Linguistische Theorie und lexikographische Praxis: Symposiumsvorträge, Heidelberg 1996 [Reprint 2017 ed.] 9783110916751, 9783484309821

The articles revolve around a central aspect of the common ground where linguistic theory and lexicographic practice mee

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German Pages 254 [256] Year 1997

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Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Teil 1: Zum Verhältnis von Linguistik und Lexikographie in historischer Sicht
Entfernung, Fortschritt und Unvollständigkeit
Linguistische Theorie, lexikographische Praxis und das Woordeboek van die Afrikaanse Taal
Teil 2: Aspekte des lexikographischen Gegenstandsbereiches
Real existierende Formelvariation
Idiome
Neologismen im allgemeinen Wörterbuch oder Neologismenwörterbuch?
Archaismen und (k)ein Wörterbuch
Relative Motiviertheit im etymologischen Wörterbuch
Konnektoren im Wörterbuch
Teil 3: Methodologische Aspekte
Wörterbücher und Sprachnormen
Das ältere onomasiologische Wörterbuch als Text
Logische Semantik eines Wörterbuchs vom Cobuild Typ
Gegensinn in Lexikologie und Lexikographie
Semiotaxis und Wörterbuch
Ein theorie-übergreifender Standard für lexikalische Wissensbasen
Teil 4: Aspekte der Fachsprachenlexikographie
Fächerübergreifender wissenschaftlicher Wortschatz
Fachlexikologie und Fachlexikographie
Die Fachsprache der Metalexikographie
Linguistic Theory and Lexicographic Practice (Abstracts)
Théorie linguistique et pratique lexicographique (résumés)
Namenregister
Sachregister
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Linguistische Theorie und lexikographische Praxis: Symposiumsvorträge, Heidelberg 1996 [Reprint 2017 ed.]
 9783110916751, 9783484309821

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LEXICOGRAPHICA Series Maior Supplementary Volumes to the International Annual for Lexicography Suppléments à la Revue Internationale de Lexicographie Supplementbände zum Internationalen Jahrbuch für Lexikographie

Edited by Sture Allén, Pierre Corbin, Reinhard R. K. Hartmann, Franz Josef Hausmann, Ulrich Heid, Oskar Reichmann, Ladislav Zgusta 82

Published in cooperation with the Dictionary Society of North America (DSNA) and the European Association for Lexicography (EURALEX)

Linguistische Theorie und lexikographische Praxis Symposiumsvorträge, Heidelberg 1996 Herausgegeben von Klaus-Peter Konerding und Andrea Lehr

Max Niemeyer Verlag Tübingen 1997

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme [Lexicographica / Series maior] Lexicographica : supplementary volumes to the International annual for lexicography / publ. in Cooperation with the Dictionary Society of North America (DSNA) and the European Association for Lexicography (EURALEX). Series maior. - Tübingen : Niemeyer. Früher Schriftenreihe Reihe Series maior zu: Lexicographica 82. Linguistische Theorie und lexikographische Praxis. - 1997 Linguistische Theorie und lexikographische Praxis : Symposiumsvorträge, Heidelberg 1996 / hrsg. von Klaus-Peter Konerding und Andrea Lehr. - Tübingen : Niemeyer, 1997 (Lexicographica : Series maior ; 82) ISBN 3-484-30982-2

ISSN 0175-9264

© Max Niemeyer Verlag GmbH & Co. KG, Tübingen 1997 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Druck: Weihert-Druck GmbH, Darmstadt Einband: Industriebuchbinderei Hugo Nädele, Nehren

Inhaltsverzeichnis

Klaus-Peter Konerding und Andrea Lehr Vorwort

1

Teil 1: Zum Verhältnis von Linguistik und Lexikographie in historischer Sicht Dirk Geeraerts Entfernung, Fortschritt und Unvollständigkeit Das historische Verhältnis von Lexikologie und Lexikographie

RufusH. Gouws Linguistische Theorie, lexikographische Praxis und das Woordeboek van die Afrikaanse Taal

7

17

Teil 2: Aspekte des lexikographischen Gegenstandsbereiches Hartmut Schmidt Real existierende Formelvariation

33

Gisela Harras Idiome

51

Dieter Herberg Neologismen im allgemeinen Wörterbuch oder Neologismenwörterbuch? Zur Lexikographie v o n N e o l o g i s m e n

61

Klaus-Dieter Ludwig Archaismen und (k)ein Wörterbuch

69

Gerhard Äugst Relative Motiviertheit im etymologischen Wörterbuch

83

Ursula Brauße Konnektoren im Wörterbuch Konjunktionen, Adverbien, Partikeln

99

Teil 3: Methodologische Aspekte Peter Kühn Wörterbücher und Sprachnormen

109

Werner Hüllen Das ältere onomasiologische Wörterbuch als Text

127

Helmut Schnelle Logische Semantik eines Wörterbuchs vom Cobuild Typ

139

V1

Inhaltsverzeichnis

Rolf Peter Lutzeier Gegensinn in Lexikologie und Lexikographie

155

Franz Josef Hausmann Semiotaxis und Wörterbuch

171

Peter Hellwig Ein theorie-übergreifender Standard für lexikalische Wissensbasen

181

Teil 4: Aspekte der Fachsprachenlexikographie Clemens Knobloch und Burkhard Schaeder Fächerübergreifender wissenschaftlicher Wortschatz Probleme der Umsetzung einer lexikologischen Theorie in lexikographische Praxis

193

Thorsten Roelcke Fachlexikologie und Fachlexikographie Eine historische und systematische Problemskizze

207

Werner Wolski Die Fachsprache der Metalexikographie

219

Linguistic Theory and Lexicographie Practice (Abstracts) Théorie linguistique et practice lexicographique (résumés) Namenregister Sachregister

229 237 243 247

Klaus-Peter Konerding und Andrea Lehr

Vorwort Der vorliegende Sammelband umfaßt die Beiträge, die 1996 im Rahmen des in Heidelberg anläßlich des 60. Geburtstags von Herbert Emst Wiegand veranstalteten Symposiums „Linguistische Theorie und lexikographische Praxis"! vorgestellt wurden. Zusätzlich wurde der Beitrag von Helmut Schnelle aufgenommen. Das Symposium hatte die Zielsetzung, das als schwierig zu beurteilende Verhältnis zwischen theoretischer linguistischer und hier im wesentlichen lexikologischer Forschung und der vielfach ebenfalls akademisch bestimmten - lexikographisch-praktischen Arbeit aus unterschiedlichen Perspektiven zu beleuchten. Zwar sind in dem genannten Bereich eine Vielzahl von Einzelpublikationen zu verzeichnen, aber eine tatsächliche Bestandsaufnahme und Klassifikation wichtiger Probleme, die sich bei der Umsetzung lexikologischer Ergebnisse in lexikographische Konzepte ergeben, erfolgte noch nicht. Linguist(inn)en halten die lexikographische Arbeit eher für trivial, und praktisch arbeitende Lexikograph(inn)en nehmen die Vorschläge aus linguistischen Theorien unter Umständen zur Kenntnis, setzen diese aber häufig nicht weiterführend um. Dies liegt z.T. an den unterschiedlichen Zielsetzungen. Im Bereich der akademisch betriebenen Lexikographie sind umfassende Projekte, die zur Erstellung von Wörterbüchern führen, eher die Ausnahme als die Regel (allerdings galt dies nicht für die akademischen Großprojekte in der ehemaligen DDR). Aber auch im Rahmen seltener langfristiger akademischer Projekte unterbindet der Zwang zur Massendatenbearbeitung häufig grundlegende lexikologisch bestimmte Materialstudien und Detailuntersuchungen. Noch zu selten findet man darüber hinaus für die Zwecke und Bedürfhisse von miteinander kommunizierenden Sprecher(inne)n sorgfältig begründete Konzepte der Umsetzung und lexikographischen Präsentation theoriebestimmter Einsichten. Auf der Seite der linguistischen Forschung sind dagegen eine Vielzahl theoriebestimmter, z.T sehr anspruchsvoll und detalliert entwickelter Studien zu unterschiedlichen Bereichen des Wortschatzes zu verzeichnen. Neben den traditionellen Analysen im Rahmen der Bemühungen des Strukturalismus und der Lexematik, die insbesondere den Trierschen Feldbegriff ins Zentrum ihrer Interessen stellte, finden vor allem seit Mitte der 70er Jahre zunehmend lexikonbasierte Syntaxmodelle die Aufmerksamkeit der Linguist(inn)en, wobei sich diese Syntaxmodelle zumeist als Varianten und Weiterentwicklungen generativer Modelle erweisen. Das zunehmende Interesse an lexikonbasierten Modellen trifft vor allem auf den Bereich des neu entstandenen Paradigmas der computerorientierten Linguistik zu. Im Rahmen dieser Forschungen wurde und wird u.a. versucht, traditionelles lexikographisches Material für die implementierten Modelle lexikonbasierter Grammatiken nutzbar zu machen. Diese Versuche sind weitgehend fehlgeschlagen, da sich die bisherigen Formen einer an maschinellen Zwecken ausgerichteten Auswertung hinsichtlich der Präsentation der sprachbezogenen Information in den beschreibungssprachlichen Formulierungen der Wörterbücher, die prinzipiell recht uneinheitlich und z.T. ungenau sind, als ungeeignet erwiesen. Hier ist sicher zu fragen, ob die spezifizierten Bedürfnisse 1

Wir möchten an dieser Stelle der Deutschen Forschungsgemeinschaft danken, die das Symposium mit einem Zuschuß unterstützt hat.

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Vorwort

der Lexikographie für den Computer nicht auch zu einer Verbesserung klassischer lexikographischer Produkte fuhren könnten und sollten, oder ob die spezifischen Bedürfnisse von Mensch und Maschine tatsächlich prinzipiell unterschieden werden müssen. Die „Wörterbücher" der Zukunft sind jedoch ohne Zweifel an elektronische Medien gebunden, die auf komplex strukturierte und organisierte Datenbanken zurückgreifen. Die Entwicklung in diesem Bereich hat gerade begonnen. Insofern setzt die maschinenorientierte Lexikographie auch neue Standards für Präzision im Bereich der traditionellen Praxis. Ähnliches ist für den Bereich der lexikologischen Forschung zu konstatieren, insofern neue Bedürfnisse weitergehende und genauere lexikologische Analysen verschiedenster Wortschatzbereiche notwendig machen, man denke etwa an die exemplarische Analyse zu den Dimensionsadjektiven von Bierwisch und Lang. Herbert Ernst Wiegand ist seit langem bemüht, in den Forschungsfeldern der von ihm so benannten „praktischen Lexikologie" und der „Metalexikographie" einerseits die Ergebnisse der lexikologischen Forschung für die Sprachpraxis zu erschließen und fruchtbar zu machen, andererseits aufgrund detaillierter Analysen von realisierten Typen und Möglichkeiten der lexikographischen Datenerhebung und Datenpräsentation im Zusammenhang mit einer von ihm begründeten akademischen Wörterbuchbenutzungsforschung neue Präzisionsstandards für die ein- und zweisprachige Lexikographie zu erarbeiten. In diesen Bereichen sind in den letzten 20 Jahren umfangreiche Ergebnisse erzielt worden.. Aus diesem Grund haben wir den 60. Geburtstag von Herbert Ernst Wiegand zum Anlaß genommen, anhand eines Symposiums eine Bestimmung des derzeitigen Standorts der Forschung im Übergangsbereich von Lexikologie und Lexikographie zu versuchen, mit der weiteren Zielsetzung, bisherige Ergebnisse kritisch zu reflektieren, aktuelle Probleme zu lokalisieren und derzeitige Forschungslücken und Desiderata zu bestimmen. Dirk Geeraerts beleuchtet mit seinem Vortrag die zentralen Aspekte des nicht unproblematischen Verhältnisses von Linguistik bzw. Lexikologie und Lexikographie in historischer Sicht. Sein Resümee lautet, daß die historische Entwicklung dieses Verhältnisses zwar generell durch zunehmende Distanz gekennzeichnet ist, daß aber in neuester Zeit - speziell nach der kognitiven Wende in der Linguistik - auch wieder Tendenzen zur Annäherungen der beiden Disziplinen zu verzeichnen sind. Neben der in den letzten Jahren entstandenen Disziplin der theoretischen Lexikographie in Gestalt der Metalexikographie fehlt nach Geeraerts derzeit jedoch noch eine soziolinguistisch orientierte Disziplin einer deskriptiv verfahrenden Lexikologie, welche erst eine angemessene empirische Fundierung lexikologischer Theorien ermögliche. Nur unter diesen Bedingungen werde auch die Kluft, die sich zwischen theoretischer Lexikologie und lexikographischer Praxis historisch aufgetan hat, wieder geschlossen werden können. Als Ergänzung der eher historisch-systematischen Bestandsaufnahme von Geeraerts dokumentiert Rufüs Gouws am Beispiel der Genese des Woordeboek van die Afrikaanse Taal (WAT) die konkreten Phasen der praktischen Umsetzung lexikologischer und metalexikographischer Konzepte im Rahmen der allgemeinen einsprachigen Lexikographie. Formen und Probleme der lexikographischen Datenauswahl, -Präsentation und -aufbereitung und damit zentrale Aspekte des lexikographischen Gegenstandsbereiches behandeln Hartmut Schmidt, Gisela Harras, Dieter Herberg, Klaus-Dieter Ludwig, Gerhard Äugst und Ursula Brauße. Die Beiträge dieses thematischen Schwerpunktes bieten einen Querschnitt zu zentralen

Klaus-Peter Konerding und Andrea Lehr

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Fragestellungen des Verhältnisses von Lexikologie und Lexikographie anhand von ausgewählten, derzeit als „schwierig" zu bezeichnenden Einzelbereichen des Wortschatzes. Hartmut Schmidt weist anhand spezifischen Belegmaterials nach, daß der Gebrauch syntagmatischer Fügungen im Sinne von Formulierungsversatzstücken oder Formeln, die als Variationen exponierter Präzedenzfälle verstanden werden müssen, ein vor allem in der Gegenwartssprache relativ auffälliges Phänomen ist. Schmidt widmet sich zunächst der eingehenderen Charakterisierung etablierter und produktiver Formulierungsmuster sowie ihrer Abgrenzung gegenüber den Phraseologismen. Für Schmidt steht außer Frage, daß die Kenntnis entsprechender Muster zur sprachlichen Kompetenz zählt. Hieraus ergibt sich als Aufgabe für die Lexikographie, unter Berücksichtigung möglicher Adressat(inn)enkreise neue Formen der Datenerhebung und -Präsentation zu entwickeln, die es gestatten, die entsprechenden Muster angemessen zu erfassen. In der Kontinuität dieser Thematik unternimmt Gisela Harras eine Bestandsaufnahme der wissenschaftlichen Diskussion zu Phänomenen im Bereich der sogenannten Phraseologismen und gelangt so zu dem Ergebnis, es sei wünschenwert, speziell in Lerner(innen)wörterbüchern die syntaktisch-semantischen Beschränkungen für die verschiedenen Typen/Varianten von Phraseologismen genauer zu spezifizieren. Dieter Herberg und Klaus-Dieter Ludwig behandeln mit der Betrachtung des Gebiets der Neologismen bzw. der Archaismen Fragestellungen zu temporal prominenten Bereichen des Wortschatzes und deren Dynamik, diskutieren damit Problembereiche an der Peripherie synchron verfugbarer Wortschätze. Beide diskutieren die Behandlung der betreffenden Wortschatzbereiche in allgemeinen einsprachigen Wörterbüchern und stellen ihre Konzeptionen zu geplanten Wörterbüchern zu Neologismen bzw. Archaismen vor. Der Beitrag von Gerhard Äugst behandelt Probleme der Lemmaselektion, der makrostrukturellen Anordnung von Lemmata im etymologischen Wörterbuch und die Mikrostrukturen zu relativ motivierten Lexemen. Ursula Brauße beleuchtet das Problem der Darstellung und Kategorisierung von Konnektoren (Konjunktionen, Adverbien, Partikeln) im Wörterbuch. Sie gelangt zu dem Ergebnis, daß die Beschreibung dieser Wortarten in vorliegenden Wörterbuchern z.T irreführend ist. Im Rahmen der Fremdsprachenlexikographie fehlen ihrer Meinung nach hinreichende syntaktische Informationen zu Konnektoren. Peter Kühn, Werner Hüllen, Helmut Schnelle, Peter Rolf Lutzeier, Franz-Josef Hausmann und Peter Hellwig behandeln Fragestellungen, die sich unter dem thematischen Schwerpunkt Methodologische Aspekte zusammenfassen lassen. Dem Problem der lexikologischen Erfassung und Bestimmung der Sprachnorm sowie der normativen Wirkung normativer wie deskriptiver Wörterbücher, das zudem Aspekte der lexikologischen und lexikographischen Datenerhebung, -auswahl sowie der -Präsentation umfaßt, widmete sich Peter Kühn. Ein wesentliches Resultat seiner Überlegungen ist, daß lexikographische Normierungen so weit als möglich als solche gekennzeichnet werden sollten. Werner Hüllen thematisiert mit seinem Beitrag textlinguistische Charakteristika von Wörterbuchartikeln. Er weist nach, daß ältere onomasiologische Wörterbücher (d.h. onomasiologische Wörterbücher bis zum 17. Jh.) eindeutig Texteigenschaften aufweisen. Im Gegensatz dazu sind die Textseigenschaften der meisten modernen onomasiologischen Wörterbücher geringer ausgeprägt, da die alphabetische Anordnung der Lemmata die Etablierung eines „zusammen-

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Vorwort

hängenden" Textes verhindert. Die Texteigenschaften historischer onomasiologischer Wörterbücher zielte vor allem auf mnemotechnische Effekte. Entsprechend sollte sie auch im Bereich modernen didaktischen Lexikographie konzeptionell berücksichtigt werden. Peter Rolf Lutzeier macht in seinem Beitrag auf ein wenig bekanntes semantisches Phänomen aufmerksam. Er versteht unter Gegensinn eine Beziehung des Gegensatzes zwischen zwei Lesarten einer lexikalisch polysemen Einheit. Damit wendet er das Modell der Bedeutungsrelationen auf die Lesarten eines als polysem bestimmten Lemmazeichens an. Anhand von einigen Beispielen diskutiert Lutzeier Gegensinn inkompatibler, antonymer, komplementärer, konverser und reversibler Art. Lutzeier empfiehlt, daß die Beziehung des Gegensinns in Wörterbüchern zu Zwecken der Strukturierung der Sememe Berücksichtigung finden sollte und erwägt darüberhinaus die Erstellung eines Wörterbuch des Gegensinns als Ergänzung zu herkömmlichen Antonymenwörterbüchern.. Franz Josef Hausmann schlägt vor, die traditionelle Unterscheidung in Auto- und Synsemantika „quer" durch die Wortarten verlaufen zu lassen. Als wichtigste Konsequenz für die Zwecke der Lexikographie ergeben sich wesentliche Änderungen bei der Berücksichtigung und textuellen Präsentation der zugehörigen lexikologisch bestimmten Daten. Helmut Schnelle schlägt vor, die Beziehungen zwischen lexikalischen Einheiten (Substantiven, Verben und Adjektiven) im Lexikon im Sinne einer hierarchischen Struktur logischer Implikationen zu rekonstruieren. Ausgangspunkt dieser Rekonstruktion ist eine weitergehende Reglementierung der Form von Bedeutungsangaben, wie sie von John Sinclair in CobuildWörterbüchern erstmalig Verwendung fanden. Schnelle versteht die Menge der dabei erhältlichen „lexikalischen Sätze" als eine ausgezeichnete Teilmenge aller möglichen Sätze einer natürlichen Sprache. Peter Hellwig schließlich behandelt Lösungsvorschläge zu dem Problem, wie lexikographische Daten, die in ihrer Präsentation und Gestaltung stark von unterschiedlichen linguistischen und speziell lexikologischen Theorien determiniert und deshalb nicht immer ohne weiteres kompatibel zueinander sind, in globalere lexikographische Konzepte eingebracht werden können. Er reflektiert die Fragen, ob es einen theorieübergreifenden lexikographischen Standard für Wissensbasen geben könne und wie dieser auszusehen habe, speziell im Rahmen computerlinguistischer Zielsetzungen. Im Rahmen eines letzten thematischen Schwerpunktes behandeln Burkhard Schaeder und Clemens Knobloch, Thorsten Roelcke und Werner Wolski verschiedene Aspekte der Fachsprachenlexikographie . Während Roelcke das Verhältnis von Lexikologie und Lexikographie am Beispiel von Terminologielehre und Fachlexikographie allgemein betrachtet, analysieren Schaeder und Knobloch dieses Verhältnis anhand des varietätentranszenten Wissenschaftswortschatzes unter dem Gesichtspunkt von ausgewählten Problemen der Umsetzung lexikologischer Konzepte in die lexikographische Praxis. Werner Wolski reflektiert seinem Beitrag Aspekte der Fachsprache der Metalexikographie, wie sie vor allem in den zahlreichen Arbeiten von Herbert Ernst Wiegand geprägt worden ist. Vor dem Hintergrund von Problemen um die Spezifikation von Fachsprachen allgemein analysiert er Leistungen, die die Fachsprache der Metalexikographie zur Erschließung des Gegenstandsbereichs einer Wissenschaft von der Lexikographie im Übergangsbereich Lexikologie/Lexikograhie beigetragen hat.

Klaus-Peter Konerding und Andrea Lehr

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Die Beiträge, die in ihrer Gesamtheit einen exemplarischen und , so denken wir, zentralen Ausschnitt von Problemen aus dem diskutierten Spannungsfeld zwischen linguistischer Theorie und lexikographischer Praxis behandeln, zeigen speziell folgendes: Spezialbereiche der Lexik, spez. Archaismen, Neologismen, Konnektoren, Phraseologismen und Formulierungsversatzstücke mit Lexikalisierungstendenz, bedürfen eingehenderer „großflächig" angelegter empirischer Untersuchungen, insbesondere unter dem Gesichtspunkt der

fremdsprachendidaktischen

Konzeption

von Lemer(innen)wörterbüchem. Es besteht weiterhin ein offenes Problem, inwieweit Kollokationen und Bedeutungsrelationen im Wörterbuch angemessen berücksichtigt werden können und welche besonderen semantischen Eigenschaften dabei zu berücksichtigen sind Prinzipien und Ziele der Fachlexikographie sind unklar und müssen, speziell auch unter dem Gesichtspunkt fächerübergreifenden terminologischen Gebrauchs, eingehender diskutiert werden. Hierzu bedarf es ebenfalls breiterer empirischer Fallstudien. Es besteht die Frage, zu welchen Zwecken sinnvoll von der initialalphabetischen Anordnung in onomasiologischen Wörterbüchern abgewichen werden kann, so daß mikrostukturübergreifende Textualitätsprinzipien didaktisch gewinnbringend eingesetzt werden können. Weiterhin sind zeitgemäße Prinzipien der sachund wortfeldorientierten Anordnung zu entwicklen. Etymologische Wörterbücher bedürfen einer kritischen Überprüfung. Die Lexikologie ist häufig zu theorielastig und abstrahiert zu stark von der Vielseitigkeit des empirischen Material, als daß sie angemessene Ergebnisse für die praktische Lexikographie bereitstellen könnte. Die Lexikologie sollte verstärkt empirisch arbeiten. Dazu sind umfangreiche korpusbasierte Materialstudien erforderlich. Diese Untersuchungen würden sicher auch weitergehende Einblicke in die globale Struktur des Lexikons vermitteln. -

Wünschenswertes Ziel ist eine möglichst theoriereduzierte universell nutzbare lexikologisch-lexikographische Datenbasis. Die gemeinsame Arbeit an einer solchen Datenbasis könnte als verbindendes Element zwischen den divergierenden Interessen der Linguist(inn)en und Lexikograph(inn)en und deren jeweiligen individuellen Zielen fungieren.

Vor allem der letztgenannte Punkt erscheint uns als wichtiges Desiderat, das darüber hinaus die anscheinend divergierenden Interessen von Linguisten und Lexikographen auf eine fruchtbare Weise zusammenzuführen könnte. Die übrigen Gesichtspunkte ergaben sich dann als Detailprobleme im Rahmen der interdisziplinären Erarbeitung einer globalen lexikologischlexikographischen Datenbasis.

Dirk Geeraerts Entfernung, Fortschritt und Unvollständigkeit Das historische Verhältnis von Lexikologie und Lexikographie 0. 1. 2. 3. 4. 5. 6.

Einleitung Die ursprüngliche Symbiose Entfernung Fortschritt Unvollständigkeit Überblick Literatur

0. Einleitung In diesem Aufsatz werde ich versuchen, die Beziehung zwischen lexikographischer Praxis und lexikologischer Theorie von einer historischen Perspektive aus zu betrachten. Am Ende meiner geschichtlichen Darstellung werde ich dieses historische Verhältnis in drei Stichwörtern zusammenfassen: Entfernung, Fortschritt und Unvollständigkeit. Für den Anfang der geschichtlichen Darstellung nehme ich als Anknüpfungspunkt die Situation in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts; wie stand es damals mit dem Verhältnis zwischen Lexikographie und Lexikologie?

1. Die ursprüngliche Symbiose In der Einfuhrung zu seiner griechischen Bedeutungslehre aus dem Jahre 1888 hat Max Hecht das Verhältnis zwischen Semantik und Lexikographie folgendermaßen beschrieben. Er sagt über die Semantik: „Insofern sie zugunsten der Lexikographie die Bedeutungen in zeitlicher Folge ordnet und im Interesse der Etymologie die Gesetze der Bedeutungsänderung aufstellt, hat sie sprachwissenschaftlichen Wert. Soweit sie aber diese Gesetze aus der Natur des Geistes herleitet und eine Geschichte der Vorstellungen gibt - Bedeutungen sind Vorstellungen - fallt sie auf das Gebiet der empirischen Psychologie." (1888: 5)

Was sich hier unserem Blick offenbart - was sich hier unserem vielleicht verwunderten Blick offenbart, ist nicht nur ein natürliches und unproblematisches, sondern sogar ein harmonisches Verhältnis zwischen lexikographischer Praxis und lexikologischer Theorie. Harmonisch ist es, weil das Verfahren der lexikalischen Semantik nicht als eine selbständige, an und für sich vollständige Wissenschaft dargestellt wird, sondern als eine Art Vermittlung zwischen psychologischer Theorie und Wörterbuchpraxis - als eine Tätigkeit also, die sich so zu sagen auflöst in zwei andere Disziplinen. Einerseits ist die Wortbedeutungslehre ein Bestandteil der Psychologie, insofern sie die konzeptualisierende Fähigkeit des Geistes erläutert. Andererseits ist sie

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Dirk Geeraerts

auch ein Hilfsmittel der Lexikographie, weil sie einen deskriptiven Apparat für die Bedeutungsbeschreibung schafft. Von der gegenwärtigen Lage der Sprachwissenschaft aus gesehen, ist diese fröhliche Selbstaufopferung der Semantik unbedingt verwunderlich. Wenn nicht als durchaus gleichgültig ist die Einstellung der theoretischen Semantik zur Lexikographie heutzutage gar nicht als untertänig, sondern manchmal vielmehr als imperialistisch zu bezeichnen. Man erinnere sich z.B. daran wie der holländische Professor Henk Verkuyl während der Amsterdamer EuralexTagung den Lexikographen vorgeworfen hat, ihre Verwendung von semantischen Markierungen wie figürlich und übertragen sei ganz verfehlt und widersprüchlich, weil sie nicht von einer formellen, logisch-semantischen, mengentheoretischen Definition ausgingen (1994). Die Argumentation von Verkuyl ist unzulänglich weil zirkulär (s. Geeraerts & Smessaert 1995), aber das ist an dieser Stelle nicht am wichtigsten. Bedeutsam ist vielmehr, wie die Wörterbucharbeit von Verkuyl der Theorie untergeordnet wird: das Wörterbuch enthalte viele Fehler, weil es sich den konzeptuellen Rahmen der semantischen Theorie nicht angeeignet hätte. Das Wörterbuch erscheint hier also als eine unmittelbare Emanation der theoretischen Forschung, eine Art angewandte Linguistik im wörtlichen Sinne. Nun heißt diese Subsumption der Praxis unter die Theorie, diese imperialistische Selbstbehauptung der theoretischen Sprachwissenschaft eben nicht, daß ein fruchtbares Zusammenleben der beiden Disziplinen durchaus unmöglich geworden ist. Das ganze Forschungsverfahren von Herbert E. Wiegand zeigt gerade wie sprachwissenschaftliche Erkenntnisse lexikographisch vermittelt werden können, ohne die Selbständigkeit der Wörterbucharbeit zu bestreiten noch zu gefährden. Immerhin weist die Entwicklung der theoretischen Lexikographie als autonome Disziplin daraufhin, daß im Vergleich zur von Hecht beschriebenen Situation eine Trennung zwischen Lexikographie und theoretischer Lexikologie stattgefunden hat. Zwischen den beiden Disziplinen hat sich gerade die theoretische Lexikographie als Vermittlungsinstanz (und vielleicht auch als Puffer) etabliert. Auf verschiedene Aspekte dieser historischen Entwicklung möchte ich jetzt ausfuhrlicher (aber vielleicht noch immer zu oberflächlich) eingehen. Eine erste Frage ist die folgende: wie läßt sich das glückliche Zusammengehen von Lexikographie und Lexikologie, das im Zitat von Hecht beschrieben wird, erklären? Am einfachsten läßt sich diese Frage beantworten, wenn man den Charakter und die inhaltliche Gestalt berücksichtigt, sowohl der dominanten sprachwissenschaftlichen Tätigkeit als auch der vorherrschenden lexikographischen Aktivität am Ende des 19. Jahrhunderts. Diesen beiden ist nämlich eine historische Orientierung gemeinsam. Einerseits ist die Sprachwissenschaft im Zeitalter von Hecht (und noch lange Zeit danach) überwiegend historische Sprachforschung; Semantik heißt denn Lehre der Bedeutungsänderungen (s. Neriich 1992). Andererseits ist der damalige Höhepunkt der lexikographischen Arbeit gerade das historische Wörterbuch: das monumentale, 'nationale' Wörterbuch, wie es vom Deutschen Wörterbuch, vom Oxford English Dictionary, oder vom Woordenboek der Nederlandsche Taal dargestellt wird, inventarisiert und beschreibt die Geschichte des Wortschatzes, und diese Beschreibung wird in ihrer Monumentalität als der Inbegriff, als das Höchste der lexikographischen Tätigkeit anerkannt. Lexikographie und Linguistik können mit anderen Worten ein harmonisches und unmittelbares Verhältnis eingehen, weil ihnen eine diachrone Perspektive gemeinsam ist. Während sich die Lexikologie, als theoretische Disziplin, mit der Definition und Klassifikation von semantischen Mechanismen wie Metapher und Metonymie beschäftigt, zeigt das Wörterbuch, wie die-

Entfernung, Fortschritt und

Unvollständigkeit

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se Bedeutungsverschiebungen den Wortschatz einer Sprache auch wirklich geprägt haben. So besteht denn auch eine wissenschaftliche Wechselbeziehung zwischen beiden. Das historische Wörterbuch benutzt nicht nur lexikologische Begriffe wie 'Metapher' und 'Metonymie', sondern liefert in umgekehrtem Sinne der theoretische Lexikologie das empirische Material für die Erforschung dieser Begriffe. Das historische Wörterbuch ist also nicht nur der damalige Höhepunkt der Lexikographie wegen seiner Monumentalität und wegen seines Ziels, die lexikalische Geschichte der Sprache ganzheitlich zu beschreiben, sondern auch wegen seines wissenschaftlichen Charakters. Wissenschaftlich ist es gerade auch, weil es selbst einen Beitrag zur historischen Sprachforschung leistet. Die Geschichte des Wortschatzes, die in Form eines Wörterbuchs veröffentlicht wird, ist nicht die lexikographische Übersetzung von lexikologischen Arbeiten, sondern schafft diese Arbeiten selber. In diesem Sinne kann das Zitat von Hecht umgekehrt werden; von der historischen Lexikographie hieße es also: Insofern sie zugunsten der gesellschaftlichen Verständigung Wörter erklärt und im Interesse der zwischenmenschlichen Kommunikation Bedeutungen definiert, hat sie praktischen Wert. Soweit sie aber diese Wörter etymologisch analysiert und den Bedeutungen in ihren historischen Entwicklungen folgt, fallt sie auf das Gebiet der empirischen Sprachwissenschaft.

