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German Pages 320 Year 2022
International Yearbook for Tillich Research 2021/2022
International Yearbook for Tillich Research
Internationales Jahrbuch für die Tillich-Forschung Annales internationales de recherches sur Tillich Edited by Christian Danz, Marc Dumas, Werner Schüßler, and Bryan Wagoner in collaboration with Deutsche Paul-Tillich-Gesellschaft North American Paul Tillich Society Association Paul Tillich d’expression française
Volume 15
Yearbook 2021/2022
Liminal Spaces and Ethical Challenges Edited by Christian Danz, Marc Dumas, Werner Schüßler, and Bryan Wagoner
ISBN 978-3-11-099703-3 e-ISBN (PDF) 978-3-11-098472-9 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-098518-4 ISSN 1990-4231 Library of Congress Control Number: 2022940550 Bibliographic information published by the Deutsche Nationalbibliothek The Deutsche Nationalbibliothek lists this publication in the Deutsche Nationalbibliografie; detailed bibliographic data are available in the Internet at http://dnb.dnb.de. © 2022 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Printing and binding: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com
Table of Contents Werner Schüßler „Grenze“ und „Grenzsituation“ | 1 Benoit Mathot Liminalités chiliennes : la pensée tillichienne comme ressource ? | 21 Anne-Milla Wichmann Kristensen Crisis, Kairos, and Kairotic Moments | 37 Benjamin J. Chicka Tillich, Pandemic, and Video Games | 53 Jari Ristiniemi Conformity, Totalitarian Trends, and Totalitarianism | 67 Marc Röbel Hate Speech und die Grenzen der Kommunikation | 93 Dirk-Martin Grube Paul Tillichs Kairosbegriff und die Krise des westlichen Denkens | 117
Editionen Christian Danz Das Dasein Gottes und die Religionspsychologie | 141 Christian Danz (Hg.) Paul Tillich: Das Dasein Gottes und die Religionspsychologie | 161 Christian Danz Die Theologie als Wissenschaft | 179 Christian Danz (Hg.) Paul Tillich: Die Theologie als Wissenschaft | 195
VI | Table of Contents
Erdmann Sturm Schelling und die Synthese von Spinoza und Kant | 201 Erdmann Sturm (Hg.) Paul Tillich: German Classical Philosophy: Schelling | 225
Reviews | 261 Tillich Bibliography | 303 Contributors List | 313
Werner Schüßler
„Grenze“ und „Grenzsituation“ Ihre Bedeutung in Leben und Werk Paul Tillichs Abstract: In the life and work of Paul Tillich, the importance of external and internal limits, which man repeatedly encounters, is condensed. However, the human spirit is only creative if it is able to transcend these limits. This does not necessarily mean that one loses one’s substance – on the contrary, it is part of the dialectic of life not to lose oneself in the other, but to return to oneself enriched. From his concept of boundary Tillich also develops – independently of Karl Jaspers – his own concept of the human border-situation. The article traces various boundaries that Tillich crossed in his life and thinking and explores different aspects of his concept of the human border-situation. Anlässlich der Verleihung des „Friedenspreises des Deutschen Buchhandels“ an Paul Tillich hat dieser am 23. September 1962 – gut ein Jahr nach dem Bau der Berliner Mauer – in Frankfurt eine vielbeachtete Rede gehalten mit dem Titel „Grenzen“.1 In dieser Rede geht er zwar nicht explizit auf den Berliner Mauerbau ein, doch wer zwischen den Zeilen zu lesen versteht, merkt sehr schnell, dass die Situation des geteilten Deutschlands und besonders auch diejenige der Stadt Berlin hier ohne Zweifel mitbedacht sind bei der Wahl des Themas, was auch aus den folgenden Worten zu Anfang des Vortrags deutlich wird, wenn es hier heißt: Die Situation der Grenze ist noch nicht das, was man Frieden nennen könnte; und doch ist sie der Durchgang, den jeder einzelne gehen muß und den die Völker gehen müssen, um zum Frieden zu gelangen. Denn der Friede ist das Stehen im Übergreifenden, das im Überschreiten und Rücküberschreiten der Grenze gesucht wird. Nur wer Anteil an den beiden Seiten einer Grenzlinie hat, kann dem Übergreifenden und damit dem Frieden dienen, nicht, wer sich in der momentanen Ruhe eines fest Begrenzten sicher fühlt. Friede erscheint, wo im persönlichen wie im politischen Leben eine alte Grenze ihre Wichtigkeit und damit ihre Macht, Unfrieden zu stiften, verloren hat, auch wenn sie noch als Teilgrenze fortbesteht. Friede ist nicht spannungsloses Nebeneinander; er ist die Einheit im Umfassenden, in der das Gegeneinander lebendiger Kräfte und die Konflikte zwischen dem Alten und dem jeweils Neuen nicht fehlen, in der sie aber nicht zerstörerisch ausbrechen, sondern gehalten sind im Frieden des Übergreifenden. Wenn das Überschreiten und Rücküber-
|| 1 Vgl. Paul Tillich, Grenzen. Rede bei der Verleihung des „Friedenspreises des Deutschen Buchhandels“ in Frankfurt am 23.9.1962, in: Ders., Impressionen und Reflexionen. Ein Lebensbild in Aufsätzen, Reden und Stellungnahmen (= Gesammelte Werke, hrsg. von Renate Albrecht, Bd. XIII), Stuttgart 1972, 419–428. https://doi.org/10.1515/9783110984729-001
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schreiten der Grenze der Weg zum Frieden ist, dann ist die Angst vor dem, was jenseits liegt, und der daraus geborene Wille, es zu beseitigen, die Wurzel des Unfriedens und der Kriege.2
Tillich hat sich bekanntlich nie in das tagespolitische Geschäft eingeschaltet. Dies ist seinem Verständnis nach auch nicht die Aufgabe von Theologen und Philosophen, denen es Tillich zufolge immer nur darum gehen kann, das Prinzipielle zu bedenken. Und dieses weist über die politische Dimension hinaus in den Bereich der Philosophie und Theologie. Damit sind wir auch schon mitten im Thema.
1 „Der Mensch ist ein wanderndes Lebewesen“3 In einem Vortrag mit dem Titel „Mind and Migration“, den er vor der „Graduate Faculty“ der „New School for Social Research“ im Jahre 1937 in New York gehalten hat, also nur vier Jahre nach seiner Emigration in die USA, geht es Tillich darum, deutlich zu machen, „dass zwischen Geist und Migration nicht nur eine zufällige, sondern eine wesenhafte Beziehung besteht“ und „dass der Geist seinem Wesen nach auf der Wanderschaft ist“.4 Tillich spricht in diesem Zusammenhang von dem „allgemeinen Gesetz des Lebens“, das in der „Einheit von Bei-sichselbst-Bleiben und Sich-selbst-Überschreiten, von Selbstbewahrung und Selbstentfremdung“ besteht und das sowohl im geistigen als auch im sozialen Leben des Menschen, genauer: in der Einheit beider Aspekte zu voller Entfaltung
|| 2 Ebd., 420. – Etwas später kommt Tillich explizit auf die deutsche Situation zu sprechen, wenn es heißt: „Alles, was ich vom Überschreiten der Grenze gesagt habe, gilt auch für das Überschreiten der Grenze, die heute für die westliche Welt am schwersten zu überschreiten ist, die Grenze nach dem Osten.“ (Ebd., 423) 3 Paul Tillich, Mind and Migration, in: Social Research (New York) 4/3 (1937) 295–305, hier 296. – Übers. von mir! Vgl. die dt. Übers.: Ders., Geist und Wanderung. Rede vor der „Graduate Faculty“ der „New School for Social Research“ in New York am 13.4.1937, in: Ders., Impressionen und Reflexionen (s. Anm. 1), 191–200, hier 192. 4 Paul Tillich, Mind and Migration (s. Anm. 3), 295. – Übers. von mir! Die dt. Übers. ist hier defizient, wenn es heißt: „[…] daß zwischen Geist und Wanderung nicht nur eine gelegentliche, sondern eine wesenhafte Beziehung besteht. Es ist die Natur des Geistes zu wandern.“ (Ders., Geist und Wanderung [s. Anm. 3], 191)
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kommt.5 Der Mensch, so könnte man diesen Gedanken auch auf den Punkt bringen, ist wesentlich ein „homo viator“.6 Im Rahmen seiner Philosophie des Lebens, die Tillich als Grundlage für den dritten Band seiner „Systematischen Theologie“ entwickelt hat, wird er später in Bezug auf diesen Aspekt von der „Grundbewegung“ allen Lebens sprechen,7 wobei er hier unter Leben ontologisch die Aktualisierung potentiellen Seins versteht. Näherhin ist damit ein Herausgehen aus einem Handlungszentrum verbunden, wobei dieses Herausgehen aber so beschaffen ist, dass das Zentrum dabei nicht verloren geht.8 Tillich beschreibt diese Grundbewegung allen Lebens wie folgt: Das Leben ist ein Prozess, in dem eine doppelte Bewegung wie in allen Prozessen zu beobachten ist: die Bewegung zur Trennung von sich selbst und zum Bleiben in sich selbst. […] D.h. das Leben in all seinen Dimensionen geht über sich hinaus, trennt sich von sich selbst, läuft sozusagen von sich fort und bleibt gleichzeitig bei sich selber, und das heißt das Zurückkehren zu sich selber.9
In Bezug auf diese Grundbewegung allen Lebens sind somit drei Elemente zu unterscheiden: die Selbst-Identität, die Selbst-Veränderung und die Rückkehr zu sich selbst. In dem Prozess, den wir Leben nennen, wird nach Tillich nur durch diese drei Elemente Potentialität zu Aktualität.10 Nicht die Kreisbewegung charakterisiert somit das Leben, sondern die Spirale. Mit dieser Beschreibung werden auch schon die beiden Gefahren deutlich, denen das Leben ausgesetzt ist: nämlich in der Selbst-Identität zu verharren oder sich im Fremden zu verlieren.11
|| 5 Paul Tillich, Mind and Migration (s. Anm. 3), 296. – Übers. von mir! Vgl. Ders., Geist und Wanderschaft (s. Anm. 3), 191. 6 Vgl. dazu Marc Röbel / Werner Schüßler (Hg.), Der Mensch als „homo viator“. Existenzphilosophische Perspektiven, Freiburg/Br. 2020. 7 Vgl. Paul Tillich, Die Zweideutigkeit der Lebensprozesse (Freie Universität Berlin, Sommersemester 1958), in: Ders., Berliner Vorlesungen III (1951–1958), hrsg. und mit einer historischen Einleitung versehen von Erdmann Sturm (= Ergänzungs- und Nachlassbände zu den Gesammelten Werken, Bd. XVI), Berlin/New York 2009, 335–409, hier 352. 8 Vgl. Paul Tillich, Systematische Theologie, Bd. III: Das Leben und der Geist. Die Geschichte und das Reich Gottes, Stuttgart 1966, 42. 9 Paul Tillich, Die Zweideutigkeit der Lebensprozesse (s. Anm. 7), 351f. 10 Vgl. Paul Tillich, Systematische Theologie, Bd. III (s. Anm. 8), 42. 11 Vgl. dazu Werner Schüßler, „Healing Power.“ Zum Verhältnis von Heil und Heilen im Denken Paul Tillichs, in: Ders., „Was uns unbedingt angeht.“ Studien zur Theologie und Philosophie Paul Tillichs (= Tillich-Studien, hrsg. von Werner Schüßler und Erdmann Sturm, Bd. 1), Berlin 4. erw. Aufl. 2015, 383–418, hier 398–402.
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Die „Pilgerschaft des Menschen“ kann bekanntlich sowohl eine äußere wie auch eine innere sein. Beide Aspekte hat Tillich selbst erfahren und durchlebt, und beide Aspekte haben sein Leben und Werk entscheidend geprägt und verändert.
2 „Die Überwindung des Provinzialismus in der Theologie“12 2.1 Tillichs Emigration in die USA Tillichs erzwungene Emigration in die USA im Jahre 1933 war nicht nur äußerlich grenzüberschreitender Natur. Mit 47 in ein Land zu emigrieren, dessen Sprache er nicht sprach, mit dessen Denken und Politik er nicht vertraut war, verunsicherte auf der einen Seite, eröffnete auf der anderen aber auch neue Möglichkeiten. Das geht aus einem Vortrag hervor, den Tillich im Rahmen der „Benjamin Franklin Lectures“ der „University of Pennsylvania“ im Frühjahr 1952 mit dem Titel „The Conquest of Theological Provincialism“ gehalten hat und der ein Jahr später in einem Sammelband zur kulturellen Migration veröffentlicht wurde.13 Hier gesteht Tillich ein, dass ihm erst nach einigen Jahren in Amerika sein zuvor „unbewusster Provinzialismus“ bewusst wurde. Und als Fazit seiner Erfahrung fasst er zusammen: „Amerika vermag uns vor europäischem und anderem Provinzialismus zu bewahren, ohne uns einen eigenen aufzuzwingen. Durch die ständige Auseinandersetzung mit Traditionen aus aller Welt, die es in diesem Lande stets gegeben hat und immer noch gibt, wird das Entstehen eines amerikanischen Provinzialismus außerordentlich erschwert.“14 In den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts glaubte Tillich zufolge ein deutscher Theologiestudent, dass protestantische Theologie identisch sei mit deutscher Theologie, und so ist es nicht weiter erstaunlich, „wenn er zum ‚Provinzler‘ wurde, da die Provinz, in der er lebte, so groß, so bedeutend und
|| 12 Vgl. Paul Tillich, Die Überwindung des Provinzialismus in der Theologie, in: Ders., Offenbarung und Glaube. Schriften zur Theologie II (= Gesammelte Werke, hrsg. von Renate Albrecht, Bd. VIII), Stuttgart 1970, 13–27. 13 Vgl. W. Rex Crawford (ed.), The Cultural Migration: the European Scholar in America, Philadelphia 1953, 138–156. 14 Paul Tillich, Die Überwindung des Provinzialismus in der Theologie (s. Anm. 12), 13.
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scheinbar autark war“.15 In der deutschen Philosophie herrschte nach Tillich seinerzeit eine ähnliche Einstellung. Auf die Frage „Was fanden wir nun hier in Amerika, und vor allem, was fanden wir in der Theologie?“ antwortet Tillich: „In der Tat viel Neues.“16 Das wichtigste war die Berührung mit einem ganz anderen Verständnis für das Verhältnis von Theorie und Praxis: Von Deutschland her waren wir gewohnt, daß die Theorie völlig unabhängig war von jeder praktischen Anwendung. Diese Trennung wurde im Hinblick auf das pragmatisch-empirische Vorgehen der amerikanischen Theologie nun fragwürdig. Es war ebenso beunruhigend wie erregend, wenn nach einem höchst theoretischen Vortrag vor einer gebildeten Hörerschaft einem die Frage vorgelegt wurde: Was sollen wir nun tun? Eine solche Frage bedeutete nicht nur: Was folgt praktisch aus der Theorie? Sie bedeutete auch: Welche Geltung hat diese Theorie im Lichte pragmatischer Prüfung?17
Am amerikanischen Protestantismus hat Tillich aber noch eine weitere überraschende Entdeckung gemacht: „Das Vorhandensein zahlreicher Denominationen macht es jedem deutlich, daß es mehr Möglichkeiten protestantischen Lebens gibt als nur die eigene. Diese Tatsache verweist uns auf kirchengeschichtliche Entwicklungen seit der Reformation und auf die Zeit davor. Zugleich wird aber ein protestantischer Provinzialismus z.B. dadurch vermieden, daß die Episkopalkirche trotz ihrer im Grunde protestantischen Theologie viele katholische Elemente bewahrt hat.“18 Diese Erfahrung wurde für Tillich zum Anlass, darüber nachzudenken, wie das „protestantische“ Prinzip mit der „katholischen Substanz“ zu vereinen ist.19
2.2 Tillichs Japan-Reise im Jahre 1960 Schon in dem soeben genannten Vortrag von 1952 hat Tillich darauf aufmerksam gemacht, dass auch der lebhafte Austausch zwischen Amerika und dem Fernen wie auch dem Nahen Osten einen „christlichen Provinzialismus“ unmöglich
|| 15 Ebd., 15. 16 Ebd., 17. 17 Ebd. 18 Ebd., 20. 19 Ebd., 20f. – Vgl. dazu Werner Schüßler, Wandler zwischen den Welten. Katholische Elemente im Denken Paul Tillichs, in: Herder Korrespondenz. Monatsheft für Gesellschaft und Religion 71/11 (2017), 41–44.
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mache.20 Eine ausgedehnte Vortragsreise durch Japan im Jahre 1960,21 bei der er mit wichtigen Vertretern östlicher Religionen zusammentraf, hat diese Sichtweise bestätigt. Das betont Tillich ausdrücklich in einem kleinen Beitrag mit dem Titel „On the Boundary Line“ aus demselben Jahr, wo er ausführlich auf seine Begegnung mit dem östlichen Denken zu sprechen kommt, wenn es hier heißt: Wenn man sein ganzes Leben der Faszination und der Disziplin des Denkens widmet, kann man leicht vergessen, dass sich uns die Wirklichkeit nur durch existentielle Teilhabe erschließt, indem man in die Situation eintritt, über die man begriffliche Aussagen macht. Die Situation ändert sich, wenn das Leben dem, was für das bloße Denken nur Möglichkeit ist, Wirklichkeit gibt. Dann scheint im Denken und Schreiben der Beigeschmack der tatsächlichen Erfahrung auf, ein Beigeschmack, der selbst in unstrittigen abstrakten Aussagen fehlt. Ich hoffe, dass ich mich in den letzten zehn Jahren auf diesen Prozess eingelassen habe, zum Vorteil für mein Lehren und Schreiben.22
In dieser Hinsicht empfand Tillich die Japan-Reise von Mai bis Juli 1960 vielleicht als seine „wichtigste Erfahrung“. Mit dieser Reise, so führt er in dem genannten Beitrag aus, sei sein Wunsch verbunden gewesen, seinen „westlichen Provinzialismus“ zu überwinden.23 Inwieweit das der Fall sei, könne er im Moment zwar noch nicht sagen, doch habe er durch diese Reise „eine ungeheure Bereicherung seiner Substanz“ erfahren. „Substanz“, so Tillich, „meint in diesem Zusammenhang mehr als neue Einsichten und auch mehr als ein besseres Wissen in Bezug auf eine andere Gegend der Welt. Es meint, dass man irgendwie transformiert ist aufgrund von Partizipation.“24 Wenn es für ihn auch nie eine Frage gewesen sei, zum Zen-Buddhismus oder irgendeiner anderen Form von östlicher Religion zu konvertieren, so fühlte sich Tillich, wie er betont, doch durch die existentielle Begegnung und Gemeinschaft mit Menschen, die der westlichen Haltung fernstehen, ergriffen und von deren spiritueller Atmosphäre angezogen.25
|| 20 Paul Tillich, Die Überwindung des Provinzialismus in der Theologie (s. Anm. 12), 21. 21 Vgl. dazu Paul Tillich, Meine Vortragsreise nach Japan 1960, in: Ders., Impressionen und Reflexionen (s. Anm. 1), 490–517; Tomoaki Fukai (ed.), Paul Tillich – Journey to Japan in 1960 (= Tillich Research, ed. by Christian Danz / Marc Dumas / Werner Schüßler / Mary Ann Stenger / Erdmann Sturm, Vol. 4), Berlin/Boston 2013. 22 Paul Tillich, On the Boundary Line, in: The Christian Century (Chicago) 77/49 (1960) 1435– 1437, hier 1435. – Übers. von mir! 23 Ebd.; vgl. auch Paul Tillich, Meine Vortragsreise nach Japan 1960 (s. Anm. 21), 517. 24 Paul Tillich, On the Boundary Line (s. Anm. 22), 1435. – Übers. von mir! 25 Vgl. ebd.
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3 „Der Ort der Grenze ist der für die Erkenntnis fruchtbare Ort“26 Nachdem Tillich am 13. April 1933 aufgrund seiner programmatischen Schrift „Die sozialistische Entscheidung“27 und wegen seines Einsatzes für jüdische Studenten als Dekan der Philosophischen Fakultät an der noch recht jungen Frankfurter Universität, wo er seit 1929 als Professor für Philosophie und Soziologie tätig war, von seinem Hochschullehreramt suspendiert worden war und mit seiner Familie in die USA emigrieren musste, wo er am „Union Theological Seminary“ in New York eine Anstellung erhielt, stellte er sich drei Jahre später seiner neuen amerikanischen Leserschaft mit seinem Buch „The Interpretation of History“28 vor, das – wie er selbst sagt – seine wichtigsten deutschen Aufsätze enthielt. Vorangestellt ist dieser Aufsatzsammlung eine Selbstdarstellung mit dem Titel „On the Boundary. An Autobiographical Scetch“.29 In dieser Selbstdarstellung charakterisiert er den Begriff der Grenze als „das“ Symbol für seine „ganze persönliche und geistige Entwicklung“.30 Im 12. und letzten Abschnitt mit dem Titel „Auf der Grenze von Heimat und Fremde“31 kommt er schließlich auch auf sein Emigrantenschicksal zu sprechen. Hier vergleicht er sein Schicksal mit dem Abrahams, der von Jahwe den Befehl bekommt, seine Heimat zu verlassen. Tillich zieht hieraus die Einsicht: „Für den Christen jeder Konfession scheint mir an diesem Punkt kein Zweifel möglich zu sein: er hat die Heimat wieder und wieder zu verlassen
|| 26 Paul Tillich, Religiöse Verwirklichung, Berlin 1929 (2. Aufl. 1930), 11. Vgl. auch ders., Auf der Grenze (1936), in: Ders., Begegnungen. Paul Tillich über sich selbst und andere (= Gesammelte Werke, hrsg. von Renate Albrecht, Bd. XII), Stuttgart 1971, 13–57, hier 13. 27 Vgl. Paul Tillich, Die sozialistische Entscheidung (= Schriftenreihe der Neuen Blätter für den Sozialismus, H. 2), Potsdam 1933; wiederabgedruckt in: Paul Tillich, Christentum und soziale Gestaltung. Frühe Schriften zum Religiösen Sozialismus (= Gesammelte Werke, hrsg. von Renate Albrecht, Bd. II), Stuttgart 1962, 219–365. 28 Vgl. Paul Tillich, The Interpretation of History, New York/London 1936. 29 Vgl. ebd., 3–73; dt. Übers.: Paul Tillich, Auf der Grenze (s. Anm. 26). 30 Paul Tillich, Auf der Grenze (s. Anm. 26), 13. – Vgl. dazu auch Reinhard Salomon, Auf der Grenze zwischen Religion und Wissenschaft, Philosophie und Theologie. Untersuchungen zur Position des Denkers bei Karl Jaspers und Paul Tillich, Diss. Marburg 2016, 16: http://archiv.ub.uni-marburg.de/diss/z2017/0076/pdf/drs.pdf [13.05.2021]. Wie der Titel dieser Arbeit aber schon deutlich macht, ist diese wesentlich anders gelagert als der vorliegende Beitrag. 31 Paul Tillich, Auf der Grenze (s. Anm. 26), 54–57.
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und in ein Land zu gehen, das ihm gezeigt wird, und einer Verheißung zu trauen, die für ihn rein jenseitig ist.“32 Schon sechs Jahre zuvor hatte sich Tillich ein erstes Mal ausführlich zum Begriff der Grenze geäußert, nämlich in der Einleitung zu seiner Schrift „Religiöse Verwirklichung“ von 1929.33 Hier heißt es unter der Überschrift „Haltung und Problem“: Der Ort der Grenze ist der für die Erkenntnis fruchtbare Ort. Denn jede Sache muß von ihrer Grenze her bestimmt werden – worauf schon sprachlich das Wort ‚Definition‘ hinweist. Wer so in einer Sache steht, daß er ihre Grenze nicht sieht, kann stark in ihr leben, kann machtvoll von ihr zeugen, aber er kann sie nicht erkennen. Wer ganz gebunden ist an die religiöse Sphäre, wer nicht irgendwo über sie hinaus und von dort ihrer Grenze bewußt ist, kann sie kennen, aber nicht erkennen, nicht von der Grenze her kennen. […] Und das gleiche gilt umgekehrt: Wer ganz ungebrochen in der Profanität lebt, wer nie an ihre Grenzen gestoßen ist, sie nie vom Grunde her erkannt hat, der wird in ihr erkennen und gestalten, aber er wird sie nicht erkennen.34
In diesem Zusammenhang nennt Tillich das Verhältnis von Religion und Kultur sowie dasjenige von Theologie und Philosophie als die entscheidenden Themen der Zeit, die er darüber hinaus auch für die entscheidenden Themen seiner eigenen persönlichen und geistigen Entwicklung ansieht.35
3.1 Auf der Grenze von Religion und Kultur Religion und Kultur scheinen auf den ersten Blick zwei verschiedenen Bereichen anzugehören, die problemlos getrennt werden können. Diese Sicht stellt Tillich völlig auf den Kopf, und er behauptet, dass gerade die Trennung dieser beiden || 32 Ebd., 54. – Die vorangehenden elf Kapitel dieser autobiographischen Schrift weisen weitere Grenzen auf, die Tillichs Leben und Denken mitbestimmt haben: „1. Auf der Grenze zwischen den Temperamenten“ (ebd., 13f.); „2. Auf der Grenze von Stadt und Land“ (ebd., 14–16); „3. Auf der Grenze der sozialen Klassen“ (ebd., 16–19); „4. Auf der Grenze von Wirklichkeit und Phantasie“ (ebd., 19–22); „5. Auf der Grenze von Theorie und Praxis“ (ebd., 22–25); „6. Auf der Grenze von Heteronomie und Autonomie“ (ebd., 26–30); „7. Auf der Grenze von Theologie und Philosophie“ (ebd., 31–37); „8. Auf der Grenze von Kirche und Gesellschaft“ (ebd., 37–42); „9. Auf der Grenze von Religion und Kultur“ (ebd., 42–45); „10. Auf der Grenze von Luthertum und Sozialismus“ (ebd., 45–49); „11. Auf der Grenze von Idealismus und Marxismus“ (ebd., 49–54). – Auf das Verhältnis von Theologie und Philosophie sowie dasjenige von Religion und Kultur komme ich unten noch ausführlicher zu sprechen. 33 Vgl. Paul Tillich, Religiöse Verwirklichung (s. Anm. 26), 9–24 („Zur Einführung“). 34 Ebd., 11f. 35 Vgl. ebd., 12.
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Bereiche einen defizitären Charakter hat, ja dass die Religion „ihre eigene Existenz dem Faktum zu verdanken hat, daß der Mensch seinem wahren Sein tragisch entfremdet ist“.36 Konkrete Religion und Kultur sind ihm zufolge auf ein Gemeinsames zurückzuführen; sie wurzeln beide in der Religion im umfassenden Sinn, d.h. „in der Erfahrung dessen, was uns unbedingt angeht“.37 Wie kommt Tillich zu dieser geradezu „kopernikanischen Wende“ in Bezug auf das Verhältnis von Religion und Kultur? In einem handschriftlichen Entwurf mit dem Titel „Religion und Kultur“38, der aus dem Jahre 1920 stammt, heißt es dazu: I. Ist das Religion oder Kultur? a. Messe im Dom, Glockengeläut, gothische [sic!] Halle, Weihrauch, Bilder von Rubens, Musik von Palestrina, Bischof – Klerus – Volk, Dramatik. b. Presbyterianerfeier, Sonntagskleid, steif, gleichartig, ernst, würdig, Psalmengesang, Verlesung des Gesetzes des Glaubens, Predigt im schwarzen Rock, über das Werden der sittlichen Persönlichkeit aus Gott und sein Verhalten im sozialen und wirtschaftlichen Leben. c. Ein buddhistischer Mönch, der die Stufen der Erhebung durchläuft, alle gedanklichen und körperlichen Handlungen vorgenommen hat, die auf jeder Stufe nötig sind, und dicht an die Seligkeit des Nirwana herangerückt ist. II. Ist das Kultur oder Religion? a. Die Klänge einer Beethovenschen Symphonie. Alle Gewalten der Seele werden wach. Kämpfe, Siege, Niederlagen, alles getragen von Tönen überirdischer Schönheit. Ein lauschendes Volk, das Bewegtheit und Verbundenheit widerspiegelt. Kultur oder Religion? b. Eine Nachtsitzung der französischen Nationalversammlung im Anfang der Revolution. Abschaffung der Privilegien. Rausch der Gleichheitsidee, der Menschenrechte, der neuen Weltzeit; selbst die Widerstrebenden hingerissen zu freiwilligem Verzicht. c. Naturanschauung nach Bildern van Goghs: Farbe, Dynamik, universales Leben. Die Schwierigkeit, die Begriffe zu unterscheiden, und die Notwendigkeit für beide.39
|| 36 Paul Tillich, Religion als eine Funktion des menschlichen Geistes (1955), in: Ders., Die Frage nach dem Unbedingten. Schriften zur Religionsphilosophie (= Gesammelte Werke, hrsg. von Renate Albrecht, Bd. V), Stuttgart 1964, 37–42, hier 42. 37 Ebd. 38 Vgl. Paul Tillich, Religion und Kultur (1920), in: Ders., Religion, Kultur, Gesellschaft. Unveröffentlichte Texte aus der deutschen Zeit (1908–1933). Erster Teil, hrsg. von Erdmann Sturm (= Ergänzungs- und Nachlassbände zu den Gesammelten Werken, Bd. X), Berlin/New York 1999, 275–281. 39 Ebd., 275f.
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An den Beispielen, die Tillich hier aufführt, wird deutlich, dass sich die Begriffe „Religion“ und „Kultur“ nicht so eindeutig unterscheiden lassen, wie das auf den ersten Blick aussehen mag. Denn in einem religiösen Akt oder einer religiösen Handlung drückt sich immer auch eine kulturelle Formung aus, und selbst in einem kulturellen Akt kann das Religiöse zur Erfahrung kommen. Die Grenzen zwischen beiden Gebieten können also nicht so eindeutig gezogen werden, wie man das gewöhnlich meint. Eine solche neue Sicht des Verhältnisses von Religion und Kultur hat auch entscheidende Konsequenzen für das Theologieverständnis, denn der Frage nach der Stellung der Theologie im System der Wissenschaften entspricht die Frage nach der Stellung der Religion in der Geisteskultur und damit letztlich die Frage nach der Stellung Gottes zur Welt. Wie sich die religiöse Erfahrung nicht auf den Bereich dessen beschränkt, was man als Religion im engeren Sinne bezeichnet, so darf sich auch die Theologie nicht auf „religiöse Gegenstände“ beschränken. Tillich versteht Theologie nicht als „Rede von Gott als von einem Gegenstand neben anderen“, sondern als „Rede von der Manifestation des Göttlichen in allem Seienden und durch alles Seiende hindurch“.40 Weil Gott nicht ein Objekt neben anderen sein kann, darum kann es auch nicht eine Wissenschaft von Gott „neben anderen Wissenschaften“ geben.41 So wie die Religion nach Tillich das gesamte Geistesleben umfasst, so muss auch die Theologie alle Fragen des Geisteslebens umfassen. In seiner „Systematischen Theologie“ kommt dieses Theologieverständnis Tillichs prägnant so zum Ausdruck: Bilder, Gedichte und Musik können Gegenstand der Theologie werden, nicht unter dem Gesichtspunkt ihrer ästhetischen Form, sondern im Hinblick auf ihre Fähigkeit, durch ihre ästhetische Form gewisse Aspekte dessen auszudrücken, was uns unbedingt angeht. Physikalische, historische oder psychologische Einsichten können Gegenstand der Theologie werden, nicht wegen ihres Charakters als Formen der Erkenntnis, sondern wegen ihrer Fähigkeit, etwas von letzter Bedeutung zu enthüllen. Soziale Ideen und Handlungen, Gesetzesvorschläge und Verfahren, politische Programme und Entscheidungen können Gegenstand der Theologie werden, aber nicht hinsichtlich ihrer sozialen, gesetzlichen oder politischen Form, sondern im Hinblick auf ihre Fähigkeit, etwas uns unbedingt Angehendes durch ihre soziale, gesetzliche und politische Form zu verwirklichen. Persönlichkeits-
|| 40 Paul Tillich, Zur Theologie der bildenden Kunst und der Architektur (1961), in: Ders., Die religiöse Substanz der Kultur. Schriften zur Theologie der Kultur (= Gesammelte Werke, hrsg. von Renate Albrecht, Bd. IX), Stuttgart 1967, 345–355, hier 346. 41 Paul Tillich, Das System der Wissenschaften nach Gegenständen und Methoden (1923), in: Ders., Frühe Hauptwerke (= Gesammelte Werke, hrsg. von Renate Albrecht, Bd. I), Stuttgart 2 1959, 109–293, hier 275.
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probleme und -entwicklungen, Erziehungsziele und -methoden, körperliche und geistige Heilungen können Gegenstand der Theologie werden, aber nicht unter dem Gesichtspunkt ihrer autonomen Form, sondern unter dem Gesichtspunkt ihrer Fähigkeit, durch ihre autonome Form etwas von letztem und unbedingtem Gewicht zu vermitteln.42
Versteht man Theologie nicht als „Rede von Gott als von einem Gegenstand neben anderen“, sondern als „Rede von den Manifestationen des Göttlichen in allem Seienden und durch alles Seiende hindurch“, so hat das ebenfalls Konsequenzen für den Begriff der religiösen Kunst. Wird nämlich Religion im fundamentalen Sinne verstanden als das Erlebnis der Qualität des Heiligen in den theoretischen, praktischen und ästhetischen Funktionen des menschlichen Geistes, dann bedeutet dies, dass Kunst nicht religiöse Gegenstände behandeln muss, um religiös zu sein. Oder anders formuliert: „Kunst kann religiös sein, ob sie sogenannte religiöse oder sogenannte profane Kunst ist. Sie ist religiös, sofern in ihr die Erfahrung letzten Sinnes und Seins zum Ausdruck kommt.“43 Besonders seine Lehrtätigkeit als „University Professor“ an der „Harvard University“ in den Jahren 1955 bis 1962 hat Tillich deutlich gemacht, dass dem Ort „auf der Grenzlinie (on the boundary line)“ von Religion und Kultur für die Theologie eine entscheidende Bedeutung zukommt. Hier in Harvard hat er im Herbst- und Frühjahrssemester 1955/56 zu diesem Thema eine zweisemestrige Vorlesung gehalten, und er bemerkt dazu: „Ich habe den Eindruck, dass die Betonung des gesamten Problemkomplexes, den der Titel ‚Religion und Kultur‘ andeutet, [...] dazu beitragen kann, die Theologie aus der Isolation zu befreien, in die sie teils durch Kritik von außen, teils durch ihre eigene Selbstbeschränkung gedrängt wurde.“44
3.2 Auf der Grenze von Theologie und Philosophie Biographisch wie werkgeschichtlich hat sich Tillich immer auf der Grenze von Philosophie und Theologie bewegt. „Philosoph zu werden war mein Wunsch seit den letzten Gymnasialjahren“, heißt es in seiner Autobiographie „Auf der Grenze“.45 So ist es auch nicht verwunderlich, dass Tillich zuerst ein Doktorat in Philosophie (Breslau 1910) macht, bevor er das Lizentiat in Theologie (Halle 1912) erwarb. Aber selbst nach erfolgter Habilitation für Theologie in Halle im Jahre
|| 42 Paul Tillich, Systematische Theologie, Bd. I, Stuttgart 21956, 21. 43 Paul Tillich, Zur Theologie der bildenden Kunst und der Architektur (s. Anm. 40), 346. 44 Paul Tillich, On the Boundary Line (s. Anm. 22), 1437. – Übers. von mir! 45 Paul Tillich, Auf der Grenze (s. Anm. 26), 31.
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1916 bewegt ihn immer noch die Frage, ob er Philosoph oder Theologe werden solle, wie aus einem Brief an den Vater vom 12. November 1917 hervorgeht.46 1919 erfolgte Tillichs Umhabilitation nach Berlin, bevor er 1924 außerordentlicher Professor für Theologie in Marburg und ein Jahr später Ordinarius für Religionswissenschaft in Dresden wurde. Da für ihn keine Aussicht bestand, in Berlin eine theologische Professur zu erhalten, wechselte er 1929 als Ordinarius für Philosophie und Soziologie, einschließlich Sozialpädagogik an die noch recht junge Universität Frankfurt am Main. Nach seiner Emigration in die USA im Jahre 1933 wurde für ihn nach einer vierjährigen Tätigkeit als Lecturer am „Union Theological Seminary“ in New York dort eigens ein Lehrstuhl für „Philosophical Theology“ eingerichtet, den er bis zu seiner Emeritierung 1955 inne hatte. Während dieser Zeit am „Union“ hat er auch immer wieder philosophische und theologische Lehrveranstaltungen an der gegenüberliegenden „Columbia University“ angeboten. Nach seiner Emeritierung lehrte Tillich sodann noch sieben Jahre als „University Professor“ an der „Harvard University“, wo er ebenfalls philosophische und theologische Vorlesungen und Seminare in den verschiedensten Fakultäten abgehalten hat. Und in den letzten drei Jahren seines Lebens, von 1962 bis 1965, lehrte er noch als erster „John Nuveen-Professor“ Theologie an der „Federated Theological Faculty“ in Chicago. In seiner Autobiographie „Auf der Grenze“ kommentiert Tillich dieses Stehen auf der Grenze von Theologie und Philosophie so: „Ein ständiger Wechsel von Fakultäten und doch kein Wechsel in der Sache: als Theologe versuchte ich Philosoph zu bleiben und als Philosoph Theologe. Das Verlassen der Grenze, die Entscheidung für das eine oder andere wäre leichter gewesen. Aber sie war mir innerlich unmöglich, und der inneren Notwendigkeit folgte das äußere Schicksal in merkwürdiger Übereinstimmung.“47 Dass dieses Stehen auf der Grenze von Theologie und Philosophie nicht von allen Zeitgenossen positiv aufgenommen wurde, mag kaum erstaunen. So kritisierten theologische Kollegen an ihm, er sei zu philosophisch, und philosophische Kollegen fanden ihn zu theologisch. Tillich hat aber beide Disziplinen nicht vermischt, wie manche Theologen meinen. Vielmehr unterscheidet er immer
|| 46 Vgl. Erdmann Sturm, An der engen Pforte der historischen Methode vorbei… Paul Tillichs Habilitation in Halle (1916) und seine Umhabilitierung nach Berlin (1919) und Marburg (1924), in: Christian Danz / Marc Dumas / Werner Schüßler / Mary Ann Stenger / Erdmann Sturm (Hg.), Ethics and Eschatology (= International Yearbook for Tillich Research, Vol. 10), Berlin/Boston 2015, 272–331, hier 282. 47 Paul Tillich, Auf der Grenze (s. Anm. 26), 37.
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strikt zwischen Philosophie und Theologie, wie nicht nur aus der Einleitung zum ersten Band seiner „Systematischen Theologie“ deutlich wird.48 So ist es auch nur konsequent, wenn Tillich die Idee einer „christlichen Philosophie“ im engeren Sinne einer Philosophie, „die programmatisch christlich ist“, strikt ablehnt, würde doch auf diese Weise der philosophische Eros vernichtet werden: „Es gibt nichts im Himmel und auf Erden noch jenseits davon, dem sich der Philosoph unterwerfen müßte außer dem universalen logos des Seins, wie er sich ihm in der Erfahrung mitteilt.“49 In diesem Sinne ist Tillich zufolge die offizielle Ernennung des Thomas von Aquin zu „dem“ Philosophen der römischkatholischen Kirche50 genauso desaströs wie das Ansinnen des Protestantismus, von ihren Philosophen zu verlangen, sie sollten „die Idee der Persönlichkeit als ihr höchstes ontologisches Prinzip“ bejahen, weil dies dem Geist der Reformation am meisten entspräche.51 Die Theologie hat sich Tillich zufolge aber notwendig philosophischer Begrifflichkeit zu bedienen, was schon in dem Namen „Theologie“ zum Ausdruck kommt, verweist der Logos doch immer schon auf die Philosophie.52 Tillich ist auch der einzige Theologe im 20. Jahrhundert, der in seinem Spätwerk eine eigene Philosophie entwickelt hat, die seinem theologischen Denken zugrunde liegt. Nachdem er sich anfänglich noch stark an Kant und dem Deutschen Idealismus, besonders Schelling, orientiert hat, bedeutet für ihn das Aufkommen der modernen philosophischen Anthropologie und Existenzphilosophie am Ende der 1920er Jahre eine entscheidende Zäsur.53 So hat er in seinem Spätwerk – neben der schon angesprochenen Philosophie des Lebens – auch eine eigenständige Existential-Ontologie entwickelt, die die Engführungen der Transzendentalphilo-
|| 48 Vgl. Paul Tillich, Systematische Theologie, Bd. I (s. Anm. 42), 25–37. 49 Ebd., 37. 50 Vgl. dazu bes. die Enzyklika „Aeterni Patris“ (1879) von Leo XIII. Die Enzyklika „Fides et ratio“ (1998) von Johannes Paul II. betont zwar in Nr. 49, dass „die Kirche […] weder eine eigene Philosophie vor[lege] noch […] irgendeiner besonderen Philosophie auf Kosten der anderen den Vorzug“ gebe; doch wird auch hier (vgl. Nrn. 57–58) wiederum mit Bezug auf „Aeterni Patris“ die Bedeutung der Philosophie des Thomas von Aquin hervorgehoben. 51 Paul Tillich, Systematische Theologie, Bd. I (s. Anm. 42), 37. 52 Vgl. Paul Tillich, Philosophie und Theologie (1940), in: Ders., Die Frage nach dem Unbedingten (s. Anm. 36), 110–121. 53 Vgl. dazu Werner Schüßler, Tillichs „existentialistic turn“. Seine Wende von der Transzendentalphilosophie zur Existenzphilosophie in der Zeit des Übergangs von Deutschland in die USA, in: Christian Danz / Werner Schüßler (Hg.), Paul Tillich im Exil (= Tillich Research [s. Anm. 21], Vol. 12), Berlin/Boston 2017, 323–345.
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sophie und der klassischen Metaphysik zu überwinden sucht, indem sie ihren Ausgang in der Selbst-Welt-Korrelation nimmt.54 Tillich begründet dies so: Das Selbst ohne Welt ist leer, die Welt ohne Selbst ist tot. Der subjektive Idealismus […] kann die Welt der Inhalte nicht erreichen, ohne daß das Ich einen irrationalen Sprung in sein Gegenteil, das Nicht-Ich, macht. Der objektive Realismus […] kann die Form der Selbstbezogenheit nicht erreichen, ohne einen irrationalen Sprung von der Bewegung der Dinge in das Ich.55
4 Grenze und Grenzsituation Der Begriff der Grenzsituation wird in der Regel mit dem Denken von Karl Jaspers in Verbindung gebracht.56 Dabei hat Tillich diesen Begriff auch schon seit 1928 in einer recht eigenständigen Weise entwickelt, worauf er auch selbst aufmerksam macht.57 Es weist auch nichts darauf hin, dass er diesen Begriff aus Jaspers’ Schrift „Psychologie der Weltanschauungen“ von 1919 entlehnt hat, in der dieser dieses Konzept ein erstes Mal entfaltet hat. Schauen wir uns also zuerst kurz Jaspers’ Begriff der Grenzsituation an, um die Eigenständigkeit von Tillichs Verständnis der Grenzsituation würdigen zu können. Dasein ist für Jaspers ein Sein in Situationen. Ich kann zwar aus einer bestimmten Situation heraustreten, ich kann dies aber nur in der Weise, dass ich in eine andere eintrete. Das „In-Situation-Sein“ kann ich aber nicht aufheben.58 Das Entscheidende von Grenzsituationen – gegenüber Situationen – besteht nach
|| 54 Vgl. Paul Tillich, Ontologie. Freie Universität Berlin, Sommersemester 1951, in: Berliner Vorlesungen III (s. Anm. 7), 1–168; dazu Werner Schüßler, „Halb bin ich es und halb nicht.“ Paul Tillich als Existentialist, in: Christian Danz / Werner Schüßler (Hrsg.), Paul Tillich in der Diskussion. Werkgeschichte – Kontexte – Anknüpfungspunkte. Festschrift für Erdmann Sturm zum 85. Geburtstag (= Tillich Research, ed. by Christian Danz, Marc Dumas, Verna Ehret, and Werner Schüßler, Vol. 23), Berlin/Boston 2022, 81–102. 55 Paul Tillich, Systematische Theologie, Bd. I (s. Anm. 42), 202; vgl. ders., Ontologie (s. Anm. 54), 23. 56 Vgl. dazu Hans Saner, Art. „Grenzsituation“, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 3, hrsg. von Joachim Ritter, Darmstadt 1974, Sp. 877–878. 57 Vgl. Paul Tillich, Fragen der systematischen Philosophie (Wintersemester 1932/33), in: Frankfurter Vorlesungen (1930–1933), hrsg. und mit einer historischen Einleitung versehen von Erdmann Sturm (= Ergänzungs- und Nachlassbände zu den Gesammelten Werken, Bd. XVIII), Berlin/Boston 2013, 505–666, hier 591. 58 Karl Jaspers, Philosophie, Bd. II: Existenzerhellung [1932], München 51991, 203.
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Jaspers darin, dass wir ihnen prinzipiell nicht ausweichen können.59 Was wir hier tun können, ist, unsere Augen vor ihnen zu verschließen. Wir können aber auch offenen Auges in sie eintreten. Dann werden wir „wir selbst“, wie Jaspers dazu sagt.60 In seiner Schrift „Psychologie der Weltanschauungen“ von 1919,61 in der Jaspers den Begriff der Grenzsituation einführt, nennt er als einzelne Grenzsituationen: Kampf, Tod, Zufall und Schuld.62 Das Leiden versteht er hier als „das Gemeinsame aller Grenzsituationen“.63 Im zweiten Band seiner „Philosophie“ von 1932, wo der Begriff der Grenzsituation eine breite Entfaltung erfährt,64 erörtert Jaspers als einzelne Grenzsituationen: Tod, Leiden, Kampf und Schuld.65 Die Rolle, die dem Zufall in der „Psychologie der Weltanschauungen“ zukommt, übernimmt nun „die Grenzsituation der Fragwürdigkeit allen Daseins und der Geschichtlichkeit des Wirklichen überhaupt“.66 In seiner „Einführung in die Philosophie“ von 1950 erörtert Jaspers schließlich die Grenzsituationen von Tod, Zufall, Schuld und der Unzuverlässigkeit der Welt im Rahmen seiner Darlegungen zu den „Ursprüngen der Philosophie“.67 Während Jaspers den Begriff der Grenzsituation somit vom Begriff der Situation her entwickelt, entfaltet Tillich diesen vom Begriff der Grenze her.68 Ein erstes Mal begegnet der Begriff der Grenzsituation in Tillichs „Lehrsätzen zur ‚Gestalt der religiösen Erkenntnis‘“,die auf das Jahr 1928 zu datieren sind.69 In der „Grundlegung“ geht es hier u.a. um „das menschliche Sein als Ort der religiösen Frage“. Unter Punkt „4. Die menschliche Grenzsituation“ heißt sodann der || 59 Vgl. dazu Werner Schüßler, Jaspers zur Einführung, Hamburg 1995, 51–59. 60 Karl Jaspers, Philosophie, Bd. II (s. Anm. 58), 204; vgl. dazu Werner Schüßler, „Unser Wesen ist Auf-dem-Wege-Sein.“ Zu einem Grundthema der Existenzphilosophie von Karl Jaspers, in: Marc Röbel / Werner Schüßler (Hrsg.), Der Mensch als „homo viator.“ Existenzphilosophische Perspektiven, Freiburg/Br. 2021, 24–48, hier 34–40. 61 Vgl. Karl Jaspers, Psychologie der Weltanschauungen [1919], Neuausgabe München 1985, 229–280. 62 Ebd., 256. 63 Ebd., 247. 64 Vgl. Karl Jaspers, Philosophie, Bd. II (s. Anm. 58), 201–254. 65 Ebd., 220–249. 66 Ebd., 249–254. 67 Vgl. Karl Jaspers, Einführung in die Philosophie. Zwölf Radiovorträge, München 252003, 18–20. 68 Vgl. zum Vergleich der beiden Konzeptionen ausführlich Werner Schüßler, Zum Begriff der menschlichen Grenzsituation bei Karl Jaspers und Paul Tillich, in: Studi Jaspersiani 10 (2022) [im Druck]. 69 Paul Tillich, Die Gestalt der religiösen Erkenntnis, in: Ders., Dogmatik-Vorlesung (Dresden 1925–1927), hrsg. und mit einer historischen Einleitung versehen von Werner Schüßler und Erdmann Sturm (= Ergänzungs- und Nachlassbände zu den Gesammelten Werken, Bd. XIV), 395– 431.
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Lehrsatz § 5: „Mit dem Zerbrechen jeder durch Freiheit gesetzten Sicherung kommt es zur Erkenntnis der unbedingten Bedrohtheit des menschlichen Seins oder zur menschlichen Grenzsituation.“ Der darauffolgende Lehrsatz § 6 lautet: „In der menschlichen Grenzsituation erhebt sich die Frage nach einer nicht durch Freiheit gesetzten Sicherung oder nach dem Jenseits von Sein und Freiheit.“70 In der schon genannten Schrift „Religiöse Verwirklichung“ von 1929 wird das Thema der Grenzsituation dann von Tillich näher entfaltet, wenn es hier heißt: Es ist das Erlebnis der menschlichen Grenzsituation oder der unbedingten Bedrohtheit des menschlichen Seins, das ihn [sc. den modernen Menschen] dazu treibt, sich der Not der Autonomie nicht zu entziehen. – Und nun meine ich, erstens daß das Protestantische am Protestantismus die Verkündigung der menschlichen Grenzsituation, der unbedingten Bedrohtheit des menschlichen Seins ist und bleiben muß. Und zweitens, daß der moderne Mensch geeignet ist, in der Gebrochenheit seiner Autonomie die Botschaft von der Grenzsituation zu vernehmen und sie zu bejahen gegenüber jeder Verlockung, diese Situation zu verlassen und gegenüber jedem Anerbieten religiöser oder nicht-religiöser Sicherungen.71
Man darf also der menschlichen Grenzsituation nach Tillich nicht mit religiösen Mitteln – wie mystischer oder sakramentaler Frömmigkeit – ausweichen. Das „eigentlich Protestantische“ sieht er darin, dies zu verkünden und gegen solche Versuche des Ausweichens zu protestieren.72 Erfährt der Begriff der Grenzsituation in Tillichs Schrift „Religiöse Verwirklichung“ von 1929 eine theologische Deutung, so erhält der Begriff in den sogenannten „Taylor-Lectures“, die Tillich 1935 an der Yale University gehalten hat, eine anthropologische Ausdeutung.73 Auch wenn Tillich inzwischen Jaspers’ „Philosophie“ von 1932 in seiner Frankfurter Vorlesung über „Fragen der systematischen Philosophie“ vom WS 1932/33, die postum veröffentlich wurde, rezipiert hat, so deutet doch nichts darauf hin, dass dessen Interpretation der Grenzsituation ihn beeinflusst hätte in seiner eigenen Konzeption.74 So heißt es hier in einem von Tillich selbst aber wieder gestrichenen Text ausdrücklich:
|| 70 Ebd., 396. 71 Paul Tillich, Religiöse Verwirklichung (s. Anm. 26), 29. 72 Ebd., 30. 73 Vgl. Paul Tillich, Die Lehre vom Menschen (Yale Divinity School, Yale University, New Haven, April 1935), in: Frühe Vorlesungen im Exil (1934–1935), hrsg., übers. und mit einer historischen Einleitung versehen von Erdmann Sturm (= Ergänzungs- und Nachlassbände zu den Gesammelten Werken, Bd. XVII), Berlin/Boston 2012, 263–314; vgl. dazu auch Paul Tillich, Auf der Grenze (s. Anm. 26), 16. 74 Vgl. Paul Tillich, Fragen der systematischen Philosophie (s. Anm. 57), 587–592.
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Es gibt Situationen, in denen das Selbst an die Grenze jeder Erfüllung mit konkretem Gehalt getrieben wird. Jaspers und ich haben von philosophischer und theologischer Seite unabhängig dafür den Begriff der Grenzsituation gebraucht. Das Stehen vor dem eigenen Tod und in der eigenen Schuld sind solche Grenzsituationen, in denen wir auf unser reines Selbst geworfen sind und zugleich jede Möglichkeit aufhört, dem Nein zu vertrauen, unter dem das Selbst in dieser Situation steht. Der eigene Tod und die eigene Schuld werfen uns auf uns selbst; enthüllen im eigentlichsten Sinn die Existentialität unseres Selbst und sind nicht durch Flucht in die Objektivität irgendeiner Art zu beseitigen.75
In der dritten Vorlesung seiner „Taylor-Lectures“, wo es um die Endlichkeit des Menschen geht, begegnet der Begriff der Grenzsituation zwar nicht explizit, aber die Sache, die damit verbunden ist, ist doch präsent. Zudem hat Tillich in seiner Selbstdarstellung „Auf der Grenze“ in Bezug auf den Begriff der Grenzsituation auch eigens auf diese „Taylor-Lectures“ hingewiesen.76 Der Mensch, so führt Tillich hier aus, „kann dem absoluten Nichts ins Auge blicken“: „Die Erfahrung dieser existentiellen Situation ist der eigentliche Schock für den Menschen, sie ist die Voraussetzung für Religion und Philosophie. Denn sie ist die Erfahrung der menschlichen Endlichkeit.“77 Allerdings kann die Antwort auf die mit unserer Existenz gegebene Frage nicht von unserer Existenz kommen, „sie muss von jenseits unserer Existenz kommen“.78 Tillich verweist in diesem Zusammenhang auf „vier elementare Begriffe der christlichen Lehre“: Schöpfung, Vorsehung, Ewigkeit und Erlösung.79 Die anthropologische Deutung der menschlichen Grenzsituation führt somit letztlich zu einer theologischen Antwort. Im Spätwerk Tillichs begegnet der Begriff der Grenzsituation nur noch selten, die Sache, um die es dabei geht, ist aber auch hier in verschiedenen Schriften präsent. Neu ist nun, dass Tillich den Begriff der Grenzsituation stärker mit der ontologischen Frage in Verbindung bringt. So heißt es im ersten Band seiner „Systematischen Theologie“ aus dem Jahre 1951: Die Bedrohung durch das Nichtsein, die das Bewusstsein ergreift, ruft den ‚ontologischen Schock‘ hervor. […] Die Vernunft erreicht ihre Grenze, sie wird auf sich selbst zurückgeworfen und dann wieder in ihre Grenzsituation hineingetrieben. In der erkennenden Funktion
|| 75 Ebd., 591f.; vgl. auch Paul Tillich, Offener Brief an Emanuel Hirsch, in: Ders., Briefwechsel und Streitschriften. Theologische, philosophische und politische Stellungnahmen und Gespräche, hrsg. von Renate Albrecht und René Tautmann (= Ergänzungs- und Nachlassbände zu den Gesammelten Werken, Bd. VI), Frankfurt/M. 1983, 142–176, hier 147. 76 Vgl. Paul Tillich, Auf der Grenze (s. Anm. 26), 16. 77 Paul Tillich, Die Lehre vom Menschen (s. Anm. 73), 288. 78 Ebd., 300. 79 Vgl. ebd., 305.
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kommt die Erfahrung des ontologischen Schocks durch die philosophische Grundfrage – die Frage nach Sein und Nichtsein zum Ausdruck.80
In seiner im selben Jahr in Berlin gehaltenen Ontologie-Vorlesung bringt Tillich die Bedrohung durch das Nichtsein mit der Angst in Verbindung. „Angst und Endlichkeit, Angst und Drohung des Nichtseins, Angst und Einheit von Sein und Nichtsein […]“, so heißt es hier, „ist ein und dasselbe.“81 Nichtsein ist aber kein Objekt. Während man mit der Furcht, die immer objektbezogen ist, fertig werden kann durch Handeln, kann man die Angst auf diese Weise nicht überwinden.82 Was aber ist in der Lage, die mit der Drohung des Nichtseins verbundene Angst zu überwinden? Tillich antwortet darauf: der „Mut zum Sein“,83 den er mit Begriffen wie Selbstbejahung und Selbstannahme in Verbindung bringt. In der Regel sind Mut und Angst nach Tillich balanciert. Würde nämlich nur Angst herrschen, so wäre das Endliche nicht in der Lage zu sein. Aber der Mut weiß auch, dass eines Tages die Angst vorherrschen wird, weil das Nichtsein das letzte Wort hat. Dann entsteht nach Tillich die Frage nach einem Mut, der auch „dem letzten Wort des Nichtseins ein Wort entgegenstellen kann“.84 Hier ist dann der Punkt erreicht, wo die Frage nach Gott ihren Ort hat: „Es ist die Frage der Teilnahme an der Selbstbejahung des Seins-Selbst, des Grundes des Seins. Ist Mut letztlich stärker als Angst? Er kann nur stärker sein, wenn Nichtsein letztlich eingeschlossen ist in Sein und dadurch überwunden.“85 Auch hier führt somit die ontologische Deutung der menschlichen Grenzsituation hin zu einer theologischen Antwort.
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In Leben und Werk Paul Tillichs verdichtet sich die Bedeutung von äußeren und inneren Grenzen, auf die der Mensch immer wieder stößt. Der menschliche Geist, so wurde deutlich, ist aber nur schöpferisch, wenn er in der Lage ist, diese Grenzen zu überschreiten. Grenzen zu überschreiten, muss aber nicht heißen, seine
|| 80 Paul Tillich, Systematische Theologie, Bd. I (s. Anm. 42), 137. 81 Paul Tillich, Ontologie (s. Anm. 54), 102. 82 Ebd. 83 So lautet auch der Titel seiner bekanntesten Schrift von 1952: The Courage to Be; vgl. Paul Tillich, Der Mut zum Sein, in: Ders., Sein und Sinn. Zwei Schriften zur Ontologie (= Gesammelte Werke, hrsg. von Renate Albrecht, Bd. XI), 13–139. 84 Paul Tillich, Ontologie (s. Anm. 54), 106. 85 Ebd.
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Substanz preiszugeben – ganz im Gegenteil, gehört es doch zur Dialektik des Lebens, sich nicht im Fremden zu verlieren, sondern bereichert wieder zu sich selbst zurückzukehren. Das trifft für den Einzelnen wie auch für Gruppen zu. Grenzen zu überschreiten, schließt aber Tillich zufolge notwendig Mut und Wagnis mit ein.86 Wenn diese fehlen und die Angst vor dem Neuen überwiegt, dann hat das in der Regel fatale Folgen, die Tillich wie folgt beschreibt: Jeder Mensch wird dann und wann an die Grenze seines Seins geführt. Er sieht das andere jenseits seiner selbst, es erscheint ihm als eigene Möglichkeit und erweckt in ihm die Angst des Möglichen. Er sieht im Spiegel des anderen seine eigene Beschränktheit, und er erschrickt; denn diese Beschränktheit war zugleich seine Sicherheit, und sie ist bedroht. Die Angst des Möglichen zieht ihn zurück in seine begrenzte Wirklichkeit und deren momentane Ruhe. Doch die Situation, zu der er zurückkehren will, ist nicht mehr dieselbe. Seine Erfahrung des Möglichen und sein Versagen ihr gegenüber hinterläßt einen Stachel, der nicht zu beseitigen ist, der nur noch durch Verdrängung aus dem Bewußtsein entfernt werden kann. Und wo das geschieht, entsteht jenes seelische Phänomen, das wir Fanatismus nennen. […] Die Aggression des Fanatikers ist die Folge seiner Schwäche, seiner Angst, die eigene Grenze zu überschreiten, und seiner Unfähigkeit, das, was er in sich selbst unterdrückt hat, im anderen verwirklicht zu sehen.87
Beispiele für einen solchen Fanatismus, der bei Einzelnen wie bei Gruppen auftreten kann, finden sich auch gegenwärtig im sozialen, politischen und religiösen Bereich zur Genüge. Von daher ist Tillichs Analyse in Bezug auf das Thema „Grenzen“ heute aktueller denn je. Vom Begriff der Grenze her konzipiert Tillich auch seine eigene Deutung des Begriffs der Grenzsituation, den er unabhängig von Jaspers entwickelt hat. Erhält dieser Begriff anfangs noch eine rein theologische Konnotation, dann erfährt er später eine stärker anthropologische und schließlich ontologische Ausrichtung, die aber letztlich in eine theologische Antwort einmündet – ganz im Sinne seiner „Methode der Korrelation“.
|| 86 Vgl. Paul Tillich, Der Mut zum Sein (s. Anm. 83), bes. 55–59. 87 Paul Tillich, Grenzen (s. Anm. 1), 420f.
Benoit Mathot
Liminalités chiliennes : la pensée tillichienne comme ressource ? Abstract : This paper aims to analyze the conjunction of crises – political, social, ecclesial – that Chilean society is going through, through the prism of the concepts of coincidence and decoincidence developed by the philosopher François Jullien. On this basis, we will then try to show how Tillichian thought, in particular thanks to its concepts of theonomy and kairos, can constitute a particularly fertile resource for understanding and interpreting these Chilean liminalia.
1 Introduction La situation pandémique qui bouleverse le monde depuis l’année 2019 impose la notion de liminalité comme une notion centrale de l’agenda philosophique. Il semble en effet que nous soyons précipités dans la fin d’un monde, mais sans que nous ne sachions encore vers où nous allons. J’emploie à dessein le mot « précipités », car nous trouvions déjà avant la pandémie de nombreux éléments qui évoquaient, de plus en plus distinctement, l’idée d’un changement d’époque : la crise écologique, la numérisation du monde, les risques liés au terrorisme, etc. Toutefois, la pandémie est venue donner à cette idée un véritable coup d’accélérateur. Dans le contexte chilien, qui sera le lieu à partir duquel j’explorerai la notion de liminalité, l’idée d’un changement d’époque encore indéterminé est sans doute encore plus présente que dans d’autres contextes. En effet, elle vient se conjuguer à une explosion sociale et politique, ainsi qu’à une crise cataclysmique de l’Église catholique, cette dernière étant accusée, à travers bon nombre de ses membres, d’avoir commis (ou couvert) de nombreux cas d’abus sexuels, de pouvoir et de conscience au cours des dernières décennies. C’est à ce contexte, déjà source de nombreuses remises en question, que la pandémie est venue s’ajouter, augmentant encore l’inquiétude d’une société partagée entre une perte des repères traditionnels et l’effervescence d’un nouveau commencement encore bien incertain quant à ses objectifs. Dans cet article, je me propose d’explorer brièvement le contexte chilien, en particulier les crises politique, sociale et religieuse, avant de montrer comment cette situation peut être pensée et systématisée à partir du couple conceptuel
https://doi.org/10.1515/9783110984729-002
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coïncidence/décoïncidence développé, dans ses derniers ouvrages, par le philosophe français François Jullien, et de voir comment la pensée théologique de Paul Tillich, en particulier les notions de kairos et de théonomie, peut faire écho à cette situation et constituer un apport théologique et spirituel appréciable pour penser une possible issue à ces différentes crises.
2 Un contexte chilien explosif 2.1 La crise ecclésiale Suivons la chronologie des faits. C’est tout d’abord une crise ecclésiale profonde qui, dès 2010 (même si ce n’est qu’en 2018 qu’elle prendra toute son ampleur), surgit au Chili, à la suite de la révélation de nombreux cas d’abus sexuels, de pouvoir et de conscience commis par des membres du clergé catholique au cours des dernières décennies. Le cas emblématique, qui a en quelque sorte servi de détonateur à cette crise, fut le cas du prêtre Fernando Karadima Fariña (1930– 2021), charismatique leader de la paroisse conservatrice d’El Bosque, dans la très chic banlieue de Santiago du Chili. Depuis des décennies, Karadima, doué d’un véritable charisme pour la prédication et la confession, donnait l’exemple d’un dynamisme évangélisateur et missionnaire tout à fait remarquable et était cité en exemple dans tous les cercles de l’Église catholique chilienne. Il suscitait en effet la vocation de nombreux séminaristes (plus d’un tiers du clergé de Santiago serait issu de son entourage), dont plusieurs deviendront d’ailleurs évêques1 ou des personnages importants dans la hiérarchie catholique ou à la Pontificia Universidad Católica de Chile, à Santiago. Par ailleurs, Karadima était aussi l’accompagnateur spirituel de nombreuses personnes, généralement des acteurs très influents de l’économie nationale, mais aussi de bon nombre de jeunes en recherche de sens et de repères. Sa paroisse se caractérisait par une intense activité pastorale, entrainant aussi de très importantes entrées d’argent, principalement liées à son leader charismatique. Ce dernier était non seulement apprécié, mais adulé par les membres de sa paroisse ; il était de plus très en vue auprès des autorités romaines de l’époque, en particulier auprès du Cardinal Angelo Sodano, qui fut nonce apostolique au Chili durant la dictature, puis Secrétaire
|| 1 Parmi ces évêques, on rencontrera par exemple : Juan Barros, évêque d’Osorno, Horacio Valenzuela, évêque de Talca, Tomislav Koljatic, évêque de Linares, et Andrés Arteaga, évêque auxiliaire de Santiago.
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d’État sous le Pontificat de Jean-Paul II, et un visiteur fréquent de la paroisse d’El Bosque. On peut s’en douter, lorsque le programme « Informe especial » de la télévision publique chilienne présenta en prime time en 2010 la face obscure de Fernando Karadima, à travers les témoignages glaçants de James Hamilton, Juan Carlos Cruz et Andrés Murillo, trois anciens membres de la paroisse d’El Bosque, qui avaient fait partie, dès leur adolescence, du premier cercle des adorateurs de Karadima avant d’en être les victimes, le scandale fut d’ampleur nationale. Les trois jeunes adultes révélaient en effet avoir été abusés sexuellement pendant de nombreuses années par Karadima. Par ailleurs, ils révélaient aussi avoir porté l’affaire, dès 2003, devant différentes instances ecclésiastiques chiliennes, et n’avoir reçu en retour aucune réponse, ce qui rendait selon eux ces instances « complices » des abus commis par Karadima. Une fois révélée publiquement, l’affaire fut instruite devant la justice pénale et civile et se termina finalement, sur le plan pénal, par un non-lieu pour cause de prescription des faits, et, en 2019, sur le plan civil, par une condamnation de l’Église catholique, reconnue coupable de ne pas avoir agi adéquatement dès les premières plaintes en 2003 et contrainte de dédommager financièrement les trois victimes. Par ailleurs, sur le plan de la justice ecclésiale, après une enquête canonique, Karadima fut condamné en 2018 au renvoi de l’état clérical. C’est dans ce contexte tendu de révélations et de contestations que le Pape François fit au Chili un voyage apostolique du 15 au 18 janvier 2018. L’affaire qui marquait alors l’actualité était celle de l’évêque d’Osorno, Juan Barros. Intime et disciple de Fernando Karadima durant plus de quarante ans, sa nomination comme évêque est alors fortement contestée par une partie importante des fidèles de son nouveau diocèse, qui l’accusent d’avoir dissimulé les agissements de Karadima ; selon les dires des principales victimes, il l’aurait même personnellement assisté.2 Étrangement, le Pape François, sans doute « mal informé » par la nonciature de Santiago et ses sources chiliennes au Vatican, défendra Barros durant tout son séjour au Chili, en l’associant par exemple, comme les autres évêques chiliens, aux différentes célébrations liturgiques ayant rythmé son voyage. Par ailleurs, plus surprenant encore, dans une interview accordée aux médias chiliens, le Pontife prendra publiquement la défense de Barros, en traitant ses opposants de « stupides » et de « gauchistes », ce qui suscitera l’indignation de nombreux catholiques. Toutefois, très peu de temps après avoir tenus de tels propos, en fait dès sa rencontre avec la presse dans l’avion qui le ramène à
|| 2 Sur cette affaire et pour un panorama de la crise ecclésiale chilienne, voir Régine et Guy Ringwald, La bataille d’Osorno, Paris, coll. TempsPrésent/Golias, 2020.
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Rome, le Pape reviendra sur ses propos en indiquant qu’il s’était mal exprimé. De retour à Rome, il nommera une commission d’enquête chargée de faire toute la lumière sur les cas d’abus sexuels, de pouvoir et de conscience au sein de l’Église chilienne (ce sera le fameux rapport Scicluna), et il convoquera à Rome l’ensemble des évêques chiliens en synode (évêques qui renonceront unanimement à leur fonction le 19 mai 2018, au deuxième jour de cette visite). Enfin, dans la foulée de cette démission collective, François publiera, le 31 mai 2018, un texte marquant intitulé « Lettre au Peuple de Dieu pérégrinant au Chili », puis nommera Juan Carlos Cruz (l’une des victimes de Karadima) à la Commission pontificale pour la protection des mineurs en mars 2021. On peut aisément l’imaginer, l’affaire Karadima et ses différents soubresauts entraîneront, par son retentissement, d’autres révélations en cascade qui ébranleront très profondément l’Église catholique chilienne jusque dans ses fondements. Elle qui avait été unanimement considérée comme un modèle d’Église exemplairement engagée en faveur des droits humains pendant toute la période de la dictature militaire du Général Pinochet (1973-1988), par exemple avec à la création du Vicaría de la Solidaridad (Vicariat de la solidarité), voici maintenant que le fondateur de cette même institution – Cristián Precht Bañados – est à son tour reconnu comme prédateur sexuel. Il sera lui aussi renvoyé à l’état laïc par le Pape François en septembre 2018. Autre exemple emblématique : le cas du jésuite Renato Poblete, décédé en 2010, qui fut une autre figure remarquable d’un engagement ecclésial en faveur des plus défavorisés (un parc de Santiago portait d’ailleurs son nom), mais dont il sera révélé en 2019 qu’il aura abusé de plusieurs femmes pendant presque cinquante ans. Enfin, dernier exemple, une investigation journalistique et policière montrera aussi, en 2018, qu’un tiers des clercs du Diocèse de Rancagua (dirigé par Alejandro Goíc, autre figure marquante de l’Église catholique engagée en faveur des droits humains) s’est constitué en une confrérie secrète (« La familia ») ; celle-ci se caractérisait par des pratiques pour le moins malsaines sur le plan des mœurs et de la morale, ainsi que par des pratiques de protection mutuelle pour en étouffer les échos (le leader de ce groupe étant par exemple appelé par les autres membres « La abuela », littéralement la « grand-mère »). Où en sommes-nous alors aujourd’hui, quatre ans après la visite du Pape François au Chili ? Les choses ont-elles vraiment changé dans l’Église chilienne ? Ou les changements ne sont-ils que cosmétiques et de façade ? Certes, quelques évêques ont vu leur démission acceptée, d’autres ont été maintenus en poste, et quelques autres été nommés (notamment en remplacement des fameux Barros, Valenzuela et Goíc) ; différentes instances ont aussi vu le jour et de nombreux
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travaux académiques de grande qualité ont été publiés.3 Toutefois, il est fort probable qu’il faudra encore attendre de nombreuses années avant que le cœur du problème ne soit enfin percé. Ce problème est loin de n’être que chilien et le Pape François n’a pas eu peur de l’appeler par son nom, lorsqu’il a dénoncé avec vigueur les ravages spirituels et humains causés par le poison du « cléricalisme », notion et attitude qui sont véritablement et explicitement au cœur de sa critique des dysfonctionnements de l’institution ecclésiale. Mais il est sans doute plus facile de le dénoncer par des paroles que de le transformer concrètement et de développer des pratiques véritablement transformatrices. Ici, un certain monde est sans aucun doute en train de s’écrouler, alors qu’un autre tente difficilement de voir le jour, sans qu’on ne sache encore ce qu’il sera, ce qui nous situe clairement au cœur d’un espace liminal.
2.2 La crise socio-politique Si l’on regarde à présent un autre aspect de la crise chilienne, cette fois au niveau politique et social, une expression pourrait peut-être la résumer : « Tout semblait pourtant si tranquille… ». Et en effet, avant ce 18 octobre 2019, jour où la situation politique et sociale du Chili a subitement basculé, tous les indicateurs internationaux présentaient le Chili comme le bon élève des pays latinoaméricains, vantant son retour pacifique vers la démocratie, sa stabilité politique, institutionnelle et monétaire, sa croissance économique, ses créations d’emploi, sa quasi-absence de dette publique, etc. Signe que rien ne pouvait prédire l’explosion sociale qui secoua le pays en octobre 2019, le Président de la République, Sebastián Piñera, présentait encore son pays dans une interview, la semaine précédant l’explosion sociale, comme une véritable « oasis au milieu d’une Amérique Latine convulsionnée », ce qui ne manqua pas de susciter bon nombre de sarcasmes quelques jours plus tard. Ce qui se passa le 18 octobre 2019 reste encore à ce jour un mystère : véritable kairos pour les uns, véritable anti-kairos pour les autres, toujours est-il que le pays entra dans une phase de convulsions politiques absolument inédite. On retient généralement comme élément déclencheur de la crise la hausse de trente centimes du prix du ticket de métro, hausse qui provoqua un mouvement de protestation des étudiants, qui se mirent à envahir le métro, forçant ses différentes
|| 3 On peut citer par exemple le rapport réalisé par une équipe académique interdisciplinaire de la Pontificia Universidad Católica de Chile, intitulé : « Comprendiendo la crisis de la Iglesia en Chile ».
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entrées, enjambant sans payer les tourniquets donnant accès aux quais et manifestant à grands cris leur mécontentement. Toutefois, très rapidement, la situation devint hors de contrôle, différentes stations étant littéralement prises d’assaut, certaines même étant mises à sac et incendiées. La répression policière ne se fit pas attendre, ce qui provoqua un embrasement rapide et de plus en plus généralisé de la colère d’une partie significative de la population, qui scandait que ce n’étaient pas trente centimes qui étaient la cause de leur révolte, mais trente ans d’abus de toutes sortes. Il faut en effet bien voir qu’après le coup d’État militaire du Général Augusto Pinochet, le 11 septembre 1973, une profonde transformation structurelle a affecté le Chili, faisant de ce pays, qui avait pourtant porté le socialisme pluraliste de Salvador Allende au pouvoir, un véritable laboratoire à ciel ouvert de la pensée et de l’approche néolibérale, non seulement en matière d’économie, mais aussi, plus généralement, par rapport à tous les domaines de la vie, avec l’appui indéfectible des États-Unis qui étaient alors engagés dans une chasse au marxisme en Amérique Latine. Et aujourd’hui encore, plus de trente-trois ans après le départ formel de Pinochet du pouvoir et le retour de la démocratie à la suite du plébiscite de 1988, ce virage néolibéral de la société chilienne (qui fut traduit et formalisé dans la Constitution de 1980) n’a pas pu être changé. La conséquence en est une inégalité immense entre les citoyens les plus fortunés, qui se sont appropriés la majorité des ressources naturelles et économiques du pays, et le reste de la population, qui n’a souvent pas accès aux ressources les plus fondamentales d’une nation démocratique (santé, pension de retraite, éducation, justice, assurance, culture). Cette inégalité d’accès aux ressources naturelles et économiques recoupe celle qui existe entre un secteur privé puissamment développé et un secteur public qui se caractérise par son absence de ressources et son manque d’efficacité. Sur cette base, on comprend que l’un des dictons populaires chiliens avertisse davantage des risques de vieillir que des risques de mourir… La révolte populaire, en grande partie pacifique, malgré de nombreux affrontements, a peu à peu gagné le pays. On compte des dizaines de milliers de personnes indignées dans des grandes villes, voire des villes moyennes. Le 26 octobre 2019, plus d’un million de personnes manifestent pacifiquement dans le centre de Santiago du Chili, ce qui restera la plus grande marche de l’histoire du Chili. Le symbole était d’autant plus puissant que le 21 octobre, quelques jours auparavant, et juste après le début de la révolte, le président Piñera annonçait solennellement à la nation que le pays était « en guerre contre un ennemi puissant » ; cette annonce allait de pair avec l’instauration d’un état d’urgence et le déploiement de contingents armés chargés de faire respecter l’ordre public. Fina-
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lement, après des semaines d’émeutes et d’immenses marches pacifiques, qui auront coûté la vie à vingt-quatre personnes et provoqué de graves violations des droits de l’homme, un début de sortie de crise sera trouvé dans la nuit du 15 novembre. Un accord historique « pour la paix sociale et la nouvelle constitution » sera en effet trouvé entre les principaux partis politiques chiliens ; accord qui prévoit, entre autres, la tenue d’un référendum sur un changement de constitution, ce qui était une des revendications importantes exprimées durant les manifestations. Ce référendum, organisé quelques mois plus tard, le 26 avril 2020 (pendant la pandémie), donnera une très large victoire à l’option en faveur du changement de constitution (78,2% en faveur, contre 21,7% pour le statu quo) et ouvrira la porte à l’élection d’une assemblée constituante, qui entrera en vigueur le 4 juillet 2021 et sera présidée par Elisa Loncón, universitaire d’origine Mapuche. Cette nomination constitue un puissant symbole pour un pays qui a toujours relégué la population autochtone Mapuche, vivant dans la partie sud du Chili, aux marges de l’histoire et de la société. À l’heure où j’écris ces lignes, le travail de la convention constituante est toujours en cours et il rencontre de nombreuses difficultés. Tout un système politique et constitutionnel est à réformer ; cela constitue pour plusieurs un véritable kairos, attendu depuis des décennies pour davantage de justice et de dignité, mais aussi, pour beaucoup d’autres, un véritable anti-kairos, symbole désastreux d’un pays qui s’aventure désormais dans des chemins inconnus au risque de perdre son équilibre et sa stabilité. Ici aussi, nous sommes plongés au cœur d’un moment liminal, où un changement très profond travaille la société chilienne. Un changement auquel cette même société a toutefois décidé de donner corps et visage le 19 décembre 2021, en élisant comme Président de la République Gabriel Boric, jeune candidat de 35 ans appuyé par l’ensemble de la gauche et fervent partisan d’un changement de constitution, face à José Antonio Kast, un candidat d’extrême-droite, xénophobe, nationaliste, antiféministe, admirateur de Trump et de Bolsonaro, et … fervent opposant au changement de constitution. Que sera le Chili dans un an ? Nul n’est aujourd’hui en mesure de le prévoir, mais le pays a décidé, à 56%, de poursuivre dans la voie du kairos. En guise de conclusion à cette première section, je voudrais insister sur le fait que c’est dans le sillage de ces différentes crises et aspirations au changement qu’est apparue en mars 2019 la crise du Covid-19 qui, ici aussi, a causé la perte de très nombreuses vies (on compte plus de 38.465 décès à la date du 6 décembre 2021) et de profonds changements dans l’organisation sociale et la vie quotidienne de la population, que ce soit par l’instauration d’un pass sanitaire, la restriction temporaire des libertés, l’instauration d’un état d’urgence sanitaire, la fermeture des écoles ou la généralisation de télétravail chaque fois que cela était
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possible. Ici aussi, quelle sera la société de demain, personne ne le sait. Nous sommes donc plongés au Chili, plus que jamais, dans une série de liminalités (j’insiste sur le pluriel), ces temps de changements et de transitions où quelque chose s’efface et s’effondre, sans qu’on ne sache encore ce qui va en prendre le relais.
3 Coïncidence et décoïncidences Je fais maintenant l’hypothèse que ce panorama de crises chiliennes peut être interprété par la catégorie de « coïncidence », telle qu’elle est déployée par le philosophe Francois Jullien dans ses derniers ouvrages. En effet, si nous considérons que ce sont les phénomènes du « cléricalisme » et du « néolibéralisme » qui sont les causes principales, respectivement, de la crise ecclésiale et de l’explosion sociale, nous pouvons alors avancer l’hypothèse selon laquelle ces deux phénomènes se caractériseraient par un furieux désir de coïncidence : coïncidence avec un système ecclésial autocentré dans le premier cas, et coïncidence avec soimême comme individu absolument autonome dans le second. Avant de creuser ces deux formes de coïncidence, il nous faut encore faire un bref détour par le chantier philosophique à partir duquel émerge cette notion, qui est le chantier de la décoïncidence initié et déployé par François Jullien. Quelle est l’idée fondamentale de ce chantier ? Ce chantier élaboré par le philosophe français François Jullien dans ses derniers ouvrages4 postule que le devenir humain de nos vies (qui a pour effet de transformer nos vies [c’est-à-dire le registre du vital] en existences) se joue davantage dans l’approfondissement d’une désadéquation fondamentale du sujet avec lui-même que dans une coïncidence de plus en plus resserrée de ce sujet avec lui-même. Une citation de Jullien l’exprime avec clarté : « Partons du plus élémentaire : quand les choses coïncident parfaitement, qu’elles sont complètement adéquates et adaptées, on croit que c’est enfin là le bonheur […]. Or, en fait, cette adéquation, en s’accomplissant, se stérilise ; autrement dit, c’est la mort. C’est donc par sortie de la coïncidence, de cette adéquation qui s’enlise dans sa positivité, que peut s’ouvrir un avenir ;
|| 4 Voir François Jullien, Vivre en existant, Paris, Gallimard, 2016 ; François Jullien, Dé-coïncidence. D’où viennent l’art et l’existence, Paris, Grasset, 2017 ; François Jullien, Ressources du christianisme, Paris, L’Herne, 2019 ; François Jullien, Politique de la décoïncidence, Paris, L’Herne, 2020 ; François Jullien, Une seconde vie, Paris, Éditions de l’Observatoire, 2020.
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ou que se promeut la vie ».5 Une vie qui se promeut précisément en existence par le truchement du négatif (ou de la négativité). Cependant, selon notre auteur, cette aptitude de la décoïncidence à promouvoir la vie en existence se heurterait de nos jours à ce que l’on pourrait appeler une crise de la négativité. En effet, c’est précisément tout le contraire de ce que promeut Jullien qui serait aujourd’hui actif et opérant, comme l’atteste le psychanalyste belge Jean-Pierre Lebrun, lorsqu’il thématise l’effacement du négatif,6 ou le même Jullien, lorsqu’il parle de l’aspiration de notre époque au « tout positif »7, aspiration allant forcément de pair avec l’élimination du négatif. On s’en doute, ce sera par la réintroduction d’un « négatif activant » (ou d’une « modalité négative »8) que l’on pourra repotentialiser la décoïncidence, et par-là désenliser l’humanisation des sujets et de la société de son actuel empâtement. Si nous en revenons maintenant aux phénomènes du cléricalisme et du néolibéralisme qui se retrouvent, entre autres éléments, au cœur des liminalités chiliennes, nous pouvons donc affirmer qu’ils peuvent être lus, chacun à leur manière, précisément comme la négation de la décoïncidence, et par conséquent, comme la valorisation symétrique de la figure de coïncidence.9 En quel sens pouvons-nous affirmer cela ? Nous pouvons l’affirmer tout d’abord en considérant le « cléricalisme », cette manière de faire Église que le pape François a décrit et dénoncé fortement dans sa « Lettre au peuple de Dieu pérégrinant au Chili ». Dans cette lettre adressée à tous les fidèles chiliens, le pape fait de ce mode d’être le mal spirituel responsable de cette crise, ainsi que la tentation constante de l’Église quand elle ne se laisse plus déranger et interrompre par autre chose qu’elle-même. Il y a bien ici « coïncidence » parce que, toujours selon le Pape François, le cléricalisme se caractérise et se présente structurellement comme un mouvement « autoréférentiel », c’està-dire, comme une manière, pour l’Église, de se considérer et de se prendre elle-
|| 5 François Jullien, « De l’écart à l’inouï – repères III », in Jullien, Paris, Éditions de L’Herne, 2018, 233. 6 Voir Jean-Pierre Lebrun, La perversion ordinaire, Paris, Champs Essais, 2016 et Jean-Pierre Lebrun, Un immonde sans limite, Toulouse, Eres, 2020. 7 François Jullien, Du mal / Du négatif, Paris, coll. Points essais, 2006, 13. 8 François Jullien, « De l’écart à l’inouï – repères III », 233. 9 Sur le rapport entre cléricalisme, néolibéralisme et décoïncidence, voir mes textes : Benoit Mathot, « Acoger lo inintegrable. Itinerancia teológica : entre el caos y la esperanza », in Agüero, J., Labarthe, J.T., Chile 2019–2010 : Entre la revuelta y la pandemia. Talca, Editorial UCM, 2020, 26-39, et Benoit Mathot, « Para un cristianismo de la descoincidencia instauradora », in Mensaje, mai 2019, 31-34.
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même pour le centre de l’attention, au fond d’avoir son centre en elle-même, plutôt qu’en Jésus-Christ, en se complaisant et en s’enfermant donc dans une attitude toute à l’opposé de celle d’une « Église en sortie », qui s’efforcerait plutôt de se déployer hors d’elle-même. Cette fameuse Église en sortie (nous pourrions aussi la qualifier de kénotique), solidaire des périphéries existentielles, et donc décentrée d’elle-même (et par là-même recentrée sur l’essentiel) décoïncide par conséquent structurellement d’avec elle-même, en tout cas d’avec cette forme d’Église qui se considère comme centre et absolu. Cette fameuse Église appelée de ses vœux par le pape François, le cléricalisme l’exècre au plus haut point, y voyant plutôt la perte d’un pouvoir (et donc d’un contrôle) qu’il ne peut pas ne plus exercer. Si l’on regarde à présent la crise chilienne à partir de l’angle du « néolibéralisme », on peut remarquer qu’avec sa compréhension économique et quantitative du monde et des relations humaines, avec ses objectifs d’efficacité, de performance, de réussite, de rendement, d’optimisation, de pouvoir, de savoir, de transparence, de mobilité, de fluidité, de bien-être, de bonheur, quelque chose comme une négation de la décoïncidence est également en train de s’installer à ce niveau. À sa manière, le psychanalyste belge Jean-Pierre Lebrun thématise cette question lorsqu’il aborde l’effacement du négatif, en écrivant : Ce qui a été aujourd’hui étouffé, c’est la place du transcendantal. Et par là même l’exception, l’interstice, la faille, la fente, la fêlure, le hiatus, la lézarde, la négativité. Tous ces mots qui désignent ce qui ne colle pas, ce qui ne fait pas rapport, ce qui n’est pas réciproque, ce qui ne communique pas, ce qui résiste, ce qui échappe, ce que le sujet ne voit jamais de lui dans le miroir, ce qui déborde de l’image.10
Toutes ces expressions peuvent en effet traduire une culture néolibérale de la coïncidence, au détriment de tout ce qui viendrait introduire un écart, une décoïncidence au cœur même du sujet et des processus sociaux. Dit autrement, on n’aime pas trop, en régime libéral, ce qui serait susceptible de faire dérailler le système bien huilé au profit d’une plus grande humanisation de la vie des sujets et de la société.
|| 10 Jean-Pierre Lebrun, La perversion ordinaire, 43.
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4 La pensée tillichienne comme ressource À travers tous ces éléments de contexte et de problématisation, une question se pose maintenant inévitablement à nous : en quoi la théologie de Paul Tillich peut-elle nous servir de ressource pour tenter d’éclairer les liminalités ecclésiale, politique et sociale, mais aussi sanitaire et écologique, que traverse le Chili ? Il me semble que les concepts de kairos et de théonomie11 peuvent constituer des points d’appui significatifs.
4.1 La notion de kairos Le kairos signifie littéralement le « moment favorable », ou le « moment opportun » pour décider et pour agir, pour qu’une nouvelle concrétion de sens trouve émergence et déploiement au cœur du devenir historique. C’est ainsi que chaque personne, chaque époque, chaque société connait des moments de kairos, où quelque chose soudain surgit, se déploie, pour retourner le cours normal des choses, les habitudes acquises, les certitudes les plus ancrées. Qui n’a jamais fait l’expérience, dans le cours de sa propre vie, qu’un événement ou qu’une rencontre, que rien ne semblait avoir prévu, ouvrait soudain de nouveaux possibles, de nouveaux horizons de vie et de sens ? Quelle société n’a jamais connu ces moments de basculement où plus rien désormais ne sera plus comme avant ? Bien sûr, il y a des kairos, mais aussi des anti-kairos, il y a des événements qui ouvrent l’histoire à un plus de sens, de vie et de possibles, et il y a des événements catastrophiques qui contraignent au repli, au rétrécissement et à la violence. Et il est parfois bien difficile, en fonction du bon ou du mauvais côté de l’histoire où l’on se trouve, de décider définitivement de la « valeur » d’un tel événement. On peut ainsi penser que l’élection de Barack Obama, premier président noir des ÉtatsUnis, fut un magnifique kairos qui ouvrait l’avenir de ce pays à de nouvelles potentialités de sens, mais en même temps, il ne fait guère de doute qu’un partisan de Donald Trump envisage cette élection exactement à l’inverse, comme un antikairos où un envers de l’ordre du monde a malheureusement été révélé. Plus théologiquement, le kairos représente l’irruption de l’éternité dans le temps, le moment où le vertical fracture et émerge du cœur de l’horizontal et de
|| 11 Pour une étude fouillée sur le concept de théonomie chez Tillich, voir Marc Boss, Au commencement la liberté. La religion de Kant réinventée par Fichte, Schelling et Tillich, Genève, Labor et Fides, 2014, 401–483.
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l’immanent, irruption dont la figure du Christ, « manifestation décisive et suprême de Dieu », représente l’exemple emblématique, ce qui permettra à Tillich de le qualifier de « grand kairos ». Comme l’écrit André Gounelle : Le kairos désigne alors « le moment où Dieu intervient, agit et se manifeste. Dieu ne le fait pas constamment ou, du moins, pas toujours avec la même puissance et la même intensité ». Pendant des périodes de disette […] « la parole de Dieu est rare », selon une expression de l’Ancien Testament ; prédomine alors le sentiment de son absence, de son éloignement, de son silence. Et puis, à d’autres moments, […] Dieu fait pression ; il a alors une présence interpellatrice et mobilisatrice, il fait bouger les choses et les gens, il change les êtres et les situations, il crée du nouveau »12.
Pour Paul Tillich, qui s’approprie parfaitement cette notion dans le cadre de sa philosophie et de sa théologie de l’histoire, il s’agit clairement de lire et d’interpréter le cours de l’histoire, en n’ayant pas simplement de celle-ci une compréhension continue et quantitative, mais en étant également attentif à ce qui vient ouvrir en elle de nouvelles potentialités de sens. Tillich a plusieurs fois eu l’impression de vivre des moments de ce type, comme au cours des années 1920-1930. Comme l’écrit André Gounelle : « Dans les années 20 et 30, [Tillich] a la conviction de vivre une période de grande ouverture, ‘‘un moment historique inaugurateur d’une nouvelle époque’’. [Cependant,] ce kairos aboutit à un échec, rendu sinistrement évident par la montée du nazisme et par la seconde guerre mondiale ».13 Et Gounelle de préciser qu’alors qu’on avait « le sentiment du surgissement possible de quelque chose de nouveau en 1918, en 1945, on expérimente un ‘‘vide’’ et on vit beaucoup plus un anti-kairos qu’un kairos : le Royaume ne se rapproche pas, il s’éloigne ».14 Enfin, en 1964, Tillich reviendra encore avec prudence sur cette notion de kairos en interprétant, au moyen de cette grille de lecture, certaines avancées dans la culture de son temps : « les avancées de la lutte contre le racisme, l’accroissement de l’indépendance nationale (allusion probable à la décolonisation), l’ouverture grandissante de théologiens conservateurs […] au dialogue interreligieux. Ailleurs, il mentionne la perspective d’une réconciliation entre la France et l’Allemagne ainsi que l’évolution des relations entre catholiques et protestants ».15 Dans cette perspective, comment ne pas voir dans les différents événements qui secouent l’actualité chilienne la trace d’un kairos possible, c’est-à-dire || 12 André Gounelle, « Le kairos chez Paul Tillich », voir le lien suivant : http://www.andregounelle.fr/tillich/le-kairos-chez-tillich.php (consulté le 06 décembre 2021). 13 Ibid. 14 Ibid. 15 Ibid.
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l’émergence de nouvelles possibilités de sens pour une société marquée par la culture de l’abus ? Ne retrouve-t-on pas dans ce cri des victimes et dans l’aspiration à davantage de justice, de solidarité et de dignité les signes d’une approche du Royaume (approche fragmentaire, toujours soumise au risque de démonisme, mais approche tout de même) ? Comment aussi ne pas relier cette compréhension du kairos avec ce que François Jullien indique de la décoïncidence ? N’y a-t-il pas, en effet, dans cette orientation de l’histoire vers une nouvelle potentialité de sens la trace d’une décoïncidence du temps et du sujet humain d’avec eux-mêmes ?
4.2 La notion de théonomie Un autre concept déployé par Tillich peut aussi contribuer à éclairer théologiquement la situation chilienne : le concept de théonomie. Pour comprendre ce que recouvre exactement ce concept pour Tillich, il faut le resituer sur l’horizon du débat autonomie/hétéronomie qui agite la société européenne au sortir de la Première Guerre mondiale. Il est en effet important de rappeler que pour Tillich ce moment particulier de l’histoire représente un moment décisif (précisément un kairos). Selon lui, la Première Guerre mondiale, qui a profondément meurtri l’Europe, doit être interprétée comme le point d’aboutissement d’une logique autonome devenue autosuffisante (nous pourrions dire aujourd’hui solidaire d’une dynamique d’auto-fondation), et donc destructrice et meurtrière. Faisant ce constat, Tillich ne remet nullement en question le mouvement profond d’autonomie qui a animé et continue d’animer la culture européenne depuis l’époque des Lumières. Ce qu’il remet plutôt en question, c’est l’évolution de cette logique d’autonomie, qui l’a peu à peu conduite à se transformer en une autonomie autosuffisante, c’est-à-dire oublieuse et séparée du fondement spirituel et transcendant en-dehors duquel elle bascule en son contraire. Après la Première Guerre mondiale, la tentation est en effet forte pour certains d’assimiler purement et simplement autonomie et autonomie autosuffisante, afin de pouvoir réaffirmer le primat d’une hétéronomie qui n’aurait, selon eux, jamais dû cesser d’exercer son empire. Tillich s’opposera de toutes ses forces au retour d’une telle hétéronomie, tant sur le plan religieux que sur le plan politique. Au-delà donc de l’autonomie autosuffisante et du retour à l’hétéronomie, notre théologien proposera de suivre une troisième voie, qui sera celle de la théonomie, qui n’est pas autre chose qu’une autonomie bien comprise, c’est-à-dire une autonomie qui ne repose pas simplement sur elle-même, mais bien sur un fondement transcendant qui lui donne un sens et une orientation. Pour la qualifier, Tillich parlera aussi d’une « transcendance au cœur de l’immanence ». En
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effet, là où l’autonomie autosuffisante promeut la conformité à une « pure immanence », et où l’hétéronomie promeut la conformité à une « pure transcendance », la théonomie fera pour sa part le pari d’une transcendance qui ne surgit nulle part ailleurs qu’au cœur de l’immanence, c’est-à-dire dans les profondeurs du monde, de la culture, de l’humain, comme ce qui vient sans cesse rouvrir ces réalités, les empêcher de se refermer sur elles-mêmes, de se clore en elles-mêmes. Selon cette logique théonome, il y aurait donc, au cœur du fini, quelque chose qui ne ferait pas nombre avec le fini, mais bien avec l’infini, avec ce qui excède le fini et le relance. Point de fuite où se joue, sans doute, le grand souffle du désir humain. Si l’on pose la question de l’autonomie autosuffisante et de l’hétéronomie en ces termes, c’est-à-dire dans les termes d’une conformité (à un ordre immanent ou à un ordre transcendant), ce qui serait au cœur du double refus tillichien (de l’autonomie autosuffisante et de l’hétéronomie), ce serait donc le refus d’une logique de la coïncidence, alors que, pour sa part, la théonomie viendrait au contraire faire décoïncider l’immanence d’avec elle-même (en y ouvrant une brèche, une fêlure, un écart, pour citer Lebrun), tout comme la transcendance d’avec ellemême (en l’enracinant ou en la faisant surgir au cœur de ce qui n’est pas elle). La théonomie serait ainsi cette notion-clé, qui, dans le lexique théologique tillichien, se rapprocherait le plus de l’idée de décoïncidence, dont nous avons vu qu’elle était précisément en mesure d’incarner un possible apport pour penser un contre-pied au cléricalisme et au néolibéralisme chiliens. Cette hypothèse d’une utilité de la théonomie tillichienne pour penser et explorer les ressources des liminalités chiliennes est d’autant plus intéressante que le cléricalisme et le néolibéralisme que l’on retrouve au Chili peuvent également apparaître comme les représentants, respectivement, de l’hétéronomie et de l’autonomie autosuffisante. Le couple « cléricalisme-hétéronomie » se montre concrètement dans l’impératif qu’il fait peser sur les fidèles d’adhérer à un ordre du monde qui se prétend organisé par une source extérieure à la commune humanité, alors que le couple « néolibéralisme-autonomie autosuffisante » montre ses ramifications concrètes dans l’impératif qui est fait au sujet contemporain de ne rien fonder en-dehors de lui-même et de ses propres ressources. Face à ces deux impératifs, très présents au Chili, nous pensons que ce qui peut « ramener à la vie », c’est précisément la décoïncidence interne de ces deux impératifs, en montrant, par exemple, qu’une organisation ecclésiale qui ne plonge pas aussi ses racines dans la réalité et la profondeur de la pâte humaine ne peut être ni crédible ni signifiante, ou qu’un sujet (ou une société) qui ne se fonderait que sur lui-même (le petit moi) serait en quelque sorte amputé d’un rapport fécond et constitutif à une antériorité et à une altérité (cet autre intérieur ou extérieur à lui-
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même). Ne trouverait-on pas à travers ces deux exemples de décoïncidence deux manières théonomes de penser l’Église et l’humain ?
5 Conclusion : Décoïncidence et liminalité Au moment de conclure, il est intéressant de constater que la décoïncidence peut aussi avoir le grand mérite de nous aider à repenser autrement la notion de liminalité, précisément en en rouvrant la possibilité au cœur de ce qui se trouve défini et pétrifié dans les logiques de la coïncidence. Décoïncidant d’avec elle-même, dans la sortie hors de l’autoréférentialité et le chemin vers les périphéries existentielles, qui sait en effet ce/ceux que l’Église rencontrera ? Quelque chose se termine et une autre (peut-être, rien n’est moins sûr, mais on l’espère) se dessine à l’horizon, mais nul ne sait encore ce qu’elle sera. Mais que cela ait bougé, n’estce pas déjà une grâce ? Décoïncidant d’avec lui-même par la rencontre avec d’une altérité située en lui, mais aussi partout à l’extérieur de lui (c’est-à-dire se découvrant vulnérable et dépendant), le sujet néolibéral sera peut-être lui aussi amené à se transformer, à changer et à convertir son regard. Comment ? Vers quoi ? Avec qui ? Nul le sait encore, mais ici aussi, quelque chose aura bougé, et c’est peutêtre aussi en soi une grâce : la grâce d’une non-coïncidence au cœur de nos vies réglées et quadrillées, et de nos Églises figées dans des structures (mentales et organisationnelles), ainsi que dans un ordre, prétendument immuables ; le cadeau d’un indéterminé, d’un excès, d’une non-maîtrise, d’un imprévu, et finalement d’un nouveau possible d’existence au cœur de l’histoire et de la vie. N’estce pas à cette ouverture, à ce décoincement, à cette « dé-fixation », comme l’exprime Jullien (et donc à cette reprise et à cette relance), que les multiples crises chiliennes, par les espaces liminaux qu’elles instaurent, tout à la fois nous invitent et nous initient ? Et quant au kairos et à la théonomie tillichienne, ne viennent-ils pas nous signifier que cette voie de décoïncidence est en réalité pleinement signifiante ? Si l’on donne du crédit à ces dernières hypothèses, peut-être pouvons-nous alors affirmer que la liminalité, plutôt que de devoir être aplanie et peu à peu consolidée en situations nouvelles clairement définies, serait déjà en soi une bonne nouvelle ?
Anne-Milla Wichmann Kristensen
Crisis, Kairos, and Kairotic Moments A Consideration of the COVID-19 Pandemic in Light of Paul Tillich’s Concept of Kairos Abstract: Tillich interpreted the situation after the First and the Second World Wars through the concept of kairos, emphasizing certain situations as kairotic moments. This essay considers whether his concept of kairos can illuminate the current COVID-19 pandemic, a crisis reaching beyond a mere health crisis. The pandemic is both illuminated by the idea of a kairotic moment as “a new beginning” and “a vacuum”, which contains the idea of possible transformation, and by the idea of the reaction to the kairotic moment as being prone to error and as a demonically distorted moment. The essay considers whether the development of Tillich’s concept of kairos can illuminate the possibilities of a crisis amidst the actuality of a crisis.
