wird in traditionellen Texten mit diversen Aktivitäten verglichen, nicht zuletzt mit der Kriegskunst. Weit weniger präsent sind dagegen Analogien zu Erotik und Sexualität,11 diesem zentralen und unerschöpflichen Bildspender für das westliche Nachdenken über Schreiben und Malen/Zeichnen; auf der ikonographischen Ebene kann gerade die westliche Randkunst Kalligraphie in ihrer Nähe zu Ornament und Arabeske mit der erotisch-sexuellen Sphäre spielen. Der Vorwurf des ‚Puritanischen‘ befremdet daher etwas. Sexualität in der chinesischen Kultur wiederum ist aus der vorwiegend männlichen Perspektive, aus der westliche Reisende von ihr berichten, ein unfassbares Faszinosum. An den wenigen Stellen, an denen sich Michaux in seinem frühen Buch Un Barbare en Asie dazu äußert, bedient er durchaus Klischees, wie das eines sehr direkten und doch nicht obszönen Umgangs damit auf dem Theater; sexuelles Begehren werde nicht fleischlich, sondern umrisshaft („à l’état de tracé“12) artikuliert. Zum Thema ‚die chinesische Frau‘ kann er neben Stereotypen die übliche Touristenerfahrung mit Prostituierten beisteuern. Malerei und Schreibkunst haben ihre eigene Sinnlichkeit, aber Erotik scheint dabei nicht besonders relevant zu sein. Kurz, die Polarisierung von (gedrillter) ligne und (vitalem) trait ist polemischer Natur. An der Linie der ästhetisierten Schrift soll sich der schreibkünstlerische Strich profilieren. Trotz dieser Verzerrung kommen Michaux’ Überlegungen dem chinesischen art de l’écriture offenbar derart nahe, dass der selbst kalligraphisch tätige Billeter ihn immer wieder zitiert, um jene Kunst westlichen Rezipienten begreiflich zu machen. Insbesondere sind Michaux’ praxeologische Äußerungen zu seinem eigenen Malen-Zeichnen eine ergiebige Quelle. Sein Graphieren und die ostasiatische Kalligraphie treffen sich, wenn es um Schreiben als Ereignis geht, als gestisches Tun oder ‚asemisches‘ Schreiben, als performative Kunst wie Tanzen oder Musizieren. Dafür bietet der Schriftsteller Michaux wie kaum ein anderer eine vielfältige und geschmeidige Sprache. Diese transportiert auch Mythen, Wunschträume und nicht stimmige Konzeptionen von Zeichen, Sprache und Schrift, nicht zuletzt in puncto Chinesisch; an der chinesischen Schreibkunst wird zudem die Lesbarkeit der Charaktere marginalisiert. Doch letzten Endes fällt das weniger ins Gewicht. Sein Verdienst besteht vielmehr darin, dass er an der graphierenden Aktivität das Körperliche und Physiopsychische auf immer neue Weise verbalisiert hat. Das Tun in seiner zeitlichen Erstreckung und die Dynamik des Entstehens, der Emergenz, des Werdens (doch ohne Telos) stehen von Anfang an im Zentrum von Michaux’ Interesse: Die Geste des Graphierens, der graphische Strich selbst, die Malerei aus Flecken, 11  Vgl. Billeter: L’art chinois de l’écriture, 125 f. und 165 f. 12  OC I, 380. Die Bemerkung gilt einer Szene, in der ein Mann eine Frau zum Koitus bewegen will und sie sich verweigert – das Ganze als Pantomime, die eine gute Viertelstunde dauert.

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5. Chinesischer Strich und europäische Linie: (k)ein Gegensatz

die ‚somnambule‘ Linie, glossolalische Dichtung, variierendes Aufzählen – sie alle sind nur Spielarten des grundlegenden Anliegens, ‚Zeichen‘ und mit ihnen die mediatisierte Realität als eine fluide, in ständiger Verwandlung begriffene zu denken. Diesem Interesse scheint die chinesische Kultur entgegenzukommen, und zwar in allen möglichen Künsten und Medien, in Malerei genau wie im Theater und in der Schrift. In Un Barbare en Asie heißt es z. B.: Le mouvement des choses est indiqué, non leur épaisseur et leur poids, mais leur linéarité si l’on peut dire. Le Chinois possède la faculté de réduire l’être à l’être signifié […]. Si un combat doit prendre place, il ne livre pas le combat, il ne le simule même pas. Il le signifie. Cela seul l’intéresse, le combat lui-même lui paraîtrait grossier. Et cette signification est établie par un tel rien, qu’un simple Européen ne peut espérer déchiffrer la pièce. […] S’il s’agit d’une fuite, tout sera représenté sauf la fuite – la sueur, les regards de droite et de gauche, mais pas la fuite. […] Dans la création des caractères chinois, ce manque de don pour l’ensemble massif, et pour le spontané, et ce goût de prendre un détail pour signifier l’ensemble est beaucoup plus frappant encore […].13

Weder die Zeichen noch die Dinge sind also isolierbare Identitäten, von denen die eine ­Seite für die andere steht, sondern Dinge werden – eingeflochten in Zusammenhänge und als zeitlich dauernde, als Relationen – angedeutet, die Bedeutung des Zeichens wird aus Hinweisen erschlossen, nicht direkt formuliert. Den Sinn einer Zeichenkombination realisiert ein Betrachter-Leser in einem Prozess – etwa so, wie bei Peirce das Verstehen eines Diagramms einen Prozess beinhaltet. Michaux gibt das Beispiel des Schriftzeichens für Stuhl: Es setzt sich aus drei Zeichen zusammen für 1) Baum, 2) groß, 3) erleichtert und bewundernd aufatmen; die Bedeutung ‚Stuhl‘ ergibt sich aus ‚Mensch‘ (der auf den Fersen sitzt oder steht) und ‚erleichtert aufatmet bei einem Gegenstand, der aus einem großen Baum gemacht ist‘. Der Gedanke, den Stuhl selbst mit seinem Sitz und seinen Beinen darzustellen, komme dem Chinesen nicht in den Sinn.14 Signifier heißt hier andeuten und erschließen (lassen); es erfolgt über Umwege, ist etwas Offenes, Ungewisses, nur Angespieltes oder Spielerisches, das die Aktivität des Rezipienten erfordert.15 Nach dem gleichen Prinzip wie in Sprache und Schrift werden laut Verfasser in der chinesischen 13  OC I, 364 f. „Angedeutet wird die Bewegung der Dinge, sozusagen ihre Linearität, nicht ihre Dichte oder ihr Gewicht. Der Chinese besitzt die Fähigkeit, das Wesen auf das bedeutete Wesen zu reduzieren […]. Soll ein Kampf stattfinden, so schildert er nicht den Kampf, täuscht nicht einmal vor. Er bedeutet ihn. Nur das interessiert ihn, der Kampf selbst erschiene ihm ordinär. Und diese Bedeutung wird durch ein derartiges Nichts gestiftet, daß ein einfacher Europäer nicht hoffen kann, das Werk zu entziffern, […] Handelt es sich um eine Flucht, so wird alles dargestellt, außer der Flucht, – der Schweiß, die Blicke nach rechts und links, aber nicht die Flucht. […] In der Entstehung der chinesischen Schriftzeichen ist diese mangelnde Begabung für das handfeste Ganze und für das Spontane sowie diese Vorliebe, ein Detail stellvertretend für das Ganze zu nehmen, noch frappierender“. Ein Barbar in Asien. Aus dem Französischen von Dieter Hornig, Graz: Droschl, 1992 (künftig abgekürzt BA), 123. Parallelisierungen der chinesischen Zeichen mit der Algebra (sie sind in diesem Zitat ausgespart) entsprechen noch einem Leibniz’schen Verständnis der chinesischen Schrift, von dem sich Michaux jedoch löst; vgl. Jean-Gérard Lapacherie: Henri Michaux et les idéogrammes, in: Textyles 7 (1990) (203–211) 206. 14  Vgl. OC I, 365. 15  Das Zeichen für Stuhl ist ein Standardbeispiel. Inwieweit Michaux’ Darstellung darüber hinaus zutrifft oder Mythen prolongiert, mag hier offenbleiben. Bestätigt wird sie im Apparat der Werkausgabe u. a. mit Verweis auf François Jullien; vgl. OC I, 1114. Dessen frühes Buch La valeur allusive scheint Michaux’ Auffassung schon mit dem Titel zu bekräftigen. In meinen Ausführungen kommt es dagegen v. a. auf die katalysierende und generierende Kraft derartiger Imaginationen an.

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5.1. Die Kunst anzudeuten

Malerei Dinge nicht repräsentiert: Sie scheinen eher abwesend, Erinnerungen oder zarte Phantome, die für das Begehren unerreichbar sind; ferne Horizonte umgeben sie. Die Europäer dagegen wollten alles betasten, selbst die Luft zwischen den Dingen auf ihren Bildern sei kompakt. Zeichen, ob phonetische, graphische oder graphematische, sind hier etwas Fluides, sie arretieren nichts. Der Prozess des Bezeichnens kommt in ihnen nicht zum Stehen, sondern setzt sich über das einzelne Zeichen hin fort. Bei Bildern, zumal bei Tusche- und Aquarellmalerei oder skizzenhafter Strichzeichnung, leuchtet das ein: Der Reiz dieser Techniken liegt in ihrer extremen Ökonomie der Mittel; sie geben minimalistische Hinweise und überlassen alles Andere dem betrachtenden Auge und der Imagination. Im Bereich des Verbalen und Skripturalen mag man an Kleinstformen denken, an hoch kondensierte Texte, die mit ganz wenigen Wörtern sehr viel sagen, an Gedichte mithin, poetische Aphorismen u. ä. Michaux hat selbst das Stichwort von der „écriture d’épargne“16 gegeben. Aber das Prinzip sollte nicht nur mit bestimmten literarischen Gattungen verbunden, sondern grundsätzlicher als eines der sprachlichen Zeichen verstanden werden. Statt an die Logik eines semiotischen Systems mag man an die Prozesse des Sprechens und der Kommunikation denken; wenn man sie in den Blick nimmt und Sprachtheorien aufruft, die die Bedeutungskonstitution in Akten der Artikulation ins Zentrum stellen,17 ist das Bezeichnen als etwas offen Prozessuales auch hier plausibel. So gesehen handelt es sich nicht unbedingt um etwas spezifisch Chinesisches. Mit dem chinesischen Verständnis von Zeichen aber stimmt Billeter zufolge das von Michaux Skizzierte durchaus überein: Zeichen sind demnach Realitäten im Zustand der Genese. Dem entspricht der Mythos der Schriftentstehung, auf den Michaux am Anfang von seinen Idéogrammes en Chine anspielt (und den er im Hinblick auf Lesbarkeit sogar wiederholt): Ce qui, paraissant gribouillis, fut comparé à des passages d’insectes, à d’inconsistantes traces de pattes d’oiseaux dans le sable, continue de porter, inchangée, toujours lisible, compréhensible, efficace, la langue chinoise, la plus vieille langue vivante du monde.18

Ihrer Geschichte nach gehört chinesische Schrift – anders als die in Mesopotamien und Ägypten zu Verwaltungszwecken gebrauchte – zunächst zum Kontext der Divination, die im archaischen China eine entscheidende Rolle spielt, und sie behält wie andere Schriften ritueller oder magischer Herkunft etwas von der Aura dieser Sphären. Die Kunst der Weissagung bezieht sich – wie überall – auf Naturerscheinungen, z. B. auf die durch Feuer hervorgerufenen Sprünge in Knochen. Die Zeichendeuter suchen die natürlichen Emanationen energetischer Prozesse zu interpretieren,19 so in der ältesten Version, der Orakelknochenschrift. Es gibt aber wie in 16  OC II, 199; Spar-Stil. 17  Vgl. die Arbeiten von Trabant u. a. 18  OC III, 816. „Was – eine Sudelei scheinbar – mit Insektengängen, mit unzusammenhängenden Spuren von Vogelfüßen im Sand verglichen wurde, trägt weiterhin unverändert, immer leserlich, verständlich, wirksam die chinesische Sprache, die älteste lebende Sprache der Welt.“ IiC, 6. Michaux erweist sich hier als Vertreter des mit einem Missverständnis der Ideogramme vebundenen Universalitätsmythos; vgl. J. Marshall Unger: Ideogram. Chinese Characters and the Myth of Disembodied Meaning, Honolulu: Univ. of Hawai’i Press, 2004, 5 f. 19  Vgl. Billeter: L’art chinois de l’écriture, 249.

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5. Chinesischer Strich und europäische Linie: (k)ein Gegensatz

anderen Schriftursprungserzählungen doch auch mythische Urheber, z. B. den vieräugigen Seher Cang Jie:20 Er soll Spuren von Vögeln und wilden Tieren beobachtet und ‚gelesen‘ haben; aus dieser Art Spuren, die verschiedene Realitäten darstellen konnten, geht die Schrift hervor. Das wen, ein einfaches Zeichen, ist die erste Manifestation des Seins. Es bezeichnet ein Motiv, das auf der Oberfläche eines Dings erscheint, z. B. die Maserung eines Steins, Wellenspiel auf dem Wasser oder die bewegliche Konfiguration der Sterne, meint somit das sichtbare Erscheinen einer Dynamik im Objekt selbst. Es bedeutet ebenso Krakelüre wie Schriftzeichen; beide sind aus dieser Perspektive von der gleichen Art.21 Die zu ‚lesenden‘ Zeichen sind emergente, nicht willentlich hervorgebrachte. Auch Sinterflecken auf einer Mauer oder Kanäle von Würmern im Holz bilden in diesem Sinn das Ideal eines geschriebenen oder gezeichneten Graphismus.22 Europäer können sich angesichts dieser Nichtunterscheidung von Naturphänomenen und kulturellem Artefakt an den Mythos von der Lesbarkeit der Welt erinnert fühlen, der bis in die Metapher der ‚Entzifferung‘ des menschlichen Genoms hineinreicht; eine Beziehung zu gewissen naturphilosophischen Ansätzen der Romantik scheint hier nahezuliegen. Sie können auch an bildkünstlerisch relevante Praktiken denken, Flecken und Maserungen gestalthaft zu sehen, oder an Erzählungen von durch Zufall wundersam gelungenen Repräsentationen; nach vergeblichen Mühen bringt etwa ein wütend auf das Bild geworfener Schwamm endlich den Schaum am Maul eines Hundes zustande, o. ä. Bild und Schrift aber sind hier freilich von Anfang an getrennt. Für die chinesische Kultur zeigt sich dagegen offenbar nicht nur gelegentlich die verborgene Verwandtschaft oder das (Einklang versprechende) Kontinuum zwischen Natur und Kultur. Vielmehr werden Zeichen – und sie stehen im Zentrum der Kultur – selbst als lebendige, im Entstehen begriffene Realität(en) verstanden.23

20  Auch Ts’ang Tsié; vgl. Billeter: Essai sur l’art chinois de l’écriture et ses fondements, Paris: Éditions Allia, 2010, 375 (in OC III, 1668: Cangjie). Zum Mythos selbst vgl. ders.: L’art chinois de l’écriture, 250. 21  Vgl. ebd. Billeter zufolge impliziert der Begriff wen die Idee von der Macht der Entfaltung und Organisation, die dem Realen selbst inhäriert. Das Prestige der Schrift stammt daher, denn sie gilt als Manifestation dieser Macht. Vgl. auch die (u. a. durch Derridas Grammatologie bekannt gewordene) Erklärung Jacques Gernets: „Das Wort wen bedeutet Menge von Strichen (ensemble de traits), einfaches Schriftzeichen (caractère). Es wird angewandt auf Stein- und Holzadern, auf Konstellationen, die durch die Sterne verbindende Linien (traits) dargestellt werden, auf die Spuren von Gänsen und Vierfüßern auf dem Boden (laut chinesischer Tradition hat die Beobachtung dieser Spuren zur Erfindung der Schrift geführt), auf Tätowierungen oder auch z. B. auf Zeichnungen, die den Panzer der Schildkröte zieren. (‚Die Schildkröte ist weise, sagt ein alter Text – d. h. mit magisch-religiösen Kräften begabt –, denn sie trägt Zeichnungen (wen) auf ihrem Rücken.‘) Der Term wen hat durch Ausdehnung Literatur und höfliche Umgangsformen bezeichnet. Antonyme sind die Worte wu (Krieger, Militär) und zhi (rohes, noch nicht poliertes und geschmücktes Material).“ Aspects et fonctions psychologiques de l’écriture [1963], in: ders.: L’intelligence de la Chine: Le social et le mental, Paris: Gallimard, 1994, (361–379) 366, Anm. 1. Zu wen in konkreter, symbolisch-metaphysischer und historischer Dimension, die in der Bedeutung als Schrift und literarischem Text zusammenkommen, vgl. v. a. François Jullien: La valeur allusive. Des catégories originales de l’interpretation poétique dans la tradition chinoise (Contribution à une réflexion de l’altérité interculturelle), Paris: École française d’extrême-orient, 1985, 22–56. 22  Vgl. OC III, 1668. 23  Vgl. Billeter: L’art chinois de l’écriture, 252 und 258. Mythologisch werden in der chinesischen Kultur auch Schriftentstehung und Kosmogonie analogisiert. Aus dem indifferenten Chaos emergieren Atemzüge, deren Festwerden das Auftauchen der Schriftzeichen vorbereiten; vgl. OC III, 1662. Zur primordialen Bedeutung des

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5.2. Radikalpoesie und Katalog der ‚Charaktere‘

5.2. Radikalpoesie und Katalog der ‚Charaktere‘ Einen derartigen Zeichenbegriff umkreist Michaux immer wieder in Paraphrasen und Beispielen, und er versucht, ihm in seinem eigenen Schreiben und Graphieren Geltung zu verschaffen.24 Doch wie kann so etwas gelingen? Zeichen in der westlichen Kultur dynamisieren zu wollen, kann nur heißen, an deren Möglichkeiten anzuknüpfen, an deren eigene Ansätze zu einer irgendwie vergleichbaren Dynamik. Auf der Ebene der Texte entsprechen dem oft Aufzählungen: Als wiederholende Variationen und variable Wiederholungen wirken sie litaneihaft, inkantatorisch, scheinen den Leser in Trance versetzen zu wollen. Sie vermeiden den einen synthetischen Begriff, ergehen sich stattdessen in Details oder Beispielen für ein oft ungenannt bleibendes oder nur abstrakt benanntes Thema. Unter der Wirkung von Meskalin bilden sich Ketten von Wörtern, von denen eines das andere nach sich zieht; der Schreibende steht unter dem Zwang, keines auslassen zu können. Aber Michaux wählt die aufzählende Form oft bewusst, sie ist längst vor den Drogenversuchen eine seiner typischen Schreibweisen. In den ‚ethnographischen‘ Texten hat sie deskriptive Funktionen, sie verhilft mit ihren Singularisierungen zu enargeia, Anschaulichkeit; sie parodiert mit Neologismen das Spezialistentum, die Sammelwut und die enzyklopädische Überfülle wissenschaftlicher Literatur; in Gedichten, zumal in glossolalischen, wirkt sie quasi-magisch: evokativ oder exorzistisch. Da lange Repetitionen die Inhalte eskamotieren, verschieben sie den Akzent auf die Performanz: aufs Sprechen oder den Singsang, auf Beziehungen zwischen den Signifikanten, den Rhythmus, das Atmen. In kürzeren Sequenzen akzentuieren sie die Abwandlung des Gleichen: die Ähnlichkeit mit kleinen Differenzen. In Mouvements etwa suggerieren sie eine Vielzahl von einander affinen, aber doch jeweils anderen Bewegungen, Gesten, Gestalten; eine Form wandelt sich von einem Moment zum nächsten – im Text ein Syntagma von einer Zeile zur nächsten –, alle sind in Metamorphosen begriffen. Die Texte beschreiben die unzähligen Graphismen, die aus Gesten des Schreibens als einem bestimmten körpertechnischen Repertoire entspringen, von denen aber doch jeder ein Unikat ist. Sie treten jeweils zu mehreren auf einem Blatt auf, in Zeilen und Kolumnen angeordnet. In den Texten entsprechen dem Gruppen zu einem Themawort: Bewegung, Geste, Zeichen, Mensch…25 Die Graphismen und die kürzeren oder längeren verbo-skripturalen Einheiten sind dem Titel gemäß Zeichen in Bewegung. Die ersteren wirken jeweils für sich dynamisch, und die Reihung, an der der Blick entlanggeht, bringt sie zueinander in Beziehung, sieht sie als variierende Folge; bei den Texten vollzieht sich die Bewegung in der sukzessiven, die Abwandlungen Zeile um Zeile realisierenden Lektüre.

Atems, mit dem die Malerei resonieren muss, vgl. die Ausführungen von Marcel Granet in La pensée chinoise, hier nach Henri Maldiney: Art et existence, Paris: Klincksieck, 2003, 108 f. 24  Zu seinem Gebrauch des Wortes vgl. oben, 81, Anm. 25. 25  Vgl. unten, 172 f.

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Idéogrammes en Chine enthält auch zwei aufzählende Passagen. Die erste ist in Kolumnen­ form gesetzt, erscheint daher typographisch als Gedicht, die zweite folgt der üblichen hori­zon­ talen Zeilenordnung des Fließtextes. Auf den ersten Blick wirken sie wie die Michaux-typische Art poetischer Prosa, sozusagen als Poeme im Poem. Das erste preist, wie es scheint, die bunte Mannigfaltgkeit des Lebens, das zweite die breite Palette von Hochgestimmtheiten des menschlichen Herzens. Eine etwas nähere Betrachtung zeigt jedoch, dass sie nicht einfach lose versammelte Varianten zu einigen Themenwörtern oder -syntagmen sind. Beide folgen vielmehr einem besonderen Verfahren, das mit den Ideogrammen selbst zusammenhängt. Michaux geht in seinem Referat zur Entwicklung der chinesischen Schrift davon aus, dass die Schriftzeichen ursprünglich piktographische und (im Sinn einer ‚kratylischen‘ Schriftauffassung) mit den Dingen selbst durch Ähnlichkeit verbunden waren; in späteren Schriftarten sei diese Ähnlichkeit verlorengegangen – tatsächlich ist die Kanzleischrift geometrischer als die Siegelschrift, d. h. weitgehend kurvenlos, von geraden Linien in der Horizontalen, Vertikalen und Diagonalen bestimmt, insofern ‚abstrakter‘26 –, aber von den lettrés27 sei jene Ähnlichkeit wieder in Erinnerung gebracht worden. À cette lumière toute page écrite, toute surface couverte de caractères, devient grouillante et regorgeante… pleine de choses, de vies, de tout ce qu’il y a au monde… au monde de la Chine pleine de lunes, pleine de cœurs, pleine de portes pleine d’hommes, qui s’inclinent […] pleine d’obstacles pleine de mains droites, de mains gauches de mains qui s’étreignent, qui se répondent, qui se lient à jamais […] pleine de matins pleine de portes […] scènes de toute sorte scènes pour offrir un sens, pour en offrir plusieurs […] groupes pour résulter en idées ou pour se résoudre en poésie.28 26  Die am stärksten piktographische Schrift ist die Siegelschrift; sie ist allerdings selbst für Chinesen schwer lesbar; vgl. OC III, 1668; zur Kanzleischrift vgl. ebd., 1669. 27  Zu diesem Term vgl. unten, 117, Anm. 48, und 139, Anm. 31. 28  OC III, 827–831. „In diesem Licht wird jede geschriebene Seite, jede mit Schriftzeichen bedeckte Fläche zum Gewimmel und Gedränge… voll von Dingen, von Leben, von allem, was es in der Welt gibt… in der Welt Chinas voll von Monden, voll von Herzen, voll von Türen voll von Menschen, die sich verneigen […] voll von Hindernissen voll von rechten Händen, von linken Händen von Händen, die einander ergreifen, die einander antworten, die sich für immer verbinden […] voll von Morgen voll von Türen

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Die gedichtartige Aufzählung zieht sich über mehr als zwei Seiten. Was ist hier gemeint: Wimmelt eine kalligraphische Seite also von Zeichen, die auch als Dinge zu erkennen sind? Die meisten der aufgelisteten Wörter bezeichnen sichtbare Gegenstände, die Zeichen wären also einfache Piktogramme (wie die ältesten in der chinesischen Schrift) oder zusammengesetzte Ideogramme nach dem Muster: ‚Sonne‘ und ‚Mond‘ bedeutet ‚Licht‘.29 Wenn die Dinge, wie im Beispiel mit dem Wort-Zeichen für Stuhl, nicht direkt abgebildet, sondern durch kombinierte Zeichen angedeutet werden, ist wohl an diese Art gedacht. Auf Umwegen mag man auch zu Abstracta gelangen, die ebenfalls, aber nur in geringer Zahl, auf der Liste stehen, wie obstacles, calamités, convoitises, paroles sincères.30 Dass ungefähr neunzig Prozent der chinesischen Zeichen Ideo-Phonogramme oder phonetisch-semantische Zeichen sind, d. h. aus einem (oder mehreren) Zeichen für die Bedeutung und einem (oder mehreren) für die Aussprache zusammengesetzt, spielt für Michaux nirgends eine Rolle. Von seinen Lektüren wusste er es; in der Rede vom Abstrakterwerden der Zeichen dürfte es mitgemeint sein, es wird aber nirgends explizit ausgesprochen. Andeutungen sichtbarer Dinge und vor allem von solchen in Bewegung oder gar Interaktion sehen Kenner in chinesischen Kalligraphien allenthalben. Die gestalthaften Assoziationen der Betrachter haben aber weniger mit der Form der Zeichen als types zu tun denn mit ihrer je besonderen Manifestation, den tokens. Denn in einer guten Kalligraphie – in der Ausführung der Schriftzeichen durch eine herausragend geübte und hochsensible Hand – wirkt das Schriftbild durch und durch lebendig, die Zeichen erscheinen, ohne dass Natur nachgeahmt, d. h. repräsentiert, würde, wie lebende Wesen in natürlicher Bewegung. Derart beschreiben chinesische Schreibkünstler und Theoretiker Kalligraphien in metaphorisch-projektiver Weise, die an einfühlungspsychologische Ekphrasen erinnert, und Michaux kommt dem mit seinen Verbalisierungen durchaus nahe.31 Gemäß der zitierten Passage sollen allerdings in der Schriftart selbst, nicht nur in der individuellen Handschrift, die Zeichen wieder an die ersten Graphien erinnern und deren Intention wieder aufleben.

[…] Szenen aller Art Szenen, die etwas bedeuten, die verschiedenes bedeuten […] Gruppen, um zu Ideen zu führen oder um sich in Poesie aufzulösen.“ (IiC, 17–21, Übers. modif. von S. M.) 29 Vgl. Un barbare en Asie: „Dans clair, il y a la lune, et le soleil à la fois.“ OC I, 367. „In hell stecken der Mond und die Sonne gleichzeitig.“ BA, 126. Es ist ein Standardbeispiel bis heute. Dabei handelt es sich allerdings um eine moderne, vereinfachte Version; etymologisch war es eine Kombination von ‚Fenster‘ plus ‚Mond‘; vgl. Kraus: Brushes with Power, 153. 30  OC III, 829; Hindernisse, Unglücksfälle, Begehrlichkeiten, aufrichtige Worte; vgl. IiC, 19. 31  Vgl. OC III, 1663. Vgl. z. B. Billeter: L’art chinois de l’écriture, 40–42. Der Sinologe Lothar Ledderose, Spezialist für chinesische Kunst, beschreibt das Betrachten einer Kalligraphie im Grunde als ein empathisches Sehen (wie man es heute mit Rekurs auf die Spiegelneuronen erklären könnte): Da alle Phasen der Herstellung sichtbar sind, nichts gestrichen, getilgt, überdeckt wird, kann der kennerschaftliche Betrachter die ganze kalli­ graphische Tätigkeit in jeder Bewegung nach-schaffen; vgl. Kraus: Brushes with Power, 29.

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Jede geschriebene Seite sei in diesem Sinn ‚voller Leben‘. Und dies nicht in abstracto: Es wimmele auf ihr von Dingen der chinesischen Welt. Inwiefern aber sind Monde, Herzen, Türen, Menschen in verschiedenen Posituren, Hände in verschiedenen Haltungen u. a.m. nichts Universelles, sondern kulturelle Spezifika? Nach welchem Prinzip sind diese ‚Dinge‘ ausgewählt und aneinandergereiht? Eine inhaltliche Ordnung der Liste ist nicht zu erkennen, manches scheint so seltsam sortiert wie die Tiere in Borges’ Chinesischer Enzyklopädie: Varianten von Händen folgen aufeinander, aber zwischen Glückskindern32 und Neugeborenen stehen Erdlöcher, Nabel im Körper, Schädel, Gräben und Zugvögel. Michaux’ schriftgeschichtliches Referat ist an dieser Stelle in der Epoche der kaiserlichen Gelehrten angekommen, die erstmals die signes d’origine33 inventarisieren. Gemeint sind offenbar die Sammlungen der Radikale, in denen die Tausende von Schriftzeichen, die das chinesische Vokabular ausmachen, auf wenige hundert semantische Klassenzeichen zurückgeführt werden; diese Reduktionen erlauben es, Wörterbücher zu erstellen, in denen sich gezielt einzelne Zeichen und Zeichenkombinationen ansteuern lassen.34 Michaux rekurriert in seiner Aufzählung auf eine der Radikal-Sammlungen, gibt jeweils die Übersetzung der Zeichen und ergänzt sie um die einleitende Formel ‚pleine de‘ … oder ‚et pleine de‘; die letzten Zeilen weichen davon ab. Die bizarr wirkende Ansammlung von Dingen folgt also der Ordnung eines spezifischen Zeichenkatalogs und Wörterbuchs. Eine erste Sammlung der Radikale hatte mehr als 500 Zeichen (aus ca. 50.000 Schriftzeichen), jüngere und davon zwei noch gebrauchte umfassen 214 bzw. 226 Zeichen.35 Sie werden nach der Zahl der Striche geordnet, in der Übersetzung aber verschwindet dieses Ordnungsprinzip völlig. Das Resultat ist eine Sequenz nicht erkennbarer, gleichwohl aber vermuteter Ordnung. Dergleichen stimuliert – wie üblich – die Phantasie, und der Schluss der zitierten Passage weist eigens auf diese poetogene Wirkung hin. Das aufzählende Gedicht ist insofern auch poetologisch und bestätigt das Prinzip, dass Michaux in einem Text zu Kunst anderer auch jeweils seine eigene Produktion reflektiert.36

32  „enfants nés coiffés“; OC III, 829; wörtlich „frisiert geborenen Kindern“, IiC, 19. 33  OC III, 827; die „ursprünglichen Zeichen“, IiC, 17. In der Fassung des Textes als Katalogvorwort war die Rede von „des aspects premiers des signes“ und „[c]aractères archaïques“, ebd., 1669; von den „ersten Aspekten der Zeichen“ und „archaischen Schriftzeichen“. 34  Heutige Wörterbücher ordnen nach der Aussprache; die Wörter werden alphabetisch transliteriert und entsprechend präsentiert. Dazu gibt es (für den Fall, dass man die Aussprache nicht weiß) ein zweites System, das die Zeichen nach der Zahl der Striche (von eins bis siebzehn) anordnet. 35  Die traditionelle Sammlung mit 214 Radikalen stammt aus dem frühen 18. Jahrhundert, eine von der Volksrepublik China veranlasste hat weniger als 200. Die enorm hohe Zahl der fast 50.000 Zeichen im großen Kangxi-Wörterbuch erklärt sich daraus, dass viele davon Varianten eines Zeichens sind. Vgl. Kraus: Brushes with Power, 24. Vgl. auch Bernhard Karlgren: Schrift und Sprache der Chinesen. Übers. u. bearb. von Ulrich Klodt, Berlin/Heidelberg/New York: Springer, 1975, 48, Anm. 10. Das im Michaux-Archiv befindliche Buch Caractères chinois von Wieger enthält die traditionelle Sammlung mit 214 Radikalen. Michaux’ Auswahlprinzip aber bleibt dunkel. Die Wörter ‚Herz‘, ‚Tür‘, ‚Hand‘, ‚Mond‘ tauchen z. B. in der Liste der Radikale mit vier Strichen auf, andere indes nicht. 36  Michaux’ ägyptischer Freund Mounir Hafez schreibt in einem Brief am 8. Februar 1971, ihm scheine das über chinesische Kalligraphie Gesagte v. a. für Michaux’ eigenes Schreiben zuzutreffen; vgl. OC III, 1665.

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Das Poem präsentiert also (mit allerhand Freiheiten) ein Stück aus einem gelehrten, didaktischen Werk. Die enumerative Form verdankt sich nicht der Lust an litaneihaften Effekten und quasi-magischen Gesängen, sondern dem pragmatischen Hypotext. Dessen funktionale Struktur bleibt mehr oder weniger treu erhalten, die Zeichen- bzw. Wörterliste wird durch wenige Zusätze und den Kontext einfach umgewertet. Das Gedicht ist eine Art Readymade-­Poesie oder ‚konditionale‘ Literatur:37 Unter den gegebenen Bedingungen – als Teil eines mehr oder weniger poetischen Textes von Michaux – ist es möglich, die Liste als Poesie zu lesen. Man kann auch sagen, sie ist ein Beispiel für programmiertes Schreiben. Michaux produziert mit Hand und Kopf, was auch ein Computerprogramm machen kann.38 Allerdings greift er darüber hinaus ein und schließt das Produkt etwa durch Rhythmisierung auch wieder an Körpertechniken des Sprechens und Atmens an. Das Präfabrizierte fungiert als contrainte, die er jedoch lose handhabt. Wenn diese Passage oulipotischen Texten nahekommt, dann am ehesten solchen von Perec, der einerseits sophistizierte Text generierende ‚Maschinen‘ einsetzt, sich andererseits aber größte Abweichungen von den selbstgewählten Formzwängen erlaubt. In Michaux’ Text hat diese Aufzählung die Funktion, auch denen, die kein Chinesisch können, einen Einblick in ein Wörterbuch zu vermitteln – oder zumindest den Eindruck eines solchen. Dass es sich um dergleichen handelt, wird allerdings – man ist geneigt zu sagen: in chinesischer Manier – nicht ausdrücklich gesagt. Aufmerksame Leser und vor allem geduldige, die die ganze Liste lesen, erhalten Hinweise darauf: vor dem Gedicht, in der Erwähnung der Inventare und Wörterbücher (aber das Gedicht selbst ist durch einen größeren Abstand auf der Seite davon getrennt) und in den Gedichtzeilen „et pleine de tout ce qui existe dans l’univers / tel quel ou autrement assemblé / choisi à dessein par l’inventeur de signes pour être ensemble“.39 Der hier genannte ‚Zeichenerfinder‘ ist nicht die mythologische Person, die die Naturzeichen gelesen hat, sondern ein zweiter, menschlicher, der gelehrte Erfinder der Radikal-Sammlungen und Wieder-Finder der zwischenzeitlich verlorenen suggestiven Wirkungen der Zeichen; „et se retrouvait en même temps l’émotion des calmes et sereines et tendres premières graphies.“40 Michaux soll die chinesische Schriftgeschichte als eine allegorische von Verlust und Wiederkehr – einem fort-da – der ursprünglichen Zeichen-Dinge erzählt haben.41 Aber diese Geschichte bleibt eher vage; sie lässt sich nur bedingt einzelnen Epochen 37  Zu diesem in Anlehnung an Genette gebrauchten Begriff vgl. Mainberger: Die Kunst des Aufzählens. Elemente zu einer Poetik des Enumerativen, Berlin/New York: De Gruyter, 2003, 20–31. 38  Aktuelle Poesie nutzt gelegentlich ähnliche Verfahren, so etwa nimmt Jörg Piringer ein japanisches Wörterbuch als Grundlage. Seine Texte Kanji I-VI entstehen folgendermaßen: „aus einer liste der 45 häufigsten japanischen kanji (ideogrammatische schriftzeichen) werden 4 ausgewählt und permutativ in 24 zeilen angeordnet. der dadurch entstehende pseudo-japanische text wird automatisch ins deutsche übertragen.“ datenpoesie, Klagenfurt/Graz: Ritter, 2018, 275. Die Texte werden hier nicht durch Zusätze ergänzt. 39  OC III, 831; „und voll von allem, was im Universum vorkommt / so oder anders zusammengesetzt / absichtlich ausgesucht vom Erfinder der Zeichen, damit es zusammen sei“; IiC, 21. 40  Ebd., 827; „und es fand sich auch das mit den ruhigen, heiteren, zarten ersten Schreibweisen verbundene Gefühl wieder.“ 41  Vgl. Richard Sieburth: Ideograms. Pound/Michaux, in: L’Esprit créateur 26.3 (1986), (15–27) 25.

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und Schriftarten zuordnen. Das Wiederfinden ist auch nur ein partielles. Allemal die Abbildungen, die er in die Einzelpublikation des Textes aufgenommen hat, folgen weder einer Chronologie noch dem genannten Schema (und stehen auch sonst meist nicht in Beziehung zum Text auf der ihnen jeweils gegenüberliegenden Seite). Das triadische Modell der Schriftgeschichte verliert sich schließlich zugunsten einer anderen Betrachtung: der der kalligraphischen Praxis. Wenn diese in den Blick rückt, sind die andeutenden hochsuggestiven Zeichen nicht etwas, was verloren und restituiert werden könnte – wie ein Objekt, wie das Spielzeug bei Freud; vielmehr sind sie ein permanenter, unabschließbarer Gegenstand individueller und kulturgeschichtlicher Arbeit. Diese findet in jeder einzelnen Kalligraphie statt und ebenso in der sammelnden und interpretierenden Arbeit der lettrés. Auf unterschiedliche Weise realisieren Schreibkünstler jeweils ein Verhältnis von Bezeichnen und Offenlassen oder – wie es bei Michaux heißt und einer künstlerischen Technik entspricht42 – ein Verwischen der Spuren. Auch in seiner Begeisterung für die chinesische Schrift glorifiziert er nicht einfach die Ursprünge oder huldigt primitivistischen Gedanken; vielmehr hält er dem auch immer etwas entgegen – hier u. a. die Passage, die ein Gelehrtenwerk zur Poesie umfunktioniert: Diese Passage inszeniert einerseits die wiedergewonnene Weltfülle und Lebendigkeit, andererseits macht sie auf die Artifizialität der zweiten Zeichen und auf den Vorgang selbst eigens aufmerksam: „Szenen aller Art / Szenen, die etwas bedeuten, die verschiedenes bedeuten / […] / Gruppen, um zu Ideen zu führen / oder um sich in Poesie aufzulösen.“43 Die Zeichen-Wörter bieten sich als Szenen dar, denen der esprit des Leser-Betrachters Sinn verleiht; seine Lektüre kann sie zu Poesie machen. Der andere enumerative Textabschnitt in Idéogrammes en Chine wandelt das Themawort cœur ab. Cœur généreux ou vaillant, ou cœur qui veut en faire accroire, ou cœur auprès duquel il ferait bon vivre, cœur empli d’une paix profonde, ou cœur bienveillant et chaud, ou cœur qui ne s’embarasse de rien, qui se tire toujours d’affaire, ou cœur léger qui ne se fixera pas, ou craintif, ou cœur soumis, ou bien cœur qui avec un rien prend le départ, ou cœur touche-à-tout, ou cœur en attente, cœur qui cherche l’aventure, ou cœur sec, ou placide, ou au contraire que rien n’arrête, ou cœur décidément alerte, parfait qui, même sur une fibreuse feuille de papier de riz, pourra vivre encore des siècles et se laisser admirer.44

42  „… l’instinctive tendance chinoise à effacer ses traces“; OC III, 821; „der instinktive Hang der Chinesen, die Spuren zum Verschwinden zu bringen“; IiC, 11. Vgl. auch OC III, 1668, und unten, 153. 43  Vgl. oben, 112 f. 44  Ebd., 845 ff. „Ein großzügiges oder ein tapferes Herz, oder ein Herz, das einem etwas weismachen will, oder ein Herz, bei dem man sich wohlfühlen würde, oder ein Herz, das von einem tiefen Frieden erfüllt ist, oder ein wohlwollendes und warmes Herz, oder ein Herz, das nichts in Verlegenheit bringt, das sich immer aus der Affäre zieht, oder ein leichtes Herz, das sich nicht festlegt, oder ein ängstliches oder ein unterwürfiges Herz, oder dann ein Herz, das sich mit einem Nichts auf den Weg macht, oder ein tolpatschiges Herz, oder ein Herz in Erwartung, ein Herz, das das Abenteuer sucht, oder ein trockenes Herz, oder sanft, oder im Gegenteil nicht aufzuhalten, oder ein entschieden munteres, vollendetes Herz, das sogar auf einem faserigen Blatt Reispapier noch Jahrhunderte lang am Leben bleiben und sich bewundern lassen kann.“ IiC, 36 f.

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5.2. Radikalpoesie und Katalog der ‚Charaktere‘

Erneut handelt es sich um ein Schriftzeichen und Wort. Seine Auswahl erfolgte angeblich aus kontingenten Gründen, das entsprechende Zeichen sei ein für einen der Sprache und Schrift nicht oder sehr wenig Kundigen wie Michaux leicht wiederzuerkennen.45 Aber es dürfte doch kein reiner Zufall sein, dass er das Zeichen mit dieser Bedeutung wählt,46 um daran eine grundlegende kunsttheoretische Frage zu erörtern, die wohl einen europäischen Schriftsteller-Künstler des 20. Jahrhunderts besonders interessiert: die nach der Originalität. Die vielen genannten psychologischen und moralischen Bedeutungen wachsen dem Zeichen unter der Hand der verschiedenen Kalligraphen zu: Bei jedem Schreiber sehe das gleiche Zeichen vollkommen anders aus, in jedem erwecke es ein eigentümliches Leben. Der Katalog der Herzenszustände – der Gestimmtheiten oder Charaktere (!) –, die der Kalligraph in seine Ausführung des Zeichens ‚Herz‘ investiert und die sich für den Betrachter daran ablesen lassen, ist also ein Katalog der Schriftarten oder Schreibstile. Diese lassen sich zunächst nach Epochen und Funktionen unterscheiden, etwa in Siegel-, Kanzlei-, Regel-, Kurrent-, Kursivschrift, aber hier sind offenbar individuelle Handschriften gemeint. Jedes Zeichen gebe Gelegenheit zur Originalität und verführe dazu. Gleichwohl aber fallen keine Namen, die Qualifizierungen bezeichnen nur Typen. Was sich so ausdifferenziert zeigt, liegt offenbar nicht auf der Ebene der einzelnen Persönlichkeit, ist Originalität doch in der traditionellen chinesischen Kultur verpönt47 – aber hier auch bei einem okzidentkritischen Westler. Die Eigenheiten sind demnach am ehesten die von Schulen und Traditionen, einer bestimmten Ausformung eines der möglichen Stile, und in jedem Fall handelt es sich um perfekte Verkörperungen des statusbedingten Habitus des schreibenden und dichtenden Beamten.48 Die vielfältigen Qualitäten des Herzens sind allesamt Tugenden dieses Standes. Sie nennen – aus europäischer Sicht – Merkmale eines vormodernen Subjekts und einer elitären Sozialästhetik, deren Träger um das ‚Angemessene‘ und ‚Richtige‘ wissen: „La ‚juste proportion‘, la ‚juste place‘ seule importe.“49 In Europa würde man dergleichen in das Kultursystem der Rhetorik einordnen: als Wissen um das aptum oder decorum im sozialen Verhalten und der Kommunikation. Dergleichen Wissen oder besser – da es ein praktisches ist – Können beruht auf ungeschriebenen Regeln oder der Applikation von Vorschriften auf unvorhersehbare, wechselnde 45  Vgl. die Abb. des Schriftzeichens xin in Kraus: Brushes wth Power, 7. Es besteht aus nur vier Strichen, ist daher noch übersichtlich. 46  Aus europäischer Sicht zumindest ist es keiner. Die Organe des menschlichen Körpers werden freilich in der chinesischen Kultur nicht auf die gleiche Weise symbolisch besetzt. 47  „À tout calligraphe la propriété du cœur, la vie du cœur est offerte. Mais pas pour l’originalité, sinon filtrée, et à qui il n’est permis que de transparaître.“ OC III, 847. „Jedem Kalligraphen bietet sich die Eigentümlichkeit des Herzens, das Leben des Herzens an. Aber nicht um der Originalität willen, es sei denn einer filtrierten, und sie dürfte nur eben hindurchschimmern.“ IiC, 37. Sich selbst zur Schau zu stellen gilt als vulgär; vgl. ebd. 48  Bei Michaux lettré; OC III, 827. Im Deutschen müsste man außer ‚Beamter‘ wohl auch ‚Dichter, Gelehrter, Schreibkünstler‘ sagen. Das Wort ‚Schriftkundige‘ (vgl. IiC, 17) gibt auch nur eine von mehreren Bedeutungen wieder. Deutschsprachige Sinologen gebrauchen (wie anglophone) auch das Wort literatus/-i. Ich danke Marc Hermann für diese Information. Vgl. auch unten, 139, Anm. 31. 49  OC III, 847. „Einzig von Bedeutung ist das ‚richtige Verhältnis‘, die ‚richtige Stelle‘.“ IiC, 37 (Übers. modif. von S. M.).

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Situationen; es wird von Angehörigen einer Gruppe geteilt, die auf gleiche Weise sozialisiert sind und die geltenden Regeln habituell verkörpern. „Oligarchie des subtils.“50 Ihre Mitglieder kennen die feinen Unterschiede. Auf der Grundlage der perfekten Inkorporation jener Regeln können sie in Maßen auch davon abweichen, und die ebenso Sozialisierten – sowie die kennerschaftlichen Betrachter – nehmen diese Differenzen als das diskrete ‚Durchscheinen‘ einer Persönlichkeit wahr. Dementsprechend ist die Schrift nicht nur ein Handwerk oder eine Technik – eine W ­ eise, den Pinsel zu führen –, sondern eine die ganze Person umfassende Verhaltensweise oder Haltung, eine Art, sich selbst und sein Leben zu führen, sich zu geben und als kontinuierliche auch eine Art zu sein.51 Es ist Technik und Arbeit an einem selbst, und diese Selbsttechnik manifestiert sich in der Schrift. Das ethisch-ästhetische Verhalten ist Charakter (ēthos) geworden und spricht aus den Charakteren. Dem Schriftbild des Zeichen-Wortes ‚Herz‘ werden metaphorisch moralische Qualitäten zugesprochen, aber es sind eben diese Qualitäten, die die Schreibenden selbst aufweisen müssen und von denen man annimmt, dass sie sie in die Schrift investieren. Schreiben ist Teil ihres Ethos (ethos), und dieses teilt sich der Schrift mit. ‚Le style, c’est l’homme‘ – das gilt auch hier, wo der Stil nicht vom stilus, sondern vom Pinsel stammt.52

50  Ebd., 821. „Die Oligarchie der Subtilen.“ IiC, 11. In China ist es die Elite, die in der Gesellschaft eine Gesellschaft bildet, in einer ersten Phase das Schreiben auf Initiierte beschränkt, es als eine Art Geheimwissen pflegt und die jahrhundertelang an der Macht bleibt; vgl. ebd. 51  Das Wort „conduite“ (OC III, 849) – wörtlich: die Art, sich zu führen, zu leiten – wird z. B. im Petit Robert mit Metaphern der Linie und des Weges erläutert, man findet den Audruck „ligne de conduite“ und einen Verweis auf „ligne, voie.“ Gide sagt von sich: „Ma conduite est assez simple et je suis une ligne très droite“ (ebd., 361.). „Meine Lebensführung ist ziemlich einfach, ich folge einer sehr geraden Linie.“ Auch Nietzsche, Repräsentant einer gelebten Philosophie, charakterisiert sich mit den Worten „Formel meines Glücks: ein Ja, ein Nein, eine gerade Linie, ein Ziel…“ Götzen-Dämmerung: Sprüche und Pfeile 44. Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, hg. v. Giorgio Colli/Mazzino Montinari, München: dtv, Berlin/New York: De Gruyter, 1980, 6, 66. 52  Zi ru qui ren – ‚wie die Schrift, so der Mensch‘. Die Schrift offenbart das Innere, das Herz, d. h. die Beziehung zwischen Schriftbild und Charakter wird ähnlich wie in der westlichen Physiognomik und Graphologie gedacht; vgl. Kraus: Brushes with Power, 45 f. und 48. Chiang Yee treibt ganz bedenkenlos dieses Imaginieren der Person aus dem Anblick ihrer Graphie, z. B.: „I should say he was a tall man, lean but strong, firm of will, obstinate even, but generous-hearted in his actions to others [...] These are rough judgements only: many finer points could be deduced from more careful study of the written characters.“ Chinese Calligraphy, 12. Die Geltung dieses Prinzips, nach dem traditionell Personen für den Staatsdienst ausgewählt wurden, bestätigt er auch für seine Gegenwart, die dreißiger Jahre; vgl. ebd., 12 f. – Auf diesem Hintergrund handelt es sich in der zitierten Passage zum Wort und Zeichen für ‚Herz‘ nicht nur um sehr persönliche Meditationen Michaux’, wie Arne Klawitter meint; vgl. Die Poetisierung des Analphabetismus. Fiktionalisierungen einer fremden und unlesbaren Schrift bei Max Dauthendey, Bernhard Kellermann und Henri Michaux, in: Germanisch-Romanische Monatsschrift 65 (2015), (299–316), 309.

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5.3. Tonus, Schwung, Falten, Bahn – chinesisch und europäisch

5.3. Tonus, Schwung, Falten, Bahn – chinesisch und europäisch Die Identifizierung der skripturalen Praxis mit der Selbst- und Lebensführung ist aber auch ganz konkret sinnlich zu verstehen: „L’écriture doit avoir une vertu tonifiante. Elle est une conduite.“53 Das Schreiben hat eine physiologische Grundlage; richtig praktiziert, muss es beleben und erfrischen. Das Adjektiv tonifiante macht hier guten Sinn. Denn die Muskelspannung, der Tonus, hält das lebende Wesen zusammen – er grenzt es von der Umwelt ab –, hält es aufrecht und erlaubt ihm, sich zu bewegen. Auf der Grundlage seiner Körperspannung agiert es. Ähnlich heißt es in Émergences-résurgences über das graphische Tun: Ce qui compte n’est pas le repoussement, ou le sentiment générateur, mais le tonus. C’est pour en arriver là qu’on se dirige, conscient ou inconscient, vers un état au maximum d’élan, qui est le maximum de densité, le maximum d’être, maximum d’actualisation, dont le reste n’est que le combustible – ou l’occasion.54

Im europäischen Kontext verweist der tonos/tonus auf eine Spannung in der Natur, im einzelnen Organismus und im Kosmos, beide sind durch diese Spannung miteinander verbunden – so in der stoischen Philosophie, die die Arbeit des Einzelnen an sich selbst ins Zentrum stellt. Das stoische Selbst, das Ziel einer philosophischen Lebenspraxis, ist in diesem Sinn kein isoliertes, solipsistisches; seine Bemühung um Haltung, seine innere Spannung setzt es mit dem Ganzen in Beziehung. Aus der Sicht der Kritiker, Nietzsches z. B., bedeutet das freilich gern zu viel Anspannung, es führt zu Ver- und Überspanntheit; Hypertonie heißt Krampf. Auf den richtigen Ton kommt es an. Der ist entscheidend für das Individuum und allemal für dessen Interaktion mit anderen; nicht zufällig spricht man vom ‚Umgangs-‘ und vom ‚guten Ton‘, um eine nicht positivierte, sondern ausschließlich in praktischen Vollzügen realisierte Dimension des Sozialen zu bezeichnen. Konzept und Bilder der Spannung haben mit Saiten zu tun: mit Gestimmtheit und Stimmungen im musikalischen und physiopsychologischen Sinn. Die Rede vom Tonus verbindet physiologische Bedeutungen mit psychologischen, psychotherapeutischen, lebenspraktisch-philosophischen, soziologischen und künstlerischen.55 53  OC III, 849. „Die Schrift muss eine stärkende Wirkung haben. Sie ist eine Lebenshaltung.“ IiC, 39. 54  OC III, 594. „Was zählt, ist nicht die Abwehr oder das erzeugende Gefühl, sondern der Tonus. Um dahin zu kommen, bewegt man sich bewusst oder unbewusst auf einen Zustand maximalen Antriebs zu, der das Maximum an Dichte, das Maximum an Existenz, das Maximum an Vergegenwärtigung ist, und bei dem alles Übrige bloß der Brennstoff ist – oder die Gelegenheit.“ Zeichen. Köpfe. Gesten, 60 (Übers. modifiziert von S. M.) 55  Zur psychotherapeutischen Dimension vgl. z. B. Villard: Poétique du geste, v. a. 74 f. Therapien versuchen, etwa durch Rhythmik und Klang von Poesie oder auch duch Meditationsübungen, den Tonus zu verändern. Zu den erwähnten Facetten aus der Philosophiegeschichte vgl. Mainberger: Spannung, II, in: Joachim Ritter/ Karlfried Gründer (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 9, Basel: Schwabe & Co AG, 1995, Sp. 1284–1290, und Marco Brusotti: Spannung. Ein Begriff für Groß und Klein, in: Konstanze Schwarzwald/Volker Caysa (Hg.): Nietzsche – Macht – Größe: Nietzsche – Philosoph der Größe der Macht oder der Macht der Größe, Berlin/Boston: De Gruyter, 2011, 51–74. Zur künstlerischen Bedeutung nicht im üblichen Bezug zu Klang in Musik und Poesie und nicht zu Farbe, sondern in dem zur Linie, insbesondere der von Matisse, vgl. Gottfried Boehm: Spur und Gespür. Zur Archäologie der Zeichnung, in: Friedrich Teja Bach/Wolfram Pichler (Hg.): Öffnungen. Zur Theorie und Geschichte der Zeichnung, München: Fink, 2009, 43–59. Zur mit der conduite angesprochenen soziologischen Bedeutung vgl. den Exkurs unten, 129–148.

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Michaux erläutert damit sein eigenes Tun und analog das der chinesischen Kalligraphen, das er freilich nur aus deren Werken und den Berichten anderer rekonstruieren kann. Das Stichwort Tonus hilft dabei, gilt es doch, eine mit enormen kulturellen Bedeutungen aufgeladene körperliche Praxis zu verstehen; und diese erschließt sich nicht aus philosophischen Doktrinen, sondern in Analogie zu eigenen körperlichen Erfahrungen – etwa in empathischer Wahrnehmung bewegt wirkender Formen – und aus einem Wissen um Selbsttechniken, das u. a. in den praktizierten europäischen Philosophien, in Lebenslehren, aufbewahrt ist. Eigenschaften der chinesischen Kalligraphien sind neben der erwähnten Lebendigkeit (bis heute stets beschworene) Harmonie, absolutes Fehlen von Schwere und vor allem Spontaneität. Diese gehört zur Schreibkunst als performativer Kunst, als einer des schnellen, agilen Pinselstrichs. Michaux weist an einer der wenigen Textstellen, die sich direkt – sogar mit deiktischem Pronomen – auf eine der beigegebenen Abbildungen beziehen, darauf hin: Dans cette calligraphie – art du temps, expression du trajet, de la course – ce qui suscite l’admiration […] c’est la spontanéité, qui peut aller presque jusqu’à l’éclatement. Ne plus imiter la nature. La signifier. Par des traits, des élans.56

Synonym des trait ist der Schwung, die Energie, die sich plötzlich entlädt wie eine Explosion oder ein Blitz. Dazu muss die Energie zuvor konzentriert werden: Der Schreibende muss sich sammeln, sich mit ihr aufladen, um sie dann mit einem Schlag zu entfesseln. Die Geste stammt aus einer über Jahrhunderte gepflegten und weitervermittelten, vom Einzelnen in jahrelanger Arbeit angeeigneten Körpertechnik: Die Hand muss ‚leer‘ sein, das heißt in höchstem Maße empfänglich für den leisesten wie für den heftigsten Impuls, durchlässig für Kraftströme, die alles, die den Menschen umgebende Natur und ihn selbst, durchziehen und die der Kalligraph nur unterstützt.57 Vergleiche mit Naturkräften werden dafür bemüht: Das Wasser als Stärkstes, Leichtestes, am wenigsten Wahrnehmbares ist ein Inbild der Formlosigkeit und des Nicht-Anhaftens, somit der Gelassenheit. Das fast unsichtbare Wasser zeigt sich dem Auge auf eigene Weise: in Wellen, tiefen Falten, Rillen, Ringen auf der Oberfläche, in herunterstürzenden Kaskaden und wiederauftauchenden Strudeln. Wasserstudien in der Malerei genießen dementsprechend die höchste Wertschätzung. Maler sind berühmt für ihre Wasserkräusel (rides d’eau), einer wird bewundert, weil er das Gefältel (la ride) ‚des Regens und des Schnees‘ gefunden habe.58 Bemerkenswert an diesen Hinweisen ist, dass sie an der chinesischen Malerei etwas hervorheben, was in der europäischen Kunst ebenfalls höchste Bewunderung erhalten hat, aber 56  OC III, 841. „Was an dieser Kalligraphie – einer Kunst der Zeit, eines Ausdrucks der Bahn, des Laufs – die Bewunderung weckt […], ist die Spontaneität, die beinahe bis zum Bersten gehen kann. / Nicht mehr die Natur nachahmen. Sie andeuten. Durch Striche, durch Schwünge.“ IiC, 31 (Übers. modif. von S. M.). 57  „Support d’effluves, d’influx.“ OC III, 837; „Stütze der Ausflüsse, des Einflusses.“ IiC, 27. Michaux verzichtet darauf, den Maler Shitao zu zitieren, der, wie er sicher weiß, die Bedeutung des ‚leeren Handgelenks‘ betont hat. Vgl. auch unten, 142, Anm. 38. 58  Ebd., 838; in den wenigen Zeilen der Anmerkung zu rides (ebd., 839) fällt dieses Wort nicht weniger als fünfmal.

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einen anderen Namen trägt: Wellen und Falten aller Art sind in der Natur linienförmige Erscheinungen, im Graphisch-Malerischen Linien, seien diese mit Pinsel oder mit Stift gezogen. Es gibt keine andere Möglichkeit, sie darzustellen oder zumindest anzudeuten.59 Rides und ­Linien bilden morphologisch und produktionstechnisch einen unauflösbaren Zusammenhang. Die Kunst der rides mag einem europäischen Betrachter auffallen, weil die westliche Kultur die Kunst der Linien zu schätzen weiß – und zwar auch im breiten Sinn des Wortes, nicht nur beschränkt auf einen bestimmten Typ wie den des Konturs. Dem Linienkünstler Michaux liegen die rides nahe, aber auch abgesehen davon: Wasserstudien sind ein eminentes Beispiel dafür, wie graphische Linien auch in der westlichen Kultur Naturvorgängen nachzuspüren vermögen. Man denke an Leonardos Zeichnungen von Wellen, Strudeln, Kräuselungen des Wassers auf der Oberfläche, kreisenden und spiralförmgen Bewegungen beim Umfließen von Hindernissen, Stürzen in die Tiefe und Blasen werfendem Wiederaufsteigen.60 In der Moderne mag man wiederum an Klee denken, etwa an sein Blatt mit dem Titel „Spiel auf dem Wasser“ von 1935. Selten sind zeichnerische Linien so unmittelbar eine Kunst der rides, nirgends sind Wellen so sehr Runzeln… Michaux verfolgt hier erneut Themen, die in seinem Œuvre seit langem zentral sind, wie das der Falten und der fluiden, fadenförmigen Erscheinungen. Wie weit chinesische Kalligraphie damit zugänglich wird, sei dahingestellt; für das europäische Nachdenken über Zeichen, Zeichnen, Malen und Schrift ist es jedenfalls aufschlussreich. Die Verbalisierungen der chinesischen Wasserkräusel und kalligraphischen Striche bereichern die westlichen Konzeptualisierungen künstlerischer Linien. Denn sie akzentuieren die Momente, die normalerweise – in der traditionellen Identifikation der künstlerischen Linie mit einem akademischen Begriff von Zeichnung – zu kurz kommen, z. B. das, was sich Malen, Zeichnen und Schreiben teilen. Der spontane kraftvolle Strich der chinesischen Schriftkunst bezeichnet nicht, sondern provoziert den Betrachter zu semiotischen Aktivitäten. Derart geschriebene Zeichen haben etwas konstitutiv Unfertiges, einen Mangel, der kein Makel ist, sondern zur Konfiguration selbst gehört. Michaux macht das im vorliegenden Fall visuell deutlich: Ein einziges ‚Ideogramm‘ ist im unteren Drittel der Seite abgedruckt, alles Übrige ist weiß, das Zeichen von Leere umgeben (Abb. 11). Ohne Horizontalen und Vertikalen, die den anderen reproduzierten Schriftbildern Halt geben – sei es als quadratische Formen oder als Raster der Zeilen und Kolumnen –, schwebt dieses hier: Die ihm eingeschriebenen rechtwinkligen Kreuze sind leicht in die Schräge gekippt. Der längste Strich steigt in flachem Bogen von unten links nach oben rechts auf. Die einzelnen Striche gehen in mehrere Richtungen, als wären sie ein Beispiel für das Syntagma auf der gegenüberliegenden Seite: „Caractères ouverts sur plusieurs direction.“61 Das Zeichen selbst ist indes kein beliebiges, und Michaux dürfte es gewusst haben: Es ist das

59  Auch wenn sie aus mehr oder weniger zufälligen Materialprozessen entstehen, aus dem Rinnen von Farbe etwa, sind sie Linien, eben nicht mit Hand gezogene, sondern emergente. 60  Sie sind natürlich auch Konstruktionen, haben ihre Voraussetzungen in Physik und Metaphysik und bevorzugten Formen wie der Spirale. 61  OC III, 841. „Schriftzeichen, auf verschiedene Richtungen hin offen.“ IiC, 31.