2. Entfernung Zugleich wird jetzt deutlicher, wie Lexikographie und Lexikologie aus dem Paradies ihrer symbiotischen Wechselbeziehung vertrieben sind. Ihre Entfernung ist durch eine doppelte Bewegung entstanden. Einerseits ist innerhalb der Lexikographie die praktische, praxisorientierte Komponente wichtiger als die wissenschaftliche geworden. Es hat sich das Verständnis durchgesetzt, daß unterschiedliche Wörterbücher mit unterschiedlichen Zielgruppen und unterschiedlichen Funktionen je eine andere Selektion und Präsentation des linguistischen Materials fordern. Theoretische Lexikographie heißt gerade die systematische Erforschung der Gründe, auf denen die Wahl von lexikographischen Beschreibungsmustern und zu beschreibenden Daten beruht (s. Wiegand 1989). Andererseits traten im Laufe des 20. Jahrhunderts innerhalb der linguistischen Theorie gewisse Verschiebungen ein, durch die die Sprachwissenschaft sich von ihrer ursprünglichen, unmittelbaren Beziehung zur Wörterbuchpraxis entfernt hat. In einer gerafften Darstellung lassen sich die folgenden, übrigens eng zusammenhängenden, Faktoren identifizieren. Erstens: Je nachdem die allgemeine Sprachwissenschaft sich auf die Regelmäßigkeit und Algorithmik der Sprache konzentriert, und je nachdem sie das theoretische Lexikon als Sammelstelle der Ausnahmen von diesen algorithmischen Regeln auffaßt, verringert sie die theoretische Akzeptabilität der Wortschatzbeschreibung. Zweitens: Je mehr Wert die Sprachwissenschaft auf die Formalisierung der Sprachbeschreibung legt, je weniger Priorität weist die Bedeutungsbeschreibung auf, oder anders ausgedrückt: Die Semantik entwickelt sich in eine Richtung (wie im Fall der formal-logischen Semantik), die einer direkten und breiten lexikographischen Anwendung nicht förderlich ist.

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Dirk Geeraerts

Drittens: Je nachdem die Sprachwissenschaft mehr und mehr die Angeborenheit und die Universalität der menschlichen Sprachfähigkeit betont, vermindert sich das Interesse für den Wortschatz. Gerade im Lexikon ist ja die nicht-genetische Kulturkomponente der Sprache und ihre nicht-universale Variabilität am deutlichsten wahrnehmbar. Und viertens: Je mehr sich die Sprachwissenschaft ein naturwissenschaftliches Selbstbild schafft, je geringer wird ihre Affinität zur Lexikographie. Das Wörterbuch ist ja eine Sache der Interpretation: es ist das Produkt einer definierenden, d.h. interpretativen Tätigkeit, und es unterstützt in umgekehrtem Sinne das interpretative Verfahren des Wörterbuchbenutzers. Solch ein interpretativer Ansatz heißt geisteswissenschaftlich eher als naturwissenschaftlich, gerade in dem Sinne, in dem Wilhelm Dilthey die Geisteswissenschaften den Naturwissenschaften gegenübergestellt hat, nämlich als methodologisch auf Verstehen orientiert, vielmehr als auf Erklären. Wenn sich aber ein naturwissenschaftliches, nicht-hermeneutisches Selbstverständnis der Sprachwissenschaft aufdrängt, werden die interpretationsorientierten Zweige der Linguistik (wie die Wortschatzforschung und die Lexikographie) marginaler. Zusammenfassend läßt sich sagen, daß die Algorithmisierung, die Formalisierung, die genetisch-universalistische Psychologisierung und die Enthermeneutisierung der Sprachwissenschaft eine theoretische Entfernung zwischen Lexikographie und Linguistik hervorbringen. Diese Feststellung der Entfernung benötigt aber eine doppelte Nuancierung.

3. Fortschritt Zuerst sind die soeben genannten Merkmale offensichtlich nicht allen linguistischen Theorien und theoretischen Ansätzen gemeinsam. So hat der Wortschatz in rezenteren Abzweigungen der generativen Grammatik eine immer wichtigere Rolle gewonnen; die bekannten Arbeiten von Beth Levin (1993), z.B., zeigen eine gewisse Annäherung zur lexikographischen Wortschatzbeschreibung. Außerdem hat, außerhalb der generativen Grammatik, auch die Semantik wieder an Einfluß gewonnen und gerade eine Semantik, die den 'geisteswissenschaftlichen' Charakter der Wortbedeutungen hervorhebt: Ausgangspunkt der kognitiven Linguistik ist ja die enzyklopädische und kulturgeprägte Art der sprachlichen Bedeutung. Wenn es mit anderen Worten von einer unzulässigen Generalisierung zeugt, die gesamte linguistische Theoriebildung auf eine Linie zu stellen, dann muß daneben als zweite Nuancierung auch festgestellt werden, daß im Laufe der Geschichte der Sprachwissenschaft immer wieder Anregungen von der Theorie für die Praxis ausgegangen sind. Die Lexikologie wird dann vielleicht marginaler im Gesamtbild der Sprachwissenschaft, verschwinden tut sie nicht. Um ein übersichtliches Bild zu bekommen, muß man zuerst die Entwicklung der theoretischen Lexikologie selbst übersichtlich darstellen. Wie ich schon in früheren Veröffentlichungen betont habe (1988a u. b), scheint es mir am geeignetsten, dabei drei wichtige Ansätze zu unterscheiden: die prästrukturalistische Semantik, die strukturalistische Semantik und die sogenannte kognitive Semantik. Die prästrukturalistische Semantik war von der Mitte des 19. Jahrhunderts an (von dem Augenblick an, an dem zuerst von Semantik als selbständiger linguistischer Disziplin die Rede sein kann) bis ungefähr 1930 dominant. Kennzeichnend für diese prästrukturalistische Periode (die wir gerade anhand des Zitats von Hecht ausschnittsweise kennengelernt haben) ist die diachrone Betrachtungsweise, das heißt hier, ein überwiegendes Interesse an der

Entfernung, Fortschritt und Unvollständigkeit

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Bedeutungsändening einzelner Wörter. Die strukturalistische Betrachtungsweise ersetzt das diachrone Interesse durch ein synchrones Interesse an den semantischen Strukturen im Lexikon. Nicht die Entwicklung des individuellen Wortes, sondern der wechselseitige Zusammenhang der Wörter in einer lexikalen Struktur wird der wichtigste Forschungsgegenstand. Im weiten Sinne können Betrachtungsweisen wie die Wortfeldtheorie, die Erforschung lexikalischer Relationen und die komponentielle Analyse auf den gemeinsamen Nenner der 'strukturellen Semantik' gebracht werden. Wenn man auch den Gebrauch komponentieller Verfahren in der generativen Sprachtheorie als eine Form der strukturellen Semantik (oder wenn Sie wollen - der 'neostrukturellen' Semantik) betrachtet, dann herrscht diese Betrachtungsweise bis in die 70er Jahre vor. Ab etwa dem Jahre 1980 stößt der strukturelle Ansatz auf die Konkurrenz der kognitiven Betrachtungweise, die wieder mehr den Schwerpunkt auf die Variabilität der Bedeutungen und die Folgen dieser Variabilität für die semasiologische Struktur einzelner Wörter legt. (Diesen drei Betrachtungsweisen schließt sich noch die formallogische Semantik als vierter Ansatz an, aber gerade aus der lexikalen Perspektive handelt es sich hier - trotz Verkuyl - um eine Tradition von nebensächlicher Bedeutung, die hier dann auch weiter außer Betracht gelassen wird.) Jede dieser drei theoretischen Betrachtungsweisen hat nun der praktischen und/oder theoretischen Lexikographie spezifische Anregungen gegeben. Ohne Vollständigkeit anzustreben, und in einer groben Skizze, möchte ich zur Illustration zumindest auf folgende Punkte hinweisen. Zuerst liefert die prästrukturalistische Semantik, wie wir gesehen haben, dem historischen Wörterbuch ein deskriptives Instrumentarium und eine wissenschaftliche Fragestellung zur Bedeutungsänderung von Wörtern. Anschließend macht die strukturalistische Semantik ihren Einfluß in mindestens drei Bereichen geltend. An erster Stelle betont die strukturelle Sprachbetrachtung den Unterschied zwischen einer diachronen und einer synchronen Sprachbeschreibung. In der Lexikographie findet sich davon ein erster Reflex in von Wartburgs einflußreichem Plädoyer für das Sprachstadienwörterbuch (1939). An zweiter Stelle verschiebt die strukturelle Semantik die Aufmerksamkeit von der internen Polysemie der Wörter auf die distinktiven Beziehungen zwischen den Wörtern. In der Lexikographie kommt dies in einem systematischeren Interesse an lexikalen Relationen wie Synonymie und Antonymie zum Ausdruck. Drittens bedeutet diese strukturalistische Perspektivenverschiebung von der Semasiologie auf die Onomasiologie auch ein wachsendes Interesse an Wörterbüchern, die auf der Grundlage semantischer Verwandtschaft geordnet sind. Derartige Sachgruppenwörterbücher gab es früher schon, aber ihre Bedeutung wird unter Einfluß der strukturalistischen Theoriebildung gestärkt (siehe in diesem Zusammenhang z.B. die Einführung bei Dornseiff 1934). Schließlich hat die kognitive Semantik bis jetzt vor allem die Aufmerksamkeit auf die folgenden zwei Punkte gelenkt. Die Prototypentheorie hat erneut auf den Sachverhalt der internen semasiologischen Struktur der Wörter hingewiesen. Während die strukturalistische Theoriebildung vor allem die externen, onomasiologischen Strukturrelationen betont, knüpft die Prototypentheorie wieder an die prästrukturalistische Betrachtungsweise an, und sie verdeutlicht, daß Wörter auch eine interne polyseme Struktur haben, die im Wörterbuch berücksichtigt werden soll. Für die lexikographische Praxis ist diese Einsicht natürlich nichts Neues, aber eine theoretische Lexikographie, die sich zu stark durch strukturalistische Prinzipien fuhren läßt,

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Dirk Geeraerts

läuft Gefahr, über diese interne Struktur hinwegzusehen (Geeraerts 1990, und verg. Swanepoel 1994). Deutlichere Konzequenzen für die lexikographische Praxis hat daneben ein zweiter Bestandteil der kognitiv-semantischen Theoriebildung, nämlich die Frametheorie. Vollständige Wörterbücher auf frametheoretischer Grundlage sind noch nicht hergestellt worden, aber verschiedene Autoren (Wegner 1985, Konerding 1993, Fillmore & Atkins 1992) haben schon auf die lexikographisch interessanten Punkte dieser Theorie hingewiesen. Die Einsichten in die Zusammenhänge von Lexikologie und Lexikographie könnten selbstverständlich vertieft und erweitert werden. Ich verzichte darauf, weil ich nur einige Illustrationen zu der These geben wollte, daß das historische Verhältnis zwischen Lexikologie und Lexikographie nicht ausschließlich durch eine gegenseitige Entfernung gekennzeichnet wird. Es ist auch von ständigem wechselseitigem Kontakt die Rede, und diese Kontakte enthalten auch einen deutlichen Fortschritt : der empirische Bereich und die deskriptive Tiefe der Lexikographie haben sich unter Einfluß der theoretisch-lexikologischen Anregungen erweitert. Daß auf diese Weise immer wieder Impulse der Lexikologie die Lexikographie erreicht haben, mildert natürlich die Effekte der oben festgestellten Entfernung. Anschließend müssen wir aber auch feststellen, daß es andere Merkmale der lexikologischen Forschung gibt, die die Wechselwirkung dann wieder beeinträchtigen. Insbesondere müssen wir herausstellen, daß die Lexikologie, trotz des aufgewiesenen historischen Fortschritts, noch nicht die Vollständigkeit erreicht hat, die sie (aufs neue) zu einer idealen Basis für die Lexikographie machen würde.

4. Unvollständigkeit Die soeben skizzierte Übersicht suggeriert eine Vollständigkeit, die es in Wirklichkeit nicht gibt. Ohne auch hier Exhaustivität anzustreben, muß jedenfalls auf folgendes hingewiesen werden: Es gibt Aspekte der lexikalischen Wirklichkeit, denen die Lexikologie als Disziplin noch nicht ihre volle Aufmerksamkeit gewidmet hat, aber die gerade aus einer lexikographischen Perspektive von großer Bedeutung sind. Diese Mängel sind sowohl auf theoretischer als auch empirischer Ebene zu situieren. In theoretischer Hinsicht wäre es ja ein Fehler, anzunehmen, daß die gegenwärtige theoretische Lexikologie ein exhaustives Bild der lexikalischen Wirklichkeit vermittelt. Was in den theoretischen Modellen noch immer im Vordergrund steht, sind Aspekte der lexikalischen Strukturen, die innerhalb einer bestimmten Sprachvarietät auftreten. Was aber meistens noch fehlt, ist das Interesse für die lexikalische Variation zwischen den Sprachvarietäten untereinander, das heißt für den ganzen Bereich, den wir als Soziolexikologie bezeichnen können. Jeff Heath hat in seinem Beitrag zum Handbuch Soziolinguistik (1988) daraufhingewiesen, daß die Erforschung der soziolexikologischen Variation durch die Tatsache erschwert wird, daß lexikalische Variation als formales Phänomen ständig auch eine Interaktion mit semantischer Variation aufweist: nicht nur die Ausdrucksformen ändern sich, sondern auch die semantischen Inhalte selber variieren von einer Sprachvarietät zu der anderen. Eine adäquate Beschreibung der lexikologischen Variation wird somit durch die ständige Interferenz der onomasiologischen, semasiologischen und soziolinguistischen Variation erschwert. Abgesehen von gelegentlichen Bemerkungen wie jener von Heath hat sich die theoretische Lexikologie jedoch

Entfernung, Fortschritt und

Unvollständigkeit

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kaum mit diesem Problem beschäftigt: die notwendige quantitative Methodologie für die Erforschung dieser Variation ist noch kaum vorhanden Die Untersuchung, die unsere Leuvener Forschungsgruppe auf diesem Gebiet durchgeführt hat (Geeraerts, Grondelaers & Bakema 1994), ist einer der ersten Versuche, zu einer zusammenhängenden Theorie der lexikalischen Variation zu kommen, in der namentlich sowohl die 'interne' semantische Variation als auch die 'externe' soziale Variation in einem Modell vereinigt werden. Damit ist übrigens nur eine Lücke in der Theoriebildung gefüllt. Dem Lexikographen ist mit diesem Modell nicht unmittelbar geholfen, aber das hängt mit einer zweiten Form der Unvollständigkeit zusammen. Wenden wir uns anschließend dem empirischen Bereich der Lexikologie als akademischer Disziplin zu, dann ist es auffallend, wie deskriptiv eingeschränkt die Forschung öfters ist. Auch die besseren theoretischen Modelle werden häufig mit einer beschränkten Zahl von Fallstudien illustriert, also in dem Bereich, in dem der Lexikograph gerade einer großangelegten Beschreibung der lexikalischen Realität bedarf. Oft sucht der Lexikograph vergebens Informationen, die er für eine sachverständige Abfassung seines Wörterbuchs braucht. Auch hier könnte die ganze soziale Komponente des Sprachgebrauchs als Beispiel gelten: Der Lexikograph, der die genaue soziolinguistische Distribution eines bestimmten Ausdrucks erfahren will, wird nur in einer beschränkten Zahl von Fällen auf empirische Studien zurückgreifen können, die ihm das Material reichen, auf Grund dessen er eine Entscheidung bezüglich der Aufnahme und des 'Labeling' dieses Ausdrucks treffen kann. Auch außerhalb des soziolexikologischen Bereichs ist das Fehlen großangelegter deskriptiver Studien feststellbar: Wo sind z.B. die Studien, die in breitem Umfang den Gefühlswert von Wörtern erforschen? Eine solche Studie verlangt spezifische, arbeitsintensive Techniken: Wie auch Bejoint schon früher bemerkt hat (1979), ist dabei der Gebrauch von Befragungen ein geeignetes Hilfsmittel. Der Lexikograph wird diese Operation - wegen der üblichen Zeitbeschränkungen - nicht durchführen können, während die Lexikologie als akademische Disziplin zufrieden ist, wenn die Theorie und die Methode der Gefühlswerteuntersuchung anhand eines einzigen Beispiels verdeutlicht werden. Zwischen Lexikographie und Lexikologie wird auf diese Weise eine Lücke sichtbar, die auch nicht durch die theoretische Lexikographie gefüllt wird, die Lücke der großangelegten empirischen Forschung, die weiter als die einmalige Entwicklung theoretischer Modelle und dazugehöriger Forschungsmethoden reicht.

5. R e s ü m e e Zusammenfassend läßt sich das Verhältnis zwischen Lexikographie und Lexikologie in seiner historischen Entwicklung anhand von drei Stichwörtern charakterisieren. Erstens ist von einer theoretischen Entfernung die Rede: das ursprüngliche feste Band der historischen Lexikographie mit der diachronen Semantik wird durch eine Konstellation ersetzt, in der sich die theoretische Lexikographie als vermittelnde Instanz zwischen die reine Praxis und die selbständige Theoriebildung stellt. Zweitens werden die Effekte dieser Entfernung dadurch gemildert, daß theoretische Entwicklungen immer wieder auch neue Impulse für die Wörterbuchpraxis gegeben haben. Weil dabei allmählich auch der theoretische Bereich der lexikalischen Semantik vergrößert wird, impliziert diese Entwicklung auch ohne weiteres einen Prozeß des Fortschritts.

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Dirk Geeraerts

Drittens wird - aus der Perspektive des Lexikographen - die Entfernung jedoch gerade auch durch die Unvollständigkeit der Lexikologie begünstigt: Wichtige Aspekte des Phänomens 'lexikalische Bedeutung' werden theoretisch sowie deskriptiv zu wenig berücksichtigt. Aus dieser Unvollständigkeit ergibt sich meines Erachtens ein zwingendes Programm für die Lexikologie: Eine weitere Annäherung an die Lexikographie wird erst möglich sein, wenn die Lexikologie nicht nur eine theoretische Disziplin bleibt, sondern wenn sie sich, dazu von selbstsicheren Lexikographen veranlaßt, zu einer deskriptiven Disziplin auf breiter empirischer Basis entwickelt. Ich habe soeben daraufhingewiesen, wie sich die theoretische Lexikographie als intermediäre Instanz zwischen lexikographische Praxis und die theoretische Lexikologie gestellt hat, in dem Augenblick, da die ursprüngliche symbiotische Beziehung zwischen den beiden weniger fest und natürlich wurde. Ich möchte abschließen mit der Behauptung, daß jene Entfernung nur dann noch abnehmen kann, wenn sich auf der Seite der Lexikologie eine ähnliche Abspaltung ereignet. In der ursprünglichen Situation, die wir skizziert haben, stellte die Lexikologie die theoretische Basis des wissenschaftlichen historischen Wörterbuchs dar, aber das Wörterbuch war gleichzeitig auch die großangelegte empirische Realisierung des lexikologischen Forschungsprogramms. Je nachdem die Lexikographie weniger in einem rein wissenschaftlichen, sondern vielmehr in einem pragmatischen Selbstbild ihren Ausgangspunkt nahm, spürte sie das Bedürfnis nach einer eigenen theoretischen Komponente, die auch wirklich als 'Metalexikographie' Gestalt gewonnen hat. Die theoretische Lexikologie und die Lexikographie bedürURSPRÜNGLICH

Grundlagenforschung

wissenschaftlich orientiert

praktisch orientiert

diachrone Semantik

(diachrone Semantik)

das historische Wörterbuch

großangelegte empirische Realisierung

$ GEGENWÄRTIG

Grundlagenforschung großangelegte empirische Realisierung

wissenschaftlich orientiert

praktisch orientiert

theoretische Lexikologie

Metalexikographie, theoretische Lexikographie

?

Wörterbuchpraxis

- Abbildung 1 -

Entfernung, Fortschritt und Unvollständigkeit

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fen z u s a m m e n j e d o c h auch eines möglichst breiten empirischen Pendants der theoretischen Lexikologie. D i e A u t o n o m i e der Lexikographie impliziert daß die Lexikologie die großangelegte Realisierung ihres Forschungsprogramms verloren hat. Aber ebenso kann der Lexikograph, aus praktischen Gründen, kaum noch sein eigener L e x i k o l o g e sein. D i e Lücke zwischen Lexikographie und Lexikologie ist denn auch nicht, w i e es Verkuyl meint, ein Defizit der Lexikographie, sondern vielmehr ein Problem der Lexikologie. Unterscheidet man einerseits zwischen einer wissenschaftlich und einer praktisch orientierten Tätigkeit, und andererseits zwischen Grundlagenforschung und großangelegte Realisierung des Forschungprogramms, dann läßt sich die soeben skizzierte historische Entwicklung schematisieren w i e in Abbildung 1. Meine endgültige These, denn, ist die folgende: Ebenso w i e die Metalexikographie die theoretische K o m p o n e n t e der lexikographischen Praxis ist, s o muß sich neben der theoretischen L e x i k o l o g i e eine breit orientierte deskriptive Lexikologie noch weiter entwickeln. Erst dann wird die Lücke, die zwischen theoretischer Lexikologie und lexikographischer Praxis entstanden ist, wieder gefüllt sein.

6. Literatur Bejoint H. 1979. „The use of informants in dictionary-making". In R.R.K. Hartmann (ed.), Dictionaries and their users 25-29. Exeter. Dornseiff F. 1934. Der deutsche Wortschatz nach Sachgruppen. Berlin. Fillmore C. & B. Atkins 1992. „Towards a frame-based lexicon: the semantics of risk and its neighbors". In A. Lehrer&E. Kittay (eds.), Frames, fields and contrasts 75-102. Hillsdale, NJ. Geeraerts D. 1988a. „Cognitive grammar and the history of lexical semantics". In B. Rudzka (ed.), Topics in cognitive linguistics 647-677. Amsterdam. Geeraerts D. 1988b. „Katz revisited. Aspects of the history of lexical semantics". In W. Hüllen & R. Schulze (eds.), Understanding the lexicon. Meaning, sense and world knowledge in lexical semantics 23-35. Tübingen. Geeraerts D. 1990. „The lexicographical treatment of prototypical polysemy". In S.L. Tsohatzidis (ed.), Meanings and Prototypes. Studies in Linguistic Categorization 195-210. London. Geeraerts D., S. Grondelaers & P. Bakema 1994. The structure of lexical variation. Meaning, naming, and context. Berlin. Geeraerts D. & H. Smessaert 1995. „Figuurlijk, logisch gezien. Een reactie op Verkuyl". Trefwoord 10: 48-58. Heath J. 1988. „Lexicon". In U. Ammon et al. (eds ), Sociolinguistics - Soziolinguistik 2: 1153-1163. Berlin. Hecht M. 1888. Die griechische Bedeutungslehre. Eine Aufgabe der klassischen Philologie. Leipzig. Konerding K.-P. 1993. Frames und lexikalisches Bedeutungswissen. Tübingen. Levin B. (1993). English verb classes and alternations. A preliminary investigation. Chicago. Neriich B. 1992. Semantic theories in Europe 1830-1930. Amsterdam. Swanepoel P. 1994. „Problems, theories and methodologies in current lexicographical semantic research". In W. Martin et al. (eds ), Euralex ¡994 Proceedings 11-26. Amsterdam. Verkuyl H. 1994. „Knowledge representation in dictionaries". In W. Martin et al. (eds ), Euralex 1994 Proceedings (Beiheft), 1-26. Amsterdam. Von Wartburg W. 1939. „Betrachtungen über das Verhältnis von historischer und deskriptiver Sprachwissenschaft". In Melanges de linguistique offerts ä Charles Bally 3-18 Geneve. Wegner I. 1985. Frame-Theorie in der Lexikographie. Tübingen. Wiegand H.E. 1989. „Der gegenwärtige Status der Lexikographie und ihr Verhältnis zu anderen Disziplinen". In F.J. Hausmann et al. (eds.), Wörterbücher - Dictionaries - Dictionnaires 1: 246-280. Berlin.

Rufiis H. Gouws

Linguistische Theorie, lexikographische Praxis und das Woordeboek van die Afrikaanse Taal 1. 2. 3. 4. 5. 5.1. 5.2. 5.3. 5.4. 6. 7.

Einleitende Bemerkungen Ein historischer Überblick: Aspekte der Geschichte und Entwicklung des WAT Das WAT und die Entwicklung der afrikaansen Metalexikographie Linguistische und benutzerorientierte Änderungen im Vorspann des WAT IX Linguistisch motivierte Änderungen im zentralen Wörterverzeichnis des WAT Einleitung Informationsdichte Semantische Daten Die Lemmatisierung von lexikalischen Mehrwort-Einheiten in WAT IX Schlußbemerkung Literaturverzeichnis

1. Einleitende Bemerkungen Die Geschichte der Lexikographie ist ein wichtiger Forschungsbereich der Metalexikographie, vgl. Hausmann (1985: 368) und Wiegand (1984). Sie spielt eine bedeutende Rolle, wenn ein bestimmter Einfluß in einem Wörterbuch berücksichtigt wird oder wenn das Wörterbuch in eine typologische Kategorie eingeordnet wird. Der Benutzer betrachtet Wörterbücher als im allgemeinen wichtige Quellen linguistischer Information. Diese Auffassung stellt große Anforderungen an den Lexikographen, unter anderem steht er in der Verantwortung, nicht nur aktuelle linguistische Strömungen genau zu reflektieren, sondern auch als Mittler zwischen der theoretischen Linguistik und dem praktischen Sprachgebrauch zu fungieren. Als Teil seiner Verpflichtung dem anvisierten Benutzer gegenüber soll der Lexikograph die linguistische Qualität des Datenangebots im Wörterbuch garantieren können, und die lexikographische Einarbeitung dieser linguistischen Daten soll auf einer gültigen Basis beruhen. In einem Wörterbuch sollen Linguisten und Metalexikographen die Resultate linguistischer und metalexikographischer Forschung zum Nutzen des alltäglichen Benutzers anwenden. Es leuchtet ein, daß ein Sprachwörterbuch einem starken linguistischen Einfluß Rechnung trägt. Der Umfang dieses Einflusses kann nicht ohne weiteres genauer bestimmt werden. Am besten geschieht ein solcher Versuch anhand fester, vorher formulierter Kriterien. Das Wiegandsche Modell (1984) ist sehr hilfreich, um bestimmte Aspekte der Lexikographie auf systematische Weise zu untersuchen. Auch wenn ein einziges Wörterbuchprojekt unter die Lupe genommen wird, kann das Wiegandsche Modell erfolgreich angewendet werden, um den Einfluß der Linguistik auf jenes Projekt zu untersuchen. In diesem Beitrag soll der Einfluß der Linguistik und der Metalexikographie auf das afrikaanse Wörterbuch, das Woordeboek van die Afrikaanse Taal, näher untersucht werden. Meine Darlegungen konzentrieren sich einerseits auf die Entwicklung dieses Wörterbuchs und die Änderungen, die im Laufe der Zeit zur Verbesserung seiner linguistischen Qualität durchge-

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Rufus H. Gouws

fuhrt wurden. Andererseits wird dem Einfluß dieses Wörterbuchs auf die Entwicklung der afrikaansen Metalexikographie besondere Aufmerksamkeit geschenkt.

2. Ein historischer Überblick: Aspekte der Geschichte und Entwicklung des WAT Das Woordeboek van die Afrikaanse Taal (das WAT) ist nicht nur das umfangreichste lexikographische Unternehmen, das bisher in Südafrika durchgeführt worden ist, sondern es war auch das erste große lexikographische Projekt anläßlich der Anerkennung von Afrikaans als offizielle Sprache Südafrikas im Jahre 1925. Am 12. März 1925 beschloß ein Sonderausschuß des Parlaments, daß ein vollständiges, maßgebendes Wörterbuch mit finanzieller Unterstützung des Staates verfaßt werden soll. Die Arbeit an diesem Projekt begann 1926. Die anfängliche Absicht war, ein Wörterbuch, das hinsichtlich seines Umfangs und seiner Art mit dem einbändigen niederländischen Wörterbuch des Verlags Van Dale verglichen werden konnte, innerhalb von drei Jahren fertigzustellen, cf. Snijman (1964: 11). Durch ein Zusammentreffen verschiedener Umstände kam es zu Verzögerungen und Veränderungen und allmählich wurde klar, daß das WAT kein einbändiges Wörterbuch sein würde, sondern ein umfassendes mehrbändiges Wörterbuch. Die Arbeit an dem WAT fing zu einem Zeitpunkt an, als die Begeisterung für ein solches Projekt in Südafrika größer war als die linguistischen und lexikographischen Fähigkeiten. Die Kompilierung eines umfassenden Wörterbuchs ist nicht nur eine immense Arbeit, sondern auch ein Auftrag, der nicht typisch ist, wenn die lexikographisch zu bearbeitende Sprache noch jung ist. Umfassende Wörterbücher werden in der Regel nur für standardisierte und etablierte Sprachen kompiliert, cf. Gallardo (1980: 610) und Gouws & Ponelis (1992: 90). Im Rückblick ist es jetzt klar, daß eines der größten Probleme der früheren Arbeit an dem WAT ein Mangel an lexikographischen Planungen und Ideen war. Diese Einschätzung ergibt sich u. a. aus der Tatsache, daß kein Band des WAT in der Dienstzeit von Prof. J.J. Smith veröffentlicht wurde, der von 1926 bis 1945 Hauptredakteur war. Sein Nachfolger war Dr. P.C. Schoonees, der 1947 angestellt wurde. Unter seiner Leitung fing die Redaktion mit der Kompilierung des Wörterbuchs an, außerdem wurden allgemeine Prinzipien ausgearbeitet, cf. Snijman (1964: 15). Dies war ein erstes Anzeichen für die Anwendung einer lexikographischen Organisationstheorie. In der Zeit von 1951 bis 1961, als Schoonees Hauptredakteur war, wurden die ersten vier Bände des WAT veröffentlicht (Band I (1951): Buchstaben A-C, Band IV (1961): Buchstaben H-I). Schooneeswurde von Dr. F.J. Snijman in Amt abgelöst. In seiner Dienstzeit wurden Band V (1968) und Band VI (1976) veröffentlicht. Infolge des redaktionellen Systems und der Verfahrensweise, nach der Snijman vorging, machte das WAT zu dieser Zeit keine befriedigenden Fortschritte - vor allem, wenn man die Fortschritte am Alphabet mißt: Nur der Buchstabe J und ein Teil des Buchstabens K wurden in den Bänden V und VI bearbeitet (Band V: JKJ, Band VI: KLA-KOL). Auch unter der Leitung von D.C. Hauptfleisch, dem nachfolgenden Hauptredakteur, ging die Arbeit im Schneckentempo weiter. Die Bände VII (KOM-KOR) und VIII (KOS-KYW) wurden 1984 bzw. 1991 veröffentlicht. Dem Buchstabe K wurden also 4 Bände und viele Arbeitsjahre gewidmet. Band IX (der Buchstabe L) erschien 1994 unter Dr.

Linguistische Theorie, lexikographische Praxis und das WA T

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D J. van Schalkwyk als neuem Hauptredakteur und Band X (der Buchstabe M) wird im November 1996 veröffentlicht.