1 Introduction Kairos is central to Paul Tillich’s reflections on the meaning of historical crisis. In this article, I wish to consider how Tillich’s concept of kairos can illuminate the COVID-19 pandemic. I will begin by unpacking his concept of kairos in its context and identifying his different interpretations of crisis situations and proceed to identify his idea of a kairotic moment as “a new beginning,” “a vacuum,” and “a possible erroneous and demonic moment.” In this consideration, I will focus on the implied possibilities in a kairotic moment and the erroneous character of the situation, and how kairos and crisis may coincide. In addition, I will discuss how Tillich’s concept of kairos can illuminate the COVID-19 pandemic in the meaning of experience as crisis and medium through a discussion of the speech of the WHO’s Director-General on 4 December 2020.
https://doi.org/10.1515/9783110984729-003
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2 Tillich’s Conception of Kairos and Crisis Tillich distinguishes between kairos and kairotic moments.1 Kairotic moments in history are essentially related to the appearance of Jesus as the Christ that is the central manifestation of the Kingdom of God as the “fulfilment of time;” in Greek “kairos” (Mark 1:15).2 Hence, Jesus as the Christ is the kairos, and thus he is the criterion for all kairotic moments in history. Tillich thus uses the concept of kairos to show how kairos is embedded in the general cultural, moral, and religious context, and therefore also in our own life (Tillich 1963: 370).3 From this perspective, kairos is the center of history. Tillich emphasizes that the fulfilment of time is a moment of maturity in a particular religious and cultural development that has the potential to become a new theonomous time (Tillich 1963: 370). The kairotic moment is the possible bursting of a new theonomy and a time with the possibility to close the gap between religion and secular culture by showing “that in the depth of every autonomous culture an ultimate concern, something unconditional and holy, is implied”4 (Tillich 1948: 58). Thus, the contrast between religion and culture is reduced (Tillich 1948: 59). || 1 Tillich uses the word “kairoi,” which I will refer to as kairotic moments in this article. 2 Kairos diverges from “chronos,” and although both signify time, chronos is quantitative time while kairos is qualitative time. See Paul Tillich, Systematic Theology, Volume III (Chicago: University of Chicago Press, 1963: 369), hereafter Tillich 1963. In the New Testament, both Jesus and John the Baptist use the word kairos when announcing the fulfilment of time in relation to the Kingdom of God, which is at hand. Paul uses it as a world-historical view of the moment in which God could send his son, the moment chosen to become the center of history (Tillich 1963: 369–370). 3 Danz underlines the two basic forms in the self-relation of consciousness with Tillich: „eine religiöse und eine kulturelle, die dem Kairos-Aufsatz zugrunde liegen. Die Religion, mit der die wahre Geschichtsphilosophie verknüpft ist, besteht im Meinen des Unbedingten durch die kulturellen Gehalte hindurch, die dadurch zu wandelbaren Medien der Darstellung des Unbedingten werden. Die Kultur, der als Bewusstsein ebenfalls strukturell das Unbedingte zugrunde liegt, unterscheidet sich dadurch von der Religion, dass in ihr das Bewusstsein auf die Formen und ihre Einheit, aber nicht durch diese hindurch auf das Unbedingte gerichtet ist. Die Geschichte resultiert aus diesem ‚Doppelverhältnis der Menschheit zum Unbedingten – dem unmittelbar-‚religiösen‘ und mittelbar-‚kulturellen‘ – worauf die Sünde und die Schuld, die Größe und die Tragik der Menschheitsgeschichte beruht‘“. Christian Danz „Das Dämonische“ in Das Dämonische: Kontextuelle Studien zu einer Schlüsselkategorie Paul Tillichs, edited by Christian Danz and Werner Schüßler (Berlin, Boston: De Gruyter, 2018), 170. See Oswald Bayer, “Tillich as Systematic Theologian” in The Cambridge Companion to Paul Tillich, edited by Russell Re Manning (Cambridge: Cambridge University Press, 2009), 18, hereafter Bayer 2009. 4 Paul Tillich, The Protestant Era (Chicago: University of Chicago Press, 1948), hereafter Tillich 1948.
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Tillich’s interpretation of the situation after the First and the Second World Wars through the concept of kairos is an example of his contextual theology (Tillich 1963: 371).5 He understands history as a dynamic force moving through quiet stretches and kairotic moments. Hence, history does not follow an even rhythm: “History has its ups and downs, its periods of speed and of slowness, of extreme creativity, and of conservative bondage to tradition” (Tillich 1963: 371). Thus, his concept of kairos brings a certain interpretation of history in which history moves toward and away from what he calls “theonomous” periods. These times are “periods in which the conditioned is open to the unconditional without claiming to be unconditioned itself” (Tillich 1948: 47). Theonomy is “the substance and meaning of history” in which the cultural forms appear in their relation to the unconditional. On the other hand, autonomy is “the dynamic principle of history” in which the cultural forms appear in their finite relationship (Tillich 1948: 45).6 Consequently, a theonomous time is desired when a crisis brings rupture in history. On the other hand, a kairotic moment can be understood as the possibility of a transformation to what Tillich terms a theonomous time. Thus, a kairotic moment is a transformation of crisis. Tillich argues that especially the interwar period held the potential to be theonomous since it was characterized by extreme creativity and speed (Tillich 2008: 43–44).7 Despite the many similari|| 5 Tillich describes the context-awareness as “the standpoint of the systematic thinker.” The two world wars had especially great influence on his theology: “History became the central problem of my theology and philosophy because of the historical reality as I found it when I returned from the first World War: a chaotic Germany and Europe; the end of the period of the victorious bourgeoisie and of the nineteenth-century way of life; the split between the Lutheran churches and the proletariat; the gap between the transcendent message of traditional Christianity and the immanent hopes of the revolutionary movements. The situation demanded interpretation as well as action” (Tillich 1948: xiii). 6 Autonomy is a confirmation of the unconditional through cultural forms as stated by Tillich: „Denn auch autonomen Formen stehen unter dem Unbedingten, dem Unbedingten freilich des Geltens, der Wahrheit und Wirklichkeit, der Rechtheit und Güte“. In Paul Tillich, “Kairos (1922)”, in Ausgewählte Texte, edited by Christian Danz, Werner Schüßler, and Erdmann Sturm (Berlin, Boston: De Gruyter, 2008), 55–6, hereafter Tillich 2008. Although autonomy and theonomy are different, they do not exclude one another, since autonomy is still existent in theonomy; nonetheless Tillich writes: “the autonomous road must be traveled to its very end, namely, to the moment in which a new theonomy appears in a new kairos” (Tillich 1948: 46). 7 Hannelore Jahr writes that Tillich’s idea of kairos in the interwar period contains a protest „gegen eine profane Kultur, die allein in den Formen des Bedingten lebt und das Unbedingte verloren hat […]. Einer solchen Zeit ist die Lebenstiefe verlorengegangen, und nur im Untergrund bewegt sich dann und wann der Vulkan, der zerstören und neuschaffen kann.“ Hannelore Jahr, „Vom Kairos zur heiligen Leere. Tillichs eschatologische Deutung der Gegen-
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ties in the context of the two world wars, his interpretation of the concept of kairos is modelled, expanded, and reshaped through his works. The question remains: how are the kairos, kairotic moments, and crises related to one another?8 I argue that kairotic moments and crises are neither interchangeable nor completely separated. Kairos is used to illuminate and understand a crisis in history. Tillich himself distinguishes between kairos and the kairotic moment, which I argue is the transformation of crisis. There is no doubt that Tillich discusses the same event, but I suggest that the kairos, crisis, and the kairotic moment represent different aspects of the same event. Tillich uses kairos to describe the depth and foundation of the context in which he is living, which he states is a kairotic moment. Thus, kairos is used to describe the ground of being i.e., God whereas the kairotic moment is the experience as crisis that is transformed. In this way, I understand a distinction between experience as crisis and that which is revealed and mediated through transformed experience, which is kairos. However, despite the difference between kairos and crisis, they correspond. As a result, I argue that, for Tillich, kairos and crisis coincide like creation and fall. The doctrine of creation is based on the idea of essence and existence, which I claim to be important to the concept of kairos.9 The human being exists, and in this existence, it is different from its essence, which is what it ought to be.10 Accordingly, the human being is not what it should be essentially in its || wart“. In New Creation or Eternal Now: Is There an Eschatology in Paul Tillich‘s Work? / Neue Schöpfung oder Ewiges Jetzt: Hat Paul Tillich eine Eschatologie?, edited by Gert Hummel (Berlin, Boston: De Gruyter, 2019), 8. Furthermore, Jahr understands the kairotic moment as based „aus auf eine grundlegende Neugestaltung der Wirklichkeit: die Theonomie. In ihr ist die Abschottung der autonomen Formen gegen ihren unbedingten Grund auf-gehoben“. (Jahr, 9). Thus, the kairotic moment is a moment, which includes a protest against profane culture, and a moment, which includes radical change that can destroy and create. 8 Oswald Bayer argues that kairos and kairotic moments stand in the same relationship as the message (the eternal truth) and the situation (the temporal situation) (Bayer 2009: 18). I would rather suggest a relationship which includes crisis as different from the kairotic moment. 9 The idea of transition from essence to existence, which is basically Tillich’s doctrine of sin, has been criticized by many, including Reinhold Niebuhr and Günter Wenz. The main critique is that Tillich deduces the sin of man and, thereby, abolishes it. Christian Danz, Religion als Freiheitsbewußtsein: Eine Studie zur Theologie als Theorie der Konstitutionsbedingungen individueller Subjektivität bei Paul Tillich” (Berlin, Boston: De Gruyter: 2015), 181–2. Hereafter Danz 2015. 10 Danz writes: „In Anlehnung an Kants Konzept; einer intelligiblen Tat läßt sich Tillichs Formel ,Übergang von der Essenz zur Existenz‘ als unbedingte Entschließung verstehen, welche den infiniten Regress in der Suche nach Bestimmungsgründen beenden soll“ (Danz 2015: 196).
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existence.11 It is estranged from what it essentially is. Thus, the doctrine of creation is completed in the coincidence of creation and fall which entails that the human transformation from good to evil did not happen at a particular moment in history (Tillich 1951: 255; Tillich 1957: 41).12 Tillich writes: “If God creates here and now, everything he has created participates in the transition from essence to existence. He creates the newborn child; but, if created, it falls into the state of existential estrangement. This is the point of coincidence of creation and the Fall” (Tillich 1957: 44). When understanding kairos and crisis as coinciding, the foundation must be the doctrine of creation since it can explain the difference between kairos and crisis when understanding experience as crisis. In the latest of Tillich’s interpretations of kairos, it is especially evident, since the reaction to crisis is described as being prone to error because of the historical order and, as I argue, because of the human estrangement. Through the idea of the estrangement of the human being, the difference becomes evident since estrangement makes the human being unable to fully grasp the kairos in a crisis. To understand this, we must first discuss Tillich’s concept of experience and the development of his concept of kairos in its different contexts.
3 Experience as Crisis and Medium Experience as crisis can be illuminated by Tillich’s understanding of experience as a medium. The kairotic moment is a transformed experience, and this experience opens and mediates the kairos to, as Tillich would write, “the theologian.” In this regard, the kairotic moment is described as re-experience of kairos or, as I argue, mediated re-experience of kairos through transformed experience as crisis. According to Tillich in the introduction to Systematic Theology, vol. 2, experience is the medium “through which the sources ‘speak’ to us, through which
|| 11 Tillich was influenced by his Frankfurt colleagues in Germany and the USA. The ideas of Walter Benjamin, Theodor W. Adorno, and Max Horkheimer in particular influenced his understanding of existence. Stefan Dienstbeck, „Die Existenz und die Erwartung des Christus (II 25– 106),“ in Paul Tillichs „Systematische Theologie“. Ein werk- und problemgeschichtlicher Kommentar, edited by Christian Danz (Berlin, Boston: De Gruyter, 2017), 146. 12 Paul Tillich, Systematic Theology, Volume I (Chicago: The University of Chicago Press, 1951), 255. Hereafter Tillich 1951. Paul Tillich, Systematic Theology, Volume II (Chicago: The University of Chicago Press, 1957), 41. Hereafter Tillich 1957.
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we can receive them” (Tillich 1957: 40).13 Experience is understood as a medium because the human being cannot recognize God through its experience on its own: “Since, on the other hand, the whole of experience cannot be of ultimate concern, a special experience or a special quality of the whole experience must be the source of systematic theology” (Tillich 1957: 43).14 Thus, experience in itself cannot be a theological source. Although it remains in the Christian circle, it cannot add new material to other sources. Experience can therefore not change or create, even though it can transform. “Its productive power is restricted to the transformation of what is given to it. But this transformation is not intended” (Tillich 1957: 46). Tillich stresses that the theologian influences, but only in the same way as the medium also influences that which is mediated through it. This influence appears in two extremes: one where the influence is so little as to be nothing and one where we can talk of a new production instead of a transformation. Tillich emphasizes that experience is only revelatory if the spirit of the human being and the spirit of the divine are one, but this unity is not a fact. Experience is, therefore, necessary but insufficient. It is mediation, and we only know it as such, but the mediation and interpretation cannot be without experience or independent of it. The re-experience of kairos is thus experienced as crisis and medium, which transforms into a kairotic moment in which kairos is mediated to us. When experience is understood as medium, as Tillich emphasizes, we need to address the norm of systematic theology. Tillich stresses that sources and the
|| 13 Tillich is indebted to Kant, which is distinct in his concept of experience. Marc Boss, “Which Kant? Whose Idealism? Paul Tillich’s Philosophical Training Reappraised,” in Returning to Tillich: Theology and Legacy in Transition, edited by Russell Re Manning and Samuel Andrew Shearn (Berlin, Boston: De Gruyter, 2017), 13. This point implies that Tillich cannot be read rationalistically (Descartes) or empirically (Hume). He stands in a Kantian critical tradition. He states that it is important to clarify the history of the concept of experience, stressing that he himself reads Kant on the basis of Luther. Paul Tillich, A History of Christian Thought. From Its Judaic and Hellenistic Origins to Existentialism, edited by Carl E. Braaten (New York: Harper & Row, 1967), 506–7, hereafter Tillich 1967. Danz writes: “Tillichs Erfahrungsbegriff ist durchaus an einer Kantischen Problemperspektive orientiert. Mit Kant geht Tillich davon aus, daß sich Erfahrung durch die Subsumption von Wahrnehmungen unter Regeln konstituiert” (Danz 2015: 19). 14 Tillich argues that both empirical and positive theologians lack the perspective that the human being have access to the whole experience when they derive a knowledge of reality from their religious experience in the mystical meaning of experience. “They seek a cosmological confirmation of their personal religious life” (Tillich 1957: 43). This phenomenon is what we normally would call sin.
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medium can only produce a theological system if a norm guides their use. This norm is the foundation for Tillich’s whole theology and, thereby, also his interpretation of kairotic moments. Thus, the norm is the criterion under which experience stands (Tillich 1957: 47). The norm Tillich emphasizes should be positive, constructive, and suitable to the situation in which we live and positive, constructive, and suitable in the biblical source. He claims this norm to be “New Being through Jesus as the Christ”, which is also the foundation for understanding kairos as the central manifestation of Jesus as Christ (Tillich 1957: 48–49). Through this norm, Tillich understands that the human being experiences its own situation through disruption, conflict, self-destruction, meaninglessness, and despair. He writes: The question arising out of this experience is […] the question of a reality in which the selfestrangement of our existence is overcome, a reality of reconciliation and reunion, of creativity, meaning, and hope. We shall call such a reality the “New Being,” a term whose presuppositions and implications can be explained only through the whole system. It is based on what Paul calls the “new creation” and refers to its power of overcoming the demonic cleavages of the “old reality” in soul, society, and universe. If the Christian message is understood as the message of the “New Being,” an answer is given to the question implied in our present situation and in every human situation (Tillich 1957: 49).
The norm must be understood through the paradox, which is the human Jesus called Christ. Without this background, New Being would be an ideal and not reality and therefore not able to answer the questions implied in the human situation (Tillich 1957: 50). As a result, Tillich’s norm is New Being in Jesus as Christ combined, which is the critical principle for all theology. He claims this norm as a criterion for using the sources of systematic theology and the norm to understand experience as medium (Tillich 1957: 50). Thus, I suggest understanding the transformation as the New Being mediated to us through experience in a kairotic moment. To clarify this point, I will discuss the development of Tillich’s interpretation of kairos in its different contexts.
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4 Kairos as “New Beginning”, a “Vacuum,” and an “Erroneous and Distorted Moment” The first time Tillich introduced the concept of kairos was after the First World War.15 He chose kairos to remind both Christian theology and philosophy of the self-transcending dynamics of history and the necessity of discussing history in consideration of its dynamics: “And, above all, kairos should express the feeling of many people in central Europe after the First World War that a moment of history had appeared which was pregnant with a new understanding of the meaning of history and life” (Tillich 1963: 369). The application of kairos is thus a distinct example of Tillich’s contextual theology. In the text Kairos from 1922, the kairotic moment is described as a moment pregnant with creative possibilities, a new beginning, and a period of radical transformation.16 This description should be read in the context of the religious socialism of its time and as a text, which presents crucial questions about its time (Tillich 2008: 43).17 Tillich is concerned with the opportunities of the interwar period, and his aim is an invitation to think consciously of history (Geschichtsbewuβtsein), which means to conceive history as rooted in the unconditioned kairos.18 He, so to speak, invites his readers to think and act in “Geiste des Kairos,” which reflects historical consciousness in a Christological sense (Tillich 2008: 43). Tillich writes: Aufruf zu einem Geschichtsbewuβtsein im Sinne des Kairos, Ringen um eine Sinndeutung der Geschichte vom Begriff des Kairos her, Forderung eines Gegenwartsbewuβtseins und Gegenwartshandelns im Geiste des Kairos, das ist hier gewollt (Tillich 2008: 43)
|| 15 Tillich was part of a discussion group known as the Kairos Circle which sought to overcome the conflict between socialism and the church. They understood the concept of kairos as the solution (Stone 2009: 210). 16 The text was republished in a translated and modified edition in 1948. In this article, I will not explore the differences between the texts. 17 In the preface to the journal in which the text was published, Carl Mennicke wrote: „Sie wurden zusammengeführt durch die Gewiβheit, daβ im Sozialismus der gegenwärtigen abendländischen Menschheit die entscheidende Frage gestellt ist“ (Tillich 2008: 43). 18 The interwar period is often interpreted as a disaster and as the collapse of the prevailing German culture. Tillich also recognizes this point but understands the pain of the time as the pains of a new birth and start of a new creation. Jean Richard, “Tillich’s Analysis of the Spiritual Situation of his Time(s)”, in The Cambridge Companion to Paul Tillich, edited by Russell Re Manning (Cambridge: Cambridge University Press, 2009), 128, hereafter Richard 2009.
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He and the rest of the religious socialist movement considered the situation disastrous for religion and culture, but they also saw an opportunity.19 They believed that “a kairos,” or to be precise, a kairotic moment had come “in spite of breakdown and misery” (Tillich 1948: 56).20 They were convinced that it was possible to close the gap between religion and culture “partly by creating movements such as religious socialism, partly by a fresh interpretation of the mutual immanence of religion and culture within each other” (Tillich 1948: 55). Thus, the concept of kairos illuminated how religion and culture are immanent in one another through the consciousness of history and the idea of theonomy (Tillich 1948: 55). He examined the concept of kairos as: […] einen konkreten Begriff in helleres Licht zu stellen, einen Begriff, der wenn er selbst hell geworden ist, für viele andere erleuchtend sein kann, ein Begriff, der nicht nur für diesen Aufsatz, sondern für den Geist, aus dem dieses ganze Heft geschrieben ist, symbolhafte Bedeutung haben kann, der Begriff des ”Kairos” (Tillich 2008: 43).
According to Tillich, kairotic moments can only be grasped in the “Geschichtsbewuβtheit” (Tillich 2008: 57). Each kairotic moment is of unconditional meaning, withholding the unconditional tension and demanding an unconditional answer (Tillich 2008: 59). He emphasizes that the acceptance of the eternal manifesting itself in a kairotic moment in history results in an openness towards the unconditional, which can be expressed both in religious and secular symbols (Tillich 1948: 43). The unconditional penetrates and guides all cultural functions and forms when the time is turned toward the unconditional and, as a result, is opened for the unconditional (Tillich 2008: 43). Theonomous time is thus possible in both a “religious” and an “irreligious” time since it is the kairotic moment that creates the openness and the opportunity for a theonomous
|| 19 A group of people, including Tillich, founded the German religious-socialist movement after the war. They understood that the situation “demanded interpretation as well as action”. One of their tasks was an analysis of the world situation on the basis of contemporary events”. Tillich emphasizes: “An analysis of our situation could not have been attempted by me without my participation in the religious-socialist movement” (Tillich 1948: xiii). 20 Tillich believed that the “gegenwärtigen Zeit” was in its essence different from any other past since the unconditioned rule in times filled with fate and tension (Tillich 2008: 44). „In den gewaltigen Krisen, die diesen Entscheidungen vorausgehen, ist der weltgeschichtliche kairos gegeben; in ihm werden Jahrtausende der Menschheitsgeschichte bestimmt. Weitaus die gröβte, ja die eigentlich entscheidende Wendung ist aber da gegeben, wo die Autonomie rein zur Entwicklung kommt; denn damit ist eine Geschichtsbewuβtheit geboren, die, einmal vorhanden, ihrem Wesen nach alle Völker in den weltgeschictlichen Strom hineinreiβen muβ, wenn auch in der Form des Widerstrebens und der Abwehrkämpfe“ (Tillich 2008: 55).
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time. In this early interpretation of a kairotic situation and its relation to kairos, Tillich has an optimistic perspective. He argues that the kairos is not intended to be unique but that it holds the power of “epoch-creating” in history. This moment is an “übergeschichtliches” moment (Tillich 2008: 57). It is thus “an outstanding moment in the temporal process, a moment in which the eternal breaks into the temporal, shaking and transforming it and creating a crisis in the depth of human existence” (Tillich 1948: 45). Tillich focuses on the pain described as a crisis, as a pain of birth, which is the kairotic moment, thus arguing that there is an opportunity for a new creation in crisis. Accordingly, he differentiates between experience and the kairotic moment, though this difference is more clearly distinguished later. Tillich’s interwar optimism was destroyed when history took a turn with the Second World War. In this period, the difference between crisis, the kairotic moment, and kairos becomes more distinct. In 1946, the shift occurred, and he no longer deemed his interpretation from the 1920s appropriate. In the text Religion and Secular Culture, published in 1948, he identifies the “sacred void,” understanding the kairotic moment as a vacuum, where an apocalyptic mood of the end prevailed, although still containing the possibility for transformation (Tillich 1948: 60). He describes how the experience of the “end” appeared like a flash of lightning during the Second World War among the ruins of central and Eastern Europe, identifying it as a vacuum. In Tillich’s description, experience related to the kairotic moment becomes more connected to experience as an estranged being. He still operates with a possibility for transformation when the vacuum is described as potentially a “sacred void”, thereby concretizing how the kairotic moment is the transformation of crisis. When the vacuum is expressed powerfully based on a foundation, which is deeper than culture, in continuation of his theology of kairos in the interwar period: “[…] the vacuum of disintegration can become a vacuum out of which creation is possible, a ‘sacred void’, so to speak, which brings a quality of waiting, of ‘not yet’, of a being broken from above, into all our cultural creativity” (Tillich 1948: 60). Hence, crisis understood in relation to kairos can bring transformation through brokenness. Furthermore, the moment carries the possibility of uniting religion and culture in a theonomous sense, just as his earlier interpretation of kairos stated. He is convinced that it is the only way of reaching a theonomous unity between religion and culture (Tillich 1948: 60). Both of these interpretations of kairos and kairotic moments as a new beginning and as a vacuum contain the possibility of something “new”. They both include the possibility of a theonomous time in a kairotic moment. Neverthe-
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less, I argue that they are both partly lacking the aspect of human estrangement, which is more obvious in Systematic Theology, vol. 3. In Systematic Theology, vol. 3 in 1963, Tillich concentrated on kairotic moments containing demonic distortion and the risk of being erroneous. He argues that a kairotic moment contains these risks because it stands under the order of historical destiny, which makes human estrangement evident. The Kairosquality in itself is not erroneous. However, human reactions and judgments regarding the kairos-character are prone to error in terms of physical time, space, causality, and unknown elements in the historical constellation (Tillich 1963: 371). Thus, kairos is not influenced by the order of historical destiny like the kairotic moment. The demonic distortion Tillich identifies in the post-war period is reflected in the demonic structures of Fascism and Soviet Communism which can fill the void.21 In this interpretation, it is especially clear that the two words are not interchangeable since kairos in itself is not erroneous but experience as crisis can be. The later writings of Tillich in the 1960s are not characterized by the same optimism as his texts from the 1920s. His understanding of the experience of the kairotic moment changed. The first explanation contains the experience of a new beginning; the second expression identifies the void as experience of the end, and the third formulation of kairos concerns experience as distorted and erroneous. I argue that his earliest text on the concept of kairos discusses the kairos while the later text discusses experience as crisis. One of the questions arising when reading Tillich’s application of the concept of kairos is whether there is discontinuity or development in his writings. In some ways, we can detect a discontinuity, but I would rather advocate for a reading that focuses on development. We identify a discontinuity when focusing on the shifts he makes. I argue that his earliest text on the concept of kairos discusses the kairos while the later text discusses experience as crisis. The idea of the kairotic moment as transformative is thus representative of the idea of the kairos and represents a utopian idea of crisis, while experience as erroneous and demonically distorted is representative of experience as crisis and medium since it focuses on the human reaction. He shifts from an experience of a beginning to an experience of the end, as well as the shift he makes when writing
|| 21 Jean Richard describes the void which has been filled with two demonic figures, the Fascist and the Soviet, as “anti-kairos” (Richard 2009: 132). I do not understand Tillich’s description of the void, which is filled with demonic figures, as a kairotic moment in itself, and thereby, not an “anti-kairos” either. Kairotic moments are transformed experiences. These experiences can be erroneous and demonically distorted, but Kairos and kairotic moments cannot.
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with the optimism of the time in the later writing of the risks in the kairotic moment. It shifts from a focus on the kairos to a focus on experience. When focusing on this part of the application of the concept of kairos, we are confronted with a seeming discontinuity between his different interpretations of the concept of kairos. On the other side, I think it is possible to understand these different interpretations as a development. In all his discussions of kairos, he understands a transformation in time, or rather a possibility for transformation and change, for a theonomous time. Kairotic moments seem to contain possibilities. I consider this point the foundation for his concept of kairos and, therefore, consider the different interpretations of the situations as being in development. That is a development in the understanding of kairotic moments as possible moments of transformation. This transformation is to what Tillich calls a theonomous time – whether it is a transformation brought about by the optimism in the experience of the new beginning or it is a transformation evoked by the “sacred void” and experience of the end. Thus, his latest concept of kairos illuminates the human reaction to the possible transformation and thus a development of a more complete understanding of a kairotic moment in its possibilities and its actuality. In all the interpretations of kairos, Tillich argues that kairotic moments in history reflect a “re-experience” of kairos, writing that: “the appearance of the center of history is again and again re-experienced through relative ‘kairoi’” (Tillich 1963: 370). Thus, the period is related to kairos, which implies that kairos can be re-experienced as embedded in our lives in a cultural, moral, and religious sense. Kairotic moments in history include what Tillich calls the prophetic spirit, characterized by the ability to receive the kairos. This prophetic spirit is not lacking in the rest of history but can be latent and suppressed for long periods until it breaks through in a kairotic moment (Tillich 1963: 370). Tillich, therefore, understands the kairotic moment as both re-experience of the kairos and a moment in which we are able to receive the message.
5 The COVID-19 Pandemic as Crisis In 2020, the spread of COVID-19 was declared a pandemic and described as a crisis. I will first consider how Tillich’s concept of kairos can illuminate our current situation. The COVID-19 pandemic has caused and is causing illness, death, suffering, lockdowns of whole societies, and huge changes in many
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countries. The WHO points out that “the current COVID-19 pandemic is unprecedented” (WHO no date (a)).22 To avoid the spread of the virus, the WHO recommends staying home and self-isolating if developing symptoms or testing positive for COVID-19 until full recovery (WHO no date (b)).23 Other advice such as wearing facemasks, getting vaccinated, avoiding crowds and close contact, cleaning hands, cover your mouth with a bent elbow when you cough or sneeze was made to “keep yourself and others safe” (WHO 1 October 2021).24 The advice caused countries to introduce measures to restrict movement as part of the efforts to stop the spread of the virus, causing people to make huge changes in their daily routines. Some of the changes are working from home, temporary unemployment, homeschooling, and lack of physical contact with family, friends, and colleagues. The WHO acknowledges that: “Adapting to lifestyle changes such as these, and managing the fear of contracting the virus and worry about people close to us who are particularly vulnerable, are challenging for all of us” (WHO no date (d)).25 In short, the WHO acknowledged the pandemic as a crisis reaching beyond a health crisis. The introduction of the beforementioned restrictions had deep implications for many people’s daily lives. As the Director-General of WHO, Tedos Adhanom Ghebreyesus, at the UNs General Assembly Special Session on 4 December 2020 said in the opening speech: The pandemic has proven that a health crisis is not just a health crisis; it is a social, economic, political and humanitarian crisis. Millions of people have lost their livelihoods, the global economy has been plunged into its sharpest downturn since the Great Depression, geopolitical fissures have widened, and the multilateral system has been called into question (WHO 4 December 2020).26
|| 22 The pandemic is unprecedented but the reaction to the pandemic builds on previous crisissituations in history (WHO no date (a). “R&D Blueprint and COVID-19”. WHO. Available at: https://www.who.int/teams/blueprint/covid-19. Accessed: 30 December 2021. 23 WHO. No date(b). “Coronavirus disease (COVID-19)”. WHO. Available at: https://www. who.int/healthtopics/coronavirus#tab=tab_1. Accessed: 30 December 2021. 24 WHO. 1 October 2021. “Advice for the public: Coronavirus disease (COVID-19)”. WHO. Available at: https://www.who.int/emergencies/diseases/novel-coronavirus-2019/advice-forpublic. Accessed: 30 December 2021. 25 WHO. No date (d). “Looking after our mental health”. WHO. Available at: https://www.who. int/campaigns/connecting-the-world-to-combat-coronavirus/healthyathome/healthyathome--mental-health. Accessed: 30 December 2021. 26 WHO. 4 December 2020. “WHO Director-General’s opening remarks at the United Nations General Assembly Special Session – 4 December 2020”. WHO. Available at: https://www. who.int/director-general/speeches/detail/who-director-general-s-opening-remarks-at-the-unitednations-general-assembly-special-session---4-december-2020. Accessed: 30 December 2021.
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The pandemic is thus understood as a health crisis, which extends to become a crisis in many more areas. If we consider the pandemic as crisis and a possible kairotic moment, we can approach the pandemic as characterized by a vacuum that holds the possibility for speed and extreme creativity, while standing under the historical order. The WHO’s Director-General said in his speech on 4 December 2020 that: The pandemic has shown what humanity is capable of at its best, and worst: Inspiring acts of compassion and self-sacrifice; breathtaking feats of science and innovation; and heart-warming demonstrations of solidarity; But also disturbing signs of self-interest, blame-shifting and division (WHO 4 December 2020).
This statement can be read as an example of the possible transformation of the pandemic crisis and thereby a period possible of creativity and speed. However, it is also the understanding of the kairotic moment containing demonic distortion and the risk of error that are in play. The pandemic stands under historical destiny, and thereby the human reaction and judgment regarding the pandemic can be erroneous and can lead to division. He also mentions, “Where solidarity is undermined by division; where sacrifice is substituted with self-interest; the virus thrives” (WHO 4 December 2020). It is thus evident in the statement that the human reaction to experience as crisis is influenced by the historical order. This reaction can lead to creativity or division. The reaction can also be discussed in relation to Tillich’s interpretation of sin in his doctrine of creation and thereby estranged actions of self-love.27 Is the pandemic then a period in which the “conditioned is open to the unconditioned without claiming to be unconditioned itself” (Tillich 1948: 47)? Are we living in a time that shows the embeddedness of kairos in the general cultural, moral, and religious context, and hence also in our life? The Director-General of WHO distinguishes between the path behind us and the path which lies before us:
|| 27 In Protestant Christianity, unbelief is a condition in which the whole human being is turned away from God and turned inward, toward itself. Tillich states that unbelief is human estrangement when God is not in the center of the human’s being (Tillich 1957: 48). Hubris is the human being not being aware of being excluded from God’s infinity, thereby becoming arrogant (Tillich 1957: 49–50). Concupiscence is the desire to be united with the whole, thereby drawing the whole of reality into oneself (Tillich 1957: 52). “Sin is a universal fact before it becomes an individual act, or more precisely, sin as an individual act actualizes the universal fact of estrangement” (Tillich 1957: 56).
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Behind us lies the path of business as usual – the path that led us to this crisis. Before us lies a new path: a path on which nations do not see themselves as rivals in a zero-sum game, but as fellow-travellers with the same aspirations, hopes and dreams; A vision that affirms our common history and our common future; That recognizes we are richer for our diversity, and that we are more than the sum of our parts (WHO 4 December 2020).
Concerning the statement, we might bring forth one of Tillich’s earliest claims, which is that a kairotic moment is an epoch-making moment in history, bringing a new beginning. Then, we might understand the “re-experience” of kairos, especially in a cultural and moral sense, since the pandemic can be understood as bringing new opportunities for community and fellowship, and thus new creation on the ground of rupture. Thus, the speech can be considered an expression of Tillich’s earliest interpretation of kairos. Tillich’s earliest understanding of the birth of a new creation out of pain and suffering is especially in play here. However, as I suggest, it is also implied in the speech that the kairotic moment stands under the historical order and human estrangement. Thus, I argue that experience as crisis in the transformation of the kairotic moment cannot fulfil the hopes of the Director-General. On the other hand, the expression of the hopes might indicate a kairotic moment. Tillich’s understanding of a kairotic moment as including the prophetic spirit, which breaks through in a kairotic moment, can thus be explored since it seems that the idea of the pandemic as a crisis that can transform occupies WHO’s Director-General. The speech illuminates the idea of kairos in relation to the pandemic through the hopes of a new path, which is a path of fellowship and not division, while it also illuminates experience as crisis through the awareness of the “disturbing signs of self-interest, blame-shifting and division.” Tillich can thus help illuminate the situation in which we live as a crisis which can mediate the kairos, i.e., New Being in the transformation to a kairotic moment in consideration of the speech of the WHO’s Director-General. Thus, the COVID-19 pandemic can be considered a kairotic moment even though the reaction to it can be erroneous and demonically distorted.
6 Conclusion Crisis illuminated by Tillich’s concept of kairos can transform into a kairotic moment. When Tillich discusses kairos in relation to his own historical context, he interprets crisis as a kairotic moment that holds the possibility of becoming a new theonomous time, which can close the gap between religion and culture. I argue that crisis and kairos coincide like Tillich’s description of creation and the
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Fall. Crisis, the kairotic moment, and kairos refer to the same event but represent different aspects of the situation. Experience is thus crisis, while kairos is that which is mediated to us through transformed experience, which is the kairotic moment. Through an examination of Tillich’s works on kairos, it becomes evident that his earliest text on the concept of kairos discusses the kairos while the later text discusses experience as crisis. The WHO acknowledges the COVID-19 pandemic as a crisis that reaches beyond a health crisis and has deep implications on many people’s lives. The speech of WHO’s Director-General on 4 December 2020 affirmed a consideration of the pandemic as a possible kairotic moment. Thus, the pandemic can be understood as demonically distorted and prone to error because of the historical order and the human estrangement while also bringing a possible new beginning as exemplified by the Director-General as a new path laying before us. It can be read as an epoch-making moment in history while still standing under the order of historical destiny. I suggest that Tillich’s concept of kairos can illuminate the COVID-19 pandemic as crisis, which might transform into a kairotic moment, although the reaction may be demonically distorted and risks being erroneous. Thus, it is not just Tillich’s latest conception of kairos that can illuminate the pandemic as crisis, but it is his conception of kairos in its development that can illuminate the possibilities and the actuality of the pandemic.
Benjamin J. Chicka
Tillich, Pandemic, and Video Games Abstract: Paul Tillich engaged art extensively during his lifetime and developed his theology of culture as a result of that engagement. Just as expressionist and impressionist paintings that caught his attention were popular in their day, video games are now one of the most successful and influential art forms in the world. The most relevant aspects of Tillich’s thought for illuminating video games and the meaning they can convey to those who play them are (1) personal courage that can overcome estrangement and (2) the development of a theonomous inclusive whole in reaction to heteronomous forces of domination and the conflicts with personal autonomy they create. After describing how conflicts between heteronomy and autonomy were overcome within the video game industry, it will be shown how video games enabled some Christians and Muslims to overcome pandemic restrictions that separated their communities better than other forms of technology.
1 Introduction One way to describe heteronomy is the destruction of autonomous creations by external force. This is on display when one group latches onto a polar tension in life and uses it as a weapon with which to bludgeon another group. It is an effort to define their shared situation as one in which the members of the in-group matter and are included while those considered outsiders do not and can therefore be treated in heinous ways. When religious groups exclude LGBTQ+ individuals, that polarization is an example of heteronomy. The tension between autonomy and heteronomy centers on whether any group is organized inclusively so that people can freely be themselves and flourish, or whether freedom and fulfillment are only available for those in power and those who submit to their demands. Paul Tillich was keenly aware of how conflicts between heteronomy and autonomy and abuses of power impact daily life. He spent his formative years as a chaplain in the trenches during World War I and produced his Systematic Theology in the wake of his home country’s failings during World War II. Just as Tillich’s extended engagement with art throughout his life enabled him to detect more in a painting than beautiful images, I have been involved with video games for almost my entire life. And just as Tillich was convinced that non-
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religious art is possible of conveying theological meaning even better than explicitly religious pieces of art, I have become convinced that video games can help people find unconditional meaning in life. Societies create polar oppositions, sort people into groups, and make it difficult to find personal courage capable of overcoming anxiety and the sense of estrangement that can result from such oppositions. Tillich looked directly at the damage heteronomy caused in two wars and gave a brutally honest assessment of his home country’s failings in World War II.1 Heteronomy is so dangerous because it demands unconditional adherence, just as the Nazi party did when it created an absolute divide between being German and Jewish, Slavic, gay, or disabled. Tillich nonetheless professed optimism about the future. The void of meaning those wars left behind also left the world facing a kairos, a special time during which more inclusive humanistic movements might prevail. In The Shaking of the Foundations, his first book of sermons which was published only three years after the war ended, he wrote the following: “There is something immovable, unchangeable, unshakeable, eternal, which becomes manifest in our passing and the crumbling of our world.”2 The destruction heteronomy leaves behind is tragic but can also help people remember long-forgotten truths. Heteronomy is also a fitting label for Gamergate, an organized campaign of harassment against minority game developers, press members, and fans within the video game industry in 2014. In the wake of Gamergate, I have been analyzing the video game industry and applying Tillich’s philosophical theology to developments toward greater diversity and inclusion within that industry.3 While my work on video games began with a heteronomous situation in which male video game fans harassed minority game developers, theonomy is also a fitting label for developments in the industry that have resulted in greater participation from historically marginalized minorities after Gamergate.
|| 1 “We suddenly realized that if Hitler can be produced by German culture, something must be wrong with this culture. This prepared our emigration to this country and our openness to the new reality it represents. Neither my friends nor I myself dared for a long time to point to what was great in the Germany of our past. If Hitler is the outcome of what we believed to be true philosophy and the only theology, both must be false.” Paul Tillich, Theology of Culture, ed. Robert C. Kimball (New York: Oxford University Press, 1959), 163–4. 2 Paul Tillich, The Shaking of the Foundations (New York: Charles Scribner’s Sons, 1948), 9. 3 My full argument about theology, ethics, and video games can be found in Benjamin J. Chicka, Playing as Others: Theology and Ethical Responsibility in Video Games (Waco, TX: Baylor University Press, 2021). A core piece of the argument applies Tillich’s theology of culture to popular culture and video games.
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Tillich’s concept of theonomy, “autonomous reason united to its own depth,”4 is directly related to his position that God is not a being with specific attributes and intentions, but the ground of being. God is the ground, the support, giving meaning to everything that exists. Whenever exclusive polarized options are experienced, theonomy indicates an inclusive participatory alternative is possible. Theonomy is possible anytime and anywhere because God is the depth of reality to which any piece of that reality, including video games, can be directed. Video games are full of such theological depth. Such an inclusive alternative is precisely what has happened in video games. Changes within the industry in the aftermath of Gamergate support Tillich’s assertion that historical upheaval is often a new opportunity for theological depth to break through. Tillich located hope for Christian socialism within the destruction of war, though that hope faded as politics in the United States made the realization of socialism unlikely. However, the violent disruptions created by Gamergate have made space for theonomous video games to break through. After describing Gamergate and providing examples of games supporting this claim that the industry has moved toward a theonomous situation, I will conclude by describing some ways such meaningful video games were uniquely equipped to navigate around problems posed by the historical upheaval of the COVID-19 pandemic.
2 From Heteronomy to Theonomy in the Video Game Industry Those unfamiliar with video games might just associate the industry with actionpacked games depicting real or imaginary wars. Many people who do not play video games may have seen commercials for the Call of Duty and Battlefield franchises on television or the internet. Those who paid attention to politics in the United States during the 1980s and 1990s might recall the titles of video games like Mortal Kombat and Grand Theft Auto, very violent games filled with blood and gore. Numerous politicians united across party divides in an effort to censor such games over concerns that they would cause an increase in violence in the
|| 4 Paul Tillich, Systematic Theology, vol. 1, Reason and Revelation; Being and God (Chicago: University of Chicago Press, 1951), 85.
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real world. However, they were unsuccessful and claims about a causal link between violence in video games and violence in the world have been refuted.5 Instead, the purported link between games and violence has been traced to journalistic manipulation and political hype. It is a sensational story that makes for catchy headlines, sells newspapers, and mobilizes voters, but it is not a fact. Furthermore, just as movies can be genuine works of art – some are frivolous and some deal with serious subjects – video games can also be serious works of art. The fantastical nature of many video games even works in their favor, given how Tillich defined art as expressing meaning. He writes: “Art indicates what the character of a spiritual situation is; it does this more immediately and directly than do science and philosophy for it is less burdened by objective considerations. Its symbols have something of a revelatory character while scientific conceptualization must suppress the symbolical in favor of objective adequacy.”6 Some video games are full of explosions while others deal with issues that are philosophically and even theologically relevant. Video games are also now the largest-grossing form of entertainment in the world, and the industry broke its own yearly revenue record in 2021.7 Many of the pieces of art that caught Tillich’s attention during his career are now regarded as classics, with many of those being popular and influential in their own time. For all these reasons, applying Tillich’s thought to video games is a natural thing to do. Because Tillich was interested in overcoming polarized tensions between heteronomous and autonomous forces, it also makes sense to consider one of the video games industry’s greatest failures, displaying the dangers of such polarization: Gamergate.
|| 5 Andrew Fishman, “Blame Game: Violent Video Games Do Not Cause Violence,” Psychology Today, July 16, 2019, https://www.psychologytoday.com/us/blog/video-game-health/201907/ blame-game-violent-video-games-do-not-cause-violence; American Psychological Association Task Force on Violent Media, Technical Report on the Review of the Violent Video Game Literature, 2015, https://www.apa.org/pi/families/review-video-games.pdf; American Psychological Association’s Society for Media Psychology and Technology, “News Media, Public Education and Public Policy Committee,” The Amplifier Magazine, June 12, 2017, https://div46amplifier.com/2017/06/12/news-media-public-education-and-public-policy-committee; Jason Schreier, “Why Most Video Game ‘Aggression’ Studies Are Nonsense,” Kotaku, August, 14, 2015, https://kotaku.com/why-most-video-game-aggression-studies-are-nonsense-1724116744. 6 Paul Tillich, The Religious Situation, trans. H. Richard Niebuhr (Cleveland: Meridian Books, 1956). 7 Tom Wijman, “The Games Market and Beyond in 2021: The Year in Numbers,” Newzoo, December 22, 2021, https://newzoo.com/insights/articles/the-games-market-in-2021-the-year-innumbers-esports-cloud-gaming/.
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Gamergate unfolded in 2014 when independent game developer Zoë Quinn released the game Depression Quest.8 It came out at a time when flashy, violent, and thrilling games were the norm. Depression Quest was an experimental alternative that shared more in common with choose-your-own-adventure books than such action-packed video games. The game is like a digital version of a book that can be played in an internet browser and it deals with depression and how it can impact someone’s ability to make, or not make, choices from day today. Playing the game involves reading what happens to the character you control as each day passes, with choices about what to do next to be found after that descriptive text. As text explaining the events happening in the life of the character that players control changes each day, there is also a reminder on the screen updating players about the mental health of the character and any treatment, such as therapy or medication, that they are seeking to deal with depression. Depending on the severity of the depression, many or all of the choices available to players about what to do next in the story might be crossed out and unavailable to choose. This gameplay is meant to convey to players not dealing with depression what living with it can feel like. Some video game fans took Depression Quest, and especially the press coverage it received, as an attempt to convey the experience of living with depression through the interactivity of video games,9 and thus a threat to what video games are “supposed” to be about. Gamergate is the name given to the controversial reactive movement such fans created by spreading lies about Quinn and female game developers and industry critics who rallied to Quinn’s support.10 The big lie that spread the furthest was that Quinn traded sexual favors with a member of the games press in return for favorable coverage of Depression Quest. The press outlet, Kotaku, investigated the accusation and discovered it was a complete fabrication.11 Nonetheless, Gamergate supporters did not accept the truth and pointed to the lie as a reason to harass Quinn, who had personal information
|| 8 For an accessible summary of what led to and resulted from Gamergate see Kyle Wagner, “The Future Of The Culture Wars Is Here, And It’s Gamergate,” Deadspin, October 14, 2014, https://deadspin.com/the-future-of-the-culture-wars-is-here-and-its-gamerga-1646145844. 9 Phil Owen, “4 Video Games That Help You Understand And Deal With Your Depression,” Kotaku, April 19, 2013, https://kotaku.com/4-video-games-that-help-you-understand-and-dealwith-yo-473476131. 10 Kyle Wagner, “The Future Of The Culture Wars Is Here, And It’s Gamergate,” Deadspin, October 14, 2014, https://deadspin.com/the-future-of-the-culture-wars-is-here-and-its-gamerga1646145844. 11 Stephen Totilo, Blog of the Editor-in-Chief, Kotaku, August 20, 2014, https://kotaku.com/inrecent-days-ive-been-asked-several-times-about-a-pos-1624707346.
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leaked online and even received targeted death threats. Some women developing other novel sorts of games not common in the industry at the time supported Quinn and stood up for the importance of experimental alternatives like Depression Quest. The campaign of harassment that was Gamergate made them targets as well.12 Some members of the press showed public professional support for these developers against those threatening them. They also pointed out that the popular and violent games Gamergate supporters typically liked contained many harmful tropes about women, notably their objectification as objects of sexual desire or damsels in distress needing to be saved by men.13 The innovative types of games being made by Quinn and others were important because they did not contain harmful stereotypes. Anita Sarkeesian, the person probably most widely associated with pointing out such harmful tropes in video games, also received death threats. Gamergate created a ‘culture war’ in which supporters defended “real” games by attacking women and other minorities attempting to craft alternative types of games such as Depression Quest.14 However, rather than being silently pushed out of the industry as the sort of participants who are ‘not allowed,’ those who were targeted by Gamergate have brought significant changes to the industry that have increased diversity within it. Just as Tillich prophetically critiqued dangerous cultural distortions, including and, perhaps especially, those of his home country, those attacked in the situation created by Gamergate have pushed back against and transformed video game culture.15 Their protest created new opportunities in the video game industry to affirm identities that heteronomous forces in the real world do not always tolerate. The Penny Arcade Expo (PAX) is one of the largest gaming conventions
|| 12 Callum Borchers and Dennis Keohane, “Citing Threats, Game Maker Pulls Her Company from PAX East Fest,” Boston Globe, February 24, 2015, https://www.bostonglobe.com/business/ 2015/02/24/pax-east-withdrawal-reveals-sexist-side-video-game-culture/SiRAzMnuI6iea0woo9ob6I/story.html. 13 Anita Sarkeesian, “Damsel in Distress (Part 1) Tropes vs Women,” Feminist Frequency, March 7, 2013, video, 23:34, https://feministfrequency.com/video/damsel-in-distress-part-1/. 14 The angry reactions of Gamergate supporters to non-male and non-white characters in video games eerily resemble the rise of white nationalism across the world right now. For more on Tillich in relation to the latter see Eric A. Weed, The Religion of White Supremacy in the United States (Lanham, MD: Lexington Books, 2017). 15 Their calls for radical changes needed in the industry echo Tillich’s frank assessment of his fellow German colleagues and citizens falling under the sway of the Nazis: “We suddenly realized that if Hitler can be produced by German culture, something must be wrong with this culture […]. If Hitler is the outcome of what we believed to be true philosophy and the only theology, both must be false.” Paul Tillich, Theology of Culture, ed. Robert C. Kimball (New York: Oxford University Press, 1959), 163-4.
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in the United States, taking place in Boston, Seattle, and San Antonio every year. While each event involves a massive show floor where action games with huge budgets can be found, the areas showcasing independent and experimental games have become larger and are now the reason many fans attend the conventions. Furthermore, in the face of pressure to respond to Gamergate, convention organizers introduced the Diversity Lounge in 2014 at PAX East in Boston. The initiative was initially criticized for placing minorities in a corner, out of the spotlight, literally in a separate room away from the main show floor,16 but the lounge has developed into a safe space where attendees can support LGBTQ+ merchants, speak with professional ethicists about diversity, and learn more about issues faced by those who have been historically marginalized in the industry. At that same PAX East convention in 2014, the nonprofit organization “Take This” introduced the AFK Room (“away from keyboard”). These rooms are now present at all PAX events and are quiet mental health spaces for both convention attendees and staff.17 They are staffed by local volunteers and clinicians present to support anyone distressed and overwhelmed by the convention. Zoë Quinn has done something similar and created “Crash Override,” a crisis hotline for anyone experiencing online abuse. The organization also performs advocacy work and provides training resources for tech companies to eliminate the causes of online harassment. As would happen in a theonomous culture, these corrective structures were put in place to overcome the heteronomous damage caused by Gamergate. Failure and crisis also afforded an opportunity for new and better things to emerge. Just as Tillich was able to identify the creation of something new and hopeful in the remnants of two World Wars, the violent disruptions created by Gamergate also created space for new sorts of video games to break through. Tillich refused to separate theology and high art and spoke as an expert and champion of both. He delivered his lecture “Art and Ultimate Reality” at the Museum of Modern Art in New York City in 1959 and would return to give an address at the opening of new galleries in 1964. There are now some video games that are pieces of art, and they should similarly not be separated from theology. Prejudice and discrimination still prevent many people from openly and freely being who they are daily, but those same people now have the opportunity
|| 16 Leigh Alexander, “‘Diversity Lounge’? PAX Has a Lot of Work to Do,” Gamasutra, December 19, 2013, https://www.gamasutra.com/view/news/207402/Diversity_Lounge_PAX_has_a_lot_ of_work_to_do.php. 17 Jessica Conditt, “Fighting Depression in the Video Game World, One AFK at a Time,” Engadget, March 25, 2016, https://www.engadget.com/2016-03-25-mental-illness-video-gamestake-this-please-knock.html.
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to be their true selves in video games that have emerged since Gamergate. The significance of Tillich’s concept of theonomy for reflection on video games is that it encourages the hope of overcoming estrangement. With God understood as the ‘ground of being,’ estrangement is separation from God and one’s true nature. Estrangement is separation from a genuine unity, from one’s essence.18 However, because nothing that exists can be separated from the ground of its existence, feelings of estrangement can be overcome.19 When experiencing estrangement, of our lives being different than what they should be, video games can help people affirm their essence.20 Conditions that produce anxiety remain real, but not the separation between existence and essence.21 While minorities still bear great mistreatment in societies, as well as within the video game industry, it is now possible for them to experience affirmation in video games that real-world contexts might not offer. For LGBTQ+ individuals who feel uncomfortable or unsafe being themselves due to local politics or the policies of religious institutions, there are now video games providing alternative means of affirmation. Games about coming out as a lesbian in high school are now made by development teams including lesbian members, for example. The interactive nature of video games provides players an environment in which they can actively express themselves while interacting with characters and sharing their identities. Rather than merely suffering under heteronomous forces, such games provide spaces where historically marginalized identities can be explored, developed, and affirmed.
3 Theonomous Video Games If Found… is a game made by DREAMFEEL about how a transgender woman is treated differently by friends and family. The friends show empathy and support
|| 18 Paul Tillich, “The Philosophical Background of My Theology,” in Main Works, vol. 1, Philosophical Writings, ed. Carl Heinz Ratschow (Berlin: Walter de Gruyter, 1989), 418. 19 Tillich, Systematic Theology, 1: 204–6. 20 Defending personal essence does not entail everyone shares a common Aristotelean essence, just that the potential of someone to be X, Y, or Z—to be anything that they might become—is an absolute truth. The meaning of essence can be as simple as not being racist so as to not prevent people of other races from realizing their essence, for example. Conversely, if someone hinders others from being who they are, that is a sign they have not realized their own essence. For Tillich, part of realizing one’s own essence involves making sure others can be similarly realized. See Paul Tillich, My Search for Absolutes (New York: Simon and Schuster, 1967), 70-5. 21 Tillich, “The Philosophical Background of My Theology,” 418.
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while family members use the wrong pronouns, and name, and do not acknowledge the woman as a woman. The game is available on the PC and the mouse or touchpad is used to control the game, but the mouse icon is not an arrow as you might be used to seeing on Windows or Apple computers. It appears as an eraser that removes or adds images on the screen when players click. That eraser is used to advance all pieces of the plot by clicking on the screen, which conveys to the player how people using the wrong name and pronouns can feel like being erased to a transgender individual. Reversing the process and being acknowledged can also feel like being created anew for the first time. Many other games could be listed that give players the chance to experience life from perspectives ranging from a lesbian teenager, immigrants fleeing for their lives, and Muslims fighting for their political rights.22 Some of the lessons video games can convey are more simple. Dragon Age is a series of high fantasy games set in a world like Lord of the Rings full of elves and fantastic creatures to battle. In the series of games, players can “romance” other characters through dialogue choices in conversations, giving gifts, and going on “dates.” The interactions can eventually result in virtual intercourse, but the virtual characters in the game push back and have their own agency. They might say no, and players have to respect that, just as in real life. That Dragon Cancer is an independent video game that shares the experience of a real family dealing with childhood cancer and death. The design team was led by Ryan and Amy Green, whose son Joel died from pediatric cancer at age four. The game conveys their experience of living through the ordeal, from learning of the cancer to Joel’s eventual death, in a fictionalized setting that is nonetheless based on their reality. Ryan and Amy are also Christians, and the game conveys their worries about whether God was with them through this ordeal, and the eventual confidence they gained that God was indeed present. The game has also been used in seminaries as a tool for developing pastoral care skills and giving students windows into the traumatic experiences that people live through.23 After giving talks about these topics at video game conventions, I am frequently approached by gamers who, without knowing Tillich or his terminology, || 22 Many more games be could listed, be the following games are good places to start for those interested in investigating further. Gone Home by the Fullbright Company contains a story focused on a lesbian in high school. Papers, Please by Lucas Pope puts players face to face with immigrants at a border crossing. 1979 Revolution: Black Friday by iNK Stories lets players control a Muslim photojournalist in the midst of the Iranian Revolution. 23 John W. Auxier, “That Dragon, Cancer Goes to Seminary: Using a Serious Video Game in Pastoral Training,” Christian Education Journal: Research on Educational Ministry 15, no. 1 (2018): 105–17.
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basically describe to me how they get to be their essential selves in video games in ways that are still practically impossible outside of those virtual environments. Theonomy supports cultural autonomy. People are allowed to be themselves, transgender in the case of If Found…, but that autonomy is now more than a reaction to heteronomy. Transgender players of that game can also understand themselves as ultimately fulfilled due to their relation to the divine ground. Industry changes after Gamergate, and the sorts of games that those changes have made possible, have provided opportunities for personal fulfillment and affirmation for those facing social oppression and isolation. Just as Tillich developed a theology exhorting “the courage to be” for those experiencing meaninglessness, the video game industry is opening to its divine depths. Such potential within video games was also leveraged to solve unique problems brought on by the COVID-19 pandemic.
4 Video Games, Authenticity, and COVID-19 Due to stay-at-home orders put in place worldwide during the heart of the pandemic, many people were unable to be themselves and find fulfillment by gathering with religious communities and participating in ritual practices. In the case of Christianity and Islam, many of the most restrictive orders to stay at home in 2020 coincided with Easter and Ramadan, preventing Christians and Muslims from celebrating these important dates on the calendar with members of their religious communities. Nintendo’s video game Animal Crossing: New Horizons offered a means of solving this real-world problem. Animal Crossing is a somewhat simple and relaxing video game. Each player inhabits a unique island on which they can develop various buildings, gardens, and farms, and decorate them all as they please. Players can interact with each other and swap items by visiting one another’s islands and chatting through an in-game interface. When churches around the United States had to close starting in March 2020, Erika Bergh realized an opportunity present within the game. She is the Pastor of Christ Our Savior Lutheran Church in Anchorage, Alaska, and she created a makeshift altar on her island using some tables and kitchen decorations available in the game.24 The result was a space where church members gathered weekly to celebrate communion together throughout the pandemic, including an
|| 24 Lisa Smith Fiegel, “Video Game Church,” Living Lutheran, June 23, 2020, https://www.livinglutheran.org/2020/06/video-game-church/.
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Easter celebration. Furthermore, just as Tillich focused on the potential for learning and positive social progress to result from times of crisis, Bergh’s Animal Crossing ‘church’ brought forth a previously unrealized possibility that was always present, yet only brought to the forefront by the necessities of pandemic restrictions. Friends in and beyond Alaska were able to reconnect and worship with Bergh and other church members across thousands of miles, thanks to Animal Crossing. Another example of video games being uniquely equipped and utilized to realize theonomous possibilities when facing pandemic difficulties is the way Muslims leveraged Animal Crossing to celebrate Suhoor and Iftar meals during Ramadan. Rami Ismail is a Dutch-Egyptian independent game developer who is also very open about being a Muslim, an openness about religion that is a rarity in the industry. He also brings an explicitly religious critique to the industry in which he works. He delivered a talk at the 2015 Game Developers Conference, the largest annual professional event in the industry, titled “We Suck at Inclusivity: How Language Creates the Largest Invisible Minority for Games.”25 Ismail took some of the biggest development and publishing companies in the industry to task for almost exclusively depicting Muslims and the Arabic-speaking world as unambiguously evil, usually as terrorists to be shot and killed. Ismail’s main target in his talk was Battlefield 3, a popular first-person shooter game with a budget of over $100 million. One of the major scenes in the game takes place around a crumbling hotel whose sign is constantly on the screen. In under thirty minutes of teaching his audience the most rudimentary basics about reading Arabic, someone in the audience spoke up and spotted the mistake when an image from the game was projected on a screen for the audience to see. ‘Hotel’ was spelled backwards in Arabic and with unconnected script. Ismail took the fact that the developers of a game with such a large budget could not spend a tiny fraction of it on spelling a word correctly in one of their game’s major scenes as an insult. Such depictions of Muslims in games are distortions of deeper meaning that can be manifest in video games, and this and other talks by Ismail echo Tillich’s prophetic voice about how the meaning of each of our lives can burst forth in or be distorted by cultural products. It is therefore not surprising that Ismail made a space in Animal Crossing for Muslims around the world to gather together for the breaking of the fast during Ramadan. While participants did eat meals in the real world, players also brought unique items from their virtual farms and gardens to
|| 25 Rami Ismail, “We Suck at Inclusivity: How Language Creates the Largest Invisible Minority for Games,” GDC Vault, 2015, https://www.gdcvault.com/play/1022362/We-Suck-at-InclusivityHow.
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the in-game celebrations.26 While it is easy to deem such in-game gatherings poor substitutes for real-world gatherings, Animal Crossing was used in innovative ways by religious communities to adapt to exigencies in the real world. The inventions of Bergh and Ismail revealed how video games were better equipped to get around pandemic limitations than other technology like video conferencing in at least two ways. While it would have been possible to celebrate Easter and the breaking of the fast during Ramadan by using webcams and video conferencing software like Zoom, all participants in such situations would still be isolated and separated in their different rooms staring at webcams and looking at other people on their screens. When Christian and Muslim players brought characters they controlled in Animal Crossing together on the same island, the result was a genuinely shared space and moment. While a virtually shared space is not the same as sharing a physical space, the pandemic also brought forth an unrealized possibility that improved the experiences of Muslims in some parts of the world. Some people who visited Ismail’s virtual island in Animal Crossing lived in cities with few to no other Muslims or were attending colleges with limited support for non-Christian students. Participating in Ramadan through Animal Crossing was a better communal experience for them than breaking a fast outside the game, where they might have been alone.27 Just as the example of LGBTQ+ gamers already given, some people are able to be more truly themselves within video games than in societies that do not always affirm their worth. As would happen in a theonomous culture, people are searching for deep meaning in video games and putting what they find into action in the world. Ismail welcomed non-Muslims to his virtual island as well, and genuine interreligious dialogue occurred. Players who knew little to nothing about Islam asked questions about what happens during Ramadan, and the conversations happened in what remained a positive respectful environment.28 All this occurred because of a video game, and those who creatively used it to realize possibilities that improved the experiences of those who played the game.
|| 26 Imran Khan, “In Extraordinary Times, Ramadan Finds a Place in Animal Crossing,” The Washington Post, May 15, 2020, https://www.washingtonpost.com/video-games/2020/05/15/ ramadan-animal-crossing/. 27 Dexter Thomas, “We Joined a Ramadan Celebration in Animal Crossing, VICE News, May 23, 2020, https://www.vice.com/en/article/5dzp7z/we-joined-a-ramadan-celebration-in-animal-crossing. 28 Ema O’Connor, “The Coronavirus Cancelled Ramadan Celebrations Around the World, so this Game Developer Re-Created them in ‘Animal Crossing’,” BuzzFeed News, May 22, 2020, https://www.buzzfeednews.com/article/emaoconnor/animal-crossing-ramadan-2020-eid-celebration-coronavirus.
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5 Conclusion Paul Tillich located a great depth of meaning and theological import in secular art during his lifetime. While good work has been done on Tillich and fine art,29 less work has been done regarding his theology of culture in relation to popular culture.30 Gamergate revealed that pieces of popular culture like video games are not mere entertainment. This revelation initially occurred through the negative heteronomous actions of Gamergate supporters who defined video games as being for only certain sorts of video game fans and who used that definition to harass marginalized people in the industry. However, a Tillichian lens applied to video games after Gamergate reveals novel developments within this piece of popular culture that are tied to their ultimate depth. There are now video games that can be illuminated by reflections on Tillich’s concept of theonomy. Those games are making Tillich’s point that culture is the manifestation of religion and religion is the meaning of culture.31 When game developers do a good job of representing minorities in their games and marginalized players get to control players like themselves as their virtual lives are fulfilled, that is an experience that gives such players the courage to be themselves in a world that does not make that easy. For non-marginalized players, the virtual encounters provided by such games offer a chance to learn about the dangers of heteronomy and put that lesson to work in order to create a participatory and non-polarized theonomous world. And Paul Tillich’s theology can help us reflect constructively on this engagement.
|| 29 Russell Re Manning, “Tillich’s Theology of Art,” in The Cambridge Companion to Paul Tillich, ed. Russell Re Manning (Cambridge: Cambridge University Press, 2009), 152-72. 30 Jonathan Brant, Paul Tillich and the Possibility of Revelation through Film (New York: Oxford University Press, 2012). I concur with Brant that applying Tillich’s theology systematically to popular culture is a real need. 31 Paul Tillich, The Protestant Era (Chicago: University of Chicago Press, 1948), 57.
Jari Ristiniemi
Conformity, Totalitarian Trends, and Totalitarianism Threats to Democracy in Local / Global Communities Abstract: The essay discusses the state of democracy in today’s world, paying attention to conformity, totalitarian trends, and totalitarianism as threats to democracy. One of the main arguments is that conformism and totalitarian trends as such do not yet equal totalitarianism, but conformism and the concentration of power might offer a trajectory bound to totalitarianism. A holistic model is construed both as means of showing what is going on in democracy and as means of finding a cure. The model is inspired by a monistic and holistic turn in the middle of the previous century. Eino Kaila, Arthur Koestler, and Paul Tillich are identified as central figures in that turn. What is common for them is that they anchored thought in life, seeing life as a unity. The article concludes with a discussion of re-establishing the center of personality as a way of counteracting totalitarian tendencies.
1 Introduction It would be impossible to speak about all that happens in democracies today or to lift all threats to democracy up; the political scene is diverse and split. Here, we try to understand what conformity, totalitarian trends, and totalitarianism are, how they come to expression today as threats to democracy, and how they could be counteracted. We do that in relation to a monistic and holistic turn in the middle of the previous century. We find Eino Kaila, founding figure of recent Finnish philosophy, Arthur Koestler, Hungarian author and essayist, and Paul Tillich in that turn, each taking rather similar steps independently from each other in this dawn of monistic thinking. There is corporeality and spirituality or mentality in Kaila and Tillich; there is a philosophy of life in all three, an aspiration for monism. We think that democracy is dependent on what kind of people we are. According to Kaila: “When we speak about “democracy”, we must always have our eyes on the multilayered nature of humankind and the complexity of its motivations; in “democracy” there are both deep-spiritual and corporeal
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elements. […] [T]he deep-spiritual elements of “democracy” make use of basic drives”.1 In this understanding, there is no dualism between spirituality or mentality and corporeality. We try to read today’s democracy in the light of a monistic and holistic view. Where threads are found, we also try to point out a cure. With inspiration from Gilles Deleuze and Michel Foucault, Giorgio Agamben points to the possibility of breaking loose from the subject ontology, that is, anthropo- and subject-centric one-dimensional ontologies in which relation to the Other and nature has no constitutive place. Life-experience and forms-of-life offer that possibility. In breaking loose, mental work is necessary, Agamben wrote: “The form-of-life is the point in which the work on an opus and the work on oneself perfectly coincide”.2 While writing, we also work on ourselves. Forms of life come from life itself. Paul Tillich defined justice as a form of life, something that is intrinsic to things themselves: “The basis of justice is the intrinsic claim for justice of everything that has being […]. It is an intrinsic claim, expressing the form in which a thing or a person is actualized”.3 Intrinsic or inherent justice as a form of life is in all things: plants, animals, humankind, and the more-than-human things; today the whole globe, given the state of nature, asks for justice: “It is this inherent justice in a thing which is the basis of all judgments about just and unjust”.4 This is not an anthropocentric definition of justice. We have all the reasons to look for a sustainable human/world interaction, admitting the intrinsic justice and the intrinsic value of each thing; the nature of interaction would be changed. In today’s local/global community, democracy is many times treated as if it is an abstract idea. An alternative to that understanding is in a philosophy of life. There is philosophy or philosophies of life from Ludwig Feuerbach and Friedrich Nietzsche through Henri Bergson and up to Paul Tillich and right into recent philosophical and feminist thought. What is problematic in cognitive/rational approaches, for example when democracy is treated as an abstract and general idea, is that they lack life; thought is not grounded in life or a form of life. Herein lies Nietzsche’s criticism of democracy. An interactional, holistic model is applied: individuals interact with each other and their psychological, social, cultural, religious, and natural environ|| 1 Eino Kaila, Personality/Persoonallisuus (Helsinki: Otava, 1952), 375, author’s translation. 2 Giorgio Agamben, The Fire and the Tale (Stanford: Stanford University Press, 2017), 138. 3 Paul Tillich. Love, Power, and Justice: Ontological Analyses and Ethical Implications (London: Oxford University Press, 1960), 63. Considering forms of life and justice as a form of life see also Ristiniemi 2022. 4 Paul Tillich, “Love, Power, and Justice” bMS 649/69 (8) 1954, 5. Paul Tillich. Archives at Andover-Harvard Theological Library, Harvard Divinity School (hereafter referred to as PTAH).
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ment. Interaction means, when it comes to emotions, that we affect and we are affected, and in discussing conformity and totalitarianism we should pay attention to that. Threats to democracy do not only come from the urges of the underground world (passions like hatred and ressentiments), but also detached attitudes of higher cognitions, or more closely, from some general knowledge granted the status of independent truth, for example, in economics, and in government. Arthur Koestler coined the concept of ‘holon’ pointing to the holistic nature of things, that individuals, groups, and societies, not only of humankind, are to be understood as wholes with specific characteristics like the selfassertive and the integrative tendencies.5 In Koestler’s view, even an abstract theory, an upper cognition could function as a holon, if a specific idea took charge of individuals and societies: “In extreme cases, a cognitive holon which has got out of control can behave like a cancerous tissue invading other mental structures”.6 This might happen in an individual and it might happen in a society as well, with the consequence that “the coordinating powers of the whole are so weakened […] that it is no longer able to control its parts”.7 The power of abstract ideas taking charge of societies is what characterizes totalitarian societies.8 We meet this polarization in democracy today: on the one hand the urges or drives as both building up and as revolting forces and on the other hand upper cognitions as ruling forces in the management of the society. If society reflects the kind of people we are, there then is a chasm between emotion and reason giving birth to this polarization. Koestler proposes a cure: “What we are concerned with is a cure for the paranoic streak in what we call normal people, i.e., mankind as a whole: […] to bridge the rift between the phylogenetically old and new brain, between instinct and intellect, emotion and reason”.9 Some people have overcome this division who are worth being listened to, even today. We think that mental labor is a way in trying to bridge the chasm.
2 Differentiations For democratic people, mental labor is necessary. Mental labor is to differentiate. Moral differentiation, for example, is to make a distinction between the
|| 5 Arthur Koestler, The Ghost in the Machine (New York: Hutchinson & Co, 1967), 56, 70. 6 Ibid., 232. 7 Ibid., 231 8 Hannah Arendt, The Origins of Totalitarianism (Orlando: Harcourt Inc, 1976). 9 Koestler, The Ghost in the Machine, 336.
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Other and the image of the other. The universal phenomenon of bullying, as George Orwell characterized the trend,10 would be stopped if we engaged in moral differentiation, understanding that mental and physical bullying often arises from psychological/social/cultural images of the other. Just turn on the television and you will encounter the phenomenon. Emotional differentiation is to see what comes from oneself and what comes from beyond the self. That we cannot draw a line between what comes from oneself and what comes from the Other, or from the beyond of the self, creates emotional dissonance. Epistemological differentiation entails not only establishing the subject/object distinction between the knowing subject and the known object, but also differentiating between different layers or dimensions of reality and types of truth and language. One aspect of the epistemological differentiation is to make a distinction between representations of reality and the reality of experience. When we speak about potentiality, we speak about life-experience or the reality of experience in expressive terms. It is there we find the potential dimension. And life, as is observed, is always a life, in opposition to the abstractions of life; we find abstractions of life in biotechnology and other biopolitical concepts.11 A question is which comes first: the epistemological or the moral differentiation. Rational culture prefers the former; Emmanuel Levinas seems to have thought that moral differentiation leads to the birth of the epistemological subject, that is, morality comes first, followed by epistemology.12 One of the totalitarian trends in our time is a blind faith in all-powerful technical science with its quantity-oriented conception of knowledge (epistemology comes first). Science is powerful, but it is not all-powerful. Heidegger had important things to say about Aristotle’s potentiality. Paul Tillich saw the realm of potentiality as grounding a monistic understanding of reality, also pointing to Aristotle.13 Agamben for his part sees potentiality, also in relation to Aristotle, as something that decides, finally, everything in life and in living together. In a world where forced labor is a fact, a flute player might refuse to play or might hit the right tune in calling people back to themselves and back to a common world; s/he knows what it is to do and not-to-do. Potentiality, according to Agamben, is potentiality both to do things or to act and its
|| 10 George Orwell, Essays (New York: Alfred A. Knopf, 2002). 11 Gilles Deleuze, Pure Immanence. Essays on A Life (New York: Zone Books); Giorgio Agamben, Homo Sacer: Sovereign Power and Bare Life (Stanford: Stanford University Press, 1998). 12 Emmanuel Levinas, Totality and Infinity: An Essay on Exteriority (Pittsburgh: Duquesne University Press, 2007). 13 Paul Tillich, “Dimensions, Levels, and the Unity of Life,” bMS 649/82 (17) 1958, 9. PTAH.
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“inoperativity”.14 “While for the ancients it was labor – negotium – that was defined negatively with respect to the contemplative life – otium – moderns seem unable to conceive of contemplation, inoperativity, and feast otherwise than as a rest or the negation of labor”.15 The opposite of labor is in some circles defined as laziness, but we have the power of apprehending pure potential even outside work: “In the De Anima, we instead have a potential that, insofar as it is capable of not passing into the act, remains free, inoperative, and thus is capable of thinking itself. This is something like pure potential”.16 Tillich seems to have thought that potentiality is mixed with non-being, but more than nonbeing, and he thought that life-experience has both negative and positive elements, creating the ambiguity of life.17 When it comes to mentality, we differentiate between the ego or the conscious part in us and the self in the material, bodily world. In the relational world of the self, we constantly are enriched and enriching others. We are enriched by what other human beings and more-than-human beings bring to us through their very presence and we enrich through the power of potentiality. Those who live with animals know that they cannot live otherwise. We do not exist as lonely egos, but as relational beings in interaction with each other and our world, including the natural environment. “No humankind is an island ̶ s/he is a holon”.18 Kaila gave the following definition of wholes: “A living thing in its entirety, as each of the subassemblies in which it is structured, is a meaningful whole. This kind of wholes, which determine each other and relate to each other, we name now holistic”.19 Koestler called wholes ‘holons.’ Individuals are holons, but they are not the whole. Individuality (we use this term for individualized things) is made possible by the whole, as the whole life-process makes the coming into being of individuality (in plants, animals, and human beings) possible. Tillich wrote: “Life individualizes in every leaf of the same tree as well as in every human face”.20 Human holons (individual selves) are interdependent and interact with each other in a connected universe. We consider the interac-
|| 14 Giorgio Agamben, The Use of Bodies. Homo Sacer IV, 2 (Stanford: Stanford University Press, 2015), 273. 15 Giorgio Agamben, Creation and Anarchy: The Work of Art and the Religion of Capitalism (Stanford: Stanford University Press, 2019), 26. 16 Ibid., 24. 17 Paul Tillich, Systematic Theology III (Chicago: The University of Chicago Press, 1976). 18 Koestler, The Ghost in the Machine, 56. 19 Kaila, Personality, 29, author’s translation. 20 Tillich, “Love, Power and Justice”, 1f.
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tional perspective as basic: in interaction, an individual is one among other holons. Considering epistemological differentiation, Paul Tillich wrote: Every thought aiming at knowledge is based on sense impressions and conscious and unconscious scientific traditions and experiences, and conscious and unconscious authorities, besides volitional and emotional elements which are always present. Without this material, thinking would have no content. But in order to transform this material into knowledge, something must be done to it; it must be split, reduced, increased, and connected according to logical, and purged according to methodological, criteria. All this is done by the personal center which is not identical with any particular one of these elements. The transcendence of the center over the psychological material makes cognitive act possible, and such an act is a manifestation of spirit.21
Tillich expresses here something of epistemological differentiation, describing how we reach knowledge. He also shows the relation of the center of personality to its psychological material: the self has its psychological content, but at the same time, the center of the self is beyond the psychological content. This very relation has bearing on individual/communality coordination or differentiation as well. Tillich continues: “the structure of the community, including its structure of centeredness, is qualitatively different from that of the personality. The community is without complete centeredness and without the freedom which is identical with being completely centered”.22 The position of the personal center in individual/community interaction is essential to our discussions of democracy regarding conformity, totalitarian trends, totalitarianism, and a possible cure. Differentiations help us to discuss conformity and totalitarianism and their relationship. Differentiations come with self-aware thinking when thinking is defined as an act in human total personality. Cogito or ego-oriented reflection (“I think”, which grounds the subject ontology) is only an aspect of that wider and deeper thinking. Deleuze interprets Spinoza as a philosopher of life: In short, the model of the body, according to Spinoza, does not imply any devaluation of thought in relation to extension, but, much more important, a devaluation of consciousness in relation to thought: a discovery of the unconscious, of an unconscious of thought just as profound as the unknown of the body.23
|| 21 Tillich, Systematic Theology, Vol. III, 31. 22 Ibid., 41. 23 Gilles, Deleuze, Spinoza: Practical Philosophy (San Francisco: City Light Books, 1988), 18f.
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Differentiations work with unconscious thought, trying to show influences behind conscious thought or ego-oriented reflection, behind “I think”.
3 External Conformity Conformity could be discussed as a concept the way people historically have understood and defined it. However, a conceptual approach rests upon psychological, social, and cultural presuppositions; each concept is already formed by some pre-understanding; there is no pure conceptualism. A concept rests upon cognitive/rational presuppositions that do not pay attention to affective dimensions. Hannah Arendt speaks about “the reality of experience”, as opposed to the world of fiction.24 Concepts as abstractions are literary fictions. “In a sense, abstraction presupposes fiction, since it consists in explaining things by means of images”, Gilles Deleuze wrote.25 What we meet today is the power of fictions, which has turned into a factor of influence. In uncritical “external conformity”,26 there is an identification with community, paired with an uncritical consent and adherence to representatives (party, nation, leader). Uncritical external conformity is a totalitarian trend that might become one of the main components of totalitarianism. A totalitarian trend turns into totalitarianism when adherents of external conformity make their understanding of the human/world interaction into an all-pervading ideology and pattern, demanding people submit to it. We could say that in today’s democracies, there are totalitarian trends and aspirations for totalitarianism, much of which is dependent on certain assumptions about humanity that get less attention in education, business, and politics. The reality of experience is always structured or formed in a certain sense. Tillich talked about the formative power of cultural forms.27 Considering conformity, Tillich pointed to patternisation: Conformity is a negative force if the individual form, which gives uniqueness and dignity to a person, is subdued by the collective form. […] Patternisation, the process in which
|| 24 Arendt, The Origins of Totalitarianism, 471. 25 Deleuze, Spinoza, 45. 26 Jennie, C. Ikuta, Contesting Conformity: Democracy and the Paradox of Political Belonging (New York: Oxford University Press, 2020). 27 Paul Tillich, Theology of Culture (Oxford: Oxford University Press, 1964), 42.
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persons are modeled according to a definite pattern. Patternisation is what determines our period, both in learning and in life.28
The individual form is a form of life, while the collective form is imposed on human personality from the outside. Structure or cultural forms shape and mould the world of experience, patterning it. The power of patternisation is actual in democracies today, thanks to commercialization, social media, political strategies, and the will to paternalism. Patternisation as external conformity might become a totalitarian trend, which finally leads to totalitarianism. According to Arendt, there is “ideological indoctrination which is taught by the educational institutions […]. The propaganda of the totalitarian movement also serves to emancipate thought from experience and reality”.29 Thoughts or ideas emancipated from experience, representations, abstractions or cognitive holons, get absorbed in totalitarian trends, and, finally, build up the dominating ideology in totalitarianism. Ideology becomes an abstraction; it is released from the reality of experience. The negative force of conformity, the power of patternisation from the outside in, would be broken if we placed the individual form as the base in education and in life. Totalitarianism and totalitarian trends fight individuality. Tillich asked if there are “symbols left which break the conformist compulsion”? Proposing a cure, he said: “It cannot be done from outside […]. They must come from inside”.30 Tillich continues: Adjustment to the demands of our competitive mass society is the aim of most directly or indirectly educational activities. Such developments are useful for the ruling groups in society and they give security to others, not only in dictatorial but also in democratic systems. When humankind becomes dehumanized in patternized security, the whole system loses […] those who are able to experience the new in a creative spirit […]. It may happen that the surroundings develop in a way which makes non-conformism almost impossible. But they cannot suppress it completely. Every humankind has a source of uniqueness in her/his self.31
We find that uniqueness while encountering the Other; the moral encounter is essential to the reestablishment of the center of personality. “Personal life
|| 28 Paul Tillich, “Conformity,” bMS 649/82 (5), 1957, p. 2. PTAH. 29 Arendt, The Origins of Totalitarianism, 471. 30 Paul Tillich, “Environment and the Individual” bMS 649/82 (3), 1957, 3. PTAH. 31 Ibid., 4.
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merges in the encounter of person with person and in no other way”,32 according to Tillich. In Tillich’s view, conformism is balanced by non-conformism. Even Jennie C. Ikuta advocates balance or integration between conformity and nonconformity: “Our goal ought to be the construction of a world in which individuals live as equals with one another for the sake of sharing power. In a democracy, relational equality constrains nonconformity; nonconformity cannot be boundless, for democracy binds it”.33 She defines democracy as the coming together of people with relational equality “for the sake of sharing power over the terms of collective existence”.34 Without nonconformity, there is no functioning democracy in her view, we might add that a totalitarian society is without nonconformity zones. A question is if we find relational equality in the real world or if we still live in a world where, with George Orwell’s words, all are equal, but some are more equal than others. In a totalitarian society, emphasis is on the community or collective, and freedom, and with it the individualized personal center, our access to potentiality is lost beyond sight. The world is governed by external means; subjectivity has no place in the management of things. The reestablishment of the center of personality through mental work is no concern anymore. This falling away from Dasein is one of the threats to democracy in societies where subjectivity and mental work is no issue anymore, that is, the humanity of humans is about to vanish from democracies. From this perspective, it is important to make the distinction between subjectivism and subjectivity: subjectivism is ‘I,’ ‘me,’ ‘mine;’ subjectivity is the relationality of the self. While speaking about the more-than-human world, post-humanism does not have to mean anti-humanism. None of the holistic philosophers we lift here up were anti-humanists. What we see in local/global communities is that some forms of conformity go hand in hand with totalitarian trends: external conformity with uncritical identification with the collective; public consent with security projects; double standards of morality with the management of things. Double-talk is a central feature of modern political language in Orwell’s opinion.35 In Tillich’s view, hierarchical power structures work in two ways: through acknowledgment and enforcement. “For enforcement is the other side of the hierarchical power structure […]. This is done by internalized law, a smooth
|| 32 Tillich, Systematic Theology, Vol. III, 40. 33 Ikuta, Contesting Conformity, 163. 34 Ibid., 19. 35 Orwell, Essays.
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administration and a conformist attitude”.36 Another side of hierarchical power is “power by acknowledgment”.37 The elected say: “We are the elected, and we have the right to do these things, even if they go beyond democratic legitimacy; we know better.” Although not all forms of conformity or totalitarian trends support totalitarianism, totalitarianism becomes possible when powerful groups manage to make their ideology into an all-pervading pattern, a way of thinking and evaluating, such as when an abstract “ideology” with its own logic is the ruling power, or when “the logic of an idea” runs the society.38 We are not yet in totalitarianism when one party rules through democratic control. Totalitarianism becomes a reality when a party identifies itself with the state, or rather puts itself above the state, and uses state strategies for its own purposes; the state is submitted to the party. The plurality of individuals is not allowed for the aim is to create one future man: a totalitarian society “eliminates individuals for the sake of species”.39 China today shows all the signs of the state/party coalition and totalitarianism, but the tendency to identify state and party with each other is also a part of many democracies today. Trying to understand what is happening in and for democracy today, we use a holistic model of drives, structures, and representations or abstract ideas. For the most part, we are only aware of representations or ideas (the conscious side of thought), while the dimension of structural possibilities and the reality of drives (the unconscious) are kept out of the searchlight of the conscious mind. The dimension of structural possibilities means that the human/world interaction might be structured in several ways; there are distinct cultural forms or patterns, not just one. Drives express life.
4 Thinking is Grounded in Life What is congruent in Eino Kaila, Arthur Koestler, and Paul Tillich is their intention to anchor thought in life. They saw philosophy of life as a way past frag-
|| 36 Tillich, Love, Power, and Justice. Ontological Analyses and Ethical Implications (London: Oxford University Press, 1960), 95. 37 Ibid., 94. 38 Arendt, The Origins of Totalitarianism, 469. See also Jari Ristiniemi, “Is another world possible? Totalitarian thinking and individuality in George Orwell” in Populism, Democracy and the Humanities. Interdisciplinary Explorations and Critical Inquiries, Eds., Iulian Cananau and Peder Thalén (Lanham: Rowman & Littlefield, 2022, forthcoming). 39 Arendt, The Origins of Totalitarianism, 465.
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mented, atomistic, and anthropocentric interpretation. In Paul Tillich’s view, “Life lives on life, but it also lives through life, being defended, strengthened, and driven beyond itself by struggle”.40 In Tillich’s view, life is characterized by self-transcendence, which runs in and through all things and dimensions: inorganic, organic, psychological, and spiritual; all historical dimensions building up the multidimensional unity of life.41 Because of this drive, Tillich claimed, things go out of themselves and return to themselves in one and the same act; the entire life-process is involved. Life-process is in humankind, and it is in all things; life is more than human life. Life-process individualizes things, there is both individualization and participation.42 Arthur Koestler had a similar view of the behavior of humans and more-than-human things. The tendencies come from life itself and they are in all things.43 Holons, human and non-human, have these tendencies. Kaila, Koestler, and Tillich talked about what is in humans and what is beyond humankind. In an atomistic interpretation of humankind, in subjectivism, all things are placed in the individual and no self-transcending moment or what is beyond human is discernible. In Koestler’s view, drives are in the old brain, or rather, they come to expression there: “the survival of the lower mammalian brain in our heads is not metaphor but fact”; it “perceives, remembers and thinks in its own, quasiindependent way. In primitive animals, the limbic system is the highest integrative centre for drives of hunger, sex, fight and flight”.44 The drives could be specified, like hunger, sex, fight, flight, self-transcendence, life instinct, death instinct, or will to power; we find drives in life-experience. Drives, as elements of corporeality, are sensed in a living body. Mental work, we could say, is to bring the old and the new brain (the cortex as a seat of consciousness) together, to integrate them, so that we might comprehend something about the unity of life. “It is my intention”, Paul Tillich stated, “to describe some characteristics of life processes which may help us to understand the unity of life in its diverse manifestations”.45 Eino Kaila, for his part, thought that faith in the power of life “is just the same as life itself, corporeal life and spiritual life. As all life is will
|| 40 Tillich, Systematic Theology, Vol. III, 54. 41 Ibid. 42 Ibid. 43 Koestler, The Ghost in the Machine, 56, 70. 44 Ibid., 286. See also Ristiniemi, 2022. 45 Tillich, “Dimensions, Levels, and the Unity of Life”, 1.
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and will is the same as faith in life”.46 If our interpretation is correct, then it is wrong to take will as an individual property, for example, as an egoistic power over humans socially. To take will to life (several terms could be used) as an individual property is a mistake, as life is both in humankind and from the beyond of humankind. Individualistic interpretation is a reduction, a mistake that has had severe consequences for political thinking. For Kaila, Tillich, and Koestler will of life is something they have brought to consciousness or have become aware of. Writing how he reached life, Kaila wrote: “I have gradually learned to go into myself, while there, I have learned to look at the truth face to face”.47 Being outwardly oriented, which we take as the condition of external conformity, means that inner truth is disregarded. Kaila, Tillich, and Koestler anchored their thought in life-experience; they talked about how life is experienced in self-aware thinking. Self-aware thinking is to follow life. To think is not only to construe representations but also to be in touch with life. Relationality is to be in relation to what is beyond human.
5 The Power of Replicas Beyond drives and structures, there are representations or ideas considering the human/world interaction. The status, nature, and function of representations, as we understand them as part of the model, we discuss by starting with Immanuel Kant. In Kant’s view, perception happens within the forms of time and place. Perception is finite, but it is not historical, as Kant seems to think of it as a universal human capacity. What happens is that senses take in the material world and the categories of understanding structure perception, after forms of time and space have done their work, giving us an ordered, represented world. In ideas on a still higher level, we represent things.48 In Kant, representation plays a central role in thinking: to think is to represent; we build up transcendental ideas, also representations, about things we cannot perceive (world, soul, God) but which we may presuppose exist. The German word for representation, ‘Vorstellung’, is much clearer than the English equivalent: something is put in front of us to see and to perceive. || 46 Eino Kaila, The Deep-Spiritual Life. Discussing Ultimate Questions/Syvähenkinen elämä. Keskusteluja viimeisistä kysymyksistä (Helsinki: Otava, 1986), 104, author’s translation. 47 Ibid. 48 Immanuel Kant, Critique of Pure Reason (London: The MacMillan Press, 1982).
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When we speak about representation, it is not taken in Kant’s basic sense as the formation of perception, but in the sense that something is formulated as a replica of something else: word, concept, statement, image, theory, dogma; all such “things” might be taken as replicas of something else. A replica could be understood only by its reference since it presupposes a binary structure of understanding. A scientific theory is intended as a replica of laws in nature; an image of the other is intended as a true replica, for example, of a neighbor or a colleague. Similarly, a dogma is presupposed to be a replica of the truth of a religion. Replicas are created or set within a binary frame: there are replicas on one hand and references on the other. Both Descartes and Kant, who could be taken as pillars of modernity, defined thinking as the capacity for construing representations or replicas of things. It should be emphasized that this definition of representation is not intended as a devaluation of reference theories, as we think that there are true words that refer to a reality outside of ourselves. By talking about replicas, we lift up a phenomenon in the modern world: that we tend to mix real things with their representations, images, or replicas; taking a representation or an abstraction for a real thing. When we do that, we don’t take differentiations (moral, emotional, epistemological) or mental work seriously. We see representations as abstractions; structures as cultural forms or as patterns of understanding; drives as those living, fluid things found in corporeality. An assemblage in Deleuze and Guattari is a conglomeration of desires, structures and representations, and the overall modulation and structuring of Earth.49 It is obvious that IT technology affects and patterns desires. People conform to what is presented and represented in social media and those representations affect their corporeality; drives are affected and moulded by representations. Today we know that Facebook and Instagram were aware of the abusive content on their platforms, but because of profit, or quantifiable value, they let the representations remain.50 What does this massive world of representation in technology and media do with corporeality and the world of drives? What kind of world does it offer to us and what does it do with our understanding of the basic structures of life-experience? Through technology, an outward world is internalized, making it hard to differentiate the outer from the inner. There is not only internalized law but also technologically-determined internal-
|| 49 Gilles Deleuze and Félix Guattari, A Thousand Plateaus: Capitalism and Schizophrenia (Minneapolis: University of Minnesota Press, 1998), 89. 50 Elisabeth Culliford and Brad Heath, “Facebook knew about, failed to police, abusive content globally – documents”, 2021. https://www.reuters.com/technology/facebook-knewabout-failed-police-abusive-content-globally-documents-2021-10-25/. 2021-12-31.
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ized understanding of the human/world interaction, brought in as a massive representation. However, deep down, the mind in touch with life is always according to itself. For Aristotle, the capacities or qualities of the mind are according to themselves.51 A representation is a replica of something else. In social media, we find representations or cognitive holons released out of control. Not all technologies are bad if we understand them as information channels. Kaila writes: Holistic thinking has important consequences […]. In every mechanistic explanation there is a distinct difference between the structure and the function. […] In a living thing the prevalence of structure is continuous and meaningful function, on the other hand the function constantly transforms the structure. All conformation, all learning leads to the change of inner structure, which always happens within the boundaries of heredity. All things that live, grow according to their function from bones and muscles to the last heights of personality.52
The question is whether the growth of humankind happens according to the structure and function of the human total personality, or whether it happens under the command of external conformity? Replicas in social media and in other media have become factors of influence that undermine pillars of functioning society, making it dysfunctional. To understand what happens in social media and what it does to us, we must set it in a historical and cultural perspective, especially in relation to the hegemony of representation in modernity. It is the hegemony of representations under discussion here. Following the direction “away from things”, another threat to democracy is the claim that all is representation, and political life turns into a strategic image play. Communicators, press secretaries, and information managers are increasing in organizations. The number of communicators in Swedish universities and university colleges has grown from 225 in 2001 to 856 in 2019 (presently there are 16 universities and 31 university colleges in Sweden), and there are currently 97 different job titles for those who work with communication in the universities.53 We have defined ‘idea’ as a representation, as a cognitive/rational representation or replica of something else. We see the power of replicas in democracy today. In representative democracies, the chasm between politicians and bu|| 51 Aristotle, De Anima (Oxford: The Clarendon Press, 1961). 52 Kaila, Personality, 31, author’s translation. 53 Göran Arnqvist, “We need dramatically to reduce the number of communicators and informants at Sweden’s universities and redirect the released resources for the core business”, 2021. https://www.svd.se/skar-ned-antalet-kommunikatorer-rejalt. 2021-12-02.
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reaucrats and citizens without representative political roles is growing. In his book Ruling the Void: The Hollowing of Western democracy, Peter Mair points to the chasm: There is a world of citizens – or a host of particular worlds of the citizens – and a world of politicians and parties, and the interaction between them steadily diminishes. Citizens change from participants into spectators, while the elites win more and more space in which to pursue their own particular interests. The result is the beginning of a new form of democracy, one in which the citizens stay at home while the parties get on with governing.54
When this hollowing of democracy is in place, the power of replicas, so we think, increases on both sides of the divide: people have access to political decisions and happenings through TV and other media and political parties construe action strategies by navigating among the replicas of the media landscapes. There is a chasm between citizens and the representatives but both sides are dependent on representations or abstract ideas in the media landscape. Politics becomes ruling through representations, leading to a lack of confidence among people who see the replica-strategies through. Trust in democracy is declining in Western democracies, Adam Przeworski writes: “Confidence in politicians, parties, parliaments, and governments is falling. Even the support for democracy as a system of government has weakened”.55 When democracy becomes a show, trust and confidence are about to lose their validity; abstractions fill the void between citizens and the party representatives. What we meet today is that those in power start to talk about “extraordinary regulations” through legislative and controlling powers (surveillance, police, security forces), a strategy that only exacerbates citizens’ helplessness and alienation. Power gravitates to the representational level with the result that representatives take themselves as independent from constituents. Instead of democracy, we get a politocrati, i.e., the silent and “hidden” rule of professional politicians and bureaucrats, which today is one of the most severe threats to living democracy. Przeworski argues: What we fear is the prospect that some political forces would successfully claim that the only way to remedy some already occurring disasters […] is to abandon political liberty, unite under a strong leader, and repress pluralism of opinions, in short autocracy, authoritarianism, or dictatorship, whatever one wants to call it […]. The specter that haunts us today […]: a gradual, almost imperceptible, erosion of democratic institutions and norms,
|| 54 Peter Mair, Ruling the Void: The Hollowing of Western Democracy (London: Verso, 2013), 98. 55 Adam Przeworski, Crises of Democracy (New York; Cambridge University Press, 2021), 1.
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subversion of democracy by stealth, “the use of legal mechanisms that exist in regimes with favorable democratic credentials for anti-democratic ends [Varol 2015].56
The use of legal mechanisms that exist in regimes with favorable credentials for anti-democratic ends happens today in relation to migration and the pandemic, but also in governmental strategies, when governments, because of extraordinary regulations, sidestep the parliament and strengthen their power base, disregarding the constitution. Democratic values are violated. This is not only happening in Poland and Hungary but even in countries that call themselves liberal democracies. Recent research conducted in 30 European countries by the Varieties of Democracy Institute shows that only in 7 countries (Finland, Denmark, Germany, Switzerland, Austria, Portugal, and Ireland) were democratic values not abused during the pandemic.57 In Nietzsche’s criticism of democracy, the power of replicas is crucial.
6 Nietzsche on Democracy Nietzsche was not against democratic values, but he was critical of the power of representations or abstractions over democracy. He thought that modern democracy had lost its relevance for people since it no longer connected to “the basic drives of humankind”.58 People have lost touch with “an antecedent form of life”,59 according to Nietzsche. Democracy has become an abstraction, an idiosyncrasy Nietzsche claims, which has led to an “all too natural progressus in simile, the continuing development of humankind into the similar, ordinary, average, herdlike – into the common!”.60 Stamped and moulded into one collective form, thanks to the external conformity, people show the same behavior and the same structure of the soul; the conditions under which “the individual dares to be individual and stand out” are not there anymore.61 Life “has (been) robbed […] of a fundamental concept, that of activity. Under the influence of the
|| 56 Ibid., 14f. Varol cited in Przeworski: Ozan, O. Varol, “Stealth Authoritarianism”, Iowa Law Review, 2015, 100: 1673–752. 57 Zala Šeško, “Eastern European Countries adopting Authoritarian Measures in face of Covid” https://www.theguardian.com/world/2021/dec/29/eastern-european-countries-adopt-authoritarian-measures-covid?CMP=Share_AndroidApp_Other, The Guardian, 12/29/2021. 58 Friedrich Nietzsche, Beyond Good and Evil (London: Penguin Books, 1988), 19. 59 Ibid., 48. 60 Ibid., 187. 61 Ibid., 181.
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above-mentioned idiosyncrasy (democratic idiosyncrasy), one places “adaptation” in the foreground, that is to say, an activity of the second rank, a mere reactivity”.62 Politics, as a reflection of the structure of the soul, become reactive politics, aiming to fulfill the immediate wants and needs of reactive citizens. Reactive people understand reactive politics; reactive politics foster reactive people. Life itself is given a false interpretation: “as a more and more efficient adaptation to external conditions”,63 that is, life is defined in terms of external conformity. But “the ripest fruit (in life) is the sovereign individual […], a sensation of humankind come to completion”.64 The ripest fruit is not a general and abstract view of the human, of who, what, or how s/he is, but an awakened mind. What Nietzsche was looking for, aspiring to, was a stage of existence in which an individual affirms him or herself in the power of drives operative in the human species, ultimately perhaps in the whole of life. It is simply wrong to interpret Nietzschean individuality in an atomistic and individualistic sense, as if drive, activity, and life as will to power, to more life, were mere individual properties in an autonomous self. On the contrary, the individual is anchored in the human species and through that to the whole universe through her/his corporeality. Individuals are in touch with the power of the potentiality of the human species if they live their own lives in the material/physical universe, not according to some abstract ideology or representation. Dwelling in abstractions, they would have lost their antecedent form of life. Gilles Deleuze writes considering Nietzschean self-affirmation: To affirm is to unburden: not to load life with the weight of higher values, but to create new values which are those of life, which make life light and active. There is creation, properly speaking, only insofar as we make use of excess in order to invent new forms of life rather than separating life from what it can do.65
Putting abstractions or representations upon life from the outside, or from above, is to load life with the weight of values strange to life. Tillich had understood that the will to power links human beings with life that is more-thanhuman life: “The will to power is not the will of humans to attain power over humans, but it is the self-affirmation of life in its self-transcending dynamics,
|| 62 Friedrich Nietzsche, On the Genealogy of Morals and Ecce Homo. (Toronto: Random House, 1969), 78f. 63 Ibid., 79 64 Ibid., 59. 65 Gilles Deleuze, Nietzsche and Philosophy (New York: Columbia University Press, 2006), 185.
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overcoming internal and external resistance”.66 Participation is, in this perspective, connected with life that comes from beyond an autonomous individual. Yet to draw Nietzsche’s understanding of life into some social/Darwinist interpretation of life is wrong. It is also wrong to think that Nietzschean nonconformity based on human creativity is willful or anti-democratic, as it has life as its prototype. We are not to create values strange to life; we create in conformity with life in forms of life. Summoning Nietzsche: abstractions or idiosyncrasies destroy democracy if they are let loose from the form of life. The power of abstract ideas, as a contrast to everyday corporeality, is a growing power in shaping the everyday world, not least through technology. Perhaps it is this power of upward movement or of abstraction that is a real threat to democracy? Is it that we think that it is enough to have an abstract idea in our head to secure democracy when a reorganization of the mind is instead what is needed? Speaking against the use of ‘level’ and ‘hierarchy’ in the interpretation of the world, Tillich pointed out that “it is not the change of metaphors as such which produces new understanding, but it is the new understanding which calls of the change of metaphors”.67 A mere change of words and ideas is not enough to turn the anti-democratic tide. Instead, each of us must ask what understanding of the world or what mentality gives birth to our words, and perhaps we need a reorganization of the mind through mental work. We have talked about reactive people as “they”, but “they” is always also “we”, meaning that we all have work to do on becoming active instead of reactive; to be reactive is to react to mere representations.
7 Values To speak about local/global community implies that trends are no distinctive features of a country or a nation, but are trans-national and cultural, depending on value-orientations in our common world. Neo-liberalism is a local/global system of economics (householding), or simply, a totalitarian economical system. Neo-liberalism is based on a certain understanding of what value and a valuable life are; value is measurable value. Duncan K. Foley points out that there are differences between Smith’s “quantity theory of money” and “Keynes [… in which] the quantity of money determines the interest rate”; both leading
|| 66 Tillich, Love, Power, and Justice, 37. 67 Tillich, “Dimensions, Levels, and the Unity of Life,” 5.