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11  Henri Michaux, I­ déo­grammes en Chine, 1975, © Éditions Gallimard.

Zeichen für wu: ‚es gibt nicht‘, im Gegensatz zu you: ‚es gibt‘.62 Laut der Sinologin Yolaine Escande ist es das wu, die Absenz, das die Präsenz eröffnet; aus dem ‚es gibt nicht‘, dem differenzlosen Grund, geht das ‚es gibt‘ hervor, die manifeste Realität.63 Auch ohne diese ‚ontogonische‘ Lesart ist hier indes eine dynamische Relation von Negativem und Positivem deutlich, die Absenz ist visuell in Szene gesetzt. Das Zeichen scheint nach oben ins Offene zu streben, und die sternförmig verlaufenden Strichlein wirken wie Strahlen, wie ein Aufflammen oder Aufblitzen.64 Mit Strichen, mit Schwüngen andeuten („… signifier. Par des traits, des élans“, s. o.) heißt, eine Bahn einschlagen, einen Weg irgendwohin machen. „Voie par l’écriture.“65 Erneut bietet sich eine Assoziation mit europäischer Kunst an: Wie bei Klee das Zeichnen als Linienziehen ein Unterwegssein ist, so hier das Schreiben. Einen ‚toten Punkt‘ kennen beide Arten des Graphierens nicht: Form in der visuellen Kunst „überhaupt“ beginnt für den Schweizer Maler „beim Punkt, der sich in Bewegung setzt“;66 Zeichnen heißt bei ihm Spazieren und Reisen, und Schreiben ist hier synonym mit einer sichtbaren Bahn, einem Lauf („expression du trajet, de la course“, s. o.); das eine wie das andere ist eine Zeitkunst („art du temps“, s. o.). Zeichnen (oder Malen) und Schreiben sind Performanzen. Als solche rücken sie 62  Ich übernehme hier wie in anderen Fällen die Transkription der chinesischen Wörter aus den jeweiligen französischen, englischen und deutschen Referenztexten. 63  Vgl. OC III, 1663. 64  „Ascèse de l’immédiat, de l’éclair.“ Ebd., 841. „Eine Askese im Unmittelbaren. Im Blitz.“ IiC, 31. 65  Ebd., 839. „Ein Weg durch die Schrift.“ IiC, 29. 66  So der erste Satz der Beiträge zur bildnerischen Formlehre (1921), z. B. in LuL 415 und 416.

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auch in der westlichen Kunst ganz nah aneinander. Für Klee fallen sie ‚ursprünglich‘ – in der menschlichen Phylo- wie Ontogenese – zusammen,67 und eins sind sie zumindest, wenn man nicht das System der Zeichen ins Auge fasst und analog von digital unterscheidet, sondern sich auf den motorischen Akt der Erzeugung von Graphismen bezieht.

5.4. ‚Monogramm‘ und ‚Polygraphie‘ Der kalligraphische Strich muss, wie erwähnt, eine spontane Energieentladung sein. Das künstlerische Maximum aber besteht noch in etwas anderem: Die vollkommene Seite ist diejenige, die von einem einzigen Strich gezogen scheint.68 Die Manifestation eines Kräftegeschehens bei jedem einzelnen Zeichen wird überboten von einer in einem Zug geschriebenen Kalligraphie: einem Einstrich-Werk oder ‚Monogramm‘. Ein derartiges Blatt kann nur kursiv geschrieben sein, müssen doch die Striche eines Zeichens und gar mehrerer Zeichen ununterbrochen miteinander verbunden sein. Der eine Schwung muss sie alle hervorgebracht haben.69 Auch in der europäischen Kunst ist die Einlinienzeichnung70 ein Gegenstand höchster Bewunderung: sie ist ein Virtuosenstück. Meisterzeichner der Renaissance – Michelangelo, Dürer u.a – haben gelegentlich dergleichen gemacht und damit die Potenz ihrer im Kunstdiskurs vergöttlichten Hand unter Beweis gestellt. Claude Mellan hat das Prinzip der hoch-virtuosen Einlinienzeichnung sogar explizit mit Göttlichem verbunden, und zwar auf spektakuläre Weise: mit dem aus An- und Abschwellungen der einen Linie entstehenden Antlitz Christi. Auch von Picasso und Klee gibt es Einlinienzeichnungen, von letzterem z. B. das Blatt „Als Schnee liegend“ von 1931. (Abb. 12) Die schwungvollen Zeichnungen zeigen auch hier eine hochtrainierte Künstlerhand, aber es geht nicht um die perfekte Technik, die äußerste Darstellungsschwierigkeiten meistert, und schon gar nicht um eine Beziehung zwischen Kunst und Theologie, Künstler und Christus o. ä.; die modernen Beispiele sind eher spielerischer und zugleich höchst intellektueller Natur. Sie stellen mit ihren Mitteln grundlegende theoretische Fragen: etwa zum Verhältnis von Figur und Grund oder Figuration und Abstraktion. Der eine Linienschwung muss aber immer etwas gegenständlich Erkennbares 67  „In Vorzeiten der Völker, wo schreiben und zeichnen noch zusammenfällt, ist sie [die Linie, S. M.] das gegebene Element. Auch unsere Kinder beginnen meist damit, sie entdecken eines Tages das Phaenomen des beweglichen Punktes…“ Ebd. 68  Vgl. OC III, 849. 69  Gelegentlich wird das Prinzip ‚in einem Zug‘ auch als nur einmaliges Eintauchen des Pinsels erläutert; dann ist das Absetzen zwischen den einzelnen Strichen und Zeichen durchaus möglich. Escande kommentiert die Hochschätzung des einen Strichs mit Rekurs auf Farbsymbolik und Mythologie: Das Schwarz als ursprüngliches Chaos und schöpferische Quelle braucht das Weiß, um sich zu manifestieren; das unbestimmte Chaos bestimmt sich im Kontakt mit dem Leeren-Weißen. Nur unter dieser Bedingung können sich seine unendlichen Möglichkeiten gemäß dem Prinzip des einen Strichs entfalten; vgl. OC III, 1662. Zu einer anderen Deutung vgl. unten, 124 f. 70  Einen aus einem einzigen Strich bestehenden Schriftzug, der die Signatur etwa mit virtuoser Figurenzeichnung verquickt, gibt es auch, er hat aber als Arabeske nicht die prominente Stellung im Kunstsystem wie die Zeichnung. Zu neuen und neuesten Varianten des Einstrichs vgl. unten, 225–233.

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5. Chinesischer Strich und europäische Linie: (k)ein Gegensatz

12  Paul Klee: Als Schnee liegend, 1931.

hervorbringen: Diese doppelte Anforderung, dass der Zug kontinuierlich ist und sich doch einer ikonischen Ähnlichkeit verpflichtet oder eine solche ermöglicht, macht die besondere technische Schwierigkeit aus, und die Pointe liegt in ihrer überraschenden, möglichst ökonomischen Lösung. Nur eine einzige Linie ziehen zu dürfen, stellt nicht nur einen Anspruch an die treffsichere Hand, sie impliziert auch immer eine Wette auf die Gestalt verleihende Aktivität des Auges. Die Figuration muss nicht intendiert sein, sie kann auch emergieren. Der visuelle Witz liegt dann in der Art, wie die Linie einer derartigen Auffassung entgegenkommt. Michaux’ Einlinienzeichnung (Abb. 1) ist dagegen nichts dergleichen; ihre Linie wird nicht doppelt lesbar wie bei Klee, wo das gleiche Linienstück als Hügelkontur oder Umriss eines Körperteils fungieren kann. Michaux’ Linie ist ganz und gar nicht ambivalent, weil gegenständliche Interpretationen sowieso ausscheiden. Ihre Schwierigkeit liegt darin, dass die immer weitergehende Hand nicht aus ihrem Schlafwandeln erwachen, d. h., sich nicht einer erkennbaren Regel unterstellen darf. Denn je länger die Geste des Ziehens andauert, desto unwahrscheinlicher wird es, dass sie den Intentionen eines dirigierenden Kopfes oder der Routine einer im Körper sedimentierten Bewegungsart entkommt. Das Entscheidende an ihr ist, dass sie sich so lange wie möglich einem Wollen und einem Können entzieht. Die Bemerkung, die vollkommene kalligraphische Seite sei die scheinbar in einem Zug gemachte, steht auf der vorletzten Seite von Idéogrammes en Chine – das Buch Émergences-résurgences beginnt mit der Einlinienzeichnung; beide Male also hat die strikt singularische Graphie einen prominenten Platz. Strich und Linie sind aber, wie es scheint, doch nicht einfach nur Gegensätze, un seul trait und une seule ligne entsprechen einander vielmehr; die europäische zeichnerische Linie hat ein chinesisches schreibkünstlerisches Pendant. Einander verwandt und komplementär sind beide nicht zuletzt in folgender Hinsicht: Michaux’ eine Linie ist eine ungekonnte, linkische – die ‚erste‘ eines Erwachsenen ohne jede zeichnerische Ausbildung –, aber auch die des chinesischen Kalligraphen ist nicht unbedingt eine virtuose. Denn das Maximum besteht gerade nicht im perfekten Können, sondern in der Fähigkeit, auch von diesem wieder abzulassen: Die Spontaneität erlaubt – wie in Michaux’ Linie – kein Korrigieren, vielmehr zählen das Aufgeladensein mit Emotionen, Energie, Ausdruckskraft etc. mehr als jede schöne oder gelungene Form. Um dieser Qualitäten willen werden der

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5.4. ‚Monogramm‘ und ‚Polygraphie‘

13  Beispiel für Schreibkunst aus Henri Michaux, Idéogrammes en Chine, 1975, © Éditions Gallimard.

Zufall und das Unvollkommene akzeptiert. Jede Linie, jeder Strich ist recht, wenn sie nur aus der einen erranten oder energischen Geste kommen: Der Akt einigt sie. Auch beim Arrangement des Textes und der Abbildungen zu einer selbständigen Publikation hat Michaux – bei größter Sorgfalt für die Details – ästhetische Gesichtspunkte zurückgestellt und sich in der Auswahl für weniger gefällige oder spektakuläre Kalligraphien entschieden.71 Vielleicht gibt es aus diesem Grund kein Beispiel für eine schreibkünstlerische Arbeit aus einem einzigen Zug. Und er hat seine Abbildungen auch auf etwas unebene, sogar anstößige Weise präsentiert; so sind einzelne Kalligraphien in Hinsicht auf Figur und Grund invertiert, insbesondere aber verstößt die Farbwahl ganz und gar gegen die der chinesischen Schreibkultur: Alle Beispiele sind in Rot abgedruckt, während diese Farbe eigentlich den Siegeln vorbehalten ist und Kalligraphien sich immer als schwarze von weißem Grund abheben (bei durchgeriebenen, in Bronze oder Stein geritzten Zeichen, ist es umgekehrt).72 (Abb. 13) 71  Vgl. OC III, 1665. 72  Von den zehn Abbildungen in Idéogrammes en Chine sind nur zwei Siegel. – Die Kalligraphie von Abb. 13 (vgl. dazu auch OC III, 1667) ist in Michaux’ Quelle (Chiang Yee: Chinese Calligraphy, 61, Fig. 26) weiß auf schwarzem Grund abgedruckt. Michaux hat sie mit Bleistift umrandet und dabei, wie auch andere Beispiele seiner Auswahl, beschnitten: Sie ist um die sechste, unterste Zeile gekürzt! – Die Farben Weiß, Schwarz und Rot kommen schon in Peintures et dessins (1946) mit inverser Funktion zum Einsatz, was besonders bei Nr. 33 „Alphabets“ und Nr. 34 „Alphabets (suite)“ auffällt: Der Text auf der linken Seite ist rot gedruckt, die piktographisch wirkenden Zeichen auf der rechten sind dagegen schwarz. Vgl. OC I, 930–933. Darüber hinaus sind diese drei Farben, wenn man die Umschläge dazunimmt, durchaus typisch für Michaux’ Buch-Kunst; vgl. auch Saisir und Par des traits.

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5. Chinesischer Strich und europäische Linie: (k)ein Gegensatz

Siegel vollenden üblicherweise eine Kalligraphie; erst damit ist ein Blatt fertig. Sie sind Künstlersignaturen, die des Kalligraphen selbst oder anderer Künstler, oder Stempel der Besitzer. Sie authentifizieren und nobilitieren die Arbeit. Wie eine Tätowierung weisen sie das Blatt als Eigentum des Besitzers oder Sammlers aus. Wenn es mehrere Siegel trägt, sieht man, dass es sich um ein begehrtes Blatt handelt, das in renommierten Händen war. Mit seiner unverwechselbaren Markierung ist der Besitzer als weitere Person im Verhältnis Künstler-Betrachter präsent; es entsteht eine Art Dreieck, wie sie im Westen wohl mit dem Auftraggeber eines Bildes oder dem Galeristen vorliegt oder in der Literatur im Verhältnis Autor-­Leser-Verleger: Das Siegel hat in diesem Fall ein Pendant im Verlagssignet. Wenn es sich um Sig­naturen anderer Künstler auf einem schreibkünstlerischen Blatt handelt, ergibt sich eine weitere, ebenfalls komplexe Konstellation. Künstler fertigen die Siegel selbst an; diese sind eine besondere Variante von Schrift: eine in harten Stein geschnittene und insofern komplementär zur fließenden, schnell gleitenden Pinselschrift. Die Schriftart muss dem Material entsprechen, in diesem Fall tut sie es mit vorwiegend geraden Linien; sie wirken im kleinen Format der Siegel monumental. Laut Billeter gehört diese Arbeit als spezielles Moment zur manuellen Aktivität des Kalligraphen. Darüber hinaus enthalten die Siegel u. U. nicht nur den oder einen von mehreren Namen des Künstlers, sondern auch Sinnsprüche oder Gedichte; sie sind dann neben der Schreib- eine Art Impresenkunst. Pinsel- und Drucktechnik, zwei verschiedene Schriften und ggf. zwei Arten Text kommen so auf einem Blatt zusammen. Wenn die Siegel von mehreren Künstlern stammen, ist das ganze Werk ein polyphones,73 in jedem Fall ein polygraphisches. Und in dieser Komplexität wollen derartige Kalligraphien wahrgenommen werden. Escande hat die Deutung vorgeschlagen, in Idéogrammes en Chine würden statt der Kalli­graphien Michaux’ schwarz auf weiß gedruckte alphabetschriftliche Texte von den roten Ideogrammen gesiegelt.74 Eine Inversion von Schreibkunst und Siegel liegt auch insofern vor, als der Text in jenem Katalog zu chinesischer Kalligraphie, dem er als Vorwort diente,75 keine Abbildungen enthielt und diese erst nachträglich, für die Einzelpublikation, dazukamen. Statt dass Kalligraphien post festum ein Siegel erhalten, werden einem Text post festum Kalligra­phien hinzugefügt. Andererseits sind diese jeweils älter als Michaux’ Text; das im Herstellungs­prozess des Buches Spätere ist das chronologisch Frühere und auch, nimmt man die ganze Textgeschichte in den Blick, das sachlich Primäre. Die abgebildeten Siegel, ein rotund ein weißgrundiges, also ein konkav und ein konvex geschnittenes, stehen am Anfang und am Ende des Textes, aber ihre rahmende Funktion tritt zurück, da die Farbgebung die Differenz zwischen Siegeln und Kalligraphien verwischt. Deren funktionale wie zeitliche Beziehungen sind hier zum Oszillieren gebracht. Die roten Schriftbilder schließen Michaux’ Text nicht ab – sie besiegeln, authentifizieren und nobilitieren nichts –, eher eröffnen sie im Verhältnis zu jenem Katalogvorwort andere und weitere Möglichkeiten der Lektüre. Wenn die chinesischen Schriftbeispiele Siegeln ähneln, dann auch eher denen der Künstler als de73  Vgl. Billeter: L’art chinois de l’écriture, 165, 286–289. 74  Vgl. OC III, 1660. 75  Vgl. oben, 105, Anm. 2.

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5.4. ‚Monogramm‘ und ‚Polygraphie‘

nen der Besitzer. Abbildungen und Text, Ideogramme und Alphabetschrift, Rot auf Weiß und Schwarz auf Weiß, Gruppen von Zeichen links und Gruppen von Zeilen rechts stehen auf gleicher Ebene. Es gibt keine Hierarchie. Das teilen sie mit einem guten kalligraphischen Blatt, zu dessen Komposition wohlüberlegt platzierte Siegel einen weiteren optischen Akzent beitragen. ­Harmonische Ganzheit muss man deshalb nicht unbedingt beschwören, aber einen Sinn für visuelle Feinabstimmungen gibt es in Idéogrammes en Chine durchaus, z. B. in dem ungewöhnlichen gelängten Format; leider vermitteln davon weder die Reproduktion in den Œuvres complètes noch die deutsche Ausgabe einen Eindruck. Das Buch ist wie manches schreibkünstlerische Blatt ein polygraphisches (und für diejenigen, die die Ideogramme lesen können, auch ein polyphones). Doch im Unterschied zu den chinesischen Modellen enthält diese Pluralität der Schreibweisen (und Stimmen) auch zwei verschiedene Kulturen. Diese stehen im wörtlichen Sinn nebeneinander und ergeben ein sino-französisches Unikum.

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Exkurs: Umwege der Ästhetik oder Trifft Castiglione einen chinesischen literatus?

Die eine Linie (oder der eine Strich) wird in der chinesischen Kultur des Schreibens und in der europäischen Kultur der Zeichnung hochgeschätzt. Michaux’ eigene eine Linie steht zu beiden in indirekter Beziehung, sein prinzipielles Interesse an diesem Phänomen aber ist eine Variante einer umfangreichen westlichen Faszinationsgeschichte. Seine Überlegungen gehören zu dieser und damit zur westlichen Kultur, auch wenn er sich absichtlich von dieser ab- und anderen Kulturen zuwendet. Der Blick nach anderswo – oder gar der Wunsch, sich zu entokzidentalisieren – ist unabdingbar Teil der europäischen Moderne. In diesem Sinn bildet die Attraktivität chinesischer Schreibkunst und Malerei eine Facette westlicher Ästhetik und Poetik genau wie das Interesse an ethnologischen Fragen eine des westlichen philosophischen Denkens im 20. Jahrhundert. Natürlich gibt es Unterschiede zwischen den Mythisierungen Ostasiens um die Jahrhundertwende und späteren Beschäftigungen damit. Sartre etwa sah das Verdienst von Michaux’ frühem China-Buch Un Barbare en Asie darin, dass es ein China „sans lotus ni Loti“ präsentiere.1 Aber Exotismen, Stereotypen, Projektionen eigener Wünsche und Ängste, Konstruktionen, Fremd- und Selbstverkennungen etc. lauern überall, nicht nur in der Reiseschriftstellerei, auch in der Ethnologie mit wissenschaftlichem Anspruch – die Grenzen zwischen dieser Disziplin und der Literatur sind eminent porös –, auch, zumindest aus kritischer fachkollegialer Sicht, in philosophisch ambitionierten Ost-West-Vergleichen, wie sie derzeit der Sinologe und Philosoph François Jullien vorlegt. Die folgende kleine Skizze beleuchtet nur einige wenige Probleme, die sich bei komparatistischen Versuchen auch im Fall eines begrenzten Aspekts stellen. Dabei geht es nicht um die Frage, wie nah Michaux ‚der‘ chinesischen Kultur in seinen Ausführungen oder in seiner eigenen Malerei kommt.2 Das Anliegen hier ist vielmehr, seine Linien-Ästhetik (die, 1  OC I, 1107, Anm. 5. Pierre Loti, Marine-Offizier, eminent erfolgreicher Reiseschriftsteller und Romancier, Verfasser u. a. von Madame Chrysanthème (1888), der Vorlage für Puccinis Madame Butterfly, verkörpert den Exotismus seiner Epoche. Von China und seiner Teilnahme am Boxerkrieg handelt Les derniers jours de Pékin (1901). 2  Laut Bernard Vouilloux vertritt Michaux – wie sein chinesischer Freund, der Künstler Zao Wou-Ki – die mit dem Wort hua (mit dem Pinsel malen/zeichnen; vgl. unten, 134) bezeichnete écriture-peinture; er betont Michaux’ Nähe zur chinesischen Kunst und Dichtung, die gerade aus der engen Wechselbeziehung mit Zao Wou-Ki hervorgegangen sei. Dieser selbst habe, vermittelt durch Michaux, nach langen Jahren in Frankreich und seinem Versuch, sich von der chinesischen Kultur abzuwenden und sich zugleich den europäischen ­Chinoiserien zu entziehen, die chinesische Malkunst mit Pinsel und Tusche wiederentdeckt. Vgl. Henri Michaux & Zao Wou-Ki dans l’empire des signes, in: Jacques Berchtold (Hg.): Henri Michaux & Zao Wou-Ki dans l’empire des signes (Ausst.kat.), Paris: Flammarion, 2015, 9–59. Dieser Darstellung zufolge hat man es also mit einem doppelten Gelingen zu tun – auf persönlicher und bildkünstlerischer Ebene. Nicht nur im Hinblick

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wie an den Ausführungen zu literarischen Texten und Drogenversuchen ersichtlich, nicht nur sein bildnerisches Œuvre betrifft) im europäischen Diskurs zu verorten und zu zeigen, was sie zu diesem beitragen. Der Rekurs auf Chinesisches ist darin ein Ferment: Mit dessen Hilfe werden traditionelle europäische Modelle so modifiziert, dass sie sich für künstlerische Artikulationen des 20. Jahrhunderts eignen. Michaux’ Texte beziehen sich, egal, wovon sie handeln, zumindest immer auch auf seine eigenen Unternehmungen, sie sind Ästhetik und Poetik eines französischen Schriftsteller-Künstlers des 20. Jahrhunderts. Darin haben auch Äußerungen zu chinesischer Kultur ihre Funktion, und zwar unabhängig davon, ob man sie als zutreffend oder tangential oder verfehlt beurteilt. In diesem Sinn gilt für sie nichts Anderes als für seine Bemerkungen zur europäischen Kultur, selbst wenn die eine hier den positiven, die andere den negativen Pol darstellt. Polemische Verkürzungen, Ausblendungen, blinde Flecken haben ebenso wie kultische Verehrung und Fetischisierungen Symptomwert, das heißt, sie bedürfen der Interpretation. Michaux entwickelt ein Stück moderner europäischer Ästhetik; seine Arbeit ist Teil ihrer Kunst und Literatur, und er schreibt an ihrer Kunst- und Linientheorie im 20. Jahrhundert mit. Seine ‚Position‘ darin liegt aber eben nicht in diskursiver Sprache formuliert vor; sie aus seinen Texten und Praktiken herauszuarbeiten, ist vielmehr eine analytische Aufgabe. Aus dem vielfädigen Gewirk von Reflexionen zu Ästhetik und Künsten sei im Folgenden ein Strang herausgegriffen, der das Nachdenken über eine in Europa zentrale ästhetische Qualität mit dem über die Linie zusammenführt: eine Passage aus Baldassar Castigliones Libro del Cortegiano von 1528. Die darin gebotene Lehre gehört zu einem kulturhistorisch machtvollen, im frühneuzeitlichen Europa weit verbreiteten Diskurs. Höfisches Verhalten meint einen komplexen sozialästhetischen Zusammenhang; wenn das Augenmerk dabei überhaupt auf Künste fällt, dann auf performative. In Hinsicht auf die künstlerische Linie heißt das: Es geht um deren Akt-Qualität. Als Handlung oder Geste ist die Linie hier Teil einer speziellen, im Habitus verwirklichten Ästhetik der grazia. Unter diesem Begriff versammelt Castiglione die ethischen und ästhetischen Vorzüge des Hofmanns. Das Konzept selbst ist höchst widersprüchlich: In Hinsicht auf den Einzelnen spannt es naturgegebene Vorzüge und Selbstperfektionierung zusammen. Auf sozialer Ebene meint es ein unsichtbares, nirgends fassbares, aber überall wirksames Band zwischen den Hofleuten und ihrem Fürsten. Die einen erweisen Dienste und Gefälligkeiten, der andere gewährt ihnen seine Gunst; in einem extrem fragilen Wechselspiel konstituieren und erhalten sie ein Gefüge asymmetrischer Macht, das in der Idealisierung des Urbiner Hofes freilich wenig hierarchisch wirkt. Grazia lässt sich kaum positiv bestimmen, denn sie entzieht sich allen eindeutigen Regeln. Die einzige ist eine Art Über- und Universalregel, die verlangt, Affektiertheit zu vermeiden. Der ideale Hofmann soll alles, was er tut – reiten, musizieren, fechten, tanzen, konversieren u. v.a.m. – mit einer gewissen sprezzatura treiben: scheinbar mühelos, leicht, mit einer auf Michaux’ Text-Bild-Kombinationen aber scheinen die interkulturellen Beziehungen zu komplex, als dass sie sich unter einen (nur einer Seite zugehörigen) Term subsumieren ließen.

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Art innerer Distanz, als interessiere es ihn nicht wirklich, und v. a., als sei es mit keinerlei Absicht verbunden.3 Nonchalance und Lässigkeit sind mögliche Übersetzungen für den von Castiglione geprägten Neologismus. Affektation bedeutet dagegen ein Zuviel an Mühe und Sorgfalt („troppo diligenzia“4). Diesen Fehler repräsentiert in der Malerei traditionell der antike Künstler Protogenes, der der Legende nach ‚die Hand nicht vom Gemälde zu nehmen wusste‘.5 Ein Vorzug des als größter Meister verehrten Apelles ist es dagegen, dass er den Moment des Aufhörens kennt. Sprezzatura bezeichnet eine performative Qualität; ihre Beispiele stammen zunächst aus Waffentechniken (Schwertkampf, Fechten, Lanzenschleudern o. a.) – da bedeutet sie Geschick, Behendigkeit, blitzschnelles Reaktionsvermögen6 – und aus dem Tanz – da offenbart sie sich in einem einzigen leichtfüßigen Schritt. In der Malerei zeigt sie sich in dem, was der Handbewegung am nächsten ist: in „una linea sola non stentata, un sol colpo di penello tirato facilmente“.7 Dabei scheint es, als würde die Hand nicht von einem Bestreben (studio) oder einem Können (arte) geleitet, sondern liefe ganz von selbst zu ihrem der Absicht (intenzion) des Malers entsprechenden Ziel (termine). Eine derartige bloße einzelne Linie oder ein nur hingeworfener Strich stellt nichts dar. Es handelt sich nicht um eine virtuose Einlinienzeichnung; diese Linie muss vielmehr nicht einmal eine Form haben, schon gar nicht die eines perfekten Kreises wie die legendäre von Giotto. Sie ist kein Schaustück, nur eine Fingerübung, ein Probieren des Instruments, des Körpers, vor dem eigentlichen Akt. Oder – wie bei Apelles’ Besuch seines Malerkollegen Protogenes – das Zeichen einer ephemeren Anwesenheit. So zumindest wird es inszeniert, als kleiner Gruß des Vorbeikommenden muss es erscheinen. Aber eben dieses Beiläufige lässt die Meisterhand erkennen. Im nebenher Gemachten ist das Können ganz und gar (zweite) Natur geworden. Die Technik ist so vollkommen ‚eingefleischt‘, dass der Körper spontan agiert; seine erstaunlichen Wirkungen scheinen sich einem autopoietischen Geschehen zu verdanken. Billeter spricht im Hinblick auf derartige Phänomene von einer zweiten Kraft: Bei voller Beherrschung der Mittel scheint diese anderer Art zu sein als die muskuläre Kraft, nämlich ein Effekt von Synergien.8 Im Fall eines so durchformten Körpers zeigt sich grazia in jeder noch so geringfügigen Äußerung.

3  Vgl. Baldassar Castiglione: Il libro del cortegiano, a cura di Giulio Carnazzi, Milano: BUR, 1987, (I. 26–27) 80–83. 4  Ebd., (I. 28) 83. 5  Vgl. Plinius: Historia naturalis, 35.80. 6  „… si pon senza pensar scioltamente in una attitudine pronta, con tal facilità che paia che il corpo e tutte le membra stiano in quella disposizione nautralmente e senza fatica alcuna, ancora che non faccia altro….“, Castiglione: Il libro del cortegiano, (I. 28) 84. Ein Waffen führender Mann nimmt „ohne Nachdenken gelöst eine bereite Haltung ein[…], und zwar mit solcher Leichtigkeit, daß der Körper und alle Glieder ganz natürlich und ohne jegliche Mühe diese Lage einzunehmen scheinen, als ob sie nie etwas anderes getan hätten.“ Baldesar Castiglione: Das Buch vom Hofmann, München: dtv, 1986, 57. 7  Ebd, (I. 28) 84; „in einer einzigen mühelos gezogenen Linie, einem einzigen leicht hingeworfenen Pinselstrich“; vgl. ebd., 58. 8 Vgl. L’art chinois de l’écriture, 163.

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Schon Plinius hat Ähnliches im Visier, wenn er – unter anderem zu einem Bild von Apelles, dieses Meisters der charis, des Liebreizes oder der Grazie, und der feinen Linie – die Bemerkung macht: „Es ist aber eine sehr seltsame und merkwürde Tatsache, daß die letzten Werke der Künstler und die unvollendeten Bilder (inperfectasque tabulas) […] mehr bewundert werden als die vollendeten, weil man in ihnen die zurückgelassenen Skizzen (liniamenta) und selbst die Überlegungen der Künstler sieht“.9 Die unverkennbar feine Linie und die Attraktivität der Skizzen fügen sich ohne Weiteres zusammen. In der einzelnen mühelosen Linie manifestiert sich Unbekümmertheit – das teilen die Skizzen auch mit den Spätwerken –, aber auf der Grundlage perfektionierter Körpertechnik: Es ist eine Geste, die kein Können beweisen will, aber eines verspricht, oder die keines mehr beweisen will, weil sie dergleichen nicht mehr nötig hat. Das Inbild von grazia zeigt Virtuosität im Zustand des Potentiellen. Castiglione hat zwei kulturelle Prestigedinge miteinander verbunden: höfisches Idealverhalten und individuelle künstlerische Exzellenz. Die einzelne lässig gezogene Linie ist nicht nur die Spur eines Hofmannes, sondern die einer Person, die cortegianeske Qualitäten mit singulärem Künstlertum vereint; konkret geht es dabei um Raffael. Er ist das Modell für das Miteinander der sozialästhetischen und individualkünstlerischen Dimension von grazia oder auch für den Hof-Künstler. In diesem Fall wird grazia sowohl an der Person wie an ihrem Werk gefunden, und dessen Qualität wiederum auf seinen Urheber zurückbezogen. Grazia ist bei Castiglione noch nicht – wie später bei Vasari und anderen – eine schwer benennbare einzelne Eigenschaft eines Kunstwerks (z. B. der Farbe) oder dessen unfassbarer Gesamteindruck;10 sie ist keine werkästhetische Kategorie, sondern eine performative Qualität. Diese lässt sich im Fall der bildenden Kunst nur in der künstlerischen Produktion verorten. Die Art der Tätigkeit oder des Arbeitsprozesses verbindet sich eher als das objektivierte Kunstwerk selbst mit den (moralisch gedeuteten) Eigenschaften und Verhaltensweisen der Person. Zwischen ihr und ihrem Produkt vermittelt der hervorbringende Akt. In diesem Sinn ist grazia oder sprezzatura eine Qualität der Linie als Körperbewegung. Deren Spur transferiert den ästhetisch-ethischen Habitus – die Person wird weitgehend damit identifiziert – auf die Seite des ästhetischen Objekts. In der Geschichte der Kunsttheorie hat dies enorme Bedeutung: Was den Hofmann und den Künstler als cortegiano auszeichnet, wird auf diesem Weg auch zu einer Kategorie des Dargestellten, v. a. aber des Kunstwerks und des Stils.11

9 Plinius: Historia naturalis 35.145; ders.: Naturkunde, hg. u. übers. v. Roderich König, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 21997, 111. 10  Vgl. Klaus Krüger: Grazia. Religiöse Erfahrung und ästhetische Evidenz, Göttingen, Wallstein, 2016, z. B. 46 und 69. 11  Raffael habe vor allen anderen Malern seinen Gestalten jene bei Castiglione gefeierte „sprezzata desinvoltura“ (Il libro del cortegiano, (I. 26) 82) verliehen; vgl. David Rosand: Una linea sola non stentata, in: Marzia Faietti/Gerhard Wolf (Hg.). Linea I. Grafie di immagini tra Quattrocento e Cinquecento, Venezia: Marsilio, 2008, (17–28) 26. Zur Übertragung der Sprache des höfischen Verhaltens auf die der Kunstkritik vgl. Rosand: Una linea sola non stentata: Castiglione, Raphael, and the Aesthetics of Grace, in: Robert M. Stein/Sandra Pierson Prior (Hg.): Reading Medieval Culture. Essays in Honor of Robert W. Hanning, Notre Dame (Indiana): Univ. of Notre Dame Press, 2005, (454–479) 462 ff.

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Das europäische Konzept der grazia und sprezzatura scheint sich mit der Hochschätzung der einen Linie in der chinesischen Schreibkunst zu berühren. Auch dort geht es um künstlerische Virtuosität, die nicht selbstzweckhaft ist: Das Schreiben der chinesischen Kalligraphen gehört vielmehr, wie Michaux selbst in Idéogrammes en Chine vermerkt hat, zu einer conduite: einer Haltung und Lebensführung, die – historisch und soziologisch betrachtet – jene Akteure als Teil des imperialen Hofes kennzeichnet. Wie weit und ggf. wann dessen ethisch-ästhetische Regulierungen und die westlichen einander ähneln oder auseinandergehen, ist freilich eine weitreichende Frage. Jullien hat jedenfalls eine Brücke zwischen der europäischen und der chinesischen Malerei12 in Hinsicht auf die Theorie der Skizze hergestellt. Er zitiert Plinius’ oben erwähnte Überlegung zur Faszinationskraft der unvollendeten Werke sowie Castigliones Satz zur einzelnen mühelos gezogenen Linie mit dem Kommentar: „Un tel éloge du naturel poussé jusqu’à la désinvolture me paraît, en revanche, et jusqu’à la notation d’‚intention‘ du peintre, comme extrait et traduit des Notes de pinceau du quelque lettré chinois.“13 Grazia und sprezzatura wären demnach die ästhetischen Ideale, in der europäische und chinesische Kunst einen Konvergenzpunkt haben;14 die mit leichter Hand gezogene Linie bzw. der spontan gesetzte Pinselstrich wäre ihr Gemeinsames. Julliens Ausführungen zu europäischer Kunst und ihrer Theorie, die Vergleiche mit chinesischen Pendants erlauben sollen, sind jeweils Großpanoramen, so auch die Überlegungen zur Skizze. Aus Zitaten aller Jahrhunderte und Sprachen (mit freilich deutlicher Präferenz für Französisches, hier für Texte von Picasso, Matisse, Malraux und Paulhan) konstruiert er ein kulturelles Kontinuum. Dieses Vorgehen ist problematisch, dürfte aber einen gewissen heuristischen Wert haben.15 Wenn die von ihm angedeutete Beziehung zum chinesischen Interesse am Skizzenhaften zutrifft, bietet sich hier möglicherweise eine gute Gelegenheit, die sonst vielfach behauptete abyssale Differenz der beiden Kulturen in Frage zu stellen. An einem für die europäische Geschichte der bildenden Künste und ihrer Konzeptualisierung zentralen Theorem – dem Konnex von grazia, sprezzatura und gestischer Linie oder Strich – ließen sich Momente der Affinität zur chinesischen Kunst und deren Reflexion aufzeigen; letztere wären 12  Zum Zusammenhang von Malerei und Schreibkunst vgl. Jullien: La grande image n’a pas de forme ou du non-objet par la peinture, Paris: Seuil, 2003, 308; zur besonderen Technik des einen Pinselstrichs (yi bi shu), die die Gestalten ohne Unterbrechung des rhythmischen Schwungs miteinander verkettet, vgl. ebd., 308 f. Vgl. auch oben, 123. 13  Ebd., 104, Anm. „Ein derartiges Lob des Natürlichen, das bis zur Unbekümmertheit reicht, scheint mir wiederum, und zwar bis zum Begriff der ‚Absicht‘ des Malers, wie ein Auszug und eine Übersetzung aus ‚Pinselnotizen‘ eines chinesischen literatus.“ Notes de pinceau (biji) sind eine eigene Gattung, sinngemäß ‚Notizbücher‘. Ich danke Marc Hermann für diese Informationen. 14  Den Term grazia erwähnt Jullien nicht. In seinem Buch Éloge de la fadeur hat man allerdings oft den Eindruck, er spreche davon; das Wort wäre ggf. eine von mehreren Übersetzungen für das mit fadeur wiedergegebene chinesische Wort, oder umgekehrt gehören Aspekte des ‚Faden‘ wie fein, zart, leicht, subtil, unwahrnehmbar, selten u. a. zum semantischen Feld der grazia. Die Ästhetik des ‚Faden‘ schiene dann weniger exotisch, als es in Julliens Darstellung der Fall ist; vgl. Billeters Kritik an dessen Übersetzungspraxis in Contre François Jullien. Édition augmentée, Paris: Éditions Allia, 2018, 48–49. Vgl. auch unten, 167 f. 15  Mit dem heuristischen Wert rechtfertigt Jullien von Anfang an sein Verfahren; er spricht von einem wesentlich fiktiven Vergleich oder der Methode vergleichender Fiktion; vgl. La valeur allusive, 8.

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dann nicht nur das vielbestaunte völlig Andere, das vom europäischen Denken aus unbegreiflich bleibt, weil man am Faden von philosophischen Äußerungen und Begriffen letzten Endes immer zu inkompatiblen Ontologien gelangt. Zunächst stellt sich hier allerdings eine terminologische Frage: Die Lässigkeit der linea sola non stentata liegt im Verlauf und in der Strichqualität, die aus dem Schwung der Hand resultieren; das unterscheidet diese Linie von anderen, über die europäische Kunsttheorie nachdenkt und auf die man sie gern festlegt: von der geometrischen und der konturierenden Linie. Schon innerhalb der europäischen Sprachen aber gibt es Übersetzungs- und noch mehr Interpretationsprobleme, die wiederum mit historisch unterschiedlichen Praktiken, materialen Paradigmen oder Prototypen und Diskursen zusammenhängen: Hätten Plinius’ spätere Leser das lateinische Wort linea nicht als ‚Linie‘, sondern als ‚Strich‘ oder ‚Zug‘ aufgefasst, gäbe es weniger Spekulationen darüber, was die ‚feinste Linie‘, um die Apelles und Protogenes wetteiferten, eigentlich sein sollte: eine Perspektivkonstruktion, der Umriss eines Menschen, die serpentinierende line of beauty oder anderes.16 Laut Billeter unterscheidet die chinesische Terminologie folgendermaßen: dao (wörtlich: Weg) für den langen Strich, xian (wörtlich: Faden) für die geometrische oder jede begrenzende Linie und xiantiao für die Linie der Zeichnung, der Gesichtszüge etwa, während die Schreibkunst eigene Termini hat: hua für malen, zeichnen, Malerei, Zeichnung; yi hua ein hua; bi Pinsel, yi bi ein Pinselstrich oder -hieb, bihua Pinselwerk; der beste Term sei indes dianhua: Er kombiniert dian, Punkte oder verdichtete Elemente, und hua, länglichere Elemente. Eine eher ‚impressionistische‘ Art der Malerei wird mit den auch für die Schreibkunst üblichen Termini (bi, hua, dianhua) verbalisiert, während eine andere eher deskriptive und detaillierte am Anfang mit Strich- bzw. Linienzeichnungen (xian) operiert.17 Für die schreibkünstlerischen Phänomene kommt demnach die Rede von Linien nicht in Frage, aber auch die von Strich (trait) lehnt Billeter ab. Der Grund ist wohl, dass der Strich immer die materiale Dimension einer Linie ist, während hua zwar im Vergleich mit den Punkten ein längliches Element meint, aber eben eher ein Strich begrenzter Länge ist. Es fragt sich nun, worin Castigliones Überlegung mit der eines chinesischen Schreibkünstlers zusammentreffen könnte: Welcher Ausdruck wäre das chinesische Pendant zur lässigen Linie oder zum einen mit leichter Hand gemachten Pinselzug („un sol colpo di penello tirato facilmente“)? Welches Wort stellte die Brücke zwischen europäischer Zeichnung (oder gar Ölmalerei) und chinesischer Schriftkunst her? Kommt hua dafür in Frage? Übersetzen heißt freilich nicht, Entsprechungen zwischen isolierten Begriffen suchen, sondern benötigt immer einen Kontext. Vielleicht würde es einem chinesischen Muttersprachler, anders als einem westlichen Sinologen, auch gar nicht einfallen, jene Beziehung herzustellen, weil die Termini der chinesischen Pinselkunst einfach eine von der westlichen Malerei völlig getrenn-

16  Vgl. die Literaturhinweise in LuL, 314. Wenn zudem Schriftsteller wie Boris Pasternak oder Felix Philipp Ingold diese linea als Zeile oder Schriftzug verstehen, bringt das die gestische wie etymologische Gemeinsamkeit der traditionell getrennten graphierenden Tätigkeiten in Erinnerung. 17 Vgl. L’art chinois de l’écriture, 50 f.

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te Welt indizieren; vielleicht wäre, sie vergleichen zu wollen, aus seiner Sicht etwas wie ein Kategorienfehler. Julliens Hinweis auf Castiglione steht, was angesichts der weitreichenden These überrascht, nur in einer Fußnote. Dass das Konzept der einen mühelosen Linie von einem chinesischen literatus stammen könnte, bemerkt der französische Sinologe en passant: sozusagen in einem Akt wissenschaftlicher sprezzatura. Den hier entwickelten Überlegungen könnte man daher den Vorwurf machen, sie mäßen einem Nebengedanken unangemessen viel Gewicht bei, ja, sie versäumten gerade etwas, was Julliens Denken auszeichnet: seine unakademische Behendigkeit; dergleichen beschwert sich nun einmal nicht mit historischen und philologischen Details. Dem wäre zu entgegnen, dass die Bemerkung durchaus charakteristisch für seine Kulturvergleiche zu sein scheint. Und gerade nonchalant vorgetragenen Behauptungen eignet – das liegt im Begriff sprezzatura – Indizienwert. Jullien tippt den Zusammenhang der zitierten Stelle mit der Hofmannskunst an und vermutet, die lässige Linie zeige die Spur des cortegiano. Vom Ideal des Hofkünstlers, das heißt, vom impliziten Bezug zu Raffael, der Castiglione die Harmonie zwischen Hofmann und Individualkünstler verkörpern muss, sieht er dabei ganz ab. Damit entfällt die Spannung zwischen (gefeiertem) singulärem Künstlertum und (erwartetem) höfischem Universaldilettantismus; insbesondere aber fehlt das Wissen um die historische Schwelle zwischen einer performativen Ästhetik, die unabdingbar mit moralischen Kategorien verquickt ist, und einer des Werks, die auf längere Sicht die Chance hat, sich von dieser Verquickung zu lösen. Doch wäre nicht der Blick darauf aufschlussreich? Wäre es nicht von Belang zu wissen, wie sich die Einbindung des chinesischen (Schreib-)Künstler-Funktionärs in ein extrem hierarchisches System mit den Anforderungen an seine Kunst verbindet: etwa die Frage, ob der vollkommene höfische Habitus, den ihm der kaiserliche Dienst abverlangt, auch in Reibung gerät zu Anforderungen an die Mal- oder Schreibkunst. Oder wenn nicht, was das impliziert.18 Bedeutet es geringere oder keine Eigenständigkeit der Kunst gegenüber anderen Bereichen des Lebens? Löst sich das Produkt nicht von seinem Entstehungsprozess, und gibt es dementsprechend keine Theorie des Werks? Dann stellt sich aber auch die Frage, ob Malerei und Kalligraphie als performative Künste nicht in ihren Möglichkeiten beschränkt bleiben, wenn ihre Akteure Hofmanns- oder Beamtenidealen genügen müssen.19 Billeter hat als Kenner und bis zu einem gewissen Grad auch Könner der Schreibkunst ausführlich dargelegt, was ein derartiger Künstler alles an Körper- und Selbsttechnik aufbie-

18  Laut Kraus versteht sich ein Angehöriger jener Elite, die politische Ämter innehat, diese Macht via Schriftproduktion ausübt und das Schreiben zugleich als Kunst betreibt, nie primär als Künstler, sondern seine Funktion im Machtapparat (samt seiner sozialen Stellung, literarischen Bildung und moralischen Haltung) ist vorrangig. Gleichwohl können die Neigung zur Schreibkunst und die Ausübung der Macht in Konflikt geraten, etwa, wenn ein Kaiser sich allzusehr für jene interessiert und ein schwacher Herrscher ist; auch in diesem Fall ist aber eindeutig, wo der Akzent zu liegen hat: beim Politischen. Andererseits dient gerade die Schreibkunst dem Einzelnen dazu, sich in gewissen Grenzen der Macht und ihrem enormen Druck zu entziehen; vgl. Brushes with Power, 38, 41, 44. 19  In Europa hat die Doppelfunktion von Hofmann und Künstler nur eine gewisse Zeitlang Bestand.

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ten muss, um die Beherrschung seines Metiers über die Routine hinaus zur Expressivität zu bringen – um die zweite Kraft zu entwickeln. Es gehört zum Selbstverständnis der Akteure, dass sie ihre Persönlichkeit investieren, und dass diese umgekehrt für die Betrachter in den Schriftzügen sichtbar wird. Der Körper – nicht nur die Hand – und mit ihm die ganze Person sind Gegenstand jahrelanger Ausbildung; sie involviert den Künstler als ganzen, sein Tun ist weit mehr als die Aneignung und Ausübung einer Technik. Es geht nicht um ein Handwerk, sondern um eine Lebenshaltung. Und in der Regel agiert der Künstler im imperialen höfischen Ambiente. Castigliones Überlegungen zum cortegianesken Habitus und der Möglichkeit eines perfekten mühelosen Pinselstrichs passen offenbar gut dazu. Selbst der große Bewunderer der Kalligraphie kommt aber auch nicht umhin zu bemerken, diese erscheine doch als Ausdruck einer untergegangenen Welt.20 Bei all ihren Vorzügen sei, so Billeter, im Rückblick ihr inniges Verhältnis zur alten Ordnung evident. Und er zitiert einen zeitgenössischen chinesischen Schreibkünstler mit der skeptischen Bemerkung: „Die Schrift ist eine Schöpfung des Menschen, aber als Produkt des Kollektivs und der Tradition übt sie auch eine tyrannische Macht über ihn aus. Kreativität ist darin schwierig. Wir schreiben wie unsere Vorfahren der Tang-Zeit vor über tausend Jahren. Muss man unbedingt eine Kunst weiterpflegen, die uns unerbittlich an die Tradition kettet?“21 Die Schrift ist aufgrund ihres Prestiges, ihres Alters und ihres außerordentlich hohen Status’ im Kultursystem eminent bedeutungsgeladen, aber die Last der Tradition – und im Übrigen auch der jeweiligen Väter-Generation – gehört auch zu den vielfach beklagten Problemen dieser Schriftpflege.22 In mehr als einer Hinsicht ist die Schreibkunst intrinsisch an die imperiale Macht gebunden. Nicht nur wird sie von einer herrschenden Elite und vom Kaiser selbst betrieben – oder später von politischen Funktionären samt dem Revolutionsführer Mao; nicht nur stützen und bestätigen Schrift und Autorität einander, die Schrift hat auch die Funktionen, die im Westen das Herrscherbild hat: Sie ist nicht nur Repräsentation der Macht, sondern auch eine quasi-magische Realpräsenz der entsprechenden Person. Sie stellt den Urheber nicht dar, sondern tritt einem Leser-Betrachter als Person gegenüber, sie ist nicht nur Porträt, sondern auch Gesicht.23 Einen entscheidenden Beitrag zur Befestigung der Despotie leistet aber nicht zuletzt die Mythisierung der Schrift: Diese gilt, wie bereits erwähnt, als etwas aus der Natur selbst Hervorgegangenes, nicht als etwas Gemachtes. Und auf einen derartigen Eindruck zielt die Schreibkunst: „Indem sie den Schriftzeichen den Anschein verlieh, spontan aus dem Leeren aufzutauchen, suggerierte sie, dass alles [von Menschen, S. M.] Eingerichtete mit dem Grund der Wirklichkeit übereinstimmte und daraus emanierte. Das war ihre ideologische Bedeutung und der Grund für ihre extrem hohe Wertschätzung im alten China.“24 20  Vgl. Billeter: Essai sur l’art chinois de l’écriture, 379. 21  Ebd., Anm. 1. 22  Vgl. Kraus: Brushes with Power, 9 f. 23  Vgl. Johnathan Hay: The Kangxi Emperors’s Brush Traces. Calligraphy, Writing and the Art of Imperial Authority, in: Hung Wu (Hg.): Body and Face in Chinese Visual Culture, Cambridge, Mass. u. a.: Harvard Univ. Press, 2005, 311–334. 24  Vgl. 136, Anm. 20.

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Castigliones Ideal der grazia liegt das wohlgemerkt rhetorische Prinzip des celare artem zugrunde; der dem chinesischen Ursprungsmythos gemäße Anschein der Natur hat dagegen mit der hohen Kunst, die Kunst zu verbergen, offenbar nichts zu tun. Er stellt vielmehr eine Naturalisierung von Menschengemachtem dar, die so tief in die Kultur eingesenkt ist, dass sie sich nicht mehr durchschauen lässt. Das Geschöpf hat Macht über seine Schöpfer. Im Hinblick auf die Struktur würde man so etwas einen Fetisch nennen.25 Der europäische Hofmann und Künstler gibt sich den Anschein des Natürlichen, und dies in einem höchst artifiziellen Ambiente. Zumindest gemäß der idealisierten Darstellung des Hofs von Urbino sind die Gewichte darin subtil austariert: Höflinge und Fürst versichern einander und bekräftigen performativ stets aufs Neue ihre wechselseitige Verpflichtung, fingieren mit reziproken Gaben Großzügigkeit und Freiwilligkeit und camouflieren damit kunstvoll eine unaufhebbare Asymmetrie. Die Inszenierung flacher Hierarchie samt persönlicher Bindungen und die Etablierung moralischer Werte wie Loyalität, Ehre, Treue u. ä. halten in der frühneuzeitlichen Patronage- und Klientelkultur das Machtgefälle aufrecht und befrieden es zugleich. Beziehungen des Dienens und Schenkens nützen beiden Seiten, ohne sie doch auf politischer und sozialer Ebene einander anzunähern. Am anschmiegsamen Gewebe, das die Machtverhältnisse verbirgt, weben die beteiligten Akteure gleichermaßen.26 Alle, auch der Fürst, lassen sich in dieses Tun involvieren und arbeiten gemeinsam an einer Fiktion des Natürlichen. Die europäischen Höflinge führen gezielt eine Art ästhetischen Suspensionszustand herbei. Sie üben sich in gegenseitiger Täuschung. Der chinesische Schreibkünstler sieht dagegen offenbar in den Gesten seines Graphierens die Zeichen als lebendige Realitäten entstehen. Sie sind für ihn tatsächlich solche, nicht nur ein Analogon oder ein Als ob. In der kalligraphischen Aktivität findet er den Entstehungsprozess der Phänomene, weil der Begriff des Realen selbst von einem leibhaften Bezogensein auf die Welt her gedacht ist; das Reale ist nach dem Modell der Entstehung der Geste konzipiert.27 In diesem Sinn lassen sich Natur und Kunst oder Realität und Anschein nicht auseinanderdividieren. Drückt sich in einem derartigen Denken ‚Weisheit‘ aus? Oder hat die politische Macht eminent erfolgreich die Kultur instrumentalisiert, auf dass das chinesische Immanenzdenken die imperiale Ordnung gegen ihre Befragung abdichte?28 Haben beide Per25  Kraus gibt immer wieder Beispiele dafür, wie diese fetischisierende Auffassung der Schrift noch im späten 20. Jahrhundert – nach der Revolution – anzutreffen ist. Sein Buch Brushes with Power beschreibt allerdings Zustände vor dem Massengebrauch digitaler Medien. Auch im aktuellen China scheint Schrift aber nicht einfach ein technisches Instrument zu sein, sie wirkt durchaus weiter (auch) machtbestätigend, gehört die Pflege der traditionellen Kultur doch entscheidend zur chinesischen Identitätspolitik. Vgl. dazu Billeter, Contre François Jullien, 16–31, und ders.: Essai sur l’art chinois de l’écriture, 374–379. 26  Vgl. u. a. Daniel Dornhofer: Poetische Gaben im Petrarkismus, in: Ulrike Vedder/Susanne Scholz (Hg.): Handbuch Literatur und materielle Kultur, Berlin/Boston: De Gruyter, 2018, 180–187. 27  Vgl. Billeter: L’art chinois de l’écriture, 252. 28  In dieser Hinsicht besteht, soweit ich sehe, Dissens zwischen Jullien und Billeter. Dabei treffen nicht nur divergente Methoden, sondern letzen Endes Weltbilder aufeinander: Billeter, der in den siebziger Jahren eine soziologische Studie zum chinesischen ‚Mandarinat‘ (den Beamtengelehrten) vorgelegt hat, ist im Grunde spätaufklärerischen Idealen verpflichtet; er vertritt durchaus pointierte Thesen: Die Behauptung etwa, das taoistische Übernatürliche sei eine Bürokratie (vgl. Contre François Jullien, 102) könnte auch von einem

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spektiven ihre Berechtigung? Aber wie muss man dann die Begriffsfelder sortieren? Paarweise Gegenüberstellungen dürften sich nicht dafür eignen. In Hinsicht auf die Lehren vom höfischen Verhalten gibt es offenbar Parallelen zwischen europäischer und chinesischer Kultur29 und bis zu einem gewissen Grad auch Übereinstimmung zwischen den sinologischen Kontrahenten Jullien und Billeter. Letzterer stellt Beziehungen zwischen Graciáns Überlegungen im Handorakel (im Französischen L’Homme de cour) und chinesischen zu ähnlichen Themen her – bezeichnenderweise nicht zu Castigliones Libro del Cortegiano, dem unmittelbaren Vorbild von El discreto (Der Weltmann): Nicht ein (als Ideal entworfener) kleiner herzoglicher Hof, in dem der Fürst primus inter pares ist, son­ oucault-Anhänger stammen, aber vielleicht macht sich darin auch seine leidenschaftliche Lichtenberg-Lektüre F geltend. Jullien folgt dagegen philosophisch Heidegger und terminologisch wie schriftstellerisch poststrukturalistischen Ansätzen. Die Möglichkeiten der aktuellen Rezeption der beiden Autoren scheinen entsprechend vorprogrammiert. In diesem Sinn geht die Kontroverse aber eben auch weit über die Sinologie hinaus: Wer wie die Vf.in dieser Studie entsprechendes Fachwissen sucht, sieht sich (zumal der Apparat der Œuvres complètes wiederholt Jullien zitiert) nolens volens mit diesem Dissens konfrontiert und hat nicht die Möglichkeit, die Sinica selbständig einzuschätzen. Breitere (nicht zuletzt angelsächsische) Lektüren helfen, führen aber auch immer tiefer ins Labyrinth fachwissenschaftlicher Differenzen. Eine Perspektive bietet sich m. E. jedoch an: Jullien konstruiert ‚das westliche Denken‘ als Einheit von der Antike über Descartes zu Kant und Hegel und stellt es ‚dem chinesischen‘ als seinerseits geschlossenem Block gegenüber; beide scheinen monolithische Identitäten zu sein. Wie weit letzteres überhaupt als Philosophie und als Einheit gelten kann, vermag ich nicht zu beurteilen. Ersteres jedenfalls erscheint in diesem Konstrukt ohne historische Brüche, ohne die inzwischen Jahrhunderte alte Kritik der Metaphysik, ohne Dissidenzen und Reibungen mit anderen Diskursen etc. Dergleichen aber findet sich u. a. in (westlichen, nur sie kann ich beurteilen) Künsten und Literatur; sie reproduzieren mitnichten einfach ‚das philosophische Denken‘ nur in anderen Medien. Ohne den Voraussetzungen westlicher Sprachen, Kulturen, Epistemen und Praktiken zu entgehen, sorgen sie doch zumindest für Friktionen mit dominanten oder dominant gesetzten westlichen Diskursen. Abgesehen davon aber tun komparatistische Studien immer gut daran, statt von Identitäten auszugehen (oder sie erst zu konstruieren), die sekundär in ein Verhältnis zueinander treten und womöglich gegeneinander ausgespielt werden, nach den Verfransungen, Reziprozitäten, Austauschdynamiken und Mischungen zu fragen. Sie sind bei näherem Hinsehen der Normalfall. Ein derartiger Ansatz kommt freilich nicht ohne die Spezifik historischer Analysen aus. – Zur Kritik an Julliens kulturellem Substantialismus und sogar manifester Metaphysik vgl. auch Arne Klawitter: Ästhetische Resonanz. Zeichen und Schriftästhetik aus Ostasien in der deutschsprachigen Literatur und Geistesgeschichte, Göttingen: V&R unipress, 2015, 30 f., 127, Anm. 159, 145–147 u. pass. Gleichwohl stützt sich dieses Buch ganz entscheidend auf Arbeiten Julliens. 29  Sehr allgemein und trotz gegenteiliger Behauptung universalisierend beschreibt sie Peter Burke (mit Rekurs auf Thorstein Veblens Theory of the Leisure Class von 1899) folgendermaßen: „Die Kultur der chinesischen Mandarine weist Parallelen zu zwei berühmten Konzepten in Castigliones Unterhaltung auf – ‚sprezzatura‘ natürlich, sowie die Forderung, Angehörige einer Elite müßten in der Ausübung der Künste bewandert sein, vor allem in Lyrik, Malerei und Musik. Schon vor dem Zeitalter der Mandarine hatte Konfuzius (551–479 v. Chr.) das Idealbild eines ‚fürstlichen Mannes‘ oder Edelmannes entworfen, Prahlerei verdammt und zur Kultivierung der Persönlichkeit geraten. […] Die Mandarine […] verkörperten das Ideal eines Amateurs, der sich allem widmet und der alles gut, aber nicht zu gut beherrscht. Das Verfassen von Gedichten war seit jeher eine Beschäftigung dieser Gelehrten-Beamten, im zwölften und dreizehnten Jahrhundert aber, möglicherweise auch schon früher, erstreckte sich ihr Interesse auch auf die Malerei. Der Eindruck von Spontaneität, der in der chinesischen Malerei ebenso wie in der ihr verwandten Kunst der Kalligraphie so hoch geschätzt wird, gilt ebenfalls als Beispiel für das Amateur-Ideal. […] Es wäre faszinierend zu wissen, wie Castiglione wohl auf die chinesischen Gelehrten-Maler oder Gelehrten-Beamten reagiert hätte, wenn er, wie noch im gleichen Jahrhundert sein Landsmann Matteo Ricci, nach Peking hätte reisen können.“ Die Geschicke des ‚Hofmann‘. Zur Wirkung eines Renaissance-Breviers über angemessenes Verhalten, Berlin: Wagenbach, 1996, 179 f.