3. Das WAT und die Entwicklung der afrikaansen Metalexikographie Ein besonderes Merkmal des WAT ist seine zentrale Rolle in der Entwicklung der afrikaansen metalexikographischen Diskussion. Dies zeigt vor allem der Stand der theoretischen afrikaansen Lexikographie zu der Zeit, als die Arbeit an diesem Wörterbuch begann. Afrikaanse Wörterbücher, die vor 1926 erschienen, hatten alle einen beschränkten Umfang und waren meistens von relativ niedriger linguistischer Qualität. Man kann ohne weiteres sagen, daß diese Wörterbücher in einem prätheoretischen Milieu entstanden sind. Der erste bedeutende Beitrag zur Etablierung einer afrikaansen metalexikographischen Tradition war ein Vortrag, der im Jahre 1925, kurz vor Beginn der Arbeit am WAT, von Boshoff gehalten wurde und später als Boshoff (1926) veröffentlicht wurde. In diesem Vortrag stellte Boshoff einige Kriterien auf, anhand derer man ein Standardwörterbuch vom Typ des WAT aus linguistischer Perspektive beurteilen kann. Dieser Beitrag - eine direkte Folge der Bekanntmachung des vorgeschlagenen lexikographischen Projekts - war die erste dokumentierte bedeutende metalexikographische Arbeit für Afrikaans. Die Qualität dieses Vortrags war entsprechend besser als die anfänglichen Errungenschaften des WAT. Hätte die WAT-Redaktion diesem Vortrag frühzeitig größere Aufmerksamkeit geschenkt, wären die ersten Bände dieses Wörterbuchs nicht nur linguistisch deutlich besser gewesen, sondern er hätte auch eine wertvolle Grundlage für ein umfassendes Wörterbuch mit einem linguistisch motivierten Datenangebot bilden können. Die damalige Bekanntmachung, daß ein neues lexikographisches Projekt geplant wurde, war der zwingende Grund für diesen ersten metalexikographischen Versuch. Bei der Entstehung der meisten metalexikographischen Beiträge der nächsten fünf Jahrzehnten hatte das WAT eine ähnliche Rolle inne. Die afrikaanse Metalexikographie etablierte sich durch eine Vielzahl von kritischen Rezensionen afrikaanser Linguisten hinsichtlich des Datenangebots des WAT. Obwohl die Rezensenten den ersten Band mit Freude aufnahmen, äußerten sie Unzufriedenheit über die linguistische Qualität dieses Wörterbuchs, cf. De Villiers (1952), Labuschagne (1952) und Kempen (1952). In seiner Rezension stellt Kempen ernsthaft in Frage, ob ein derartig umfängliches Wörterbuchprojekt bereits 1926 hätte in Angriff genommen werden dürfen. Seine Skepsis, die auf der Einsicht beruht, daß mangelhafte lexikographische Erfahrung sich in unzulänglichen linguistischen Bearbeitungsmethoden widerspiegelt, ist nicht nur gerechtfertigt, sondern eine Kritik an der Redaktion des WAT, die ohne eine präzise ausformulierte Konzeption an ein sehr ambitiöses Unternehmen heranging. Während der sechziger Jahre trugen verschiedene Beiträge von Odendal (1961; 1961a; 1961-62), Snijman (1963; 1964) und Eksteen (1962; 1964; 1965) zur weiteren Etabliening der afrikaansen Metalexikographie bei. Die Arbeiten von Eksteen waren wahrscheinlich der Anfang der afrikaansen akademischen Lexikographie. Heute hat die akademische Lexikographie einen eigenen und beständigen Platz an südafrikanischen Universitäten und beinflußt nicht nur das WAT, sondern auch andere lexikographische Projekte. Es waren aber ohne Zweifel die Rezensionen des WAT, die bei dem Zustandekommen und der weiteren Entwicklung der afrikaansen Metalexikographie die größte Rolle spielten. Afri-

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Rufus H. Gouws

kaanse Linguisten wurden sich der Unzulänglichkeiten des WAT bewußt und verfaßten Rezensionen, in denen sie nicht nur ein abwertendes Urteil über das WAT fällten, sondern auch Vorschläge zur Verbesserung der linguistischen und lexikographischen Qualität formulierten. Das WAT war nicht nur Ziel der Kritik, sondern es wurde auch ein Zentrum der metalexikographischen und linguistischen Diskussion. Das Erscheinen jedes neuen Bandes des WAT aktivierte Linguisten, die sich über Rezensionen und lexikographische Diskussionen im allgemeinen äußerten. Obwohl die frühen Rezensionen noch keinen bemerkenswerten Niederschlag in den ersten sieben Bänden fanden, änderte sich die Lage dramatisch mit der Veröffentlichung der letzten beiden Bände. Im allgemeinen waren die Rezensionen der ersten Bände nicht sehr negativ. Jedoch ist die Kritik an den spätem Bänden schärfer geworden. Ein neues Zeitalter in der Entwicklung des afrikaansen lexikographischen Gesprächs wurde 1962 mit der sehr kritischen Beurteilung des vierten Bandes durch Combrink eingeleitet. Im Anschluß wurde das WAT vornehmlich als ein linguistisches Produkt beurteilt und nach linguistischen Kriterien analysiert. Diese Rezension ist auch ein schlüssiger Beweis fiir die zweifache Rolle des WAT bei der Entwicklung der afrikaansen Metalexikographie. Einerseits war das WAT Gegenstand einer Rezension, die die mangelhafte linguistische Qualität des Wörterbuchs betonte. Andererseits war dieses Wörterbuch aber auch der Katalysator, der afrikaanse Linguisten zu Reaktionen veranlaßte und eine lexikographische Diskussion entfachte, die ansonsten vielleicht niemals stattgefunden hätte. Diese doppelte Rolle des WAT gewann in den nächsten zwei Jahrzehnten zunehmend an Bedeutung. Die Ernennung des dritten Hauptredakteurs, Dr. F.J. Snijman, hatte einen weitreichenden Einfluß auf die lexikographische Verarbeitungs- und Darstellungsweise im WAT und auf die Art und Struktur der einzelnen Artikel. In jenen Jahren zog das WAT sich den Zorn der afrikaansen Linguisten zu. Mit der Veröffentlichung des Manual of Lexicography (Zgusta 1971) kam die internationale metalexikographische Entwicklung in Bewegung. Das WAT reflektierte aber weder den Einfluß der Metalexikographie noch die Einwirkung der sich schnell entwikkelnden Sprachwissenschaft. Mit der Verarbeitungs- und Darstellungsweise der Bände V (1968) und vor allem VI (1976) isolierte sich das WAT von der aktuellen linguistischen Lexikographie. Während andere zeitgenössische afrikaanse Wörterbücher einer deutlichen linguistischen Beeinflussung unterlagen, schien das WAT von den linguistischen Entwicklungen völlig unberührt zu bleiben. Rezensionen hatten keine befriedigende Auswirkung auf das redaktionelle Verfahren. Sogar die Kriterien von BoshofF (1926), die fünfundzwanzig Jahre vor dem Erscheinen des ersten Bandes veröffentlicht wurden, fanden sich nur unbefriedigend berücksichtigt, cf. Grobler (1978). Die mäßige Reaktion auf die ersten vier Bände des WAT war nur eine schwache Vorwegnahme der späteren heftigen linguistischen Kritik. Band V (1968) zeigte wenig linguistischen Einfluß und war durch eine hohe Textdichte infolge der komplexen Formulierung der Bedeutungsparaphrasenangaben gekennzeichnet. Diese Unzugänglichkeit des Wörterbuchs sowie seine mangelnde Abstimmung auf die Benutzer wurden noch verschlimmert durch eine übermäßige Betonung sachlich-enzyklopädischer Textsegmente in den Bedeutungsparaphrasen - ein Verfahren, das in Band VI quasi ausgereizt wurde. Auch Band VII, der während des Arbeitstermins des nächsten Hauptredakteurs (Hauptfleisch) veröffentlicht wurde (obwohl zum größten Teil von Snijman bearbeitet) setzt diese Tradition fort.

Linguistische Theorie, lexikographische Praxis und das WAT

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Ähnlich wie bei seinem Vorgänger der Fall, rief das redaktionelle System von Snijman nicht nur Reaktionen, sondern auch Bewegung in der afrikaansen theoretischen Lexikographie hervor. Während der späten siebziger und frühen achtziger Jahre wurde schonungslose Kritik an der linguistischen Qualität des sechsten und siebten Bandes des WAT geäußert, cf. Combrink (1979), Odendal (1979) und Gouws (1985). Ein häufiger Themenpunkt dieser Rezensionen war die übertriebene enzyklopädische Ausrichtung vieler Bedeutungsparaphrasenangaben und die exzessive Vermittlung von Sachwissen. Die fehlende Berücksichtigung der wesentlichen Strömungen der lexikalen Semantik war ein typisches Merkmal der damaligen Bearbeitung des WAT. Laut Combrink (1979: 58) wiesen die Verfasser des WAT einen ernsthaften Mangel an Kenntnissen semantischer Theorien auf. Dies minderte den Gebrauchswert des WAT als Sprachwörterbuch und in den meisten Fällen auch als Sachwörterbuch. Deshalb, wie Combrink (1979: 64) andeutet, war das WAT VI der schlechteste Band, der bisher veröffentlicht wurde. Trotz der Erweiterung der typologischen Vielfalt und der Veröffentlichung mehrerer anderer afrikaanser Wörterbücher bezogen sich die meisten wissenschaftlichen Rezensionen fast ausschließlich auf das WAT. Das WAT verlor nie diesen vorrangigen Platz in der weiteren Entwicklung der afrikaansen Metalexikographie. Auffallend ist die Interdependenz, die sich im Laufe der Zeit zwischen dem WAT und der afrikaansen Metalexikographie entwickelte. Das WAT war stets Katalysator und Gegenstand der Rezensionen, so daß allmählich die Kritik doch einen Einfluß auf das WAT hatte und die linguistische Qualität dieses Wörterbuchs erheblich verbessert wurde. Auch die neue, benutzerorientierte Perspektive, die in den späten siebziger Jahren in der Metalexikographie in den Vordergrund trat, hatte schließlich doch eine Wirkung auf das WAT. Die wirklichen Bedürfnisse der Benutzer dieses Wörterbuchs und eine veränderte Haltung der Benutzer dem WAT gegenüber zwangen die Redaktion, weitreichende redaktionelle Änderungen vorzunehmen. Die schonungslose Kritik, die in den Rezensionen ausgesprochen wurde, hatte einen multifunktionalen Einfluß auf sowohl die praktische als auch die theoretische afrikaanse Lexikographie. Auf der theoretischen Ebene der lexikographischen Diskussion war das WAT VI abermals Angelpunkt und Katalysator. Mit der Publikation der Rezensionen von Combrink (1979) und Odendal (1979) etablierte sich auch endgültig die wichtige Rolle der Wörterbuchkritik in der afrikaansen lexikographischen Praxis. Diese Rezensionen übten nicht nur Kritik an diesem speziellen Band, sondern waren vor allem generelle metalexikographische Kommentare zu der mangelhaften linguistischen Grundlage des WAT. Ziel dieser Besprechungen und ihrer gründlichen Kritik war, der Redaktion einen Maßstab für die Verbesserung der linguistischen Qualität des Wörterbuchs zu geben, so daß langfristig das Ansehen des Wörterbuchunternehmens steigen konnte. Erst die letzten beiden Redakteure des WAT nahmen sich die Kritik an ihrem Wörterbuch wirklich zu Herzen. Hauptfleisch und vor allem der jetzige Redakteur, Van Schalkwyk, machten Ernst mit dem Vorhaben, die linguistische Qualität des WAT zu verbessern. Kritik von afrikaansen Linguisten an früheren Bänden diente als Anlaß, um das ganze Projekt 1989 tiefgreifend umzuplanen und erneut zu strukturieren. Ein wesentlicher Bestandteil der Neuplanung ist die Betonung der dringenden Notwendigkeit, linguistische und metalexikographische Entwicklungen zu reflektieren. Seit 1989 weist das WAT eine redaktionelle Erneuung und enorme Verbesserungen auf. Verbesserungsvorschläge von Linguisten und Lexikographen wurden in vielerlei Hinsicht einbezogen.

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4. Linguistische und benutzerorientierte Änderungen im Vorspann des WAT IX Band VIII und vor allem Band IX sind ohne Zweifel die besten Produkte aus der Werkstatt des WAT. Das kommt primär dadurch zustande, daß sowohl das lexikographische System als auch der linguistische Inhalt dieser zwei Bände theoretisch motivierte Änderungen aufweisen. Die Änderungen im redaktionellen System tragen der neueren metalexikographischen Forschung Rechnung. Kennzeichnend für das neue WAT ist die Art und Weise, auf die dieses Wörterbuch jetzt seiner Rolle als Textsortenträger, der Texte verschiedener Typen enthält, bewußt ist. Diese Erneuerung bezieht sich nicht nur auf die Anzahl von Texten im Wörterbuch, sondern insbesondere auch auf den Zusammenhang und die funktionale Wechselwirkung zwischen den einzelnen Textteilen und Texten. Im Vorspann der früheren Bände des WAT gab es mehrere nichtfünktionale Texte, die keine Relevanz für den anvisierten Benutzer hatten. Im ersten Band ist einer der Texte im Vorspann zum Beispeil mit dem Titel „Suid-Afrikaanse voels" (Südafrikanische Vögel) versehen. Dieser Text enthält Bilder von einheimischen Vögeln und ihren afrikaansen Bezeichungen. Es paßt aber im Hinblick auf die alphabetische Reihenfolge keineswegs in den ersten Band (A-C), und kein Benutzer dieses Wörterbuchs würde diese Daten im Vorspann des ersten Bandes suchen. Solche unpassenden und nichtfünktionalen Texte tauchen im Vorspann des neunten Bandes nicht mehr auf. Mit Texten wie einer klar formulierten Einleitung, den Hinweisen für den Benutzer und einem übersichtlichen Inhaltsverzeichnis stellt das WAT IX ein benutzerfreundliches Wörterbuch dar. Schon in der Einleitung und den Benutzungshinweisen wird klar, daß dieser Band ein neues System für das WAT einführt. Im ersten Abschnitt der Einleitung des neunten Bandes wird auf die veränderte Konzeption des WAT-Projekts, die zur Revision des Arbeitsverfahrens, der Sammlung und Selektion des Sprachmaterials sowie der Darstellung der Angaben geführt hat, hingewiesen. Es wird explizit angeführt, daß die Änderungen dem anvisierten Benutzer den äußeren und inneren Zugriff erleichtern sollen. Die Einleitung enthält einen komplett neuen Textteil, der dem anvisierten Benutzer gewidmet ist. Dadurch erweist sich das WAT IX als offen für metalexikographische Einflüsse. In der Entwicklung der afrikaansen Lexikographie kann dies als einen Meilenstein betrachtet werden, weil es früher gar nicht üblich war, explizite Hinweise auf den anvisierten Benutzer im Wörterbuch zu geben. Bei der Neuplanung des WAT, die im Vorspann des neunten Bandes erläutert wird, wurden verschiedene Komponenten des metalexikographischen Modells von Wiegand (1984) berücksichtigt. Schon in der Einleitung des achten Bandes, des Bandes, in dem die redaktionellen Änderungen initiiert wurden, wurde erwähnt, daß die Änderungen durch Erkenntnisse der gegenwärtigen Linguistik und Lexikographie motiviert wurden. Diese Äußerung muß man als eine Erklärung der Redaktion betrachten, linguistischen und lexikographischen Einsichten ihren angemessenen Platz im Arbeitsverfahren dieses Wörterbuchs zukommen zu lassen. Im Hinblick auf die Errungenschaften der afrikaansen Lexikographie war dies ein Höhepunkt. Aus linguistischer und metalexikographischer Perspektive kann der innovative Charakter der Einleitung des neunten Bandes kaum hoch genug veranschlagt werden. Eine Gefahr dabei, die sich schon in der Praxis bestätigt hat, ist, daß der Wert dieses lexikographischen Textes unterschätzt wird. Als fünktionaler Text enthält die Einleitung eine ganze Menge an Daten, die für den anvisierten Benutzer dieses Wörterbuchs von äußerster Wichtigkeit sind. Die Einlei-

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tung ist nämlich derjenige Text, in dem die Redaktion bestimmte linguistische Prinzipien hervorhebt, die im zentralen alphabetischen Wörterverzeichnis angewendet werden. Als Text kommt der Einleitung ein multifunktionaler Charakter zu. Sie bietet dem anvisierten Benutzer die linguistischen Informationen, die die Struktur und den Inhalt des zentralen Wörterverzeichnisses bestimmen. Für den Benutzer, der vertraut war mit den früheren Bänden, weist die Einleitung einen weitaus stärkeren linguistischen Einfluß auf und kennzeichnet eine wechselseitige Abhängigkeit zwischen Außentext und zentralem Wörterverzeichnis. In der Rubrik über die makrostrukturelle Auswahl werden Beispiele für verschiedene Typen lexikalischer Elemente gegeben, die als Lemmata aufgenommen wurden; außerdem wird die lexikographische Darstellung dieser Typen besprochen. Aufnahme, Darstellung und Bearbeitung der lexikalischen MehrwortElemente und der Elemente, die keinen Wortstatus haben (z.B. Präfixe und Suffixe), finden sich hier z.B. illustriert. Die Berücksichtigung und Unterscheidung dieser Lemmatypen ist ein Beweis dafür, daß die Redaktion nicht nur Wörter, sondern die gesamte afrikaanse Lexik zu reflektieren versucht. Im gesamten Vorspann ist es aber die Rubrik „Toeligting by die gebruik van die woordeboek" (Hinweise für die Benutzung des Wörterbuchs), in der die Erneuerung auf linguistischem und metalexikographischem Gebiet am deutlichsten in den Vordergrund tritt. Daß die Hinweise einen stark benutzerorientierten Charakter haben, ist aus der Menge an neuen Teiltexten im Vorspann ersichtlich. Band IX enthält u.a. einen vorangestellten Index, um den Gebrauch der Benutzungshinweise zu erleichtern, sowie ein kleines Fachvokabularium, in dem alle im Wörterbuch verwendeten lexikographischen Termini erläutert werden. Da der Gebrauch von Klammern und Klammern innerhalb von Klammern in den Bedeutungsparaphrasenangaben die korrekte Interpretation eines Wörterbuchartikels bekanntlich erschwert, ist es erforderlich, daß das System, dem der Klammergebrauch folgt, in den Benutzungshinweisen erörtert wird. Daß dieses System in den Hinweisen zu Band IX erklärt wird, ist gute lexikographische Praxis und außerdem Teil der redaktionellen Neuorientierung, die sich direkt aus der metalexikographischen Perspektive erklärt. Der benutzerunfreundliche Klammergebrauch in den früheren Bänden hatte heftige Kritik eingebracht. Die Redaktion reagierte nicht nur auf diese Kritik, sondern auch auf die dringenden metalexikographischen Anforderungen, das System, das hinter dem stark verdichteten lexikographischen Text steckt, im Vorspann zu erläutern. Die einfach formulierten Benutzungshinweise in Band IX tragen erheblich dazu bei, die Zugänglichkeit des Wörterbuches zu erhöhen. In den Hinweisen wird wiederholt betont, daß die Darstellungs- und Bearbeitungsweise der Mikrostruktur unter Berücksichtigung der Benutzerfähigkeiten des anvisierten Benutzers festgelegt wurde.

5. Linguistisch motivierte Änderungen im zentralen Wörterverzeichnis des WAT 5.1.

Einleitung

Der stärkere linguistische Einfluß auf den neunten Band des WAT führte notwendigerweise zu einer Vielzahl von Änderungen sowohl in der äußeren als auch der inneren Selektion sowie in

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der Bearbeitungs- und Darstellungsweise. Wir werden uns jedoch auf drei dieser Änderungen konzentrieren, nämlich Informationsdichte, semantische Daten und die Gestaltung bestimmter lexikalischer Mehrwort-Elemente. 5.2.

Informationsdichte

Ein Vergleich der letzten beiden Bände des WAT mit den früheren Bänden zeigt mehrere Unterschiede in der Makro-, Mikro- und Mediostruktur, die als Beweis dafür dienen, daß die linguistische Bearbeitung und Qualität der letzten beiden Bände weitaus besser sind als die der älteren Bände. Das bezieht sich auf die Wahl der lexikographischen Daten und auf ihre Gestaltung. Bei der Beurteilung eines umfassenden Wörterbuchs von der Kategorie des WAT hat das Prädikat umfassend in der typologischen Spezifikation die Funktion, das Wörterbuch subtypologisch auf verschiedene Weisen von anderen Definitionswörterbüchern zu unterscheiden. Die deskriptive Beschreibungsmethode ist typisch für ein solches Wörterbuch, im Gegensatz zu der präskriptiven Beschreibungsmethode, die in allgemeinen Gebrauchswörterbüchern üblich ist. Auch ist die Informationsdichte, cf. Hausmann (1989: 982), eine andere. Das quantitative Verhältnis zwischen Makro- und Mikrostruktur weist eine größere Balance auf als in weniger umfassenden Projekten. Weil ein Lern- oder Schulwörterbuch z.B. primär eine Dekodierungsfunktion hat und darauf ausgerichtet ist, den Wortschatz des anvisierten Benutzers zu erweitern, findet man in solchen Wörterbüchern eine relativ niedrige Informationsdichte mit einer ausgedehnten Makrostruktur und einer weniger ausfuhrlichen Mikrostruktur. Ein Lernerwörterbuch dagegen, das primär für das Enkodieren von Texten gedacht ist, soll dem anvisierten Benutzer eine Menge mikrostruktureller Datentypen bieten und eine beschränkte Makrostruktur besitzen. Um diesen Wörterbuchtyp als Instrument für die Textproduktion brauchbar zu machen, sollte die Informationsdichte relativ hoch sein. Ein wichtiger Teil der Planung eines lexikographischen Projekts ist die Festlegung der Informationsdichte, die für die bestimmte typologische Kategorie sowie für den anvisierten Benutzer geeignet ist. In dieser Hinsicht hatten die früheren WAT-Bände weniger Erfolg, weil die Redaktion den Begriff umfassend makrostrukturell verstanden hat. Seit Anfang des Projekts hat es sich das WAT zum Ziel gesetzt, einen möglichst ausführlichen Ausschnitt des afrikaansen Wortschatzs darzustellen. Neben Elementen der Standardlexik wurden auch Wörter aus zahlreichen Fachbereichen und andere nichtstandardisierten Varianten in die Makrostruktur aufgenommen. Die Mikrostruktur hatte jedoch nicht dieselbe Ausführlichkeit und deshalb war die Informationsdichte der früheren Bände nicht sehr hoch. Um ein Wörterbuch zu erstellen, das als umfassend qualifiziert werden kann, sollten die Verfasser dem Begriff umfassend eine breite Interpretation geben, die zu einer mikrostrukturellen Ausdehnung und einer gewissen Umgewichtung im quantitativen Verhältnis von Makro- und Mikrostruktur fuhrt. Eine umfangreiche Makrostruktur, die mit einer komplexen und informationsreichen Mikrostruktur kombiniert wird, relativiert die Informationsdichte des Wörterbuchs. Das Prädikat umfassend impliziert nicht eine hohe, sondern eher eine mäßige Informationsdichte, die aus einem ausgewogenen Verhältnis zwischen einer ausführlichen Makro- und einer informationsreichen Mikrostruktur folgt.

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Weil frühere Bände des WAT eine ausfuhrliche Makro-, aber eine beschränkte Mikrostruktur aufwiesen, hatten sie eine relativ niedrige Informationsdichte, welche diese Wörterbücher als maßgebende linguistische Informationsquellen wenig brauchbar machte. In den Rezensionen über diese Bände wurde häufig die Kritik ausgesprochen, daß das WAT als umfassendes Wörterbuch primär einen linguistischen Auftrag habe, diesen Auftrag aber nicht erfülle. Obwohl mikrostrukturelle Umfänglichkeit auf eine Ausdehnung der Bearbeitungsweise für existierende Datenklassen deutet, hat sie zudem Implikationen, die nicht immer im WAT ersichtlich waren. Eine umfassende Mikrostruktur deutet auch auf die Darstellung weiterer Datenklassen. Es besteht immer die Gefahr, daß linguistische Vollständigkeit zu einer komplizierten Syntax führt, die eher verwirrt als aufklärt. Doch sollte ein umfassendes Wörterbuch eine umfassende Datenselektion aufweisen - aber auf eine Weise, die syntaktische Komplexität vermeidet. Der neuartige linguistische Einfluß auf das WAT IX ist aber ersichtlich aus der ausführlicheren Art der mikrostrukturellen Bearbeitung und dem hohen Grad an Informationsdichte. Die lexikographische Gestaltung der neueren Bände ist durch eine tiefgreifend linguistisch motivierte mikrostrukturelle Darstellung, eine wachsende Vielfalt an Datenklassen, aber auch durch die Eliminierung der nichtfünktionalen Daten aus der Mikrostruktur gekennzeichnet. Das verbessert die linguistische Qualität dieses Wörterbuchs beträchtlich.

5.3.

Semantische Daten

Ein bemerkenswerter Unterschied zwischen der mikrostrukturellen Darstellung linguistischer Daten von WAT IX und der der früheren Bände besteht in der Qualität und der Präsentation der semantischen Angaben. Die semantische Kritik am sechsten und am siebten Band richtete sich vor allem gegen die umfangreiche Aufnahme von enzyklopädischem Sachwissen in die Bedeutungsparaphrasenangaben, cf. Combrink (1979), Odendal (1979) und Gouws (1985). Bei den Bedeutungserklärungen dokumentierte das WAT stets eine Fülle nichtfunktionaler Daten. Das Übermaß an Sachwissen nahm solche Proportionen an, daß der durchschnittliche Benutzer Probleme hatte, die Bedeutungsparaphrasenangaben zu verstehen. Wie Wendland und Nida (1985: 32) andeuten, können Wörterbücher ihre Benutzer häufig vom rechten Weg abbringen, nicht, weil sie zu wenig, sondern eher, weil sie zu viel Daten bieten - Daten, die nicht relevant sind für die Unterscheidung der verschiedenen Bedeutungen oder der Bedeutungsparaphrasen eines polysemen Lemmazeichens. Die syntaktisch und semantisch höchst komplizierten Bedeutungsparaphrasen im sechsten und siebten Band erhöhten die Textdichte so stark, daß eine sehr benutzerunfreundliche und außerordentlich unzugängliche Quelle semantischer Daten das Resultat war. Obwohl Linguisten ihre semantische Kritik am WAT anfänglich unter Einfluß der strukturellen Semantik äußerten und versuchten, eine rigorose Trennung zwischen Bedeutungs- und Sachwissen durchzuführen, waren ihre Forderungen an den WAT-Lexikographen in den meisten Fällen nicht ungerechtfertigt. Es wird heute angenommen, daß eine bestimmte Menge enzyklopädischer Informationen ein unvermeidlicher Teil der semantischen Gestaltung in einem umfassenden Wörterbuch ist, cf. Gouws (1989). Diese Meinung kennzeichnet auch die Methode von Louw (1985; 1985a), der drei Typenmerkmale in der Analyse lexikalischer Bedeutungen anwendet. Louw unterscheidet zwischen gemeinsamen, diagnostischen und ergänzenden Merkmalen. Der erste Typ stellt ein Wort in ein allgemeines semantisches Feld, der zweite

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Merkmaltyp unterscheidet das Wort von den anderen lexikalischen Elementen in diesem Feld. Aus einer streng strukturellen Perspektive muß die Bedeutungsanalyse nur bis zu diesem Punkt durchgeführt werden, weil die Disambiguiening allein anhand semantischer Kriterien zu erreichen ist. Weil ein Definitionswörterbuch aber einen umfangreicheren Auftrag hat, trifft Louw (1985a: 159) Vorsorge für die Verwendung von ergänzenden Merkmalen, die keine semantische Unterscheidungsfunktion haben, sondern die funktional relevante Informationen zur Bedeutungsparaphrase hinzufügen. In dieser Hinsicht gibt es wohl einen Anschluß an die kognitive Semantik. Diese Methode von Louw wurde häufig von WAT-Rezensenten verwendet. Auf der semantischen Ebene erfüllt der neunte Band seinen Auftrag, ein umfassendes Wörterbuch mit ausfuhrlichen Bedeutungsparaphrasenangaben, die sowohl semantisches als auch Sachwissen enthalten, zu sein und bietet eine ausreichende Gestaltung polysemer Unterscheidungen. Der Einfluß verschiedener semantischen Theorien führte aber zu neuen Ansichten über die Gestaltung nichtfunktionaler Daten. Band IX enthält verschiedene Typen semantischer Daten, die entweder auf eine explizite oder auf eine implizite Weise bearbeitet werden. Ein umfassendes Wörterbuch hat aber die Aufgabe, nicht nur isolierte lexikalische Elemente darzustellen, sondern darüber hinaus auch die unterschiedlichen semantischen Beziehungen innerhalb der Lexik. Wo die früheren Bände Bedeutungserläuterungen für isolierte Lemmata gaben und die semantischen Beziehungen nur beschränkt aufzeigten, lenkt der neunte Band die Aufmerksamkeit des Benutzers viel stärker auf die semantischen Zusammenhänge im Lexikon. Der Beschluß der Redaktion, die verschiedenen semantischen Beziehungen auf mikrostruktureller Ebene zu beschreiben, illustriert wiederum ihren Versuch, das Wörterbuch als eine maßgebende linguistische Quelle zu bearbeiten. Dies stellt aber neue Anforderungen an den Lexikographen und das lexikographische System. Das Wörterbuch braucht eine funktionale Mediostruktur. Die redaktionellen Änderungen im neunten Band gaben Anlaß zu solch einer verfeinerten, zweckmäßigen Mediostruktur. Die Herausbildung dieser zwang die Redaktion, weitere Verflechtungen zwischen dem zentralen alphabetischen Wörterverzeichnis und den Benutzungshinweisen im Vorspann vorzunehmen. Der Gebrauch von textinternen Hinweisen wird ausfuhrlich in den Benutzungshinweisen erklärt. Dies ermöglicht dem Benutzer wiederum, die Daten in dem alphabetischen Wörterverzeichnis optimal zu benutzen, und erhöht die Zugänglichkeit und den Gebrauchswert des Wörterbuchs. Das gilt vor allem für die Darstellung der Synonyme und Beziehungen des semantischen Gegensatzes. Bemerkenswert und bedeutsam an dem Entschluß, tiefgreifende Veränderungen des redaktionellen Systems vorzunehmen, ist, daß diese Erneuerung sich auf ein unfertiges mehrbändiges Projekt bezieht und das Aussehen des Wörterbuchs drastisch verwandelte. In der Mitte des Alphabets wird ein neues System eingeführt, das dem neunten Band ein ganz anderes äußeres Erscheinungsbild gibt als den früheren Bänden. Zugunsten einer konsequenten Darstellung hätte die Redaktion versuchen können, auf ähnliche Weise wie in den früheren Bänden weiterzumachen. Stärker als die Handhabung des traditionellen redaktionellen Systems war aber der Zwang und auch das Bedürfnis, ein besseres linguistisches Produkt im Rahmen eines standardisierten metalexikographischen Modells herzustellen.

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5.4. Die Lemmatisierung von lexikalischen Mehrwort-Einheiten im WAT IX Für den Laienbenutzer ist das Wörterbuch die bekannteste und häufig einzige maßgebende sprachliche Instanz. Populäre Rezensionen nehmen die Art und den Umfang des im Wörterbuch dargestellten Vokabulars häufig als Beurteilungskriterium. Die Anzahl aufgenommener Lemmata, das längste und das kürzeste Wort, die Zahl und Art der Neuschöpfungen, und ähnliche Bemerkungen kommen in solchen Rezensionen häufig vor. Hinsichtlich des Umfangs der makrostrukturellen Selektion hält sich das WAT an seinen Auftrag als umfassendes Wörterbuch. Abgesehen von Ad-hoc-Bildungen und Fachtermini, die nur vom Fachspezialisten gebraucht werden, versucht das WAT immer die gesamte afrikaanse Lexik zu repräsentieren, unter Einschluß der Standardsprache und anderer Varietäten. Der Versuch, eine repräsentative Darstellung zu bieten, zwingt den Lexikographen, verschiedene Lemmatypen als Makro Strukturelemente aufzunehmen. Wörterbücher dürfen nicht nur den Wortschatz einer Sprache reflektieren, sondern alle Typen von lexikalischen Einheiten sollen im Wörterbuch erscheinen. Entsprechend einem Modell lexikalischer Einheiten ist der Ausgangspunkt für die Lemmaauswahl nicht das Wort sondern die lexikalische Einheit. Lexikalische Einheiten, die mehr als ein Wort umfassen, sowie solche, die unterhalb der Wortdimension liegen, sollten ebenfalls als Lemmata aufgenommen werden. Wie die meisten afrikaansen Wörterbücher konzentrierte sich das WAT früher vor allem auf die makrostrukturelle Darstellung von Wörtern, die Makrostruktur enthielt lediglich eine geringe Anzahl lexikalischer Elemente unterhalb der Wortdimension. Das WAT hatte jedoch fast keine Mehrwort-Einheiten in seiner Makrostruktur. Die mangelhafte Lemmatisierung der aus mehr als einem Wort bestehenden lexikalischen Einheiten in afrikaansen Wörterbüchern führte zur scharfen Kritik aus einer linguistischen Perspektive, cf. Gouws (1989; 1989a; 1990); Ponelis (1989). Der Artikel von Botha (1991) ist eine Reaktion der WAT-Redaktion auf diese Kritik, aber gleichzeitig ein direkter Hinweis auf die neue Richtung, die die WAT-Redaktion seit Band IX zur Lemmatisierung von lexikalischen Mehrwort-Einheiten eingeschlagen hat. In den Benutzungshinweisen im Vorspann des neunten Bandes findet man eine ausfuhrliche Erklärung zur neuen Darstellungsweise von Mehrwort-Elementen. Aus einer traditionellen lexikographischen Perspektive kann man es für wichtig halten, daß ein mehrbändiges Wörterbuch ein konsequent durchgeführtes System hat. In dieser Hinsicht ist der neunte Band eine erhebliche Abweichung von der lexikographischen Tradition, weil die Darstellung der Mehrwort-Elemente auf eine völlig neue Weise geschieht, die die bisherige Handhabung vollständig ignoriert. Aus einer benutzerorientierten und linguistischen Perspektive ist diese Umwandlung jedoch eine große Verbesserung. Mehrwort-Elemente werden durch das neuartige Lemmatisierungsprinzip als eigenständige lexikalische Einheiten anerkannt und nicht, wie es früher häufig der Fall war, ausschließlich als Kombination verschiedener Wörter betrachtet, die in der mikrostrukturellen Bearbeitung eines anderen Wortes im Wörterbuch erschienen. Mit diesem neuen Verfahren zeigt das WAT, daß es nicht länger auf einem Wortmodell, sondern auf einem Lexemmodell ruht. Das ist eine direkte Folge der linguistischen Kritik an dem Lemmatisierungsverfahren in früheren Bänden, aber das neue System ist auch ein Versuch, dem anvisierten Benutzer besser dienen zu können. Linguist, Metalexikograph, Lexikograph und Benutzer werden Partner in diesem neuen lexikographischen Unternehmen.