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economic theories are based on a quantifiable understanding of value.68 That value is and should be quantifiable is deeply rooted in modernity; both economy and knowledge circle around that what is quantifiable. One example of this is Habermas’ list of threats to democracy: all items on that list are quantifiable: “quantity of consumable values”, “quantity of rational decisions”, “quantity of generalized motivation”, and “quantity of action-motivating meaning”; if the “requisite quantity” of these is not met, crises for democracy will follow.69 Adam Przeworski thinks that Habermas’ list “is too abstract to guide research”, and this seems to be the case.70 Recent neo-liberal economic systems quantify the resources and people of Earth, now even of space, drawing them into its belief system, creating means internal to the very system that say how to deal with the resources, at the cost of environmental disasters, including animal and human lives. In Foley’s view, such an economic system should be considered a theology, a belief system. Agamben agrees: “It is clear that if people ceased to have faith in credit and stopped living on credit, capitalism would immediately collapse”.71 Today there is polarization between modern/liberal values and traditional/ conservative values; neo-liberalism represents modern values. Since the fall of the Soviet Union, we have witnessed the rise of nationalism, and today, parties representing traditional/conservative values ally themselves with Right-Wing parties in the European Union parliament.72 Many of those parties use antidemocratic means in their political rhetoric and actions. The anti-democratic trend does not stop there and many nations calling themselves democratic use anti-democratic means for expanding the dominance of political power groups. People’s reactions to these regulations are today kidnapped by extreme-right movements. The polarization between modern/liberal values and traditional/conservative values, among other polarizations, can be seen in religion, politics, culture, and in everyday life. Adherence to traditional/conservative values seems to express a longing, reaching back to an earlier society (which has never been a reality), while adherents of modern/liberal values try to build an equal community (in a world where all are equal, but some are more equal than oth|| 68 Duncan, K. Foley, Adam’s Fallacy: A Guide to Economic Theology (Cambridge: The Belknap Press, 2008), 42. 69 Przeworski, Crises of Democracy, 12. 70 Ibid. 71 Agamben, Creation and Anarchy, 72. 72 Theresa Küchler, “SD (Sweden Democrats) outside the super group of Le Pen and Orbán. Parties on far right on their way to build a new EU group”, 2021-10-02, https://www.svd.se/, 2021-12-02.
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ers). We think that we need wholeness and a change of mentality so we might become active democratic people. We think that Agamben has identified an obstacle we have to overcome for a new economics, householding of things, to become possible.
8 Consensus In Agamben’s view, “the first time that the concept of ’consensus’ appears in the technical context of public law” is in Augustus (63BC – 14 C.E.), who “summarizes the concentration of constitutional powers in his person”.73 Consensus, in this era, is in the public legal sphere, while at the same time being concentrated in the power of the emperor. The law and the emperor step into the center of the community. This is a fateful turn, as it seems to be the case that Hitler followed this line when he said that “the total state must not know any difference between law and ethics”, that is, his word is the law and people are to give their consent to it.74 Consensus today is one of the cornerstones of democracy. Agamben thinks that the age-old understanding of consensus is still a part of modern democracy. It is an expression and a continuance of the binary theological paradigm with God or the emperor in the center and the government doing God’s or emperor’s work through the power of the law. He thinks that this understanding of consensus is brought into democracy, turning “consensual democracy” into “a glorious democracy in which the oikonomia (householding) is fully resolved into glory and the doxological function, freeing itself of liturgy and ceremonials, absolutizes itself to an unheard-of extent and penetrates every area of social life”.75 Actual work with material things, or as Agamben defines householding: “particular praxis of man as living being” is replaced by representational roles (glory) and right ideas (doxological function). While the empire still needed liturgy as an acclamation of loyalty and honor, in ceremonies to consolidate the power of the emperor, today’s “society of spectacle” needs “communicative action”, this “modern form of acclamation” to keep itself up.76 Rousseau followed the theological paradigm as well, according to Agamben: “Through the Social Contract the republican tradition inherited without reserva-
|| 73 Giorgio Agamben, The Kingdom and the Glory: For a Theological Genealogy of Economy and Government (Stanford: Stanford University Press, 2007), 258. 74 Cited in Arendt, The Origins of Totalitarianism, 394. 75 Agamben, The Kingdom and the Glory, 259. 76 Ibid.
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tions a theological paradigm and a governmental machine of which it is still far from becoming conscious”.77 The theological paradigm is that there is God, the emperor, or the king in the center as the ruler, and angels or priests or bureaucrats as those who maintain the kingdom or the state. In representative democracy, there are the elected and their serving forces. The basic binary structure of the political world has not changed yet, Agamben claims. What he says is that governing, even representational democracy, still follows the structure of the theological paradigm or “the bipolar character of the governmental machine”.78 His conclusion is: that modern political thought becomes lost in abstractions and vacuous mythologems such as the Law, the general will, and popular sovereignty, and has failed to confront decisive political problems. What our investigation has shown is that the real problem, the central mystery of politics is not sovereignty, but government; it is not God, but the angel; it is not the king, but ministry; it is not the laws, but the police – that is to say, the governmental machine that they form and support. […] Modernity, removing God from the world, has not only failed to leave theology behind, but in some ways has done nothing other than to lead the project of the providential oikonomia to completion.79
In Paul Tillich’s view, the center of community cannot be personalized but individuals living in community might reestablish their center of personality. However, this can only be done if oppressive societal structures are changed at the same time. There is interdependence and interaction between individuals and society. In Tillich’s view, individualization is driven by the entire life-process; it is the more-than-human life-process that makes the individualization. In his view, individuality and participation are basic ontological structures of life that go hand in hand; in a totalitarian society, only one side is emphasized. In ideological totalitarianism, there is participation in a common, ideologically determined understanding of the self/world interaction; in consumerism, the individual is left on her/his own. The reestablishment of the center of personality is congruent with self-realization or with the making of the self, this contrasts with totalitarianism in which “[t]he only person who is still a private individual […] is somebody who is asleep”.80 In the following we discuss the reestablishment of the center of personality in two perspectives: one in the power of human nature, other in the light of the self-transcending process of life. In wholeness, the per-
|| 77 Ibid., 273. 78 Ibid. 79 Ibid., 276 and 287. 80 Robert Ley in Arendt, The Origins of Totalitarianism, 339.
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spectives are integral with each other; the old brain is linked with the new brain.
9 Self-realizations and Affirmations What Kierkegaard saw in the modern world is that people are not one with themselves since they often identify with something external like a title or an occupation, thinking that self-realization is only in relation to such things. People do not take hold of their selves; they give consent to something external, but not to themselves. Given this, they do not know about their potential possibilities, nor do they have awareness of their inwardness. Still “the soul (is) essentially present” in the events of life, in “the drolleries of life, its chance happenings, its folderols”.81 It seems that Kierkegaard sees two stages of selfrealization, one in the power of the human species and the other in relation to what is beyond humans. The soul or the self is relational, there is the realm of potentials congruent with human nature or the species of humans: the essential characteristic of human existence, that a human is an individual and as such is at once herself/himself and the whole human species [race], in such wise that the whole species has a part in the individual and the individual has part in the whole species. […] The fact is that at every moment the individual is herself and the human species. This is humankind’s perfection, regarded as a state.82
At this stage, self-realization is through human potentiality: the center of personality is reestablished in the power of that what is possible for humans as humans. Kierkegaard makes the difference between ‘religiousness A’, which “has only human nature in general as its assumption”83 and ‘religiousness B,’ which is the relation to beyond human. Most probably while talking about ‘religiousness A,’ he had Feuerbach’s interpretation of religion in mind according to which theology is anthropology, i.e., a human projection. Self-realization in the power of what is possible for humans as humans is humanist self-realization. Tillich thought that the humanist self-realization is in the power of human po-
|| 81 Søren Kierkegaard, The Concept of Dread (Princeton: Princeton University Press, 1973), 137. 82 Ibid., 26. 83 Søren Kierkegaard, Concluding Unscientific Postscript (Princeton: Princeton University Press, 1974), 496.
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tentiality, but such a realization is only for a privileged few because of the hierarchical social structure and the capitalist formation of society.84 Carl Gustav Jung deals with religion as a human phenomenon, his is a humanist project of self-realization. He named the drive to awareness “the individuation process” which runs spontaneously in and from the unconscious mind, striving to integrate the opposites of the self.85 The process is essential to self-realization. An individual is a unity of opposites, like that of thinking and feeling, activity and passivity, higher and lower, etc. A binary hierarchical model defines thinking and activity as higher and feeling and passivity as lower, Jung thinks that both sides are within the frames of the self on their equal right. Self-awareness is an affirmation of the lower, that is, of those drives, inclinations, and shadow sides of the self that we do not like to admit with our daylight consciousness. The individuation process is a psychological process integrating the conscious I, the personal unconscious, and the collective unconscious.86 Jung held that the elements of total personality are projected in religion, leading him to read religion as a process of coming to self-awareness. In and through the individuation process, the center of personality is shifted from the conscious I to the self. The individuation process in Jung leads to the reestablishment of the center of the self above the psychological content of the self, still the center of the personality is there “purely” in human terms. He thought that the process is transcendental, that is, it is congruent with the human total personality: “the differentiation of consciousness can be understood as the effect of the intervention of transcendentally conditioned dynamisms”.87 In Jung’s view, it is the individuation process that drives the differentiations. Jung is a neo-Kantian; concerning religion, he wrote: “I am quite conscious that I am moving in a world of images and none of my reflections touches the essence of the Unknowable”.88 For Jung, religion is anthropology, and religious images and symbols are in humans; they do not express or reveal anything beyond; they reveal elements of human nature. It seems that he, like Feuerbach, did his work within the frames of ‘religiousness A.’ Their work shows something of the factual self. ‘Religiousness B’ is the relation to that which is beyond the human, it is related to “the eternal (which is) higher than anything historical since it is at the
|| 84 Tillich, Theology of Culture, 153f. 85 Carl Gustav Jung, Answer to Job (Princeton: Princeton University Press, 1973), 93. 86 Ibid. 87 Ibid., 107. 88 Ibid., xiii.
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basis of everything”.89 In Tillich’s view, “every human being has a direct approach to the ultimate ground and meaning of life”.90 Humankind both in Tillich and in Kierkegaard has a relation to what is beyond human. Both considered that the center of personality is reestablished in that very relation. Self-realization or self-affirmation, a term used by Tillich, is in relation to what is beyond humans, and ultimately the affirmation comes from the ground of life. In The Courage to Be, Tillich discusses self-affirmation or the creation of the center of the self (personality) in relation to Spinoza. Tillich differentiates between passions of the body, that is, emotions that the body as such is capable of, and affections that come from beyond the human. A passion is individual; an affection is supra-individual, expressing the very relation to what is beyond human: Perfect self-affirmation is not an isolated act that originates in the individual being but is participation in the universal or divine act of self-affirmation, which is the originating power in every individual act. […] Spinoza knows that an affect can be conquered only by another affect, and that the only affect which can overcome the affects of passion is the affect of the mind, the spiritual or intellectual love of the soul for its own eternal ground. This affect is an expression of the participation of the soul in the divine self-love.91
Here self-affirmation is not an individual act, something that an individual does. It does not originate from the individual, but rather from that which is beyond the human, creating or reestablishing the center of the self in relation to what is beyond human. Here it is the beyond of humans that shows the factual self, without the factual self, no center of personality.
10 Consequences The reestablishing of the center of the self in the power of what is beyond human is also the ground of Tillich’s understanding of multidimensional healing: “the theologian must show how the creation of a centered self by the experience of ultimate concern spreads healing forces over a personality in all dimensions of her/his being […] of bodily functions, of social relations and of historical self-
|| 89 Kierkegaard, Concluding Unscientific Postscript, 508. 90 Paul Tillich, “Environment and the Individual”, bMS 649/82 (3), 1957, 4. PTAH. 91 Paul Tillich, The Courage to Be (Glasgow: Collins, 1980), 33f.
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realization”.92 How we relate to ourselves and to others are two sides of how we understand ourselves: The idea of multidimensional healing of one reality, humankind, calls for the rejection of a bi-partite (body and soul) or tri-partite (body, soul, and spirit) description of human nature. Humankind is one, s/he is self-integrating in all her/his dimensions, s/he disintegrates in all of them, and s/he must be reintegrated, i.e., healed in all of them, in order to be healed at all.93
Today we intend to heal one facet: psychology, physical body, social-psychological realm, a nation, etc., without considering how humankind could be healed as a whole. Our social relations are conditioned to a large degree by external conformity. Mere external conformity does not have to presuppose a centered self, but a living democracy presupposes that we can keep critical distance when democracy is under threat, as it also presupposes that consent is dependent on choices we make, even those choices we make in relation to ourselves. Reactive consent plays under the rules of external conformity, while active consent comes from the center of the personality. The self is known when we relate to what is beyond the self. The good life for humankind, then, is to build up presuppositions for the reestablishment of the center of the self, the environment included. In this, the building up of presuppositions is a political work that is done in the power of potentiality. In Agamben the inoperativity of potentiality has political consequences, leading to what he calls “a destituent strategy”. This destituent strategy, which is not destructive, he finds in Paul: “Thus, Paul can write that the messiah ‘will render inoperative [katargese] every power, every authority, and every potential [1 Corinthians 15:24]’”.94 He continues: “the messiah is the telos [namely, end or fulfillment] of the law” [Romans 10:4]”.95 The inoperativity of potentiality and the operativity of the law belong together: “for Paul it is not a matter of destroying the law, which is ‘holy and just,’ but of deactivating its action with respect to sin.”96 In Paul, it is the law that shows the sin and desire gone astray and it “is this operativity of the law that the messianic faith neutralizes and renders inoperative, without for that reason abolishing the law”.97 We could also say || 92 Paul Tillich, “The Relationship Today between Science and Religion”, 649/83 (2), n.d., 10. PTAH. 93 Tillich, “Dimensions, Levels, and the Unity of Life”, 13. 94 Agamben, The Use of Bodies, 273. 95 Ibid. 96 Ibid. 97 Ibid.
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that it is the messianic faith that renders inoperative powers and authorities that cross their lawful boundaries, at the same time it renders inoperative the shackles of the factual self.
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Hate Speech und die Grenzen der Kommunikation Tillichs Fanatismus-Analysen im digitalen Zeitalter Abstract: Digital communication enables internet users to have perspectives of almost limitless communication. On the other hand, in the age of the Internet, we are experiencing a violation of ethical boundaries: people and groups are becoming objects of hate on the Internet. So-called hate speech has become a digital mass phenomenon. The article examines to what extent Tillich’s analyzes of fanaticism from the analogue 20th century can be used for today’s digital culture of participation.
1 Grenzüberschreitende Kommunikation Eine pointierte Einschätzung, die Hannah Arendt mit Blick auf ihren Lehrer Karl Jaspers formuliert hat, könnte in Ansätzen auch für Tillich gelten: „In den Werken der großen Autoren kann man fast immer eine durchgehende Metapher finden, die nur diesem Autor eigentümlich ist und in der sich das ganze Werk wie in einem Brennpunkt vereinigen läßt.“1 Für Jaspers war dies Arendt zufolge das „Licht“ bzw. die „Helle“ („Existenzerhellung“), bei Heidegger die Metapher des Weges („Feldweg“, „Holzwege“). Folgt man Tillichs autobiographischer Selbstdeutung, dann lässt sich sein philosophisch-theologisches Denken durch das Bild der „Grenze“ charakterisieren. Der vorliegende Band leuchtet unterschiedliche Facetten dieses Topos aus. Im folgenden Beitrag geht es darum, Tillichs Denkansatz mit Blick auf Formen der „grenzüberschreitenden Kommunikation“ weiterzudenken. Die Grenzüberschreitung kann konstruktive Züge annehmen, wo es beispielsweise zu dialogischen Erfahrungen der Verständigung kommt. Kommunikation kann eine Brücke sein, die Gegensätzliches überwinden hilft. Ein Bild aus der digitalen Kultur könnte die „Vernetzung“ sein, die zumindest räumliche Distanzen mühelos überschreitet. Destruktiv kann sich die kommunikative Grenzüberschreitung auswirken, wo die Kommunikation umschlägt in
|| 1 H. Arendt, Laudatio auf Karl Jaspers, in: Dies., Menschen in finsteren Zeiten, hrsg. von U. Ludz, München 52019, 90–100, 94. https://doi.org/10.1515/9783110984729-006
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verbale Aggression oder die Grenzen des wechselseitigen Respektes verletzt werden. Für die destruktiven wie die konstruktiven Facetten lassen sich in den Werken Tillichs erhellende Impulse finden, was insbesondere für seine Analysen des „Fanatismus“ gilt. Tillich ist ein Partizipationstheoretiker, der auch im gegenwärtigen Zeitalter der digitalen Partizipation ein lohnenswerter Gesprächspartner ist (Kapitel zwei). Dieser Ansatz lässt sich im digitalen Zeitalter für eine Deutung der so genannten Hate Speech fruchtbar machen (Kapitel drei). Ein Vergleich mit Carolin Emckes kultur- und sozialkritischen Ausführungen über den „Hass“ soll dabei die Aktualität Tillichs im zeitgenössischen Diskurs hervorheben (Kapitel vier). Von Tillich ist in diesem Zusammenhang zu lernen, dass eine medienethische Betrachtung gesellschaftlicher Phänomene zu kurz greift, wenn sie neben gesellschaftlichen und strukturellen Aspekten nicht auch individuelle Anforderungen formuliert. Tillich nennt dies metaphorisch den „Ruf zur Grenzüberschreitung“ (Kapitel 5). Im letzten Teil kommt aus der Sicht des Theologen Tillich der konstruktive, „grenzüberschreitende Beitrag“ zur Sprache, den die Religionen leisten können (Kapitel sechs).
2 Digitale Partizipation: Möglichkeiten und Grenzen Der italienische Philosoph Luciano Floridi beschreibt die langfristigen Folgen der globalen Digitalisierung mit einem prognostisch-programmatischen Bildwort: In Anlehnung an eine berühmte Abhandlung Freuds spricht er von vier großen menschheits- und kulturgeschichtlichen Revolutionen der Neuzeit und Moderne.2 Nach der physikalisch-kosmologischen Revolution, die mit dem Namen Galilei verbunden ist, der durch Darwin inspirierten biologischen und der durch Freud selbst angestoßenen psychologischen Revolution sei mit der Digitalisierung eine „vierte Revolution“ ausgelöst worden, deren Folgen nicht absehbar sind. Zwei „Narrative“ haben in diesem Kontext als Deutungsmuster Konjunk-
|| 2 Vgl. dazu L. Floridi, Die 4. Revolution. Wie die Infosphäre unser Leben verändert, übers. von A. Walter, Berlin 2015. – Vgl. als historische Vorlage für diese These den Beitrag von S. Freud, Eine Schwierigkeit der Psychoanalyse, in: Imago. Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften 5 (1917), 1–7.
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tur.3 Eine heilsgeschichtliche Erzählung des Zivilisationsoptimismus besingt die Vorzüge der digitalen Kultur: Alle können mit allen über alles kommunizieren. Auf diese Weise ermöglicht das Internet die universale Verbreitung des Wissens. Die Menschen schließen sich zu einer neuen community ohne Hierarchien zusammen. Der alte Traum einer Masse der untereinander Gleichen erscheint in neuer technischer Gestalt.4
Dagegen steht eine verfallsgeschichtliche Variante des Kulturpessimismus. Gebauer und Rücker paraphrasieren sie mit den Worten: Die reale Begegnung wird mehr und mehr ersetzt durch das virtuelle Aufeinandertreffen. In dieser Welt, die die wirkliche Welt nur simuliert, sammelt man ‚Freunde‘ wie Punkte in einem Computerspiel, schickt sich gegenseitig von jeder echten Emotion entleerte ‚emoticons‘, verabredet sich zu gemeinsamer Realitätsverleugnung, übernimmt Rollen in Fantasy-Szenarien und verwechselt das Geschehen auf dem Bildschirm mit dem wahren Leben.5
Tillich hätte vermutlich auch hier den Finger auf die Wunde der Zweideutigkeit dieses vergleichsweise jungen Kulturphänomens gelegt. Um es im Bild der „Grenze“ zu sagen: Die digitale Vernetzung kann der „Angrenzung“ dienen, aber auch Tendenzen der „Abgrenzung“ radikal verschärfen. So können die Social Media zu einer massenhaften Mobilisierung beitragen, aber auch zur Fanatisierung ihrer Nutzer führen. Am Beispiel der so genannten „social bots“ lässt sich das Phänomen der Massenansteckung studieren. Es handelt sich hierbei um „Meinungsroboter“, die mit „künstlichen Identitäten die Seiten von Politikern“ ansteuern, „um Stimmung zu machen“.6 Verstärkt wird dieser Mechanismus noch durch die Wirkung von „Informationsblasen“ und „Echokammern“.7 Dazu Gebauer und Rücker: Da im Netz jeder die Ansichten wiederfinden kann, die er ohnehin schon hat, wird er sich auch nur das heraussuchen, was ihn in seiner Weltsicht bestätigt. So verengt sich seine ‚Öffentlichkeit‘ auf die Reproduktion des schon Gewussten, so besteht das Öffentliche nur noch in der Spiegelung der privaten Ansichten.8
|| 3 Vgl. G. Gebauer / S. Rücker, Vom Sog der Massen und der neuen Macht der Einzelnen, München 2019, 223f. 4 Ebd., 224. 5 Ebd. 6 Ebd., 233. 7 Ebd., 227. 8 Ebd.
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Im Zeitalter der grenzüberschreitenden digitalen Kommunikation könnte sich ein Lerngespräch mit Tillich über den Begriff der Partizipation lohnen. Der Terminus ist heute in vielen Diskursen präsent. Abgesehen von dem globalen Vernetzungspotenzial der digitalen Partizipation ist das Thema auch in sozial- und erziehungswissenschaftlichen Handlungsfeldern angekommen; ebenso wird in vielen Wirtschaftsunternehmen oder Institutionen eine partizipative Leitungskultur eingeübt. Katholische und evangelische Christen erproben unterschiedliche Formen einer „Kirche der Beteiligung“. Tillich hat Jahrzehnte vor diesen Entwicklungen die Bedeutung dieses Begriffs für die Selbstdeutung des modernen Subjektes erkannt. In seiner Spätphase entwickelt er sich zu einem existenzphilosophischen Partizipationstheoretiker, der die antike Philosophie der Teilhabe (Methexis) zwar aufnimmt, aber zugleich über sie hinausdenkt. Damit bewegen wir uns in werkgeschichtlicher Hinsicht in der amerikanischen Denkperiode Tillichs, genauer gesagt in den fünfziger und sechziger Jahren.9 In dieser Phase erreicht auch der Begriff der Partizipation einen prominenten systematischen Status im Denken Tillichs. Gemeinsam mit der Individualisation bildet der Terminus eines von drei bipolaren Begriffspaaren, die er auch die „ontologischen Elemente“ nennt und die zu den Schlüsselbegriffen seiner gesamten Ontologie gehören.10 Was Tillich in systematischer Hinsicht beabsichtigt, lässt sich an aktuellen Anwendungsbeispielen erläutern: Dass sich innerhalb der Medizin ein Perspektivenwechsel abzeichnet, der das Arzt-Patienten-Verhältnis nicht länger nur „objektiv“ fassen will, sondern unter dem Stichwort der Partizipation neu auszuloten sucht, wäre sicherlich in Tillichs Sinne gewesen.11 Das gilt auch für die pädagogische Nutzanwendung des Begriffs, die etwa darauf abzielt, Kinder nicht als Objekte der Erziehung zu begreifen, sondern den Alltag mit ihnen partizipativ zu gestalten.12 In all diesen Diskurszusammenhängen hätte Tillich allerdings auf || 9 Die Werke Paul Tillichs werden wie folgt zitiert: EW = Ergänzungs- und Nachlassbände zu den Gesammelten Werken von Paul Tillich, hrsg. von Ingeborg Henel u.a., bisher 20 Bde., Stuttgart, dann Berlin 1971ff.; GW = Gesammelte Werke, hrsg. von Renate Albrecht, 14 Bde., Stuttgart 1959ff.; MW = Main Works / Hauptwerke, hrsg. von C. H. Ratschow, 6 Bde., Berlin 1987ff.; RR = Religiöse Reden, 3 Bde., Stuttgart 1955ff.; ST = Systematische Theologie, 3 Bde., Stuttgart 1955ff. 10 Vgl. ST I 206–218. 11 Vgl. N. Schmacke / P. Richter / M. Stamer (Hrsg.): Der schwierige Weg zur Partizipation – Kommunikation in der ärztlichen Praxis, Bern 2016. 12 M. Regner / F. Schubert-Suffrian, Partizipation in der Kita. Projekte und den Alltag demokratisch mit Kindern gestalten, Freiburg i. Br. 32018 (erweiterte Neuauflage). – Vgl. dazu Tillichs Analyse der „Zweideutigkeit in der Erziehung“ (ST III 94f.). Tillich führt das erzieherische Handeln als Beispiel für einen Akt „personhafter Partizipation“ an, das zu folgendem Dilemma führt: „Der Versuch, ein Subjekt als Subjekt der Verwirklichung seines Wesens näher zu bringen, enthält die Gefahr, es zu einem Objekt zu machen.“ (ST III 94) – Vgl. dazu auch Tillichs Beitrag
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einer genaueren ontologischen Klärung der als „Partizipation“ bezeichneten Phänomene bestanden. Diese Perspektive hat ihn zu der bereits erwähnten These geführt, dass bei der Partizipation immer auch deren polares Gegenüber zu bedenken ist: die Individualisation. Die Forderung nach mehr Partizipation bliebe ohne die Einsicht, dass die Erweiterung der unterschiedlichen Beteiligungsspielräume einer adäquaten Selbstverständigung bedarf, ein aktivistischer Impuls. Die wachsenden Möglichkeiten der Partizipation bedürfen einer vertieften Individualisation. Das gilt in zunehmendem Maße für das Zeitalter der „vierten Revolution“, die eine digitale „Transparenzgesellschaft“ hervorgebracht hat. Darunter versteht der deutsch-koreanische Philosoph Byung-Chul Han eine gesichtslose Gesellschaft, die „keine Gemeinschaft im emphatischen Sinne“ darstellt13: Es entstehen nur zufällige Ansammlungen oder Vielheiten von für sich isolierten Individuen, von Egos, die ein gemeinsames Interesse verfolgen oder sich um eine Marke gruppieren (Brand communities). Sie unterscheiden sich von Versammlungen, die zu einem gemeinsamen politischen Handeln, zu einem Wir fähig wären.14
Dieses Szenario hat in der digitalen Informationsgesellschaft an Brisanz gewonnen. Will sich der Mensch im digitalen Zeitalter nicht auf die Vielzahl seiner Algorithmen reduzieren lassen, sondern wirklich an der Welt partizipieren, muss er aus der amorphen Masse heraustreten. Die Forderung nach mehr „Medienkompetenz“ bleibt wohlfeil ohne die gleichzeitige Vermittlung einer existentiellen Selbstwerdungskompetenz, die im Zeitalter der „Selfies“ und „Filterblasen“ immer mehr zum Desiderat wird.15 Als Anwendungsbeispiel soll das Phänomen der so genannten Hate Speech dienen.
3 Hate Speech als Ausdruck des digitalen Fanatismus Bei der sogenannten Hate Speech handelt es sich um einen vielfach noch ungeklärten und vergleichsweise unscharfen politischen Begriff, wie etwa die
|| Theologie der Erziehung, in: GW IX 236–245. Tillich macht hier den Vorschlag einer Erziehung, die aus einem autoritativen Buchstabenglauben herausführt und zur ars interrogandi befähigt (vgl. GW IX 244). 13 B.-C. Han, Transparenzgesellschaft, Berlin 32013, 80. 14 Ebd. 15 Vgl. M. Lenzen, Künstliche Intelligenz. Was sie kann & was uns erwartet, München 2018, 163–166.
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Bundeszentrale für politische Bildung einräumt.16 Die „fehlende Begriffsschärfe“ ist möglicherweise darauf zurückzuführen, dass der in Rede stehende Hass bzw. Fanatismus an bestimmten Erscheinungsformen aufgezeigt und als Verstoß gegen die „political correctness“ gebrandmarkt wird.17 Es werden in den ansonsten durchaus begrüßenswerten Publikationen handlungsorientierte, konkrete Therapievorschläge unterbreitet, die aber keine tiefergehende Diagnose erkennen lassen. Um ein klassisches Beispiel aus Platons „Theaitetos“ zu adaptieren: Wer nach unterschiedlichen Arten und Nutzanwendungen von Schuhen fragt, hat noch nicht verstanden, was ein Schuh ist.18 Das bedeutet für unseren Zusammenhang: Dass die digitale Hate Speech ein Verstoß gegen Artikel 1 des Grundgesetzes und eo ipso justiziabel sein kann, ist zwar einleuchtend; das Phänomen des Fanatismus ist damit aber noch nicht hinreichend erfasst. Pädagogisch gut gemeinte Appelle wie die folgenden verfehlen den in Tillichs Analysen freigelegten Kern: „Niemand sollte im öffentlichen Raum Gewalt fürchten müssen. Und natürlich gilt dies ebenso für den digitalen Lebensraum. Rassistischen und menschenverachtenden Stimmen entgegenzutreten ist deshalb eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe.“19 Dieser zuletzt genannten sozialethischen Perspektive ist unbedingt eine individualethische hinzuzufügen: Das digitale Massenphänomen Hate Speech wäre nach Tillich nur unzureichend bedacht, wenn es dabei lediglich um den Fanatismus der „Anderen“ ginge. Vermutlich hätte Tillich mit größtem Interesse die Entwicklungen der digitalen Vernetzungsoptionen und ihre Folgen für die Kulturentwicklung verfolgt. Seine eigene Interpretation des Fanatismus entwickelt er, wie bereits angedeutet, im Horizont seines Partizipationsdenkens.20 Tillich führt den Fanatismus hier als eine „sehr wichtige Funktion des Teilhabebegriffs“ ein. Erste Ansätze zu einer tiefenpsychologisch interessierten, transdisziplinären Betrachtung des Fanatis-
|| 16 Vgl. http://www.bpd.de/252396/was-ist-hate-speech: „Wenn Menschen abgewertet, angegriffen oder wenn gegen sie zu Hass oder Gewalt aufgerufen wird, spricht man von Hate Speech. Oft sind es rassistische, antisemitische oder sexistische Kommentare, die bestimmte Menschen oder Gruppen als Zielscheibe haben. Hate Speech ist damit ein Oberbegriff für das Phänomen der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit oder Volksverhetzung im Internet und SocialMedia-Räumen.“ 17 Vgl. Hate Speech. Hass im Internet. Informationen für Fachkräfte und Eltern, hrsg. von der Arbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendschutz (AJS) Landesstelle NRW e.V. und der Landesanstalt für Medien Nordrhein-Westfalen (LfM), Auflage Juni 2016. 18 Vgl. Platon, Theaitetos 146d. 19 Hate Speech (s. Anm. 17), 13. 20 Vgl. EW XVI 57.
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mus finden sich bereits in den Frankfurter Hegel-Vorlesungen von 1931/32.21 Fanatische Aversionen und psychologische Feindmuster erklären sich für Tillich nicht allein durch die Fremdheit des „Anderen“, sondern durch die Fremdheit des eigenen Inneren, d.h. der eigenen vorbewussten Sphäre. Der Fanatismus als kollektives Phänomen kann nach Tillich auch die Gestalt eines „Kreuzzug-Geistes“ annehmen. Eine solche Mentalität mit ihrem „oft irrationalen und fast fanatischen Charakter“ hält er für eine massive gesellschaftliche und kulturelle Bedrohung. Er hat dabei u.a. den anti-kommunistischen „Kreuzzug“ in Amerika vor Augen,22 wobei die Feindbilder austauschbar sind – wie die neueste Zeitgeschichte belegt. Tillichs Fanatismus-Analysen sind von einer transdisziplinären Perspektive bestimmt. Er richtet seinen Blick als Philosoph und Theologe auf das besagte Phänomen. Zugleich bezieht er aber auch tiefenpsychologische und soziologische Aspekte in seine Deutung ein. In seiner amerikanischen Werkperiode zeigt er sich besonders an einem Lerngespräch mit der zeitgenössischen Psychologie interessiert. Davon profitiert auch seine Deutung des Fanatismus. So unterstellt Tillich hier im Gefolge Freuds einen blinden Fleck in der Selbstwahrnehmung des fanatischen Subjektes. Die im Anderen bekämpfte Fremdheit basiert in ontologischer Hinsicht auf einer uneingestandenen, vorbewussten Verbundenheit. Weil aber dieser bekämpfte Aspekt offenbar nicht als Thema der eigenen Persönlichkeitsstruktur oder Lebensgeschichte erkannt bzw. anerkannt wird, werden psychische Unterdrückungsmechanismen aktiviert, die Tillich korrelationstheoretisch deutet. In seiner Berliner Ontologie-Vorlesung von 1951 stellt er die These auf: „Die Psychologie des Fanatikers ist die Psychologie des Menschen, der etwas unterdrücken muss in sich selber, an dem er teilhat.“23 Der systematische Ertrag dieser These mag auf den ersten Blick bescheiden und wie eine ontologische Variante des Verdrängungstheorems wirken, auf der die Freudsche Psychoanalyse basiert. Die Brisanz und zeitgebundene Aktualität seiner Ausführungen ergibt sich aus der Rekontextualisierung dieser Ausführungen: Tillich spricht hier in der ehemaligen Reichshauptstadt Berlin vor einem studentischen Publikum in den unmittelbaren Nachkriegsjahren. Behutsam führt er diese Nachkriegsgeneration an eine mögliche Deutung der historischen Tatsachen heran, dass sich weite Teile der deutschen Bevölkerung von 1933 bis 1945 als fanatisierbar erwiesen haben.
|| 21 Vgl. EW VIII 187 u. 234. 22 GW V 70. 23 EW XVI 57; vgl. GW XI 45.
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Tillich nimmt die Fanatismus-Thematik ein Jahr nach der Berliner OntologieVorlesung wieder auf und wird noch deutlicher, wenn er daran erinnert, dass „unsere Zeit“ durch den Versuch „der absoluten Glorifizierung einer Rasse und einer Nation“ geprägt wurde.24 Solche glorifizierenden Selbstdeutungen hält der Kulturdiagnostiker Tillich vor allem aus theologischer Sicht für ein Selbstmissverständnis – besonders dann, wenn die Tendenzen zur Selbstüberhöhung einen sakral anmutenden Charakter annehmen. Erhellend sind in diesem Kontext seine kulturkritischen Ausführungen zum Phänomen der „Quasi-Religionen“. Dieses ist nicht etwa auf bestimmte Glaubenstraditionen beschränkt. In einem weiteren Sinne kann demnach „Religion diejenigen säkularen Bewegungen einschließen, die gewisse Züge mit den eigentlichen Religionen gemeinsam haben“. Als moderne Beispiele nennt er etwa die „kommunistische Quasi-Religion“25. Aber auch der Nazismus zählt für ihn zu den Erscheinungsformen der „radikalisierten und dämonischen Quasi-Religionen“.26 Der Fanatismus ist für ihn ein „Beispiel für die Zweideutigkeit zwischen dem Göttlichen und dem Dämonischen in allen Lebensprozessen“.27 Mit wenigen Stichworten skizziert er die weitreichenden kulturanthropologischen und gesellschaftlichen Konsequenzen, die damit verbunden sind: Zerspaltung, die das Dämonische einschließt wegen des Widerspruchs des endlichen Seins und des unendlichen Anspruchs, der Zerstörungskräfte gegen alles andere, der Fanatismus, weil, um das Andere zu zerstören, man Elemente des Anderen in sich selber unterdrücken muss, die Entwürdigung des fremden Lebens, die schließlich zur Entwürdigung des Lebens in der Gruppe selbst führt, der Terror, dessen Sinn es ist, die Heiligkeit des menschlichen Lebensprozesses, seine Unverletzlichkeit und seine Würde anzutasten – all das ist sichtbar in diesen Ereignissen.28
Tillich beschränkt sich nicht auf eine tiefensoziologische Untersuchung des „nationalistischen Fanatismus“29. Als Existenzdenker beleuchtet er auch die Folgen, die sich lebensweltlich für die fanatisierte Person und ihr soziales Umfeld unmittelbar ergeben. In diesem Zusammenhang macht er an anderer Stelle auch auf den „Fanatismus gegen sich selbst“ aufmerksam, der sich gegen die eigene unbewältigte Vergangenheit richten kann.30 Menschen können Tillich zufolge zu
|| 24 EW XVI 321. 25 GW V 60; vgl. ST III 16. 26 GW V 73. 27 EW XVI 322. 28 EW XVI 321f. 29 ST III 250. 30 Vgl. GW VI 203.
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„Fanatikern gegen ihre eigene Vergangenheit“ werden, wo immer sie sich „in ihrem Leben einer Utopie nicht in Form des Vorläufigen, sondern des Endgültigen hingegeben haben“ und dies im Nachhinein als historischen Irrtum anerkennen mussten.31 Wenn diese Entgleisungen und Fehleinschätzungen nicht als solche erkannt und akzeptiert werden, kann das Selbstverhältnis in Fanatismus umschlagen, in den womöglich auch jeder andere hineingezogen wird, „der an diesem Fanatismus nicht teilnimmt“.32 Ohne den Begriff „Projektion“ zu verwenden, bezieht sich Tillich in The Courage to Be ausdrücklich auf das Beispiel eines „Andersdenkenden“, der zum Repräsentanten dessen wird, was der Fanatisierte in sich selbst bekämpft, aber nicht wahrhaben will. Er illustriert dies exemplarisch an den fanatischen Aversionen, die moderne Kunstwerke in zeitgenössischen Betrachtern auslösen können. Auch hier gilt nach Tillich: „Aber man muss sich klar sein, dass man sich geistig bedroht nur durch etwas fühlt, was ein unterdrücktes Element in einem selbst ist.“33 Im Spiegel der ihn irritierenden und befremdenden Kunst begegnet der „Spießer“ dem „Fremden“ in sich selbst. Weil es das eigene Selbstbild bzw. das bisherige Gehäuse ins Wanken bringen würde, „zwingt“ die Angst den Fanatisierten zur Gewalt – durch die er sich letztlich selbst verletzt, wie Tillich betont: „Dieser Schwäche muß er schließlich unterliegen.“34 In diesem Sinne beschreibt der Psychoanalytiker Horst-Eberhard Richter unbewusste Hassprojektionen als „labile Sündenbock-Reaktion“.35 Der Fanatismus ist ein Thema, auf das Tillich im Laufe seiner eigenen Denkentwicklung immer wieder zurückkommt, und ein zentraler Gesichtspunkt seiner Ideologiekritik.36 So beobachtet er Fanatisierungstendenzen innerhalb der mar-
|| 31 Ebd. 32 Ebd. 33 EW XVI 197. 34 GW XI 45. 35 H.-E. Richter, Wer nicht leiden will, muß hassen. Zur Epidemie der Gewalt, Hamburg 1993, 31. Vgl. auch die Thematisierung des Hasses unter einer philosophischen und psychologischen Perspektive bei: J. Kristeva, Fremde sind wir uns selbst. Aus dem Französischen von X. Rajewsky, Frankfurt a. M. 2013, 22–24. – Der Sündenbock-Topos ist ein zentrales religionsphilosophisches Thema bei: R. Girard, Das Heilige und die Gewalt, Frankfurt a. M. 1992. 36 Das Fanatismus-Thema ist ein zentraler Gesichtspunkt in Tillichs Ideologiekritik. Zu den Gefahren des religiösen „Götzendienstes“ und seiner fanatisierenden Wirkung vgl. GW IX 294f. – Zum Themenfeld Monotheismus und Gewalt vgl. U. Beck, Der eigene Gott. Friedensfähigkeit und Gewaltpotential der Religionen, Frankfurt a. M./Leipzig 2008; J. Assmann, Die Mosaische Unterscheidung oder der Preis des Monotheismus, München/Wien 2003; ders., Exodus. Die Revolution der alten Welt, München 32015; ders., Totale Religion: Ursprünge und Formen puritanischer Verschärfung, Wien 2016. Zur kritischen Auseinandersetzung mit Assmanns Thesen aus his-
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xistischen bzw. sozialistischen Bewegung.37 Er unterzieht aber auch die gesellschaftlichen Konstellationen westlicher Prägung einer Fanatismus-Kritik.38 Daraus leitet er allgemeine Bestimmungen für die Kennzeichnung moderner „Ideokratien“ ab, die auch im Zeitalter des terroristischen Dschihadismus aufschlussreich sind. Fanatisierungsformen kann es nach Tillich auch innerhalb friedliebender weltanschaulicher Gruppen geben, wie er 1926 an der „anthroposophischen Gesellschaft“ moniert.39 In religionsphilosophischer Hinsicht weist Tillich auf die größere Anfälligkeit monotheistischer Religionssysteme mit Ausschließlichkeitsanspruch gegenüber Vertretern einer „offenen Form des mystischen Monotheismus“ hin.40
4 „Gegen den Hass“: Carolin Emcke und Paul Tillich im Vergleich Unter veränderten politischen und kultursoziologischen Rahmenbedingungen des 21. Jahrhunderts hat das Thema, auf das Tillich immer wieder zurückkommt, neu an Brisanz und Aktualität gewonnen. Nicht ohne Grund wurde die Philosophin und Publizistin Carolin Emcke für ihren Essay „Gegen den Hass“ mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet, eine Ehrung, die auch Paul Tillich 1961 zuteil geworden ist. Emcke geht es wie Tillich auf seine Weise darum, „Hass und Gewalt in ihren präzisen Abläufen zu beschreiben“ und auf dieser Basis „die Möglichkeit aufzuzeigen, wo sie unterbrochen oder unterwandert werden können“.41 Sie analysiert u.a. in zwei Teilen ihres Buches anhand von konkreten Beispielen die Themenfelder „Hass und Missachtung“, zunächst als „gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“ und darüber hinaus als „institutionellen Rassismus“. Eine zentrale Denkfigur ist dabei Sartres Topos des Blicks, was sie nach den „Blick-Regimen“ fragen lässt, „die andere nur noch als Feinde sehen können, die getötet werden dürfen ohne Strafe“42. Sie werden von der Partizipation ausgeschlossen, d.h. „sie werden nicht gesehen als Teil eines universa|| torischer Perspektive vgl. A. Angenendt, Toleranz und Gewalt. Das Christentum zwischen Bibel und Schwert, Münster 2007, 92–95. 37 Vgl. GW III 207; GW VI 139. 38 Vgl. GW VI 203. 39 GW X 70. 40 GW VIII 194f. 41 C. Emcke, Gegen den Hass, Frankfurt a. M. 52016, 19. 42 Ebd., 169.
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len Wir“43. Es findet eine Entindividualisierung statt, was nach Emcke bedeutet: „Sie werden negiert als menschliche Wesen mit einer besonderen Geschichte, besonderen Erfahrungen oder Eigenschaften.“44 Die Sichtbarkeit wiederum erfolgt, indem die Hassobjekte zur Projektionsfläche des „Nicht-Wir“ werden.45 Auf diese Hassobjekte werden dann „Eigenschaften projiziert, die sie als unheimliches, abstoßendes, gefährliches Kollektiv formen und markieren“. Entscheidend ist nach diesem Deutungsvorschlag: „Es gibt überhaupt keine Individuen. Es gibt nur Stellvertreter.“ Am Beispiel der Fremdenphobie, die während der so genannten Flüchtlingskrise 2015/16 eskalierte, macht Emcke deutlich: „Es reicht die Projektion. Der Hass bezieht sich zwar auf diese Geflüchteten, hat sie zum Objekt, aber sie selbst verursachen ihn nicht.“46 Emcke spricht von – womöglich über Generationen tradierten – Rastern, die „die Wahrnehmung verändern“47. Mit Blick auf die fanatisierten Anhänger des IS-Staates, die zu einem nicht unwesentlichen Teil aus westlichen Wohlstandsgesellschaften rekrutiert werden, fragt sie, „warum so vielen Menschen ihr Leben so wenig wert ist, dass sie bereit sind, es für eine Ideologie hinzugeben“48. Emckes Analyse macht mit ihrer Entindividualisierungsthese auf ein wichtiges strukturphänomenologisches Element aufmerksam, geht aber der Frage nach der Entstehung des Fanatismus in den fanatisierten Subjekten selbst zu wenig auf den Grund. Ihr Frageinteresse ist vorwiegend soziologisch, nicht aber psychologisch, geschweige denn ontologisch ausgerichtet.49 Das unterscheidet sie von Tillichs Deutungsversuchen. Letzterer stellt nämlich das Fanatismus-Phänomen über die genannten Perspektiven hinaus auch in den Horizont einer theologischen Kritik: Freiheit ist auch nicht da, wo man aus Unwissenheit und Fanatismus fremde Gedanken und eine andere Lebensart ablehnt. Und statt Freiheit herrscht dämonische Knechtschaft da, wo man die eigene Wahrheit als unbedingte Wahrheit bezeichnet. Denn das ist ein Versuch, Gott gleich zu sein, den man im Namen Gottes macht.50
|| 43 Ebd., 48. 44 Ebd. 45 Vgl. ebd. 46 Ebd., 59. 47 Ebd., 64. 48 Ebd., 190. 49 Vgl. dazu den instruktiven Interpretationsvorschlag Tillichs in: EW XVI 125: „Der meiste Fanatismus, die meisten Orthodoxien, das meiste der autoritären Haltungen wird abhängig von der Angst um den Verlust eines Raumes.“ 50 RR I 71f.
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Bereits in seinen Frankfurter Hegel-Vorlesungen von 1931 hatte Tillich seine Fanatismus-Analysen „implizit“ als eine „Anthropologie“ bezeichnet, die auf psychoanalytischen Grundlagen fußt: Fanatismus kommt nicht aus der Unmittelbarkeit der Leidenschaft, sondern immer aus einem überstarken, herrschenden Bewußtsein, wo sich dann das Leben, das vom Bewußtsein beherrscht ist, in einer psychoanalytischen Umkehrung bemerkbar macht, in jener Form der Leidenschaft des bloßen Bewußtseins, nämlich des Fanatismus.51
Alles kann zum Zielobjekt des Fanatismus werden, sogar der kategorische Imperativ.52 Diese psychologische Fundierung hat Tillich in den USA ausgebaut und weiter ausdifferenziert, wobei er selbst nicht nur die aktuelle Diskurslage zu überblicken scheint, sondern diese mit seinen eigenen erkenntnistheoretischen, ontologischen, aber auch psychologischen Reflexionen verbindet. Tillich führt zwar den Terminus „Unterdrückung“, nicht aber expressis verbis das Instanzenmodell Freuds als Erklärung an. Diese Deutungsoffenheit ermöglicht Spielräume, in die sich auch andere psychologische Theorieansätze integrieren lassen, etwa die tiefenpsychologische Kategorie des „Schattens“ nach C. G. Jung.53 Der Psychotherapeut und Zen-Lehrer Karlfried Graf Dürckheim nennt in einer kongenialen Kurzformel den Schatten die „Summe aller nicht zugelassenen Lebensimpulse“. Dazu gehört das, was ein Mensch „alles verschluckt hat, wo man nicht hat antworten können, nicht so hat sein, nicht so hat reagieren können, wie man in der Tiefe des eigenen Bewußtseins gewollt hätte“54. Die Folge dieser Desintegration beschreibt er so: „All das verwandelt sich in uns selbst zu
|| 51 EW VIII 187. 52 Vgl. EW VIII 234: „Der Fanatismus des Pflichtgedankens beruht darauf, daß eine einzelne Pflicht, wenn sie zur Durchführung kommen soll, immer begrenzt ist von andern. Belastet man sie mit der Unbedingtheit, wird sie notwendig fanatisch, und Fanatismus ist ja immer Unterdrückung anderer Elemente.“ 53 Vgl. dazu Tillichs These in: MW 2, 311–312 = GW VIII 328–329: „You first must accept and then you can transform.“ – Vgl. dazu S. S. Jäger, Glaube und Religiöse Rede bei Tillich und im Shin-Buddhismus. Eine religionshermeneutische Studie (= Tillich Research, Vol. 2), Berlin/Boston 2011, 158f. – Jäger macht auf einen Vortrag C. G. Jungs („Über die Beziehung der Psychotherapie zur Seelsorge“) vom Mai 1932 aufmerksam, auf den sich Tillich implizit beziehen könnte. Vgl. ebd., 159 Anm. 198; dazu C. G. Jung, Über die Beziehung der Psychotherapie zur Seelsorge (1932), in: Ders., Zur Psychologie westlicher und östlicher Religion, Gesammelte Werke, Bd. 11, Olten 1995, 337–355. 54 K. Graf Dürckheim, Weg der Übung. Geschenk der Gnade, Frankfurter Vorträge, Bd. I. Mit einem Vorwort von H. M. Enomiya-Lassalle, hrsg. von C. Well, Aachen 1988, 30.
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einem ‚alter ego‘.“55 Auch Dürckheim setzt einen Vorgang der Unterdrückung voraus, der zur Bildung des „Schattens“ führt: Zwischen mir und meiner Wesenstiefe steht all das, was das Ich zum Schatten gemacht hat durch Unterdrückung und Verdrängung, alles, was das Ich verleugnen und nicht zulassen will, und das Ich sorgt auch dafür, daß sich an diesem mühsam hergestellten status quo nicht so leicht etwas ändert.56
Eine Verbindung zwischen Tillich und Dürckheim ist wohl auch darin zu sehen, dass beide auf ihre Weise ein Ganzheitsparadigma vertreten. Tillichs folgende Ausführungen in den Religiösen Reden lassen sich auch auf das Phänomen des Fanatismus anwenden: Die verborgensten Regungen in der Tiefe unserer Seele sind nicht ganz die unseren, denn sie gehören auch unseren Freunden, der Menschheit, dem Universum und dem Grund allen Seins, dem letzten Ziel unseres Lebens. Nichts kann im letzten verborgen bleiben. Es wird in dem Spiegel reflektiert, in dem nichts verheimlicht werden kann. Könnte jemand wirklich glauben, daß seine geheimsten Gedanken und Wünsche nicht in das Ganze des Seins eingehen oder daß die Dinge, die sich im Dunkel seines Unbewußten oder in der Einsamkeit seines Bewußtseins abspielen, nicht ein ewiges Echo bewirken?57
In transdisziplinärer Perspektive erhellend sind auch Tillichs Hinweise auf die Gefahren des religiösen Fanatismus: „Religiöser Fanatismus flammt auf, derselbe Fanatismus, der die Arroganz der Kirchen, die Grausamkeit der Moralisten, die Unbeugsamkeit der Orthodoxen entzündet hat.“58 Zu diesem Thema, das aus heutiger Sicht von einer geradezu bedrückenden Aktualität ist, führt der Theologe in intellektueller Redlichkeit Beispiele aus der jüdischen, indischen, aber auch der christlichen Religionsgeschichte an und stellt die These auf: „Ja, die Geschichte zeigt, daß die schrecklichsten Verbrechen gegen die Liebe im Namen von fanatisch verteidigten Dogmen begangen worden sind.“59 Es geht, in Emckes Worten gesagt, um die „reine“ Lehre, die ein „dualistisches Weltbild“ stützen soll, „das nur das absolut Böse und das absolut Gute kennt“.60 Mit Tillich ließe
|| 55 Ebd. 56 Ebd., 75f. 57 RR I 46. 58 RR I 49. – Vgl. dazu G. Raatz, Unbedingtsetzung von Bedingtem. Paul Tillichs Begriff religiösen Fundamentalismus᾽, in: C. Danz / M. Dumas / W. Schüßler / M. A. Stenger / E. Sturm (eds.), Ethics and Eschatology (= International Yearbook for Tillich Research, Vol. 10), Berlin/Boston 2015, 241–272. 59 GW VIII 187. 60 C. Emcke, Gegen den Haß (s. Anm. 41), 177.
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sich hier auch von einem fehlenden Sinn für die „Zweideutigkeit“ sprechen. Von seinem philosophisch-theologischen Ansatz her erschließt sich noch prägnanter, dass es sich hier um eine fundamentale Verwechslung handelt. An die Stelle eines „unbedingten Anliegens“ ist der Kampf für eine „Reihe von leidenschaftlich verteidigten Lehrsätzen“ geworden, die für ein „letztes Anliegen“ gehalten werden. Aus Tillichs existentialontologischer Perspektive ist der Fanatismus gleichsam die negative oder verdunkelte Seite der Partizipation, was sein Theorem wiederum anschlussfähig an psychologische und soziologische Interpretationen des Phänomens macht. Die Aufdeckung der unbewussten Partizipation dient nicht nur der Kausalanalyse des Phänomens, sondern ist der Ermöglichungsgrund jeder therapeutischen Intervention.61 Bei der Interpretation wie der Heilung des Fanatismus geht es darum, diesen als reales Partizipationsverhältnis aufzufassen, dessen Erregungs- und Aggressionspotential sich im Modus der Hate Speech entladen kann. Ob sich die Verfasser von Hate Speeches durch solche Analysen beeindrucken lassen, sei dahingestellt. Hier geht es um die ontologischen, psychologischen und ethischen Aspekte einer transdisziplinären Perspektive, die für einen künftigen digitalen Humanismus relevant sein dürften.62 Die „vierte Revolution“ bedarf einer Evolution des Humanum. Das polare Begriffspaar Individualisation – Partizipation eröffnet auch medienpädagogische und -ethische Handlungsfelder im Zeitalter der Digitalisierung: Die exponentiell fortschreitenden Möglichkeiten einer digitalen Partizipation erfordern auf Seiten der Internet-Nutzer und Netzbewohner auch eine adäquate Individualisation.63 Anders gesagt: Die heute vielbeschworene Medienkompetenz muss um eine existentielle Selbstbefragungskompetenz ergänzt werden. Hier sieht Tillich auch die Theologie in die Pflicht genommen. Deren Protagonisten sollten sich seiner Ansicht nach von einer „Theologie der Selbstsicherheit“ befreien, die für ihn mit dem Fanatismus auf einer Stufe steht.64 Dazu gehört auch die Fähigkeit und Bereitschaft zur „Arbeit an einem selbst“ (Wittgenstein).65
|| 61 Vgl. EW XVI 57. 62 Vgl. dazu J. Nida-Rümelin / N. Weidenfeld, Digitaler Humanismus. Eine Ethik für das Zeitalter der Künstlichen Intelligenz, München 2018. 63 Vgl. M. Faßler, Partizipation ohne Demokratie. Über die Folgen der Netz- und Geopolitik von Facebook, Google, Amazon & Co., Paderborn 2020. 64 R I 118f. 65 L. Wittgenstein, Vermischte Bemerkungen, hrsg. von G. H. von Wright, unter Mitarbeit von H. Nyman, in: Werkausgabe, Bd. 8, Frankfurt a. M. 1984, 472: „Die Arbeit an der Philosophie ist – wie vielfach die Arbeit in der Architektur – eigentlich mehr die Arbeit an Einem selbst. An der eignen Auffassung. Daran, wie man die Dinge sieht. (Und was man von ihnen verlangt).“
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5 Der „Ruf zur Grenzüberschreitung“ Die Rede, die Tillich 1961 als Dank für den ihm zuerkannten „Friedenspreis des Deutschen Buchhandels“ vorgetragen hat, liest sich wie ein Kommentar zu Entwicklungen, die nicht nur das 20. Jahrhundert, sondern auch das derzeitige betreffen. Den grenzüberschreitenden Möglichkeiten der Digitalisierung und Globalisierung steht politisch wie mental in vielen Kulturräumen ein Trend der Abgrenzung gegenüber. Tillich hat die Identitätssuche („The Search for Identity“) als Schlüsselthema des 20. Jahrhunderts vor Augen, das er gegenüber seinem Auditorium so charakterisiert: Es ist der Ausdruck einer Periode, in der viele außerstande sind, in und über ihre fließenden Wirklichkeitsgrenzen ihre Wesensgrenze zu finden, und zwar nicht nur als einzelne, sondern auch als Glieder von Gemeinschaften, nationalen, kulturellen, religiösen.66
Die Frage Tillichs erhellt auch Suchbewegungen des 21. Jahrhunderts bis in die Abgrenzungsversuche der „identitären Generation“67 hinein: Wie können Personen, wie können Völker ihre Identität finden und damit die wahren Grenzen, denen gegenüber die wirklichen Grenzen ihre letzte Bedeutung verlieren? Das ist der Punkt, an dem die Frage der Grenze und die Frage des Friedens ineinander übergehen.68
Das wiederum verlangt existenzphilosophisch ausgedrückt das Eintreten in die „Grenzsituation“. Anders als bei Jaspers wird der Terminus in Tillichs Frankfurter Rede zur Daseinsmetapher, die nicht Extremsituationen wie Schuld, Leid oder Tod thematisiert, sondern den Vollzug des Lebens überhaupt mitsamt seinen Polaritäten: Das Dasein auf der Grenze, die Grenzsituation, ist voller Spannung und Bewegung. Sie ist in Wirklichkeit kein Stehen, sondern ein Überschreiten und Zurückkehren, ein Wieder-Zurückkehren und Wieder-Überschreiten, ein Hin und Her, dessen Ziel es ist, ein Drittes jenseits der begrenzten Gebiete zu schaffen, etwas, auf dem man für eine Zeit stehen kann, ohne in einem festen Begrenzten eingeschlossen zu sein.69
|| 66 GW XIII 424. 67 Vgl. J. Bruns / K. Glösel / N. Strobl, Die Identitären: Handbuch zur Jugendbewegung der Neuen Rechten in Europa, Münster 32017. 68 GW XIII 424. 69 GW XIII 420.
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Was Tillich als kulturelle wie individuelle Aufgabe herausarbeitet, ist der „Ruf zur Grenzüberschreitung“, ohne dabei der Gefahr der totalen Selbstpreisgabe, d.h. des Identitätsverlustes zu erliegen.70 Eine genauere terminologische Fixierung bleibt an dieser Stelle zwar aus, doch lässt sich die Selbst-Welt-Korrelation als Hintergrund seiner Ausführungen ohne weiteres rekonstruieren. Anhand von lebensnahen Beispielen illustriert Tillich seine grundlegende Intention: Ich denke an junge Studenten, vielleicht Theologen, vielleicht Naturwissenschaftler, die aus der Sicherheit fest umgrenzten Denkens und Glaubens auf die Universitäten kommen, dort an die Grenze anderen Denkens und Glaubens geführt werden, ihr eigenes So-Sein im Spiegel des anderen sehen, das Mögliche erleben.71
Dazu gehören nach Tillich „Möglichkeiten, die jedem Menschen dann und wann gegeben sind, über sich hinauszukommen“72. Die Beispiele, die er anführt, nennt er unter Vorbehalt, denn oftmals bleiben die Möglichkeiten eine unverwirklichte Option: Ob es ein Mensch war, der ihn aus seiner Enge hätte herausreißen können, oder ein ungewohntes Werk der Kunst, das ihn hätte erschüttern können, oder ein Wort aus der Dimension des Ewigen, das ihm die Selbstsicherheit seines Daseins hätte umwerfen können.73
Wer sich dem allerdings nicht gewachsen fühlt, neigt im extremsten Fall zur „Gegen-Aggression“, d.h. zu dem schon beschriebenen Verhaltensmuster des Fanatismus. Die domestizierte und kultivierte Variante dieser Abwehrhaltung ist der „Spießer“, der sich ebenfalls dem „Ruf zur Grenzüberschreitung“ verweigert. Dass dieser Topos nicht im Sinne einer soziologischen Milieustudie, sondern als milieuübergreifende Grundhaltung gemeint ist, stellt Tillich in seiner Definition klar.74 Seine zentrale Sorge gilt dem Umstand, dass solches Spießertum nicht nur zu kulturellen Horizontbegrenzungen einzelner Individuen führt, sondern in höchst aggressive zivilisatorische Abgrenzungsmuster abgleiten kann. Dies belegt er mit Blick auf die nationalsozialistische Epoche seines eigenen Heimatlandes. Doch ist diese Periode nur ein massives Beispiel für die subkutane
|| 70 GW XIII 422. 71 GW XIII 421. 72 GW XIII 422. 73 Ebd. 74 Vgl. ebd.: „Er [sc. der Spießer] kann geradezu charakterisiert werden – in welcher sozialen Klasse er auch vorkommt – als jemand, der sich durch die Angst, an seine eigene Grenze zu geraten und sich selbst im Spiegel des Andersartigen zu sehen, nie über das Gewohnte, Anerkannte, Festgelegte zu erheben wagte.“
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Fanatisierbarkeit, die gerade dem äußerlich harmlosen Spießertum innewohnt. Hier kommen wiederum Tillichs Fanatismus-Analysen zum Tragen, die er nun auf diesen Typus anwendet: „Um sich herum aber sieht er Menschen, die über die Grenzen gegangen sind, die er nicht überschreiten konnte. Und der heimliche Neid wird zum Haß.“75 Gegenüber seinem deutschen Publikum genügen wenige Andeutungen, um die zivilisatorische Tragweite dieser Grundthese zu erhellen: Und wenn dann wie in Deutschland zur Hitlerzeit der Haß die uneingeschränkte Macht erhält, sich auszuwirken, dann schließt er zunächst die Grenzen, so daß es einem ganzen Volk unmöglich wird, über sich selbst hinauszusehen. Und dann wird der Versuch gemacht, die Grenzen zu beseitigen durch Unterwerfung oder durch Vernichtung dessen, was jenseits der Grenze liegt, seien es andere Rassen oder benachbarte Nationen, seien es gegnerische politische Systeme oder neue künstlerische Stile, seien es höhere oder niedere soziale Klassen, seien es im Überschreiten der Grenze gereifte Persönlichkeiten.76
Besonders beängstigend ist nach Tillich der hier erkennbare „dämonische Trieb, der vielleicht in jedem ist, seine Grenzen auszulöschen, um selbst das Ganze zu werden“.77 Diese Selbstabgrenzung, die das Eigene für das Ganze hält, ist die von Tillich analysierte anti-partizipative Grundhaltung, die sich auf das identitäre Denken, den Isolationismus und Nationalismus des 21. Jahrhunderts in seinen unterschiedlichen Spielarten beziehen lässt. Tillich müsste von seiner These auch in unserer Zeit nichts zurücknehmen, dass „in allen Ländern und auch in den Vereinigten Staaten Schichten da sind, die der beschriebenen Struktur des Spießers entsprechen“.78 Seine Beobachtungen wirken auf beklemmende Weise aktuell: „Sie [sc. die besagten Schichten] erheben immer wieder ihr Haupt, noch ohne Erfolg, aber im gegenwärtigen Moment in neuen Formen und mit zahlreichen Anhängern.“79 Doch ein selbstabgrenzender Isolationismus ist das Gegenteil von dem, was Tillich unter „Individualisation“ versteht: „Denn wer seine Identität und damit seine Wesensgrenze gefunden hat, hat es nicht nötig, sich einzuschließen oder auszubrechen. Er will verwirklichen, was sein Wesen ist.“80 Umgekehrt ist dies freilich unter dem Vorzeichen einer grenzenlosen Beliebigkeit ebenfalls zum Scheitern verurteilt, wie Tillich selbst zu bedenken gibt. Ihm steht keine alle Grenzen nivellierende Selbstauflösung vor Augen, denn für den systematischen Denker ist die „Grenze nicht nur das, was überschritten, sie
|| 75 Ebd. 76 GW XIII 422f. 77 Ebd. 78 GW XIII 423. 79 Ebd. 80 GW XIII 424.
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ist auch das, was verwirklicht werden muß“.81 Dass damit jedoch keine prinzipielle Abgrenzung gemeint sein kann, liegt in der Konsequenz seines existentialontologischen Ansatzes: Die Selbstverwirklichung steht und fällt mit dem Maß des Weltbezuges. Dieser Gedanke, der im Horizont seiner Partizipationslehre zu lesen ist, findet in Tillichs Dankesrede eine universal- und friedensethische Anwendung: „Nur wer Anteil an den beiden Seiten einer Grenzlinie hat, kann dem Übergreifenden und damit dem Frieden dienen, nicht, wer sich in der momentanen Ruhe eines fest Begrenzten sicher fühlt.“82 Der Preisträger wird in seinen Ausführungen zum Anwalt eines begegnenden Denkens, das „über die Grenze hinausführt: im Kennen, im Verstehen, im Begegnen, auch wenn das Begegnende das nur Entgegen-Stehende zu sein scheint“. Sein Beitrag versteht sich als „Ermutigung zum Überschreiten des nur Eigenen“, denn „das ist es, was Erziehung zur Schaffung des Friedens beitragen kann“.83
6 Der grenzüberschreitende Beitrag der Religionen Lange vor Küngs Projekt eines Ethos der Weltreligionen vertrat Tillich in seinen letzten Jahren das Anliegen eines interreligiösen Dialoges, der nicht nur die abrahamitischen Religionen, sondern auch die asiatischen Traditionen einschließt.84 Die Religionen haben für Tillich eine wichtige kulturkritische Funktion.85 Im 21. Jahrhundert könnte dem interreligiösen Lerngespräch eine paradig-
|| 81 GW XIII 423. – Das wird andeutungsweise systematisch noch genauer entfaltet in: GW XIII 423f.: „Grenze gehört zur Form, und Form macht jedes Ding zu dem, was es ist. Die Grenze zwischen Mensch und Tier macht es möglich, vom Menschen Dinge zu fordern und zu erwarten, die man vom Tier weder fordern noch erwarten kann.“ 82 GW XIII 420. 83 GW XIII 423. 84 Vgl. H. Küng, Projekt Weltethos, München 1990. – Zu Tillichs „Begegnung mit den Weltreligionen“ vgl. G. Wehr, Paul Tillich zur Einführung, Hamburg 1998, 143–150. 85 Vgl. dazu GW XIII 428: „Es gibt keine menschliche Gruppe, die das Recht hätte, um ihrer Grenzen willen etwas zu beginnen, dessen Fortgang zur Zerstörung ihrer selbst und aller anderen menschlichen Wirklichkeit führen müßte. Die Zurücknahme des göttlichen Schöpfungsaktes ist dämonische Grenzüberschreitung und Erhebung gegen den göttlichen Grund und das gottbestimmte Ziel unseres Seins. Etwas anderes ist der Widerstand gegen solchen Versuch, alle Grenzen zu beseitigen. Er ist nötig, um dem, der den Anfang macht, zu zeigen, daß er nicht zum Herrn über Leben und Tod alles Menschlichen geworden ist, sondern in den Untergang, den er herausgefordert hat, selbst hineingezogen ist.“
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matische kulturelle Bedeutung zukommen. Von daher steht Tillich zivilisatorischen Versuchen, sich gegenüber der Sphäre der Transzendenz dezidiert abzugrenzen, zunehmend kritisch gegenüber. Als Vertreter einer Theologie der Kultur hatte Tillich Verbindungen zu atheistischen Grundannahmen und Mentalitäten herzustellen versucht.86 Soweit er Letztere von einem „unbedingten Anliegen“ getragen wusste, sah er keine Gräben zwischen Glauben und Atheismus, sondern mögliche Verständigungsbrücken. In seiner Preisrede macht er allerdings auch darauf aufmerksam, dass ein Zurückweisen der Religion und die Nicht-Akzeptanz der eigenen Endlichkeit oft einherging mit der „Versuchung […], sich selbst ins Unbedingte, Göttliche zu erheben“87. Die westliche Zivilisation ist wie jede kulturelle Manifestation durch jenen Ausgriff auf das Unendliche angetrieben, den Tillich in einer anderen Rede für das Hauptcharakteristikum einer „eindimensionalen Kultur“ hält. „Alles Endliche will sich ins Unendliche erweitern“, lautet sein diesbezügliches Axiom in der Frankfurter Ansprache. Solchen Ansprüchen müssen die Religionen mit einer prophetischen Kritik begegnen. Dieser Einspruch lautet in seiner allgemeinen Form: „Kein Endliches kann seine Endlichkeit zum Unendlichen hin überschreiten.“88 In der beständigen Mahnung und Erinnerung daran liegt die begrenzende Funktion der Religionen. Ihre grenzerschließende Aufgabe sieht er in dem Zeugnis, das „alle Religion“ vereint: „Das Unendliche kann von sich aus seine Grenze zum Endlichen überschreiten.“89 Tillich ist sich der Zweideutigkeit der Religionsgeschichte durchaus bewusst, wie seine Fanatismus-Analysen gezeigt haben. Intoleranz und das Verabsolutieren der eigenen Position sind für ihn der „Boden, aus dem die Religionskriege hervorgehen, und wenn es heute nicht mehr blutige Kriege sind, so doch seelenzerstörende Kämpfe, in denen die Waffen des Hasses – nämlich Lüge, Verzerrung, Ausstoßung, Unterdrückung – benutzt werden, um die Grenzen zu beseitigen, die zu überschreiten man zu schwach war“.90 Das macht nach Einschätzung des Theologen die Berechtigung der Religions- und Kirchenkritik aus.91 Auch
|| 86 Vgl. C. Cordemann, Religion und Kultur. Paul Tillichs religionsphilosophische Grundlegung einer Theologie der Kultur, in: C. Danz / W. Schüßler (Hrsg.), Paul Tillichs Theologie der Kultur. Aspekte – Probleme – Perspektiven (= Tillich Research, Vol. 1), Berlin/Boston 2011, 94–127. 87 GW XIII 427. 88 GW XIII 428. 89 Ebd. 90 GW XIII 421. 91 Vgl. dazu ST III 121: „[D]ie Angriffe richten sich nicht eigentlich auf die Religion als solche, sondern auf die Zweideutigkeiten der Institutionalisierung.“ – Dieses (Selbst-)Missverständnis der Religionsgemeinschaft beruht darauf, dass die Tiefendimension der jeweiligen Religion
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Religionen gehören für ihn in das Feld der zweideutigen Phänomene. Davon nimmt er auch seine eigene Tradition nicht aus: „Religiöse Gruppen, ganze Kirchen können in diese Haltung [des Fanatismus] hineingetrieben werden.“92 Die Alternative besteht für ihn nicht in einer alle Traditionen und konfessionellen Manifestationen abstreifenden Einheitsreligion. Religionen sind für Tillich ein Grenzphänomen, das in jeder Hinsicht zu denken gibt. Ein interreligiöser Dialog, der die Chancen des polaren Wechselspiels zwischen Individualisation und Partizipation wahrnimmt, könnte geradezu ein Paradigma der Transkulturalität werden. Dazu sei noch einmal an Tillichs Grundthese der Frankfurter Rede erinnert: „Nur wer Anteil an den beiden Seiten einer Grenzlinie hat, kann dem Übergreifenden und damit dem Frieden dienen.“93 Wird diese Bestimmung an die Religionen adressiert, ergibt sich die von Tillich in The Courage to Be erhobene Forderung, sich „zu dem Gott über dem Gott des Theismus“ zu erheben94. Das ist mitunter so interpretiert worden, als wolle Tillich damit einem „gottlosen“ Glauben oder einer Religion der Konfessionslosigkeit das Wort reden. Dagegen spricht seine dialektische Forderung, festgefügte theistische Gottesbilder zu transzendieren, „ohne ihre konkreten Symbole zu opfern“.95 Hier kommt das Partizipationstheorem in seiner Mehrdimensionalität zur Anwendung und erhält eine anthropologische, religionsphilosophische, interreligiöse und aus heutiger Sicht sogar interkulturelle und weltpolitische Bedeutung. Einmal mehr kommt Tillichs Grundannahme zum Tragen, dass Partizipation keine Totalidentifikation meint. Das begrenzt die Absolutheitsansprüche jeder einzelnen Religion. Umgekehrt erschließen die genannten „fragmentarischen Ausdrucksformen“ ihren Gehalt nur demjenigen, der zur Partizipation an ihnen bereit ist. Dazu Tillich in seinen Ausführungen über den „absoluten Glauben“: Er ist kein Ort, wo man leben kann; er ist ohne die Sicherheit, die Worte und Begriffe vermitteln, er ist ohne Namen, ohne Kirche, ohne Kult, ohne Theologie. Aber er ist in der Tiefe
|| verdeckt wird durch deren institutionelles Gehäuse. Legalismus und Dogmatismus sowie die „Implikationen der Machtpolitik“ (ebd.) treten in den Vordergrund. 92 GW XIII 421. 93 GW XIII 420. 94 GW XI 138. 95 Ebd. – Herv. von mir! Vgl. dazu W. Schüßler, Paul Tillichs Schrift „The Courage to Be“ – ein missverstandener Bestseller. Eine kritische Analyse der Begriffe „Theismus“, „absoluter Glaube“ und „Gott über Gott“, in: C. Danz / M. Dumas / W. Schüßler / B. Wagoner (Hrsg.), The Courage to Be (= International Yearbook for Tillich Research, Vol. 13), Berlin/Boston 2018, 109–131.
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von ihnen allen wirksam. Er ist die Macht des Seins, an dem sie alle partizipieren und dessen fragmentarische Ausdrucksformen sie sind.96
Der Philosoph und Theologe hat dem Gespräch der Weltreligionen besonders in seinen letzten Lebensjahren große Beachtung geschenkt. Unter dem Eindruck seiner eigenen Begegnungen mit den unterschiedlichen asiatischen Traditionen wie z.B. dem Buddhismus nimmt Tillich im Rahmen seiner Vorlesung Das Christentum und die Begegnung der Weltreligionen einen interreligiösen Vergleich vor. Grundlegend für die Begegnung der Religionen ist auch hier Tillichs existentialepistemologisches Grundaxiom, dass „wirkliches Verstehen Partizipation voraussetzt“97. Das bedeutet, dass eine Religion zwar aus der Distanz beschrieben, vielleicht sogar religionswissenschaftlich analysiert, nicht aber wirklich verstanden werden kann. Die Alternative lautet: „Der einzig wirkliche Weg zum Verständnis einer anderen Religion ist die aktuelle Teilnahme an ihrem Leben.“98 Diese theologische Grundhaltung zieht keinen Relativismus nach sich, der die Differenzen nivelliert. Vielmehr ist es Tillich ein Anliegen, das Eigene im Fremden zu entdecken und so „bis zu einem gewissen Grade existentielle Partizipation möglich zu machen“99. Es kommt in diesem verstehenden Lerngespräch, wie er es vor Augen hat, auf die Ermittlung der Vergleichspunkte an. Das bedeutet etwa für den Dialog zwischen Christentum und Buddhismus, dass dieser nur in dem Maße aussichtsreich sein kann, wie es auf christlicher Seite ein Verständnis für das „mystische Element“ innerhalb der eigenen Tradition gibt.100 Um beim christlich-buddhistischen Dialog als einem Beispiel für das interreligiöse Lerngespräch zu bleiben: In besagter Vorlesung veranschaulicht Tillich den Vergleich der beiden Traditionen anhand der beiden Symbole „Reich Gottes“ und „Nirvana“, wobei ihm zwei ontologische Prinzipien als Maßstab dienen, nämlich die „Partizipation“ und die „Identität“.101 Letztere geht nicht ganz einher mit der Fassung des
|| 96 GW XI 139. – Vom Standpunkt einer religiösen Indifferenz aus lässt sich kaum sinnvoll über die Religion sprechen, sondern nur aus ihr heraus. Das ist die existentielle Komponente in Tillichs Ansatz, die jeden Versuch, ihm eine agnostische oder synkretistische Position zu unterstellen, abwegig erscheinen lässt. 97 ST III 167. 98 ST III 168. 99 Ebd. 100 Ebd. 101 Vgl. B. Schmitz, Jenseits von Gott?, in: G. Hummel / D. Lax (Hrsg./eds.), Mystisches Erbe in Tillichs philosophischer Theologie / Mystical Heritage in Tillich’s Philosophical Theology. Beiträge des VIII. Internationalen Paul-Tillich-Symposiums Frankfurt a.M. 2000 / Proceedings of the VIII. International Paul-Tillich-Symposium Frankfurt a.M. 2000 (= Tillich-Studien, hrsg. von W. Schüßler u. E. Sturm, Bd. 3), Münster 2000, 478–488.
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bekannten ontologischen Elementes der Individualisation, sondern wird von Tillich im Sinne einer Identifizierung gebraucht. Terminologisch fasst er den Unterschied aus christlicher Perspektive so: „Man partizipiert als individuelles Wesen am Reich Gottes, aber man hat tiefste Identität mit allem Seienden im Seinsgrund selbst.“102 Daraus leitet Tillich zwei ontologisch fundierte Grundhaltungen ab, die der Mensch gegenüber der Natur einnehmen kann: Unterschiedslose Identifizierung oder ein partizipatives Verhältnis, das aber auch in die Mensch-Welt-Opposition umschlagen kann, wie Tillich dies vor allem „in der westlichen Welt“ verwirklicht sieht. Aus der Partizipation ist, wie er zivilisationskritisch anmerkt, im Zuge dieser Entwicklung ein nunmehr rein instrumentelles Verhältnis zur Natur geworden. Dagegen steht die buddhistische Tradition mit ihrem Sensus für eine „einfühlende Identifikation mit der Natur“103, die sich nach Tillich an den chinesischen, koreanischen oder japanischen Kunstwerken ablesen lässt. Auch das religiös begründete Verbot zur Tötung höherer Säugetiere im hinduistischen Kontext führt Tillich ontologisch auf dieses Prinzip zurück. Dabei will er die Kulturentwicklung Asiens keineswegs verklären, sieht er doch deutlich, dass sich auch dort die „herrschaftliche Haltung der Natur gegenüber“ auszubreiten begonnen hat – ein Trend, der sich bis ins 21. Jahrhundert hinein massiv fortgesetzt hat.104 Im günstigsten Fall kommt es zu einer Annäherung beider Haltungen, dergestalt, dass „das Prinzip der Partizipation solche Intensität erreichen [kann], daß es kaum vom Prinzip der Identität zu unterscheiden ist“. Im ungünstigsten Fall kommt es auf Seiten des Christentums zu einem Naturverhältnis, das in „absolutem Gegensatz zum buddhistischen Denken steht“, wie Tillich dies mit Blick auf die calvinistische Tradition konstatiert. Er selbst steht mit seiner partizipationstheoretischen Auslegung des Reich-Gottes-Symbols der systematischen Linie nahe, die sich mit dem Theologumenon des „eschatologischen Vorbehalts“ verbindet. Was die Religionen gemeinsam bezeugen können, fasst Tillich in der Frankfurter Rede so zusammen: „Es sind die heilenden Kräfte aus dem Unbegrenzten, Grenze-Setzenden, Gründenden und Führenden allen Seins, die Frieden möglich machen.“105 Das aber verlangt von jeder an diesem Dialog beteiligten Religion die || 102 GW V 84. 103 Eindrucksvoll ist das Beispiel des buddhistischen Steingartens, mit dessen Hilfe Tillich das Prinzip der Identität veranschaulicht. Vgl. GW V 85. „Die Erklärung, die man mir gab, daß diese sorgfältig angeordneten Steine zugleich hier und, kraft einer Art mystischer Allgegenwart, überall im Universum seien und daß ihrer Existenz jetzt und an diesem Ort keine besondere Bedeutung zukomme, war für mich ein hervorragendes Beispiel für das Prinzip der Identität.“ 104 Ebd. 105 GW XIII 428.
Hate Speech und die Grenzen der Kommunikation | 115
Erinnerung daran, dass die „heilenden Kräfte“ in einer solchen Religion wirksam sind, nicht aber exklusiv durch sie. Eine derartige Perspektive könnte nicht nur den interreligiösen Dialog befruchten, sondern auch ein Klima der Transkulturalität befördern. Dazu aber bedarf es im 21. Jahrhundert einer Kultur der Partizipation, die Tillich an anderer Stelle auch „schöpferisches Zuhören“ nennt.106 Seine diesbezüglichen Impulse könnten der digitalen Kommunikations- und Wissensgesellschaft des 21. Jahrhunderts ebenso zu denken geben wie der universitären Kultur seiner Zeit: In einer solchen Umgebung ist nichts so wichtig wie ein schöpferisches Hinhören des einen auf den anderen. Wir teilen uns gern anderen mit, aber wir bringen es schwer fertig, dem anderen zuzuhören. Unser gewöhnliches Zuhören ist eine Sache der Neugier, eine Angelegenheit von Klatsch oder Wissensbedürfnis – oder es ist nur ein Mittel, um zu einer schnellen Antwort zu kommen, um möglichst bald wieder selbst sprechen zu können.107
Derartige Haltungen und Kommunikationsstile „schaffen keine Gemeinschaft unter Menschen“. Erst das „schöpferische Zuhören“ ermöglicht wirkliche Partizipation: Schöpferisches Zuhören fängt an, wenn Schweigen zwischen zwei Menschen möglich wird – eine sehr schwierige Sache –, und wenn durch dieses Schweigen hindurch jemand ohne Worte zu uns spricht und wir so zuhören, daß eine wirkliche Gemeinschaft entsteht.108
|| 106 Vgl. GW XIII 471–477. 107 GW XIII 476. 108 Ebd.
Dirk-Martin Grube
Paul Tillichs Kairosbegriff und die Krise des westlichen Denkens Individualismus, (Menschen-)Rechte und Freiheit Abstract: This article reconstructs Tillich’s kairos as a change of perspectives, as a ‘crisis of thinking’: not only the particular historical events matter, but also the way they are (re-)conceptualized. Covid-19 is a crisis in this sense: it shows that our Western ways of thinking have led into a crisis. We overemphasize science at the cost of practical wisdom. The article shows how detrimental this emphasis was for the politics on Covid-19 in the Netherlands and how many lives could have been saved if we had applied more phronesis. Also, the Covid-19 crisis shows that we overemphasize and misinterpret notions that are crucial for our Western ways of thinking, namely individualism, (human) rights and freedom. “Darkness has fallen upon us. Our world has deteriorated significantly and the worst is still to come…”1 Mit diesen Worten wird der Sonderband des „Journal for Theology and the Study of Religion“ (vol. 74/2) über “Paul Tillich – a theology for the 21st century” eingeleitet. Dieser Band ist im Frühsommer 2020 zu Beginn der Corona-Krise erschienen und gibt die Erschütterung angesichts der nahenden Katastrophe wieder. Doch wird Tillich dabei gleichzeitig als Hoffnungsträger angeführt. Unter Verweis auf Begriffe wie „Mut zum Sein“ und „Gott über Gott“2 wird darauf verwiesen, dass Tillich Hoffnung im Angesicht der Hoffnungslosigkeit bietet. Vor allem wird auf Tillichs Kairos-Begriff verwiesen. Dieser wird als sinnhaltiger Geschichtsmoment verstanden, der einzigartige Möglichkeiten bietet. In dieser konkreten Situation gehört dazu die Möglichkeit, über unseren Lebensstil nachzudenken. Müssen wir weiterhin so viel um die ganze Welt reisen, dabei die Umwelt verschmutzen und Krankheitserreger ungebremst exportieren? Können wir Corona und die damit verbundenen Beschränkungen nicht auch als Chance begreifen? Als Chance dafür, ein weniger konsumorientiertes und dafür sinnerfüllteres Leben zu leben? Kann die spontan entstandene Solidarität von || 1 Dirk-Martin Grube, Introduction: Paul Tillich in the Age of Corona, in: NTT Journal for Theology and the Study of Religion 74/2 (2020) 95–103, 95. 2 S. dazu auch Werner Schüßler, Paul Tillich, Interpreter of Life. The Importance of his Philosophico-Theological Thinking for Today, in: Ebd., 105–121, 106 u.ö., sowie ders., „Gott über Gott.“ Ein Zentralbegriff Paul Tillichs, in: Ders., „Was uns unbedingt angeht.“ Studien zur Theologie und Philosophie Paul Tillichs, Münster 42014, 133–141. https://doi.org/10.1515/9783110984729-007
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Teilen der Gesellschaft, etwa im Umgang mit Älteren, in bleibende moralische Wertvorstellungen umgesetzt werden? Zeigt sich hier ein Kairos, ein einmaliger Moment in der Geschichte, der uns zur Selbstreflexion einlädt?3 Zwei Jahre später ist es nun an der Zeit, diese Fragen und Überlegungen einer kritischen Reflexion zu unterziehen. Die Situation hat sich verändert: Corona stellt jedenfalls für die meisten von uns keine unmittelbare Bedrohung mehr dar. Ob das dauerhaft ist oder spätestens im nächsten Herbst Corona und die damit verbundenen Einschränkungen wiederum das öffentliche Leben dominieren werden, bleibt noch abzuwarten. Doch ist die Zeit relativer Ruhe – was Corona betrifft – eine gute Gelegenheit, zu reflektieren und erneut die Frage zu stellen, inwieweit Corona ein Kairos ist. Dabei sei gleich vorweggenommen, dass der Kairos, von dem hier die Rede ist, in einem anderen Sinn als oben erhofft zu verstehen ist: Er ist kein Kairos der Chancen, sondern einer der Ernüchterung. Statt zur Umkehr, zu einer „metanoia“ zu führen, hat er deutlich gemacht, wie tief wir in der Krise stecken. Das „wir“ bezieht sich dabei auf die westliche Gesellschaft bzw. große Teile dieser Gesellschaft. Diese Krise zeigt sich nicht allein daran, dass viele Zeitgenossen andere Menschen bewusst oder unbewusst in (Lebens-)Gefahr gebracht haben, indem sie die Corona-Beschränkungen unterlaufen haben. Radikale Rücksichtslosigkeit gibt es wahrscheinlich überall. Doch was unsere westlichen Gesellschaften – im negativen Sinn des Wortes – „auszeichnet“, ist das Maß, in dem wir diese Rücksichtslosigkeit tolerieren. Im Gegensatz zu anderen, etwa asiatischen Gesellschaften, rechtfertigen wir diese Rücksichtslosigkeit teilweise noch als „moralisch geboten“ o.ä. Hier zeigt sich die Krise des westlichen Denkens am deutlichsten. Wir müssen uns fragen, ob unsere intellektuellen Ressourcen noch dafür geeignet sind, um mit derartigen Krisensituationen umgehen zu können. Diese Frage wird im Folgenden unter der Bezeichnung „Krise des westlichen Denkens“ auf den Begriff gebracht.
1 Tillichs Kairosbegriff Bevor wir auf diese Krise und die Frage eingehen, inwieweit Corona ein Kairos ist, der diese Krise deutlich macht, müssen wir zunächst der Frage nachgehen, was der Kairos-Begriff beinhaltet. Dazu gehe ich auf die Verwendung dieses Begriffs bei Paul Tillich ein, der sich besonders mit diesem Begriff auseinandergesetzt hat.
|| 3 Vgl. Grube, Introduction, 95f.
Paul Tillichs Kairosbegriff und die Krise des westlichen Denkens | 119
Schüßler/Sturm sehen diesen als Fortsetzung von Tillichs Philosophie der Krisis an. Kairos „steht für das Bewusstsein, in einer schicksals– und spannungsgeladenen ‚gegenwärtigen‘ Zeit zu stehen.“4 Dabei beziehen sich Schüßler/Sturm vor allem auf Tillichs ersten Kairos-Aufsatz von 1922.5 Hier wird eine „kairosbewußte Geschichtsphilosophie“ absoluten und relativen Geschichtsphilosophien gegenübergestellt. Letztere relativieren den Kairos, geben die Suche nach dem Sinn der Geschichte auf, weil sie den historischen Moment in den allgemeinen Geschichtsablauf einordnen. Zu ersteren, den absoluten Geschichtsphilosophien, zählen unter anderem die Geschichtsverständnisse von Karl Barth und Friedrich Gogarten. Tillich kritisiert an diesen, dass hier die Krisis als permanent angesehen wird. Dadurch verliert man aber Tillich zufolge die Neuschöpfung der Wirklichkeit, die positive Gestaltung, aus dem Auge und bleibt bei einer reinen Abstraktion stehen.6 Die kairosbewußte Geschichtsphilosophie ist demgegenüber absolut und relativ, da sie sich im Durchgang durch das Bedingte zum Unbedingten hinwendet.7 In seinem zweiten Kairos-Aufsatz von 1926 kontrastiert Tillich den Kairos mit dem Logos.8 Er unterscheidet hier zwischen zwei geistesgeschichtlichen Linien, einer Haupt- und einer Nebenlinie. Erstere ist „ihrem stärksten Antrieb nach methodisch“.9 Sie beruht auf Experimenten und ist angesichts ihres „überwältigende[n] Erfolg[s] […] die Wirklichkeit gestaltende Kraft in Technik und Gesellschaft“.10 Sie hat Ähnlichkeiten mit dem, was in Nachfolge von Charles Taylor als „disengaged reason“ oder „objective knowledge“ bezeichnet worden ist.11 Tillich verwendet in diesem Zusammenhang den Begriff Logos.12 Die Nebenlinie ist dagegen „nicht methodisch verbunden mit der Wissenschaft“,13 schafft „keine wissenschaftliche Methode“14 und ist „ihrem innersten
|| 4 Werner Schüßler / Erdmann Sturm, Paul Tillich: Leben – Werk – Wirkung, Darmstadt, 22015, 87. 5 Vgl. Paul Tillich, Kairos, in: Ders., Main Works / Hauptwerke, ed. by Carl Heinz Ratschow, Vol. 4: Writings in the Philosophy of Religion, ed. by John Clayton, Berlin / New York 1987, 53–72. 6 Vgl. ebd., 58f. 7 Vgl. ebd., 63. 8 Vgl. Paul Tillich, Kairos und Logos. Eine Untersuchung zur Metaphysik der Erkenntnis, in: Ders., Main Works / Hauptwerke (s. Anm. 5), Vol. 1: Philosophical Writings, ed. by Gunther Wenz, Berlin / New York 1989, 266–305. 9 Vgl. ebd., 269. 10 Ebd., 270. 11 Vgl. Jens Zimmermann, Hermeneutics. A very Short Introduction, Oxford / New York, 2015, 11f. 12 Tillich, Kairos und Logos (s. Anm. 8), 272. 13 Ebd., 270. 14 Ebd.
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Wesen nach Metaphysik“.15 Für unsere Fragestellung sind an dieser Linie nicht so sehr die erkenntnistheoretischen Implikationen relevant, weder im Sinn einer „engaged reason“ noch im erkenntnistheoretisch-metaphysischen Sinn.16 Stattdessen sind hier die, wenn man so will, metaphysisch-temporalen Dimensionen interessant: Während die Hauptlinie im „zeitlosen Logos“17 denkt, ist nach Tillich für die Nebenlinie „die Zeit allesentscheidend“:18 „[N]icht die leere Zeit, der reine Ablauf, auch nicht die bloße Dauer, sondern die qualitativ erfüllte Zeit, der Augenblick, der Schöpfung und Schicksal ist. Wir nennen diesen erfüllten Augenblick, diesen als Schicksal und Entscheidung entgegentretenden Zeitmoment Kairos.“19 Tillich verbindet den Kairos mit der protestantischen Grundhaltung: „Hier hat das Subjekt keine Möglichkeit zu einer absoluten Position. Es kann nicht heraus aus der Entscheidungssphäre. Es steht mit jeder Seite seines Wesens in dem Zwiespalt. Schicksal und Freiheit reichen in den Erkenntnisakt hinein und machen ihn zu einer geschichtlichen Tat: Der Kairos bestimmt den Logos.“20 Was Tillich hier „protestantische Grundhaltung“ nennt, wird im weiteren Verlauf seiner Argumentation dann als „Metaphysik der Erkenntnis“21 und als „religiöse Haltung“22 spezifiziert: „das Bewußtsein, dem Unbedingten gegenüber in der Sphäre des Zwiespalts und der Entscheidung zu stehen, und auch im Erkennen ihr nicht ausweichen zu können.“23 Diese religiöse Dimension wird mit einem „gläubigen Relativismus“ verbunden, einem „Relativismus, der den Relativis-
|| 15 Ebd. 16 Mit letzterem meine ich die Argumentationsfigur, bei der von der Kontingenz aller Erkenntnisprozesse auf ein der Kontingenz Enthobenenes, Unbedingtes, geschlossen wird. Charakteristisch dafür ist etwa folgende Argumentationsfigur aus dem genannten Aufsatz: „Was im Kontext der Erkenntnis steht, ist der Zweideutigkeit des Erkennens unterworfen. Also muß dieser Satz selbst dem Kontext der Erkenntnis enthoben sein. Er muß einer anderen Sphäre als der der Erkenntnis entspringen. Er muß Ausdruck für die Relation des Erkennens auf Unbedingtes, also Ausdruck einer zentralen metaphysischen Haltung sein.“ (Ebd., 294). Diese Argumentationsfigur habe ich im Rahmen meiner These, dass bei Tillich Transzendenz aus Transzendentalität gewonnen wird, ausführlich untersucht. S. dazu Dirk-Martin Grube, Unbegründbarkeit Gottes? Tillichs und Barths Erkenntnistheorien im Horizont der gegenwärtigen Philosophie, Marburg 1998, 28ff. 17 Tillich, Kairos und Logos (s. Anm. 8), 272. 18 Ebd. 19 Ebd. 20 Ebd., 275. 21 Ebd. 22 Ebd. 23 Ebd.
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mus überwindet“.24 Dieser hat die Funktion eines Wächters: Er beinhaltet nicht selbst das Unbedingte, sondern bewacht dessen Absolutheit: „Der absolute Standpunkt ist also nie ein Standpunkt, auf dem man stehen kann, er ist vielmehr der Wächter, der das Unbedingte schützt, der eine Verletzung der Unbedingtheit durch einen bedingten Standpunkt abwehrt.“25 Mit diesen Formulierungen ist Tillichs späteres „protestantisches Prinzip“26 vorgebildet. Schüßler/Sturm sehen in diesem zweiten Kairos-Aufsatz eine „Wende in Tillichs religiös-sozialistischem Denken“.27 Kairos bedeutet nun das Hereinbrechen „der Ewigkeit in die Zeit“.28 Ersteres kann nie in die Zeit eingehen; es liegt jenseits der Zeit, wie Tillich in utopiekritischer Weise betont.29 Doch seine „Jenseitigkeit“ beinhaltet keine Handlungsirrelevanz, sondern eröffnet die Möglichkeit, die gegenwärtige Zeit adäquat zu deuten: „Religiöser Sozialismus bedeutet Zeitdeutung aus dem Geiste des Kairos.“30
2 Kairos als Perspektivenwechsel Der Kairosbegriff, der im Folgenden verwendet wird, schließt an Tillichs Begriffsverwendung an. „Kairos“ steht hier für einen Moment in der Geschichte, der dem „normalen“ Ablauf der Geschichte enthoben ist. Er unterscheidet sich von letzterer dadurch, dass er in die Geschichte „einbricht“, ihren gewohnten Ablauf unterbricht. Er fordert zu einer Reflexion über diese auf, dazu, ein „neues Kapitel im Buch der Geschichte“ aufzuschlagen. So jedenfalls übersetze ich Tillichs Formulierung, dass ein Kairos „ein schicksalhaftes und eine Entscheidung abverlangendes Ereignis“ in der Geschichte darstellt. Der paradigmatische Kairos ist aus christlicher Perspektive natürlich der Moment, in dem die historische Person Jesus aus Nazareth als Christus bezeugt wird. Aus säkularer Perspektive kann man zum Beispiel an den Fall der Berliner Mauer
|| 24 Ebd., 294. 25 Ebd., 294. 26 Vgl. dazu etwa Werner Schüßler, Protestantisches Prinzip versus natürliche Theologie? Zu Paul Tillichs Problemen mit einer natürlichen Theologie, in: Ders., „Was uns unbedingt angeht“ (s. Anm. 2), 161–173 und ders. / Sturm, Paul Tillich (s. Anm. 4), 128–150, bes. 135ff. 27 Schüßler / Sturm, Paul Tillich (s. Anm. 4), 102. 28 Ebd. 29 Vgl. ebd., 102. 30 Ebd.
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denken oder an den russischen Angriff auf die Ukraine. In diesem Sinn werde ich im Folgenden auch die Corona-Krise interpretieren. Worin besteht die Relevanz des so verstandenen Kairosbegriffs? Sie besteht nicht allein in der unmittelbaren historischen Relevanz, die mit diesem Moment in der Geschichte gegeben ist. So war die Bezeugung eines Nazareners als Christus im Palästina des frühen 1. Jahrhunderts, an der Peripherie des römischen Reiches, keineswegs weltbewegend. Und der Fall der Mauer hatte als solches zunächst auch nur zur Folge, dass einige hundert Ostdeutsche, die sich in Ungarn befanden, in den Westen ausreisen konnten. Auch die unmittelbaren Auswirkungen des Mauerfalls waren also begrenzt. Die Bedeutung des Kairos erschöpft sich denn auch nicht in seiner unmittelbaren historischen Wirkung, sondern ist in dem zu sehen, wozu er mittelbar anleitet. „Erfüllt“ im oben genannten Sinn des Wortes wird der Kairosmoment erst, wenn er zu einer Erschütterung und Umwälzung des Denkens führt. In diesem Sinn versteht Tillich den Kairosbegriff, wenn er ihn als religiös-sozialistische Deutungskategorie der Zeit auffasst (s. oben, Abschnitt 1). Die Bedeutung des Kairos liegt darin, dass er dazu anleitet, zentrale Aspekte der Wirklichkeit aus einer neuen Leitperspektive heraus zu beleuchten.31 Nicht der bestimmte geschichtliche Moment, sondern erst diese neue Leitperspektive entfaltet großflächige geschichtliche Folgewirkungen. Nicht schon die Bezeugung von Jesus als Messias, sondern erst die damit verbundene Vorstellung, dass die Endzeit angebrochen und deshalb die Wirklichkeit aus einer neuen Perspektive heraus zu erschließen ist, hat großflächige Folgewirkungen. Sie führt zur Bildung einer neuen Religion, dem Christentum. Ähnliches gilt für den Fall der Mauer: Ihre epochale geschichtliche Bedeutung liegt nicht darin, dass einige hundert Ostdeutsche dadurch nach Westdeutschland einreisen konnten. Stattdessen liegt ihre Bedeutung darin, dass sie zur Veränderung einer Leitperspektive zur Interpretation der Wirklichkeit geführt hat: Das Denken im Ost/West-Gegensatz, das beinahe 50 Jahre sowohl im Westen wie im Osten leitend war, wurde dadurch relativiert. Dabei wurden zentrale politische, kulturelle, ökonomische und ähnliche Denkkategorien entweder verändert oder ersetzt. Anderenorts habe ich in ähnlichem Zusammenhang den Begriff des Paradigmenwechsels in Thomas Kuhns Sinn des Wortes rekonstruiert.32 Dabei zeigt sich,
|| 31 Dabei ist zu beachten, dass es um zentrale Aspekte der Wirklichkeit geht, denn nicht jeder Perspektivenwechsel ist schließlich ein Kairos. 32 Vgl. Thomas S. Kuhn, The Structure of Scientific Revolutions, Chicago 21970 (enl. ed.). Zum Folgenden s. Dirk-Martin Grube, Ostern als Paradigmenwechsel. Eine wissenschaftstheoretische
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dass bestimmte geschichtliche Ereignisse die Funktion eines Auslösers haben, der zur Erschütterung und Umwälzung des Denkens führt und im Rahmen eines Paradigmenwechsels bearbeitet wird. So war zum Beispiel die Entdeckung der Röntgenstrahlen eine Anomalie, die dann im 20. Jahrhundert im Rahmen einer tiefgehenden Revision der Theorien darüber, wie Licht gemessen wird und was es eigentlich ist, bearbeitet wird. In ähnlicher Weise waren die Erscheinungen des gekreuzigten Jesus eine Anomalie: Tote erscheinen normalerweise nicht. Diese Anomalie wird im Rahmen eines Paradigmenwechsels bearbeitet, durch den zentrale Aspekte der religiösen Wirklichkeit auf neue Weise erschlossen werden: Dass ein Getöteter erscheint, wird als Vindikation des irdischen Lebens Jesu durch Gott gesehen und als Auferstehung gedeutet, wodurch der Messiasbegriff umgedeutet und die einschlägigen Legitimationsressourcen, der Tanakh, auf andere Weise gelesen werden. So entsteht eine neue Leitperspektive zur Deutung zentraler Aspekte der religiösen Wirklichkeit, ein neues religiöses Paradigma, eben das Christentum. Kurzum, die Anomalie und ihre Bearbeitung im Rahmen einer neuen Leitperspektive sind zusammen zu sehen. Der bestimmte geschichtliche Moment, die Entdeckung der Röntgenstrahlen oder die Erscheinungen des getöteten Nazareners, sind im Zusammenhang mit der Erschütterung und Umwälzung des Denkens, dessen Grundlage sie formen, zu interpretieren. Erst dann wird ihre Bedeutung als Kairos, als „offenbarungsgetränkter Geschichtsmoment“ deutlich. In diesem Zusammenhang sei noch auf einen Punkt hingewiesen, der implizit schon angedeutet wurde, der aber explizit noch einmal genannt werden sollte, weil er für die folgende Bearbeitung des Corona-Problems zentrale Bedeutung hat: Ein Kairos führt oftmals zu einer Krise des Denkens. Die Entdeckung der Röntgenstrahlen passte nicht in das seinerzeitige physikalische Theoriegefüge und führte zu einer Krise. Dass ein Getöteter erscheint, passte ebensowenig in das seinerzeitige Denksystem – weder in das jüdische noch das griechische Denken. Dass in Europa ein derart brutaler und rücksichtsloser Angriffskrieg geführt wird, wie es in der Ukraine der Fall ist, passt nicht in das vorherrschende (europäisch)westliche Weltbild. Alle diese Ereignisse führten bzw. führen zu einschneidenden Erschütterungen und Umwälzungen der jeweils relevanten Aspekte des Denkens: zu einem neuen physikalischen Paradigma, zu einer neuen Religion und (wahrscheinlich) dazu, dass die europäische Naivität in weltpolitischer Hinsicht abgelegt wird.
|| Untersuchung zur Entstehung des Christentums und deren Konsequenzen für die Christologie, Neukirchen 2012, 39–56.