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dern die Hofwelt des 17. Jahrhunderts mit einem absoluten Machtzentrum ist die Referenz des spanischen Jesuiten. Unter diesen Bedingungen wird aus der prekären Kunst des geteilten Als ob eine Kunst der Verstellung, die zynische Züge annimmt. Das Verhältnis von Höflingen und Herrscher prägen hier steile Hierarchien, Abhängigkeiten und eine (im Vergleich zu Castiglione) verstärkte Asymmetrie. Die cortegianeske dissimulatio ist nun eine Kunst der versteckten Manöver. Die Partizipanten an diesem nicht ungefährlichen Spiel wissen das diffizile soziale Gefüge so virtuos zu handhaben, dass sie mitunter sogar aus der eigenen Unterlegenheit ihren Vorteil ziehen. Der Hof wird nicht mehr zum Ort ästhetischer und moralischer Selbsterziehung stilisiert, sondern erscheint als das quasi-militärische Feld, auf dem die Lebenskunst eine Strategie der Selbstbehauptung darstellt. Im Fokus des Interesses steht das Instrumentarium dafür: die Waffen, denn in einem Ambiente aus Neid, Schmeichelei und Maskerade ist alles Kampf. Es bedarf – ähnlich wie bei Castiglione, doch weniger ludisch – der Kriegertugenden, etwa der Vorsicht und gespannten Aufmerksamkeit. Die ästhetische Distanz aber ist zur Kälte geworden, das Ideal insgesamt virilisiert. Wissen und Liebe bilden genauso einen Gegensatz wie Person und Amt. Die Kunst, die dem entspricht, ist nicht eine der anscheinenden Natürlichkeit, sondern eine des konzeptistisch Dunklen, Verrätselten, Schwierigen, Doppelbödigen. Gibt es darin noch Lässigkeit (sprezzatura)? Hat Erotik (charis, venus, venustas) noch einen Ort? Leichtigkeit liegt hier am ehesten in der Agilität und nicht zuletzt in der opportunistischen Wendigkeit. Ähnlichkeiten zur Situation der Dichter(-Schreibkünstler), die zugleich Beamte sind, am chinesischen Hof scheinen evident. Jullien beschreibt ihre Lage drastisch, und das Gesagte gelte seit der Vereinigung Chinas zu einem zentralistischen Reich (221 v. Chr.) bis in die jüngste Vergangenheit.30 Die ‚Gelehrten‘ oder ‚Intellektuellen‘ (lettrés31) befinden sich in einer Lage äußerster Repression und Abhängigkeit; sie können nicht außerhalb der politischen Sphäre leben und haben sozial keinen anderen Ort als den in der Hierarchie der Amtsträger. Ihre Spielräume sind extrem eng; der geringste ‚politische Fehltritt‘, als welcher jeder Versuch von Kritik oder Beschwerde, jede nicht machtkonforme Meinung gelten kann, gefährdet nicht nur ihre Karriere, sondern auch Leib und Leben und über das eigene hinaus sogar das ihrer Angehörigen. Unter diesen Bedingungen ist die poetische Äußerung (Jullien behandelt nur die verbale Seite ihrer künstlerischen Betätigung) zwangsläufig zugleich eine politische und vice versa. Sie kann nur eine Kunst der Indirektheit sein, das heißt, sie artikuliert sich auf Umwegen, in Klassiker-Zitaten, aus maskierter Sprecherposition, mit subtilen Anspielungen, vagen Bildern etc. Die poetischen Beschwörungen der Natur, die emotionale Nuancen zum Ausdruck bringen, verdanken sich nicht zuletzt den immensen Zwängen der Zensur. Wie die körperliche Geste 30 Vgl. La valeur allusive, 191. Das Buch ist 1985 erschienen. Gilt das Gesagte zumindest teilweise noch in der Gegenwart? 31  Ebd. heißt es auch „les intellectuels“. Für Billeter schreibt die Bezeichnung lettré China-Mythen fort, wie sie insbesondere französische Intellektuelle pflegen; vgl. Contre François Jullien, 11–16, 36–43, 111 f.

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im Ritual, wie die Sitzordnungen, die keinen direkten Blickkontakt erlauben, muss die verbale Artikulation sich klein machen, sich wegdrehen. Als ein Sprechen hinter vorgehaltener Hand ist es auf Sanftheit, Zurückhaltung und virtuose Diplomatie verpflichtet; was es sich zu sagen erlaubt, bedarf der Verschleierung, es verbirgt sich in einer Bilderflut. Von der offiziellen Rede der Macht kann die dichterische nur minimal abweichen. Im Verhältnis zu jener ist sie ein Flüstern. „Wenn man den politischen Druck bedenkt, der auf dem Dichter lastet – v. a. seit der Han-Dynastie, und tendenziell verringert er sich im Lauf der Jahrhunderte auch nicht –, wird in der chinesischen Welt der strategische Gebrauch indirekter Artikulation beste Aussichten haben, zu einem sehr geschickten Spiel zu werden. Die jüngste Geschichte der chinesischen Kultur ist dieser Tradition mitnichten entgegengetreten, und die Dichter des 20. Jahrhunderts gehen mit ihren Rekursen auf die Umwege bildhaften Ausdrucks noch immer in den Spuren ihrer Vorfahren“.32 Das erinnert durchaus an Graciáns Hofwelt. Doch es gibt, wie Billeter herausstellt, auch einen entscheidenden Unterschied: Denn in Europa entsteht in eben diesem Milieu die Literatur, die ihre eigenen Voraussetzungen durchschaut: Sie beobachtet und analysiert scharfsichtig die Funktionsweisen der Macht. Graciáns Schriften zur Karriere am Hof lassen laut Billeter im Vergleich mit den subtilsten chinesischen zu diesem Gegenstand nichts zu wünschen übrig, aber kein chinesischer Autor habe es gewagt, eine offene Apologie der Dissimulation zu schreiben. Dazu habe es einer individuellen Unabhängigkeit und einer gewissen Autonomie des Adels im Verhältnis zum Monarchen bedurft, wie es sie nur in Europa, nie aber in China gegeben habe.33 Aus den Reihen der französischen Aristokraten erwachsen die Moralisten als Kritiker des Politischen und Zergliederer der Passionen, die, mit Nietzsche gesagt, ins Schwarze des menschlichen Herzens treffen. Die Gründe für diese und vergleichbare Differenzen sieht Billeter letzten Endes im Fehlen zweier für die europäische Kultur zentraler Konzepte: desjenigen der Sprache als eines autonomen, aber sich gleichwohl auf die Wirklichkeit beziehenden Systems und desjenigen 32 Jullien, La valeur allusive, 192. Die Indirektheit des Poetischen lässt sich natürlich nicht einsinnig aus den Zensurbedingungen ableiten. Jullien sieht darin auch eine typische Strategie der Sinnerzeugung, die schon der Sprache selbst inhäriert und sie von derjenigen westlicher Sprachen unterscheidet: Deren Dualismen (etwa von sinnlich und intelligibel), Identitäten und Binarismen stehen demnach im Chinesischen Umweg, Korrelation, Prozesse der Verknüpfung und Anspielung entgegen (z. B. in der Wortbildung: statt des einen Terms ‚Landschaft‘ wird die Beziehung ‚Berge-Wasser‘ formuliert), und statt Transzendenz und metaphysischer Wahrheit gibt es das Praktizieren des Weges; vgl. dazu OC I, 1114 und 1116, mit Rekurs auf Jullien: Le Détour et l’Accès (1995). Das Allusive auf der einen und das Symbolische auf der anderen Seite markieren für ihn von Anfang an die kulturelle Alterität Chinas und des Westens; vgl. La valeur allusive, 14. Diese aus der Sprache abgeleitete und das heißt ahistorisch gefasste ‚chinesische Denkweise‘ wirkt – allemal in Paarbildungen, wie Jullien sie vornimmt – meist so faszinierend, dass die erwähnten sozio-politischen Dimensionen darüber in Vergessenheit geraten. Zur Kritik an der Ausweitung dieser Thesen zur Gegenüberstellung von griechischem logos und einem ‚taoistischen‘ Sprachkonzept, dem Jullien selbst in seinem Schreiben nachzustreben scheint, vgl. Billeter: Contre François Jullien, 135–138. 33  Vgl. ebd., 76. Freilich untersteht Graciáns Schreiben auch der Zensur, dem Zwang zur Anonymität, drohenden und realen Sanktionen gegen den Autor etc. Die europäische Kultur hat unter politischem und/oder religiösem Druck ebenfalls reichhaltige Strategien der Indirektheit hervorgebracht. – Laut Jullien gelten die beschriebenen repressiven Verhältnisse vor jenem Stichdatum der Unifizierung Chinas nicht; vgl. La valeur allusive, 191.

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der Rede als Möglichkeit, sich frei an eine andere Person zu wenden und neue Situationen zu schaffen. Daraus folgt als weiteres unterscheidendes Moment die Vorstellung, dass jedes menschliche Wesen als mit Sprache begabtes die Macht hat, etwas Neues anzufangen, hervorzubringen und zu definieren. Die Autonomie der Sprache und der Rede aber impliziert einen Bruch oder zumindest eine Diskontinuität mit der übrigen Wirklichkeit. In der chinesischen Auffassung der imperialen Epoche wird dagegen die Vorstellung eines Kontinuums vertreten; die Sprache gilt daher als momentanes, transitorisches Phänomen, ohne eigene Konsistenz.34 Aus dem Gedanken, dass menschliches Tun im Kontinuum mit der Natur steht – genauer: dass es nur im Kontinuum mit ihr steht und sich nicht auch gegen sie wendet –, folgt hier für das Sprechen etwas, was Europäern eine Unterschätzung scheint; das Schreiben erfährt dagegen eine enorme Aufwertung. Grundlegende Differenzen ergeben sich mithin daraus, dass die europäische Kultur sich als eine der Rhetorik entwickelte und Schrift dem Sprechen nachordnete. Die vielfältige Kritik an der Verabsolutierung des phonetischen Schriftkonzepts, die seit einigen Jahrzehnten von Philosophen, Linguisten, Schrifttheoretikern, Künstlern, Schriftstellern, Michaux eingeschlossen, artikuliert wird,35 hat indes klar gemacht, dass die europäische Schriftkultur auch ein Selbstmissverständnis pflegt, wenn sie Schrift nur als Surrogat der Rede auffasst. Chinesische Schrift wird traditionell anders verstanden: nicht als Artefakt, sondern als etwas, was aus der Natur emergiert ist; im Mythos wird sie mit der Kosmogenese zusammengedacht. Diese Auffassung erstreckt sich auch auf ihr Grundelement, den Pinselstrich, und auf den Akt, der ihn hervorbringt. Die mühelose (europäische) Linie und der lässige (chinesische) Pinselstrich teilen den Anschein des Nicht-Artifiziellen, der Spontaneität; und die Verbalisierung dieses Phänomens scheint für beide zuzutreffen: Beide sind unbezweifelbar Spuren einer wohldressierten Hand, ist verkörperte Disziplin doch Voraussetzung der Unbekümmertheit. Im einen Fall offenbart die eine Linie den Typus des vollkommenen Höflings, somit die ideale Übereinstimmung von Gesellschaft und Einzelnem, und zugleich das besondere einzelne Individuum, das sich über diesen Zusammenhang erhebt; im anderen Fall instantiiert die Spur des idealtypischen Höflings erneut die Ko-Genese von Schrift und Welt, somit der kosmischen Ordnung, die die menschliche, soziopolitische einschließt. In beiden Fällen werden soziale Verhältnisse naturalisiert.36 Der elitäre Status der Akteure steht so wenig in Frage wie fürstliche oder imperiale Macht.

34  Vgl. Billeter: Essai sur l’art chinois de l’écriture, 379 f. Zur geringen Bedeutung der Rede vgl. auch Kraus: ­Brushes with Power, 39. Dem steht das westliche Pathos des Dialogs gegenüber; vgl z. B. Marcel Hénaff zu ­Sokrates’ agonalem, eine Gabenbeziehung realisierenden Austausch mit seinen Schülern: „Das gesprochene Wort ist eine ständige Herausforderung, das seiner Erwiderung harrt; der Gedanke öffnet, entwickelt und erklärt sich in diesem Hin und Her, in dieser Ungewißheit, in diesem Zwist, den die Antwort besänftigt und den die Frage wiederaufleben läßt.“ Der Preis der Wahrheit. Gabe, Geld und Philosophie, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2009, 239. 35  Vgl. oben, 37. 36  Der Aristokrat ist höher ‚geboren‘, grazia gilt in diesem Sinn auch als Gabe der Natur genau wie die Begabung des singulären Künstlers.

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Es scheint jedoch einen Unterschied in Hinsicht auf die Regelspiele ‚Hof ‘ und ‚Kunst‘ zu geben: Letztere bietet in Europa (schon in der Antike) ein Einfallstor für die zunächst freilich nur exzeptionelle Ranggleichheit von Souverän und Künstler. Letzterer darf sich dem Herrscher gegenüber allerhand herausnehmen; seine soziale Sonderstellung verschafft ihm das Recht zu freimütigen Äußerungen, wie sie sonst niemandem erlaubt sind. Die Begegnung auf Augenhöhe gehört zumindest zum traditionellen Bild des Künstlers. Mit der neuzeitlichen Hochschätzung der Künstlerindividualität, nicht nur des Typus, wie ihn die Künstlerlegende ausgebildet hat, enthält indes das System selbst das Element der Nicht-Konformität. Und noch mehr: Es fordert diese sogar. Höfischer Habitus macht nicht die ganze Person aus, sie muss mehr und anderes bieten, oder auch: Der Habitus des Künstlers enthält die Verpflichtung, innovativ, ja, transgressiv zu sein. Nur wer die Regeln vollkommen inkorporiert hat, darf sie überschreiten, aber wer sie perfekt verkörpert, muss sie auch hinter sich lassen. Das prekäre Gleichgewicht der wechselseitigen Bestätigung von Fürst und Hofleuten impliziert derart etwas wie eine Dialektik der Macht. Steht es so ähnlich auch am chinesischen Kaiserhof?37 Die geringste Kleinigkeit – die eine Linie, der eine Pinselstrich – offenbart also kulturell Wesentliches,38 aber dies mag in beiden Fällen sehr andere Implikationen haben. Man kann sicher sagen: Beide verbindet – diesseits oder jenseits von Konzepten – die Praxis. Castigliones Satz und die Aufzeichnungen des supponierten chinesischen literatus mögen zusammenkommen, gerade weil es sich in diesen Äußerungen erst einmal nicht um Philosophie handelt, sondern um Artikulationen praktischer Erfahrung:39 Beide sprechen als Kenner der Künste und selbst darin Tätige (Castiglione malt nicht, muss aber die anderen 37  Kraus vermerkt, dass die Schreibkunst für die Elite auch einen gewissen Weg aus dem Korsett der Machtbeziehungen darstellt, also eine Möglichkeit der Individualisierung und Expressivität. Die außerordentlichen Formzwänge des Habitus, könnte man sagen, wirken als künstlerische contraintes produktiv. Diese unbestreitbare Möglichkeit hat aber keine institutionelle Bedeutung und tangiert die beschriebene politische und soziale Funktion der Schrift nicht. Kunstkritik, d. h. Kritk an ästhetischen Qualitäten der Schreibkunst, wiederum sei oft camouflierte politische Kritik. Vgl. Brushes with Power, 45–52. Kraus’ Beispiele zeigen aber eher einen moralischen Tadel, der auf der Identifizierung von sichtbaren Eigenschaften der Schrift mit charakterlichen des Schreibenden beruht. – Mitzudenken wäre freilich auch das Verhältnis zwischen Schreibkünstler-Beamten und Schreibkünstler-Mönchen bzw. den ersteren nach ihrem Rückzug aus ihren Ämtern: Diese Lebensform oder Existenz des Weisen – in Armut, der Natur nah und der Politik fern – stellt offenbar etwas wie das unabdingbare, definierende Außen zur Hofwelt dar. 38  Ich meine damit nicht die buddhistische Konzentration des Ganzen im Kleinsten. Bei Jullien schieben sich dagegen derartige Überlegungen stets vor historische oder soziologische. Bei der Bemerkung zum lässigen Pinselstrich hat man den Eindruck, er suggeriere eine Nähe zum ‚All-Einen Pinselstrich‘ (yi hua) des prinzlich geborenen Maler-Mönches Shitao, mithin Affinität zwischen westlicher höfischer Lässigkeit und chinesischer chan-buddhistischer Gelassenheit. Zum Mysterium des yi hua vgl. Shitao: Aufgezeichnete Worte des Mönchs Bittermelone zur Malerei. Aus dem Chinesischen übersetzt und kommentiert von Marc Nürnberger, Mainz: Dieterich’sche Verlagsbuchhandlung, 2009, 9–14, 253 f., 257–259. Der Kommentar dieser Ausgabe tut alles, um die Beziehung jenes Pinselstrichs zur Malerei zu relativieren. Aber warum sollte es sich angesichts der immensen kulturellen Bedeutung des Graphierens nicht um einen malerischen (oder schreibkünstlerischen) Strich handeln? 39  Der Einwand, in der chinesischen Kultur fielen Praxis und Philosophie nicht in der Weise auseinander wie im Westen, gilt gerade hier nicht, denn Castiglione, Gracián etc. gehören nicht in die Tradition des zur Schul- und Universitätsphilosophie gewordenen Denkens, sondern der praxisnahen Klugheitslehren oder Anweisungen

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Hofmannsfähigkeiten aufbringen). Begriffe oder Ideologeme also mögen differieren, aber die Praktiken tangiert das nicht. Wie steht es jedoch um deren Verwandtschaft? Auch Praktiken sind ja kulturspezifisch und mit entsprechenden Diskursen verknüpft. Und dieser Zusammenhang besteht selbst auf der scheinbar unmittelbarsten Ebene des physischen Gebarens: Wenn sich durch Körpertechniken Soziokulturelles in die Individuen einschreibt, dürfte sich die Differenz zwischen europäischem und chinesischem skilling eben auch in der einfachsten Geste manifestieren. Ein einziger simpler Strich könnte auch genügen, um jede vermutete Nähe als illusorisch zu erweisen.40 Praxeologische Studien könnten dann zwar das ideologisch Trennende unterlaufen, begegneten aber auf anderer Ebene erneut ganz Unterschiedlichem und vielleicht Unvergleichbarem. Tatsächlich sind ja die Gesten europäischer und chinesischer Maler ex­ trem verschieden, selbst wenn beide Pinsel, Tusche und Papier benutzen. Schon die Art, den Pinsel in der Hand zu halten, ist jeweils anders.41 Die Gemeinsamkeit reduzierte sich dann womöglich sehr bald auf die nur abstrakte, prinzipielle, dass beider Handbewegungen aus einer umfassenden Durchformung des Körpers stammen, in der Modalität aber gingen sie weit auseinander. Darüber hinaus wäre in Rechnung zu stellen, dass nicht nur motorische Fähigkeiten verkörpert werden, sondern genauso auch Haltungen und Gesten der sozialen Interaktion und selbst Gefühle wie etwa Respekt oder Scham.42 Körpertechniken sind die unterste Ebene des Habitus; ihre sichtbaren Spuren im Schreiben oder Zeichnen böten in diesem Fall, diesseits der geschriebenen Inhalte und des zeichnerisch Dargestellten, die beste Gelegenheit, soziokulturell spezifischer zweiter Naturen gewahr zu werden. Kulturen vertrauen ihre höchsten Werte den körperlichen Gesten an; diese speichern geteilte Vergangenheit, aktualisieren sie in der Wiederholung für die Gegenwart und geben sie an künftige Generationen weiter, die die Gesten jeweils mimetisch erlernen. Graphierende Praktiken und die Handhabung ihrer In­ stru­mente wären mithin eminente mnemonische Kürzel für die unterschiedlichen kollektiven Leibgedächtnisse. Die westliche Kultur hat freilich spätestens im 20. Jahrhundert das Zeichnen als allgemeines praktisches Wissen preisgegeben; das alphabetische Schreiben wiederum wird zwar als Zeichensystem, aber kaum als Körpertechnik reflektiert. Im Unterschied dazu hat das Schreiben der chinesischen Schrift viel vom Zusammenhang mit der traditionellen Kultur bewahrt. Die (den Körper beanspruchende) Pflege, Wertschätzung und Deutung der Schrift haben dabei weniger mit praktischen Notwendigkeiten zu tun als mit ihrer Identität

zur Lebenskunst, die ihrerseits – über die Moralisten und Nietzsche bis zu Wittgenstein – jener institutionalisierten Philosophie kritisch gegenüberstehen. 40  Bis vor einigen Jahren behaupteten Kenner der klassischen Musik, am Klang erkennen zu können, ob der oder die Spielende aus Fernost stammt; diese Unterscheidung ist freilich in der globalisierten Welt immer weniger möglich. 41  Michaux’ Handhabung des Pinsels ist bei den Mouvements, deren Graphismen bs zu einem gewissen Grad fernöstlich-kalligraphisch anmuten, völlig anders als die eines chinesischen Schreibkünstlers; vgl. unten, 171 f. 42  Man denke an eine leicht gebückte Haltung in einer von starkem Machtgefälle bestimmten Beziehung oder an das leisere Sprechen eines in der Hierarchie tiefer Stehenden; vgl. Fuchs: Collective Body Memories, 338.

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stiftenden Funktion (und womöglich auch mit ihrem Nutzen für identitätspolitische Zwecke). Praktiken und Diskurse lassen sich zwar analytisch auseinanderhalten, existieren aber nicht separat voneinander. Wie steht es bei der einen Linie oder dem einen Strich außerdem um die Frage von Individualität und Ausdruck, diesen im Westen lange Zeit entscheidenden Anforderungen an Kunst? Auch der chinesische Schreibkünstler investiert seine Persönlichkeit in sein Tun.43 Von einem Meister der Tang-Zeit heißt es, er habe die ganze Palette der Gefühle auf seine Zeichen projiziert: seine Freude und seine Wut, seine Not, seine Qual, sein Glück, seinen Groll, seinen Neid, seine Berauschtheit, seine Langeweile und selbst sein Aufbegehren.44 Doch dergleichen bedeutet offenbar nicht die Präsenz eines bestimmten Individuums. Jene Schrift enthalte den Wind und den Regen, das Wasser und das Feuer, den Donner, die Blitze, Gesänge und Tänze.45 Sie zeugt mithin von einem umfassenden, im Grunde kosmisch weiten Spektrum, also wohl von einer Fähigkeit zur Identifikation mit dem Ganzen. Wenn ein derartiger Künstler seine Sensibilität in der Schrift ausdrückt, geschieht dies in eng gezogenen Grenzen;46 es ist etwas sehr viel Vermittelteres als die (zumindest seit der Moderne) bis zum Exhibitionismus gehende Fetischisierung von Expressivität. Vergleichbar dürfte es etwa der Individualität frühneuzeitlicher Maler sein: Deren jeweilige Eigenart macht der Kennerblick auch unter tausenden Madonnen aus, sie hält sich aber im Rahmen eines von Schulen, Auftraggebern, Sammlern u. a. getragenen Konsenses über künstlerische Anforderungen. Das Werk als Meisterstück ist etwas anderes als das u. a. von der westlichen Museumsgeschichte absolut gesetzte Meisterwerk.47 An welche künstlerischen Phänomene ließe sich bei der Frage nach dem scheinbar Unbekümmerten denken? Welche Manifestationen europäischer und chinesischer Kultur rücken unter diesem Vorzeichen zusammen?48 Wo gerät statt des Machens der legere Akt oder die quasi autopoietische Entstehung in den Fokus? In der Moderne und allemal im 20. Jahrhundert mögen manche Arten westlicher Malerei etwas hervorbringen, was der mit hua bezeichneten Kunst nahekommt.49 Denn zwischen modernem Zeichnen und chinesischer Schreibkunst bestehen Affinitäten in produktionsästhetischer Hinsicht: Die genauen Beobachtungen des eigenen Vorgehens, des Körpers, der Materialien, des Verhältnisses zum Raum, des Zusammenspiels zwischen Auge, Hand, Zeicheninstrument, Inskriptionsträger etc., die Aufmerksamkeit auf die Komponenten der Szene des Graphierens, die Arbeit an dessen Voraussetzungen als Quelle der Produktivität – all das erlaubt, Beziehungen zwischen beiden Tä-

43  Er stellt seine Sensibilität in den Dienst des Schreibens, bis dieses im Zuge einer subtilen Umkehrung dem Ausdruck seiner persönlichen Sensibilität dient; vgl. Billeter: L’art chinois de l’écriture, 11. 44  Vgl. Jullien: Éloge de la fadeur. À partir de la pensée et de l’esthétique chinoises, Arles: Éditions Philippe Picquier, 1991, 127. 45  Vgl. ebd. 46  Innerhalb dieser Grenzen seien die Möglichkeiten jedoch ‚unendlich‘; vgl. Kraus: Brushes with Power, 19. 47  Vgl. Hans Belting: Das unsichtbare Meisterwerk. Die modernen Mythen der Kunst, München: Beck, 1998, 26 f. 48  Spräche man vom Schein des ‚Natürlichen‘, ließe sich gar keine Eingrenzung mehr vornehmen. 49  Vgl. oben, 129, Anm. 2.

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tigkeiten herzustellen. Das Interesse an der ‚Leibhaftigkeit‘ des künstlerischen Tuns, an Gestik und Materialität nicht nur als unvermeidlicher Einschränkung einer Idealität, charakterisiert aber eben erst die westliche Moderne. Was ließe sich dagegen aus der italienischen Kultur des 16. Jahrhunderts anführen, allemal aus einer Hochphase und einer Hochburg des disegno? Chinesischer Malerei und Schreibkunst annähernd vergleichbare Erscheinungen sind Ausnahmen oder haben im Kunstsystem als ganzem einen durchaus anderen Status. Manche Notate oder Signaturen von Leonardo etwa sind so ornamental wirkende Schnörkel, dass das Schreiben – in Spiegelschrift! – Zeichnen geworden zu sein scheint oder eben die Spur eines graphischen Akts diesseits der funktionalen Trennung von Skripturalem und Pikturalem.50 Die Flecken auf Mauern und Wolkenformationen, die Leonardo den Künstlern zur Beachtung empfiehlt, haben heuristische Funktion; indem sie die Einbildung rege halten, dienen sie der inventio, d. h., sie spielen eine begrenzte Rolle im Arbeitsprozess. Das in China so beliebte Anerkennen von Naturerscheinungen als Kunst kennt die europäische Kultur auch: Der besonders schön gemaserte Schnitt durch einen Stein etwa kann geschliffen werden, vielleicht gerahmt, jedenfalls zum Gemälde nobilitiert, und dies allemal, wenn sich die ‚Zeichnung‘ gestalthaft lesen lässt, etwa als Landschaft mit Personen darin. In frühneuzeitlichen und barocken Sammlungen gelten derartige Objekte als Spiele einer experimentierfreudigen Natur, die selbst als Künstler-Schöpfer auftritt. Doch für die übliche Historiographie europäischer Kunst sind dies Nebenwege; sie zählen mehr zur Wissens- und Sammlungsgeschichte, sind somit Gegenstände eher der Kultur- als der Kunstwissenschaft. Jenseits der Epoche der Kunstund Naturalienkabinette haben sich nicht zuletzt die Surrealisten und etwa Roger Caillois, der sich – wie Michaux – aus dem Surrealismus kommend gegen diesen wendet, vehement für dergleichen interessiert.51 Caillois zieht bei seinen hochpoetischen Beschreibungen von Steinen gern Parallelen zur chinesischen Malerei und Schreibkunst. Dergleichen tritt auch ein Erbe der Romantik an, hat diese doch Formen gewürdigt, die aus Naturprozessen und Zufällen emergieren; man denke an Victor Hugos Gebrauch von Wein und Kaffee für seine ‚protoabstrakte‘ Malerei oder an Justinus Kerners Klecksographien. Das besagt jedoch nur einmal mehr, dass sich eher in der Moderne Brücken zwischen westlicher und chinesischer Kunst herstellen lassen als in früheren Jahrhunderten, was vor allem mit Veränderungen im Westen zu tun hat. Billeter verfolgt das eingehend z. B. an den Zeichnungen von Matisse, und nicht zufällig findet er bei Michaux immer wieder Erhellendes zum malerisch-graphischen Produktionsprozess, was sich auf die Tätigkeit des chinesischen Schreibkünstlers übertragen lässt oder diese zumindest approximativ zu verstehen hilft. André Masson, Mark Tobey, Brice Marden und andere haben sich intensiv mit dergleichen Praktiken befasst, zum Teil sich gar darum bemüht, sie sich zu eigen zu machen. Künstler des 20. Jahrhunderts suchen sich auf China zuzubewegen; parallel dazu wird chinesische Kalligra50  Vgl. David Rosand: Drawing Acts. Studies in Graphic Expression and Representation, Cambridge, Univ. Press, 2002, 62–67. 51  Dabei geht es ihm vor allem um den nicht-humanen Ursprung. Die Anerkennung des Zufalls in der westlichen Kunst verachtet er, das heißt, spontane Gesten sind für ihn – in Fortsetzung seiner Surrealismuskritik – nichts als Willkür, die pure Manifestation eitler Subjektivität.

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phie im Westen wie Malerei der jüngeren Vergangenheit rezipiert. Bestimmte schreibkünstlerische Arbeiten, darunter v. a. solche in Graskursive verfertigte, scheinen hochindividuell, exzentrisch und außerordentlich expressiv, kommen also diesen Kunsterwartungen entgegen. Westliche Betrachter können chinesische Kalligraphien in der Regel nicht lesen, und bei diesem Stil ist es auch für chinesische Rezipienten schwierig. Ihre Attraktivität beziehen derartige Schreibkunstwerke aus der extremen Bewegtheit, dem Schwung und der Energie der Striche, den mitreißenden Rhythmen, der Wucht oder Quirligkeit, die sie alle als Manifestationen von unfassbar überbordendem Leben erscheinen lassen. Es liegt nahe, sie wie eine Spielart von abstraktem Expressionismus wahrzunehmen. Auch die Assoziation zum modernen Tanz ist unabweisbar. Der Schrift nicht kundige Rezipienten lassen sich vom Anblick der Bewegungen ergreifen; ihr Verhältnis zu den graphischen Spuren ist eines der Empathie. Hält mithin die Tatsache, dass körperliche Bewegung affiziert, ja, anzustecken vermag, die Chance bereit, kulturelle Unterschiede zu überschreiten? Bietet sie bei aller unbestreitbaren soziokulturellen Spezifik, mit der biologische Notwendigkeiten vollzogen werden, etwas wie eine universelle Basis? Künste der körperlichen Bewegung können tatsächlich am ehesten menschliche Gemeinsamkeit stiften, und alle Künste haben kinetische und kinästhetische Voraussetzungen; sie müssen sie nur hervorkehren. Das kann auch die Schrift – doch in radikaler Form tut sie es um den Preis ihrer Lesbarkeit; sie opfert das, was sie im strikten Sinn zu Schrift macht. Wenn chinesische Schreibkunst, etwa von westlichen Rezipienten, nicht gelesen werden kann, ist sie eigentlich eine verstümmelte Kunst – sie ist dann etwas wie Gesang mit unverständlichem Text –, aber gleichwohl geht davon eine enorme Faszination aus. Denn Schreibkunst verspricht eine Mitteilung und bricht in diesem Fall zugleich ihr Versprechen; das Verbale bleibt dem Rezipienten vorenthalten; er möchte lesen und kann nur sehen. Aber er sieht – und das dürfte das Entscheidende sein – etwas Eminentes: Bewegung, und zwar ohne Akteure und Dinge, Bewegung als Geschehen, das Aktiv und Passiv umgreift, als Zirkulation, Fluss, Prozess, sich anreicherndes Kontinuum… Das heißt, wo der Rezipient Sprache erwartet – gerade dort –, bringt die Kalligraphie den Körper zur Geltung. Sie ruft die im Schreiben und Lesen stillgestellte Motorik in Erinnerung, sie verweist die Literalität auf die Leiblichkeit. Zur Ästhetik der Skizze gehört die Lust am Angedeuteten, Unfertigen, an der Aussparung, am Formlosen; all das dürfte mit unter das Lob des Leeren oder ‚Faden‘ fallen, wie Jullien es prominent gemacht hat.52 Aber vielleicht treffen sich Castiglione und der chinesische literatus weniger in dieser Ästhetik des Potentiellen als in der Hochschätzung des graphierenden Tuns. Geht es nicht beiden um den Akt? Die Unbekümmertheit eignet der körperlichen Bewegung; erst sekundär liest das Auge sie deren Spur ab. Haben westliches und chinesisches Nachdenken über Kunst bei allen Differenzen vielleicht einen gemeinsamen Fluchtpunkt in der Kin-Ästhetik? Ließe sich bei den jeweiligen Gesten ansetzen? Sie sind auf Körpertechniken beruhende Performanzen; als kulturell situierte sind sie interaktiv; sie zeichnen sich selbst auf, sind also mediatisiert; ihre dauerhaften Ergebnisse können sich verselbständigen, aber sie gleichen eher einer Partitur oder einem Skript, das erst durch die Aufführung zu einem Werk 52  Vgl. dazu auch unten, 167 f.

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wird: Jede Rezeption reaktualisiert die festgehaltenen Bewegungen und Rhythmen. Wäre eine Theorie der Geste, die eine von Praktiken, nicht von Lehren wäre, eine Theorie des sich bewegenden und wahrnehmenden Körpers (statt von Bild und Schrift), ein geeigneter Rahmen, um hua und westliches Graphieren vergleichend zu analysieren? Präzisieren lässt sich hier jedenfalls die Beziehung von Michaux’ künstlerischen Unternehmungen zur chinesischen Kalligraphie bzw. zur Vorstellung, die er sich davon macht. Größtes Ansehen genießt die eine quasi-naturhafte Geste; es ist eine des Elans, des Schwungs, der energischen körperlichen Aktion, der im Moment sichtbar werdenden Kraft. Ihr entspricht ein Ergebnis, das jeder Willkür zu entraten scheint, das scheinbar nicht anders sein kann, als es ist. Das Verhältnis des Betrachters dazu sei wie das zu einem Baum, einem Felsen oder einer Quelle.53 Die Äußerung der zweiten Natur ist so kohärent und stimmig wie die der ersten. Nicht von ungefähr wurde dieses Prinzip als dasjenige von Michaux’ eigenen Arbeiten angesehen, der Text über die chinesische Schreibkunst als poietologischer gelesen. Tatsächlich holt sich Michaux Hinweise auf diese für seine eigene Arbeit wichtigen Aspekte aus Texten über fernöstliche Kunst, weil es sie (vermeintlich) in denen zur europäischen nicht gibt. Polemisch legt er diese auf körperlose, mit der Geometrie verbündete Konturen und in der Kalligraphie auf eine nicht-vitale Abstraktheit fest. Anknüpfungspunkte für eine Ästhetik der Spontaneität findet er dagegen in Asien. Doch indem er Überlegungen aus seinen China-Lektüren aufgreift, arbeitet er – malgré lui – am europäischen Konzept der grazia und sprezzatura weiter. Mit dem Rücken zur europäischen Kunst und Ästhetik, mit abgewandtem Gesicht sozusagen, formuliert er das Theorem der linea sola non stentata neu. Die implizite Verbindung dazu zeigt sich auch in der Sprache: Der vollkommen natürlich erscheinenden geschmeidigen Beweglichkeit der aktuellen, nicht mehr mimetischen chinesischen Schrift spricht er ein bemerkenswertes Prädikat zu: „la grâce de l’impatience“.54 Wie vieles andere am Text Idéogrammes en Chine kann man auch diese Qualifizierung auf Michaux’ eigene künstlerische und literarische Unternehmungen beziehen. Sie stehen samt seinen poietologischen Überlegungen in einem facettenreichen Verhältnis zu europäischen Ästhetiken und Theoretisierungen von Linie und Grazie. Man muss freilich bereit sein, diese Ästhetiken und Theoretisierungen nicht vorschnell auf irgendeinen Teil­ aspekt zu reduzieren, sondern sich ihrer Vielschichtigkeit erinnern: Die künstlerische Linie war immer schon mehr und anderes, als es der Ursprungsmythos von der Umziehung eines Schattens oder der Agon um die Feinheit suggeriert. ‚Grazie‘ wiederum bezeichnete weder etwas Dekoratives, noch war sie unabdingbar an neoplatonisches, idealistisches oder sonstiges philosophisches Denken gekettet; ihre Bedeutung lässt sich nicht sozialästhetisch und nicht theologisch festlegen, etc. Michaux’ Beziehung zu all dem ist höchst vermittelt, unter anderem über die Blicke nach China. 53  Vgl. OC III, 851. Diesen letzten Satz von Idéogrammes en Chine bezieht Hafez auf Michaux’ Text; vgl. ebd., 1665. Der Satz erinnert an Formulierungen wie die folgende, doch gerade ohne den Schluss: „Ein Mensch ist zum Felsen wie der Felsen zum Baum, der Baum zum Berg und der Berg zum Dao“; Maldiney: Art et existence, 111. 54  OC III, 841; „die Grazie der Ungeduld“.

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Exkurs: Umwege der Ästhetik oder Trifft Castiglione einen chinesischen literatus?

Auf bildkünstlerischer Ebene und in seiner buchästhetischen Praxis führt dies zu Hybriden: Einzelne Momente der unterschiedlichen Kulturen lassen sich noch erkennen, aber sie werden derart fusioniert, dass auch neue, keiner Zuordnung mehr fähige Phänomene entstehen. Wie meist bei interkulturellen Beziehungen treffen nicht feste Identitäten aufeinander, vielmehr sind uneindeutige, immer schon gemischte, vielfältige im Spiel, die wechselseitige Bezugnahmen überhaupt erst ermöglichen. Auch mit der Theoretisierung verhält es sich kompliziert. Denn die ikonoklastische und okzidentkritische westliche Moderne will von ihrer eigenen Geschichte wenig wissen. Sie sucht ihr den Rücken zu kehren, um sich Anderem, möglichst Fernem und Fremdem, zuzuwenden. Aber weder entkommt sie der eigenen in vielen Medien verkörperten Vergangenheit, noch haben ihre auf ein ‚Andernorts‘ gerichteten Konzepte ohne den Rekurs auf die eigene Geschichte Profil und Tiefenschärfe. Michaux sucht wie viele andere im 20. Jahrhundert Alternativen zur westlichen Kultur in nicht-europäischer, aber diese Abwendungen erweisen sich als Digressionen, aus denen im gelungenen Fall europäische Konzepte neue Anstöße erhalten. Détour und accès stehen sich nicht, wie Julliens Buchtitel suggeriert, als östlich-chinesische und westlich-griechische Strategie der Sinnerzeugung gegenüber. Denn jeder kulturelle ‚Zugang‘ benötigt den ‚Umweg‘. In einer griechischen Vokabel hat sich das niedergeschlagen: Methode ist Umweg, konstatiert etymologisierend Walter Benjamin. Die chinesische Ästhetik und Kultur bieten Europäern kein Ailleurs, aber sie helfen ihnen, sich selbst zu verändern.

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6.1. Eine Linie höchster Reinheit? Michaux’ graphische Praxis und seine Überlegungen dazu haben mit dem Konzept von grazia und sprezzatura wie mit dem Kultobjekt der einen wie auch immer sich auszeichnenden Linie auf vermittelte Weise zu tun. Anders als etwa Apollinaire oder Pasternak hat Michaux keine eigene Lektüre oder Variante der Apelles-Protogenes-Geschichte vorgelegt; angesichts seiner parodistischen Ursprungserzählungen – u. a. Origine de la peinture1 – wüsste man freilich gern, was er aus dem Wettstreit um die feinste Linie gemacht hätte. Dass sich die Erzählung davon jedoch auf Michaux’ eigene künstlerische Unternehmungen beziehen lässt, hat später ein Leser bemerkt. Der Übersetzer Robert Valançay2 schreibt 1971 zur Erstausgabe der poetischen Aphorismen Poteaux d’angle an den Verfasser: Les poteaux sont bien là, certes. Mais les lignes d’angle, à l’intersection desquelles ils sont fichés n’en sont pas moins perceptibles, aussi bien dans le domaine auditif que visuel. Et elles évoquent soudain pour moi cette sorte de bataille de traits que jadis se livrèrent Apelle et Protogène. Vous avez su tracer ici, sur le ou les traits que nous proposent tant de philosophies douteuses, une ligne, plus déliée encore, une ligne qui fulgure à froid pour ne garder que l’essentielle pureté. Vue sous un fort grossissement, cette ligne est une veine à nu de vif-argent qui ­remonte impassiblement, au milieu du fleuve, le courant vain des scories qui l’entourent. Mais ne serait-ce pas là le mercure philosophal?3

1  Ein Höhlenmann hat auf der Wand seiner Behausung zufällige Flecken erzeut. Eine Höhlenfrau (eines anderen Höhlenmannes) sieht darin plötzlich das rote Geschlechtsteil eines Gorillas, dessen Augen und Geste. „Ainsi fut établi parmi les hommes combien l’image des choses est délectable.“ OC I, 35. („So kamen die Menschen darauf, wie köstlich das Bild der Dinge ist.“ Henri Michaux: Wer ich war. Frühe Schriften. Aus dem Französischen von Paul Celan, Kurt Leonhard, Dieter Hornig, Graz/Wien: Droschl, 2006, 44.) Bilder, die etwas repräsentieren, entstehen in dieser Erzählung also erstens zufällig, zweitens aus einem Gestaltensehen, das von sexuellem Begehren bestimmt ist. Die Butades-Fabel (s. auch unten, 196 ff. und 231) wird hier gleich mehrfach parodiert: Auch Origine de la peinture bietet eine Szene zwischen Mann und Frau, aber wohl in einer Dreiecksgeschichte; Licht und Dunkelheit spielen für das Entdecken des Bildes eine Rolle, es geht aber um Sex statt um Liebe und um Koitus statt um Abschied und Gedenken. Parodiert und invertiert wird natürlich auch das Platonische Höhlengleichnis. In der Spuren erzeugenden Geste – dem Werfen von weicher Erde – mag man ggf. eine groteske Vorwegnahme von action painting sehen; vgl. OC I, 1002. Die Geste gemahnt zumindest an die berühmte vom zornigen Wurf des Schwamms; vgl. oben, 110. 2  Unter seinen zahlreichen Übersetzungen aus dem Deutschen sind Kleists Über das Marionettentheater sowie – im Jahr des Briefes an Michaux – Unica Zürns (mehrfach auf Michaux Bezug nehmender Text) Der Mann im Jasmin. Eindrücke einer Geisteskrankheit und Dunkler Frühling. 3  Brief vom 23. Juni 1971; OC III, 1729. „Die Pfosten sind sehr wohl da, gewiss. Aber die Ecken bildenden L ­ inien, an deren Schnittpunkt sie errichtet sind, sind nicht weniger wahrnehmbar, und zwar für das Ohr wie für das

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Aus der Linie höchster Feinheit ist hier also eine der unbedingten Reinheit geworden. Der Wettstreit findet nicht zwischen Malern statt, sondern zwischen einer bestimmten Art Philosophie und einer bestimmten Art Literatur: einer, die im 20. Jahrhundert fortzusetzen scheint, was die institutionelle Philosophie seit langem nicht mehr leistet und was an deren Stelle Popularphilosophien auf dubiose Weise anbieten: Philosophie als Lebenskunst. Gemeint sind mithin Handreichungen, die den Lebensvollzug begleiten, sich auf alle möglichen kleineren, aber auch und gerade auf die grundlegenden existenziellen Fragen beziehen – keine Theorie, schon gar keine systematische, sondern ein Philosophieren, das praktisch realisiert wird. Diese lange Zeit selbstverständliche, in Frankreich in der moralistischen Tradition, in Deutschland etwa von Nietzsche fortgeführte Art der Philosophie fristet inzwischen ihr Dasein im Vademecum für stressgeplagte Manager und in ähnlichen Publikationen. Michaux’ Poteaux d’angle knüpfen gelegentlich thematisch, vor allem aber in Form und Diktion an jene französische Tradition an. Einige Texte scheinen direkt Anweisungen zur Arbeit an einem selbst zu geben: Sie gelten dem Tempo des Lebens, dem Umgang mit eigenen Schwächen, dem Gefühlshaushalt, dem Verhältnis zur Gesellschaft, der produktiven Funktion des Scheiterns u. a.m. Die ersten Zeilen präsentieren das Ganze – als ginge es um die Selbstbehauptung am Hof – als Kampftraining, nur handle es sich um einen „combat abstrait qui, au contraire des autres, s’apprend par rêverie.“4 Die kurzen Texte adressieren den Leser als Du, das aber schnell als Ich durchschaubar ist, und formulieren z. T. direkt Imperative. Das Du oder Ich gibt sich à la Nietzsche seine eigenen moralischen Gesetze;5 diese invertieren die traditionellen und unterlaufen die mit ihnen verbundenen Selbsttechniken, z. B.: „Garde ta mauvaise mémoire. Elle a sa raison d’être, sans doute.“6 Oder: „Non, non, pas acquérir. Voyager pour t’appauvrir. Voilà ce dont tu as besoin.“7 Einige gleichen mit ihrem recette-Charakter8 den moralistischen Maximen. In der bekannten Hülle präsentieren sie unerwartete Botschaften oder auch überhaupt keine. Oft formulieren sie unauflösbare Gegensätze wie „Faute de soleil, sache mûrir dans la glace.“9 Manche verknappen ihre Aussage in kürzesten

Auge. Und sie erinnern mich gleich an diese Art Kampf um die Striche, den einst Apelles und Protogenes geführt haben. / Sie haben es hier verstanden, über dem oder den Strichen, wie sie uns so viele zweifelhafte Philosophien bieten, eine Linie zu ziehen, eine noch viel entfesseltere, eine Linie wie ein kalter Blitz, die nichts als die wesentliche Reinheit übrig lässt. / Stark vergrößert gesehen ist diese Linie eine reine Quecksilberader, die ungerührt mitten im Fluß wieder hochsteigt, auch wenn Schlacken rings um sie herum strömen. / Aber wäre dies hier nicht der Stein der Weisen?“ 4  OC III, 1041; „abstrakte[n] Kampf, der sich, im Gegensatz zu anderen Kämpfen, durch Träumen erlernt.“ Henri Michaux: Eckpfosten. Poteaux d’angle. Aus dem Französischen übersetzt von Werner Dürrson. Mit einer Nachbemerkung, München: Hanser, 1982, 7. 5  „,ta‘ morale“; OC III, 1089; „,deine‘ Moral“. 6  Ebd., 1041. „Bewahre dein schlechtes Gedächtnis. Es hat zweifellos seine Daseinsberechtigung.“ Eckpfosten, 7. 7  Ebd., 1042. „Nein, nein, nicht erwerben. Reisen, um ärmer zu werden. Das ist es, was du brauchst.“ Ebd., 8. 8  Vgl. Ulrike Schneider: Der poetische Aphorismus bei Edmond Jabès, Henri Michaux und René Char. Zu Grundfragen einer Poetik, Stuttgart: Steiner, 1998, (217–229) 218. Ich folge ihr mit der Gattungsbezeichnung; der Apparat der OC spricht dagegen von Fragmenten. 9  OC III, 1043. „Mangels Sonne wisse im Eis zu reifen.“ Eckpfosten, 10.

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paradoxen Syntagmen wie „Skieur au fond d’un puits.“10 Ob es sich bei derartigen verdichteten Bildern um Charakteriserungen der eigenen Situation11 oder rätselhafte Aufforderungen handelt, bleibt ungewiss. Wenn Valançay in seinem Kommentar die Metapher der Eckpfosten aufgreift, erinnert er an die älteste Technik der Landvermessung und damit an einen der Ursprünge der Geometrie und des Wortes ‚Linie‘: Dieses stammt von der aus Flachs (linum) gemachten Schnur, die, zwischen Stöcken gespannt, das in der Natur sonst nicht Vorhandene erzeugt: perfekte Geraden.12 Ein Gelände abstecken, der Gebrauch von Textilem und die mit Naturgegebenem brechende Rektifizierung der Gestalt13 gehören zusammen; die Etymologie von ‚Linie‘ hat sie für das kulturelle Gedächtnis aufbewahrt. Didaktische Kurzformen stehen traditionell mit geometrischen Verfahren in Beziehung: Zwischen zwei semantisch gegensätzlichen Wörtern oder Syntagmen wird im Aphorismus oder in einer konzeptistischen Metapher eine Spannung hergestellt. Die Metapher steht – wie Lichtenberg vermerkte – quer zu konventionellen Vorstellungen: Wo diese mäandern, schlägt die Metapher auf dem kürzesten Weg durch.14 In diesem Fall lässt sich dergleichen über die imaginierten Adynata sagen. Die Gerade ist bei dem spätaufklärerischen Experimentalphysiker auch der Weg der blitzartigen Erkenntnis: der fulguranten Vernichtung von ungeprüft Übernommenem. Der Kurzschluss versetzt dem Leser einen elektrischen Schlag. Eine andere Beziehung zwischen literarischer Kleinform und Geometrie ist das Aphorismen oft zugrundeliegende syllogistische Verfahren: aus zwei Prämissen, Ober- und Untersatz, wird die Schlussfolgerung gezogen. Die drei Schritte bilden eine Figur. Diese wird nicht als passiv vorliegende betrachtet, sondern, wie man eine geometrische Figur ‚beschreibt‘ und damit hervorbringt, so vollzieht man die logische performativ. In der Schlussfolgerung geht sie aus dem Prozess des Dreischritts hervor. Syllogistik lässt sich auch visuell betreiben: in Diagrammen oder linearen Schemata.15 Peirce hat dergleichen mit seinen existential graphs versucht. Die logische Evidenz soll hier als unmittelbar anschauliche begegnen, an die Stelle der algebraischen Formelsprache eine visuelle, diagrammatische Darstellung treten. Das (in diesem Sinn) Geometrische gilt als intuitiv einsehbar. Dem syllogistischen Muster – und genauer: dessen verkürzter Form: dem Enthymem – folgen als rhetorische Konstrukte v­ iele

10  Ebd., 1045. „Skiläufer am Boden eines Brunnens.“ Ebd., 13. 11  Laut dem Verleger Dominique de Roux wollte Michaux die Schrift nicht auf einem weichen Papier wie „au fond d’un puits“; OC III, 1729. Insofern bezieht sich das Bild vom Skilaufen, diesem Spurenziehen im Weiß, nicht nur auf das Schreiben, sondern auch auf die Materialästhetik des Buches. Auf weichem Papier stecken die Buchstaben im Dumpfen und Engen fest. 12  Ausnahmen sind die Horizontlinie, die aber, genau besehen, gekrümmt ist, und die Wasserlinie; sie ist allerdings (im Sinne von Klees Typologie) nur eine passive. 13  Vgl. Manfred Sommer: Von der Bildfläche. Eine Archäologie der Lineatur, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2016. 14  „Wenn man ein altes Wort gebraucht, so geht es oft in dem Kanal nach dem Verstand den das ABC-Buch gegraben hat, eine Metapher macht sich einen neuen, und schlägt grad durch. (Nutzen der Metaphern).” Georg Christoph Lichtenberg: Schriften und Briefe, hg. von Wolfgang Promies, 4 Bde. und 2 Kommentarbde., Frankfurt/M.: Zweitausendeins, 1994, I, Sudelbücher I, F 116, 477. 15  Vgl. z. B. Manfred Sommer: Sammeln. Ein philosophischer Versuch, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1999, 385 f.

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Aphorismen, aber mit jeweils unorthodoxen Ergebnissen; auch bei Michaux gibt es dergleichen.16 Wie Enthymeme werden die Pointen von Aphorismen prozessual erfasst, hier im Vorgang der Lektüre; der in der Verknappung ausgelassene Untersatz gibt ihnen ihren Witz. Er ist sozusagen die verschwiegene Achse, um die sich die Gedankenfigur wie eine Drehtür17 vom Klischee zur überraschenden Einsicht oder zur Erfahrung der Unangemessenheit einer derartigen Erwartung dreht. Natürlich bieten Michaux’ poetische Aphorismen keinen Ratgeber fürs komplizierte Leben im 20. Jahrhundert; scheinbar haben sie, wie die philosophischen, Gelassenheit zum Ziel, tatsächlich aber lassen sie, verdichtet und teilweise enigmatisch, die Erwartung lebenskünstlerischer Anweisungen ins Leere laufen. Statt das Du erfolgreicher durch die Unwägbarkeiten seines Ambientes gleiten zu lassen, bringen sie es zum Stolpern; sie dienen nicht dem Erwerb eines geschmeidigen Habitus, sondern bewirken verwirrtes Innehalten. Wer ihnen folgen wollte, würde als grotesker Clown erscheinen. Denn die Aufforderungen simulieren nur Verhaltensregeln, oft präsentieren sie Autofiktionales. Um (wieder) malen zu können, musste der von Kind auf Alphabetisierte sich ‚entkonditionieren‘ – so Michaux in Émergences-résurgences.18 Daraus wird hier eine grundsätzliche Maxime: „N’apprends qu’avec réserve. / Toute une vie ne suffit pas pour désapprendre, ce que naïf, soumis, tu t’es laissé mettre dans la tête – innocent! – sans songer aux conséquences.“19 Die literarischen Formen der Moralistik gehören zur cortegianesken Kultur, in den Poteaux d’angle dienen ihre entkernten Hülsen dazu, das Selbst der Selbsttechniken zum Verschwinden zu bringen: In der fiktiven Vergangenheit waren wir hier nämlich alle Ameisen.20 Das Innere gleicht dem eines im Glasröhrchen beharrlich und eigensinnig weiterschlagenden Froschherzen,21 es ist durchzogen von autonomen 16  Vgl. z. B.: „Le soc de la charrue n’est pas fait pour le compromis.“ OC III, 1046. „Die Pflugschar eignet sich nicht für den Kompromiß.” Eckpfosten, 14. Der Satz ergibt sich als Schluss eines Enthymems aus zwei impliziten Prämissen. Die zweite ist trivial, die erste enthält dagegen das eigentlich kreative Moment: ‚Auch Pflugscharen sind – anders als die Bibel lehrt – Waffen.’ Und: ‚Eine Waffe eignet sich nicht für den Kompromiß.‘ Daraus folgt der zitierte Satz. Eventuell besteht eine Beziehung zu folgendem Aphorismus: „Depuis longtemps quelqu’un que rien n’appelle à cela, désirerait labourer. Et avec un araire des plus simples, des plus rustiques, des plus primitifs. À cause je suppose des traces de passages qui, là, dans la terre se maintiennent mieux qu’ailleurs, admirables sillons qui parlent au cœur des hommes. / Avant, lorsqu’il voyageait, se sentant nomade, il n’avait pas de ces représentations de sédentaire.” Ebd., 1055 f. „Seit langem wünschte sich einer, den nichts dazu nötigt, Land zu bearbeiten. Und zwar mit einem ganz einfachen, bäuerlichen, möglichst primitiven Ackergerät. Ich nehme an, wegen der Spuren, die man hinterläßt, die sich dort, in der Erde, besser halten als anderswo. Eindrucksvolle Rillen, die zum Herzen des Menschen sprechen. / Zuvor, als er noch umherzog, sich als Nomade fühlte, hatte er diese Vorstellungen des Seßhaften nicht.” Ebd., 29. Das Verhältnis zum Graphieren ist demnach anders geworden, der Wechsel der Lebensform und Produktionsweise aber bedeutet allerhand Ausschlüsse. Die Bildlichkeit erinnert freilich an das schreibende Beackern des eigenen Terrains in der frühen Sammlung Mes propriétés (1930), was den suggerierten Gegensatz zur Phase des Reisens relativiert. 17  Das Bild stammt von Kurt Tucholsky; vgl. Torra-Mattenklott: Poetik der Figur, 49 f. 18  Vgl. oben, 44, Anm. 12. 19  OC III, 1041. „Lerne nie ohne Vorbehalt. / Ein ganzes Leben reicht nicht aus zu verlernen, was du dir, leichtgläubig und unterwürfig, hast in den Kopf stecken lassen – du Einfalt! – ohne an die Folgen zu denken.” Eckpfosten, 7. 20  Vgl. ebd., 1055; ebd., 28 f. 21  Vgl. ebd., 1075; ebd., 63.

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psychischen Mechanismen, den Ticks. Zugleich ist die Physiologie aber in ihre antrainierten Körpertechniken gebannt. Zurückzukommen zu den Gesten, auf die die Hand Lust hat, zum Tanz der Hand, wäre (noch immer) der dringende Wunsch des Ich.22 Valançay zufolge sind die Titel gebenden Eckpfosten da – die Kurztexte als gedankliche Einsatz- und imaginäre Kreuzungspunkte –, aber auch an den Linien dazwischen fehle es nicht: an Zusammenhängen, Querbezügen, Reprisen, Kohärenzen mithin. Es gibt indes noch eine andere Ebene, auf der die Assoziation mit den Linien und dem legendären Agon Sinn macht. Für den Briefschreiber ist Michaux eine Art Apelles, dessen poetische „Lebens(un) weisheiten“23 die philosophischen Angebote der kopflastigen aktuellen Protogenesse ausgestochen haben: Er hat eine ‚reine‘ Linie über den (minderwertigeren) Strich oder über (allzu) viele Striche gezogen. Der Minimalismus seiner Aphorismen überbietet umfangreichere Schriften. Rhetorische Ökonomisierung – Kürze, Dichte, Lakonie, Elliptik – ist hier das äußere Merkmal von Essentialisierung; die Poteaux d’angle realisieren so gesehen noch einmal eine écriture d’épargne, einen Spar-Stil.24 Wenn es in Émergences-résurgences – prinzipiell schriftskeptisch – heißt, Geschriebenes könne nicht schlicht sein wie das ‚arme‘ einlinige Zeichnen,25 ist hier deutlich, dass das Pendant dazu beim Schreiben die Verdichtung ist. Aber nicht nur auf die Poetik der Verknappung lässt sich der Gedanke an die feinen Linien der antiken Künstler beziehen; sie hat auch ein materiales, buchästhetisches Pendant: Michaux widmet bei der letzten Ausgabe von 1981 große Aufmerksamkeit der typographischen Gestaltung der Seiten; namentlich arrangiert er sorgfältig den Weißraum zwischen den Texten.26 Das aus den rivalisierenden Linienzügen der beiden Maler hervorgegangene Bild ist laut Plinius’ Beschreibung höchst seltsam: Die Tafel enthält nur drei dem Blick sich entziehende Linien, ansonsten ist sie leer. In der vormodernen europäischen Bildgeschichte gehört dies zu den Raritäten. Nicht nur die erste, höchst feine Linie des Apelles ist ein Muster an Sparsamkeit der künstlerischen Mittel, auch das ‚Gemälde‘ als ganzes zeichnet sich dadurch aus. Zu sehen gibt es nur so viel, dass der Betrachter ein Verschwinden sieht. Klees berühmtem Diktum gemäß macht Kunst sichtbar.27 Das legendäre antike Bild macht das Unsichtbarwerden sichtbar. Für ein Buch wie Poteaux d’angle ist das ein eindrückliches Analogon. In Idéogrammes en Chine wird „l’instinc­ tive tendance chinoise à effacer ses traces“28 konstatiert; hier gilt dies als Anthropologicum: Das Ich bekennt sich zum „pur, fort, originel désir, celui, fondamental, de ne pas laisser de trace.“29 Für den Schriftsteller – wie im Übrigen auch für den Maler und Zeichner – ist das ein Paradox: Er betreibt qua Metier das Gegenteil, und je mehr ihm das Schreiben gelingt, desto 22  Vgl. ebd., 1077 f.; ebd., 67 f. 23  Werner Dürrson in seiner Nachbemerkung, ebd., 78. 24  Vgl. oben, 109. 25  Vgl. oben, 17 und 39. 26  Vgl. OC III, 1728 und 1733. In einigen Fällen hat er auch nachträglich Texte durch kleineren Weißraum aufgespalten. 27  Vgl. oben, 48. 28  Vgl. oben, 116, Anm. 42. 29  OC III, 1067; zum „reinen, starken, ursprünglichen Verlangen[...], das fundamental ist: keine Spuren zu hinterlassen”; Eckpfosten, 48.

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weiter entfernt er sich von jenem Ziel. Wenn aber gar nicht schreiben als Lösung des Dilemmas ausgeschlossen bleibt – und das ist bei Michaux trotz aller Sprach- und Schreibskepsis der Fall –, bieten einen Ausweg Verfahren, die übliche Proportion von Spuren und Weiß zu verändern. Hier kommt daher dem Nichtsagen ebensoviel Gewicht zu wie dem Sagen; die wenigen lignes, Zeilen, umgibt viel leere Fläche.