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Lexikalische Mehrwort-Einheiten wie Lehnwortgruppen (ex post facto, bona fide) und präpositionale Gefiige (met betrekking tot (in bezug auf), aan die hand van (anhand)) sind alle Elemente der afirikaansen Lexik und sollten deshalb als Lemmata in die Makrostruktur des WAT aufgenommen werden. Obwohl feste Redewendungen ebenfalls lexikalische MehrwortEinheiten sind und einen Anspruch geltend machen könnten, als Lemmata dargestellt zu werden, gibt es in dieser Hinsicht praktische Probleme, die die Lemmatisierung der festen Redewendungen verhindern. Die traditionelle Darstellungsweise, nach der feste Redewendungen als Teil der mikrostrukturellen Bearbeitung im Artikel eines der im Ausdruck auftretenden Wörter verzeichnet werden, verursacht eine unwissenschaftliche Repräsentation des lexikologischen Status dieser Elemente. Aus ihrer lexikographischen Bearbeitung wird so nicht klar, daß sie als zusammengehörende Sequenzen lexikalische Einheiten und nicht nur zufallige Wortkombinationen sind. Auf dieses Verfahren verzichtet das WAT im neunten Band. Feste Redewendungen werden zwar immer noch im Artikel eines der darin enthaltenen Wörter dargestellt, aber diese Darstellung geschieht darstellungstechnisch so, daß es nicht problematisch ist zu erkennen, daß ein gewisser idiomatischer Ausdruck nicht ein Teil der Bearbeitung des einzelnen Wortes ist, sondern, daß er den Status einer lexikalischen Einheit besitzt. Feste Redewendungen werden in einer bestimmten Artikelposition dargestellt und bearbeitet. Mit dieser Bearbeitung praktiziert das Wörterbuch eine Form der sublemmatischen Adressierung. Die Zugriffsstruktur des WAT hilft dem Benutzer, schnell an die Artikelposition zu gelangen, an der die feste Redewendungen verzeichnet werden. Ein Strukturanzeiger UITDR. (eine Abkürzung für uitdrukking (Ausdruck)) gehört zur inneren Schnellzugriffsstruktur, die den Benutzer direkt zur Artikelposition der Mehrwort-Ausdrücke fuhrt. Zwei Kategorien dieser Mehrwort-Ausdrücke werden dargestellt. Das WAT unterscheidet zwischen idiomatischen und spezializierten Ausdrücken. Ein weiterer Strukturanzeiger, entweder GESPESIALISEERD (spezialisiert) oder IDIOMATIES (idiomatisch) kennzeichnet die spezifische Art der Ausdrücke und fungiert als eine zusätzliche innere Zugriffsstruktur. Wo Mehrwort-Einheiten der beiden Typen in einem Artikel vorkommen, kommt ein weiterer Strukturanzeiger hinzu. In solchen Fällen erscheint ein A bzw. B vor den Strukturanzeigern GESPESIALISEERD bzw. IDIOMATIES. In den Benutzungshinweisen wird das System, das für die Aufnahme von MehrwortEinheiten verwendet wird, erläutert. In den meisten Fällen erscheint die Mehrwort-Einheit im Artikel des ersten Kernsegments der festen Redewendung. Auch die Wahl dieses Kernsegments wird in den Benutzungshinweisen erklärt. In der Darstellung der festen Redewendungen wird ein zweites Kernsegment als „Suchwort" oder Leitelement, das den Benutzer zu der gesuchten Redewendung fuhrt, verwendet. Auf das Suchwort folgt ein Doppelpunkt. Dann erscheint die feste Redewendung, in genau derselben Schriftart (Fettdruck) wie die Lemmazeichenangaben. Die Bearbeitung jeder festen Redewendung besteht nicht, wie früher, nur aus einer Bedeutungserklärung, sondern umfaßt jetzt eine vollständigere Bearbeitung, durch die der Benutzer weitere Information erhält. Es gibt einen afrikaansen idiomatischen Ausdruck solank as die lepel in die pappot staan (so lange der Löffel noch im Breitopf steht; mit der Bedeutung: so lange es noch etwas zu essen gibt ). Die entsprechenden Angaben finden sich im Artikel zu dem Lemmazeichen lepel (Löffel) (vgl. den Wörterbuchausschnitt auf der folgenden Seite).

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Wörterbuchausschnitt aus dem WAT: lepcl

[lc:'pol] I s.nw., lepcls; lepclljic. 1 Sluk t a f e l - of k o m b u i s g e r e c d s k a p , b e s t a a n d e uil 'n hol, g e w . ovaal bind aan 'n sleel, w a a r m e e geëet, g e s k e p of geroer word: Sop, pap met 'n lepel eet, in die borde skep. Boetie Itct '» lepel vol heuning en Snssie sommer twee lepel.'; i ol in die hande gekry. 'n Kosbare stel goue lepels inet stete waarop 'n kunstenaar versierings aangebring het. Hy roer sy tee met 'n lepeltjie. = 'n Blikskotteltjie ( k o r i n g p a p vir die twee kinders) met die twee lepels dnarin (F.A. Venter: Geknelde L i n d . 1 9 6 0 , 9 2 ) . Mev. Dreyer wat eers die skinkbord met die koppies inbring, ... dan die kleinbordjics met lepeltjies en vnrkies (E. Leroux: Silbersteins, 1962, 77). 'n Lepel wat val, dni ( v o l g c n s 'n v o l k s b v g e l o o f ) op 'n besock deur kinders (P.W. Gröbbelaar, e.a.: Boerewysheid, 1977, 95). 2 H o c v c e l h e i d (v.d. a a n g e d u i d c stof, meestal kos, drank of m e d i s y n e ) wat ccn lepel kan v o l m a a k ; o o k , niaat w a a r m e e sodanige hoeveelheid a f g e m e e t word en wat g e w . op 'n eetlepel dui: sin. lepchol: Neem 'n lepel van die kruie soggens en satins, 'n Lepel of twee van die sous sal die smaak van die potjie verbeter. Sy gooi net een lepeltjie sniker in liaar tee. Verliit die drankie met 10 lepels sniker, S naeltjies en een wynglasjeropigo. = 'n Battery is 'n eenvoudige kas nul 'n paar plate en 'n lepel sintr daarin (A. Alberts: W ê reldbeskouing, 1956, 50). • In "n ou bron: n Lepel asyn in di water waarin di ps qekook word sal di fis fas en sag maak (O.K., Jim. 1 9 0 6 , 9 ) . UITDR. A GESPESIALISEERD gooi: lepel gooi ( b e n g e f ) Sien LErEl.GOOI: Ek (gee) voorkeur aan die (katrol)... wat in Staat is om vinnig die lyn in te bring indien Vf mens wil lepel gooi (Vad., 11 Des. 1961 23). intrap: die lepel (diep, ... ) intrap (wegtrnp) Vinnig met 'n niotorvoertuig rv: Dit is nie nodig om die lepel in te trap as 'n mens inet vakansie gaan nie... 'n Mens kan snellieidsboetes kry as jy ... té vinnig rv (Volksbl., 2 2 Nov. 1985, 10). Die man trap die lepel diep in en dit gaan bra haastig om die di aale (Huisg., 4 A p r . 1958, 3). Op die lang, regnit päd ... trap hy die lepeltjie dieper in, want hier is mos nie bloubaa'djies nie (Burg.j 18 Sept. 1 9 8 1 . 6 ) .

Ii: lepel lê Sien LEPELl.fi. • Ook seifst.: Saans in 'n woonwa of tent... die weelde van 'n wolkoinbers en lepel lê (Huisg.. 3 Sept. 1976, 39). • In 'n ou bron: Arri, jong. ons inoet fannag mar ons kos naby bring, en ons moet net lepel lê längs die finir (S.}, du Toit. 1896, in _ F.C.L. B o s m a n : Bedriegcrs, 1942, S l ) . lê: o p die lepel lê V i n n i g met 'n m o t o r voerluig ry: Hy reken ... ons dink liy ty te stadig na ons sin. Toe lê hy op die lepel (H. Lombard: Ooste, 1961. 43). "Ons moet deurjaag Brakpan toe. Ons sal in 'n kits daar wees, " sê Sarel en lê alweer op die lepel (H.S. v. Blerk: H a a n . 1968, 208). skiet: lepel skiet (skyfskict) Sien LF.PF.LSKIET I.

B IDIOMATIES dak: lepel in die d a k steck 1 Doodgaan, veral van gebrek of eilende: /U die liele swenn (bve) jon pak, steek jy seer sekerlik lepel in die dak (Boererate, 1962, 48). "Hv lut eindelik gekom," roep liy erg verskrik nit ... "Wat het jv dan gedink, dat ek lepel in die dak çesteek het ? " (C.H. Geldenluiijs: A n t o n . 1940, 217). Ons sal tevergeefs op hülle wag om die gees te gee ... Thcunissen se donkies is kanniedoods en dit lyk nog glad nie of een van huile van plan is om lepel in die dnk tc steek ... nie (Volksbl., 4 Des. 1968, 2). ( D a g o u d kuikens) word nie vunsclf groot nie. maar moet met kennis en tocwyding grootgeinaak word. anders steck huile sommer lepel in die dak ( L i n d b w . , 28 Jul. 1964,55). 2 Opgec of die slrvd g e w ö n n e gee: Snlke

30 ingee: ieniand ¡els met lepels (die lepel) ingee (voer) 1 Vir iem. icls te maklik maak deur sy verantwoordelikheid vir horn le dra: vera!, voortdurend kennis aan hom verskaf wal hy self bclioorl le verwerf: Dil (om die Bybel goed te begryp) sal nie met lepels ingegee word nie maar sal nog altyd Studie kos (B.B. Kcct in J.D. du Toil: Werke IV, 1960, 406). 2 Icls in oordaad verskaf of opdring aan iem.: Hy liet alles (die siegle planne en leuens) vir ons met lepels ingegee. Hy wil hoofprcfek ii'cc.r (B. Conradie: Spore. 1948, 226). A linn I weet dal drank soos 'n kanker aan Indie volkswelsyn vreet. Htdle word drank bvna met die lepel ingegee (J. Loock: Belydcnis, I960, 69). VrI. INLUPUL 2.

Rufus H. Gouws Ick: alinal wal (die) lepel (kan) lek Almal wal kan eel; almal behalwe die suigelingc: Almal wal lepel lek, moet werk. * Almal wal die lepel Ick. was op die parlvljie (Ruslenburg). Almal war die lepel kan lek, liel gelielp om die kind op le spoor (Molleno). m o n d : lussen die lepel en die mond (nicer dikw. van die hand na die m o n d ) val die p a p op die grond Mel 'n onafgehandclde saak kan nog altyd iels verkeerd loop, p a p p o t : solank as (soos) die lepel in die p a p p o t staan (soms m.d. toevoeging t r e u r ons nog nie) Solank daàr nog kos is om te eel: Solank as wal die lepel in die pappot gestaan liet. was almal gesellig en plesierig bymekaar (Handhaaf. Okl. 1965, 5). voer: iemand iets met lepels (die lepel) voer (ingee)

Durch dieses Verfahren wird eine feste Redewendung als lexikalische Einheit dargestellt und die Angabe der Redewendung wird zur Adresse für die lexikographische Bearbeitung. Der Doppelpunkt erfüllt dabei als Strukturanzeiger die Funktion, darauf zu deuten, daß das Suchwort nicht die Adresse der lexikographischen Bearbeitung ist, sondern daß es nur ein Leitelement ist, das den Benutzer zur eigentlichen Adresse der lexikographischen Bearbeitung, zur Angabe der Redewendung, führt.

6. Schlußbemerkung Das Wörterbuch ist für den durchschnittlichen Benutzer eine primäre Quelle linguistischer Daten. Deshalb sollte ein Wörterbuch immer gründlich linguistische und metalexikographische Einsichten berücksichtigen. Die Redaktion eines Wörterbuchs sollte auch bereit sein, das lexikographische System gegebenenfalls aufgrund neuerer Erkenntnisse der Linguistik oder der Metalexikographie zu ändern. In dieser Hinsicht war das WAT ein Vorbild, weil es bereit war, seine lexikographischen Bearbeitungsmethoden drastisch mitten in der Arbeit umzustellen, um ein Wörterbuch mit einer guten linguistischen Qualität zu entwickeln, das zudem nach gültigen metalexikographischen Kriterien bearbeitet worden ist. Die zwei jüngsten Bände dieses Wörterbuchs sind ein Beweis dafür, daß es für den Linguisten und Lexikographen stets der Mühe wert ist, Kritik an Wörterbüchern zu üben. In der Entwicklung der Metalexikographie spielt Wörterbuchkritik eine bedeutende Rolle, die nie unterschätzt werden sollte, da sie häufig zur Herausbildung der Metalexikographie in einer bestimmten Sprache führt. Ein Wörterbuch als Gegenstand der Kritik und als Katalysator weiterer Kritik hat daher auch die entscheidende Funktion, die metalexikographische Forschung zu fördern.

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Praxis und das WAT

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Hartmut

Schmidt

Real existierende Formelvariation 1. 2. 3. 4. 4.1. 4.1.1. 4.1.2. 4.1.3. 4.2. 4.2.1. 4.2 .2. 4.2.3. 4.3. 4.3.1. 4.3.2. 4.3.3. 5. 6. 7.

Vorbemerkung Einstieg Variationstiefe und Musterbildung Beispielreihen Literarische Zitate Der alte Mann und das Meer Auf der Suche nach der verlorenen Zeit Die Plebejer proben den Aufstand Hymnentexte Die Wacht am Rhein Die Fahne hoch! Die Reihen fest geschlossen Auferstanden aus Ruinen Politische Schlagworte Real existierender Sozialismus Standort Deutschland Bündnis für Arbeit Zusammenfassung Beleggrundlage Literatur

1. Vorbemerkung Der Berliner Lehrer, Gelehrte und Dichter Karl Philipp Moritz hat 1782 in seiner „Sprachlehre für die Damen" einen epochemachenden Gedanken formuliert: „Wenn Sie ein neues Stück auf dem Klaviere spielen, so greifen Sie dazu immer eben dieselben Töne aber Sie setzen sie ... beständig auf eine andre Weise in Verbindung. So ist es auch mit jeder neuen Erzählung: wir nehmen immer eben dieselben Worte dazu, die wir schon zu tausend andern Erzählungen gebraucht haben." (Moritz, 1782, 33)

Sein jüngerer Freund Wilhelm von Humboldt hat Moritzens Gedanken später aufgegriffen und ihm seine klassische Form gegeben: „Sie [die Sprache] muß daher von endlichen Mitteln einen unendlichen Gebrauch machen" (Humboldt, Werke, 3, 477). Moritz spricht von WortenI, Humboldt von Mitteln. Dieser Unterschied ist wichtig und fruchtbar. Schon Moritz hätte, um in seinem Bild zu bleiben, nicht nur von Tönen, sondern auch von Melodien reden können. Damit meine ich: Wir sollten mehr dafür tun, daß neben den etablierten Untersuchungsobjekten Laut, Wort, Satz, Text, grammatische Regel usw. auch der oft vernachlässigte Zwischenbereich der Wortgruppe zu seinem Recht kommt. Wir machen nämlich nicht einfach von endlichen Mitteln unendlichen Gebrauch, indem wir aus einzelnen Wörtern immer neue Texte zusammensetzen, sondern wir bewegen uns sprachlich auch jenseits der Wortgrenze weithin in ausgefahrenen Gleisen und orientieren uns in erheblichem Umfang an etablierten Wortgruppen, die wir entweder als relativ stabile oder aber als relativ variable Textbausteine verwenden. Die Rolle von vorgeprägten Wortgruppen als Textbausteine und als Textbildungsmuster in Text-

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Hartmut Schmidt

bildungsprozessen sollte genauer beobachtet werden. Sprachliche Strukturen oberhalb der Wortebene und - in der Regel - unterhalb der Satzebene sollten künftig wegen ihrer epochenspezifischen Signalfunktion aber auch mehr Aufinerksamkeit in der Sprachgeschichtsschreibung finden. Bei der Geschichte von Formulierungen und der Untersuchung von Formulierungsversatzstücken geht es nicht nur um philologisches Interesse an auffälligen Wortkombinationen, sondern um interessante linguistische Probleme: -

um das Verhältnis von Stabilität und Variabilität von Syntagmen in einer historischen und einer gegenwartssprachlichen Dimension, um das Verhältnis von Gedächtnisbesitz und Kreativität im Sprachgebrauch, um die Bedeutung von Formulierungsmustern bei der Textbildung.

Im Hintergrund steckt zudem eine sprachgenetische Frage, deren wir uns wenigstens bewußt werden sollten: Ist es vernünftig, von einem Sprachentstehungsmodell auszugehen, das schon für primitive Zustände mit der Kombination von Wörtern nach grammatischen Regeln (universellen und einzelsprachlichen) rechnet, oder ist es angemessener, als eine durchgehende Grundkonstante der Sprachentwicklung anzunehmen, daß die primären Strukturen Äußerungen sind (deren Aufbau allgemeinen und spezielleren Regeln folgt), in denen - neben einfachen -kombinierte Ausdrücke erkennbar werden, Bausteine von 'Satzstrukturen', tradierbare Syntagmen, die für die Synthese wie für die Analyse von Äußerungen - und damit für den Sprachgebrauch wie für die Sprachgeschichte - besondere Bedeutung haben. Dieser Komplex von Aspekten und Annahmen ist gemeint, wenn hier von 'Traditionen des Formulierens' die Rede ist (vgl. dazu H. Schmidt 1991, 1993, 1995, 1996; eine gute Literatur- und Problemübersicht unter primär gegenwartssprachlichen Aspekten bietet St. Stein 1995). Der Ansatz stimmt mit einer Auffassung von 'Phraseologie' überein, die nicht in erster Linie nach Graden der Idiomatizität fragt, sondern nach Graden der Stabilität, die zugleich offen ist für die Musterwirkung stabiler oder variabler Formulierungskerne und ein interessantes Maß von Musterorientiertheit unseres täglichen Sprechens und Schreibens (sozial und textsortenspezifisch abgestuft) in Rechnung stellt. Aus dem großen Bereich zugehöriger Formulierungspraktiken wird hier der kleine, aber wichtige Bezirk der Zitatvariation vorgestellt.

2. Einstieg Als Einstieg ins Thema mag eine kleine Blütenlese aus Texten aus fast 200 Jahren dienen: -

-

ein Literator, der schon oft in seinem Stäbchen ein paar Tausend Schriftsteller hat über die Klinge springen lassen, dem Knaben gleich - der Mohnköpfe abmäht (1815 A. v. Arnim, in: Brüder Grimm Gedenken 10, 1993, 69) Willkommen im Ländchen der Freiheit (1871 Th. Storm, in: Storm-Lesebuch, Heide 1990, 62) Deutsche Industrie vor die Front (1903 Berl. III. Zeitung 15.11., 736) Die Geburt des Nationalismus aus dem Kriege (1929, Ernst Jünger [Titel]) Im Osten nichts Neues (1954, Die Welt 11.1,2) Der Außenseiter probt den Aufstand (1974, Die Welt 4.6., 6)

Real existierende -

-

Formelvariation

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Die von Amilcar Cabral [...] geführte PAIGC - übrigens so hervorragend, daß selbst nach seiner schändlichen Ermordung am 20. Januar 1973 ihre Reihen fest geschlossen blieben (1974, Neues Deutschland 3 .9., 6) Volk ohne Buch (1977 Rudolf Schenda [Titel]) Einigkeit und Recht und Weltmarkt, und der Freiheit zugewandt, (1990 Frankfurter Rundschau 19 .7 ., 9) Die Macht am Rhein scheint unerreichbar (1993 Spiegel Heft 20, 26) Auf der Suche nach dem verlorenen Ball (1994 Die Zeit 24.6., 51) Niemand kommt zum Führer denn durch mich (1995 Spiegel 11.9 ,80) Wer zu spät klagt, den bestraft der Richter (1995 Süddt. Zeitung 26.9., 10) Fiat-Chef Agnelli wird 75 Jahre. Kein bißchen greise (1996 auto motor und sport [zs ] 8.3., 7) Der mit dem Golf tanzt (1996 Mannh. Morgen 9./10.3., 2) Kriminelle aller Länder, vereinigt euch (1996 ntv 27.4. [Sehbeleg]) die Angst des Rezensenten vor der eigenen Meinung (1996 Die Zeit 21.6., 43) Rüttgers räumt die Forschung auf (1996 Berl. Zeitung 12.7., 5) Der Rest ist Tanzen (1996 Tagesspiegel 18.7., 21) Wenn Sie [... ] nicht gern Kleingedrucktes studieren, [... ] dann fragen Sie Ihre Versicherung oder Ihren ADAC nach Risiken und Nebenwirkungen (1996 ADAC motorweit H. 7, 48) Parthenia ist überall (1996 Spiegel 25.3., 140) Von Amerika lernen, heißt sparen lernen (1996 Tagesspiegel 26.1., 19)

Wer derartigen Formulierungen aufmerksam begegnet - und Anlaß solcher Begegnung bietet heute jede Tageszeitung - fühlt sich einbezogen in ein intellektuelles Spiel, er überlegt, was da eigentlich variiert wird. Wenn er Glück hat, kommt er darauf, wenn nicht, mag er dem Textautor unterstellen, daß der es auch nicht mehr wußte: Variiert der Tagesspiegel vom 26.1.1996 absichtlich eine der Kernlosungen der real-sozialistischen Länder „ Von der Sowjetunion lernen, heißt siegen lernen" bezog sich das Neue Deutschland vom 3.9.1974 bewußt auf die Parteihymne der NSDAP ,JDie Fahne hoch, die Reihen fest geschlossen'? Wohl kaum. Jede der oben aufgeführten Variationsformeln ist Glied einer reichhaltigen Variationsgruppe. Variiert wird grundsätzlich alles, was als formelhafter Gedächtnisbesitz präsent ist, vom Bibelwort {Niemand kommt zum Vater denn durch mich) bis zum theologisch-philosophischen Endzeitbegriff {Reich der Freiheit), vom Schlagerlied (60 Jahre und kein bißchen weise) bis zum Filmtitel {Der mit dem Wolf tanzt), von der Hebelstelle aus dem Rheinischen Hausfreund (Ulm ist überall) bis zum eigentlich apokryphen Gorbatschowzitat von 1989 (Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben), vom Buchtitel (Die Angst des Tormanns beim Elfmeter) bis zur Nationalhymne (Einigkeit und Recht und Freiheit bzw. Auferstanden aus Ruinen und der Zukunft zugewandt), von der politischen Losung (Proletarier aller Länder vereinigt Euch) bis zum Medikamenten-Beipackzettel (Zu Risiken und Nebenwirkungen fragen Sie Ihren Arzt oder Apotheker), vom Werbeslogan (Rennie räumt den Magen auf) bis zur Shakespeareübersetzung (Der Rest ist Schweigen). Die Häufüng der Beispiele aus den letzten Jahren hat nicht nur mit dem Fehlen eines aussagekräftigen historischen Korpus zu tun, sondern durchaus auch mit einer auffälligen Zunahme des anspielenden Zitierens in der neuesten Gegenwartssprache, und zwar keineswegs nur im Feuilleton unserer Tageszeitungen, sondern auch in politischen Texten, in Wirtschaftsanalysen oder in der Sportberichterstattung der Medien, ebenso aber längst auch in der gesprochenen Sprache und - leicht verzögert und im ganzen seltener - in literarischen Texten. Bei der Bewertung des historischen Sprachgebrauchs muß bedacht werden, daß unsere historische Kompetenz durch Textlektüre erheblich geschärft sein muß, bis Zitatanspielungen in historischen Texten sicher erkannt werden.

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Hartmut Schmidt

3. Variationstiefe und Musterbildung Wer den im Sprachgedächtnis gespeicherte formelhafte Syntagmen bei der Produktion von Äußerungen variiert, so kann die Variation, unabhängig davon, ob sie bewußt oder unbewußt vollzogen wird, grundsätzlich so weit gehen, daß der Hörer/Leser das Vorbild der Variation nicht mehr erkennt: Der Sprecher/Schreiber nutzt ein Muster und verwischt die Spuren. Im engeren Bereich der Zitatvariation gilt aber eine wichtige Einschränkung: Wer dem Adressaten die Chance und die Freude des Wiedererkennens der Zitiergrundlage gewähren will (auch wenn dies Angebot nur an einen Teil der Leser/Hörer gerichtet ist, also eine Subadressierung an die potentiell 'Mitwissenden' erfolgt), darf sein Variationsspiel nicht bis zur Unkenntlichkeit treiben. Wichtige Einschränkungen der Variation ergeben sich aus der Beachtung der syntaktischen Besetzung und des Formelrhythmus. Die Echowirkung der Zitiergrundlage ist in Gefahr, wenn in allen diesen Punkten erhebliche Änderungen eintreten. Deshalb werden die Möglichkeiten, die Syntax, die Lexik und den Rhythmus durch lexikalische Substitution, Expansion oder Reduktion, durch Umprägung der syntaktischen Struktur oder durch Formelkontamination zu ändern, in erfolgreichen Zitierspielen immer nur eingeschränkt genutzt. Besonders deutlich wird diese eingeschränkte Nutzung der vorhandenen Möglichkeiten bei der Variation der Lexik: Viele Varianten zeigen ausdrucksseitige Anklänge an die Variationsgrundlage (z.B. durch morphemidentische Wortteile oder Alliteration, Binnen- oder Endreim), aber auch inhaltsseitige Übereinstimmungen (semantische Ähnlichkeiten) sind nicht selten. Die Auflösung des Zitatspiels erfolgt in zwei Stufen: entweder bis zu dem Punkt, wo der Hörer/Leser die Zitiergrundlage nur erkennt, ohne sie schon einem Autor zuordnen zu können, oder bis hin zur vollkommenen Identifizierung. Hierbei mögen Werke wie Büchmanns Sammlung geflügelter Worte Hilfe leisten. Unser Interesse gilt in erster Linie einem anderen Punkt. Jedes in einer bestimmten Periode (oder in mehreren Perioden) gängige und der freien Variation unterzogene Zitat hat den Status eines Formulierungsmusters. Genauer gesagt: Es ist mindestens genau ein ausreichend stabiler Kern zu erkennen, dessen Variablen bei der Anwendung des Musters nach mehr oder weniger exakt faßbaren Regeln besetzt werden. In seiner Funktion als Formulierungsmuster wird der Zitatkern zu einem wichtigen (epochen- und/oder gruppenspezifischen) Gegenstand sprachwissenschaftlichen und sprachhistorischen Interesses.

4. Beispielreihen Sehen wir uns einige Beispiele genauer an. Die hier ausgewählten Textsorten dienen nur einer ersten Strukturiemng des vorgestellten Materials. Der Gesamtbereich der Musterbildung und Musterrealisation ist weit umfangreicher und differenzierter. Bei den ausgeführten Beispielen steht zuerst jeweils ein knapper Hinweis auf die Herkunft der behandelten Zitierformel, danach folgt eine Übersicht über die wichtigsten Variationsgruppen, überwiegend geordnet nach syntaktischen Kriterien. Viele der zahlreichen Beispiele aus Zeitungen stammen aus Überschriften, also aus besonders markierten Positionen. Das bewußte Spiel mit den Variationen und die unbewußte Musterwirkung von interiorisierten Formulierungen begegnen dort am selbstverständlichsten, wo auch das Originalzitat noch in stabilem Gebrauch ist. Dieser Gebrauch ist funktionell nicht einheitlich: Neben den schlichten Reproduktionen eines 'geflügelten Wortes' kommt

Real existierende

Formelvariation

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es in vielen Fällen zu Anwendungen des Originalzitats mit erheblich geänderter Referenz. Bei-

spiele sind: Auferstanden aus Ruinen. Sanft schwebt die Statue des altägyptischen Königs Sesostris II. in den Ehrenhof des Pergamonmuseums. Sie wurde 1993 in der Ruine des Neuen Museums gefunden (1996 Tagesspiegel 3.4., 1), der Herr der Ringe [der IOC-Präsident] (1995 Mannh. Morgen 17.5 ., 8); Und so schieben sich die Busse aus Sonstwo sanft federnd

um die engen Ecken des Viertels. Auf der Suche nach der verlorenen Zeit (1996 Berl. Zeitung 11.7., 3). Belege für derartige - mit dem Original identische - Zitierungen, aber geänderter Referenz, werden in den folgenden Übersichten aus Raumgründen weggelassen, obwohl sie eine wichtige Basis für den variierenden Formelgebrauch sind.

4.1.

Literarische Beispiele

Eines der wichtigsten Quellgebiete von Formulierungsmustern ist das literarische Zitat. Obwohl der Einfluß der Literatursprache im weitesten Sinne auf die Standardsprache heute in der Regel weniger hoch veranschlagt wird als im 19. Jahrhundert, belegt die Zitierforschung die hohe Frequenz von Musterabwandlungen literarischen Ursprungs. Hinter den zugehörigen Zitaten und Zitatabwandlungen muß keineswegs immer gediegene Textkenntnis stehen; gerade Hitlistenpositionen neuerer Werke fuhren heute zu einer exzessiven Präsenz einer Formulierung, insbesondere von Titeltexten, in der Öffentlichkeit. Bei Verfilmungen kann die tägliche Konfrontation noch durch Filmplakate oder Programmzeitschriften, bei Dramen durch Theaterwerbung auf Plakaten und in Zeitungen für Monate oder Jahre stabilisiert werden. So können auch die Titel angeblich relativ erfolgloser Texte (wie z B der des Dramas über die den Aufstand probenden Plebejer von Günter Grass) über ihre stabile Medienpräsenz zu hoher Musterwirkung gelangen. Der große und differenzierte Komplex literarischer Zitate ist hier nur durch einige Werktitel beispielhaft vertreten. Die Zahl und die Länge der illustrierenden Belege wird in allen unproblematischen Fällen bewußt sehr knapp gehalten.