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Wichtig ist dabei noch, dass diese Krise auch als Krise ernst genommen wird. Es darf nicht „darüber hinweggegangen“ und einfach zum (denkerischen) Alltag zurückgekehrt werden. Nur dann kann der Kairos die entsprechenden großflächigen Folgewirkungen haben, zu etwas wirklich Neuem führen. Anomalien dürfen also nicht einfach „wegintepretiert“, sondern müssen als wirkliche Erschütterung und Umwälzung festgehalten werden. So musste Röntgens Entdeckung als Anomalie ernst genommen werden, als Krise der „paradigm-induced expectations that govern normal science“33. Ebenso mussten die Erscheinungen des getöteten Nazareners als Anomalie ernst genommen werden (s. dazu paradigmatisch die Emmaus-Geschichte, Lk 24,13–35). Sie durften nicht einfach übergangen werden, etwa als wunderhafte Erscheinungen eines Totengeistes. Nur indem die Krise „durchlebt“ wird, als Krise des Denkens ernst genommen wird, kann ein Kairos als wirklicher Einbruch in die Geschichte wirksam werden.
3 Die Krise des westlichen Denkens I: Weisheit statt Wissenschaft Im Folgenden werde ich das Corona-Problem in genau dem Sinn ausarbeiten, der oben skizziert worden ist: als Kairos, dessen Bedeutung sich nicht nur durch das historische Ereignis selbst erschließt, sondern das im Zusammenhang mit seiner theoretischen Konzeptionalisierung gesehen werden muss, wenn seine geschichtliche Offenbarungsrelevanz adäquat gewürdigt werden soll. Diese Konzeptionalisierung wird als Erschütterung und Umwandlung des Denkens, genauer gesagt als Krise des westlichen Denkens, auf den Begriff gebracht. Ob diese Krise zu einem Paradigmenwechsel führt, kann noch nicht beurteilt werden. Dafür sind die Ereignisse noch nicht weit genug fortgeschritten. Auf jeden Fall ist das Corona-Problem aber als Krisenindikator ernst zu nehmen. Wir müssen uns mit der Möglichkeit auseinandersetzen, dass Grundpfeiler unseres westlichen Denkens außerstande sind, um mit derartigen Katastrophen umgehen zu können. Möglicherweise stehen diese Pfeiler einem sinnvollen Umgang mit derartigen Katastrophen geradezu im Weg, so dass wir die Frage stellen müssen, ob wir in großflächiger Weise umdenken müssen. Der erste Aspekt, den ich in diesem Zusammenhang nennen möchte, schließt an das an, was Tillich als methodischen Unterpunkt des Logos zusammenfasst,
|| 33 Kuhn, The Structure of Scientific Revolutions (s. Anm. 32), 52f.
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als „Ebene der technischen Genauigkeit, Gewissenhaftigkeit oder dergleichen“.34 Ich meine damit den Glauben an die Leistungskraft der Wissenschaft, der in Teilen des westlichen Denkens vorherrscht und den Umgang mit Corona bestimmt. Dabei müssen wir zunächst den Begriff „Glauben an die Leistungskraft der Wissenschaft“ genauer erfassen, bevor wir zu seiner Kritik fortschreiten. Die Wissenschaft wird ja aus verschiedenen Blickwinkeln kritisiert, und ich möchte meine Kritik nicht missverstanden wissen. Mit diesem Begriff meine ich eine Auffassung von Wissenschaftlichkeit, die behauptet, dass wichtige Probleme der Menschheit wie Corona durch ein strikt wissenschaftliches Vorgehen gelöst werden können – oder, dass ein derartiges Vorgehen zumindest die besten Chancen bietet, um konstruktive Lösungen zu finden. Es geht mir hier also nicht um eine Fundamentalkritik an den Wissenschaften, schon gar nicht darum, diese im Sinne eines Komplottdenkens zu relativieren. Stattdessen geht es hier darum, ein zu optimistisches Verständnis der Einsatzmöglichkeiten der Wissenschaften kritisch zu hinterfragen. Der Glaube an die Leistungskraft der Wissenschaft bestimmt zumindest in Teilen der westlichen Welt die Corona-Politik. Das kann exemplarisch an der Corona-Politik der Niederlande gezeigt werden. Dort berufen sich die politisch Verantwortlichen, etwa der Ministerpräsident Mark Rutte, wie auch die Beratungsorgane der Politik, etwa das Rijksinstituut voor Volksgezondheid en Milieu – das funktional dem deutschen Robert-Koch-Institut entspricht –, an entscheidenden Punkten auf den Begriff der Wissenschaftlichkeit. Dieser hat zentrale Funktionen bei der Legitimation der Corona-Politik, vor allem bei der Rechtfertigung beschränkender Maßregeln. Der Grundgedanke dabei ist, dass ein streng wissenschaftliches Vorgehen einen rationalen und verantwortungsbewussten Umgang mit Corona ermöglicht. Unter „Wissenschaftlichkeit“ wird dabei ein Zweifaches verstanden: Zum einen werden darunter naturwissenschaftliche Erkenntnisse subsumiert, also biologische, physikalische, chemische und ähnliche Einsichten. Hier geht es etwa um Fragen wie die nach der Effektivität (verschiedener Arten) des Mund-NasenSchutzes, der verschiedenen Corona-Impfungen, deren Nebenwirkungen usw. Zum anderen werden darunter soziologische Einsichten verstanden, die mit dem (erwarteten) Verhalten von Menschen zu tun haben. Dabei spielen modelltheoretische Szenarien eine wichtige Rolle, also etwa die Frage, wie sich bestimmte Corona-Maßregeln auf das menschliche Verhalten auswirken. Ein Beispiel ist die Frage, ob das Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes dazu führt, die 1½-Meter-
|| 34 Tillich, Kairos und Logos (s. Anm. 8), 280 (im Gegensatz zum unmittelbaren Entscheidungscharakter der Erkenntnis).
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Abstandsregel weniger ernst zu nehmen. Der natur- und der sozialwissenschaftliche Aspekt bestimmen den Wissenschaftsbegriff auf fundamentale Weise in den Niederlanden – jedenfalls seine Verwendung in der Diskussion um das CoronaProblem. Inzwischen ist die Aufarbeitung des politischen Umgangs mit Corona angelaufen. Eine wichtige Studie ist hier die von der Regierung in Auftrag gegebene Studie des Onderzoeksraad voor Veiligheid. Diese Studie konstatiert, dass sich eine Tendenz entwickelt hat, um die Corona-Politik vor allem auf quantitative Daten zu basieren. Dazu gehören die Reproduktions- und die Ansteckungszahlen sowie die der Krankenhaus- und IC-Aufnahme.35 Angesichts der Unsicherheit und Handlungsverlegenheit, die im Fall von Corona vorgeherrscht hat, haben sich die politischen Entscheidungsträger und deren Beratungsorgane auf quantitative, „wissenschaftlich abgesicherte“ Daten zurückgezogen. Im Anschluss an diese Studie frage ich, ob es tatsächlich nur die Unsicherheit war, die zu dieser einseitigen Betonung quantitativer Daten geführt oder ob dabei nicht auch eine Tendenz zum Szientismus eine Rolle gespielt hat36 – die Wissenschaftsideologie, nach der alle wichtigen Fragen der Menschheit mit Hilfe wissenschaftlicher Vorgehensweisen gelöst werden können. Dafür, dass der Szientismus eine wichtige Rolle spielt, sprechen auch andere gesellschaftliche Entwicklungen, etwa die Steuerung der niederländischen Wissenschaftspolitik. Nun ist hier nicht der Ort, um die Diskussion über die geisteswissenschaftliche Situation in den Niederlanden fortzusetzen. Festzuhalten ist jedenfalls, dass der Begriff der Wissenschaftlichkeit eine zentrale Rolle spielt bei der Legitimation der Corona-Politik in den Niederlanden. Diese Betonung von Wissenschaftlichkeit ist meines Erachtens eine der Ursachen dafür, dass die niederländische Corona-Politik in mancherlei Hinsicht sehr problematisch (gewesen) ist. Konkret zeige ich das am „Sonderweg“, den die Niederlande gegangen sind mit der Einführung einer allgemeinen Pflicht zum Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes. Diese ist in öffentlichen Räumen erst am 1. Dezember 2020 eingeführt worden, also beinahe ein halbes Jahr später als in den meisten anderen europäischen Ländern. Der Grund, warum die Niederlande anders als andere Länder diesen wichtigen Baustein zur Corona-Eindämmung so lange vernachlässigt haben, ist eben die starke Betonung von Wissenschaftlichkeit. Zwei Argumente haben eine wich-
|| 35 Vgl. Aanpak Coronacrisis – Deel 1: tot september 2020 des Onderzoeksraad voor Veiligheid, 9 u.ö.: https://www.onderzoeksraad.nl/nl/page/16666/aanpak-coronacrisis-–-deel-1-tot-september2020. 36 Vgl. Dirk-Martin Grube, Corona en Praktische Wijsheid. Een Ethische Analyse van het Nederlandse Beleid Maken in Crisissituaties, Amsterdam University Press (im Druck).
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tige Rolle dabei gespielt, die Pflicht zum Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes zunächst nicht einzuführen. Das erste beruht auf naturwissenschaftlichen Annahmen und besagt, dass die Effektivität des Mund-Nasen-Schutzes wissenschaftlich nicht bewiesen ist. Dieses Argument hat sehr lange die politische Diskussion beherrscht und die Einführung besagter Pflicht verzögert. Zum anderen hat das besagte sozialwissenschaftliche Argument eine wichtige Rolle gespielt, dass das Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes dazu führen kann, die Corona-Maßregeln zu vernachlässigen – Menschen, die einen solchen Schutz tragen, überschätzen dessen Wirkung und halten deshalb weniger Abstand voneinander. Die Pflicht zum Tragen eines solchen Schutzes ist erst eingeführt worden, nachdem Experimente gezeigt haben, dass dieses Argument unzutreffend ist – Menschen mit einem Mund-Nasen-Schutz halten faktisch nicht weniger Abstand zueinander. Im Gegenteil: Das Bewusstsein der Corona-Gefahr bleibt dadurch wacher.37 Kurzum, die Betonung von Wissenschaftlichkeit hat die Einführung einer notwendigen Maßregel unnötig aufgehalten. Die genannten sozial- und naturwissenschaftlichen Argumente haben die politische Entscheidungsfindung bezüglich Corona in den Niederlanden sehr erschwert. Dadurch ist wertvolle Zeit verloren gegangen – Zeit, in der menschliches Leben und menschliche Gesundheit sinnloserweise aufgeopfert worden ist.38 Wissenschaftlichkeit – in dieser Weise verstanden – kann in Krisensituationen wie Corona also dazu führen, die falschen politischen Entscheidungen zu treffen. Nun ist ein derartiger Wissenschaftsbegriff in der deutschsprachigen Tradition weniger relevant. Dieser wird bei der politischen Entscheidungsfindung bezüglich Corona in Deutschland weniger verwendet. Zudem ist es in dieser Tradition üblich (gewesen?), den Geisteswissenschaften eine eigene Rationalität zuzuerkennen – die etwa als Verstehen oder ideographische Form der Wissensaneignung vom Erkennen oder nomothetischen Wissen abgegrenzt wird. In dieser Traditionslinie erscheint ein Begriff von Wissenschaftlichkeit, der diesen auf die oben genannten natur- und sozialwissenschaftlichen Aspekte reduziert, kaum plausibel. Der Grund, warum ich hier trotzdem so ausführlich auf diesen Wissenschaftsbegriff eingehe, ist, dass dieser in anderen Teilen des westlichen Denkens
|| 37 Vgl. etwa Vina Wijkhuis / Menno van Duin, Lessen uit de coronacrisis: het jaar 2020, Den Haag 2021, 208. 38 Dass die Pflicht zum Tragen des Mund-Nasen-Schutzes in den Niederlanden zu spät eingeführt worden ist, ist großenteils anerkannt, auch durch die politischen Entscheidungsträger, wie etwa den Ministerpräsidenten. Allerdings führen sie diese Verspätung darauf zurück, dass das Wissen seinerzeit begrenzt war – also nicht auf eine Überbetonung von Wissenschaftlichkeit.
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eine größere Relevanz besitzt als in der deutschen Tradition. Die Niederlande sind meines Erachtens nur ein Beispiel dafür, welche Bedeutung dieser Begriff von Wissenschaftlichkeit besitzt. Vor allem scheint sich dieser Begriff und der Glaube an seine Leistungskraft auszubreiten. Wenn ich es richtig sehe, verbreitet sich dieser Begriff von Wissenschaftlichkeit im westlichen Denken zusehends. Doch ist Wissenschaftlichkeit in diesem Sinn des Wortes in mancherlei Hinsicht außerstande, mit Krisissituationen konstruktiv umzugehen. Der Grund ist, dass in diesen Situationen zumeist eine kognitive Unsicherheit vorherrscht: Wir wussten (und wissen noch immer) viele Dinge über Corona nicht. In Situationen, in denen kognitive Unsicherheit vorherrscht, kann dieser Wissenschaftsbegriff fatale Folgen haben: Zu warten, bis wir hinreichende wissenschaftliche Sicherheit haben, kann tödliche Folgen haben – wie am Beispiel der Verzögerung der Einführung der Pflicht zum Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes oben gezeigt worden ist. Und sozialwissenschaftliche Modellierungen menschlichen Verhaltens übersehen die Möglichkeit, dass dieses Verhalten beeinflusst werden kann. Wir müssen also bei zukünftigen Krisensituationen unser politisches Handeln weniger durch diesen Wissenschaftsbegriff leiten lassen. Stattdessen müssen wir Prinzipien entwickeln, die verantwortungsbewusstes Entscheiden unter Unsicherheit ermöglichen. Dazu schlage ich den Begriff der praktischen Weisheit, phronesis, vor. Statt sich nur auf „harte Zahlen“ zu verlassen, fragt Phronesis danach, was die „stakes“ sind, was auf dem Spiel steht. Im Fall von kognitiver Unsicherheit ist besonders die Frage wichtig, was die Folgen sind, wenn wir uns irren sollten. Das kann am Beispiel der Maskenpflicht verdeutlicht werden. Nehmen wir eine Situation, wie sie 2020 vorgeherrscht hat, als noch nicht hinreichend bewiesen war, wie wirksam dieser Schutz ist. Es steht viel auf dem Spiel, wenn wir irrigerweise keinen Mund-Nasen-Schutz fordern. Dann opfern wir menschliches Leben und menschliche Gesundheit unnötigerweise und belasten unsere Krankenhäuser, unser Sozialsystem und zusätzlich auch die Wirtschaft usw. Im Vergleich dazu steht relativ wenig auf dem Spiel, wenn wir diesen Schutz verpflichtend fordern und uns dabei irren. Dann haben wir zwar unnötig Geld ausgegeben und uns mit einer unangenehmen Maske vor dem Gesicht abgequält, etc. Doch sind diese Konsequenzen im Vergleich zu den gravierenden Konsequenzen, die im ersten Fall genannt worden sind, weit weniger relevant. Kurzum, die „stakes“, das, was auf dem Spiel steht, wenn wir uns irren sollten, sind im Fall der Maskenpflicht sehr unterschiedlich. Diese Unterschiede müssen bei der politischen Entscheidungsfindung mitberücksichtigt werden. Im Zweifelsfall müssen wir so entscheiden, dass die Konsequenzen unseres Handelns weniger gravierende negative Folgen haben, weniger Menschenleben kosten, weniger gesundheitliche Schäden verursachen usw.
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Ein solcher Vergleich der „stakes“ ermöglicht es, auch unter Bedingungen kognitiver Unsicherheit auf verantwortungsbewusste Weise politische Entscheidungen zu fällen. Wäre Phronesis in diesem Sinn angewendet worden, hätte die Maskenpflicht in den Niederlanden viel eher eingeführt werden müssen. Selbst in der Zeit, in der es noch nicht sicher erwiesen war, dass der Schutz durch Masken effektiv ist, bestanden zwar vielleicht keine wissenschaftlichen, aber doch hinreichend andere, weisheitliche Gründe, diese Pflicht einzuführen. Zudem hat die Einsicht, dass die „stakes“ ganz unterschiedlich verteilt sind, Konsequenzen für die Verteilung der Beweislast: Wenn die „stakes“ derartig unterschiedlich sind wie im Beispiel der Maskenpflicht, erhöht sich die Beweislast für denjenigen, der sich gegen eine Pflicht zum Tragen dieses Schutzes ausspricht. Er muss glaubwürdig machen, dass die Evidenz dafür, dass dieser Schutz ineffektiv ist, durchschlaggebend ist.39 Kann er das nicht, kann er keine hinreichende Evidenz für seine Position geltend machen, tritt automatisch die Gegenposition in Kraft, in diesem Fall also die Verpflichtung zum Tragen des MundNasen-Schutzes.
4 Die Krise des westlichen Denkens II: Beispiele In diesem Abschnitt komme ich auf ein Problem zu sprechen, das meines Erachtens deutlich die tiefe Krise anzeigt, in die unser westliches Denken geraten ist: Einige (Gruppen von) MitbürgerInnen setzen durch ihr Verhalten das Leben und die Gesundheit anderer Menschen mutwillig aufs Spiel, indem sie die CoronaMaßregeln missachten. Die eigentliche Krise besteht nicht nur in diesem unverantwortlichen Verhalten selbst, sondern darin, dass dieses in Teilen unserer Gesellschaften akzeptiert und zum Teil sogar honoriert wird. Darum müssen wir dringend die Frage stellen, ob unsere intellektuellen Ressourcen geeignet sind, um mit derartigen Notsituationen verantwortungsbewusst umgehen zu können. Dabei möchte ich nochmals daran erinnern, dass der Kairos im Zusammenhang mit seiner Konzeptionalisierung zu sehen ist. Es geht nicht nur um das geschichtliche Ereignis selbst, sondern auch die Weise, in der es denkerisch verarbeitet wird. Natürlich ist Corona als Ereignis schrecklich: Mit weltweit mehr als 15 Millionen Toten, ungezählten Long-Covid-Fällen, also zum Teil langwierigen || 39 Dass die Anforderungen an die Evidenz abhängig sind von der jeweiligen Situation, wird in der Erkenntnistheorie unter dem Begriff „pragmatic encroachment“ verhandelt. Vgl. dazu exemplarisch Jeremy Fantl / Matthew McGrath, Pragmatic Encroachment: It’s Not just about Knowledge, in: Episteme 9/1 (2012) 27–42.
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oder gar unheilbaren Folgeschäden, ist es eine der großen Tragödien der Menschheit. Doch nicht nur dieses Ereignis ist schrecklich, sondern auch die Weise, wie im westlichen Denken damit umgegangen wird: wie leichtfertig wir menschliches Leben – vor allem das anderer Menschen – aufs Spiel setzen, um unserer Ideologie und Genusssucht frönen zu können. Statt uns kritisch zu hinterfragen, ob die vielen Opfer, die unser Verhalten gefordert hat, nicht vermeidbar gewesen wären, klopfen wir uns hinterher auf die Schulter und gratulieren uns zu unserem Umgang mit Corona. Voller Selbstgerechtigkeit loben wir uns selbst für die „Freiheit“, die bei uns herrscht. Doch dabei übersehen wir, dass diese „Freiheit“ mit dem Leben und der Gesundheit anderer bezahlt wird. Es ist also dringend geboten, angesichts der Corona-Krise eine selbstkritische Reflexion über unsere Denkweisen vorzunehmen. Bevor ich diese Aufgabe in Angriff nehme, nenne ich collagenartig einige Ereignisse, die für mich die Krise unseres Denkens charakterisieren. Diese Ereignisse stammen großenteils aus dem niederländischen Lebensraum. Dieser kann meines Erachtens als exemplarisch gelten für das westliche Denken. Zwar ist er in einigen Hinsichten etwas anders als der deutschsprachige Lebensraum. So betont er etwa den Individualismus noch stärker gegenüber einem Denken in Gemeinschaftsbegriffen. Doch im Großen und Ganzen ist er ein gutes Beispiel für das westliche Denken. Ein Ereignis, das die Krise unseres Denkens zeigt, ist das Beispiel einer Mitarbeiterin in einem Hospiz, einer niederländischen Sterbeklinik: Während Corona seinen Siegeszug feiert und ältere Menschen in Altenheimen und anderen Einrichtungen in einem Tempo sterben, dass der offizielle Bericht des Onderzoeksraad voor Veiligheid im Nachhinein von einer „stillen Katastrophe“40 spricht, beobachtet diese Mitarbeiterin folgende Situation: Ein älterer Mann wird im Hospiz von seiner Tochter besucht. Angesichts der extrem hohen Todeszahlen sind zu dem Zeitpunkt körperliche Kontakte zwischen Besuchern und Patienten streng verboten und ein Besuch wird nur im Ausnahmefall, und dann auch nur mit Mund-Nasen-Schutz, zugestanden. Während die Tochter eintritt, herrscht der Vater sie an, den Mund-Nasen-Schutz abzunehmen. Danach umarmt und küsst er sie. Als er gewahr wird, dass die Mitarbeiterin diese Szene beobachtet, kommentiert er nur lässig: „So machen wir das eben bei uns!“ Mir geht es nicht so sehr darum, das unverantwortliche Verhalten des Vaters und der Tochter (einer Lehrerin!) anzuprangern. Natürlich ist es sehr bedauerlich, wenn jemand keine moralischen Skrupel hat, andere mit in den Tod zu reißen – oder jedenfalls die Wahrscheinlichkeit, dass das passiert, signifikant zu || 40 Vgl. Aanpak Coronacrisis (s. Anm. 35), 187ff.
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vergrößern. Doch in jeder Gesellschaft gibt es Menschen, die sich für das Schicksal von anderen nicht interessieren. Mein Hauptpunkt ist darum nicht, das Verhalten des Mannes zu kritisieren, sondern die Weise, wie zumindest in Teilen unserer Gesellschaft mit einem derartig verantwortungslosen Verhalten umgegangen wird: Besagte Mitarbeiterin des Hospizes war eine Studentin, und sie stellte diese Situation in der Klasse als „moralisches Dilemma“ dar. Sie war sich unsicher, ob sie diesen Vorfall der Leitung des Hospizes melden oder darüber schweigen sollte. Mit ihr empfanden eine ganze Reihe weiterer StudentInnen diese Situation als „Dilemma“. In dieser verfehlten Konzeptionalisierung des Problems zeigt sich die Krise unseres Denkens: Eine bewusste Übertretung der Vorsichtsmaßnahmen, durch die das Leben und die Gesundheit anderer Menschen gefährdet werden, kann in moralischer Hinsicht kaum als ein Dilemma aufgefasst werden. Natürlich kann in praktischer Hinsicht eine Handlungsunsicherheit auftreten: Wird dieser Mann aus dem Hospiz entlassen, wenn sein Fehlverhalten offenkundig wird? Was passiert dann mit ihm? Doch (verständliches) Mitleid mit einem Todgeweihten ist etwas anderes als ein moralisches Dilemma. Bei jemandem, der kaltblütig den Tod von anderen in Kauf nimmt, ist die Rede von einem Dilemma ein zynisches „framing“ des Problems. Ein anderes Ereignis, das die Krise unseres Denkens anzeigt, waren die Demonstrationen mitten in der Pandemie. In den Niederlanden, aber auch Teilen (Ost-)Deutschlands, wurde regelmäßig die Erlaubnis erteilt, Demonstrationen abzuhalten. Zum Teil waren diese Demonstrationen gegen die Corona-Maßnahmen gerichtet. Es war also vorauszusehen, dass hier die erforderlichen Maßnahmen nicht eingehalten würden. Das hielt Verwaltungsrichter und andere nicht davon ab, derartige „Corona-Partys“ zu erlauben. Abgesehen davon, dass bei der Durchsetzung politischer Ideen mit Hilfe von Gerichten die demokratischen Legitimationspraktiken ausgehebelt werden – eine Tendenz, die ich besonders in Deutschland beobachte –, sind hier auch aus ethischer Sicht schwerwiegende Bedenken anzumelden: Wird das Recht auf Versammlungs- und Meinungsfreiheit höher gewertet als das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit? Haben wir uns im Westen derart „verbissen“ in ein Denken in Rechtsbegriffen, dass wir blind geworden sind für das menschliche Leid, das dadurch verursacht wird? Ein anderes Beispiel ist der Umgang mit der abendlichen Sperrstunde: Angesichts der extrem hohen Ansteckungszahlen musste in den Niederlanden eine solche Sperrstunde eingeführt werden. Doch die Strafen für die Übertretung dieser Sperrstunde bewegten sich auf dem Niveau von Parkverstößen. Flankiert von einem ganzen Heer von Psychologen, die nicht müde wurden, zu betonen, wie
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schädlich es für Jüngere ist, wenn sie eine Zeit lang abends nicht ausgehen können, wurde die Gefährdung von Menschenleben so auf das Niveau von Falschparken reduziert. Nochmals: Mein Punkt ist nicht so sehr, dass einige Jüngere (und auch Ältere) die Regeln übertreten, sondern es geht mir um den gesellschaftlichen Umgang damit: Wie kommen wir dazu, mit der Gefährdung von Menschenleben genauso wie mit „Parksünden“ umzugehen? Wenn versuchter Totschlag – oder jedenfalls die Inkaufnahme, dass andere durch unser Verhalten getötet oder verletzt werden – in unseren Gesellschaften wie Falschparken angesehen wird, dann müssen wir unsere moralische Wahrnehmung auf den Prüfstand stellen: Warum ist bei uns die Möglichkeit, Partys zu feiern, genauso wichtig – oder gar wichtiger – wie Leben zu schützen? Warum denken wir, unter allen Umständen zu unserem althergebrachten Lebensstil zurückkehren zu dürfen, auch wenn dieser rücksichtslos gegenüber anderen ist? Warum meinen einige MitbürgerInnen, gar ein Recht auf diese Rücksichtslosigkeit zu haben? Welche Aspekte unseres Denkens legitimieren dies? Kurzum, die Frage ist, welche Faktoren unser Denken in die Krise führen.
5 Die Krise des westlichen Denkens III: Individualismus, (Menschen-)Rechte und Freiheit Bei der Beantwortung der Frage, was das westliche Denken in die Krise treibt, müssen verschiedene Faktoren unterschieden werden. Im Folgenden gehe ich kurz auf drei davon ein, den Individualismus, den Begriff der (Menschen-)Rechte und den der Freiheit. Zunächst zum Begriff des Individualismus: Hier ist damit die Betonung des Individuums und dessen Rechte gegenüber der Gesellschaft gemeint. Das Individuum darf selbst entscheiden, welche Werte sein Leben bestimmen und wie es dieses führen will. Wenn jemand zum Beispiel eine gefährliche Sportart ausüben will, etwa Klettern in gefährlichem Terrain, und das freiwillig geschieht, halten wir die Person in unseren individualistischen Gesellschaften in der Regel nicht davon ab. Wir überlassen es dem Individuum, selbst zu beurteilen, wie es sich verhalten will, statt als Gesellschaft einzugreifen. Ein derartiger Individualismus erschwert natürlich den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Darum sind in individualistisch geprägten Gesellschaften, wie den meisten westlichen Gesellschaften, Corona-Maßregeln schwerer durchzuset-
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zen als in weniger individualistisch geprägten Gesellschaften.41 Doch das ist eine soziologische Beobachtung. Wie sieht es dagegen mit dem Individualismus als Denkweise aus? Befördert er rücksichtsloses Verhalten und die Krise unseres Denkens? Überlassen wir es zu sehr dem Individuum, wie es sich zu Corona verhält? Sicherlich ist ein gewisser „Gewöhnungseffekt“ vorhanden: Wir sind es gewohnt, selbst zu entscheiden, anstatt dass die Gesellschaft für uns entscheidet. Und dieses Verhaltensmuster setzen wir auch im Falle von Corona fort: Wir entscheiden selbst, wie wir uns in diesem Fall verhalten, wie ernst wir Corona und die Maßregeln dagegen nehmen. Wir denken, ein Recht darauf zu haben, auch in diesem Fall eigenverantwortlich entscheiden zu dürfen. Aber der Individualismus kann als solcher nicht so einfach für rücksichtsloses Verhalten verantwortlich gemacht werden. Der Grund ist, dass ein konsistenter Individualismus die gleichen Rechte für alle Individuen reserviert. Er ist nicht mit einem Egoismus zu verwechseln, der Privilegien für die eigene Person oder Gruppe reklamiert, ohne diese anderen Personen oder Gruppen gewähren zu wollen. Der Individualismus betont zwar, dass das Individuum und nicht die Gesellschaft die grundlegende Entscheidungsinstanz ist. Doch er verallgemeinert dieses Recht. Kurzum, als Individualist kann ich zwar das Recht einfordern, für mich selbst zu entscheiden, wie ich mit Corona umgehe. Doch muss ich, wenn ich den Individualismus ernst nehme, dasselbe Recht auch anderen Individuen zugestehen. Dieses Zugeständnis hat Folgen für meine eigenen Entscheidungen. Es beschränkt diese. Der entscheidende Unterschied zwischen dem Ausüben einer gefährlichen Sportart und der Corona-Situation ist, dass die Folgen von Ersterem nur das Individuum selbst betreffen. Wenn ich mich entscheide, eine steile Felswand ohne Sicherung zu besteigen, gefährde ich vor allem mich selbst. Doch wenn ich mich entscheide, keinen Mund-Nasen-Schutz zu tragen, gefährde ich nicht nur mich selbst, sondern auch andere. Wenn ich etwa ohne diesen Schutz einkaufen gehe, halte ich Menschen, die die Corona Gefahr ernst nehmen, davon ab, denselben Supermarkt zu betreten. Ich vermindere also die individuelle Entscheidungsfreiheit anderer Menschen auf gravierende Weise durch mein Verhalten. Es lassen sich mithin zwei Arten der Ausübung des Individualismus unterscheiden: Die eine verallgemeinert das Recht des Individuums und betont deshalb, dass alle Individuen bestimmte Rechte haben. Diese Art des Individualismus kann nicht mit Rücksichtslosigkeit und Egoismus gleichgesetzt werden.
|| 41 Vgl. Li Huang / Oliver Zhen Li / Baiqiang Wang / Zilong Zhang, Individualism and the Fight against COVID-19, in: Humanities and Social Sciences Communications 9 (2022) article number 120: https://www.nature.com/articles/s41599-022-01124-5.
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Davon zu unterscheiden ist ein Individualismus, der bestimmte Rechte und Privilegien für das Individuum einfordert, aber diese Rechte und Privilegien nicht verallgemeinert. Dieser Individualismus legitimiert oftmals einen (Gruppen-)Egoismus. Vor allem im Zusammenhang mit anderen Faktoren vertieft er die Krise unseres Denkens. Auf diese anderen Faktoren ist nun einzugehen. Ein solcher Faktor ist der Rechtsbegriff. Dabei denke ich etwa an seine Verwendung im Zusammenhang des Begriffs der Menschenrechte. Nun ist sicherlich der Begriff der Menschenrechte in seinen Ursprüngen emanzipatorisch intendiert. Er soll das Recht gegenüber dem Unrecht schützen, das Individuum vor gesellschaftlicher Willkür bewahren. Doch die Weise, wie dieser Begriff in der CoronaKrise gebraucht bzw. missbraucht worden ist, wirft kritische Fragen auf. Zu diesen gehört die Frage, welche Begründungsleistung der Begriff der Menschenrechte erfüllen kann. Bei Corona – wie auch bei anderen ethischen Problemen – zeigt sich, dass verschiedene Menschenrechte Konsequenzen haben können, die miteinander kollidieren. So führt zum Beispiel das Recht auf Bewegungsfreiheit in diesem Fall zu Konsequenzen, die das Recht auf körperliche Unversehrtheit verletzen können. Wenn das Recht auf Bewegungsfreiheit nicht eingeschränkt wird und Menschen die Abstandsregeln nicht einhalten, kann das dazu führen, dass andere infiziert und dadurch (schwer) krank werden. Das Problem, dass die Handlungskonsequenzen verschiedener Menschenrechte miteinander kollidieren können, wirft die Frage auf, was für eine Begründungsfunktion sie haben. Es untergräbt die oftmals vorausgesetzte Auffassung, dass sie eine Letztbegründungsfunktion haben, die eine grundlegende Rechtfertigungsinstanz unserer Ethik darstellt. Doch die Möglichkeit, dass diese Rechte zu widerstreitenden Handlungskonsequenzen führen können, lässt Zweifel an dieser Ansicht aufkommen. Bedarf es nicht einer noch grundlegenderen Begründungsinstanz, die zwischen verschiedenen Menschenrechten gewichten und diese unter Umständen auch außer Kraft setzen kann, wenn übergeordnete ethische Gesichtspunkte dafürsprechen? Meiner Ansicht nach muss die Dominanz, die das Konzept der Menschenrechte im westlich-ethischen Denken hat, gründlich auf den Prüfstand. Das Problem inkompatibler Konsequenzen ist mit dem Konzept der Menschenrechte als solchem verbunden ist. Konkreter mit dem Corona-Problem verbunden ist die Frage, ob wir über all der Betonung von Rechten im westlichen Denken, deren Kehrseite, die Pflichten, vernachlässigen. Ein Beispiel dafür ist die Vernachlässigung der Quarantänepflicht im Westen. Während in einigen asiatischen Ländern, wie zum Beispiel in Thailand, sehr früh eine Quarantänepflicht eingeführt und auch kontrolliert worden ist, gab es diese in den Niederlanden lange überhaupt nicht. Reisende, auch diejenigen, die ihren Urlaub (wissentlich)
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in Corona hot-spots verbracht haben, durften zum Beispiel im Sommer 2020 unbeschränkt in die Niederlande einreisen. Ihnen wurde allein der Rat gegeben, sich testen zu lassen, aber es gab keine Testverpflichtung und -kontrolle. Ende 2021 wurde dann kurzzeitig eine Quarantänepflicht eingeführt. Für den Umgang mit dieser ist folgendes Beispiel charakteristisch: Ein Ehepaar wusste, dass es mit Corona infiziert war und hätte in einem Quarantänehotel verbleiben müssen.42 Doch statt im Hotel wurde dieses Paar am Flughafen angetroffen, wo es ganz selbstverständlich in ein Flugzeug steigen wollte. Wie kommt diese Selbstverständlichkeit zustande, mit der Pflichten bei uns umgangen werden? Wieso meinen einige MitbürgerInnen, Rechte zu haben, aufgrund derer sie wichtige Pflichten gegenüber der Gesellschaft und anderen Menschen vernachlässigen können? Ist das eine Folge der übermäßigen Betonung des Rechtsbegriffs im westlichen Denken? Rechte implizieren Pflichten. Das ist keine konservative oder wie auch immer geartete Lebensweisheit, sondern schlichtweg eine logische Konsequenz aus der Verallgemeinerung des Konzepts von Rechten. Ein solches Konzept, wenn es denn moralisch gerechtfertigt sein soll, muss allen Menschen die gleichen Rechte zusprechen (jedenfalls allen, die sich in vergleichbaren Situationen befinden). Doch wenn andere potentiell die gleichen Rechte haben wie ich, bedeutet das, dass mir daraus notwendigerweise Pflichten erwachsen. Wenn zum Beispiel das Recht auf Bewegungsfreiheit nicht nur für mich, sondern auch für andere gelten soll, dann erwachsen mir daraus bestimmte Pflichten. So kann zum Beispiel das Recht anderer, sich in öffentlichen Räumen bewegen zu können, die Pflicht für mich beinhalten, diesen zeitweise fern zu bleiben oder bestimmte Regeln zu beachten, wenn ich diese betrete. Das ist etwa dann der Fall, wenn die Gefahr besteht, dass ich ansteckend bin. Wenn wir Rechte betonen und das im moralischen anstatt im egoistischen Sinn meinen, können wir nicht umhin, gleichzeitig auch Pflichten zu betonen. Das Kairosmoment ist also die selbstkritische Frage, ob die Verwendung des Rechtsbegriffs in unseren heutigen westlichen Gesellschaften einseitig auf Kosten des Begriffs der Pflicht geht. Steht unser gebetsmühlenartig wiederholter Rekurs auf (Menschen-)Rechte im Zeichen der Vermeidung von Pflichten, die unangenehm sind? Werden Rechte nur für uns selbst oder unsere Gruppe eingefordert, anderen diese Rechte aber verweigert? Legitimiert der Rekurs auf (Menschen)Rechte einen ungehemmten Egoismus?
|| 42 Vgl. https://www.nrc.nl/nieuws/2021/11/29/echtpaar-aangehouden-na-vlucht-uit-quarantainehotel-a4067169.
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Der dritte Begriff, der bei der Diskussion der Krise des westlichen Denkens einbezogen werden muss, ist der der Freiheit. Dieser ist im Zusammenhang mit Corona besonders relevant, da er von Gegnern der offiziellen Corona-Politik immer wieder ins Feld geführt worden ist. Zum Beispiel hat bei den Protesten gegen die Corona-Maßregeln in Amsterdam der Begriff der „Freiheitsberaubung“43 eine wesentliche Rolle gespielt. Die emanzipatorische Funktion des Freiheitsbegriffs ist unmittelbar deutlich. Sie wird nicht nur verständlich, wenn wir auf die Ursprünge dieses Begriffs zurückgehen, sondern ist auch in der Gegenwart klar ersichtlich. So ist zum Beispiel der Kampf der Ukraine gegen die russische Aggression unter anderem ein Kampf für die Freiheit. Diese Freiheit ist so ein hohes Gut, dass viele Ukrainer bereit sind, dafür zu sterben oder zumindest ihre Heimat zu verlassen. Angesichts des hohen Preises, den die Ukraine (und andere) für ihren Freiheitskampf bezahlen, klingt es wie Hohn, wenn Gegner der Corona-Maßregeln sich anmaßen, für ihre Position den Freiheitsbegriff zu reklamieren. Für das kostbare Gut, das die Ukrainer mit ihrem Leben verteidigen, soll derselbe Begriff anwendbar sein wie für die diejenigen, die keine Lust haben, einen Mund-NasenSchutz zu tragen oder 1½-Meter-Abstand zu halten? Der Kampf um die Freiheit von Unterdrückung in der Ukraine soll dasselbe sein wie die „Freiheit“, andere ungeniert anstecken zu dürfen? Für den Wert, ohne permanente Bedrohung leben zu können, soll derselbe Begriff passen wie für die Bedrohung des Lebens und der Gesundheit anderer? Wird hier „Freiheit von Unterdrückung“ zur „Freiheit zur Unterdrückung“? Mit „Freiheit“ meinen die Corona-Gegner, dass sie das Recht haben, der offiziellen Corona-Politik widersprechen und anders handeln zu dürfen, als durch die jeweiligen Regierungsorgane vorgeschrieben wird. Doch das ist ein sehr einseitiger Begriff von Freiheit. Er hat pubertäre Züge: Wie Pubertierende sich unter allen Umständen von der Autorität ihrer Eltern dadurch absetzen wollen, dass sie das Gegenteil von dem tun, was die Eltern vorschreiben, wollen sich die CoronaGegner von der Autorität der Regierungsorgane unter allen Umständen dadurch absetzen, dass sie das Gegenteil tun von dem, was diese vorschreiben. Doch das ist lediglich „zwanghafte Freiheit“. Echte Freiheit besteht nicht darin, Autortäten zwanghaft zu widersprechen, sondern darin, in freier Weise abwägen zu können. Echte Freiheit muss erlernt werden in dem Sinn, in dem Pubertierende lernen müssen, dass ihre Freiheit darin besteht, dasjenige zu wählen, was gut ist für sie selbst und andere, unabhängig davon, was ihre Eltern davon halten.
|| 43 „Vrijheidsberoving“ (vgl. Aanpak Coronacrisis [s. Anm. 35], 179–180).
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Derjenige, der sich zwanghaft an seine „Freiheit“ klammert, ist nicht wirklich frei. Echte Freiheit impliziert hingegen auch die Freiheit, seine „Freiheit“ aufgeben zu können – zumindest für eine bestimmte Zeit, wenn die Situation es erfordert. Doch manche Corona-Gegner haben panische Angst davor, dass politische Freiheiten dauerhaft verschwinden und Einschränkungen im Zusammenhang mit Corona nicht zurückgenommen werden könnten.44 Abgesehen davon, dass die Panikmache unbegründet war – die Einschränkungen sind zurückgenommen worden –, so steht hier die genannte Zwanghaftigkeit im Hintergrund: Die „Freiheit“, von der Corona-Gegner sprechen, beruht oftmals auf nichts anderem als einem unausgereiften Freiheitsbegriff. Vor allem aber wird der Freiheitsbegriff inkonsistent verwendet bei vielen Corona-Gegnern. Denn auch im Fall der Freiheit gilt wiederum das genannte Verallgemeinerungsprinzip: Freiheit im moralischen Sinn, also Freiheit, die mehr ist als nur eine verkappte Form des Egoismus, muss die gleiche Freiheit allen Betroffenen zusichern. Dieses aber verweigern viele Corona-Gegner durch ihr Handeln: Ihre „Freiheit“, keinen Mund-Nasen-Schutz zu tragen oder die 1½-MeterAbstandsregel zu negieren, beraubt andere Menschen grundlegender Freiheiten. Diejenigen, die Corona ernst nehmen, können dann eben nicht mehr dieselben öffentlichen Räume benutzen, die die Corona-Gegner benutzen. Um ein Beispiel zu nennen: Im Frühsommer 2020 war nicht klar, wie ansteckend Corona im Freien ist. Doch hatten viele MitbürgerInnen – bewusst oder unbewusst – die 1½-Meter-Abstandsregel missachtet. In den engen Straßen der niederländischen Großstädte war es unmöglich, anderen auszuweichen. Menschen, die die Regel ernst nahmen, konnten also nicht mehr auf die Straße gehen. Sie waren faktisch dazu gezwungen, zu Hause zu bleiben. Die „Freiheit“, die Corona-Regeln zu missachten, wurde also durch eine Beraubung fundamentaler Freiheiten erkauft. An diesem Beispiel wird der egoistische Charakter des Freiheitsbegriffs mancher Corona-Gegner deutlich: Sie berufen sich selbst auf „Freiheit“, berauben aber gleichzeitig andere grundlegender Freiheiten. Der Rekurs auf Freiheit ist bei diesen Corona-Gegnern also keine moralische Kategorie, sondern dient lediglich dem Ausleben eines plumpen Egoismus: Weil sie keinen Mund-Nasen-Schutz tragen möchten oder sich nicht an die Abstandsregeln halten wollen, berauben sie andere grundlegender Freiheiten.
|| 44 Vgl. etwa die verschiedenen Auslassungen der „Öffentlichkeitsphilosophin“ Marlie Huijer: https://www.nrc.nl/nieuws/2021/01/15/arts-en-filosoof-marli-huijer-niemand-heeft-recht-opeen-zo-lang-mogelijk-leven-a4027683.
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Selbstverständlich gibt diese Diskussion nicht die ganze Komplexität der Situation wieder: Viele Corona-Gegner berufen sich nicht allein auf „Freiheit“, sondern nehmen Corona als Krankheit nicht ernst. Sie meinen etwa, durch gesunde Ernährung, Sportlichkeit o.ä. zumindest gegen schwere Verläufe von Corona gefeit zu sein. Doch abgesehen davon, dass das nicht stimmt – auch gesunde, durchtrainierte Menschen können schwer an Corona erkranken –, sind auch hier Fragezeichen angebracht: Diese Gegner berufen sich nicht nur auf Freiheit, sondern gleichzeitig auf ein bestimmtes Weltbild. Nur im Rahmen dieses ganz spezifischen Weltbilds, also dass Corona nicht mehr ist als eine Grippe (oder ähnlich), erhält der Rekurs auf Freiheit eine moralische Dimension. Eingebettet in alle anderen Weltbilder, inklusiv der Anschauung, dass Unsicherheit herrscht über die Folgen von Corona, erscheint der Rekurs auf Freiheit bei den Corona-Gegnern als egoistisch motiviert.
6 Abschließende Bemerkungen Die These dieser Abhandlung ist, dass die Corona-Pandemie ein Kairos in Tillichs Sinn des Wortes ist. Die Corona-Pandemie ist ein besonderer Moment in der Geschichte, in dem etwas von historischer Bedeutung offenbar wird. „Zeitdeutung aus dem Geiste des Kairos“ (s. oben, Abschnitt 1) bedeutet dabei nicht nur, die furchtbaren Folgen der Corona-Pandemie selbst einzugestehen, sondern auch zuzugeben, in welchem Maße unsere westlichen Denkkategorien problematisch sind. Wir müssen uns ernsthaft fragen, ob wir nicht (radikal) umdenken müssen, wenn wir in Zukunft verantwortungsbewusst mit globalen Krisen umgehen wollen. Eines der Probleme des westlichen Denkens, die angesprochen wurden, ist die Vorherrschaft eines bestimmten Wissenschaftsbegriffs. Damit meine ich einen Begriff, der in der Nähe eines Szientismus angesiedelt ist und drängende Fragen allein mit Hilfe „harter Fakten“ und „harter (sozial-)wissenschaftlicher Beweise“ beantworten will. Dieser Wissenschaftsbegriff kann zu einer Handlungslähmung führen. Das ist vor allem dann der Fall, wenn ein großes Maß an kognitiver Unsicherheit vorherrscht, wie es bei der Corona-Pandemie der Fall war. Dann verlieren wir durch die Insistenz auf „harten Fakten“ wertvolle Zeit, schieben notwendige Entscheidungen dadurch zu lange auf. Wie am Beispiel des niederländischen Sonderwegs bezüglich der Maskenpflicht deutlich wurde, kostet diese Handlungslähmung unnötig menschliches Leben und geht auf Kosten der Gesundheit und der Wirtschaft.
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Wir müssen lernen, politische und andere Entscheidungen unter kognitiver Unsicherheit zu fällen. Anstatt auf (wissenschaftliche) Sicherheit zu warten, müssen wir Prinzipien entwickeln, die uns helfen, verantwortungsbewusst zu entscheiden, auch wenn wir noch keine kognitive Sicherheit haben. Das ist insofern wichtig, als unsere Lebenswelt zusehends komplexer und undurchschaubarer wird. Dabei denke ich etwa an Fragen des Klimaschutzes. Auch hier herrscht kognitive Unsicherheit, etwa darüber, wie groß der Anteil des Kohlendioxidausstoßes an der weltweiten Klimaveränderung ist. Doch trotz dieser Unsicherheit müssen wir jetzt – oder in naher Zukunft – Entscheidungen fällen. Wir können es uns eben nicht erlauben, zu warten, bis wir absolute Sicherheit haben. Dann besteht die Gefahr, dass die Folgen des Klimawandels noch fataler und unbeherrschbarer werden. Anstatt auf wissenschaftliche Sicherheit zu warten, müssen wir lernen, der praktischen Weisheit einen angemessenen Platz in unseren (politischen und anderen) Entscheidungsfindungsprozessen einzuräumen. Diese Kritik richtet sich gegen einen ganz bestimmten, eben szientismusnahen Wissenschaftsbegriff bzw. gegen die Rolle, die dieser Begriff in Teilen des westlichen Denkens und der westlichen Politik spielt. Damit ist keine Fundamentalkritik an Wissenschaftlichkeit intendiert. Stattdessen geht es darum, ein zu optimistisches Bild von Wissenschaftlichkeit zu korrigieren, um diese mit praktischer Weisheit zu versöhnen: Wissenschaft muss sinnvoll, sich ihrer Beschränkungen bewusst bleibend, ausgeführt und so mit phronesis in eine Balance gebracht werden, wenn wir in der Zukunft verantwortungsbewusst mit Krisen und anderen Herausforderungen umgehen wollen. Dabei sind auch zentrale Aspekte unseres westlichen Denkens auf den Prüfstand zu stellen. Wie deutlich wurde, kann ein bestimmtes Verständnis der Begriffe „(Menschen-)Rechte“ und „Freiheit“ zu egoistischen Formen von Individualismus führen. Wenn diese Rechte auf Kosten der Pflichten betont werden und Freiheit in zwanghaftem Sinn aufgefasst wird, wird der Individualismus, der unsere westlichen Gesellschaften charakterisiert, hoffnungslos egoistisch. Ein Rekurs auf (Menschen-)Rechte und Freiheit, der egoistisch-individualistisch motiviert ist, verdient es nicht, als moralische Kategorie ernstgenommen zu werden. In unseren gesellschaftlichen Diskussionen, vor allem in unseren Medien, müssen wir aufhören, diese Art der Diskussion in Bezug auf Corona als moralisch relevant anzusehen. Bei diesen Diskussionen geht es schlichtweg darum, dass bestimmte Individuen oder Gruppen von Individuen – zum Beispiel bestimmte Gruppen, die gegen die Corona-Maßnahmen sind –, anderen Individuen oder Gruppen von Individuen ihren Willen aufzwingen wollen. Es geht um Macht anstatt um Moral. Das muss in der öffentlichen Diskussion deutlicher herausgestellt werden.
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Davon zu unterscheiden ist eine Ausübung des Individualismus, die nicht egoistisch ist. Das Unterscheidungskriterium zwischen egoistischen und nichtegoistischen Formen des Individualismus ist die Frage, inwiefern die Rechte oder Freiheiten, die eingefordert werden, verallgemeinert werden. Diese Art des Individualismus ist moralischer Art, oder er kann zumindest als moralische Kategorie ernsthaft diskutiert werden. Bei dieser Art des Individualismus würden sich manche der Corona-Diskussionen von selbst erledigen. Wenn die Freiheiten und Rechte anderer Individuen ernst genommen werden, dann verbietet sich rücksichtsloses Handeln. Dann erübrigen sich viele der Proteste und „Argumente“ gegen die Corona-Maßnahmen. Was ist nun der Zweck dieser sehr kritischen Abhandlung? Sie ist vor allem als „Weckruf“ zu verstehen. Die Corona-Pandemie macht Denkweisen deutlich, die moralisch problematisch sind oder mit denen wir uns und anderen das Leben unnötig schwer machen. Corona zeigt, dass wir im wahrsten Sinn des Wortes umdenken müssen. Ziel ist dabei natürlich nicht, das westliche Denken abzuschaffen. Unfreiheit, eine Vernachlässigung der (Menschen-)Rechte oder ein Kollektivismus, wie wir ihn zum Beispiel in kommunistischen Gesellschaften finden, sind keine erstrebenswerten Ideale. Doch wir müssen aus dem unfruchtbaren „Entweder-Oder“ ausbrechen. Es geht darum, einen Mittelweg zwischen beiden Extremen zu finden, zwischen Unfreiheit und Rechtlosigkeit auf der einen Seite und selbstzerstörerischer Überbetonung von Freiheit und (Menschen-)Rechten auf der anderen. Dass wir einen derartigen Mittelweg gehen müssen, wenn wir uns verantwortungs- und zukunftsbewusst aufstellen wollen, zeigt die CoronaKrise. In diesem Sinn ist sie ein Kairos in Tillichs Sinn, d.h. eine besondere, offenbarungsgetränkte Zeit.
Editionen Christian Danz
Das Dasein Gottes und die Religionspsychologie Paul Tillichs Berliner Antrittsvorlesung vom 24. Januar 1919 Udo Kern zum 80. Geburtstag Abstract: In January 1919, Paul Tillich moved from Halle to the Faculty of Theology in Berlin. His inaugural lecture there was on the subject of Das Dasein Gottes und die Religionspsychologie. The manuscript of this lecture, which is edited here for the first time, was previously considered lost. Am 24. Januar 1919 hielt der junge Privatdozent der systematischen Theologie Paul Tillich in der Aula der Berliner Universität seine Antrittsvorlesung zum Thema Das Dasein Gottes und die Religionspsychologie. Das Manuskript dieser Vorlesung galt bislang als verschollen.1 Weder in der Harvard Divinity School Library der Harvard University in Cambridge, Mass., wo der Nachlass Tillichs aufbewahrt wird, noch in dem Archiv der Deutschen Paul-Tillich-Gesellschaft in der Universitätsbibliothek Marburg ist das Manuskript der Antrittsvorlesung überliefert. Es fand sich im Nachlass von Wilhelm und Marion Pauck, der in der Wright Library des Princeton Theological Seminary zugänglich ist. Bei einem Besuch in Princeton im November 2019 bin ich bei Recherchen in ihrem Nachlass auf das Manuskript der Antrittsvorlesung gestoßen.2 Neben dieser finden sich hier noch
|| 1 Vgl. E. Sturm, An der engen Pforte der historischen Methode vorbei … Paul Tillichs Habilitation in Halle (1916) und seine Umhabil1itierung nach Berlin (1919) und Marburg (1924), in: Ethic and Eschatology. International Yearbook for Tillich Research 10 (2015), 273–331, hier 285. 2 Vgl. P. Tillich, Das Dasein Gottes und die Religionspsychologie, in: The Wilhelm and Marion H. Pauck Manuscript Collection, Wright Library, Princeton Theological Seminary, Box 42. Ich danke Brian Shetler, Head of Special Collections and Archives, Wright Library, Princeton Theological Seminary, dass er mir einen Scan von Tillichs Berliner Antrittsvorlesung zur Verfügung gestellt hat, und Ted Farris (New York) für die Erlaubnis, die Antrittsvorlesung im International Yearbook for Tillich Research abzudrucken. Zu danken habe ich meiner Frau Uta-Marina Danz sowie Emil Lusser, Gerrit Mauritz und Friedrich Schumann (alle Wien) für ihre Hilfen bei der Transkription der Antrittsvorlesung. https://doi.org/10.1515/9783110984729-008
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weitere Nachlassmaterialien Tillichs, unter anderem das Manuskript eines Vortrags mit dem Titel Hauptprobleme der Geschichtsphilosophie.3 Auch es galt als verschollen. Erdmann Sturm publizierte den Vortrag 1999 auf der Grundlage einer Xerokopie des Manuskripts aus dem Archiv der Deutschen Paul-Tillich-Gesellschaft unter dem Titel Das Problem der Geschichte und ordnete ihn den apologetischen Vorträgen Tillichs aus dem Winter 1912/1913 zu.4 Tillich hielt jedoch, wie sich dem Titelblatt des Manuskripts entnehmen lässt, den Vortrag Hauptprobleme der Geschichtsphilosophie in der philosophischen Gesellschaft zu Halle. Es findet sich in dem Manuskript keine Datumsangabe, so dass offen bleiben muss, wann genau er diesen Vortrag in Halle gehalten hat. Allerdings spricht vieles dafür, dass dieser aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg stammt.5 Tillichs Berliner Antrittsvorlesung Das Dasein Gottes und die Religionspsychologie vom Januar 1919 wird hier erstmals mitgeteilt. Sie steht im Zusammenhang seiner nach dem Ersten Weltkrieg erfolgten Umhabilitierung nach Berlin. Hierüber sowie über den werkgeschichtlichen Ort der Antrittsvorlesung und das editierte Manuskript informieren die nachfolgende werkgeschichtliche Einleitung und der Editorische Bericht.
1 Tillichs Umhabilitierung von Halle nach Berlin im Jahre 1919 Paul Tillich habilitierte sich im Januar 1919 von Halle an die Theologische Fakultät der Universität Berlin um. Ausschlaggebend für diese Entscheidung war, wie seine Korrespondenz in diesen Jahren zeigt, vor allem die ungesicherte finanzielle Lage als Privatdozent an der Universität Halle nach dem Krieg. Im Sommer 1916, noch während des Kriegs, hatte er sich an der Theologischen Fakultät der Universität Halle habilitiert, an der er vier Jahre zuvor bereits zum Lizentiaten der
|| 3 Vgl. P. Tillich, Hauptprobleme der Geschichtsphilosophie, in: The Wilhelm and Marion H. Pauck Manuscript Collection, Wright Library, Princeton Theological Seminary, Box 42. 4 Vgl. P. Tillich, Das Problem der Geschichte, in: ders., Religion, Kultur, Gesellschaft. Unveröffentlichte Texte aus der deutschen Zeit (1908–1933), Teil 1, hg. von E. Sturm, EW X, Berlin/New York 1999, 85–100. 5 So folgt die geschichtsphilosophische Konstruktion, die Tillich in dem Vortrag skizziert, durchgehend derjenigen aus den beiden Dissertationen zu Schelling sowie der Systematischen Theologie von 1913.
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Theologie promoviert wurde.6 Seit dem 1. August 1918 war Tillich Militärseelsorger in der Garnison in Spandau. Sein Versuch, in Halle eine Stelle als Inspektor in einem Konvikt zu erhalten und in der Stadt an der Saale seine akademische Karriere voranzutreiben, blieb ohne Erfolg. Wilhelm Lütgert, mit dem er über seine beruflichen Perspektiven in Halle korrespondierte, teilte diesem in seiner Antwort vom 28. November 1918 auf zwei nicht überlieferte Briefe Tillichs mit, dass es nicht möglich sei, ein Staatsstipendium sowie eine Stelle als Konviktsinspektor in Halle zu übernehmen, weil er seit 1914 verheiratet sei.7 Da auch die Möglichkeit der Übernahme einer Hilfspredigerstelle in Halle ungewiss wäre, empfahl Lütgert seinem Schüler, „wenn die Verhältnisse in Berlin für Sie günstiger liegen, es vielleicht besser ist, in Berlin zu bleiben“.8 Wenige Tage später, am 3. Dezember 1918, wandte sich Tillich an die Theologische Fakultät der Berliner Universität.9 In seinem Schreiben schildert er seine prekäre finanzielle Lage in Halle und ersuchte, da seine Schwiegereltern in Berlin wohnen und ihm dort die Stelle eines Stadtvikars in Aussicht gestellt worden sei,10 welche ihm wissenschaftliches Arbeiten ermögliche, um seine Umhabilitierung nach Berlin. Die Berliner Theologische Fakultät stimmte dem Gesuch Tillichs nach Umhabilitierung zu, machte jedoch hierfür zwei Bedingungen.11 Er solle in Berlin eine Antrittsvorlesung halten und in der Anciennität der Privatdozenten keinem vorangestellt werden. Beiden Bedingungen stimmte er zu. Am 17. Dezember 1918 informierte Tillich die Theologische Fakultät in Halle, dass die Berliner Fakultät
|| 6 Vgl. hierzu Sturm, An der engen Pforte der historischen Methode vorbei, 272–287; W. Pauck/M. Pauck, Paul Tillich. Sein Leben und Denken, Bd. 1: Leben, Stuttgart/Frankfurt a.M. 1978, 69–72. Tillichs Hallenser Promotionsakte ist ediert in: G. Neugebauer, Tillichs frühe Christologie. Eine Untersuchung zu Offenbarung und Geschichte bei Tillich vor dem Hintergrund seiner Schellingrezeption, Berlin/New York 2007, 392–422, bes. 401–422. 7 Vgl. W. Lütgert an P. Tillich, 28.11.1918, in: Paul Tillich, 1886–1965, in: F. W. Graf/A. Christophersen (Hg.), Die Korrespondenz zwischen Fritz Medicus und Paul Tillich, in: ZNThG / JHMTh 11 (2004), 126–147, hier 145. 8 W. Lütgert an P. Tillich, 28.11.1918, in: Graf/Christophersen (Hg.), Die Korrespondenz zwischen Fritz Medicus und Paul Tillich, 145. 9 Vgl. P. Tillich an die theologische Fakultät der Universität Berlin, 3.12.1918, in: Sturm, An der engen Pforte der historischen Methode vorbei, 312f. 10 Tillich übernahm am 1. Januar 1919 die Stelle von Karl-Ludwig Schmidt als Stadtvikar. Vermittelt hatte ihm diese Stelle der mit seinem Vater Johannes Tillich bekannte lutherische Generalsuperintendent Gustav Haendler. Vgl. Pauck/Pauck, Paul Tillich, 71. Vgl. hierzu auch Paul Tillich, Wingolfrundbrief, o. D., EW V, 124. Die Ernennungsurkunde zum Stadtvikar des Konsistoriums der Provinz Brandenburg ist mitgeteilt in EW V, 141, Anm. 1. 11 Vgl. P. Tillich an die theologische Fakultät der Universität Berlin, 3.12.1918, 313 (Vermerk des Dekans der Berliner Fakultät).
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einer Umhabilitierung zugestimmt habe.12 Unter Berufung auf Wilhelm Lütgert, der ihm zu diesem Schritt geraten habe, bittet er die Hallenser Fakultät um ihre Zustimmung zu dem Wechsel nach Berlin. Diese erfolgte 21. Dezember des Jahres.13 Mögliche Themen für seine Antrittsvorlesung hatte Tillich dem Dekan der Berliner Theologischen Fakultät, Friedrich Mahling, drei Tage zuvor mitgeteilt: „1. Apologetik. / ‚Die Bedeutung der phänomenologischen Methode für Theologie und Religionswissenschaft.‘ / 2. Dogmatik. / ‚Das Dasein Gottes und die Religionspsychologie.‘ / 3. Ethik. / ‚Der Pazifismus u. die Lehre von der Sünde.‘“14 Hierüber informierte der Dekan der Berliner Fakultät seine Kollegen am 20. Dezember. Von den drei Themenvorschlägen wählte die Fakultät das dogmatische Thema aus. Für dieses stimmten Reinhold Seeberg, Julius Kaftan, Adolf Deißmann, Adolf von Harnack, Karl Holl und Wolf Wilhelm von Baudissin.15 Seine öffentliche Antrittsvorlesung zum Thema Das Dasein Gottes und die Religionspsychologie hielt Tillich am 19. Januar 1919 in der Aula der Berliner Universität.16 Noch am selben Tag informierte Friedrich Mahling, der Dekan der Fakultät, sowohl das Preußische Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung, Berlin, als auch den Rektor der Berliner Universität, den lutherischen Theologen Reinhold Seeberg.17 Mit der öffentlichen Antrittsvorlesung war die Umhabilitierung Tillichs von Halle nach Berlin vollzogen. Über Paul Tillichs Berliner Antrittsvorlesung berichtete die Vossische Zeitung in ihrer Abendausgabe vom 4. Februar 1919. „In der Theologischen Fakultät habilitierte sich soeben Dr. phil. Lic. P. Tillich mit einer Antrittsvorlesung über das ‚Dasein Gottes und die Religionspsychologie‘.“18 In den bislang bekannten Korrespondenzen Tillichs finden sich außer den amtlichen Schreiben bezüglich der
|| 12 Vgl. P. Tillich an die Theologische Fakultät der Universität Halle, 17.12.1918, in: Sturm, An der engen Pforte der historischen Methode vorbei, 314f. 13 Vgl. K. Cornill, Dekan der Theologischen Fakultät der Universität Halle, an P. Tillich, 21.12.1918, in: Sturm, An der engen Pforte der historischen Methode vorbei, 317. 14 P. Tillich an den Dekan der Theologischen Fakultät der Universität Berlin, 18.12.1918, in: Sturm, An der engen Pforte der historischen Methode vorbei, 315f., hier 316. 15 Vgl. P. Tillich an den Dekan der Theologischen Fakultät der Universität Berlin, 18.12.1918, 316. 16 Die lateinische Einladung zur Antrittsvorlesung Tillichs ist ediert in: Sturm, An der engen Pforte der historischen Methode vorbei, 318f. 17 Vgl. F. Mahling an das Preußische Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung, [24.1.1919], in: Sturm, An der engen Pforte der historischen Methode vorbei, 319f.; F. Mahling an den Rektor der Universität Berlin, [24.1.1919], in: Sturm, An der engen Pforte der historischen Methode vorbei, 321. 18 Vossische Zeitung, Nr. 64, Dienstag (Abend), 4.2.1919, Beilage zur Vossischen Zeitung, 6. Vgl. auch Pauck/Pauck, Paul Tillich, 305, Anm. 6.
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Umhabilitierung keine Hinweise auf diese. Auch in seinen autobiographischen Betrachtungen und Reflexionen findet die Berliner Antrittsvorlesung keine Erwähnung. Karl Holl hat sich, wie aus einem Brief Emanuel Hirschs an Paul Tillich vom 10. Juli 1921 hervorgeht, äußerst kritisch über dessen Antrittsvorlesung geäußert. „Er [sc. Karl Holl] nimmt ethisch Anstoß an deiner Stellung zum Christentum, ohne daß Du die äußeren Folgen ziehst. Deine Antrittsvorlesung hat ihm da die Augen über Deine Theologie geöffnet. Er arbeitet mit ganzer Seele daran, die Theologen zum Ernst des Gottesglaubens, des persönlichen Gottesglaubens im Sinne des Evangeliums zu erziehen. Und nun sieht er in Dir jemand, der am Gottesglauben gescheitert ist, ohne daß er die Folgen zieht für sein Verhältnis zur Theologie.“19
2 Zum werkgeschichtlichen Ort der Berliner Antrittsvorlesung Tillichs In seinem Brief an den Dekan der Berliner Theologischen Fakultät vom 18. Dezember 1918 hatte Tillich das Thema Das Dasein Gottes und die Religionspsychologie als ein dogmatisches eingestuft. Wie jedoch das Manuskript der Antrittsvorlesung erkennen lässt, geht es in dieser weniger um materialdogmatische Fragen, sondern um religionstheoretische Grundlegungsprobleme, die in Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Religionspsychologie, also der empirischen Religionswissenschaft, entfaltet werden.20 Tillichs eigenes Programm, welches er
|| 19 Emanuel Hirsch an Paul Tillich, 10.7.1921, in: Paul Tillich, 1886–1965, Papers, 1894–1974, Harvard Divinity School Library, Harvard University, Cambridge, Mass., bMS bMS 649/152 (im Folgenden bMS und Angabe der Box). 20 Zur zeitgenössischen Debatte um Religionspsychologie, die sich erst um die Jahrhundertwende als eine eigenständige akademische Disziplin ausdifferenzierte und etablierte, vgl. E. Troeltsch, Psychologie und Erkenntnistheorie in der Religionswissenschaft, in: ders., Schriften zur Religionswissenschaft und Ethik (1903–1912) (= KGA, Bd. 6,1), hrsg. v. T. Rendtorff, Berlin/Boston 2014, 215–256; ders., Empirismus und Platonismus in der Religionsphilosophie, in: ders., Zur religiösen Lage, Religionsphilosophie und Ethik (= Gesammelte Schriften, Bd. 2), Tübingen 21922 = ND Aalen 1962, 364–385; ders., Wesen der Religion und der Religionswissenschaft, in: ders., Zur religiösen Lage, Religionsphilosophie und Ethik (= Gesammelte Schriften, Bd. 2), Tübingen 21922 = ND Aalen 1962, 452–499; Georg Wobbermin, Die religionspsychologische Methode in Religionswissenschaft und Theologie, Leipzig 1913; ders., Theologie und Metaphysik. Das Verhältnis der Theologie zur modernen Erkenntnistheorie und Psychologie, Berlin 1901. Vgl. hierzu G. Pfleiderer, Theologie als Wirklichkeitswissenschaft. Studien
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im Durchgang durch die religionspsychologischen Konzeptionen von Ludwig Feuerbach und William James einerseits sowie die bewusstseinstheoretischen Religionstheorien von Friedrich Schleiermacher und Ernst Troeltsch anderseits am Ende seiner Vorlesung mehr andeutet als skizziert, knüpft an Schelling an. Dessen Religionsphilosophie, „die an Originalität und Tiefsinn die bisher genannten übertrifft, wenn sie auch an Wirksamkeit und Bekanntheit ihnen weit nachsteht“ (175), beinhalte eine Lösung des in der Religionspsychologie offenen Problems des Daseins Gottes. Sie besteht „in der Forderung, das religiöse Bewußtsein und den religiösen Gegenstand als eine Einheit zu denken, die gleichzeitig psychologisch und geltungsphilosophisch zu untersuchen ist“ (176). Tillichs Berliner Antrittsvorlesung von 1919 nimmt Überlegungen auf, die er bereits vor dem Ersten Weltkrieg in seinen beiden Dissertationen zur Religionsphilosophie des späten Schelling ausgeführt hatte. Seit 1909 hat sich Tillich mit der Philosophie Schellings beschäftigt und an einer Dissertation über dessen Religionsphilosophie gearbeitet. Sein Schellingstudium ist indes nicht die erste Beschäftigung mit dem Deutschen Idealismus. Bereits während seiner Studienzeit, insbesondere in den vier Semestern in Halle von 1905 bis 1907, setzte er sich intensiv mit der Philosophie Johann Gottlieb Fichtes auseinander.21 Davon zeugen nicht nur seine Seminararbeit aus dem Jahre 1906 über Fichtes Religionsphilosophie in ihrem Verhältnis zum Johannesevangelium,22 seine Examensarbeit von 190823 oder sein 1912 erschienener Artikel Wissen und Meinen,24 sondern auch andere Zeugnisse wie umfangreiche Exzerpte aus Fichtes Wissenschaftslehren aus den Jahren 1794 und 1804, die im Nachlass erhalten sind.25 Tillich liest die Philosophie Schellings vor dem Hintergrund sei-
|| zum Religionsbegriff bei Georg Wobbermin, Rudolf Otto, Heinrich Scholz und Max Scheler, Tübingen 1992. 21 Vgl. hierzu C. Danz, Historicism, Neo-Idealism, and Modern Theology. Paul Tillich and German Idealism, in: J. Stewart (ed.), The Palgrave Handbook of German Idealism and Existentialism, Cham 2020, 287–303; Neugebauer, Tillichs frühe Christologie, 146–155; F. W. Graf/A. Christophersen, Neukantianismus, Fichte- und Schellingrenaissance. Paul Tillich und sein philosophischer Lehrer Fritz Medicus, in: ZNThG / JHMTh 11 (2004), 52–78. 22 Vgl. P. Tillich, Fichtes Religionsphilosophie in ihrem Verhältnis zum Johannesevangelium, in: Frühe Werke, EW IX, 4–19. 23 Vgl. P. Tillich, Welche Bedeutung hat der Gegensatz von monistischer und dualistischer Weltanschauung für die christliche Religion?, EW IX, 24–93 (Urfassung), 94–153 (Schönschrift). 24 Vgl. P. Tillich, Wissen und Meinen. Zu Fichtes 150. Geburtstag am 19. Mai 1912, in: Neue Preußische Zeitung, Nr. 232. 19.5.1912, 2. 25 Im Nachlass Tillichs in der Harvard Divinity School Library in Cambridge, Mass., befinden sich ausführliche Exzerpte zu Fichtes Wissenschaftslehre von 1794 (bMS 649/15[2]) und von 1804
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ner Beschäftigung mit Fichte. Aber dies ist lediglich ein Aspekt der Schellingrezeption des jungen Theologen. Hinzu kommt ein weiterer, der von der Forschung bislang nicht in den Blick genommen wurde.26 Tillich studierte außer in Berlin in Tübingen und Halle Theologie. Sein akademischer Förderer in Halle war Wilhelm Lütgert, der wiederum Adolf Schlatter, bei dem Tillich in Tübingen studierte, nahestand. Signifikant für diese theologische Richtung protestantischer Theologie um 1900 ist zweierlei: einmal der empirische Ansatz und zum anderen die Konzeption des Offenbarungsgedankens. Beide Aspekte treten bereits in Adolf Schlatters Berner Antrittsvorlesung von 1881 hervor und sie sind noch für sein späteres dogmatisches Hauptwerk Das christliche Dogma grundlegend.27 Gott ist nicht nur in seiner Offenbarung in Jesu Christus zu erkennen, sondern ebenso in Natur und Geschichte.28 Schlatters empirische Theologie setzt sich von theologischen Konzeptionen ab, die wie Schleiermacher oder Ritschl die Gotteserkenntnis ausschließlich an Gottes christologische Heilsoffenbarung binden. Dem setzt er einen theologischen Realismus entgegen, der davon ausgeht, dass Gott als Ursache und Einheit von Natur und Geschichte diesen bereits zugrunde legt. In jeder Wahrnehmung von Konkretem und Einzelnem in der Welt ist das Bewusstsein zugleich implizit auf Gott als Einheitsgrund von Welt und Bewusstsein mitbezogen. In dem an die Selbstoffenbarung Gottes gebundenen Glauben erschließt sich dem Menschen Gott als Ursache und Einheit von Welt und Geschichte, so dass beide zu Medien Gottes werden. In diesem Sinne ist Theologie Gotteserkenntnis.29 Schlatters ‚Schüler‘ Wilhelm Lütgert hat dessen Programm einer realistischen
|| (bMS 649/15[18]). Tillich erwähnt diese Fichteexzerpte in seinen Autobiographien und sie stammen vermutlich aus dem Jahre 1908. Jedenfalls findet sich dieser Datumsvermerk auf dem Heft mit den Auszügen aus der Grundlage zur gesamten Wissenschaftslehre. Vgl. P. Tillich, Auf der Grenze, GW XII, 13–57, bes. 31; ders., Autobiographische Betrachtungen, GW XII, 58–77, bes. 65. 26 Vgl. jetzt S. A. Shearn, Pastor Tillich: The Justification of the Doubter, Oxford 2022. 27 Vgl. A. Schlatter, Habilitationsrede zum Zusammenhang von Dogma und Geschichte, in: ders., Das Verhältnis von Theologie und Philosophie II. Die Berner Vorlesung (1883): Wesen und Quellen der Gotteserkenntnis, hg. von H. Seubert/W. Neuer, Stuttgart 2019, 249–258; ders., Das christliche Dogma, Stuttgart [1911] 21923. 28 Vgl. Schlatter, Das christliche Dogma, 18: „Wer seine Beobachtung sofort und einzig Jesus zuwendet, hat auch eine Gefahr abzuwehren, nämlich die, daß er die ganze Welt als dunkel und gottlos sieht und sich Gottes Schöpferherrlichkeit verbirgt.“ 29 Vgl. Schlatter, Das christliche Dogma, 11: „Die dogmatische Frage lautet somit, wo und wie wir Vorgänge erleben, die uns zur Offenbarung Gottes werden, und der dogmatische Beweis, der Gottesbeweis, besteht darin, daß wir die Ergebnisse aufzeigen, durch die unser Gottesbewußtsein entsteht und seinen Inhalt bekommt.“
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Theologie aufgenommen und weitergeführt. Auch er bindet wie sein Lehrer jegliche Gotteserkenntnis an die Offenbarung Gottes und unterscheidet zwischen einer universalen Schöpfungsoffenbarung und einer besonderen Heilsoffenbarung Gottes, wobei erstere die Grundlage von letzterer bildet.30 Tillich erhielt seine theologische Ausbildung nicht nur durch die modern-positive Bibeltheologie. Seine Beschäftigung mit dem Deutschen Idealismus, zunächst mit Fichte und später mit Schelling hat die Funktion, dieser theologischen Richtung eine bessere erkenntniskritische Begründung zu geben, als dies bei Schlatter und Lütgert der Fall ist.31 In seiner 1910 an der Universität Breslau als Dissertation eigereichten Arbeit Die religionsgeschichtliche Konstruktion in Schellings positiver Philosophie, ihre Voraussetzungen und Prinzipien wird diese Intention ebenso erkennbar, wie in seiner Hallenser Lizentiaten-Dissertation von 1912 oder der Systematischen Theologie von 1913.32 Tillich arbeitet im Rückgriff auf die spekulative Philosophie Schellings eine Grundlegung der Theologie aus, die zentrale Motive seiner Lehrer Schlatter und Lütgert aufnimmt.33 Das zeigt sich nicht zuletzt an der spekulativen Psychologie, in der Tillich Schellings Beitrag für
|| 30 Vgl. W. Lütgert, Schöpfung und Offenbarung. Eine Theologie des ersten Artikels, Gütersloh 1934, 25: „Die Theologie geht, wie jede Wissenschaft, von Tatsachen, Beobachtungen, Wahrnehmungen aus, d.h. von Offenbarung, vom Sehen und Hören. Aber die besondere Art des theologischen Denkens besteht darin, daß diese empirische Grundlage von Gott aus verstanden wird, weil in ihr Gott offenbar wird.“ Zu Lütgerts Theologie vgl. P. Müller, Alle Gotteserkenntnis entsteht aus Vernunft und Offenbarung. Wilhelm Lütgerts Beitrag zur theologischen Erkenntnistheorie, Münster 2012. 31 Die Rezeption von Motiven des Deutschen Idealismus ist signifikant für die jüngeren Vertreter der modern-positiven Bibeltheologie. Deutlich wird das nicht nur bei Erich Schaeder und seinem Schüler Kurt Leese, sondern auch bei anderen wie Friedrich Brunstäd oder Rudolf Hermann. Vgl. hierzu K.-D. Rieger, Heiliger Geist und Wirklichkeit. Erich Schaeders Pneumatologie und die Kritik Karl Barths, Berlin/Boston 2017; A. Knuth, Der Protestantismus als moderne Religion. Historisch-systematische Rekonstruktion der religionsphilosophischen Theologie Kurt Leeses (1887–1965), Frankfurt a.M. 2005; J. Trugenberger, Neuhegelianisches Kulturluthertum. Friedrich Brundstäd (1883–1944), Berlin/Boston 2021. 32 Vgl. P. Tillich, Die religionsgeschichtliche Konstruktion in Schellings positiver Philosophie, ihre Voraussetzungen und Prinzipien, in: EW IX, 156–272; ders., Mystik und Schuldbewußtsein in Schellings philosophischer Entwicklung, GW I, 13–108; ders., Systematische Theologie von 1913, EW IX, 273–434. Vgl. hierzu Neugebauer, Tillichs frühe Christologie, 146–292; F. Wittekind, „Allein durch den Glauben“. Tillich’s sinntheoretische Umformulierung des Rechtfertigungsverständnisses 1919, in: C. Danz/W. Schüßler (Hg.), Religion – Kultur – Gesellschaft. Der frühe Tillich im Spiegel neuer Texte (1919–1920), Wien 2008, 39–65. 33 Vgl. P. Tillich an A. Fritz, [1909], EW VI, 76.
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die Grundlegungsdebatten der zeitgenössischen Theologie erblickt.34 Aus dieser Verzahnung von Empirie und Spekulation ergibt sich die Bestimmung des Religionsbegriffs, in dem schon 1910 das menschliche Bewusstsein und Gott von vornherein verbunden sind. Schellings Religionsbegriff in seinem Spätwerk, so arbeitet es Tillich heraus, fußt auf einer Ersetzung sowohl der theologischen als auch der empirischen und der kritisch-formalen durch die spekulative Methode.35 Eine Verankerung der Religion in der transzendentalen Vermögensstruktur des Bewusstseins ist damit ebenso ausgeschlossen wie eine unmittelbare Inanspruchnahme der Absolutheit des Christentums sowie der empirische Versuch, einen Religionsbegriff durch Abstraktion von den religiösen Erscheinungen zu gewinnen. Tillich benutzt Schellings spekulative Religionsphilosophie zur Kritik an Ernst Troeltschs Theologie und ihrer Grundlegung der Religion in einem religiösen Apriori. Die neukantianische Vorstellung eines formalen Apriori, welches seinen Inhalten gegenübersteht, überführt Tillich im Rückgriff auf den spekulativen Idealismus durch eine Konzeption, in der die allgemeine Bewusstseinsproduktivität mit den besonderen Inhalten bereits verzahnt ist.36 Schellings spekulative Religionsphilosophie fuße auf einer Weiterführung des formalen Apriorismus des Kantianismus. Schon das identitätsphilosophische Frühwerk verstehe die Erscheinung als Ausdruck eines notwendigen Akts der Vernunft. Schellings Spätwerk, in dem dieser Ansatz fortgeführt wird, identifiziert schließlich das absolute Selbstverhältnis des Geistes mit der Religion, in der das Bewusstsein als Darstellung des Absoluten fungiert.37 Die Einheit von Gott und menschlichem Bewusstsein liegt damit jedem
|| 34 Vgl. P. Tillich, Gott und das Absolute bei Schelling, EW X, 9–54, bes. 18–21. Die Bedeutung Schellings für Grundlegungsfragen zeitgenössischer Theologie rückt Tillich auch in der Einleitung seiner Dissertation von 1910 in den Fokus. Vgl. ders., Die religionsgeschichtliche Konstruktion in Schellings positiver Philosophie, EW IX, 158–160. 35 Vgl. Tillich, Die religionsgeschichtliche Konstruktion in Schellings positiver Philosophie, EW IX, 232f. 36 Vgl. Tillich, Die religionsgeschichtliche Konstruktion in Schellings positiver Philosophie, EW IX, 232: Schon in Schellings früher dialektischer Methode stehe „im Unterschied zu Kant das formale Apriori den einzelnen Inhalten nicht als allgemeine Norm“ gegenüber, sondern es ist „mit ihnen zusammengeschlossen […] zu einem ununterbrochenen subjektiv-objektiven dialektischen Prozeß“. 37 Vgl. Tillich, Die religionsgeschichtliche Konstruktion in Schellings positiver Philosophie, EW IX, 233: „Denn die intellektuelle Anschauung […] ist keine einzelne Vernunfttätigkeit wie die übrigen, sondern der Ausdruck für das vollkommene Bei-sich-Sein der Vernunft, für ihre substantielle Identität mit sich selbst. […] Nicht in irgendeiner Form der Geistestätigkeit ist das Wesen der Religion zu suchen, sondern in der Geistigkeit des Menschen als solcher.“
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Akt des Bewusstseins bereits zugrunde. Mit dieser absolutheitstheoretischen Begründung des Bewusstseins sei nicht nur eine tragfähige theologische Apologetik der Religion gewonnen,38 sondern zugleich die Grundlage einer geschichtsphilosophische Religionsphilosophie. Die Geschichte besteht in der Reaktion des absoluten Geistes gegen den sich aus der Identität mit diesem erhebenden individuellen Geist. In diesem spekulativen Rahmen konstruiert Schelling Religion als Prozess der Selbsterfassung des absoluten Geistes im individuellen Bewusstsein, der im Christentum gipfelt. Durch die Negation des individuellen Geistes, wie sie in Jesus Christus angeschaut wird, kehrt das Besondere zum absoluten Geist zurück, indem es als Medium der Darstellung von jenem fungiert.39 Religion ist damit als das geschichtliche Bewusstwerden der Identität von absolutem und individuellem Geist verstanden, wobei dieses Geschehen der Selbsterfassung im absoluten Geist gründet. In Schellings absolutheitstheoretischer Grundlegung der Religion, die Bewusstseinstheorie und spekulativen Gottesbegriff verzahnt, erblickte der junge Tillich eine Lösung der Begründungsdiskurse der zeitgenössischen Theologie.40 Indem Schellings Potenzenlehre mit der neukantischen Vermögenstheorie ineins gesetzt und als Verzahnung von Bewusstseinstätigkeit und inhaltlichen Bestimmungen gedeutet wird, verschränkt er Empirie und absolutheitstheoretische Spekulation. In seinen 128 Thesen von 1911, in der theologischen Lizentiaten-Dissertation Mystik und Schuldbewußtsein in Schellings philosophischer Entwicklung aus dem nachfolgenden Jahr und der Systematischen Theologie von 1913 hat Tillich diese spekulative Theologie weitergeführt und systematisch ausgebaut. Doch während des Ersten Weltkriegs kommt es zu Verschiebungen in dem bisherigen Theoriegefüge. Das hatte vor allem systematische Gründe. Sie betreffen das Konkrete und Einzelne in der Geschichte. In dem spekulativen Rahmen, den Tillich || 38 Vgl. Tillich, Die religionsgeschichtliche Konstruktion in Schellings positiver Philosophie, EW IX, 239, Anm. 346. 39 Vgl. Tillich, Die religionsgeschichtliche Konstruktion in Schellings positiver Philosophie, EW IX, 228: „Denn das ist der Inhalt aller Geschichte, weil es das Wesen des Geistes ist: Sich selbst zu opfern in seiner Natürlichkeit, um sich selbst wiederzufinden in Geist und Wahrheit. In Christus und durch Christus haben wir Gott als Geist.“ 40 Vgl. auch Tillich, Gott und das Absolute bei Schelling, EW X, 11: „Um die Welt zu erklären, muß der Philosoph Gott über das Absolute erheben. Um die Welt zu erklären, muß der Theologe das Absolute zur Basis der Gottheit Gottes machen. Es ist klar: diese Problemstellung ist zugleich die koncentrierteste Fassung des Problems Theologie und Philosophie oder [des Problems] ‚die Absolutheit des Christentums‘ [sc. wie es durch Ernst Troeltsch aufgeworfen wurde]. Das Problem in dieser Formulierung klar erkannt und mit allen Mitteln seiner philosophischen Genialität durchgeführt zu haben, ist Schellings Bedeutung für die theologische Debatte der Gegenwart.“
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seiner Theologie zugrunde legt, kann das Konkrete der Geschichte lediglich als Moment der Selbsterfassung des absoluten Geistes im individuellen verstanden werden. Damit ist das geschichtlich Konkrete jedoch lediglich ein Durchgangsmoment auf dem Weg des Geistes hin zu seiner Selbsterfassung. 1914 hatte Tillich seine Habilitationsschrift Der Begriff des Übernatürlichen, sein dialektischer Charakter und das Prinzip der Identität fertiggestellt.41 Sie folgt noch ganz der spekulativen Grundlegung, die er in den Jahren zuvor ausgearbeitet hat. Aber in den Texten, die im Umkreis des Habilitationsverfahrens in Halle entstanden sind, deutet sich eine neue Sicht des Konkreten der Geschichte an.42 Ein ähnliches Bild zeigen Briefe Tillichs aus dieser Zeit. Am 5. Dezember 1917 schreibt er an Maria Klein: „Ich bin durch konsequentes Durchdenken des Rechtfertigungsgedankens schon lange zu der Paradoxie des ‚Glaubens ohne Gott‘ gekommen, dessen nähere Bestimmung und Entfaltung den Inhalt meines gegenwärtigen religionsphilosophischen Denkens bildet.“ (EW V, 121)43 Am deutlichsten und auch ausführlichsten sind die Transformationen von Tillichs Theologie in seinem Briefwechsel mit Emanuel Hirsch in den Jahren 1917 und 1918 dokumentiert. In einem Brief an Hirsch vom Dezember 1917 berichtete Tillich seinem Freund nicht nur von seinen wiederaufgenommenen Arbeiten an einem System der Wissenschaften, sondern auch von einer Neufassung seiner Theologie. Als Zentralproblem seines theologischen Denkens benennt er, ähnlich wie in dem Schreiben an Maria Klein: „Wie ist mit dem theoretischen Zweifel diejenige Gewißheit vereinbar, die das Wesen des Glaubens ausmacht?“ (EW VI, 99) Was Tillich mit diesem Zentralproblem seines Denkens meint, führt er in seinem Brief näher aus. Doch in der weiteren Korrespondenz zwischen ihm und Hirsch tritt das Thema der Glaubensgewissheit etwas in den Hintergrund. Denn Tillich antwortet auf Einwände Hirschs an seiner Konzeption, entwickelt dabei jedoch Grundzüge seiner neuen Fassung seiner bisherigen Theologie. Allerdings ist diese Neufassung, auch das lässt die Korrespondenz erkennen, noch wenig durchgearbeitet und erst im Aufbau begriffen, so dass vieles noch im Fluss ist. Erst in seinem vierten
|| 41 Vgl. P. Tillich, Der Begriff des Übernatürlichen, sein dialektischer Charakter und das Prinzip der Identität, dargestellt an der supranaturalistischen Theologie von Schleiermacher, EW IX, 439–592. 42 Vgl. die Entwürfe des Vortrags Theodicee (EW X, 101–106 [1. Verson]. 107–113 [2. Version]) für das Hallenser Habilitationsverfahren. Vgl. hierzu Wittekind, „Allein durch den Glauben“, 46–52. 43 Vgl. auch P. Tillich an R. Wegener, 26.8.1917, EW VI, 89–92.
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Schreiben vom 9. Mai 1918 führt er explizit den Sinnbegriff ein, der in den folgenden Jahren zu einem Grundbegriff avanciert.44 Ausdrücklich weist er gleich in seinem Brief vom Dezember 1917 seine frühere spekulative Grundlegung der Theologie und damit eine Fundierung der Religion in einem theoretischen Gottesgedanken zurück.45 Jede theoretische Grundlegung der Religion in einem Gottesgedanken steht, da dieser als Voraussetzung gesetzt ist, unter dem Zweifel. Aufgabe der Theologie sei es aber, die Gewissheit Gottes im Glauben so zu begründen, dass der Gott, auf den sich die Glaubensgewissheit bezieht, keine Setzung des Bewusstseins ist. Damit scheidet eine spekulative Grundlegung der Religion, wie sie Tillich in seinen Schriften vor dem Ersten Weltkrieg ausgearbeitet hatte, aus. Jeder Gottesbegriff, auch das Absolute als Fundierung des Systems, ist eine Setzung im und vom um-sich-selbst-wissenden Bewusstsein, die unter den Bedingungen der Moderne als eine solche auch bewusst ist und somit wieder negiert werden kann. Es muss folglich ein anderer Weg zur Begründung der Gewissheit des Glaubens und seines Gegenstands eingeschlagen werden, der seinen Grund in einem Gott hat, der kein Produkt des Bewusstseins und mithin strikt transzendent ist. Eine solche Grundlegung skizziert Tillich in Grundzügen in seinem Brief vom Dezember 1917. Das systematische Problem, welches zu bearbeiten ist, besteht in der, wie es im Brief heißt, objektiven Religion, also dem Gottesgedanken.46 Gott kann keine
|| 44 Vgl. P. Tillich an E. Hirsch, 9.5.1918, EW VI, 123–127, hier 125. Zum Briefwechsel von Tillich und Hirsch vgl. J. Dierken, Gewissheit und Zweifel. Über die religiöse Bedeutung skeptischer Reflexion bei Paul Tillich, in: C. Danz (Hg.), Theologie als Religionsphilosophie. Studien zu den problemgeschichtlichen und systematischen Voraussetzungen der Theologie Paul Tillichs, Wien 2004, 107–133. 45 Vgl. P. Tillich an E. Hirsch, Dezember 1917, EW VI, 99: „Die zweite Art wäre die intellektuelle Überwindung [sc. des theoretischen Zweifels an der Glaubensgewissheit] durch den ‚wissenschaftlichen Gottesbegriff‘. Ich vermute, daß Du auch eine Widerlegung dieses Weges nicht nötig hast. Da es aber mein früherer war, so will ich zugleich als Selbstkritik darauf eingehen. Ich akzeptiere den Kählerschen Satz: ‚das Absolute ist ein Götze‘, dann nämlich, wenn die religiöse Funktion auf die Vollendung des theoretischen Gottesbegriffs fundiert werden soll.“ 46 Vgl. P. Tillich an E. Hirsch, Dezember 1917, EW VI, 102: „Da es also weder möglich ist, das gegenständliche Moment der Religion theoretisch durch Beweis, noch praktisch durch sittliche Forderung vom Zweifel zu befreien – falls die Voraussetzung des Zweifels gegeben ist, so muß sich die religiöse Gewißheit auf ein anderes als das objektive Moment beziehen. Dieses subjektive, urständliche Moment der Religion zu beschreiben, ist nun die wichtigste Aufgabe der Religionswissenschaft und Theologie.“
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Objektivierung sein, die notwendig mit dem Bewusstsein verbunden ist.47 Ein solcher Gott ist und bleibt ein Konstrukt des Bewusstseins und unterliegt der kritischen Negativität des Zweifels bzw. der um sich wissenden Subjektivität. Damit kann eine theologische Grundlegung der religiösen Gewissheit weder beim religiösen Gegenstand noch beim religiösen Subjekt einsetzen. Vor diesem Hintergrund ist Tillichs Verweis auf die subjektive Religion zu verstehen, mit der er seine Überlegungen eröffnet. Er charakterisiert diese als urständliche Religion. Sie sei eine reine Zuständlichkeit sowie frei von Skepsis und deshalb Grundlage der objektiven Religion. Gemeint ist folglich nicht eine im Subjekt bereits gegebene religiöse Anlage, sondern ein unableitbarer Reflexionsakt im Selbstverhältnis des Bewusstseins, in dem dieses sich durchsichtig wird und der unendlichen Reflexivität des Bewusstseins als Voraussetzung aller konkreten Akte des Bewusstseins inne wird.48 Im weiteren Verlauf des Briefwechsels mit Hirsch entfaltet Tillich diese urständliche Religion weiter und beschreibt mit der Polarität von Wert- und Unendlichkeitsbewusstsein als Strukturmomenten des Selbstverhältnisses des Bewusstseins die Entstehung der Religion im einzelnen Menschen.49 Religion besteht im Eintritt des Wertbewusstseins in das Unendlichkeitsbewusstsein.50 Dieses erfasst sich in diesem Akt in seiner Grundlagenfunktion. Da das Bewusstsein bzw. der individuelle Geist, wie Tillich hier schreibt, sich zugleich seiner Endlichkeit bewusst ist, ergebe sich eine Paradoxie: Die unendliche Reflexivität des Bewusstseins kann sich selbst nur als eine bestimmte und mithin endliche erfassen. Die urständliche Religion bezeichnet diesen Reflexionsakt im Selbstverhältnis des Bewusstseins, in dem dieses sich in seiner reflexiven Struk-
|| 47 Vgl. P. Tillich an E. Hirsch, Dezember 1917, EW VI, 103: „Ihre Notwendigkeit ist in dem subjektiv-objektiven Charakter des Geistes überhaupt begründet. Er ist nur, indem er sich objektiviert.“ 48 Vgl. P. Tillich an E. Hirsch, Dezember 1917, EW VI, 102: „Aber man kann unbedenklich die Menschen als Geistwesen mit dieser Bestimmtheit definieren: das Menschsein fängt mit dieser Erlebnisform an!“ 49 Vgl. P. Tillich an E. Hirsch, 20.2.1918, EW VI, 119. 50 Vgl. P. Tillich an E. Hirsch, 20.2.1918, EW VI, 120: „Damit tritt etwas völlig Neues, etwas wahrhaft Transzendentes in die Sphäre des Unendlichkeitsbewußtseins, durchdringt diese Sphäre, und gibt dem Ja das Übergewicht, löst sich von ihr los und behauptet sich gegen jede ihrer Negationen und hat die Kraft des reinen In-sich-Ruhens!“
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tur und Ganzheit erfasst. Der Gottesgedanke der Religion ist auf diesen Akt bezogen und stellt ihn als seinen Gehalt dar.51 Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen zur reflexiven Struktur des religiösen Akts kommt Tillich am Ende seines Briefes vom 20. Februar 1918 auf den Ausgangspunkt seiner Debatte mit Hirsch zurück, nämlich das Problem der Glaubensgewissheit angesichts der erkenntnistheoretischen Kritik an den Inhalten des Glaubens. Auch hier deutet er seine Lösung nur an. Diese besteht in demjenigen reflexiven Bewusstsein, dass die Erschlossenheit des Bewusstseins, in der die Gewissheit des Glaubens besteht, selbst nur als Negation von deren Deutungen dargestellt werden kann.52 Denn jede Objektivierung dieser Erschlossenheit ist und bleibt eine Setzung des Bewusstseins. Im Briefwechsel mit Hirsch zwischen November 1917 und dem Frühjahr 1918 skizziert Tillich Grundzüge seiner neuen Grundlegung der Theologie. An die Stelle des spekulativen Verhältnisses von absolutem und individuellem Geist als Grundlage der Theologie tritt eine Neubeschreibung auf der Basis des Selbstverhältnisses des Bewusstseins. Der vormalige absolute Geist wird nun gleichsam als ein Strukturmoment im Selbstbezug des Bewusstseins verstanden. Damit ist das religiöse Prinzip, die Einheit von Gott und menschlichem Bewusstsein, hier noch als wahre Transzendenz des Wertbewusstseins gefasst, in das polar durch dieses sowie das Unendlichkeitsbewusstsein strukturierte Bewusstsein selbst eingelagert. Religion liegt folglich auch hier noch wie in dem Systementwurf vor dem Ersten Weltkrieg der gesamten Kultur zugrunde.53 Im einzelnen Menschen entsteht Religion, indem in einem unableitbaren Akt die im Bewusstsein bereits gegebene und mit der Polarität von Wert- und Unendlichkeitsbewusstsein beschriebene Struktur des Bewusstseins, die Grundlage und Voraussetzung aller konkreten Akte des Bewusstseins ist, im individuellen Bewusstsein durchsichtig und in einem Bild dargestellt wird. Von diesem selbst produzierten Bild weiß das religiöse Bewusstsein, dass es seine Erschlossenheit verfehlt und es deshalb von ihm wieder negiert werden muss. Allein in diesem Vollzug und seiner Darstellung
|| 51 Vgl. P. Tillich an E. Hirsch, 20.2.1918, EW VI, 120: „Durch diese Paradoxie entsteht nun eine neue Objektivierung im Wertbewußtsein; […] Diese aus dem Wertbewußtsein stammende Objektivierung trifft nun zusammen mit der aus dem Unendlichkeitsbewußtsein und gibt dieser die ‚Fremdheit‘ und ungeheure Wucht der religiösen Objektivierung.“ 52 Vgl. P. Tillich an E. Hirsch, 20.2.1918, EW VI, 122: Im „Protestantismus […] ist der Zweifel religiös normal, d.h. das Bewußtsein geht über jede besondere Form des Gottesgedankens und Erlebens hinaus, wie im Rechtfertigungsgedanken enthalten!“ 53 Einen „Atheisten gibt es nicht, es ist nur ein Grenzbegriff“ (P. Tillich an E. Hirsch, 20.2.1918, EW VI, 122).
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im Bewusstsein in einem Bild, welches es zugleich wieder negiert, ist es gerechtfertigt. Auf diese Weise setzt Tillich Rechtfertigung und Zweifel gleich.54 Das sich durchsichtig gewordene Bewusstsein, also der Zweifel, ist die Rechtfertigung und nicht mehr dessen Überwindung. Damit ist der Umbau der systematischen Grundlagen von Paul Tillichs Theologie während des Ersten Weltkriegs soweit beschrieben, dass seine Berliner Antrittsvorlesung in den Blick genommen werden kann.
3 Tillichs Kritik der Religionspsychologie und das Dasein Gottes Tillichs Berliner Antrittsvorlesung vom Januar 1919 ist die erste bislang bekannte umfangreichere Ausarbeitung seiner neuen Grundlegung der Theologie nach dem Weltkrieg. Drei Monate später, am 16. April, hielt er seinen Vortrag Über die Idee einer Theologie der Kultur in der Berliner Abteilung der Kant-Gesellschaft, und danach arbeitete er seinen Entwurf Rechtfertigung und Zweifel aus, der in zwei Versionen überliefert ist. Dieser Entwurf stellt die systematisch geschlossenste Durcharbeitung der Neufassung seiner Theologie dar und führt die Debatte aus dem Briefwechsel mit Hirsch über die Glaubensgewissheit und den theoretischen Zweifel an deren Grundlagen weiter. Es ist auch das Thema seiner Berliner Antrittsvorlesung über Das Dasein Gottes und die Religionspsychologie. Sie nimmt die im Briefwechsel mit Hirsch diskutierte Frage auf, wie sich im Ausgang von der subjektiven Religion die objektive Religion begründen lasse. Beantwortet wird sie wie schon im Jahr zuvor abschlägig. Ein „direkter, notwendiger Weg von der Religionspsychologie zum Dasein Gottes“ (172) lässt sich nicht begründen. In seiner Antrittsvorlesung bezieht sich Tillich auf die zeitgenössischen religionsphilosophischen Debatten, die er insgesamt unter dem Stichwort Religionspsychologie zusammenfasst. Er deutet diese, die sich aus diversen Vorläufern als eine eigenständige akademische Disziplin erst um 1900 etablierte,55 als eine unmittelbare Folge der Kantischen Kritik an der theologia naturalis. Die Ausscheidung Gottes aus dem Bereich der erkennbaren Gegenstände machte eine neue
|| 54 Vgl. das Zitat oben Anm. 52. Vgl. hierzu Wittekind, „Allein durch den Glauben“, 52–54. 55 Vgl. hierzu auch E. Troeltsch, Die Selbständigkeit der Religion, in: ders., Schriften zur Theologie und Religionsphilosophie (1888–1902) (KGA, Bd. 1), hg. von C. Albrecht, Berlin/New York 2009, 364–535, bes. 382–447.