6.2. Abjekte Tänzerinnen: zu Valéry und Michaux Die lässige Linie impliziert in der Vormoderne Können und Habitus oder conduite; die mit sprezzatura ausgeführte Bewegung bringt genau das zustande, was im entsprechenden sozialen Ambiente stets gesucht wird; sie entspricht den ästhetischen Anforderungen und erfüllt sie umso mehr, als sie jegliche Erinnerung an den Aufwand ihres Erwerbs getilgt hat. Wenn beim Hofmann-Künstler individuelles Talent und soziale Norm übereinkommen, wird als deren ultimative Bestätigung gerade die Transgression der Regel goutiert; höfische Ideale schließen das Brillieren eines Einzelnen eigentlich aus, aber das Konzept der nonchalanten Regelkonformität lässt eine Lücke für die Singularität, die sich im Regelbruch beweist. Die Divinisierung des Künstlergenies, wie die spätere Renaissance sie pflegt, ist mit Hofmannsidealen kompatibel: Grazie wird bei Vasari in der terza maniera zum Epochenstil und zum Merkmal der individuellen Exzellenz. Der herausragende Künstler übererfüllt die Normen, indem er gegen sie verstößt. Die eine mühelose Linie zeigt dann seine Virtuosität, seine unverwechselbare Hand und sein transgressives Agieren. Doch beidem, Können und Habitus, misstraut die Moderne zutiefst (und auch dem singulären Individuum, das sich nicht an Regeln hält, sondern selbst welche setzt). Im Rahmen des Ästhetik-Diskurses etabliert sich im 19. Jahrhundert ein Denkstrang, der Grazie an die Ränder des Menschlichen verlegt und aus den kulturellen Erwerbungen ganz ausschließt. Im Deutschen vertritt das prominent Kleists Essay über das Marionettentheater, demzufolge Grazie nur noch diesseits des Menschen zu finden ist (wenn schon nicht jenseits, bei Gott, oder im Ringschluss des am tiefsten unter mit dem am höchsten über dem Menschen Stehenden), also in Bereichen ohne ‚höhere‘ Funktionen wie Bewusstsein, Wille, Emotionalität und Moral. Übrig bleiben das pure Animalische, das Physikalisch-Technische, (über Kleist hinaus) das Abjekte und Monströse, das Amoralische oder moralisch Invertierte, das ‚Primitive‘ und bis zu einem gewissen Grad das Außereuropäische, in dem moderne Europäer wissentlich und unwissentlich auch Momente ihrer eigenen Vergangenheit wertschätzen. Michaux teilt diese Konzeptionen mit vielen anderen im 20. Jahrhundert, auch wenn er sich nicht explizit darauf bezieht. Seine Nähe dazu wird evident an einem Text, der mit einer modernistischen Variante des Grazie-Diskurses auffallende Gemeinsamkeiten hat: mit einer berühmten Passage aus Paul Valérys Degas Danse Dessin. Valéry huldigt darin dem Gedanken, dass Grazie der Bewegung sich bei menschlichen Akteuren schwer findet, als rein mechanisch erzeugte oder animalische jedoch sehr wohl existiert; bei Kleist realisieren die an Fäden hängenden Puppen die tänzerische und der fech­

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6.2. Abjekte Tänzerinnen: zu Valéry und Michaux

tende Bär die kampfkünstlerische oder sportliche Grazie.30 Valéry knüpft freilich nicht an ihn an, sondern an Mallarmés Überlegungen zum Tanz, in denen die menschlichen Akteurinnen ebenfalls eskamotiert werden. Mallarmés sogenanntes Axiom in Sachen Ballett lautet in verknappter Form: Die Tänzerin ist keine Frau, die tanzt, denn sie ist keine Frau, sondern eine Metapher, und sie tanzt nicht, sondern erzeugt eine Körperschrift.31 Valéry oder das Ich in seinem Text von 1935 bestätigt diesen grundlegenden Satz durch Autopsie. Ihm ist das Wunder eines gänzlich areflexiven und antigraven Tanzes begegnet, einer Grazie fern alles Menschlichen und ohne jede physische Mühe: Es sieht absolute Tänzerinnen – doch es sind keine Frauen, und sie tanzen nicht.32 Vielmehr sind es méduses, Quallen, die sich schwerelos, von ihren durchsichtigen Schleiern umwogt, im Wasser bewegen. Sanft heben sie ihre Röcke, schwingen hin und her, verändern fließend ihre Form. Und plötzlich lassen sie sich nach hinten fallen und zeigen dem schockierten männlichen Betrachter ihr Geschlecht. Im nächsten Moment aber sind die Rüschen und Falten wieder zusammengerafft, und die Tänzerinnen steigen wie Montgolfières in die Höhe; sie gleichen nun antiquierten Flugapparaten und entschwinden dem Blick in astrische Gefilde. Grazie zeigen hier Lebewesen, die auf der Skala der Organisation und Menschenähnlichkeit noch weit unter Kleists Bären stehen: Es sind Erscheinungen purer, noch nicht einmal individuierter Physiologie. Aber noch mehr: Es sind nicht einmal lebende Wesen. Denn was der ästhetisch faszinierte und voyeurhaft gebannte Zuschauer bestaunt, sind vielmehr Bilder eines Films. Die lieblichen Medusen ziehen, offenbar Protagonistinnen einer wissenschaftlichen Aufnahme, schwebend über eine Kinoleinwand. Grazie ist hier also, diesseits des Menschen und seiner Motorik, Produkt einer hybriden Koppelung von absolutem Kunstbegriff und neuer Medientechnik. Michaux scheint direkt darauf zu replizieren,33 wenn er ein mehr oder weniger autobiografisches Ferienerlebnis berichtet; der Ausarbeitung nach ist es eher eine Art Träumerei als eine Erinnerung:34 Im schlecht beleuchteten Fenster einer kleinstädtischen deutschen oder Schweizer Apotheke sieht er seltsame schlangenartige Wesen; sie sind vom nächtlichen Leben der Stadt und seinen Vergnügungen durch einen Glasbehälter getrennt, an dessen transparente Wände sie sich heften. Eine Aufschrift verrät, worum es sich handelt: um „echte ungarische Blutegel“ (im Original deutsch). Les unes dansaient mollement, les autres, la plupart, sans bouger, serrées comme lézards, se livraient au repos et à la méditation, ou révaient d’un corps blanc, grand comme un étang, mais rouge dès qu’on en a percé la peau, si rouge, si délicieux, si fortifiant. […] Tranquille était leur danse souple, façon feuille flottante de sagittaire, sauf en trois ou quatre, jamais plus, qui folles de vitesse soulevant la tête à la manière d’un serpent naja, puis l’abaissant, la relevant 30  Beide Spielarten sind noch nicht ganz genderspezifisch aufgeteilt; Kleists „Herr C.“ ist selbst Tänzer. 31  Vgl. Stéphane Mallarmé: Ballets/Ballette, in ders.: Kritische Schriften. Französisch und Deutsch, hg. von Gerhard Goebel und Bettina Rommel, Gerlingen: Lambert Schneider, 1998, (168–179) 170 f. 32  „[C]e n’étaient point des femmes et elles ne dansaient pas”; Valéry: Degas Danse Dessin, in ders.: Œuvres. Édition établie et annotée par Jean Hytier, 2 vol., Paris: Gallimard, 1957 und 1960, II, (1163–1240), 1173. 33  Laut Godfroy: Danse et poésie, 60, besteht keine Rezeptionsbeziehung. 34  Vgl. OC III, 1515.

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encore, vite, vite, merveilleusement vite, paraissaient, dans une perpétuelle, mystérieuse prosternation, adresser humbles et vaines prières à leur dieu indifférent qui les oubliait dans la vitrine de cette strasse aseptique. Élan extraordinaire, rapidité extraordinaire, dévotions extraordinaires. Petit était le bocal, mais grave comme une Collégiale. Parfois une du groupe des tranquilles, tout à coup, lâchant la paroi de verre, décollait prestement, filait en souplesse comme une anguille n’a jamais filé, ni surtout pas un phoque, ni une loutre n’a ondulé, montrant en éclairs les rayures jaunes et vertes de son dos nerveux de panthère admirablement lisse (l’autre face est de couleur unie) et glissait, ruban dangereux et passionné dans le lac du petit bocal mal éclairé. Une vague envie me venait… vague, profonde, gênante.35

Der Betrachter ist doppelt beschämt: von seinem Verlangen und weil er, weit weg von zu Hause, so ganz auf sich selbst zurückgeworfen ist. Er klebt am Schaufenster wie die Egel an ihrem Glas. Schließlich reißt er sich von dem Anblick los, versucht sich in die lokalen Biertrinkerfreuden einzufügen, doch es misslingt. Erneut kehrt er zu seinem Faszinosum zurück, zum „bocal de mystère de la Neuhausstrasse […], et je me collais le visage à la vitre froide de l’autre côté de laquelle le désir et l’attention me portaient tumultueusement.“36 Die Unterhaltung spielt sich für ihn hier ab, fern vom sozialen Leben . Als wollte er auf seine berühmten Vorgänger hinweisen, schließt er seine Erzählung mit der rhetorischen Frage: „Quelle femme à portée de main, ou seulement à portée de regard ondulera jamais, en quelque lieu que ce soit, si nerveuse, si merveilleuse, si totalement incompréhensible?“37 Die Bewunderung für den schwerelosen Tanz abjekter Wesen und die Voyeurlust teilt der Text mit dem von Valéry; auch die traditionelle, aber mit den Weichtieren radikalisierte Fusion von Animalität und Weiblichkeit, die die sexuelle Attraktion zu einer perversen macht, ist ihnen gemeinsam. Dazu aber kommen nun die Tatsache, dass es sich um Blutsauger handelt, und die wiederholten religiösen Assoziationen. Valéry deutet ein Sakrales nur als ferne

35  Vents et poussières (1962): III. Vacances [1955], OC III, (173–178) 176. „Die einen tanzten weich, die anderen, die meisten, überließen sich, ohne sich zu rühren, reglos wie Eidechsen, der Ruhe und der Meditation, in der sie von einem weißen Körper träumten, groß wie ein Teich, aber rot, sobald die Haut durchstoßen war, so rot, so köstlich, so stärkend […] / Ruhig war ihr geschmeidiger Tanz, wie der eines schwimmenden Pfeilkrautblattes, außer bei dreien oder vieren, nie mehr, die mit wahnsinniger Geschwindigkeit den Kopf wie eine Naja-Schlange hochreckten, ihn senkten, wieder hoben, schnell, schnell, wunderbar schnell, und in einer anhaltenden, geheimnisvollen Prostration demütige und vergebliche Gebete an ihren gleichgültigen Gott zu richten schienen, der sie im Schaufenster dieser aseptischen Straße vergaß. / Außerordentlicher Schwung, außerordentliche Schnelligkeit, außerordentliche Devotionsgebärden. Klein war das Gefäß, aber ehrwürdig wie eine Stiftskirche. / Manchmal ließ einer aus der Gruppe der Ruhigen plötzlich von der Glaswand ab und löste sich schnell los, schlängelte sich geschmeidig, wie kein Aal es je getan hat, wie noch weniger eine Robbe oder eine Otter sich je gewunden hat; dabei ließ er die gelben und grünen Streifen seines nervösen, bewundernswert glatten Pantherrückens aufblitzen (die andere Seite ist einfarbig) und glitt als gefährliches und leidenschaftliches Band in den See des kleinen schlecht beleuchteten Glases. Eine vage Lust wandelte mich an … vage, tief, beschämend.“ – Zu einer ausführlichen Interpretation vgl. Godfroy: Danse et poésie, 56–69. 36  Ebd., 177; zum „geheimnisträchtigen Gefäß der Neuhausstrasse […], und ich klebte das Gesicht an die kalte Scheibe, von deren anderer Seite das Verlangen und die Aufmerksamkeit mich beunruhigend ergriffen.“ 37  Ebd. „Welche Frau in Reichweite oder nur in Sichtweite wird sich jemals und wo auch immer so nervös, so wunderbar, so vollkommen unbegreiflich schlängeln?“

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6.2. Abjekte Tänzerinnen: zu Valéry und Michaux

verbotene Zone an;38 Michaux forciert dagegen die Beziehung zu kultischem Tanz mit der Erwähnung archaisch anmutender ritueller Gebärden und der Rede vom Mysterium. Der Betrachter fragt sich auch, ob die Egel übereinander herfallen, wie ein derartiger tödlicher Kampf vor sich gehen mag – und was ihn selbst überhaupt daran interessiert. Valérys Vokabel méduse spielt auf den Mythos vom petrifizierenden und dann abgeschlagenen Gorgonenhaupt an, auf Kastration mithin, Michaux’ Ich steht wie festgewurzelt vor einem potentiellen vampirischen Spektakel. Blutdurst, Prosternation und eine gleichgültige Macht – die schaurige Lust an diesem Schauen ist sado-masochistischer Natur. Doch alles spielt sich im Virtuellen ab: Die anziehend-abstoßenden Tänzerinnen, die keine sind und nicht tanzen, sind für den Betrachter unerreichbar. Ein doppeltes Glas befindet sich zwischen ihnen. Die Egel dahinter wirken unwiderstehlich erotisierend und unerbittlich abweisend – wie die Domina; sie sind bedrohlich, aber sie stehen – ein typisches pharmakon – bei den rettenden Medikamenten.39 Der Betrachter selbst spaltet sich in dieser Szene: Er ist konfrontiert mit seinem Begehren und sieht sich dabei zu; er fühlt sein Verlangen und schämt sich dessen. Wenn er sich schließlich abgewandt hat, kehrt er doch wie unter Zwang zurück – der Anfang heißt: „… et toujours je revenais dans cette Neuhausstrasse“.40 Retrospektiv berichtet er von dieser doppelten Bewegung, die ihn im Zwiespalt mit sich selbst zeigt. Die Situation wird von nicht wenigen alterierend wirkenden Komponenten bestimmt: Schaufenster und Glasgefäß, Abend, schlechte Beleuchtung, eine unbekannte Stadt, Ferien, eine unvertraute Sprache, die die Lebewesen noch einmal als fremde, gar ausländische, und zugleich als ‚echte‘ ausweist.41 All diese Faktoren mediatisieren das Objekt der Begierde und diese selbst. Sie halten den Betrachter unabdingbar auf Distanz, aber sie haben den faszinierenden Gegenstand und seine Wahrnehmung auch erst hervorgebracht. Und umgekehrt: Nur unter den besonderen Bedingungen dieses Ortes und Moments entsteht das beunruhigende Verlangen, doch zugleich machen schummeriges Licht, Glas hinter Glas und anderes daraus ein bloßes optisches Spektakel – zur Frustration des Betrachters wie zu seinem Glück. Valérys Quallen erscheinen in einer Filmprojektion, in einem öffentlichen Vorführraum, der Betrachter ist Teil eines Publikums – Michaux’ Ich steht vor den Dispositiven der öffentlichen Präsentation (Scheibe und Glasgefäß) allein, seine Wahrnehmungen macht er fern vom Leben der anderen, um in sich selbst das Privateste und in Form der Scham zugleich die Präsenz der Gesellschaft zu erleben. Die anziehend-abstoßenden Wesen verschwinden dann auch nicht qua Technik 38  „.... la région lumineuse interdite“; Degas Danse Dessin, 1173; „… verbotene Bezirke des Lichts“; Tanz, Zeichnung und Degas. Aus dem Französischen von Werner Zemp, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1996, 20. Zu einer ausführlicheren Interpretation des Textes vgl. z. B. Mainberger: ‚Poursuivre la grâce jusqu’au monstre‘: zum Tanz bei Paul Valéry, in: Poetica. Zeitschrift für Sprach- und Literaturwissenschaft 44.1–2 (2012), 199–228. 39  Vgl. Godfroy: Danse et poésie, 67. 40  OC III, 175; „… und immer wieder kehrte ich in diese Neuhausstrasse zurück.“ 41  Die Herkunftsangabe bei Blutegeln steht offenbar in einer Tradition: Als eine medizinische Neuerung im frühen 19. Jahrhundert zu ihrem millionenfachen Import nach Frankreich führte, erhob sich eine Polemik gegen ausländische Egel, die nun alle französisches Blut saugen würden. Vgl. Georges Canguilhem: Idéologie et rationalité dans l’histoire des sciences de la vie. Nouvelles études d’histoire et de philosophie des sciences, Paris: Vrin, 22009, 76, Anm. 1. Es dürfte im deutschsprachigen Raum ähnlich gewesen sein.

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aus dem Blick, sie beharren vielmehr; das Ich selbst muss die Kraft aufbringen zu gehen. Den Bann bricht es endgültig erst post festum: in der Autofiktion. Seit Mallarmé ist Schreiben eine Metapher fürs Tanzen und Tanzen ein Modell fürs Schreiben. Diese Konvertierbarkeit macht Valérys Text poetologisch lesbar, aber auch bei Michaux liegen diese Beziehungen nahe:42 Dass bei ihm tanzende Blutegel als Gegenstand von Schaulust auftreten, wirkt nicht ganz überraschend, ähneln sie doch bis zu einem gewissen Grad den polymorphen, länglichen, weichen Meidosemen und vielen wurm- und fadenförmigen Graphismen. Die Begegnung in der ‚Neuhausstrasse‘ fügt sich in andere (autobiografische und fiktionale) Reiseerlebnisse ein und auch in Michaux’ Panorama der vielen das künstlerische Tun betreffenden Imaginationen. Die Tusche hat in Émergences-résurgences ihre erzeugende und zerstörerische Eigenmächtigkeit, im Wasser auf dem Papier kann man sich, so der dortige Bericht, selbst ertränken; Striche bringen in Par des traits Welten hervor und tilgen sie wieder. Sind die rote Flüssigkeit saugenden Wesen nicht eine Inversion der schwarze Flüssigkeit absondernden Pinsel? Warten nicht beide gierig auf die weiße Haut, um aktiv zu werden? Auch die Modalitäten der Bewegung teilen sie mit der graphierenden Hand: den Wechsel von Ruhe und bewundernswerter Schnelligkeit, den außerordentlichen Schwung und die außerordentliche Raschheit… Ohne den Begriff zu nennen, erweitern diese eineinhalb Seiten das Repertoire der Texte, die im 20. Jahrhundert nach den Möglichkeiten von Grazie fragen. Hier begegnet sie in ihrer ganzen fesselnden Kraft und – natürlich – gepaart mit Momenten, die den traditionellen edukativen und sozialen Dimensionen zuwiderlaufen. Die Abspaltung vom kulturell Üblichen, die Isolation von der Gesellschaft, der zwanghafte Selbstbezug des Ich sind hier eigens Thema; durchbrochen werden nicht nur soziale Verhaltensregeln, sondern grundsätzliche kulturelle Tabus. Aber auch der Bezug zur künstlerischen Tätigkeit ist erkennbar. Bei Valéry verwirklichen die Quallen, was für Menschen unerreichbar ist: Ihr Tanz exemplifiziert einen absoluten Kunstbegriff, aber dies auch wieder nur qua kinematographischer Technik. Bei Michaux lenken die graziösen Bewegungen die Aufmerksamkeit auf das schauende Ich selbst zurück; der Anblick veranlasst eine höchst zwiespältige Selbstbegegnung, und diese Ambivalenz erstreckt sich auch auf die künstlerische und literarische Produktion. Sind deren Abenteuer am Ende weniger solipsistisch als dieses? Bleibt der Akteur angesichts des seltsamen Lebens, dem er auch in seinen eigenen Arbeiten Raum gibt, paralysiert oder gelingt es ihm, sich dieser Verführung auszusetzen und doch in Bewegung zu bleiben? Vielleicht gilt ja auch dafür, was der Betrachter, irritiert von seiner Lust an der Gewalt, vermutet: „Je ne sais jamais rien de ce que je voudrais savoir.“43 Anderereits kann sich wohl kaum jemand des Eindrucks erwehren, dass sich die mi­ kro­skopischem, präorganismischem Leben verwandten Gestalten von Michaux’ literarischen 42  Die Blutegel begegnen in metaphorischem Sinn auch in dem Prosapoem Premières impressions (OC II, 334–343) von 1949, das Angst vor dem Sprachverlust zu thematisieren scheint. Das Schweigen, das sich in der eigenen Stimme ausbreite und das lyrische Ich trinke und aufzehre, wird als „[m]a grande sangsue“ (ebd., 335) bezeichnet. 43  OC III, 176. „Ich weiß nie, was ich gern wissen möchte.“

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Phantasien und malerisch-graphischen Arbeiten durch eine kaum überbietbare Leichtigkeit auszeichnen; wenn irgend etwas zu graziösem Tanzen befähigt ist, dann sind es diese befremdlichen, dem Abjekten nahen Wesen. Die Graphismen der Mouvements sehen aus, als schwebten sie in klarer Flüssigkeit oder an unsichtbaren Fäden in der Luft. Ihre morphologische Affinität zu den anmutigen Kleist’schen Marionetten ist ebenso deutlich wie die zu den betörenden Quallen und Blutegeln. Und von den Graphismen weiß man: Sie gehen aus alterierten eingefleischten Körpertechniken des Schreibens hervor. Die Beherrschung der Gesten existiert, aber sie wird gestört, auf dass sich das Spektrum ihrer Möglichkeiten erweitert – und die Hand statt zum Schreiben zum Tanzen kommt. Die Bewegungen scheinen kunstlos, die Routine suspendiert zugunsten eines scheinbar vordisziplinären Kritzelns. Ihre Produkte sind Michaux’ (plurale) mühelose Linien: keine virtuosen, sondern ungeschickte, linkische. Die kanadische Choreographin Marie Chouinard hat dies in ihrem Stück Mouvements (2005–2011) aufgegriffen.44 Die Tänzerinnen und Tänzer treten darin als Quasi-Lettern und Quasi-Mikrolebewesen auf; ihre Bewegungen sind von jeder etablierten choreographischen Sprache himmelweit entfernt, ja, sie erinnern kaum mehr an die der (normalen) menschlichen Motorik. Das evidente körperliche Können der Agierenden steht ganz im Dienst von Bewegungen, die den Tanz welcher Kultur auch immer und den Menschen selbst vergessen machen. Sie vollführen groteske Verrenkungen, krabbeln, kriechen, wackeln, schütteln sich, zappeln, treten in Scharen auf, lassen einzelne Glieder für sich agieren, alles in strenger Schwarz-Weiß-Ästhetik mit Inversionen und in flackerndem Licht (im online zugänglichen Trailer auch mit Überblendungen). Wimmelndes zuckendes Leben, verrücktspielende Zeichen, eine scheinbar ganz sich selbst überlassene Physiologie... Analog zu Artauds Konzept handelt es sich um eine Art Tanz der Grausamkeit. Man mag diese performierte abstrakte Expressivität Grazie des 21. Jahrhunderts nennen. Auf andere Weise macht sich die Performance-Künstlerin Lindy Annis die Ähnlichkeit zwischen menschlichen Körperposen und unlesbaren Schriftzeichen zu eigen: In einer Installation mit dem Titel „Simple Souls“ z. B. hat sie seit 2017 einige Male Hunderte von anthropomorphen farbigen Papierfiguren arrangiert, die verschiedene Haltungen zeigen. Die Mini-Skulpturen hängen an Fäden vor einer weißen Wand.45 Sie werfen – die Fabel von der Erfindung der Malerei lässt grüßen – ihre Schatten darauf, und diese erinnern verblüffend an Michaux’ Graphismen:46 Haben die graphischen Gestalten bei ihm etwas Männchenartiges und erwecken sie den Eindruck, in einem unbestimmten Raum zu schweben, so werden die

44  Vgl. https://www.youtube.com/watch?v=oVIUcJRxoMg (zuletzt aufgerufen am 10.9.2019) 45  Annis befragt in ihrem Langzeitprojekt „The Body Archive“ das Nachleben von Ausdrucksgesten und emotionalen Körpersprachen in unterschiedlichen Bildregistern und im alltäglichen Leben. „Simple Souls“, ein Teil dieses Werkkomplexes, bietet kaleidoskopartig unterschiedliche Gesten. Vgl. http://lindyannis.net/portfolio-item/simple-souls/#toggle-id-1 (zuletzt aufgerufen am 17.11.2019) 46  Laut Auskunft der Künstlerin hat sie sich im Vorfeld mit Michaux befasst. Auch eine enzyklopädische Tendenz verbindet beide: Michaux sieht in den Graphismen der Mouvements eine Sammlung innerer Haltungen und unsichtbarer Gesten (vgl. oben, 62), in Annis’ Langzeitprojekt, das an Attitüden des 18. Jahrhunderts, Warburgs Pathosformeln u. a. anknüpft, geht es dagegen um Posen des äußeren, sichtbaren Körpers.

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scheinbar tanzenden marionettenartigen Skulpturen hier zu grammomorphen Gestalten auf der Fläche. Menschenähnliche Körper lassen sich in schriftartige Zeichen konvertieren und umgekehrt. Und in beiden Fällen bleibt der Zweifel, ob es sich nicht vielleicht um das unbekannte Leben winziger Tierchen handelt…

6.3. „Grazie der Ungeduld“ – gratuité der Gesten Die aktuellen chinesischen Schriftzeichen zeigen laut Michaux eine „grâce de l’impatience“.47 Diese Qualifizierung bricht zunächst mit einem orientalistischen Klischee: mit dem von der in Europa sprichwörtlichen chinesischen Geduld. Noch zu Prousts Zeit ist sie selbstverständlich; das fiktive kleine gelbe Mauerstück auf Vermeers Ansicht von Delt, in dem der sterbende Schriftsteller Bergotte das unerreichte Modell seines Schreibens erkennt, stellt ein Muster einer derartigen Hingabe dar. Schicht um Schicht sind die Farben aufgetragen – wie bei den langwierigen diffizilen Lackarbeiten. Michaux’ Syntagma greift das Klischee auf und konterkariert es auf typisch modernistische Weise. Denn Grazie taugt als ästhetische Qualifizierung im 20. Jahrhundert nur, sofern sie mit etwas kombiniert wird, was ihrem traditionellen Verständnis zuwiderläuft: Sie muss an mechanische Vorgänge gekoppelt sein, die, anders als organische, gerade kein natürlich scheinendes Fließen der Bewegung erwarten lassen, und sie muss ein Hohn auf die ästhetisch-ethische Doppelwertigkeit sein, indem sie mit Gewalt, Obszönem, Perversem, Grausamen etc. einhergeht. Die tanzenden Quallen und Blutegel sind Paradigmen. Auf der Folie der sozial- wie der werkästhetischen Konzepte ist die ‚Grazie der Ungeduld‘ ein Oxymoron.48 Es indiziert eine enorme Spannung: lange angesammelte, zurückgestaute Energie und eine plötzlich hervorbrechende Bewegung. Der treffsichere Schlag enthält die beiden gegensätzlichen Komponenten extreme Selbstbeherrschung und augenblickshaftes Loslassen; die entsprechende Geste ist schön oder elegant und zugleich gewaltsam. Auch ein kalligraphischer Akt kann so vor sich gehen. Aber was sollte dies mit der normalen, alltäglichen Schrift zu tun haben? Handelt es sich hier wieder um Mythisierung der chinesischen Schrift? Verfällt Michaux trotz seiner Kenntnisse dieser Versuchung? Eine bekannte, im 18. Jahrhundert gängige Definition von Grazie lautet, sie sei Schönheit in Bewegung. Eine ‚an sich‘, im Zustand der Ruhe, schöne – wohlgeformte, gut proportionierte – Gestalt wird in Bewegung versetzt: die Nymphe läuft, die Chariten tanzen o. ä. Statisch – und statuarisch – gedachte Schönheit geht hier der Grazie voraus, letztere ist ein Zusatz, ein Accidens, sie hängt jener an (wie der Göttin Venus der mobile, verleihbare Gürtel) und von jener ab. Der französische Philosoph Félix Ravaisson hat indes diese Konzeption umgedreht

47  Vgl. oben, 147. 48  In Hinsicht auf die Arbeit an den Affekten wird Grazie auch als „patience sur soi“ (Joubert) bezeichnet; vgl. Raymond Bayer: L’Esthétique de la grâce. Introduction à l’étude des équilibres de structure, Paris: Félix Alcan, 1933, 168.

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6.3. „Grazie der Ungeduld“ – gratuité der Gesten

und die Bewegung zur Voraussetzung gemacht: Er begreift Schönheit als fixierte Grazie.49 Der ruhende Zustand ist einer der Stillstellung, kein gesteigerter oder erweiterter, sondern im Gegenteil ein depravierter; die Dynamik, die in Ravaissons naturphilosophischem Denken allem eignet, insbesondere der belebten Natur, ist hier unterbunden. Eher als eine nachträglich mobilisierte Schönheit wäre die ‚Grazie der Ungeduld‘ so zu denken: als eine, die sich nicht fixieren lässt, weil sie nur in actu existiert. Sie ist eine Formel für Spontaneität. Man kann sich den entsprechenden Akt als den eines in jeder Hinsicht trainierten, von Disziplin und Selbstkontrolle bestimmten Körpers vorstellen, und die Spur, die er ggf. hinterlässt, als die eines durch und durch getrimmten Akteurs. Die Geste mag dann eine gelungene Performanz sein: der perfekte Auftritt, und wenn es ums Graphieren (nicht ums Musizieren oder Weitspringen o. a.) geht, mag ihr bleibendes Resultat ein bewundernswertes Kunstwerk sein. Doch selbst bei einer beiläufigen, alltäglichen Handlung wäre das Prinzip: Dieser durchtrainierte Körper bewegt sich anders als ein ‚normaler‘, was auch immer er tut; die Tänzerin braucht nur ein paar Schritte zu gehen, die Sängerin nur vor sich hinzuträllern, eine Differenz wäre spürbar. Ein derartiger Körper muss gar nicht auf den Rahmen einer Bühne und den besonderen vorgesehenen Moment warten; auch in der Gelegenheitstätigkeit, in jeder beliebigen Geste oder Spur, käme sein Können zutage. Michaux stellt sich die schreibenden Chinesen offenbar in dieser Art wie Hochleistungssportler oder Spitzenkünstler vor, hat er doch schon in seinem frühen Asien-Buch das außerordentliche handwerkliche Geschick der Chinesen bewundert: In ihrer bloßen Alltagsroutine manifestiert sich jene Spontaneität. Ein europäisch sozialisierter Körper könnte die ‚Grazie der Ungeduld‘ dagegen nur aufbringen, wenn er als nicht geübter agieren könnte oder präziser: wenn er die Routine seines Körpers störte. Automatismen sind das, was man nicht bemerkt; sie sind wie die Hintergrundgeräusche in einem Raum, sie laufen mit, umgeben und tragen einen. Henri Lefebvre, Blanchot, Barthes, Certeau, Annie Ernaux und viele andere haben sich in Frankreich diesem Alltäglichen, dem ‚nichts geschieht‘, dem gewöhnlichen ‚es gibt‘ zugewandt, Virilio und Perec haben das infra-ordinaire und infra-quotidien, das Untergewöhnliche und Unteralltägliche, in den Fokus gerückt. Es unterscheidet sich von den gewohnten Betätigungen, z. B. den Pendlerzug um halbacht vom Hauptbahnhof nehmen, durch den Grad des Nicht-Bemerkens, ist aber ebensowenig wie die eingefleischten Praktiken des täglichen Lebens ein aus Verdrängtem konstituiertes psychoanalytisches Unbewusstes.50 Eher lässt es sich mit der Könästhesie in Verbindung bringen: dem allgemeinen diffusen Körper- oder Vitalgefühl, wie etwa Müdigkeit 49  Dies verbindet er auch mit dem Leibniz’schen Gedanken vom Körper als vorübergehend stillgestelltem, verräumlichten Geist. Vgl. Félix Ravaisson: L’enseignement du dessin (1882), hier zitiert nach der leicht zugänglichen englischen Version: On the Teaching of Drawing, in ders.: Selected Essays, ed. by Mark Sinclair, London/ New York: Bloomsbury, 2016, (159–188) 178. Vgl. auch Lars Spuybroek: The Grace Machine: Of Turns, Wheels and Limbs, in: Footprint 22. Exploring Architectural Form: A Configurative Triad (2018), 7–32. 50  Das Alltägliche und ‚Unteralltägliche‘ steht wegen seiner Eigenschaftslosigkeit in Beziehung zum vielfältig konnotierten Neutrum; wie, wäre näher zu untersuchen. Das Neutrum ist nämlich hochambivalent, bald das Selbstverständliche, bald das Atopische. Vgl. z. B. die Liste von ‚Figuren‘ in Roland Barthes par Roland Barthes, Paris: Seuil, 1995, 119, und Barthes: Le Neutre. Notes de cours au Collège de France 1977–1978, Paris: Seuil, 2002. Im zeitgenössischen China ist es für ihn die Neutralität der grauen Uniformen.

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oder Wohlsein, das zur jede Bewegung begleitenden Kinästhesie ins Verhältnis tritt.51 Auch dieses Körpergefühl wäre aber nicht rein als ‚Natur‘, sondern sozusagen bio-soziologisch zu verstehen, ist der Körper doch nie außerhalb der Verflechtung in Umwelt und soziales Leben. Zu diesem Ambientalen gehören auch Neigungen und Vorlieben, denen wir folgen, ohne deutlich um sie zu wissen, geschweige, ihre Gründe zu kennen. Der ‚westliche Körper‘ muss, soll seine Gestik denn ‚Grazie der Ungeduld‘ aufweisen, mit diesem Mitgängigen in Konflikt geraten; es darf nicht länger unauffällig, neutral sein, sondern er muss sich daran reiben und, wenn er agiert und zugleich am schlichten Vollzug seiner Körpertechniken gehindert ist, den Konflikt performieren. Im Nicht-Zusammenpassen kommt das infra-ordinaire selbst zum Vorschein, etwa, wenn die Körpertechnik Schreiben von ihrer Funktion, lesbare Schrift zu produzieren, abgespalten ist und dysfunktional weiter agiert. In der Differenz zwischen einem glatten, ‚normalen‘ Ablauf, bei dem sich wieder und wieder der alphabetisierte und geometrisierte Körper behauptet, und dem ins Stolpern geratenen läge die Chance für eine jener ‚fernöstlichen‘ entsprechenden Spontaneität. Der Bruch mit den erworbenen Fähigkeiten wäre dabei das Moment der ‚Ungeduld‘, nämlich der Unduldsamkeit für das Eingeübte. Was aus diesem Bruch entsteht, ist nicht absehbar, aber es wäre, wie krakelig oder ungelenk auch immer es daherkäme, Gegenstand einer Anerkennung ohne Vorbehalte. Mit der Insistenz auf der derangierten Routine folgt Michaux’ Ästhetik den negativistischen Forderungen der Moderne: nach Bruch, Störung, harter Fügung, Dissonanz, Schmerz etc., dem Strukturmodell des Erhabenen mithin. Es gibt indes noch andere Spielarten der spontanen Geste, die jedes gewaltsamen Moments entraten zu können scheinen. Sie stellen vielleicht Ausnahmen dar, aber im Spektrum der ästhetischen Überlegungen dürfen sie nicht fehlen. Da sind z. B. die Gesten im Zustand der Tagträumerei. Dieser gilt – anders als der Traum oder die drogeninduzierte Halluzination – als Gelegenheit aller möglichen Befreiungen, und zwar nicht nur von denen der Sprache, des Schreibens, der sozialen Verpflichtungen, der Präsenz Anderer, sondern auch von den Zwängen des Künstlertums, der Galerien.52 Die Wachträumerei sei die einzige reine Kunst, hier gehe es tatsächlich um nichts als Lust (­plaisir).53 Insbesondere gibt es, anders als im Leben, wo alles zu etwas dient, keinerlei ­Zwecke und Nützlichkeiten: „Mes gestes, si quelque chose au monde a de la gratuité, ont de la gratuité.“54 Das Wort gratuit ist mehrdeutig: Es heißt zum einen kostenlos, frei, umsonst; was gratuit oder gratis ist, steht außerhalb kommerzieller Waren- und Tauschlogik, gehört vielmehr zu einer des Schenkens oder der Gabe (die auch Prinzipien der Reziprozität kennt, aber andere als die ökonomische Logik) und kann womöglich überhaupt keinen Preis haben. Zum anderen heißt es motiv- und absichtslos; eine derartige menschliche Handlung ist daher auch sinnlos

51  Vgl. oben, 71. 52  Vgl. OC III, 523 und 521. 53  Ebd., 521. 54  Ebd., 523. „Wenn etwas in der Welt gratuité hat, haben meine Gesten gratuité.“

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6.3. „Grazie der Ungeduld“ – gratuité der Gesten

oder sinnfrei: Der acte gratuit ist in der Rechtsgeschichte ein Verbrechen ohne Motiv, für den juristischen, aber auch für jeden ethischen Diskurs bildet er eine Art Loch, aus soziologischer Sicht bleibt er unanalysierbar.55 Das Phänomen des gratuit steht in einem riesigen Feld vielfältig verflochtener Zusammenhänge. Sie können hier nur angerissen werden, auf dass wenigstens eine Ahnung vom Hallraum dieses Stichworts entsteht. Die Unmöglichkeit, das, was gratuit ist, in eine ökonomische oder rechtlich-moralische Ratio einzufügen, eröffnet weitere, über diese hinausgehende Bedeutungsdimensionen: Was keine Ursachen, keine Gründe, keine Zwecke und Ziele kennt, ist auch beliebig, arbiträr, willkürlich, zufällig, kontingent, es ist bedingungslos oder unbedingt. Das kann pure Gewalt sein oder etwas, was Menschen prinzipiell nicht zu Gebote steht; außerhalb aller Konditionierungen und Konditionen zu sein, ist Terror oder das Göttliche oder beides zusammen. Die über allen Gesetzen und Regeln stehende, mit keiner Logik fassbare Gnade (gratia) des augustinischen Gottes erfährt der Mensch als willkürlich oder gar terroristisch. Das Unbedingte ist absolut und absolutistisch, das Bedingungslose gehört zu einer unkontrollierbaren und daher schrecklichen Macht. Aus allem mit Vernunft Nachvollziehbarem ausgenommen zu sein, verbindet das Phänomen des gratuit aber auch mit einem als transgressiv gedachten Ästhetischen, namentlich mit der letzten Endes immer den Regeln spottenden Grazie. Das je ne sais quoi, zeitweise eines ihrer Synonyme, ist ein Pendant zum unergründlichen Gnaden-Erweis wie zum unbegreiflichen acte gratuit, insofern es sich ebenfalls jeder menschlichen Plausibilität, Kohärenzerwartung oder Normativität entzieht. Die Verwandtschaft in dieser Bestimmung ex negativo täuscht aber auch über einen entscheidenden Sachverhalt hinweg: Das wie auch immer exzessive, Grenzen überschreitende und jeden Rahmen sprengende Ästhetische ist stets ein bedingtes Unbedingtes, nie ein absolutes. Die staunenswerte Lässigkeit setzt enorme interiorisierte Disziplin voraus. Die geringfügige Geste kann nur, wenn zahlreiche Bedingungen einer Szene, in der sie auftritt, erfüllt sind, überwältigend expressiv wirken. Die bedingte Unbedingtheit teilt eine derartige Geste mit der von Mauss in seinem Essai sur le don (1923/24) theoretisierten Gabe, sofern diese nicht reduktiv als ein nur utilitaristisches oder rein karitatives Geben aufgefasst wird.56 Das breite semantische Feld von charis und die umfangreiche Begriffsgeschichte, die gratia, grazia, grâce, grace etc. enthält, überschneiden sich mit dem Komplex der Gabe, in der als einer ‚totalen‘ sozialen Tatsache ökonomische, religiöse, juristische, moralische, ästhetische u. a. Dimensionen zusammenkommen. Auf diese beziehen sich auch charis und in wechselnden Akzentuierungen ihre Übersetzungen und zeugen derart vom Ineinandergreifen der verschiedenen Sphären. So gehören etwa zur Semantik des griechischen Wortes alle möglichen Momente des Gabentausches: die festliche Gelegenheit, die Sichtbarkeit des Aktes (In-Erscheinung-Treten), die Gabe selbst und ihre sinnlichen 55  Vgl. Pierre Bourdieu: Raisons pratiques. Sur la théorie de l’action, Paris: Seuil, 1994, 150. 56  Zum Konzept der bedingten Unbedingtheit (inconditionnalité conditionelle) vgl. Alain Caillé: Anthropologie der Gabe, Frankfurt/New York: Campus, 2008, 100–124. Sie bedeutet u. a., „die Unterordnung der instrumentellen Interessen unter die nicht-instrumentellen Interessen der Form und der Selbstdarstellung, unter das Vergnügen an den Dingen und an der Freundschaft“; ebd., 116.

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Eigenschaften (Attraktivität, Glanz), die Haltung des Schenkenden (Huld, Großzügigkeit), die Gefühle des Empfangenden (Freude, Lust), die soziale Bedeutung (Ehre), die Zeichen der Dankbarkeit u. a.m. Die Polysemie ist keine zufällige. In Hinsicht auf das Konzept der Grazie wäre es wichtig, die Gabe und somit auch deren ästhetische Dimension gerade nicht auf der Spur von Derrida als ‚das Unbedingte‘ (inconditionné) und die ‚Gebung‘ (donation) zu denken, weil Grazie sonst nur noch hyperbolisch, erhaben-unfassbar ist,57 mithin theologisch konzipiert wird. Die Abkehr von einer derartigen Lesart wäre gerade auch für künstlerische Kreativität geltend zu machen.58 Wie sich die Gabe andererseits zur theologischen (und juristischen) Gnade und zur nackten Gewalt verhält, bedürfte eingehender Erörterungen. Eine extreme Spielart dieser Beziehung ist jedenfalls der acte gratuit. Die moderne Literatur hat ihn mit allen möglichen Implikationen und Affinitäten zu den genannten Bedeutungsfeldern kultiviert, im existenzialistischen Diskurs avanciert er zum Faszinosum des Absurden.59 Michaux qualifiziert die Gesten des Tagträumers in dieser Art. Jegliche Suche nach ­Regeln scheitert an ihnen, für einen „[m]ouvement fou“60 gibt es weder Grenzen noch Ziele: „Je lance des lances qui ne doivent pas atteindre quelqu’un. Ce n’est pas nécessaire. Mes lances d’emblée traversent le ciel dans son entier. Jamais – sûrement – on n’en vit autant dans aucune bataille, si nombreux que fussent les combattants.“61 Diese Lanzen sind „souverän“62 – wie die Kunst bei Bataille im Denken des Collège de Sociologie der 1930er Jahre. ‚Souveränität‘ ist im französischen Kunstdiskurs des 20. Jahrhunderts eine andere Vokabel für gratuité; auch Artaud versteht sein erneuertes Theater so.63 Es erstaunt daher nicht, dass im nichts als freien Imaginieren auch imaginäre actes gra­ tuits stattfinden: „Sans doute, quand je suis mécontent de la vie, je décapite quelques passants. Les têtes volent autour de moi, sans d’ailleurs y prêter grande attention, sans d’ailleurs y prendre garde, je vais mon chemin.“64 Gewaltphantasien hegen alle, sie toben sich in der Tagträumerei aus, ohne deren Produzenten aus der Ruhe zu bringen; die emotionale Ungerührtheit (ganz zu schweigen von der moralischen Indifferenz) teilen sie mit dem Traum. Die frühen 57  Vgl. ebd., 117–119. Zu einer Derrida-kritischen Interpretation von Mauss’ Essay zur Gabe vgl. auch z. B. Hénaff: Der Preis der Wahrheit. 58  In diese Richtung weisen jüngere Publikationen von Caillé, während er zunächst „die Gabe, die zum Schöpferischen führt“ (Anthropologie der Gabe, 119) zu mystifizieren scheint. 59  Vgl. Iris Roebling: Acte gratuit. Variationen einer Denkfigur von André Gide, München: Fink, 2009. 60  OC III, 523; eine „verrückte Bewegung“. 61  Ebd. „Ich schleudere Lanzen, die niemanden treffen müssen. Das ist nicht nötig. Meine Lanzen durchziehen gleich den ganzen Himmel. Nie – das ist gewiss – hat man je so viele in einer Schlacht gesehen, wie zahlreich auch immer die Kämpfer gewesen sein mögen.“ 62  Vgl. ebd., 524. 63  Darin werden Körper, Stimme, Gesten, Physiognomie etc., also die nicht verbalen Mittel des Theaters, gegenüber der Sprache autonomisiert. Gratuité heißt hier – anders als im Surrealismus – nicht Beliebigkeit, sondern Selbstzweckhaftigkeit, Unmittelbarkeit, Unbedingtheit (im Gegensatz zu Nützlichkeit) u. ä. 64  OC III, 524. „Klar, wenn ich mit dem Leben unzufrieden bin, köpfe ich ein paar Passanten. Die Köpfe fliegen um mich herum; ohne ihnen weiter groß Beachtung zu schenken, ohne mich weiter um sie zu kümmern, gehe ich meines Weges.“

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6.3. „Grazie der Ungeduld“ – gratuité der Gesten

Köpfeabreißer, Alter egos des Verfassers wie ein ‚gewisser Plume‘, offenbaren sich als große Wachträumer. Gleichwohl sind die zweckfreien Gesten unauffällig. Der Tagtraum wird von Zufällen angestoßen und geht selbst mit Zufälligem, Beliebigem um – in dieser Hinsicht wie die Kunst der Surrealisten: Anders als der Traum des Schläfers unterhält er weiter Beziehungen zur Außenwelt, nimmt alle möglichen Anregungen auf und reichert sich mit ihnen an. Wie Michaux’ Text darüber treibt er „ein Spiel mit marginalen und partialen Objekten – Tieren, Knochen, Körperteilen – […], denen vorgängige Bedeutsamkeit abgeht.“65 Die Ästhetik dieser ‚reinen‘ Kunst ist eine der Nichtigkeiten. Der Tagtraum stellt dementsprechend ein Paradoxon dar: Das aus allen Netzen der Plausibilität Gelöste ist etwas rein Kontingentes und zugleich – oder eben darum – ein Skandalon; wenn das entfesselte gestische Leben sich mit nichts in der Welt vergleichen lässt,66 dann handelt es sich um etwas Spektakuläres. Doch wie können Gesten, die sich kaum vom Ambiente abheben, so etwas sein? Michaux hat selbst ein Beispiel für unauffällige, neutrale und zugleich höchster Aufmerksamkeit werte Gesten gegeben: in der poetischen Eloge mit dem Titel Lignes von 1967. Nirgendwo sonst wird so nachdrücklich wie in diesem Text ein Ereignis von Grazie beschworen: von einfachsten, unangestrengten Gesten und ihrer unaffektiert-affektlosen Betrachtung. Das Gedicht hat einen sichtbaren Gegenstand, dem es sich ebenso enkomiastisch wie ekphrastisch widmet: „Sur des lignes tracées sans but sur le papier; sur des pages des lignes“67 heißt es unter dem Titel, was durchaus als Untertitel verstanden werden kann. Das Gedicht ruft une ligne fine auf, nichts Besonderes also, doch eine dünne oder feine Linie, die zugleich eine superlativische ist (eine neue Version der Apelles-Linie?), „une ligne, où plus rien ne pue“.68 Als hätten Linien jemals olfaktorische Qualitäten gehabt! Dass sie ihr abgesprochen werden, ist selbstverständlich, sollte man meinen, doch es geht wohl um die Privation von Eigenschaften überhaupt: Diese schlichte Linie ist einfach nur da. Ansonsten aber ist an ihr alles ungewiss: das Linie-Sein selbst – „une ligne, une ligne, plus ou moins une ligne …“ – und die Einzahl – „une ligne, une ligne… / … une légion de lignes“.69 Diese identitäts-, zahl- und ziellosen Linien sind negativ charakterisiert: Sie entstammen der Ungeduld, insofern sie übliche Erwartungen an Linien zurückweisen oder sich ihnen entziehen: „Pas pour expliquer, pas pour exposer […] / Échappées des prisons reçues en héritage, venues non pour définir, mais pour indéfinir“.70 Und sie werden andererseits so ohne alle Einschränkungen bejaht, wie 65 Pfeiffer: Traum und Tagtraum, 174. 66  Vgl. OC III, 523. 67  OC III, 730 (im Original kursiv). „Über ziellos auf dem Papier gezogene Linien; über Seiten von Linien.“ Dürrson entscheidet sich bei der doppelsinnigen Präposition sur für die räumliche Bedeutung. Seine Übersetzung heißt: „Über ziellos aufs Papier geworfenen Linien; über ganzen Seiten von Linien.“ (Hervorh. von S. M.; im Original kursiv). Linien, in: Henri Michaux: Momente. Durchquerungen der Zeit. Aus dem Französischen von Werner Dürrson, München/Wien: Hanser, 1983, (21–24) 23. 68  Ebd.; „eine Linie, auf der nichts mehr stinkt“; ebd. 69  Ebd.; „eine Linie, eine Linie, mehr oder weniger eine Linie …. / […] „eine Linie, eine Linie … / … eine Legion von Linien“; ebd. 70  Ebd. „Nicht um zu erklären, nicht um auszulegen […] / Gefängnissen entronnen, die sie auf Dauer empfingen, gekommen nicht um festzulegen, vielmehr um nichtfestzulegen“; ebd.

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6. Ästhetische charis im 20. Jahrhundert

es nur einer Haltung der offenen, ausgestreckten Hand (nicht der zum energischen Schlag erhobenen) entspricht: Ihnen begegnet eine Gelassenheit, die keinerlei Ansprüche an Form, Funktion, Leistung, Anordnung, Gekonntheit oder was auch immer stellt; vor allem brauchen sie weder Schrift noch Zeichnung zu sein: „D’aucune langue, l’écriture – / Sans appartenance, sans filiation / Lignes, seulement lignes.“71 In Idéogrammes en Chine ist das Wasser das Formlose und als Nicht-Anhaftendes das Bild des détachement;72 hier sind die Linien eigenschaftslos wie das Wasser, und ihre poetische Evokation versammelt sie mit der üblichen losen Gebärde: in formfreien Abschnitten, seriellen Qualifizierungen, nur in Nebensätzen vorkommenden finiten Verben, variierenden Wiederholungen, unregelmäßig rhythmisiert. Vorgegeben ist ihnen nur der Ort ihres Auftretens. Die mit leichter Hand hingeworfenen graphischen Linien, die das Thema sind, und die legeren verbalen Zeilen haben etwas gemeinsam: Sie erscheinen „à l’horizon de la page“.73 So gesehen, ist es nicht einmal sicher, dass die ‚ziellos auf dem Papier gezogenen Linien‘ graphische sind, handelt es sich doch um ‚Seiten von Linien‘; es könnten also ebensowohl graphematische sein, müssen doch auch Zeilen eines Textes nicht immer ein ‚Ziel‘ haben. Die Uneindeutigkeit zwischen Zeichnen und Schreiben, die Michaux an der chinesischen Schreibkunst so schätzt, ist ihm hier in der französischen Sprache (und im alphabetischen, gedruckten Text) gelungen. Lignes erscheint 1973 noch einmal in der Gedichtsammlung Moments. Traversées du temps. Die Texte darin nennt der Verleger René Bertelé „[p]oèmes-rêveries d’après la drogue, où flotte encore une odeur de drogue...“74 Hat das Poem also mit einem post-drogalen Zustand zu tun? Laufen Gelassenheit, gestes gratuits und bemerkenswert unauffällige Linien in dieser Form der Alteration zusammen? Ist die Grazie des 20. Jahrhunderts ein Effekt von Halluzinogenen? Wenn der Text überhaupt damit in Verbindung zu bringen ist, wäre einer derartigen Vermutung zumindest entgegenzuhalten, dass es sich auch hier nicht um einen Ausdruck von Rauscherfahrungen handelt. Denn diese bringen als solche keine Poesie (und Kunst) hervor. Sollten hier nachträgliche Wirkungen im Spiel sein, dann könnte nichts das Prinzip besser verdeutlichen, dass es zum literarischen Schreiben der Mediatisierung und das heißt auch des zeitlichen Aufschubs bedarf. Das im Körper verankerte Können gilt Michaux als schlechte Routine. Dass alltägliche Fertigkeiten wie das Schreiben hochkomplexe Vorgänge sind, deren Störung Konsequenzen für das System als ganzes haben, wird ihm u. a. an seinen freiwilligen und unfreiwilligen Versuchen deutlich. Es führt ihn allerdings nicht dazu, die normalen Bewegungsabläufe auch positiv zu qualifizieren. Anders der russische Neuropsychologe Alexander Romanowitsch Luria, der Hirnverletzte vor Augen hatte: Diese konnten die einfachsten gelernten Tätigkeiten nicht mehr ausführen; bei ihnen waren das, was er kinetische und kinästhetische Melodien nennt, Bewegungs- und Wahrnehmungsmuster, die grundlegend für das Leben sind, gestört. 71  Ebd., 731. „Schrift, von keinerlei Sprache – / Ohne Zugehörigkeit, ohne Verkettung / Linien, nichts als ­Linien.“ Ebd., 24. 72  Vgl. oben, 120. 73  Ebd., 731; „am Horizont der Seite“, ebd., 24. 74  OC III, 1637; „Gedicht-Träumereien nach dem Drogengenuss, in denen noch ein Hauch von Droge weht...“

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6.3. „Grazie der Ungeduld“ – gratuité der Gesten

Bei einer willentlichen Bewegung werden Impulsketten, so die Erklärung, initiiert und laufen dann dank eines funktionalen Systems, in dem unterschiedlichste Komponenten ‚orchestriert‘ zusammenwirken, von allein ab.75 Dergleichen als bloße Automatismen anzusehen und den funktionierenden Körper maschinenhaft zu denken, ist sehr verbreitet. Wenn man die Metaphorik beibehalten will, dann handelt es sich auch für Michaux – darin ist er ganz unoriginell – beim Körperwissen sozusagen um leidige Ohrwürmer. Man muss sie stören, um sie loszuwerden, um anderes und um überhaupt wieder etwas hören zu können. Die vorhandenen Melodien des Körpers sind abgedroschen. Damit die Gassenhauer überhaupt Musik sein können, so die Überzeugung, muss man sie falsch spielen: Man muss sie verjazzen. Die Linien, die das Gedicht Lignes beschwört, stellen eine Ausnahme von diesem Prinzip dar. Denn auch die absichtslose Geste kommt nicht aus dem Nichts. Und sie stammt nicht aus einer Störung des komplexen funktionalen Systems, das die Performanz der schlichten Bewegung ermöglicht. Auch das Ziehen mit einem Stift, diese kontinuierliche, geschmeidig fließende Bewegung mit einem gewissen Druck, einer Richtung, einem passenden Winkel zur Unterlage, einer gewissen Geschwindigkeit u. a.m., verdankt sich nämlich dem (lange vor dem ersten Drogenkonsum entstandenen) kinästhetischen Gedächtnis. Dieses wird bei jedem Ziehen aktualisiert, und jedesmal passt sich die Bewegung den situativ gerade gegebenen Bedingungen an. So gesehen, läge das Besondere dieser Gesten in Michaux’ Œuvre darin, dass die Hand ausnahmsweise einmal etwas tun darf, was sie scheinbar ganz selbstverständlich kann. Diese Bewegung ist so beglückend, wie wenn inmitten eines anspruchsvoll die Hörgewohnheiten untergrabenden Stücks ein paar Takte eines Kinderlieds erklingen. Hier taucht auf einmal ein simples Linienziehen auf – und wird als kinetisch-kinästhetische Melodie vernehmlich. Gratuité in Literatur und Kunst, die ‚reine‘ Kunst der Träumerei eingeschlossen, lässt sich auch mit Eigenschaftslosigkeit übersetzen; diese stellt ein Faszinosum dar, dessen sich nicht nur Musil angenommen hat.76 Auch die erwähnten französischen Schriftsteller des acte gratuit, des neutre, des infra-ordinaire (seiner soziologischen Spielart), des Absurden umkreisen es.77 Es wäre nicht überraschend, wenn sich auch ‚das Fade‘, das Barthes als Spezifikum der chinesischen Kultur ausgemacht hat,78 als eine Variante davon entpuppte. Jullien hat diese Qualität zu einem zentralen Konzept chinesischer Ästhetik und Kultur überhaupt erhoben.79 75  Vgl. Sheets-Johnstone: Kinesthetic memory, v. a. 47–54. 76  Wie die Eigenschaftslosigkeit in seinem Roman u. a. in Bezug zu Ansätzen der Mystik steht, so auch indirekt zu Konzepten der Grazie. 77  Es gehört zur Attraktivität buddhistischen Denkens für den Westen, dass es Konzepte wie l’infra-ordinaire oder le neutre nicht braucht: Das Gewöhnliche (commun) ist darin nicht dem Außerordentlichen (extra­ordinaire) oder Besonderen (particulier) entgegengesetzt, sondern in ihm eingeschlossen. Vgl. Jullien, Éloge de la fadeur, 132. Und ebenso werden das ‚Abwesende‘, ‚Leere‘, Indifferente, ‚Ferne‘ u. ä. jeweils mitgedacht. Bei Barthes heißt es (vgl. 161, Anm. 50), das Neutrum blitze auf; es hat also Ereignischarakter. Als sich stets Entziehendes ist es unverkäuflich, nutzlos, steht der skeptischen epoché, der philosophischen Apathie und Ataraxie, einer leidenschaftlichen Gelassenheit, dem Zartsinn, dem Heiligen, dem taoistischen wu wei (Nicht-Handeln, Nicht-Wählen), dem Satori im Zen u.v.a. nahe. Das Neutrum hat gute Chancen, die Stelle der Grazie einzunehmen. 78 Vgl. Alors la Chine? Paris: Christian Bourgois, 1975, 8. 79  Zur Behandlung des ‚Faden‘ oder Blassen in der Literatur vgl. auch die Hinweise in Klawitter: Ästhetische Resonanz, 117, Anm. 119, zum Phänomen insgesamt (v. a. mit Rekurs auf Jullien) vgl. ebd., 114–147.

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6. Ästhetische charis im 20. Jahrhundert

Seine Ausführungen erwecken zumindest den Anschein, als gäbe es viele Beziehungen zur europäischen Grazie und zur Problematik dieses polysemischen Begriffs, insbesondere, wenn man die jüngsten Ausläufer des neutre, gratuit etc. in den Blick nimmt. Doch ist das vielleicht nur ein trompe l’œil? Vieles an Julliens Juxtapositionen chinesischer und europäischer Konzepte funktioniert freilich – anregend oder irreführend oder beides zugleich – genau in diesem Sinn. Eine Beziehung aber gibt es zumindest, und die liegt vor allem in der Aktualität: Wenn das Exotikum des ‚Faden‘ das gegenwärtige westliche Publikum anspricht, dann sicher nicht zuletzt, weil Julliens Präsentation des Begriffs okzidentalen Erwartungen an Kunst und Ästhetik entgegenkommt.80 Ein chinesisches ‚Konzept‘ lässt sich, so scheint es, aus philosophischen Texten und Äußerungen zu den verschiedenen Künsten herauspräparieren und wird in einem (eigentlich westlichen) Ästhetikdiskurs verhandelt. An den von Jullien markierten Anschlussstellen ergibt sich dann im Zuge des Vergleichs eine Art Wettbewerb, den – zumindest in diesen Arrangements – die europäische Kunst verlieren muss. Die spätestens seit der Moderne vollzogene kritische Wendung gegen sich selbst hat sie zur Artikulation von Erfahrungen geführt, die den chinesischen affin scheinen; im Fall der fadeur charakterisiert Jullien dies indes (mit Rekurs auf Vladimir Jankélévitch) als fingierte und affektierte Indifferenz, als Maske, vorgetäuschte Naivität u. ä., das heißt, er disqualifiziert es moralisch. Damit bleibt, sosehr seine Überlegungen zu chinesischem Denken, Literatur und Künsten faszinieren, die west-östliche Kontrastierung unbefriedigend. Produktiver für beide Seiten scheint es zu sein, etwa in Hinsicht auf die sinnlich-körperlichen und praxeologischen Aspekte moderner westlicher Zeichnung nach Gemeinsamkeiten mit chinesischer Schreibkunst zu suchen und die Selbstbeobachtungen der Künstler wie die Michaux’ dazu zu nutzen, in aller Vorsicht mögliche Brücken herzustellen. Die Frage, ob und ggf. inwiefern sich europäische und chinesische Ästhetik (in welchem Sinn gibt es überhaupt eine solche?) zumindest in Facetten jeweils sehr umfangreicher Komplexe – z. B. ‚Grazie‘ oder ‚das Fade‘ – treffen, ist daher noch lange nicht beantwortet. In der Beschreibung von graphischen Werken zumindest rücken westliche und östliche Phänomene gleichwohl immer wieder zusammen, etwa so: „Die Zeichen [scheinen] auf die Seite ‚gestreut‘ und lose, als wären sie einfach so liegengeblieben, vom Pinsel dagelassen – anstatt das Ergebnis konzentrierter Aufmerksamkeit zu sein“.81 Diese Worten eignen sich gut, manche Blätter Michaux’ mit Graphismen oder auch die in seinem Gedicht Lignes evozierten zu charakterisieren. Die Verbalisierung gilt jedoch einer im Vergleich zur meisterlichen Kalligraphie der Tang-Zeit ‚einfachen‘, nicht vollkommenen Schreibkunst: einem Muster der fadeur.

80  Etwa dem Wunsch nach dem unlösbaren Enigma im Ästhetischen, nach der Offenbarung von etwas Geheimnisvollem in der Kunst, einem Unsagbaren, das paradoxe oder mythisierende Redeweisen umkreisen, wie etwa die vom Sich-selbst-Zeigen der Bilder, u. ä.; vgl. Wiesing: Sehen lassen, 78–105. 81  Vgl. Jullien: Éloge de la fadeur, 110.

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7. Performanz und Buch-Kunst

In den buchkünstlerischen Arbeiten der fünfziger bis achtziger Jahre erprobt Michaux immer neue Möglichkeiten, den Schreibgestus mit der Buchform, Graphismen mit Drucktext, Bildliches mit Poesie und Essay zu kombinieren. Er produziert eine Fülle von Linien- und Strichtypen und treibt seine Überlegungen dazu voran.

7.1. Gesten mit Horizont Mouvements enthält auf 88 Seiten 64 ‚Zeichnungen‘, dazwischen ein Gedicht mit dem Titel Mouvements und eine postface. Die überschaubare Menge von Abbildungen stammt, wie bereits erwähnt, aus einer enormen Produktion: aus mehr als 1200 Seiten derartiger Graphismen. Der Verleger von Kunstbüchern René Bertelé soll bei der Entstehung des Buches eine entscheidende Rolle gespielt haben, denn in den einzelnen Blättern, die Michaux anfertigte, entdeckte er Serien. Das Buch gehe auf die Intervention dieses Betrachters zurück, laut Michaux ist es mehr Bertelés Werk als sein eigenes.1 Diesem Bericht nach entsteht das Buchformat hier also post festum, es ist eine Art sekundärer Formatierung, die Graphismen werden nachträglich in den Präsentations- und Publikationstyp Buch eingefügt. Aus losen, einzelnen Blättern, die man in variabler Länge an der Wand einer Galerie präsentieren könnte, werden zusammengebundene Seiten, die man mit der Hand umblättert und bei denen man qua Buchformat jeweils zwei nebeneinander sieht; die Serien werden wieder unterteilt oder zusammengeführt zu Gruppen, die einander als Paare gegenüberstehen. Auf den Seiten des Buches besteht jeweils eine Spannung zwischen dem Rhythmus der einzelnen Gesten, die markieren, und einer anderen Art Geste, die diese marks verräumlicht, auf der Seite anordnet.2 Oder anders: Es gibt eine Spannung zwischen einem System der Hori­ zontalen und Vertikalen und den in diesem System befindlichen Graphismen, zwischen den einzelnen Bewegungen oder Gesten und dem Raster, das nicht selbst markiert ist; es ist nicht 1  Vgl. OC II, 598 und 1221 f. (zur aktiven Rolle von Bertelé vgl. auch OC II, 1113 f.). Degleichen ist in Michaux’ Produktion allerdings nicht ganz neu. Schon in der (1938 nicht veröffentlichten) Postface zu Plume précédé de Lointain intérieur (1938) heißt es: „Lecteur, tu tiens donc ici, comme il arrive souvent, un livre que n’a pas fait l’auteur, quoiqu’un monde y ait participé. Et qu’importe?“ OC I, (662–665) 665. „Leser, du hältst also hier, wie es oft vorkommt, ein Buch in der Hand, das der Autor nicht gemacht hat, obwohl eine Welt daran beteiligt war. Und was tut’s?“ Vgl. dazu ebd., 1254–1257, und unten, 226, Anm. 5. 2  Vgl. Noland: Agency and Embodiment, 141.