4.1.1. Der alte Mann und das Meer Herkunft: Ernest Hemingway, The Old Man and the Sea (1952), deutsch: Der alte Mann und das Meer (1952). Variationsrahmen: Variiert wird vor allem die lexikalische Besetzung des Endglieds (Der alte Mann und der die/das X), seltener das Erstglied (Der xX und das Meer). Stabil bleiben in allen Varianten die bestimmten Artikel im Erst- und im Endglied sowie die Kopula und. Variationen die auch die Artikelsetzung betreffen, sind sehr selten (z.B. Der alte Mann und Mr. Smith [Roman von Peter Ustinov, deutsch 1991]) und dann nicht mehr sicher zuzuordnen. Bisher wurde kein einziger Beleg für eine komplette Variation des Erstglieds und des Endglieds gefunden (also etwa: Die junge Frau und das Heer oder Das kleine Kind und der Teer), die sich ohne Schwierigkeit als lexikalisch-semantische Variation der Originalbesetzung erklären ließe. Entscheidend für die Sicherung der Echowirkung ist, hier wie in allen anderen Fällen, daß die Abwandlung der variablen Größen in einer Art Gleichgewichtszustand bleibt: Wird die Lexik verfremdet, kann die Bewahrung des syntaktischen Rahmens, insbesondere des Formelrhythmus, aber auch die Reimbindung an die Originalformel stabilisierend wirken. Wird der Formelrhythmus abgewandelt, wird die Echowirkung über die Lexik gesichert. Fällt die Reimbindung des variierten Endglieds weg, ist wiederum die Originalbesetzung des Erstgliedes um so wichtiger. (1)

Bewahrung der Reimbindung und des Formelrhythmus: -

Der alte Mann und der Bär (1985 Janosch [Buchtitel]) Der alte Mann und der Speer [Sportreportage] (1995 Tagesspiegel 3 .8., 24)

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(2)

(3)

Hartmut Schmidt -

Der alte Mann und das Mehr [Einnahmequellen] (1996 Mannh. Morgen 30.1., 8)

-

Der große Mann und das Heer [Kanzler und Bundeswehr] (1996 Tagesspiegel 18.4., 1)

Bewahrung der Reimbindung, Beeinträchtigung des Formelrhythmus: -

Der alte Mann und noch vielmehr [Filmrollen] (1995 Zeit 11.8., 37) Der depressive Mann und das Mehr [über CNN-Besitzer Ted Turner] (1995 Focus 25.9., 252)

-

Der Alte und das Mehr [Lothar Buchheims Roman 'Die Festung'] (1995 Tagesspiegel 22 .5., 35)

Bewahrung des Formelrhythmus, Wegfall der Reimbindung: -

(4)

Der alte Mann und das Kind (1989 Mannh. Morgen 26.11.) Der alte Mann und der Tod [das letzte Gespräch von Charles Bukowski] (1989 Tempo, 46f.) Der alte Mann und die Macht [der Präsident von Simbabwe] (1996 Zeit 5.4., 14)

Beeinträchtigung des Formelrhythmus und Wegfall der Reimbindung, aber Bewahrung des syntaktischen Rahmens: -

-

Tickende Bomben und schlagende Herzen, der alte Mann und das Mädchen - das ist der Stoff, aus dem man Storys macht. Der alte Mann und das Mädchen [...] wär das ein Titel? (1992 B. Schlink, Selbs Betrug, 1994, 229) Der alte Mann und das Mädchen [Peter Härtlings Roman 'Jette'] (1995 Berl. Ztg. 13.10., 12) Der alte Mann und das Filmgeschäfl [Anthony Quinn] (1996 ARD 26.2. [Hörbeleg]) Der alte Mann und die Stühle [Dirigent vor leeren Orchesterstühlen, Bildunterschrift] (1996 Tagesspiegel 20.7.19)

4.1.2. Auf der Suche nach der verlorenen Zeit Herkunft: Marcel Proust, A la recherche du temps perdu (1913/27), deutsch: Auf den Spuren der verlorenen Zeit (so die Erstübersetzung von Rudolf Schottländer), Auf der Suche nach der verlorenen Zeit (1953/57, übers, von E. Rechel-Mertens). Variationsrahmen: Unter der sehr großen und ständig vermehrten Zahl vergleichbarer Formulierungen lassen sich mit ausreichender Sicherheit zumindest diejenigen auf den Proust-Titel zurückfuhren, die mit den festen Positionen (auf der) Suche und dem Endglied nach der (dem) verlorenen X arbeiten. Bei Bewahrung des vollen Auftakts auf der Suche kann auch das Attribut verlorenen abgewandelt werden; die Echowirkung, also der sichere Bezug auf die Originalformulierung, wird allerdings schon in diesen Fällen gefährdet. Reimbindung spielt keine Rolle. Der syntaktische Rahmen und der Formelrhythmus bleiben weitgehend erhalten, allerdings ist die Silbenzahl der für Zeit eintretenden Varianten relativ frei. (1)

Lexikalische Variation des Substantivs im Endglied; die Variante kann einsilbig (Bewahrung des Formelrhythmus) oder mehrsilbig sein: -

(2)

Auf der Suche Auf der Suche Auf der Suche Auf die Suche Kraft begeben Auf der Suche Auf der Suche

nach dem verlorenen Kind [Trauerarbeit mit Müttern] (1986 Zeit 10.1., 42) nach der verlorenen Identität (1986 Mannh. Morgen 27.10., 32) nach dem verlorenen Glück (1989 Mannh. Morgen 11.1. [TV-Programm]) nach dem verlorenen Feind [...] könnte sich der Geheimdienst schadlos mit halber (1993 Spiegel Heft 46, 94) nach dem verlorenen Ball [Fußballreportage] (1994 Zeit 24.6., 51) nach der verlorenen Utopie (1995 Zeit 22.12., 3)

Lexikalische Variation des Adjektivs im Endglied: -

Auf der Suche nach einer wiederzufindenden Zeit (1996 Zeit 6.9., 52)

Real existierende Formelvariation

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(3) Lexikalische Variation des vollen Endglieds (Adjektiv und Substantiv): - Auf der Suche nach dem geglückten Tag [zugleich Anspielung auf Peter Handkes 'Versuch über den geglückten Tag'] (1995 Zeit 1.9., 69f.) - Auf der Suche nach perfekter Harmonie (1995 Tagesspiegel 16.10., 9) - Auf der Suche nach dem dringlichen Ort stolpert Oda über ein [...] Kleid (1995 Wochenpost 20.12., 38) - Felipe Gonzales, auf der Suche nach einer regierungsfähigen Mehrheit (1996 Tagesspiegel 30.4./1.5., 6) - Zehn Tage nach Beendigung der Olympischen Sommerspiele ist Atlanta weiter auf der Suche nach der eigenen Identität (1996 Tagesspiegel 15.8., 23) (4) Auftaktreduktion (plus Endgliedvariation): (5)

Die Suche nach der verlorenen Göttin [in der feministischen Theologie] (1985 Zeit 14.6., 12) Suche nach den verlorenen Neutrinos. Winzige Teilchen mit kosmischer Bedeutung (1986 Zeit 25.7., 46) Hinzu kommt die Suche nach der verlorenen Identität (1990 Wochenpost 10.10., 5).

Variation des Substantivs im Erstglied (plus gelegentliche Endgliedvariation): - Auf der Jagd nach der verlorenen Zeit [...] ist [nach der Wende in Mecklenburg] vieles liegen geblieben (1995 ZDF 3.10. [Hörbeleg]) - Auf der Flucht vor der verordneten Zeit (1995 Zeit 13.10., 19)

(6)

Spielerische Auflösung des syntaktischen Rahmens: -

4.1.3.

Sucht der Politiker so nach der verlorenen Zeit, spürt er, daß ihn Diskretion gegenüber sich selbst nicht weiterbringt (1986 Abschriften zum Bereich Umwelt [IdS-Korpus], Heft 12) Obwohl körperlich topfit, sucht er im Ziel [des Ski-Abfahrtslaufs] immer häufiger nach der verlorenen Zeit (1996 ZDF-Sportreportage 19.2. [Hörbeleg]) Die Plebejer proben

den A ufstand

Herkunft: Günter Grass, Die Plebejer proben den Aufstand. Ein deutsches Trauerspiel in vier Akten (1966). Variationsrahmen: Stabiler Kern der Formel ist das Verb proben, variiert wird fast immer die Subjektstelle, oft auch gleichzeitig die Objektstelle. Lexikalischer Austausch des Verbs ist sehr selten, seine Form wird an die Subjektbesetzung und das geforderte Tempus angepaßt. Die Formel knüpft an die geläufige Verwendung ein Stück proben an. Die Varianten gewinnen ihren Reiz daraus, daß die 'Plebejer' und ihre Variationslexeme keine Schauspieler sind, der 'Aufstand' und seine Ersatzwörter keine Stückbezeichnung. Auf diese Weise erhält das Verb proben eine vor 1966 kaum begegnende semantische Belegung (ähnlich wie probieren). Der syntaktische Rahmen ist weitgehend stabil. Die Viersilbigkeit des Auftakts und seine Betonungsverhältnisse (Die Plebejer) werden häufig genau eingehalten, sind aber nicht verbindlich. Auch die Zweisilbigkeit der Objektstelle ist dominant. Reimbindungen spielen keine Rolle. (1) Bewahrung der Wortstellung des Formelkems. Lexikalische Variation der Subjektstelle (in unterschiedlicher Beeinträchtigung des Formelrhythmus): -

Der Außenseiter probt den Aufstand [Fußball] (1974 Welt 4.6., 6) Dissidenten proben den Aufstand gegen [...] (1985 Zeit 25.10., 2) Die gedemütigten Hochschulpolitiker der CDU proben den Aufstand gegen ihre Spitzenpolitiker (1996 taz Uni spezial 27 /28.4., 5)

(2) Bewahrung der Wortstellung des Formelkems. Lexikalische Variation der Subjekt- und der Objektstelle. Als Varianten der Objektbesetzung begegnen einerseits mit alliterierendem Anklang an das Muster auffal-

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Hartmut Schmidt lend häufig Wörter mit -Anlaut (oder Morphemähnlichkeiten mit Aufstand), andererseits Bezeichnungen sozialer Konflikte, die den semantischen Wert von Aufstand aufgreifen: -

Die Pharisäer proben den Notstand (1980 Programm der Lach- und Schießgesellschaft München, ZDF heute 1 4.1996 [Hörbeleg]) Berlin [...J probt den Aufschwung über den Abgrund (1986 Zeit 7.2., 1) vermummte Gestalten proben den Ernstfall (1987 Mannh. Morgen 8.10., 19) 500.000proben die Ausreise (1990 Berl. Zeitung 23.1., 1) Querdenker [...] proben die Rentenrevolution (1996 Tagesspiegel 4.5., 2)

(3) Lexikalische Variation der Subjekt- und Objektstelle mit zusätzlicher Variation der Wortstellung: -

Hinter den Kulissen freilich hat Michael Gorbatschow f . ] die Flucht nach vorn geprobt (1985 Zeit 15.11., 3) - Auch auf der malaiischen Halbinsel probten linksradikale Revolutionäre [...] die Machtübernahme (1986 Mannh. Morgen 26.8., 3) - Drei Tage lang proben mehr als 500 Schriftsteller die Bestandserhaltung statt des Aufstands (1990 Rhein. Merkur 9.3., 19) - Mit Filmkameras proben Elite-Soldaten [...] den Sieg über den Westen (1993 Spiegel Heft 10, 98) (4) Auflösung des syntaktischen Rahmens: -

Da es praktisch undenkbar ist, daß die SPD in Hamburg vollends abge wählt werden kann, bleibt dem Primus interpares in der Senatorenriege die Chance zum effektvollen Ausstieg. Und den probt er bereits (1993 Spiegel Heft 31, 33)

(5) Lexikalische Variation der Prädikatsbesetzung: -

4.2.

Den Plebejern glückt der Aufstand (1969 Welt 21.3,21)

Hymnentexte

Liedtexte mit ideologiestiftender bzw. indoktrinierender Funktion. Die zugehörigen Zitiertraditionen werden hier aus dem Bereich der literarischen Zitate herausgelöst, weil sie eines besonders deutlich belegen: die Stabilität eines offenbar kollektiven Gedächtnisbesitzes. Die hier angeführten Texte aus der Kaiserzeit (Die Wacht am Rhein), aus der NS-Zeit (Die Parteihymne der NSDAP), aus der DDR (die seit den 70er Jahren nicht mehr gesungene Nationalhymne) hatten seit Jahrzehnten, z.T. seit Generationen ihre offizielle Funktion verloren und zählten nicht mehr zum in den Schulen gelehrten Liedgut. Trotzdem gehören wichtige Formulierungen aus diesen verstummten Texten zum 'gesamtdeutschen' Anspielungspotential quer über politische Fronten hinweg. 4.2.1. Die Wacht am Rhein Herkunft: Max Schneckenburger, Es braust ein Ruf wie Donnerhall (1840). Der Refrain des Liedes enthält die Zeile 'Fest steht und treu die Wacht am Rhein'. Das Lied war bis in unser Jahrhundert das wichtigste antifranzösische Kampflied des deutsch-nationalen und nationalistischen Liedrepertoires: „1840 hatte Max Schneckenburger dieses bis zum bitteren Ende 1945 unzählige Male gegrölte Lied geschrieben" (Zeit 4.10.1985,17). Variationsrahmen: Neben Zitierungen der Originalformel mit Referenzwechsel begegnen am häufigsten Varianten mit Reimbindung des Schlußglieds, gelegentlich aber auch mit Reimbindung des Erstglieds. Der Formelrhythmus wird in der Regel genau bewahrt.

Real existierende (1)

-

Die Macht am Rhein scheint [für die SPD] unerreichbar (1993 Spiegel Heft 20, 26) Die Macht am Main [Sendung über die Bundesbank in Franklurt/Main] (1995 TV Hessen 3, 3.8. [Hörbeleg]) Jürgen Habermas, der [...] so geschickt diskursive Herrschaft walten läßt, daß der kalauernde Kollege Odo Marquard ihn zur Wacht am Main' ernannt hat (1993 Spiegel Heft 29, 126) Die Kompensationsblindheit unserer Negationskonformisten auf ihrer Wacht am Nein (1996 Odo Marquard in: FAZ 17.7., N 6) Wirtschaft und Politik wenig dienlich ist auch, daß die Macht am Rhein von den Parteien ausgeht (1996 Tagesspiegel 30.7., 8)

Lexikalische Variation des Endglieds ohne Reimbindung bleibt selten. Hier sichert der Gewässername die Echowirkung: -

(3)

41

Lexikalische Variation des Endglieds und/oder des Erstglieds mit Reimbindung: -

(2)

Formelvariation

Europas Wacht am Bug. Polen sichert seine Ostgrenze mit moderner Technik (1995 Tagesspiegel 28.12., 3) Wacht am Golf [Überschrift zur Golfkrise] (1996 FAZ 14.9., 14)

Auflösung des syntaktischen Rahmens: -

Expansion der Stasi bis an den Rhein, an dem dann die NVA die Wacht gehalten hätte (1995 Berl. Zeitung 28.6., 30)

4.2.2. Die Fahne hoch! Die Reihen fest geschlossen Herkunft: Das sogenannte Horst-Wessel-Lied war seit 1930 offizielle Parteihymne der NSDAP und wurde bis 1945 bei unzähligen Gelegenheiten, oft in direktem Anschluß an das Deutschlandlied, gesungen. Variationsrahmen: Der Vers Die Fahne hoch! Die Reihen fest geschlossen dient bis heute im Ganzen oder in Halbverse zerlegt als gängiges Formuliermuster, praktiziert quer durch das politische Spektrum: ,J)ie Fahne hoch, die Reihen fest geschlossen." „Sie haben das noch gut im 0/ir!"(1958 Erich Kuby im Drehbuch zu 'Der Mann, der sich verkaufte', ZDF 7.1.1995 [Hörbeleg]). Variiert werden vorzugsweise die Substantive. (1)

Lexikalische Variation der Gesamtformel. Formelrhythmus und syntaktischer Rahmen bleiben ausreichend deutlich: -

die Ohren verstopft, die Augen fest geschlossen [ . . .] während der Friedensjahre des Dritten Reiches funktionierte vieles perfekt (1986 Zeit 4.7., 43) - die schwarze Fahne hoch, die Reihen fest geschlossen, so marschierten sie ['schwarzvermummte Chaoten'] in Zehner-Reihen durch die Hamburger Innenstadt (1987 Stern 12.11., 20) - Die Preise hoch, die Saaltüren fest geschlossen (1995 Dieter Hallervorden in: ARD 21.3. [Hörbeleg]) (2)

Der erste Halbvers wird in der Originalversion (oder um die Artikelposition reduziert) gelegentlich mit geänderter Referenz zitiert, z.B.: Fahne hoch. Südkorea fiihlt sich erneut von japanischem Expansionismus bedroht. Es geht um zwei Felsen im Meer (1996 Spiegel 19.2., 146). Lexikalische Varianten sind nur zum Teil ausreichend sicher anzuschließen, z.B.: -

Die Preise hoch (1974 Welt 26.8., 4) Bitterböse die taz: Mit [Botho] Strauß marschiere, „die Blutfahne hoch", die Reaktion (1993 Spiegel Heft 10,3) Mauer hoch. Arbeitslose Bauleute protestieren - angeblich für Mindestlöhne, in Wahrheit gegen Ausländer (1996 Wochenpost 21.3., 30)

42

Hartmut Schmidt

(3) Der zweite Halbvers ist dank seiner größeren lexikalischen Masse leichter eindeutig auf das Grundmuster zu beziehen; in der Regel wird er unter Beibehaltung der Lexeme Reihen, fest, geschlossen in geänderter syntaktischer Einbindung zitiert: -

-

Die von Amilcar Cabral gefiihrte PAIGC [Unabhängigkeitspartei in Portugies.-Guinea] - übrigens so hervorragend, daß selbst nach seiner {...J Ermordung [...] ihre Reihen fest geschlossen blieben (1974 Neues Deutschland 3.9., 6) Ausgerechnet jetzt, wo die Reihen fest geschlossen sein sollten, auch noch Streit bei Goethens [im Goethe-Institut] (1995 Wochenpost 17.8., 2) CDU hält die Reihen fest geschlossen [Berliner Parteitag] (1996 Berliner Zeitung 23 .2., 18) Da liegt bei uns der große Fehler, daß wir die Reihen fest geschlossen haben (1996 Erich Böhme in: SAT1 Talk im Turm 17.3. [Hörbeleg])

(4) Der zweite Halbvers bei geänderter syntaktischer Einbindung mit zusätzlichen lexikalischen oder Morphemvariationen: -

Die CDU der DDR hält jetzt [...] die Reihen um so fester geschlossen (1989 FAZ 16.12., 4) Die Berliner CDU schließt für den Wahlkampf ihre Reihen (1995 Tagesspiegel 10.2., 1) Lafontaine verspricht, die Reihen fest zu schließen (1995 Spiegel 20.11., 23) die Reihen hinter Radovan Karadzic scheinen [...] geschlossener denn je (1996 Tagesspiegel 4.7., 3)

(5) Lexikalische Variation des zweiten Halbverses bei Bewahrung von Formelrhythmus und syntaktischem Rahmen: 4.2.3.

die Grenzen fest geschlossen (1990 Rhein. Merkur 4.5., 4) A ufer standen

aus

Ruinen

Herkunft: Johannes R. Bechers Liedtext 'Auferstanden aus Ruinen und der Zukunft zugewandt, laß uns dir zum Guten dienen, Deutschland einig Vaterland' (1949) wurde im gleichen Jahr, durch Hanns Eisler vertont, zur Nationalhymne der DDR. Variationsrahmen: Auf der Grundlage einer Vielzahl von Zitierungen mit geänderter Referenz wurde der Eingangsvers (ebenso wie die Zeile Deutschland einig Vaterland) zum Formulierungsmuster, realisiert in zahlreichen Varianten. Gelegentlich wird auch der Folgetext und der Zukunft zugewandt in das Zitat oder in die Zitatvariation einbezogen. (1) Morphologische Variation des Erstglieds mit Beibehaltung der Wortfolge und - bedingt - des Formelrhythmus: -

Der 'Dicke' [Ludwig Erhard] [...] ermöglichte [...] den Aufstieg aus Ruinen (1989 Mannh. Morgen 31.5.) Auferstehen aus Ruinen [...] konnte der einstige Hohenzollernstaat diesmal nicht mehr (1993 Spiegel Heft 16, 269) 'Auferstehung aus Ruinen' nennt Dimitri Hegemann diesen Vorgang [Sicherung Berliner TechnoClubs] (1996 Berl. Zeitung 16.11., 25)

(2) Lexikalische Variation des Erstglieds (und der Präposition) mit Beibehaltung des Formelrhythmus: -

Alles ist gefällig arrangiert, jede Note steht fest, da kann nichts schiefgehen, aber es passiert auch nichts: abgestanden in Ruinen [Jazz in der Klosterruine Eldena] (1996 Wochenpost 11.7., 34)

Real existierende (3)

Auferstanden aus der Ächtung [ungar. Sozialisten] (1994 Tagesspiegel 21.8., Beilage, II) A uferstanden aus Indizien [Shakespeare-Portraitrekonstruktion] (1996 Zeitmagazin 26.1., 1) Auferstanden aus Recordern [neue Beatles-CD] (1996 Berl. Zeitung 6.3., 31)

Lexikalische Variation des Endglieds unter Aufgabe des Formelrhythmus, aber mit Bewahrung des syntaktischen Rahmens: -

(5)

43

Lexikalische Variation des Endglieds unter Bewahrung des Formelrhythmus: -

(4)

Formelvariation

Auferstanden aus der roten Tyrannei und dem Volke zugewandt (1990 Polit. Parteien und Bewegungen der DDR über sich selbst [Broschüre] 1.3., 77) Auferstanden aus dem Nichts [...] So etwa ließe sich der wundersame Aufstieg des 1. FC Kaiserslautern beschreiben (1991 Mannh. Morgen 17.6.) Auferstanden aus dem Klassizismus [das Schauspielhaus am Berliner Gendarmenmarkt] (1996 Berl Zeitung 4./5.5., 54)

Lexikalische Variation des Erst- und des Endglieds bei Bewahrung des Formelrhythmus und der Reimbindung: -

(6)

Aufgabe des Formelrhythmus und des syntaktischen Rahmens, Beibehaltung des Lexembestands: -

4.3.

klaglos gewann Fischer für die vereinte Nation zum fünften Male Gold. Zur Belohnung durfte sie am Ende die Flagge tragen. Ost-West-Konflikte? Ausgestanden in Kabinen und der Zukunft zugewandt (1996 Zeit 9.8., 1)

Die Einrichtungen, die aus den Ruinen der geisteswissenschaftlichen Institute der DDR-Akademie der Wissenschaften auferstanden sind, nehmen ihre Arbeit offiziell am 1. Januar 1996 auf (1995 Tagesspiegel 20.9., 25)

Politische Schlagworte

D i e ausgewählten Beispiele sollen vor allem belegen, mit welcher Schnelligkeit sich politische Schlagworte als produktive Formulierungsmuster durchsetzen können. Interessant sind hier die Bedingungen, unter denen Variationsmechanismen blockiert werden oder funktionieren (strikte Vermeidung der Variation eigener Schlagworte [Beispiel: real

existierender

Sozialismus

im

Gebrauch der S E D ] , starke Tendenz zur Umformulierung v o n Schlagworten der politischen Konkurrenz [Beispiel: Bündnis für Arbeit 4.3.1.

Real existierender

im Gebrauch der Arbeitgeberseite]).

Sozialismus

Herkunft: Die Formel wurde durch Kurt Hager, Mitglied des Politbüros der SED, auf der 9. Tagung des ZK der SED, 28./29.5.1973, eingeführt (H. Zimmermann, DDR Handbuch, 3. Aufl., Köln 1985, Bd. 2, 1177) und von anderen aufgenommen: die Anziehungskraft des real existierenden Sozialismus (1974 W. Stoph in: Neues Deutschland 8.5., 3). Voraus ging die Wendung vom „wirklichen Sozialismus", gerichtet gegen „Revisionisten" und „Utopisten": Die modernen Revisionisten, die den wirklichen Sozialismus als 'bürokratische' oder als 'ahumane' Gesellschaft verleumden, die den wahren Sozialismus in einer kleinbürgerlich-idealistischen Utopie erblicken [...] (1969 K. Hager, Grundfragen des geistigen Lebens im Sozialismus, Referat auf der 10. Tagung des ZK der SED, Berlin 1969, 23). Geradezu im Gegensatz zu den offiziellen Periodisierungsmarken (z.B. 'Umfassender Aufbau des Sozialismus' [1961-65], 'Gestaltung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft' [1971-75]) wirkte sie wie das Eingeständnis, daß das vorhandene System mit allen seinen Abweichungen von der Utopie eben so genommen werden müsse, wie es war. Dieser semantische Aspekt des Sichabfinden-müssens mit der Wirklichkeit bleibt in allen Variationen erhalten. Solche Variationen sind zahlreich

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Hartmut Schmidt

seit den achtziger Jahren in Texten aus der alten BRD bezeugt, in der DDR hatten sie erst seit der Wende eine Chance, gedruckt zu werden. Variationsrahmen: Stabilstes Element des Formelmusters ist das Lexem real in der Kombination mit einem Partizip Präsens. Substituiert werden vorzugsweise das Substantiv und das Partizip (dies in der Regel durch andere Partzipien). (1)

Austausch des Substantivs Sozialismus durch andere politische Systembegriffe: -

(2)

Austausch des Substantivs Sozialismus durch Bezeichnungen für Personen, Sachverhalte und Institutionen aus vielen Lebensbereichen. Dies ist das Hauptfeld der aktuellen Variationen: -

(3)

-

im real vegetierenden Sozialismus (1989 Mannh. Morgen 20.10.) Therapie für den real sterbenden Sozialismus (1989 Mannh. Morgen 14.11.) Orte des ökologischen Desasters im real verrottenden Sozialismus (1996 Spiegel 18.3., 235)

Weitere Variationen operieren - im ganzen seltener - mit dem Austausch sowohl des Partizips wie des Substantivs: -

(5)

Es hat sich gelohnt, ein real existierender Mensch zu sein (1985 H. Boll in: Zeit 19.7., 3) Mit dem real existierenden Schüler läuft es so nicht (1985 Zeit 15.2., 33) Das Schöne am real existierenden Leben ist seine Unlogik (1990 Wochenpost 26.9., 5) Schweißgebadet [...] erwache ich gerade neben meiner - Gott sei Dank sehr real existierenden Ehefrau (1993 Spiegel Heft 48, 7 [Leserbrief]) Wir leben im Zeitalter des real existierenden Schlagertextes (1995 WDR 17.9. [Hörbeleg])

Austausch des Partizips, überwiegend durch kritische Kontrafakturen der Ausgangsformel: -

(4)

dem real existierenden Kapitalismus (1985 Zeit 17.5., 45) in der real existierenden Marktwirtschaft (1985 Zeit 6.12., 63) des real existierenden Islam (1993 Spiegel Heft 5, 126) der real existierenden Rassentrennung in Amerika (1993 Spiegel Heft 21, 217) die real existierende deutsche Einheit (1995 Spiegel 16.10., 7)

der real vermurkste Marxismus (1993 Spiegel Heft 39, 47) Die Werbung muß aus dem real vorhandenen 'Produkt Spitzenkandidat' herausholen, was eben noch herauszuholen ist (1995 Tagesspiegel 13.9., 3) der real verlaufende Straßenverkehr (1996 ADAC motorweit Heft 3, 6)

Die Formel ist Grundlage für inzwischen reich belegte Wortbildungen: Schon früh wurden die Wörter real existierend zu einem Lexem zusammengerückt realexistierend (oder real-existierend). Bald folgten Realsozialismus, Realsozialist, realsozialistisch, und schließlich - nach diesem Vorbild - auch realkapitalistisch.

4.3.2.

Standort Deutschland

Herkunft: Die Formel Standort Deutschland ist mit unseren Mitteln erstmals 1991 zu belegen. Wenn es ältere Belege gibt, sind sie nicht musteibildend wirksam geworden. Voraus gehen: (a) traditionelle Verwendungen von Kombinationen 'Standort + Ortsname' für militärische Einheiten (Garnisonen), (b) Kombinationen 'Standort + Ortsname' für Risikostandorte (Entsorgungsanlagen, Kernkraftwerke, Müllverbrennungsanlagen), (c) Kombinationen 'Standort + Ortsname' oder 'Standort + Landes- (oder Landschafts-)name' für etablierte oder erwünschte Industrieniederlassungen. In dieser Gruppe sind zwar auch Kombinationen wie Standort Bayern, Standort Norddeutschland, Standort Bundesrepublik oder sogar Standort DDR belegbar, aber sie bleiben je für sich zunächst relativ selten. Heute werden alle wirtschaftsrelevanten oder konjunkturbezogenen Formulierungen fast automatisch in die Nachfolge von Standort Deutschland gestellt. Für die Belege vor 1991 liegen die Verhältnisse genau umgekehrt: Standort Bundesrepublik (u. ä.) mußte bis 1990 gelesen werden als

Real existierende Formelvariation

45

vereinzelter Reflex auf gängigere Bezeichnungen wie Standort Koblenz (Garnison), Standort Biblis (Kernkraftwerk), Standort Gorleben (Brennstäbe-Endlager), Standort Ladenburg (Müllheizwerk), Standort Ludwigshafen (BASF), Standort Frankfurt (Bankenplatz) bzw. Standort Sinsheim (Pyrolyseanlage) usw. Mit einer gewissen semantischen Neutralisierung des Risikofaktors wurden in den 80er Jahren die Kombinationen von Standort mit Landschaftsnamen (Standort Bayern usw.) häufiger. Am Ende dieser Entwicklung und am Beginn einer geradezu modischen Standortdebatte stand die erste Jahrespressekonferenz des Bundeskanzlers im Januar 1991: „Eine der Hauptherausforderungen in diesem Jahr sieht der Kanzler darin, den Standort Deutschland zu sichern" (1991 Mannh. Morgen 11.1., 1). Variationsrahmen: Nach vereinzelten Vorkommen vor 1991 wird seit 1991 das Erstglied Standort durch eine wachsende Anzahl von Determinativbildungen variiert. Außerdem geraten die darauf folgenden Orts- und Landschafts- oder Ländernamen zunehmend in den Sog des beherrschenden Musters und werden als Variationen der Gnindformel gelesen. Dazu kommen in neuerer Zeit - im ganzen noch selten - Formulierungen mit freien Variationen des Erst- und des Zweitgliedes. Um die Intensität dieses Musterwirkungsprozesses anzudeuten, werden im folgenden die Belege etwas zahlreicher als bisher genannt. Die exemplarische Bedeutung dieses Prozesses wird noch klarer, wenn man bedenkt, daß das herangezogene Material aus wenigen Quellen stammt. Jedes Beispiel ließe sich leicht wesentlich dichter belegen. (1) Determinativbildung mit dem Erstglied (alphabetisch): - Agrarstandort Deutschland (1996 Bayern III, 7.5. [Hörbeleg]) - Automobilstandort Deutschland (1995 Mannh. Morgen 10.8.) - Chemiestandort Deutschland (1993 Spiegel Heft 18, 127) - Forschungsstandort Deutschland (1993 Spiegel Heft 46, 114) - Industriestandort Deutschland (1991 Mannh. Morgen 8.6.) - Investitionsstandort Deutschland (1990 Bundestagsprotokolle, Bd. 152, 15136) - Medienstandort Deutschland (1994 Mannh. Morgen 10.11.) - Produktionsstandort Deutschland (1991 Mannh. Morgen 29.1.) - Wirtschaftsstandort Deutschland (1991 Mannh. Morgen 24.1.) - Wissenschaftsstandort Deutschland (1994 Spiegel Heft 15, 200) - Zukunftsstandort Deutschland (1995 Mannh. Morgen 21.10.) (2) Die Deutschland-?ormeln wirken zurück auf die Häufigkeit der Verbindung mit anderen Länder- oder Landschaftsnamen, die als Typus - wie die Ortsnamenformeln - bereits vor 1991 gut bezeugt sind (s. o ): -

Standort Bayern (1985 Zeit 8.2., 1; 1996 Tagesspiegel 21.4., 33) Standort Brandenburg (1996 Tagesspiegel 9.8., 12) Standort DDR (1990 11. Volkskammertagung 6.7., Drucksache 55, S. 356) Standort Erde (1996 Spiegel 27.5., 98) Standort Hessen(\99\ Mannh. Morgen 7.4.) Standort Libyen [Chemieanlagenbau] (1989 Mannh. Morgen 25.1.) Standort Norddeutschland (1985 Zeit 26.4., 34) Standort Ostdeutschland (1996 Tagesspiegel 2.7., 13) Standort Pfalz (1991 Mannh. Morgen 15.5.) Standort Sachsen (1993 Spiegel Heft 30, 87) Standort South Carolina (1994 Spiegel Heft 43, 128) Standort USA (1993 Spiegel Heft 93, 21)

(3) Die Intensität und Schnelligkeit der Durchsetzung des Standort-Musters wird sprachreflexiv verarbeitet und fuhrt deshalb auch zu ironischen Bildungen: -

Polizeistandort Deutschland (1996 Zeit 31.5., 1) Sexualstandort Deutschland (1993 Spiegel Heft 52, 166) Verbrechensstandort Deutschland (1996 Süddt. Zeitung 18.6., 10) Kein Wunder, daß am Unterhosenstandort Deutschland bis zum Ende der Wäschetristesse tote Hose herrscht (1996 Süddt. Zeitung 27 /28.4., 15)

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Hartmut Schmidt

(4) Lexikalische Variation des Zweitglieds durch Abstrakte (im ganzen noch recht selten): -