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Begründung der Religion notwendig. An die Stelle des Gottesgedankens als Begründungsinstanz der Religion trat in den nachkantischen Religionsphilosophien das religiöse Bewusstsein. „Nicht der religiöse Gegenstand bestimmt die religiöse Funktion, sondern die religiöse Funktion bestimmt den religiösen Gegenstand.“ (161) Damit ist der moderne Problemhorizont und die mit diesem verbundene Kritik an der Religion aufgenommen. Mit Religionspsychologie hat Tillich also solche Religionstheorien vor Augen, die beim menschlichen Bewusstsein ansetzen. In diesem Sinne bestimmt er noch ein Jahr später in seiner Vorlesung Enzyklopädie der Theologie und Religionswissenschaft an der Berliner Universität die Religionspsychologie.56 Strukturiert sind die Ausführungen in vier thematische Teile. Auf eine knappe Einleitung, welches das Thema der Vorlesung exponiert, folgt eine Darstellung der religionspsychologischen Debatte, die mit religionskritischen Positionen einsetzt und dann zu religionsbegründenden Konzeptionen übergeht. Als dritte Position diskutiert Tillich Religionsphilosophien, die religionspsychologische Ansätze mit erkenntnistheoretischen Motiven verbinden und ein religiöses Apriori ableiten, auf das die Religion zurückgeführt wird. Seinen kritischen Durchgang durch die religionspsychologische Debatte beschließt er in einem vierten Teil mit einem eigenen Vorschlag, der, wie oben erwähnt, auf die spekulative Religionsphilosophie Schellings und damit auf seine eigenen frühen Arbeiten zurückgreift. Tillich eröffnet seine inhaltliche Auseinandersetzung mit der Religionspsychologie mit einer knappen Skizze der Religionskritik Ludwig Feuerbachs. Dessen Religionskritik baut in der Nachfolge Kants auf der Funktion der Religion auf. Gott ist eine Funktion des Menschen und folglich Anthropologie das Geheimnis der Theologie.57 Tillich liest die Religionskritik Feuerbachs als Bestätigung seiner eigenen Religionstheorie: Für die Begründung der Gewissheit des Glaubens sei es nicht ausreichend, auf das religiöse Bewusstsein zu rekurrieren.58 Neben Feu-
|| 56 Vgl. P. Tillich, Enzyklopädie der Theologie und Religionswissenschaft, EW XII, 267: „Insofern die Religion in der Bewußtseinssphäre verläuft, können ihre empirischen Betrachtungsformen als ‚psychologisch‘ bezeichnet werden.“ 57 Vgl. L. Feuerbach, Das Wesen des Christentums, Leipzig 1957, 47. 92. 58 Bereits am 20. Februar 1918 schrieb Tillich an Hirsch, „die ganze Kritik von Feuerbach hat mir nicht nur nichts Neues gegeben, sondern mich von der größeren Schärfe und Systematik meiner Kritik überzeugt“ (EW VI, 116). Worauf Tillich hier anspielt, geht aus dem Brief nicht hervor. Im Jahre 1912 war er jedoch Opponent im Promotionsverfahren seines Freundes Kurt Leese,
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erbach diskutiert Tillich die zeitgenössischen religionspsychologischen Konzeptionen von Hermann Ebbinghaus, dessen Grundzüge der Psychologie er während des Krieges gelesen hatte,59 und Sigmund Freud. Beide werden als moderne Weiterführungen von Feuerbach gelesen, die im Ausgang vom religiösen Bewusstsein dessen inhaltliche Bestimmungen als Produktionen des Bewusstseins aufdecken. Ebenso wie die Inhalte des religiösen Bewusstseins, deren Genese die Religionspsychologie untersucht, negativ gewertet werden können, so lassen diese sich auch affirmieren. Als Beispiel einer solchen Religionspsychologie diskutiert Tillich ausführlich William James’ Buch The Varieties of Religious Experience auf der Grundlage von Georg Wobbermins Übersetzung, die 1907 unter dem Titel Die religiöse Erfahrung in ihrer Mannigfaltigkeit erschien.60 In den Fokus seiner Darstellung von James’ Religionspsychologie rückt Tillich dessen Konzeption eines Realitätserlebnisses, welches die religiösen Erfahrungen im Bewusstsein begleitet und das seinen Ort noch unterhalb der Rationalität hat. „Auf diese Tiefe des menschlichen Unterbewußtseins wirkt nun auch das Göttliche und gibt sich durch das Realitätsgefühl seinen Gegenstand kund.“ (168) Doch auch mit dem Realitätsgefühl ist keine Begründung des Gottesgedankens gegeben, da das Gefühl selbst kein Kriterium liefert, zwischen widerstreitenden Inhalten des religiösen Bewusstseins zu unterscheiden.61 Auf dem Wege der Religionspsychologie lässt sich somit weder negativ noch positiv der religiöse Gegenstand begründen. Vor diesem Hintergrund erörtert Tillich drittens bewusstseinstheoretische Religionstheorien, die religionspsychologisch ansetzen, aber im Bewusstsein ein transzendentales Gesetz der Religion postulieren. Als Vertreter einer solchen transzendentalen Religionspsychologie diskutiert er Schleiermacher und Ernst Troeltsch. Auffallend ist, dass er, anders als in seiner späteren Vorlesung Enzyklopädie der Theologie und Religionswissen-
|| der bei Erich Schaeder mit einer Arbeit über Feuerbach zum Lizentiaten der Theologie promoviert wurde. Vgl. K. Leese, Die Prinzipienlehre der neueren systematischen Theologie im Lichte der Kritik Ludwig Feuerbachs, Leipzig 1912. 59 Vgl. P. Tillich an E. Hirsch, Dezember 1917, EW VI, 99. Vgl. H. Ebbinghaus, Grundzüge der Psychologie, 2 Bde., hg. von E. Dürr, Leipzig 31911–1913. 60 Vgl. W. James, Die religiöse Erfahrung in ihrer Mannigfaltigkeit. Materialien und Studien zu einer Psychologie und Pathologie des religiösen Lebens, übers. von G. Wobbermin, Leipzig 1907. 61 „In jedem Erlebnis ist ein Urteil enthalten. Wo nun die Urteile im Widerspruch geraten, kann nicht wieder das Erlebnis, sondern muß die Gesetzmäßigkeit des Urteilens selbst entscheiden.“ (169)
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schaft, Georg Wobbermins transzendentale Religionspsychologie nicht in die Untersuchung einbezieht.62 Doch auch solche Formen der Religionspsychologie gelangen, so Tillichs Urteil, nicht zu einer Begründung des religiösen Gegenstands. Die Ableitungen eines religiösen Vermögens in der allgemeinen transzendentalen Bewusstseinsstruktur baue nämlich, so sein Argument, nicht auf die religiöse Erfahrung auf, sondern auf die Struktur der Vernunft. Wenn jedoch der religiöse Gegenstand ein Konstrukt der Vernunft ist, dann unterliegt er denselben Einwänden wie die Inhalte des religiösen Bewusstseins. Er ist dessen Produkt. „Damit sind wir aber – darüber kann kein Zweifel sein – wieder bei dem Gottesbeweise angelangt; in unvergleichlich viel feinerer Form freilich, als vor Kant, aber sachlich ist es doch das Gleiche.“ (171) Gott und seine Erkenntnis werden abhängig von einer Metaphysik. Mit deren Problematik wird auch die religiöse Gewissheit schwankend. Als Ausweg aus dem Dilemma der Religionspsychologie deutet Tillich Georg Simmels Religionsphilosophie, welche die subjektive Religion in den Blickpunkt rückt und die objektive Religion ausscheidet. Auf Simmels subjektive Religion hatte sich Tillich auch im Briefwechsel mit Hirsch bezogen, um die, wie es dort hieß, urständliche Religion als eine Färbung des gesamten Erlebens zu beschreiben.63 Aber da Simmel die objektive Religion aus seiner Religionsphilosophie tendenziell ausscheidet, liefert er keine Begründung des Gottesgedankens und somit auch keine Lösung des Problems der Religionspsychologie. Eine solche liege jedoch in der Spätphilosophie Schellings vor, der sich Tillich knapp im abschließenden vierten Teil seiner Antrittsvorlesung zuwendet. Diese bestehe in der Verzahnung des religiösen Bewusstseins mit seinem Gegenstand. Tillich greift hier auf seine philosophische Dissertation von 1910 zurück, die genau diesen Gedanken als grundlegend für Schellings spekulative Religionsphilosophie herausgearbeitet hatte. Doch anders als neun Jahre zuvor hat dieselbe Formel nun einen völlig anderen Sinn, da, wie wir gesehen haben, Tillich inzwischen die systematische Grundlegung seiner Theologie völlig umgebaut hat. Die Formel beschreibt nun das religiöse Selbstverhältnis im Bewusstsein und nicht mehr, wie in der Vorkriegstheologie, das Verhältnis von absolutem und individuellem Geist. In der Struktur des selbstbezüglichen Bewusstseins sind Gott || 62 Vgl. Tillich, Enzyklopädie der Theologie und Religionswissenschaft, EW XII, 268. Vgl. auch ders., Religionsphilosophie (Sommersemester 1920), EW XII, 333–565, bes. 388f. Zu Wobbermins Religionspsychologie vgl. Pfleiderer, Theologie als Wirklichkeitswissenschaft, 74–103. 63 Vgl. P. Tillich an E. Hirsch, Dezember 1917, EW VI, 102; vgl. auch P. Tillich an E. Hirsch, 12.11.1917, EW VI, 97, wo Tillich auf Simmels Rembrandt-Buch verweist. Zu Tillichs Simmelrezeption vgl. U. Barth, Religion und Sinn, in: C. Danz/W. Schüßler, Religion – Kultur – Gesellschaft. Der frühe Tillich im Spiegel neuer Texte (1919–1929), Wien 2008, 197–214, bes. 203–206.
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und Bewusstsein von vornherein verbunden. „Religiöses Bewußtsein und religiöser Gegenstand“ dürfen nicht, wie in der Religionspsychologie und der Metaphysik „auseinandergerissen werden“ (175). Im Menschen entsteht Religion in einem unableitbaren Reflexionsakt im Bewusstsein. Allein in diesem Vollzug sind die Gewissheit des Glaubens und Gott zugleich gegeben. Mit ihrem Gegenstand bezieht die Glaubensgewissheit sich auf sich selbst und stellt sich als Erschlossenheit des Bewusstseins in ihren Inhalten dar, auf die sie sich bezieht. Wie diese reflexive Struktur der Religion im Einzelnen zu verstehen ist, lässt die Berliner Antrittsvorlesung Tillichs jedoch offen. In den weiteren Texten aus dem Jahre 1919, dem Kulturvortrag und vor allem in dem Entwurf Rechtfertigung und Zweifel, wird Tillich die Struktur seiner neuen vollzugsgebundenen Grundlegung der Theologie weiter ausarbeiten. Noch in Tillichs Neufassung seiner Theologie, wie er sie in seiner Berliner Antrittsvorlesung in Auseinandersetzung mit der religionspsychologischen Debatte seiner Zeit ausgeführt hat, lassen sich Spuren der modern-positiven Theologie seiner Lehrer Schlatter und Lütgert identifizieren. Ähnlich wie bei ihnen liegt Gott jedem Bezug des Bewusstseins auf das Konkrete in der Welt bereits zugrunde. Religion ist der unableitbare Übergang vom Kulturbewusstsein, in dem der Gottesbezug implizit mitgesetzt ist, zum expliziten Meinen Gottes. Allerdings gibt Tillich diesem Grundgedanken der modern-positiven Theologie nun eine wesentlich erkenntniskritischere Fassung als in seinem Frühwerk, indem die Erkenntniskritik an dem Absoluten in die Grundlegung der Theologie selbst mit eingebaut wird.
4 Zur Edition Paul Tillichs Berliner Antrittsvorlesung Das Dasein Gottes und die Religionspsychologie wird hier auf der Grundlage des Manuskripts wiedergegeben, welches sich im Nachlass von Wilhelm und Marion Pauck in der Wright Liberary des Princeton Theological Seminary befindet. Das handschriftliche Manuskript umfasst 28 einseitig beschriebene und nummerierte Blätter. Es ist in Kurrentschrift geschrieben. Lateinische Worte, die Tillich in seinem Text verwendet, werden in der Edition in einer serifenlosen Schriftart wiedergegeben. Auf dem ersten Blatt ist in der Titelzeile der Titel des Vortrags angegeben. Tillichs Orthographie und Interpunktion werden in der Edition beibehalten (z. B. ‚Rhythmus‘ statt ‚Rhythmus‘). Das Manuskript ist relativ sauber und gut lesbar geschrieben. Es weist nur wenige Streichungen und Korrekturen von Tillichs Hand auf. Diese sind in einem eigenen textkritischen Apparat angegeben. Die Seitenumbrüche im Manuskript
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werden mit dem Zeichen | markiert und die entsprechende Blattseite angegeben. In das Manuskript sind nachträglich Unterstreichungen von diversen Passagen eingefügt worden, die möglicherweise von Tillich selbst stammen. Alle Unterstreichungen werden im edierten Text kursiv wiedergegeben. Die Kommentierung von Tillichs Antrittsvorlesung beschränkt sich auf die von ihm selbst ausdrücklich genannte Literatur und ergänzt die bibliographischen Angaben. Alle diese Belege stammen von dem Herausgeber und werden in einem eigenen Apparat mitgeteilt.
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Paul Tillich: Das Dasein Gottes und die Religionspsychologie Das Dasein Gottes und die Religionspsychologie. Meine Damen und Herren! Unser Thema, das Dasein Gottes und die Rel-Psychologie möchte ich anknüpfen an eine philosophische Tat, die wie selten eine andere von durchschlagendem Erfolge gewesen ist für die Wissenschaft und für unser ganzes Geistesleben: An Kants Kritik der Gottesbeweise im dritten Teile seiner Kritik der reinen Vernunft.1 Die unmittelbarste und einschneidenste Wirkung hat diese Kritik natürlich auf die Religionswissenschaft und von da auf die Theologie und das religiöse Leben überhaupt gehabt. Die Religionswissenschaft ist durch Kant aus einer Wissenschaft von Gott zu einer Wissenschaft vona der Religion, sie ist durch ihn erst recht eigentlich Religionswissenschaft geworden! Ihre erste Frage geht nicht mehr auf den religiösen Gegenstand, sondern auf die religiöse Funktion. Kant hat seine umwälzende, Kopernikanische Tat in der Philosophie einmal in die Sätze gebracht: „Bisher galt, die Erkenntnis richtet sich nach den Gegenständen“, jetzt gilt: „Die Gegenstände richten sich nach der Erkenntnis“.2 In das Religionsphilosophische übertragen, müßten die Sätze in paradoxer Zuspitzung – die übrigens nach Form und Inhalt nicht von Kant stammt – so heißen: „Bisher galt: Die Religion | richtet sich nach Gott, jetzt gilt: Gott richtet sich nach 2 der Religion.“ Nicht der religiöse Gegenstand bestimmt die religiöse Funktion, sondern die religiöse Funktion bestimmt den religiösen Gegenstand. Meine Damen und Herren! In diesen Formeln, die in ihrer prägnanten Formulierung dem religiösen Bewußtsein so ungeheuerlich erscheinen, ist das ganze Problem, ist die ganze Not, aber auch die ganze Eigenart und diese unsere Geisteslage beschlossen. Um die Lage recht zu verstehen, ist es gut, zuerst einmal Diejenigen zu hören, die aus den vorgetragenen Sätzen die vollen negativen Kon-
1 Vgl. I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, in: ders., Werke in zehn Bänden, Bd. 4, hg. v. W. Weischedel, Darmstadt 1983, B 620–658. 2 I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, B XVI f. a von Einfügung über der Zeile https://doi.org/10.1515/9783110984729-009
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sequenzen gezogen haben. In der vorsichtigen, kritischen Fassung, die an Kant orientiert ist, würde es immer nur heißen können: Der religiöse Gegenstand richtet sich nach der religiösen Funktion, in den vergröberten Formen, von denen jetzt die Rede sein soll, heißt es einfach: Der Gott richtet sich nach dem Menschen, Gott ist ein Geschöpf des Menschen! Wer Gott kennen lernen will, muß den Menschen kennen lernen, der ihn geschaffen hat. Theologie ist Anthropologie, ist speziell Psychologie und nichts als das. Denn in des Menschen Psyche wohnen alleb Götter und einen andern Himmel gibt es nicht. Es ist kein Zufall, daß die schärfste Bekämpfung des Daseins | Gottes sich 3 in die Form einer Religionspsychologie gekleidet hat. Denn die Psychologie hat es eben mit dem religiösen Subjekt und ausschließlich mit ihm zu tun. Sie fragt nach dem was geglaubt wird und wie und warum es geglaubt wird, nicht aber, ob das auch ist, was geglaubt wird. Sie beantwortet nur die Tatsachen- nicht auch die Rechtsfrage bezüglich der Glaubenseinstellungen. Daraus würde nun logischerweise folgen, daß sie das Recht der Glaubenseinstellungen nicht positiv, aber auch nicht negativ behandelt, daß sie die Wahrheitsfrage nicht mit einem Ja, aber auch nicht mit einem Nein beantwortet.c Aber diese logische Selbstbeschränkung legt sich die Religionspsychologie in unzähligen Fällen nicht auf, sie wird bewußt atheistisch, bestreitet das Recht der Glaubenseinstellungen auf Grund ihrer psychologischen Untersuchungen. Dieses merkwürdig inkonsequente, eigentlich unpsychologische Verhalten hat drei Ursachen: Es ist ein fast unwiderstehlicher Zwang, die objektive Geltung von Dingen zu bezweifeln, deren Entstehungsgeschichte man kennt. Das beste Mittel eine Moral zu erschüttern istd das, ihre Genealogie zu schreiben.3 Staaten sind umgestürzt durch höchst problematische Erklärungen ihrer Entstehung, z. B. der französische Feudalstaat durch das historisch-genetische Dogma von contrat social.4 4 Kein Schriftsteller läßt sich | gern in seine Väter schauen und nur was aus dem
3 Vgl. F. Nietzsche, Zur Genealogie der Moral. Eine Streitschrift, in: ders., Kritische Studienausgabe, Bd. 5, hg. v. G. Colli/M. Montinari, Berlin/München 1999, 247–412. 4 Gemeint ist J.-J. Rousseau, Du contrat social ou Principes du droit politique, Amsterdam 1762. 5 Tillich bezieht sich auf F. Hölderlin, Hyperion oder der Eremit in Griechenland, in: ders., Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 1, hg. v. M. Knaupp, Darmstadt 1998, 609–760, hier 685 (1. Bd., 2. Buch): „Die Sichtung sagt‘ ich, meiner Sache gewiß, ist der Anfang und das Ende dieser Wissenschaft. Wie Minerva aus Jupiters Haupt, entspringt sie aus der Dichtung eines unendlichen göttlichen Seins. Und so läuft am End‘ auch wieder in ihr das Unvereinbare in der geheimnisvollen Quelle der Dichtung zusammen.“ b alle Hs: aller c beantwortet. Hs: beantwortet d ist Hs: ist,
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Haupte Jupiters unmittelbar entspringt, gilt als göttlich.5 – Den meisten großen Dingen haftet nun aber ein Ursprung im Dunklen, Niedrigen an, und nichts entwertet mehr als solch ein angeblich oder wirklich unehrenhafter Ursprung. Das gilt nicht nur von einzelnen Menschen und der ganzen Menschheit, deren Würde ja eines Tages durch den Nachweis ihrere biologischen Entstehungsgeschichte aufs schwerste erschüttert erschien,6 das gilt auch von den höchsten geistigen Werten. Ich brauche es wohl kaum zu sagen, daß in Wahrheit der Wert und die Gültigkeit einer Sache von ihrer Entstehungsgeschichte, ob ehrenhaft oder unehrenhaft gänzlich unabhängig ist! Der zweite Punkt ist die Mannichfaltigkeit der religiösen Vorstellungen, die sich mit dem Anspruch der objektiven Gültigkeit, den jede einzelne erhebt, so schlecht zu vertragen scheint; es liegt so nahe, nicht nur diese Mannichfaltigkeit, sondern die Sache selbst, das worin sie alle eins sind und um dessentwillen sie unter einen Begriff gebracht werden können, auf psychologische Ursachen zurückzuführen, und aus der Welt zu erklären. Das aber hängt wieder zusammen mit dem dritten Punkt, | die atheistische Religionspsychologie ist letztlich nicht atheistisch, weil 5 sie Psychologie ist, sondern weil ein atheistisches Dogma auch hinter ihr steht; sie darf das freilich nicht zugeben, und braucht es nicht zuzugeben, da sie es viel wirksamer als einzig exakte psychologische Methode verhüllt. – Es ist nicht ganz leicht, der suggestiven Kraft dieser der logisch leicht zu durchschauenden Voraussetzungen zu entgehen und es ist gut, sie bei der Lektüre und im Gespräch über Religionspsychologie und Gottesgedanke immer vor Augen zu haben; denn sie finden sich überall wieder. Wir beginnen mit Feuerbach. Sein „Wesen des Christentums“ ist gegründet auf eine Psychologie, die mit spekulativen Elementen durchsetzt ist. Das Bewußtsein des Unendlichen, das das Wesen der Religion ausmachen soll, ist nach ihm nur die tatsächliche Unendlichkeit des menschlichen Bewußtseins, die in dieser metaphysischen Form vorgestellt wird. Unendlich ist das Erkennen des Geistes, und so stellt er sich einen Allwissenden vor, unendlich sein Wille, und im Jenseits erscheint ein Allmächtiger, unendlich seine Liebe, und er betet an die ewige göttliche Liebe. Will man die menschliche Seele kennen lernen, so muß man ihre Götter | betrachten, die sie geschaffen hat nach ihrem Bilde, aber nicht nach dem 6 Bilde des individuellen Menschen, sondern der Menschheit, die allein wahrhaft
6 Vgl. C. Darwin, On the Origin of Species by Means of Natural Selection, London 1959. e ihrer zuvor sei,
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unendlich ist. So ist alle Theologie Anthropologie, alle Lehre von Gott Lehre vom Menschen.7 Das wird nun mitf viel psychologischem Scharfblick auf alle Lehren des Dogmas angewandt; nichts bleibt von dem Scheidewasser der psychologischen Analyse verschont und überall erscheint das Bild des Menschen als echter Untergrund des Gottesbildes. Die große geschichtliche Wirksamkeit dieser Anschauung namentlich auf logisch und kritisch ungewappnete Gemüter ist begreiflich; und es ist verständlich, daß auf dem Umwege über Marx Feuerbachs Religionspsychologie die Hauptursache der religiösen Indifferenz in der deutschen Sozialdemokratie geworden ist. Ist es doch selbst dem kritischen Blick nicht ganz leicht, sich dem Eindruck dieser Genealogie der Religion zu entziehen. Und auch das Unehrenhafte wird gefunden: Es ist der Egoismus, der hinter den religiösen Wertsetzungen steht; nicht der gemeine Egoismus freilich; Feuerbach legt Wert darauf, daß seine Erklärung der Religion nicht nur von ihrer gemeinen, sondern wie er sagt, auch 7 von ihrer noblen Seite | ausgeht.8 Aber die noble Seite ist bei ihm nur das Dankgefühl für erfüllte Selbsterhaltungswünsche, womit wohl noch nicht der denkbar höchste Grad der noblesse erstiegen ist. – Ist aber einmal durchschaut worden, daß es nur der bessere Egoismus ist, der die Götter geschaffen hat, um durch sie allerhand zu erreichen, wozu dann noch diesen Umweg? Der Mensch wird wahrhaft Bürger der Erde und schafft auf ihr das Ideal der Menschheit, statt es in die Wolken des Absoluten zu projizieren, schafft es als sozialistisches Reich der Erfüllung, von Marx oder als Typus des höheren Menschen, wie Nietzsche will; und bei beiden erhält das Menschheitsideal das religiöse Pathos, das Feuerbachs Religionspsychologie dem Gott genommen hat. So führt von Kants Zerstörung der Gottesbeweise über Feuerbachs Religionspsychologie, ein direkter Weg zum Socialismus und zum Übermenschen. Im weiteren Verlaufe der Entwicklung Feuerbachs wurden die verborgenen Principien seiner Kritik immer offenbarer: Umgekehrter Hegelianismus, Nationalismus, Materialismus. Und aus der materialistischen Welle, der Feuerbach
7 Vgl. L. Feuerbach, Das Wesen des Christentums, Leipzig 1957, „Wir haben bewiesen, daß der Inhalt und Gegenstand der Religion ein durchaus menschlicher ist, bewiesen, daß das Geheimnis der Theologie die Anthropologie, des göttlichen Wesens das menschliche Wesen ist.“ Für Hinweise zur Religionsphilosophie Ludwig Feuerbachs danke ich Udo Kern (Rostock). 8 Vgl. L. Feuerbach, Das Wesen des Christentums, 64 f. Vgl. auch K. Leese, Die Prinzipienlehre der neueren systematischen Theologie im Lichte der Kritik Ludwig Feuerbachs, Leipzig 1912, 33 f. f mit Einfügung über der Zeile
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erlag und die er selbst mächtig stärkte, ging dann die sogen. exakte | Psychologie 8 hervor, deren religionspsychologischen Produktionen wir uns jetzt zuwenden wollen; sie sind im Vergleich mit Feuerbach meistens wenig originell und vielfach recht unbedeutend. Ich greife Ebbinghaus heraus, Leitfaden der Psychologie: Die Religion ist eine Anpassungserscheinung der Seele an bestimmte üble Folgen ihres vorausschauenden Denkens und zugleich eine Abwehr dieser Folgen mit den ihr zur Verfügung stehenden Mitteln. „Furcht und Not sind ihre Mütter“ heißt es von der Religion.9 Ihren Inhalt aber, die Mythen, gewinnt sie durch die Neigung des primitiven Menschen, alle Dinge zu vermenschlichen, um mit ihnen umgehen zu können.10 Universaler Seelenglaube, Pandämonismus, schafft die Götter. Auch hier haben wir die Genealogie der Religion, die noch viel weniger als die Feuerbachs ehrenvoll ist. Furcht, Not und intellektuelle Primitivität sind ihre Mütter. Natürlich kann auch diese unerfreuliche Entstehungsgeschichte an sich nichts gegen die Sache selbst beweisen. Mag schon Furchtgefühl die erste Form gewesen sein, in der die Menschheit zum Gottesbewußtsein kam, und mag die Denkform | primitiv gewesen sein – was ist damit über Recht und Unrecht des 9 religiösen Bewußtseins gesagt? Gar nichts! Aber nun schieben sich unbewußt die dogmatischen Voraussetzungen dazwischen. Sie werden wirksam zunächst in der Methode, nach der alle höheren Geistestätigkeiten auf die Elemente der PsychoPhysik zurückzuführen sindg, dann in einem religiös gefärbten Glauben an die Naturgesetze, demgegenüber man auch einmal als Psychologe auftreten und fragen könnte: Sollten nicht auch die unverbrüchlichen Naturgesetze oder die Materie oder das Sein Produkte der Furcht vor Unruhe, Produkte eines metaphysischen Ruhebedürfnisses sein, eine Anpassungserscheinung der Seele genau wie die Götter? So könnte man fragen und Friedrich Nietzsche, der doch ein größerer Psychologe war als unsere Psychologen alle, würde mit Ja antworten. Wir kommen nun zu der Dritten und modernsten Form der atheistischen Religionspsychologieh, die ich erwähnen will, der sexualpsychologischen. Sie wird ausgeübt besonders in der Schule des Wiener Nervenarztes Freud, der sich dabei auf das Material stützt, das er bei | sogenannten psychoanalytischen Unter- 10
9 H. Ebbinghaus, Abriss der Psychologie, Berlin/Leipzig 1908, 162 f.: „Das sind die Wurzeln der Religion. Sie ist eine Anpassungserscheinung der Seele an bestimmte üble Folgen ihres vorausschauenden Denkens und zugleich eine Abwehr dieser Folgen mit den ihr zur Verfügung stehenden Mitteln. Furcht und Not sind ihre Mütter“. 10 Vgl. H. Ebbinghaus, Abriss der Psychologie, 160 f. g zurückzuführen sind korrigiert aus zurückgeführt werden; zu zu sind Einfügung über der Zeile h Religionspsychologie korrigiert aus Religionsphilosophie; psychologie über der Zeile
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suchungen seiner Patienten zu Tage bringt.11 Auf Grund dieses Materials wird nun versucht nicht nur die anormalen, sondern auch die normalen Äußerungen des seelischen Lebens als Erscheinungen verdrängter und sublimierter Sexualität zu deuten. Sehr erfolgreich sind diese Erklärungen natürlich bei einer Reihe von Natur-Gottheiten und -Kulten, bei Erscheinungen der Jesus- und Marienmystik, der Askese und der Bekehrung. In üblicher Übertreibung eines an sich sehr wichtigen Gesichtspunktes hat man dann versucht, die Religion auch völkerpsychologisch aus Erotogenesis abzuleiten, konnte es aber nicht ohne zu-Hilfe-Nahme der schon bekannten Erklärungsmittel, Furcht, Grauen, primitives Denken. Es kann eben niemand zeigen, warum die Verdrängung und Sublimierung gerade die Form der Religion annimmt, wenn man nicht die Religion, die man erklären wollte, schon voraussetzt. Und wenn es Tatsache ist, daß in der Zeit der stärksten sich entwickelnden Sexualität die meisten Bekehrungen vorkommen, so ist doch damit über den Gehalti des in der Bekehrung erlebten Sinnkomplexes ebenso 11 wenig gesagt, wie durch eine ähnliche Statistik auf dem Gebiet der | Lyrik über Sinn und Bedeutung lyrischer Gedichte etwas gesagt wäre. Damit verlassen wir diese Formen der Religionspsychologie, die sich negativ zum Dasein Gottes stellen, in der Erwartung freilich, daß sie uns nicht verlassen, sondern in immer neuen Formen wiederkehren werden, aber immer mit demselben doppelten Kniff, ihr eignes Dogma zu verhüllen, und irgend etwas Anstößiges in der Entstehung der Religion zu enthüllen. Und es ist gut diesen Kniff zu kennen, um gegen ihn gewappnet zu sein.
11 Auf welche Schriften von Sigmund Freud sich Tillich hier bezieht ist nicht deutlich. Vgl. jedoch S. Freud, Sammlung kleiner Schriften zur Neurosenlehre. Dritte Folge, Leipzig 1913; ders., Totem und Tabu. Einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und Neurotiker, Leipzig/Wien 1913. In seiner Vorlesung Das Christentum und die Gesellschaftsprobleme der Gegenwart vom Sommersemester 1919 kommt Tillich ebenfalls auf die „Sexualogie der Freudschen Schule“ (EW XII, 173) zu sprechen. Hier nennt er Hans Blüher und Heinrich Schurtz, die sich auf Freud beziehen. Vgl. H. Blüher, Die deutsche Wandervogelbewegung als erotisches Phänomen. Ein Beitrag zur Erkenntnis der sexuellen Inversion, Berlin 1912; ders., Die Rolle der Erotik in der menschlichen Gesellschaft, 2 Bde., Jena 1917/1919; Heinrich Schurtz, Altersklassen und Männerbünde. Eine Darstellung der Grundformen der Gesellschaft, Berlin 1902. Von einer „Freudschen Schule“ und ihren sexualpsychologischen Erklärungen der Religion spricht auch Ernst Troeltsch in seinem Aufsatz Empirismus und Platonismus in der Religionsphilosophie aus dem Jahre 1912, nennt aber keine Namen. Vgl. E. Troeltsch, Empirismus und Platonismus in der Religionsphilosophie. Zur Erinnerung an William James, in: ders., Zur religiösen Lage, Religionsphilosophie und Ethik. Gesammelte Schriften, Bd. 2, Tübingen 21922, ND Aalen 1962, 304–385, hier 379. i Gehalt Einfügung über der Zeile für Sinn
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Wir gehen nun über zu der entgegengesetzten Richtung: derjenigen Religionspsychologie, die es unternimmt, von sich aus den Beweis des Daseins Gottes anzutreten. Der geistvollste Vertreter dieser Richtung ist der Amerikaner James in seinem von Wobbermin übersetzten Buch: Die religiöse Erfahrung in ihrer Mannichfaltigkeit. Es bedurfte für dieses Unternehmen eines von jedem rationalen Dogma, idealistischen, materialistischen, nationalistischen, freien Empirikers, wie sie vielleicht nur | die junge amerikanische Kultur aufweisen kann. 12 James will nur beobachten und er findet, daß in mannichfaltigen Formen ein Realitätsgefühl dem Unsichtbaren gegenüber vorkommt. So wirken Ideen, wie Wahrheit, Schönheit, Ehre Güte trotz ihres abstrakten Charakters auf den Menschen ein, wie eben nur etwas Wirkliches wirken kann.12 Ähnlich die pantheistischmystischen Erlebnisse, in denen die Harmonie des Universums oder das absolute Sein mehr Realität gewinnt, als alle konkreten Dinge, oder die abstrakten Vorstellungen, des Gegenwärtigen, Zukünftigen, Vergangenen, Begriffe, Gesetze, die realere Wirkungen haben als unmittelbar gegenwärtiges Konkretes. Anderer Art sind die hallunzinatorischen Realitätserlebnisse, von denen schlagende Beispiele gegeben werden, oder die visionären und ekstatischen Schauungen, die den Einblick in ein die Empirie überschreitendes Reich der Wirklichkeit gewähren u. s. f. Allen diesen Erfahrungen gemeinsam ist das Realitätsgefühl Dingen gegenüber, idealen oder realen, die der Sinnesempfindung schlechthin entzogen sind. Auf dieses Re| alitätsgefühl konzentriert sich nun das religionspsychologische 13 Interesse. Ich citiere S. 54: „Es ist als wenn im menschlichen Bewußtsein eine Empfindung von etwas Realem, ein Gefühl von etwas wirklich Vorhandenem, eine Vorstellung von etwas objektiv Existierendem lebte, die tiefer und allgemeingültiger ist, als irgend eine der einzelnen und besondren Empfindungen durch welche nach der Meinung der heutigen Psychologie die Realität geoffenbart wird“ … und alles was dasselbe Realitätsgefühl wie die Sinnesempfindung erweckt, „würde dann doch denselben Rechtsanspruch haben, als real zu gelten, der den Sinnesobjekten ohne weiteres zugesprochen wird. Soweit die religiösen Vorstellungen dies Realitätsgefühl zu erwecken vermögen, müßte ihnen13 Glauben geschenkt werden.“ James sucht auch den organischen Sitz dieses Gefühls zu finden, und meint es könnte zusammenhängen mit den Innervationsempfindungen, d. h.
12 Vgl. W. James, Die religiöse Erfahrung in ihrer Mannigfaltigkeit. Materialien und Studien zu einer Psychologie und Pathologie des religiösen Lebens, übers. von G. Wobbermin. Leipzig 1907, 52. 13 An dieser Stelle tilgt Tillich „aller Kritik zum Trotz“. Vgl. W. James, Die religiöse Erfahrung in ihrer Mannigfaltigkeit, 54.
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mit der Empfindung, daß unsere Muskeln sich zur Tätigkeit anschicken.14 Was unsere Tätigkeit in Bewegung setzt, ob konkret oder abstrakt, hätte als wirklich 14 zu gelten. | James wehrt sich dagegen, daß die Frage, ob etwas ist oder nicht, vom Verstande entschieden werde. Er hält dies für beschränkten Rationalismus, der nur für ein kleines Oberflächengebiet berechtigt ist, dem aber das ganze unterbewußte Gebiet als das entscheidende, alle Überzeugungen schaffende gegenübersteht. Hat jemand überhaupt Intuitionen, so kommen sie aus dem tiefen Inneren der menschlichen Natur, nicht von der geschwätzigen Oberfläche, die der Rationalismus befasst. Auf diese Tiefe des menschlichen Unterbewußtseins wirkt nun auch das Göttliche und gibt durch das Realitätsgefühl seine Gegenwart kund. Es entspricht nun dieser Methode, wenn James, der sich persönlich zum Monotheismus bekennt, die Möglichkeit des Polytheismus in Betracht zieht, wenn er nicht bloß von einem Universum, sondern von einem Multiversum reden will. Denn es gibt nach seiner Methode natürlich kein Kriterium dafür, ob die verschiednen religiösen Realitätsgefühle verschiedenen Gottheiten oder in mancherlei Form einer Gottheit entsprechen. Konsequent ist eigentlich nur die erste Antwort: James ist 15 dem Polytheismus gegenüber wehrlos! | Die ganze Auffassung hat für unser alteuropäisches, insonderheit kontinentales Denken etwas stark Befremdendes, schwer zu Fassendes. Es ist uns durch jahrhundertelange Denkerziehung fast unmöglich geworden, das rationale Element ganz auszuschalten. Und doch müssen wir es tun, um den Begriff des Realitätsgefühles in seiner ganzen Bedeutung für James zu verstehen. Für uns ist Realität eine Kategorie des Denkens, die wir anwenden, wenn bestimmte erkenntnistheoretische Voraussetzungen erfüllt sind, nämlich Anschauungsmöglichkeit und Einordnungsmöglichkeit in den Gesamtzusammenhang der Dinge. Träume und Halluncinationen sind zwar anschaulich, aber können nicht eingeordnet werden in den Zusammenhang der Dinge; darum beurteilen wir sie trotz des Realitätsgefühles, das sie erwecken, als nicht real. Wenn nun aber dieser Maßstab weg fällt als lediglich dem Verstande zugehörig, so bleibt nichts übrig als das Realitätsgefühl, das ist ganz konsequent. Und James meint sogar, daß tatsächlich jeder Mensch, auch der größte Rationalist, sich bei der Realitätsfrage von seinen Intuitionen und Realitätsgefühlen, nicht von rationalen Urteilen leiten ließe. 14 Vgl. W. James, Die religiöse Erfahrung in ihrer Mannigfaltigkeit, 58 f., hier 59: „Nichts liegt näher, als dieses Gefühl [sc. das Realitätsgefühl] mit der Innervationsempfindung in Verbindung zu bringen, d. h. mit der Empfindung, daß unsre Muskeln sich zur Tätigkeit anschicken. Was auch immer unsre Tätigkeit in Bewegung setzt, oder uns Gänsehaut erregt – und unsre Sinne tun das am häufigsten – könnte dann als real und gegenwärtig erscheinen, selbst wenn es nur eine abstrakte Idee wäre.“
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Aber das entspricht doch nicht den Tatsachen. Es gibt doch | zahllose Reali- 16 tätsgefühle bei dem einzelnen und namentlich in der Menschheitsentwicklung, die durch rationale Kritik verschwunden sind. Ich erinnere an das Aufhören der intensiven und reichen Realitätsgefühle, die sich an die katholische Heiligen- und Marienverehrung und an das Meßopfer knüpften, und die so schnell unter der reformatorischen Kritik verschwanden. Seltener wird das Umgekehrte der Fall sein, daß die rationale Erwägung Realitätsgefühle schafft. Aber sehr oft wird sie im Stande sein, wankend gewordene Realitäts-Überzeugungen zu stützen und ihnen ihre alte Festigkeit zu geben. Wir müssen also anerkennen, daß die Realitätsgefühle dem Verstande gegenüber nicht schlechterdings souverän sind. Sehr schwierig wird auch die Stellung von James anbetracht der Tatsache, daß es widersprechende Realitätserlebnisse gibt. Wenn bei einer überraschenden Errettung der eine die Gegenwart der Mutter Gottes, der andere die Hülfe Jesu, der dritte die Wirkung eines dunklen Fatums, der vierte die unverbrüchliche Naturnotwendigkeit erlebt, so wird bei allen ein Realitätsgefühl vorhanden sein; aber das Urteil über den Inhalt dessen was als gegenwärtig erlebt wird, widerspricht sich. Welches Realitätsgefühl hat nun Recht? Das Gefühl kann | nicht entschei- 17 den; denn es ist vieldeutig; also blieb nichts weiter übrig, als überhaupt einj Realitätsgefühl festzustellen, dessen Inhalt nicht näher zu bestimmen wäre, womit freilich nicht viel gewonnen ist, am allerwenigstenk für die Religion; wird aber eine Entscheidung gefällt zwischen den widersprechenden Erlebnissen, so ist es die Ratio, die entscheidet. Übrigens hat James selbst dem Eindringen des Rationalen eine breite Tür öffnen müssen, indem er Realitätsgefühle feststellt, die sich auf Abstraktionen, Begriffe, Ideen beziehen. Auch ein zweifellos falscher Begriff kann Innervationsimpulse zum Handeln geben; es müßten dann auch falsche Begriffe eine Realität haben; sie haben sie ja auch, aber nur im Kopfe dessen der sie denkt. Mit dieser Realität aber ist uns nicht viel geholfen. Wir stellen also fest, daß auch der reine Empirismus in der Religionspsychologiel nicht im Stande ist, die Realität des religiösen Gegenstandes, das Dasein Gottes von sich aus zu beweisen. In jedem Erlebnis ist ein Urteil enthalten. Wo nun die Urteile in Widerspruch geraten, kann nicht wieder das Erlebnis, sondern muß die Gesetzmäßigkeit des Urteilens selbst entscheiden. | 18 Wollte nun James seine Position dadurch retten, daß er sagt: Es ist immer der gleiche Gegenstand Gott, der in den verschieden religiösen Realitätsgefühlen auf
j ein korrigiert aus eine k allerwenigsten Hs: allerwenigste l psychologie Einfügung über der Zeile für geschichte
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mancherlei Art erlebt wird, so ist das zweifellos eine rein rationale Idee, für die es in den einzelnen Erfahrungen keinerlei Anhalt gibt. Auch auf diesem Wege zwingt die Tatsache des Widerspruchs zu einer rationalen Synthese. Ehe wir nun James entlassen, möchte ich die positive Bedeutung hervorheben, die seine Einführung des Realitätsgefühls in die religionspsychologische Untersuchung hat; es wird von größter Wichtigkeit sein, festzustellen, wie sich die verschiedenen Arten von Gegenständen im Realitätsgefühl widerspiegeln, welche Reaktionen sie hervorzurufen vermögen, was sie inhaltlich erleben lassen; ob ideale oder reale Gegenstände, ob Konkretes oder Abstraktes, ob gläubige, mystische oder visionäre Erfassung des Unsichtbaren, das alles gibt wesentliche Unterschiede des Realitätserlebens. Und auch eine eingehende Analyse des Inhaltes ergibt oft überraschende Resultate. So hat z. B. der Tübinger Religionsphilosoph Konstantin Österreich nachzuweisen versucht, daß die mystischen Gotteserlebnisse in Wirklichkeit Erlebnisse der Werthöhe des eignen Zustandes sind.15 Man 19 erlebt sich selbst | in einem so überwältigend erhöhten Zustande, daß man ihn als göttlich deutet. Weiter wird diskutiertm, ob die sogenannten parapsychischen Erlebnisse, wie Spiritismus, Okkultismus, Theosophie etwas für die Gotteserkenntnis bedeuten können. Wenn sich herausstellen sollte, daß es tatsächlich seelische Fernwirkungen gibt, könnte dann nicht auch Gott auf die Seele wirken, und aus dieser seiner Wirkung erkannt werden? Würde sich auf dem Wege der parapsychischen Realitätserlebnisse ein Weg zur Erkenntnis des Daseins Gottes finden lassen? Meine Damen und Herren! Wenn wir uns in das Labyrinth dieser jungen und jüngsten Problemstellungen hineinbegeben, wollen wir den Faden der Ariadne nicht aus den Händen lassen, der gesponnen ist aus den Elementen, einem logischen, einem philosophischen und einem religiösen. Der logische Grundsatz darf nie vergessen werden, daß der Schluß von der Wirkung auf die Ursache zweifelhaft bleibt, da jeder Vorgang mehreren Ursachen haben kann; wenn wir aus einer
15 Vgl. T. K. Oesterreich, Die religiöse Erfahrung als philosophisches Problem, Berlin 1915. Den Hinweis auf Konstantin Oesterreich könnte Tillich seiner Lektüre von Ernst Troeltschs Rezension von Oesterreichs Die religiöse Erfahrung als philosophisches Problem verdanken. Denn der Begriff „Werthöhe“, von Troeltsch in diesem Zusammenhang verwendet und wohl auch geprägt, lässt sich nämlich bei Oesterreich selbst nicht nachweisen. Vgl. E. Troeltsch, Rezensionen und Kritiken (1915–1923) (= KGA, Bd. 13), hg. v. F. W. Graf, Berlin/New York 2010, 118–121, hier 119, Anm. 2. Den Hinweis auf die Rezension von Ernst Troeltsch verdanke ich Friedrich Schumann (Wien). m diskutiert korrigiert aus disgutiert n mehrere korrigiert aus gemehrere
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außergewöhnlichen Wirkungo auf Gott als Ursache schließen, ja schon auf überirdische Geister irgend welcher Art, so bleibt dieser Schluß | allezeit zweifelhaft. 20 Es müssen auch immer andere Erklärungsmöglichkeiten offen gelassen werden. Darauf aber kann sich keine Religion gründen. Philosophisch ist zu bemerken, daß bei vielen dieser Meinungen ein falscher Geistbegriff, eine Verwechslung von Seele und Geist vorliegt; überall da, z. B.p wo von Geistern die Rede ist. Besonders die Amerikaner sind geneigt eine Materialisierung des Geistesbegriffes eintreten zu lassen und den Geist zu einer Art wirkenden Substanz zu machen. Mag es psychisch organisierte Wesen anderer und höherer Ordnung geben, geistigeq Substanzen, Geister sind es darum noch lange nicht. Denn der Geist ist nicht Substanz, sondern Sinn, Wert, ideale Ordnung, Vernunft; und diesen Geistbegriff wollen wir uns durch keinen amerikanischen Geist-Materialismus rauben lassen. Endlich ist zu bemerken, daß wenn Gott in dem besprochnen Sinn ein Geisteswesen wäre, er gewissermaßen zu einem Gegenstand neben andern, zu einem Ding unter oder über den Dingen würde. Esr wäre aber kein Grund für einen autonomen Menschen vorhanden, einem solchen Wesen gegenüber vollkommenen Gehorsam, Liebe und Vertrauen im absoluten Sinne zu haben; Es wäre ein übermächtiger Tyrann, ein Demiurg, gegen den sich zu erzürnen unsere erste Pflicht wäre … wie die alten Gnostiker es schon empfanden. | 21 Wir fassen nun unsere bisherigen Untersuchungen in dem Urteil zusammen, daß die Religionspsychologie in keiner Weise im Stande ist, weder negativ noch positiv über den religiösen Gegenstand, über Gott etwas auszusagen. Damit sind wir auf unsern Ausgangspunkt zurückgeworfen, den problematischen Satz, den wir aus Kants Umkehrung des Denkweges ableiteten: Gott richtet sich nach der Religion. Es scheint als ob damit der Gottesgedanke überhaupt verloren gehen müßte für das philosophische Erkennen. Nun kann aber die kritische Formel noch etwas drittes bedeuten: Das religiöse Bewußtsein enthält, wie das theoretische, ethische und ästhetische Sätze, die a priori, vor aller Erfahrung gelten. Es sind dies gewissermaßen die Funktionsgesetze des Geistigen, die immer angewandt werden und nie in Zweifel kommen können, da sonst der Geist sich selbst aufheben müßte. In der Fülle der psychischen Vorgänge finden sich gewisse wiederkehrende Formen, die das Logische, Ethische,
o Wirkung zuvor Ursache p z. B. Einfügung über der Zeile q geistige korrigiert aus Geistige; zuvor dem r Es zuvor Alle
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Religiöse als solches konstituieren und darüber entscheiden, z. B.s was religiös ist und was nicht. Diese Methode hat in erster Linie Schleiermacher eingeschlagen. 22 Er definiert Religion als schlechthinnigest | Abhängigkeitsgefühl und Gott als das „Woher“ dieses Abhängigkeitsgefühls.16 In dieser Lösung ist enthalten: Ein psychologisches, ein erkenntnistheoretisches und ein metaphysisches Element. Der Gang ist dabei folgender: Erst wird aus dem Tatbestand der vorhandenen Religionen eine Wesensdefinition nach psychologischer Methode herausgearbeitet. Dann wird aus dieser Definition das allgemeine Formalgesetz des Religiösen entwickelt; endlich wird in diesem Formalgesetz der religiöse Gegenstand gefunden. In einer Reihe von Aufsätzen hat Tröltsch sich der Ausbildung und Weiterführung dieser Methode angenommen; es ist hier nicht der Ort darauf einzugehen.17 Ich möchte nur im Rahmen unsers Themas die Frage stellen: Ist damit ein direkter, notwendiger Weg von der Religionspsychologie zum Dasein Gottes gefunden, ein Weg vom religiösen Subjekt zum religiösen Objekt? Ich mußu diese Frage verneinen, und zwar ist der erste Übergang so wenig notwendig wie der zweite. Es ist eine der mächtigsten Fragen der Erkenntnistheorie, wie aus der Fülle des Psychologischen Geltungs-vGesetzew entwickelt werden können, wie sich empirische Psychologie zu Transcendentalpsychologie verhält. Wie man aber 23 auch das Verhältnis bestimmen mag, und wie sehr man auch das empiri| sche Material präparieren und in eine Formel zusammenfassen mag, einx Formgesetz, das Geltung beanspruchen könnte auch für alle Zukunft mit der Fülle des neuen
16 Vgl. F. Schleiermacher, Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der Evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt, hg. v. M. Redeker, Berlin/New York 1999, 23–30 (§ 4), bes. 28 f. (§ 4.4): „Wenn aber schlechthinnige Abhängigkeit und Beziehung mit Gott in unserm Satze gleichgestellt wird: so ist dies so zu verstehen, daß eben das in diesem Selbstbewußtsein mitgesetzte Woher unseres empfänglichen und selbsttäthigen Daseins durch den Ausdruck Gott bezeichnet werden soll, und dieses für uns die wahrhaft ursprüngliche Bedeutung desselben ist.“ 17 Vgl. E. Troeltsch, Psychologie und Erkenntnistheorie in der Religionswissenschaft, in: ders., Schriften zur Religionswissenschaft und Ethik (1903–1912) (= KGA, Bd. 6,1), hg. v. T. Rendtorff, Berlin/Boston 2014, 215–256; ders., Wesen der Religion und der Religionswissenschaft, in: ders., Zur religiösen Lage, Religionsphilosophie und Ethik (= Gesammelte Schriften, Bd. 2), Tübingen 2 1922 = ND Aalen 1962, 452–499; ders., Zur Frage des religiösen Apriori. Eine Erwiderung auf die Bemerkungen von Paul Spieß, in: ders., Zur religiösen Lage, Religionsphilosophie und Ethik (= Gesammelte Schriften, Bd. 2), Tübingen 21922 = ND Aalen 1962, 754–768. s z. B. Einfügung über der Zeile t schlechthinniges zuvor ein u muß Einfügung über der Zeile für möchte v Geltungs- Einfügung über der Zeile für geltende w Gesetze über der Zeile der x ein korrigiert aus einem
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Materials, das sie bringen kann, ein solches Formgesetz aus der Erfahrung zu finden ist unmöglich. Die transcendentalpsychologischey Methode muß darum bei der Struktur der Vernunft selbst einsetzen und aus ihr diez Geltungsgesetze für das Religiöse ableiten. So z. B. wenn sie in dem Bewußtsein der Einheit des Unendlichen und Endlichen, wie Schleiermacher18 oder in der notwendigen Substanzbeziehung, wie Tröltsch das religiöse a priori faßt.19 Diese Formeln zeigen aber ohne weiteres, daß bei ihnen nicht die Religionspsychologie, sondern die allgemeine Philosophie Pate gestanden hat. Das a priori, das Geltungsgesetz ruht nicht auf der Psychologie, sondern steht auf eignen Füßen. Also auch von hier aus geht es nun nicht ohne weiteres zum religiösen Gegenstand. Man kann von den Geltungsgesetzen, die im Bewußtsein gefunden sind, fortschreiten zu einem umfassenden, universellen Bewußtsein, zu einem Bewußtsein überhaupt, dessen Geltung über allen einzelnen steht, und kann darin den Gegenstand der Religion wiederfinden.20 Damit sind wir aber – darüber kann kein Zweifel sein – wieder bei dem | Gottesbeweise angelangt; in unvergleichlich viel 24 feinerer Form freilich, als vor Kant, aber sachlich ist esaa doch das Gleiche.
18 Tillich bezieht sich hier auf Schleiermachers Reden Über die Religion. Vgl. F. Schleiermacher, Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern (1799), hg. v. G. Meckenstock, Berlin/New York 1999, 82: Die Eigenart der religiösen Anschauung bestehe darin, „alles Einzelne als einen Theil des Ganzen, alles Beschränkte als eine Darstellung des Unendlichen“ hinzunehmen. Auf diese Weise hatte Tillich bereits in seiner philosophischen Dissertation Die religionsgeschichtliche Konstruktion in Schellings positiver Philosophie von 1910 im Anschluss an Wilhelm Windelbands Lehrbuch der Geschichte der Philosophie Schleiermachers Religionsbegriff gedeutet. Vgl. P. Tillich, Die religionsgeschichtliche Konstruktion in Schellings positiver Philosophie, ihre Voraussetzungen und Prinzipien, in: ders., Frühe Werke, hg. v. G. Hummel/D. Lax, Berlin/ New York 1998, EW IX, 156–272, hier 233, Anm. 334. Vgl. aber auch ders., Religionsphilosophie (Sommersemester 1920), in: ders., Berliner Vorlesungen I (1919–1920), hg. v. E. Sturm, Berlin/New York 2001, 333–584, hier 437. 19 Vgl. E. Troeltsch, Wesen der Religion und der Religionswissenschaft, 494 f.: „Es [sc. das religiöse Apriori] liegt in der aus dem Wesen der Vernunft heraus zu bewirkenden absoluten Substanzbeziehung, vermöge deren alles Wirkliche und insbesondere alle Werte auf eine absolute Substanz als Ausgangspunkt und Maßstab bezogen werden. Damit ist schon gesagt, daß dieses religiöse Apriori auf den Zusammenhang mit den andern Apriori angewiesen ist und ihrer inneren Einheit überhaupt erst den letzten festen Substanzgrund gibt.“ 20 Vgl. W. Windelband, Das Heilige. Skizze zur Religionsphilosophie, in: ders., Präludien. Aufsätze und Reden zur Philosophie und ihrer Geschichte, Bd. 2, Tübingen 7/81921, 295–332. y transcendentalpsychologische Hs: transcendentale; psychologische Einfügung über der Zeile z die zuvor das aa ist es Einfügung über der Zeile
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So findet man denn in der Gegenwart vielfach ein Nebeneinander von Reli gionspsychologie und Metaphysik, das aber dadurch erträglich gemacht wird, daß aufab beiden Wegen das gleiche Resultat erzielt wird. Das Resultat der religionspsychologischen Analyse und der metaphysischen Syntheseac harmonieren: So bei Wundt,21 bei Dürr,22 bei Maier23 in der Psychologie des irrationalen Denkens, bei Tröltsch, bei James. Auf der einen Seite eine Definition der Religion aus der Psychologie, namentlich der Primitiven, worin die Religion als mystisches Gegenwartserlebnis eines Transcendenten definiert wird, aufad der andern Seite eine Metaphysik, die von einem Universum, einer Totalität, einem geistigen Seinsgrunde der Dinge spricht und das Wesen der Religion in dem realen Erlebnis dieses letzten metaphysischen Begriffs sieht. Damit ist nun aber die Erkenntnis des Daseins Gottes wiederae abhängig geworden von der Metaphysik mit all dem Problematischen was der Metaphysik 25 anhaftet und dem Gewißheitscharakter des Religiösen so sehr widerstreitet. | Aus dieser Sachlage stammt nun eine Lösung, die das Wesen der Religion zu verstehen sucht ohne den religiösen Gegenstand. Georg Simmel hat in verschiedenen Schriften, am schönsten in seinem Rembrandtbuch diese Lösung angedeutet;24 er unterscheidet objektive und subjektive Religion; die objektive hat es mit Gott, Kultus, Dogma, Kirche etc. zu tun, die subjektive ist nur eine Schwingung, ein Rythmus, eine Färbung des ganzen Daseins; auf sie allein kommt es an; sie macht das Wesen der Religion aus und wird mehr und mehr auch ihre einzige Erscheinungsform sein. – Ist damit wirklich die Konsequenz aus allem Bisherigen gezogen? Ist der Verzicht auf objektive Religion, auf das Dasein Gottes wirklich die letzte Konsequenz der ganzen Entwicklung, die vom religiösen Objektaf zum religiösen Subjekt, von der Metaphysik zur Religionspsychologie ging? Ich glaube nicht! Und so bedeutend auch die Simmelschen Gedanken für die Psychologie der subjektiven Religion und für das Verhältnis von Religion
21 Vgl. W. Wundt, Völkerpsychologie. Eine Untersuchung der Entwicklungsgesetze von Sprache, Mythos und Sitte, 10 Bde., Leipzig 1900–1920. 22 Vgl. E. Dürr, Grundzüge einer realistischen Weltanschauung, Leipzig 1907. 23 Vgl. H. Maier, Psychologie des emotionalen Denkens, Tübingen 1908. 24 Vgl. G. Simmel, Rembrandt. Ein kunstphilosophischer Versuch, Leipzig 1917; ders., Die Religion, Frankfurt a.M. 1912. ab auf zuvor in beiden Fällen das ac Synthese Einfügung über der Zeile für Deduktion ad auf zuvor den ae wieder Einfügung über der Zeile af Objekt zuvor Su
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und Kultur sind, das Problem des religiösen Gegenstandes ist damit noch nicht erledigt. | 26 Ich möchte darumag noch über eine Lösung berichten, die an Originalität und Tiefsinn die bisher genannten übertrifft, wenn sie auch an Wirksamkeit und Bekanntheit ihnen weit nachsteht. Sie ist enthalten in Schellings Philosophie der Mythologie und gipfelt in dem Satz: Mythologie ist Theogonie, ist reales Werden Gottes.25 Wenn wir das religiöse Bewußtsein betrachten, so haben wir es nicht nur mit menschlichen Vorgängen zu tun, sondern mit transcendenten, göttlichen. Wir brauchen gar nicht mit Rückschlüssen einen religiösen Gegenstand zu erreichen suchen; wir haben ihn; denn Bewußtseinsgeschichte ist Gottesgeschichte. Die Principien oder wie Schelling sagt, die Potenzen der Wirklichkeit kämpfen um das menschliche Bewußtsein, lösen sich ab, und kommen schließlich in der absoluten Religion in ihr normales Verhältnis. So wird jede psychologische Aussage über die Entwicklungsformen des religiösen Bewußtseins zu einer Aussage über Gott selbst. Wir werden uns diesen Formeln gegenüber, die in manchem an die alte Gnosis erinnern, stark kritisch verhalten müssen, wie überhaupt zu den ganzen philosophischen Voraussetzungen der Konstruktion; wir werden andrerseits zugeben müssen, daß hier wirklich eine Lösung des großen Problems, | das uns 27 beschäftigt hat, ernsthaft und mit Erfolg angestrebt ist: Religiöses Bewußtsein und religiöser Gegenstand dürfen nicht auseinandergerissen werden, wie es gemeinhin geschieht. Die Psychologie darf den Menschen nicht entgöttlichen, die Metaphysik Gott nicht verdinglichen. Gottes Dasein und des Menschen Psyche sind nicht zwei Sachen, die auseinanderwären, daß man sie zusammenbringen müßte und doch nicht zusammenbringen kann, nachdem sie einmal getrennt sind. Die Religionspsychologie ohne Gott ist eine methodische Abstraktion, die
25 Vgl. F. W. J. Schelling, Historisch-kritische Einleitung in die Philosophie der Mythologie, in: ders., Sämmtliche Werke, Bd. XI, hg. v. K. F. A. Schelling, Stuttgart/Augsburg 1856, 1–252, bes. 207: „Es sind überhaupt nicht die Dinge, mit denen der Mensch im mythologischen Proceß verkehrt, es sind im Inneren des Bewußtseyns selbst aufstehende Mächte, von denen es bewegt ist. Der theogonische Proceß, durch den Mythologie entsteht, ist ein subjectiver, inwiefern er im Bewußtseyn vorgeht und sich durch Erzeugung von Vorstellungen erweist: aber die Ursachen, und also die Gegenstände dieser Vorstellungen sind die wirklich und an sich theogonischen Mächte, eben dieselben, durch welche das Bewußtseyn ursprünglich das Gott-setzende ist. Der Inhalt des Processes sind nicht bloß vorgestellte Potenzen, sondern die Potenzen selbst – die das Bewußtseyn, und da das Bewußtseyn das Ende der Natur ist, die die Natur erschaffen, und daher auch wirkliche Mächte sind.“ Vgl. auch P. Tillich, Die religionsgeschichtliche Konstruktion in Schellings positiver Philosophie, ihre Voraussetzungen und Prinzipien, EW IX, 197–231. ag darum Einfügung am oberen Zeilenrand für nur
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unwahr wird, sobald sie sich dogmatisch gebärdet; und dann freilich gibt es von ihr keinen Weg zu Gott. Die Metaphysik die Gott zu einem Gegenstand über den Gegenständen, zu einem, logisch gesprochen, Ding neben und über den Dingen macht, kann es zu keiner Gewißheit bringen; von diesem Gott gibt es keinen Rückweg zu dem Menschen. So endet unsere Untersuchung in der Forderung, das religiöse Bewußtsein und den religiösen Gegenstand als eine Einheit zu denken, die gleichzeitig psychologisch und geltungsphilosophisch zu untersuchen ist: Zwei Anschauungsformen, 28 nicht zwei Gegenstände, das| selbe was wirah Sinn, Geist, ideale Ordnung, Welt der Werte, Transcendenz der Dinge nennenai, einmal als empirische Tatsache psychischer Typen und Entwicklungsformen, das andere Mal als gültige Norm und Wahrheit:aj Als religiöses Bewußtsein und als religiöser Gegenstand, als Mensch und als Gott.
ah was wir Einfügung am oberen Zeilenrand ai nennen Einfügung am oberen Zeilenrand, folgt ein unlesbares Wort aj Wahrheit: folgt gestrichen Der Religionspsychologie bleibt aber dann noch die besondere [darüber geistige] Aufgabe, die ihr James gezeigt hat, nachzuweisen, wie jeder besondern Form, in der Gott im Bewußtsein wirklich wird, ein besondrer Ort des Realitätsgefühls entspricht
Paul Tillich: Das Dasein Gottes und die Religionspsychologie
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Faksimile: Erste Seite von Paul Tillich, Das Dasein Gottes und die Religionspsychologie.
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Die Theologie als Wissenschaft Neuedition eines wenig bekannten Aufsatzes von Paul Tillich aus der Vossischen Zeitung Abstract: In October 1921, Paul Tillich published a small essay in the Vossische Zeitung entitled Die Theologie als Wissenschaft. In it he summarized his reflections on a scientific theology, which he had worked out in his lectures at the Berlin University after the First World War. The essay, which is only little known, offers an important intermediate stage to his writing Das System der Wissenschaften nach Gegenständen und Methoden (1923), on which Tillich had been working since 1920. Der hier edierte Aufsatz Die Theologie als Wissenschaft von Paul Tillich erschien am Sonntag, dem 30. Oktober 1921 in der Vossischen Zeitung.1 Er dokumentiert sein Verständnis von Theologie als Wissenschaft, welches er seit dem Ende des Ersten Weltkriegs in seinen Schriften und frühen Berliner Vorlesungen ausarbeitete und das in seinem 1923 publizierten Das System der Wissenschaften nach Gegenständen und Methoden seinen Abschluss fand. In den Jahren nach dem Weltkrieg sind seine neue Grundlegung der Theologie noch im Aufbau begriffen und die Begrifflichkeiten im Fluss.2 Deutlich wird das an Tillichs Vortrag Über die Idee einer Theologie der Kultur vom April 1919 sowie der Weiterführung der Ausführungen zur Stellung der Theologie im System der Wissenschaften in seinen Berliner Vorlesungen vom Wintersemester 1920 über Enzyklopädie der Theologie und Religionswissenschaft und Religionsphilosophie vom Sommersemester 1920. Der in der Vossischen Zeitung 1921 publizierte Artikel Die Theologie als Wissenschaft fasst diese Überlegungen zusammen und repräsentiert eine Zwischenstufe auf dem Weg zum System der Wissenschaften nach Gegenständen und Methoden, an dem Tillich seit 1920 arbeitete.
|| 1 Vgl. P. Tillich, Die Theologie als Wissenschaft, in: Vossische Zeitung, Nr. 512. Sonntag, 30. Oktober 1921, 2f. 2 Einen Überblick über die werkgeschichtliche Entwicklung von Tillichs Wissenschaftsverständnis nach dem Ersten Weltkrieg bietet G. Raatz, Kulturwissenschaft oder Sinnlehre? Zur Genese von Paul Tillichs wissenschaftstheoretischem Begriff der Theologie zwischen 1917 und 1923, in: Tillich und Nietzsche. Internationales Jahrbuch für die Tillich-Forschung 3 (2007), 141–173. Auf den Aufsatz in der Vossischen Zeitung geht Raatz in seinem erhellenden Überblick jedoch nicht ein. https://doi.org/10.1515/9783110984729-010
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Bei dem 1921 in der Vossischen Zeitung veröffentlichten Aufsatz handelt es sich um Tillichs ersten Beitrag für diese Tageszeitung, für die er in den folgenden Jahren zahlreichen Artikel und Buchbesprechungen schrieb. Herausgeber der im Berliner Ullstein Verlag erscheinenden Vossischen Zeitung, die bereits im 18. Jahrhundert gegründet wurde,3 war seit 1920 der Publizist Georg Bernhard. Er war von 1900 bis 1906 Mitglied der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands und stand ihrem revisionistischen Flügel nahe. 1918 gehörte er zu den Gründern der Deutschen Demokratischen Partei.4 In den 1920er Jahren war die Vossische Zeitung ein Organ demokratischer und liberaler Kräfte. Für sie schrieben unter anderen Walter Benjamin und Kurt Tucholsky. Im Folgenden wird Tillichs Verständnis von Theologie als Wissenschaft, wie es in dem Beitrag von 1921 ausgeführt ist, knapp in die werkgeschichtliche Entwicklung seiner Theologie eingeordnet sowie über die Editionsprinzipien informiert.
1 Theologie als systematische Religionswissenschaft Mit seinem 1921 publizierten Aufsatz Die Theologie als Wissenschaft nimmt Paul Tillich nicht nur Stellung zu den Kontroversen über theologische Fakultäten an Universitäten in der jungen Weimarer Republik,5 er skizziert seinen Leserinnen und Lesern zugleich ein ambitioniertes Programm einer wissenschaftlichen Theologie. Dieses wiederum bezieht sich auf die Debatten über deren Selbstverständnis, wie sie um 1900 im deutschsprachigen Protestantismus geführt wurden. Ausdrücklich weist er Friedrich Schleiermachers Verständnis der Dogmatik als einer historischen Disziplin sowie Ernst Troeltschs Zuordnung der Dogmatik zur praktischen Theologie zurück. „Beide Lösungen sind eine Vernichtung der systematischen Theologie und ein Verzicht auf die Wahrheitsfrage im Gebiet des religiösen
|| 3 Vgl. K. Bender, Vossische Zeitung (1617–1934), in: H.-D. Fischer (Hg.), Deutsche Zeitungen des 17. bis 20. Jahrhunderts, Pullach 1972, 25–40. 4 Vgl. M. Klein, Georg Bernhard. Die politische Haltung des Chefredakteurs der „Vossischen Zeitung“ 1818–1930, Frankfurt a.M. 1999. 5 Vgl. Vgl. A. Deissmann, Die Zukunft der Theologischen Fakultäten, in: Revolution und Kirche. Zur Neuordnung des Kirchenwesens im deutschen Volksstaat, hg. von F. Thimme/E. Rolffs, Berlin 1919, 352–364; A. v. Harnack, Die Bedeutung der theologischen Fakultäten, in: Preußische Jahrbücher 175 (1919), 362–374.
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Erkennens.“ (198) Obwohl Tillich das Theologieverständnis von Troeltsch als unzureichend erachtet, nimmt er dessen Forderung nach einer Verwissenschaftlichung der Theologie auf.6 Nur als Kulturwissenschaft sei unter den Erkenntnisbedingungen der Moderne „der vollkommen wissenschaftliche und zugleich vollkommen religiöse Charakter“ (199) der Theologie gewahrt. I. Tillichs Bestimmung der wissenschaftlichen Theologie als Kulturwissenschaft, die er 1921 in der Vossischen Zeitung präsentierte, ist das Resultat der Entwicklung seines Denkens seit seinem Studium sowie seinen beiden Dissertationen zur Religionsphilosophie Schellings.7 Bereits in seinem ersten Systementwurf, der Systematischen Theologie von 1913, arbeitete er eine Grundlegung der Theologie in einem wissenschaftlichen Prinzip aus.8 Und schon hier geht es um eine Neubestimmung der Theologie als Wissenschaft vor dem Hintergrund der konkurrierenden theologischen Lager und Strömungen von modern-positiver Theologie, Ritschl-Schule und Ernst Troeltsch.9 Grundlegende Strukturen und Motive von
|| 6 Vgl. hierzu E. Troeltsch, Rückblick auf ein halbes Jahrhundert der theologischen Wissenschaft, in: ders., Zur religiösen Lage, Religionsphilosophie und Ethik. Gesammelte Schriften, Bd. 2, Tübingen 21922 = ND Aalen 1962, 193–226. 7 Grundlegend für die Überlegungen des jungen Tillich um eine methodische Grundlegung der Theologie ist die Fichte-Deutung von Fritz Medicus. Vgl. F. Medicus, J. G. Fichte. Dreizehn Vorlesungen gehalten an der Universität Halle, Berlin 1905. Sichtbar wird das nicht nur an der Korrespondenz zwischen Tillich und seinem Freund Friedrich Büchsel im Jahre 1907 (vgl. EW VI, 14–26), sondern auch an seiner Examensarbeit über den Monismus. Vgl. P. Tillich, Welche Bedeutung hat der Gegensatz von monistischer und dualistischer Weltanschauung für die christliche Religion?, EW IX, 24–93 (Urfassung), 94–153 (Schönschrift).Vgl. hierzu F. W. Graf/A. Christophersen, Neukantianismus, Fichte- und Schellingrenaissance. Paul Tillich und sein philosophischer Lehrer Fritz Medicus, in: JHMTh/ZNThG 11 (2004), 52–78; C. Danz, Historicism, NeoIdealism, and Modern Theology. Paul Tillich and German Idealism, in: J. Stewart (ed.), The Palgrave Handbook of German Idealism and Existentialism, Cham 2020, 287–303. 8 Vgl. P. Tillich, Systematische Theologie von 1913, EW IX, 278–434. Vgl. hierzu C. Danz, Theologie als normative Religionsphilosophie. Voraussetzungen und Implikationen des Theologiebegriffs Paul Tillichs, in: ders. (Hg.), Theologie als Religionsphilosophie. Studien zu den problemgeschichtlichen und systematischen Voraussetzungen der Theologie Paul Tillichs, Wien 2004, 73–106, bes. 74–80; F. Wittekind, „Allein durch den Glauben“. Tillich’s sinntheoretische Umformulierung des Rechtfertigungsverständnisses 1919, in: C. Danz/W. Schüßler (Hg.), Religion – Kultur – Gesellschaft. Der frühe Tillich im Spiegel neuer Texte (1919–1920), Wien 2008, 39–65. 9 Vgl. hierzu F. Wittekind, Herrmann, Troeltsch und Tillich über die Konstruktion der Theologiegeschichte, in: C. Danz/W. Schüßler (Hg.), Paul Tillich in der Diskussion. Werkgeschichte –
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Tillichs Theologie, die sich durch sein gesamtes Werk ziehen, finden sich in diesem frühen Entwurf einer Systematischen Theologie, allerdings in einer anderen Konfiguration. Strukturiert ist die frühe Systematischen Theologie in die drei Teile Apologetik, Dogmatik und Ethik, eine Gliederung, die Tillich noch in seinem acht Jahre später publizierten Artikel in der Vossischen Zeitung aufgreift.10 Die Aufgabe des ersten Teils der Systemkonzeption besteht darin, den theologischen Standpunkt abzuleiten. Das erfolgt im Ausgang von dem Begriff des Prinzips, welches zunächst als absoluter Standpunkt bzw. Intuition und sodann als relativer Standpunkt bzw. Reflexion entfaltet wird. Als Synthese dieser beiden Standpunkte, die sich aus ihnen nicht ableiten lässt, von beiden jedoch gefordert ist, fungiert der theologische Standpunkt, das Paradox. Es besteht in der Einheit von Absolutem und Relativem, von absolutem und individuellen Geist. Mit dem Paradox ist das theologischen Prinzip bzw. die Rechtfertigung abgeleitet. Es umfasst seinerseits ein absolutes, ein relatives und ein ideales Moment, wobei die drei Momente in einem Wechselverhältnis stehen.11 Ort des Paradoxes ist die Religion und damit die Geschichte. In der Religion sind ein absolutes und ein relatives Moment miteinander verbunden. Sie ist „die Rückkehr der Freiheit zur Wahrheit, des Relativen zum Absoluten ohne Aufhebung der Freiheit und Relativität“ (EW IX, 315). Durch die Selbsterfassung des Absoluten im individuellen Bewusstsein kommt es somit zum Übergang von Reflexionsstandpunkt zum theologischen Standpunkt. In diesem wird sich das individuelle Bewusstsein in seinem Bezug auf das Absolute und in seiner Geschichtlichkeit durchsichtig. Gegenstand der Theologie ist das Paradox bzw. das theologische Prinzip, dessen Ableitung und Begründung die Aufgabe der Apologetik ist. Im Paradox ist das allgemeine Prinzip der Wahrheit mit einem bestimmten Bedingten, nämlich Jesus Christus, verbunden und in die Geschichte überführt, wobei die Rechtfertigung das übergeordnete Moment der Christologie bleibt. Die Besonderheit der wissenschaftlichen Theologie besteht somit darin, dass in ihr die allgemeine (philosophische) Wahrheit mit einer besonderen Geschichte und damit Wissen und Glauben verbunden sind. Das unterscheidet sie von der Religion, dem Ort des Paradoxes. Theologie entsteht durch die Verbindung der konkreten Religion
|| Kontexte – Anknüpfungspunkte. Festschrift zum 85. Geburtstag von Erdmann Sturm, Berlin/ Boston 2022, 133–170. 10 Vgl. Tillich, Die Theologie als Wissenschaft, x. 11 Vgl. Tillich, Systematische Theologie von 1913, EW IX, 314–318.
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mit dem philosophischen Gedanken der allgemeinen Wahrheit.12 Schon hier bilden (Religions-)Philosophie und Theologie eine Einheit. Was bedeutet das für Tillichs Verständnis der systematischen Theologie? Tillich weist ihr die Aufgabe zu, das theologische Prinzip in seiner Reinheit darzustellen.13 Systematische Theologie ist folglich eine Wissenschaft, der es obliegt, den Glauben und die mit ihm verbundene Gewissheit zu konstruieren. Diese besteht im Vollzug des Glaubens als Übergang vom Reflexionsstandpunkt zum theologischen Standpunkt. Wenn die systematische Theologie das theologische Prinzip ausarbeitet, dann obliegt es ihr, die Durchsichtigkeit des Bewusstseins in seinem Bezug auf das Absolute als Einheit der Wirklichkeit darzulegen. Es geht Tillich um die objektive und allgemeine Struktur des Glaubens, die an die Selbsterfassung des Bewusstseins gebunden ist, und nicht um den individuellen Glauben.14 Die Rechtfertigung ist ein objektives allgemeines Prinzip. Wirklich wird es jedoch allein in einem individuellen Akt in der Geschichte, nämlich der Erschlossenheit der Freiheit als Prinzip des Bewusstseins in seiner Behauptung und Selbstaufhebung. Das theologische Prinzip ist an eine bestimmte Geschichte gebunden, die der christlichen Religion. Für die systematische Theologie bedeutet das, dass sie die reflexive Struktur des Vollzugs des Glaubens, in dem die Durchsichtigkeit des Bewusstseins in seinem Bezug auf das Absolute gegeben ist, in seiner Bindung an die Geschichte der christlichen Religion auszuarbeiten hat. Aus dem Glauben und seiner geschichtlichen Einbindung ergibt sich die Notwendigkeit der historischen Theologie als Voraussetzung der systematischen Theologie. Entsprechend den drei Momenten des theologischen Prinzips, welches mit Jesus Christus in die Geschichte eintritt, strukturiert Tillich die historische Theologie in alttestamentliche, neutestamentliche und kirchengeschichtliche Wissenschaft.15 Ihr Gegenstand ist die Geschichte der Vorbereitung des theologischen Prinzips, dessen Durchbruch sowie dessen Realisierung in der Religions- und Kulturgeschichte. Theologisch sind diese Disziplinen jedoch allein durch die systematische Theologie, welche in dem Urteil Jesus ist der Christus
|| 12 Theologie sei, wie Tillich behauptet, historisch „erst mit dem Christentum entstanden und zwar in dem Moment, wo christliche Philosophen den Grundbegriff der griechischen Wissenschaft, den Logosbegriff, auf das konkrete Objekt des christlichen Glaubens, Jesus Christus, anwandten und damit das Paradox in voller Tiefe erkannten und formulierten“ (EW IX, 316f.). 13 Vgl. Tillich, Systematische Theologie von 1913, EW IX, 325. 14 Vgl. Tillich, Systematische Theologie von 1913, EW IX, 323: Es „handelt sich auch hier wiederum nicht um die Gewißheit, die einzelne haben, sondern um die Gewißheit, die dem Glauben an sich zukommt, daß für Gott in Christus die Welt erlöst ist“. 15 Vgl. Tillich, Systematische Theologie von 1913, EW IX, 323–325.
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das theologische Prinzip in seiner Reinheit darstellt.16 Somit ist die systematische Theologie zugleich die Voraussetzung der historischen. In seinem Systementwurf von 1913 arbeitet Tillich ein ambitioniertes Programm einer systematischen Theologie als Wissenschaft aus, die in einem wissenschaftlichen Prinzip fundiert ist. Grundlage des Systems ist eine absolutheitstheoretische Fassung des Bewusstseins. Zwar zielt die Ableitung des theologischen Standpunkts auf die Überwindung des Reflexionsstandpunkts, wobei dieser zugleich festgehalten und aufgehoben wird, aber in Tillichs früher systematischer Theologie bleibt der absolute Standpunkt die übergeordnete Dimension. Es ist das Absolute, welches sich im endlichen Geist auf dem Weg zu seiner vollständigen Durchsichtigkeit erfasst, so dass das Konkrete und Einzelne der Geschichte lediglich ein bloßes Durchgangsmoment ist. II. Noch während des Ersten Weltkriegs hat Tillich die absolutheitstheoretische Grundlegung seiner frühen Konzeption einer wissenschaftlichen Theologie umgebaut. Fallengelassen wird die absolutheitstheoretische Begründung der Religion in einem wissenschaftlichen Gottesgedanken, dem Absoluten.17 Damit ist der übergeordnete spekulative Rahmen einer Geschichte des absoluten Geistes aufgelöst. Dem entspricht, dass die systematische Theologie nun mit dem theologischen Prinzip einsetzt, es also nicht mehr aus einem wissenschaftlichen Prinzip ableitet, wie noch in der Apologetik der Systemkonzeption von 1913.18 Tillich, so lässt sich die Transformation der früheren absolutheitstheoretischen Fundierung des Systems verstehen, verschiebt das wahrheitstheoretische Absolute gleichsam in das Selbstverhältnis des Bewusstseins und benutzt es als Beschreibungselement des an einen Vollzug gebundenen Geschehens der Erschlossenheit des antinomisch verfassten Selbstbezugs des Bewusstseins. Das hat Konsequenzen für die Konzeption der Theologie als Wissenschaft und ihre Einordnung in das Wissenschaftssystem. Parallel zu dem Umbau des absolutheitstheoretischen Systems von 1913 nimmt Tillich, wie aus seiner Korrespondenz während des Kriegs hervorgeht, seine Arbeit an einem System der Wissenschaften wieder || 16 Vgl. Tillich, Systematische Theologie von 1913, EW IX, 324: „Aber die theologische Historie setzt das Urteil über ihr Objekt voraus, daß dieser Geschichtsverlauf die konkrete Realisierung des theologischen Prinzips sei.“ 17 Vgl. P. Tillich an E. Hirsch, Dezember 1917, EW VI, 99; P. Tillich, Rechtfertigung und Zweifel, EW X, 205. 18 Vgl. Tillich, Rechtfertigung und Zweifel, EW X, 185–188. Vgl. hierzu Wittekind, „Allein durch den Glauben“, 52–65.
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auf und wendet sich der zeitgenössischen philosophischen Literatur zu.19 Allerdings stand – vermittelt durch Fritz Medicus’ neoidealistische Weiterführung des Neukantianismus – das neukantianische Wissenschaftsverständnis bereits im Hintergrund seiner frühen Theologie.20 Was bedeutet das für Tillichs Verständnis einer wissenschaftlichen Theologie? Eine knappe Skizze seiner Neubestimmung der Theologie hat Tillich in seinem Vortrag Über die Idee einer Theologie der Kultur vom April 1919 ausgeführt. Hier ordnet er die (systematische) Theologie den systematischen Kulturwissenschaften zu, bei denen im Unterschied zu den Erfahrungswissenschaften der Standpunkt ein Bestandteil der Wissenschaft selbst sei.21 Ihr Gegenstand sei weder Gott, wie im Altprotestantismus, noch das (religiöse) Subjekt, wie in der Theologie des 19. Jahrhunderts. Vielmehr sei der Gegenstand der systematischen Theologie der konkrete religiöse Standpunkt, der selbst wiederum in die Geschichte eingebunden ist. In diese Bestimmung des Gegenstands einer wissenschaftlichen Theologie ist das theologische Prinzip aus der frühen Systematischen Theologie aufgenommen. Es erhält jedoch nun, sechs Jahre später, eine neue Fassung. Aus ihr ergibt sich erst Tillichs Neubestimmung der systematischen Theologie als Religionswissenschaft, die einen Bestandteil der Kulturwissenschaften bildet. Grundlage der Kulturwissenschaften und damit ebenso der systematischen Religionswissenschaft ist das Selbstverhältnis des Bewusstseins bzw. der Geist. Die (neukantische) vermögenstheoretische Struktur des Bewusstseins hatte Tillich im Anschluss an Fritz Medicus bereits in seiner Examensarbeit von 1908 sowie seiner philosophischen Dissertation zur Religionsphilosophie Schellings von 1910 neu bestimmt und in dem absolutheitstheoretisch konstruierten Selbstverhältnis des absoluten Geistes die formale Allgemeinheit des Apriori nicht den einzelnen Inhalten gegenübergestellt, sondern allgemeine Norm und inhaltliche Bestimmung miteinander verbunden.22 In seine Neufassung der wissenschaftlichen Theologie nach dem Ersten Weltkrieg hat Tillich diese Verzahnung aufgenommen. Im Geist sind Allgemeines und Besonderes bereits vereint, so dass das Selbstverhältnis des Bewusstseins allgemeine Produktion und inhaltliche Be-
|| 19 Vgl. P. Tillich an E. Hirsch, Dezember 1917, EW VI, 98f.; P. Tillich an R. Wegener, 28.8.1917, EW VI, 89–94. 20 Vgl. hierzu die Einleitung zur Monismusschrift von 1908: Tillich, Welche Bedeutung hat der Gegensatz von monistischer und dualistischer Weltanschauung für die christliche Religion?, EW IX, 28–34. 21 Vgl. P. Tillich, Über die Idee einer Theologie der Kultur, MW II, 70. 22 Vgl. P. Tillich, Die religionsgeschichtliche Konstruktion in Schellings positiver Philosophie, ihre Voraussetzung und Prinzipien, EW IX, 156–272, bes. 232.
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stimmtheit ist. Daraus ergibt sich, dass das Erkennen in den Kulturwissenschaften zugleich schöpferische Produktion ist. Erkannt wird in der als Religionswissenschaft bestimmten systematischen Theologie der Gegenstand, indem er von ihr hervorgebracht wird. Mit dieser zirkulären Bestimmung der Religionswissenschaft nimmt Tillich die von Ernst Troeltsch herausgearbeitete Zirkelstruktur der Geschichtswissenschaft auf,23 überführt sie jedoch in die systematische Theologie und in deren Konstruktion der Religion. Auch Tillichs innere Strukturierung der theologischen Wissenschaft baut auf diese Zirkelstruktur auf. Wenn jeder Allgemeinbegriff ein Produkt des Bewusstseins, Wesensbestimmung also Wesensgestaltung ist, dann ist er stets ein besonderer oder, wie Tillich schreibt, ein Normbegriff.24 Wesensbestimmung der Religion und Normbegriff fallen damit ebenso zusammen wie Religionsphilosophie und Dogmatik. Gleichwohl sind beide nicht identisch. Sie unterscheiden sich durch ihre Arbeitsrichtung, also methodisch. Während die Religionsphilosophie die allgemeinen Kategorien der Religion herausarbeitet und von ihrer geschichtlichen Besonderheit abstrahiert, thematisiert die Dogmatik die besondere Religion. Da sowohl diese als auch jene in die Geschichte eingebunden sind, die allgemeinen Kategorien nur in den besonderen Religionen zur Erscheinung kommen, bedarf es einer Geschichtsphilosophie der Religion, die ihre Geschichte konstruiert.25 Folglich ergibt sich eine Dreiteilung der systematischen Religionswissenschaft in Religionsphilosophie, Geschichtskonstruktion und normative Religionswissenschaft.26 Gegenstand der Religionswissenschaft bzw. der systematischen Theologie ist der konkrete religiöse Standpunkt, also das Selbstverhältnis des Bewusstseins in seiner geschichtlichen Bestimmung. In Tillichs Neubestimmung der Theologie als einer systematischen Kulturwissenschaft geht es weniger um Inhalte oder Gegenstände, sondern um die Beschreibung der reflexiven Struktur eines Akts im Selbstverhältnis des Bewusstseins. Der konkrete Standpunkt, der den Gegenstandsbezug der Religionswissenschaft bildet, bezeichnet ein sich in seiner reflexiven Struktur und seiner geschichtlichen Einbindung durchsichtig gewordenes
|| 23 Vgl. E. Troeltsch, Was heißt „Wesen des Christentums“?, in: ders., Zur religiösen Lage, Religionsphilosophie und Ethik (= Gesammelte Schriften, Bd. 2), Tübingen 21922 = ND Aalen 1962, 386–451. 24 Vgl. Tillich, Über die Idee einer Theologie der Kultur, MW II, 70: „Jeder kulturwissenschaftliche Allgemeinbegriff ist entweder unbrauchbar, oder er ist ein verhüllter Normbegriff, er ist entweder Umschreibung eines Nichts oder Ausdruck eines Standpunktes; er ist wertlose Hülse, oder er ist eine Schöpfung.“ 25 Vgl. schon P. Tillich, Die religionsgeschichtliche Konstruktion in Schellings positiver Philosophie, ihre Voraussetzung und Prinzipien, EW IX, 156–272, hier 235. 26 Vgl. Tillich, Über die Idee einer Theologie der Kultur, MW II, 71.
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Bewusstsein. Damit ist das theologische Prinzip der Systematische Theologie von 1913 in die Neufassung der Theologie als Wissenschaft überführt. Die systematische Religionswissenschaft konstruiert Religion als Erschlossenheit der unendlichen Reflexivität des Bewusstseins, welche Grundlage und Voraussetzung aller seiner konkreten theoretischen und praktischen Akte ist, im individuellen Bewusstsein.27 Religion ist weder eine bestimmte (vermögenstheoretische) Funktion des Bewusstseins noch ein besonderer Akt, sondern die reflexive Durchsichtigkeit des Bewusstseins, die sich lediglich in dessen theoretischen und praktischen Funktionen darstellen kann. Tillich geht es um die Allgemeinheit der Religion und der systematischen Theologie. Er löst diese in der theologischen Konstruktion der Religion als besondere Kulturfunktionen auf und versteht sie als an einen individuellen Vollzug gebundene Durchsichtigkeit des Kulturprozesses, dessen objektive und allgemeine Strukturen die systematische Theologie herausarbeitet. Schon hier, im Kulturvortrag von 1919, ist die systematische Theologie diejenige Kulturwissenschaft, in der die Grundlagen der Kulturwissenschaften selbst zum Thema werden. Sie ist demzufolge keine besondere Wissenschaft im Wissenschaftssystem, sondern eine allgemeine, in der sich dieses in seiner reflexiven Struktur erfasst und durchsichtig wird. Im Wissenschaftssystem hat die Theologie folglich eine doppelte Stellung inne: sie ist selbst kein Bestandteil von ihm und gerade deshalb auf es bezogen. Gegenüber dem frühen Entwurf einer wissenschaftlichen Theologie aus dem Jahre 1913 ist die Apologetik nicht mehr die Begründung der Theologie in einem philosophischen Wahrheitsgedanken. Tillich verschiebt die Apologetik nun gleichsam in die systematische Theologie. Als Religionsphilosophie bildet die Apologetik neben der typologischen Geschichtskonstruktion und der Dogmatik einen Bestandteil der systematischen Theologie. Aus der vormaligen Ethik, dem dritten Teil des Vorkriegssystems, wird die Kulturtheologie. Das war jedoch bereits die systematische Funktion der Ethik in der Systematischen Theologie von 1913, der es oblag, die Realisierung des theologische Prinzips in der Kultur zu thematisieren.28 Die in dem Kulturvortrag von 1919 skizzierte Konzeption einer wissenschaftlichen Theologie hat Tillich in den folgenden Jahren weiter ausgearbeitet. An-
|| 27 Vgl. Tillich, Über die Idee einer Theologie der Kultur, MW II, 74. 28 Vgl. Tillich, Systematische Theologie von 1913, EW IX, 320: Mit der Ausweitung des theologischen Prinzips, der Rechtfertigung, werde „die Bahn frei für eine universale, kosmische Betrachtung des Christentums, frei für die Durchführung des Rechtfertigungsgedankens auf allen Gebieten, welches die Aufgabe des dritten Teils des theologischen Systems ist“.
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hand seiner Vorlesungen, die er an der Berliner Universität ein Jahr später gehalten hat, lässt sich die werkgeschichtliche Weiterentwicklung rekonstruieren. Besonders aufschlussreich für sein Theologieverständnis sind seine Vorlesung Enzyklopädie der Theologie und Religionswissenschaft, die er vom 2. Januar bis 31. März 1920 hielt, sowie diejenige über Religionsphilosophie vom darauffolgenden Sommersemester.29 Im Hintergrund dieser Vorlesungen steht Tillichs Arbeit an seinem Buch Das System der Wissenschaften nach Gegenständen und Methoden sowie der Religionsphilosophie. Durch Vermittlung seines Freunds Emanuel Hirsch wurde er im März 1920 vom Verlag Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen angefragt, die Herausgabe der Reihe Wege zur Philosophie zu übernehmen.30 Tillich sagte dem Verlag zu und arbeitete an einem strukturierten Plan für diese Reihe, für die er sein Wissenschaftssystem aber auch religionsphilosophische Bände vorschlug.31 Im Archiv der Deutschen Paul-Tillich-Gesellschaft in der Universitätsbibliothek Marburg ist ein handschriftlicher Entwurf des Wissenschaftssystems überliefert, der vom September 1920 stammt.32 Allerdings trat Tillich bereits im Frühjahr 1922 von der Herausgabe der Wege zur Philosophie wieder zurück,33 so dass Das System der Wissenschaften nach Gegenständen und Methoden zwar Ende April 1923 im Verlag Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen erschien, aber nicht in der ursprünglich vorgesehenen Reihe. Die Enzyklopädie-Vorlesung vom Winter 1920 bietet im Vergleich zu der ein Jahr zuvor präsentierten Skizze der systematischen Theologie eine umfassendere Ausarbeitung, indem Tillich hier nicht nur den gesamten Fächerkanon der Theologie behandelt, sondern diese nun auch in ein System der Wissenschaften einordnet. Grundlage des Wissenschaftssystems ist das Verhältnis von Denken und
|| 29 Vgl. P. Tillich, Enzyklopädie der Theologie und Religionswissenschaft, EW XII, 259–295; ders., Religionsphilosophie, EW XII, 333–565. Vgl. hierzu Raatz, Kulturwissenschaft oder Sinnlehre?, 151–162. 30 Vgl. W. Ruprecht an P. Tillich, 3.3.1920, in: F. W. Graf (Hg.), Ein unbekannter Systementwurf Paul Tillichs. Zur Entstehungsgeschichte von Tillichs Das System der Wissenschaften nach Gegenständen und Methoden, in: JHMTh / ZNThG 27 (2020), 26–170, hier 61f. Vgl. F. W. Graf, Einleitung, in: ders. (Hg.), Ein unbekannter Systementwurf Paul Tillichs, 27–62. 31 Vgl. P. Tillich an den Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, 5.6.1920, in: Graf (Hg.), Ein unbekannter Systementwurf Paul Tillichs, 69f. 32 Vgl. P. Tillichs handschriftlicher Entwurf des Systems der Wissenschaften, in: F. W. Graf (Hg.), Ein unbekannter Systementwurf Paul Tillichs, 156–166. Vgl. auch Richard Wegener, Aufzeichnungen zur Religionsphilosophie und zu einem System der Wissenschaften, in: F. W. Graf (Hg.), Ein unbekannter Systementwurf Paul Tillichs, 153–155. 33 Vgl. P. Tillich an W. Ruprecht, 2.5.1922, in: Graf, Ein unbekannter Systementwurf Paul Tillichs (2020), 116f.
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Sein im Wissen.34 Auch hier geht es nicht um ein Prinzip der Wissenschaften wie noch in der Apologetik der Systematischen Theologie von 1913. Was Tillich mit Denken und Sein beschreibt, ist die Struktur des Selbstverhältnisses des Bewusstseins in der theoretischen Perspektive des Wissenschaftssystems.35 Aus Denken und Sein, die zusammengehören und zugleich unterschieden sind, ergibt sich das Wechselverhältnis von Erfahrungs- und Kulturwissenschaften, wobei die Theologie wie bereits im Kulturvortrag den letzteren zugeordnet wird. Sie ist von dem System der Wissenschaften unterschieden und zugleich auf es bezogen.36 Im Anschluss an die Dreiteilung der Kulturwissenschaften in kategoriale, geschichtsphilosophische und normative Wissenschaften strukturiert Tillich die innere Gliederung der Theologie. Das führt zu einer Doppelthematisierung ihrer historischen Disziplinen. Einerseits werden sie sowohl methodisch als auch gegenständlich in die allgemeine Religionsgeschichte eingeordnet.37 Andererseits bilden diese Fächer einen Bestandteil der dreigliedrigen systematischen Theologie, nämlich der Konstruktion des religionsgeschichtlichen Verlaufs, der von Tillich in der Vorlesung sogenannten Geschichtsmetaphysik.38 Deren Aufgabe ist es, ausgehend von der Durchsichtigkeit des gegenwärtigen Standpunkts die geschichtliche Entwicklung auf diesen zulaufend zu konstruieren.39 Damit nimmt Tillich die Ableitung der historischen Disziplinen der Theologie aus der Systematischen Theologie von 1913 in seine metaphysische Geschichtskonstruktion auf. Gegenüber der in dem Vortrag Über die Idee einer Theologie der Kultur ausgeführten Skizze einer wissenschaftlichen Systematischen Theologie bietet die Enzyklopädie-Vorlesung keine neuen Gesichtspunkte. Das ist auch bei der Religionsphilosophie-Vorlesung vom Sommersemester 1920 nicht der Fall. Sie setzt mit
|| 34 Vgl. Tillich, Enzyklopädie der Theologie und Religionswissenschaft, EW XII, 262–265. 35 An dieser Fassung des Seins bzw. einer Ontologie, wie sie Tillich nach dem Ersten Weltkrieg in Weiterführung der systematischen Grundlegung seiner Theologie aus der Zeit vor dem Krieg ausgearbeitet hat, hält er zeitlebens fest. Was sich ändert, ist die Terminologie. Auch die seit der Mitte der 1920er Jahre immer stärker werdende existential-anthropologische Zuspitzung seiner Theologie ändert an der systematischen Konstruktion nichts Wesentliches. 36 Vgl. Tillich, Enzyklopädie der Theologie und Religionswissenschaft, EW XII, 266: „Doppelstellung der Theologie im System der Kulturwissenschaften“. 37 Vgl. Tillich, Enzyklopädie der Theologie und Religionswissenschaft, EW XII, 266: „Für die historischen Fächer bedeutet es die Einordnung in die allgemeine Geschichte der Religion.“ 38 Vgl. Tillich, Enzyklopädie der Theologie und Religionswissenschaft, EW XII, 281. 290f. 39 Vgl. Tillich, Enzyklopädie der Theologie und Religionswissenschaft, EW XII, 291: „Die dogmatischen ideellen Durchblicke auf Grund des Begriffs einerseits, des Normbegriffs andererseits. Das Wesen des Christentums = das normative Wesen der Religion.“
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einer ausführlichen wissenschaftstheoretischen Einordnung der Religionsphilosophie ein und führt die Überlegungen aus dem Kulturvortrag und der Vorlesung vom Wintersemester weiter.40 Neu ist allerdings die Terminologie, mit der das Wissenschaftssystem nun strukturiert wird. Auf der Grundlage des Verhältnisses von Denken und Sein im um-sich-wissenden Selbstverhältnis des Bewusstseins unterscheidet Tillich nun zwischen Seins- und Denkwissenschaften und führt damit diejenige Terminologie ein, die auch dem System der Wissenschaften nach Gegenständen und Methoden von 1923 zugrunde liegt. Aber schon die Tatsache, dass er einfach die Begriffe Erfahrungs- und Kulturwissenschaften durch die neuen Seins- und Denkwissenschaften ersetzen kann,41 macht deutlich, dass sich an der bisherigen systematischen Struktur nichts Wesentliches ändert. Im Rahmen der neuen Terminologie wird die systematische Theologie den Denkwissenschaften zugeordnet, die in Form- und Normwissenschaften untergliedert werden, wobei beide durch eine Geschichtsmetaphysik, nun „Geschichtsphilosophie der Kultur“ (EW XII, 360) genannt, vermittelt werden. Wie bereits 1919 resultiert die Strukturierung der systematischen Theologie in das Wechselverhältnis von Religionsphilosophie, Geschichtskonstruktion und Dogmatik aus der Zirkelstruktur geisteswissenschaftlichen Erkennens, die Tillich in die Konstruktion des Theologiebegriffs überführt.42 III. Paul Tillichs Beitrag Die Theologie als Wissenschaft, der im Oktober 1921 in der Vossischen Zeitung erschien, lässt deutlich die Neubestimmung der Theologie erkennen, die er sowohl im Kulturvortrag von 1919 als auch in seinen frühen Berliner Vorlesungen ausgearbeitet hat. Der kurze Aufsatz fasst diese Überlegungen prägnant in einem Entwurf wissenschaftlicher Theologie zusammen. Doch darin erschöpft sich sein Anspruch noch nicht. Ebenso wie in seinem Vortrag vor der Kant-Gesellschaft und in seinen Vorlesungen geht es um ein Neuverständnis der wissenschaftlichen Theologie, welches deren zeitgenössische Grundlegungsalternativen in einem komplexeren Modell überwinden soll. Das war bereits die Intention der Systematischen Theologie von 1913, die nun, acht Jahre später, mit || 40 Vgl. Tillich, Religionsphilosophie, EW XII, 333–355. 41 Vgl. Tillich, Religionsphilosophie, EW XII, 349. 42 Vgl. Tillich, Religionsphilosophie, EW XII, 358: „Mit anderen Worten, der Formbegriff hat unter der Hand alle Qualitäten eines Normbegriffs.“ Wie sehr noch die späte Systematische Theologie an dieser zirkulären Konstruktion des Theologiebegriffs orientiert ist, machen deren Ausführungen zum theologischen Zirkel deutlich. Vgl. P. Tillich, Systematische Theologie, Bd. I, hg. von C. Danz, Berlin/Boston 2017, 12–15.
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einer veränderten systematischen Grundlegung der Theologie aufgenommen und weitergeführt wird. Theologie ist weder Wissenschaft von einem besonderen Gegenstand, Gott, noch von einem religiösen Subjekt, sondern Kulturwissenschaft. Was das bedeutet, ist das Thema von Tillichs Ausführungen in der Vossischen Zeitung. Vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Kontroversen über theologische Fakultäten an Universitäten und den Status der Theologie als Wissenschaft skizziert Tillich das Programm einer wissenschaftlichen Theologie. Ausdrücklich aufgenommen werden dabei Ernst Troeltschs Überlegungen zu einer wissenschaftliche Theologie, jedoch so, dass Tillich dessen Unterscheidung zwischen einer wissenschaftlichen historischen Theologie und einer agnostischen kirchlichpraktischen Dogmatik als ungenügend zurückweist.43 Tillich teilt Troeltschs Forderung, die dogmatische Methode durch die historische zu ersetzen,44 er zieht jedoch hieraus nicht die Konsequenz, der Dogmatik bzw. der systematischen Theologie ihren wissenschaftlichen Charakter abzusprechen. Weder die Dogmatik noch die systematische Theologie hängen an der dogmatischen Methode. Wie bereits in seiner Enzyklopädie-Vorlesung vom Wintersemester 1920 gliedert Tillich die Theologie in historische, systematische und praktische Disziplinen. Für die historische Theologie seiner Zeit stellt er fest, dass diese sowohl methodisch als auch gegenständlich sich „restlos in die profane historische Wissenschaft“ (196) eingegliedert hat. Methodisch haben die biblischen und kirchengeschichtlichen Disziplinen die überlieferte dogmatische Methode durch die historische ersetzt. Infolge der Durchsetzung der historischen Methode in der historischen Theologie kam es jedoch zu einer weiteren Veränderung, die ihren Gegenstand betrifft. Die Bibel wurde in die Religionsgeschichte eingeordnet. Beide Aspekte führten im Resultat dazu, dass alttestamentliche, neutestamentliche und kirchengeschichtliche Wissenschaften zur „religiöse[n] ‚Sektion‘ der philologischen oder psychologisch-soziologischen ‚Klasse‘“ (197) geworden sind. Das entspricht den Überlegungen aus der Enzyklopädie-Vorlesung. Doch jede Anwendung von Methoden, also auch der historischen, ist an einen Standpunkt gebunden, der in die Forschungsresultate mit einfließt. Das betreffe nicht nur die konservative Theologie, sondern jede Kulturwissenschaft. Erkennen könne der Geist, nur das, was er selbst schafft. Diese Zirkelstruktur
|| 43 Vgl. Troeltsch, Rückblick auf ein halbes Jahrhundert der theologischen Wissenschaft, 193–226. 44 Vgl. E. Troeltsch, Ueber historische und dogmatische Methode in der Theologie, in: ders., Zur religiösen Lage, Religionsphilosophie und Ethik (= Gesammelte Schriften, Bd. 2), Tübingen 21922 = ND Aalen 1962, 729–753.