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7. Performanz und Buch-Kunst

14  Henri Michaux, Mouve­ments, 1951, © Éditions Gallimard.

mit Linien gezogen, aber dennoch in der Disposition immer wirksam: Jede Seite zeigt jeweils individuelle Gesten in einem unsichtbaren Gitter (Abb. 14). Dieses variiert – wie die Graphismen selbst – in der Größe und zeigt sich in verschiedenem Maße verzogen. Es ist nicht völlig starr, sondern kommt auch – so scheint es vor allem beim Blättern – in Bewegung: Die unsichtbaren Geraden stehen nicht im rechten Winkel zueinander, die Zahl der von ihnen angedeuteten Felder ist flexibel (unter einer Vierer-Reihe kann eine Dreier-Reihe stehen), in einigen Fällen wird es etwas verwirrt,3 aber nur ausnahmsweise löst sich das Schema auf.4 Die Einteilung in Felder – wenn es Schriftzeichen wären, würde man sagen: in Zeilen und Kolumnen – ist immer vorhanden; die Graphismen schwirren nicht frei, nicht multidirektionell, über die Fläche, sondern beziehen sich immer auf eine Gitter- oder Rasterstruktur. Michaux hat gegen die europäische Tradition der Tafelmalerei mit ihrer perspektivischen Raumkonstruktion polemisiert; selbst die Malerei des 20. Jahrhunderts habe den Raum nicht angetastet. Auch die Moderne entwindet sich demnach nicht der Macht der Geometrie. Seine eigene Malerei vermeidet konsequent jede Form von Räumlichkeit, sie kennt nur die Fläche oder einen flachen Bildraum der Texturen, aber keinerlei Tiefe. Wenn er nicht malt, sondern graphiert und die Ergebnisse in einem Gitter erscheinen, zeigt sich jedoch auch in seinen Produkten, dass die Dominanz der Geometrie schwer zu brechen ist. Nirgendwo scheint das graphische Tun weiter von der traditionellen Perspektiv3  Vgl. OC II, 560 f. 4  Vgl. OC II, 588.

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7.1. Gesten mit Horizont

konstruktion entfernt, aber ironischerweise behauptet sich just hier deren technisches Hilfsmittel: Im Raster persistiert das Velum. Bezieht man diese Erscheinung nicht auf den Kampf gegen die Malerei, sondern auf den gegen Konventionen der Schriftkultur, muss man sagen: Obwohl die Graphismen auf einzelnen Blättern angefertigt und erst nachträglich zu einem Buch verbunden wurden, folgen sie der topographischen Ordnung der Schrift in Zeilen und Kolumnen. Materialästhetisch – Pinsel, schwarze Tusche auf weißem Papier – spielen die Mouve­ ments auf fernöstliche Kalligraphie an, doch ohne dass Michaux versuchte, chinesische Schriftzeichen nachzuahmen. Nicht nur differieren seine Graphismen von jenen in der Struktur – sie beruhen oft auf dem Schema eines Andreaskreuzes –, sondern auch die Gestik – Pinselhaltung, Art der Handbewegung, deren Richtung auf der Fläche – ist merklich anders. Dem Eindruck einer fernen Verwandtschaft aber wird sich kaum jemand entziehen können. So gemahnt in zeichentheoretischer Hinsicht die Isolierung jedes einzelnen Graphismus daran, dass chinesische Schriftzeichen nicht wie die wenigen Buchstaben des Alphabets sich in unüberschaubar vielen verschiedenen Kombinationen wiederholen, sondern zumindest tendenziell (der Sachverhalt wird damit stark simplifiziert) jeweils ein Wort bilden, also auch für sich allein Bedeutung haben.5 In Hinsicht auf die Gestik des Schreibens aber lässt die Isolierung auch an eine andere Art der Zeitlichkeit denken: Für den chinesischen Schreibkünstler muss jedes Schriftzeichen fertig sein, bevor das nächste entsteht. Die Zeit wird nicht als eine verstanden, die flieht oder vorüberzieht, sondern die Momente folgen als jeweils vollständige aufeinander; sie entspringt sozusagen aus einer Quelle und zeigt sich als eine ununterbrochene Folge von auftauchenden und verschwindenden Figuren.6 Diese Zeitauffassung ist eher Bergsons durée affin, und die Beziehung zwischen den diskontinuierlichen Marken ist eine andere als die, die ein filmisches Sehen dank Nachbild aus einzelnen fixen Bildern erzeugt. Die Ähnlichkeit mag täuschen, bleibt aber auch als durchschaute wirksam: Die Graphismen der Mouvements erzeugen eine Anmutung chinesischer Schreibkunst, und dies gerade – oder vielleicht sogar nur – bei denjenigen, die, wie Michaux selbst, die chinesische Schrift nicht beherrschen.7 Es macht einen der wesentlichen Reize dieser Graphismen aus, dass sie die Betrachtung zwischen verschiedenen Optionen schwanken und keine zum Ziel kommen lassen.

5  Sie sind singularisiert und mit einer einzigen von ihnen zu evozierenden Realität verbunden. Das macht sie zu performativen Akten wie Glückwünschen u. ä. besonders geeignet; vgl. Gernet: L’intelligence de la Chine, 372 f.; vgl. auch Billeter: L’art chinois de l’écriture, 13. 6  Vgl. ebd., 107. 7  Vgl. Mainberger: Die Seite als Horizont. Zu Henri Michaux’ Graphismen, in: Jutta Müller-Tamm/Caroline Schubert/Klaus Ulrich Werner (Hg.): Schreiben als Ereignis. Künste und Kulturen der Schrift, Paderborn: Fink, 2018, (255–275) 268 f. In einem Seminar zu Michaux widersprach mir in diesem Punkt eine chinesische Studentin: Sie identifizierte verschiedene Graphismen als chinesische Zeichen, darunter dasjenige für ‚Mensch‘; andere erinnerten sie an die mit Wasser auf Stein geschriebenen Kalligraphien – man sieht sie heute in China gelegentlich in öffentlichen Parks –, deren Striche an der Sonne unregelmäßig wegtrocknen. – Zum „Horizont der Seite“ vgl. oben, 166.

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7. Performanz und Buch-Kunst

Die Bewegung der Hand ist schwungvoll und von den Bindungen an die Form bestimmter Schriftzeichen befreit, aber sie findet stets in einem vergleichsweise engen Rahmen statt: nicht in großem Format, nicht als unregulierte Bewegung in alle Richtungen und mit dem ganzen Körper, sondern im überschaubaren Feld der Seite. Diese begrenzt die kinetische Freiheit. Sie erlaubt nur die Variation bestimmter Gesten, und dies stets im vorgegebenen Raum. Die rechteckige weiße Seite bildet derart die materiale Grundlage der Betätigung und dient zugleich als kognitiver Rahmen.8 Die graphierende Geste wird also limitiert: von der Seite mit ihrem Format, vom Buch mit seinen Bindungen im wörtlichen und übertragenen Sinn, von den Körpertechniken, die alteriert, aber nicht völlig aufgegeben werden. All diese Momente bilden hier sozusagen den Horizont für die Schreibbewegung, die sich vom Schreibzweck löst: Nur bezogen auf diesen Horizont wird das modifizierende Moment an ihr deutlich. Wenn der Bezugsrahmen des Skripturalen nicht mehr erkennbar wäre, befänden Produzent und Rezipient sich unzweideutig im Bereich des Bildes; damit verlören die Graphismen mit ihrem potentiellen, aber nicht wirklichen Schriftsein ihre differentia specifica. Sie wären Spuren von beliebigen Bewegungen, aber nicht von denen, die irgendwie zum Schreiben gehören und doch nicht zur Schrift führen. Die einzelnen Graphismen lassen sich mangels types nicht in die Kategorie der Schriftzeichen einordnen, aber Tabellen-, Seiten- und Buchformat stellen auf der Ebene der Schriftbildlichkeit die Beziehung zu Geschriebenem her. In Michaux’ poetischen Texten geschieht etwas Ähnliches wie in den händischen Bewegungen des Schreibens: Auch das literarische Schreiben muss sich ‚entkonditionieren‘,9 d. h. in diesem Fall, die Bindung an bestimmte Textformen verlieren. Das Gedicht Mouvements besteht aus Serien von Syntagmen zu wechselnden Stichworten, z. B. zu mouvements, taches, gestes, homme oder signes, etwa: … mouvements à jets multiples mouvements à la place d’autres mouvements [….] Taches taches pour obnubiler pour rejeter pour désabriter pour instabiliser pour renaître pour raturer pour clouer le bec à la mémoire pour repartir […] Gestes gestes de la vie ignorée de la vie de la vie impulsive

8  Vgl. Noland: Agency and Embodiment, 148–154. 9  Vgl. Godfroy: Danse et poésie, 197; vgl. oben, 152.

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7.1. Gesten mit Horizont

et heureuse à se dilapider de la vie saccadée, spasmodique, érectile de la vie à la diable, de la vie n’importe comment …10

Der zeitlich nach den Zeichnungen entstandene Text11 bezieht sich passagenweise beschreibend auf diese und ist seinerseits als offene, potentiell unabschließbare Reihe organisiert. Die Syntax ist weitgehend aufgehoben, finite Verben werden marginalisiert, aber Wortbildung und Grammatik bleiben unangetastet.12 Insofern hält sich auch die Tendenz, das kommunikative Sprechen aufzugeben, in Grenzen; in den sprach-inventiven frühen Texten, aber auch in Paix dans les brisements13 geht Michaux damit viel weiter. Das Gedicht sei über Bewegungen darstellende Zeichen geschrieben, heißt es in einer Anmerkung zum Titel;14 auch das Nachwort spricht wie das Gedicht selbst von signes. Um als solche fungieren zu können, bedürfte es jedoch eines Systems, das es hier nicht gibt. Michaux kommen selbst Zweifel an diesem Begriff, zumal er ihn oft in einem wissenschaftlich-technisch verengten Sinn gebraucht; zwei Jahre später beschwört er die Relevanz der Zeichen für die gegenwärtige Ingenieursepoche auch in der Kunst und entfernt zugleich die Graphismen der Mouvements davon: 10  OC II, 438 f.; Bewegungen, übertragen von Kurt Leonhard, in: Henri Michaux: Dichtungen, Schriften, Frankfurt/M.: Fischer, II, 1971, (291–305) 299 und 301. „… Bewegungen in vielfältigen Würfen Bewegungen an der Stelle anderer Bewegungen […] Flecken Flecken um einzunebeln um zurückzuschleudern um schutzloszumachen um das Gleichgewicht ins Schwanken zu bringen um wiedergeboren zu werden um auszustreichen um dem Gedächtnis den Schnabel zu vernageln um wiederloszufahren […] Gesten Gesten des nicht gewußten Lebens des Lebens des impulsiven Lebens das glücklich ist sich zu verschleudern des ruckweise zuckenden, erektilen Lebens des Lebens als wär der Teufel los, des Lebens, wie es auch sei … ...“ 11  Vgl. Postface, OC II, 599. 12  Vgl. die 1967 von Jean-Luc Steinmetz ausgemachten acht Charakteristika des ‚langen Gedichts‘ bei Michaux, OC III, 1631 f., Anm. 6, und 1632, Anm. 1. 13  Vgl. OC II, 1006 f. 14  Vgl. OC II, 435.

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7. Performanz und Buch-Kunst

C’étaient des gestes, les gestes intérieurs, ceux pour lesquels nous n’avons pas de membres mais des envies de membres, des tensions, des élans et tout cela en cordes vivantes, jamais épaisses, jamais grosses de chair ou fermées de peau. Leur danse faisait l’homme-écrevisse, l’homme-démon, l’homme-araignée, l’homme dépassé, cent mains, cent serpents lui sortant de tous ses côtés en fureur.15

Das Zeichen ohne Darstellung des Menschen, das Zeichen ‚der Situation‘, habe er noch nicht einmal gesichtet. Fast dreißig Jahre später, in Saisir, sucht er wieder oder noch immer danach,16 im letzten Buch, Par des traits, heißt das Programm als erste Zeile des beigegebenen Poems explizit „Gestes plutôt que signes“,17 und am Ende bleibt das Problem der Erarbeitung alternativer Zeichen offen. Es muss offen bleiben, denn Zeichenhaftigkeit ist keine Eigenschaft von etwas, auch nicht von graphischen Marken, sondern eine Funktion, deren Erfüllung ein System voraussetzt.18 Erfolgreich aber sind die graphische Produktion, deren Verbalisierung und die Integration von Graphismen und Text zu neuen Arten des Buches.

7.2. Buch und Zeit In dieser Hinsicht ragt aus den buch-künstlerischen Experimenten vor allem Paix dans les brisements von 1959 heraus: Indem es Essay, Gedicht und Meskalinzeichnungen zusammenführt, stellt es eine Synthese von Michaux’ verschiedenen Registern dar. Es enthält auf vierzehn Seiten je eine Zeichnung, einen Prosatext mit dem Titel Signification des dessins (acht Seiten), einen weiteren mit dem Titel Au sujet de Paix dans les brisements (zwei Seiten) und ein Gedicht mit dem Titel Paix dans les brisements (wiederum vierzehn Seiten).19 Im Grunde handelt es sich um ein Hybrid, verbindet die Publikation doch nicht nur in gleichem Umfang Zeichnungen und Poesie, sondern beide auch noch mit erläuternden Texten. Eine Differenz zu Michaux’ sonstigen bimedialen Publikationen zeigt sich indes schon ganz äußerlich, doch nur an der Originalausgabe. Das Buch ist an der kürzeren Seite der Blätter gebunden und bildet ein Hochformat. Die Seiten werden dementsprechend von unten nach oben umgeblättert: Der Bund befindet sich oben wie bei einem Kalender, dessen Blätter man um eine Spirale herum wendet, oder wie bei einem Notizblock. Von beiden unterscheidet sich das Buch aber auch, denn die (inzwischen nicht 15  OC II, (429–431) 431. „Sie waren Gesten, innere Gesten, diejenigen, für die wir keine Glieder, aber Lust auf Glieder haben, Spannungen, Impulse, und all das in lebendigen Saiten, aber nie dicht, nie dickfleischig oder hautumschlossen. Ihr Tanz machte den Krebs-Menschen, den Dämon-Menschen, den Spinnen-Menschen, den überholten Menschen, dem hundert Hände, hundert Schlangen aus allen Seiten wütend hervorbrachen.“ Der Text Signes erschien zuerst 1954, also drei Jahre nach Mouvements. 16  Die ‚Situation‘ gilt ihm als nicht semiotisierbar; vgl. unten, 194 ff. 17  OC III, 1249; „eher Gesten als Zeichen“. 18  Vgl. oben, 64, 86, und unten, 193. 19  Diese Angaben gelten für die Ausgabe von 1959. – Zum Folgendem vgl. auch Mainberger: Das Fließen der Zeit lesen. Zu Henri Michaux’ Paix dans les brisements, in: Boris Roman Gibhardt/Johannes Grave (Hg.): Schrift im Bild. Rezeptionsästhetische Perspektiven auf Text-Bild-Relationen in den Künsten, Hannover: Wehrhahn, 2018, 245–268.

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7.2. Buch und Zeit

mehr allzu verbreiteten) liegenden Tischkalender sind meist extreme Querformate, d. h., das vertikale Umlegen einer Seite beansprucht nicht viel Platz auf der Arbeitsfläche, und die Länge eines Notizblocks übersteigt aus praktischen Gründen kaum diejenige einer Hand. Die Texte im Anschluss an die Zeichnungen sind zentriert gesetzt, und dies gilt sogar für die Paratexte am Anfang und am Schluss. Die besondere Gestaltung des Buches betrifft tatsächlich alle Details. Im Essay Signification des dessins wird die Aufmachung folgendermaßen kommentiert: „Un rouleau, un kakémono l’aurait rendu mieux qu’un livre, à condition de pouvoir se dérouler, ou un volume à page unique indéfiniment dépliée.“20 Weder Rolle noch Faltblatt21 wurden verwirklicht, das vorliegende gleichwohl unübliche Format ist demnach jedoch der Versuch, einem fernöstlichen Modus der Schrift- und Bildpräsentation einerseits irgendwie nahezukommen, andererseits das westliche gebundene Buch doch nicht aufzugeben. Wie in den Mouvements, wo Graphismen an fernöstliche Kalligraphie erinnern, aber jeweils im Codexformat, d. h. auf Doppelseiten, präsentiert werden, kombiniert Michaux auch hier Reminiszenzen an fernöstliche Kultur der Fläche und Graphie mit Aspekten der okzidentalen.22 Bei einem Buch mit dieser Bindung stellen sich ganz praktische Fragen: Wie liest man es? Wie rezipiert man Bilder in dieser Disposition, wie Texte mit diesem Schriftbild? Und wie beziehen sich bei dieser Anordnung beide aufeinander? Wenn sonst immer wieder die Materialität und Körperlichkeit des Graphierens im Fokus steht, wenn Michaux sie vorführt und zum Gegenstand seiner Überlegungen macht, so sieht sich hier der Rezipient mit den physischen Dimensionen seines eigenen Tuns konfrontiert. Denn in diesem Fall wird unverkennbar deutlich, dass auch der Umgang mit einem Buch Körpertechniken impliziert und dass Lesen und Betrachten mit einem durchaus unselbstverständlichen Gebrauch von Händen, Armen, Augen, Kopf, Oberkörper u. a. verbunden sind. Das große Thema einer Poietik der Gesten wird hier ganz handgreiflich zur Sache der Nutzer. Da das Buch vertikal geblättert wird,23 betrifft die erste Frage seine Positionierung: Legt man es auf den Tisch oder hält man es besser in der Hand? Die letztere Möglichkeit stellt ein 20  OC II, 1000. „Eine Rolle, ein Kakemono, hätte es [sein Thema, S. M.] besser wiedergegeben als ein Buch, sofern es sich aufrollen lässt, oder ein Band mit einer einzigen irgendwie aufgefalteten Seite.“ 21  Der Westen kennt den Leporello, die japanische Buchkultur u. a. verschiedene Varianten der ziehharmonikaartig gefalteten, aber in Cover gefassten Seite, so das accordion und das flutter book; vgl. Kojiro Ikegami: Japanese Bookbinding. Instructions from a Master Craftsman, hg. v. Barbara B. Stephan, New York/Tokyo: Weather­hill, 1986, 3–5. Vgl. auch Enno Giele/Jörg Peltzer: Rollen, Blättern und (Ent)Falten, in: Thomas Meier/ Michael R. Ott/Rebecca Sauer (Hg.): Materiale Textkulturen. Konzepte – Materialien – Praktiken, Berlin/Boston: De Gruyter, 2015, 677–693. 22  Vgl. auch zu weiteren Differenzierungen in der Handhabung der Materialien Noland: Agency and Embodiment, 147–149, sowie Mainberger: Die Seite als Horizont, 267–273. Gegen das lange Faltblatt mögen auch verkaufstechnische Faktoren gesprochen haben, denn dergleichen ist extrem fragil; es wäre wohl bestenfalls in sehr kleiner Auflage in der Art graphischer multiples realisierbar gewesen. Von dem Buchformat erschienen z. T. extrem limitierte Auflagen auf verschiedenen Papiersorten, mit Nummerierung, Signatur und anderen distinguierenden Merkmalen; vgl. OC II, 1366. Dass die ungewöhnliche Bindung überhaupt möglich war, verdankt sich wohl dem Umstand, dass das Buch nicht von einem Verleger, sondern von dem Galeristen Flinker publiziert wurde, vermutet Franck Leibovici (p. c.). 23  Die umfangreiche Studie von Christoph Benjamin Schulz: Poetiken des Blätterns, Hildesheim/Zürich/New York: Olms, 2015, geht nicht auf das Buch ein und, soweit ich sehe, nicht auf diese Variante von Bindung und

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ganz anderes körperliches Verhältnis zum Buch her als das übliche: Der Rezipient muss den haltenden Arm ausstrecken und die Distanz zum Auge je nach Bild oder Text, nach kleinen und größeren Formen auf den Bildern, nach Fließtext oder Alineas etc. justieren. Beim Umblättern muss die haltende Hand sich kurz öffnen, und die andere muss verhindern, dass das Buch herunterfällt: Das Umblättern benötigt in diesem Fall – anders als gewohnt – beide Hände; das Weiterblättern wird dabei jedes Mal für einen kurzen Moment unterbrochen. Zum Betrachten der Zeichnungen mag man diese Haltung wählen, zum Lesen ist sie freilich nicht günstig, denn der Arm ermüdet allzu schnell. Einen analytischen Leser hindert sie auch daran, seinerseits Spuren auf den Seiten zu hinterlassen – was für Buch-Kunst freilich auch einen Vorteil darstellt. Die angemessenere Handhabung mag daher doch die auf einem Tisch sein. Dieser muss tief und – noch mehr – in der Tiefe frei sein. Für den Nutzer wird der Blickwinkel auf das am weitesten von ihm Entfernte allerdings sehr spitz, die Sicht auf die obere Seite perspektivisch verzerrt. Das beeinträchtigt die Möglichkeit der Bildbetrachtung, und die Texte lesen sich schlecht. Abhilfe kann er dadurch schaffen, dass er sich stehend mehr oder weniger über den Tisch beugt. Das verbessert die Optik, ist bei längerem Verweilen, insbesondere beim Lesen, allerdings wieder unbequem. Es bietet sich daher an, am Tisch mit dem Buch vor sich zu sitzen und mit einer Hand dessen obere Hälfte aufrecht zu halten, am besten in einem stumpfen Winkel. Die untere Hälfte sieht man in diesem Fall als liegende Schriftseite im Hochformat, die obere dagegen wie ein Bild an der Wand. Die Blickbewegungen entsprechen dann einer heute bestens vertrauten Situation: Sie alternieren zwischen horizontalen Papieren (oder Tastatur) und vertikalem Monitor. Die bequemste Haltung scheint mir nach einigem Probieren die folgende zu sein: Am Tisch sitzend, stützt man den unteren Teil des Buches an der Tischkante auf und hält die obere aufrecht.24 Es ergibt sich dann zwischen den beiden Seiten ein sehr stumpfer Winkel, der sich auch bis auf 180 Grad vergrößern lässt, aber eher hält man das Buch mit leichtem Knick, z. B. mit der linken Hand oben links und der rechten unten rechts, und blättert von der rechten unteren Seite. Das Blättern erzeugt hier zumindest in einer Hinsicht den gleichen Effekt wie das normale Buch: Jedes Mal sind zwei Seiten gleichzeitig sichtbar, und zwar unvermeidlich. Man kann nicht nur eine Seite aufschlagen, und man kann nicht mehr als zwei aufschlagen; die Paare sind daher genauso obligatorisch wie beim gewohnten Codexformat. Während die Prosatexte und das Gedicht sich jeweils auf mehrere Seiten verteilen, ist daher anzunehmen, dass jeweils Blättern. Zur Räumlichkeit des Buches, die u. a. auch das haptische Moment des Blätterns einbezieht, vgl. z. B. Carlos Spoerhase: Linie, Fläche, Raum. Die drei Dimensionen des Buches in der Diskussion der Gegenwart und der Moderne (Valéry, Benjamin, Moholy-Nagy), Göttingen: Wallstein, 2016. 24  In der gegenwärtigen Typographie unterscheidet man das Buch für die Hand und das für den Tisch; vgl. Ursula Rautenberg: Das Buch in der Codexform und einblättrige Lesemedien, in: dies./Ute Schneider (Hg.): Lesen. Ein interdisziplinäres Handbuch, Berlin/Boston: De Gryuter, 2015, 279–336, hier: 292. Paix dans les brisements fügt sich nicht in dieses Zweiklassensystem.

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zwei Bilder zusammengehören und über die vertikale Doppelseite hinweg ein Bild ausmachen. Tatsächlich schließen die graphischen Markierungen bei jeweils zwei sukzessiven Seiten an der unteren bzw. oberen Blattkante, immer in der Mitte der gezeichneten Struktur, (weitgehend) passgenau aneinander an (Abb.  15). Der Beginn einer neuen Zeichnung ist aber auch eindeutig erkennbar. Man sieht also die Gestalt des oberen Bildes sich im unteren fortsetzen, und beim Umblättern jeweils eine andere, aber auch wieder dominant vertikale Gestalt, die sich wieder in der unteren Seite fortsetzt. Worin besteht nun der Unterschied ­zwischen dieser Wahrnehmung eines Bild­paares in der Vertikalen und der üblichen, bei der auf einer Doppelseite zwei Bilder in der Horizon­ talen nebeneinander erscheinen? Eine Juxtaposition wird vermutlich folgendermaßen wahr­ ge­nommen: Die rechte Seite dominiert, ist der Blickfang, dann springt der Blick auf die linke, wie um die Wahrnehmungsrichtung des verbalen Lesens zu realisieren.25 Wenn es nun keine Hinweise auf eine notwendige Reihenfolge der Betrachtung von links nach rechts gibt, bewegt sich der Blick hin und her. Und in diesem Wechsel vergleicht er die beiden Seiten miteinander. Dieses Sehen ist ein tendenziell analytisches, intellektuelles: Wie die beiden Seiten im Raum bzw. auf der Fläche einander gegenüberstehen, so konfrontiert der Betrachter sie miteinander, sucht nach Ähnlichkeiten und Unterschieden.26 Beim Sehen der Gestalten untereinander ist es dagegen – zumindest in diesem Fall – anders: Das Auge verbindet die beiden Seiten zu einem 25  Dass die Aufmerksamkeit zuerst der rechten Seite gilt, bestätigt die Leseforschung; vgl. ebd., 294. 26  Soll dergleichen nicht stattfinden, dann müssen auf den Bildern eigens Maßnahmen dagegen getroffen werden, z. B. eine auf der linken Seite angeschnittene Gestalt, die sich auf der rechten Seite fortsetzt.

15a und b  Henri Michaux, elfte und zwölfte Zeichnung aus Paix dans les brisements, 1959, © Éditions Gallimard.

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16  Henri Michaux, erste Zeichnung aus Paix dans les brisements, 1959, © Éditions Gallimard.

Kontinuum; es vergleicht nicht, sondern folgt der vertikalen Richtung von oben nach unten, also gewissermaßen der Schwerkraft27 und den in den Graphismen sichtbaren Bewegungen (erst sekundär mag es auch umgekehrt und analytisch verfahren). Veranlasst wird es dazu z. B. dadurch, dass der Bund tendenziell unsichtbar gemacht ist; wo die Seiten aneinanderstoßen, gibt es keinen weißen Rand, der die eine Zeichnung von der anderen separieren würde; die Zeichnung scheint vielmehr über den Bund hinweg weiterzugehen.28 Die Seiten zeigen bäumchen- und baumartige Formen (z. B. Abb. 16), etwas wie einen sich biegenden Stamm mit Verdickungen und Verdünnungen und horizontalen Auswüchsen nach beiden Seiten, bei der elften bis vierzehnten Zeichnung fehlen sie dagegen: Es stellt sich eher der Eindruck einer konkaven Form ein; die vorletzte (s. unten, Abb.  19) wirkt wie ein perspektivisch gesehener Weg mit grasigen Rändern oder ein Fluss. Der Blick darauf mag von sehr weit oben kommen, aus dem Flugzeug, oder auch nur aus Augenhöhe: Es gibt keinerlei Anhaltspunkte für Größenverhältnisse. Die Rinnen und Furchen sind die typischen Gestalten der Meskalin-Visionen; das Gedicht adressiert sie z. B. mit dem Wort sillon. In der Prosa Signification des dessins ist die Rede von einer Art torrent vertical, den 27  Michaux sieht in der Richtung der chinesischen Schrift von oben nach unten eine sympathetische Nachahmung der Natur; vgl. OC II, 997. 28  Auch das Schriftbild ignoriert ihn übrigens: Der Bund verläuft zwischen Textzeilen, nicht zwischen Absätzen, koinzidiert jedoch mit Leerzeilen; die Buchstaben selbst werden nicht davon durchschnitten, die Leserlichkeit bleibt stets gewahrt. Der Bundsteg fehlt jedoch. Bemerkenswert ist auch, dass auf den Innenseiten selbst der Titel über zwei Blätter hinweggehend gesetzt ist; der Bund befindet sich zwischen den Wörtern les und brisements.

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das Ich unter Meskalin mit geschlossenen Augen gesehen habe, von einem tapis vibratile, einem arbre aux fines branches u. a. Das Gesehene „bouillonnait […] devant moi, pour moi, à travers moi, moi aussi bouillonnant“.29 Die Wahrnehmungen und Empfindungen laufen in größter und sich steigernder Geschwindigkeit ab. Was die Zeichnungen festhalten, scheint Michaux eine Art Basisphänomen zu sein, etwas unterhalb der normalen Perzeption Gelegenes. Von der Form angeleitet oder auch verleitet, nennt er diese Gesichte schließlich „l’arbre sans fin, l’arbre de vie qui est une source, qui est, piqueté d’images et de mots et proposant des énigmes, l’écoulement, qui, sans interruption, même d’une seule seconde, traverse l’homme du premier instant de sa vie au tout dernier, ruisseau ou sablier qui ne s’arrête qu’avec elle“.30 Darauf folgt dann der schon zitierte Wunsch nach dem Rollenformat, dem Kakemono, dem Faltblatt: nach einer Präsentationsweise, die dieses Fließen erfahrbar machen kann. Die Codexform, die sich historisch gegenüber der Buchrolle durchsetzt, scheint sich dafür nicht zu eignen, obwohl der Codex metonymisch mit dem Baum verbunden ist: Das Wort codex (aus caudex) stammt von cudere (schlagen) und meint einen abgeschlagenen Baumstamm, zu Schreibtafeln gespaltenes Holz, einen Stapel Holz- oder Wachstafeln, einen Block von Blättern und in diesem Sinn ein Buch.31 Die Metaphorik des Baumes ist in der westlichen Kultur derart aufs engste mit der des Buches verbunden. Michaux vermeidet jedoch gerade diese Verbindung und lässt das Bild vom Baum statt in Vorstellungen von Block, Klotz, Stapel, Tafel, d. h. von handfesten, zähl- und separierbaren Dingen, in solche von Wasser und Sand, von Fließen und Rinnen übergehen. Seine Sehnsucht gilt der Rolle als scheinbarer Materialisierung einer anderen, nicht-westlichen Kultur. Tatsächlich aber hat die Rolle ebenso okzidentale wie ostasiatische Ausprägungen. Der Rotulus hatte auch im Westen im Vergleich zu seinem Nachfolger den Vorzug einer gewissen Dynamik: Er war z. B. fortsetzbar und diente kulturhistorisch weniger der Aufbewahrung als der Unterstützung mündlicher Darbietungen.32 Doch Wünsche und Projektion hin oder her: Die schließlich verwirklichte alternative Präsentationsform der Zeichnungen und Texte ist nicht die Rolle; deren Modell regt hier vielmehr ein Drittes zu Rolle und Codex an. Als Buchobjekt ist Paix dans les brisements eine hybride Kombination aus westlicher und östlicher Schriftkultur (oder aus den Paradigmen von zwei europäischen Medienepochen).

29  Alle Zitate OC II, 995 f.; von einem „senkrechten Sturzbach“, einem „Flimmerteppich“, einem „Baum mit dünnen Ästen“; es „brodelte vor mir, durch mich hindurch, und ließ mich selbst brodeln.“ 30  OC II, 1000; „den endlosen Baum, den Lebensbaum, der eine Quelle ist, der, mit Bildern und Worten übersät und Rätsel aufgebend, das Fließen ist, das, nicht einmal für eine einzige Sekunde unterbrochen, den Menschen vom ersten Augenblick seines Lebens bis zum letzten durchzieht, Bach oder Sanduhr, die nur mit dem Leben selbst anhält.“ 31  Das Codexbuch kennzeichnet der Aufbau des rechteckigen Buchblocks aus Lagen; dieser wird durch eine Bindung zusammengehalten und mit einem Einband oder Umschlag bedeckt. Vgl. Rautenberg: Das Buch in der Codexform, 281. 32  Vgl. ebd., 323.

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17  Henri Michaux, achte Zeichnung aus Paix dans les brisements, 1959, © Éditions Gallimard.

Die Zeichnungen weisen im Vergleich mit anderen aus Michaux’ Œuvre die Besonderheit auf, dass einige von ihnen Schrift enthalten. Es sind kursiv geschriebene Wörter, zumindest Silben, einige davon lesbar, z. B. auf der zweiten Zeichnung imprimé, je, totalement, auf der achten plis, pétillants, chiffonés (Abb. 17), auf der neunten grotesque (Abb. 18). Wichtig ist hier indes weniger ihre Bedeutung als die Tatsache, dass die Zeichnungen aus einem vielfach multiplizierten Auf und Ab hervorgehen, aus Bewegungen, wie sie beim kursiven Schreiben gemacht werden. Die entsprechenden Gesten sind dabei verkleinert, minimiert zu winzigen Zickzack-Bewegungen des meskalintypischen Vibrierens; daher sind Linien z. T. auch nur noch getüpfelt. Man hat den Eindruck, die Zeichnungen könnten eine vor Schnelligkeit und Verkleinerung unleserlich gewordene Schrift sein. Die Wörter in Schreibschrift sind (teilweise) leserlich gebliebene Spuren von einer Schreibtätigkeit, die sich in ihnen noch als solche erkennen lässt. Die übrigen graphischen Markierungen resultieren aus schreibenden Gesten, aber diese sind derart rudimentär, dass sie nicht mehr zu Schriftzeichen führen. Wo dagegen Buchstaben oder gar Wörter sichtbar sind, hat das kursive Schreiben mit Hand sich nicht derart beschleunigt, dass es nur Zickzack produziert, sondern es formt sich noch zu Buchstaben, und diese bilden noch Sequenzen, die z. T. sogar leserlich und lesbar sind. Das Auf und Ab ist noch Schrift. Oder umgekehrt: Stellenweise hat sich die zitternde Geste so verlangsamt, dass wieder Buchstaben hervortreten. Aus der gleichen Geste gehen also – bei unterschiedlicher Geschwindigkeit – nicht identifizierbare graphische Markierungen oder

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18  Henri Michaux, neunte Zeichnung aus Paix dans les brisements, 1959, © Éditions Gallimard.

erkennbare Buchstaben hervor.33 Die Nähe, ja, die Übergängigkeit zwischen Zeichnung und Schrift wird auch durch die Zeilenform einiger Zeichnungen suggeriert: Die in der Horizontalen angeordneten Markierungen erinnern an unterschiedlich lange und gebrochene Zeilen – und somit an die eines Gedichts. Die Zeilenwechsel, wie sie zu Poesie gehören, finden sich in Paix dans les brisements mithin als handschriftliche, kursive in einer Zeichnung und als gedruckte im zweiten Teil des Buches, im gleichnamigen Gedicht: Die zentriert gesetzten Zeilen bilden mit ihren jeweils unterschiedlichen Längen ihrerseits eine Art Baum, einen vertikalen Stamm und horizontale Äste, nur hier aus gedruckten statt handgeschriebenen Wörtern.34 Schrift und graphisches Zickzack scheinen an einzelnen Stellen ineinander umzuschlagen; an anderen dagegen besteht diese Ambiguität nicht, z. B. auf der neunten Zeichnung (Abb. 18): Das Wort grotesque ist eindeutig der Zeichnung nachträglich hinzugefügt, es über-

33  Dem Goodman’schen Konzept von Schrift nach müssen alle tokens einem type eindeutig zugeordnet werden können, die Empirie aber kennt Übergänge zwischen den Zeichen (in einer Handschrift können z. B. ‚a‘ und ‚o‘ ununterscheidbar sein) und Graphismen, bei denen unklar ist, ob sie überhaupt Schriftzeichen sein sollen. Im vorliegenden Fall enthält z. B. die sechste Zeichnung (OC II, 985) einen Zickzack, den man als ‚u‘ und ‚n‘, somit als das Wort ‚un‘ deuten könnte, es mag aber auch einfach nur ein krakeliges Auf und Ab sein. Vgl. auch unten, 187. 34  Vgl. OC II, 1002–1010. Auf der zweiten Zeichnung findet sich, wie erwähnt, das Wort imprimé (gedruckt). – Es gibt eine gewisse Ähnlichkeit mit Carlfriedrich Claus’ „Wortstamm“ (1960), vgl. Haldemann (Hg.): Linea. Vom Umriss zur Aktion, 241, Abb. 147.

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schreibt die graphischen Marken.35 Wenn man es entziffert hat, ist der Effekt ähnlich wie bei Bildtiteln, die benennen, was man ohnehin sieht: ‚Stillleben‘, ‚Landschaft‘, ‚Schwarzes ­Quadrat‘ und dergleichen. Der Eindruck von grotesken Gestalten – bei Michaux sind es oft Köpfe, in diesem Fall gemahnen runde Formen an Augen, ihre Multiplikation in der Senkrechten an Rückenwirbel – wird von der Aufschrift bestätigt; die Zeichnung sagt, wie sie wirkt: grotesk. Indem das Geschriebene aber dem zu Sehenden nichts hinzufügt, streicht es sich als verbale Mitteilung durch. Ein Wort im Bild, das sich zu diesem tautologisch verhält, will offenbar nicht gelesen, sondern gesehen werden: als Teil des Bildes, hier als Graphisches, das zwar alle Bedingungen von Schrift erfüllt, aber deren erwartete Leistung, etwas mitzuteilen, performativ negiert. Schrift in den Zeichnungen erweckt die Hoffnung, die schwer entzifferbaren Schriftzüge würden im gedruckten Text transkribiert; der Leser-Betrachter geht also zwischen Prosa, Gedicht und Zeichnungen hin und her und sucht in ersteren nach verbalen Hilfen für letztere. Die Prosa weist, wie zitiert, auf die Baumform hin, das Gedicht bietet ebenfalls Referenzen auf die Zeichnungen, wenn auch nur partiell Entzifferungen der krakeligen Schriftzüge. Es verbalisiert die gesehenen Formen, z. B. als Augen, Schwarm, Wellen, Furche… Ausführlich beschreibt es – ähnlich wie Misérable Miracle – gestalthafte Anmutungen, die aus schnellem Zickzack hervorgehen: solche von Architektur, Säulen, Portiken, Pavillons, Minaretten, riesigen gotischen Monumenten in Flamboyant-Stil, vielfachen Falten, wurmartigen Stickereien, Stalaktiten und von allen möglichen anderen faden- und linienförmigen Phänomenen.36 Die baumartigen Gestalten sowie die Rinnen und Furchen der Zeichnungen, die vertikalen Strukturen, sind damit verbal bezeichnet, aber das Gedicht bezieht sich, wie schon angedeutet, auf die Zeichnungen auch mit seiner eigenen visuellen Gestalt: Typographisch hat es selbst einen baumförmigen Umriss; in diesem Sinn ist es eine Art visueller Poesie oder Figurengedicht.37 Die Zeichnungen wiederum erinnern ihrerseits an zentriert angeordnete Zeilen. Derart rücken Zeichnung, die scheinbar aus handschriftlichen Zeilen hervorgeht, und der Umriss eines gedruckten Gedichts visuell zusammen. Es ist jedoch nicht nur die Baumform, die beide teilen. Michaux selbst sieht neben dieser auch die Form eines Bachs38 und einer Sanduhr: eines Trichters auf einem Kegel, und das nicht nur einmal, sondern mehrfach. In Wachsen, Fließen, Rieseln von Sand aus einem Glas ins andere wird jeweils Zeit sichtbar. Zeit ist im Prosatext und im Gedicht Thema: In Significa­ tion des dessins scheint dem Ich der gesehene torrent vertical, der senkrechte Sturzbach, seine ­eigene Zeit zu sein, und es stellt die Frage „Mon temps réellement? Ou ma présence à ce temps?“39 Im Gedicht heißt es: 35  Das Wort grotesque kommt – im Unterschied zu anderen auf den Zeichnungen befindlichen – im Gedicht nicht vor. 36  Vgl. oben, 91, 96 f. u. pass. 37  Renée Riese Hubert: Paix dans les brisements. Trajectoire verbal et graphique, in: L’Esprit créateur 26/3 (1986), (72–86) 84, nennt aber auch signifikante Unterschiede zum Kalligramm. 38  Ruisselet und ruisseau, vgl. OC II, 996 und 1000. 39  OC II, 995. „Wirklich meine Zeit? Oder meine Gegenwart zu dieser Zeit?“

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7.2. Buch und Zeit

[J]e coule sable du sablier de mon temps précipitamment s’effondrant précipitamment comme torrents de montagne jusques à quand?40

In seinen Gesichten und der Erfahrung ihrer Beschleunigung nimmt das Ich wahr, was sonst nicht wahrgenommen werden kann: das Fließen der Zeit.41 Gegen Ende des Gedichts steht die Zeile „je suis fleuve dans le fleuve qui passe“.42 Das lässt sich ohne Schwierigkeiten auf die letzten beiden Zeichnungen beziehen (Abb.  19): auf den Fluss zwischen seinen Ufern. Er verliert sich auf der letzten Seite in kleinen Strichlein, die, gegenständlich aufgefasst, kleine Wellen auf der Wasseroberfläche andeuten. Vor allem aber ist diese Zeichnung zum Betrachter hin offen: Wo die Seite nur noch Weiß zeigt, ist sein Gesichtsfeld. Er sieht ‚nichts‘, sieht aber die leere Seite, weil er das Buch, d. h. den Rand mit sieht. Wo die Zeichnung endet, befinden sich das rezipierende Ich mit seiner Hand und seinem Blick und das Buch mit seinen optischen und haptischen Eigenschaften. Fluss und Ich werden nicht auf irgendwie mystische Weise eins im amorphen Weiß – im ‚Nichts‘ –, sondern die letzte Zeichnung stellt die maximale Nähe zwischen Zeichnung, ihrem materialen Träger und dem Körper des Betrachters her. 40  OC II, 1007; „ich rinne / Sand aus der Sanduhr meiner Zeit / überstürzt sich auflösend / überstürzt / wie Gebirgsbäche / bis wann?“ Frieden in den Brandungen, übers. von Kurt Leonhard, in: Michaux: Momente, (39–52) 47 f. [Die in der deutschen Übersetzung zwischen ‚Gebirgsbäche‘ und ‚bis wann‘ eingeschobene gepunktete Zeile gibt es im Original nicht.] 41  Vgl. oben, 99. 42  OC II, 1010; „bin ich Fluß in dem Fluß, der vorbeifließt“; ebd., 51.

19a und b  Henri Michaux, vorletzte und letzte Zeichnung aus Paix dans les brisements, 1959, © Éditions Gallimard.

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Das Gedicht feiert freilich den Fluss gewordenen Zustand des Ich als „bienheureuses ondes d’égalisation“ – „que la tentation ne me vienne plus de m’arrêter / de me fixer de me situer“43 –, den Zustand, in dem „mon âme [est] déchargée de la charge de moi“.44 Hier wird ein identifikatorisches Lesen nahegelegt: ein Mitschwimmen und Sich-Auflösen in den Wellen der Klänge und Rhythmen, ein tranceartiges Sich-Preisgeben des Ich. Dem entspricht ein immersives Sehen der letzten Zeichnung. Tatsächlich aber wechselt der Betrachter wohl hin und her zwischen der kontemplativen Versenkung ins Weiß und der Wahrnehmung, dass hier die Zeichnung endet und die Seite darunter leer bleibt: Er alterniert zwischen dem Hinübergleiten in die Gestaltlosigkeit und der Beobachtung der Manöver, die diese erlauben. Er sieht und sieht sich sehen. Wo die Zeichnungen sich im Weiß verlieren, ist der Körper des Rezipienten – aber nicht nur. Auf die visuelle Selbstauflösung folgt der Text: der kolumnenartige Streifen der Prosa, dann das Gedicht mit seiner Säulenform. Der Nutzer des Buches liest – und kehrt zu den Bildern zurück.45 Die Texte von Paix dans les brisements wimmeln von Bildern des Fließens. Dass eine Meeresflut sich am Ufer bricht, ist hier eine poetologische Metapher: „Le poème mille fois brisé“.46 Das Gedicht bricht den Strom in seinen gebrochenen Zeilen; sie sind die Brandung, in der das Ich Frieden findet. Biographisch verstanden handelt es sich bei diesem ‚Frieden‘ um Michaux’ verändertes Verhältnis zu Meskalin: Anders als in Misérable Miracle, das von einer außerordentlich quälenden Erfahrung berichtet, gilt ihm diese Droge hier nicht mehr als Feindin der künstlerisch-literarischen Kreativität.47 Hier wirkt Meskalin imago- und poetogen oder präziser: Seine Auswirkungen sind offenbar in einem so hohen Maße gebrochen, dass die Ergebnisse – die nachträglichen Rekonstruktionen – sonstigen Ansprüchen an künstlerische Zeichnungen und poetische Texte genügen. Aber auch andere Gegensätze werden hier ästhetisch, poetologisch, buchkünstlerisch ‚befriedet‘: Die unterschiedlichen Gattungen und Register der verbalen und visuellen Produktion kommen in einem einzigen Buch zusammen; Lesen und Sehen – oder auch lire und LIRE48 – erhalten gleichermaßen ihr Recht; Händisches und Drucktechnisches koexistieren;49 eine westliche Schrift- und Buchkultur erlaubt fernöstliche Reminiszenzen. 43  Ebd.; „selige Wellen der Gleichwerdung“, ebd. (Übers. korr. von S. M.). Ebd.; „möge mir die Versuchung nicht mehr kommen anzuhalten / mich zu fixieren, mich zu situieren“; ebd. 44  Ebd.; die „Seele entlastet [ist] vom Auftrag des Ich“; ebd., 52. 45  R. Hubert hat nur die eine Richtung im Blick, wenn sie die Bewegung des Buches als eine vom Visuellen hin zum Verbalen versteht und eine entsprechende Genese der visuellen und verbalen Teile vermutet; vgl. Paix dans les brisements. Trajectoire, 74, 78, 84 und 86. 46  Genauer: „Le poème mille fois brisé pèse et pousse pour se constituer, pour [...], à travers tout, nous reconstituer.“ OC II, 1001. „Das Gedicht, tausendfach gebrochen, lastet und stößt, um sich herzustellen, um […] durch alles hindurch uns wiederherzustellen.“ 47  Eine Art tieferes Gleichgewicht habe er gesucht und teilweise gefunden; vgl. Au sujet de Paix dans les brisements, OC II, 1001. 48 Vgl. Lecture (1950), OC II, (332–333), 332. 49  Da für die ostasiatische Buchkultur dieses Miteinander selbstverständlich ist, mag man auch darin den Versuch einer west-östlichen Verbindung sehen.

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7.3. Striche, Zeilen, Rhythmen

Am Ende heißt es, die vom Ich entlastete ‚Seele’ folge „la pente vers le haut / […] la pente qui aspire / la merveilleusement simple inarrêtable ascension“.50 Was ‚hängt‘, sich neigt, nach unten zieht, strebt hier nach oben, die Schwerkraft wird zur Fliehkraft. Diesseits von Metaphorik (und allemal von Mystik und Esoterik) lässt sich dieses Finale auch noch einmal auf die besondere Machart des Buches und auf die Zeichnungen beziehen: Der Blick folgt zunächst den Formen von oben nach unten. Der Durchgang endet in der Auflösung der Gestalt, mit verstreuten Häkchen auf einer fast leeren Seite. Aber ein Baum wächst von unten nach oben und wird auch so betrachtet. Beim umgekehrten Blättern, beim Aufschlagen der Seiten vom Ende zum Anfang, gewinnt das Weiß allmählich Gestalt: Es wird erst Fluss oder Rinne, dann eine Art Schaft, und dann steigt etwas nach oben, wächst und wächst bis zu den zarten Spitzen und Wipfeln des Bäumchens auf den ersten zwei Zeichnungen (z. B. Abb. 16). Über diesen ‚Wipfeln‘ – vor den ersten zwei Zeichnungen – sind die Paratexte Titel, Autorname und Verlag, ansonsten Leere, ‚Himmel‘, d. h. mehrere weiße Seiten am Anfang des Buches. Fließen nach unten und Hang nach oben: Ein Prozess der Formauflösung und einer der Formwerdung lassen sich also in den Zeichnungen gleichermaßen verfolgen. Beide Betrachtungen oder Weisen zu ‚lesen‘ machen Zeit sichtbar, und sie tun dies im Umgehen mit einem Buch, das viel Zeit benötigt – viel mehr als normalerweise üblich.

7.3. Striche, Zeilen, Rhythmen Par la voie des rythmes (1974) stellt in Michaux’ Buch-Kunst eine Ausnahme dar, weil es abgesehen von den Paratexten keinerlei Text enthält.51 In diesem Fall eröffnet ein Blick auf die Originale im Archiv Überraschendes. Denn was nur an den einzelnen Blättern sichtbar ist und in der Buchversion vollkommen verschwindet, sind die Papierqualitäten und die Formate. Die Blätter bestehen aus unterschiedlich dickem und unterschiedlich stark strukturiertem Papier. Es wirkt z. T. wie gewebter Stoff, gelegentlich hat es Wasserzeichen, die Blattränder sind, wie bei handgeschöpftem Papier üblich, unbeschnitten. Die Blattformate wechseln ständig. Zeicheninstrumente sind hier i. d.R. schwarze Filzstifte unterschiedlicher Breite. Sie erzeugen auf dem wechselnden Untergrund jeweils deutlich andere Effekte. Manchmal scheint die Spur des Filzstifts fast die eines breiten Pinsels zu sein. Die Originale von Saisir und Par des traits haben ebenfalls diese und weitere materialästhetische Qualitäten, die bei der Reproduktion als Buchseiten getilgt werden. So liegen manchen Seiten in Saisir Collagen von aus­ge­schnittenen kleinen Zeichnungen zugrunde.52 In diesen Fällen entsteht die Rhythmik der Seite erst durch das nachträgliche Arrangement. Die Transformation von graphistischen Blättern in ein Buch bedeutet also eine nicht unerhebliche Abstraktion, doch sie ist offenbar gewollt: Die Materi-

50  OC II, 1010; „der Neigung zur Höhe / […] der Neigung, die anstrebt / das wunderbar einfache unaufhaltsame Empor“; Momente, 52. Es sind die letzten Zeilen des Gedichts. 51 Zu Parcours vgl. oben, 63, Anm. 7. 52  Vgl. z. B. OC III, 944, 946, 950 links.

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7. Performanz und Buch-Kunst

20  Henri Michaux, Par la voie des rythmes, 1974, © Éditions Fata Morgana.

alien haben ihre Bedeutung bei der Produktion, sie darüber hinaus zu erhalten käme einer Art Fetischismus gleich.53 Betrachtet man das Buch Par la voie des rythmes, so finden sich darin erneut die bereits erprobten Verfahren, ohne zu schreiben auf das Schreiben anzuspielen. Die erwähnten Materialien bringen allerdings ganz andere Konnotationen mit sich als die Pinsel-Tusche-Gebilde der Mouvements. Die Formprinzipien ähneln diesen: Eine schnelle, kurze Bewegung aus dem Handgelenk erzeugt auch hier wieder selbstähnliche rhythmisch wirkende Marken, und diese werden in Zeilen und Kolumnen oder – das vor allem kennzeichnet Par la voie des rythmes – nur in Zeilen disponiert (z. B. Abb. 20). Die schriftbildliche Matrix ist dabei der Blocksatz oder die (freilich rubrikenlose) Tabelle bzw. Schautafel. Die Seiten folgen mit ganz wenigen Ausnahmen dem doppelten Prinzip von einzelnen dynamischen Graphismen in einer Raster- oder Zeilenstruktur, und dies auch dann, wenn die Graphismen deutlich figurale Gestalt aufweisen, etwa die von Tieren oder Männchen (Abb. 21).54 Stets bilden die Marken Serien: Ein bestimmtes Strichschema wird ein paar Seiten lang ­variiert (aber natürlich nicht erschöpft!), dann wechselt es. Eine einzelne Form ohne Variantenreihe gibt es nicht, aber unter den gereihten Elementen wiederum ist keines mit einem anderen identisch. Die Wiederholung nähert die Marken Schrift- oder Bildzeichen an (es sind beide 53  Laut Leibovici waren kostbare bibliophile Ausgaben nicht im Sinn Michaux’, sondern in dem der Verleger (p. c.). 54  Zu einer tentativen Typologie der Graphismen vgl. OC III, 1651.

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7.3. Striche, Zeilen, Rhythmen

21  Henri Michaux, Par la voie des rythmes, 1974, © Éditions Fata Morgana.

Möglichkeiten im Spiel), die Variation verbindet sie mit händischem Zeichnen, sie unterscheidet sich vom händischen Schreiben aber durch die Tatsache, dass es für die Abwandlung einer Form hier kein grundsätzliches Limit gibt. Schriftgestaltung und Handschrift kennen zwar Varianz der Zeichen, aber nur innerhalb einer gewissen Bandbreite; jenseits davon entsteht Unleserlichkeit. Hier dagegen sind der Veränderung der Marken prinzipiell keine Grenzen gezogen, praktisch realisiert werden in den kurzen Serien aber immer nur einige wenige Varianten. Neben dem Schwarz-Weiß, den Zeilen, den Auf- und Abbewegungen, der Wiederholung ähnlicher Gestalten werden Schriftzeichen auch dadurch suggeriert, dass es zwischen den Marken meistens Abstände gibt. Zwischenräumlichkeit aber ist konstitutiv für Schrift; eine Modalität der Räumlichkeit, bei der es auf Lücken ankommt unterscheidet Schrift von den ‚dichten Raumkonstellationen‘ der Malerei. Das diskrete Anordnen von Zeichen charakterisiert ein notationales Medium.55 In diesem Sinn tragen hier die Spatien zur Schrift-Anmutung bei. Gelegentlich sind einzelne Marken auf einer Zeile miteinander verbunden sowie von einer anderen derartigen Verbindung durch einen Abstand getrennt (s. Abb. 20). Scheinbar sind hier Zeichen verknüpft wie Buchstaben zu einem Wort und Wörter zu einem Satz und

55  Vgl. Krämer: ‚Schriftbildlichkeit‘ oder: Über eine (fast) vergessene Dimension der Schrift, in dies./Horst Bredekamp (Hg.): Bild – Schrift – Zahl, München, Fink, 2003, (157–176) 162 f.; dies.: Schriftbildlichkeit, 355 f. (jeweils mit Bezug auf Goodmans Begriffe der für Schrift entscheidenden Disjunktivität und endlichen Differenziertheit der Zeichen).

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7. Performanz und Buch-Kunst

22  Henri Michaux, Par la voie des rythmes, 1974, © Éditions Fata Morgana.

suggerieren so die Verbindung von Sätzen zu einem Text und von Texten zu einem Buch. Leerstellen-Sichtbarkeit legt Schriftzeichen, Verkettung Kursivschrift nahe. Bei einigen scheint die Buchseite ihre visuelle Matrix von didaktischen Instrumenten zum Erlernen von Schrift zu erhalten, z. B. von Übungsheften für ABC-Schützen – ein Buchstabe oder ein Wort muss so oft wiederholt werden, bis die Zeile voll ist – oder speziellem Karopapier, in dessen Kästchen Chinesisch Lernende die zu memorierenden Schriftzeichen eintragen. Die Anspielung auf eine nicht-alphabetische Schrift, ohne dass freilich je eine solche realisiert würde, gehört zu Michaux’ Verfahren, mit der Routine des Schreibens in und Lesens von lateinischen Zeichen zu brechen. Zu diesem Zweck werden auch Formate mit Lernzwecken aufgerufen; sie simulieren ein ontogenetisches Prä zum Beherrschen von Schrift. Manche Marken wiederum tendieren zum Pol des Pikturalen; sie erinnern an Höhlenmalerei (Abb. 22) und evozieren damit – gemäß populärer Vorstellungen – ein phylogenetisches Prä der Schrift. Noch ‚primitiver‘ als die Andeutungen von Tieren oder Tierherden wirken Graphismen in Par des traits,56 die nur aus rhythmischen Strichen, Pinselzügen oder -hieben bestehen (Abb. 23). Sie verweisen auf eine noch elementarere Ebene als die Schreibgesten ‚vor‘ der Schrift, denn die Gesten sind nur minimal differenziert. 56  Zum Teil stammen die Graphismen dieses Buches aus der Produktion von 1974 für Par la voie des rythmes, manche wurden später, aber in ähnlichem Stil, angefertigt; vgl. OC III, 1793. Die nachfolgend (als Fotografie des Originals) gezeigten gehören zu den vermutlich jüngsten, aus den 80er Jahren (Leibovici, p. c.). Sie sind leuchtend rot.

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7.3. Striche, Zeilen, Rhythmen

23  Henri Michaux, 1983, Archives Henri Michaux, © ADAGP.

Die Striche verlaufen alle in der gleichen Richtung, leicht schräg von oben nach u ­ nten, und sind abwechselnd dicker und dünner57 oder bei gleicher Stärke länger und kürzer. Sie folgen in horizontaler Reihe aufeinander. Diese Serien erinnern an das, was die Pa­lä­ an­thro­pologie tatsächlich als die ältesten Zeugnisse absichtlich erzeugter menschlicher Spuren anspricht: an Reihen von Kerben in Knochen oder Stein. Für André ­Leroi-Gourhan sind dergleichen die frühesten Graphismen, aus derartigen Anfängen werden sich erst viel später Bild und Schrift ausdifferenzieren. Die Kerben wurden u. a. als Jagdzeichen gedeutet, als eine Art Buchführung58 oder Zählen. Sie stammen aus einem rhythmisch wiederholten Ausholen und Schlagen. Leroi-Gourhan erwägt daher die Interpretation als „rhythmische[s] Hilfsmittel mit Beschwörungs- oder Deklamationscha57  Vgl. z. B. OC III, 1272. Man fragt sich, wie sie entstanden sind: in zwei Produktionsschritten, einmal mit einem dicken und einmal mit einem dünnen Stift, oder mit zwei Stiften in der Hand? 58  Leroi-Gourhan lehnt das ab; vgl. Hand und Wort, 238. Alva Noë dagegen greift die These auf und betont damit die Redeunabhängigkeit der markierenden Tätigkeit aus der Zeit ca. 40–50.000 v. Chr.; vgl. The Writerly Attitude, in: Marienberg (Hg.): Symbolic Articulation, (73–87) 75 f. Das Graphische mag indes noch weit älter sein: Ein Knochenwerkzeug mit fächerförmigen Kerben ist ca. 400.000 Jahre alt, javanesische Muscheln mit zickzack-, genauer N- und M-förmigen, Linienritzungen sogar. ca. eine halbe Million Jahre. Vgl. Horst Bredekamp: Early Forms of Articulation, ebd., (3–29) 12–15. Vgl. auch den Hinweis auf Kerben in einem Bärenschädel aus der Azykh-Höhle in Aserbeidschan, der ca. 430.000 Jahre alt ist, in Harald Haarmann: Geschichtsschreibung der Semiotik/The Historiography of Semiotics, in: Roland Posner (Hg.): Semiotik. Ein Handbuch zu den zeichentheoretischen Grundlagen von Natur und Kultur/Semiotics, Berlin/Boston: De Gruyter, 4 Bde., I, 1997, (668–686) 672 und 674.