Standort Geist (1996 Tagesspiegel 2.2., 23) Standort Lüge (1996, Ansprache des DGB-Vorsitzenden Schulte zum 1. Mai [Hörbeleg]) Standort Schule [Titel] (1993 Spiegel Heft 1, 52)

(5) Lexikalische Variation des Erstglieds. Zu beachten ist, daß heute in den Sog des Standort-DeutschlandMusters auch Formulierungen geraten, die aus anderen und älteren Zusammenhängen stammen, darunter z.B. das Schlagwort der Helmut-Schmidt-SPD der 70er Jahre Modell Deutschland (vgl. Zeit 26.4.1985, S. 21, über die Üblichkeit dieser Formel nach 1974). Der modischen Neigung zu appositiven Zusammenrükkungen von Substantiven, die sich auch in der aktuellen Formel Standort Deutschland und ihren Varianten zeigt, ist durch solche älteren Vorbilder der Weg bereitet worden: - Auslaufmodell Deutschland (1996 Süddt. Zeitung 13714.4., 4 sowie 27 /28.4., 11) - Detonation Deutschland. Die explosive Geschichte der Bundesrepublik (1996 Zeitmagazin 19.4., 1) - wer schuftet, wird bestraft - Kohls und Waigels Motivationsinstrument für den Freizeitpark Deutschland (1996 Wochenpost 3.4., 25) - zwei Ereignisse, die den schweren Abschied vom Industrieland Deutschland symbolisieren (1996 Wochenpost 20.6., 3) - Das „Modell Deutschland" wankt (1996 Die Woche 19.4., 1; vgl. 1996 Tagesspiegel 18.4., 8) - die Deutsche Zentrale für Tourismus (DZT), die im Auftrag der Bundesregierung für das Reiseziel Deutschland wirbt (1996 Spiegel 4.3., 19) - Die Ausstellung „Station Deutschland" thematisiert den distanzierten Blick (1996 taz 13./14.4, 31) - aus der Anthologie „Exil-Asyl: Tatort Deutschland (1996 Tagespiegel 2.4., 10) - Wie steht's denn so auf der Umbausteile Deutschland? (1994 Die Woche 19.6., 4) - Für das 'Unternehmen Deutschland' sind politisches Gewicht, wirtschaftliche Bedeutung und Ansehen als Kulturnation wichtige Standortfaktoren (1996 Zeit 19.4., 54) - die „ Werkstatt Deutschland e. V. " (1996 Tagesspiegel 24.4., 11) (6) Wortbildung. Im Anschluß an die Standort-Deutschland-?orvas\ sind Bildungen mit dem Erstglied Standort außerordentlich üblich geworden. Im Einzelfall muß geprüft werden, ob die Bildungen bereits vor der Musterwirkung der Formel in Gebrauch waren (Standortbedingungen, Standortbestimmung, Standortdebatte, Standortdiskussion, Standortentscheidung, Standortfaktor, Standortfrage, Standortnachteil, Standortpessimismus, Standortpolitik, Standortproblem, Standortqualität, Standortrhetorik, Standortschwäche, Standortsicherung, Standortvorteil, Standortwahl, Standortwechsel; standortgerecht usw.). (7) Rückwirkung der Standort-Deutschland-Formel auf den Gebrauch von Standort außerhalb der Formel. Die Semantik von Standort gerät unter den Einfluß des Formelgebrauchs, zugleich werden Standortdiskussion und Formelgebrauch sprachreflexiv verarbeitet und mit entsprechenden Signalen versehen: -

Ein Land das „ Standort" sein will, muß natürlich in die Bildung mehr investieren, als es die Bundesrepublik tut (1996 Wochenpost 28.3., 2) Politik? Verliert sich in grauer Materie. Wirtschaft? Fällt weiter zurück. Kultur? [...] Kein Standort, nirgends [in Anspielung auf Christa Wolfs Kein Ort. Nirgends. 1979] (1996 Zeit 31.5., 1) Bayern ist als Standort Spitze (1996 Süddt. Zeitung 22 /23.6., 38) Standort, Standort über alles ... (1996 Tagesspiegel 28.6., 6) Alles Standort, oder was? (1996 Zeit 5.7., 4) Und [das BMW-Werk für Rolls Royce-Triebwerke] Dahlwitz sei kein schlichtes „ Werk", sondern ein „Standort". Darauf legen die zuständigen PR-Leute Wert (1996 Tagesspiegel 14.8., 15)

4.3.3. Bündnis für

Arbeit

Herkunft: Im September 1994 benutzte der SPD-Vorsitzende Scharping in einer Wahlkampfrede die Formulierung Bündnis für Beschäftigung: „SPD-Kanzlerkandidat Rudolf Scharping sprach sich für ein 'Bündnis für Beschäftigung' aus. Arbeitnehmer, Arbeitgeber, Bund, Länder und Kommunen sollten gemeinsam die Weichen stellen, um wieder mehr Gerechtigkeit in Deutschland zu erreichen" (1994 Mannh. Morgen 9.9 ). Die Kombi-

Real existierende

Formelvariation

47

nation Bündnis für war sprachlich ungewöhnlich. Ältere Belege für Bündnis mit diesem präpositionalen Anschluß liegen nicht vor. Die Formulierung fand auch zunächst keine Nachfolge, bis der IG-Metall-Vorsitzende Klaus Zwickel auf dem 18. Ordentlichen Gewerkschaftstag der IG Metall in Berlin in seinem Grundsatzreferat am 1.11.1995 die Variante Bündnis für Arbeit gebrauchte. Variationsrahmen: Die Formulierung Bündnis für Arbeit wird seit dem 2 .11.1995 in den Medien fast täglich wiederholt und erreicht damit eine Gebrauchshäufigkeit, die trotz der vorher ungewöhnlichen Anwendung der Präposition in wenigen Wochen ein neues Muster für die Variantenbildung durchgesetzt hat. Der Erfolg der Musterformel wird früh reflektiert: „Eine wahre Flut von 'Bündnissen für Arbeit'" (1996 unsere zeit 19.4., 5). Alle neueren Varianten sind auf das Muster Bündnis für Arbeit bezogen. In den Sog der Musterformel geraten auch späte Wiederaufnahmen der Scharping-Formel Bündnis für Beschäftigung (z.B. Berl. Zeitung 9.4.1996, 15; Tagesspiegel 25.4.1996, 1). Um die Rasanz der Durchsetzung des Formulierungsmusters zu zeigen, werden im folgenden die Belege wieder etwas großzügiger geboten. Mehrfach begegnet Formelkontamination mit gleichzeitig aktuellem Standort Deutschland. (1)

Lexikalische Erweiterung des Endglieds: -

(2)

Lexikalischer Austausch des Endglieds: -

(3)

Bündnis für das ganze Land (1996 Berl. Zeitung 23.2., 4) Bündnis für Ausbildung in Niedersachsen (1996 G. Schröder in: ZDF 28.2. [Hörbeleg]) ein landesweites Bündnis für Bildung und Erziehung (1996 S2, 9.3. [Hörbeleg]) Berliner Bündnis für Standortsicherung und Beschäftigung (1996 Tagesspiegel 22.3., 25) Ein Bündnis für Arbeit muß ein Bündnis für mehr Aufträge sein (1996 Berl. Zeitung 23V24.3., 9) Chirurgen fordern „Bündnis für Forschung" (1996 Tagesspiegel 3.4., 2) Behinderte und Mitglieder des „Bündnisses für ein selbstbestimmtes Leben" (1996 Berl. Zeitung 3.7., 19) Bündnis für Sachsen statt Bündnis für Arbeit (1996 Tagesspiegel 13.7., 6) Bündnis fürs Sommerloch [Kabarett des Bundestags] (1996 Mannh. Morgen 13/14.7., 2) Bloß kein Bündnis für Rezession (1996 Tagesspiegel 18.7., 5) Bündnis für Beschäftigungsförderung und Standortsicherung (1996 Mannh. Morgen 21.7., 34) Bündnis für den Standort [Überschrift] (1996 Berl. Zeitung 15.8., 32)

Lexikalische Variation bzw. lexikalischer Austausch des Erstglieds: -

(4)

Bündnis für Westarbeit (1996 Wochenpost 1.2., 24) Bündnis für Arbeit und zur Standortsicherung (1996 Journal für Deutschland Febr./März, 5) Bündnis für Arbeit und Umwelt [Mainzer Programm von Bündnis 90/Die Grünen] (1996 ARD 2.3. [Hörbeleg]) Aus Zwickels klar umrissenem „Bündnis für Arbeit" ist ein Bündnis für „Arbeit und Wachstum" (Bundesregierung), für „Arbeit und Umwelt" (Die Grünen) oder „gegen Kosten" (Unternehmerverbände Berlin-Brandenburg) geworden (1996 Berl. Zeitung 23 /24.3., 4) Die Region braucht ein Bündnis für Arbeitsplätze (1996 Tagesspiegel 27.4., Bl) Ein neues Bündnis für die Hanfarbeit (1996 Berl. Zeitung 23.5., 9)

Ein großes Koalitionsbündnis für Arbeit (1996 Wochenpost 21.3., 3) „Pakt für Arbeit" statt „Bündnis für Arbeit" [Überschrift, im Text:] Das „ Bündnis für Arbeit" ist tot, es lebe der „Pakt für Arbeit" (1996 Tagesspiegel 23.4., 12) ein Unternehmen [BASF], das noch im März einen Pakt für Arbeit geschlossen hat, nun bis Ende 1998 [...] 915 Stellen streichen will (1996 Mannh. Morgen 29.7., 5)

Lexikalische Variation von Erstglied und Endglied, der Rückbezug auf die Ausgangsformel wird unsicher: -

Solidarpakt für Standort und Beschäftigungsforderung [IG Chemie] (1996 unsere zeit 19.4., 5) Programm [der Bundesregierung] für mehr Wachstum und Beschäftigung (1996 ZDF 29.5 [Hörbeleg])

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Hartmut Schmidt -

(5)

Wir arbeiten im „Aktionsbündnisfür

eine solidarische Welt" (1996 unsere zeit 14.6., 11)

Variation der Präposition (einschließlich möglicher Varianten von Erst- und Endglied der Formel); alphabetisch nach den Präpositionen geordnet. Fügungen wie Bündnis gegen, Bündnis mit sind sprachlich unauffällig und ohne weiteres aus standardsprachlichem Gebrauch zu erklären. Aber auch diese 'normalen' Formulierungen gelangen z.T. deutlich in den Sog des 'Bündnis für Arbeit': -

Warum sollten die deutschen Flüchtlinge von damals mit den Flüchtlingen von heute nicht ein Bündnis gegen eine mitleidlose Abschiebebürokratie bilden? (1996 Zeit 17.5., 8) [Die Gewerkschaften erklären,) daß die Bundesregierung „ auf massives Drängen der Wirtschafts- und Arbeitgeberverbände"zu einem „Bündnisgegen Arbeit" beitrage (1996 Tagesspiegel 25.4., 2) ein „Bündnis gegen Arbeit" zwischen Bundesregierung und Arbeitgebern (1996 Wochenpost 23.5., 10) Komplott gegen Arbeit [DGB-Chef D. Schulte] (ARD Tagesschau 28.4. [Hörbeleg]) „Ein Bündnis gegen Kosten" soll helfen. 11. Berliner Wirtschaftstag berät über den Standort (1996 Tagesspiegel 30.3., 13). Ein „Bündnis gegen Rechtsentwicklung und Sozialabbau "forderte die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (1996 unsere zeit 22.3., 11) Bündnis gegen Sozialabbau und Ausgrenzung (1996 Tagesspiegel 18.7., 26) Lafontaine warf Bundeskanzler Kohl vor, kein Bündnis mit der ökonomischen Vernunft eingegangen zu sein (1996 Mannh. Morgen 22.3., 1) Bündnis ohne Arbeit [Überschrift] (1996 Wochenpost 15.2., 24)

(6)

Wortbildung. Das Anregungspotential der Formel Bündnis für Arbeit zeigt sich in einer Vielzahl von Wortbildungen. Auch ältere Wortbildungen können semantisch angepaßt werden, gängige Beispiele sind: Arbeitsbündnis, Arbeitsplatzbündnis, Arbeitsplatz-Pakt, Beschäftigungsbündnis, Job-Bündnis, Zukunftsbündnis: Bündnispartner, Bündnistreue usw.

(7)

Die auffällige Intensität der Bündnis-Diskussion und des daraus folgenden Formelgebrauchs wird sprachreflexiv verarbeitet: -

-

Das Wort war schon alt. Hatte zuletzt [... ] vegetiert als Bindeglied zwischen Intelligenz und Arbeiterklasse oder so ähnlich. Und dann sein Leben fast ausgehaucht: Bündnis. Jetzt ist es wieder voll da. Selbst wenn es dem 'Bündnis für Arbeit' nicht gutgeht, [... ] die Kultur zumindest hat die Zeichen der Zeit erkannt. Bündniskräfte aller Sparten, vereinigt euch (1996 Tagesspiegel 22 .3 ., 25) Jedem sein Bündnis [Überschrift] (1996 Berl. Zeitung 23 /24.3., 4) Ein Gespenst geht um im deutschen Lande: Das Bündnis für Arbeit (1996 Wohnungs-Looser Heft 4, 16) Der Fischmus-Blues oder: Bündnis für Arbeit, Arbeit, Arbeit [Parodie auf die SPD-Parteihymne] (1996 taz 21.5., 20)

5. Zusammenfassung D i e drei ausgeführten Beispielreihen zeigen im Abschnitt 4.1, w i e die Sprache der schönen Literatur auch heute höchst effektiv unsere Alltagssprache beeinflussen kann; sie lassen in 4 . 2 die Stabilität eines gruppenspezifischen Sprachgedächtnisses deutlich (z.T. erschreckend deutlich) werden, und sie b e z e u g e n in 4 . 3 die Schnelligkeit und Intensität, mit der neue Formulierungen aufgegriffen werden und zur Musterwirkung gelangen. Sie können aber keinen Eindruck v o n der enormen Vielfalt traditioneller Formulierungen und Formulierungsmuster geben. D a ß die Gliederung unserer Beispielreihen nicht einheitlich ist, liegt nicht nur an den noch fehlenden lexikographischen Techniken für die Bewältigung solcher Variationsfelder. E s liegt

Real existierende

Formelvariation

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auch daran, daß jeder neu erschlossene Phänomenbereich neue Fragen aufwirft. Relativ vernünftig scheint die erste Orientierung der Variantenübersicht am syntaktischen Rahmen einer Mehrwortformulierung zu sein. Die syntaktischen Positionen werden auch bei Variation der grammatischen Formen und der Lexeme weitgehend stabil gehalten. Allerdings mit Ausnahmen: Der Lexembestand einer Formel kann im Einzelfall sogar auf mehrere Sätze verteilt werden, ohne daß die Echowirkung in Frage gestellt wird. So z.B. kann die Formel Neue Männer

braucht das Land aufgelöst werden in: An der Spitze der FDP sind zwar neue Männer, aber braucht die das Land? (1996 RNF-Kommentar 14.3. [Hörbeleg]). Nach dem syntaktischen Rahmen und dem Lexembestand leistet in erstaunlich vielen Fällen der Formelrhythmus einen wichtigen Beitrag zur Echowirkung, also zum Rückbezug auf die Grundformel. In die gleiche Richtung wirken Morphemähnlichkeiten und Alliterationen bis hin zu erstaunlich intensiv genutzten Alliterations- und Endreimverhältnissen zwischen Grundformel und Variationen. Die angebotenen (und gegenüber dem Grundmaterial meist sehr gekürzten) Belegreihen sollen vor allem eines zeigen: die enorme Bedeutung der Technik, neue Formulierungen durch Variieren von bekannten Mustern zu erzeugen, sie dadurch - bewußt oder unbewußt - an die variierten Vorlagen zu binden und so den Gedächtnisbesitz einer Gruppe zu nutzen, zu variieren und zu befestigen. In manchen Fällen können Zweifel auftreten, ob denn hier zitierte Varianten wirklich auf das angegebene Muster zu beziehen seien. Dazu ist zweierlei zu sagen: Man mag in einigen Fällen ältere Zeugnisse finden (z.B. für die Wendungen auf der Suche sein nach ...; aus Ruinen auferstehen, die Reihen fest schließen). Nachdem sich aber die angeführten Formeln durchgesetzt haben, sind wir kaum noch in der Lage, entsprechende Formulierungen zu bilden, ohne in den Sog dieser Formeln zu geraten. Allerdings kann sich ein Formelmuster so vehement verbreiten, daß man ihm nach einiger Zeit wie selbstverständlich folgt und das Vorbild nicht mehr reflektiert. Derartige Beobachtungen haben Victor Klemperer und andere an der LTI gemacht. Es sei hier wiederholt, daß es uns nicht in erster Linie um die Identifizierung des Vorbilds geht, sondern um das Erkennen etablierter und produktiver Muster. Im Bereich literarischer Zitate wird natürlich auch die Lust am Identifizieren herausgefordert. Aber dieselben Sprachbildungsprozesse funktionieren auch mit dem viel größeren Bereich anonymer Zitate, den autorlosen 'Volksliedern' unseres Formelschatzes (variable Klischeesätze wie: [ . . . ]

ist auch nicht mehr das, was er (sie, es) mal war oder wo kämen wir denn da hin, wenn jeder [...] oder Die Zeiten, in denen man [...], sind vorbei). Formelgebrauch und variables Formelmusterpotential einer Gruppe von Sprachträgern in einer bestimmbaren Zeit gehören zu den prägenden Textcharakteristika und müssen Gegenstand der Sprachgeschichtsschreibung werden. Sprachepochen unterscheiden sich in erheblichem Maß durch ihren Vorrat an gängigen, formelhaften Wortkombinationen und in der Intensität der praktizierten Mustervariation. Zugleich sind die Formeln und ihr Anspielungspotential ein nicht zu unterschätzender Problembereich für das Erlangen ausreichender historischer oder gegenwartssprachlicher Kompetenz. In den herkömmlichen Wörterbüchern ist dieser Problembereich nur sehr eingeschränkt zu behandeln. Wir brauchen neue lexikographische Instrumente, die uns hier weiterhelfen.

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Hartmut Schmidt

6. Beleggrundlage Die meisten Belege sind der Tagespresse oder der neueren Literatur entnommen, dazu kommen Hörbelege aus Rundfunk und Fernsehen und Belege aus den maschinenlesbaren Korpora des IdS (s. al-Wadi 1994, 257ff ). Die Belegquellen sind ausreichend genau zitiert und werden hier nicht wiederholt. Steht in der Zitierformel von Zeitungstiteln keine Seitenzahl, so fehlen die entsprechenden Angaben in den IdS-Korpora.

7. Literatur al-Wadi, Doris, COSMAS. Benutzerhandbuch. o.O.u.J. (Mannheim 1994). Antos, Gerd, Grundlagen einer Theorie des Formulierens. Textherstellung in geschriebener und gesprochener Sprache. Tübingen 1982. Bürger, Harald/Annelies Buhofer/Ambros Sialm, Handbuch der Phraseologie. Berlin, New York 1982. Dobrovol'skij, Dmitrij, Linguistische Grundlagen für die computergestützte Phraseographie. In: Zeitschrift für Germanistik. 10. Jg., 1989, H. 5, S. 528-536. Dobrovol'skij, Dmitrij, Zur deutschen Phraseographie. In: Cahiers d'Etudes Germaniques Nr. 23, 1992, S. 161172. Fleischer, Wolfgang, Phraseologie der deutschen Gegenwartssprache , Leipzig 1982. Humboldt, Wilhelm von, Werke in fünf Bänden. Hrsg. von Andreas Flitner und Klaus Giel. Berlin 1960ff., Bd. 3: Berlin 1963. Moritz, Karl Philipp, Deutsche Sprachlehre für die Damen. In Briefen. Berlin 1782. Piltz, Klaus-Dieter, Phraseologie. Redensartenforschung. Stuttgart 1981. Polenz, Peter von, Deutsche Satzsemantik. Grundbegriffe des Zwischen-den-Zeilen-Lesens. 2. Auflage. Berlin, New York 1988. Rößler, Elke, Intertextualität in Zeitungstexten. Ein Rezeptionsproblem. In: Sprache im Alltag. Beobachtungen zur Sprachkultur. Hrsg. von Karl-Ernst Sommerfeldt. Frankfurt/M., Berlin, Bern 1994, S. 151-160. Schmidt, Hartmut, „Pfingsten, das liebliche Fest"-Das Volksbuch von Reineke Fuchs, Jugendlektüre Goethes? In: Goethe-Jahrbuch. 106. Bd. Weimar 1989, S. 203-210 [über formelhafte Textähnlichkeiten der ReinekeFuchs-Tradition], Schmidt, Hartmut, Sprachgeschichte zwischen Wort und Text. Über die Notwendigkeit einer historischen Wortkombinationsforschung. In: Sprachwissenschaft in der DDR - Oktober 1989. Vorträge einer Tagung des Zentralinstituts für Sprachwissenschaft am 31.10. und 1.11.1989. Berlin 1991 (=LS ZISW/A 209), S. 170-186. Schmidt, Hartmut, Libertas- und Freiheitskollokationen in Luthers Traktaten 'Von der Freiheit eines Christenmenschen' und 'De libertate christiana'. In: Arbeiten zum Frühneuhochdeutschen. Gerhard Kettmann zum 65. Geburtstag. Hrsg. von Rudolf Bentzinger und Norbert Richard Wolf. Würzburg 1993, S. 101-120. Schmidt, Hartmut, Wörter im Kontakt. Plädoyer für historische Kollokationsuntersuchungen. In: Sprachgeschichte des Neuhochdeutschen. Gegenstände, Methoden, Theorien. Hrsg. von Andreas Gardt, Klaus J. Mattheier, Oskar Reichmann. Tübingen 1995, S. 127-143. Schmidt, Hartmut, 'An mein Volk'. Sprachliche Mittel monarchischer Appelle. In: Deutsche Sprachgeschichte im 19. Jahrhundert. Hrsg. von Dieter Cherubim, Siegfried Grosse, Klaus Mattheier. Berlin 1997 (im Druck). Stein, Stephan, Formelhafte Sprache. Untersuchungen zu ihren pragmatischen und kognitiven Funktionen im gegenwärtigen Deutsch. Frankfurt/M. 1995. Wilss, Wolfram, Anspielungen. Zur Manifestation von Kreativität und Routine in der Sprachverwendung. Tübingen 1989.

Gisela Harras Idiome 1. 2. 2.1. 2.2. 3. 4.

Die Daten Idiome und Lexikographie Die Bedeutung(sangabe) von Idiomen Die syntaktische Struktur von Idiomen Das lexikographische Fazit Literatur

1. Die Daten Es wird im Folgenden um die lexikologische und lexikographische Behandlung von sog. festen Wortverbindungen, Phraseologismen, oder wie ich sie nennen will: Idiomen gehen. Ohne mich hier auf eine Diskussion über Abgrenzungsmöglichkeiten oder gar Kriterien dafür einzulassen, was Idiome von Noch- oder Nicht-Idiomen unterscheidet, gehe ich von folgenden typischen - oder nach Dobrovol'skij (1995) sogar prototypischen - Beispielen für Idiome aus: (1) (2) (3) (4) (5) (6) (7) (8) (9) (10) (11) (12) (13) (14) (15)

jemandem reinen Wein einschenken jemanden durch den Kakao ziehen jemandem einen Bären uufbinden jemanden hinters Licht führen jemandem in den Hintern/Arsch kriechen Süßholz raspeln etwas an die große Glocke hängen mit der Tür ins Haus fallen mit etwas hinter dem Berg halten aus allen Rohren schießen jemandem etwas an den Kopf werfen die Katze aus dem Sack lassen seinen Senf dazugeben jemandem Löcher in den Bauch fragen jemandem in den Ohren liegen

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Gisela Harras

Dies sind alles Idiome, die auf kommunikative Handlungen Bezug nehmen. Es ist interessant festzustellen - und ich will es hier auch nur mit dieser Feststellung bewenden lassen ohne weitere Diskussion - , dass alle diese Idiome sich entweder auf Aspekte strategischen Handelns im Habermasschen Sinn oder auf spezifische Charakteristika nicht offener Kommunikationsversuche im Griceschen Sinn beziehen. Demgemäß sind sie samt und sonders für explizit performative Formulierungen ungeeignet, vergl.: (16) * ich schenke dir hiermit reinen Wein ein (der Satz ist zwar akzeptabel, aber nicht performativ, sondern deskriptiv genauso wie z.B.: ich zitiere hiermit den berühmten Satz Hinterhubers:...) (17) *ich ziehe dich hiermit durch den Kakao (18) *ich binde dir hiermit einen Bären auf (19) *ich krieche Ihnen hiermit in den Hintern/Arsch (20) *ich falle hiermit mit der Tür ins Haus (21) *ich werde dir hiermit an den Kopf dass... (22) *ich raspele hiermit Süßholz usw.

All diese Formulierungen stellen, wie es Vanderveken einmal so schön genannt hat, Fälle „illokutionären Selbstmords" dar. Es ist natürlich auch klar, welche Tendenzausssage man aus diesem Umstand ganz intuitiv folgern könnte: Verstöße gegen kooperative Maximen des Kommunizierens vollzieht man nicht offen; man kommentiert sie allenfalls indirekt - figurativ - vermittels solcher Idiome.

2. Idiome und Lexikographie 2.1. Die Bedeutung(sangabe) von Idiomen Idiome wie die hier angeführten haben naturgemäß besonders auch (Meta)Lexikographen immer wieder beschäftigt (vgl. exemplarisch die Zusammenfassung in Dobrovol'skij, 1995), sind sie doch das Sahnehäubchen des elaborierten Umgehens mit einer Sprache, und die letzte Perfektion der Beherrschung einer Fremdsprache besteht sicher im souveränen Umgang mit Idiomen. Allerdings befremdet ein wenig das Gewicht, dem bestimmten Aspekten von Idiomen beigemessen werden: es sind besonders Fragen nach der Bedeutungserläuterung und Fragen des Zugriffs diskutiert worden. Im Zeitalter des Computers und der lexikalischen Datenbanken ist die letztere Frage allerdings obsolet geworden, so dass ich hier auf ihre Behandlung verzichten kann. Daher zur ersten Frage nach der Bedeutungserläuterung. Der Sprachpsychologe Gibbs (1995, 98) hat lakonisch bemerkt: „We may not know exactly why idioms mean what they mean, but we widerstand that idioms have brief, clear definitions."

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Idiome

Dies trifft m.E. in zwei Hinsichten zu: -

-

einmal sind Bedeutungsangaben in Form von Paraphrasen für Idioms für jeden Sprecher mühelos und schnell zugänglich - wenn er sie kennt. Ich habe mit Idiomen, die sich auf kommunikatives Handeln beziehen, eine Reihe von Tests gemacht, die dies bestätigen: die Paraphrasen kamen ohne größeres Zögern und wurden im Nachhinein kaum korrigiert, und wenn mehrere Personen zugegen waren, gab es auch keine größeren Meinungsverschiedenheiten über die Adäquatheit der Paraphrasen - ganz im Gegensatz zu naturalkind-Wörter oder Artefakt-Ausdrücke. zum andern - und in diesem Zusammenhang wichtiger - hat die Mehrheit der Idiome eine einfache Bedeutungsstruktur, d.h. es gibt so gut wie keine Fälle von Vagheit, Ambiguität oder Polysemie (selbstverständlich nur auf die figurative Lesart bezogen). Dies schließt natürlich nicht aus, dass es bei der Verwendung der Ausdrücke prototypische Effekte geben kann, was aber nicht notwendigerweise ein Indiz für Polysemie sein muß, wie Blutner (1995) gezeigt hat: Vogel ist nicht deswegen polysem, weil es mehr oder weniger prototypische Exemplare der benannten Kategorie gibt. Allerdings weisen einige Idiome ein ganz spezielles Merkmal von Prototypizität auf, auf das Cacciari & Glucksberg (1995) hingewiesen haben.

Das Idiom: (23) Eulen nach Athen tragen

z.B. benennt figurativ eine Klasse nutz- und sinnloser Aktionen, für die die wörtlich und in einem bestimmten Bildungskontext gedeutete Aktion prototypisch ist. Ob dies allerdings für größere Mengen von Idiomen zutrifft, bleibt dahingestellt. Kandidaten für eine solche Prototypizität wären aus dem Bezugsbereich des kommunikativen Handelns die folgenden: (24) (25) (26) (27) (28)

jemanden jemandem jemandem jemanden jemanden

Löcher in den Bauch fragen etwas an den Kopf werfen Honig um den Bart schmieren durch den Kakao ziehen in den Hintern/Arsch kriechen

Die Behauptung, dass Bedeutungsangaben für Idiome leicht und deren Bedeutungsstruktur einfach sei, mag auf den ersten Blick kontraintuitiv erscheinen. Um sie zu plausibilisieren, möchte ich einen kleinen Ausflug in das domige Terrain der kognitiven Psychologie wagen. Als Ergebnis dieser Forschungsrichtung scheint bezüglich der semantischen Verarbeitung von Idiomen Folgendes festzustehen: Diejenigen Idiome, die überhaupt nicht kompositional sind, d.h. deren figurative Bedeutung aus keinem ihrer Bestandteile erschlossen werden kann, werden langsamer verarbeitet als kompositional erschließbare. Als Beispiel dient hier für das Englische das Idiom kick the bücket für 'sterben'. Über die Frage, welche Idiome kompositional sind und welche nur teilweise oder gar nicht, bestehen allerdings Meinungsverschiedenheiten. Gibbs & O'Brien (1990) versuchen, durch verschiedene Experimente zu zeigen, dass eine große Menge englischer Idiome wie spill the beans, let the cat out of the bag (beides für: 'ein Geheimnis verraten') oder blow your Stack, flip your lid, hit the ceiling (alle für: 'wütend werden') in einer bestimmten Weise analysierbar und ihre figurativen Bedeutungen anhand mindestens einiger Bestandteile der Idiome vorhersagbar sind. Das Paradebeispiel ist spill the beans - oder das deutsche die Katze aus dem

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Gisela

Harras

Sack lassen dessen figurative Bedeutung bei Sprechern durch deren konzeptuelles Wissen motiviert wird, das durch Metaphern strukturiert ist. Sprecher verstehen einen Satz wie: (29) John spilled the beans (30) Herbert ließ die Katze aus dem Sack

als 'John/Herbert enthüllte ein Geheimnis', weil sie über konzeptuelle Metaphern verfugen wie: -

DER GEIST IST EIN CONTAINER INFORMATIONEN SIND PHYSISCHE ENTITÄTEN

Solche Metaphern strukturieren die Sprecher-Konzepte von GEIST, GEHEIMNIS und ENTHÜLLUNG: Gibbs & O'Brien haben die Wirkungskraft solcher Bilder bei der semantischen Verarbeitung von Idiomen anhand verschiedener Experimente zu validieren versucht: Z.B. wurde Versuchspersonen zunächst die Aufgabe gestellt, sich eine Vorstellung - ein mentales Bild - von spill the beans zu machen und dann eine Reihe von Fragen wie die folgenden zu beantworten (ich übertrage die Art der Fragen zu Demonstrationszwecken auf das deutsche Idiom die Katze aus dem Sack lassen): (i) (ii) (iii) (iv) (v) usw.

Wo ist die Katze, wenn sie aus dem Sack ist? Wie groß ist der Sack? Was veranlaßt die Katze, aus dem Sack zu kommen? Wenn die Katze aus dem Sack raus ist, ist sie dann auf der Matte? (wo sich linguistische Katzen ja bekanntlich geme rumtreiben!) Wenn die Katze aus dem Sack ist, kann man sie da wieder rein tun?