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mache gerade das Eigentümliche dieser Wissenschaften aus.45 Mit dieser Bestimmung der Kulturwissenschaften nimmt Tillich seine Überlegungen aus dem Kulturvortrag und der Enzyklopädie-Vorlesung auf, obwohl er bereits in der Vorlesung über Religionsphilosophie vom Sommersemester 1920 den Begriff der Kulturwissenschaften terminologisch durch den der Denkwissenschaften ersetzt hatte. In dem Aufsatz von 1921 hat die Bestimmung der Kulturwissenschaften die Funktion, zur systematischen Theologie überzuleiten. Diese strukturiert Tillich – wie bereits erwähnt – ähnlich wie seine Systematische Theologie von 1913 in Apologetik, Dogmatik und Ethik. Auch die systematische Theologie sei Wissenschaft. Gegen Troeltsch, der in Weiterführung von Schleiermachers Zuordnung der Dogmatik zur historischen Theologie diese der praktischen Theologie zuweist und ihr ihren Wissenschaftsstatus abgesprochen hatte, beharrt Tillich auf dem Wissenschaftsstatus dieser theologischen Disziplin. Systematische Theologie ist eine Wissenschaft, die sich weder methodisch noch in ihrem Gegenstandsbezug von anderen Kulturwissenschaften unterscheide. Was sie beschreibt, sind weder transzendente Gegenstände noch ein religiöses Subjekt, sondern die reflexive Durchsichtigkeit des für jede Kulturwissenschaft konstitutiven Standpunkts in seiner geschichtlichen Einbindung. In Tillichs Theologieverständnis geht um die Erfassung desjenigen Vollzugs, in dem religiöse Inhalte zugleich mit der Religion entstehen. Doch dieser Reflexionsakt, dessen objektive und allgemeine Struktur die systematische Theologie beschreibt, ist bereits ein durch die Geschichte inhaltlich bestimmter. Gegenstand der systematischen Theologie ist auch 1921 noch das theologische Prinzip, der Glaube als reflexive Erschlossenheit des Selbstverhältnisses des Bewusstseins, welches die Grundlage der gesamten Kultur darstellt. Tillichs innere Gliederung der systematischen Theologie in die drei Teile Religionsphilosophie, Geschichtsmetaphysik und normative Religionsphilosophie bzw. Dogmatik ergibt sich aus der zirkulären Struktur des Reflexionsakts in seiner geschichtlichen Bestimmtheit. Für den Theologiebegriff bedeutet das ebenso in dem Aufsatz von 1921, dass Troeltschs geschichtsmethodologischer Zirkel, den dieser der Geschichtsphilosophie zugeordnet hatte, von Tillich auf die Theologie und auf die von ihr konstruierte Religion übertragen wird. Indem der Gegenstand der systematischen Theologie der Vollzug des als Reflexionsakt im Selbstverhält-
|| 45 Vgl. Tillich, Die Theologie als Wissenschaft, 197: „Der ‚Standpunkt‘ ist so wenig ein Hindernis kulturwissenschaftlicher Arbeit, daß er vielmehr das Eigentümliche dieses Wissenschaftsgebietes ausmacht; wer das verneint, täuscht sich selbst oder verwechselt Wissenschaft und Statistik.“
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nis des Bewusstseins verstandenen Glaubens ist, in dem dieser zugleich mit seinen Inhalten entsteht, konstruiert sie diejenige reflexive Selbstdurchsichtigkeit, in der Religion in ihrem Selbstbezug besteht. Während sowohl die historische als auch die systematische Theologie Wissenschaften sind, ist dies bei der praktischen anders. Diese ist keine Wissenschaft, sondern Teil der historischen und der systematischen Theologie.46 Ihre Wurzel ist das Verhältnis von Theologie und Religion. Theologie als Wissenschaft setzt voraus, dass die christliche Religion in der Kultur existiert. Nur das rechtfertigt – in Analogie zu juristischen Fakultäten – die Existenz von theologischen Fakultäten und einer besonderen theologischen Wissenschaft.47 Doch die Existenz des Christentums ist kontingent. Sie lässt sich weder ableiten noch begründen. Das gilt auch für die wissenschaftliche Theologie, welche die Struktur des Reflexionsakts, der die christliche Religion charakterisiert, in seiner geschichtlichen Einbindung thematisiert. Wie die Religion keine besondere Sphäre der Kultur ist, so kann auch die Theologie keine besondere Wissenschaft sein. Wissenschaft ist sie dann, wenn sie sich als besondere Wissenschaft, aufhebt. Nur auf diese Weise bewahrt die Theologie sowohl ihren wissenschaftlichen als auch ihren religiösen Charakter.
2 Zur Edition des Textes Paul Tillichs Aufsatz Die Theologie als Wissenschaft wird hier nach dem Erstdruck wiedergegeben, der am Sonntag, dem 30. Oktober 1921, in der Vossischen Zeitung erschien. Der Aufsatz ist auf den Seiten 2 und 3 dieser Ausgabe abgedruckt und in Fraktur gesetzt. Der Seitenumbruch im Erstdruck wird mit dem Zeichen | markiert und die entsprechende Seite angegeben. Tillichs Orthographie und Interpunktion werden in der Edition beibehalten. Alle Hervorhebungen im Erstdruck sind im edierten Text in kursive wiedergegeben. Ein Druckfehler des Erstdrucks wurde im editierten Text korrigiert: aschärfstefa (ED) zu aschärfstema. Die Kom-
|| 46 So schon in der Enzyklopädie-Vorlesung vom Wintersemester 1920. Vgl. Tillich, Enzyklopädie der Theologie und Religionswissenschaft, EW XII, 266. 47 Vgl. Tillich, Die Theologie als Wissenschaft, x: „Nun aber diese Gemeinschaften da sind, so bekommen theologische, wie juristische Fakultät eine konkret-praktische Beziehung auf das Leben dieser Gemeinschaftsformen und den Dienst an ihnen. Das ist die entscheidende Rechtfertigung ihrer Existenz und ihrer konkreten Forderung, also nicht eine wissenschaftliche, sondern eine praktische Rechtfertigung.“
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mentierung von Tillichs Aufsatz beschränkt sich auf die von ihm selbst ausdrücklich genannte Literatur und ergänzt die bibliographischen Angaben. Diese Belege werden in einem eigenen Apparat mitgeteilt und stammen vom Herausgeber.
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Paul Tillich: Die Theologie als Wissenschaft Die Theologie als Wissenschaft. Von Dr. P. Tillich, Privatdozent an der Universität Berlin. Die Theologie hat in der europäischen Geistesgeschichte das eigentümliche Schicksal erlebt, von der Königin der Wissenschaften, die sie unbestritten im ganzen Mittelalter war, herabzusteigen bis zum Zustand der Anfechtung ihres wissenschaftlichen Charakters überhaupt. Sie hat diese Entwicklung nicht einfach hingenommen, sondern in aschärfstema Kampf ihre Position zu verteidigen gesucht, aber diese Kämpfe waren Rückzugsgefechte. Der Schwung des Angriffs, das Pathos des Rechts lag auf seiten der „profanen“ Wissenschaft. Die Theologie verteidigte sich, gab unhaltbare Stellungen preis, um die anscheinend haltbaren um so mehr zu befestigen, bis auch diese dem andringenden Gegner in die Hände fielen. Aber trotz aller Zugeständnisse, die seitens der Theologie gemacht sind, beherrscht auch jetzt noch weite Kreise bei dem Wort „Theologie“ und bei dem Begriff „Theologische Fakultät“ das Gefühl, es mit einer nicht ganz reinlichen Wissenschaft zu tun zu haben, sondern mit einem Gemisch von Wissenschaft und unbegründbarem subjektivem Glauben. Die theologische Arbeit ist nicht, wie etwa die physikalische oder historische oder selbst ästhetische, getragen von dem Vertrauen und der Teilnahme des öffentlichen geistigen Lebens. Sie leidet darunter, denn sie wird dadurch in eine Abwehrstellung gedrängt, die ihr unbefangenes, von Verteidigungsrücksichten freies Arbeiten erschwert; und das geistige Leben leidet darunter; denn es fließt dahin ohne genügend lebendige Fühlung mit dem Wurzelgebiet des Geistigen überhaupt, der Religion. Die Folge ist – um nur eine, gegenwärtige höchst aktuelle, zu nennen, daß das religiöse Leben sich Formen sucht, die einer unteren, religionsgeschichtlich überwundenen Schicht angehören: Okkultismus, Theosophie und Mystizismen aller Art; wo solche Dinge (deren Wesen und Richtigkeit, die eingehender wissenschaftlicher Bearbeitung wert und bedürftig sind, hier nicht in Frage steht), den Rang religiöser Bedeutsamkeit einnehmen, da ist die theologische Wissenschaft, mit oder ohne eigene Schuld, nicht auf der Höhe ihrer Wirksamkeit. Es ist deswegen für Kultur und Religion gleichmäßig von größter Wichtigkeit, daß die Theologie als Wissenschaft ihre klärende, einende Aufgabe eben so sehr mit voller religiöser Kraft, wie https://doi.org/10.1515/9783110984729-011
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mit voller wissenschaftlicher Strenge durchführen kann. Wie ist nun die gegenwärtige Lage? Man pflegt die theologische Arbeit in die drei großen Gebiete der historischen, systematischen, praktischen Theologie einzuteilen. Die historische Theologie, zu der natürlich auch die exegetische, die Erklärung der biblischen Schriften gehört, hat sich restlos in die profane historische Wissenschaft, ihre Methoden, ihre Probleme, ihre Arbeitsgebiete eingegliedert. Arbeiten wie Hauks Kirchengeschichte Deutschlands,1 Harnacks Dogmengeschichte,2 Tröltschs Geschichte der christlichen Sozialethik3 stehen den Methoden und dem Range nach den großen Arbeiten der Profanhistoriker gleichwertig zur Seite. Die Einflüsse gehen hin und her; und ein so gewaltiges Werk, wie Max Webers Religions-Soziologie,4 ist ebensosehr ein theologisches wie ein soziologisches Buch; hier entfällt jede Möglichkeit zur Aufrichtung von Grenzpfählen zwischen Fakultäten. Ebenso in der Erfassung der alt- und neutestamentlichen Schriften: Es war ein Philologe, der die große Umwälzung im Gebiet der alttestamentlichen Anschauung bewirkt hat, Wellhausen;5 es ist anderseits eine der größten Ruhmestaten der Theologie, auf die ungeheuer komplizierten literarischen Probleme des Neuen-Testaments das kritische Licht gelenkt zu haben; hier liegt eine philologisch-historische Leistung ersten Ranges vor. Aber die Grenzen sind nicht nur in der Methode, sondern auch in den Gegenständen selbst aufgehoben: die literarische Kritik wurde bereichert durch die religionsgeschichtliche Betrachtungsweise; sie stellte das Judentum in den Strom der orientalischen Religionsentwicklung, das Urchristentum in die gewaltige religiöse Bewegung der hellenistischen Zeit und das Christentum überhaupt in die Einheit der religiösen Menschheitsentwicklung. Zu der Religionsgeschichte hat sich die Religionspsychologie und Religionssoziologie gesellt, an der Theologen, Psychologen und Soziologen gemeinsam arbeiten. Und auch die ästhetische Betrachtungsweise greift in den neuesten stilkritischen Analysen der biblischen Schriftsteller mit ein. So herrscht in der historischen Theologie lebendigste, allseitige Bewegung, und es ist so wenig möglich, hier noch Grenzen
|| 1 Vgl. A. Hauck, Kirchengeschichte Deutschlands, 4 Teile, Leipzig 1887–1911. 2 Vgl. A. von Harnack, Lehrbuch der Dogmengeschichte, 3 Bde. Tübingen 1886–1890. 41909. 3 Vgl. E. Troeltsch, Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen, Tübingen 1912. 4 Vgl. M. Weber, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, 3 Bde., Tübingen 1920/1921. 5 Vgl. J. Wellhausen, Geschichte Israels, 2. Bde., Berlin 1878. Julius Wellhausen (1844–1918) lehrte zunächst als Professor für Altes Testament an der Theologischen Fakultät in Greifswald und bat 1880 um seine Versetzung in die philosophische Fakultät. 1882 habilitierte er sich für semitische Philologie in Göttingen und war zunächst als außerordentlicher Professor für semitische Sprachen in Halle an der Saale, 1885 in Marburg und schließlich seit 1892 bis zu seiner Emeritierung in Göttingen tätig.
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gegen die profan-wissenschaftliche Arbeit festzustellen, daß man sagen kann, es handelt sich in der historischen Theologie um die religiöse „Sektion“ der historischen, philologischen oder psychologisch-soziologischen „Klasse“. Obgleich in dieser Richtung naturgemäß die „kritische“ Theologie führend war, hat sich doch auch die „positive“ ihren Einwirkungen nicht entziehen können. Wo sie mit historisch-exegetischen Erkenntniszielen arbeitet, da arbeitet sie, gewollt oder ungewollt, nach profanen Methoden. Wo es sich aber um Fragen handelt, in denen die persönliche Stellungnahme, das eigene Welterlebnis eine Rolle spielt, da ist jede Theologie, auch die kritische und radikale, subjektiv gebunden, und nicht nur jede Theologie, sondern jede Kulturwissenschaft überhaupt; eine standpunktfreie Kulturwissenschaft ist eine Unmöglichkeit, weil in den geistigen Dingen der Geist nie in objektiver Ferne den Dingen gegenübersteht, sondern sie in sich selbst in erlebnishafter Nähe hat, und darum Kulturwissenschaft immer zugleich Kulturschöpfung ist. Man denke an die sich bekämpfenden Richtungen der Geschichtsschreibung, der Soziologie und Nationalökonomie, der Ethik und Aesthetik, des Rechts und der Politik. Niemand, der nicht naturwissenschaftlich verengt ist, wird diesen Richtungen den wissenschaftlichen Charakter absprechen, sofern sie nur keiner außerwissenschaftlichen Instanz, wie Partei, Kirche, Klasse, Nation, Rasse eine prinzipielle Einwirkung zugestehen. Der „Standpunkt“ ist so wenig ein Hindernis kulturwissenschaftlicher Arbeit, daß er vielmehr das Eigentümliche dieses Wissenschaftsgebietes ausmacht; wer das verneint, täuscht sich selbst oder verwechselt Wissenschaft und Statistik. Mit dem Problem des Standpunktes sind wir nun von selbst in den zweiten Kreis der theologischen Arbeit gelangt, den systematischen. Er behandelt nicht das, was war, auch nicht das, was ist, sondern das, was gelten soll. In seinen drei Teilen, Apologetik oder Fundamentaltheologie, Dogmatik und theologische Ethik sucht er erkenntnismäßig festzustellen, was in der Kirche als Wahrheit über Glaube und Sitte zu gelten hat. Das scheint nun in der Tat die systematische Theologie aus dem Gebiet der echten Wissenschaft auszuschließen; begibt sie sich damit doch in Abhängigkeit von einer außerwissenschaftlichen Normierung, sei es die Kirche, seien es die „heiligen Schriften“, sei es der Glaube des Dogmatikers selbst. Diese Schwierigkeit hatte schon Schleiermacher zu der Lösung veranlaßt, die Dogmatik in die historische Theologie als Darstellung des gegebenen Glaubensstandes einer Kirche einzureihen, weswegen er sie auch „Glaubenslehre“ nannte.6 Gegenwärtig neigt man im radikalen Lager mehr dazu, die Dogmatik in
|| 6 Vgl. F. Schleiermacher, Kurze Darstellung des theologischen Studiums zum Behuf einleitender Vorlesungen, hg. von H. Scholz, Darmstadt 1977, 73f.: „§ 195. Wir haben es hier zu tun mit
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die praktische Theologie als systematische Predigtlehre einzuordnen.7 Beide Lösungen sind eine Vernichtung der systematischen Theologie und ein Verzicht auf die Wahrheitsfrage im Gebiet des religiösen Erkennens.8 Ein solcher Verzicht ist aber unmöglich, und die dogmatische Arbeit ist ruhig weitergegangen. Freilich hat sich die Sachlage insoweit bemerkbar gemacht, als in wachsendem Maße der erste Teil der systematischen Theologie, die Fundamental-Theologie, an Bedeutung gewonnen hat. Wenn wir uns die Arbeiten, die in dieses Gebiet gehören, näher ansehen, so finden wir, daß sie im Grunde nichts anderes sind als Religionsphilosophie. Die systematische Theologie ist gegenwärtig in ihrem Interesse, mit ihren stärksten Arbeitskräften, mit ihren eigentlichen Fortschritten, Religionsphilosophie. Hier werden die Entscheidungen gefällt, hier drängen die neuen Formen ans Licht, hier arbeiten Theologen der verschiedensten Konfessionen in Gemeinschaft mit Philosophen aller Richtungen ohne jede Grenzscheide. Demgegenüber treten die Arbeiten auf dogmatischem Gebiet auch innerhalb der Theologie zurück. Und wo dogmatische Spezialprobleme zur Verhandlung kommen, da geschieht es doch im Geist der Religionsphilosophie, als Konsequenz allgemein philosophischer Erwägungen, ohne eigentlich „dogmatische“ Begründung. Diese Sachlage zeigt, daß die Macht der Dinge auch die systematische Theologie auf den Weg der „profanen“, d. h. hier der allge| 2 meinen philosophischen Methoden getrieben hat. Wie die historische Theologie zu einer Sektion der historischen Wissenschaft überhaupt, so ist die systematische Theologie zu einer Sektion der systematischen Kulturwissenschaften geworben.
|| der dogmatischen Theologie, als der Kenntnis der jetzt in der evangelischen Kirche geltenden Lehre, und mit der kirchlichen Statistik, als der Kenntnis des gesellschaftlichen Zustandes in allen verschiedenen Teilen der christlichen Kirche.“ 7 Vgl. E. Troeltsch, Die Dogmatik „der religionsgeschichtlichen Schule“, in: ders.: Zur religiösen Lage, Religionsphilosophie und Ethik. Gesammelte Schriften, Bd. 2, Tübingen 21922 (ND Aalen 1962), 500–524, hier 514f.: „Eine solche Dogmatik setzt wissenschaftliche Kenntnisse voraus, ist aber selbst keine Wissenschaft. Sie ist ein Bekenntnis und eine Zergliederung des Bekenntnisses als Anleitung für Predigt und Unterricht, die auch ihrerseits nur Bekenntnis sind, aber einer ausgeführten und durchsichtigen Anleitung für ihre Arbeit bedürfen. […] So ist die Dogmatik ein Stück der praktischen Theologie und keine eigentliche Wissenschaft.“ 8 Vgl. E. Troeltsch, Rückblick auf ein halbes Jahrhundert der theologischen Wissenschaft, in: Zur religiösen Lage, Religionsphilosophie und Ethik. Gesammelte Schriften, Bd. 2, Tübingen 2 1922 (ND Aalen 1962), 193–226, hier 199: „Die Dogmatik hat sich überall von dem Erweis wissenschaftlich gültiger, allgemeiner Wahrheiten auf persönliche, subjektive, bekenntnisartige Überzeugungen und auf deren Vermittlung mit der die Kirchen beherrschenden Tradition und Ausdrucksweise zurückgezogen.“
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Es fragt sich nun freilich, ob die systematische Theologie einfach mit der Religionsphilosophie gleichzusetzen ist; das ist zu verneinen; genau wie Moralphilosophie und systematische Ethik, Kunstphilosophie und systematische Aesthetik nicht dasselbe sind. Die Philosophie eines Kulturgebietes behandelt die allgemeinen Begriffe, ihr Wesen, ihre Begründung, ihre Geltung, ihren Zusammenhang mit anderen Gebieten; die Systematik aber gibt an, was in diesem Gebiet gelten soll; die Systematik ist normativ. Fragt die Philosophie, was das Wesen des Sittlichen ist, so sagt die Systematik, was gut und böse ist; die Systematik gibt konkrete Normen des Denkens, des Handelns, des Anschauens usw. So ist auch die systematische Theologie nicht einfach Religionsphilosophie. Sie gibt Normen und hat einen konkreten Standpunkt. Aber freilich: Normativ ist nicht gleich dogmatisch. Der konkrete Standpunkt ist nicht außerwissenschaftlich begründet, durch Kirche oder Bibel oder Glaube; er ist gemeinsam erarbeitet durch Religionsphilosophie und Philosophie der Religionsgeschichte, und so stark auch faktisch das persönliche Erleben darin wirksam ist, grundsätzlich darf allein die wissenschaftliche Gedankenbewegung die Entscheidung treffen. So ist durchaus ein lutherischer oder reformierter, ein katholischer oder jüdischer, ein pantheistischer oder mystischer Typus der systematischen Theologie denkbar. Wie ein barockisierender und gothisierender, ein klassizistischer und naturalistischer Typus der Aesthetik, ohne daß der Vorwurf des Dogmatismus oder der Unwissenschaftlichkeit erhoben werden könnte. In dem Maße, in dem sich in der gegenwärtigen Bewegung diese Auffassung ebenso sehr gegen eine „allgemeine Vernunft-Theologie“, wie gegen eine dogmatisch gebundene Kirchentheologie durchsetzt, in dem Maße ist der Theologie der vollkommen wissenschaftliche und zugleich vollkommen religiöse Charakter gewahrt, und die systematische Theologie ein frei und unbefangen arbeitendes Glied der Kulturwissenschaften geworden. Wozu denn aber überhaupt eine besondere Theologie und theologische Fakultät? – Die Religion ist getragen von großen allumfassenden Gemeinschaften, den Kirchen, wie das Recht von den Staaten. Ebenso wie an und für sich eine eigene juristische Fakultät gegenüber Rechts-Geschichte und -Philologie, RechtsPhilosophie und -Systematik nicht zu rechtfertigen wäre, wenn nicht die gewaltige Realität des staatlichen Rechtslebens vorläge, ebenso ist es mit der Theologie und der Realität der Kirche. Nun aber diese Gemeinschaften da sind, so bekommen theologische, wie juristische Fakultät eine konkret-praktische Beziehung auf das Leben dieser Gemeinschaftsformen und den Dienst an ihnen. Das ist die entscheidende Rechtfertigung ihrer Existenz und ihrer konkreten Forderung, also nicht eine wissenschaftliche, sondern eine praktische Rechtfertigung. Daß zwischen dem wissenschaftlichen und praktischen Ziel Konflikte möglich sind,
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ist nicht zu bestreiten. Sie sind nur dann für Wissenschaft und Praxis gleich verderblich, wenn die Eigengesetzlichkeit des wissenschaftlichen Denkens irgendwie verletzt und durch außerwissenschaftliche Instanzen umgebogen wird. Mit der konkret-praktischen Beziehung der Theologie ist zugleich die Wurzel der praktischen Theologie gefunden. Ueber die Notwendigkeit, große Teile von ihr einerseits der historischen, andererseits der systematischen Theologie zuzuweisen und den Rest als Technik des praktisch-kirchlichen Handelns aus der wissenschaftlichen Theologie auszuscheiden, kann hier nicht gesprochen werden. Die Entscheidung fällt auch für die praktische Theologie in der systematischen. Setzt sich in ihr durch, was in der historischen Theologie längst selbstverständliche Praxis ist, der unbedingte Verzicht auf eine eigene außerwissenschaftlich gebundene Methode, so hat die Theologie die Stellung im allgemein-wissenschaftlichen und geistigen Leben, die für beide, Wissenschaft und Religion, gleich notwendig ist. Auch für die Religion? Oder wird sie in der vorgetragenen Lösung der Wissenschaft nachgestellt? Nur ein Wort dazu: Die Würde der Religion als Beziehung zum Unbedingten ist immer dann am meisten gefährdet, wenn sie innerhalb des Bedingten, sei es die Wissenschaft, sei es das sittliche, staatliche, soziale Leben Sonderrechte für sich beansprucht. Sie ist unantastbar und trägt von sich aus alles andere, wenn sie sich nicht gründet auf die Art ihrer Verwirklichung in der Welt des Bedingten, sondern auf ihr Wesen, das jeder ihrer Erscheinungsformen unendlich überlegene Unbedingte selbst.
Erdmann Sturm
Schelling und die Synthese von Spinoza und Kant Eine bisher unbekannte Vorlesung Tillichs über Schelling1 Abstract: Paul Tillich often described Schelling as his teacher in philosophy and theology. He viewed Schelling as the philosopher of Romanticism, of identity, freedom, existence, and religion. In his course at Harvard on “German Classical Philosophy” (1955–60), Tillich gave an abridged version of his 1912 dissertation on “Mysticism and Guilt-Consciousness in Schelling’s Philosophical Development”. It was Tillich’s conviction that the subject of his dissertation, with its synthesis of identity and contradiction, were relevant to contemporary theology and dialogue with Asian religions.
1 Tillich als Harvard University Professor (1955–1962) „Ich bin vom Herbst 1955 an als ‚University Professor‘ an die Harvard University berufen worden. […] ‚University Professor‘ in Harvard ist in jeder Beziehung das
|| 1 „The Synthesis of Spinoza and Kant“ – so die Überschrift in Tillichs „Perspectives on 19th and 20th Century Protestant Theology“ (ed. by Carl E. Braaten, New York, Evanston, London 1967, 74). Hier bezieht sich Tillich auf seine Lizentiaten-Dissertation „Mystik und Schuldbewußtsein in Schellings philosophischer Entwicklung“ von 1912. Die dort entwickelte „great synthesis“ nennt er „the great synthesis of Kant and Spinoza“ bzw. „the union of Kant and Spinoza“ (Perspectives, 75). Siglen: [ ] = in eckige Klammern gesetzte Zahlen sind Seitenzahlen des Vorlesungsmanuskripts German Classical Philosophy. TP = Tillich Papers in Andover-Harvard Theological Library, Cambridge, Mass. GW = P. Tillich, Gesammelte Werke Bd. I–XIV, hg. v. R. Albrecht, Stuttgart 1959– 1975. EW = ders., Ergänzungs- und Nachlassbände zu den GW, Bd. I–XX, Stuttgart 1971ff. Tillich 1912, Seitenzahl = P. Tillich, Mystik und Schuldbewußtsein in Schellings philosophischer Entwicklung, Gütersloh: C. Bertelsmann 1912. SW = F.W.J. von Schellings sämmtliche Werke. Stuttgart/Augsburg 1856–1861. Die Bände 1–10, die zur 1. Abteilung gehören, sind ohne Bezeichnung der 1. Abteilung zitiert, die Bände 1–4 der 2. Abteilung durch Voranstellung der Abteilungsbezeichnung 2. – Alle Übersetzungen aus dem Englischen stammen vom Vf. https://doi.org/10.1515/9783110984729-012
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Höchste, was in den U. S. akademisch möglich ist. Man ist keiner Fakultät unterstellt, sondern frei, in jeder Fakultät zu lesen – oder nicht zu lesen.“ So berichtet Paul Tillich in einem Rundbrief an seine Freunde in Deutschland. „Ihr werdet verstehen“, so lesen wir weiter in dem Rundbrief von 1954, „was das für unser Alter bedeutet. […] Die Frage, ob ich, wie es jetzt aussieht, ein halbes oder, was durchaus möglich ist, ein ganzes Jahr in Harvard sein werde, ist noch in der Schwebe. Jedenfalls müssen wir Ende September 1955 dort anfangen.“2 Tillich war sieben Jahre lang Harvard University Professor. Der Präsident der Harvard University, Nathan A. Pusey, dessen Amtszeit 1954 begonnen hatte, hatte sich ein großes Programm des interdisziplinären Austausches vorgenommen. Er berief sechs Gelehrte zu „University Professors“. Einer von ihnen war Tillich. Dieser erhielt den Auftrag, an zwei Fakultäten zu lehren, an der Harvard Divinity School, die sich damals „in einem Stadium völliger Erneuerung“3 befand, und am Department of Philosophy, das zum Harvard College gehörte. Tillichs Berufung an das Department of Philosophy stieß bei den dort lehrenden Philosophen nicht gerade auf Begeisterung. In ihren Erinnerungen berichtet Tillichs damalige Sekretärin Grace Calί: Meanwhile, within the philosophy department, Tillich’s appointment to the Faculty of Arts and Sciences stirred up an angry hornet’s nest among Harvard’s bevy of logical positivists, for apparently, Pusey fully expected him to teach one course a semester in the department. How dare Pusey appoint a theologian to teach philosophy? […] Professor John Wild, himself a rebel within the department’s ranks because of his insistence on the importance of existentialism as a major philosophical movement, was the key voice in pointing out to his resistant collegues the scientific rigor of Tillich’s approach, not only to philosophy but theology. Finally, with reluctance, Tillich was invited by the department to offer a course in German Classical Philosophy. Accustomed as he was by now to such provincial attitudes in the American academic world, nonetheless he was a bit hurt encountering it at illustrious Harvard.4
Grace Calί fügt aber hinzu, dass die anfängliche „hostility“ in den folgenden sieben Jahren allmählich, wenn auch manchmal etwas widerwillig, zum Erliegen gekommen sei, „by Tillich’s tact and obvious competence in the classroom“.
|| 2 EW V, 330. 3 So Tillich in seinem Rundbrief (EW V, 330). 4 Grace Calί, Paul Tillich First-Hand. A Memoir of the Harvard years. Introduction by Jerald C. Brauer, Chicago: Exploration Press Chicago, Illinois 1996, 8.
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2 Die Vorlesung über German Classical Philosophy Schon gleich in seinem ersten Harvard-Semester, im Herbstsemester 1955, las Tillich einen Kurs über German Classical Philosophy. Peter H. John hat diese Vorlesung, die zweimal in der Woche stattfand, stenographisch festgehalten. In seinem Verzeichnis der akademischen Vorlesungen Tillichs5 (dort unter der Nr. XVIII) zitiert er den wohl von Tillich stammenden Vorlesungskommentar: The post-Kantian development of German philosophical thought from Fichte to Hegel, and the late period of Schelling. Elaboration of the motifs which drove these philosophers beyond Kant, the basic influences determining their thought, their constructive attempts, the tensions and conflicts within their systems, and the criticism of their ideas by pioneers of recent movements.
Ein Jahr später, im Herbst 1956, hat Tillich diese Vorlesung wiederholt.6 Auch diese Vorlesung hat Peter H. John stenographiert (Nr. XXII in seinem Verzeichnis). Es handelt sich um die Vorlesung, die Tillich in seinem Rundbrief vom 24. April 1957 nennt. Ein drittes Mal hat Tillich die Vorlesung im Semester I des Studienjahres 1958/59 (also im Herbst 1958), mittwochs 4–6 Uhr, gehalten.7 Die Vorlesung wurde der Philosophie (135) und Theologie (155) zugeordnet. Peter H. John nennt unter Nr. 80 seines Verzeichnisses („isolated from semester course“) die stenographische Aufzeichnung der Vorlesung über Schelling vom 5. November 1958. Schließlich hat Tillich den Kurs German Classical Philosophy ein viertes Mal im Semester I des Studienjahrs 1960/61, dienstags und donnerstags von 10–11 Uhr gelesen, wiederum für Philosophie- und Theologiestudenten. In der für die Prüfung empfohlenen Literaturliste werden Schriften von Kant, Fichte, Schelling und Hegel genannt.8 In den Tillich Papers der Andover-Harvard Theological Library der Harvard Divinity School, Cambridge, Mass., befindet sich unter der Signatur bMS 649/
|| 5 Das 17 Seiten umfassende Typoskript (im Besitz des Vf.) trägt den Titel: Paul Tillich Academic Lectures, delivered at Union Theological Seminary and Columbia University 1951–1954 and Harvard University 1955–1962. Recorded by Peter H. John. 6 Vgl. die von Tillich ausgegebenen „Topics for Papers in Philosophy 135“ (TP, bMS 649/38 [18]). 7 Vgl. die Bibliographie zur Vorlesung (TP, bMS 649/38 [18]). 8 TP, bMS 649/38 (18).
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34(1) ein aus drei Heften bestehendes Vorlesungsmanuskript Tillichs mit der Archivaufschrift Philosophy: German Classical Philosophy I–III. Die Seiten 1–12 des Manuskripts stehen unter der Überschrift „Introduction“, die Seiten 12–47 unter der Überschrift „I. Kant“, die Seiten 47–76 beziehen sich auf „II. Fichte“, die Seiten 77–141 auf „III. Schelling“. Aufzeichnungen über Hegel fehlen. Das Schriftbild der Aufzeichnungen ist einheitlich. Die einzelnen Teile sind nicht nachträglich zusammengefügt, sondern von der ersten bis zur letzten Seite bzw. Zeile in der vorliegenden Reihenfolge von Tillich geschrieben und paginiert worden. Gleich zu Beginn der Einleitung erfahren wir: 1. The decision of the Class: German Classical Philosophy. 2. The impossibility of dealing with German enlightenment. The disadvantage overcome by some survey remarks and by the fact of Kant, who belongs to both. 3. The lack of time and the restriction to 4 people: Kant, Fichte, Schelling, Hegel, 24 hours. [1]
3 „Klassische Philosophie“ und „klassisches Ideal“ Zum Begriff “Klassische Philosophie” bemerkt Tillich [3], dass der Begriff „Idealismus“ für diese Periode unzutreffend sei. Es gebe zwar bei Kant ein idealistisches Element, er sei aber vor allem Kritizist. Fichte sei ein typischer Vertreter des Idealismus, doch in der Spätzeit Mystiker geworden. Schelling habe idealistische, insbesondere platonische Elemente, sei aber später „voluntarist and positivist of a special type“ gewesen. Hegel sei wegen seines Begriffs des absoluten Geistes Idealist, aber in Bezug auf den Menschen und die Geschichte realistischer gewesen als viele optimistische Philosophen der Aufklärung. So hält Tillich am Begriff der „klassischen Philosophie“ fest. „Klassisch“ heißt, formal gesehen, typisch; material gesehen, bezeichnet das Klassische die humanistische Form „nach einer Periode des Kritizismus, in der der archaische Geist noch lebendig ist“. [4] Tillich nennt Goethe „das klassische Ideal“. Es sei in Deutschland wegen der Reformation erst verspätet im 19. Jahrhundert, dafür aber mit „tremendous power“, zum Ausdruck gekommen, habe aber nie die ganze Nation humanistisch formen können – im Unterschied zu den beiden „erfolgreichen Revolutionen“ in England und Frankreich. [4] Hier klingt die Kritik an der Idee der Klassik an, die Tillich in seiner Goethe-Rede von 1932 zum Ausdruck gebracht hatte, in dem er der Idee der Klassik, wie auch Goethe sie vertrat, die Prophetie als eine andere
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Möglichkeit gegenüberstellt.9 Die Klassik will den Einzelnen „in kleiner Schar […] formen zu höchster Menschlichkeit“, so Tillich. Die Prophetie dagegen „um eines Übergreifenden willen, Reich Gottes in mythischer, Reich der Gerechtigkeit in rationaler Sprache“.10 Die Klassik schaffe damit das Problem der Masse. Die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft halte diese Massen zusammen und zerstöre damit das Ideal der organischen Gesellschaft. Die Idee der Klassik stehe für einen „begnadeten Augenblick“, die Führung der „unbegnadeten Welt“ übernehme die Prophetie.11 Von einem „begnadeten Augenblick“ der deutschen Klassik ist in Tillichs Vorlesungsmanuskript nicht die Rede, wohl aber von einem „weltweiten Sieg“ der Philosophie Kants und Hegels. Dieser Sieg bedeute: „The indirect preparation of the revolutionary movements of the 19th century, the direct preparation of those in the 20th century, especially in Germany and Russia“. [5] Damit sind Fichte und Schelling ausgeschlossen.
4 „Deutsche Klassische Philosophie“ Tillich sieht in Friedrich dem Großen das zweideutige Gesicht der deutschen Aufklärung, einerseits die Offenheit für die Ideen der französischen und englischen Aufklärung, andererseits die Unterdrückung der politischen Konsequenzen der Aufklärung. This permanent: All ideas received, but never used for political transformation. […] the nation of poets and thinkers – without political education. The revolutionary start of all German idealists always against the tyrannical state and the tyrannical religion. But always broken by the lack of revolutionary bourgeoisy and by Lutheran tradition of state obedience. Further by the synthetic trend with respect to religion. [5f.]
Zudem unterscheidet Tillich zwischen deutscher und westlicher Aufklärung. Dem „synthetischen Rationalismus“ der deutschen Aufklärungsphilosophie stellt er den „analytischen Empirismus“ und „kritischen Rationalismus“ in Frankreich und England gegenüber. Ein weiteres Merkmal der deutschen Aufklärung und klassischen Philosophie ist die „Innerlichkeit“ und „innere Kreativität“ – gegenüber dem objektivierenden Naturalismus und Rationalismus des Westens. Sie drückt sich, so Tillich, in den Begriffen „Seele“ und „Geist“ aus, die im
|| 9 Goethe und die Idee der Klassik (1932), in: GW XII, 112–124. 10 GW XII, 121. 11 GW XII, 122.
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westlichen Denken verschwunden seien. „Soul is the creative center with special productive faculties or power. It cannot be dissolved into processes of sensations and reflections.“ [8] Beispiele sind für ihn Leibniz’ Monadenlehre und der Pietismus. Hintergrund dieses Gegensatzes ist die „geniale Kreativität“ Luthers im Gegensatz zur „rationalen Universalität“ Calvins. Besonderen Ausdruck habe der deutsche Typus des Einzelnen in der Romantik gefunden: „die Tiefe des Gefühls, der schöpferische Geist, unvergleichlich, die Unendlichkeit der Einbildungskraft, der Mangel an Konformität in intellektueller Hinsicht, der Mangel an Freiheit in sozialer und politischer Hinsicht. Nicht das freie und demokratische, atomistische Individuum unter der Herrschaft der Konformität, sondern das organische, weder freie noch demokratische Individuum, der intellektuellen Konformität sich widersetzend.“ [7] Mit dem Begriff der Konformität spielt Tillich auf die von ihm oft kritisierte Konformität der amerikanischen Gesellschaft an. Die deutsche klassische Philosophie nennt er „die humanistische Form der deutschen Mystik“. Sie schließe viel Neuplatonismus ein und später auch eine pessimistische protestantische Mystik. Die in der Barth-Schule geführte Debatte über „Christentum und Mystik“ sei ein Kampf gegen die deutsche klassische Philosophie gewesen. Ein drittes Merkmal der deutschen klassischen Philosophie sei das fundamentale Interesse am Problem der Religion gewesen. „Not besides as in England, not against as in France, but uniting.“ [8] Von der Religion gilt: „This is the subject of all classical German philosophy. It is philosophy of religion in its start and center.“ [9] Tillich nennt in diesem Zusammenhang Lessing. Seine Trennung von metaphysischer Wahrheit und zufälliger Geschichtswahrheit, seine historische Kritik des Kanons und Dogmas „paved the way for all classical reinterpretation of the Christian dogma in philosophical terms without limiting the freedom of historical research.“ [9] Lessing war aber auch verantwortlich für die Wiederentdeckung von Spinoza. Goethe, Schelling und Schleiermacher haben ihre Bewunderung für Spinoza ausgesprochen. Tillichs These lautet: „German Classical Philosophy is a unity of Kantianism and organic Spinozism“. [9f.] Damit stellt sich für Tillich die Frage nach der Möglichkeit einer Synthese von Christentum und klassischer deutscher Philosophie.
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5 Das Vorlesungsmanuskript Das Vorlesungsmanuskript Tillichs enthält nach der Einleitung die drei Teile Kant, Fichte und Schelling. Aufzeichnungen über Hegel fehlen.12
5.1 Aufzeichnungen über Kant Die im Manuskript enthaltenen, z. T. aus Stichworten und knappen Notizen bestehenden Aufzeichnungen über Kant [12–47] betreffen die drei Kritiken Kants und die Religionsschrift. Tillich betont aber Kants Interesse an der Anthropologie. Kants anthropologische Schriften seien durch seine kritischen Schriften in den Hintergrund geraten. Die treibende Kraft seines Denkens war seine Einsicht in die Endlichkeit des Menschen. Sein pessimistisches Urteil über die Natur des Menschen geht zurück auf Rousseau. „Very far away from epistemology, this philosophy!“, lesen wir in Tillichs Vorlesungsmanuskript, und weiter: He wanted a doctrine of man, and his criticism is a doctrine of man’s finiteness, showing that all attempts to break through it on the basis of our finiteness, in thinking as well as acting, are successless. Only if the unconditioned appears to us against our empirical nature, we are beyond ourselves. [21f.]
Ausdruck unserer Endlichkeit sind die Kategorien. Die Anschauungsformen Raum und Zeit sind „forms of our subjectivity, of our sensual intuition“. [20] Die Gewissheit der Mathematik ist die Gewissheit der Struktur der Formen unserer eigenen Erfahrung. Unsere empirische Welt hat keine unbedingte Realität. Das eigentliche Wesen der Erkenntnis ist die Anschauung. Der erste Satz der „Kritik der reinen Vernunft“ enthält die Wesensbestimmung der menschlichen Erkenntnis. Die göttliche Erkenntnis ist Anschauung, menschliche Erkenntnis ist Begriff und Anschauung, denkendes Anschauen.
|| 12 Das Union Presbyterian Seminary in Richmond, VA, bietet aus dem 1958 in Harvard gegebenen Kurs German Classical Philosophy die Aufzeichnung von vier Hegel-Vorlesungen an, davon zwei Vorlesungen über Hegels Philosophy of Spirit, eine über Hegels Philosophy of State and History und eine weitere über Hegels Philosophy of Art and Religion. Diese Aufnahmen (ursprünglich Tonbandaufnahmen, jetzt CDs) sind allerdings akustisch kaum zu verstehen. Sie beweisen aber, daß Tillich die von ihm angekündigten Vorlesungen über Hegel gehalten hat, auch wenn schriftliche Aufzeichnungen im Vorlesungsmanuskript nicht mehr existieren.
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The split between the senses and the thought is the expression of our finiteness. For our thought is not less – even more – finite. It must go around through the universal in order to come to the singular; it has not the divine immediacy of intuition. [29]
Damit erscheine das Problem des Ding-an-sich in einem neuen Licht. Tillich entnimmt Heideggers Kant-Buch13 das Kant-Zitat: „Das Ding-an-sich ist nicht ein anderes Objekt, sondern eine andere Beziehung (respectus) der Vorstellung auf dasselbe Objekt.“14 Das heißt: The relation in which the object is called thing in itself is infinite, transcending us, the relation in which the same object is called appearance is finite. Therefore we are excluded by our finiteness from the knowledge of things in themselves, in their creative origin, where they are not objects. [30]
Die übrigen Schriften Kants behandelt Tillich in wenigen Notizen und Stichworten. Am Ende seiner Aufzeichnungen zu Kant stellt Tillich die Frage, wie der Mensch, der in zwei Welten lebe, ein und derselbe Mensch sein könne. Kant habe auf diese Frage Hinweise auf eine Antwort gegeben, die er nicht weiter ausgebaut habe. Tillich nennt drei Punkte, die über Kant hinausweisen: „1. The negative concept of freedom becomes positive in morals. 2. The unity of both [worlds] appears in the teleological reality. 3. The creative imagination makes man participate in creativity.“ [46] In der deutschen klassischen Philosophie nach Kant werde die Endlichkeit des Menschen nicht mehr von der Unendlichkeit getrennt, sondern transzendental geeint. Er nennt Fichte (Einheit von Freiheit und schöpferischer Synthesis), Schelling (Einheit im Zeichen der teleologischen Vernunft) und Hegel (Einheit unter der Prädominanz der Synthesis). Diese dreifache Einheit bedeute die „Vorherrschaft des mystischen Prinzips, wenn auch in rationalisierter Form“. [46]
5.2 Vorlesung über Fichte Das Fichte-Kapitel ist in Tillichs Manuskript ebenso wie das Schelling-Kapitel sorgfältig und vollständig ausgearbeitet. Wie im Manuskript seiner Vorlesungen üblich, beschränkt sich Tillich auf eine äußere Gliederung nach Abschnitten, die
|| 13 M. Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik (1929), 2. Aufl., Frankfurt a. M.: Vittorio Klostermann 1951. 14 Kants opus postumum, dargestellt und beurteilt v. E. Adickes 1920, 653 (C 551), von Heidegger gesperrt, zitiert von M. Heidegger (1951), a.a.O., 37.
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er nummeriert. Er folgt außerdem einer unsichtbaren Gliederung, der nur die Überschriften fehlen. In beiden Kapiteln finden sich viele Zitate aus den Werken Fichtes bzw. Schellings, die er in englischer Übersetzung in den laufenden Text einfügt. Sekundärliteratur nennt Tillich, wie üblich, nicht. Auffallend ist in beiden Kapiteln das schlechte Englisch, das im Satzaufbau, in der Stilistik und im Vokabular einen deutschsprachigen Verfasser erkennen lässt. Korrekturen von fremder Hand fehlen. Wir haben es hier also mit einem Originalmanuskript Tillichs zu tun, das auf Grund der sprachlichen Kriterien nicht erst für eine 1955 gehaltene Vorlesung, sondern schon früher verfasst sein muss. Tillich hat aber weder am Union Theological Seminary New York noch an der Faculty of Philosophy der Columbia University New York eine Vorlesung über German Classical Philosophy gehalten. Das Fichte-Kapitel ist seit dem Breslauer Promotionsvortrag über „Die Freiheit als philosophisches Prinzip bei Fichte“ von 191015 und einem zum 150. Geburtstag Fichtes in der „Neuen Preußischen Zeitung“ vom 19. Mai 1912 publizierten Artikel die erste und einzige Abhandlung Tillichs über Fichte. Fichte gehört in die Anfänge seines theologischen und philosophischen Studiums. Sein Lehrer Fritz Medicus hatte ihn in Fichtes Denken eingeführt. Doch Tillichs Interesse galt hinfort Schelling und Hegel. Hier unterscheidet sich Tillich von seinem Freund Emanuel Hirsch, der sich mit seinen Arbeiten über Fichte als Fichte-Forscher ausgewiesen hat. Das für die Vorlesung über German Classical Philosophy ausgearbeitete Fichte-Kapitel, das zum Schelling-Kapitel überleitet, also in diesem Zusammenhang verfasst wurde, gibt einen gut geordneten Gesamtüberblick über Fichtes Philosophie. Eine Edition der Fichte-Vorlesung Tillichs ist in Vorbereitung.
5.3 Vorlesung über Schelling In seiner im Exil im Jahre 1935 verfassten und 1936 publizierten autobiographischen Betrachtung, der er den Titel On The Boundary16 gab, erinnert Tillich an sein schon in seiner Gymnasialzeit erwachtes Interesse an der Philosophie und seinen Wunsch, Philosoph zu werden, an sein frühes Studium der Werke Kants, Fichtes und Schellings, an seine Exzerpte aus der Wissenschafts-Lehre Fichtes, die ihn „in das Schwerste vom Schweren der deutschen Philosophie“ führten, an die philosophischen Diskussionen mit seinem Vater und während des Studiums
|| 15 EW X, 55–62. 16 In: The Interpretation of History, New York, London: Scribner 1936, deutsch: GW XII, 13–77.
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die nächtlichen Gespräche über Gott und Welt, Freiheit und Notwendigkeit, Idealismus und Realismus. Der Hallenser Privatdozent Fritz Medicus, so berichtet er weiter, sei sein philosophischer Lehrer geworden. Er selbst sei „teils durch den Zufall eines Gelegenheitskaufes, teils durch innere Affinität“ zu Schelling geführt worden, dessen sämtliche Werke er verschiedene Male „begeistert“ durchgelesen und über den er seine philosophische Dissertation und seine theologische Lizentiaten-Dissertation angefertigt habe.17 In dem Schelling-Kapitel seiner an der Harvard University gehaltenen Vorlesung von 1955 ist von einem Schüler-Lehrer-Verhältnis zu Schelling, von seiner „Affinität“ zum Denken Schellings und auch von seinen beiden Dissertationen über Schellings Philosophie nicht die Rede. Stattdessen bietet Tillich – ohne es seinen Hörern mitzuteilen – eine sorgfältige Kurzfassung seiner theologischen Lizentiaten-Dissertation von 1912, die den Titel Mystik und Schuldbewußtsein in Schellings philosophischer Entwicklung trug. Jeglicher Hinweis auf Sekundärliteratur oder gar auf neuere Forschungsarbeiten zu Schelling fehlt. Die Begriffe „Mystik“ und „Schuldbewußtsein“ werden in der Vorlesung gelegentlich genannt, werden aber meistens durch die Begriffe „principle of identity“ und „existential situation“ ersetzt. Hatte er in der Dissertation von 1912 das Problem seiner Untersuchung als „Identität mit Gott als Prinzip der Mystik und Widerspruch mit Gott als Prinzip des Schuldbewußtseins“ beschrieben18, so formuliert er es in der Vorlesung als das Problem der Einheit von „essential identity and existential contradiction“. Nur der Wille, der mit sich selbst in Widerspruch treten kann, ohne aufzuhören, das zu sein, was er wesentlich (essentially) ist, nämlich Wille, kann das Problem lösen. Aus der Einheit von essential identity und existential contradiction, der Identität von Wesen und Widerspruch, entsteht, wie Tillich in der Vorlesung ausführt, „der lebendige Prozess“. [122] Begünstigt wird die Konzentration auf die Korrelate „essential“ und „existential“ bzw. „essence“ und „existence“ durch den Umstand, dass sie in Tillichs Systematic Theology bereits eine tragende Bedeutung haben und in seinen theologischen Sprachgebrauch eingeführt sind. Diese Vereinfachung und Konzentration auf die englischen Begriffe essential/existential und essence/existence ist die einzige markante Änderung, die die Vorlesung von 1955 an ihrer Vorlage, der Dissertation von 1912, vornimmt. Vorlesung und Dissertation stimmen auch darin überein, dass Tillich sich in ihnen der frühen und mittleren Periode der Philosophie Schellings zuwendet, die er als erste und zweite Hauptperiode des Denkens Schellings unterscheidet.
|| 17 GW XII, 31. 18 So z.B. in der Selbstanzeige seiner Dissertation in den Kant-Studien Jg. 17, 1912, 306.
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Seine philosophische Dissertation von 1910 war von der Spätphilosophie Schellings ausgegangen. Allerdings hat er am Ende des 3. Teils seiner Dissertation von 1912 unter der Überschrift „Die religionsgeschichtliche Lösung“ seine philosophische Dissertation in die theologische Dissertation explizit einbezogen, um die prinzipielle Lösung des Problems von Mystik und Schuldbewußtsein auch religionsgeschichtlich, d.h. im Sinne der „religionsgeschichtlichen Konstruktion in Schellings positiver Philosophie“ weiterzuführen. Damit berücksichtigt er in seiner theologischen Dissertation auch das Spätwerk Schellings. In Abschnitt 8 seiner Vorlesung übernimmt er auch diesen Teil der Dissertation von 1912, „die religionsgeschichtliche Lösung“. Nach Tillichs Darstellung in beiden Dissertationen und in der Schelling-Vorlesung von 1955 unterscheidet Schelling zwischen dem Heidentum einerseits und dem Judentum und Christentum andererseits. Entscheidend ist die Stellung zum geistgewordenen Widerspruch, d.h. zur Sünde. In der Dissertation wie in der Vorlesung führt Tillich aus, dass das Heidentum unter der Herrschaft des Widerspruchs steht. Es ist „die Religion des Zornes“, der Mythologie. Judentum und Christentum sind die Religionen der Offenbarung, d.h. des überwundenen Widerspruchs. Im Judentum steht der Wille Gottes, das Gesetz, gegen den Willen des Menschen. Im Christentum ist die Zorngebundenheit des Heidentums überwunden. [141] In Abschnitt 1, der Einleitung, wird Schelling als „Philosoph der Romantik“ bezeichnet. Wie in der Einleitung zur Dissertation werden die sieben Perioden in Schellings Philosophie auf zwei Hauptperioden reduziert. Der Übergang in die zweite Hauptperiode wird als „dialectical necessity of thought“ erklärt. Der Umschwung in Schellings Denken wird mit dem Tod seiner Frau Caroline Schlegel (1763–1809) in Verbindung gebracht. „From this time his existential thinking, death, anxiety and the preparation of Kierkegaard and others.“ [79] Abweichend von der Dissertation von 1912 spricht Tillich vom „Zusammenbruch der deutschen klassischen Philosophie“. Den Grund dafür sieht er in der „Einsamkeit“ von Schelling, Fichte, Hegel und Kierkegaard. „They all are alone, stars without community. Marx shows the reason for the end of community in bourgeois ‘objectivation’ and ‘atomisation’. He creates a new community and destroys the systematic philosophy – the misery of philosophy.“ „In Marx the social conditions of the truth.“ [80] Solche Aussagen fehlen in der Dissertation von 1912. Abschnitt 2 entspricht dem „Ersten Teil“ der Dissertation („Historisch-dialektische Begründung des Problems“). Die ausführliche Untersuchung der Stellung der drei Kritiken Kants zum Identitätsprinzip und seinem Gegenteil hat Tillich in die Vorlesung nicht aufgenommen. Die dialektische Situation beschreibt er „im Hinblick auf die romantische Situation“ mit folgender Frage: „Wie kann die Ge-
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genwart des Unendlichen im Endlichen verstanden werden, ohne das realistische Verständnis der menschlichen Endlichkeit und der moralischen Existenz aufzugeben?“ [84] In den weiteren Abschnitten seiner Vorlesung folgt Tillich seiner Dissertation von 1912. Bei der Abfassung seines Manuskripts muss sie ihm vorgelegen haben. Anders sind die Übereinstimmungen nicht zu erklären. Natürlich musste er die 135 Druckseiten der Dissertation für die Vorlesung, für die ihm 5 Stunden zur Verfügung standen, erheblich reduzieren. Umso mehr fällt auf, dass er einen großen Teil der vielen Schelling-Zitate für die Vorlesung übernommen hat, auch in der vorgegebenen Reihenfolge. Den Text, der die Zitate verbindet, übernimmt er manchmal wörtlich, manchmal formuliert er ihn neu, in der Regel fasst er ganze Passagen der Dissertation zusammen oder übergeht sie. Durch die Übersetzung ins Englische wird der Gedankengang oft besser verständlich.19 Der „Zweite Teil“ der Dissertation, „Die Durchführung der Mystik in Schellings erster Periode“, wird in den Abschnitten 3 bis 6 der Vorlesung wiedergegeben. Dabei verteilen sich „I. Die Willensmystik“ auf Abschnitt 3, „II. Natur- und Kunstmystik a) Die religiöse Bedeutung der Naturphilosophie“ auf Abschnitt 4, „II. Natur- und Kunstmystik b) Die Religion des ästhetischen Idealismus“ auf Abschnitt 5, „III. Die Mystik der intellektuellen Anschauung“ auf Abschnitt 6 der Vorlesung. Der „Dritte Teil: Die Synthese von Mystik und Schuldbewußtsein in Schellings zweiter Periode“ wird in den Abschnitten 7 und 8 wiedergegeben. Dabei verteilen sich „I. Die prinzipielle Lösung“ auf den sehr umfangreichen Abschnitt 7 und „II. Die religionsgeschichtliche Lösung“ auf den Abschnitt 8 der Vorlesung. In der Edition werden die direkten Entsprechungen zwischen Vorlesung und Dissertation in den Fußnoten mitgeteilt. Es ist hier nicht der Ort, Tillichs Dissertation von 1912 zu interpretieren oder zu kommentieren, zumal keine Sinnverschiebungen oder grundsätzliche Abweichungen festzustellen sind. Ich verweise stattdessen auf die grundlegenden, im Einzelnen nicht immer übereinstimmenden Arbeiten von Reinhold Mokrosch, Gunther Wenz und Christian Danz.20 Sie gelten auch für Tillichs Schelling-Vorlesung von 1955ff. || 19 Durch die Übersetzung ins Englische werden zwei Druckfehler des Originaldrucks der Dissertation von 1912 korrigiert: die Worte „Der Mensch das Existierende, Absolute, das ist der höchste Satz der Naturphilosophie“ (Tillich 1912, 76) übersetzt Tillich: „Man is the existing absolute, this is the fulfilment of the philosophy of nature“ [110]. Die Worte „die Lüge, das dem Irrationalen schlechthin Feindliche“ (Tillich 1912, 111) übersetzt er so: „It is non-rational which contradicts the rational or which is the metaphysical lie“ [133]. 20 Reinhold Mokrosch, Theologische Freiheitsphilosophie. Metaphysik, Freiheit und Ethik in der philosophischen Entwicklung Schellings und in den Anfängen Tillichs, Frankfurt am Main:
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6 Tillichs Aktualisierungen der Philosophie Schellings 6.1 „Die innere Krisis des deutschen Idealismus in Schellings Philosophie“ (1930)21 Tillich hat sich in seinen akademischen Vorlesungen immer wieder mit Schellings Philosophie beschäftigt. So hat er während einer Lehrtätigkeit als Prof. für Philosophie und Soziologie an der Frankfurter Universität im Sommer-Semester 1930 eine einstündige Vorlesung unter dem Titel „Schelling und die innere Krisis des deutschen Idealismus“ gehalten. Schelling ist, so lautet Tillichs These in der Disposition zur Vorlesung, „Repräsentant“ der Vollendung und zugleich der Krisis des Idealismus (EW XVIII, 685). Die Vollendung des Idealismus vollzieht sich in Schellings erster Periode. Tillich beschreibt sie im Anschluss an seine Lizentiaten-Dissertation. Er verweist auf S. 75 seiner Dissertation, wo er ausgeführt hatte, dass die Reflexionsphilosophie die höchste Einheit nicht erreicht, dass für sie das Absolute „außer dem Ich“ bleibt „statt in ihm“ und dass sie nicht einsieht, „daß das Außer-sich-Haben des Absoluten nur ein Schein ist, daß das Absolute und das Wissen des Absoluten schlechthin eins ist“. Die „vollendete Mystik“, die absolute Identität, ist da erreicht, wo „alles, was ist, […] der Form nach Selbsterkenntnis des Absoluten (Identität von Subjekt und Objekt) [ist]“. Er zitiert Schellings Wort von der „unendlichen intellektuellen Liebe der Seele zu Gott, welche, absolut betrachtet, nur die Liebe ist, mit der Gott sich selbst liebt“ (SW 6, 506). Für Tillich ist dies ein „entscheidender Einbruch des Spinozismus“. (EW XVIII, 685) Die Einheit von Subjekt und Objekt bedeutet den Sieg über die ethischen Kategorien und die Aufhebung der Freiheit. In der Freiheitslehre geschehe der Bruch mit dem Identitätsprinzip. Dem materialen Freiheitsbegriff (der Identität des Wesens mit sich selbst) steht der formale, die Möglichkeit, mit sich selbst in Widerspruch zu treten, gegenüber. Freiheit ist Freiheit zum Bösen. Das heißt: der Mensch ist „das bedrohte Wesen“. In ihm aktualisiere sich „die irrationale Tiefe“. Die Welt werde
|| Vittorio Klostermann, 1976; Gunther Wenz, Subjekt und Sein. Die Entwicklung der Theologie Paul Tillichs, München: Chr. Kaiser Verlag, 1979; Christian Danz, Religion als Freiheitsbewußtsein. Eine Studie zur Theologie als Theorie der Konstitutionsbedingungen individueller Subjektivität bei Paul Tillich, Berlin/New York: Walter de Gruyter, 2000. 21 So der Titel der Disposition zur Vorlesung über „Schelling und die innere Krisis des deutschen Idealismus“ (in: EW XVIII, 684–687).
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als „losgelöstes Wesen“ betrachtet. Die Geschichte wird zu dem Ort, wo „das wird, was in der Identität ewig ist“. (Ebd.) Die Seele steht nicht mehr im Zentrum, die Welt ist nicht deduzierbar, sondern „gegeben“. Grundlage des philosophischen Empirismus Schellings ist „das irrationale Willensprinzip“. Empirismus bedeute aber nicht Objektivierung, sondern Teilhabe an der gleichen Situation „infolge Unzerbrochenheit der substantiellen Einheit“. Schellings Empirismus führe zu einer tieferen Seinserfassung, einem „Zum-Sinn-Kommen des Seins“. (Ebd., 686) Das Konkrete, nicht das Allgemeine sei entscheidend; das entspreche der Situation „des sich selbst entwickelnden Seins“. Theologisch bedeutsam ist „die menschliche Bedrohtheit und das Stehen in der dämonischen Tiefe des Göttlichen“. (Ebd.) Jedoch „infolge des Identitätsprinzips bleibende Gebundenheit“. Durch den Gedanken der Natur in Gott werde die Vital-Sphäre positiv gewertet und die Lebensphilosophie gegen die innerweltliche Askese durch die Religion „erobert“. Durch die „Trennung von Gott und Geist“ werde Verständnis gewonnen für das „Überschwengliche, das System der Vernunft Durchbrechende und Neue in der Geschichte“. (Ebd.). Die allgemeine Anthropologie sei nur der Hintergrund der konkret-geschichtlichen Auffassung des Menschen. Schelling habe zwar nicht Klassen unterschieden, wohl aber Zeitalter in ihrer objektiv-verschiedenen Struktur. Er habe sie vertieft „in die Sphäre der göttlich-dämonischen Antithese“, die z.B. jetzt der religiöse Sozialismus aufzudecken versuche. Er habe den persönlichen Willen gegen das abstrakte Prinzip gestellt. Das habe Konsequenzen für das Macht-Problem. Allerdings gehe es ihm um „Sinnerfülltheit des Willens“, nicht um Gewalt. Kurzum: Schellings Philosophie zeige „die innere Krisis der bürgerlichen Ideologie mit Mitteln vorbürgerlicher Ideologie, zugleich aber unter Rezeption des Entscheidenden von ihr“. Er konnte darum zum „Führer der antibürgerlichen Reaktion werden, und mußte als solcher an der realen Situation scheitern“. Weil er die Krisis „innerlich vorweggenommen“ habe, habe er „Kräfte, die über die äußere Krisis hinausführen können“, die also auch die innere Krisis aufdecken und überwinden können. Er sei somit ein „Wegweiser für die viel tiefere Krisis des bürgerlichen Geistes und damit der Welt, in der wir stehen“. (Ebd., 687) In seiner 1932 abgeschlossenen Schrift Die sozialistische Entscheidung verortet Tillich Schelling in der antirationalen Bewegung der politischen Romantik und ihrer Rückwendung zum Ursprungsmythos. Von der intellektuellen Anschauung Schellings bis zur Intuition der Lebensphilosophie und der Phänomenologie gehe „eine Linie des Protestes gegen die analytische Haltung der modernen bürgerlichen Philosophie“. Die Anschauung „löst nicht auf, unterwirft nicht dem Gesetz, will nicht herrschen und gestalten. Sie eint mit ihrem Gegen-
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stand.“ Sie mache den Versuch, „hinter die Subjekt-Objekt-Spaltung des Seienden zurückzugehen, die Kraft der Analyse zu brechen, die ursprüngliche Einheit wiederzugewinnen, hinzunehmen, statt zu untersuchen, stehen zu lassen, statt zu entwerfen.“ (GW II, 258) Insofern ist Schelling, der Philosoph der Romantik, ein Kritiker des Geistes der bürgerlichen Gesellschaft.
6.2 Schellings Wendung zur geschichtlichen Existenz gegen das Wesen In Tillichs Frankfurter Vorlesung über „Fragen der Systematischen Philosophie“ vom Wintersemester 1932/33 wird Schellings Wendung zur geschichtlichen Existenz ausführlich behandelt.22 Gegenstand unseres philosophischen Fragens, so Tillichs These, ist unsere geschichtliche Existenz. Wären wir „im Wesen“, so würde die negative Philosophie „als geschlossenes System von Wesensnotwendigkeiten“ genügen. Wir sind aber nicht „im Wesen“, sondern wir sind aus dem Wesen herausgetreten, wir existieren und wollen über unsere Existenz uns Gedanken machen. Aufgabe der positiven Philosophie ist es, die „Strukturen der Gebrochenheit“ aufzuzeigen. Schelling philosophiere darum über Schuld, Anorganisches, Schwermut, Angst, Rätsel, Grauen, Besessenheit usw. und verbinde diese Elemente mit der Religionsgeschichte, die von ihm „wenigstens der Absicht nach“ existentiell durch die Grundkategorien Abfall und Erlösung interpretiert werde. Demgegenüber sei bei Hegel die Negativität, wie auch Kierkegaard bemerkt habe, „nicht echt“. (EW XVIII, 621) Seine Dialektik beruhe auf dem Prinzip der Selbstbewegung des Seienden durch seinen Widerspruch zur Erfüllung. Als Denkender der überwundenen Negativität stehe er nicht mehr in ihr, „während Schelling es wenigstens will“, wenn es ihm auch schließlich nicht gelinge. Zur Ernsthaftigkeit der Existenz gehöre, „daß der Erkennende als Erkennender in der Existenz steht, d.h. daß ein abgeschlossenes System unmöglich ist […]“. (Ebd.) Kierkegaard habe dies deutlich erkannt, ebenso Heidegger, auf dessen Vortrag „Was ist Metaphysik?“ Tillich hinweist. Schelling habe im Namen der Existenz einen Kampf gegen das Wesen geführt. Daß in seinen Vorlesungen Kierkegaard und Engels saßen, beide Vorkämpfer gegen die Hegelsche Gleichsetzung von Wesen und Existenz, ist für Tillich von symbolischer Bedeutung. „Schellings Kampf“, so Tillich, „gilt der Anschauung der Welt als vollendeter Wesensstruktur, in der z.B. die Identität von Geist und Natur, von Gott und Mensch unmittelbar gegeben sei“. (Ebd., 582) Er zweifle nicht
|| 22 EW XVIII, 505–666.
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daran, dass es so etwas geben könne. Weil es nur mit dem Wesen der Dinge, dem Was, zu tun habe, nenne er es „negative Philosophie“. Doch die Philosophie müsse auch über das Dass, die Existenz, etwas sagen. Die negative Philosophie fordere eine positive Philosophie. Beide seien nötig, aber das Entscheidende über unsere Existenz erfahren wir aus der positiven Philosophie. Der alogische Charakter der Existenz mache es unmöglich, dass die positive Philosophie „System“ sei. Sie könne nie „absolut geschlossen“ sein. (Ebd., 583) Die positive Philosophie ist „freie Philosophie“, „Philosophie der Freiheit“. Es gebe keine Denknotwendigkeit der Existenz. „Die Existenz ist das Überraschende, in Freiheit Gesetzte.“ Gott allein sei die „Macht zu existieren“. „Macht zu existieren“ heiße aber nicht notwendig existieren, sondern existieren können. Existieren können enthalte aber auch das Nicht-existieren-Können, „die Möglichkeit, sich in sich zu verschließen, reines Wesen zu bleiben, und die Möglichkeit, aus sich herauszutreten, in die Existenz überzugehen.“ (Ebd.) Wenn die Existenz das Nicht-Notwendige ist, dann ist die Philosophie der Existenz frei, sie ist „ein Philosophieren, in dem es dem Subjekt in Freiheit um sich selbst geht“. Die negative Philosophie ist notwendig, „sie ist die Notwendigkeit des Denkens“. (Ebd.) Tillich verweist hier auf die entscheidenden Formulierungen Kierkegaards in der „Abschließenden unwissenschaftlichen Nachschrift/ Zweiter Teil“.23
6.3 „Einführung in die Existential-Philosophie“24 In seiner im Frühjahr 1934 an der Columbia University New York in englischer Sprache gehaltenen Vorlesung Einführung in die Existential-Philosophie gibt Tillich zunächst einen Überblick über Schellings Entwicklung. Er knüpft dabei an seine letzte noch in Deutschland, an der Frankfurter Universität, gehaltene Vorlesung an, setzt aber auch neue kritische Akzente. So ist für ihn Schellings Idee des ethischen Genies ein Angriff auf die Ethik schlechthin. Die Wesensphilosophie ziehe den Menschen aus der Sphäre der Existenz, einschließlich der Ethik, der Geschichte und der Politik. Die Folgen einer solchen Haltung und Philosophie könne man in der deutschen Geschichte ablesen: „Die Freiheit der Existenz, d.h. die persönliche und politische Freiheit wurde nicht benötigt, weil wahre Freiheit transzendente, wesentliche Freiheit ist.“ (EW XVII, 78) Die Leichtigkeit, || 23 Tillich nennt Kapitel III, § 1, wo zwischen der Abstraktion und der Existenz, dem abstrakten Denker und dem existierenden Selbst unterschieden wird (S. Kierkegaard, Gesammelte Werke, Bd. 7, Jena: Eugen Diedrichs, 1910, 1f., 15). Tillich zitiert Kierkegaard, ebd. 15: „Das reine Denken ist ein Phantom.“ 24 EW XVII, 57–156, zu Schelling: 60–106.
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mit der die Deutschen von heute alle persönlichen Freiheiten zugunsten des totalitären Staates aufgegeben haben, „eine Tatsache, die allen ausländischen Beobachtern auffällt“, habe zu einem gewissen Grade ihre Wurzeln in der Wesensphilosophie. Die Auffassung, dass die Freiheit nicht etwas Äußeres, sondern etwas Innerliches sei, sei ein unbewusstes Element „unseres gesamten Denkens“ geworden. (Ebd., 78f.) Die Freiheit als die Möglichkeit des Menschen, im Widerspruch zu einem Wesen zu handeln, führe Schelling auf eine entsprechende Spaltung in Gott zurück. Denn der Wille, der auch in Gott ist, könne nicht ohne einen lebendigen Gegensatz in ihm selbst vorgestellt werden. „Ein Wille, der mit sich selbst völlig eins ist, der nichts hat, was er jenseits seiner selbst erstrebt, ist ein stiller, nur potentieller Wille.“ (Ebd., 82) Grund der Existenz ist also der absolute, lebendige und konkrete Wille. Schelling erzählt damit, so Tillich, einen Mythos, denn ohne einen Mythos sei es nicht möglich, vom Übergang vom Wesen zur Existenz zu reden. Vom Wesen können wir wissenschaftlich reden, von unserer Existenz nur geschichtlich. Selbst Aristoteles spreche von der Bewegung aller Dinge durch den Eros. Spinoza spreche von der intellektuellen Liebe, mit der Gott durch alle Dinge hindurch sich selbst liebe. Hier werden Dinge und Ereignisse in Zeit und Raum auf eine Sphäre jenseits von Zeit und Raum übertragen. „Das ist unvermeidlich, weil die menschliche Sprache begrenzt ist durch die konkrete Welt und deren Inhalte.“ (Ebd., 83) Die Mythen aber ihrerseits seien keine willkürlichen Gebilde, sondern „sie entstehen aus einer realen Situation des Menschen im Blick auf seine Existenz“. (Ebd.) Schellings Mythos des absoluten Willens, der sich selbst widerspricht, um lebendig zu sein, ermöglicht „ein Bild des Übergangs vom Wesen zur Existenz“. (Ebd., 84) Dieses Bild ist irrational, denn es gibt keinen Grund für den Übergang. Hatte Hegel behauptet, dass das Wesen Existenz wird („Das Wesen muss erscheinen“), so widerspricht Schelling: Das Wesen muss nicht erscheinen. Weil es reiner Wille ist, hat es die Möglichkeit zu erscheinen. Ein Wille, der gezwungen ist, ist kein Wille. Warum, so fragt Tillich, erzählt Schelling einen Mythos des Willens? Wiederum liegt der Grund dafür in Gott, genauer: in dem, was in Gott, aber nicht Gott selbst ist. In Gott ist ein Element (eine „heiße Begierde“), das den Willen hat, Existenz zu werden, ein Wille, in dem kein Verstand ist. Ausführlich referiert Tillich Schellings Unterscheidung der beiden Prinzipien im Absoluten und im Menschen, Schellings neue Auffassung des Geistes und der Selbstheit, die Möglichkeit und die Wirklichkeit des Bösen. Die Sätze, die er aus Schellings „Freiheitslehre“ zitiert, verraten, so Tillich, „eine tiefe Einsicht in die menschliche Existenz“. (Ebd., 91) Schließlich behandelt Tillich auch das Spätwerk Schellings, die „Einleitung in die Philosophie der Offenbarung oder Begründung der positiven Philosophie“.
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Gegen Hegels Vermischung von Essenz und Existenz mache Schelling geltend, dass die Vernunft nur den möglichen, nicht aber den wirklichen Gott beweisen kann. Schelling leugne die Möglichkeit, „den wirklichen Gott, der mehr ist als Vernunft oder Wesen, den Gott, der Existenz ist“, zu erreichen. Tillich zitiert Schellings Wort von dem Verlangen des Ich nach Gott: „Ihn, Ihn will es haben, den Gott, der handelt […], der als ein selbst tatsächlicher dem Tatsächlichen des Abfalls entgegentreten kann, kurz der der Herr des Seins ist.“ (SW 2, 1, 566; ebd., 98f.) Erst mit dem Übertritt in die positive Religion kommen wir in das Gebiet der Religion, die mit der sogenannten Vernunftreligion Hegels nichts gemein hat. Die Philosophie der Existenz ist damit, so Tillichs Kommentar, „theology drawn in philosophy“, Theologie im Gewand der Philosophie. (Ebd., 99) Die positive Philosophie geht somit von dem aus, was „das schlechterdings transzendente Sein ist“, dem „absoluten Prius“, dem „Unvordenklichen“.25 „Darum ist die Realität der Existenz“, so Tillich, „das irrationale, absolut positive Prinzip, das, obwohl es im Denken ist, das Denken transzendiert und die Haltung des reinen Empirismus fordert.“ (EW XVII, 102) Positive Philosophie oder „reiner Empirismus“ kann niemals die Form eines Systems annehmen. „Jede neue Erfahrung würde das System sprengen.“ (Ebd., 103) In diesem Zusammenhang versucht Schelling, eine neue Theorie der Zeit zu entwickeln. Nach ihr hat jedes Ding und jedes Ereignis seine Zeit „in sich selbst“, nicht „außer sich“. Zeit ist subjektive, qualitative Zeit. Tillich deutet an, dass von hier aus eine Geschichtsphilosophie entwickelt werden kann, in die auch seine Kairos-Lehre gehört und in der die Beziehung zur Zukunft das entscheidende Element der Zeit ist. (Ebd., 104)
6.4 „Schelling und die Anfänge des existentialistischen Protestes“ (1954)26 „Schelling ist der Philosoph der Romantik par excellence.“ (GW IV, 133) So erklärt Tillich in seinem Stuttgarter Vortrag zum Gedenken an den 100. Todestag Schellings die Tatsache, dass die angelsächsische Theologie und Philosophie ein nur geringes Verständnis für Schelling haben. Er wolle darum versuchen, Schelling „aus den Grenzen seiner Zeit und seines Raumes herauszuheben und seine fundamentale Bedeutung für die Probleme der Situation in der gesamten westlichen
|| 25 SW 2, 3, 127. 26 In: Zeitschrift für philosophische Forschung Jg. 9, 1955; GW IV, 133–144; Main Works/Hauptwerke 1, 391–402.
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Welt zu zeigen“. Er will versuchen, „ihn und seine Leistung zu entprovinzialisieren“ (ebd.), und nennt drei Elemente „unserer Situation“, die eine universale, also nicht mehr provinzielle Würdigung Schellings rechtfertigen: das Ringen um den Symbol- und Mythosbegriff, die Wiederentdeckung des Unbewussten und den Existentialismus. Für alle drei Elemente lasse sich Schellings Bedeutung für uns heute aufzeigen. Am ehesten aber komme für eine universale Würdigung Schellings der Existentialismus in Betracht. So stellt er den Vortrag auch unter das Thema „Schelling und die Anfänge des existentialistischen Protestes“. Er will darum in seiner Interpretation von Schellings „Entwicklung“ die Worte „essential“ und „existential“ und ihre Ableitungen gebrauchen. Hegels System hält er für das „vollkommenste“ Beispiel einer Essentialphilosophie, auch wenn die Geschichte in sein Essentialsystem hineingenommen werde. In den meisten Essentialphilosophien seien existentielle Elemente enthalten. Sie brechen im 19. Jahrhundert „revolutionär“ hervor, um dann im 20. Jahrhundert die Kunst, Literatur und Philosophie maßgeblich zu bestimmen. Damit seien die Tore für eine neue Würdigung Schellings geöffnet. Mit seiner „Freiheitslehre“ und Wende zur Existenz sei aus dem Philosophen der Romantik der Lehrer von Kierkegaard und Engels geworden, der Philosoph der geschichtlichen Existenz. Schelling stelle der negativen Philosophie des Essentialsystems die positive Philosophie der existentiellen Erfahrung gegenüber. „Positive Philosophie ist Existenzanalyse im Hinblick auf das Sein, das in der Existenz erscheint.“ (Ebd., 142). Am Ende seines Vortrags überrascht Tillich mit einer Abgrenzung von Schelling. Es sei unmöglich, behauptet er, aus existentialen Analysen existentielle Antworten abzuleiten. Dies könne man nur auf Grund von Offenbarung tun, „von Offenbarung der Seinsmacht, die den Konflikt von Essenz und Existenz überwindet und die in der Geschichte begegnen muß“. (Ebd., 144) Schelling habe das gewusst, aber er sei zu sehr „ein Erbe der idealistischen Tradition“ gewesen, um die Konsequenzen zu ziehen. „Er vergaß den Begegnungscharakter der Offenbarung, den er selbst gefordert hatte.“ (Ebd.) Nirgendwo sonst in seinen zahlreichen Würdigungen Schellings grenzt sich Tillich von seinem „großen Lehrer in Philosophie und Theologie“ so deutlich ab wie in diesem Vortrag.
7 Aktualität und Faszination des Vergangenen Während Tillichs Vorlesung über German Classical Philosophy aus den oben genannten Gründen bisher nicht publiziert worden ist, ist seine im Frühjahr 1963
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an der Divinity School der Universität of Chicago unter dem Titel History of the Protestant Theology in the 19th and 20th Century gehaltene und auf Tonband aufgezeichnete theologiegeschichtliche Vorlesung postum und 1972 auch in deutscher Übersetzung veröffentlicht worden.27 Die in der Vorlesung German Classical Philosophy enthaltenen Kapitel über Fichte und Schelling hat Tillich in der Chicagoer theologiegeschichtlichen Vorlesung nicht wiederholt. Fichte wird nur beiläufig erwähnt. Schelling wird unter der Überschrift „The Synthesis of Spinoza and Kant“ im Hinblick auf die Lizentiaten-Dissertation von 1912 und ein zweites Mal als Kritiker Hegels ausführlich behandelt. Das die beiden Vorlesungen insgesamt verbindende Element ist aber das Interesse an der deutschen klassischen Philosophie, mithin aber auch an Religion und Religionsphilosophie. Was Tillich in der Einleitung zu seiner theologiegeschichtlichen Vorlesung von 1963 über die Absichten und Ziele seiner Vorlesung ausführt28, wird auch für seine Vorlesung über German Classical Philosophy gelten. Das Hauptziel seiner Vorlesung besteht für ihn darin, „unsere eigenen Probleme auf ihrem Hintergrund in der Vergangenheit zu verstehen“.29 Er will seinen Hörern zeigen, „how we have arrived at the present situation“. Eine der Lieblingsvokabeln Tillichs ist das Wort „Hintergrund“. Unsere heutige Situation hat einen Hintergrund. Darum der Titel „Schelling und die Anfänge des existentialistischen Protestes“. Der Hintergrund besteht für Tillich nicht aus einzelnen Persönlichkeiten, sondern aus „trends“ (Richtungen, Tendenzen). „Wir werden sehen, wie diese trends in unsere gegenwärtige Situation führen.“ (Ebd., 2) Natürlich wolle er einzelne Theologen behandeln, die „die Träger“ dieser Richtung oder Entwicklung seien, aber nur diejenigen sollen ausführlicher besprochen werden, „die die großen Wendepunkte im Verlauf der Ereignisse, die zu uns führen, repräsentieren“. (Ebd.) Aus diesem Grunde sei es unmöglich, sich nur auf Theologen zu beschränken. Oft seien für die Theologie Philosophen wichtiger als Theologen, oft auch Naturwissenschaftler wichtiger als Philosophen. Oft formen auch Literatur und Musik einen Teil der historischen Entwicklung.
|| 27 Die Vorlesung wurde von Carl E. Braaten herausgegeben und mit einer Einleitung versehen unter dem Titel: Perspectives on 19th and 20th Century Protestant Theology, New York, Evanston, London: Harper & Row Publishers, 1967; in deutscher Übersetzung: Vorlesungen über die Geschichte des christlichen Denkens, Teil II: Aspekte des Protestantismus im 19. und 20. Jahrhundert, hrsg. u. übersetzt von Ingeborg C. Henel (= EW II), Stuttgart: Evangelisches Verlagswerk, 1972. 28 Die Einleitung fehlt in der deutschen Übersetzung (EW II). 29 Perspectives, 1.
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Tillich nennt aber noch ein zweites Ziel seiner historischen Vorlesungen. Es ist das Sich-Einlassen auf die „Faszination des Vergangenen“.30 Er hoffe, man werde entdecken, „daß die Vergangenheit sogar in sich selbst interessant sein kann und das nicht nur, weil sie unsere Vergangenheit ist, die Vergangenheit, aus der wir herkommen als religiöse Menschen und als theologische Denker“. Die Begegnung mit der Vergangenheit könne den Eros erwecken, „daß Sie sich interessieren für einige Ereignisse in der Vergangenheit. Das wäre ein schönes Nebenprodukt, aber ich weiß nicht, inwieweit es mir gelingt, diesen Eros zu erwecken.“ (Ebd., 1) Dieses zweite Ziel könne sogar für einige, die seine Vorlesung hören, das wichtigere Ziel sein. Aber es sei nicht das Hauptziel. Für Tillich gibt es zweifellos „faszinierende“ philosophische Richtungen, Epochen, Trends und deren Träger. Dazu gehören die Mystik bzw. die Identitätsphilosophie und Spinoza als ihr Träger, Schellings Freiheitslehre, gewiss auch die gesamte philosophische Entwicklung Schellings, wie er sie in seinen zwei Dissertationen gedeutet hat. Die deutsche klassische Philosophie war für ihn ebenso wie die griechische Philosophie im Sinne des ersten und zugleich des zweiten Ziels seiner Vorlesung interessant. In den fünf Sitzungen, die ihm in der Vorlesung über German Classical Philosophy für die Philosophie Schellings zur Verfügung standen, trug Tillich eine Kurzfassung seiner Lizentiaten-Dissertation Mystik und Schuldbewußtsein in Schellings philosophischer Entwicklung vor. Warum er nicht das Schelling-Kapitel seiner New Yorker Vorlesung von 1934 oder seinen Stuttgarter Vortrag von 1954 wiederholt oder überarbeitet oder wie später in seiner Chicagoer theologiegeschichtlichen Vorlesung von 1963 Schelling als Kritiker Hegels und als Philosophen der Identität, der Freiheit und der Existenz dargestellt hat, wissen wir nicht. Warum, so könnte man fragen, konfrontiert er sein Auditorium mit den vielen Schelling-Zitaten und dem Thema seiner Dissertation von 1912, ohne mitzuteilen, dass der Inhalt seiner Vorlesung seine mehr als 40 Jahre zuvor verfasste Dissertation ist? Es fragt sich auch, ob sich Schellings Philosophie auf das Thema seiner theologischen Dissertation reduzieren lässt. Wollte er einen eigenen Beitrag zur Schelling-Forschung unter Beweis stellen? Diese Frage stellt sich auch im Blick auf das Fichte-Kapitel seiner Vorlesung. Wir hatten oben berichtet, dass seine Kollegen am Department of Philosophy Tillich als Theologen und nicht als Philosophen betrachteten.
|| 30 Perspectives, 1f.: “the other purpose of responding to a fascination for things which have happened in the past.“
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Während seiner Harvard University Professur wurde in Deutschland die Edition seiner „Gesammelten Werke“ vorbereitet. Die erste Schrift, die wieder abgedruckt wurde, war seine Dissertation von 1912. In seinem Vorwort zum Wiederabdruck seiner Dissertation vom Februar 1959 berichtet er von dem Einfluss, den sein Schelling-Studium auf seine gesamte spätere Entwicklung gehabt hat. Seine Begegnung mit Nietzsche und der Lebensphilosophie sowie mit der Philosophie und Kunst des Existentialismus habe seine Wertung der Philosophie Schellings bestätigt. Beide Richtungen seien „weitgehend von Schelling abhängig“ (GW I, 9). Dabei belässt es Tillich nicht. Er behauptet, das spezielle Thema seiner erneut abgedruckten Arbeit über Schelling habe „seine bleibende Bedeutung bewiesen“. Sowohl innerhalb der eigentlichen theologischen Arbeit als auch in der Auseinandersetzung des Christentums mit den asiatischen Religionen spiele „gerade heute das Problem: Mystik und Schuldbewußtsein eine entscheidende Rolle“. Ähnlich argumentiert er in seiner Chicagoer theologiegeschichtlichen Vorlesung von 1963. Der mystische Hintergrund der Philosophie Spinozas erklärt, so Tillich, die Faszination, die Spinozas Philosophie bis zum heutigen Tag auf Dichter und Denker ausgeübt hat. Dem mystisch-pantheistischen System Spinozas stehe aber Kants Philosophie mit ihrem Prinzip der Endlichkeit und der Distanz entgegen. Die Nachfolger Kants und die gesamte europäische Philosophie (!) haben Tillich zufolge vor dem Problem gestanden: Wie lassen sich Mystik und protestantisches Prinzip miteinander vereinbaren? Anders gefragt: „How to unite the principle of identity, the participation of the divine in each of us, and the principle of detachment, of moral obedience, without participation in the divine?”31 Diese Spannung von Mystik und protestantischem Prinzip, so Tillich, sei das Thema seiner Dissertation gewesen. Dabei habe er sich auf einen einzigen Philosophen konzentriert, auf Schelling. Er habe zeigen wollen, wie Schelling dieses Problem zu lösen versucht habe. Der Titel seiner Dissertation lasse sich abstrakter ausdrücken „by the principle of identity in relation to the principle of contrast, or even of contradiction, in a moral sense at least“. (Ebd., 75) Hier seien die grundlegenden Motive für den Versuch, „die große Synthese von Spinoza und Kant zu schaffen“. „This is the synthesis of the principle of identity and the principle of detachment or contrast. “ (Ebd.) Die Dynamik der Theologiegeschichte, die das ganze 19. Jahrhundert bewegt habe, sei die Spannung zwischen diesen beiden Prinzipien. Die Aktualität der „großen Synthese von Spinoza und Kant“ liegt für ihn in der Theologie der Gegenwart. Tillich erklärt:
|| 31 Perspectives, 74f.
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If you take a seminar on Karl Barth, you will see again the protest against mysticism, against any form of the principle of identity. But there are also theologies which come from the union of Kant and Spinoza. (Ebd.)
Auch hier also vertritt Tillich die These, dass die Spannung zwischen Mystik und Distanz bzw. zwischen Identität und Widerspruch von bleibender Bedeutung für die Theologie sei. Die Lösung des Problems hat Schelling Tillich zufolge in der „großen Synthese von Spinoza und Kant“ gefunden. Gegen sie, „gegen die Mystik“, richte sich Barths Protest. Es gebe aber auch Theologien, so merkt Tillich bescheiden an, „die von der Einheit von Kant und Spinoza herkommen“. (Ebd.) In dem Schelling-Kapitel seiner Vorlesung über German Classical Philosophy, das wir hier erstmals publizieren, trägt er eine Kurzfassung seiner Dissertation von 1912 vor, verschweigt allerdings, dass der Inhalt seiner Schellingvorlesung seine einstige akademische Arbeit über Schelling ist. Er behauptet die Aktualität und Relevanz des von ihm in der Dissertation bearbeiteten speziellen Themas, der Synthese von Spinoza und Kant. Ein „schönes Nebenprodukt“ seiner Vorlesung könnte der Eros oder wenigstens der starke Eindruck sein, den „der Tiefsinn und ästhetische Zauber von Schellings romantischer Philosophie“32 noch immer erwecken.
|| 32 So Tillich in seiner Schrift Die religiöse Lage der Gegenwart (1926), GW X, 28.
Erdmann Sturm (Hg.)
Paul Tillich: German Classical Philosophy: Schelling1 1. Born 1775 in Württemberg, as son of a Protestant minister and his wife, a Protestant minister’s daughter. First years in Bebenhausen with feeling for nature. In the Tübinger Stift (Seminary) together with Hegel and Hölderlin, who were 5 years older, but he very early mature and with 21 years famous and complete in his system known. [Further elements the French Revolution, Winckelmann’s classicism, Goethe as the embodiment of this feeling. In philosophy Plato, Spinoza, Leibnitz, Fichte and through him Kant. The theology of the “Stift”: Supranaturalism, but Herder’s interest in myth.] All these elements later effective: The philosopher of Romanticism in all periods and changes of Romanticism. Religious background, feeling of the infinite, especially in the interior productivity, the world as a whole, the anti[78]rationalistic interest in mythology, the replacement of the actual religion by arts and poetry, the impulse towards freedom, transformed into the interior, the tremendous valuation of the Greeks, nature as the expression of freedom and meaning, the emphasis on the Ego. From the point of view of infinity Romanticism is the elevation of every finite to infinite experience in every finite of the infinite with the power of feeling, creative imagination and activity. The finite becomes fulfilled with infinite content. Therefore enthusiasm, phantasy, pantheistic trends. But in Schelling all this as philosophy, in the best scientific forms of his time. So he became the undisputed leader in Romantic philosophy in all its periods. This was possible by his tremendous reception sensitivity for everything, which came to him: Fichte, Spinoza, Plato, Boehme, Aristotle. But this [79] does not mean simply dependence, but reception of the actual situation important elements of others in a moment in which he was ripe for them. The dialectical necessity of thought was the primary point. This is also true of the whole situation of the time. He felt, what was the right time to be done. And his personal fate also
|| 1 Siglen: […] = in eckige Klammern gesetzte Zahlen sind Seitenzahlen des Vorlesungsmanuskripts German Classical Philosophy. – Tillich 1912, Seitenzahl = P. Tillich, Mystik und Schuldbewußtsein in Schellings philosophischer Entwicklung, Gütersloh: C. Bertelsmann 1912. SW = F. W. J. von Schellings sämmtliche Werke. Stuttgart/Augsburg 1856–1861. Die Bände 1–10, die zur 1. Abteilung gehören, sind ohne Bezeichnung der 1. Abteilung zitiert, die Bände 1–4 der 2. Abteilung durch Voranstellung der Abteilungsbezeichnung 2. – Alle Fußnoten stammen vom Herausgeber. https://doi.org/10.1515/9783110984729-013
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influencing him. The main break of his life is the main break in philosophy, the death of Caroline Schlegel, she herself a leader of the Romantic group. From this time his existential thinking, death, anxiety and the preparation of Kierkegaard and Schopenhauer others. The 7 or 2 periods.2 The impossibility of finding one system; but the consistency of his development just in the break 1809, in which all motives pushed him beyond himself. After this, he still lived up to 1854 in an entirely changed world without publishing any large work, but creating a philosophy of late Romanticism together with Marx’ Communist manifest (conf. Marx’ early writings). The darkness of these writings. Their abstrusity and geniality developing a late Romantic-Existentialist philosophy. [80] The problem of these late writings: Existentialism and Orthodoxy. Their importance for the future our situation. His polemic character as the negative side of his sensibility. His loneliness: The metaphysical creator lonely = God, outside collaborating community, American team-work thinking. The mystical background, but difference from Boehme, who was in a religious community. This loneliness a reason for the breakdown of German classical philosophy: In Marx the social conditions of the truth. In this Marx superior to Schelling, Kierkegaard, Fichte and Hegel. They all alone, stars without community. Marx shows the reason for the end of community in bourgeois “objectivation” and “atomisation”. He creates a new community and destroys the systematic philosophy – the misery of philosophy. [81] Not Kant – Fichte – Schelling – Hegel as a dialectical process. a) Kant against the three others, b) Fichte influenced by Schelling in the “Anweisung …”3, c) Schelling beyond Hegel and against him. Fichte together with Kant effective in Neo-Kantianism and Neo-Idealism. Schelling effective in philosophy of life and existence, in voluntaristic forms. – The period after them could not stand the richness of all of them (as in Athens classical periods). They may become effective in later periods. 2.4 Start with Fichte, but from the beginning in direction which transcends Fichte. In order to understand this and in order to understand the whole dialectic development of Schelling’s philosophical thinking it is wise to anticipate one principle, which was the unconscious aim of the first period, reached in the last section
|| 2 Vgl. Tillich 1912, 12: „Die Reduktion der sieben Perioden auf zwei ist Voraussetzung jedes inneren Verständnisses von Schellings Werden. Vor der ‚Freiheitslehre‘ liegt der große Umschwung in Schellings Denken …“ 3 „Die Anweisung zum seligen Leben oder auch die Religionslehre“, Berlin 1806. 4 Vgl. dazu Tillich 1912, 15–37 („Erster Teil: Historisch-dialektische Begründung des Problems“).
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of this period, and pushing him into the second one by its inner antinomies. [82] It is the principle of identity. The necessity of thought to come to a point, in which all manifoldness is united in one principle, the unity of the many and the unity of subject and object. This impulse can be found in all philosophers. Thinking tries to unite, to find an element of identity in all beings – and even if it is being itself. The drive towards the one, even above spirit. This is necessary, because an ultimate dualism would destroy thinking itself. The two could not be thought of as common one object of thought. So the idea of truth drives to an ultimate one, an identity of all contrasts, first of all – and most difficult of all between infinity and finitude. But the manifoldness exists and even if it is only dream, my separated existence is given, if not in ontological, so in ethical terms. I myself am responsible for myself. I cannot immerge [sic!] my responsible Ego into the one. The sharpest expression of this is the consciousness [83] of guilt. Here the distance is decisive. Truth against morals, identity against distance. The contrast is sharp and the moving principle in Schelling’s whole development; because without identity of finite and infinity the Romantic justification of religion against atheism and against Kant is impossible. And, on the other hand, the moral distance is necessary, because otherwise the nature of the existing world ununderstandable [sic!], especially the different [sic!] of good and evil (which for all these Protestant thinkers was unescapable). But on the other hand convergences. The identity demands in order to become a principle of actual thinking manifoldness. And the morality demands an element of identity, otherwise it becomes an heteronomous law, which would not concern us and destroy guilt. This is the dialectical situation which can be expressed with respect to the Romantic situation in the [84] following way: How can the indwelling presence of the infinite in the finite be understood in a universal way without loosing [sic!] the realistic understanding of human finiteness and moral existence? In his first period and subperiods Schelling drives towards the answer of the first part, the principle of identity. In his second period he tries to solve the problem of existence on the basis of this principle. – Or in non-romantic, Christian terms: How can the consciousness of our continuous bondage to God in everything and every situation be united with the feeling of distance and contrast in the continuous existential situation? The question not answered in Hegel, because of the predominance of the identity despite of his realism. And not in Fichte, because of his limited point of view, excluding nature. The importance of Schelling (Boehme, Luther, Scotus) is the passionate attempt to give an answer to this problem. [85]
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Sociologically spoken: The unity of bourgeois and feodal [sic!] values which is Romanticism endangers the bourgeois seriousness: The law. 3.5 Schelling was not able to carry through immediately the principle of identity. He was too much dependend [sic!] on Fichte. His first writings try to explain Fichte. In his writing “On the Ego as the principle of philosophy or on the Unconditioned in human knowledge”6 he promises a philosophy of freedom, “the first principle of which is that the essential character of man is only absolute freedom, that man is no thing, no matter and his real being no object at all”.7 In the Unconditioned, which can only thought by itself being and thinking are identical. “The ultimate point on which our whole knowledge and the whole series of conditioned things is dependend [sic!] cannot be conditioned by anything whatever – – the beginning and the end of all philosophy is freedom.”8 – – [86] This freedom is obviously not so much the moral freedom of man, but the independence of the absolute principle of truth, in which even the last condition is removed, the dependence of object on the subject and vice versa. This freedom is simple the point in which subject and object are rooted – before their contrast. The unconditioned is freedom, because it is absolutely independend [sic!]; it is not caused, it cannot be derived from anything, it has no differences in itself. But if so, does not the epistemological principle of freedom kill the moral freedom, the dynamic deciding freedom? Does not truth kill morality? Schelling has asked this question as today personalistic philosophers argue against the absolute. He has asked it very seriously, in saying that in his statement the danger of dogmatism and mysticism is renewed. Dogmatism means the establishment of an absolute thing, mys[87]ticism the ecstatic surrender of the Ego. Both destroy the personal freedom and are full of horror for rejected by Schelling.9 – Therefore
|| 5 Vgl. dazu Tillich 1912, 38–47 („Zweiter Teil. Die Durchführung der Mystik in Schellings erster Periode. I. Die Willensmystik“). 6 „Vom Ich als Princip der Philosophie oder über das Unbedingte im menschlichen Wissen“, 1795 (SW 1, 149–244). 7 [Eine Philosophie,] „die als ihr erstes Prinzip die Behauptung aufstellt, daß das Wesen des Menschen nur in absoluter Freiheit bestehe, daß der Mensch kein Ding, keine Sache, und seinem eigentlichen Seyn nach überhaupt kein Objekt sei, …“. (SW 1, 157, vgl. Tillich 1912, 38) 8 „Der letzte Punkt, an dem unser ganzes Wissen und die ganze Reihe des Bedingten hängt, muß schlechterdings durch nichts weiter bedingt sein … Der Anfang und das Ende aller Philosophie ist – Freiheit.“ (SW 1, 177, vgl. Tillich 1912, 39) 9 Vgl. Tillich 1912, 40f.: „Stellt man das Absolute als realisiert, als existierend dar, so wird es eben dadurch objektiv; es wird Objekt des Wissens und hört eben damit auf, Objekt der Freiheit zu sein. Für das endliche Subjekt bleibt nichts übrig, als sich selbst als Subjekt zu vernichten,
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he immediately leaves the identity – without ultimate logical justification – and becomes dynamic. The absolute must not be thought as fullfilled, but as an infinite task. It is “object of any infinite task. Be is the highest demand of criticism”.10 Be = be actual, maintain your freedom over against the absolute object of determinism and the absolute abyss of mysticism. – The moral categories of Fichte resist the epistemological consistency; but even the moral imperative is expressed in an ontological form: “Be”. Keep in being by continuous activity. This shows the danger, since this dynamic being has no content, no limitation. Its transition into “will to power” is understandable. But there is a long way to this point. – The idea of God is transformed by this idea. God is not as a given, perfect reality. This being absolute would [88] destroy all freedom. But he shall be realized. In every act of moral freedom he is embodied.11 In it God and man are identical; God shall be brought into being by infinite human activity (as the liberal idea of God and his Kingdom indicate) and in this activity, in the actual will man and God are identical. It is mysticism of will, of dynamic actual will.12 And it is dynamic because it is connected with a negative principle, a resistance, concretely spoken with arbitrariness. The divine or absolute will is neither free nor necessary because it is not actual. The actual freedom is the formal freedom against the material freedom which is not distinguished from necessity. History and actual freedom are rooted in arbitrariness. The question is: How is arbitrariness possible, if the unconditioned is absolute freedom. How can the identity be actualized? How can the absolute beyond subject and object become divided in a subject, which can choose [89] arbitrarily between objects? The answer was not a logical one, but the demand of the moral consciousness, it must be actual in order to be moral. The antinomy between a theology of truth and a theology of morality becomes visible. They are not united in thought. But everything in Schelling is the attempt to unite them. – In the measure To the degree in which we conceive of the world as necessary, as an absolute object – we loose [sic!] a basis
|| um durch Selbstvernichtung mit jenem Objekt identisch zu werden. … Dieser Schrecken der Schwärmerei, d.h. der Mystik ist die Selbstvernichtung.“ 10 „Gegenstand einer unendlichen Aufgabe … Sei! ist die höchste Forderung des Kritizismus“ (SW 1, 335, vgl. Tillich 1912, 42). Tillich zitiert hier aus Schellings „Philosophische[n] Briefe[n] über Dogmatismus und Kriticismus“ von 1795 (SW 1, 281–342). 11 Vgl. Tillich 1912, 43: „In jedem Akt ichhafter, geistiger Art existiert Gott, aber eine von diesen Tathandlungen unabhängige Existenz kommt ihm nicht zu; absolut ist er allein in der Idee.“ 12 Vgl. ebd.: „Gott ist die moralische Weltordnung, die in den einzelnen Akten moralischen Handelns verwirklicht wird, ohne je in ihrer Totalität wirklich zu sein. Gott ist nicht, aber er soll in unendlichem Progressus zum Sein gebracht werden. – Diese Sätze enthalten die typische Form der Willensmystik …“
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for morality. In the measure To the degree in which we emphasis [sic!] morality we loose the rational necessity of being and with it the principle of truth. 4.13 The next step was the increasingly radical establishment of the principle of identity, of the “beyond thinking and being”. The second step in this direction is at the same time Schelling’s most original and creative act, the invention of the philosophy of nature.14 – The philosophy of nature is not [90] refuted if the scientific implications of it are overcome, which naturally happens every day by the scientific progress. But philosophy of nature is a special attitude towards nature, expressed in rational and even scientific symbols. Therefore this philosophy in its deepest impulses became important a century after in Bergson, Scheler, Gestalt-Philosophy; science had destroyed entirely its empirical material, but science could not destroy its dynamic spirit, which in distorted form was determined to destroy a rational world. Therefore it must be understood even today. While in Fichte nature was only the realm of resistance against spirit or the objectivated material of our duty, for Schelling nature itself represents freedom and spirit. “Nature shall be the visible spirit, the spirit shall be invisible nature.”15 The epistemological background of this step becomes manifest, when Schelling says “that nature shall be considered as unconditioned”.16 But unconditioned can only mean active for the follower of Kant and [91] Fichte and the foe of Spinoza. Therefore nature itself must be active. “We know nature only as active – – making a philosophy of nature means creating nature”.17 The philosopher immerges [sic!] into the active process of nature, he lives in this process and finds himself in it.18 Purpose is in nature itself, not brought into it by human activity. The organism is the place where the divine teleological power becomes most visible, in which
|| 13 Vgl. dazu Tillich 1912, 48–59 („Zweiter Teil. Die Durchführung der Mystik in Schellings erster Periode. II. Natur- und Kunstmystik. a) Die religiöse Bedeutung der Naturphilosophie“). 14 Tillich zitiert aus folgenden naturphilosophischen Schriften Schellings: Einleitung zu den Ideen zu einer Philosophie der Natur (SW 2, 1–73; 1797), Erster Entwurf eines Systems der Naturphilosophie (SW 3, 1–268; 1796). 15 „Die Natur soll der sichtbare Geist, der Geist die unsichtbare Natur sein.“ (SW 2, 55f., vgl. Tillich 1912, 48) 16 Vgl. Tillich 1912, 48: „Auch in der Natur setzt sich das Unbedingte, die Freiheit, selbst: ‚Die Natur soll als unbedingt angesehen werden‘ (SW 3, 12).“ 17 „Wir kennen die Natur nur als tätig … Über die Natur philosophieren, heißt die Natur schaffen.“ (SW 3, 13, vgl. Tillich 1912, 48) 18 Vgl. Tillich 1912, 48: „In das innere Triebwerk der Natur stellt sich der Philosoph und erlebt es mit; es ist ihm nichts Fremdes; denn die Tätigkeit der Natur ist nichts anderes als die seines eigenen Geistes.“
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concept and deed, purpose and reality are identical19: God becomes visible in nature and in the totality of nature. But the creative nature as a whole is above organic and anorganic [sic!]. It is productivity. “As long as I am identical with nature I understand what living nature is as well as I understand my own life”.20 Mysticism of will is enlarged to nature and practically replaced by the mysticism of nature. – How is this identity with nature possible? Schelling emphasizes again and again that nature and spirit are not separated. [92] Man, he says, is the “God in the bosom of nature”21, and in human spirit nature renews and recreates itself. Man is a hierarchical unity of all stages of being. But they all are creative, for being is creative life. But this is a statement without proof. In order to prove it Schelling makes a distinction between a conscious and an unconscious activity. He anticipates modern psychology in this respect and unites both, the principle of identity (exactly as modern psychology does: The conscious is the transformed subconscious). There is no consciousness on the one side and a world of things on the other hand, but a unity of both of them. Spirit is the action in which this transformation occurs. There is no abstract spirit, no isolated moral consciousness, but spirit is actual only when it elevates itself above itself in his unconscious form or as nature.22 But the problem remains: How can the conscious philosopher approach the unconscious? [Psycho-Analysis had the answer: By free [93] association- But this presupposes a transformation of the subconscious and many encroachment from it; for instance the psychoanalytic theory. Schelling and the latest development, for instance Jung has another answer:] It is the art and poetry, in which we experience the identity of conscious and unconscious. “Every organism is a monogram of that original identity of conscious and unconscious.”23 The meaning of nature is revealed in the creative artist and those who understand him, thus understanding the unconscious action itself. Philosophy of nature is || 19 Vgl. Tillich 1912, 49: „Am Organismus erwuchs zuerst dem Menschen die Ahnung der Identität: ‚Hier trat es zuerst aus seinem heiligen Dunkel, jenes idealische Wesen, in welchem er (der Mensch) Begriff und Tat, Entwurf und Ausführung als eines denkt.‘ (SW 2, 47).“ 20 „Solange ich selbst mit der Natur identisch bin, verstehe ich, was eine lebendige Natur ist, so gut als ich mein eigenes Leben verstehe.“ (SW 2, 47, vgl. Tillich 1912, 50) 21 „Ich bin der Gott, den sie [die Natur] im Busen hegt.“ (SW 4, 547f., vgl. Tillich 1912, 50) 22 Vgl. Tillich 1912, 54: „Nun aber ist der Geist nicht anders wirklich, als indem er sich selbst den Widerstreit von Natur und Geist setzt. Der Geist ist nur darin real, daß er sich erhebt über sich selbst als Natur.“ 23 „Jede Organisation ist ein Monogramm jener ursprünglichen Identität [von Bewußtem und Unbewußtem]. Aber um sich in diesem Reflex zu erkennen, muß das Ich sich unmittelbar schon in jener Identität erkannt haben.“ (SW 3, 611, vgl. Tillich 1912, 52: „Jede Organisation ist ein Monogramm jener ursprünglichen Identität [von Bewußtem und Unbewußtem]“. Der Klammereinschub stammt von Tillich.)