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7. Performanz und Buch-Kunst

rakter“;59 jüngere Forschung bringt die frühesten Marken mit kollektiven Ekstasetechniken in Verbindung, sind Ausdrucks- und Zweckverhalten doch noch lange nicht getrennt.60 Michaux’ simple Striche gehen – wie die prähistorischen Kerben – aus der Wiederholung weniger einfacher Gesten hervor: Es sind Bewegungen der Hand und des Arms, die für einen Moment einen Gegenstand berühren, sich davon entfernen und in der Nähe der berührten Stelle, in kleinem Abstand davon, noch einmal auf den Gegenstand treffen. Die kerbende Bewegung dürfte zumindest bei kürzeren Marken ein Kreisen gewesen sein; an einer Stelle des durch den Raum, durch die Luft gezogenen Bogenschwungs findet ein Kontakt statt. Im Unterschied dazu sind die Michaux’schen Spuren der Hand- und Armbewegung jedoch flächig-optisch, nicht räumlich-haptisch. Sie verdanken sich nicht der Entfernung von hartem Material, sondern einer Hinzufügung. Sie öffnen nicht die Oberfläche des Trägers durch Hacken, Ritzen oder Kratzen, sondern streifen kurz an der Oberfläche entlang und bewirken an der berührten Stelle den Auftrag einer affinösen Substanz; etwas bleibt haften, das Material wird vermehrt und verdichtet. Schon darum ist die eingesetzte Körperkraft sehr viel geringer als bei der komplementären Geste. Das heißt auch: Die Marken resultieren vor allem aus Bewegungen der Hand und des Handgelenks, kaum mehr aus denen des Arms und Oberkörpers.61 Von der Schreibgeste wiederum unterscheiden sich die hier vorliegenden Bewegungen ebenfalls klar: Der Akzent liegt nicht auf der Produktion bestimmter Formen, sondern auf deren grundsätzlicher Ermöglichung im Schwung der Hand; er fällt nicht auf die Erzeugung verschiedener Formen, sondern auf die Wiederholung der gleichen Geste; und diese Geste ist nicht ein Ziehen, das die Spur hinter sich herzieht – wir denken die Geste des Zeichners oder Schreibers auf dem Papier wie die Spur des Skifahrers im Schnee –, sondern es sind eine Art Hiebe. Die Unterbrechung der graphierenden Bewegung hängt nicht kontingent vom Ende des zu schreibenden Wortes ab, sondern gehört zur Bewegung selbst: Sie wird angehalten und setzt wieder neu ein. Ihre Spur ist diskontinuierlich: ein Punkt oder ein kurzer Strich, in der Wiederholung Punkt- und Strichreihen, ein Rhythmus mithin aus Marke und Nicht-Marke oder Spur und Nicht-Spur, ein leicht variierendes Stakkato. Gemahnen manche Zeilen in Par la voie des ­rythmes an Schreibübungen, so die Strich-Zeilen in Par des traits an Bewegungen zur Lockerung, zum Aufwärmen, bevor die Bewegung einer bestimmten Aktivität zugeführt wird.62

59  Hand und Wort, 239. 60  Vgl. Nolands Verweis auf Jean Clottes The Shamans of Prehistory: Trance and Magic in the Painted Caves [orig. 1996], Agency and Embodiment, 251, Anm 22. 61  Aktuelles Interesse an prähistorischer (und ethnischer) Kultur hat z. B. mit der Tatsache zu tun, dass der Blick darauf unsere prototypische Vorstellung von Form-Produktion, Technik, Herstellung von Artefakten etc. zu verändern vermag. Leroi-Gourhan betont die Rhythmik technischer (!) Aktivität, ähnlich wie Franz Boas sie in Primitive Art (1927) gezeigt hat: Die Form handwerklicher Produkte emergiert aus dem Muster rhythmischer Bewegungen, nicht aus einer Idee; Rhythmen sind die Schöpfer der Form; vgl. T. Ingold: ‚Tools for the Hand, Language for the Face‘: An Appreciation of Leroi-Gourhan’s Gesture and Speech, in: Pergamon. Studies in History and Philosophy of Biological and Biomedical Sciences 30 (1999) (411–453) 438 f. Moderne Kunst sucht diese Produktionsweise und Art, Formen zu generieren, wiederzufinden, ohne handwerkliche Gegenstände herzustellen. 62  Vgl. aber unten, 191.

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7.3. Striche, Zeilen, Rhythmen

Wenn Michaux’ Graphismen der Zeilen- oder Tabellenordnung folgen, also der Horizontalen und deren Multiplikation in der Vertikalen, bewegen sie sich in einem rechteckigen Feld. Die Handbewegungen sind rektifiziert. Dem liegt systematisch (oder gestaltphänomenologisch, nicht entstehungsgeschichtlich) nur noch eines voraus und wörtlich zugrunde: die Fläche oder die Flachheit. Diese steht eigentlich im Kontrast zu den alludierten Erscheinungen, zu Kerben auf Knochen, Höhlenmalerei, frühen geometrisierenden Ornamenten in der Keramik u. ä. Denn sie alle befinden sich auf gekrümmten Oberflächen. Wenn Marken hier dergleichen ähneln, aber auf der ebenen, abstrakten Fläche der Buchseite stehen, verweist das auf die Modelle, die in Michaux’ Produktionsprozess (zumindest gelegentlich) tatsächlich eine Rolle spielten: auf bildliche Reproduktionen von prähistorischer Malerei, archaischen Gefäßen, geritzten Knochen u. ä., wie sie in Büchern vorkommen.63 Die Bewegung der Graphismen selbst – von links nach rechts und mit Zeilensprung – entspricht der vertrauten, aber historisch kontingenten Ordnung alphabetischen Schreibens; nirgends gibt es z. B. ein Anzeichen für ein Bustrophedon.64 Das scheinbare Schreiben-Üben gelangt nicht zum Schreiben, die scheinbaren Lockerungsübungen werden nicht als Vor-Übungen zu bestimmten Aktivitäten erkennbar. Vielmehr entfalten sie ihre eigene Dynamik und Ästhetik. Darin treffen sie sich mit den Tendenzen anderer Künste, den Eigenwert ihrer materialen Konstituenten zur Geltung zu bringen: Stoffliches in den visuellen Künsten, Klänge und Geräusche in den akustischen, den Körper und die alltäglichen Körpertechniken wie Gehen, Laufen, Sitzen, Stampfen u. a. im zeitgenössischen Tanz.65 Mit diesem insbesondere teilen sie nicht zuletzt das, was vernehmbar wird, wenn die Realisierung einer Zeichenfunktion gestört wird: den Rhythmus. Einen solchen wahrzunehmen beruht auf Kinästhesie, die ihrerseits als Grundlage aller sinnlichen Erfahrung und sogar des Bewusstseins gelten kann. Daher gibt es Rhythmen nicht nur in den temporalen und Bewegungskünsten, sondern auch in den visuellen; es kommen jeweils Zeit- und Raumerfahrungen ins Spiel.66 Genauer gesagt erfahren wir einen Rhythmus durch kinästhetisches Mitempfinden. Das Präfix ‚mit‘ indiziert dabei, dass man Rhythmus mit anderen und anderem teilt, dass er einen mit ihnen

63  Vgl. Noland: Agency and Embodiment, 133–140. Derartige Abbildungen sind meist schwarz-weiß. Auch in Hinsicht auf die Farbigkeit werden Michaux’ Marken ihnen angenähert: Ein Teil seiner Originalzeichnungen, und gerade die einfachen Striche, sind nämlich mit rotem Filzstift gemacht (vgl. 188, Anm. 56), sie werden jedoch schwarz auf weißem Grund reproduziert. Diese Eliminierung der Farbe verstärkt wiederum das Buchästhetische. 64  Eine Ausnahme weist Parcours auf, vgl. OC III, 440. 65  Nach Laurence Louppe ist dieser nicht durch neue Choreographien bestimmt, sondern dadurch, dass der Körper selbst Ort des Experimentierens und der Erkenntnis ist; vgl. Godfroy: Danse et poésie, 144. Vgl. z. B. Marie Glon/Isabelle Launay (Hg.): Histoires de gestes, Arles: Actes Sud, 2012. Wenn Bertelé die Graphismen von Mouvements auch „ballets de formes“ (OC III, 432) nennt, entspricht das der topischen wechselseitigen Metaphorisierung von Schreiben und Tanzen. 66  Vgl. Dee Reynolds: Kinesthetic Rhythms: Participation in Performance, in: Elizabeth Lindley/Laura MacMahon (Hg.): Rhythms. Essays in French Literature, Thought and Culture, Oxford, Bern u. a.: Lang, 2008, (103– 118) 103–109.

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7. Performanz und Buch-Kunst

verbindet;67 er ist interkörperlich. Was im frühen 20. Jahrhundert Theodor Lipps als Einfühlung beschrieb, erläutern aktuell neurowissenschaftliche Forschungen zu Empathie und Spiegelneuronen. Wenn wir körperliche Bewegungen sehen, auch ohne sie direkt nachahmend mitvollzuziehen, werden bei uns diesem Ansatz gemäß die gleichen Hirnregionen aktiviert wie beim tatsächlichen Ausführen der Bewegungen. Neuronal sind wir demnach auch stillsitzend in Bewegung. Ein Zuschauer empfindet laut jener Forschung gesehene Bewegungen umso intensiver mit, je besser er selbst mit ihnen vertraut ist.68 In diesem Fall kann man sagen: Da alle das Schreiben mit Hand beherrschen, werden die sichtbaren Rhythmen des Schreibens hier leicht aufgenommen. Sofern der Betrachter vertraute Rhythmen darin wiederentdeckt, wenn diese sich auf leicht fassliche Weise darbieten, also einfach und repetitiv sind, kann er die jeweils folgende Bewegung antizipieren. Weicht das Wahrnehmbare vom Üblichen ab, ist der Rhythmus also überraschend, kann dies dagegen die Möglichkeit des Mitschwingens zerstören, es muss aber nicht sein. Auch neue oder kompliziertere Rhythmen können aufgenommen werden; es ist eine Frage der Graduierung. Beim Sehen von Schrift muss der Rhythmus von Strichen und Schlaufen, Groß und Klein, Buchstaben und Leerraum, Schwarz und Weiß etc. auf der Seite oder der Doppelseite, so geartet sein, dass er dem Lesen der Zeichen zugutekommt; zu starke Regelmäßigkeit wirkt genauso hinderlich wie zu starke Variation. Der Rhythmus muss existieren, darf aber nicht auffallen. Um des Lesens willen muss er unbemerkt bleiben. Im Normalfall trägt bei lesbarer Schrift der visuelle Rhythmus die Lesetätigkeit und unterstützt dadurch das Verstehen, genau wie der akustische Rhythmus dem Hörer hilft.69 Es gibt freilich auch die Möglichkeit, dass der Rhythmus und der zu realisierende Inhalt auseinandertreten und dies dennoch die Rezipienten nicht stört; die Diskrepanz mag sogar als interessant, als Genuss, Bereicherung der Erfahrung und Lust empfunden werden. Dann befindet man sich freilich im Bereich der Kunst. 67  Der Rhythmus involviert den Hörer oder Zuschauer. Angesichts der graphischen Marken hieße das: Ein Betrachter versucht nicht mehr, sie untereinander und/oder mit einem type zu vergleichen, ihrer Reihe zu folgen und nach einer nur in einer bestimmten Sequenz hervortretenden Bedeutung zu suchen wie bei Schriftzeichen; er reiht sich vielmehr selbst in die gesehene Bewegung ein. 68  Das Gehirn einer Tennisspielerin etwa wird, wenn sie eine Tennispartie verfolgt, stärker aktiviert als dasjenige eines Zuschauers, der diesen Sport nicht selbst betreibt. Das biologische Konzept der Bewegungsnachahmung, die man u. a. an neugeborenen Makaken beobachtet hat, gilt demnach auch für den sozialisierten und enkulturierten Körper, seine Techniken und sein Gedächtnis. Die Forschungen von Giacomo Rizzolatti und Corrado Sinigaglia sind inzwischen vielfach kulturwissenschaftlich rezipiert (und ihre unzulässige Ausweitung kritisiert) worden, deshalb sei auf bibliographische Nachweise hier verzichtet. Zur Applikation des Empathie-Konzepts auf die Wahrnehmung der graphischen Gesten bei Michaux vgl. auch Villard, Poétique du geste, 326 f., Anm. 1134. 69  Auch zwischen akustischem Rhythmus und Lesen besteht eine Beziehung. Auf der Folie, dass Rhythmus die gemeinsame Grundlage von Musik und Sprache ist, zeigt z. B. eine neurowissenschaftliche Studie „a universal relationship between rhythmic regularity detection and reading skill“, genauer eine „correlation between the processing of rhythmic regularity of generic, pre-phonemic tone sequences, and normal adult reading skill“; die untersuchten Korrelationen sind dabei „stronger for more generic (i. e., less musically oriented) rhythms“. Annike Bekius/Thomas E. Cope/Manon Grube: The Beat to Read: A Cross-Lingual Link between Rhythmic Regularity Perception and Reading Skill, in: Frontiers in Human Neuroscience, 31. August 2016 | https://doi. org/10.3389/fnhum.2016.00425 (zuletzt aufgerufen am 20.03.2020; o. P.).

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7.3. Striche, Zeilen, Rhythmen

Was passiert angesichts der unlesbaren schriftallusiven Graphismen von Par la voie des rythmes? Die Betrachter verzichten darauf, etwaige Zeichenfunktionen realisieren zu wollen oder degradieren diese zu etwas Nachrangigem. Der Rhythmus, das ist hier evident, hat mit diesen nichts zu tun; er gehört auch nicht zu symboltheoretischen Überlegungen.70 Er eröffnet eine eigene sinnliche Erfahrung, hier die der Bewegung von Zeile zu Zeile und Seite zu Seite, die üblicherweise mit dem Lesen verknüpft ist, hier aber ohne diese mentale Anstrengung auskommt. Wo sonst Zeichen gesehen, ihre Sichtbarkeit aber zugunsten der Bedeutung übersprungen wird, bieten sich hier visuelle Marken, die Bewegungsfolgen suggerieren: Graphismen scheinen hintereinander herzulaufen, anzuhalten, zu drängeln, zusammenzurücken, sich voneinander zu lösen… Während beim Lesen Zeichen in einer feststehenden Reihenfolge realisiert werden müssen,71 hat man es hier mit einer sozusagen ironischen Linearität zu tun: Von ihr hängen keine Bedeutungen ab. Man folgt ihr daher freiwillig: nicht lesend, sondern kinästhetisch mitlaufend. Beim Lesen oder Hören von Poesie ‚kämpft‘ der Rhythmus gegen die Zeichen.72 Ähnlich steht es bei den Graphismen. Aber da sie nur auf den ersten Blick Zeichen sind, gewinnt der Rhythmus diesen Kampf. Auch die Gesten („gestes plutôt que signes“) und die Striche (traits) stemmen sich bei Michaux gegen die identifizierbaren, einem semiotischen System zugehörigen Zeichen oder vielleicht besser: Sie entziehen sich einem derartigen System. Im Fall von Par la voie des rythmes scheitert der Rezipient daran, in den Marken Schrift- oder Bildzeichen zu erkennen. Rhythmen erfassend und von ihnen erfasst, suspendiert er jedoch das Verlangen nach der Lesbarkeit von Zeichenfolgen und selbst das nach der Leserlichkeit einzelner Zeichen. Er wird zum leibhaften, kinästhetisch erfahrenden Nutzer des Buches. Ein solcher entdeckt die Freuden ‚analphabetischer‘ Schreibgesten. „­Danse de la main gauche. [...] Style de la main gauche. Quel plaisir!“73 In Michaux’ Buch-Kunst bilden Graphismen jeweils rhythmische Serien. Sie sind z. T. schon als solche verfertigt, z. T. das Ergebnis nachträglichen Arrangements. In jedem Fall aber gehen die Marken aus graphischen Improvisationen hervor, die in einem Moment konzen­ 70  Wilhelm Wundt sieht im Rhythmus die physiologische Grundlage aller menschlichen Symbolpraktiken. Mauss knüpft daran an; vgl Noland: Agency and Embodiment, 225, Anm. 21. Die Logik von Symbolsystemen lässt sich daraus allerdings nicht erklären. Auch für Jousse sind Rhythmen und Gesten die Grundlage aller Kultur; für ihn gilt sogar: „Le Geste, c’est l’Homme.“ Marcel Jousse: Anthropologie du geste, Paris: Gallimard, 1974, 50. Zu seinem weiten Gestenkonzept vgl. auch ders.: Le Parlant, la Parole et le Souffle, Paris: Gallimard, 1978. Vgl. auch oben, 34, Anm. 68. 71  Die letztendliche Verarbeitung von Zeichen in einer Reihenfolge ist unabdingbar für sinnhaftes Lesen; die Augenbewegungen beim Entzifferungsvorgang selbst verlaufen jedoch nicht linear, sondern mit ruckhaften Sprüngen (Sakkaden) und Pausen (Fixationen); vgl. z. B. Hartmut Günther: Historisch-systematischer Aufriß der psychologischen Leseforschung, in ders./Otto Ludwig (Hg.): Schrift und Schriftlichkeit: ein interdisziplinäres Handbuch internationaler Forschung/Writing and its Use. An Interdisciplinary Handbook of International Research, Berlin/New York: de Gruyter, 1996, Bd. 2, (918–931) 920. 72  Vgl. Henri Meschonnic: Manifeste pour un parti du rythme, 1999 (http://www.berlol.net/mescho2.htm; zuletzt aufgerufen am 18.08.2019), und ders.: Le rythme et le poème chez Henri Michaux, in ders.: La rime et la vie. Édition augmentée, Paris: Gallimard, 2006, 371–405; vgl. auch Godfroy: Danse et poésie, 147. Auch Deleuze, Kristeva und Lefebrve bringen von unterschiedlichen theoretischen Ansätzen aus den Rhythmus in Gegensatz zum Symbolischen, Verbalen, Rationalen; vgl. Lindley/MacMahon: Introduction, in dies.: Rhythms, 11–26. 73  Vgl. oben, 72.

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7. Performanz und Buch-Kunst

trier­ter Aktion die Körpertechnik des Schreibens performieren und zugleich deformieren. Das praktische Wissen der Hand, die beherrschte inskriptive Geste ist die Voraussetzung dafür, dass sie im Zuge der Ausführung selbst umgelenkt werden kann. Nur der konditionierte Körper wird bei der ‚Entkonditionierung‘ produktiv, skilling und deskilling greifen ineinander74 oder: ohne das Können der Rechten auch kein Anders-Können der Linken.

7.4. Improvisation und Buch-Kunst Zum Charakter dieser Gesten gibt es in Saisir ausdrückliche Überlegungen. Wie der Titel sagt, widmet sich das ganze Buch dem Greifen und Begreifen, Fassen und Erfassen. Es gilt prinzipiell „saisir plus, saisir mieux, saisir autrement“,75 und dies nicht mit Worten, Phonemen, Onomatopöien, sondern mit graphischen Zeichen (signes graphiques), also visuell. Einmal mehr aber heißt dies nicht, Schrift und Sprache durch Bilder ersetzen zu wollen, sondern sich mit Hilfe einer nicht-phonetischen und überhaupt nicht mit einer menschlichen Sprache verbundenen ‚Schrift‘ der Welt zu öffnen. Dieses Verhältnis ist im besonderem Maße rezeptiv, schließt aber auch Aktivität ein: das Produzieren von Marken. Diese sollen ‚Zeichen‘ sein für Nicht-Semiotisches und Nicht-Semiotisierbares, worin auch immer dies bestehen mag.76 Saisir meint aber eben nicht nur mit Zeichen operieren.77 Es ist vielmehr auch und im Grunde primär ein körperliches Tun. Michaux scheint daher Merleau-­Pontys Überlegungen zu den körperlichen Betätigungen als einem eigenen Wissen nahe­ zukommen: „L’acquisition de l’habitude est bien la saisie d’une signification, mais c’est la saisie motrice d’une signification motrice. […] Il s’agit d’un savoir qui est dans les mains, qui ne se livre qu’à l’effort corporel et ne peut se traduire par une désignation 74  Vgl. Noland: Agency and Embodiment, 169, 214. Den Zusammenhang von Fertigkeiten (skills) und Geschicklichkeit (dexterity) hat T. Ingold mit Rekurs auf Leroi-Gourhans Le geste et la parole komplex beschrieben: Demnach ist rhythmische Wiederholung keine mechanische; zwischen Akteur und Umgebung findet vielmehr ein dauerndes sensory attunement statt: Der Akteur stellt seine Bewegungen fortlaufend auf die inhärente Rhythmik der Umgebungskomponenten ein, mit denen er zu tun hat. In dieser Feinabstimmung der individuellen motorischen Antwort auf vielfältige externe Rhythmen liegt für den französischen Anthropologen die Arbeit der Wahrnehmung. Jede Operation entfaltet sich derart in einem Netzwerk von Bewegungen, und Verbindungen im Netzwerk sind ineinandergreifende Rhythmen. Ingold nennt sie Resonanzen. „… the perceptual tuning of action to the conditions of an ever-moving environment is the essence of dexterity.“ ‚Tools for the Hand...‘, 439. Die veränderliche Umgebung sind im Fall von Michaux’ Graphieren z. B. die unterschiedlichen Materialien: Papierstrukturen, Filzstiftstärken u. ä., die die Gesten aus der gewohnten Bahn lenken und ein ‚Nicht-schreiben-können‘ provozieren. Vgl. auch unten, 219. 75  OC III, 936; „mehr erfassen, besser erfassen, anders erfassen“. 76  So entzieht sich das phänomenale Erleben – etwa das in diesem Moment an diesem Gegenstand wahrgenommene Weiß – der zeichenhaften Erfassung. Prinzipiell hängt die Möglichkeit oder Unmöglichkeit der Semiotisierung vom Zeichensystem ab. In der Alltagssprache sind z. B. viele Farbnuancen oder Geschmacksempfindungen nicht verbalisierbar; dazu bedarf es der Expertenjargons, wie sie etwa die wissenschaftliche Farbtypologie mit Hilfe der Munsell-Chips oder professionelle Wein-, Tee-, Ölverkostung etc. entwickeln. 77  Die ausschließliche Aufmerksamkeit darauf verführt zu der Annahme, es gehe immer noch um die Suche nach einer Universalschrift; vgl. oben, 64.

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7.4. Improvisation und Buch-Kunst

objective.“78 Michaux’ Graphismen wären in diesem Sinn ein Unternehmen, das Wissen der Hände sichtbar zu machen, und seine Texte der Versuch, an der von Merleau-Ponty konstatierten Unübersetzbarkeit zu rütteln: Als poetische schieben sie die Grenze des Nicht-Verbalisierbaren, wie sie von der kommunikativen Sprache gezogen wird, ein Stück weiter hinaus. Das Problem stellt sich bei Michaux indes noch einmal in verschärfter Form: Der Philosoph befasst sich mit den normalen körperlichen Vorgängen und beschreibt das sinnhafte Ineinander von Körper und Welt; er geht gegen Verkennungen des perzeptiven Seins durch bestimmte Philosophien und Wissenschaften an. Den Poeten und Künstler erfüllt dagegen ein doppeltes Misstrauen: in die funktionierenden Gesten, etwa des alphabetischen Schreibens, und in die Sprache als vom Körper zu weit entferntem Medium. Während Merleau-Ponty die Gewohnheiten als plastische versteht, sind für Michaux zumindest die ‚rechten‘, d. h. die normalen, normgerechten, erstarrte Routinen. Das nicht nur automatisierte Erfassen muss daher mit distinguierenden Adjektiven bezeichnet werden, als ‚besseres‘ und ‚anderes‘ – oder es wird verworfen: Saisir endet mit den Worten „vers plus d’insaisissable“.79 Statt des ‚Erfassens‘ steht am Ende eine Ausrichtung auf ‚mehr Unfassbares‘. Das heißt, das paradoxe Programm, Zeichen für Nicht-Semiotisches und Nicht-Semiotisierbares zu finden, wird fallengelassen zugunsten eines anderen: einer unabschließbaren Bewegung ins Offene.80 Das Vorhaben ist mithin, das inskriptive Medium konsequent zu verzeitlichen. Was graphisch sichtbar werden soll, sind temporale Vorgänge, doch genauer: Das Ziel ist nicht, wie die Fotografie Stills von Bewegungen zu erzeugen, auch nicht mehr ein kinematographisches Zeichnen und eine méthode graphique à la Marey.81 Es gibt nicht den Wunsch, Zeichnen und Schreiben durch den Film abzulösen. Michaux verwahrt sich wie der Phänomenologe der Wahnehmung gegen ein derartiges Missverständnis; auch aus seiner Sicht erzeugt der Film statt der Bewegung nur einen ‚zenonischen Traum‘82 von derselben. Vielmehr geht es um „le mouvement initial, essentiel, à la base, tel qu’on le ressentirait les yeux bandés.“83 Nicht Bewegungen im Vollzug sollen also registriert werden, sondern in der Spur einer Bewegung – etwas anderes erlaubt das graphische Medium ja nicht – soll der Beginn, das Entstehen, der Einsatz dieser Bewegung erkennbar sein. Was ist damit gemeint? Ist dies das ‚Nicht-Semiotisierbare‘? Wie lässt sich so etwas ggf. terminologisch fassen?

78 Maurice Merleau-Ponty: Phénoménologie de la perception, Paris: Gallimard, 2016, 178 f. „Das Annehmen der Gewohnheit ist das Erfassen einer Bedeutung, aber es ist das motorische Erfassen einer motorischen Bedeutung. […] Es handelt sich um ein Wissen, das in den Händen ist, das allein der leiblichen Betätigung zur Verfügung steht und sich nicht in eine objektive Bezeichnung übersetzen lässt.“ Phänomenologie der Wahrnehmung, 172 und 174 (Übers. modif. von S. M.). 79  OC III, 980; „zu mehr Unfassbarem“. 80  An dem rätselhaften Syntagma am Ende „vers accomplissement“ („zur Fertigstellung, Ausführung“, ebd., 283; vgl. dazu ebd., 1789) ist wohl die Präposition zu betonen: die Richtung, nicht das Ziel. 81  Vgl. ebd., 962, und oben, 63. 82  Vgl. Merleau-Ponty: Das Auge und der Geist, in ders.: Das Auge und der Geist. Philosophische Essays, hg. u. übers. v. Hans Werner Arndt, Hamburg: Meiner, 1984, (13–44), 38. 83  OC III, 962; „die anfängliche, wesentliche Bewegung, eine so grundlegende, dass man sie mit verbundenen Augen spürte“.

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7. Performanz und Buch-Kunst

Wie oft bei Michaux macht es auch in diesem Fall Sinn, semiotische Fragen als praxeologische Probleme zu reformulieren. Im Fokus steht dann nicht das (naiv gestellte) Problem, wie sich Zeichen zu etwas Nicht-zu-Bezeichnendem verhalten, und dessen (weniger naive) Transformation in die Frage, wie sich Zeichen zu anderen Zeichen verhalten, sondern die Art der graphierenden Gesten und wie es sich für den Akteur anfühlt, sie zu vollziehen (und für den Betrachter, sie nachzuvollziehen, sie als Mitakteur in einer beide umgreifenden Situation nachzuziehen). Das schließt nicht aus, dass Michaux’ Äußerungen auch zu (aus der Kunstgeschichte) bekannten Konzeptualisierungen des Graphierens in Relation gesetzt werden, im Gegenteil schärft das ihr Profil. Denn auch die traditionellen Überlegungen auf diesem Feld implizieren zumindest solche zu den Praktiken, sind die jeweiligen Begriffe von Linie und Zeichnung doch stets mit paradigmatischen Verfahren von deren Hervorbringung verbunden. Die Aufmerksamkeit auf Materialien, stoffliche Prozesse, körperliche Vorgänge und Interaktionen zwischen den verschiedenen Komponenten eines produktionstechnischen Ensembles ist freilich in der Moderne extrem gesteigert; dergleichen hat, jenseits des Handwerks, das diese Aspekte nicht schriftlich festhielt, einen anderen Status. Das graphische saisir ist bei Michaux nichts Beschauliches. Es steht in deutlichem Gegensatz etwa zum Konzept der zeichnerischen Linie in der Butades-Fabel. Die Malerei und Bildhauerei begründende graphische Linie, die aus dem Nachziehen eines Schattens an der Wand hervorgeht, stammt hier von einer Frau; die graphierende Hand hält das Profil des Geliebten fest, der „in die Fremde ging“,84 d. h., in den Krieg ziehen muss. Aus dem linearen Umriss macht der Töpfer-Vater ein Reliefporträt – zum Gedenken an den gestorbenen Mann. Diese europäische ‚Urszene‘ der bildenden Kunst verbindet in der ‚Erfindung‘ des Konturs Erotik, Abschied, Tod und Erinnerung.85 Im Gegensatz dazu heißt es bei Michaux: „Un face à face graphique ne doit pas être une caresse.“86 Schon in seiner frühen parodistischen Erzählung vom Ursprung der Malerei wird die Zärtlichkeit – und das Sentiment, das die europäische Tradition zumindest zeitweise mit dieser Legende verbunden hat – eskamotiert: Die Szene ist ins Groteske und Obszöne gewendet, sie wird karnevalisiert.87 Diese Momente sind nun verschwunden, aber erneut heißt Graphieren nicht, sich wiederholend – nachziehend – auf ein Gegenüber einlassen und das eigene Tun als Fortsetzung desjenigen der ‚Natur‘ verstehen (diese hat mit dem Schatten das ‚Zeichen‘ hervorgebracht, und das menschliche Artefakt, die Kultur, verdoppelt das scheinbar nur); es geht nicht aus einem ‚Streicheln‘ und Sich-Anschmiegen hervor, sondern impliziert Gewalt: „Désobéir à la forme. […] Un dessin sans combat ennuie“, oder auch: „Qui en peinture donna jamais une gifle? un coup? (de poing ou de bâton ou de lance?)“88 84  „abeunte illo peregre“; Plinius: Historia naturalis 35, 151; Naturkunde, 115. 85  Vgl. z. B. Victor I. Stoichita: Eine kurze Geschichte des Schattens, München: Fink, 1999, 13–20; vgl. auch LuL, 313 f. 86  OC III, 960. „Ein graphisches Gegenüber darf keine Liebkosung sein.“ 87  Vgl. oben, 149, Anm. 1. 88  OC III, 958 und 962. „Der Form nicht gehorchen. […] Eine Zeichnung ohne Kampf ist langweilig.“ „Wer hat in der Malerei jemals eine Ohrfeige gegeben? einen Schlag oder Stoß? (mit der Faust oder einem Stock oder einer Lanze?)“

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7.4. Improvisation und Buch-Kunst

Die graphischen Gesten unterscheiden sich somit deutlich: die eine nachziehend, ‚folgend‘, kontinuierlich, die andere stoßweise, ruckartig, diskontinuierlich, iteriert. Aber ist nicht die letztere auch eine Version der ersteren und umgekehrt? Die Töpfertochter zieht ihre Linie, doch ihrem Tun, dessen Fortsetzung und Wiederholung, macht der Aufbruch des Mannes ein Ende. Die andere Art des Graphierens hat die Unterbrechung dagegen in sich aufgenommen: Sie begegnet jedesmal wieder der Möglichkeit, nicht fortfahren zu können, jeder Hieb oder Schlag kann der letzte sein. Sie radikalisiert damit die traditionelle Zeichnung, denn sie wiederholt und macht zum manifesten Prinzip, was dieser innewohnt, aber von der Legende als besonderes, einmaliges Geschehen erzählt wird: Zum Graphieren gehört das Moment des ‚Sich-Trennens‘: kein Zug ohne Rückzug – nämlich der Hand vom Untergrund, der ihre Spur aufnimmt. Anders als die Malerei deckt das Zeichnen den Grund nicht zu, sondern lässt ihn immer wieder frei, das unbezeichnete Weiße ist ebenso konstitutiv wie die Spur.89 Damit ähnelt die Geste des Graphierens derjenigen, die in manchen Arten des Tanzes als Kommen und Gehen kultiviert wird.90 Die eine Linie ohne Absetzen ist demnach eine Ausnahme, ein Wunschmodell des Graphierens – wie die Liebe ohne Abschied oder das Leben ohne Tod. Michaux’ frühe ununterbrochene Linie hatte sich jenem Traum von der Aufzeichnung des vitalen Kontinuums verschrieben,91 die späteren graphischen Praktiken realisieren etwas anderes, und ihre Poietik weiß es besser. Für die europäische Zeichnungstradition ist die Umschreibung – der Weg um den Gegenstand herum – zentral: Sie umschließt ihn, bettet ihn in einen Raum ein, in frühen Versionen des Gedankens umgibt sie jeden mit einer ihm eigenen Hülle. Die circumscriptio ist doppelter Natur: Sie schmiegt sich einerseits dem Gegenstand an, andererseits konstruiert und begrenzt sie ihn. Kein Individuum ohne Umriss; daher auch keine Mensch gewordene Göttlichkeit ohne Kontur. Eine Kunst, die das Bild des Menschen an den Anfang der Kunst stellt und für ihre vornehmliche Aufgabe hält, kann des Umrisses nicht entraten. Bis spätestens in die Mitte des 18. Jahrhunderts beruhen das Zeichnen und damit die visuellen Künste auf ihm. Und das ist weniger technisch als ideologisch bedingt, denn neben dem Konturenziehen existieren auch immer andere zeichnerische Verfahren; man denke an die Schraffur oder das Anlegen von unterschiedlich farbigen oder hellen und dunklen Flächen. Der Umriss steht jedoch von Anfang an im Zentrum kunsttheoretischer Überlegungen und macht im Kunstdiskurs eine außerordentliche Karriere: Er avanciert in der Frühen Neuzeit zum zeichnungstheoretischen 89  Vgl. Michael Newman: The Marks, Traces, and Gestures of Drawing, in: The Stage of Drawing. Gesture and Act. Selected from The Tate Collection (Ausst.kat.), London: Tate Publishing, 2003, 93–108. Dieses Weiße verbindet die Zeichnung einerseits mit der Schrift – es trennt jedwedes Graphische vom Malerischen –, andererseits ist es nicht zu verwechseln mit der für Schrift wesentlichen Leerstellen-Sichtbarkeit und Zwischenräumlichkeit; vgl. oben, 187. Anders als beim notationalen Graphischen, bei der Schrift, dient das Weiße beim piktoralen Graphischen nicht dazu, die Unterscheidbarkeit von Zeichen zu gewährleisten; es hat vielmehr die gleiche Relevanz wie die Spuren: Alle Stellen auf der Fläche, ob markiert oder nicht, sind hier gleichwertig. Die Sichtbarkeit des Untergrunds – Aussparungen, Leerraum – ändert nichts an der Dichte oder Analogizität im symboltheoretischen Sinn. 90  Vgl. Mahalia Lassibille: Arriver/Partir, in: Glon/Launay (Hg.): Histoires de gestes, 147–164. 91  Vgl. oben, 63, Anm. 5.

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Pendant des abendländischen Humanismus und der Selbstermächtigung des neuzeutlichen wissenschaftlichen Subjekts; der Renaissance gilt er als Manifestation einer quasi-göttlichen Künstlerhand; als Emblem klassizistisch-akademischer Ästhetik ist er die anschauliche Form moralischer Idealität und Vergeistigung, die Signatur kultureller Ganzheit u. a.m. Weit über praktische und ästhetische Bedeutungen hinaus hat er (zeitweise) theologische, immer epistemische, politische, ethische und letzten Endes weltanschauliche Implikationen. Ihn abzulehnen ist nur so lange eine Marginalie, wie er als eine von mehreren möglichen Zeichnungstechniken aufgefasst wird; eine derart beschränkte Auffassung hat jedoch mit historischen Realitäten nichts zu tun. Der Kontur war (und ist) in der westlichen Kunst immer viel mehr als die Lösung eines Problems der Visualisierung. Die je nach Kontext unterschiedlichen reichhaltigen Konnotationen müssen jeweils mitgedacht werden, einschließlich jenes Ursprungsmythos, der nur scheinbar schlicht ist und auf alle möglichen Probleme darstellender Kunst verweist. Auf diesem Hintergrund ist die Ablehnung des Konturs ein ebenso frontaler Angriff auf die westliche Kultur wie die Kritik an der geome­trisch-perspektivischen Raumkonstruktion und am phonetischen, vom Alphabet verkörperten Schriftkonzept. Michaux bekämpft alle diese Grundfesten der westlichen Kultur. „Pas de contour. / Pas faire le tour. / Traverser!“92 heißt die Losung. Die Grenze der einzelnen Wesen gilt es zu durchstoßen, ihre Umhüllung aufzureißen, sie zu häuten, zu peitschen,93 auf dass sie nicht mehr als von ihrer Umgebung abgesonderte, in sich geschlossene, unteilbare erscheinen, sondern als wimmelndes Leben diesseits der Individuation. Es gilt, den in der Butades-Legende festgeschriebenen Zusammenhang von Kontur und Tod loszuwerden: Das Kontinuum der Linie ist dort nicht zu trennen vom Zerreißen der amourösen Bande und des Lebensfadens; am Ende soll die graphische Spur erlauben, den Bruch schlechthin zu schließen. Im Gegensatz dazu ergeht hier ein Gewaltakt, der Leben freisetzt: kein transzendentes der Erinnerungssymbole und -rituale, sondern ein ganz und gar immanentes, das sonst unter der Verpackung der Haut, im umzogenen Feld, scheinbar ruht. Tatsächlich berge sich darunter unendliche Bewegung, eine potenzierte, nicht-funktionalisierte Mobilität: „Danse originelle des êtres“.94 Die graphischen Gebilde in Saisir bestehen wie meist bei Michaux aus rhythmisch einander variierenden oder durchkreuzenden Linien mit offenen Enden, aber es gibt auch eine besondere Variante: breite krakelige Linien werden von einer dünnen nachgezogen.95 Nur gelegentlich schließt sich die Form, aber immer ist in diesem Fall die Wirkung eine Art optischer Täuschung: Man meint rundliche, glänzende Wülste aus der Tube gedrückter schwarze Paste zu sehen. Die duplizierende Linie und die schmalen weißen Zonen zwischen ihr und dem breiten Strich erzeugen einen Effekt von Volumen, Weichheit, öliger Konsistenz und Lichtreflex auf der Oberfläche. Graphische Linien wirken wie ein Relief, und dies durch nichts als ihre eigene Wiederholung.

92  OC III, 959. „Kein Umreißen. Kein Herumreisen. Quer Gehen.“ 93  Vgl. ebd., 960; vgl. oben, 61. 94  Ebd., 959; „ursprünglicher Tanz der Lebewesen.“ 95  Vgl. OC III, 956–961; vgl. auch Émergences-résurgences, ebd., 587, Abb.

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7.4. Improvisation und Buch-Kunst

Von der Linie heißt es in ausdrücklich anti-Euklidischer Wendung, aber auch gegen alles Praxiswissen repräsentierender Malerei und Zeichnung, sie sei keine Abkürzung von Volumen oder Fläche, sondern eine Abkürzung von hundert Gesten, Haltungen, Eindrücken, Emotionen.96 Drei- oder zweidimensionale Gebilde durch Linien darzustellen ist ein Verfahren geometrischer Projektion oder der schwierigen Kunst, eine umziehende Linie (extremitas) ‚um sich selbst herumlaufen und so enden zu lassen, dass sie hinter sich auch das zeigt, was sie verbirgt‘,97 mit nichts als dem Kontur also Konkaves und Konvexes, dem Auge Nahes und sich Entfernendes und gar nicht Sichtbares zu suggerieren. Wie lassen sich aber physiologische und psychische Bewegungen ‚abkürzen‘? Eine Geste oder Bewegung abkürzen wollen ist ähnlich paradox wie eine Melodie abkürzen wollen: Dergleichen sind Ganzheiten, die sich nur um den Preis ihres Verlusts zerlegen lassen. Eine analysierte Bewegung ist etwas anderes als die vollzogene. Mareys Physiologie und der Taylorismus haben sie zerhackt, um sie wissenschaftlich erfassen, kontrollieren und ökonomisch maximal verwerten zu können; der Film tut in Fortsetzung der Chronophotographie das Gleiche, wenn er die kontinuierliche Bewegung in eine Reihe von stills verwandelt und aus ihrer Sukzession wieder die Illusion von Bewegung erzeugt. Im Sinne von Bergson ist diese verräumlichte Zeit Verrat an der durée. Abkürzen lässt sich also nicht die Bewegung oder die Geste selbst, aber dennoch sollte man die Rede davon nicht nur metaphorisch verstehen: Denn die einfachsten Striche können die minimalen Spuren eines Bewegungskomplexes sein.98 Eine Geste, Haltung etc. nach der anderen gelte es wiederzufinden. In den einfachen Strichen geschieht so etwas: Die simpelste – an archaisches Tun oder an Übungen diesseits der Literalisierung gemahnende – Aktion zur Erzeugung rhythmischer Spuren ist hier wiederentdeckt: Ihre elementare konzentrierte Energie kommt zur Geltung, weil die Bewegung selbst nicht ikonisch repräsentiert wird, sondern ein Index von ihr erscheint. Bei seinem Anblick wird die Andeutung auf der Fläche in eine raumzeitliche Bewegung (zurück-)übersetzt. Der Graphismus verselbständigt sich nicht; er verweist nur auf eine Bewegung, und er weist eine an. Dieses Graphieren ist aggressiv: „Un abrégé dynamique fait de lances, non de formes.“99 Lanzen sind Stoß- und Stichwaffen, und nicht einmal kleine wie der ‚private‘ Dolch, sondern Kriegs- und Jagdgerät. In den an Höhlenmalerei angelehnten Graphismen Michaux’ gibt es Lanzen- oder Harpunenspitzen und in Saisir mehrere, spitze lange Gegenstände schwingende Männchen;100 aber die Imagination geht der gestischen Realisierung schon voraus: Meidoseme bestehen aus ineinander verkeilten Lanzen.101 96  Vgl. OC III, 960. 97  Vgl. Plinius: Historia naturalis 35.68; Naturkunde, 59. Vgl. auch LuL 313 f. 98  Vgl. oben, 188 ff. Eine andere Möglichkeit, wie eine Linie Bewegung abkürzen kann, ohne im Sinn geometrischer Projektion zu verfahren, hat Steinberg an Picasso beschrieben: „When he traces the innocent flank of a body, he seems not to be thinking a margin but a continuous hither and thither. A meander of three-dimensional reference is foreshortened into a one-dimensional line.” Other Criteria, 51. 99  OC III, 960. „Eine dynamische Abkürzung schafft Lanzen, nicht Formen.“ 100  Vgl. ebd., 950. Andere führen kurze längliche Waffen wie Schwerter, wieder andere scheinen lange Angeln zu halten. Die kleinen Zeichnungen sind hier montiert; vgl. oben, 185. 101  Vgl. oben, 53.

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Wichtiger als die Gewalt ist indes der zeitliche und energetische Aspekt: „J’aurais voulu dans un homme représenter le geste, partant de l’intérieur, le déclenchement, l’arrachement; l’irruption coléreuse de cette intense, subite, ardente concentration d’où va partir le coup, plutôt que le coup arrivé à destination.“102 Die graphischen Gesten haben Aktionscharakter, sind Stöße und Schläge, erscheinen plötzlich, eruptiv, explosiv103, als Eklat, Skandal. Bewegungen dieser bellizistischen Art lassen weniger an Tanz denken denn an Kampfsport wie Boxen oder Karate. Der scheinbar unvermittelt, aber aus gesammelter Kraft hervorbrechende Hieb verbindet derartige Kampftechniken mit Praktiken der fernöstlichen Kalligraphie. Deren Vertreter haben selbst Schreib- und Kriegskunst parallelisiert, das Schreiben etwa mit einer Schlacht: In beiden Fällen müssen die Kräfte koordiniert werden, der Pinsel entspricht dem Heerführer, der die Truppen in Bewegung setzt, über ihr Leben und ihren Tod entscheidet und doch umsichtig in seinem Handeln bleibt; die Pinselhaare seien die Infanterie, denn sie gehorchten der Pinselbewegung ohne Zögern, etc.104 Die gleiche militärische Metaphorik wird für die Nachahmung eines schreibkünstlerischen Werks aufgerufen: Ein derartiges Unternehmen sei ein engagement und gleiche dem bei einer Schlacht: Der Kommandant der Armee nutzt die Bewegungen des Feindes aus, um zu siegen, der Kalligraph die der zu imitierenden Schriftzüge, um sie zu wiederholen oder abzuwandeln; beide verfolgen das gleiche Ziel: die Manöver des Gegners zu erraten, um ihn zu beherrschen. Der die Dinge so auffasst, ist der Tang-Kaiser Taizong, ein großer Kalligraph und Feldherr.105 Westliche Künstler und Schreibende bringen ihr Tun gern mit (fernöstlicher) Kampfkunst in Beziehung, man denke an Roland Barthes oder an Carlfriedrich Claus. Wie diese reduziert auch Michaux den Zusammenhang von Gewalt, Strategie, extremer Disziplin, Machtausübung auf etwas Individualistisches: auf Selbstdisziplin und Selbsttechnik (die freilich auch im Westen ihre militärische Genealogie hat und entsprechend metaphorisiert wird). Die Aktion bricht dann anarchisch hervor. Während die chinesischen Kampfaktionen in den Kontext imperialer Herrschaft gehören (was westliche Anhänger gern übersehen), sind die anarchischen – je nach Stilisierung – Momente in Rebellionen, Revolten, Partisanenkämpfen u. ä. Bei Michaux klingen diese Töne der sechziger und siebziger Jahre noch an, aber sehr verhalten. Parallelen finden sich in der sportlichen oder körpertechnischen Dimension.106

102  OC III, 963. „Ich hätte an einem Menschen die Geste darstellen wollen, die aus dem Innern kommt, die Entfesselung, das Losreißen; den wütenden Einbruch dieser intensiven, plötzlichen, glühenden Konzentration, aus der der Schlag losgeht, vielmehr als den am Ziel angekommenen Schlag.“ 103  Bombe, Sprengstoff, Dynamit gehören – wohl seit Nietzsche und den anarchistischen Bewegungen des späten 19. Jahrhunderts – zum Standardvokabular avantgardistischer Selbstbeschreibungen. 104  Vgl. Billeter: L’art chinois de l’écriture, 165. Die militärischen Metaphern begegnen häufig in der Tang-Zeit (7.–10. Jh.), während sie später, wenn die Gesellschaft von den Beamten beherrscht wird, zurücktreten; gleichwohl bleibt die Beziehung zwischen Schreib- und Kriegskunst erhalten; vgl. ebd., 165 f. 105  Vgl. ebd., 126. 106  Chiang Yee, einer von Michaux’ Referenzautoren zu chinesischer Kalligraphie, behauptet, die Schreibkunst sei ein Sport wie Golf oder Tennis, ein individuelles, gesundes Hobby; auf der gleichen Buchseite aber metaphorisiert er sie, ohne dass ihm dies den geringsten Kommentar wert wäre, bis ins Detail als Aktion auf dem Schlachtfeld. Michaux hat sich die Stelle angestrichen; vgl. Chiang Yee: Chinese Calligraphy, 148 f.

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So geht etwa beim chinesischen Kalligraphen dem Schreibakt ein Zustand der Ruhe voraus: Diffuse Energie sammelt sich, das motorische Gedächtnis erweckt alle vergangenen Gesten dieser Art in sich, der Leib wird aktiv. Das Ergreifen des Pinsels selbst gehört schon dazu: Wenn der Schreibkünstler ihn in die Hand nimmt, nimmt er sich selbst in die Hand: es ist ein doppeltes saisir. Das Verb hat darin neben der physischen und mentalen eine psychotechnische Bedeutung. Er mobilisiert in sich die Kraft des initialen Akts; diese ist auch wirksam, wenn er nicht schreibt. Das Ansetzen des Pinsels heißt bezeichnenderweise im Französischen attaque; es ist auch das Wort für das Einsetzen des Musikers und das Erklingen des Tons, den etwa ein Pianist noch vor dem Anschlag der Taste hört. Diese attaque breitet sich über den ganzen Körper aus. Energien steigen in diesem Moment auf und wollen zusammengeführt werden – wie zu einem Sprung. Das Schreiben, das so stattfindet, erschüttert alle Kräfte des Akteurs und bündelt sie. Denn der Akt selbst ist es, worauf es ankommt, er ist wichtiger als das Ergebnis.107 Auf dieser Ebene liegt auch Michaux’ Interesse: Nicht das Resultat einer Bewegung gilt es festzuhalten, sondern ihr Einsetzen fühlbar zu machen. Wie die Spuren der plötzlich hervorbrechenden Bewegung auf dem Papier aussehen, ob sie anthropo-, zoo-, phyto- oder grammomorph wirken, ist sekundär im Verhältnis zum Energetischen, zum Antrieb oder ‚Elan‘ jedes einzelnen Aktes. Präziser gesagt gilt es, das Inchoative der Gesten festzuhalten.108 Graphismen sind nicht nur Spuren eines Vergangenen, nicht nur die fixierte Wiederholung des Immergleichen. Bewegungen haben einen Anfang, und der ist zugleich ihr kritischer Moment: Er entscheidet über den Verlauf, die Weite, die Stärke, die Dauer, unter Umständen über ihr Gelingen… Beim Einsatz sind Gesten gesammelte Zukunft, nichts als Potential. Darauf fällt hier der Akzent: auf die Andeutungen eines Möglichen, Entstehenden; Graphismen machen ein Werden sichtbar. Aus dieser Perspektive sind auch Michaux’ poetische Verfahren plausibel: Auch sie kehren die Zeitrichtung um. Die ethnographischen Erzählungen stehen im Präsens, sie sprechen von Zuständen; die litaneihaften Wiederholungen in den Gedichten vollziehen eine Art Aufund Versammeln von Wörtern und Syntagmen; sie versetzen die Sprache in einen Zustand diesseits des Satzes, gewissermaßen ‚vor‘ der artikulierten Phrase; aneinandergereihte Infinitive und Partizipien bringen stattdessen das Zum-Sprechen-Anheben zur Geltung.109 Eine Geste ist ja oft auch ‚nur‘ eine Geste, also eine Andeutung, eine Anweisung auf ein Tun, das erst noch erfolgen mag oder auch nicht. Parallel zu einem Schreiben diesseits der Schrift und einem Zeichnen diesseits der Form sucht Michaux ein Sprechen ‚vor‘ der Sprache. 107  Vgl. Billeter: L’art chinois de l’écriture, 160–163. 108  Vgl. Godfroy: Danse et poésie, 191. Mit Rekurs auf Nancy, Nietzsche, Jaques-Dalcroze, Grünbein u. a. markiert sie es als das Gemeinsame von Tanz und Poesie, vgl. ebd., 193–195. Auch an Barthes’ Fragmente könnte man dabei denken. 109  Das Interesse an der Genese des Sagens eint viele Lyrik Schreibende; vgl. Godfroy, ebd., 47, und den Verweis auf Brigitte Oleschinski, ebd., 157. Auch an Anja Utler könnte man dabei denken; ihr zufolge machen Gedichte „Weltbezug […] ersprechbar“; Von den Knochen der Sanftheit. Behauptungen, Reden, Quergänge, Wien: Edition Korrespondenzen, 2016, 106.

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Dieses Inchoative im Verbalen wie im Visuellen ist ein Grund dafür, dass Michaux’ BuchKunst, und z. T. auch die rein literarischen Publikationen, strukturell immer Sammlungen darstellen: Jede andere, in sich kohärentere Form würde diesen poetischen und graphischen ‚Potentialismus‘ unterbinden. Singuläre Akte können nur jeweils einzeln präsentiert und disjunkt verbunden, d. h. aneinandergereiht, werden. In diesem Sinn sammeln die verschiedenen Buch-Kunst-Publikationen Manifestationen graphischer Improvisation. Sie sind Kollektionen jener Gesten, Musterbücher, aber freilich nicht im Sinn von Normierung und Standardisierung: Vielmehr bieten sie wie das Stoffmusterbuch mit seinen materialen Ausschnitten, an denen sich Optik und Haptik erfahren lassen, nicht Repräsentationen, sondern samples: Proben einer kontinuierlichen, sich über Jahrzehnte erstreckenden Betätigung. Die Spuren jeweils unwiederholbarer Akte, die Autographen, werden drucktechnisch in gewisser Quantität reproduziert und in Büchern dargeboten; deren Reproduktion ist zwar bei den Originalausgaben limitiert, bei der Gesamtwerk-Edition aber im Prinzip unbegrenzt. Mit der Transformation ins Buch wird das händische Graphieren – zumindest technisch – zu einer rein allographischen Kunst.110 Über Malerei schreibt Michaux einmal: „Donner à voir. Non plus. […] Plutôt donner à respirer.“111 Bilder sollen nicht Augen und Gehirn des Rezipienten beschäftigen, sondern Nase, Mund, Lunge, Bauch, Haut; er soll bei seinem Betrachten in einem elementareren und umfassenderen Sinn körperlich involviert werden. Doch da Atmen eine physiologische Grundfunktion ist, wird es nur wahrgenommen, wenn diese gestört ist oder wenn es um mehr und anderes geht als um diese: um das Atmen als Körpertechnik, wie man sie z. B. beim Schwimmen, Laufen, Tanzen, Singen, Trompeten oder auch beim lauten Sprechen benötigt, nicht zuletzt beim Rezitieren und – zuweilen ganz entscheidend – beim Formulieren von Poe­ sie. Bestimmte Arten des Lyrischen gehen aus dem Sprechen hervor und bleiben dem auch als geschriebene Texte nah. Atmen als vitale Körpertechnik, als rhythmische Bewegung, als Kinesis und Kinästhesie ist eine gemeinsame Grundlage für Musik, Tanz, Poesie, aber ebenso für die Gesten des Graphierens: Auch ihre Sequenzen von Berührung und Nicht-Berührung – sichtbar als Alternanz von Marke und Leerraum – erfolgen im Rhythmus von Pulsschlag und Atmung.112

110  Druckgraphik ist ein Mittelding zwischen Auto- und Allographie; Michaux hat auch derartige Techniken verwendet; vgl. Rainer Michael Mason/Christophe Cherix/Patrick Cramer (Hg.): Henri Michaux, les estampes 1948–1984. Catalogue raisonné, Genf: Cabinet des Estampes du Musée d’Art et d’Histoire, 1997. Die Graphismen der hier als Buch-Kunst verhandelten Publikationen sind jedoch alle Handzeichnungen. Zur Problematik der Reproduktion in den Œuvres complètes vgl. oben, 65, Anm. 11. 111  Parenthèse (1959), in Critiques, hommages, déclarations, OC II, 1028. „Sehen lassen. Nicht mehr. […] Vielmehr atmen lassen.“ Zur Bedeutung des Atems in der chinesischen Malerei vgl. oben, 110 f., Anm. 23. 112  Muss man heute an diese physiologische Dimension erinnern, so ist es im frühen 20. Jahrhundert umgekehrt: Tanz ist (wie Rituale, Gewohnheiten u. a.) ein Gegenstand nur der Physiologie, er wird als Fortsetzung des Pulsschlags gedeutet. Mauss’ Begriff der Körpertechnik geht gegen derartige Aufassungen an; vgl. Noland: Agency and Embodiment, 34. Umgekehrt interessieren ihn als Sozio–Psycho-Biologie des Mystischen die Atemtechniken in Indien (Yoga) und China (Taoismus); vgl. Die Techniken des Körpers, 220. Bei Michaux, der Mystiker las, dürften dergleichen Bezüge im Hintergrund stehen.

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Gesten, Improvisation, Graphieren als Performanz, inchoative, nicht-teleologische Bewegungen, deformierte Routinen, Rhythmen, Aufmerksamkeit auf Kinesis und Kinästhesie – in diesen und anderen Momenten zeigt sich die Affinität von Michaux’ poetisch-graphischem Tun zum zeitgenössischen Tanz; hier liegen die Anschlussmöglichkeiten für tanztheoretische Studien und tänzerische Praktiken.113 Und dennoch: Auch wenn von Michaux’ Buch-Kunst Wege zum Tanz führen, ist die Transgression alles Verbalen und Skripturalen gerade nicht das Ziel. Deutlich zeigt das Par des traits, Michaux’ letzte Publikation, ein geradezu heteroklites schrift- und buchkulturelles Hybrid. Durch Striche geschieht alles Mögliche, heißt es hier, z. B.: „Approcher, explorer par des traits / Atterrir par des traits / / étaler / altérer par des traits / / susciter ériger / dégager par des traits“ usw.114 Reihen von Syntagmen mit Pour und Contre, wie man sie von anderen Gedichten kennt, entwerfen die Kampfsituation: „Contre les boues / contre le paralyseur secret / contre tous les agglutinants….“ und „Pour le dépouillement / pour les retournements / pour démanteler / pour déréaliser…“.115 Zu den Wirkungen der traits gehören auch die revanche (Rache) und der retrait (Rückzug); die traits gelten als Elementares, das von archaischen Anfängen bis zur verwalteten Gegenwart – „de la tribu à la Société / de la main à l’empire des bureaux“116 – alles durchzieht, sie gelten als Universalmodell, sind also Kultur- und Körpertechniken. Schließlich wird ihr omnipotentes Wirken mit seiner eigenen Umkehrung gekrönt: Das Gedicht zum Lob der traits mündet in die Syntagmen: „Retour au pur, au sobre, au stoïque / d’un trait biffer tout [es folgt eine Kriegsphantasie von fallenden Geschossen, S. M.] / traits, la durée d’un instant / mettant fin à tout / à jamais / / PAR DES TRAITS“.117 Auf dem Papier haben traits natürlich alle Macht des Erzeugens – die graphische Welt geht aus ihnen hervor –, aber ob sie auch die Macht zur Tilgung haben, bleibt zumindest zweifelhaft. Denn mit Strichen zu löschen, ist eine paradoxe Angelegenheit, fügt doch der tilgende Strich dem Getilgten nur wieder einen weiteren Strich hinzu; mit Strichen entfernt man sich daher vom Ziel der Rückkehr zum ‚Reinen‘ und gelangt nie zur weißen, spurfreien Fläche.118 113  Vgl. z. B. Godfroy: Danse et poésie, Villard: Poétique du geste, oder Chouinards Tanzstück Mouvements, vgl. oben, 159. 114  OC III, 1249. „Annähern, erkunden durch Striche / Landen durch Striche / / ausbreiten / verändern durch Striche / / erwecken aufrichten / herauslösen durch Striche“. Der Titel Par des traits ist auch ein Selbstzitat aus Idéogrammes en Chine, OC III, 841; vgl. oben, 120. 115  OC III, 1250 und 1251. „Gegen den Schlamm / gegen den heimlichen Stillsteller / gegen alle Klebstoffe…“ „Für die Häutung / für die Umwendungen / für das Abreißen / für das Entwirklichen…“ 116  Ebd., 1252. „Vom Stamm zur GESELLSCHAFT / von der Hand zum Reich der Bürokratie“. 117  OC III, 1253. „Zurück zum Reinen, Nüchternen, Stoischen / mit einem Strich alles durchstreichen […] / Striche, einen Augenblick lang / allem ein Ende machend / für immer / DURCH STRICHE“. Der Schritt von Linien zu Strichen wäre nur dann eine Regression, wenn man sie nicht als Körpertechniken und Gesten, d. h. wenn man sie als vor-kulturell, betrachtete. 118  Es stellt sich die Frage, ob es im Bildlichen überhaupt Negation gibt. Denn der Strich, der andere Striche für ungültig erklärt, kann diese Funktion nur dadurch erfüllen, dass er seinerseits nicht als Strich, d. h. in seiner Materialität und Aisthesis, sondern als Zeichen, d. h. in einer bestimmten Funktion, betrachtet wird; so zumindest beim Durchkreuzen. Im Fall von zeichnerischen pentimenti müssen Zeichner und Betrachter auf eine Konvention rechnen können, die einen dunkleren, dickeren, auffälligeren etc. Strich als den gültigen ansieht. Auch in diesem Fall aber vermehren sich die Striche, und wenn der tilgende den Verlauf der anderen Striche

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Das Schreiben geht in Par des traits auf sein Prä im Strich zurück; analog dazu gilt im Verbalen die Suche sogenannten avant langues, Vor-Sprachen. Der im Buch enthaltene Essay mit dem Titel Des langues et des écritures. Pourquoi l’envie de s’en détourner119 widmet sich diesem Anliegen. Wie die traits zur Schrift, so verhalten sich – das ist die prinzipielle Annahme – Gemurmel, Gezwitscher, Gebabbel, Gelall zur Sprache. Den materialen und motorischen Voraussetzungen des Schreibens werden stimmliche Gesten parallelisiert. Und ähnlich wie die traits als universell und omnipotent gelten, so sind diese vor-sprachlichen Verlautungen mit dem Pathos des Originären belegt. Zum Prä-Skripturalen und zum Prä-Verbalen zu gelangen, ist noch im späten 20. Jahrhundert ein primitivistisches Phantasma. Aber sofern hier regressive Wunschphantasien am Werk sind, gibt es – wie immer wieder in Michaux’s Œuvre – auch in diesem Fall Gegenanzeigen.120 Es sind vor allem performative, denn alle Bestrebungen, Schrift und Sprache zu entgehen, kommen erneut in einem Buch zusammen. Wie kann das funktionieren? Interessant sind hier drei Verwendungen von Graphismen an ausgezeichneten Orten im Buch: Einer findet sich auf dem Cover, einer am Ende, andere über den Schriftzeilen des Essays. Alle drei haben ganz offensichtlich nicht den gleichen Status wie diejenigen vor und nach dem Poem. Die traits auf dem Cover wirken wie ein Verlagssignet. Par la voie des rythmes und Saisir haben ähnliche Buchdeckel: Unter Name und Titel stehen jeweils Graphismen und sorgen für den Eindruck einer Buchreihe; sie haben in diesem Sinn die Funktion der Individualisierung und Bezifferung. Die gereihten traits auf den Seiten des Essays sind wie Schmuckborten eingesetzt oder auch wie das Paradox nicht-skripturaler Kopfzeilen oder Kolumnentitel. Ihre Pointe liegt freilich darin, dass jede Zeile anders ist und eben gerade nicht den ‚Titel‘ dieses Teils wiederholt. Die traits auf der letzten Seite, die als grazile, signaturartige Kurve – die einzige im ganzen Buch! – wie eine Hommage an Kandinskys „Gebogene – freiwellenartige“ (1926) wirken, könnte man als Kolophon betrachten; in Manuskripten wird der Schluss gelegentlich mit einem Bild oder in frühen Drucken mit einer Druckermarke verbunden. Anleihen bei älteren Buchkonventionen macht Michaux durchaus.121 Die Graphismen am Anfang, Ende und in den Kopfzeilen fungieren jedenfalls nicht als Illustrationen und auch nicht als selbständige Bilder, sondern als visuelle Paratexte. Diese traits sind wie die anderen keine Schrift, werden aber wie buchtechnische Elemente eingesetzt. Auf solche verweisen sie, und zwar einzig und allein durch ihren Ort, ihre Platzierung im Buch. Par des traits zielt auf eine Ebene diesseits der Schrift und der Sprache – aber anders als Par la voie des rythmes performiert es dieses Bestreben nicht durch den Ausschluss des Verbalen und (im engeren Sinn) Skripturalen, sondern es ist ein Hybrid aus mehreren Medien modifizierend wiederholt, dann resultieren daraus nicht ein gültiger und viele ungültige Striche, sondern eine rhythmische Reihe von ähnlichen Strichen. 119  OC III, 1279. „Sprachen und Schriften. Warum man ihnen den Rücken kehren will“. 120  Godfroy macht das Paradigma der Schwelle stark; vgl. Danse et poésie, 198. Die genannten Vor-Sprachen könnte man auch weniger als Außerkulturelles denn als Schwellenphänomene verstehen, in denen sich biologische, soziale, technische und insofern beim Menschen kulturelle Dimensionen mischen. 121  Vgl. oben, 179.