Gibbs & O'Brien zufolge konnten alle Personen diese Fragen mühelos beantworten, und ihre Antworten wiesen einen hohen Grad an Übereinstimmung und Konsistenz auf. Wenn aber so die Argumentation der Autoren - das implizite Sprecherwissen über Idiome nicht durch bestimmte konzeptuelle Metaphern strukturiert wäre, dann könnte man sich die Übereinstimmung und Konsistenz der Antworten nicht erklären. Zu einem ganz anderen Ergebnis kommen Cacciari & Glucksberg (1995), die ähnliche Experimente bei italienischen Sprechern gemacht haben. Sie fragten zunächst ebenfalls nach Beschreibungen mentaler Bilder fiir Ausdrücke, die sowohl eine wörtliche, kompositional erschließbare, als auch eine figurative Bedeutung haben können, wie z.B. das italienische rompere il ghiaccio ('das Eis brechen') und ließen anschließend diese Beschreibungen durch andere Versuchspersonen beurteilen, ob sie sich auf die wörtliche oder auf die figurative Bedeutung des Ausdrucks beziehen. Es stellte sich heraus, dass 78% der Bilder die konkrete wörtliche Bedeutung reflektiert: Z.B. wurde für rompere il ghiaccio angegeben: 'ein Eskimo im Pelzmantel mit Hammer und Meißel, der das Eis zerbricht, das ihn ganz umgibt' oder: 'das Eis zerhacken, das im Tiefkühlfach ist, weil es heiß ist und man Kühlung haben will'. Beide Beschreibungen wurden von den Versuchspersonen auf die wörtliche Bedeutung bezogen. Auf die figurative Bedeutung wurden dagegen die beiden folgenden Beschreibungen bezogen: 'ein großes Stück Eis und Leute versuchen, es zu zerhacken, um sich zu amüsieren' sowie: 'ein großes Stück Eis und Leute von zwei Seiten mit Meißeln, wie die Berliner Mauer':

Idiome

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Die Beschreibungsbeispiele aus diesem Experiment zeigen nun, dass die figurative Bedeutung von Idioms durch die gleiche Art von imaginalen Vorstellungen singulärer Ereignisse repräsentiert wird wie die nicht-figurative, wörtliche Bedeutung. Und die Frage der Autoren, wie es dann dazu komme, dass ein konkretes Bild des Zerhackens eines Eisblocks für ein abstraktes Konzept - eine Situation weniger steif und förmlich zu machen - stehen kann ohne explizite soziale Konventionen, ist mehr als berechtigt. Als abschließendes Fazit gilt: Konkrete imaginale Vorstellungen sind weitaus besser zu verarbeiten als abstrakte Konzepte, und die wörtliche Bedeutung eines Ausdrucks wird leichter produziert als seine abstrakte figurative. Wir kehren von unserem kurzen Streifzug durch die kognitive Psychologie zurück zur Frage: wie kann die Behauptung, dass Bedeutungsangaben für Idiome leicht und ihre Bedeutungsstruktur einfach sei, trotz allem gegenteiligen Anschein plausibel sein? Ich meine, die Einsicht der kognitiven Psychologen, dass Idiome schwerer verarbeitbar sind als kompositional erschließbare Ausdrücke, kann uns argumentativ schon weiterhelfen, egal ob die komplexe Verarbeitung über konkrete imaginale Vorstellungen oder über abstrakte konzeptuelle Metaphern läuft. Wenn der kognitive Aufwand beim Produzieren und Verstehen von Idiomen größer ist als bei anderen wörtlich interpretierbaren Ausdrücken, dann erscheint es ganz plausibel, dass Idiome nicht noch einen zusätzlichen Interpretationsaufwand verlangen wie Selegierung bestimmter Lesarten, denn dies könnte den Arbeitsspeicher überlasten. In diesem Zusammenhang ist sicher auch die Tatsache zu sehen, dass Idiome diachron unveränderlich sind: einmal aufgekommen bleiben sie semantisch rigide; sie können allenfalls aus dem Sprachgebrauch verschwinden, bestenfalls auf dem Friedhof der Archaismen landen.

2.2. Die syntaktische Struktur von Idiomen Ich habe weiter oben davon gesprochen, dass die Gewichtung der Richtung des Interesses an Idiomen deutlich auf der semantischen Seite liegt; zumindest trifft dies für die praktische Lexikographie in einem erheblichen Maß zu. Dem syntaktisch/morphologischen Aspekt von Idiomen werden im Vorwort des Duden-Wörterbuchs „Redewendungen und Redensarten" nur einige kurze Bemerkungen gewidmet. Am Beispiel der (festen) Wendung mit Mann und Maus untergehen werden syntaktisch-morphologische Beschränkungen demonstriert: -

die Unmöglichkeit der Attribuierung: *mit Mann und kleiner Maus untergehen die Unmöglichkeit der Diskontinuität von Komponenten: *mit Mann und vielleicht auch mit Maus untergehen die Unmöglichkeit der Permutation: *mit Männern und Mäusen untergehen

Es wird dann aber darauf aufmerksam gemacht, dass die genannten Operationen bei festen Wendungen „keineswegs grundsätzlich alle unzulässig sind: Attribuierung ist zum Beispiel möglich bei Wert auf etwas legen (großen Wert auf etwas legen) oder die Kehrseite der Medaille (die traurige Kehrseite der Medaille). Diskontinuität und Permutation sind vor allem bei verbalen Wendungen in weitem Maße zulässig, etwa bei Kohldampf schieben (wir schieben seit Tagen Kohldampf). Auch morphologische Veränderbarkeit, z.B. bei blinder Passagier (die blinden Passagiere) ist vielfach nicht ausgeschlossen." (Einleitung, S. 2.) Allerdings

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Gisela Harras

werden die Beschränkungen der Zulässigkeit solcher Operationen bei den einzelnen Stichwörtern nicht weiter erwähnt. Eine naheliegende Reaktion auf diesen Einwand könnte nun in folgendem Argument bestehen: Idiome haben den Status von lexikalischen Einheiten und sind als solche im Lexikon gespeichert. Für ihre Einsetzung in entsprechende syntaktische Strukturen sind sie als ganze lizenziert. Dies ist nun für Ausdrücke wie engl, kick the bücket und dt. die Katze aus dem Sack lassen oder die Platte putzen ('unauffällig verschwinden') korrekt: In solchen Ausdrücke sind - unter der Geltung ihrer figurativen Bedeutung - die syntaktischen Strukturen, die für die Ausdrücke in ihrer nicht-figurativen, wörtlichen, Bedeutung bestehen, sozusagen eingefroren. Weder das Verb kick noch die Verben lassen bzw. putzen weisen den nominalen Bestandteilen the bücket, die Katze, die Platte bzw. der Präpositionalphrase aus dem Sack eine Argumentrolle zu; die einzige Argumentrolle, die die beiden Ausdrücke zuweisen, ist die des externen Arguments, des Subjekts. Deshalb ist auch zurecht der Vorschlag gemacht worden (vgl. z.B. Abeille, 1995; van Gestel, 1995; Jackendoff, 1995), solche Ausdrücke nicht als komplexe syntaktische Kategorie VP, sondern als V zu behandeln, so dass sich der syntaktische Unterschied zwischen der Struktur für die nicht-figurative Bedeutung und der Struktur für die figurative Bedeutung von die Platte putzen folgendermaßen repräsentieren läßt: (a)

syntaktische Struktur für die Platte putzen in nicht figurativer Bedeutung:

V' VO Sp NO die

Platte - Figur 1 -

(b)

syntaktische Struktur für die Platte putzen in figurativer Bedeutung:

V' VO

die Platte putzen - Figur 2 -

putzen

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Idiome

Die unterschiedliche Darstellung der syntaktischen Strukur von die Platte putzen in der nichtfigurativen und in der figurativen Lesart scheint nun auch dem Umstand Rechnung zu tragen, dass - wie häufig behauptet wird - Idiome nicht dekomponierbar sind und daher keine syntaktischen Operationen zulassen im Unterschied zu den nicht-figurativen Lesarten der Ausdrücke: die Platte putzen in der nicht-figurativen Lesart läßt Expansionen des nominalen Bestandteils, Passivierung und Topikalisierung zu, vgl.: (31) Anton putzt die schöne, neue Platte/die Platte, die wir neulich gekauft (32) Die Platte wird von Anton geputzt (33) Die Platte, die wir neulich gekauft haben, putzt Anton

haben

Es ist klar, dass die Sätze (1) bis (3) ausschließlich nicht-figurativ interpretiert werden können. Infofem brauchten wir uns um dieses Phänomen gar nicht näher zu kümmern und könnten die Korrektur der syntaktischen Strukur (a) getrost den Syntaktikem überlassen, wenn es nicht auch die folgenden Beobachtungen gäbe: (34) Die Regierung hat uns mit ihren Versprechungen

einen Bären

aufgebunden

ist klar figurativ zu interpretieren ebenso wie die folgenden Sätze (5) bis (7): (35) Die Regierung hat uns mit ihren Versprechungen einen riesengroßen Bären aufgebunden (36) Uns ist mit den Versprechungen der Regierung ein riesengroßer Bär aufgebunden worden (37) Der Bär, den uns die Regierung mit ihren Versprechungen aufgebunden hat, war eine Unverschämtheit

Das Gleiche gilt für die folgenden Sätze: (38) (39) (40) (41) (42) (43)

Anton raspelt starkes Süßholz Das war arges Süßholz, das Anton da raspelte Das war eine Menge Honig, die er mir um den Bart geschmiert hat Den Wählern wurde von den Parteien nur Honig um den Bart geschmiert Von unserem Vorsitzenden wurde wieder einmal ein Riesenbock geschossen Der neuerliche Bock, den unser Vorsitzender geschossen hat, war ein starkes

Stück

Wir können also zunächst das folgende Fazit aus unseren Überlegungen ziehen: es gibt bei Idiomen unterschiedliche Grade syntaktischen Frostes oder etwas emsthafter ausgedrückt: es gibt unterschiedliche syntaktische Ebenen, auf denen die syntaktischen Variationsmöglichkeiten eingeschränkt sind. Erklärungen dieses Phänomens haben vor allem Newmeyer (1974) und Nunberg (1978) versucht. Die Passivierungsfähigkeit von Idiomen erklärt Newmeyer so: das syntaktische Verhalten der Idiome läßt sich aufgrund ihrer Bedeutung vorhersagen: Idiome wie engl, kick the bücket, sit on pins and needles, shoot the bull, make the scene können kein Passiv haben, weil ihre nicht-idiomatischen Äquivalente die, wait, talk und arrive intransitiv sind. Nunberg (1978) hält dem zwei Beispiele von passivierbaren Idiomen gegenüber, deren nichtidiomatische Äquivalente ebenfalls intransitiv sind: give up the ghost für die und throw the sponge für resign und kommt zum folgenden Schluss: Wenn das syntaktische Verhalten von Idiomen weder durch ihre Form noch durch ihre Bedeutung allein vorhersagbar ist, dann muss der Grund in der Beziehung zwischen beiden liegen. Man kann sich nun nicht auf die Bezie-

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Gisela Harras

hung berufen, wenn man Idiome durch eine einfache semantische Repräsentation darstellt, die nicht auf die Bedeutung der Teile der Idiome Bezug nimmt. Deswegen muss man Idiome als teilweise dekomponierbar, mithin analysierbar, ansehen. Die allgemeine Struktur von Idiomen, die Verbcharakter haben, sieht Nunberg in einer Relation: die VP referiert auf Zustände und Aktivitäten. Transitive VPs referieren normalerweise auf Zustände und Aktivitäten, die als offene Relationen der folgenden Art aufzufassen sind: R(x,b), wobei R für die Relation, das Verb steht x für den Referenten der NP des Satzsubjekts b für den Referenten der NP des Objekts

Kriterium für die Passivierbarkeit (und andere syntaktische Transformationen) ist die Referenzfahigkeit der Objekt-NP: in dem Idiom break the ice wird laut Nunberg die NP the ice eindeutig als Referenz auf eine bestimmte Art des sozialen Klimas verwendet: „We can passivize it when it is appropriate to focus on that mood." (Nunberg, 1978, 222.) In den Idiomen spill the beans und paint a pretty picture nimmt das Verb Bezug auf eine Art der (Informations-)Vermittlung und das Objekt auf das Material, das übermittelt wird. Dieses kann in einer passivischen Formulierung fokussiert werden, wobei Nunberg einräumt: „Though the rationale for using beans is obscure, and we arrive at its referent, presumably, by substraction."(Nunberg, 1978, 223.) Generalisierbar ist nun das Nunbergsche Kriterium der Referentialität der Objekt-NP leider nicht: nehmen wir das deutsche die Katze auf dem Sack lassen - hier könnten wir in Analogie zur Analyse des englischen spill the beans die Katze als die Objekt-NP interpretieren, die auf das übermittelte Material referiert. Aber der deutsche Ausdruck ist nicht passivierbar, ohne dass er seine figurative Bedeutung zu verlieren droht, vgl.: (44) 'Die Katze wird von dem Finanzminister heute aus dem Sack gelassen

Solange wir über die Beziehung zwischen der figurativen (Gesamt-)Bedeutung und dem syntaktischen Verhalten von Idiomen kaum etwas Näheres wissen, kann man eigentlich nur die folgende Strategie verfolgen; (1) die figurative Bedeutung der Ausdrücke auflisten, (2) das syntaktische Verhalten der Ausdrücke analysieren und darstellen und (3) beides aufeinander projizieren. Zur Darstellung des syntaktischen Verhaltens von Idiomen hat van Gestel (1995) im Rahmen einer Version der X-bar-Syntax (auf die ich hier aus Platzgründen nicht näher eingehen kann) einen Vorschlag gemacht, der darauf hinausläuft, Idiome, deren syntaktische Strukur invariabel, d.h. total eingefroren ist, als en-bloc-Einsetzungen eines festen Teilstrukturbaums zu behandeln, dessen syntaktische Struktur und dessen lexikalische Einheiten vollständig spezifiziert sind. Für das Idiom die Katze aus dem Sack lassen ergibt sich die folgende Repräsentation:

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Idiome

Sack

lassen

In diesem Teilbaum ist festgelegt, dass keines der nominalen Elemente expandiert oder sonst irgendwie variiert werden kann. Idiome wie einen Bock schießen, in dem das Verb nur den Kopf des Komplements selegiert, werden dagegen als en-bloc-Einsetzungen eines Verbs V' mit dem Kopf schießen und der Ettikettierung des nominalen Elements N 2 , das seinerseits durch ein Subskript auf syntaktische Eigenschaften des Lexikoneintrags von Bock verweist, vgl.:

Bockj

schießen • Figur 4 -

3. Das lexikographische Fazit Die angestellten syntaktischen Überlegungen mögen nun die praktischen Lexikographen nicht sonderlich an- oder aufregen. Ich würde mir jedoch besonders für Ausländer, die perfekt Deutsch lernen wollen, mehr Phraseologie-Wörterbücher wünschen, in denen die syntaktischen Beschränkungen für Bestandteile von Idiomen genauer angeführt werden als in den derzeit verfugbaren. Ein solches Wörterbuch zu machen, würde dann allerdings ein gewaltiges Stück Arbeit in praktischer Lexikologie im Sinn von Geeraerts (vgl. in diesem Band) voraussetzen. Die Arbeit müßte in den folgenden Arbeitsschritten bestehen:

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(1)

Anfertigung eines geeigneten Korpus, das auch mündliche Kommunikation enthält, in der Idiome offenbar sehr viel häufiger vorkommen als im Geschriebenen; zumindesten ist dies meine Hypothese nach der Durchsicht der IDS-Korpora geschriebener Sprache; Festlegung eines geeigneten Formats zur Darstellung der syntaktischen Strukturen von Idiomen; Aufstellung der syntaktischen Varianten der einzelnen Idiome; Reanalyse der semantischen Struktur der Idiome.

(2) (3) (4)

4. Literatur Abeille, Anne (1995): The Flexibility of French Idioms. A Representation with Lexicalized Tree Adjoining Grammar. In: Everaert, Martin et. al. (Eds.), 15-42. Cacciari, Cristina & Sam Glucksberg (1995): Imagining Idiomatic Expressions: Literal or Figurative Meanings? In: Everaert, Martin et al. (Eds.), 43-56. Dobrowol'skij, Dimitrij (1995): Kognitive Aspekte der Idiom-Semantik. Studien zum Thesaurus deutscher Idiome. Tübingen: Narr. DUDEN: Redewendungen und sprichwörtliche Redensarten. Idiomatisches Wörterbuch der deutschen Sprache. PC-Bibliothek. Mannheim/Leipzig/Wien/Zürich: Dudenverlag. Everaert, Martin/Erik-Jan van der Linden/Andre Schenk & Rob Schreuder (Eds.) (1995): Idioms: Structural and Psychological Perspectives. Hillsdale, N.J.: Erlbaum, van Gestel, Frank (1995): En Bloc Insertion. In: Everaert, Martin et al. (Eds.), 75-96. Gibbs, Raymond W. & James O'Brien (1990): Idioms and Mental Imagery: The Metaphorical Motivation for Idiomatic Meaning. In: Cognition 36, 35-68. Gibbs, Raymond W. (1995): Idiomaticity and Human Cognition. In: Everaert, Martin et al. (Eds.), 97-116. Jackendoff, Ray (1995): The Boundaries of the Lexicon. In: Everaert, Martin et al. (Eds.), 133-166 Nunberg, Geoffrey (1978): The Pragmatics of Reference. Ann Arbor: University Microfilms International. Newmeyer, Frederick J. (1974): The Regularity of Idiom Behavior. In: Lingua 34, 327-342.

Dieter Herberg

Neologismen im allgemeinen Wörterbuch oder Neologismenwörterbuch? Zur Lexikographie von Neologismen 1. 2. 3. 4. 5. 6. 6.1. 6.2.

Vorbemerkungen Neologismen als markierte Teilmenge des Allgemeinwortschatzes Neologismen im allgemeinen Wörterbuch Neologismen im genuinen Neologismenwörterbuch Fazit Literatur Wörterbücher Sonstige Literatur

1. Vorbemerkungen Es gibt einen erfreulichen aktuellen und einen wenig erfreulichen tiefer liegenden Beweggrund, die mich veranlaßt haben, das Problem der lexikographischen Behandlung von Neologismen nicht nur vor wenigen Wochen auf dem Eighth International Symposium on Lexicography in Kopenhagen erneut aufzugreifen (vgl. Herberg 1997), sondern auch zum Gegenstand meines Beitrages für das Geburtstags-Symposium zu Ehren von Herbert Emst Wiegand zu machen. Der erfreuliche aktuelle Anlaß ist die soeben aufgenommene Arbeit am ersten größeren deutschen Neologismenwörterbuch im Institut für deutsche Sprache (IDS) in Mannheim. Der wenig erfreuliche tiefere Grund ist die noch immer unterentwickelte und defizitäre Lexikographie von Neologismen des Deutschen: sei es deren unzulängliche Behandlung in allgemeinen einsprachigen Wörterbüchern, sei es das bis jetzt zu beklagende Fehlen anspruchsvoller genuiner Neologismenwörterbücher. Auf der Basis von seit Ende der 80er Jahre angestellten eigenen Überlegungen (Herberg 1988a, 1988b, 1988c, 1991; vgl. auch Helleru.a. 1988) sowie neuerer Arbeiten zum Thema (vor allem Kinne 1996) möchte ich im folgenden drei Punkte problematisieren: Neologismen als markierte Teilmenge des Allgemeinwortschatzes (2), Neologismen im allgemeinen einsprachigen Wörterbuch (3) und Neologismen im genuinen Neologismenwörterbuch (4).

2. Neologismen als markierte Teilmenge des Allgemeinwortschatzes Wenn im folgenden kurz von „Allgemeinwortschatz" gesprochen wird, so verstehen wir darunter den allgemeinsprachlichen Wortschatz der deutschen Standardsprache, der uns im gegebenen Zusammenhang ausschließlich interessiert. Innerhalb des so bestimmten lexikalischen Systems sind unter verschiedenen Aspekten „Zonen einerseits der Normalität, des unauffälligen

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Durchschnitts und andererseits der auffälligen Abweichung von der Normalität" (Hausmann 1989: 649) auszumachen. „Solche Auffälligkeit ergibt sich durch ein gegenüber der Normalität zusätzliches Merkmal, das der sprachlichen Einheit wie ein Etikett anhaftet. Wir sagen, die sprachliche Einheit ist markiert. Dem Durchschnittsphänomen fehlt dieses Merkmal, es ist unmarkiert" (a.a.O.). In bezug auf die Markierungsdimension „Zeit", die allgemein als „diachronische" Markierungsdimension bezeichnet wird (vgl. Herberg 1988b, Hausmann 1989), heißt das: Relativ zu einem betrachteten Zeitraum - z.B. die „letzten dreißig Jahre", wie im 1984 erschienenen HDG (VIII) - stehen der großen Menge der unter diachronischem Gesichtspunkt „unauffälligen" und also das unmarkierte Zentrum bildenden sprachlichen Einheiten die Einheiten der diachronisch markierten Peripherie, die die Pole „alt" und „neu" einschließt, gegenüber. Als „alt" sind die Phänomene markiert, die im Erfassungszeitraum dem System zwar noch angehören, aber nicht mehr ohne Einschränkung von allen verwendet werden können. Als „neu" sind solche Phänomene markiert, die dem System am Beginn des Erfassungszeitraumes noch nicht angehört haben, an seinem Ende jedoch - mehr oder weniger - allgemein akzeptierte Bestandteile des Systems geworden sind. Auf die Schlußfolgerungen, die aus dieser diachronischen Markiertheit für die lexikographische Arbeit mit sogenannten „Markierungsprädikaten" oder „Markern" bei der Beschreibung des Allgemeinwortschatzes zu ziehen sind, komme ich im Punkt 3 zurück. An dieser Stelle kommt es mir darauf an herauszustellen, daß die unter diachronischem Aspekt markierten sprachlichen Einheiten - im hier interessierenden Zusammenhang die als „neu" markierten Lexeme und Sememe, die wir zusammenfassend „Neologismen" nennen eine empirisch feststellbare Teilmenge des Allgemeinwortschatzes relativ zu einem jeweils zu definierenden Erfassungszeitraum bilden. Es liegt in der Natur der Sache, daß in bezug auf etwas, das neu ist, besonders großer Informationsbedarf besteht. Das gilt für sprachliche Innovationen ebenso wie etwa für technisch oder politisch Neues. So treten z.B. in bezug auf die jeweils alleijüngsten Neologismen häufig Normunsicherheiten hinsichtlich der Semantik, der Morphologie, des Gebrauchs, der Schreibung, der Aussprache usw. auf. Information darüber tut also not. Dabei geht es nicht nur allgemein darum, die aktive und die passive Sprachkompetenz der Angehörigen der Kommunikationsgemeinschaft zu erweitern und zu stärken; für zahlreiche Berufs- und andere soziale Gruppen sind möglichst genaue Kenntnisse über Inhalt, Form und Gebrauchsweise neuer Lexik eine dringliche Notwendigkeit, denkt man z.B. an Journalisten, Übersetzer, Dolmetscher, Sprachlehrer, -schüler und -Studenten, Lexikographen u.ä. Es ist daher nicht erstaunlich, daß sprachliche Innovationen immer wieder Gegenstand vielfältiger Betrachtung und Darstellung waren und sind, wobei solche Publikationsformen, die für aktuelle und relativ schnelle Direktauskünfte geeignet sind wie Miszellen, Glossen, Kolumnen, Beispielsammlungen u.ä. in Zeitungen und Zeitschriften auf besonderes Interesse stoßen. Welche Rolle kommt gegenüber der Fülle solcher und anderer praxisorientierter Einzelveröffentlichungen den umfangreichen Darstellungen des Allgemeinwortschatzes - also vor allem dem umfassenden allgemeinen Wörterbuch und dem genuinen Neologismenwörterbuch für die Beschreibung und Vermittlung von Neologismen zu?

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3. Neologismen im allgemeinen Wörterbuch Neologismen - verstanden als im Verlauf des jeweiligen Erfassungszeitraumes eines gegebenen Wörterbuches neu hinzugekommene Systembestandteile - sind in allgemeinen einsprachigen Wörterbüchern neben der Masse der das diachronisch unmarkierte Zentrum bildenden Einheiten ebenso enthalten wie relativ zum Erfassungszeitraum als „alt" markierte Systembestandteile. Ja, mit kaum einer anderen Teilmenge des in den allgemeinen Wörterbüchern enthaltenen Wortbestandes wird von den jeweiligen Verlagen und Herausgebern so auffällig für den Kauf einer Neuerscheinung oder Neubearbeitung geworben wie mit den angeblich darin zu findenen Hunderten oder Tausenden von neuen Wörtern und Bedeutungen. So wird im Vorwort der achtbändigen Neubearbeitung des Duden-2GW darauf hingewiesen, daß es sich bei den Neuaufnahmen, die zur beträchtlichen Erweiterung gegenüber der ersten Auflage in sechs Bänden (Duden-GW) gefuhrt haben, großenteils „um Wörter und Verwendungsweisen" handelt, „die erst in jüngster Zeit aufgekommen sind" (Bd. 1, 1993: 6). Und im Vorwort zu LGWDaF erklären Herausgeber und Verlag: „Größter Wert wurde auf neuere Wörter und Begriffe gelegt, wie die folgenden Beispiele zeigen: abgasreduziert, Ampelkoalition, Autonome, Besserwessi, Be-

tonkopf, Boxershorts, Dienstleistungsabend, formatieren, frau, IM, Nachfüllpack, Ozonkiller, Strichcode, Tschechische Republik"(\993 V). So anerkennenswert diese Einstellung ist, so bedauerlich ist es, daß diese und alle anderen diachronisch als „neu" markierten Einheiten im Wörterbuch selbst als solche kaum auffind- oder nachweisbar sind, weil die Teilmenge der Neologismen innerhalb des erfaßten Gesamtwortbestandes nicht gekennzeichnet ist. Es ist also, um es zu verallgemeinern, die Merkwürdigkeit zu konstatieren, daß man sich des öffentlichen Interesses an Neologismen durchaus bewußt ist und ihre Werbeträchtigkeit kräftig nutzt, der Aufgabe ihrer differenzierten und systematischen lexikographischen Behandlung aber ausweicht und so gleichsam ein Spiel mit verdeckten Karten betreibt. Damit bin ich beim Problem der Verwendung diachronischer Markierungsprädikate im allgemeinen Wörterbuch. Zu der entsprechenden Praxis in Wörterbüchern des Deutschen und einiger anderer Sprachen habe ich mich 1988 (Herberg 1988b) ausfuhrlich geäußert. An die damals vorgetragene Auffassung, die ich nach wie vor vertrete, soll thesenhaft erinnert werden: -

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Im Netz diasystematischer Markierungen von Lexemen und Sememen in allgemeinen Wörterbüchern wird die Markierungsdimension „Zeit" fast durchweg in irgendeiner Weise berücksichtigt. Zumeist erfolgt die Markierung durch die Verwendung von 1-n diachronischen Markierungsprädikaten. Diachronische Markierungsprädikate haben primär die Aufgabe, den im Wörterbuch erfaßten Wortschatz unter dem Aspekt seines zeitlichen Wandels zu klassifizieren. Sekundär vermitteln diachronische Markierungsprädikate dem Benutzer Hinweise auf bestimmte Gebrauchsbedingungen (Restriktionen, Präferenzen) sowie auf Vorkommenshäufigkeiten. Die diachronischen Markierungssysteme der Mehrzahl der deutschsprachigen und vieler anderssprachiger Wörterbücher sind relativ zu ihrem primären (und damit auch zu ihrem sekundären) Zweck defektiv und haben dann nicht den Status einer Markierungsdimension sui generis. Der Defekt in den Markierungssystemen liegt auf der Seite des „Neuen", wohingegen das „Alte(rnde)" ziemlich regelmäßig durch Prädikate wie veraltend und/ oder veraltet markiert wird. Um einerseits den diachronischen Aspekt in der synchronischen Wortschatzdarstellung so weit wie möglich als Prozeß hervortreten zu lassen, andererseits aber die Möglichkeiten eines allgemeinen Wörterbuches nicht zu überfordern, hatte ich eine diachronische Skala mit vier Stufen und drei Markierungsprädikaten relativ zum Erfassungszeitraum des gegebenen Wörterbuches vorgeschlagen: veraltet - veraltend - [merkmalloses Zentrum mit Nullmarkierung] - neu.

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Das in diesem Zusammenhang immer wieder rühmlich hervorgehobene Unternehmen ist das 1964 bis 1977 in sechs Bänden erschienene Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache (WDG) der Akademie der Wissenschaften in Berlin. In ihm wurde in Anlehnung an ein frühes Vorbild deutscher Lexikographie - Joachim Heinrich Campes Wörterbuch der deutschen Sprache (1807-1811) aber auch an jüngere Vorbilder aus der sowjetrussischen Lexikographie (vgl. Wolski (Hg.) 1982: 3f.) auch der Pol des „Neuen", also die Neologie, als wichtiger Gesichtspunkt nicht nur bei der Aufnahme, sondern auch bei der Darstellung des Wortschatzes berücksichtigt, was in der Verwendung der differenzierenden Markierungsprädikate Neuwort, Neuprägung, Neubedeutung und auch Modewort seinen Niederschlag fand. Doch ebenso wie seinerzeit Campes Wörterbuch hat auch das WDG in bezug auf die Praxis der Neologismenkennzeichnung unter den deutschen Wörterbuchunternehmungen leider keine Nachfolger gefunden. So heißt es in der Einleitung von Duden-2GW (1. Bd., 1993) - wie schon seinerzeit in den Einleitungen von Duden-GW und 2DUW - bei der Erläuterung der sogenannten „zeitlichen Zuordnungen" nach den Hinweisen zu den verwendeten Markierungsprädikaten veraltend, veraltet sowie früher, hist. (= historisch) und ns. (= nationalsozialistisch): „Neuwörter und Neubedeutungen sowie Modewörter sind nicht besonders gekennzeichnet" (a.a.O.: 20). Diese Äußerung verrät, daß den Duden-Lexikographen die Benutzererwartung nach „besonderer Kennzeichnung" von Neologismen durchaus nicht abwegig erscheint, daß sie sie in ihrem Wörterbuch aber nicht erfüllen. Einen plausiblen oder womöglich wissenschaftlich stichhaltigen Grund für diese Enthaltsamkeit hat mir bisher niemand nennen können. Am wenigsten überzeugend wäre die vorstellbare kommerzielle Absicht, die Nachprüfbarkeit dessen zu erschweren, womit man von Neuauflage zu Neuauflage Kasse zu machen gedenkt. Auch das Plädoyer für den Verzicht auf die Markierung von Neologismen im Unterschied zu der der sogenannten „Paläologismen", wie es Schmidt (1989) vorträgt, überzeugt nicht, da es die diachronische Markierungsdimension ausschließlich unter dem Verwendungsaspekt betrachtet. Danach wird die Kennzeichnung der Paläologismen unter dem Gesichtspunkt erforderlich, „daß das Wörterbuch ... vor dem Gebrauch der nicht mehr der Verwendungsnorm entsprechenden Lexeme warnen sollte" (a. a. 0.: 659f), während „keine Notwendigkeit [besteht] für die Markierung von Lexemen, die zwar (noch) als vom überlieferten Wortgut abgehoben erlebt, aber von den Sprachteilhabern schon akzeptiert und aktiv verwendet werden" (a. a. O.: 660). Das führt Schmidt zu der Empfehlung: „Neologismen bleiben besser unmarkiert, wenn es keinen Grund gibt, mit ihnen auf Besonderheiten der Sprachentwicklung hinzuweisen" (a. a. O.: 661). Ebendiesen Grund sehe ich im Gegensatz zu Schmidt im allgemeinen Wörterbuch prinzipiell gegeben und plädiere dafür, die Markierungsdimension „Zeit" als eigenständige und eigenwertige Dimension zu akzeptieren. Mit den entsprechenden Markierungsprädikaten - in ganzer Bandbreite und nicht einseitig genutzt - können unseres Erachtens dem Wörterbuchbenutzer (gleich, ob er ein sprachliche Suchfragen stellender, ein sprachwissenschaftlich motivierter oder ein fremdsprachenlernender Benutzer ist) wesentliche Erkenntnisse und Einsichten vermittelt werden in die komplexe Struktur des Gegenwartswortschatzes, die er so nirgends sonst gewinnen kann. Wenn, wie Kühn/ Püschel (1982: 132) wohl zu Recht meinen, „Nutzen und Wert solcher Wörterbücher ... im Bereich der exhaustiven Wortschatzdokumentation und spezialisierten Wortschatzexplikation" liegen, so ist dem auch durch möglichst konsequente Verwendung diasystematischer Markierungen Rechnung zu tragen. In bezug auf die diachronische Markierungsdimension kann das aber nur heißen, daß die Kennzeichnung von Mobilität und

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Dynamik im Gegenwartswortschatz die Pole Vergehen und Werden, Ausscheiden und Aufkommen, Abgang und Zugang umgreifen muß und nicht aus pragmatischen Erwägungen heraus auf einen von ihnen verzichten kann. Nur so kann dem Lexikographen der Versuch gelingen, die in der Synchronie steckende Diachronie von seinem historischen Standort aus einzufangen. Daß die Forderung nach Markierung auch der Neologismen im Rahmen der diachronischen Markierungsdimension für Wörterbücher solcher Sprachen wie das Deutsche, für die kein genuines Neologismenwörterbuch existiert, eine zusätzliche Dringlichkeit erhält, versteht sich von selbst.