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revealed as an aesthetic act24, as Jung sees for the monograms of the unconscious. “The objective world is the original, still unconscious poetry of the spirit.”25 Only he can understand nature who can understand the arts.26 Kant’s Critique of Judgement has overcome his practical reason: Organism and aesthetic intuition [94] are united in a way which is dependend [sic!] on Kant, although it transcends him by the ontological unity in the idea of actual spirit, including unconscious and conscious. But even here Kant’s doctrine of the genius paved the way, and above all Goethe’s poetry and its creative naivety. The religious implications of this development away from moralism and puritan negation of nature are very far reaching. Schelling himself has explained them in his fight with Fichte, when he defended his philosophy of religion. We can say: The philosophy of nature was the rediscovery of grace against the law.27 It is human arrogance to assume that the existence of God is restricted to the human community and activity.28 Philosophy of nature in difference from puritan moralism is “devotion, piety towards nature, religion, unconditioned subjection to the truth and reality which is one with nature”.29 [95] The moralist wants nature dead in order to use it as a tool of control.30 Not morality is the prius, but religion. “Instead of being certain of our unity with God they have attributed to man a selfcreated and selfenhancing morality and have subjected him thus again under law and sin.”31 Natural philosophy returns to the premoralistic period of philosophy, the aesthetic intuition of nature discovers the goodness which is given and needs not being created by moral activity. Fichte’s philosophy is phariseism [sic!]
|| 24 Vgl. Tillich 1912, 52: „Die Naturphilosophie geht über in den ästhetischen Idealismus …“ 25 „Die objektive Welt ist nur die ursprüngliche, noch unbewußte Poesie des Geistes.“ (SW 3, 349, vgl. Tillich 1912, 52) Originalzitat: „bewußtlose Poesie des Geistes“. 26 Vgl. Tillich 1912, 52: „Nur der kann sie enträtseln, der ein Bewußtsein um das Wesen der Poesie hat.“ 27 Vgl. Tillich 1912, 55f. („4. Naturmystik und Gnade“). 28 Vgl. Tillich 1912, 55: „Es ist ein Greuel, Gott aus der Sittlichkeit folgern zu wollen, das menschliche Handeln zum Primären und die Existenz Gottes zum Sekundären zu machen, das ist im Grunde eine Leugnung Gottes.“ 29 Vgl. ebd.: „Naturphilosophie aber ist ‚Andacht, Frömmigkeit gegen die Natur, Religion, unbedingte Unterwerfung unter die Wirklichkeit und die Wahrheit, wie sie mit der Natur [selbst] eins ist‘ (SW 7, 109).“ 30 Vgl. ebd.: „Der Moralist wolle die Natur nicht als lebendig, wohl aber als tot, um mit Füßen darauf herumtreten zu können.“ 31 „Statt der Zuversicht unseres Einsseins mit Gott haben sie dem Menschen eine selbsterschaffene und sich selbst beschauende Sittlichkeit gegeben und ihn damit wieder unter das Gesetz und die Sünde getan.“ (SW 7, 115, vgl. Tillich 1912, 55)
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and legalism. Nature includes grace. It is the being of the good before demand and moral purpose. This discovery of grace is not Christian; it lacks the feeling of sin and distance.32 But it is a decisive step above rationalism and enlightenment. [Or is it a step backwards? Both answers are true. It is more Christian and more pagan at the same time or in other words: It is the victory of the pagan over the Jewish element in Christianity (Heine’s prophecy33 [96], the hate of Neokantianism against it). This is obvious in another point: The natural process is derived from the contrast of two activities, an unconscious and a conscious. As activities both are positive and real.34 “The positive tendency must be opposed by another one so to speak anti-creative [destructive] tendency. It is not only the lack of activity but it is a really opposite activity. Since there cannot be mere passivity in nature the limiting forces also must be positive. The original duplicity of nature must be a clash of really opposite tendencies.”35 The contrast is not Ego and Non-
|| 32 Vgl. Tillich 1912, 56: „Freilich hat der Gnadengedanke, wie er sich auf die Naturmystik gründet, nicht die Tiefe des Schuldbewußtseins in sich; das ist seine Unvollkommenheit …“ 33 Gemeint ist Heinrich Heines Behauptung, dass durch die deutsche Philosophie, insbesondere durch den Fichteschen Transzendentalidealismus und die Naturphilosophie Schellings „sich revolutionäre Kräfte entwickelt [haben], die nur des Tages harren, wo sie hervorbrechen und die Welt mit Entsetzen und Bewunderung erfüllen können.“ So werde der Naturphilosoph „dadurch furchtbar sein, daß er mit den ursprünglichen Gewalten der Natur in Verbindung tritt, daß er die dämonischen Kräfte des altgermanischen Pantheismus beschwören kann. …“ Das Christentum habe „jene brutale germanische Kampflust einigermaßen besänftigt“, doch nicht ganz zerstört. Wenn einst der „zähmende Talisman, das Kreuz,“ zerbreche, werde die Wildheit der alten Kämpfer wieder hervorbrechen. „Die alten steinernen Götter erheben sich dann aus dem verschollenen Schutt …, und Thor mit dem Riesenhammer springt endlich empor und zerschlägt die gotischen Dome.“ Der Gedanke gehe der Tat voraus „wie der Blitz dem Donner“. Den Nachbarn der Deutschen rät er, sich vor „Kantianern, Fichteanern und Naturphilosophen“, sich vor den Deutschen in acht zu nehmen. „Ihr habt von dem befreiten Deutschland mehr zu befürchten als von der ganzen Heiligen Allianz.“ (Heinrich Heine, Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland, in: Heinrich Heine, Historisch-Kritische Gesamtausgabe der Werke, hg. von M. Windfuhr, Bd. 8/1, Hamburg 1979, 117f.) Tillich hat bereits in seinem 1935 gehaltenen Vortrag Contemporary German Philosophy auf diese Voraussage Heinrich Heines aufmerksam gemacht: „There is a prediction from 1834 in which the consequences of the romantic philosophy of nature for a coming future are described in such a way that you could imagine to read a report of today.“ (Vgl. dazu die Edition des Vf.: Paul Tillich: Contemporary German Philosophy, in: International Yearbook for Tillich Research, ed. by Ch. Danz, M. Dumas, W. Schüßler, M.A. Stenger, E. Sturm, Vol. 11/2016, Berlin/Boston 2016, 181–216 [202].) 34 Vgl. Tillich 1912, 56f. („5. Naturphilosophie und Irrationalismus“). 35 „Der positiven Tendenz muß eine andere, die gleichsam antiproduktiv, die Produktion hemmend ist, entgegengesetzt werden; nicht als die verneinende, sondern als die negative, die reell
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Ego, but Ego and contra-Ego, not activity and laziness, but activity and contraactivity.36 This contra-Ego cannot be derived, it is irrational, it is demonic. Nature as creative organism cannot be understood in rational terms. As psychoanalysis destroys the rational consciousness in its predominance and discovers the irrational and demonic in man, so the philosophy of nature. [97] The problem is whether this can be destroyed. Schelling himself did it later by returning to the traditional Christianity as much as possible. But historical stronger was the other possibility, the elevation of the isolated irrational and Demonic.]37 5.38 The next step was the full development of the aesthetic element, presupposed in natural philosophy. This step is reached in the “System of transcendental Idealism”39, one of the most brilliant writings of Schelling, in which Hegel’s phenomenology is anticipated. The idea is, that in the realm of subjectivity the same method must be applied which was used for the objective world: Two contradicting activities constituing [sic!] selfconsciousness in a hierarchy of syntheses. “Philosophy is a history of the selfconsciousness in different epochs constituing
|| entgegengesetzte der ersten. Nur dann ist in der Natur des Begrenztseins unerachtet keine Passivität, wenn auch das Begrenzende wieder positiv und ihre ursprüngliche Duplizität ein Widerstreit reell entgegengesetzter Tendenzen ist.“ (SW 3, 288, vgl. Tillich 1912, 56f.) Tillich zitiert hier aus Schellings „Einleitung zu dem Entwurf eines Systems der Naturphilosophie oder über den Begriff der spekulativen Physik“ von 1799 (SW 3, 269–326). Die Kursivierung stammt von Tillich. Vgl. dazu folgende Ausführungen Tillichs in seinem Vortrag Schelling und die Anfänge des existentialistischen Protestes (GW IV, 133–144): „Auch hier war Kant eine Hilfe: in seiner dynamischen Konstruktion der Natur hatte er die Wirksamkeit widersprechender Prinzipien gezeigt, durch die allein das einzelne Naturobjekt verständlich wird. Schelling folgt ihm und spricht von einem ‚Widerstreit reell entgegengesetzter Tendenzen‘. In diesem Widerstreit wird die Natur, die ursprünglich Subjekt, reine Tätigkeit ist, Objekt, Produkt, Resultat der Natur, die hemmende Tendenz. Die Natur muß, um zu ihrer Realität zu kommen, Objekt werden, d.h. mit sich selbst als schaffender Natur in Widerspruch geraten.“ (Ebd., 138) Zu Kants dynamischer Auffassung der Materie vgl. seine Schrift „Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft“ (1786). 36 Vgl. Tillich 1912, 57: „Die beiden Tätigkeiten stehen sich nicht gegenüber wie Ich und NichtIch, sondern wie Ich und Gegen-Ich.“ 37 Vgl. Tillich 1912, 58: „Darum ist der Weg von ihr [sc. der Naturphilosophie] zum Irrationalismus ein notwendiger.“ 38 Vgl. dazu Tillich 1912, 59–68 („Zweiter Teil. Die Durchführung der Mystik in Schellings erster Periode. II. Natur- und Kunstmystik. b) Die Religion des ästhetischen Idealismus“). 39 „System des transzendentalen Idealismus“ (SW 3, 327–634).
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[sic!] successively by the one absolute synthesis.”40 From original sensation to productive imagination, to reflection, to the absolute will, in the individual and the community, [98] to the legal and moral law, to history and religion and finally to the arts and poetry. In the aesthetic realm the highest synthesis is found.41 This means that religion in the proper sense is not the fullfillment [sic!] of consciousness. Religion must be derived as the meaning of history, not the moral but the historiological argument is used. History also has conflicting forces. On the one hand is “arbitrariness the Goddess of history”.42 On the other hand there must be a hidden necessity in history which leads even the arbitrary towards a reasonable purpose (the cunning of history or the providence). There must be an original unity of both elements, called by Schelling the “Eternally Unconscious” (not the finite, contrasting unconscious), “that as the eternal sun in the realm of spirits hides itself by its own pure and unmixed light, and, although it never can become object forms by its identity all free actions”.43 It only can be presupposed and never be known. It is a matter of faith. [99] This makes possible From these three principles an interpretation of history is derived. Not moral progress as in Fichte, but history in which the unconscious is as important as embraces itself and the conscious. “History as a whole is a continuous revelation of the Absolute”.44 History is the subjective poetry of the spirit as nature is the objective poetry.45 God is the poet, who coordinates the individual
|| 40 „Die Philosophie ist also eine Geschichte des Selbstbewußtseins, die verschiedene Epochen hat, und durch welche jene eine absolute Synthesis successiv zusammengesetzt wird.“ (SW 3, 399, vgl. Tillich 1912, 59) 41 Vgl. Tillich 1912, 59f.: „Von der ursprünglichen Empfindung bis zur produktiven Anschauung, von dort bis zur Reflexion, und von dort bis zum absoluten Willensakt, in dem die theoretische Philosophie übergeht in die praktische, innerhalb der praktischen Philosophie von der Autonomie zur Gemeinschaft, zum Rechts- und Sittengesetz, zur Geschichte und Religion, und endlich gipfelnd in der Philosophie der Kunst – so durcheilt die Deduktion alle Funktionen des menschlichen Geistes, um in der Kunst die höchste Synthese zu finden.“ 42 „Die Willkür ist … die Göttin der Geschichte.“ (SW 3, 589, vgl. Tillich 1912, 61) 43 „Das Ewig-Unbewußte, was, gleichsam die ewige Sonne im Reiche der Geister, durch sein eigenes, ungetrübtes Licht sich verbirgt, und obgleich es nie Objekt wird, doch allen freien Handlungen seine Identität aufdrückt.“ (SW 3, 600, vgl. Tillich 1912, 61f.) 44 „Die Geschichte als Ganzes ist eine fortgehende, allmählich sich enthüllende Offenbarung des Absoluten.“ (SW 3, 603, vgl. Tillich 1912, 63) 45 Vgl. Tillich 1912, 64: „Es ist noch mehr als ein Bild, wenn die Geschichte als eine göttliche Dichtung bezeichnet wird. Über die gleiche Beurteilung der Natur war schon gesprochen: sie ist nach Schelling die objektive Poesie des Geistes; denn sie ist die Einheit einer bewußten und einer unbewußten Tätigkeit unter dem Übergewicht des Unbewußten. So ist die Geschichte die Einheit beider Tätigkeiten unter dem Übergewicht des Bewußten: die subjektive Poesie des Geistes.“
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arbitrariness of the actors; but since we, the actors are free, we collaborate with God and invent our special role. But in this way God never comes to existence since the play is never finished. The contrast between unconscious and conscious activity arbitrariness and freedom never ceases: Except in art.46 And now he describes art in terms which make art the real religion while the belief in providence was only a preliminary religion. He says: “Art is the only and eternal revelation, that exists and the miracle, which even if it had existed but once, must convince us of the absolute reality of the Highest”.47 The artist is priest and prophet. He is driven towards production by unconscious impulses, he [100] suffers God like the prophet, he is inspired and expresses things which transcend his rational knowledge, and the meaning of which is infinite. The pain of the infinite contrast is overcome and a feeling of infinite harmony is born.48 – Here is the real place of salvation – the real religion, while religion itself belongs to a lower degree. Aesthetic mysticism overcomes the ethical categories as mysticism overcomes the lower levels of historical religion.49 This was in accordance with Romanticism generally. Most important the effect of this period on Schleiermacher’s speeches50, for whom religion became the intuition of the universe, the elevation of the finite to the infinite and the discovery of the infinite in all finite. This is romantic philosophy of religion on the basis of a new feeling for the world originating in Renaissance, going through Bruno and Shaftesbury to Goethe and the Romantics. Schelling gave the most brilliant
|| 46 Vgl. Tillich 1912, 65f.: „Es müßte eine Geistesfunktion gefunden werden, in welcher der Widerstreit von bewußter und unbewußter Tätigkeit aufgehoben und die Identität unmittelbar realisiert wäre. Diese Forderung erfüllt nach Schelling die Kunst.“ 47 Darum „ist die Kunst die einzige und ewige Offenbarung, die es gibt, und das Wunder, das, wenn es auch nur einmal existiert hätte, uns von der absoluten Realität jenes Höchsten überzeugen müßte.“ (SW 3, 618, vgl. Tillich 1912, 67) 48 Vgl. Tillich 1912, 66f.: „Deutlich zeichnet Schelling den Künstler als Propheten: unwillkürlich und selbst mit innerem Widerstreben wird er zur Produktion getrieben, es ist ein ‚pati Deum‘, ein Begeistertsein durch fremden Anhauch; er ist gezwungen, Dinge auszusprechen oder darzustellen, ‚die er selbst nicht vollständig durchsieht, und deren Sinn unendlich ist‘ (SW 3, 617). Von dem Schmerz eines unendlichen Widerspruchs geht er aus und im Gefühl einer unendlichen Harmonie endet er.“ 49 Vgl. Tillich 1912, 67: „Im ästhetischen Idealismus vollends tritt die gesamte praktische Philosophie in eine untergeordnete Stufe der Geistesfunktionen. … Das Identitätsprinzip hat faktisch die sittlichen Kategorien verschlungen, und mit ihm diejenige Religionsform, die sich auf die Sittlichkeit gründet.“ 50 „Reden über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern“. Friedrich Schleiermacher veröffentlicht die Schrift anonym 1799 im Berliner Verlag Johann Friedrich Unger. Weitere Auflagen 1806, 1821 und 1831.
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philosophical, Schleiermacher the most brilliant [101] theological expression to it. 6.51 The development of aesthetic idealism had lead Schelling to a kind of dualism: Natural philosophy on the one hand, cultural philosophy on the other. Now a union of both is necessary. In the philosophy of identity this unity is reached. Here the principle of identity has the greatest triumph it ever had since Parmenides and Spinoza. There are a group of writings in this period, the most important of which is “Die Darstellung meines Systems der Philosophie” 1801–6.52 In this book and a group of beautiful writings, of which the “Method of the Academic study”53 is the most popular and concrete he develops the concept of identity as the principle of explaining the world. Identity of what? Obviously first of all the identity of subject and object, the absolute idea of truth, and then the identity [102] of unity and manifoldness. Identity is not sameness. Identity presupposes duplicity.54 To say that the absolute or God as he calls it is identity means that the absolute as subject is identical with the absolute as object. The first statement of the book is: “I call reason the absolute reason or the reason as far as it is conceived as the total indifference of the subjective and the objective”.55 Everything what is, is in itself one, the absolute identity, the mere being, the mere substance.56 Spinoza gains his greatest victory on the basis of Kant and Fichte. What everything really is, is expressed in the identity. The world is the absolute identity. – On the other hand there is manifoldness and subjectivity. How can it be explained? The answer is: The identity is ident[tit]y with respect to the substance, the difference is difference with respect to the form of being. The essence is the same in all beings, the form is different in all beings. [103] But this difference cannot be a difference in quality. This would mean an essential difference,
|| 51 Vgl. dazu Tillich 1912, 68–90 („Zweiter Teil: Die Durchführung der Mystik in Schellings erster Periode. III. Die Mystik der intellektuellen Anschauung“). 52 „Darstellung meines Systems der Philosophie“ (SW 4, 105–212). 53 „Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums“, 1802 (SW 5, 207–352). 54 Vgl. Tillich 1912, 69: „Aber Identität ist nicht gleich Einerleiheit. … Identität setzt Duplizität voraus.“ 55 „Ich nenne Vernunft die absolute Vernunft, oder die Vernunft, insofern sie als totale Indifferenz des Subjektiven und Objektiven gedacht wird.“ (SW 4, 114, vgl. Tillich 1912, 69) 56 Vgl. Tillich 1912, 69: „Denn alles, was ist, ist an sich Eines: Die absolute Identität. Nicht etwa Erscheinung der absoluten Identität ist die Welt: Die absolute Identität erscheint nicht, ‚existiert‘ nicht, tritt nicht aus sich heraus, sondern an sich betrachtet, ist die Welt die absolute Identität selbst (vgl. SW 4, 114–120).“
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it is only a difference in quantity: There are realms of being which are more subjective and others which are more objective; but this is not an essential difference. Here also Spinoza: the order of things is the same as the order of ideas, because they belong to the same substance (even the mathematical-quantitatively metaphors of Spinoza). The quantitative difference creates degrees of preponderance either of subjectivity or of objectivity. Philosophy has to describe these degrees, which are called potencies according to the mathematical 2nd, 3rd etc. potency.57 Each potency is substantially identity, with respect to the form distinguished. They all together are the universe.58 They are equally eternal with the identity. The eternal universe of structures of more or less subjectivity or objectivity is the identity as existing.59 Schelling calls the different structures also ideas.60 After Spinoza Plato becomes important. [104] The ideas mediate between the identity and the individual things. They are original pictures of structural forms, Gestalten, according to which the individual things exist. This selfdevelopment of the identity in a universe of potencies and essences is the “true transcendental theogony”.61 It is the Neoplatonic idea of the It develops the manifoldness in the divine life Every idea is creative as the identity itself is. It creates new ideas, but they never are separated from the identity, they return to it in a circular movement, the eternal inner life of the divinity. This highest movement is at the same time highest rest.62 The individual things are in themselves only as far as they are in
|| 57 Vgl. Tillich 1912, 70f.: „Durch die quantitative Differenz von Subjektivem und Objektivem kommt es zur Existenz, zur Aktualität; es entstehen Grade des Übergewichts auf der einen wie der andern Seite; die Konstruktion dieser Grade ist Aufgabe der Philosophie. Der einzelne Grad wird Potenz genannt.“ 58 Vgl. Tillich 1912, 71: „Jede Potenz ist dem Wesen nach Identität, der Form nach steht sie unter einem der beiden Exponenten, Subjekt oder Objekt, je nachdem dieses oder jenes ein quantitatives Übergewicht hat. Die Summe aller Potenzen ergibt das Universum.“ 59 Vgl. ebd.: „In einem Universum ewiger Verhältnisse von Subjekt und Objekt wird die Identität aktuell: …“ 60 Vgl. ebd.: „Statt Potenzen heißt es nun Ideen, und Idee ist die Einheit einer Mannigfaltigkeit.“ 61 Vgl. ebd.: „Schelling spricht jetzt von einer Selbstentfaltung Gottes in der Ideenwelt als der ‚wahren transzendentalen Theogonie‘ (SW 4, 35).“ 62 Vgl. Tillich 1912, 72: „Jede Idee, kraft ihrer Identität mit dem Absoluten selbst schöpferisch, setzt neue Ideen … Die absolute Synthesis setzt ins Unendliche relative Synthesen, aber ins Unendliche nimmt sie dieselben zurück in ihre Absolutheit. So kommt es in diesem ganzen Prozeß, dieser ewigen Aktualität, dieser höchsten Bewegung, die zugleich vollkommene Ruhe ist, nirgends zur Trennung, Loslösung, Vereinzelung.“
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God. Every separation is merely seeming life. Seeming is appearance, i.e. a mixture of being and not being. This seeming appearing world is the world which Kant has called appearance of Kant’s critique, the world of our separated finiteness.63 Not the finiteness [105] in itself is without truth, it is in essential identity with the infinite, but the finite as far as it becomes independend [sic!], separated from the universal, existential. The expression of this are the categories of our finiteness as Kant has shown them. The category of substance indicating an immovable substance and changing accidents shows that actuality and essence of things are not in unity. Causality shows that no thing has independence in itself and immediate relation to God the absolute, only as a member of the universe, time shows that things have not in themselves the completeness of their possibilities and space expresses the falling into pieces of reality.64 – In this way Schelling expresses the religious meaning of Kant’s epistemology: The gap between essential and existential being, the categorical reality as a finiteness which is not united with infinity.65 But the problem was: Where from does the seeming come, who has these categories of a separated finiteness How can this appearing world be explained? [106] Why does human finite mind create such a categorical world instead of being united with the realm of essences?66 – The problem of the “fall” becomes visible, just because the principle of identity was carried through most radically. Now the epistemological question: How can we grasp the absolute identity in all things in our knowledge, how can we transcend the empirical things in their separated objectivity and find the universe in them, how can we find the infinite in all finite things? For Kant this was possible only in a negative way making the infinite a presupposition, a postulate in any case something that cannot be real-
|| 63 Vgl. ebd.: „… hat jedes Einzelne ein doppeltes Leben, ein Leben im Absoluten und ein Leben in sich selbst, … das aber getrennt von dem Leben in Gott ein bloßes Scheinleben ist (SW 6, 187). Schein ist relatives Nichtsein, eine Mischung von Sein und Nichtsein.“ 64 Vgl. Tillich 1912, 72f.: „Der Ausdruck für die Nichtigkeit der Dinge als Einzelner sind die Kategorien, Substanz und Kausalität, sowie die Anschauungsformen Raum und Zeit: Das Verhältnis von beharrlicher Substanz und wechselnden Akzidentien …, womit gesagt ist, daß kein Ding für sich Realität und ein unmittelbares Verhältnis zu Gott hat, sondern allein die Totalität wirklich ist, die Zeit, welche beweist, daß ein Ding die vollkommene Möglichkeit seines Seins nicht in sich selbst hat, der Raum, welcher das Zerfallen der Dinge in Differenz, ihre Trennung von der absoluten Identität ausdrückt.“ 65 Zur religiösen Bedeutung von Kant vgl. Tillich 1912, 73 Anm. 49. 66 Vgl. Tillich 1912, 73: „Wie aber kommt das Ich dazu, eine idee-entfremdete Welt des Scheins zu setzen?“
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ized grasped directly. The gap between the finite and the infinite is unsurmountable. For Schelling as already for Fichte there is a point of identity, in which the unconditioned appears in and above our consciousness. Both call it intellectual intuition. But while in Fichte it is identical with the realization selfawareness of [107] our Ego-character, it is for Schelling the discovery of organ which enables us to see the infinite in the finite, the mystical organ, on which not only the mystical theology and philosophy of all periods is based, but which also creates a special type of interpreting nature. – Not from the point of view of in everything finite the infinite: The intellectual intuition. The intellectual intuition does not look at the finite relationships of things to other things, but into the meaning everything has as a part of the universe. Whether we are justified and able to look in this way at nature is the great problem. Whether besides the controling [sic!] thought of our natural sciences, by which creature is entirely objectivated and made calculable, there is a erotic union with the meaning of natural things is a question not yet solved. In poetry we have it and do not suppose that it is mere nonsense without truth. The question is whether it also can be expressed in more rational terms not as demonstrable science, but as an intuitive [108] description of the traces of the Divine in nature, as Christian as well as Asiatic theology have done. The epistemological explanation of the intellectual intuition is as follows: Following Kant he distinguishes the two forms of knowledge, thinking, which deals with universals and intuition sense perception which deals with special particular things, the first deals with the abstract unity, the second with the concrete manifoldness and difference, the first is subjective, the second objective, the first contains infinite possibilities, the second finite and definite concreteness.67 So he says: “The intellectual intuition is the condition of the knowing mind and generally and in all sections of knowledge. For it is the power of seeing united in a living unity, the universal in the particular, the infinite in the finite.”68 In difference to the intellectual intuition reflexion dwells in the realm of finiteness and has the Ego subject outside the absolute object. It even makes God into an object at which it looks from outside. [109] But to have the absolute outside || 67 Vgl. ebd.: „Das Denken bezieht sich auf den Begriff, der in seiner Abstraktheit allen Anschauungen gegenüber indifferent ist. Die Anschauung bezieht sich auf das Einzelne, Mannigfaltige, die Differenz. Der Begriff ist unendlich, die Anschauung endlich, der Begriff subjektiv, die Anschauung objektiv.“ 68 „Die intellektuelle Anschauung … ist die Bedingung des wissenschaftlichen Geistes überhaupt und in allen Teilen des Wissens. Denn sie ist das Vermögen überhaupt, das Allgemeine im Besonderen, das Unendliche im Endlichen, beide zur lebendigen Einheit vereinigt zu sehen.“ (SW 4, 362, vgl. Tillich 1912, 74)
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oneself is a deception. Because it would make the absolute a conditioned object. The absolute and the knowledge of the absolute are the same.69 Only the absolute can know itself; and the finite only by participating in the absolute selfknowledge, as Paul says that only the Spirit of God can know God.70 This is in conformity with the first definition of identity to be the identity of subject and object. “There is no knowledge of the Divine in which it were merely object. God either is not recognized at all or he is the subject and object of knowledge at the same time.”71 Spinoza is quoted in the following words: “The status of the soul in which it is actually, what it is essentially, is the infinite, intellectual love of the soul to God, which, absolutely spoken, is the love with which God loves himself.”72 The intellectual intuition is not an abstract kind of active knowledge does not exclude reflexion. It unites itself with [110] discursive thinking in constructing the system of the universe and its manifoldness. There are two series of quantitative differences of subjective and objective. Nature and culture, the real and the ideal world. The former is divided into three potencies, the mechanic, the dynamic, the organic; the latter in three potencies, knowing, acting, arts.73 The unity of the natural potencies is man; he is called the absolutely described in terms, which make him the real God–man. “He is not only in the center, but he is the center itself and consequently in the immediate internal communication with all things. He is the
|| 69 Vgl. Tillich 1912, 75: „Die Reflexionsphilosophie hat das Absolute außer dem Ich statt in ihm, sie sieht nicht ein, daß das Außer-sich-Haben des Absoluten nur ein Schein ist, daß das Absolute und das Wissen des Absoluten schlechthin eins ist.“ 70 Tillich bezieht sich auf Röm 8,26 (vgl. Systematic Theology, Vol. III, Chicago 1963, 192: „It is the Spirit which speaks to the Spirit, as it is the Spirit which discerns and experiences the Spirit. In all these cases the subject-object scheme of ‘talking to somebody’ is transcended. He who speaks to us is he who is spoken to.“ 71 „Es gibt kein Erkennen des Göttlichen, in dem es bloß das Objekt wäre; Gott wird entweder überhaupt nicht erkannt oder er ist das Subjekt zugleich und das Objekt des Erkennens.“ (SW 6, 558, vgl. Tillich 1912, 75) 72 „Der Zustand der Seele, in welchem sie das wirklich ist, was sie der Idee nach ist, [ist] unendliche intellektuelle Liebe der Seele zu Gott, welche absolut betrachtet nur die Liebe ist, mit der Gott sich selbst liebt.“ (SW 6, 556, vgl. Tillich 1912, 75) Das Schelling-Zitat lautet: „Bildlich kann jener Zustand der Seele, in welchem sie das wirklich ist, was sie der Idee nach ist, nämlich Affirmation [der Idee Gottes], ausgedrückt werden als die unendliche intellektuelle Liebe der Seele zu Gott, welche, absolut betrachtet, nur die Liebe ist, mit der Gott sich selbst liebt.“ Das SpinozaZitat in Eth. V, propos. xxxvi. Spinoza bedient sich hier der platonischen Idee der Teilhabe. 73 Vgl. Tillich 1912, 76: „So ergibt sich folgendes allgemeine Schema der Konstruktion: I. Die Natur mit den drei Potenzen des Mechanischen, Dynamischen, Organischen. II. Die ideelle Welt mit den drei Potenzen des Wissens, Handelns, der Kunst.“
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system of the world, he includes the fullness of the infinite substance in a microcosmic form, he is the concentrated God, the God, who has become man.”74 For in him reason, identical with being has become real. Man is the existing absolute, this is the end fulfilment of the philosophy of nature.75 This, of course, is man essentially, man as far as he is the structured center of the universe, not the individual man. [111] The individual man in isolation is not an object of the intellectual intuition, only universal manhood which is God-manhood. But if this be the case it is ununderstandable why another group of potencies is necessary and even possible.76 If man is the absolutely potenceless as Schelling says fulfilment, why do we need another development of potencies of which the uniting and finishing force is the state, in which science, religion, art, morals are concretely and really united? Why is this needed? Even more, how is it possible, since it is based on the individual man, for whom the law of the state is valid? How is history possible, if man is complete at the end of the philosophy of nature? There is no answer to this. But Schelling has feeled felt it and constructed the ideal group never published a construction of the ideal series from the point of view of his system of identity.77 There is no approach to it from the point of view of natural identity. On the [112] contrary. History and ethics in their independent
|| 74 „Er ist nicht nur im Centro, sondern ist zugleich das Centrum selbst und dadurch in der unmittelbaren inneren Gemeinschaft und Identität mit allen Dingen. … Er ist mit einem Wort das Weltsystem, die Fülle der unendlichen Substanz im Kleinen, der zusammengezogene, der Mensch gewordene Gott.“ (SW 6, 491, vgl. Tillich 1912, 76) 75 Vgl. aber Tillich 1912, 76: „Der Mensch das Existierende, Absolute – das ist der höchste Satz der Naturphilosophie.“ Tillichs englische Übersetzung („Man is the existing absolute …“) sowie der Kontext legen die Schreibweise „Der Mensch ist das existierende Absolute …“ nahe. 76 Für das Folgende vgl. Tillich 1912, 77: „An die Stelle des Menschen der Idee, des vollkommenen Naturorganismus, tritt die Gemeinschaft der Einzelnen als vollkommener Kulturorganismus. Wie verhalten sich beide zueinander? In der Idee des Menschen, wie ihn die Naturphilosophie konstruiert, liegt kein Grund für eine Kulturgemeinschaft, die doch von einzelnen realisiert wird… Wenn im Naturuniversum, speziell im Menschen die Identität zur Existenz gekommen ist, so ist nicht einzusehen, warum eine neue Reihe beginnt, in der drei Stufen nötig sind, ehe das absolut Potenzlose wieder erreicht ist, wenn der Mensch mit allen Dingen in vollkommener Harmonie steht, so ist nicht erklärlich, warum diese Harmonie in der ideellen Welt durch Wissen, Handeln und Kunst erst hergestellt werden soll. Von der Natur- zur Kulturphilosophie gibt es ebensowenig einen deduktiven Weg, wie vom Prinzip der Identität zur Natur.“ 77 Tillich 1912, 77 Anm. 53: „So hat denn auch Schelling eine Konstruktion der ideellen Reihe nie veröffentlicht …“
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meaning are destroyed in this system.78 Man’s real existence cannot be understood from the point of view of identity. His separated finiteness must be explained away if the system of identity shall be preserved. Schelling tries to do this “explaining away” in all directions. With respect to history, morals, religion. But finally he did not succeed. And the impossibility to explain the existent world, especially human existence, in terms of identity, brought him to the turning point and made him the instigator of the philosophy of existence, which without connection with the principle of identity spreads through theology today. Schelling gives a fascinating philosophy of history in the “Method of Academic Study”.79 The first period is the natural side of history, the ancient world, in which the infinite is found in the finite. The second period is the sacrifice of the finite [113] to the infinite in Christianity.80 Now the world appears no longer as nature but as history: “History is an epic poem, conceived of by the divine spirit. Its main periods: The way from the start of mankind to the greatest distance, the other the return. That side is, so to speak, the Iliade, this the Odyssey of history.”81 But, says Schelling, this is not a progress; in each period the whole is realized as a different potency. What in the first period was mystery, is now realized, namely history. What in the first period was revealed, namely nature, is now mystery. Something is lost in each period. – Therefore Schelling denies the enlightened doctrine of progress. It is a wrong application of the mechanic law of progress
|| 78 Vgl. Tillich 1912, 77: „Wer die Geschichte mit der Methode der intellektuellen Anschauung behandelt, macht sie zur Natur, zur abgeschlossenen Totalität, der gegenüber es keine Wertmaßstäbe und Normen gibt. Er zerstört damit den Begriff der Geschichte oder die Voraussetzungen der intellektuellen Anschauung.“ 79 Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums (1802, SW 5, 207–352). Tillich bezieht sich im Folgenden aber auf Schellings Schrift „Philosophie und Religion“ von 1804 (SW 6, 11–70, bes. 57). 80 Vgl. Tillich 1912, 81f.: „Die alte Welt ist die Naturseite der Geschichte, da in ihr die Identität von Endlichem und Unendlichem im Endlichen angeschaut wurde; durch das Christentum ist die Endlichkeit der Unendlichkeit geopfert, und das Universum wird als Geschichte angeschaut.“ 81 „Die Geschichte ist ein Epos, im Geiste Gottes gedichtet; seine Hauptpartieen sind: die, welche den Ausgang der Menschheit von ihrem Zentro bis zur höchsten Entfernung von ihm darstellt, die andere, welche die Rückkehr. Jene Seite ist gleichsam die Ilias, diese die Odyssee der Geschichte.“ (SW 6, 57, vgl. Tillich 1912, 82)
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continuity on history.82 “There is progress only in understanding reflexive knowledge, not in reason.”83 There is only one true progress, that from understanding84 to reason, from reflexion to intellectual intuition and this can be done by every individual at every time.85 Intuition is unhistorical. The contrast of the statements is obvious. If history [114] is first going away from essential being and then returning, a strong difference is established and history creates something new even if it cannot be explained in terms of continuous progress. Man is existentially in distance from his essential being. How can this be expressed in terms of timeless eternity? It cannot. History drives him out of his intuitive restfulness.86 The same problem in ethics. I have explained that the rediscovery of nature was a rediscovery of grace over against law. This becomes tremendously emphasized in the philosophy of identity. Intellectual intuition and moral action are identified. The separation of knowing and acting is the first error. Both come out of human nature, immediately and united.87 This devaluates the freedom of decision. “Man is not free for himself; only those actions which are rooted in God are free as only such knowledge is true.”88 Only these actions are free which follow the essential nature of the soul, and this is from the [115] divine in the soul.89 Such actions are absolutely perfect and express the essence of God, the identity. “Religion is the expression of the highest unity, which makes impossible, to contradict
|| 82 Vgl. Tillich 1912, 80: „… eine falsche Anwendung des mechanischen Stetigkeitsgesetzes auf die Geschichte.“ 83 Denn „nur im Verstand gibt es Fortschritt, in der Vernunft keinen“. (SW 6, 564) 84 Understanding = Verstand (so Tillichs Übersetzung). 85 Vgl. Tillich 1912, 81: „Der einzig wahre Fortschritt ist der vom Verstand zur Vernunft, von der Reflexion zur Mystik, und den kann jeder für sich vollziehen.“ 86 Vgl. Tillich 1912, 84: „Die Geschichte reißt den Mystiker aus dem Quietismus, in den ihn die Natur versetzte.“ 87 Vgl. ebd.: „Die Scheidung von Wissen und Handeln ist eine Abstraktion, d.h. eine Absonderung der Dinge von der Allheit, in der sie eins sind, es ist die erste Lüge, jene beiden zu trennen, an ein Wissen zu glauben, das nicht unmittelbar als solches auch Handlung ist und an eine Tugend, die nicht wie das Wissen, aus dem Wesen der menschlichen Natur quillt.“ 88 „… der Mensch ist nicht für sich selbst frei; nur das Handeln, was aus Gott stammt, ist frei, wie nur ein gleiches Wissen wahr ist.“ (SW 6, 542, vgl. Tillich 1912, 84) 89 Vgl. Tillich 1912, 85: „Darum ist nur eine solche Handlung absolut frei, die aus dem Wesen der Seele, d.h. ‚aus dem Göttlichen, sofern es das Wesen der Seele ist‘ mit absoluter Notwendigkeit folgt (SW 6, 539).“
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one’s knowledge in one’s action.”90 “Those are called men of God, in which knowing of the divine becomes immediately acting.”91 Immediately, without decision.92 The freedom of decision shows that we are not united with God, that we are not essential or – what the same is for him – not in perfect grace. Schelling establishes morals of essential innocence and of perfect grace, not of existential contradiction. The religious geniuses are geniuses of mere Therefore only the freedom of the Children of God, the material freedom, not the formal freedom of decision; therefore no conflict, no fragment, no law. You cannot strive to do the good according to commands. You must have it or you never can reach it. Because the identity, the divine in us is the pre[116]supposition of the good, not conversely. It is not good to be determined by law and duty. The situation of decision creates arrogance and puts the good works over faith, morality over religion. But “it is a blasphemy to deduce derive God from morality”93, to make him a means for the moral purpose. The bourgeois philosophy of religion is hit in its center by this attack. There is no other goodness of human soul than that which follows from the divine.94 Original sin is just “the freedom in the sense of our moralists, the tendency to be absolute and in itself”.95 Kant’s moralism is attacked by an alliance of natural mysticism and the doctrine of grace.96 The moral existence is dissolved.97 The most radical expression of this is the extirpation of the consciousness of guilt.98 Everything what occurs follows the necessity of the infinite nature and is
|| 90 „Religion … ist Ausdruck der höchsten Einheit des Wissens und des Handelns, welche unmöglich macht, seinem Wissen im Handeln zu widersprechen.“ (SW 6, 558, vgl. Tillich 1912, 85) 91 „Diejenigen nennt man Männer Gottes, in denen das Erkennen des Göttlichen unmittelbar zur Handlung wird.“ (SW 6, 559, Tillich 1912, 85) 92 Vgl. Tillich 1912, 85: „Unmittelbar, nicht durch einen Gegensatz, eine Wahl hindurch.“ 93 „[E]s ist ein Greuel, Gott aus der Sittlichkeit folgern zu wollen.“ (SW 6, 557, vgl. Tillich 1912, 87) 94 Vgl. Tillich 1912, 87: „… es gibt keine andre Trefflichkeit der menschlichen Seele, als die aus dem Göttlichen stammt.“ 95 Vgl. Tillich 1912, 88: „Er [Schelling] sagt von der Erbsünde, wenn sie allen einzelnen Handlungen voran gehen soll, so könnte sie nichts anderes sein, ‚als eben die Freiheit selbst in dem Sinne unserer Moralisten, nämlich die Tendenz, absolut und insichselbst zu sein‘ (SW 6, 561)“. 96 Vgl. Tillich 1912, 87: „Naturmystik und Rechtfertigungsglaube schließen ein Bündnis gegen den kantischen Moralismus.“ 97 Vgl. Tillich 1912, 87f.: „Denn hätte dies Bündnis von Bestand sein können, so wäre es mit der Ethik zu Ende gewesen.“ 98 Vgl. Tillich 1912, 88: „Die letzte entscheidende Konsequenz des Identitäts-Standpunktes ist eine Beurteilung der Sünde, deren notwendige Folge die Zerstörung des Schuldbewußtseins ist.“
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affirmed by the infinite nature.99 There are degrees of identity.100 But in each of them is the identity realized. [117] Even he who acts evil is necessary in it does it by necessity, “Absolutely speaking he is also necessary as a member of the world and in this respect not to be punished but to be excused – – he is necessary because all degrees of perfection must be actualized from the lowest to the highest – – This is the true tolerance to see all things in the totality and to appreciate them on their proper place – – the opposite is: to establish a rule, a moral law which is the uttermost delusion, out of which instead of serenity and quietness follows only pain and useless toil.”101 – – “For what all anxiety and restless striving? What must happen will happen anyhow.”102 – This means: the world is total organism, in which God, the absolute identity is developed. Each member has its necessary place.103 Independence, separation are imaginations.104 But that which creates this imagination, the wrong is a wrong philosophy which, therefore, must be an expression of wrong a wrong being. “The freedom which the individual as individual ascribes to [118] itself is no freedom, but a tendency to be absolute in himself, a freedom which drives us into self-destruction.”105 Schelling himself has asked how the illusion of selfhood is possible: already in this period he speaks of the fall of the ideas in Platonic terms. 106 But not before
|| 99 Tillich 1912, 88f.: „Alles, was ist, ist eine Folge aus der unendlichen Natur, und so wie es folgt, ist es affirmiert von der unendlichen Natur.“ 100 Vgl. Tillich 1912, 89: „Freilich gibt es Grade der Vollkommenheit der Nähe am Absoluten...“ 101 „Absolut betrachtet ist auch er als Glied der Welt notwendig, und insofern nicht strafbar und sogar entschuldbar … Er ist notwendig, weil alle Grade der Vollkommenheit von der niedrigsten bis zur höchsten realisiert sein müssen … Hierin liegt die wahre Duldsamkeit, alle Dinge als in der Totalität begriffen zu denken und an ihrer Stelle zu achten … Das Gegenteil davon ist die Aufstellung einer Regel, eines Sittengesetzes, welches der größtmögliche Wahn ist, aus dem statt der Heiterkeit und Ruhe nur Unlust und vergebliche Mühe entsteht.“ (SW 6, 547f., vgl. Tillich 1912, 89, Schelling ungenau zitierend). 102 „Wozu also alle Sorgen und das unruhige Streben? Was geschehen soll, geschieht doch.“ (SW 6, 569, vgl. Tillich 1912, 89) 103 Vgl. Tillich 1912, 90: „Die Welt ist ein Total-Organismus, in dem Gott existiert, und in dem jedes Glied seine notwendige Stelle hat.“ 104 Vgl. ebd.: „Alles, was existiert, ist als existierendes mit Gott identisch, ein Widerspruch zwischen Gott und Mensch beruht auf Imagination, auf falscher Abstraktion …“ 105 „Die Freiheit, welche sich das Individuum als Individuum zuschreibt, ist keine Freiheit, sondern bloße Tendenz, absolut in sich selbst zu sein, die an sich selbst nichtig ist, und welcher die Verwicklung mit der Notwendigkeit als das unmittelbare Verhängnis folgt.“ (SW 6, 551, vgl. Tillich 1912, 90f.) 106 Im „System der gesammten Philosophie und der Naturphilosophie insbesondere“ von 1804 (SW 6, 552): „Der Grund der Endlichkeit liegt nach unserer Einsicht einzig in einem nicht-in-GottSein der Dinge als besonderer, welches, da sie doch ihrem Wesen nach oder an sich nur in Gott
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1809, in “the doctrine of freedom” the change occurred in a radical way. All motives [sic!] became effective. The other possible way is Hegel who brings the subjectivity dialectically into the process, while Schelling drives towards ethical existence. [119] 7.107 The result of the whole development. The different steps. The principle of identity. The consequences: The static system of the absolute, the intellectual intuition, the potencies and ideas, the problem of the individual things which are separated from the universe. The question of the separated finiteness, its categories and the situation of objectivation. The two series, the natural (essential man) and the cultural (historical man). The question for the need of the latter why at all the latter? The two periods of history, the problem of the end of history or the impossibility of the closed system. The ethical situation. The genius in ethics, the negation of the law and of the average morals. But the question of the existing individual remaining. The situation of guilt, the quietistic feeling of necessity [120] and the end of responsibility. But the question: How is intellectual sin possible without moral sin?108 The break from essence to existence in Schelling’s thought is created by the idea of freedom. Freedom was decisive in Fichte and the younger Schelling, following Kant. The great pathos on freedom against Spinoza. The necessity to think even the absolute identity in terms of absolute freedom. But this freedom is “material” freedom which had swallowed the “formal” freedom. This possible in God and the essential world. But not for existence. Here the freedom of deciding
|| sind, auch als Abfall – eine defectio – von Gott oder dem All ausgedrückt werden kann. …Die Philosophie aber ist unsere Wiedergeburt in das All, wodurch wir der Anschauung desselben und der ewigen Bilder wieder teilhaftig werden.“ Vgl. auch die Schrift Philosophie und Religion von 1804 (SW 6, 38f.): „Nur durch den Abfall vom Urbild läßt Plato die Seele von ihrer ersten Seligkeit herabsinken und in das zeitliche Universum geboren werden, durch das sie von dem wahren losgerissen ist. Es war ein Gegenstand der geheimen Lehre in den griechischen Mysterien, auf welche auch Plato deshalb nicht undeutlich hinweist, den Ursprung der Sinnenwelt nicht, wie in der Volksreligion, durch Schöpfung, als ein positives Hervorgehen aus der Absolutheit, sondern als einen Abfall von ihr vorzustellen.“ 107 Vgl. dazu Tillich 1912, 91–121 („Dritter Teil: Die Synthese von Mystik und Schuldbewußtsein in Schellings zweiter Periode. I. Die prinzipielle Lösung“). 108 Vgl. Tillich 1912, 90: „Die intellektuelle Sünde, sich außerhalb der Idee zu glauben, ist begründet in der moralischen Sünde, außerhalb der Idee zu sein.“
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against essence is a reality: the freedom of good and evil. This is the great problem. The concept of freedom is the absolute restlessness which “drives him out of the identity” (Strauss109) The freedom in which the ideas participate makes the fall of the ideas possible. This for Schelling was pushed at the end of his first period. But this was only a statement, not a doctrine. Now the answer follows in his book on “human freedom”, one of the profoundest [121] and most brilliant books in the history of philosophy, translated by Gutmann.110 Schelling starts with a criticism of the ordinary doctrines of freedom.111 First he attacks the discussion of determinism and indeterminism (the latter being the privilege to act without determining reasons, i.e. entirely unreasonably). The second stage is Kant’s doctrine of the transcendent freedom, freedom = selfrealization, a concept in which both are overcome. This is fully true of God. The third stage is a doctrine of God which is neither Leibnitz’s deliberating God, nor the absolute necessity of Spinoza, but a personal necessity which is freedom at the same time: The identity of subject and object. But in this identity the freedom practical [sic!] gets lost.112 Freedom is actualized only if it is able to contradict its necessity, breaking away from its essential perfection.113 Freedom is actual only, if there is the contrast of freedom, namely necessity.114 Even the divine freedom becomes drawned in the abyss of essential necessity, if there is no possibility of [122] contradiction. Therefore an existing, living God can only by [sic!] thought through an act, in which the freedom becomes independent of its essential necessity. How is this possible? It is possible only if the depth of being is conceived of as the depth of will. So he says: absolute being is willing. ”Will is primordial Being, and all predicates
|| 109 „Der Freiheitsbegriff ist die absolute Unruhe, die ihn aus jener Identität wieder heraus treibt“ (D. F. Strauß, Die christliche Glaubenslehre, Tübingen/Stuttgart 1840/41, Bd. II, 693). 110 Schelling: Of Human Freedom. A Translation of F.W.J. Schelling’s Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit und die damit zusammenhängenden Gegenstände. With a critical Introduction and Notes. By James Gutmann, Chicago (The Open court Publishing Company), 1936. 111 Für das Folgende vgl. Tillich 1912, 93f. 112 Vgl. Tillich 1912, 94: „Die Freiheit, in unmittelbare Identität mit der Notwendigkeit gesetzt, verliert sich selbst.“ 113 Vgl. ebd.: „Die Freiheit hat als solche also nur Wirklichkeit, wenn sie im Gegensatz steht zu ihrem Notwendigen, wenn sie sich losreißt von sich selbst in ihrer Unmittelbarkeit.“ 114 Vgl. ebd.: „Freiheit ist nur, wo Widerspruch von Freiheit und Notwendigkeit ist. Das Wesen existiert nur durch den Widerspruch.“
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apply to it alone – groundlessness, eternity, independence of time, self-affirmation!” [Gutmann 24]115 The absolute identity is the will willing itself, and therefore able to contradict itself, without ceasing to be what he essentially is: will.116 So the will is able to solve the ultimate problem: Essential identity and existential contradiction.117 The former explains essential being, the second the contradiction of existence. The unity of both creates the living process.118 This is the synthesis, which in same or the other way is made in all many modern philosophers. The necessity of thinking the absolute as the Greeks did and the dynamic feeling of life in modern times is united. [123] The predecessors, in a limited way, Augustine, in a logical way Duns Scotus and Occam; in a religious way Luther, in a mystical way Boehme and the followers. In a dogmaticmetaphysical way Schopenhauer, in a prophetic way Nietzsche, in a biological way Bergson, in an activistic way American pragmatism, in a romantic way the philosophy of life, in a political way the antidemocratic movements, under dialectical repression Hegel. – The basic voluntarism of our time and its danger. The danger and depth at the same time implied in the element The danger is the element of non-rationality in existence and its foundation, the will. The contradiction in the will cannot be derived. If so, it would be essential and not contradiction. It must be accepted as something simply given. Life with its contradictions is given, cannot be derived. Later Schelling calls this the “Unvordenkliche”, before what thought cannot go, which is above deduction. This means that [124] in all things something is implied which is simply given; the world cannot be explained in terms of a mathematical system of mathematical necessities. It has both elements, essence identity and contradiction, essence and existence, the rational and the irrational. This leads to a new interpretation of the idea of the living God, which gave the pattern for a new theistic theology, namely a theism, which has the panthe-
|| 115 „Wollen ist Ursein. Nur auf dieses allein passen alle Prädikate desselben: Grundlosigkeit, Ewigkeit, Unabhängigkeit von der Zeit, Selbstbejahung.“ (SW 7, 350, vgl. Tillich 1912, 94) 116 Vgl. Tillich 1912, 94: „Das Absolute ist Wille, die absolute Identität der Wille, der sich selbst will. Eben darum aber auch der Wille, der mit sich selbst in Widerspruch treten kann.“ 117 Vgl. Tillich 1912, 94f.: „Nur der Wille kann sich als das schlechthin Andere, Entgegengesetzte seiner selbst bestimmen.“ 118 Vgl. Tillich 1912, 95: „Die Identität von Wesen und Widerspruch ist das Höchste.“
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ism in itself, instead of excluding it. [The mediating theology took this up, Müller119, Martensen120, Rothe121, Hofmann122, to the moment in which Ritschl123 removed all this by making God the representative of the moral principle, not asking for his ontological character being, his life, his hiddenness, his relation to nature etc., all this disappeared from the discussion, but genuine problems cannot disappear, and in people like Whitehead, Brightman124, Hartshorne125 the problem of the living God, of a concrete monotheism as Schelling [125] called it later appears again.] God must not be conceived of as a perfect absolute, the identity, towards which the systems of reason are driven.126 But For this destroys his life; no ego–
|| 119 Julius Müller (1801–1878). Sein Hauptwerk war die Monographie „Die christliche Lehre von der Sünde“, 2 Bde., Breslau: Verlag Josef Max und Comp., 1839, 1844 (7. Aufl., Bremen 1889). 120 H. Lassen Martensen (1808–1884). Tillich 1912, 71, nennt seine Dogmatik. Seine Hauptwerke: Die Autonomie des menschlichen Selbstbewußtseins in der dogmatischen Theologie unserer Zeit, Kiel 1844; Die christliche Dogmatik, 3. Aufl., Leipzig 1886; Die christliche Ethik, 2 Bde., Gotha 1878; Jacob Böhme, Leipzig 1882. Vgl. Friedrich Wilhelm Graf: Martensen, Hans Lassen, in: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon, Bd. V, Herzberg: Verlag Traugott Bautz, 1993, Sp. 894–901. 121 Richard Rothe (1799–1867), „dessen ganze spekulative Theologie auf die Selbstentfaltung Gottes in einem ‚absoluten geistigen Naturorganismus‘ aufgebaut ist“ (Tillich 1912, 71, Anm. 48). Vgl. Friedrich Wilhelm Graf: Rothe, Richard, in: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon, Bd. VIII, Herzberg: Verlag Traugott Bautz, 1995, Sp. 759–823. 122 Johann Christian Konrad von Hofmann (1810–1877). In seiner phil. Diss. Die religionsgeschichtliche Konstruktion in Schellings positiver Philosophie, ihre Voraussetzungen und Prinzipien (Breslau 1910), jetzt in: EW IX (Paul Tillich, Frühe Werke), hg. von Gert Hummel und Doris Lax, Berlin/New York: Verlag Walter de Gruyter, 1998, 144–272) bezieht sich Tillich mehrfach auf J. C. K. v. Hofmann, Der Schriftbeweis. Ein theologischer Versuch, Bd. I, Nördlingen 1852. So z.B. in seiner Darstellung des Gottesbegriffs in der „positiven Philosophie“ Schellings. Das von Tillich angeführte Hofmann-Zitat soll die Unterscheidung und Zusammengehörigkeit von Monotheismus und Trinitätslehre, also der formalen und materialen Seite des Gottesbegriffs Schellings unterstreichen. Auch wenn der Monotheismus als Trinitätslehre „weltgeschichtlich geworden“ sei, dürfe beides nicht gleichgesetzt werden (EW IX, 182f. Anm. 102, dort auch das HofmannZitat). 123 Zu Tillichs Beurteilung Ritschls vgl. seinen Aufsatz „Albrecht Ritschl zu seinem hundertsten Geburtstag“, in: Theologische Blätter, Jg. 1, 1922, Sp. 49–54; GW XII, 151–158. 124 Edgar Sheffield Brightman (1884–1953), amerikanischer Philosoph und Theologe, Begründer und Vertreter des Bostoner Personalismus. Vgl. Warren Steinkraus (ed.), Studies in Personalism: Selected Writings of Edgar Sheffield Brightman, Utica 1987. 125 Charles Hartshorne (1897–2000), Begründer und Vertreter der Prozesstheologie. Vgl. Julia Enxing, Gott im Werden. Die Prozesstheologie Charles Hartshornes, Regensburg 2013. 126 Vgl. Tillich 1912, 96f.: „… wie es die Systeme der Abstraktion und reinen Vernunft wünschen.“ Für das Folgende vgl. Tillich 1912, 97f.
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thou–relation is possible with the pure identity. If this shall be possible, an analogy to human being is necessary except his absoluteness.127 As in man life is based on two principles, dark and light, unconscious and conscious, so in God128: “The dark precedes him, the clarity breaks out of the night of his nature”.129 The purpose and meaning of this process is that the dark becomes light, the contrast unity. The description of the eternal life in God, this unity of the absolute and the personal element in God avoid two mistakes: abstract theism and pantheism, the first makes God an individual being, cut off entirely from creature, the other making him the universal essence of all beings.130 “God in his highest dignity is the universal being in all beings. But this universal [126] being is not in the air, but it is rooted in and so to speak supported by God as singular being, the singular in God therefore the basis or substratum of the universal.”131 The element of particularity must be called the selfhood or the egotism in God, the eternal seclusion and introversion in God. This principle alone would make creature impossible. But there is at the same time the expansive principle by which God is the being of all beings, the principle of love. 132 If this principle were alone it would dissolve, melt, so to speak the divine power. There must be contraction as well as expansion.133 (Comp. the problem of self-love, which makes love serious and not only
|| 127 Vgl. Tillich 1912, 97: „Oder es wird wirklich als der Lebendige gefasst, als das Du zu dem Ich des Gebets; dann aber muß sein Leben die größte Analogie mit dem menschlichen haben – ausgenommen allein seine Absolutheit.“ 128 Vgl. ebd.: „ … dessen zwei Prinzipien sind in ihm, ein bewußtloses und ein bewußtes; und das ist der Inhalt seines wie alles Lebens, daß das bewußtlos Vorhandene zum Bewußtsein erhoben wird.“ 129 „Das Dunkel geht vor ihm her; die Klarheit bricht erst aus der Nacht seines Wesens hervor.“ (SW 7, 433, vgl. Tillich 1912, 97) 130 Vgl. Tillich 1912, 97f.: „So werden die beiden Abwege gemieden, die in der Lehre von Gott vorzüglich gegangen werden: Die eine ‚dogmatische, für orthodox gehaltene Ansicht‘ macht Gott zu einem einzelnen, ganz für sich bestehenden, ‚abgeschnittenen‘ Wesen, von dem die Kreatur völlig ausgeschlossen ist. Die andere ’gemeinpantheistische‘ Ansicht daß Gott gar kein eigenes Dasein, sondern löst ihn in die allgemeine Substanz … auf.“ 131 „Gott ist in seiner höchsten Dignität allgemeines Wesen aller Wesen, aber dieses allgemeine Wesen schwebt nicht in der Luft, sondern ist begründet und gleichsam getragen durch Gott als individuelles Wesen – das Individuelle in Gott also die Basis oder Unterlage des Allgemeinen.“ (SW 7, 439, vgl. Tillich 1912, 98) 132 Vgl. Tillich 1912, 98: „Dasjenige Prinzip, durch das Gott individuelles Wesen ist, muß die Selbstheit, der ‚Egoismus‘ in Gott genannt werden. Wäre nur diese Kraft in ihm, so wäre keine Kreatur, nur eine ewige Verschlossenheit und Vertiefung Gottes in sich selbst. Ihr gegenüber steht das Prinzip der Liebe, durch das Gott das Wesen aller Wesen ist.“ 133 Vgl. ebd.: „Aber die Liebe für sich könnte nicht sein, sie würde zerfließen, wenn nicht eine ‚kontraktive Urkraft‘ in ihr wäre.“
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an empty surrender – practically a kind of self–hate). With Boehme he calls this principle also wrath and makes the following statement which destroys the sentimental concept of the “good or loving God” in daily life talk: “If there is love in God, there also must be wrath, and [127] this wrath or the power of independence in God giving structure, ground and permanence to his love.”134 “Of course, the true God is love, love is the God in itself, but egotism is the force by which his love comes to existence.”135 The process in which his egotism becomes love is the eternal process of his personalisation136 (conf. psychology of depth). The principle of egotism or contraction or wrath is also called the nature in God. As nature in God it is the ground of existence, darkness, necessity, while the other principle is the ideal, light and freedom. The process of the divine life is the self-expression of the divine nature in the manifoldness of potentiality or ideas in it and their return to the divine unity.137 The ground in another more Boehmian and more modern terminology is called the urge or longing or dark, unconscious will to [128] bring the divine possibilities to actualization.138 But this is possible only in unity with the light principle of the understanding [sic!] in difference from the dark will (compare Schopenhauer and Freud desire and censorship, Bergson the elan vitale and the creative forms). The birth of essential nature in this struggle is the subject of the philosophy of nature (exactly as the philosophy of identity has explained). Man is the fullfilled nature, the true, divine universe.139 God necessarily becomes man, essential manhood is God-manhood embracing nature and man.140 Man as the universe is the developed human nature. Through essential man God loves himself, has the intuition of himself, moves in the rhythm of his eternal beauty. Even anx-
|| 134 „Ist eine Liebe in Gott, so auch ein Zorn, und dieser Zorn oder die Eigenkraft in Gott ist, was der Liebe Halt, Grund und Bestand gibt.“ (SW 7, 439, vgl. Tillich 1912, 98f.) 135 Vgl. Tillich 1912, 99: „Die Liebe ist der wahre Gott, der Gott an sich, der Egoismus ist die Kraft, durch die Gott oder die Liebe zur Existenz kommt.“ 136 Vgl. ebd.: „Die Überwindung des göttlichen Egoismus durch die göttliche Liebe ist der Prozeß der Personalisierung Gottes, seine Natur- und Menschwerdung …“ 137 Vgl. Tillich 1912, 99f.: „Der Prozeß der göttlichen Persönlichkeit oder das göttliche Leben besteht nun darin, daß der Grund zur Existenz in Ewigkeit sich entfaltet zu der Fülle der in ihm beschlossenen Bestimmungen und diese Fülle in Ewigkeit aufgehoben wird in die Einheit des göttlichen Selbst.“ 138 Für das Folgende vgl. Tillich 1912, 99. 139 Vgl. Tillich 1912, 100: „Der Mensch ist die vollendete Natur, das wahre göttliche Universum.“ 140 Vgl. Tillich 1912, 101: „Gott macht sich in Ewigkeit persönlich, indem er in Ewigkeit Mensch wird.“
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iety, finiteness, melancholy are the source of divine blessedness. In God the contrast of the elements is overcome in eternity.141 It is a dialectical, not a historical process, the circular motion is decisive. [129] The leap to existence has not yet been done.142 The nature in God is potential nature. But the spirit is not yet Neither nature nor spirit are independently actualized. – This contrast between dialectical and historical becoming characteristics of Schelling II and Kierkegaard, while Hegel tried to make history itself a dialectical becoming – which is finished in principle, and can be looked at instead of emphasizing the historical and ethical existence which makes a calculation of providence impossible. Some words about the epistemology in the ground of these ideas143: Corresponding to the two elements in God, the absolute and the personal, two ways of epistemology: The ontological and the empirical, the first discovers in the finite the infinite, in the difference the identity, not by arguing in conclusions, but by intuitive seeing of the infinite in every finite. It is the way of intellectual intuition, the ontological way, or as Schelling calls it later [130] negative philosophy. Negative because it abstracts from concreteness and history and makes disappear finiteness in infinity. He calls Hegel’s philosophy negative (as well as his own system of identity). Philosophy dealing with essential being is negative, because it negates the concrete historical existence as decisive for our relationship with the unconditioned in its importance for our inner aim. He himself adds another way according to the other side of God. Not elevation (by abstraction, to God), but subjection to the nonrational actions of God. – As all personalistic thinking about God Schelling had been challenged as anthropomorphic. He answers: “If God is human, who can protest it? – – He is what he will be, therefore I must first ask for his will, but not a priori trie [sic!] to prevent him from being what he wants.”144 The mere fact can only be accepted. It must be accepted, since there is a world existence. Of course, that in this existence [131] “God” and not something less is manifest, can only be aknowledged [sic!], if the
|| 141 Vgl. Tillich 1912, 102: „Und wenn auch Töne dazwischen hörbar sind, … wie die Worte von der allem Leben anhängenden Traurigkeit, dem Schleier der Wehmut in aller Natur, so ist doch auch nur eine Traurigkeit gemeint, die ewig überwunden, Quell der göttlichen Seligkeit ist.“ 142 Vgl. ebd.: „Denn noch ist der Sprung nicht geschehen, durch den die Natur Gottes sich losreißt von der Einheit mit dem Geist.“ 143 Für das Folgende vgl. Tillich 1912, 104–106. 144 „Wenn er nun menschlich ist, wer darf etwas dagegen einwenden? … Er ist, was er sein will. Also muß ich erst seinen Willen zu erforschen suchen; nicht aber ihm zum voraus wehren, zu sein, was er sein will.“ (SW 7, 167f., vgl. Tillich 1912, 105)
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absolute is acknowledged [sic!], otherwise God were not God. The aknowledgement of our existential situation and the description of it is positive philosophy. Today we would call it philosophy of existence. The two ways are very important for the theological method. You cannot even think God without the element of the unconditioned which can be reached by mystical intuition selfawareness of the infinite in our finiteness. But it is only negative. Without it145 theism becomes the establishment of a highest being, which would not concern us at all because it were a being like myself and not the being of all beings. On the other hand, this alone would not be God who makes a relation possible, because he becomes existential himself and is experienced in existential situations. The former is anthropocentric in methodological, the latter is theocentric in method and related to faith and obedience [132] Neither way can be avoided. The whole deduction in the “doctrine of freedom” intends to interprete the possibility of good and evil. The explanation has created the idea of a living God and an eternal universe with man as its center. In God the contradiction is eternally overcome by light reunion. The bond of the principles is insolvable in God. But it can be disrupted in man. Man is the created unity between selfhood and universal will. As long as he subordinates his selfhood to his universal will the unity is maintained. Schelling calls this unity spirit. As spirit man is free from both principles. He is not only free from nature but also from the divine mind in him. He can do what neither God nor nature can do: to distort the relation of the principles, to elevate the selfhood over the universality participation.146 In doing so he commits sin. Sin is selfhood separating itself from its universality.147 Not the eternal contrast in the divine life or evil, [133] but the spirit=determined contradiction in man. Sin is spiritual contradiction.148 This makes a deduction of sin entirely impossible. It is non=rational which contradicts the rational149 or which is the metaphysical lie. To say that sin has rational necessity means to support the
|| 145 Gemeint ist: Without the element of the unconditioned. 146 Vgl. Tillich 1912, 109: „In ihm kann geschehen, was weder in Gott, noch in der Natur möglich ist, die Trennung der beiden Prinzipien.“ 147 Vgl. ebd.: „Sünde ist der Versuch des Einzelnen, sich dem Prozeß der Wiederaufhebung alles Einzelnen in die Einheit der absoluten Synthesis zu widersetzen.“ 148 Vgl. ebd.: „Sünde ist der geistgewordene Widerspruch.“ 149 Daß die Sünde als „das Irrationale in seiner Geistigkeit … das dem Irrationalen [sic!] schlechthin Feindliche“ sei, wie es in Tillich 1912, 110 heißt, muss auf Grund der englischen Version korrigiert werden: die Sünde ist das „Irrationale …, das dem Rationalen schlechthin Feindliche“. Der Druckfehler ist in GW I, 89 wiederholt, aber in GW I, 459 korrigiert worden.
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lie150 which is its real nature. It is sinful to deduce sin, to rationalize the intentionally irrational. “The evil is internally lie and lacking all true being. But it exists and shows a terrible reality not as a truly being but as something which tries to become being.”151 The consequence of the selfelevation of man against the universal participation is, that he looses his central position and that nature looses its center.152 Man was the mediator of nature, now he cannot be that any longer. Therefore nature is subject to the law of vanity. It must reproduce itself continuously, it must create separated individuals and annihilate them again; the anorganic [sic!] has arisen as an independent realm: [134] “The inorganic also belongs to this kind of nonbeing, which has elevated itself to being”153 (the opposite judgement of today about anorganic and organic). Time is the form of this non-being which wants to become being. Time is the absolutely other of eternity.154 The revelation of this fact and the revelation of the lie of separated selfhood is our having to die. Death reveals the true being by revealing the lie of the being which is not true. Death reveals the limitation of the philosophy of nature and restricts mysticism of nature.155 As natural beings we are excluded from the eternity of the universe. We cannot escape our existential situation by uniting with our essential nature or original God-manhhood. Nevertheless the original bond of all individuals with the universe and therefore with God is not lost. This is obvious in the consciousness of guilt. Man remains spirit, the bond of the principles is not lost.156 Just the fact of the contradictory feeling of guilt shows [135] both, the distortion of the relation of both sides and their remaining bond. In the very depth of the consciousness of guilt identity
|| 150 Vgl. Tillich 1912, 110: „Wer der Sünde Vernunftnotwendigkeit zuspricht, bejaht ihren Anspruch, wesenhaft zu sein, d.h. er bejaht ihre Lüge.“ 151 „Das Böse ist innerlich Lüge und allen wahren Seins ermangelnd; doch ist es und zeigt eine furchtbare Wirklichkeit, nicht als ein wahrhaft Seiendes, wohl aber von Natur als ein solches, das seiend zu sein trachtet.“ (SW 7, 267, vgl. Tillich 1912, 110f.) 152 Zu diesem Abschnitt vgl. Tillich 1912, 112f. („3. Sünde und Tod“). 153 „Auch der Anorganismus gehört zu jenem Geschlecht des Nicht-Seienden, das sich zum Seienden erhoben hat.“ (SW 7, 460, vgl. Tillich 1912, 112) 154 Vgl. Tillich 1912, 112: „Zeit ist das schlechthin Andere der Ewigkeit… “ 155 Vgl. Tillich 1912, 113: „So wird der Tod die Offenbarung des wahren Wesens. Der Tod ist die letzte und tiefste Lösung des Problems: Identität und Widerspruch in bezug auf die Natur. Die Naturphilosophie hat das, was im Tode sich als Lüge offenbart, die Herrschaft des einzelnen, die Selbstheit, als Lüge darzustellen … Eben darum aber hat die Naturphilosophie auf den Anspruch zu verzichten, Universalwissenschaft zu sein und die Naturmystik hat sich in den ethischen Kategorien ihre Grenze zu setzen.“ 156 Vgl. Tillich 1912, 115: „Auch im Sünder ist das Band des Geistes wirksam …“
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and contradiction are rooted. Because without the knowledge of the true unity the contradiction would not be experienced.157 Since sin is not being but lie, it must be selfdefeating. The act in which this happens is called by Schelling the wrath of God. God never leaves being alone. If he is not in it with his affirmative will, he is it with his negative will. This will of wrath is the immanent selfdestruction of the evil: “the hunger of selfishness which, in the measure that it deserts totality and unity becomes ever needier and poorer, but just on that account more ravenous, hungrier, more poisonous”. (Gutmann 69)158 The end of this process is the expulsion of the evil and its reduction to mere potentiality.159 (Gutmann 85) There is no transcendent judgement from outside, but the immanent process of evil in which the wrath [136] of God consists. Substantially man never is separated from God, the bond cannot be cut.160 Against the destruction of existence no help is possible except the appearance of the divine in existence as a separated self161; the existential situation can only be overcome in existence itself, not by mystical elevation above existence: “Only the personal can heal the personal and God must become man, that man may come again to God”.162 “The true infinite came into the finite, not in order to deify it, but in order to sacrifice it in his own person and to reconcile it this way.”163 || 157 Vgl. ebd.: „Aber der Widerspruch ist nur, insofern er mit dem Wesen eins ist; ist er doch nichts als das Wesen unter einer Bestimmung, als der Wille unter der Bestimmung des Nein. Und das Nein ist nicht ohne das Ja, der Grund nicht ohne das Licht… Im Widerstreit selbst offenbart sich das Band und dadurch das Wesen. Das Nicht-Sein-Sollende kann nur am Sein-Sollenden offenbar werden. Das Schuldbewusstsein selbst schließt das Bewusstsein um die wahre Einheit in sich. Je tiefer und absoluter das Schuldbewusstsein, desto höher die Erfassung der wahren Identität.“ 158 [Es ist] „der Hunger der Selbstsucht, die in dem Maße, als sie vom Ganzen und von der Einheit sich lossagt, immer dürftiger, ärmer, aber eben darum begieriger, hungriger, giftiger wird.“ (SW 7, 390, vgl. Tillich 1912, 116) 159 Vgl. SW 7, 405, zitiert von Tillich 1912, 117: „Das Ende der Offenbarung ist daher die Ausstoßung des Bösen vom Guten, die Erklärung desselben als gänzlicher Unrealität.“ 160 Vgl. Tillich 1912, 117: „Das Band bleibt unzerrissen, auch wenn es unter dem Zeichen des Gegensatzes steht.“ 161 Vgl. Tillich 1912, 118: „Gott bejaht den Willen der Selbstheit, indem er selbst ein einzelner wird.“ 162 „Nur Persönliches kann Persönliches heilen, und Gott muß Mensch werden, damit der Mensch wieder zu Gott komme.“ (SW 7, 370, vgl. Tillich 1912, 118f.) 163 „Das wahre Unendliche in das Endliche kam, nicht um dieses zu vergöttern, sondern um es in seiner eigenen Person Gott zu opfern und dadurch zu versöhnen.“ (SW 5, 292, vgl. Tillich 1912, 119)
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So identity and contradiction, mysticism and guilt are united in three steps: I. The identity living by contradiction realizes itself in the eternal process of divine nature and personality: Essential being.164 – II. In man as the center of the divine universe creaturely [sic!] spirit makes the freedom of good [137] and evil possible. It has become real as an irrational fact, as lie and selfdestruction. – III. It is overcome by the personal encounter of the personal God, who has become individual and subjects himself to the law of wrath.165 The end of the whole process is the completion of love, the original identity must indifference must become love, that is the meaning of the world process. In eternity the identity is stronger than the contradiction. When God is all in all mysticism is real.166 This whole system is the first great synthesis of I. Protestantism, II. mysticism and III. Rationalism. The synthesis between I and II in Boehme, but not rational. The synthesis between I and III in Kant, but not religious. The synthesis between II and III in Fichte and Hegel, but not Protestant. Therefore opposed by Kierkegaard in terms of Schelling’s “existence”. [138] Therefore Schelling the bearer of the creative theology of mediation; not the others. Fichte, Hegel, Kant creating different types of liberalism. Schelling the only who could be used in the catastrophe of liberalism, either in the paradoxical way of Kierkegaard, or in the more ontological way of the doctrine of the demonic and its influence on the language of the Church. In this way even his last period became effective, the “Mythology and Revelation” = period and its religious interpretation of history. 8.167 The 4 volumes of this period are a mixture of geniality, darkness, phantastic speculation, logical power, intuition of historical and psychological realities, anticipations of things rediscovered in our period, anticipated ideas – – never published by Schelling himself, unknown in the history of philosophy, rich and entirely unexhausted.
|| 164 Diese Stufe I ist identisch mit der Stufe II der Version Tillich 1912. Diese lautet: „II. Die Identität, durch den Widerspruch in lebendiger Selbstvermittlung erhalten, ist realisiert in dem ewigen Prozeß der göttlichen Persönlichkeit.“ (Tillich 1912, 120) 165 Vgl. Tillich 1912, 134: „Gott nimmt die Form der Selbstheit an und stellt sich unter den Fluch der Selbstheit, um mit denen Gemeinschaft zu haben, die an die Selbstheit gebunden sind.“ 166 Vgl. Tillich 1912, 121: „Daß die Gleichgültigkeit Liebe werde, ist der ewige Sinn des Weltprozesses. Die Liebe aber ist das Band, d.h. die Identität. Identität ist der absolute göttliche Zweck. So triumphiert in Ewigkeit die Mystik über die Schuld.“ 167 Vgl. dazu Tillich 1912, 122–135 („Dritter Teil: Die Synthese von Mystik und Schuldbewußtsein in Schellings zweiter Periode. II. Die religionsgeschichtliche Lösung“).
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[The idea of potencies is emphasized in a new way. [139] The first potence [sic!]: dark will, urge, desire, libido, willpower etc.; the second potence: Reason, form, structure, light, censorship etc. The third period: spirit, uniting both, therefore different from mind, dynamic, creative, demonic. – Its perfection is dependent on the right relation of the two. It is distorted by sin and it shall be restituted by history, which is a history of grace related to the appearance of God in Christ. History is a continuous struggle the end of which would mean the end of history and the victory of the spiritual principle, the restitution and salvation. In history itself every period is the revelation of some element of the divine totality but on an individual basis. Therefore it is judged and affirmed at the same time. Consciousness is kept by the absolute element in it; and only after a tremendous struggle it gives way to another period. Therefore no progressivism. In every moment we have God; but every moment is under the criterion of the absolute.] The kernel of history is the history of religion.168 It is [140] interpreted by Schelling in these terms, which embraces the secular culture in all its realms. The first period is under the predominance of the contradiction169: mythology.170 Paganism is religion under the force of the first principle. It is the religion of wrath.171 A tremendous consciousness of being bound to God and at the same time fear and dread, sacrifices.172 The process in human consciousness (not a rational or poetic production, but a real status: Jung’s archetypes). The contents are taken from the process of nature.173 Here is the real place of the unconscious production. In mythology man is still connected with the real demonic element in nature. He participates in natural creativity. In aesthetics this is moderated by subjection to the aesthetic form. The horror of mythology is the horror about the ground and nature in which man participates and creates the myths. In mythology the past of nature becomes presence, not the empirical event, but the unconscious forces.174 [141]
|| 168 Vgl. Tillich 1912, 125: „Die Geschichte ist im Innersten Religionsgeschichte.“ 169 Mit „contradiction“ ist der „geistgewordene Widerspruch“ = die Sünde gemeint. 170 Vgl. Tillich 1912, 126–131 („Die Religion unter der Herrschaft des Widerspruchs: Mythologie“). 171 Vgl. Tillich 1912, 126: „Die Religion des Zornes: Eigentliche Mythologie.“ 172 Vgl. Tillich 1912, 126f.: „Es ist Religion; die Bindung an Gott wird aufs schärfste empfunden, so daß die furchtbarsten Opfer gebracht werden.“ 173 Vgl. Tillich 1912, 127: „… ganz wie im ursprünglichen Naturprozeß.“ 174 Vgl. Tillich 1912, 128: „Da der mythologische Prozeß ein Naturprozeß höherer Ordnung ist, so versucht Schelling den Nachweis, daß er den gesamten Naturprozeß vom Gestirn bis zum Menschen wiederhole. In den Naturgegenständen schaut der Heide nach einer inneren Notwendigkeit die Zustände seines eigenen Bewußtseins, wie es durch die Potenzen geformt ist.
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Mysticism the ideal victory, but without overcoming the principle of wrath. In Greece the wrath overcome, but with it religion, science and arts instead of it; myths transformed into poems.175 The consciousness is liberated, not the will and the person.176 Therefore it falls back and asks for the real liberation. (The catastrophe of humanism, what is not paganism). – In Judaism will against will, obedience, singularity of God, exclusivity without the universal, one without all in contrast to paganism.177 In Christianity the wrath overcome without mysticism, humanism or law.178 All other elements of history, state etc. are dependent on this qualification of the period. Hegel largely dependent on it, but essential God-Man-hood instead of incarnation.
|| Schelling sagt geradezu, daß auf diese Weise jene Vergangenheiten der Natur, die sonst niemand erleben könnte, wieder lebendig werden und für das Bewußtsein eine Gegenwart.“ 175 Vgl. Tillich 1912, 129: „… die griechische Mythologie ist die Ideenwelt, angeschaut vom befreiten Geist. Aber eben damit ist das religiöse Prinzip in die Tiefe gesunken; das griechische Bewußtsein ist wesentlich atheistisch. Die Mythologie geht in leichtem Flusse über in Kunst und Wissenschaft.“ 176 Vgl. Tillich 1912, 130: „Befreit ist im mythologischen Prozeß eben nur das Bewußtsein, nicht aber der Wille, der reale Bestand der Persönlichkeit.“ 177 Vgl. Tillich 1912, 131–133 („Die Religion des überwundenen Widerspruchs: Offenbarung. 1. Der Kampf des Gesetzes gegen den Widerspruch: Judentum“): „Hier steht Wille gegen Wille… Gott ist Gesetzgeber, die normale Stellung ihm gegenüber ist Gehorsam. Wie ein Einzelner schließt er einen Bund mit einem einzelnen Volk. Während im Heidentum sich Gott als der Absolute erweist, als der, welcher alle Potenzen umfaßt, und ihr geistiges Band ist, zeigt sich im Judentum die Geistigkeit in abstrakt-individueller Zuspitzung.“ 178 Vgl. Tillich 1912, 133f.: „Religionsgeschichtlich betrachtet ist das Christentum Befreiung von der Zorngebundenheit des Heidentums und dem Schuldbewußtsein des Judentums.“
Reviews Duane Olson, The Depths of Life. Paul Tillich’s Understanding of God, Macon, Georgia: Mercer University Press 2019, 120 pp. Paul Tillich’s understanding of God is the subject of Duane Olson’s (hereafter O.) book The Depths of Life, whose title already succinctly summarizes the result of his investigation. The reality of God is not to be understood as an existence beyond the world, as in supranaturalism, but neither is it a mere fantasy project or as a projection, as atheism suggests, but rather as the depth of life. This basic idea of Tillich is unfolded by O. in the six sections of his study mainly on the basis of the Systematic Theology. In doing so, he focuses on the philosophy of religion aspects of Tillich’s understanding of God, so that the dogmatic unfolding of the doctrine of God, which is the concern of the Systematic Theology, recedes into the background (15). In this way, the author pursues a double goal. His book not only wants to make Tillich’s theology and philosophy of religion accessible to a broader audience, it also wants to use the conception of God in Tillich’s philosophy of religion’s on the one hand to open up the religious dimension of culture anew to American contemporaries alienated from religion (9– 12), and on the other hand to open up access to interreligious understanding (12f.). The book is structured according to this concern. Following a concise Introduction that situates the study against the contemporary context and scholarship (1–17), the first section is devoted to God: The Difficulties (19–30). The following section, God’s Pervasive Presence (31–48), is related to these challenges, while the third section addresses God’s relationship to the world (Alternatives for the God-World-Relationship, 49–67). Following this, O. discusses Openings to the Awareness of God (69–81), then turning to The God of Religion (83–98), and finally, God and Culture (99–109). A concise Conclusion summarizes the findings of the study (111–114). This is followed by a Bibliography (115–117) and an Index (119f.). The question of the study explores the changes in the worldview of modernity and their repercussions on religion and theology (1–5). Since modern worldviews, whether philosophical, scientific, or their popularization, have dissolved the traditional ontological-cosmological idea of God, they confront theology with the task of rethinking the religious idea of God. Here O. begins. “It is the thesis of this book that these questions remain relevant, that Tillich’s understanding of God and God’s relation to the universe provides the best platform for articulating a response to them.” (6) This thesis is first elaborated through a discussion of images of God that construct God as a supramundane personal omnipotent being, which are contrasted with Tillich’s conception (19f.). To make the latter’s critique of such images of God intelligible, O. recurs to epistemological problems. If God’s reality is unconditional, then human https://doi.org/10.1515/9783110984729-014
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categories and concepts cannot be applied to God without making him part of the world (23). But how then can God still be thought, and what is Tillich’s alternative to supranaturalistic understandings of God? “The short answer to this, for Tillich, is that God is the infinite, ultimate, absolute, or unconditioned.” (31) But what is the exact difference of the supranaturalistic God, who is beyond the world and distinct from it, if he is described as infinite, etc., as one who is “completely other than the finite world” (32)? For all this is already true for the traditional supranatural idea of God of the theological and philosophical doctrinal tradition. God, too, is supposed to be “being-itself” (33) and not only to face the world, but also to be present in it, as it were, as a depth dimension. So what characterizes Tillich’s understanding of God? “When Tillich says God is being-itself, he is claiming that whatever richness, expressivity and fullness there is in life, or whatever ‘being’ it has, it emerges from the basis of an infinite fullness that is in it, or ‘being-itself.’” (36) Thus the basic concept of O.’s interpretation of Tillich’s understanding of God is reached: God is the depth of life (38). At the same time, with this understanding of the unconditioned, the basis of the God-world relationship is given. For as God is that being-itself to which everything that exists owes its being, then the world is the representation of God from whom it is at the same time distinguished. O. derives from this the basic structure of Tillich’s symbol theory (39–48). Finite concepts and categories cannot be applied to God literally because of God’s otherness to the world, but they can be applied symbolically (40). Symbols point to God. Their use is grounded in religious experience, which is always bound up in traditions and precedes theology. (42) The further explanations build on this basic structure and elaborate it in detail. First, O. discusses deistic, (52–56), theistic (56–64), and panentheistic (64–67) models of the God-world relationship, the latter being the one on which Tillich bases his philosophy of religion. A cum grano salis panentheistic model forms the basis of both his philosophy of religion and his philosophy of culture, to each of which separate sections are devoted. Preceding their discussion, however, is a discussion of Tillich’s interpretation of the classical arguments for God’s existence (73–81). The function of these remarks is to further specify Tillich’s thought of God. Since there is no way from the world to God, the traditional proofs of God come to nothing. For Tillich, knowledge of God is consistently tied to a revelation of God, even though God already underlies everything that is, that is, both culture and religion. “The awareness of God, or of something infinite or unconditioned, for Tillich, always accompanies our awareness of objects.” (75) Following Tillich, O. discusses this immediate presence of the unconditioned in human accomplishments in the theoretical and practical functions of consciousness, that is, in the idea of truth and in the ethical demand. With the discussion of Tillich’s conception of God and the God-world-relationship, the first goal of the study, to pave a way to faith in God for religiously unmusical
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(religiös unmusikalischen) contemporaries, has been achieved. The two concluding chapters of the study are dedicated to the second concern, to make Tillich’s idea of God fruitful for dealing with religious pluralism. They address the religious idea of God and the relationship between God and culture. In both sections, O. draws the consequences from Tillich’s redefinition of God as the depth of life and applies this idea of God to the history of religion and the history of culture. While in religion the unconditioned as the basis of the cultural process becomes conscious, as it were, it underlies culture unconsciously. “Religion opens culture to its depths while culture insists that religion give it sway in its legitimate realm and not impose upon it.” (109) Overall, O. has presented a clear, comprehensible, and easy-to-follow study of Tillich’s redefinition of the idea of God in the Systematic Theology. God is not a supranatural object beyond the world, but the depth dimension of life. However, further exploration of ways in which Tillich’s understanding of God can be thought beyond the formulas O. uses would have strengthened the study. The presentation closely follows Tillich’s own explanations, and the structural foundations of his theology are not adequately reconstructed argumentatively. As a consequence, the point of Tillich’s understanding of religion is missed. Tillich does define religion as a direction toward the unconditioned (86), but religion itself is not a form of its own in culture. The direction towards the unconditioned can only be realized as a reflexive becoming (Reflexiv-werden) of the cultural functions. Thus, a special religious sphere is dissolved in culture as distinct from it. Religion exists in the transition from culture to the meaning of the unconditioned, so that religious forms can exist in culture only as an indication that there should not be religious forms. The religious forms represent the religious act in Tillich’s self-referential understanding of religion. For his understanding of symbol, this means that it is oriented less to the referential structure of the symbol than to the reflexivity of the religious act that religious symbols describe. Only when Tillich’s idea of God is understood as a representation of the religious act of reflection by which it refers to itself does it become clear that his theological construction of God differs from ideas that posit God as a being beyond the world. But such an argumentative reconstruction of the systematic foundations of Tillich’s understanding of God is not the primary intention of O.’s study.
Christian Danz
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Boni Eriola Richard Atchadé: Philosophie der Macht. Paul Tillichs Verständnis der Macht im Kontext Philosophischer Machttheorien im 20. Jahrhundert (= Tillich Research, Vol. 20). Berlin/Boston: Walter de Gruyter 2020. 360 S. Bei der vorliegenden Arbeit handelt es sich um die Dissertation des Verfassers, die 2019 an der Theologischen Fakultät Trier angenommen wurde (VII). Das Buch ist neben Einleitung und Schluss in zwei große Hauptteile gegliedert. Werden im ersten Teil (19–143) die Machttheorien von Hannah Arendt, Michel Foucault, Helmuth Plessner sowie Karl Jaspers präsentiert, widmet sich der zweite Abschnitt des Buches ganz dem Machtbegriff Paul Tillichs (147–301). Zunächst umreißt A. jedoch den Problemhorizont, der sich durch ein heterogenes bzw. disparates Nebeneinander von Machtverständnissen auszeichnet (7–9). „Aber allein dadurch, dass all diese Theorien, die schon an der Wurzel auseinander gehen, […] ein und dasselbe Wort ‚Macht‘ gebrauchen, um das Phänomen zu beschreiben, muss man nach dem Warum fragen: Wieso? Gibt es nicht eine Tiefendimension, die alle empirischen Konstellationen, in denen Macht sichtbar wird, transzendiert?“ (9) Die grundlegende Frage der Untersuchung lautet also: „‚Was ist Macht ihrem Wesen nach?‘ Das ist der Dreh- und Angelpunkt der vorliegenden Arbeit“ (10). A. geht es folglich nicht so sehr darum, Tillichs Machtbegriff am Ende der Arbeit (302–309) mit den vier zuvor genannten „in Beziehung zu setzen, sondern darum, wie er uns helfen kann, von den Gesichtspunkten dieser Denker her zu einer Grundeinsicht in das Wesen der Macht zu gelangen“ (15). Im ersten Hauptteil setzt A. wie erwähnt mit der Rekonstruktion des Machtbegriffs bei Hannah Arendt ein. Macht ist bei ihr in eine Theorie gemeinschaftlichen Handelns eingebettet (30–37) und auf ‚geistpolitischen‘ Grundlagen (37–41) rückgebunden. Das heißt, die Urteilskraft ist für Arendt die „geistige präpolitische Fähigkeit des Einzelnen“ (47) zum angemessenen Handeln und damit Voraussetzung von Machtentfaltung. Insofern fragt Arendt eher nach der Genese von Macht als nach ihrem Wesen (48 u.ö.). Das zweite Kapitel widmet sich Michel Foucault, der seinerseits nicht nach dem ‚Was‘, sondern nach dem „Wie der Macht“ (50, 56, 64 u.ö.) bzw. nach ihrer Produktivität (64 u.ö.) fragt. Das heißt, er nähert sich dem Themenkomplex gewissermaßen funktional über die Analyse von Machttechniken und -technologien (56). Dabei aber, so A., gibt er trotzdem auch Hinweise auf das ‚Was der Macht‘ (ebd.). Dass seine vielen aufgeworfenen, doch kaum jemals erschöpfend behandelten Analysen bekanntlich einer gewissen Disparität nicht entbehren, ließe sich zudem durch Einbettung derselben in einen „ontologischen Explikationsrahmen“ (64) beheben. Foucault selbst hätte dies freilich vermutlich abgelehnt.
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Im Anschluss an Foucault thematisiert A. die philosophische Anthropologie Helmuth Plessners. Aufbauend auf die beiden Prinzipien der exzentrischen Positionalität sowie der Unergründlichkeit des Menschen (66–74) wird Macht hier als „Kraft des Könnens“ (76) angesichts einer fundamentalen Offenheit des Menschen entworfen, sowie als Schöpfermacht, da der Mensch nicht nur geschichtlich bedingt ist, sondern stets auch „geschichtsbedingend“ (ebd.). Im Gestalten und Behaupten dieser Macht liegt für Plessner zudem eine politische Dimension (81–87). Ontologische Untermauerungsversuche lehnt allerdings auch er ab (84f.). Der umfangreiche Abschnitt zu Karl Jaspers entfaltet dessen Machtbegriff im Wesentlichen im Kontext dreier (freilich zusammenhängender) Komplexe, nämlich jenem der Grenzsituation (90–114), der existentiellen Kommunikation und ihrer politischen Implikationen (114–132) sowie schließlich vermittels Jaspers’ kritisch-produktiver Auseinandersetzung mit Nietzsches ‚Willen zur Macht‘ (132–138). Zwei Kritikpunkte sind an dieser Stelle anzubringen: Erst im letzten Absatz des JaspersKapitels wird dessen Chiffrenbegriff genannt, um anschließend wieder fallengelassen zu werden mit der Bemerkung, dass er „nicht weiter erörtert zu werden“ (137) braucht. Umso verwunderter ist der mit Jaspers nicht intensiv vertraute Leser, wenn A. in der Zwischenbilanz zwischen den Hauptteilen, aber auch im Fazit des Buches, recht unvermittelt ein Naheverhältnis zwischen Jaspers’ Chiffrenlehre und Tillichs Machtbegriff sieht (142f., 305f.), das insofern nicht gut nachzuvollziehen ist. Der zweite Kritikpunkt ist struktureller Natur: Man fragt sich bei der Lektüre, warum die vier vorgestellten Machttheorien in dieser doch keineswegs selbstverständlichen Reihenfolge präsentiert werden – Einleitung und Hauptteil geben hierzu keine Auskunft. Auch der stark divergente Umfang der Ausarbeitungen fällt auf (Foucault wird auf ca. elf Seiten abgehandelt, Jaspers hingegen auf ca. vierzig). Diese Kritik soll jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass A. im ersten Hauptteil insgesamt vier informative und dabei über weite Strecken schön zu lesende Porträts vorgelegt hat. Dabei versteht er es grundsätzlich, zuvor Gebrachtes an späterer Stelle dergestalt wieder aufzunehmen, dass das Verständnis erleichtert und ein Blick für das Ganze bewahrt wird. Der zweite Hauptteil der Arbeit widmet sich ganz dem Machtbegriff Paul Tillichs, aufgeteilt in zwei umfangreiche Kapitel: Zum sinntheoretisch fundierten Machtbegriff des religiösen Sozialisten Tillich einerseits (151–210) sowie zu dessen späterer (den Sinnbegriff freilich im Hintergrund behaltenden) Ontologie der Macht andererseits (211–301). Dieser Aufbau ist indes mehr als bloße Übernahme der althergebrachten Unterscheidung von Früh- und Spätwerk. Vielmehr, so A., kann gerade „an der Entwicklung des Machtbegriffs aufgezeigt werden“ (150), wie der Seinsbegriff im Denken Tillich allmählich den Sinnbegriff überlagert. Nach einem gelungenen werkhistorischen Überblick über „Kontext und Entwicklung des Machtverständnisses Tillichs“ (so die Überschrift des Paragraphen, 152–176)
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folgt das systematische Herzstück des Abschnitts zu Tillichs sinntheoretischem Machtbegriff (177–205). Verkürzt formuliert, propagiert Tillich ausgehend von Erfahrungen des Sinnverlusts eine „‚Seinsmächtigkeit der Dinge‘ als Kampfbegriff um die Wiederherstellung des Sinnes der Dinge sowie des Menschen und der Gesellschaft“ (191). In seinem religiösen Sozialismus wird dieser Anspruch zum politischen und sozialethischen Programm erhoben. Grundlegend ist für Tillich dabei der Gedanke, dass ‚Mächtigkeit‘ in abgestufter Form auftritt, wodurch sich Seiendes größerer Mächtigkeit (z.B. der Mensch) seiner Umwelt bemächtigen kann. In einer pointierten Gesellschaftsanalyse konstatiert Tillich auf diese Weise eine Entmächtigung der Dingwelt durch die ‚eroslose‘ instrumentelle Vernunft (193–197). Über die Begriffe der Begegnung bzw. Anerkennung erhält die Machttheorie Tillichs spätestens ab dem Ende der 1920er Jahre eine normative Komponente (200–204), die eingebettet ist in seine zeitgleich erstarkende Anthropologie vom Menschen als ‚endlicher Freiheit‘. Diese Freiheit macht den Menschen nicht bloß ‚mächtig‘, sondern ‚selbstmächtig‘ (197–200). An den Fragen nach Status, Struktur und Konsistenz der Ontologie Tillichs scheiden sich die Geister. A. versucht im weiteren Verlauf seiner Arbeit nicht nur, eine plausible und erhellende Rekonstruktion derselben zu liefern, sondern auch, den Ontologen Tillich vor seinen Kritikern zu verteidigen (z.B. 225, aber auch 212, Anm. 13). Und man wird immerhin zugestehen müssen: Die Ausführungen über die ‚ontologischen Schlüsselmotive des Machtbegriffs Tillichs‘ (221–256) bzw. seine ‚vierschichtige Ontologie‘ (überblickshaft 223) sind ein durchaus hilfreicher Wegweiser durch das Dickicht jener Seinslehre (über deren letztliche Stringenz hier indessen nicht entschieden werden muss). Manchmal verläuft auch A. sich im ontologischen Labyrinth, beispielsweise, wenn das ‚aus dem Nichts Kommen und ins Nichts gehen‘ mal dem ouk on (239), kurz darauf dem me on (241) zugeordnet wird. Dennoch vermag er die Grundlage für Tillichs ontologischen Machtbegriff gut nachvollziehbar darzustellen. Da das Sein nicht definierbar ist (258–260), stellt sich die Frage, wie etwas darüber ausgesagt werden kann. ‚Macht‘ ist Tillich zufolge die angemessenste Metapher, das Sein zu umschreiben (259f.). Hier kritisiert A. Tillichs Gebrauch des Metaphernbegriffs, da dieser Gefahr laufe, den „Machtcharakter des Seins“ (260) abzuschwächen. Um ebendiesen Machtcharakter geht es nun im weiteren Verlauf der Arbeit: So findet der Begriff der ‚Seinsmächtigkeit‘ Wiederaufnahme (261–263), bevor Überlegungen zu Tillichs Nietzscherezeption folgen (‚Macht als Selbstbejahung des Lebens‘, 263–272). Schließlich wird auf die machttheoretische Schlüsselrolle des Nichtseins hingewiesen (272–275), durch dessen Begrenzung des Seins schließlich erst Endlichkeit geschaffen und damit dynamisches Leben ermöglicht wird (und mit ihm Macht als Bejahung desselben angesichts des drohenden Nichtseins).