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und Textgattungen. Vor allem aber: Es endet in textueller Hinsicht mit einer Fußnote! In ihr distanziert sich der Verfasser von dem Missverständnis, eine alternative Öffnung zur Welt sei hier verwirklicht.122 Das bleibe vielmehr noch eine Aufgabe, und zwar – der Gedanke ist bemerkenswert, weil Michaux die soziale Natur von Schrift und Sprache sonst nie direkt thematisiert – eine von mehreren Personen. Hervorgehoben sei daran nur dies: Die Rede vom Begehren nach Rückkehr – zu Strichen und Gebabbel – endet mit einer skeptischen Relativierung eines derartigen Ansinnens, das Verlangen nach dem Prä zu Schrift und Sprache in einer metatextuellen Rede kritischer Selbstbeobachtung. Par des traits bietet also Gestisches mit Anmerkung! Das Buch zeigt sich als Medium für körperliche Performanz und Räsonnement. Es verbindet elementare graphierende Praktiken, ja, archaische Striche mit epistemischem Schreiben und Layoutkonventionen elaboriertester Art. Von einfachsten prä-skripturalen traits bis zur drucktechnisch markierten Selbstbeobachtung findet sich also alles graphierend Mögliche zusammen – in einem Buch!

* Michaux’ literarisch-künstlerisches Unternehmen rückt die alphabetische Literalisierung als Kultur- und Körpertechnik, Gestik und Habitus in den Blick; es führt vor, wie sie verkörpert ist, wie sie kinetisch realisiert und kinästhetisch erlebt wird. Literalität zeigt sich als sensomotorische Erfahrung. Dabei kommen ihre disziplinären Seiten zur Sprache (wenn auch nur am Rande die institutionellen); sie sind Gegenstand von Polemik, Ironisierung, abschätziger Wertung oder expliziter Kritik. In den unleserlichen Graphismen sind Aspekte des Schreibens enthalten, aber zugleich beweisen sie ständig die Möglichkeit, von den Automatismen des graphierenden Tuns abzuweichen. Die poetische Diktion wiederum modifiziert die kommunikative Sprache, die essayistischen Texte gehen auf reflexive Distanz. Die Graphismen performieren Gesten des Schreibens, ohne deren üblichen Zweck zu erfüllen. Sie haben nichts mit wiedergefundenen vor-kulturellen Zuständen zu tun, aber sehr viel mit der Aufmerksamkeit auf das, was Natur scheint, weil seine Artifizialität mit vielen geteilt wird. Jede soziale Gruppe hält ihre Üblichkeiten für Natur. Das gehört zum kollektiven Gedächtnis, auch zum leiblichen: Ihre Mitglieder teilen Erinnerungen, aber genauso das Vergessen. Dem unterliegt auch die zweite Natur des Literalisiertseins. Buch-künstlerische Experimente haben hier ihren Ort: Sie können zur Erfahrung bringen, was im Schreiben- und Lesenkönnen enthalten ist, in den Routinen jedoch nicht gespürt wird. Wenn sie nicht funktionieren, tritt dagegen ihre Nicht-Selbstverständlichkeit zu Tage. Bei Michaux zeigen sich die aisthetischen Seiten des Graphierens im breitesten Sinn: Hier werden Körpererfahrungen aufgerufen, die Alphabetisierte mit dem Schreiben normalerweise nicht in Verbindung bringen, während sie in chinesischer Schreibkunst präsent gehalten werden – wie von modernem westlichen Zeichnen, das sich jedoch nicht an die Ordnung 122  Damit ähnelt es Saisir, das nicht mit dem Erfassen, sondern mit der weiterführenden, unabschließbaren Bewegung endet; vgl. oben, 195.

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7. Performanz und Buch-Kunst

der Zeile bindet. Wer hätte ohne Michaux’ Arbeiten gedacht, dass skripturale Bewegungen derart variabel, energiegeladen, witzig, ekstatisch, nonchalant oder gewaltsam sein können? Auf den Seiten seiner Kunstbücher tritt eine überraschende sensomotorische Fülle von Gesten hervor. Und das Öffnen und Blättern provoziert zumindest in einem Fall auch ungewohnte haptische Erfahrungen. Kinästhesie, die Bewegungsempfindung, wird hier aufgewertet: zur Bewegungslust. Wie an diesen Beispielen deutlich, muss Linearisierung multidirektioneller Bewegung nicht nur Abstraktion heißen, Verlust an Sinnlichkeit, Asketismus, Reduktion des kinetischen Spektrums zugunsten hoher skripturaler Effizienz o. ä. Gesteigerte Beweglichkeit kann sich auch an Zeilen oder sogar Raster, kleine Formate und ephemeres Material binden; so mag sie erst recht auffallen. Die Preisgabe der Lesbarkeit wiederum erhält ein Gegengewicht: Die hybride Kombination mit alphabetischer Schrift und Buchförmigkeit fängt sie auf. Dynamogramme und Buchkonventionen treten in ein ironisches Wechselspiel. Das alles verändert das Verhältnis zum Buch: Es zeigt sich, dass es nicht nur Medium des kollektiven (verbalen) Gedächtnisses ist und nicht nur als Text-Bild-Kombination zwei Medien verbindet; es ist vielmehr Gegenstand einer multimodalen Praxis. Lesen und Sehen brauchen die Fläche, aber auch den Raum, in dem sich das taktile Tun vollzieht. In den graphischen Spuren, in den verdichteten poetischen Texten, in der Typographie, den bimedialen Arrangements, in der ungewöhnlichen Seitenbindung ist jeweils Zeit enthalten, ja, eingefaltet; sie will im Umgang mit dem Buch realisiert werden: im verlangsamten Lesen, im Wiederholen, im Alternieren zwischen Bild und Text, im Vor- und Zurückblättern etc. Und nicht nur Sprache und Schrift haben soziale Dimensionen, auch Typographie, Layout, faktische Paratexte (wie die verwendeten Materialien), die Gesten der Handhabung u. a.m. Michaux’ Arbeiten erinnern daran, dass auch der manuelle Umgang mit einem Buch zum kollektiven Leibgedächtnis gehört.123 Dabei geht es jedoch nie um die Bewahrung von Vergangenem. Diese Buch-Kunst versucht vielmehr, die Potentiale der Veränderung zu mobilisieren, indem sie an den eminenten Gedächtnismedien Schrift und Buch die gestischen Aktivitäten hervortreten lässt.

123  Prinzipiell bildet das Buch einen Kreuzungspunkt physiologischer, psychologischer, sozialer, ökonomischer, kultureller Aktivitäten; dazu gehören im weiteren Umkreis auch Praktiken wie kaufen, verkaufen, ausleihen, schenken, widmen, anstreichen, scannen, rezensieren, liken, edieren, verfilmen, signieren, als Werk beanspruchen etc., also alles, was die Buchgeschichte lehrt und uns aktuelle Appropriation Literature, ‚propositionale Literatur‘ und andere liminale Unternehmungen ins Bewusstsein rufen. Vgl. auch unten, 225–233.

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„Moi aussi, un jour, tard, adulte, il me vient une envie de dessiner, de participer au monde par des lignes.“1 „Auch ich…“: Wäre der Text auf Deutsch geschrieben, könnten Leserinnen und Leser versucht sein, in diesem Auftakt eine Anspielung auf einen anderen autobiographischen Text zu sehen: „Auch ich in Arkadien“. Auch Goethe unternahm spät, als Erwachsener, eine „Reise ins Land der besseren Erkenntnis“2: zur bildenden Kunst, und nicht nur zu der aus Antike und Renaissance, sondern zur eigenen zeichnerischen Praxis. Der Ausgang ist bekannt. Bei dem vielreisenden Michaux stellt sich die Sache scheinbar ähnlich und doch ganz anders dar: Zeichnen und Malen sind – allen polemischen Bemerkungen gegen die Sprache zum Trotz – kein alternativer Ort, zu dem ein westlicher Schriftsteller-Künstler des 20. Jahrhunderts seine Zuflucht nehmen könnte. Nicht-alphabetische Schriften stehen nicht einfach zu Gebote, auch erfinden lassen sie sich nicht. Chinesische Ideogramme sind mitnichten intuitiv zugänglich, und an der Schreibkunst lässt sich eine intrinsische Verbindung mit repressiven Machtstrukturen nicht ausblenden; auch die größte Sinophilie kann diese Dimension nicht übersehen. Zeichen haben, wenn sie denn zu Recht so heißen, d. h. als solche fungieren sollen, ihre disziplinäre Seite, ihre Zwangsnatur, ihre Tendenz zur Entsinnlichung, und dem lässt sich nicht entraten. Jahrhunderte Schrift- und Buchkultur kann man nicht einfach abwerfen, auch wenn sie noch so sehr als Bürde erscheinen. Aber der Körper schlechthin ist auch keine Gegenwelt, gehen doch die Regularien des Kollektivs durch ihn hindurch; auch Schreiben und Lesen haben sich in ihm festgesetzt und manifestieren sich in seinen Gesten, Wahrnehmungen, Erinnerungen, Antizipationen, ja selbst in seinen Lustgefühlen. Mit all dem ist es wie mit dem ‚Ich‘, das sich auch in Arkadien zur Stelle meldet: in der Grabinschrift; der Tod ist schon vor den Lesenden da. Die Suche nach einem ‚Anderswo‘ muss scheitern – wovon allerdings jedes gelungene literarische oder künstlerische Unternehmen zeugt. Auch bei Michaux treten dementsprechend derartigen Suchen und Versuchungen andere zur Seite; sie haben diese Studie auf den Weg gebracht. Die Hypothese war, dass Michaux’ Beitrag zur Neukonzeption der künstlerischen Linie im 20. Jahrhundert nicht als bestimmter Linientyp oder spezifisches Theorem zu fassen ist: Er steckt vielmehr in jenem durchaus unspektakulär wirkenden Anliegen, ‚an der Welt durch Linien teilzunehmen‘. Dessen Bedeutung soll im Folgenden noch einmal profiliert werden. Die einzelnen Analysen haben 1  „Auch ich bekomme eines Tages, spät, als Erwachsener, Lust zu zeichnen, an der Welt durch Linien teilzunehmen.“ Vgl. oben, 9. 2  Vgl. oben, 50.

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viele verschiedene Facetten von Michaux’ poetisch und literarisch schreibenden, graphischen, drogenexperimentellen und buchästhetischen Praktiken zu Tage gefördert; abschließend sei ihre Engführung mit einigen aktuellen Überlegungen versucht, die man anthropologisch oder auch philosophisch nennen kann.

8.1. Medialität grammatisch Klee hat seine drei Grundtypen von Linien mit Anleihe bei der Grammatik des (lateinischen oder griechischen) Verbs unterschieden in aktiv, passiv und medial. In der Grammatik heißen diese drei Handlungsrichtungen genera verbi, Verb-Geschlechter oder -Gattungen, etwas technischer spricht man von Diathesen. Der Maler hat also drei genera lineae bestimmt. Die Analogie zur Handlungsrichtung des Verbs besteht dabei in derjenigen der Geste, die die graphische Linie hervorbringt. Linien sind hier keine gegebenen Formen oder Beziehungen zwischen Punkten, sondern visuelle Manifestationen eines Tuns; eine Linie ist ein Tun oder ein Geschehen, insofern kann sie mit der Grammatik des Verbs erläutert werden. Bei der ‚aktiven‘ Linie bewegt sich die ziehende Hand – und damit der Punkt an der Spitze des Zeicheninstruments – ohne Ziel in eine Richtung (die variiert, aber nicht aufgegeben wird). Die ‚passive‘ ergibt sich aus dem Hell-Dunkel-Kontrast zwischen zwei Flächen, sie resultiert als Rand einer zweidimensionalen Verdichtung von Punkten bzw. von Pigment.3 Bei der ‚medialen‘ kehrt die ziehende Bewegung an ihren Ausgangspunkt zurück, so dass sie eine Fläche umschließt und von einer diese umgebenden trennt. Die Bewegung kommt zu einem Ende und damit gewissermaßen zur Ruhe; sie verbindet das Ziehen des Aktivs mit dem Bestimmtwerden durch den Kontrast beim Passiv. Diese Engführung von Linie und Verb ist bemerkenswert, denn sie steht nicht in der ut pictura poesis-Tradition, in der Sprache und Bild als wechselseitig konvertierbar gelten. Klee versucht auch nicht, bildende Kunst in der Spur der Rhetorik oder (wie im 19. Jahrhundert üblich) der historischen Sprachwissenschaft zu theoretisieren, und nicht, à la Semiotik Visuelles prinzipiell nach dem Modell der Sprache zu entwerfen. Er sucht vielmehr nach einer Grammatik körperlicher Bewegung.4 Letztere versteht er als etwas, was sich in unterschiedlichen Medien artikuliert: verbal oder graphisch-malerisch, physisch-motorisch (im Gehen, Tanzen…), akustisch oder als Prozesse des Wachsens, der Emergenz, der Metamorphose u. a. Auch wenn Michaux’ Linien sich, wie gezeigt, nicht in Klees Typologie einfügen, kann man hier noch einmal anknüpfen, ohne freilich erneut eine Grammatik von Nicht-Sprachlichem anzustreben; die Beziehung von Linie und Verb muss nur etwas anders gewendet werden.

3  Die Genese kann man sich als Ziehen oder Schieben eines Pigment abgebenden länglichen Gegenstands vorstellen, etwa eines Stücks Kreide oder Kohle, wobei dieser nicht mit seiner Spitze, sondern seiner ganzen Länge den Träger berührt. 4  Kunsttheorie als Grammatik der Formen ist um 1900 noch durchaus aktuell, so etwa im Spätwerk Riegls.

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8.1. Medialität grammatisch

Dazu seien kurz die Überlegungen von Émile Benveniste in Erinnerung gerufen. Um das mediale Verb-Genus genauer zu bestimmen, stellt er dem Begriffspaar aktiv/passiv das Paar aktiv/medial gegenüber: In beiden hat ‚aktiv‘ jeweils eine andere Bedeutung. Im ersten Fall ist das Subjekt agens und das Objekt patiens, das eine handelt das andere erleidet, vom Subjekt geht das Tun aus, aber es selbst bleibt außerhalb davon. Im zweiten Fall geht es dagegen gar nicht um die Frage, wer aktiv oder passiv, Subjekt oder Objekt ist, sondern darum, wo sich das Subjekt befindet, um seinen Ort oder seine Position in diesem Tun. Im Aktiv bezeichnen die Verben einen Prozeß, der sich ausgehend vom Subjekt und außerhalb seiner vollzieht. Im Medium, der durch Opposition zu definierenden Diathese, zeigt das Verb einen Prozeß an, dessen Sitz das Subjekt ist; das Subjekt befindet sich innerhalb des Prozesses. […] Hier ist das Subjekt der Ort des Prozesses, selbst wenn dieser Prozeß […] ein Objekt verlangt; das Subjekt ist das Zentrum und gleichzeitig handelnde Person des Prozesses; es vollbringt etwas, was sich an ihm vollzieht: geboren werden, schlafen, ruhen, sich vorstellen, wachsen usw.5

Diese Diathese nennt er interne im Unterschied zur externen beim Aktiv. Das Medium ist damit nicht als Hybrid aus Aktiv und Passiv bestimmt, sondern als etwas Eigenes. Das Subjekt wird nicht eskamotiert, sondern bleibt erhalten, aber es besteht nicht mehr die schlichte Alternative von aktiv oder passiv, der Zwang des Entweder-Oder. Das Subjekt tut etwas, was ihm geschieht, es ist Teil des Geschehens, das von ihm ausgeht. Das bedeutet einen Aspektwechsel und eröffnet für viele Fragen tatsächlich neue Betrachtungsmöglichkeiten.6 Unter anderem hat Tim Ingold diese linguistische Differenzierung in seinen Arbeiten aufgegriffen:7 Sie hilft ihm, das Verhältnis von Menschen zu Materialien, ihrer Umgebung und ihren Tätigkeiten anders als in den Sozialwissenschaften üblich zu beschreiben. So hat er auf der Grundlage seiner ethnologischen Untersuchungen die Beziehungen von Jägern zu den Tieren oder die von Bauern zu Boden, Wetter, Vegetation als „attending to active materials“ charakterisiert und ihr Produzieren als „active undergo in the middle voice“:8 Das Agieren der Menschen ist hier kein einseitiges Zugreifen, Kontrollieren, Auferlegen, Macht Ausüben; es vollzieht sich vielmehr in multiplen Verflechtungen mit anderen Akteuren – menschlichen wie nicht-menschlichen (Tieren, Vegetation) – und nicht belebten Aktanten; es findet in einem Ambiente statt, das seinerseits nicht nur ein Behälter und inerter Stoff ist – nicht nur zu formende Materie –, sondern etwas, zu dem die Akteure in reziproker und responsiver Beziehung stehen, einer Um-Welt im wörtlichen Sinn. Ihr Tun wäre in der dichotomischen Ordnung gegenseitiger Ausschließlichkeit von Aktiv und Passiv falsch beschrieben, es muss als eines im Genus Medium verstanden werden, bei dem das Subjekt agiert und sich zugleich innerhalb der von ihm veranlassten Prozesse befindet. Es dirigiert nicht, aber es bewirkt durchaus etwas, es ist ebenso Agent wie Moment in einem vielfältigen Geflecht aus Relatio5  Aktiv und Medium im Verb, in: Émile Benveniste: Probleme der allgemeinen Sprachwissenschaft, München: Paul List, 1974, (189–198) 194. 6  Vgl. Philippe Eberhard: The Middle Voice in Gadamer’s Hermeneutics. A Basic Interpretation with Some Theological Implications, Tübingen: Mohr Siebeck 2004, 14–16. 7 Vgl. The Life of Lines, London/New York: Routledge, 2015, 145. 8  Beide Zitate ebd., 155.

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nen zu anderem und anderen. Als Teil davon wird es gerade nicht von anderen Faktoren nur bedingt und determiniert – damit würde erneut eine falsche Alternative eröffnet –, vielmehr kann es gar nicht anders tätig sein denn als vielfach Eingeflochtenes. Das meshwork, wie Ingold diesen Zusammenhang im Unterschied zum vektoriellen network nennt, besteht selbst aus Dynamiken und Aktionen, die – so ließe sich ergänzen – iteriert werden und iteriert werden müssen, um stabil zu sein, in ihrer Wiederholung aber stets auch variieren, beide Seiten zu permanenten Anpassungen und Abstimmungen bringen, Verschiebungen erzeugen etc. Das Maschenwerk ist kein Gerüst, keine Struktur, der das Subjekt entspricht, weil es sie als objektive soziale Regeln und Machtmechanismen inkorporiert hat und weil es reproduziert, woraus es selbst hervorgegangen ist; das meshwork setzt Akteure voraus, die jeweils als multiple, agile, Verknüpfungen eingehende zu denken sind; es ist prozessual, in dauernder Bewegung und Veränderung, besteht aus unabsehbaren Initiativen, reziproken Bezugnahmen, ineinander verschlungener Aktivitäten.9 Sein Modell ist in der Natur das Myzelium, im Bereich der Technik z. B. die Korbflechterei: Anders als in einem Netzwerk mit seinen Punkte verbindenden Linien (connective lines) gibt es hier Durchlauflinien (lines of flow), und Handeln geht – so die Übersetzung der handwerklichen Praxis in ein theoretisches Modell – aus einem Spiel der Kräfte entlang (along) derartiger Linien des Geflechts hervor.10 Ingold hat die Akzentuierung des Verbs im Genus Medium an allen möglichen Aspekten menschlichen Lebens vorexerziert. Paradigmatisch dafür steht der Satz „to human is a verb“.11 In dieser Anthropologie, die sich vielfach in polemischen Gegensatz zu Ethnologie und anderen sozialwissenschaftlichen Nachbardisziplinen stellt, ist ‚Mensch‘ kein Substantiv, d. h. keine abgrenzbare Identität (und ‚menschlich‘ kein Adjektiv, das man einem Nomen anhängen könnte); es indiziert vielmehr Tätigkeiten oder besser ‚Tätig-Sein‘, wenn diese Kombination als ein Verb mit interner Diathese gelten kann. Vollständig muss der zitierte Satz daher eigentlich lauten: ‚To human is a verb in the middle voice.‘ Um diesen prinzipiellen Zugriff, ja, diese Axiomatik seiner Anthropologie zu verdeutlichen, rekurriert Ingold immer wieder auf Linien. Sie sind Gegenstand von Studien zu körperlichen und sozialen Praktiken mit linienartigen Dingen wie graphischen Linien in Notationen, Fäden in textilen Techniken, Wegen und Bahnen, die aus Bewegungen im Raum hervorgehen, u. a.m.12 Aber Linienpraktiken in diversen Kulturen und im Vergleich vormodernder und moderner Zeit bilden nur eine von mehreren Ebenen. Was sich an jenen beobachten lässt, hat 9  Vgl. auch oben, 32 ff. 10  Vgl. dazu Erich Hörl: Ökologien des Machens. Zur allgemein-ökologischen Kritik der Welterzeugung bei Tim Ingold, in: Nikola Doll/Horst Bredekamp/Wolfgang Schäffner (Hg.): +ultra. gestaltung schafft wissen (­Ausst.kat.), Leipzig: Seemann, 2016, (49–57) 53. 11  The Life of Lines, 115. Die Nähe zur Phänomenologie und zu Heidegger liegt hier auf der Hand. In anderen Hinsichten stehen Ingolds Überlegungen denen von Certeau und Deleuze nah, dem topologischen Denken Serres’, bestimmten soziologischen Theorien der Praxis, kybernetischen sowie ökologischen Ansätzen. Vgl. auch die Erläuterungen von Christian Moser in LuL, 142, 150, 157 f., 166 f., 189 f., 198 f. 12 Vgl. Lines. A Brief History, London/New York: Routledge, 2007. Graphische Linien sind dabei – das ist entscheidend – nur eine Variante des umfassenderen line-making.

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8.1. Medialität grammatisch

auch methodologische Bedeutung für Ingolds Arbeit oder, vielleicht sollte man besser sagen, philosophische, denn in diese Richtung geht er über seine langjährige ethnologische Tätigkeit hinaus. Und er fügt immer wieder eigenhändig gezeichnete Linienbilder in seine Texte ein.13 Linien haben in dieser ethnologisch fundierten philosophischen Reflexion des menschlichen Lebens die Funktion einer Mastertrope. Sie dienen u. a. als machtvolle epistemische Metapher, mit deren Hilfe die Wissenschaften vom Menschen einer grundlegenden Revision unterzogen werden.14 Linien sind dabei entscheidend, insofern ihr Modell alle möglichen sonst üblichen ersetzen kann: etwa dasjenige kompakter, dinghafter Entitäten – Subjekt versus Objekt, Mensch versus Ding –, das von den Beziehungen derartiger Entitäten – Menschen als Punkte in einem Netzwerk, Umwelt als Supplement zum Menschen –, das von Hierarchien wie der zwischen Stoff und Form, das vom vorausgesetzten Raum, den der Mensch nur betritt, ohne ihn zu verändern, u. a.m. Dergleichen ‚als Linien denken‘ heißt, die statischen, reifzierenden Modelle in Relationen und Bewegungen überführen und zeigen, inwiefern diese ihrerseits eingelassen sind in etwas, das sie aktiv mithervorbringen. Linien sind derart gerade nicht das Schema von (kausaler, eindimensionaler) Linearität, vielmehr handelt es sich, was an den von Ingold gewählten Paradigmen15 auch durchaus plausibel ist, um nicht-lineare Linien. Die prinzipiell mit unserer Vorstellung von Linien verbundene Relationalität und Mobilität und zugleich die Zurückweisung der Linearität erlauben denn auch die Formulierung: Linien sind Verben. Das heißt, mit Hilfe von Linienmetaphern und visualisierten Linien, die beide als kognitive Bilder fungieren, nur in zwei verschiedenen Medien begegnen, treten in diesem Denken an die Stelle von Objekten (oder Substantiven) und von Subjekten (oder Pronomina) Tätigkeiten (oder Verben).16 Genauer muss man sagen: Linien sind mediale Verben. Und zwar in dem Sinn, wie Benveniste es erklärt: Es geht um ein Handeln ohne oder ein Erleiden mit agency; Subjekte und Objekte bleiben durchaus erhalten, aber der Akzent fällt auf den Prozess, in den beide als Momente eingebunden sind. Ingolds zentrale Metapher ist keine standardmäßige. Sie funktioniert nicht in dem schlichten Sinn, dass auf der einen Seite einer Vergleichsbeziehung etwas Abstraktes, meist Lebloses, steht, zu dessen Veranschaulichung auf der anderen Seite etwas Sinnliches, Leben13  Hörl sieht ihn deswegen am Rand des Diskursiven, vgl. Ökologien des Machens, 54. Aber Ingold ist diesem Rand nicht näher als Deleuze, Derrida, Nancy oder andere poststrukturalistische Theoretiker, auch nicht als Bergson, Heidegger, Merleau-Ponty oder aktuelle Vertreter phänomenologischen Denkens. Im Gegenteil hält er sich sprachlich eher an die langue commune als jene. Eine gewisse Affinität hat er in Hinsicht auf den Gebrauch von Diagrammen nicht nur zu Deleuze – gelegentlich transformiert er sogar dessen Bilder –, sondern m. E. auch zu Warburg: Der Kunst- und Kulturwissenschaftler rekurriert häufig auf visuelle Schemata und operiert ganz zentral mit einem Denk-Bild, das neben vielschichtigen ikonographischen Bezügen auch als methodologisch relevantes Strukturmodell fungiert: mit dem der Schlange; vgl. Mainberger: Experiment Linie, 145, 252 f., 259, 326–340. Bei Ingold ist die mäandernde und sich verflechtende, nicht nur visuelle, sondern auch taktile, in der Bewegung entstehende, im sozialen und ambientalen Austausch stets im Werden begriffene Linie die entscheidende konzeptuell wirksame Referenz. 14  Da Linien nur u. a. graphische sind, wird gerade nicht das epistemische Paradigma fortgeführt, das Graphie, -gramm, Schrift, Text dominant setzt. 15  Vgl. unten, 214. 16 Vgl. The Lines of Life, 124 und (mit Verweis auf Benveniste) 145.

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diges dient. In diesem Fall ändert sich vielmehr in der Relationierung die Bedeutung beider, des comparandum und des comparatum: Linie wird nicht im gewöhnlich dominanten geometrischen Sinn als Gerade und nicht im konventionellen zeichnerischen als Umriss verstanden, sondern als Aktivität. Dies wiederum lässt an eine Kraft und eine Kraftwirkung denken, an einen Vektor, aber damit wäre das Geschehen ganz einseitig, nach dem Muster der Mechanik gedacht; das Verb würde im Sinn der üblichen grammatischen Unterscheidung entweder als ein rein aktives oder ein rein passives aufgefasst. Die Spezifizierung ‚medial‘ oder ‚Genus Medium‘ tritt dem entgegen. Nicht nur die Vorstellung von der Linie, sondern auch die der Verbgrammatik also werden modifiziert. Eine Erkenntnisleistung erbringt diese Metapher dadurch, dass beide Seiten in Revision gehen. Eine ‚aktive‘, aber nicht einfach vektoriell gedachte Linie ist ein konzeptuelles Bild für ein leibliches in die Welt involviertes Tun. Umgekehrt lässt sich ein nach dem Modell des medialen Verbs verstandenes Mensch-Sein als derartige Linie versinnlichen. Mit gewissen Einschränkungen, da sich Temporalität, Prozessualität, Reziprozität u. a. visuell nur andeuten lassen, ist sie auch ein sichtbares Kürzel dafür. Nicht-lineare Linie und mediales Verb ‚ähneln‘ einander als Prozess, der das Subjekt umgreift. Dieses ist weder erster Ausgangspunkt einer gerichteten Linie (aktiv) noch definitiver Endpunkt einer solchen (passiv), sondern ein Moment der die Linie ausmachenden Bewegung. Sprachwissenschaftlich ist das grammatische Subjekt im Innern des von ihm vollzogenen Prozesses, anthropologisch-philosophisch ist das verkörperte (embodied) Subjekt tätig in eine ebensolche Um-Welt verflochten. In der Metaphorisierung der Linien als Verben dient die Grammatik – natürlich – als Analogon, denn die Grammatik ist autonom (Wittgenstein); sie sagt nichts über das Sein der Dinge aus. Aber wir wissen ebenso, dass sie unser Denken strukturiert. Und wenn dieses u. a. durch die Polarität von Tun und Leiden geprägt ist, während andere, nicht-indoeuropäische Sprachen oder die Sprachen der europäischen Antike das Medium kennen, ist es durchaus legitim, mit Hilfe einer grammatischen Betrachtung ein über die Grammatik hinausgehendes Problem zu erläutern; neben vielen anderen Möglichkeiten lässt sich auch am Verbgenus Medium die Frage nach der Überwindung von scheinbar unausweichlichen Dualismen stellen. Akzeptiert man ein ökologisches Denken wie das hier angedeutete, dann organisiert die Linien-Metapher auch nicht nur einen Diskurs, sie ist mehr als ein rhetorisches Moment wissenschaftlicher Prosa, mehr als eine Mastertrope. Eher müsste man sie einreihen in die metaphors we live by (Lakoff): Sie wäre eines der Modelle, nach denen wir, basierend auf unserer räumlich-körperlichen, und das heißt auch kinetisch-kinästhetischen, Erfahrung, die Welt entwerfen. Als solches gehörte sie zu unserem Denken und Handeln, ihre Frequenz in der Alltagssprache und im visuellen Gebrauch wäre nur das Symptom ihrer weitreichenden Relevanz für unser Leben, die wir jedoch in der Regel verkennen. In Bezug auf Literatur haben sich viele Autorinnen und Autoren des 20. Jahrhunderts des im grammatischen Medium aufscheinenden Problems des Subjekts und seiner Aktivität angenommen. Musil etwa hat Schreiben nicht als Tätigkeit, sondern als Zustand bezeichnet. Barthes hätte sich in seinen bekannten Überlegungen, ob Schreiben ein intransitives Verb sei, auf den österreichischen Schriftsteller berufen können. Mit Rekurs auf Benveniste konstatiert

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er zwischen modernem Schreiben, und präziser: dessen Zustand, und der Handlungsrichtung Medium eine genaue Entsprechung. „Schreiben heißt heute sich zum Zentrum des Redevorgangs machen, das Schreiben vollziehen und sich selbst in Mitleidenschaft ziehen, Aktion und Affekt zur Deckung bringen, den Schreibenden nicht als psychologisches Subjekt [...], sondern als Agens der Aktion innerhalb des Schreibens belassen.“17 Dementsprechend heiße das Perfekt dieses Verbs auch nicht ich habe, sondern ich bin geschrieben, was sich nicht einfach in das passivische man hat mich geschrieben umwandeln ließe. Im Sinn des grammatischen Mediums verschwindet das Subjekt also nicht (um irgendwann unerwartet wiederzukehren), es ist aber an einer anderen Stelle im Prozess des Schreibens als traditionellerweise behauptet. Andere Künste verfahren wie die verbalen: Im 20. Jahrhundert wird nicht etwas, sondern schlechthin gemalt, gezeichnet, skulptiert, installiert, fotografiert, performiert, getanzt etc. Alle diese Tätigkeiten sind zunehmend (und selbst, wenn es erkennbare Objekte oder Gegenstände gibt) zu intransitiven oder im beschriebenen Sinn medialen geworden. Auch das schriftallusive Graphieren Michaux’ und anderer gehört dazu. Mit Ingold und Klee (auf den sich der Anthropologe oft bezieht) kann man sagen: Linien sind auch für Michaux Verben, und zwar mediale. Sein Œuvre dreht sich um die graphierende Tätigkeit, ja, um das ‚Graphierend-Sein‘. Wenn dieser Ausdruck einen explizierbaren Sinn hat, dann indiziert er, dass Graphieren nicht nur eine Bewegung meint, die in einem Strich sichtbar wird und eine gewisse Zeit lang sichtbar bleibt. Worin aber besteht dieses Mehr?

8.2. To be at play: werden, teilnehmen, beobachten Eine graphische Linie denken wir in der Regel als gezogene; sie ist unser Paradigma und Prototyp. Auch Klees ‚aktive‘ Linie entspricht dem, trotzdem hat er uns nachdrücklich gelehrt, sie als eine gehende und d. h. vorwärts gewandte aufzufassen – nicht als eine, die hinter etwas herläuft, nachgeschleppt wird, also doch passiv ist, die nach der Hand, dem Auge, einer vorgegebenen Form oder einer Idee kommt. Wer spaziert oder reist, schaut, solang er sich bewegt, nach vorn; er macht sich seinen Weg, auch wenn schon Wege und Straßen da sind, denen er folgt. Seine Bewegung hat diese futurische Dimension, sie ist dynamisch und generativ. Das teilt sie mit den Linien des Wachsens: Diese treiben aus Keimen, Zellen, Körpern, lebendigem Stoff heraus, drängen und strecken sich in den Raum und in die bevorstehende Zeit hinaus. Was hinter ihnen liegt, ist nicht tot, sondern Reservoir und Voraussetzung ihrer Richtung auf 17  Schreiben, ein intransitives Verb?, in: Zanetti (Hg.): Schreiben als Kulturtechnik, (240–250), 247 f. Auch Derrida, Hayden White, Dominick LaCapra u. a. beziehen sich auf dieses Problem; vgl. Maria Boletsi: From the Subject of the Crisis to the Subject in Crisis: Middle Voice on Greek Walls, in: Journal of Greek Media & Culture 2.1 (2016), 1–27. Vgl. auch den Hinweis auf den Dissens zwischen Jacques Vernant und Barthes ebd., 12, Anm. 11. Da das sprachgeschichtliche Verschwinden der Medialform philosophisch mit dem Aufstieg der Vorstellung eines aktiven, verantwortlichen (Willens-)Subjekts verknüpft wird, ist der Rekurs auf dieses linguistische Phänomen für die moderne Subjektkritik sehr attraktiv – für eine poststrukturalistische ebenso wie für eine theologische; vgl. 209, Anm. 6.

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das Künftige. Derartige dreidimensionale (temporale) Linien: Fasern, Fäden, Fibrillen, empfindliche Tentakeln, die nicht gezogen, sondern gewissermaßen in die Welt hinausgeschickt werden (put out), wo sie sich mit anderen verknäueln und etwas tun, sind bei Ingold die Paradigmen. Ein Bakterium, d. h. eine prokaryotische Zelle mit einem Flagellum, ein seinen Faden spinnender Seidenwurm, ein Rhizom u. a. werden aufgerufen; Flecken, von denen Linien ausgehen, oder Klees einander umspielende Linien – die Wege eines Spaziergängers mit Hund – veranschaulichen das Prinzip. Auch Mauss’ Rekurs auf marine Fauna, auf Kraken und Seeanemonen, als Modell sozialen Lebens ist eine Referenz. Energie, Bewegung, reziprokes Aufeinanderbezogensein bilden derart elementare Parameter in einer Anthropologie, die sich nicht auf den Menschen beschränkt, sondern nach einer „ecology of life“18 strebt. Die nicht eine Vergangenheit festhaltenden, nicht-fixierenden Linien haben Pendants in Michaux’ phantastischer Ethnographie. Meidoseme ziehen keine Linien, sie senden welche aus: Sie werfen Lassos, oder sie steigen selbst als Säfte in Pflanzen hoch, sie kehren die Richtung der graphischen Linie und des Schreibens – des Zugs als Nachzugs – um. Ihre Linien sind Bahnen und Trajekte. Darin ähneln ihre Bewegungen denen des Tanzens. Denn bei dessen Flux handle es sich nicht um eine Spur, die man hinter sich herziehe wie beim Skifahren; das sei eine Spur des Vergangenen, beim Tanz dagegen sei die Spur immer schon in der Zukunft.19 Wenn Tänzer nicht einer Choreographie ihrer Bewegungen folgen, sondern improvisieren, nehmen sie sich nicht bestimmte Raumwege vor. Trotzdem laufen sie nicht beliebig herum. Sie finden ihre Wege im Zuge der Bewegung, machen ihre spurlosen Bahnen, ohne sie geplant zu haben. Das kinetische und kinästhetische Wissen ihres Körpers ‚entwirft‘ sie in unmittelbarer Verbindung mit ihrer Realisierung, ‚Plan‘ und ‚Vollzug‘ (Aktiv und Passiv) sind nur analytisch zu unterscheidende Momente eines Bewegungsverlaufs, der von den Akteuren ausgeht und in dem diese sich befinden. Ihr Tun gehört dem Genus Medium an. Mit Michaux’ Graphieren steht es ähnlich, und seine Überlegungen dazu schlagen immer wieder diese Richtung ein. Auch wenn er nicht aufs Tanzen hinauswill, kommt die Art, wie das Graphische durchgehend kinetisiert wird und die Kinästhesie in den Fokus rückt, Interessen des zeitgenössischen Tanzes nah.20 Um ähnliche Dynamiken des Werdens geht es, wenn errante, emergente, quasi-wachsende, in den Raum hineingeworfene Linien auftauchen, wenn das Problem des saisir sich nicht mit dem Verweis auf das strukturalistische Sprachsystem und die Semiotik erledigen lässt oder sich Hoffnungen auf eine nicht körper- und nicht aktivitätsvergessene Art, mit Schrift Bedeutung zu generieren, auf chinesische Ideogramme richten. Das intransitive Graphieren kann man auch in Anlehnung an nicht-repräsentationale Theorien der Wahrnehmung beschreiben. Für diese heißt Sehen nicht, dass ein vom übrigen Körper separiert gedachtes Gehirn Reize zu einer internen Vorstellung, einem Bild, verarbeitet; es ist kein Geschehen nach einem Input-Output-Prinzip, sondern eine leibliche und 18 Ingold: Lines. A Brief History, 103. 19  So der japanische Choreograph Saburo Teshigawara, nach Godfroy: Danse et poésie, 212. 20  Vgl. oben, 159, 191, 203 u. pass.

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situierte Aktivität; es ist eine bestimmte Art, die umgebende Welt zu erkunden. Visuelles Bewusstsein entsteht nicht im Gehirn, sondern ist etwas, was wir tun.21 Alva Noë, eminenter Vertreter dieses Ansatzes in der gegenwärtigen Philosophie, bringt es auch auf die Formel: Sehen heißt „to be at play“,22 an einem Spiel teilnehmen also, bei dem man agiert, und zwar nicht allein. Es bedeutet für die Akteure Involviertsein und dauernden Austausch, „an ongoing transaction, a negotiation“.23 Sie beziehen sich notwendig stets aufeinander, nehmen Impulse auf und geben selbst welche, passen sich an jeweils wechselnde Gegebenheiten an, modellieren das Ambiente, modulieren (Merleau-Ponty) die Situation. Regeln unterstehen sie nicht einfach; statt von ihnen geleitet zu werden, nutzen sie sie vielmehr, und z. T. bringen sie sie selbst hervor. All das umschreibt, wie Wahrnehmung zustande kommt als Geschehen eines perzeptiven und propriozeptiven, situierten, in Aushandlungen begriffenen Körpers.24 Derart ist Sehen als Mitspielen auch eine andere Formulierung für eine Intelligenz, die dem Körper nicht als Anderes gegenübersteht, sondern in seinen Bewegungen selbst enthalten ist; das gehört zu den Grundannahmen der embodiment-Theorien.25 Ähnlich wie das Wahrnehmungsspiel beschreibt Noë dasjenige der Sprache, genauer des Sprechens: Es ist in seinen Termini ein „skillful, purposeful, situation-sensitive, social movement“.26 Grundlegend ist Sprache hier also Bewegung, Aktivität, nicht System und Struktur, sondern Artikulation, und das impliziert agierende Wesen; diese bringen erlernte, praktisch erworbene und in steter Weiterentwicklung befindliche Fertigkeiten mit, ihr Tun ist zielgerichtet, zweckhaft, sinnvoll und sinnerzeugend, situationsempfindlich und steht immer im Austausch mit anderen, die ebenso befähigt, empfänglich, produktiv und agil sind. Auf diese Weise lassen sich auch die im Sinn der Grammatik medialen Linien verstehen: Intransitives Graphieren bedeutet an einem Spiel – an der ‚Welt‘ – teilnehmen. Michaux’ lignes sind, wie auch immer sie aussehen und ob sie graphische oder verbale sind, partizipative Aktivitäten im oben beschriebenen Sinn: Können bringen sie mit, aber sie gehen auch und gerade

21  „… vision is a mode of exploration of the world that is mediated by knowledge of what we call sensorimotor contingencies.“ J. Kevin O’Regan/Alva Noë: A Sensorimotor Account of Vision and Visual Consciousness, in: Behavioral and Brain Sciences 24 (2001), (939–1031) 940. Dieses Wissen ist ein praktisches, kein propositionales. – Zu den Experimenten von Stratton (vgl. oben, 68 f.) vgl. ebd., 953. 22  The Writerly Attitude, 85. 23 Ebd. 24  Die Phänomenologie würde sagen: als Aktivität eines Leibes. Ob in deren Ansatz die hier mit den Stichworten transaction und negotiation angedeuteten sozialen Prozesse genügend berücksichtigt werden, ist freilich umstritten; vgl. oben, 57, Anm. 76. Für die Theorien der Verkörperung sind Intersubjektivität und Interaktion primär. 25  Vgl. oben, 18 f., Anm. 23, und 28, Anm. 46. Eine komplexe Beschreibung unseres wahrnehmenden, fühlenden, interaktiven Verflochtenseins mit der Welt gibt z. B. Susan Stuart: The Articulation of Enkinaesthetic Entanglement, in: Jung u. a. (Hg.): Dem Körper eingeschrieben, 19–35. Enkinaesthesia erläutern die Herausgeber als „Beschreibung der funktionalen Integration von Bewegungsschemata und Wahrnehmungsmustern leiblich Handelnder, in denen ego und alter als getrennte Subjekte erst entstehen“; ebd. (7–15), 10. Zur radikalen (enaktiven) embodiment-Position von Noë (und Gallagher selbst) vgl. Gallagher: Embodiment, 369–377. 26  The Writerly Attitude, 81.

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mit dem Nicht-Können um.27 Zielgerichtet sind sie, aber nicht im Sinn eines Mitteilens, sondern darin, dass auch das graphische Tun ohne lesbare Schrift oder bildliche Repräsentation und poetisches Schreiben allemal ihre inneren Kohärenzen haben. Sozial sind sie immer, selbst im Extremfall ohne Sprache, denn sie setzen Bild-, Schrift- und Buchkultur voraus. Zu deren Erkenntnis tragen umgekehrt Michaux’ liminale Unternehmungen bei. Und nicht zuletzt sind die Bewegungen im Sinn der Gesten die eines sozialisierten und enkulturierten Körpers. Die einzige Linie, die keine partizipative ist – und die sich auch nicht als Verb im Genus Medium charakterisieren lässt –, ist die der Psychose: In der reinen Bewegung gibt es keinerlei Involvierung in eine Situation, keine Reibungen oder Widerstände an einem Material oder Gegenstand, daher auch kein Widerspiel, keine Begegnung, kein Antworten auf etwas und keine Interaktion. Die hybride Geschwindigkeit erlaubt kein Sich-Anbinden und -Verflechten; sie stellt auch keinen Prozess dar – oder zumindest keinen, den ein menschlicher Akteur noch als solchen erleben könnte. Daher gibt es auch keinen Ort für ein Subjekt, nicht einmal mehr für ein grammatisches, entfallen doch ein Außer- und ein Innerhalb des Prozesses. Weder ein alter noch ein ego kann daraus hervorgehen. ‚Eine Linie sein‘ im Sinn der Überdosis Meskalin ist das Gegenteil zur anthropologischen Bestimmung des Menschseins: Laut Ingold ‚sind‘ wir Linien, d. h., es empfiehlt sich, dass wir unser In-der-Welt-Sein nach dem Modell von Bewegungen, Kräften und reziproken Relationen denken – nicht etwa nach dem von isolierten Punkten, die Aggregate bilden, erst post festum miteinander verknüpft werden, o. ä.28 Aber das Modell der Linie ist eben nicht die rasende, nicht die in jenem chemisch induzierten Albtraum wörtlich realisierte geometrische: die pure Eindimensionalität. Nicht nur kann ein leibliches Wesen so nicht sein. Der Beschreibung nach ist das Ich in einem nicht lebbaren Zustand und zugleich am Gegenpol zur Ruhe des Todes. Daher das tiefe Grauen, das diese Halluzination auslöst. Dabei kollabiert, wie beschrieben, die Selbstunterscheidung des Akteurs in Proband und Beobachter. Auch diese Differenz gehört indes nicht nur zur exzeptionellen Betätigung eines quasi-wissenschaftlichen Selbstversuchs, sondern zur verb-medialen conditio humana: Aus der Sicht des philosophierenden Anthropologen Ingold sind wir prinzipiell teilnehmende Beobachter und beobachtende Teilnehmer; es gibt keine Partizipation am immer sozialen, materialen und mediatisierten menschlichen Leben ohne dessen kritische Beurteilung und umgekehrt. Wir sind nicht entweder Mitspieler oder Zuschauer und Kommentatoren, sondern immer beides. Der Ausdruck ‚to be at play‘ meint denn auch nicht einfach einen Zustand der Immersion oder ein blindes Vollziehen. Und das gilt für die Wahrnehmung ebenso wie für die Sprache. Phänomenologisch gedacht sind wir unserer Grundstruktur nach sehend und sichtbar, die Hand berührt und wird berührt (Husserl), etc. Im Sinn eines Chiasmus

27  Vgl. dazu auch unten, 221 ff. 28  Was Ingold als Liniengeflecht denkt, entwerfen die Theoretiker des verkörperten Denkens im Bild der Faltung: „… organism and environment enfold into each other and unfold from one another in the fundamental circularity that is life itself.“ Varela/Thompson/Rosch: The Embodied Mind, 217.

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8.2. To be at play: werden, teilnehmen, beobachten

sind wir Teil der Welt und nicht mit ihr identisch. Merleau-Ponty hat diesen unauflöslichen Knoten von Aktivität und Passivität eindringlich beschrieben.29 Für die Sprache gilt diese konstitutionelle Schleife allemal: Wir sprechen nicht einerseits und sehen uns andererseits dabei zu, es macht keinen Sinn, first-order-Gebrauchsweisen einer anderen gegenüberzustellen.30 Sprechen erzeugt vielmehr immer schon auch die Referenz auf das Sprechen mit, zum Performieren der Sprache gehört intrinsisch ihre Kommentierung, die Arbeit am Wie des Sprechens. Noë nennt dieses Moment die dem Sprechen eignende writerly attitude. Auch im Hinblick darauf führen die Künste vor, was prinzipiell der Fall ist. Die Literatur braucht keine Metaebene zu eröffnen oder gar die Reflexion der Sprache an einen anderen Diskurs zu delegieren, vielmehr exponiert sie die Sprache immer wieder im Zuge des Sprechens oder Schreibens: Die Beobachtung der Sprache – die Aufmerksamkeit auf sie, die aktive Beziehung zu ihr vom Zweifel bis zur virtuosen Verfremdung oder gezielten Unterminierung einzelner Funktionen – begleitet das literarische Agieren auf Schritt und Tritt. Sie ist in diese Praxis eingeflochten als deren selbstverständliches (nicht erst supplementäres) Moment. Vielleicht kann man sagen: Ist die writerly attitude Ingrediens des verbalen Tuns überhaupt, dann tritt sie besonders eindrücklich hervor, wenn die ‚Einstellung auf Schrift‘ zur ‚Einstellung auf Schriftstellerei‘ wird. In der Literatur nehmen wir die grundsätzliche writerly attitude wahr, während wir sie sonst nur in Anspruch nehmen. Literatur lässt uns bemerken, was wir ständig praktizieren, aber üblicherweise falsch konzeptualisieren: etwa, dass Sprache nicht einfach ein Vehikel zur Übermittlung von Botschaften ist; und dass Konzeptionen, die die körperlich-gestischen, situierten Praktiken des Sprechens ausblenden, deren Kreativität gewaltig unterschätzen. Für andere symbolische Artikulationen als die Sprache mag es zunächst schwieriger erscheinen, eine vergleichbare Doppelbewegung zu beschreiben. Doch auch visuelle, akustische und performative Künste vollziehen nicht nur, sondern exponieren ihr eigenes Tun auch und treten in beobachtende Distanz dazu; selbst Musik verfährt so, desgleichen der zeitgenössische Tanz. Sie alle markieren und rahmen, z. B. durch Wiederholungen; die naheliegendste Art der Abstand schaffenden Iteration sind Zitate. Ebenso nutzen sie aber auch materiale und situative Bedingungen als Rahmen ihres Tuns, etwa bestimmte Orte, Zeiten, Institutionen wie die Bühne u. ä.31 Ihre Praktiken sind insofern genau wie die der Sprache immer schon gedoppelt. An Michaux’ Graphieren ist das Ineinander von Partizipation an der Schreibkultur und deren beobachtender Rahmung evident. Kultur- und Körpertechnik des alphabetischen Schreibens sind selbstverständliche Voraussetzung nicht nur für dessen experimentelle Befragung, sondern auch für seine praktizierte Entfunktionalisierung. Der Grundsatz der Doppelbewegung betrifft aber ebenso die Rezeption: Wer nur in chinesischer Schrift literalisiert 29  Er nennt ihn „die metaphysische Struktur unseres Fleisches“; Das Auge und der Geist, 21 (Übers. modif. von S. M.). 30  Vgl. Noë: The Writerly Attitude, 84. 31  Zu den vielfältigen Verfahren der Rahmung in den Künsten und ihrer Theoretisierung vgl. Uwe Wirth (Hg.): Rahmenbrüche, Rahmenwechsel, Berlin: Kulturverlag Kadmos, 2013.

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wäre, könnte mit einem Buch wie Par la voie des rythmes kaum etwas anfangen; denn ohne das Alphabet zu nutzen, stellt es Parameter der alphabetischen Schreib- und Buchkultur aus. Michaux’ Buch-Kunst kombiniert in der Regel explizit beides: das gestische Tun, das ohne Sprache auskommt, aber performative und materialästhetische Aspekte von Schreiben und Schrift vorführt, und ein komplexes, literarisches Schreiben, das unter anderem auf dieses Tun referiert. Die graphische Artikulation geht mit der verbalen, die ihrerseits als Gedicht, poetische Prosa, autobiographische Narration, Essay oder anderes auf mehreren Ebenen begegnet, vielfältige Beziehungen ein. In immer neuen Varianten präsentieren sie jene unauflösliche Zusammengehörigkeit von Teilnehmen und Beobachten.

8.3. Der intelligente Körper improvisiert Michaux’ Œuvre arbeitet sich – wie jedes im weitesten Sinn künstlerische – an symbolischen Prozessen ab. Das Besondere an seinem Unternehmen ist indes weniger der bimediale Charakter oder das facettenreiche Miteinander von Poiesis und Poietologie; es besteht vielmehr darin, dass es in inskriptiven räumlichen Medien, auf Bildflächen und Buchseiten, nicht etwa szenisch, filmisch, als Performance, ständig den Körper in actu vorführt und dass diese Körperlichkeit nicht im Symbolischen verschwindet, sondern insistiert. Kinetisch-Kinästhetisches, immer wieder neues Verwickeltsein in Situationen (z. B. in der Auseinandersetzung mit widerspenstigen Materialien), energetische Faktoren, Reaktions- und Verwandlungsfähigkeit, Agilität, Schnelligkeit – all das macht die praktische Dimension dieses Œuvres aus; und sie ist es, der hier innovative Potentiale zugetraut werden. Das versteht sich nicht einfach von selbst. Zu Praktiken gehören Fertigkeiten. Wir erwerben skills, und wenn wir sie erworben haben, können wir auf sie zurückgreifen, uns auf sie verlassen. Das prozedurale Gedächtnis ist die dauerhafte und zuverlässige Grundlage unseres Tuns. Zugleich aber gibt es die andere Seite des Gelernthabens: nicht mehr vergessen können, gefangen sein in einem Körper, der die einmal eingefleischten Techniken nie mehr los wird. Gegen den Automaten in uns sind wir machtlos, Routinen dirigieren uns auch gegen unseren Willen. Und neben der Sturheit der Mechanismen gibt es doch auch die Erfahrung der Fehler: Woher auf einmal die Lücke in der vermeintlich kontinuierlichen Kette der Abläufe? Die uns agierenden Dynamiken sind auch noch mehrere, uneinheitliche und geraten miteinander im Konflikt. Die Gewohnheiten tragen uns, aber manchmal tragen sie zu sehr; wir stützen uns auf das Körperwissen, doch zuweilen lässt es uns im Stich. Nicht zufällig ist der Körper in epistemischer Hinsicht schlecht beleumundet. Traditionell, im Diskurs der theoretischen Philosophie, gilt er als dumpf, bestenfalls als nachrangige Instanz bei der Bemühung um Erkenntnis; der praktischen Philosophie ist er suspekt, Ethik und Moral geht es vor allem um seine Domestizierung. In den Wissenschaften ist er der Gegenstand schlechthin, den es zu beherrschen gilt; sie erzeugen Wissen über den Körper. Aufwertungen eines Wissens, das selbst aus dem Körper stammt, müssen dagegen in Randzonen der dominanten Diskurse gesucht werden oder sind vergleichsweise jüngeren Datums. Aber auch aktuellere Konzeptu-

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alisierungen von Gewohnheiten, Praxiswissen, Habitus, tacit knowledge u. ä. fallen oft deterministisch aus; das Können des Körpers gilt eher als stabilisierend denn als flexibel, es hat den konservativen, wenn nicht gar reaktionären Part in uns inne. Dabei sind Gewohnheiten doch auch das Gegenteil von inerten Wiederholungen des Immergleichen: Denn sie befähigen den Menschen, sich an wechselnde Umgebungen und Situationen anzupassen, dank ihrer kann er sich verändern, indem er neue Gewohnheiten annimmt. Das ‚Gewohnheitstier‘ ist eben nicht von seiner Natur bestimmt, sondern von seiner zweiten Natur. Ambivalenz zeichnet es aus: Es ist abhängig von den Wiederholungen seiner Vergangenheit, aber auch adaptabel und plastisch, gegenwartsbezogen und auf die Zukunft gerichtet; als Philosoph des Körpers hielt es Nietzsche daher mit den kurzen Gewohnheiten. Fertigkeiten sind nicht nur Sedimente; sie implizieren Körpertechniken, aber sie gehen nicht in Automatismen auf. Statt als stummes Wissen – der Ausdruck konnotiert Defizitäres – konzipiert man sie vielleicht besser als „a total field of relations constituted by the presence of the organism-person, indissolubly body and mind, in a richly structered environment.“32 Derart ist die Dichotomie von Träger, mechanisierter Körperlichkeit und intelligentem Tun aufgelöst zugunsten eines Feldes, in dem Energien verteilt sind und zirkulieren. Impulse und Reaktionen treten an jeder Stelle darin auf, Handeln vollzieht sich als Flux an Kraftlinien entlang. Vielfältig mit dem Ambiente verfädelt, konfrontiert mit konkreten Anforderungen agieren wir mit Hilfe unserer Fertigkeiten; wir bringen einen intelligenten Körper zur Geltung. Der Alltag verlangt uns dies ständig ab. Doch auch wissenschaftliches oder künstlerisches Tun unterscheidet sich in dieser praxeologischen Perspektive davon nicht grundsätzlich. Wie das Sprechen, die Geschicklichkeit schlechthin, sind auch alle möglichen anderen Praktiken geschickte, sinnhafte, situationsbezogen-responsive, soziale Bewegungen. Sie sind Aktivitäten, denen die Analyse vielleicht am ehesten gerecht zu werden vermag, wenn sie mit Begriffen operiert wie Kräfte, Materialien, Verwicklung, Beteiligung, (Ver-)Antwortlichkeit, ggf. auch Attentionalität.33 Und was sie auch immer ins Visier nimmt: Die Akteure sind permanent dabei zu improvisieren. Einer griffigen Bestimmung nach kennzeichnen Improvisation vier Momente; sie ist „generative, relational, temporal, the way we work“.34 In diesem Sinn ist sie nicht den Künsten vorbehalten – und innerhalb derer auch nicht den Sonderfällen, die etwa den free jazz

32  Tim Ingold: The Perception of the Environment. Essays on Livelihood, Dwelling and Skill, London/New York: Routledge, 2000, 353. 33  Sie stehen an der Stelle von System, Struktur, Institution, Regel, Habitus, Mensch/Umwelt, Intentionalität… Vgl. Hörl: Ökologien des Machens, 52. Man wird indes auch nach Verbindungen zwischen diesen Ansätzen suchen müssen; vgl. z. B. oben, 30, Anm. 56. – Der Klassiker ökologischer Wahrnehmungstheorie ist Gibson: The Ecological Approach to Visual Perception, zu Positionen aus jüngerer Zeit vgl. Gallagher/Zahavi: The Phenomenological Mind. 34  Ingold/Hallam: Creativity and Cultural Improvisation, 1. Affin ist diesem Ansatz auch das phänomenologische Denken von Sheets-Johnstone; vgl. z. B. Kinesthetic memory oder Dance improvisation: A paradigm of thinking in movement, in dies.: The Primacy of Movement, Amsterdam/Philadelphia: Benjamins, 2011 [zuerst 1999].

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vom Musizieren nach Noten unterscheiden.35 Sie macht vielmehr alle Kultur aus. Ihr Begriff steht dabei im Unterschied zu einem der Innovation, der Neues vom Ergebnis her denkt und als Gegensatz zu Tradition und Konvention fasst. Er ist nach vorn gerichtet, meint Prozesse dauernder Veränderung, der Verschiebung, des Austausches. Diese Prozesse finden ständig statt, etwa als die zahllosen taktischen Improvisationen, durch die – im Sinn des ökologischen Denkansatzes – lebende Wesen (nicht nur Menschen) Möglichkeiten ergreifen, die ihre Umgebung bietet, und „afford to make their ways in the tangle of the world“.36 Relational ist dieses Tun, insofern die Akteure wie Fußgänger in der Stadt gebahnten Wegen folgen, sich aber auch jeweils ihren eigenen ‚Pfad‘ machen und dabei (in minimalistischer Weise) wechselseitig aufeinander achten. Nach dem Modell eines derartigen Gehens – der Fortbewegung eines wayfarers, nicht eines hastigen, im Raum von Stelle zu Stelle springenden Flugreisenden etwa – lässt sich überhaupt das Agieren (im Genus Medium) entwerfen, auch und nicht zuletzt das Denken: Ideen sind in diesem Sinn eine Art aufzusuchende Orte; sie entstehen nicht als isolierte Taten, sondern entlang der ‚Pfade‘ lebender Wesen, die sich durch eine Welt bewegen. Der Geist (mind) ist dementsprechend kein Gedankenproduzent, sondern ein Milieu, in dem taktische und relationale Improvisationen gedeihen.37 Diese sind temporal, auch in größerem Maßstab: Geschichte geht hervor aus den nie identischen, nie metronomisch gleichen, sondern immer abweichenden, rhythmischen Wiederholungen;38 sie ist nicht als die Möglichkeit des Neuen den repetitiven Zwängen der Tradition entgegengesetzt. Dabei liegt eine Auffassung von Zeitlichkeit zugrunde, die im Sinne Bergsons die einer verräumlichten, linearisierten Zeit zurückweist; sie ist seinem Konzept der durée affin, bei dem die Aspekte der Zeit ineinandergreifen, die Vergangenheit als Arbeit des Gedächtnisses ständig in der Gegenwart aktiv ist und in die Zukunft drängt. Wenn auch diese Zeit als Linie vorgestellt werden kann, dann als eine wachsende, anschwellende. Das Bewusstsein im Sinn der durée, wie der französische Philosoph es konzipiert, reichert sich in seiner Bewegung fortwährend an, es verknüpft das Zurückliegende mit der Gegenwart, während es sich der Zukunft zuwendet, und formt sich um; dabei leitet die Vergangenheit es an, determiniert es aber nicht. Es verfährt selbst improvisierend. Kreativität kann in diesem Sinn als Moment in soziokulturellen Prozessen verstanden werden, denen Menschen ebenso unterstehen, wie sie sie vollbringen, solange sie ‚ihre Wege gehen‘. Sie ist nicht ein besonderes, über alle anderen herausgehobenes oder von ihnen sepa35  Nach Ingold und Hallam folgt das Improvisieren in beiden Fällen nur jeweils unterschiedlichen Zielen: zentrifugalen oder zentripetalen; vgl. ebd., 13. 36  Ebd., 5; angespielt wird hier auf Certeau, Gibson u. a. 37  Vgl. ebd., 8 f. 38  Zu denken ist dabei an die Artefaktgeschichte im Sinne George Kublers; auch auf Lefebvres Rhythmusanalysen verweist der Essay. Das Konzept dynamischer, Varianten erzeugender Wiederholung passt gut für die Untersuchung anonymer Kulturproduktion, wie sie Artefakt-, Ornament-, Stilhistoriker vornehmen – neben Kubler denke man etwa auch an Riegl –, aber es stellt sich dabei immer das Problem, wie sich erklären lässt, dass Serien irgendwann enden und neue entstehen. Eine kontinuierlich Veränderungen generierende kollektive kreative Praxis bietet kein Modell für die Analyse epochaler Umbrüche und sprunghafter Diskontinuitäten, wie sie sich auch in der Wissensgeschichte nicht leugnen lassen.