4. Neologismen im genuinen Neologismenwörterbuch Neben dem Weg der Integration von Neologismen in allgemeine Wörterbücher (mit oder ohne entsprechende Markierungsprädikate) wird in der internationalen Lexikographie ein zweiter Weg der Neologismendarstellung mit Erfolg beschritten: der der Erarbeitung von genuinen Neologismenwörterbüchern. Dabei handelt es sich um den rationellsten Weg zur Erfassung und Beschreibung von Neologismen. Er ist aus der Einsicht heraus gegangen worden, daß die synchronischen Gesamtwörterbücher aufgrund ihrer allgemeineren Zielsetzung, ihrer begrenzten Stichwortkapazität und ihrer relativ langen Bearbeitungszeiten nur bedingt imstande sind, die Aufgaben der Lexikographie von Neologismen einigermaßen systematisch, vollständig und zuverlässig mitzuübernehmen. Beim größeren allgemeinsprachlichen Neologismenwörterbuch - und nur dieses soll hier Gegenstand der Betrachtung sein - handelt es sich dem Typ nach wie beim allgemeinen einsprachigen Wörterbuch um ein semasiologisches, polyinformatives, makro- und mikrostrukturell selektives, alphabetisch geordnetes Wörterbuch mit partiell standardisierter Anordnung der Datentypen. Vom allgemeinen Wörterbuch unterscheidet es sich dadurch, daß es als Wörterbuch diachronisch als „neu" markierter lexikalischer Einheiten ein Spezialwörterbuch ist, das quasi komplementär an die Seite der Gesamtwörterbücher tritt. Das Neologismenwörterbuch ist, wie R. und C. Barnhart feststellen, „primarily a twentieth-century development in lexicography"(1990: 1162). Zur allgemeinen Blüte ist es - genauer gesagt erst in der zweiten Hälfte unseres Jahrhunderts gelangt, als nämlich - verstärkt zu Beginn der 70er Jahre - fast gleichzeitig nach Konzeption und Umfang ähnliche Neologismenwörterbücher für das Englische , das Französische, das Russische, das Japanische, für die skandinavischen und einige andere Sprachen publiziert wurden (vgl dazu im einzelnen Heller u.a. 1988, Kinne 1996). Man hat darin wohl eine Antwort zu sehen auf das explosionsähnliche Aufkommen neuer Lexik als Begleiterscheinung wissenschaftlicher und technischer Fortschritte sowie bedeutender weltweiter gesellschaftlicher, ökonomischer und kultureller Prozesse in der zweiten Jahrhunderthälfte und den damit verbundenen Bedarf an Information zu dieser neuen Lexik. Diese größeren allgemeinsprachlichen Neologismenwörterbücher haben in der Regel Erfassungszeiträume zwischen 10 und 30 Jahren. Sie verzeichnen durchschnittlich 3000 bis 8000 Stichwörter und haben Umfänge von ca. 500 bis 800 Seiten. Das Wort- und Belegmaterial beziehen sie in der Regel aus schriftlichen Quellen. Ihre Mikrostruktur weist ebenfalls gewisse Ähnlichkeiten auf: Es finden sich zumeist die Angabe der Aussprache, grammatische und etymologische Hinweise, eine ungefähre Datierung, häufig eine regionale, soziale, stilistische bzw fachliche Kennzeichnung, Erläuterungen zur Art der Wortbildung, mitunter auch Kodifizie-

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rungsnachweise. Besonderer Wert wird auf die Bedeutungserläuterung und auf die Anführung von Textbelegen gelegt. Zu den vergleichsweise wenigen der verbreiteten Sprachen in Europa, für die es ein solches Spezialwörterbuch nicht gibt, gehört noch immer das Deutsche. Über die Gründe darf gemutmaßt werden. Wiegand (1990: 2185) vermutet: „Da Deutschland das Land der Fremdwörterbücher ist und das mittelgroße Fremdwörterbuch ... beim Laien nach wie vor beliebt ist..., kann es sein, daß die Marktanalysen von größeren Wörterbuchverlagen dazu geführt haben, daß für ein Neologismenwörterbuch keine Marktlücke gegeben ist, so daß hier der Grund dafür zu suchen ist, daß die Neologismenlexikographie in der BRD unterentwickelt ist." Und er befürchtet: „Eine germanistische Neologismenlexikographie von wissenschaftlichem Rang wird sich als Verlagslexikographie in Kürze wohl kaum entwickeln"(a.a.O.. 2187). Diese Befürchtung wird wohl mit Recht geäußert. In der Tat sind die beiden Anläufe, die es immerhin zu registrieren gibt, mit germanistischen Forschungseinrichtungen und nicht mit bestimmten Wörterbuchverlagen verbunden. Der erste und aus objektiven Gründen gescheiterte Anlauf wurde 1986 im Zentralinstitut für Sprachwissenschaft der Akademie der Wissenschaften der DDR gestartet, wo sich die Forschungsgruppe Neologismen dieses Instituts die Aufgabe stellte, ein Wörterbuch der in der Allgemeinsprache der DDR gebräuchlichen Neologismen (Arbeitstitel; vgl. zur Konzeption im einzelnen Heller u.a. 1988; Herberg 1988a, 1988c, 1991) zu schaffen. Die Einschränkung auf die in der Allgemeinsprache der DDR gebräuchlichen Neologismen war unter den 1986 gegebenen Bedingungen in der DDR die einzig realistische Arbeitskonzeption. Ungeachtet der Notwendigkeit, ein Neologismenwörterbuch der deutschen Sprache zu schaffen, konnte sich die Forschungsgruppe diese umfassende Aufgabe nicht stellen, weil ohne personelle und materielle Beteiligung der Bundesrepublik eine kompetente und authentische Bearbeitung der Teile des deutschen Wortschatzes, die für die Sprache in der Bundesrepublik (bzw. für die deutsche Sprache in Österreich und in der Schweiz) spezifisch waren, nicht zu leisten gewesen wäre. Im Rückblick resümiert Kinne (1996: 4) wohl zutreffend, daß dieses Wörterbuch „bis zu den Wendeereignissen des Jahres 1989 gut vorangekommen und als innovatives lexikographisches Projekt auch im Westen wiederholt vorgestellt worden war. Es gab sicherlich gute Gründe, dieses Unternehmen aufgrund seiner makrostrukturellen Vorgaben mit dem Ende der DDR abzubrechen. Die Bemühungen um das erste deutsche Neologismenwörterbuch waren damit zunächst allerdings auf der Strecke geblieben." In den letzten Jahren wurde in einer Reihe von Wortmeldungen der dringende Bedarf am deutschen Neologismenwörterbuch - auch vor dem Hintergrund des mittlerweile erreichten internationalen Leistungsstandes - wiederholt artikuliert und überzeugend begründet (vgl. u.a. Müller 1987, Kinne 1989, Dou Xuefa 1989, Barnhart 1990, Wiegand 1990, Herberg 1991). In einem neuen Anlauf wird nun am Mannheimer Institut für deutsche Sprache (IDS) das Ziel des ersten deutschen Neologismenwörterbuches - mit dem Arbeitstitel Neuer deutscher Wortschatz: Neologismen der neunziger Jahre - angesteuert und damit - so hoffen die Beteiligten - die bislang eher unsystematische und ergebnisarme germanistische Neologismenarbeit endlich in geregelte Bahnen gelenkt (zum Wörterbuchplan s. Kinne 1996; Herberg 1996,).

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5. Fazit Die Antwort auf die im Titel dieses Beitrages formulierte rhetorische Frage „Neologismen im allgemeinen Wörterbuch oder Neologismenwörterbuch?" kann nach allem Gesagten nur „sowohl als auch" lauten. Der germanistischen Lexikographie stellt sich mithin eine Doppelaufgabe: Erstens sollte darauf hingearbeitet werden, in neuerscheinenden oder neubearbeiteten allgemeinen Wörterbüchern dem antonymisch angelegten diachronischen Markierungssystem dadurch zur vollen Gerechtigkeit zu verhelfen, daß die aufgenommenen Lexeme und Sememe, die relativ zum Erfassungszeitraum des gegebenen Wörterbuches als „neu" markiert sind, mit einem entsprechenden Markierungsprädikat versehen werden. Zweitens ist die germanistische Neologismenforschung als langfristige Aufgabe dauerhaft zu etablieren und zu organisieren, und es ist in diesem Rahmen als Schwerpunktprojekt das erste größere deutsche genuine Neologismenwörterbuch der Allgemeinsprache zu schaffen, das künftig auch als Basis und als Bezugspunkt für entsprechende Nachfolgeprojekte dienen kann. Die Erfüllung der an zweiter Stelle genannten Aufgabe haben wir jetzt im IDS in Angriff genommen. Vielleicht können von dieser Arbeit auch Impulse für die erstgenannte Aufgabe sowie generell für die theoretisch vertiefte germanistische Neologismenforschung ausgehen.

6. Literatur 6.1.

Wörterbücher

Campe-WDS (1807-1811): Campe, Joachim Heinrich: Wörterbuch der Deutschen Sprache. 5 Teile. Braunschweig: Schulbuchhandlung. Duden-GW (1976-1981): Duden. Das große Wörterbuch der deutschen Sprache in sechs Bänden. Hrsg. und bearb. vom Wissenschaftlichen Rat und den Mitarbeitern der Dudenredaktion unter Leitung von Günther Drosdowski. Mannheim, Wien, Zürich: Dudenverlag. Duden- 2 GW (1993-1994): Duden. Das große Wörterbuch der deutschen Sprache in acht Bänden. 2., völlig neu bearb. und stark erw. Aufl. Hrsg. und bearb. vom Wissenschaftlichen Rat und den Mitarbeitern der Dudenredaktion unter der Leitung von Günther Drosdowski. Mannheim, Leipzig, Wien, Zürich: Dudenverlag. 2 DUW (1989): Duden. Deutsches Univeralwörterbuch. 2., völlig neu bearb. und stark erw. Aufl. Hrsg. und bearb. vom Wissenschaftlichen Rat und den Mitarbeitern der Dudenredaktion unter der Leitung von Günther Drosdowski. Mannheim, Wien, Zürich: Dudenverlag.

6.2.

Sonstige Literatur

Barnhart, Robert/Barnhart, Clarence (1990): The Dictionary of Neologisms. - In. F.J. Hausmann u.a. (Hgg): Wörterbücher - Dictionaries - Dictionnaires. Ein internationales Handbuch zur Lexikographie. 2. Teilband (Berlin, New York: de Gruyter) (= Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft 5.2) 11591166. Dou Xuefu (1989): Neologismus und Neologismenwörterbuch. - In: H.E. Wiegand (Hg ): Wörterbücher in der Diskussion. (Tübingen: Niemeyer) (= Lexicographica. Series Maior 27) 39-75. Hausmann, Franz Josef (1989): Die Markierung im allgemeinen einsprachigen Wörterbuch: eine Übersicht. In: F.J. Hausmann u.a. (Hgg ): Wörterbücher - Dictionaries - Dictionnaires. Ein internationales Handbuch zur Lexikographie. 1. Teilband (Berlin, New York: de Gruyter) (= Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft 5.1) 649-657.

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Heller, Klaus u.a. (1988): Theoretische und praktische Probleme der Neologismenlexikographie. Überlegungen und Materialien zu einem Wörterbuch der in der Allgemeinsprache der DDR gebräuchlichen Neologismen. - Berlin: Akademie der Wissenschaften der DDR, Zentralinstitut für Sprachwissenschaft (= Linguistische Studien, Reihe A, Arbeitsberichte 184). Herberg, Dieter (1988a): Stand und Aufgaben der Neologismenlexikographie des Deutschen. - In: G. Harras (Hg ): Das Wörterbuch - Artikel und Verweisstrukturen. (Düsseldorf: Schwann) (= Sprache der Gegenwart 74; IDS-Jahrbuch 1987) 265-283. (1988b): Zur Praxis diachronischer Markierungen in allgemeinen einsprachigen Wörterbüchern. -In: K. Hyldgaard-Jensen/A. Zettersten (Hgg): Symposium on Lexicography III. (Tübingen. Niemeyer) (= Lexicographica. Series Maior 19) 445-468. (1988c): Ein Wörterbuch der DDR-Neologismen. Prinzipien seiner inhaltlichen und formalen Gestaltung. - In: K. Hyldgaard-Jensen/A. Zettersten (Hgg ): Symposium on Lexicography IV. (Tübingen: Niemeyer) (= Lexicographica. Series Maior 26) 143-162. (1991): Neologismen als Forschungsgegenstand. Aktuelle Aufgaben und Ziele der Neologismenlexikographie. - In: K.-E. Sommerfeldt (Hg ): Sprachwissenschaft und Sprachkultur (Frankfurt am Main u.a.: Lang) (= Sprache - System und Tätigkeit 1)111-119. (1997): Auf dem Weg zum deutschen Neologismenwörterbuch. - In: A. Zettersten u.a. (Hgg ): Symposium on Lexicography VIII (Tübingen: Niemeyer) (= Lexicographica. Series Maior) [erscheint], Kinne, Michael (1989): Endlich: Ein deutsches Neologismenwörterbuch. - In: Der Sprachdienst 33, 115-117. (1996): Neologismus und Neologismenlexikographie im Deutschen. Forschungsgeschichtliches, Klassifizierungen, Terminologisches, Vorbilder, Aufgaben (unveröffentlichtes Manuskript). Kühn, Peter/Püschel, Ulrich (1982): „Der Duden reicht mir". Zum Gebrauch allgemeiner einsprachiger und spezieller Wörterbücher des Deutschen. - In: H.E. Wiegand (Hg ): Studien zur neuhochdeutschen Lexikographie II (Hildesheim, New York: Olms) (= Germanistische Linguistik 3-6/80) 121-151. Müller, Wolfgang (1987): „Schlammschlacht". Schon gehört? Ein Desiderat: Das deutsche Neologismenwörterbuch. - In: Sprache und Literatur in Wissenschaft und Unterricht 18, 82-90. Schmidt, Günter Dietrich (1989). Diachronische Markierungen im allgemeinen einsprachigen Wörterbuch. In: F.J. Hausmann u.a. (Hgg ): Wörterbücher - Dictionaries - Dictionnaires. Ein internationales Handbuch zur Lexikographie. 1. Teilband (Berlin, New York: de Gruyter) (= Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft 5.1) 657-661. Wiegand, Herbert Ernst (1990): Neologismenwörterbuch (= Kapitel 2.4.1 von: Die deutsche Lexikographie der Gegenwart). - In: F.J. Hausmann u.a. (Hgg ): Wörterbücher - Dictionaries - Dictionnaires. Ein internationales Handbuch zur Lexikographie. 2. Teilband (Berlin, New York: de Gruyter) (= Handbücher zur Sprachund Kommunikationswissenschaft 5.2) 2185-2187. Wolski, Werner (Hg.) (1982): Aspekte der sowjet-mssischen Lexikographie. - Tübingen: Niemeyer (=Reihe Germanistische Linguistik 43).

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Archaismen und (k)ein Wörterbuch 0. 1. 2. 3. 3.1. 3.2. 3.3. 3.4. 4. 4.1. 4.2. 4.3.

Vorbemerkung Was ist eigentlich ein 'Archaismus'? Zur Kennzeichnung von Archaismen in aktuellen deutschen Wörterbüchern Ziel, Materialbasis und Datentypen eines „Wörterbuches der Archaismen" Zum Augangspunkt Ziel und Benutzerkreis eines „Wörterbuches der Archaismen" Zur Materialgrundlage und Auswahl der Archaismen Zum Aufbau des Wörterbuchartikels Literatur Wörterbücher Sekundärliteratur Literarische Quellen

„Jedes Wort hat sein eigenes Gesetz, und absolute Konsequenz ist der Tod der lebendigen Sprache. Wer Unstimmigkeiten finden will, wird sie immer finden. Ob er sie selbst vermeiden würde?" (Elisabeth Karg-Gasterstädt 1956)

0. Vorbemerkung Dies schreibt Elisabeth Karg-Gasterstädt, die Mitbegründerin des Althochdeutschen Wörterbuches, vor fast genau 40 Jahren - im Juli 1956 - an Ruth Klappenbach, die Mitherausgeberin des Wörterbuches der deutschen Gegenwartssprache (zit. nach: Malige-Klappenbach 1986, 115f ). Diese Sätze, die als Motto zu meinen Ausfuhrungen stehen sollen, stammen aus einem Brief von Karg-Gasterstädt, in dem sie sich zu den Probeartikeln (1956) des Wörterbuches der deutschen Gegenwartssprache (WDG) äußert. Diese drei Sätze sollen nicht etwa als Entschuldigung für die möglichen Wörterbucheinträge eines geplanten „Wörterbuches der Archaismen" stehen, sie drücken aber meines Erachtens die Crux aller Wörterbuchmacher aus. Und was die „Unstimmigkeiten" angeht, so werden diese wohl insbesondere auf Wörter und Wendungen zutreffen, die zu den sogenannten Archaismen gehören, die in einem besonderen Wörterbuch erfaßt werden sollen. Diese Unstimmigkeiten beginnen bereits bei der Beantwortung der Frage „Was ist überhaupt ein Archaismus in der Sprache?" Davon soll zunächst die Rede sein (1.) Darauf folgen einige Bemerkungen zur Behandlung der Archaismen in aktuellen deutschen Wörterbüchern (2 ). Im Anschluß daran möchte ich auf das Ziel, die Materialbasis und die möglichen Datentypen eines „Wörterbuches der Archaismen" eingehen (3 ).

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1. Was ist eigentlich ein 'Archaismus'? Befragt man dazu zunächst Sprachwörterbücher und Sachwörterbücher, wie dies Lexikographen im allgemeinen zu tun pflegen, so gelangt man hierbei zu folgendem Ergebnis: Nur das Handwörterbuch der deutschen Gegenwartssprache (HDG) vom Typ allgemeines einsprachiges Wörterbuch bezieht Archaismus ausschließlich auf Sprachliches, wenn es als Bedeutungserläuterung zu diesem Lemma „aus alter Zeit stammende, altertümliche, veraltete sprachliche Form" und dazu das lexikographische Beispiel „in diesem Roman finden sich viele Archaismen" anfuhrt. Auch Langenscheidts Großwörterbuch Deutsch als Fremdsprache (LGW) und der Rechtschreibduden (1991) beziehen übrigens Archaismus ebenso nur auf sprachliche Ausdrucksmittel. In LGW wird Archaismus dem Fachgebiet Linguistik bzw. Sprachwissenschaft zugewiesen und der Eintrag zum Stichwort lautet „ein Wort od. e-e Wendung, die in der heutigen Zeit nicht mehr verwendet werden", im Duden: „altertümliche Ausdrucksform, veraltetes Wort". In anderen konsultierten Wörterbüchern wird Archaismus zum einen auf eine „altertümliche Form" (WDG) bzw. ein „einzelnes archaisches Element" (Duden-UW; Duden-GWB) in der Sprache oder Kunst bezogen. So lautet die Bedeutungseräuterung zu Archaismus im WDG unter 1.: „altertümliche Form" dazu folgt das lexikographische Beispiel: „in seiner Sprache, Kunst finden sich viele Archaismen" In Duden-UW und Duden-GWB wird Archaismus zunächst den Fachgebieten Sprachwissenschaft, Stilkunde und Kunstwissenschaft zugeordnet und unter Bedeutungpunkt 1. erklärt mit „einzelnes archaisches Element (in Sprache od. Kunst)" In beiden Wörterbüchern finden sich hierzu als lexikographische Beispiele: „die Archaismen in Thomas Manns Romanen; 'weiland' ist ein A. (veralteter, altertümelnder Ausdruck) " Zum anderen wird Archaismus gebraucht für eine „archaisierende sprachliche od. künstlerische Haltung, Gestaltungsweise" - so die Erläuterung unter Punkt 2. zu Archaismus in Duden-UW und Duden-GWB, wozu das Beispiel „der A. in der modernen Kunst, Dichtung" steht. Das WDG ordnet die Bedeutungsvariante „das Zurückgreifen auf frühzeitliche Formen", die wir unter 2. zu Archaismus finden, dem Fachgebiet Kunstgeschichte zu und gibt hierzu als „illustrierendes Beispiel" (23) ein Zitat aus dem Buch „Die Kunst Albrecht Dürers" des Schweizer Kunsthistorikers Heinrich Wölfilin „[ein gesunder] Archaismus, der sich die schwierigen Dinge ... auf den einfachsten Ausdruck bringt WÖLFFLIN Dürer 61". Als einen Prozeß erklärt auch das Deutsche Wörterbuch von Wahrig den Archaismus an erster Stelle: „Wiederbelebungaltertüml. Formen"(Neuausgabe 1994) bzw. „Altertümelei, Wiederbelebung altertüml. Forme«"(Neuausgabe 1986). Danach findet sich der Hinweis, daß es sich bei Archaismus auch insofern um das Objekt, das sprachliche Zeichen selbst handelt, als die Erklärung „altertüml. Form" (1986; 1994) folgt. In Nachschlagewerken zur Sprachwissenschaft bzw. Linguistik herrscht im großen und ganzen Einigkeit darüber, daß Archaismen als stilistische Mittel gebraucht werden. Bußmann beispielsweise erklärt in ihrem Lexikon der Sprachwissenschaft (1990, 95) Archaismus als „Stilmittel der Rhetorik: Effektvoller Gebrauch veralteter Ausdrücke, mit poetischer, pathetischer oder ironischer Konnotation (z.B. Minne, Wonne, Hort, sintemal, Anbeginn) oder aus ideologischen Gründen (z.B. Gau, Maidu. dgl. im NS-Vokabular)".

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Es folgt der Zusatz: „Gelegentlich auch allgemeiner für lexikalische Relikte wie Ungeziefer (zu ahd. zebar >Opfertier a 'Tier' b 'Blüte'

katzbalgen... katzbuckeln Katzen k

Angora Eich Haus Lauf Meer Nasch Wild

Bedeutung relative Motiv. mit ohne X X

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auge 'Strahler' feil freundlich gold jammer köpf 1 'Pflasterstein' köpf 2 'Schlag' musik a lit. b metaph. sprung tisch wasche zunge

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katze

Matrix 2: Sublemmata zu Katze im Wfwb.

X X

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X —

Relative Motiviertheit im etymologischen Wörterbuch Sublemmata

etym. Angabe

für die Katz Kätzchen katzenhaft katzig... Kätzin

k

Ratzel

s

X

X

X

X X

katzbalgen... katzbuckeln... katzen

Bedeutung relative Motiviertheit. mit ohne

X X

artig auge bär blick brut buckel dreck feil ficken floh frett freund... gesicht gleich gold hai jammer klo konzert köpf... kraut machen minze musik pfote Pfotchen sprung streu tisch wasche zunge macher

X X X

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Matrix 3. Sublemmata zu Katze im GWdS 2. Aufl.; El = im Etym. Wb. nicht erwähnt.

92

Gerhard Äugst

2. Terminologie Im zweiten Punkt der lexikographischen Erörterung des etymologischen Wörterbuchs geht es um ein mikrostrukturelles Problem, nämlich die Terminologie, mit der das Benennungsmotiv und sein diachroner Wandel zur Sprache gebracht werden. Dahinter verbirgt sich auch die Reflexion über eine etymologische Grundhaltung zum Verhältnis von Synchronie und Diachronie. Hier liegt m.E. einiges im Argen, das sich oben schon andeutete in der lexikographischen Gestaltung von Homonymie und Polysemie, die - entgegen der heutigen synchronen Einschätzung - nach diachronen Gesichtspunkten entschieden wird. Noch deutlicher wird dies an dem Eingangszitat von Seebold „Das Benennungsmotiv ist das Zentrum einer jeden Etymologie; einerseits, weil sich die Benutzer von etymologischen Wörterbüchern im wesentlichen für das Benennungsmotiv interessieren .. ."Nach „Benennungsmotiv"ist in Klammern der Satz eingeschoben: „('Was das Wort eigentlich bedeutet')". Es geht um das Wörtchen „eigentlich", das als Adverb nach DUW 'in Wirklichkeit (im Unterschied zum äußeren Anschein)' bedeutet. Genau dieses Synonym „in Wirklichkeit" tritt auch in den Texten auf. So schreibt Seebold in der Einfuhrung zum Kluge (XVII): „So sieht das Wort Bettler aus, wie wenn es von betteln abgeleitet wäre (ein Bettler ist jemand, der bettelt). In Wirklichkeit ist das Wort Bettler älter, und wie in anderen Sprachen ist das Wort für 'betteln' davon abhängig...; aber da Bettler aussah wie eine Täterbezeichnung zu einem Verb, hat man für die Tätigkeit des Bettlers dieses vermeintlich zugrundeliegende Verb auch gebildet". (Unterstreichung - G.A.)

Ich bezweifle nicht das diachrone Faktum der Rückbildung, nur bestreite ich die dahinter liegende Sehweise, die der Synchronie die falsche Wirklichkeit eines vermeintlichen Tuns anlastet. Ein weiteres Wort in dieser Sehweise ist „ursprünglich" So heißt es im Kluge zu Flederwisch: ..ursprünglich wohl vederwisch (.. .) und sekundär an mhd. vleder(e)n 'flattern' angeglichen".5 Dem allem zugrunde liegt eine Auffassung von Etymologie, die ungebrochen vom Griechischen bis heute - trotz wissenschaftlicher Neuorientierung des 19. Jhs. - fortwährt. Das Wort Etymologie selbst verkörpert es in seinem Benennungsmotiv als die 'Kunde' lögos vom etymon, das zu griech. etymos 'wahr, echt' gehört. Im Lateinischen spricht Varro von der origo verborum, Heinrich von Meißen, der Frauenlob, übersetzt Etymologie mit ursprinc (vgl. Sanders 1977:12-34). Zwar warnt Thomas von Aquin „aliud est etymologia nominis, et aliud est significatio nominis", aber das nützt wenig: die Grundeinstellung bleibt und feiert seltsame Triumphe bis in die etymologisierende Philosophie eines Heidegger. Demgegenüber muß mit aller Deutlichkeit gesagt werden, daß die synchrone Motivbedeutung in allen Zeitzuständen zwar eine bemerkenswerte Zutat zur Funktionsbedeutung ist, aber nicht deren Wesen ausmacht. Wenn man im Auge behält, daß die indoeuropäische Wurzeln wissenschaftliche Konstrukte für die Wissenschaft des Sprachvergleichs sind, so kann man eher akzeptieren, daß zu allen Zeiten vom Indoeuropäischen - welche Volksgruppe da auch immer gemeint ist - bis zum heutigen Deutsch der Gegenwart Wörter eine Funktionsbedeutung hatten und daß der größte Teil dieser Wörter relativ motiviert war und zwar nach den oben genannten 5

In manchen Fällen steht „eigentlich" bzw. „ursprünglich" auch stellvertretend für die vorgängig literale Bedeutung im Gegensatz zur synchron (noch erkennbaren) metaphorischen Bedeutung. Es wäre m.E. vorteilhaft, dafür den Terminus „literal" als wertneutral in den etymologischen Wörterbüchern zu benutzen.

Relative Motiviertheit

im etymologischen

Wörterbuch

93

drei Grundformen. Jede dieser Bedeutungen vom Indoeuropäischen bis zum heutigen Deutsch ist - um es pathetisch zu sagen - gleich nah zu Gott; es gibt kein „eigentlich", „in Wirklichkeit", „vermeintlich" und „ursprünglich", also ein historisches „Sein" vs den synchronen „Schein", sondern ganz schlicht nur ein „früher" und „später".6 In allen synchronen Sprachzuständen, die die Forschung durch Periodisierung geschaffen hat, ließen sich synchrone Wortfamilien aufstellen7 und damit auch Wortfamilienwörterbücher schreiben. Wenn man zwei aufeinanderfolgende Perioden vergleicht, so kann man in Hinsicht auf zwei Wörter oder zwei Bedeutungen folgende fünf Möglichkeiten ermitteln (vgl. Matrix 4, nach Äugst 1996b:28): 1. 5.

Beide Wörter oder Bedeutungen gehören in beiden Zeitzuständen in gleicher Weise zusammen zur selben Wortfamilie. Ich nenne dies eine Gleichmoüvation. Beide Wörter (oder Bedeutungen) gehörten in beiden Zeitzuständen nicht zusammen. Dies ist einfach die Konverse zu 1.

Und nun kommen die drei interessanten Fälle: 2. 3.

4.

Die zwei Wörter oder Bedeutungen gehören in beiden Zeitzuständen zusammen, aber ihr Verhältnis zueinander hat sich geändert. Ich nenne dies eine Ummotivation oder Ummotivierung. Der Zusammenhang zwischen beiden Wörtern oder Bedeutungen ist verloren gegangen. Ich nenne das eine Demotivation. D.h. im Bezug auf die Bedeutung: Aus der Polysemie eines Wortes werden zwei homonyme Wörter. Eine frühere Ableitung oder Zusammensetzung wird später zum ummotivierten Kernwort (einer möglicherweise neuen Wortfamilie). Dabei bleibt die morphologische Durchsichtigkeit noch länger gegeben. Zwei Wörter und damit auch Bedeutungen zweier Wortfamilien des früheren Sprachzustands werden später in nur einer Wortfamilie durch eine neue Motivation zusammengebracht. Ich nenne das eine Neumotivation. Aus der Homonymie zweier Wörter wird die Polysemie eines Wortes. Wenn man es mit dem Bildspender „menschliche Familie" vergleicht, handelt es sich um eine Adoption.

Leider gibt es keine quantitativen Untersuchungen über die Anteile der fünf Möglichkeiten. Fest steht jedoch, daß die meisten der ca. 8.000 Spitzenlemmata der heutigen etymologischen Wörterbücher irgendwann einmal zwischen dem Indoeuropäischen und heute demotiviert wurden und daß die ca. 12.000 „bedeutsamen" Ableitungen und Zusammensetzungen im Laufe ihrer individuellen Wortgeschichte ummotiviert oder neumotiviert wurden oder daß Demotivation bevorsteht. Ich hänge nicht an den Termini. Statt Ummotivation kann man auch im Bezug auf die Wortfamilie von Umordnung bei Demotivation von Wortfamilientrennung und bei Neumotivation auch von Wortfamilienwechsel sprechen.8 Entscheidend ist nur, daß die Terminologie keine Wertung impliziert. Wichtig ist, daß es die mit (Nicht)gleichmotivation, Ummotivation, Demotivation und Neumotivation gemeinten Begriffe als Vorgänge in der Sprache und aus dem Blickwinkel des Sprachteilhabers gar nicht gibt. Sie gehören zur extrakommunkativen Beschreibungssprache der Sprachhistoriker, die die historische Kontinuität oder Diskontinuität der relativen Motiviertheit als ein diachrones Konstrukt erfassen, das synchron keine Relevanz hat. Der Sprachteilhaber motiviert nicht gleich oder neu oder um- oder demotiviert nicht. Er motiviert ein 6 7

8

Darauf hat auch Gauger (1995) mit aller Deuüichkeit hingewiesen. Vgl. dazu das Forschungsprojekt von Splett (1985) und Splett (1993). Birkhan (1985:230), der sich um Objektivität bemüht, spricht von „Eindeutung".

94

Gerhard Äugst

Wort mehr oder weniger deutlich, oder er tut es nicht. Allenfalls im Sprachspiel können wir solche Aktivitäten beobachten. Zeitstufe

Beispiel

früher

heute

Polyseme

Wortbildung

1 zusammengehörig

ebenso:

Haupt 1,2 Kirche! ;2 süßl;2 erfahren1;2

Fischer Feiertag Augenblick entbinden

Ummotivierung

Scheibel; 2 Kragen!;2 fromm!; 2 Bein!; 2

Bethaus findig drängen dankbar

nicht mehr:

I,II Schloß (?)

Demotivierung Dissoziierung

I, II Bogen 1,11 dämpfen daß - daß

heute Adler Bote Krähe

Gleichmotivierung

2 zusammengehörig

3 zusammengehörig

ja, aber anders:

4 nicht zusammengehörig

zusammengehörig: Neumotivation Attraktion Volksetymologie

Kette!; 2 Krug 1;2 Laib - Leib

Greif Lachmöve Hängematte dichten

5 nicht zusammengehörig

ebenso

1,11 Star (?)

Silbe Not Rasse List

I,II Kosten 1,11 Enkel malen - mahlen

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