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riertes Vermögen, nicht besonderen Akteuren und Sparten vorbehalten als Fähigkeit eines desembodied mind.39 Vielmehr ist das kreative Improvisieren die Art, wie Menschen als in der Welt situierte Wesen funktionieren. Denn Leben realisiert kein Skript, sondern spielt sich als kontinuierliches, flexibles Antworten auf stets sich verändernde Bedingungen ab. Wahrnehmen und Handeln werden dabei in einer Weise koordiniert, wie es nur die Praxis lehrt. Improvisierend suchen die Akteure jeweils bestmöglich zu nutzen, was sich ihnen für ihr Weitermachen bietet.40 Und in diesem Sinn sind sie auch erfinderisch. Schöpferische Leistungen sind so gesehen keine Taten, sondern gehen aus Rhythmen hervor.41 Die vielfältigen in der Wiederholung Veränderung erzeugenden Praktiken werden zugleich konfiguriert, erzählt und reflektiert. Eine ethnologisch informierte Anthropologie etwa befasst sich mit ihrer Analyse, wobei ihre Beobachtung mit der Partizipation einhergeht und vice versa; sie ist eine mögliche Weise, jene Prozesse zu markieren und zu rahmen. Eine andere sind die Künste. Sie heben, was wir ständig tun, aus der Selbstverständlichkeit des Vollzugs heraus und machen es wahrnehmbar. Michaux’ literarisch-künstlerisches Tun rückt in diesem Sinn unser Stammeln, Kritzeln, Tasten und Probieren an den Rändern des kommunikativen Zeichengebrauchs in die Aufmerksamkeit; es beleuchtet unser Wahrnehmen, bevor wir etwas wahrnehmen, unser Tagträumen, unser responsives Hantieren mit eigenwilligen Stofflichkeiten, unser Bahnenziehen durch schwach strukturiertes Ambiente – über weiße Seiten etwa –, unseren Körper, wenn ihn die Routinen verlassen, u. a.m. Sein Œuvre führt uns derart alltägliche Improvisationen vor Augen, die normalerweise jedoch unterhalb der Wahrnehmungsschwelle bleiben; sie verschwinden, wenn das gesuchte Wort gefunden ist, ein Buchstabe leserlich geschrieben dasteht, eine Empfindung zugeordnet, eine Bewegung effizient ausgeführt ist. Dergleichen geschieht in kurzen bis kürzesten Zeitspannen. Bio-kulturelle Prozesse und Körpertechniken übernehmen diese Aufgaben; sie leisten, was wir dank ihrer nicht mehr leisten müssen. Jedenfalls, wenn sie nicht durch Interventionen gestört werden oder von selbst an ihre Grenzen kommen, z. B. durch Müdigkeit.42 Sie setzen uns für andere Betätigungen frei, aber sie schließen uns auch ein und schirmen uns ab – nicht zuletzt gegen die vielen Möglichkeiten, die in den üblichen Abläufen ungenutzt bleiben. Insofern ist das, was Michaux’ graphisch-malerische Arbeiten zu sehen und seine poetisch-literarischen zu lesen geben, etwas wie der bizarre, vielfach vergrößerte Anblick unserer petites perceptions. Es zeigt uns etwas wie das Variantengewimmel eines x-fach korrigierten, immer vorläufig bleibenden Textes. Oder es präsentiert uns einen grotesk anmutenden Film 39  Vgl. Ingold/Hallam: Creativity and Cultural Improvisation, 11 f. 40  So zu verfahren, gehört also, wie die beschriebene Kreativität, intrinsisch zu den sozio-kulturellen Lebensprozessen selbst; im Gegenzug weisen alle möglichen üblicherweise ‚kreativ‘ genannten Akte kollaborative und politische Dimensionen auf; vgl. ebd., 19. Vgl. auch oben, 92. 41  Vgl. 190, Anm. 61. 42  Auch diese ist eine ‚Brille‘, durch die wir Alterationen der normalen Abläufe beobachten können; der Selbstversuch hat dabei jedoch ebenso Grenzen wie derjenige im Krankheitszustand oder unter Drogen. Vgl. oben, 77, Anm. 1.

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davon, wie wir uns durchwursteln. Im Alltag kommen wir in der Regel irgendwie ans Ziel, und damit hat es sich dann auch. Warum noch sehen, was alles hätte anders ablaufen können? Die Abzweigungen, die wir nicht genommen haben, die verschenkten Gelegenheiten, die Gesten, zu deren Ausführung es nicht kam: Einmal vergangen, haben sie keinen Wert mehr. Post festum haben wir vielleicht wirklich das Beste aus unseren Möglichkeiten gemacht. Wir sind irgendwie weitergegangen, haben unseren Trott fortgesetzt, wenn auch vielleicht nicht ohne Pannen. Auch die Gesten in Michaux’ künstlerisch-literarischem Œuvre sind alles andere als elegant und virtuos; im Gegenteil sind sie unbeholfen, ungeschickt, linkisch. Trotzdem exemplifizieren sie ein spürbar ‚leichtes‘, entlastetes Tun. Während wir unsere alltäglichen Praktiken bald glatter, bald holpriger zustande bringen, erscheint das Stottern und Stolpern hier als eine eigene Kraft. Vielleicht kann man sagen: Normalerweise wissen wir uns zu helfen, wir finden bastelnd und klitternd Lösungen und geben uns damit zufrieden. Hier dagegen bekommt all das gewissermaßen Glanz: Aufgescheucht aus seinen Routinen, agiert der Körper ungelenk, doch ohne sich damit gegen uns zu wenden; vielmehr geschieht es zu unserem Gewinn. Wir haben den Aspekt gewechselt: wünschen gar nicht mehr, dass alles ‚rund läuft‘, sondern konzen­trieren uns auf das Laufen selbst. Wie auch immer es vonstattengehen mag: Es muss keinem Ideal genügen, nicht einmal mehr einem Standard. Vielmehr sind wir in einer Situation, als würden wir es noch einmal lernen und dabei entdecken, wie wunderbar es überhaupt ist, laufen zu können. Bewegung und ihre Empfindung bemerken wir normalerweise nur, wenn sie gestört werden. Erst der gebrochene Arm bringt uns unsere kinetischen und kinästhetischen Möglichkeiten zu Bewusstsein, er verändert die Könästhesie und lässt uns den ganzen Körper – ja, uns selbst – neu erfahren. An Michaux’ gestischen Notaten werden wir dessen gewahr, ohne an Algoneurodystrophie leiden zu müssen. Im Gegenteil: Die Alteration macht Lust. Empathisch nehmen wir die Spuren von Bewegungen wahr, vollziehen Posen und ihre Wechsel mit. Diskontinuierliche Gestalten in der Reihe und in Variationen verknüpfen wir zu kontinuierlichen Bewegungen. Von tänzerischen Gesten lassen wir uns anstecken. Wir sind sensomotorisch affiziert. Rhythmen ergreifen uns. Es ist dann nicht mehr wichtig, was oder als was wir etwas sehen oder wovon ein Text spricht; die üblichen semiotischen Aktivitäten suspendieren wir oder lassen an ihre Stelle multiplizierte, instabile, ständig wechselnde, herumprobierende, ‚wilde‘ treten. Wir genießen das nicht-normgerechte In-Bewegung-Sein, die Freuden der Linkshändigkeit. All das lässt sich als Spielart dessen beschreiben, was die Ästhetik in ihrer langen Geschichte oft als ‚Grazie‘ apostrophiert hat: Das konnotationsreiche Konzept ist in den Überlegungen hier aus seinen systematischen Funktionen für den philosophischen und kunsttheoretischen Diskurs herausgelöst. Stattdessen wird es, wie in den sozialpraktischen Klugheitslehren, in denen es einmal gefasst wurde, wieder mit den Performanzen eines Körpers verbunden, der in bestimmter Weise durch und durch technisiert ist. Üblicherweise erwartet man von so einem Körper, dass er sein gelerntes Können zur Expressivität hin überschreitet. Hier dagegen liegt der Akzent darauf, gegen die eingeübten Fertigkeiten anzugehen und in ihren Störungen unausgeschöpfte Möglichkeiten zu gewahren.

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Die von Michaux künstlerisch und literarisch markierten Praktiken sind als solche un­ spek­takulär. Graphieren diesseits von Schreiben und Zeichnen, irgendwie kritzeln können wir alle, genau wie irgendwelche Laute hervorbringen. Aber können wir es auch lange, immer wieder, mit immer neuen Varianten, ohne uns einer Regel zu überlassen, ohne ins Schreiben oder ins Produzieren bekannter visueller oder phonetischer Symbole zu verfallen? Gelingt es uns, einen Automatismus nicht durch einen anderen zu ersetzen? Auch wenn lebendige Akteure bei ihren Wiederholungen gar nicht umhinkönnen, Abweichungen zu generieren, ist die Wiederholung immer in Gefahr, mechanisch zu werden. In Michaux’ Graphieren geschieht dies offensichtlich ebensowenig wie in seinen Texten. Ihr Variantenreichtum überrascht immer wieder. Sie tun nicht einfach das, was wir beim halbaufmerksamen Kritzeln oder beim Tasten nach sprachlicher Formulierung tun; die Kette der improvisierend-kreativen Vollzüge läuft hier nicht einfach nur ab, das gestisch-wiederholende Tun erzeugt vielmehr unzählige Deviationen, Abdriften von der erwarteten Bahn, die Bewegungen erhalten einen ‚Dreh‘, den sie sonst nicht haben. Ginge es um leserliches Schreiben und kommunikative Rede, würden sie ihr Ziel ständig verfehlen – und unermüdlich weitermachen nach dem Prinzip fail better. Erst diese exuberante Variabilität macht die improvisatorischen Akte deutlich, die wir vielleicht vollbringen könnten, uns aber meist entgehen lassen. Den alltäglichen Praktiken inhäriert diese Vielfalt potentiell, doch sie bleibt unrealisiert, implizit, unentwickelt, unbemerkt, die Funktionalität verschlingt sie. In ihnen herrscht, könnte man sagen, bedingte Bedingtheit; die Bemühung, sich zu ‚entkonditionieren‘, erlaubt dagegen die Erfahrung bedingter Unbedingtheit.43 In diesem Sinn führen uns Michaux’ Arbeiten unser eigenes Tun vor. Sie heben es aus dem unauffälligen Dahinströmen heraus und machen seine ungenützten Potentiale sichtbar. Wie alle Künste tun sie das jedoch nicht diskursiv. Vielmehr konfrontieren sie uns mit körperlicher Intelligenz und intelligenter Körperlichkeit. Diese sind uns allen gemeinsam, nur pflegen wir sie zu marginalisieren. Und verpassen dabei ihren Witz. Hier haben wir die Chance zu bemerken, was uns entgeht; betrachtend, blätternd, lesend, imaginierend, denkend können wir am Spiel der vielfältigen lignes teilnehmen.

43  Vgl. oben, 163.

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Coda: „Draw a straight line and follow it“. Nach Michaux

Michaux ist nicht nur ein Klassiker des 20.  Jahrhunderts, der wie Kafka, Borges oder Duchamp zitiert wird. Auch avancierte künstlerische Interventionen der Gegenwart knüpfen an sein Œuvre an und ziehen, wie etwa die Choreographin Marie Chouinard, aus einzelnen Ansätzen radikale Konsequenzen. Der kanadische Schriftsteller Darren Wershler-Henry, der experimentelle Texte verfasst und u. a. Appropriationsverfahren gebraucht, beruft sich ebenfalls auf ihn. Und nicht zu Unrecht, denn das Werk, das sich sozusagen ins Zeichen Michaux’ stellt, setzt das Fragen nach der Linie fort  – und zeigt, dass dieses dezidiert die Künste übergreift. Wershler-Henry hat im Jahr 2000 ein Buch mit dem Titel the tapeworm foundry, andor, the dangerous prevalence of imagination1 veröffentlicht: Der Text besteht aus einem einzigen langen Bandwurmsatz, der sich ohne jegliche Interpunktion und Absätze über fünfzig Seiten erstreckt. Er reiht Ideen aneinander und verbindet sie durch das Kofferwort ‚andor‘; die Ideen sind also sowohl additiv gereiht wie als Optionen zu verstehen. Dem Klappentext zufolge ist das Ganze „an eloquent and absurdist long poem“, der Autor selbst zählt es zu seinen books of poetry.2 Die Konstruktion spielt auf die Ringstruktur von Finnegans Wake an, und dessen berühmteste Worte werden zitiert. Der Anfang von the tapeworm foundry lautet: „jetsam in the laminar flow andor“, das Ende: „andor write a book of portmanteaus about an embalmed irish­man in which the last sentence ending in midphrase loops back to link up with the first sentence beginning in midphrase so that the book completes a cycle with itself restarting with the words riverrun past eve and adams but leaving in their wake all of the fragments of a language yet to be combined like so much flotsam and“. Das Poem ist also selbst der „­laminar flow“, dessen grammatische Unstrukturiertheit – eine Aufzählung – der Lektüre keine Möglichkeit zum Einhaken und dessen typographische Gestaltung – ein breiter Streifen – dem Blick keine Orientierung bieten. Die Flut scheint einen produktiven Rausch in Szene zu setzen, die Ideen sprudeln gleichsam unaufhörlich und ohne alle Ordnung. Wer das Lesen auf sich nimmt, entdeckt darin allerdings nicht nur das Joyce-Zitat, sondern auch andere kanonische Referenzen für Literatur und Künste im 20. Jahrhundert: Namen wie Lautréamont, Nietzsche, Duchamp, Guy Debord, Buckminster Fuller etc., berühmte Texte wie 1  Toronto: House of Anansi, 2000. Zum Folgenden vgl. Annette Gilbert: Im toten Winkel der Literatur, Grenzfälle literarischer Werkwerdung seit den 1950er Jahren, Leiden/Boston u. a.: Fink, 2018, 99–108. 2  Vgl. seine homepage http://www.alienated.net/dw/(zuletzt aufgerufen am 19.06.2020)

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Coda: „Draw a straight line and follow it“. Nach Michaux

Borges’ Chinesische Enzyklopädie, legendäre OuLiPo-Aufgaben, Ikonen der Fotografie… Die Ideen werden verkettet, sie bilden ein aggregatives, durch die Kreisform aber abgeschlossenes Ganzes, in dem sich die einzelnen Items verlieren. So geht z. B. das Anfangszitat folgendermaßen weiter: „…andor find the threads in redhats andor litter a keyboard with milletseed so that exotic songbirds might tap out their odes to a nightingale andor transcribe the letters pressed onto the platen when stalactites drip on the homerow keys andor…“ Angesichts dieser Machart stellt sich die Frage, wie das Buch rezipiert werden will: Schlägt es Aufgaben vor, die jeweils für sich von Interesse sind, oder sollen sie doch der Reihe nach gelesen werden? Wie steht es mit dem Schriftbild? Die einzige optische Differenz ist ein typographisch auffälliges Syntagma: Es heißt „change the font“,3 und eben das geschieht an dieser Stelle: Der Text performiert unmittelbar das Skript. Auch damit aber verstärkt er den Eindruck, um und in sich selbst zu kreisen; wie Konkrete Poesie braucht er offenbar keine Referenz, sondern weist nur (gelegentlich) von seiner verbalen auf seine visuelle Dimension. Unter anderem fällt einmal das Stichwort „recipes we’ve inherited“.4 Tatsächlich finden sich diverse ‚Rezepte‘, die in den Avantgarden des 20. Jahrhunderts formuliert wurden. Insofern sie (oder zumindest einige) in diesem Text versammelt sind, präsentiert er implizit eine Art Historiographie dieser literarischen und künstlerischen Positionen. Wershler-Henry kann im Jahr 2000 als ‚Erbe‘ und Beobachter – er lehrt auch englische Literatur – auf einen üppigen Schatz an Avanciertheiten zurückblicken. Der langen Aufzählung geht als Motto ein Text von Michaux in englischer Übersetzung voran: So, reader, you’re holding in your hands, as often happens, a book the author did not write, although a world participated in it. And what does that matter? Signs, symbols, impulses, falls, departures, relations, discords, everything is there to bounce up, to seek, for further on, for something else. Between them, without settling down, the author grew his life. Perhaps you could try, too?5

Die poetologische Aussage, mit der der Schriftsteller Michaux hier die Autorschaft zurücknimmt und sie der ‚Welt, die daran teilgenommen‘ habe, zuschreibt, bildet ein Pendant zur späteren Selbstauskunft des bildenden Künstlers, er habe ‚an der Welt durch Linien teilnehmen‘ wollen. Für den Schreibenden hat sich das Verhältnis zur eigenen Produktion schon lange umgekehrt: Seiner Darstellung nach partizipiert die Welt an einem Buch, das er nicht 3  The Tapeworm Foundry, New York: ubu Editions, 2002 (digitale Version), 50. 4  the tapeworm foundry, 2000 (Klappentext), zit. nach Gilbert: Im toten Winkel, 103. 5  Darkness Moves: An Henri Michaux Anthology, 1927–1984, ed. and transl. David Ball, Berkeley/Los Angeles: Univ. of California Press, 1994, 79. – „Lecteur, tu tiens donc ici, comme il arrive souvent, un livre que n’a pas fait l’auteur, quoiqu’un monde y ait participé. Et qu’importe? / Signes, symboles, élans, chutes, départs, rapports, discordances, tout y est pour rebondir, pour chercher, pour plus loin, pour autre chose. / Entre eux, sans s’y fixer, l’auteur poussa sa vie. / Tu pourrais essayer, peut-être, toi aussi?“ OC I, 665. Es handelt sich um einen Ausschnitt aus der Postface zu Plume précédé de Lointain intérieur; vgl. oben, 169, Anm. 1.

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schreibt. Den aktiv produzierenden Part hat der Autor pluralen ‚Zeichen‘ und Beziehungen überlassen, er selbst befindet sich mitten in deren Gewimmel, und daraus emergiert etwas wie ‚sein Leben‘. Ein Ich ist darin nur eine Gleichgewichtsposition, es signiert das Buch im Namen von vielen; nichts sei darin jemals definitiv umschrieben, fixiert, eigen, weder Bilder, noch Gedanken, das Denken sei kein bewusstes, überhaupt wisse man darüber wenig.6 Schon einige Jahre bevor ein Betrachter in Michaux’ Graphismen Reihen entdeckt und daraus ein Buch hervorgeht, das sich mehr jenem als dem Künstler selbst verdanke,7 hat Michaux das Prinzip der multiplen, verteilten Autorschaft für die Literatur formuliert. Seine Texte sind demnach textes scriptibles im Sinne Barthes’; sie werden erst in der Lektüre generiert. Wershler-Henry nimmt das wörtlich: Sein Text ist tatsächlich einer aus vielen anderen Stimmen, die darin aufgesammelt werden. Aber noch mehr: Mit dem letzten Satz des Mottos macht er Michaux, den untreuen Erben des Surrealismus und ansonsten schwer Einzuordnenden, zu einem Vertreter von Konzept-, Aktions- und Performance-Kunst, von Fluxus, den Michaux vielleicht mitbekommen, aber nicht mitgemacht hat: An die Stelle von Texten setzen diese Richtungen Anweisungen, Übungen, Programme, Rezepte, die in Auftritten realisiert werden oder auch nicht. Sie sind eine minimalistische Variante von Dramentexten oder Filmskripten. In Michaux’ literarischem Œuvre gibt es wenig dergleichen; von seltenen Stücken und dramenartigen Texten abgesehen findet man es ansatzweise in Poteaux d’angle: Sparsame Worte formulieren etwas wie Aufgaben, die sich dann in der Lektüre der wenigen Zeilen als hochverdichteter Poesie verwirklichen, doch auch die lebenskünstlerische Dimension schwingt dabei stets mit.8 Bei seinen narrativen Kleinformen, die in ihrer Knappheit kein immersives Lesen erlauben, ist die imaginative Realisierung gefragt, bei den enumerativen poetischen Texten die virtuelle grammatische Ergänzung, bei Graphismen und phantomartigen Gesichtern das Gestaltsehen, bei seiner Buch-Kunst u. a. der haptische Umgang mit dem dreidimensionalen, materialen Gegenstand,9 etc.; die Rezipienten sind derart auch als körperlich aktive gefordert. Trotzdem hat Michaux eine den Leser-Betrachter zum alleinigen Produzenten ermächtigende do-it-yourself-Kunst nicht betrieben. Konzeptkunst widerspricht seinem Unternehmen, insofern dieses aus gestischen Praktiken mit Materialien und Medien hervorgeht, also aus konkretem, improvisierendem Tun besteht, das per definitionem keinem Skript folgt. Trotzdem projiziert Wershler-Henry nicht nur einfach etwas auf ihn. Während die Proklamation vielfacher Autorschaft längst konventionell geworden ist, besteht eine echte Affinität beider in der Spannung zwischen Sagen und Tun oder Text und Performanz: Michaux hat Artikulation immer in actu vorgeführt und immer inskriptiv: in Form von Bildern und 6  Der Text gilt als wichtigste Selbstaussage vor denjenigen in Passages (zu denen z. B. Aventures de lignes und Dessiner l’écoulement du temps gehören) und in den Drogenbüchern; vgl. ebd., 1254. 7  Vgl. oben, 169. 8  Vgl. oben, 150 ff. 9  Vgl. oben, 35, 174 ff., 183 u. pass.

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24  Kimberly Eisler: andor soak your hair in japanese calligraphic ink and then drag your head down a long paper scroll, 2008, © Kimberly Eisler.

Büchern; die Rezipienten realisieren die Bewegungen nur, indem sie sie nachträglich anhand der Spuren wiederbeleben. Das Miteinander von Prozessualität und Form, in der die Dynamik des Werdens vorübergehend zum Stehen kommt, aber doch spürbar bleibt, macht nicht zuletzt seine Buch-Kunst aus. Wershler-Henry hat Aufgaben gesammelt und sie ebenfalls als Buch vorgelegt: Anweisungen für künstlerische Akte bilden hier einen Fließtext im wörtlichsten Sinn. Es handelt sich erklärtermaßen um Literatur. Doch um was für eine? Skripte zu einzelnen Handlungen oder selbstgenügsamer Text, Rezeptsammlung oder Lese-Poesie – diese unauflösbare Spannung prägt the tapeworm foundry. Die meisten der präsentierten Ideen sind unrealisierbar. Wenn Wershler-Henry sein Poem als Geschenk an den Leser versteht und andere mit seinem Wurm infizieren möchte, auf dass sie anstelle des Künstler-Autors die produzierenden Akteure seien,10 dann mag weniger an eine aktive, Sinn verschiebende Lektüre gedacht sein denn an die Erfindung vieler weiterer nicht-realisierbarer Ideen. Studierende der University of Pennsylvania haben jedoch einige der notierten Aufgaben tatsächlich ausgeführt, sie haben den Bandwurm nicht um weitere Glieder verlängert, sondern einzelne herausgegriffen, als Skript gelesen und in praxi vollzogen. Kimberly Eisler etwa setzt die Anweisung um „andor soak your hair in japanese calligraphic ink and then drag your head down a long paper scroll“11 (Abb. 24).

10  Vgl. Gilbert: Im toten Winkel, 104. 11  The Tapeworm Foundry, 12; vgl. Gilbert, ebd.

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25  Nam June Paik: Zen for Head, Wiesbaden 1962, © Museum Wiesbaden.

Diese Aufgabe selbst ist kein Einfall des Buchautors, sondern dessen Formulierung eines 1961 erstmals von Nam June Paik als Performance Zen for Head realisierten Fluxus-Score: Paik zieht mit seinem in Tomatensaft und Tusche getunkten Kopf eine Linie auf eine Papierrolle und bringt damit ein Stück des Komponisten La Monte Young zur Aufführung: Composition 1960 #10: „Draw a straight line / and follow it“ (Abb. 25).12 Dabei findet ein (fluxus-typischer) Wechsel der Künste statt: Paik transferiert die Idee eines Musikers ins visuelle Genre. Youngs Composition 1960 #7 besteht z. B. nur aus zwei notierten Tönen mit der Instruktion „to be held for a long time“, Composition 1960 #9 aus einer auf eine kleine Karte gedruckten horizontalen Linie.13 Die Anweisung „draw a straight line and follow it“ ist daher zunächst einmal eine minimalistische Partitur: Die fünf Linien des Notationssystems sind auf eine einzige reduziert – mehr braucht diese u. a. japanisch inspirierte Klangkunst nicht –, und die Aufführung besteht in einem einzigen extrem lang ausgehaltenen Ton. Paik macht aus diesem Zen for Ear eine graphisch-malerische Aktion. Wershler-Henry präzisiert die zu verwendende Flüssigkeit und bringt den Akt ausdrücklich mit fernöstlicher Kalligraphie in Verbindung. Eisler modifiziert

12  Die erste Aufführung fand 1961 statt, das Foto hier ist vom September 1962. Zu dieser Performance, bei der, wie zu sehen, auch die Krawatte zum Einsatz kam, vgl. z. B. https://www.fondazionebonotto.org/en/collection/ fluxus/paiknamjune/4/1334.html (zuletzt aufgerufen am 18.05.2020). 13  Die ‚Partitur‘ steckt in einem Briefumschlag mit der Aufschrift: „the enclosed score is right side / up when the line is horizontal / and slightly above center“. http://ubutext.memoryoftheworld.org/AnAnthologyOfChanceOperations.pdf (zuletzt aufgerufen am 18.10.2019; o. p.) Ebd. auch die beiden anderen Kompositionen.

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die Performance u. a. dadurch, dass sie mehr als eine Linie zieht; sind es zufällig fünf, d. h. wieder so viele, wie die (westliche) musikalische Notation erfordert? Man hat es also mit einer ganzen Kette von verbalen Anweisungen und performativen Realisierungen zu tun, wobei jeder Schritt Werkstatus und die Akteure jeweils Autorschaft beanspruchen: Youngs Composition 1960 #10, ein Werk in Skriptform, wird von Paik aufgeführt; dies gilt als eigenes Werk. Wershler-Henrys Re-Notation ist sogenannte propositionale Literatur, die wie Dramentext oder Skript behandelt werden will, also ebenfalls als Werk; zugleich fungiert sie als Skript für Eislers Aufführung, die wiederum als Werk mit Urheberschaft gelten will.14 Fortsetzungen sind denkbar. Hier sollen indes nicht die Fragen im Fokus stehen, die die Pragmatik des Kunstsystems austesten; vielmehr ist von Interesse, dass das Paradigma von Kunst – oder sogar der Künste, denn hier sind Literatur, Musik, Malerei, Performance (und Fotografie) im Spiel – ein weiteres Mal das Ziehen einer Linie ist. Die Sequenz von Anweisungen und Ausführungen steht damit in einer noch viel längeren Kette von Referenzen, als sie die intertextuellen, -pikturalen und -performativen Beziehungen der Avantgarden ausmachen. Abgelöst von der Musik formuliert Youngs Anweisung einen unüberbietbar schlichten – kunstlosen –, für jede und jeden jederzeit realisierbaren Akt: Eine gerade Linie ziehen und ihr folgen, ist (sofern ‚gerade‘ alltagssprachlich, nicht mathematisch verstanden wird) ein geste gratuit.15 Es setzt nichts voraus als eine situierte, funktionierende, leibliche Person. Kunst ist damit auf der phänomenalen Ebene nicht mehr vom alltäglichen Tun zu unterscheiden, nicht einmal mehr von dessen ambientalen Momenten.16 Die Differenz besteht nur darin, dass körperliche Bewegungen gewöhnlich irgendeinen Sinn für den Akteur haben, diese aber nicht. Dass indes im sozialen Spiel namens Kunst selbst eine derartige Geste nichts Einfaches ist, zeigen hier die daran anschließenden Aktionen. Das Prinzip, das Unscheinbarste für Kunst zu nehmen, gemahnt schon selbst an ‚zen-buddhistische‘ Einstellungen zur Welt, Paik nun versetzt die Idee seines Künstlerkollegen explizit in den Kontext der zeitgenössischen Zen-Mode. Der (Pinsel-)Strich auf Papier, breit, grob, bar jeder Virtuosität, ohne ästhetische Ambition, nur von konzentrierter Energie und vom körperlichen Einsatz zeugend, eine einzige Linie, unkorrigiert, nichts darstellend… – all das verweist auf fernöstliche Pinselkunst, freilich in einer besonderen Variante: Nicht nur der Bezug zu Schriftzeichen, auch das extreme Können, das normalerweise in dem einen kraftvollen Pinselstrich zu Tage tritt, und die Symbolik, wie sie z. B. dem einfachen mit Pinsel gezogenen Kreis eignet, sind hier suspendiert. Wieviel dergleichen noch mit jenen Praktiken zu tun hat, mag dahingestellt bleiben, das Wort ‚Zen‘ eröffnet jedenfalls ein weites allusives Feld, und dieses kommt zu den vielen abendländischen Bedeutungen der (einen) Linie in der Kunst noch hinzu. Ob Paik ‚andor‘ Wershler-Henry ‚andor‘ Kimberly Eisler wusste(n), dass im China der Tang-Dynastie (7.–10. Jahrhundert) ein exzentrischer Kalligraph namens Zhang Xu mit seinem eigenen Haar 14  Vgl. Gilbert: Im toten Winkel, 106 und 108. 15  Vgl. oben, 160–168. 16 Zum infra-ordinaire vgl. oben, 161 f. und 167.

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geschrieben hat?17 Wie dem auch sei. Konstatieren lässt sich jedenfalls, dass diese Art, eine Linie zu ziehen, die westliche buchstäblich auf den Kopf stellt:18 Sie zerstört das allen malerischen und graphischen Praktiken zugrundeliegende Dispositiv aus Auge, Hand, Inskriptionsträger und -instrument.19 Normalerweise sitzt oder steht der Akteur, hat die aufnehmende Fläche vor sich auf dem Tisch oder auf den als Unterlage fungierenden Schenkeln.20 Die Hand hält einen Spuren hinterlassenden Gegenstand, sie zieht; der Blick folgt ihr und kontrolliert. Da in der westlichen Tradition meist ein sichtbares Objekt dargestellt wird, geht er außerdem zwischen diesem und der Fläche hin und her. Das Dispositiv der fernöstlichen Schreibkunst wäre mit einigen Modifikationen (und ohne das letztgenannte Moment) analog zu beschreiben; auch hier interagieren Auge, Hand, Papier und Pinsel. Hier dagegen geschieht das Ziehen vollkommen blind – die Aktion forciert sozusagen, was Derrida von jedem Zeichnen behauptet: Die gezogene Spur ist erst post festum zu sehen. Die Hände dienen nur zur Stütze beim Krabbeln nach rückwärts. Ein distanzierendes, die Kraft übersetzendes Instrument entfällt, Kopf und Haare sind selbst der Pinselkopf, der Oberkörper der Stiel. In diesem Sinn koinzidieren Akteur und Medium. Was vorangeht, sind die Füße – alles Übrige folgt. Das Auge sorgt nur dafür, dass die Bewegung auf der Papierbahn bleibt; der Inskriptionsträger gibt die Richtung vor. Die scheinbar ganz und gar selbstgegebene Regel, dieser Akt mutmaßlich purer Autonomie, in dem Ziehen und Folgen nur zwei Aspekte einer einzigen spontanen Bewegung sind, besteht tatsächlich im Nachziehen des ausgerollten Streifens. Die den Schatten nachfahrende Butades-Tochter und die Linien ineinander ziehenden Malerkonkurrenten lassen grüßen. Jede graphierende Körpertechnik ist außer Kraft gesetzt: Auf diese Weise einen Strich zu ziehen, hat niemand je geübt. Es ist eine extreme Art, das Körperwissen auszuhebeln. Welche Linie wäre linkischer als die mit dem Kopf gezogene?21 Der Kopf ist hier Protagonist, aber nicht Dirigent, sondern nur ausführendes Organ. Auch und gerade diese Linie entspricht der Grammatik des medialen Verbs: Das Subjekt ist im Innern des Prozesses, den es selbst anstößt und ausführt. Die Performance scheint wie gemacht, um das Prinzip dieses Medium gewordenen Subjekts wörtlich zu nehmen – und ad absurdum zu führen. Man kann sagen, diese ‚Linienszene‘ überschreibt alle möglichen bekannten der Geschichte des Graphierens: Szenen des westlichen Zeichnens, Malens, Schreibens wie auch der fernöstlichen Pinselkunst. Sie zitiert und transformiert sie, z. T. mit karnevalesker Wendung, was indes nicht heißt, dass ihr Ziel das Ridikülisieren wäre. Im Verhältnis zu den legendären Szenen des Linien-Ziehens ist die Aktion aber jedenfalls ein Palimpsest.

17  Vgl. Kraus: Brushes with Power, 44. 18  Oder, wenn man will, ‚auf die Füße‘; andor – beides trifft zu. 19  Vgl. Pichler/Ubl: Vor dem ersten Strich. 20  Ein fernöstlicher Kalligraph mag auch vor dem am Boden ausgebreiteten Papier knien. 21  William Forsythes Human Writes steigert das Prinzip noch, insofern die Akteure der Tanz-Aufführung in unmöglichen Körperhaltungen tatsächlich Schrift und nicht nur eine mehr oder weniger gerade Linie erzeugen sollen.

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Sie parodiert alle möglichen Aspekte: Das schmutzige Tun und der groteske, infantilisierte Körper ironisieren die Würde graphischer Akte, deren Autorität und Macht, die u. a. an die Selbstdisziplin langjährigen Drills gebunden sind. Denkt man an die kalligraphierenden (chinesischen) Hofbeamten, für die ihre Schreibkunst auch ritterliches Ethos bedeutet, dann ist dieses Graphieren dazu der Gegenpol: auf allen Vieren, ohne Blickkontrolle, mit gesenktem, triefendem Kopf – es mutet clownesk an oder wie eine extreme Form der (Selbst-)Erniedrigung. Das Wörtlichnehmen scheint des Weiteren den Kult um Unmittelbarkeit und Spontaneität bloßzustellen, das Außerkraftsetzen der Hand denjenigen um deren Unverwechselbarkeit, um die Singularität des Künstlerindividuums. Nicht besser ergeht es dem Verlangen nach Expressivität: Das Ergebnis der Aktion ist die Spur eines als solchen einzigartigen Körpers, aber von Ausdruck kann keine Rede sein. Die Spur weist weder auf eine unverkennbare Persönlichkeit zurück noch manifestieren sich in ihr psychische Zustände. Die Aufgabe als solche scheint die simpelste; sie hätte sozusagen mit Links ausgeführt werden können; stattdessen kommt der Körper in einer Weise zum Einsatz, die ihn maximal ungeschickt macht. Die einfachste Übung wird mit größtmöglicher Umständlichkeit ausgeführt – eine Parodie mithin auch auf das westliche (und vielleicht auch fernöstliche) Ideal der mühelos hingeworfenen Linie. Paiks Aktion ermangelt jeglicher sprezzatura. (Eisler geht dagegen zumindest mit dem Copyright ihres künstlerischen Vorgängers höchst lässig um.) Die Schwierigkeit des Graphierens bildet jedoch das Pendant zu derjenigen der musikalischen Realisierung; denn was erfordert mehr Mühe, als einen einzigen Ton sehr lange auszuhalten? Nicht zuletzt offenbart die damalige Zen-Mode selbst ihre komischen Züge, denn sie wird in überzogener Weise affirmiert: Der Künstler stürzt sich kopfüber hinein. Nur eines bleibt bei all dem unangetastet: Sämtliche Akteure in dieser Kette zeichnen, was sie getan haben, mit Namen. Dieser bleibt als Paratext zum Skript, zur Performance, zu deren Fotografien, zum Buch erhalten, selbst wenn sich dieses ins Zeichen der Nicht-Autorschaft stellt. Das namentliche Signieren aber ist ein institutioneller Akt; er deklariert öffentlich die Urheberschaft und damit auch den Werkstatus des Signierten. Im westlichen und inzwischen globalisierten Kunstsystem hat das neben juristischer v. a. ökonomische Bedeutung. „Draw a straight line / and follow it“ wird aufgeführt, re-notiert und wieder neu aufgeführt. Neben der Re-Notation dieses Skripts hat Wershler-Henry die Anweisung aber auch selbst realisiert: als Poem the tapeworm foundry. Die ununterbrochene Sequenz der Ideen bildet ihrerseits eine Linie, der der Schreibende gefolgt ist. Es enthält so in einer Art mise en abîme-Struktur sein eigenes Skript; die nicht wörtlich zitierte Anweisung liegt der „soak your head….“ lautenden als Hypotext zu Grunde. Auch in diesem Sinn ergibt sich wieder eine Ringstruktur oder ein Loop, ohne dass das Poem damit nur um sich selbst kreiste.22 Die Kette von Young bis Eisler zeigt in einem engeren Spektrum der Wiederholung die grundsätzliche Palimpsestnatur künstlerischen Handelns (das seinerseits die des alltäglichen 22  Das Konzept tapeworm ist auch selbst als Skript aufgefasst und in einer anderen Kunst als der Literatur ausgeführt worden, nämlich konditorisch: als Reihe von Röllchen mit linienförmigem Dekor. Vgl. das Foto in The Tapeworm Foundry, 59.

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Handelns vorführt). Weitere Aktionen können daran anschließen. Andere Linienszenen bieten die zeitgenössischen Künste allenthalben, wobei sie sich mit dem Wechsel von Skript und Aufführung ineinander konvertieren lassen. Selbst die digitalen Techniken bleiben dabei nicht außen vor. Auch sie eröffnen dem gestischen (nicht nur dem konzeptuellen) Linienziehen neue Möglichkeiten. Statt Buchstaben einzeln einzutippen, kann man z. B. inzwischen auf der Tastatur eines Touchscreens swypen, d. h., den Finger von einem Buchstaben zum anderen ziehen, um so das nächste gewünschte Zeichen zu erzeugen. Das Prinzip des Agierens ‚in einem Zug‘ kommt damit zu neuen Ehren. Diskontinuierliche Gesten werden wieder kontinuierlich, das Digitale ins Analoge überführt.23 Die flüchtigen Fingerwischbewegungen visualisiert das entsprechende Programm als krumme, verknäuelte Linien. Diese haben die Künstlerin Adriana Ramić an die Pfade von Ameisen erinnert. Unter dem Titel „The Return Trip is Never the Same“ (2014)24 lässt sie im Umkehrverfahren aus den verworrenen Insektenlinien mittels Swype wieder Sequenzen von Buchstaben entstehen, d. h. non-sensistische ‚Gedichte‘. Ihr damit in Zusammenhang stehender „Sequential Index of Keyboard Gestures“ wiederum zeigt wurmähnliche Linienfiguren; sie gemahnen an Graphismen Michaux’ und dessen Vorhaben einer Enzyklopädie der inneren Gesten... Die Aufzählung von Beispielen ließe sich bandwurmartig verlängern. Das Experimentieren mit Linien setzt sich also zweifellos auch im 21. Jahrhundert fort; die Künste erkunden sie genres-, medien-, kulturen- und epochenübergreifend. Und die eine Linie stellt immer wieder eine besondere Herausforderung dar.

23  Zumindest gilt das für kürzere Zeichenfolgen; dann setzt der Finger ab und neu an zu einer weiteren Buchstabensequenz. 24 Vgl. http://rhizome.org/editorial/2014/sep/25/artist-profile-adriana-ramic/(zuletzt aufgerufen am 19.06.2020) Vollständig: Adriana Ramić, The Return Trip is Never the Same (After Trajets de Fourmis et Retours au Nid, M. Victor Cornetz, 1910), 2014. Ebook, 82 pages. Hier auch eine Abbildung. Für den Hinweis danke ich Annette Gilbert.

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Abbildungsnachweise

OC Henri Michaux: Œuvres complètes. Édition établie par Raymond Bellour, avec Ysé Tran, Paris: Gallimard (Pléiade), 1998–2004, 3 vol. Für alle Werke von Henri Michaux: © VG Bild-Kunst, Bonn 2020. Die Rechte der Verlage für die Abbildungen – © Éditions Gallimard und © Éditions Fata Morgana – werden in den Bildunterschriften einzeln ausgewiesen. 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14

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Émergences-résurgences, OC III, 542. Émergences-résurgences, OC III, 544. Tusche auf Papier, Reihe Mouvements, 1950–1951, 32 × 24 cm, Archives Henri Michaux, Paris, © ADAGP. Misérable Miracle, Monaco: Éditions du Rocher, 1956, 28. Misérable Miracle, OC II, 655. Misérable Miracle, OC II, 668. Misérable Miracle, OC II, 633. Misérable Miracle, OC II, 638. Misérable Miracle, OC II, 678. Misérable Miracle, OC II, 618 Idéogrammes en Chine, Montpellier: Fata Morgana, 1975, o. P.; entspricht OC III, 840–841. Reißfeder, 31,3 × 47,7 cm, Salomon R. Guggenheim Museum, New York; Paul-Klee-Stiftung/Kunstmuseum Bern (Hg.): Paul Klee Catalogue raisonné Bände 1–9. Verzeichnis des gesamten Werkes in neun Bänden, VI, 2002, Nr. 5415. Idéogrammes en Chine, Montpellier: Fata Morgana, 1975, o. P.; entspricht OC III, 834. Mouvements. Soixante-quatre dessins. Un Poème. Une postface, Paris: Gallimard, 1951, o. P.; entspricht OC II, 574. Paix dans les brisements, Paris: Éditions Flinker, 1959, o. P.; entspricht OC II, 990. Paix dans les brisements, Paris: Éditions Flinker, 1959, o. P.; entspricht OC II, 991. Paix dans les brisements, Paris: Éditions Flinker, 1959, o. P.; entspricht OC II, 980. Paix dans les brisements, Paris: Éditions Flinker, 1959, o. P.; entspricht OC II, 987. Paix dans les brisements, Paris: Éditions Flinker, 1959, o. P.; entspricht OC II, 988. Paix dans les brisements, Paris: Éditions Flinker, 1959, o. P.; entspricht OC II, 992. Paix dans les brisements, Paris: Éditions Flinker, 1959, o. P.; entspricht OC II, 993. Par la voie des rythmes, Montpellier: Fata Morgana, 1974, o. P.; entspricht OC III, 769, rechts. Par la voie des rythmes, Montpellier: Fata Morgana, 1974, o. P.; entspricht OC III 780, rechts. Par la voie des rythmes, Montpellier: Fata Morgana, 1974, o. P.; entspricht OC III, 805, links. Roter Filzstift auf Papier, 1983, 25 × 16 cm, Archives Henri Michaux, Paris, © ADAGP. © Kimberly Eisler; Dokumentationsfoto November 2008; abgedruckt mit freundlicher Genehmigung der Künstlerin. Nam June Paik: Zen for Head, Fluxus Internationale Festspiele Neuester Musik, Wiesbaden 1962, © Museum Wiesbaden. Fotograf: unbekannt.

Leider konnten nicht alle Rechte ermittelt werden. Rechteinhaber werden gebeten, sich bei der Autorin zu melden.

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Literaturverzeichnis

Texte von Henri Michaux und Originalausgaben einzelner Bücher Émergences-résurgences, Genf: Albert Skira, 1972. Idéogrammes en Chine, Montpellier: Fata Morgana, 1975. Idéogrammes en Chine, in: Tchang Long-Yen (Léon L. Y. Chang): La Calligraphie chinoise. Un art à quatre dimensions, Paris: Club français du Livre, 1971, II–XV. Misérable Miracle, Monaco: Éditions du Rocher, 1956. Mouvements. Soixante-quatre dessins. Un Poème. Une postface, Paris: Gallimard, 1951. Œuvres complètes. Édition établie par Raymond Bellour, avec Ysé Tran, Paris: Gallimard (Pléiade), 1998– 2004, 3 vol. (= OC). Paix dans les brisements, Paris: Éditions Flinker, 1959. Par des traits, Montpellier: Fata Morgana, 1984. Par la voie des rythmes, Montpellier: Fata Morgana, 1974. Saisir, Montpellier: Fata Morgana, 1979. Boissonnas, Edith/Michaux, Henri/Paulhan, Jean: Mescaline 55. Édition établie, annotée et prefacée par Muriel Pic, avec la participation de Simon Miaz, Paris: Éditions Claire Paulhan, 2014.

Übersetzungen Ein Barbar in Asien. Aus dem Französischen von Dieter Hornig, Graz: Droschl, 1992 (= BA). Darkness Moves: An Henri Michaux Anthology, 1927–1984, ed. and transl. David Ball, Berkeley/Los Angeles: Univ. of California Press, 1994. Ideogramme in China. Aus dem Französischen von Eleonore Frey, Graz/Wien: Droschl, 1994 (= IiC). Unseliges Wunder. Das Meskalin. Mit fünfundzwanzig Zeichnungen und dokumentarischen Originalmanuskripten des Verfassers. Aus dem Französischen von Gerd Henniger, München: Carl Hanser, 1986 (= UW). Dichtungen, Schriften, Frankfurt/M.: Fischer, 1966 und 1971, 2 Bde. Eckpfosten. Aus dem Französischen von Werner Dürrson, München: Hanser, 1982. Linien-Abenteuer. Über Paul Klee, übers. von Kurt Leonhard, in: Henri Michaux: Das bildnerische Werk, hg. von Wieland Schmied, München: Bayerische Akademie der Schönen Künste München, 1993, 53–57. Momente. Durchquerungen der Zeit. Aus dem Französischen von Werner Dürrson. Mit einer Nachbemerkung, München/Wien: Hanser, 1983. Wer ich war. Frühe Schriften. Aus dem Französischen von Paul Celan, Kurt Leonhard, Dieter Hornig, Graz/ Wien: Literaturverlag Droschl, 2006. Zeichen. Köpfe. Gesten. Aus dem Französischen und mit einer Nachbemerkung versehen von Helmut Mayer, Bern/Wien: Piet Meyer Verlag, 2014.

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Namenregister

Ackermann, Andreas  30 Alÿs, Francis  13 Amelunxen, Hubertus von  13, 14 Annis, Lindy  159 Antweiler, Christoph  29 Apelles  131, 132, 134, 149, 150, 153, 165 Appelt, Dieter  13 Artaud, Antonin  14, 21, 54, 56, 78, 96, 97, 159, 164 Austin, John Langshaw  18 Avanessian, Armen  59 Baliç, İlkay  13 Barthes, Roland  20, 73, 161, 167, 200, 201, 212, 213, 227 Bataille, Georges  164 Baudelaire, Charles  83, 94 Bauks, Michaela  30 Bayer, Raymond  160 Bekius, Annike  192 Bellour, Raymond  9, 55 Belting, Hans  144 Benjamin, Walter  12, 148, 176 Benveniste, Émile  209, 211, 212 Bereiter, Carl  75 Bergson, Henri  67, 171, 199, 211, 220 Bertelé, René  63, 166, 169, 191 Białostocki, Jan  96 Billeter, Jean-François  58, 105, 107, 109, 110, 113, 126, 131, 133–141, 144, 145, 171, 200, 201 Blanchot, Maurice  161 Boas, Franz  190 Boehm, Gottfried  29, 119 Boletsi, Maria  213 Bonnefoit, Régine  11, 47, 48 Borges, Jorge Luis  114, 225 Bourdieu, Pierre  29, 30, 32, 67, 163 Bredekamp, Horst  18, 187, 189, 210 Brusotti, Marco  119 Buckminster Fuller, Richard  225 Burke, Peter  138 Butler, Cornelia H.  13, 14 Butler, Judith  32

Caillé, Alain  163, 164 Caillois, Roger  145 Campe, Rüdiger  20 Cang Jie  110 Cancik-Kirschbaum, Eva  37 Capogrossi, Giuseppe  64 Castiglione, Baldassar (Baldesar)  129–132, 135, 138, 139, 142, 146 Catoni, Maria Luisa  58 Certeau, Michel de  12, 32, 161, 210, 220 Cézanne, Paul  59 Chang, Léon L. Y. (= Tchang Long-Yen)  105 Cherix, Christophe  202 Chiang Yee  59, 105, 118, 125, 200 Chouinard, Marie  159, 203, 225 Clark, Lygia  13, 57 Claus, Carlfriedrich  21, 37, 181, 200 Clotte, Jean  190 Coleridge, Samuel Taylor  91 Collot, Michel  54 Colombat, André Pierre  55 Connerton, Paul  29 Cope, Thomas E.  192 Cramer, Patrick  202 de Bruyn, Eric  13 de Chirico, Giorgio  47, 52 de Roux, Dominique  151 de Zegher, Catherine  13, 14 Debord, Guy  225 Deleuze, Gilles  11–13, 32, 34, 55, 97, 104, 193, 210, 211 Derrida, Jacques  23, 32, 110, 164, 211, 213, 231 Descartes, René  138 Descola, Philippe  32 Dornhofer, Daniel  137 Driesen, Christian  22 Duchamp, Marcel  13, 42, 225 Dünne, Jörg  12, 77 Dürer, Albrecht  123 Durkheim, Émile  73 Durt, Christoph  28, 30, 33

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Namenregister

Hertz, Robert  73 Hesse, Eva  13 Hetrick, Jay  78, 93 Hofmann, Werner  13 Hörl, Erich  210, 211, 219 Hubert, Henri  73 Hubert, Renée Riese  182, 184 Hugo, Victor  145 Husserl, Edmund  92, 216 Hwang, Hyisung C.  27, 29

Eberhard, Philippe  209 Eisler, Kimberly  228–230, 232 Endell, August  11 Ernaux, Annie  161 Ernst, Max  47 Etzelmüller, Gregor  19 Faietti, Marzia  13, 132 Fiedler, Konrad  91 Forsythe, William  231 Foucault, Michel  13, 30, 32, 55, 97, 137 Fox, Terry  14 Freud, Sigmund  32, 53, 116 Fried, Michael  12 Fuchs, Thomas  19, 28–30, 32, 33, 71, 143 Gallagher, Shaun  19, 32, 215, 219 GeGo (Gertrud Goldschmidt)  13 Gellman, Mimi  13 Gernet, Jacques  110, 171 Gibson, James J.  92, 219, 220 Gide, André  118, 164 Giele, Enno  175 Gilbert, Annette  37, 75, 225, 226, 228, 230, 233 Glon, Marie  191, 197 Godfroy, Alice  73, 155–157, 172, 191, 193, 201, 203, 204, 214 Goethe, Johann Wolfgang  207 Goodman, Nelson  21, 181, 187 Gracián, Baltasar  138, 140, 142 Granet, Marcel  111 Grohmann, Will  48, 49 Grossman, Évelyne  54–56, 58, 59 Grube, Manon  192 Grünbein, Durs  201 Guattari, Félix  12 Günther, Hartmut  193 Haarmann, Harald  189 Haasis, Lucas  33 Hafez, Mounir  114, 147 Halbwachs, Maurice  29 Haldemann, Matthias  13, 14, 181 Hallam, Elizabeth  36, 219–221 Halpern, Anne-Élisabeth  69 Hay, Jonathan  136 Hayat, Samuel  26, 38, 65 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich  138 Heidegger, Martin  138, 210, 211 Heinecke, Armin  69 Heinrich, Richard  12 Heizer, Michael  13 Hénaff, Marcel  141, 164 Hennig, Anke  59

Ikegami, Kojiro  175 Ingold, Felix Philipp  134 Ingold, Tim  11, 32, 33, 36, 190, 194, 209–211, 213, 214, 216, 219, 220, 221 Jankélévitch, Vladimir  168 Jaques-Dalcroze, Émile  201 Jöhnk, Marília  80 Joubert, Joseph  160 Jousse, Marcel  34, 193 Joyce, James  225 Jullien, François  108, 110, 129, 133, 135, 137–140, 142, 144, 146, 148, 167, 168 Jung, Matthias  30, 215 Kafka, Franz  30, 225 Kallenbach, Ulrich  69 Kam Kngwarray, Emily  14 Kandinsky, Wassily  11, 204 Kant, Immanuel  16, 97, 138 Karlgren, Bernhard  114 Kerner, Justinus  145 Kittler, Friedrich A.  32 Klawitter, Arne  118, 138, 167 Klee, Paul  11, 13, 15, 16, 42, 47–53, 55, 64, 121–124, 151, 153, 208, 213, 214 Kleist, Heinrich von  59, 149, 154, 155, 159 Klimt, Gustav  13 Konfuzius 138 Krämer, Sybille  22, 37, 75, 187 Kraus, Richard Curt  106, 113, 114, 117, 118, 135–137, 141, 142, 144, 231 Kreplak, Yaël  26, 38, 65 Kristeva, Julia  34, 193 Krüger, Klaus  132 Kubler, George  98, 220 Kurbjuhn, Charlotte  13 Lacan, Jacques  32, 71 LaCapra, Dominick  213 Lakoff, George  212 Lapacherie, Jean-Gérard  108

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Namenregister

Lassibille, Mahalia  197 Latour, Bruno  23 Launay, Isabelle  191, 197 Lautréamont 225 Le Corbusier  12 Ledderose, Lothar  113 Lefebvre, Henri  161, 220 Leibovici, Franck  21, 26, 38, 39, 64, 65, 105, 175, 186, 188 Leonardo da Vinci  11 Leroi-Gourhan, André  34, 37, 66, 189, 190, 194 Lichtenberg, Georg Christoph  138, 151 Linden, David E. J.  69 Lindley, Elizabeth  191, 193 Lipps, Theodor  192 Loti, Pierre  129 Louppe, Laurence  191 Luria, Alexander Romanowitsch  28, 166 MacMahon, Laura  193 Mainberger, Sabine  11, 13, 14, 47, 48, 101, 115, 119, 157, 171, 174, 175, 211 Maldiney, Henri  111, 147 Mallarmé, Stéphane  38, 155, 158 Malraux, André  133 Mao Zedong  136 Marden, Brice  145 Marey, Étienne-Jules  63, 195, 199 Marienberg, Sabine  29, 58, 189 Martin, Jean-Pierre  48 Mason, Rainer Michael  202 Masson, André  13, 145 Mathieu, Georges  64 Matisse, Henri  13, 59, 119, 133, 145 Matsumoto, David  27, 29 Matta, Roberto  52 Mauss, Marcel  30, 34, 65–67, 73, 163, 164, 193, 202, 214 Mellan, Claude  123 Melville, Herman  13 Merleau-Ponty, Maurice  11, 30, 34, 36, 56, 57, 68, 194, 195, 211, 215, 217 Mersch, Dieter  22, 37 Mersmann, Brirgit  22, 45, 61 Meschonnic, Henri  193 Michelangelo 29 Mondrian, Piet  11, 12 Moore, Elke aus dem  13 Morenz, Ludwig D.  37 Morselli, Giovanni Enrico  81, 99 Moser, Christian  12, 77, 210

Nancy, Jean-Luc  201, 211 Narváez, Rafael F.  29, 32–34 Newman, Michael  197 Nietzsche, Friedrich  31, 34, 118, 119, 140, 143, 150, 200, 201, 219, 225 Noë, Alva  189, 215, 217 Noland, Carrie  19, 29, 31, 32, 34, 36, 169, 172, 175, 190, 191, 193, 194, 202 O’Regan, J. Kevin  215 Oleschinski, Brigitte  201 Pacquement, Alfred  48 Paik, Nam June  229, 230, 232, 235 Panhofer, Heidrun  28 Paolo Uccello  13, 14, 53 Parish, Nina  64 Pasternak, Boris  134, 149 Paulhan, Jean  77, 79, 85, 86, 99, 133 Paulus, Jörg  25 Peirce, Charles Sanders  81, 95, 108, 151 Peltzer, Jörg  175 Perec, Georges  67, 115, 161 Perrot, Mathieu  54 Perry, Matthew C.  45, 46 Pfeiffer, Helmut  77, 78, 80, 84, 85, 96, 97, 102, 165 Picasso, Pablo  13, 52, 59, 123, 133, 199 Pichler, Wolfram  12, 20, 58, 119, 231 Pinotti, Andrea  96, 98 Piringer, Jörg  115 Plinius d. Ä.  11, 131–134, 153, 196, 199 Pollock, Jackson  12 Prinz, Sophia  32 Protogenes  131, 134, 149, 150, 153 Proust, Marcel  28, 160 Puccini, Giacomo  129 Raffael  132, 135 Ramharter, Esther  11–13, 101 Ramić, Adriana  233 Rautenberg, Ursula  176, 179 Ravaisson, Félix  67, 160, 161 Reynolds, Dee  191 Rheinberger, Hans-Jörg  22, 23 Ricci, Matteo  138 Riegl, Alois  11, 12, 97, 208, 220 Rieske, Constantin  33 Rizzolatti, Giacomo  192 Rodin, Auguste  13 Rodtschenko, Alexander Michailowitsch  12 Roebling, Iris  164 Roger, Jerôme  59, 70, 71 Rosand, David  132, 145

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Namenregister

Rosch, Eleanor  18, 19, 28, 216 Roth, Dieter  21 Roth, Michael  14 Saillet, Maurice  79, 88, 99, 100 Sartre, Jean-Paul  71, 129 Schäfer, Hilmar  32, 33 Schneemann, Carolee  13 Schneider, Ulrike  150 Schulz, Christoph Benjamin  175 Schwenger, Peter  21 Serres, Michel  12, 210 Sheets-Johnstone, Maxine  28, 101, 167, 219 Sherrington, Charles Scott  101 Shitao  120, 142 Sieburth, Richard  115 Sinigaglia, Corrado  192 Sommer, Manfred  151 Spoerhase, Carlos  176 Spuybroek, Lars  161 Starobinski, Jean  32, 71 Steinberg, Leo  13, 199 Steinmetz, Jean-Luc  173 Stendhal 21 Stockhammer, Robert  13 Stoichita, Victor I.  196 Stratton, George Malcolm  68, 69, 215 Stuart, Michelle  13 Stuart, Susan  215 Stüssel, Kerstin  20 Taizong 200 Tallis, Raymond  29 Teshigawara, Saburo  214 Tewes, Christian  19, 28, 30, 33 Thompson, Evan  18, 19, 28, 216 Tobey, Mark  145 Tomasello, Michael  29 Torra-Mattenklott, Caroline  13, 152 Totzke, Rainer  37 Trabant, Jürgen  29, 57, 109

Tucholsky, Kurt  152 Twombly, Cy  21, 37, 73 Ubl, Ralph  20, 231 Unger, J. Marshall  109 Utler, Anja  201 Valançay, Robert  149, 151, 153 Valéry, Paul  7, 13, 21, 154–158, 176 van de Velde, Henry  11 van Gogh, Vincent  59 Varela, Francisco J.  18, 19, 28, 78, 216 Veblen, Thorstein  138 Vermeer, Jan  160 Vernant, Jacques  213 Villard, Marie-Aline  34, 71, 119, 192, 203 Viola, Tullio  67 Virilio, Paul  101, 161 Vouilloux, Bernard  129 Warburg, Aby  11, 58, 159, 211 Weibel, Peter  13 Wershler-Henry, Darren  225–230, 232 White, Hayden  213 Wieger, Léon, S. J.  105, 114 Winnewisser, Rolf  101 Wirth, Uwe  217 Wittgenstein, Ludwig  100, 143, 212 Wittmann, Barbara  22, 24 Wölfflin, Heinrich  11, 97 Wolf, Gerhard  13, 132 Worringer, Wilhelm  11, 12, 97 Wu, Hung  136 Wundt, Wilhelm  68, 193 Young, La Monte  229, 230, 232 Zahavi, Dan  32, 219 Zao Wou-Ki  52, 129 Zhang Xu  230 Zimmermann, Heidy  14 Zürn, Unica 149

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DE GRUYTER

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