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In einer strukturellen Analogie zum ersten Tillichabschnitt endet auch der zweite mit begegnungs- und anerkennungstheoretischen Implikationen des nun ontologischen Machtbegriffs (275–280) sowie mit einem Kapitel zur Ethik der Macht (280– 301), das sich der Triade Liebe, Macht, Gerechtigkeit widmet und innerhalb dieser Konstellation den Gewaltbegriff als nicht identisch, aber auch nicht abtrennbar vom Machtbegriff etabliert (anders als z.B. Arendt und Foucault, vgl. 289 – die stellenweise im Tillichabschnitt angestellten Vergleiche zu einzelnen Aspekten der Machttheorien des ersten Hauptteils sind nebenbei bemerkt stets erfrischend). Der Schlussteil des Buches bringt zunächst Tillich mit den vier Machttheorien des ersten Hauptteils ins Gespräch (302–307). Obwohl A., wie bereits erwähnt, keinen Vergleich zwischen diesen und jenem anstellen möchte, wäre eine ausführlichere Zusammensicht an dieser Stelle wünschenswert gewesen (Arendt findet beispielsweise in lediglich einem Absatz von sieben Zeilen Umfang Wiederaufnahme). So stehen am Ende der Arbeit der erste und zweite Hauptteil etwas unvermittelt nebeneinander. Tillichs Machttheorie wird aufgrund ihrer ontologischen Fassung im Fazit als den anderen gegenüber tiefergehend bewertet, vermag sie doch Macht und Gewalt miteinander zu vermitteln und den Machtbegriff zugleich dennoch durch seinen Zusammenhang mit Liebe und Gerechtigkeit zu ‚entdämonisieren‘ (307–309). Nachdrücklich hervorzuheben ist der Schlussparagraph des Buches, ‚Tillich im Gespräch mit Afrika?‘ (309–315), der keinesfalls als zu überblätternder Anhang angesehen werden sollte. Diese lesenswerten Überlegungen erhellen nicht nur rückwirkend einige Bewertungen A.s, so beispielsweise seine wiederholte Betonung der Bedeutsamkeit eines Zusammenhangs von Macht und Gewalt und seine daraus resultierende Kritik an Arendt und Foucault als ‚realitätsfern‘ (308), sie möchten vor allem den Wert von Tillichs Ontologie der Macht mit ihrem Begriff der Seinsmächtigkeit und ihren anerkennungsethischen Konsequenzen gewissermaßen ‚in praxi‘ ausführen.
Friedrich Schumann
Sabine Joy Ihben-Bahl: Angst und die eine Wirklichkeit. Paul Tillichs transdisziplinäre Angsttheorie im Dialog mit gegenwärtigen Emotionskonzepten (= Dogmatik in der Moderne, Bd. 28), Tübingen: Mohr Siebeck 2020, 390 S. Wer sich heute zu einer akademischen Qualifikationsschrift über Tillich entschließt, steckt von vornherein in einem Dilemma. Erwacht das persönliche Interesse für den deutsch-amerikanischen Großtheologen meist in akademischen Seminaren zu den
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späten Hauptwerken (Mut zum Sein, Systematische Theologie), so hat sich in der Forschung die Einsicht durchgesetzt, dass sich „der späte“ kaum angemessen ohne „den frühen“ und frühesten Tillich verstehen lässt, dessen umfangreiches Opus, einschließlich zahlreicher unveröffentlichter Manuskripte, inzwischen editorisch gut erschlossen ist. Denn die oftmals zur Abbreviatur neigenden Schriften der amerikanischen Zeit variieren und modifizieren meist ältere und älteste Motive aus Tillichs deutscher Zeit, die sie voraussetzen, und erst unter Beibringung dieses werkgeschichtlichen Hintergrundes gewinnen sie inhaltlich Kontur. Wer sich aber auf die werkbiographische Hintergrundrecherche begibt, droht bald den Boden unter den Füßen zu verlieren. Tillichs frühes Schaffen ist weit und tief, und spätestens bei der Beschäftigung mit der genialischen Schellingphase vor dem Ersten Weltkrieg, deren Reflexionsformen und -gehalte bis heute nicht im Zusammenhang enträtselt sind, findet man sich in einem Sumpf wieder, aus dem man sich kaum mehr emporzuziehen vermag – jedenfalls nicht im Rahmen der üblichen Promotionszeit von drei, vier Jahren. Man hat als junger Forscher oder junge Forscherin folglich die Wahl: Entweder man begibt sich auf den langwierigen und mühseligen Abstieg in die teils morastigen Theoriegefilde der 1910er, 20er und 30er Jahre und erwirbt sich eine fundamentale Orientierung über Eigenart und Grundmotive des Tillich’schen Denkens – auf die Gefahr hin, gar nicht mehr zum ursprünglichen Ausgangspunkt des forschenden Fragens zurückzugelangen. Oder man versucht, geradewegs den reifen Ertrag von Tillichs Denkweg zu erheben und für die gegenwärtige Theologie auszuwerten – auf die Gefahr hin, ohne werkgeschichtliche Anreicherung mit einem nur halb verstandenen Extrakt seiner Ideen zu hantieren. Mit anderen Worten: Man hat sich zu entscheiden, ob man einen Beitrag zur werk- und geistesgeschichtlich orientierten Tillich-Spezialkunde liefern möchte, wenn man so will: zur Tillich-Forschung im engeren Sinn, oder ob man eine generalistische Tillich-Adaption für die Gegenwart anstrebt. Freilich ist diese Alternative nicht als ausschließendes Entweder-Oder zu denken, sondern eher im Sinne der Tillich’schen Lieblingsfigur der Polarität: Tillich-Arbeiten neigen demnach zwangsläufig mehr dem einen (werkgeschichtliche Rekonstruktion) oder mehr dem anderen Pol (systematische Adaption) zu, wobei die Extreme selbst realiter nicht vorkommen: Keine werkgeschichtliche Untersuchung gelingt ganz ohne systematischen Zugriff, und keine systematisch-theologische Evaluation kommt ganz ohne werkgeschichtliche Rückblenden aus. Die zu besprechende Arbeit, die unter Betreuung von Hans-Peter Großhans (Münster) angefertigt, im Herbst 2018 von der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Münster als Dissertation angenommen und 2019 mit dem Dissertationspreis der Theologischen Fakultäten besagter Universität ausgezeichnet wurde, geht hinsichtlich der bezeichneten Option einen klaren Weg. Die Verfasserin Ihben-Bahl will
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„Tillichs transdisziplinäre Angsttheorie“ in einen „Dialog mit gegenwärtigen Emotionskonzepten“ bringen (siehe Untertitel). Dieses Adaptionsinteresse zwingt zur bewussten Beschränkung, was die „Tillich-Philologie“ angeht. Es handelt sich dabei zweifellos um ein relevantes Interesse. Bekanntlich spielt die Angst als menschliche Grundbefindlichkeit eine Schlüsselrolle in der existenzphilosophisch geprägten Anthropologie des späteren Tillich, und andererseits ist dem entsprechenden Gefühl in der Renaissance der Emotionen in Philosophie, Kultur- und Lebenswissenschaften („emotional turn“) neue Aufmerksamkeit zuteil geworden. Daraus ergibt sich die instruktive Leitfrage des Buches: Lässt sich die „klassische“ theologische Konzeption Tillichs im Lichte der neueren Emotionsforschung für eine gegenwärtige „Theologie der Gefühle“ (Roderich Barth, Christopher Zarnow) fruchtbar machen? Die Grunddisposition der Arbeit ist mit dieser Themenstellung gesetzt: Nach einer knappen Einleitung (neun Seiten) wird in Teil A der „Angstbegriff Paul Tillichs“ behandelt (gut 250 Seiten). Dem folgt der wesentlich kürzere Teil B zur „Angst im Horizont gegenwärtiger Emotionsdebatten“ (75 Seiten), in dem bereits das Resultat des avisierten Dialogs festgehalten wird (auf sieben Seiten). Teil C schließlich formuliert allgemeinere „Theologische Konsequenzen“ (neun Seiten). (Dem ist noch ein „Ausblick“ mit „Überlegungen zur Sinnfeldontologie Markus Gabriels“ angehängt, der hier außer Betracht bleiben kann.) Tillichs Angsttheorie wird zunächst anhand von The Courage to Be (1952) referiert (A.1.), unter gelegentlicher Hinzuziehung von Sekundärliteratur, ansonsten aber ohne größere werk- oder geistesgeschichtliche Kontextualisierungen. Dem Tillich-bewanderten Leser werden in dem Abschnitt wenig neue Einsichten eröffnet. Es wird ihm aber einiges an Geduld abverlangt. Denn die Ausführungen sind nicht gut organisiert. Vieles wird in Form einer additiven Reihung von Gesichtspunkten ausgebreitet, ohne dass jeweils der Fokus der Argumentation klar wäre, so dass man beim Lesen leicht den roten Faden verliert. Anderes wird zu knapp behandelt, bleibt unerläutert und daher unscharf und oberflächlich. Beispielsweise tauchen der Begriff ultimate concern (38) oder die Grundunterscheidung von Essenz und Existenz (41f.) ohne explikative Einführung auf, als ob sie in Funktion und Gehalt mehr oder weniger selbstevident wären. (Im Übrigen wird gesagt, es gebe trotz der überragenden Bedeutung von Der Mut zum Sein „nur wenige detaillierte Untersuchungen dieser Schrift“ (9) – dass diese Bemerkung in der 2020 veröffentlichten Druckfassung der Arbeit stehengeblieben ist, ohne auf den 2018 erschienenen Band des Internationalen Tillich-Jahrbuchs zu selbiger Schrift wenigstens hinzuweisen, ist misslich.) Die nachfolgende Einordnung des Angstkonzepts in das ontologische System der Systematischen Theologie (A.2.) läuft auf die zentrale These hinaus, die Angst werde von Tillich als eine negative Bekundung des „Seins-Selbst“ und mithin als eigentümliches Gotteserlebnis gefasst. Das kann man in gewissem Sinne so beschreiben,
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allerdings wirft die ontologische Fassung der betreffenden Zusammenhänge auch gewichtige Fragen auf: Erhebt die Tillich’sche Ontologie den Anspruch, ein Wissen von der Wirklichkeit zu sein, in diesem Fall also ein Wissen darum, dass die Angst „letztlich“ (passim) „auf das Sein-Selbst verweist“ (183) bzw. „das Sein-Selbst offenbart“ (181)? Oder handelt es sich um ein Wissen, das nur „im Glauben“ (343) oder „im Horizont des christlichen Glaubens“ (346; vgl. 337, 339) zugänglich ist? Oder fungiert das Ontologische lediglich als die Sprachform zur systematischen Darstellung christlicher Erfahrungen, die unglücklicherweise dazu geeignet ist, im Sinne einer quasiwissenschaftlichen theologisch-metaphysischen Theorie über die Wirklichkeit missverstanden zu werden? Und: Wie genau verhält sich die ontologisch-anthropologische Reflexionsform von Tillichs Angstkonzeption (mit ihren philosophiegeschichtlichen Wurzeln unter anderem in der Husserl’schen Phänomenologie) zu den später thematisierten psychologischen Theorien? Ihben-Bahl berührt derartige Fragen zum Theoriestatus der Tillich’schen Ontologie lediglich en passant – entsprechend nebulös bleibt die Schlüsselthese ihrer Tillich-Deutung. Diese Unklarheit tangiert auch die sich hier schon anbahnende These des Buches, wonach auch heute eine gemeinsame ontologische Rahmentheorie nötig wäre, um ein produktives transdisziplinäres Gespräch über die Angst zu führen. (Warum die Verfasserin den Ausdruck „transdisziplinär“ dem Terminus „interdisziplinär“ vorzieht, wird von ihr nicht nachvollziehbar begründet; vgl. 53f.) Der Untermauerung jener These dienen zu einem Gutteil auch die nachfolgenden Erörterungen zu den einschlägigen Einflüssen auf Tillich (A.3.), namentlich den Philosophen Martin Heidegger und Sören Kierkegaard sowie dem Psychologen Rollo May und dem Neuropsychologen Kurt Goldstein. Tatsächlich war deren „transdisziplinärer“ Dialog von einer gemeinsamen Fragerichtung nach einer anthropologisch-ontologischen Generaltheorie getragen. Über diesen Dialog erfährt man indessen in den ausgiebigen Werkreferaten zu wenig, als dass daraus Impulse für ein gegenwärtiges Gespräch hervorgehen könnten. Und für das Tillich-Verständnis tragen sie wenig aus, weil sie nachklappen und daher eigentlich nur zuvor schon Ausgeführtes bekräftigen können. Insgesamt bestätigt der große Tillich-Teil der Untersuchung das oben beschriebene Dilemma: Wer – aus verständlichen Gründen – auf die werk- und geistesgeschichtliche (und zugleich systematisch orientierte) Rekonstruktion verzichtet, gerät fast unweigerlich in den Modus des bloßen Referats, das mangels vertiefter Rekonstruktionsleistung in der Regel zu äußerlich und unkonzentriert gerät, als dass das Referierte wirklich zur systematisch-theologischen Aktualisierung drängte. Auch Teil B zur neueren Emotionsforschung schlägt keinen neuen Darstellungsweg ein. Er referiert Werke aus der Sekundär- und Primärliteratur zum emotional turn generell und zu zwei ausgewählten Angsttheorien im Besonderen, ohne dass dabei
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die Ebene einer Auseinandersetzung auf der Höhe des Fachdiskurses erreicht würde. Dass dies bei einem so breiten Diskurs nur exemplarisch erfolgen könnte und dass damit hohe Ansprüche an den theoretischen Horizont der Untersuchenden gestellt würden, steht außer Frage. Gelingt es aber nicht, als Theologe oder Theologin auf Augenhöhe mitzudenken, führt die interdisziplinäre Arbeit nicht weit. Das wird am schmalen Resümee von Teil B deutlich. Es hält fest, dass sich die Angst anhand der neueren psychologischen Theorien, die Emotionen als Wahrnehmungen von Wirklichkeit auffassen, theologisch als Wahrnehmung der letzten Wirklichkeit, des Seins-Selbst oder Gottes, begreifen lassen. Die Angst „kann die transzendente Wirklichkeit wahrnehmen“ (337), sie ist „Transzendenzwahrnehmung“ (338). Stichworte aus der Emotionstheorie werden mit metaphysischen oder offenbarungstheologischen Anliegen kurzgeschlossen, ohne ein erkennbares Bewusstsein für die Inkommensurabilität der Theorieformen. Der damit erbrachte Erweis der Anschlussfähigkeit der Theologie an aktuelle wissenschaftliche Debatten wird allenfalls Theologinnen und Theologen überzeugen – und nur solche, die sich der Relevanz der eigenen Disziplin vergewissern wollen, ohne sich einen Schritt von deren eingespielten Selbstverständlichkeiten zu entfernen. Der neunseitige Teil C mit dem Gesamtresümee wirbt noch einmal für einen theologischen Sinn für die „Angst als Wahrnehmung der Wirklichkeit als Gotteswirklichkeit“ (349) sowie für eine angemessene kirchliche „Angstkommunikation“ (344). So werden die Tillich’schen Umformungsbemühungen zu guter Letzt mit Eberhard Jüngel und Gunther Wenz in die Koordinaten der geläufigen Lehre von Rechtfertigungsglaube und -verkündigung eingepasst: Der dreifachen Angst vor Endlichkeit, Sinnleere und Schuld sind demzufolge „drei trinitarisch begründete christliche ‚Zeugnisse‘ entgegenzusetzen“ (348), von Inkarnation, Passion sowie von Ostern und Pfingsten. Am Ende fragt sich der Leser, ob man zu diesen Schlüssen nicht auch auf kürzerem Wege hätte gelangen können.
Martin Fritz
Alexander Neupert-Doppler: Die Gelegenheit ergreifen. Eine politische Philosophie des Kairós, Wien/Berlin: Mandelbaum 2020, 310 S. In seiner politischen Philosophie des Kairós – wie es im Untertitel heißt – begibt sich Alexander Neupert-Doppler auf eine begriffsgeschichtliche Suche. Ziel ist es, „zu einer Definition des Kairós zu kommen, die diesen als Bindeglied zwischen Kritik und Utopie tauglich macht“ (9) und damit die „theoretische Lücke“ zu schließen, auf die in der Diskussion seiner beiden Vorgängerwerke „zur Kritik am ‚Staatsfetischismus‘
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(2013) und zu der Möglichkeit der ‚Utopie‘ (2015) hingewiesen wurde.“ (10) Allerdings geht der Verfasser nicht chronologisch von der Antike zur Postmoderne durch die Ideengeschichte des Kairósbegriffs, sondern nähert sich in drei Anläufen zeitgenössischen ‚Kairologen‘ im Rückgriff auf ihre Vordenker und untersucht sie auf ihr Potential, politische Transformationsprozesse denken zu können. Dabei reicht das theoretische Repertoire, aus dem der Verfasser schöpft, von Vertretern neomarxistischer Politikwissenschaft (Hardt/Negri), über die paulinischen Gemeindebriefe und antike Geschichtstheorie des Aristoteles bis zu Machiavellis Der Fürst. „Theorie ist nur Theorie, wenn sie praktisch orientiert ist.“ (15f.) Deshalb untersucht Neupert-Doppler anhand der Berliner Novemberrevolution 1918 und des Revolutionsgeschehens im Mai 1968 in Paris die Praxistauglichkeit der vom Verfasser analysierten Ansätze und was in den historischen Momenten fehlte, um die Gelegenheit zu gesellschaftlicher Transformation im Sinne der im Buch verhandelten Theorien zu ergreifen. Das erste Analysekapitel (34–92) von Alexander Neupert-Doppler beginnt mit Immanuel Wallersteins Weltsystemanalyse (35–50) und seinem Rückgriff auf Paul Tillichs Kairóstheorie, die Tillich in der nachrevolutionären Zeit des Ersten Weltkriegs entwickelt hat (58–82). Wallersteins Grundannahme ist, dass Weltsysteme, wie etwa der Kapitalismus, in Krisenzeiten überwunden werden können. Allerdings bricht der Kapitalismus in der Krise nicht von selbst zusammen, sondern bedarf eines „kairologischen Einschreitens“ (40) durch nur diffus bestimmte „Anti-System-Bewegungen“ (46f.). Wallerstein beruft sich in seiner Theorie explizit auf Paul Tillich. Neupert-Doppler hält dagegen fest, dass Wallerstein, der von einem derzeitigen „Dauer-Kairós“ (54) seit den 1970er Jahre ausgeht, lediglich von Tillichs Kairóstheorie inspiriert ist. Der religiöse Sozialist Tillich, der als „Drehscheibe der Kairóstheorie angesehen werden“ (58) kann, greift in seiner Geschichtsphilosophie „auf den Existentialismus, Paulus und den Kairós der Griechen“ (74) zurück. Er überträgt die Alltagsbedeutung des griechischen Kairós als kurzen Moment der Unterbrechung des Chronos und der messianischen Aufladung durch Paulus auf seine Zeit und entfaltet dadurch das politische „Potential der Kairósidee“ (83). Der historische Moment, aus dem heraus Tillich und seine Zeitgenossen Ernst Bloch und Walter Benjamin ihre utopischen und kairologischen Erkenntnisse entwickelten, wird im Kapitel über die Novemberrevolution 1918 anschaulich dargestellt (93–105). Während Anhänger der Marx’schen Theorie glaubten, lediglich auf den Beginn der sozialistischen Gesellschaft warten zu müssen (94f.), fehlte den ‚gegenwartsbewussten‘ Kairologen die „revolutionäre Fähigkeit, im Kairós selbst zu agieren“ (99). Die Sozialdemokratie ließ den Kairós der Zwischenkriegsjahre unerkannt verstreichen, denn „[d]ie Krise wird, wie Wallerstein sagt, dann zum Kairós, zum ‚Welt-Moment‘ […], wenn Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit auch vorhanden ist.“ (105)
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Diese fielen bei den sozialistischen Kräften der Weimarer Republik nicht zusammen und der Kairós verging. Die Bedeutung von Giorgio Agambens Kairologie für die heutige Diskussion verdeutlicht Neupert-Doppler unter Rückgriff auf Walter Benjamins Jetztzeit-These (130–134) und Paulus’ andauernden messianischen Kairós (161–182) im vierten Kapitel des Buches (106-182). Agamben geht es „weniger um den historischen Zeitraum, den Wallerstein Kairós nennt, in dem Entscheidungen zwischen Weltsystemen fallen, sondern um Zeitpunkte als gelebte Augenblicke.“ (110) Diese Erfahrung des gelebten Augenblicks – des Kairós – ist es, was Agamben bei Benjamin als Jetztzeit bezeichnet sieht. Benjamin selbst benutzt den Begriff Kairós nicht, aber sein Konzept der Jetztzeit als Denkfigur steht Tillichs Kairós nah (132f.). Für Agamben drückt der verkündete messianische Kairós der Paulusbriefe ein „kontemplatives Innehalten“ (167) im Vertrauen auf den kommenden Messias aus, dessen Zeit schon angebrochen ist. In Paulus’ „Distanz zur Welt“ (166) drückt sich für ihn ein Augenblick des „als-obnicht“ (167) aus, das bestehende Machtverhältnisse aussetzt und mit der klösterlichen Lebensform des Mittelalters vergleichbar ist. Agamben „will ein Handeln, das keine Möglichkeit verwirklicht, sondern gewohntes Handeln aussetzt.“ (182) Neupert-Doppler stellt fest, dass sich Agambens Kairósbegriff trotz seiner Rückgriffe auf Benjamin und Paulus, der „nicht so inaktiv [war], wie Agamben predigt“ (167), stark von beiden unterscheidet, da nach dem Kairós nicht das Neue, das Utopische eintritt, „sondern nur ein Unterbrechen der alltäglichen Routine, der Chronologie des Alltags“ (ebd.) gemeint ist. Was das Jahr 1918 für Benjamin und Tillich war, war für Agamben und Wallerstein das Jahr 1968. Im fünften Kapitel (183–198) konzentriert sich der Verfasser besonders auf den Mai 1968 in Paris. Mangels praktischer Protestentwicklung sieht er keinen Kairós in der deutschen Bundesrepublik, sondern lediglich „Theorie, Reflexion früherer Erfahrungen“ (184) – anders in Paris, wo die Mai-Bewegung eine rasante Eigendynamik entwickelte. Dort konnte die Theorie der politischen Linken durch die Situationistische Internationale in der Praxis Fuß fassen. „Was aber ausblieb, ist die tatsächliche Konstitution einer neuen Macht“ (193) und es fehlte „eine kairologische Organisations[theorie]“ (198), die die Revolte zur Utopie in Frankreich hätte werden lassen können. Im sechsten Kapitel (199–271) widmet sich Neupert-Doppler der Frage der Konstitutionalisierung neuer Organisationen und Institutionalisierungsprozesse im Kairós mit einem Einstieg in die Empire- und Commonwealth-Theorie von Michael Hardt und Antonio Negri (200–217). Sie konstruierten den Kairós als „stets erwartetes Ereignis“, in dem „die globale Multitude zum politischen Subjekt wird“ (205) und das Empire hin zum Commonwealth überwunden werden kann. Allerdings bleibt die Multitude als Träger des Kairósbewusstseins bei Hardt und Negri zu undifferenziert. Deshalb
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greift der Verfasser auf Spinozas Ausführungen zur Multitude zurück, um die Ambivalenz des Begriffes zu verdeutlichen (236–245), die Hardt und Negri auszublenden scheinen. Die Konstitution von Macht aus dem Kairós heraus erfordert zum einen Gelegenheiten und zum anderen Vorbereitung. Der Verfasser illustriert dies anhand Machiavellis Staatstheorie (251–271), auf den sich auch Hardt und Negri beziehen. Der Rückgriff auf Machiavelli macht dabei deutlich, dass „[d]ie Kairós-Zeit […] nicht einfach ein Geschenk der Götter [ist], sondern eine zu kalkulierende politische Größe“ (256), auf die man sich institutionell vorbereiten muss und die Gelegenheit zur Machtkonstitution bietet (263–267). Um den Kairós als einen „Faktor sowohl für Theorie als auch für Praxis“ (272) zu konzeptualisieren, begibt sich der Verfasser im abschließenden Kapitel (272–294) auf die „Spuren des Kairós in der Kritischen Theorie“ (272) und verortet seine aus den vorangegangenen Kapiteln gewonnenen kairologischen Gedanken innerhalb der Utopischen Theorie. Als Quintessenz seiner Analysen hält Neupert-Doppler fest: „KairósZeit meint die geistesgegenwärtige Erkenntnis und intuitive Erfahrung eines organisierten Subjekts, das die objektive Krise einer kritisierten herrschenden Ordnung, verbunden mit plötzlich auftretenden Handlungsoptionen, ein zeitlich begrenztes Gelegenheitsfenster öffnet, das es zur Konstitution einer zuvor utopischen, qualitativ neuen Ordnung nutzen kann, wenn es gut vorbereitet ist.“ (278) Mit Bloch macht der Verfasser deutlich, dass die meisten Kairologen vor einem „Organisationsproblem“ (287) stehen, und die Frage nach der Konstitution des handelnden Subjekts im Kairós stellt sich auch für heute. Können politische Transformationsprozesse aus Parteien heraus erkämpft werden, oder braucht es institutionell ungebundene Bewegungen als „Geburtshelferin des Kairós“ (ebd.)? Neupert-Doppler streift diese für die politische Praxis entscheidende Frage nur im letzten Unterkapitel und schließt mit der Einsicht, dass „für eine Organisationsform, die vielleicht eine neue netzwerkartige Kombination wäre“, die „Fundierung in Kritik, Ausrichtung auf Utopie und die Erwartung des nächsten Kairós“ (294) entscheidend sei. Durch die Fokussierung auf den Kairósbegriff gelingt es Neupert-Doppler, erstaunliche (geschichts-)philosophische Bezüge zwischen ganz verschiedenen Denkern aufzuzeigen. Allerdings führt die Darstellung des Theoriegeflechts aus Rückgriffen und das Herausarbeiten kongruenter Ideen der Vielzahl verhandelter Theorieansätze mitunter zu einem oberflächlichen Blick auf die teils komplexen theoretischen Strukturen. So kommt es zu scheinbaren Leerstellen in Tillichs ‚Kairologie‘: Zwar unterscheidet sich Tillichs Verständnis von Utopie als „Jenseits der Geschichte“ (62) grundlegend von Blochs konkreter Utopie. Doch auf die Frage, wie „das Hoffen auf Erfüllung des Kairós, mit der unmöglichen Verwirklichung von Utopie“ zusammenpasse, ist die Antwort, dass Tillich an „solchen Stellen nicht mehr als religiöser Sozialist spricht“ (61), sondern lediglich als „Theologe“, nicht befriedigend. Es wäre
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zu überlegen, ob Tillichs ‚Theonomie‘, die zwar erwähnt, aber nicht erläutert wird, ein Begriff sein könnte, der als Erfüllung des Kairós – auch ganz untheologisch – gedeutet werden kann. Insgesamt gelingt es dem Verfasser, den Kairós als Moment der politischen Praxis aus der politischen Theorie heraus zu etablieren, das Gelegenheit zu Transformationsprozessen eröffnet. Bei der Beantwortung der Frage, wer und wie diese Gelegenheit ergriffen werden kann und soll, bleibt Neupert-Doppler allerdings vage und präsentiert nichts über die diskutierten Theorieansätze Hinausgehendes. Er ist sich dessen jedoch bewusst und hat diese offenen Fragen bereits mit seinem Nachfolgewerk Organisation (2021 erschienen) aufgegriffen. Die Gelegenheit ergreifen gibt einen breiten Überblick über die Ideengeschichte eines politisch, philosophisch wie theologisch hochrelevanten Begriffs und wird dem Anspruch gerecht, durch ihn eine Brücke zwischen Kritik und Utopie schlagen zu können.
Gerrit Mauritz
Heiko Schulz (Hrsg.), Natur – Freiheit – Sinn. Drei Leitbegriffe religiöser Selbstpositionierung im Gespräch mit Paul Tillich, Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2020, 174 S. Der von dem Frankfurter systematischen Theologen Heiko Schulz herausgegebene Band Natur – Freiheit – Sinn. Drei Leibegriffe religiöser Selbstpositionierung im Gespräch mit Paul Tillich enthält die Frankfurter Paul Tillich-Lectures der Jahre 2017 bis 2019. Die drei Begriffe stehen sowohl für gegenwärtig in Philosophie und Theologie diskutierte Frage- als auch für grundlegende Problemstellungen im Werk Paul Tillichs. Konzeptionell ist der Band – ebenso wie die Frankfurter Paul Tillich-Lectures – so aufgebaut, dass er zu jedem der drei Leitbegriffe zwei Referate, ein philosophisches und ein theologisches, präsentiert. Auf diese Weise lotet der Band die Bedeutung von Tillichs Theologie für gegenwärtige Debatten und Fragen auf eine konstruktive Weise aus. Über Natur bzw. Naturalismus referieren Holm Tetens und Dirk Evers, über Freiheit Martin Seel und Elisabeth Gräb-Schmidt und über Sinn Volker Gerhardt und Heiko Schulz. Von letzterem stammt auch die Einleitung (7–27), welche in die Thematik des Bandes im Kontext der Frankfurter Vorlesungsreihe einführt sowie über die einzelnen Beiträge orientiert. Eröffnet wird der Band von Holm Tetens. Sein Beitrag trägt den Titel Wissenschaft ohne Metaphysik? Zur Kritik des Naturalismus als Daseinsform (30–45). Argumentiert wird gegen den Naturalismus, der in der Moderne zur dominanten Weltsicht wurde. „Die Grund- und Leitfrage der Metaphysik lenkt die Moderne nun von vornherein in eine ganz bestimmte Richtung: Ob und wie sich die Welt und die Stellung des Menschen in der Welt als ein vernünftiges Ganzes denken lässt, sei allein durch die
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wissenschaftliche Erforschung der Welt und des Menschen zu beantworten.“ (31) Wäre der Naturalismus aber alleingeltend, könne an einer Einheit und einem Sinn der Welt nicht mehr festgehalten werden. Tetens setzt deshalb dem naturalistischen Weltbild die Möglichkeit eines Theismus entgegen, um an dem Sinn der Welt festzuhalten. Während sein Beitrag nicht eigens auf Tillichs Überlegungen zum Thema eingeht und sich mit der Denkbarkeit eines Theismus begnügt, bezieht Dirk Evers in seinen Ausführungen zu Naturalismus als Haltung. Zum Streit zwischen religiöser und natürlicher Weltanschauung (46–84) diesen mit ein. Einsetzend mit einer begriffsgeschichtlichen Entwicklung des Stichwortes Naturalismus (47–55) wendet sich Evers sodann der Dialektik des Naturalismus (55–68) zu. Diese entlasse die Varianten eines liberalen oder pluralistischen Naturalismus, die in der Konsequenz zu dessen Selbstauflösung führen (66). Vor diesem Hintergrund diskutiert Evers die Theologie Tillichs als einen konstruktiven Umgangsversuch mit dem Gegensatz von Supranaturalismus und Naturalismus (68–76). „Gott und Welt gehören vielmehr durch eine ekstatische Beziehung zusammen, d.h. eine Beziehung, in der der schöpferische Grund die Freiheit der Geschöpfe hervorbringt und zulässt, um sie zugleich darin auf ihre eigentliche Bestimmung als mit ihrem schöpferischen Grund versöhnte und von diesem bejahte Geschöpfe anzusprechen und sie zu einem neuen Sein in seinem Geist beruft.“ (75) Der zweite Leitbegriff ist der der Freiheit. Religiöse und säkulare Konzeptionen der Freiheit diskutiert zunächst Martin Seel (86–99). Er geht von einem Verständnis von Freiheit als einer bestimmten Selbstbestimmung aus. „Ein freier Mensch ist jemand, der alles in allem oder trotz allem so lebt, wie er es aus eigenem Antrieb und eigener Überzeugung will.“ (86). Grundlage sowohl von säkularen als auch religiösen Freiheitsverständnissen sei Selbsttranszendenz (88–91), wobei religiöse Freiheit im Anschluss an Hans Joas als eine bestimmte Deutung der Selbstbestimmung verstanden wird. Damit stehen religiöse und säkulare Selbstbestimmung als unterschiedliche Deutungen der menschlichen Selbsttranszendenzstruktur nebeneinander. Demgegenüber arbeitet Elisabeth Gräb-Schmidt in ihrem Beitrag Symbol und Freiheit. Überlegungen im Anschluss an Ernst Cassirer und Paul Tillich ein explizit theologisches Freiheitsverständnis aus (100–123). Ihr geht es darum, dass mit „Beachtung der sinnlich-leiblichen Dimension des Menschen […] die Ermöglichungsbedingungen von Freiheit auf die Bedeutung der Religion bzw. Weltanschauung“ (101) hinweisen. Mit dem Leib kommt der Symbolbegriff ins Spiel, der vor dem Hintergrund von Luthers theologischer Anthropologie (102–107) anhand der Konzeptionen von Ernst Cassirer (107–113) und Paul Tillich (113–117) entfaltet wird. Religiöse Symbole, die bei Tillich gegenüber Cassirer in den Fokus treten, „sind solche, die die Reflexivität, Selbstbestimmung und damit die Freiheit des Menschen berühren, indem sie letztlich das unvorgreifliche Sich-Gegebensein des Menschen mittransportiert“ (115). In den Schlussbemerkungen des Beitrags wird dieser Gedanke aufgenommen und in einer Weiter-
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führung der Kantischen Ethik durch den Gedanken des Anderen anhand des Zusammenhangs von Macht, Religion und Freiheit thematisiert (117–123). Der dritte Hauptteil des Bandes ist dem Sinnbegriff gewidmet und bietet – im Unterschied zu den vorangehenden thematischen Blöcken Natur und Freiheit – zwei Beiträge, die sich mit Tillichs Sinnverständnis auseinandersetzen. Zunächst bietet Volker Gerhardt vor dem Hintergrund seiner eigenen Überlegungen zu Sinn und Religion in seinen Ausführungen zu Religion und Sinnerfahrung bei Paul Tillich eine eindrückliche Analyse von Tillichs sinntheoretischer Grundlegung der Theologie (126–150). Gerhardt legt den Finger auf den wunden Punkt von Tillichs Sinntheorie. Einerseits liegt das als Sinn bestimmte Unbedingte strukturell jedem Sinnbewusstsein bereits zugrunde und andererseits deutet Tillich in seiner Entwicklungskonstruktion der Geschichte die Moderne als Zeitalter des Sinnverlusts (132). Das führe im Resultat dazu, dass Sinn zwar ein Grundbegriff in Tillichs früher Grundlegung von Theologie und Religionsphilosophie ist, in deren Weiterentwicklung jedoch zurücktrete. Tillich nehme „den Begriff des Sinns nicht in den Kanon seiner tragenden Begriffe“ auf. „In der Unterscheidung von essenziellem (göttlichen) und existenziellem (menschlichen) Sein ist er [sc. der Sinnbegriff] zwar wirksam, hat aber keine eigenständige systematische Funktion“ (134). Der Marginalisierung des Sinnbegriffs in Tillichs Spätwerk setzt Gerhardt eigene Überlegungen zu einem sinntheoretisch fundierten Religionsverständnis entgegen, die von Sinn als Medium menschlichen Weltumgangs ausgehen (vgl. 139). Gegenüber dem Zuwenig an Sinn, welches Gerhardt bei Tillich konstatiert, findet Heiko Schulz bei diesem ein Zuviel an Sinn (vgl. 23f.). Das zu zeigen, ist das Anliegen seines Beitrags Trost oder Sinn? Zur eschatologischen Grammatik der christlichen Hoffnung (151–174). Religiöse Erfahrungen, so die These, seien zwar Sinnerfahrungen, aber nicht jede Sinnerfahrung ist religiös (vgl. 154). Begründet wird diese These in drei Schritten. Zunächst klärt Schulz die Semantik der Hoffnung (155– 160), sodann die eschatologische Grammatik der christlichen Hoffnung (160–171) und unternimmt auf der Grundlage dieser systematischen Klärungen abschließend eine theologische Rehabilitierung der Konvergenzthese Tillichs (171–174). Sinn – so das Resultat der Ausführungen – sei „keine genuin christliche Kategorie“ (170). Vielmehr sei die Existenz des Christen paradox (vgl. 166), da sie in der Ausrichtung auf das Eschaton, nicht aber auf den Sinn bestehe. In dieser Welt gibt es folglich zwar die Alternative von Trost oder Sinn, aber eben nicht im Eschaton. Gleichwohl unternimmt es Schulz im letzten Abschnitt seines Beitrags, Tillichs Sinnthese zu rehabilitieren, indem sie auf das Böse bezogen wird. Das Böse habe keinen Sinn, woran jede Theodizee scheitere. Doch es hört auf. Darin bestehe sein Sinn (vgl. 174). Der Band bietet weniger Beiträge zur Tillich-Forschung und -Exegese im engeren Sinne. Nur zwei Aufsätze widmen sich dessen Theologie und Religionsphilosophie in einer ausführlichen Perspektive. Aber das ist auch nicht das Anliegen der Frankfurter
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Paul-Tillich-Lectures. Diesen geht es darum, Tillichs Theologie und Religionsphilosophie mit zeitgenössischen Themen und Problemstellungen ins Gespräch zu bringen. Das dokumentiert der Band eindrücklich an den Themenfeldern Natur, Freiheit und Sinn.
Christian Danz
Sabrina Söchtig: Absolute Wahrheit und Religion. Der Wahrheitsbegriff des frühen Tillich und seine Beurteilung außerchristlicher Religionen (= Tillich Research, Vol. 19), Berlin/Boston: Walter de Gruyter 2020. 500 S. Die im Jahr 2018 vom Fachbereich für Geistes- und Kulturwissenschaften der Universität Kassel angenommene Dissertation von Sabrina Söchtig, die nun publiziert vorliegt, hat das Anliegen, Tillichs Frühwerk auf „Ansätze und Impulse“ zur Beantwortung religionstheologischer Fragestellungen zu untersuchen: „[W]ie ist [...] eine [positive] Würdigung [nicht-christlicher Religionen] möglich, ohne die eigene standortgebundene und damit gläubige Perspektive aufzugeben? Wie kann einerseits vermieden werden, dass ein Exklusivismus in einen religiösen Pluralismus umschlägt, der jeglichen Wahrheitsanspruch aufgibt? Und wie kann andererseits der Anspruch erfüllt werden, diesen eigenen Wahrheitsanspruch ohne Vereinnahmung zu vertreten?“ (11) Das Buch ist in vier Teile gegliedert. Im Anschluss an Teil I, die Einführung (1–26), folgt der umfangreichste Abschnitt der Studie, Teil II, welcher von der religionsphilosophischen Begründung des christlichen Wahrheitsanspruches (27–319) handelt. Im ersten Kapitel über den apriorischen Wahrheitsbegriff und die Methode der Religionsphilosophie (29–201) stellt S. Tillichs Religionsphilosophie als „eine Alternative zwischen Kant und Hegel“ vor, deren Aufgabe es sei, „die Notwendigkeit von Religion, als Princip der Erscheinungswelt“ aufzuzeigen (32). Das Wesen der Religion geht aus dem reziproken Verhältnis von Form und Norm hervor. Religion hat demnach drei Elemente in einem wechselseitigen Verhältnis zu enthalten: „abstraktes Denken, die praktische Realität der religiösen Formen innerhalb der Geschichte sowie das Konstrukt einer religiösen Norm“ (43). Es folgt ein werkgeschichtlicher Abschnitt, der sich dem religionsphilosophischen System Tillichs von 1911 bis in die 1920er Jahre widmet. Die Korrespondenz zwischen Tillich und Hirsch 1917/18 wird als sinntheoretische Umorientierung Tillichs wahrgenommen. So urteilt S., dass Tillichs „frühe Religionsphilosophie im System von 1913 noch im Absoluten als einem das System fundierenden Apriori gründet, was mit dem religiösen Prinzip zum Ausdruck gebracht wird“, während „in den 20er Jahren das Sinnbewusstsein des
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Menschen zum entscheidenden Systemanfang“ avanciert (49). Mittels eines Vergleichs der Religionsphilosophie-Vorlesung (1920) und der Religionsphilosophie (1925), in dem die Strukturbeschreibung des Sinnbewusstseins im Mittelpunkt steht, soll diese These weiter erhärtet werden. Es folgt die Betrachtung der geltungstheoretischen Grundlegung der Religionsphilosophie (81–97) Tillichs vor dem Hintergrund der Wertphilosophie des 19. Jahrhunderts. Das Ergebnis ist, dass Geltung für Tillich nur „in der Korrelation von Allgemeinem und Besonderen [sic!] im religiösen Vollzugsakt“ besteht. Mit anderen Worten: „Geltung entspricht nicht einem den Dingen anhaftenden, objektiven transzendenten Wert, sondern die Wahrheit kommt im subjektiven Akt zu sich selbst.“ (97) Im Zentrum der sinntheoretischen Präzisierung der Religionsphilosophie (97–126) steht die kritische Auseinandersetzung mit der Position von Christian Danz. Diese versteht S. so, dass Danz Tillichs Religionsbegriff eine „Projektionstheorie“ unterstelle. Dem entgegen plädiert S. für eine alternative Lesart, der zufolge das Denken über das Absolute keine Produktion des Subjekts ist, „sondern vom Absoluten selbst evoziert ist“ (103). Demzufolge falle die „Inklusion des Absoluten in den religiösen Vollzugsakt“ weg, welche für Danz eine „prinzipientheoretische Systemänderung“ ausmache (99), sodass S. zu dem Urteil kommt, dass die sinntheoretische Umorientierung keine neuen Aspekte in Tillichs System integriere (vgl. 126). Die anschließende Verortung der Religionsphilosophie im System der Wissenschaften (126–137) ergibt, dass nach „Tillich die gesamte geisteswissenschaftliche Arbeit bereits von einem normativ ausgerichteten Prinzip geprägt“ ist (137). Die Begriffe Form und Gehalt werden im Rahmen einer Klärung der erkenntnistheoretischen Voraussetzungen erläutert (137–148). Zu Beginn des Abschnitts zur Methodenreflexion (148–201) wird auf Tillichs Kritik zeitgenössischer Methoden (148–180) eingegangen. Vor dem Hintergrund der Schriften Hegels und Schleiermachers befasst sich S. mit Tillichs Kritik an deren Kantrezeptionen. Anschließend wird Tillichs kritisch-intuitive bzw. metalogische Methode „auf ihre beiden Bestandteile hin beleuchtet“ (182). Sie sind kongruent mit den beiden „kontradiktorische[n] Grundelemente[n]“ des Denkens: dem absoluten Sein, das dem Denken entgegensteht, und der „Erkenntnis der Relativität jeglicher bloß gedachter und vom Denken gesetzter Transzendenz“ (191). Die Religion wird als „Grenzerlebnis“ bestimmt, in dem sich der Mensch bewusst wird, dass er das reine Sein nie erfassen kann, da es stets durch die Bewusstseinsfunktionen als Form vermittelt ist (194). Das zweite Kapitel widmet sich der geschichtlichen Entfaltung des Wahrheitsbegriffs (202–314). Behandelt werden „Tillichs geschichtsmetaphysische Typenlehre der Religionen“, die Bewertung der geschichtlichen Religionen und die Frage, ob „die von Tillich postulierte Idealreligion (die Religion des Paradox’) in ihren wesentlichen Zügen inhaltlich der Christologie Tillichs entspricht“ (202). Die Architektonik der Religionstypologie (208–221) wird im Kontext der von Tillich genutzten Darstellungen der
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Religionsgeschichte entfaltet. Den Ausgangspunkt der Religionsgeschichte stellt die ,primitive Kulturreligion‘ und der Übergang zur ,autonomen Kulturreligion‘ (222–252) dar. Erstere zeichnet sich durch die Indifferenz von Sein und Denken aus; in ihr kommt es zur „unmittelbare[n] Rezeption des Göttlichen von Seiten des Menschen“ (246). Erst durch Emanation kommt es zur Differenz von Sein und Denken, sodass bestimmten Riten und Objekten Heiligkeit zugesprochen wird. Während S. bei Tillichs Einordnung der historischen Religion bis zum Abschnitt über den Durchbruch der Gnadenreligion im Augustinismus und im Urprotestantismus (272–285) deskriptiv arbeitet, handelt es sich im weiteren Verlauf um eine kritische Korrektur der religionstypologischen Einordnung Tillichs. Diese erfolgt vor dem Hintergrund der Schriften Augustins, Luthers und Calvins sowie dazugehöriger Literatur aus dem 21. Jahrhundert. An dieser Stelle ist fraglich, wie weit eine solche Kritik einen Beitrag für das Verständnis des Tillichschen Frühwerks liefert, insbesondere sofern kein Bezug auf die Literatur genommen wird, die Tillich vorlag. Das zweite Kapitel gipfelt in der Darstellung der Religion des Paradox’ als ideale Synthese (304–314). Jene bildet die Einheit aller religiösen Momente, sodass es zu „einer paradoxen Bejahung und Verneinung der bedingten Formen“ kommt (305). Dies ist aber aufgrund der Trennung im Bewusstsein nicht möglich, sodass sich der Durchbruch des Göttlichen nur über eine symbolische Deutung der Form ereignen kann. Das Christusbild repräsentiere dabei „das wesentliche Verhältnis zwischen Gott und Mensch“ (312). Teil III widmet sich der theologischen Begründung des christlichen Wahrheitsanspruches (322–439). Es wird festgehalten, dass sich Wahrheit erst in der Korrelation von Allgemeinem und Konkretem verwirklicht. Da sowohl das Allgemeine als auch das Konkrete vom Unbedingten getragen werden, vollzieht sich Wahrheitserkenntnis „als Richtung des Menschen auf das Unbedingte“ (344). Es folgt ein Abschnitt über den Mythos als Erschütterung und Umwendung des Erkenntnisaktes (347–352), in dessen Zentrum die Unterscheidung von Grundoffenbarung als dem allgemeinen Offenbarungsmoment und der Heilsoffenbarung als dessen konkretem Pendant steht. Die Interdependenz beider Momente ist das Charakteristikum jeder Offenbarung. Im Anschluss wird die Wirklichkeit Gottes im symbolischen Akt (352–363) thematisiert, welche in einer Kritik von S. an der Tillichschen Symboltheorie endet. Dieser zufolge erschöpft sich „[d]ie Erschließungsfunktion des Symbols [...] in einer Hinweis-Funktion, die jedoch nicht die Realität Gottes positiv aufzeigt, sondern bei der Einsicht haltmacht, dass das Unbedingte mehr ist als das nur Bedingte und dieses notwendig übersteigen muss“ (360). Fortgefahren wird mit der Entfaltung der Dogmatik als Zeugin von der vollkommenen Offenbarung (363–379). Als indirekte Rede vom Unbedingten geht die Dogmatik von der „Wesensverknüpfung von Gott und Mensch“ aus, die sich aus der Schöpfung ableiten lasse (365). S. kritisiert an Tillichs anthropolo-
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gisch-schöpfungstheologischer Konzeption mangelnde Christozentrik (vgl. 367). Anschließend wird herausgearbeitet, dass „das Wesen als ein Prinzip des Christentums nicht identisch mit dem Christentum als Religionsgemeinschaft [ist], sondern [...] eine Verwirklichungsform des Unbedingten (und so der vollkommenen Offenbarung) in der Geschichte“ bedeute (371). Für die Beurteilung der nicht-christlichen Religionen vom Standpunkt der vollkommenen Offenbarung (379–399) hat dies zur Folge, dass alle Religionen als Voraussetzungen des Durchbruchs des Unbedingten zwar notwendig, gleichzeitig aber auch relativ sind. Zum Schluss von Teil III wird Christus als Realisierungsort der vollkommenen Offenbarung (399–432) thematisiert. Den Kern der Tillichschen Christologie sieht S. in der „im Christusbild enthaltenen Abwehr einer Dämonisierung [...] und Profanisierung“ (400). Dem historischen Jesus wird für den christlichen Glauben keine Relevanz zugemessen, da die Geschichte „in der Überlieferung stets Umformungen unterworfen ist, die das ursprünglich Angeschaute verfälschen“ (411). Stattdessen geht es Tillich um das Christusbild als „Medium für unser Ergriffensein vom UnbedingtSeienden“, wobei die Deutung selbst vom Unbedingten evoziert wird (426). Real am Christusbild ist demnach lediglich „die Wirkung der im Glauben angenommenen Heilsmitteilung Gottes an den Menschen“ (427). Außerchristliche Religionen können den Durchbruch des Unbedingten entweder durch die Aufnahme des Christusbildes, also Bekehrung, erfahren oder indem sie „im Laufe ihres religionsgeschichtlichen Prozesses an den Punkt geführt werden, an dem sich Gottes Wirklichkeit [...] in einem sich in ihrer Tradition vorgeformten Symbol, welches sich auf einen historischen Träger beruft, widergespiegelt finden“ (432). Teil IV kondensiert die Ergebnisse der Analyse und untersucht diese auf ihr Potential zur Beantwortung der anfangs gestellten Forschungsfragen. Er setzt mit der Bestätigung der Kernthese ein, welche „behauptet, der Religionsphilosophie sei eine implizit christologische Perspektive eigen“ (443). Deshalb sei die Religionsphilosophie „als eine Art Kryptotheologie“ zu bezeichnen (444) bzw. „als negative Theologie oder auch Negativitätstheologie“, da „das in der Theologie positiv gewendete Verhältnis von Gott und Mensch“ auf der Einsicht gründet, dass Gott unfassbar sei (451f.). In ihrer Analyse sieht S. auch die These bestätigt, dass es im Denken Tillichs seit seinen frühesten Arbeiten zu keinem Systemwandel gekommen sei. Zum Schluss werden Impulse für den religionstheologischen Diskurs im Anschluss an die von S. christozentrisch verstandenen Gedanken Tillichs herausgearbeitet. Tillichs Systemkonzeption versteht S. „als Vorläufer und Wegbereitung eines mutualen Inklusivismus“ (472). Die Vereinnahmung anderer Religionen erfolgt demnach von einem konkreten Standpunkt aus unter Berücksichtigung der Partikularität desselben. Da dies im Christusbild integriert ist, lasse sich die Christologie im Anschluss an Tillich in den Fokus der
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religionstheologischen Diskussionen rücken (vgl. 463). In der Ablehnung von absoluten Haltungen und einer „Offenheit und Toleranz gegenüber divergierenden und pluralen Weltanschauungen“ erblickt S. die Relevanz Tillichschen Denkens für den modernen Religionsdiskurs (468). Insgesamt legt S. mit ihrer Studie eine neue Perspektive auf das Frühwerk Tillichs vor, in der sein System als Vorreiter eines mutualen Inklusivismus charakterisiert wird. Positiv hervorzuheben ist das Bemühen, die Gedanken Tillichs in seinem geschichtlichen Kontext zu verstehen. Fraglich ist aber, wieweit es sich bei den christozentrischen Gedanken Tillichs nicht um eine Überspitzung von Seiten S. handelt. Plausibler erschiene, dass Tillich sein anthropologisch-schöpfungstheologisches Offenbarungsverständnis – als Reaktion auf die Auseinandersetzung mit Karl Barth (vgl. Main Works IV, 91–112) – durch die Unterscheidung von Grund- und Heilsoffenbarung erst mit einer Christologie verzahnt. Dennoch bringt S. in Absolute Wahrheit und Religion gerade aufgrund ihres alternativen Tillichverständnisses einige spannende Aspekte ans Licht, die in der Erforschung des Frühwerks Beachtung verdienen.
Emil Lusser
Thomas G. Bandy (Ed.): Why Tillich? Why Now?, Macon/GA: Mercer University Press 2021, 317p. The volume edited by Thomas G. Bandy constitutes a significant and indispensable contribution to Tillich’s research. It has the merit of interfacing Tillich’s thought with a myriad of themes and problems characteristic of the democratic societies of our time. With this, not only are the limits of his thought named, but also his enduring relevance. Tillich’s thinking appears confronted by problems ranging from the context of higher education to gender issues, from environmental ethics to political crises, and from chemical dependency to new forms of spirituality. In what follows, I will briefly present the central aspects of the chapters that structure the work. Section I, ‘Why has Tillich Endured?’, opens with Adam Pryor’s chapter “Needing Tillich Now More than Ever Before.” Pryor emphasizes the method of correlation and the concepts of justice, kairos, and Spiritual Presence to foster new horizons, although not necessarily theological ones, for interdisciplinary work in the context of liberal arts education (11–12). Frederick J. Parrella draws attention to the importance of the method of correlation, the theology of culture, and Tillich’s treatment of Protestant principle and Catholic substance for today’s undergraduate classroom. According to Parrella, “Tillich’s thought offers a desirable alternative to the theological polarization of our time: between a secular modernity devoid of transcendence on one
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side and an uncritical, anti-intellectual, fundamentalist neoorthodoxy on the other” (29). Closing the first section, Mary Ann Stenger offers a critical reading of the diagnosis presented by Tillich in The Courage to Be. According to Stenger, Tillich’s theology needs revision because, today, “the more widely experienced anxieties” are not ‘guilt and doubt’, but rather “fate and death and the related anxiety of injustice and oppression” (47). Section II ‘Tillich and Theology’ opens with a chapter by Christian Danz on “The Significance of Paul Tillich’s Christology for Contemporary Discussions.” Against the backdrop of the history of the work, Danz demonstrates how Tillich rejects both the historical Jesus and the kerygma as the starting point of his Christology. For Danz, Christology is constructed by Tillich from the interface between “fact and reception” (51). Daniel Boscaljon’s contribution employs the concept of ultimate concern to thematize the marginalized community of addicts. From an analysis of the “community of recovery,” Boscaljon unfolds the symbol of anonymity as a power greater than ourselves that can restore us to sanity. As Boscaljon states, “this power is anonymous, shorn of the Christian identity important to the founders and architects of twelve-step groups” (70). In “New Materiality, Spirituality, and Leadership,” Jari Ristiniemi analyzes the notion of spiritual leadership, thematizing the idea of spirituality in the light of the concept of “new materiality.” For Ristiniemi, there is a congruence between the “new materiality” and Tillich’s ideas about personal, creative, and spiritual leadership. As Ristiniemi states, “Tillich’s understanding of authentic spirituality starts with the human situation and human experience of estrangement, ambiguity, and contradiction. Critical thinking has two tasks: to analyze the present and to conjure alternatives for the future” (92). Section III, ‘Tillich and Religions’, is opened by Bin Song’s chapter, “The Utopian Seed of Modern Chinese Politics in Ruism (Confucianism) and its Tillichian Remedy.” Tillich’s concept of Spiritual Presence is unfolded as a powerful antidote to the Ruist type of moral utopianism that affirms the complete realization of an ideal of human life for specifically cultivated persons and at specific life moments. On the other hand, Tillich’s philosophy of history works as a “powerful corrective to the Maoist-Marxist type of historical utopianism that affirms the full realization of a perfect state of human history relying upon the inculcated knowledge and will of each individual” (109). In his chapter, Kirk R. MacGregor draws a parallel between Tillich’s theology and “Shin, or True Pure Land, Buddhism.” For MacGregor, the concept of the New Being functions as a fundamental interpretive key. As the author states, “The life of Shin Buddhists is one of compassion (karuna), derived from their attitude to accept everything as it is not so that it can stay as it is but so that it can participate in Buddha nature, overcoming its existential estrangement” (123). Closing the section, Bradford McCall’s chapter on “Mystical Immanence and Divine Involvement in an Evolutionary
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World” vindicates radical panentheistic immanence, seeing Tillich as an important conversation partner. For McCall, Tillich’s understanding of the true nature of God as being-itself and the power of being “enables us to take a first step towards solving the problem of the transcendence and the immanence of God, for ‘as the power of being, God transcends both every being and also the totality of being’” (133). Thomas G. Bandy’s chapter “Tillich and the Rise of Personal Religions” opens section IV, ‘Tillich and Popular Culture’. Bandy explores the theonomic tension between a culture that forces “religion to become more personal than institutional” and the Spirit that drives “individual spiritualties to become less personal and more communal.” According to Bandy, “Tillich might value personal religion as a step toward what he called ‘Religion of the Concrete Spirit’” (162). Sharon Burch offers an analysis of the method of correlation, pointing out that Tillich “explicitly endorsed the panentheistic view of God” which defines the concept of God as “at once both transcendent and immanent” (164). With an emphasis on a practical and ministerial application of the method of correlation, and with particular attentiveness to the normative criterion represented by the New Being as Jesus as the Christ as our ultimate concern, Burch refers to the importance of Bandy’s works to point out “the seriousness with which the field of theology takes the challenge to existential questions of our time” (172). For Burch, “Ministry is responsible for speaking a word of hope to the existential anxiety of human beings and alleviating the loneliness and despair of historical existence – with the assurance that the ‘something further’ that they intuit, and in some sense know they belong to, is indeed worthy of faith” (173). Closing the section, Benjamin J. Chicka explores the political and moral significance of video games through an analysis of their theonomous and depth dimension. For Chicka, the “power of a video game is not that it offers an escape to an alternate digital reality, but that it is another way to discern ultimate meaning” (182). Section V, ‘Tillich and Science’, begins with Jeremy D. Yunt’s chapter on “Paul Tillich’s Relevance to Ecophilosophy and Environmental Ethics.” Taking up Tillich’s critique against the growing drive of scientific reason toward scientism, Yunt manages to demonstrate with convincing arguments how Tillich’s reflections on ‘Life and Spirit’ not only anticipate insights from deep ecology and ecopsychology but also provide a unique contribution to ecological ethics (198). For Yunt, Tillich’s analysis of the multidimensional unity of life as well as his treatment of the inorganic and organic dimensions of life, “should lead us to question our personal stances toward the natural world, and thus expand our sense of moral subjectivity beyond the socio-personal to include a valuation of life in its totality” (203). Pamela Cooper-White seeks to demonstrate not only the influence of psychology on Tillich’s thinking but also his legacy in psychology, especially in existential psychotherapy, pastoral counseling,
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and in methodology in pastoral and practical theology through his ‘method of correlation’ – here understood, in agreement with David Tracy, as a method of “mutual critical correlation” (218). Devan Stahl, concluding the section, presents reflections on Tillich’s importance to theological bioethics. Stahl demonstrates how the method of correlation, as well as the metaphysical perception of the question of being and the depth dimension of humanity, provide an opportunity for theologians to be “deeply and profound prophetic by marching against the tide of the medical machinery” (229). “Tillich’s Influence on Pastoral Social Work,” by William G. Ressl, opens section VI, ‘Tillich and Society’. Based on Tillich’s text The Philosophy of Social Work, Ressl demonstrates how “social work, as an action grounded in Spirit, is a transformative process within a therapeutic relationship.” For Ressl, just like Tillich’s life on the boundary and his living legacy as a self-reflective interdisciplinary professional reveal, pastoral social work “begins in the simple act of being reflective of one’s own reality and then being present in relationship with others, so that ultimate healing may occur for self and others” (245). Rachel Sophia Baard demonstrates how the Protestant principle and prophetism are elements Tillich shares with feminist theologians. Despite the distance and even incongruences between Tillich’s thinking and feminist and mujerista theologies, Tillich’s method of correlation, his spatial metaphor for God as the ground of being, and his concept of kairos offer potential for the feminist restatement of sin in terms of either pride or self-loss (252). Closing the section, Zachary Royal offers a dialogue between Tillich’s theology of culture and James Cone’s black theology. For Royal, black theologians can wed “Schelling and Marx, as Tillich did, to construct a black theology that addresses the poor and oppressed” (274). Furthermore, by drawing on the Tillichian reception of Schelling, as well as upon Schelling’s Freiheitsschrift and Die Weltalter, correlating Tillich and Cone in the twentieth-first century can help black theologians to “revisit the notion of the Trinity, constructing a triune metaphysics that provides a philosophical foundation for contextual theology” (275). Section VII, ‘Tillich and Politics’, opens with the chapter “The ‘Boundary’ in Paul Tillich’s Sociopolitical Thought,” by Matthew Lon Weaver. Based on the 1939 text Religion und Weltpolitik, Weaver makes an immanent reading of Tillich’s repudiation of National Socialism based on the claim for a world politics as world-politics (280). Running through Tillich’s speeches for the Voice of America in 1942, articulated on the dual axis of orientation and action, Weaver reveals Tillich’s prophetic critique of National Socialism, his appeal to the rejection of propaganda, and the recognition that embracing “truth required a deep inner strength that he sensed was growing in Germany” (292). For Weaver, the importance of Tillich’s voice today lies in the realization that his prophetic position in the ‘boundary between home and alien land’, aligned with his perception that humanity experiences truth in a fragmentary way and that
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idolatrous insularity remains tempting, still speak to the boundary situations in which “refugees, immigrants, and citizens experience today” (293). Ronald H. Stone, closing the section, follows the trajectory of the kairos concept in different contexts of political oppression and prophetic criticism: the Peacemaking program of the Presbyterian General Assembly (297–98), the Kairos Document of South Africa (298–99), the Kairos Central American document of 1988 (299–301), the 1989 document Road to Damascus, Kairos and Conversion (301), the Kairos Europa (301–02), the Kairos Palestine (302– 04), and finally the Union Theological Seminary’s Kairos Center, launched in 2013 (305). The book concludes with a beautiful ‘Afterword’ entitled “Hope for Our Times: Why Paul Tillich Remains Relevant,” by Echol Nix. In the wake of Erdmann Sturm, Nix demonstrates how Tillich’s theology, despite its abstract character, resonates in his three-volume books of sermons in such a way as to make the Christian message relevant to his time. According to Nix, “each of the three volumes seeks to communicate the Christian message so that contemporary men and women can discover and rediscover the relevance and ultimate significance of Jesus as the Christ. Jesus as the Christ or as the bearer of the New Being is the final revelation that judges every other revelation” (312).
Fábio Henrique Abreu
Ronald H. Stone, The Ethics of Paul Tillich, Macon, Georgia: Mercer University Press 2021, 228 pp. The Ethics of Paul Tillich by Ronald H. Stone (hereafter S.) is the first monographic account in English of Tillich’s social-ethical and social-philosophical thought. Stone, a student of Reinhold Niebuhr and John Witherspoon Professor Emeritus in Christian Ethics at Pittsburgh Theological Seminary, is one of the leading experts on Tillich’s work in the United States of America. Several years ago, he published a comprehensive account of Tillich and Niebuhr entitled Politics and Faith. Reinhold Niebuhr and Paul Tillich at Union Theological Seminary (Macon 2012). For the volume on Tillich’s ethics, he drew not only on his published writings, but extensively consulted Tillich’s legacy held at the Andover-Harvard Theological Library in Cambridge, MA. The book consists of twelve chapters, some of which have been published elsewhere and are revised here (see IV). “This book follows [Tillich’s] major social writings from the time of his exile from Hitler's Germany, but it will adopt as principles of interpretation of his ethics the perspective of these later writings.” (IX) Fundamental aspects of Til-
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lich’s social ethics are addressed, such as his relationship to Reinhold Niebuhr’s social ethics, but also the relationship of Tillich’s own religious socialism to Latin American liberation theology, and his commitment to peace. The volume opens with the chapter Ethics and Morals (1–10), which introduces its topic and gives an overview of Tillich’s ethical thinking. S. reads Tillich’s ethics as a “principled-situationalist ethic” (1). Already the introductory chapter brings into focus the concepts of justice and love, toward which the presentation of Tillich’s ethics is oriented. “For Tillich justice means ‘Creative justice’ and in Christian theology it is grounded in agape which means overcoming relativism and seeking reunion with the other and God.” (9) This sets the framework within which S. explicates Tillich’s social and ethical thought (cf. 10). The following chapters, Conversations in Religious Socialist Circles (11–36), Tillich and Niebuhr on the Jewish Question (37–57), On the Boundary: Protestantism and Marxism (58–73), Resistance to the Third Reich (74–94), Critique of John F. Dulles’ Commission on a Just and Durable Peace (95–109), and Power in the Context of the American Empire (110–126), illuminate Tillich’s religious socialism in historical and contextual perspectives. Beginning with the Berlin Kairos Circle (cf. 12– 16), S. outlines the main features of Tillich’s religious socialism and its ethical implications and consequences. The guiding question for Tillich was, “How can we affirm action for decisive change without surrendering to the enthusiasm of the activists?” (13) The further stages of Tillich’s career are reported in detail, such as his time in Frankfurt am Main (20–32), and his emigration to the United States of America in 1933. The political and social background of Tillich’s activities in the various networks in the United States are particularly informative. Shortly after his arrival in New York, Tillich became a member of The Fellowship of Social Christians through the mediation of Reinhold Niebuhr (32–36). “The work of the fellowship was that of social theology, and its political and economic commitments were in terms of socialism. The group was non-communist but understood itself to be in debt to Karl Marx in terms of social philosophy, if not metaphysics.” (33). For the further development of religious socialism, emigration to the United States of America meant a profound break. Because of the different social conditions in Germany and America, as S. makes clear, Tillich’s religious socialism in his new homeland came to nothing, as it were (cf. 31). Nevertheless, Tillich held on to his religious socialism in a modified form and still considered it a viable third way for Germany after World War II. The other chapters examine Tillich’s attitude toward the founding of the state of Israel after World War II, his use of the Old Testament prophets for his concept of Protestantism, religious socialism in his relationship to Karl Marx and Marxism, and his involvement in the struggle against the Third Reich. In detail, S. traces Tillich’s view of geopolitical developments in the 1930s up to the entry of the United States into
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the war (75–77), discusses his statements on war aims, his radio speeches to German friends, which Tillich delivered between 1942 and 1944 (80–85), and his role in the Council for a Democratic Germany (87f.). These considerations are deepened by Tillich’s criticism of John F. Dulles’ Commission on a Just and Durable Peace (95–109) as well as a discussion of Tillich’s understanding of power. The latter is discussed in a work-historical (werkgeschichtlichen) overview from Socialist Decision to the late writing Love, Power, and Justice. “Power as the power of being is central to everything Tillich writes theologically, and power, sociologically, is central to everything he writes sociologically.” (123) Chapter eight, Religious Socialism and Liberation Perspectives on Justice (127– 146), deals with the reception of Tillich's religious socialism in South American liberation theology. It is true that in the writings of many liberation theologians, Tillich’s work is hardly noticed, but, as S. points out with regard to Gustavo Gutiérrez, in the connection to the thinking of Karl Marx and in the leading concept of justice, there are parallels. Both Tillich and Gutiérrez “require socialism to be open to full religious expression of the people. Both of them are indigenous, we may say, existentialistic thinkers. Together they reveal different forms of Christian-oriented reforms of society which the world needs for its health.” (146) The following chapter, Tillich’s Kairos and its Trajectory (147–162), traces the history of the impact of Tillich’s historical-philosophical category of kairos in various church documents such as the Peacemaking call of the Presbyterian General Assembly, the Kairos Document of South Africa, and others. Tillich, Niebuhr, and Bennett on the Bomb (163–175) is the topic of the tenth chapter. It gives an overview of Tillich’s opinions on the atomic bomb, which follow his conception of a just war. Along with Reinhold Niebuhr and John C. Bennett, Tillich was a member of the Federal Council of Churches’ Commission in 1950. “Tillich shared the dilemma of the church statements following the bomb that rejected total war but did not completely renounce the bomb.” The eleventh chapter, Ethics and the Encounter with Other Religions (176–189), is devoted to Tillich’s theology of religion and its ethical implications. The focus here is primarily on Tillich’s Bampton Lectures, which are read as a component of Tillich’s ethics of peace. “His quest for peace requires cooperation and understanding dialogue among the world religions.” (177) The concluding twelfth chapter, Late Ethics: Critique and Projection (190–214), traces the ethical conception in Tillich’s late work. Discussed are Systematic Theology (190–195), Morality and Beyond (195–198), and My Search for Absolutes (198–206). Overall, S. has presented a multifaceted study of Tillich’s ethics, which is oriented to his major works, but also includes numerous smaller occasional texts and lectures. What becomes clear is that “Tillich’s ethics are constituted by continuity and change.” (190) It is particularly revealing that the temporal-political backgrounds and constellations are included in the discussion of Tillich’s ‘principled-situationalist ethic’
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throughout. In this way, a good overview of his socio-philosophical and socio-ethical thinking in the horizon of a religious socialism emerges. Although this weakened in the United States, the development of the guiding concepts love, power, and justice Tillich held throughout his life.
Christian Danz
Klaus-Michael Kodalle, 1933 – Die Versuchung der Theologie, Berlin: Duncker & Humblot 2022, 150 S. Das anzuzeigende Buch 1933 – Die Versuchung der Theologie des an der Universität Jena lehrenden und inzwischen emeritierten Philosophen Klaus-Michael Kodalle (im Folgenden K.) thematisiert sechs protestantische Theologen aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts im Schatten des Nationalsozialismus. Er verzichtet von vorherein auf den moralischen Gestus des später Geborenen, denn aus dieser Perspektive „entsteht ein eigentümlich lineares Geschichtsbild, welches – fixiert auf das entsetzliche Geschehen des Zivilisationsbruchs (Holocaust/Shoa) – sich das Verständnis für die Komplexität des Geschichtsprozesses und damit auch für das wirkliche Verstehen der Umbruchphase 1932/33 verstellt“ (9). Dadurch ergibt sich eine faszinierende Studie über die Ambivalenz von theologischen Texten im Horizont des Zeitgeistes vom Anfang der 1930er Jahre. Das vorliegende, gut zu lesende Buch reiht sich in andere Publikationen des Verfassers zur Theologiegeschichte der Weimarer Republik ein, die ihn als Kenner nicht nur der philosophischen, sondern auch der theologischen Debatten ausweisen. Behandelt werden in der Untersuchung Paul Tillich, Emanuel Hirsch, Karl Heim, Hans Michael Müller, Gerhardt Kuhlmann und Erik Peterson. Gemeinsam ist diesen Autoren, dass sie sich in ihren Werken auf eine affirmative Weise auf Sören Kierkegaard bezogen haben. Ihre Kierkegaard-Rezeption rückt K., der sich selbst intensiv mit dem Denken des Dänen beschäftigt hat, in den Fokus. Doch wenn „keine andere Theologie so sehr gegen jede Formation des Kollektivwahns immunisiert“ (47) wie die des nonkonformistischen Denkers aus Kopenhagen, wie kommt es, dass die sich in den 1920er und 1930er Jahren auf Kierkegaard berufenden Theologen in den nationalsozialistischen Massenwahn abgleiten? Herausgearbeitet werden folglich die Schmittstellen, an denen das nonkonformistische Existenzdenken dieser Theologen sistiert und ins Allgemeine einer Ontologie umgebogen wird und sich dem nationalsozialistischen Zeitgeist anbiedert. Auch Paul Tillichs Existenztheologie, mit der die Studie einsetzt, ist ambivalent und vom Zeitgeist infiltriert (Paul Tillich: Auf der Grenze, 15–45). Tillich, der zu den ersten nicht-jüdischen Hochschullehrern gehörte, die von Nazis aus ihrem Amt gejagt
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wurden und 1933 in die USA emigrierte, war freilich kein Sympathisant oder Parteigänger des Nationalsozialismus. Dennoch ging seinem Entschluss, Deutschland zu verlassen, ein langes Zögern voraus (15–19). Noch 1933 hoffte Tillich auf einen Lehrstuhl für Systematische Theologie in Berlin. Seine wichtige Schrift Die sozialistische Entscheidung, 1933 erschienen und sogleich von den Nazis verboten, ist alles andere als eine entschiedene Absage an den Nationalsozialismus. K. arbeitet diese Ambivalenzen und ihre systematischen Weichenstellungen im Werk Tillichs heraus. Zwar baut Tillich in den 1920er Jahren seine Theologie existenzphilosophisch um und beruft sich hierbei auch auf Kierkegaard, den er bereits während seines Studiums in Halle gelesen hat. Doch in „theologisch zentralen Hinsichten“ wendet er sich „mit bedenklichen Konsequenzen“ von dem Dänen ab. „Tillich ist nicht ein Mann des radikalen Entweder/Oder. Er pflegt mit existentialistischen Bestimmungen zu beginnen, doch am Ende resultiert seine Überlegung stets in einem Sowohl-Als auch“ (23). Insbesondere an Tillichs Machtverständnis, seiner Einheitsfixierung, der Ontologie sowie der geschichtsphilosophischen Konstruktion der Christologie zeigt K. auf, wie dessen Existenzdenken ins Allgemeine umschlägt. Tillichs engem Freund Emanuel Hirsch ist das zweite Kapitel Nationalsozialistische Existenztheologie gewidmet (46–59). Anders als Tillich war Hirsch, einer der bedeutendsten Theologen des 20 Jahrhunderts, überzeugter Nationalsozialist. Wie kein anderer hat er sich mit dem Werk Kierkegaards beschäftigt. Doch seine Deutung des Dänen setzt sich von Anfang an von dessen radikalem Nonkonformismus ab (vgl. 47–49). Hirschs Inanspruchnahme Kierkegaards verkehrt diesen, indem er durchgehend eine „Kollektivierung der Existenzkategorien“ (57) betreibe. Auch bei ihm kommt es ähnlich wie bei Tillich, wenn auch mit anderen Vorzeichen und politischen Optionen, zu einem Vorrang des Kollektivs. Unter der Überschrift Karl Heim: Der Wunsch nach Identifizierbarkeit des göttlichen Willens diskutiert das dritte Kapitel einen weiteren Tillich-Bekannten (60–82). Beide kannten sich aus Halle. Vor allem der junge Tillich hat sich mit Karl Heim, der in den 1920er und 1930er Jahren zu den bekanntesten Theologen Deutschlands gehörte, mehrfach mit dessen apologetischer Theologie auseinandergesetzt. Auch der in Tübingen Systematische Theologie lehrende Heim bezieht sich in seiner apologetischen Theologie auf Kierkegaard und nimmt dessen Existenzdenken in einer Weise auf, die es in sein Gegenteil verkehrt. Deutlich wird das in seiner apologetischen Konstruktion der Theologie, die die Selbstdeutung des Menschen, die im Rückgriff auf die moderne Philosophie ausgearbeitet wird, in einer Aporie enden lässt, aus der der Sprung in den Glauben an Christus befreit. Die Ausarbeitung dieser Christologie kippt indes in eine Affirmation des Zeitgeistes um (vgl. 80f.). Zwar hebe Heim „die Torheit der Nonkonformität des Christseins nicht auf, schließt sie aber mit einer sinnlich daseienden Möglichkeit kurz, deren Ewigkeitsdimension sie existierend bezeugt“ (70).
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Um den in Jena und Königsberg lehrenden systematischen Theologen Hans Michael Müller geht es im vierten Kapitel Nachmetaphysische Theologie – nationalsozialistisch (83–120). Ähnlich wie Karl Barth löst der an den Jenaer Philosophen Eberhard Grisebach anknüpfende Müller den Willen Gottes von jeglicher Anbindung an innerweltliche Zweckgedanken ab. Hieraus ergibt sich – ähnlich wie bei Barth – eine theologische Konzeption, die „die existentielle Aneignung der Glaubenswahrheit christlicher Offenbarung so radikal“ fasst, „dass sie gegen alle ideologische Fernnutzung der Religion für Wunscherfüllungsphantasien verzweifelter Sinnsucher immunisiert und abgehärtet wird“ (83f.). Doch indem auf diese Weise der Glaube als radikale Kritik am Wunschdenken verstanden wird, wird der Weg für die nationalsozialistische Option und deren Affirmation geöffnet. Eindringlich rekonstruiert K. die Diastasen-Theologie des heute kaum noch bekannten Müller, die sich auf der Höhe der zeitgenössischen Debatten bewegt. Im fünften Kapitel Aufhebung der Theologie geht es mit Gerhard Kuhlmann um einen weiteren Jenaer Schüler Grisebachs (121–137). Kuhlmann, der in Jena auch Kontakte mit Friedrich Gogarten knüpfte und 1927 in Erlangen mit einer Arbeit über Paul Tillich und Friedrich Brundstäd promoviert wurde, ist heute kaum noch bekannt. Ähnlich wie Müller geht er von einer für den Menschen konstitutiven Intentionalität aus, „die sich und die Welt zur Einheit formen will und damit unvermeidlich auch die anderen im Zeichen dieser Einheit vereinnahmen muss (133). Demgegenüber versteht er den Glauben als Radikalkritik dieser Intentionalität. „Das Grundproblem der Theologie sei nicht als eines der eigenen Existenzerfassung zu beschreiben, sondern als das einer situationsbezogenen Erfahrung der Begrenzung durch den ‚Anderen‘.“ (124) Die Transzendenz des Anderen, der sich der eigenen Intentionalität und Verfügungsgewalt entzieht und diese radikal in Frage stellt, nimmt Kuhlmann im Anschluss an Grisebach und Gogarten zum Ausgangspunkt einer theologischen Konzeption, die sich auf die Kritik an Vereinahmungsstrategien beschränkt (vgl. 131) und damit als Kritik der Theologie ausgearbeitet wird. Das abschließende sechste Kapitel Der Kierkegaard-Impuls – Abschied vom Protestantismus ist Eric Peterson gewidmet, der 1930 zum römischen Katholizismus konvertierte (138–145). In den Fokus seiner Darstellung rückt K. dessen 1933 erschienene Schrift Die Kirche aus Juden und Heiden, die sich durch einen massiven theologischen Antijudaismus auszeichnet. Eine „Vollendung der Welt am Ende der Zeiten“ sei „nur mit den Juden und nicht ohne sie vorstellbar – vorausgesetzt, sie bekehren sich zu Christus“ (141). Das sind inklusivistische Argumentationsfiguren, die auch in der Gegenwart noch in solchen Theologien benutzt werden, die sich um eine Anerkennung des Judentums bemühen. K.s Buch bietet einen facettenreichen Überblick über die theologischen Debatten um 1933, der sich einer moralischen Wertung enthält. Ihm geht es um das intellek-
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tuelle Niveau dieser theologischen Konzeptionen im Bannkreis des Nationalsozialismus. Nachgegangen wird der Frage, wie „auch sehr kritische Geister in diesen Sog geraten können, und welche Rolle dabei traditionelle religiöse und kirchliche Denkmuster spielen“ (147). Vor dem Hintergrund der Kierkegaard-Rezeption dieser Theologen ist das auf eine erhellende Weise gelungen.
Christian Danz
Samuel Andrew Shearn: Pastor Tillich: The Justification of the Doubter (Oxford Theology and Religion Monographs). Oxford 2022. 272 p. Samuel Andrew Shearn’s dissertation, now published, aims to examine „the emergence of the justification of the doubter in [Tillich’s] early writings, up to the end of his service as a chaplain in the First Word War, with special reference to his early sermons“ (3). The main questions of the book are: „Where did Tillich ‘land’ theologically after the war? And how did he get there?” (ibid). As a framework for his analysis of Tillich’s early writings, the author uses the idea of the doubter’s justification as presented in the 1919 draft, Justification and Doubt. Corresponding to the various stages of Tillich’s life, the results of the analysis of the sermons, correspondence, and early scholarly works are contrasted with the later version to trace the development of the justification of the doubter. S. notes that by considering the relationship between faith and doubt as „the issue at the heart of this book,“ the question is raised of „what it means to be a Christian in a ‘secular’ age“ (ibid). He also states that the answers he gives „are not programmatic but historical“ (ibid). The book is divided into ten chapters. At the beginning of Chapter 1, Introduction (1–15), stands a confrontation of Luther’s doctrine of justification with the conditions of modernity and the associated „doubt about the truth of the Christian faith or even the reality of God“ (1f.). S. then remarks „Tillich’s notion of the justification of the doubter is a pastoral intervention to console the doubter’s despair“ (2). In the ensuing discussion of the state of research, S. states, that Tillich’s biography plays a crucial role for understanding his early development (cf. 4). Therefore, with the exception of Chapter 10, Conclusion (212–222), each chapter begins with a biographical sketch. S.’s study is distinguished by locating „Tillich more clearly within his modern-positive milieu, including the influence of his father, Johannes Tillich“ and by considering the early sermons (9). Presenting Tillich as a pastor alongside his academic career promises a better understanding of the development of his early thought.
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In Chapter 2, Justification and Doubt (16–30), S. seeks to provide a „‘snapshot’ of Tillich’s position in 1919 on this theme, of how he landed after the war“ (18). The findings of the study show that Tillich seeks to unify religion and culture through a unifying theological principle. The latter „‘can only present itself in the tension’ of“ an abstract and a concrete moment (19). Of particular interest is Tillich’s engagement with Karl Heim. S. points out that the problem of Heim’s idea of a concrete absolute is its inherent Christocentrism, which makes a justification of the radical doubter impossible. Furthermore, it should be mentioned that Tillich wants to extend the doctrine of justification from ethical conscience to intellectual conscience. This is to conceive of doubt as a kind of faith: „The good news for the despairing doubter is thus analogous to the good news for the despairing sinner: If the sinner is justified by faith, not by ethical works, then the doubter is justified, not by intellectual works, like the work of proof or the work of trying to believe.“ (30) Tillich’s years of study are the main subject of Chapter 3, Defense, Doubt, and Gracelessness (1904–9) (31–55). Based on autobiographical sources, S. discusses Tillich’s relationship to his father, to liberal theology, to Kähler and his doctrine of justification by faith, to the confessional controversy in the Wingolf fraternity, and lastly, the relation between theology and philosophy. S. points out, that in his autobiography Tillich stages himself as siding „with liberal theology against his father’s confessional heteronomy, and against the dogmatic attempt to ignore historical criticism.“ (35) Further Tillich writes, that he owes his breakthrough concerning the justification of the doubter to the influence of Martin Kähler. Elsewhere, however, he distances himself from Kähler as one of „the conservative mediating theologians“ (37). The next section on Johannes Tillich and the Prussian church paints a vivid picture of Tillich’s family background. Drawing on archival material, S. shows „how heavily his father was embroiled in defending the positive cause“ (39). Then S. corrects Tillich’s autobiographical narrative by consulting archival material, following up on the themes discussed in the examination of autobiographical sources: While Johannes Tillich „was formulating Christological red lines at the Brandenburg Provincial Synod of 1906 [...] to cleanse the church of the liberal scourge“, his son did so „at the 1906 Chargiertenkonvent, with the aim of causing the liberals to leave Wingolf“ (43). Based on the correspondence between father and son, it appears that Tillich distanced himself from Kähler, who he refers to in the autobiography „as his most significant teacher“ (51). Thus, in his autobiographical writings, Tillich seems to forget the conservative roots from which he actually came. Chapter 4, Overcoming Despair (Lichtenrade 1909) (56–74), focuses on Tillich’s earliest sermons. S. remarks that „from the sermons [we learn] that the heady cocktail of Tillich’s moralistic and self-examining pietistic spirituality, the doubt fostered by his theological and philosophical studies, and the praxis-shock of now embodying
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the role of a pastor, drove Tillich [...] to despair as he wrestled for assurance of salvation“ (58). Examination of the early sermons demonstrates how Tillich struggles „to articulate an account of assurance which does not result in endless deferrals between the subject and object of faith“ (62). Worth noting is the excursus on severity and disability in which S. describes how Tillich preaches to „patients at a home for people with mental illnesses“ (62) that „the solitude of the mentally ill is ‘a gift of God’ and a chance for spiritual growth“ (63). S. goes on to discuss two sermon drafts for Sunday, May 31, 1919. The first presents doubt as an obstacle to faith resulting from sin. In the second version, the „apparently inevitable cycle of judgement is interrupted when the voice of the Crucified one removes the demand to do anything or believe anything to be true“ (70). The turn from justification of the sinner to justification of the sinner and the doubter can be seen as a milestone in Tillich’s early development. During his brief time in Lichtenrade, Tillich changed his attitude toward divine pedagogy, emphasizing instead „the dark tragedy“ of the mentally ill (74). Chapter 5, Schelling and History (1909–11) (75–103), is mainly concerned with the questions: „Why on earth did Tillich care about Schelling? What was Schelling doing for Tillich?“ (76) To answer these, it is crucial to understand the theology of Tillich’s teachers Adolf Schlatter and Wilhelm Lütgert. Both take an anthropocentric standpoint and construct a theology of experience from there. What Schelling, Schlatter, Lütgert, and Tillich have in common is that they conceive of the history of revelation as a medium of explication of God (cf. 80f.). Furthermore, in his philosophical doctorate, Tillich develops a doctrine of „redemption from doubt“ insofar „as the sublation of doubt is the end of doubt and thought’s rest“ (88), while his theological doctorate bears witness to a Christological turn in which the cross becomes the culmination of sin and grace (cf. 94f.). S. then discusses Tillich’s conception of certainty and the historical Jesus against the background of „Wilhelm Herrmann’s notion of an evangelical image of Jesus“ (97). S. states that Tillich „has moved from the denial of religious certainty through history to the affirmation of knowledge as a self-certainty, which means the autonomy of the subject against all laws“ (98). Returning to Tillich’s sermons in Chapter 6, The Prodigal Doubter (Nauen 1911– 12) (104–125), S. demonstrates how Tillich developed a „law-gospel dialectic“ (105). Furthermore, it is clear that Tillich takes a Christological approach to the doubter’s assurance of salvation. Worth mentioning is the ambiguity in Tillich’s preaching, which S. makes visible by contrasting a sermon on the prodigal doubter, which includes liberal thoughts, with a sermon on the relationship between orthodoxy and heresy, in which Tillich condemns liberal theologians who „no longer preach Christ crucified“ (114). S. then illuminates Tillich’s image of the age of doubt as a divine pedagogy in which „spiritual pride, and not doubt“, decides who is ‘of the truth’ (121). A sermon from „just after the parliamentary election“ (121) in January 1912 bears witness
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to a Tillich who interprets the protest of the Social Democrats „as expression of faith’s protest against enslavement“ and „is comparable to his interpretation of doubt as God’s pedagogy“ (124). Tillich’s engagement in practical apologetics alongside his pastoral duties is the main topic of Chapter 7, Convincing the Doubter (Moabit 1912–13) (126–152). The tasks of apologetics are to guide the doubter „from error towards Christian truth“ (132), to overcome the differences between religion and culture, and to take on „the leading role in cultural life“ (133). In discussion of the works of Benoît Mathot and Stefan Dienstbeck, S. debates possible changes in Tillich’s Heim critique between 1913 and 1919, pulling from the Moabit sermons. S. notes that Tillich shares with Heim a Christological emphasis: „Christ is the solution for the doubter, and Christ is presented to the doubter.“ However, while Heim „works with our deepest need“, Tillich also emphasizes „positive experiences“, „for all experience relates to our eternal unity with God, our nearness to him“ (146). Yet in 1919, Tillich accuses Heim’s theology of being inaccessible for non-Christians. This is not the case in 1913, where Tillich preaches Christ as the answer to doubt: Even if „the answer is only accessible to the faithful“ (147). The systematic theology of 1913, which centers on „Christology and the cross of Christ as revelation of the absolute grace of God“ (157) is discussed in Chapter 8, Doubt and System (1913–14) (153–181). After an overview of the structure of the early systematics, S. delves into apologetics, noting that Tillich aims to „develop a theory of thought as grounded in the concept of truth“ (161). Because „doubt is always also a relation to truth“, it advances to a necessity for faith, insofar as it demonstrates „the inability of reflection to reach the absolute“ (164). Therefore, doubt is justified because it is „both negated and affirmed absolutely and unconditionally“ (170). The consequence is that Christ as historical certainty remains under doubt: „Christ sacrifices his cultural sphere, i.e. his historical recognizability, such that faith in him must entail historical uncertainty“ (172). This leads to a universalization of justification. Finally, S. returns to the question of whether Tillich’s critique of Heim changed between 1913 and 1919 by asking: Is the systematics an ‘intellectual work’? On the one hand, it seems that Tillich „sees Heim’s theology as a genial (but failed) attempt to overcome doubt“ (177) in 1913, just as he did in 1919; on the other hand, it is not clear why „Tillich found his early systematics embarrassing, i.e. an ‘intellectual work’ [...] analogous to ethical works-righteousness“ (181). Chapter 9, Tillich at War (182–211), is divided into two parts: first, Tillich’s sermons addressed to doubting soldiers and second, his correspondence with Hirsch in 1917–18. Tillich’s war sermons were written under special circumstances, as it was part of the soldiers’ service to attend field services. Therefore, Tillich „addresses his
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soldiers as men of faith and doubt“ (184). Doubt becomes „a dangerous subject“ because it would be detrimental if the soldiers doubted the „word of God’s wonderful providence leading Germany to victory and a new era of European maturity“ (184). Furthermore, Tillich preaches the justification of the soldiers „by their military service, their sacrifice“ (187f.). „[D]oubt on account of suffering“ becomes the dominating theme in the war sermons (189). In the theological letters of 1917–18, Tillich mentions faith without God for the first time. S. discusses Hirsch’s reservations about Tillich’s concept of God, including „Hirsch’s call to submission instead of egocentricity and Tillich’s principle of autonomous immanence instead of bowing to authority“ (203). The contrast between the „high level of abstraction“ of the correspondence and the pastoral concerns in the war sermons underlines „the impossibility of ever fully capturing Tillich“ (207). In Chapter 10, Conclusion (212–220), S. traces „significant themes across all the chapters, offering an overall characterization of Tillich’s development and discovery of the justification of the doubter“ (212). The themes selected are „the grace of God, faith and reason, rejecting an intellectual work, and doubt as a kind of faith“ (212). S. then discusses the applicability of the justification of the doubter in relation to twentyfirst century problems: „First in chastening tendencies of evangelical apologetics (driven by shame) after the end of Christendom, critiquing the fostering of over-confident, muscular Christianity marked by a habit of intellectual or cultural mastery. Second in levelling and overcoming and undermining those performances of religious identity which obscure a shared human predicament.“ (221). Overall, S. offers a concise study that is exciting to read and insightful into Tillich’s life and thought, finally presenting Tillich’s pastoral beginning against his modern positive background. S. notes that his book is primarily concerned with Tillich’s sermons, which have received no attention in previous research, yet it would have been appreciated if S. did not rely so heavily on the findings of other researchers in the sections on Tillich’s academic works, but instead provided new impulses for the early academic works by drawing on the results of the sermon analysis. But this is not what S. set out to do; rather, the goal was to make Tillich’s pastoral side visible, and he has succeeded admirably. Thus Pastor Tillich can be warmly recommended to anyone interested in Tillich’s early development. The work is a milestone in the research not only of Tillich’s early work, but also of his early life.
Emil Lusser
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Marc Dumas / Marc Boss / Benoit Mathot (Éds.), Paul Tillich and Paul Ricœur en dialogue. À Werner Schüssler, pour son 65e anniversaire (= Tillich Research / Tillich-Forschungen / Recherches sur Tillich, ed. by Christian Danz, Marc Dumas, Verna Ehret, and Werner Schüssler, Vol. 22), Berlin/Boston Walter de Gruyter, 2022, IX, 284 pp. The objective of this collection of essays is to put Ricœur’s and Tillich’s works into dialogue, while comparing their philosophical positioning about the following themes: Evil, God, and the ethics of courage (Part I), theories of symbol (Part II), politics (Part III), and interdisciplinary dialogue (Part IV). This objective has been remarkably achieved. Indeed, it was not self-evident to identify promising themes for comparing the works of a hermeneutic philosopher and those of a theologian and philosopher of religion and culture. This book is the Proceedings of the 2019 Symposium of the “Association Paul Tillich d’Expression Française” (APTEF). The Part I of the book (six chapters) is structured by the interconnectedness of Evil, existential finitude, and responsibility. The Part II (four chapters) analyzes symbols, images, and the religious. The Part III of the book (four chapters) deals with the theologico-political, utopia, love, power, and peace. In the Part IV of the book (three chapters), interdisciplinary issues are addressed, particularly between psychoanalysis and hermeneutics, or between philosophy and theology. So, this excellent book hopefully contributes to better understand convergences and divergences between Tillich’s and Ricœur’s intellectual work. I have chosen few themes and chapters to show how editors have succeeded in this enormous task. However, I must say that the Heideggerian influence on Ricœur and Tillich has not been deepened, although it should have been fruitful to do so. In some ways, I have adopted a Heideggerian perspective, when reading the book and writing the present review. Evil: Whether the question of Evil is related to God or to the demonic, it remains an existential questioning that is intrinsically linked to the awareness of existential finitude, and then to the courage to be, in spite of the non-being. In his enlightening chapter about God and Evil (Part I), Werner Schüßler analyzed the basic components of the question of theodicy. In Tillich’s works, the experience of suffering makes human beings become aware of their existential finitude. Schüßler rightly suggested that such argument looks like Jaspers’ limit-situations. Moreover, he unveiled the absence of natural evil in Ricœur’s and Tillich’s works. It is crystal-clear that Tillich considered physical and moral evil as the true focus of theodicy (Systematic Theology. I, 1951). But natural evil was not an integral part of the global picture. In her chapter about the question of Evil (Part I), Gabriella Iaione examined how Tillich’s analysis of existential finitude may be convergent with Ricœur’s phenomenological description of fallibility. However, she argued that Ricœur’s notion of practical wisdom looks like Buddhist wisdom. Such assertion is questionable. It depends on the Buddhist school
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of thought she was referring to. In Buddhism, wisdom is generally considered as the right understanding of reality. In some schools of Mahayana Madhyamaka Buddhism, conventional (observable) reality is acknowledged as existing. It is not inexistent. But it is intrinsically linked to absolute reality (voidness). Voidness mirrors the insubstantiality, impermanence, and interdependence of every self and phenomenon. This is clearly not the notion of practical wisdom Ricœur had in mind, particularly in Soimême comme un autre (1990). Finitude: In his chapter about existential finitude and responsibility (Part I), JeanPaul Niyigena dealt with Ricœurian and Tillichian notions of finitude and responsibility. He shortly described the way Heidegger unveiled the positive aspects of existential finitude: being existentially finite makes people available for deepening the question of Being. Niyigena concluded that neither Ricœur nor Tillich accepted Heidegger’s ethical neutrality (see: Heidegger, Being and Time, section 5). Unlike Heidegger, both philosophers have developed an ethics that took existential finitude into account. However, both Ricœur and Tillich endorsed the Heideggerian notion of “thrownness into existence” (Heidegger, Being and Time, sections 29, 38 and 44; see: Tillich, Systematic Theology. I, 1951). In Temps et récit (I, 1983; III, 1985) and in La mémoire, l’histoire et l’oubli (2000), Ricœur criticized Heidegger’s hierarchized levels of temporalization: fundamental temporality (Being-towards-death), historiality (as the ontological ground of History), and within-time-ness. Authenticity, inauthenticity, and the undifferentiated mode of Being (neither authentic nor inauthentic) are grounded in those temporalizations of temporality (Heidegger, Being and Time, sections 61 and 65). Ricœur (Temps et récit. I, 1983; III, 1985) interpreted Heidegger’s temporalizations of temporality as the existential finitude opening the way to the unsurpassable end, and thus, to Being-towards-death. Ricœur (Temps et récit. III, 1985) clearly stated that Heidegger’s notion of anticipatory resoluteness merges both resoluteness (as authentic Being-one’s-Self) and Being-towards-death (Heidegger, Being and Time, sections 60 and 62). The temporalization of the authentic future is realized through anticipatory resoluteness (Heidegger, Being and Time, section 65). Anticipatory resoluteness then becomes the ultimately authentic decisiveness towards one’s death-to-come, said Ricœur (Temps et récit. III, 1985). Tillich believed that the Heideggerian notion of resoluteness mirrors the way “an existing subject resolves the impasse of existence” (Systematic Theology. III, 1963), and more precisely, the “unlocking what anxiety, subjection to conformity, and self-seclusion have locked” (Courage to Be, 1952). Tillich understood that the Heideggerian notion of resoluteness gets rid of any authority, social convention and norm, law of reason, and even of God. The call of conscience is then “the call to ourselves”, said Tillich. Faith in God radically changes the whole approach to any “impasse of existence”. In “La philosophie et la spécificité du langage religieux” (1975) and “Expérience et langage dans le discours
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religieux” (1992), Ricœur referred to three basic definitions of faith: ultimate concern (Tillich), feeling of absolute dependence (Schleiermacher, The Christian Faith), and unconditional confidence (Barth, The Epistle to the Romans; Bultmann, Faith and Understanding). Tillich developed the notion of ultimate concern in taking the Kierkegaardian infinite passion into account (Systematic Theology. I, 1951). He interpreted the Kierkegaardian notion of infinite passion as an existential attitude, that is, an infinite concern for one’s existence and eventually for the Infinite (The Courage to Be, 1952). While Ricœur looked at temporality and its effects on narrativity and existence, Tillich was much more concerned with existential decisiveness, ultimate concern, and faith. In Niyigena’s approach of finitude and responsibility, it would have been helpful to deepen the themes of temporality and authenticity, given the Heideggerian influence on Tillich and Ricœur. Courage to be. In his chapter about the courage to be (Part I), Olivier Abel has analyzed the ontological grounds of anxiety, as they are described by Tillich (influenced by Schelling) and Ricœur (following a Kantian and Kierkegaardian path). Abel meticulously described the way Tillich identified the existentialist orientation of the courage to be oneself and the mystical orientation of the courage to be as a part (Tillich, The Courage to Be, 1952). He rightly compared Tillich’s perspective with Ricœur’s viewpoint about the Stoic courage (refusing any inner/external phenomenon that threatens the self) and the Orphic courage (blind acceptance of everything that could even affect the self) (Ricœur, Le volontaire et l’involontaire, 1950). In her chapter dealing with the courage to be in the face of death, Cécile Furstenberg examined how Ricœur and Tillich understood anguish in the face of death. She argued that Ricœur opposed the Heideggerian Being-towards-death. However, such philosophical positioning is not deepened. Nonetheless, Ricœur had developed his own arguments against Being-towards-death that cannot be mixed with Levinas’ or Sartre’s arguments. In Soi-même comme un autre (1990), Ricœur criticized the way Heidegger (Being and Time, sections 30 and 40) dealt with fear and anxiety (and thus with Beingtowards-death). In “L’homme comme sujet de la philosophie” (1988), Ricœur explicitly endorsed Heidegger’s notion of Being-in-the-world as the ontological ground of corporeality. Ricœur argued that Heidegger was unable to develop any phenomenology of flesh and suffering (even from an existential perspective) because of his temporality of spatiality (Being and Time, section 70). The Ricœurian understanding of Jaspers’ “limit-situations”, including fault, suffering, and death (“Herméneutique de l’idée de révélation”, 1977; La mémoire, l’histoire, l’oubli, 2000), would have opened the way to a deeper analysis of existentiality. Tillich rather focused on the affirmation of one’s death as the true “test of courage” since death is the most radical expression of existential finitude. Here, Tillich acknowledged that the Lutheran courage to face
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death is grounded on the “acceptance into communion with God” rather than on any belief in immortality (Courage to Be, 1952). Images and symbols. In his chapter about phenomenological hermeneutics of images (Part II), Étienne Higuet analyzed Tillichian hermeneutics conveyed in his theology of culture. Higuet also examined the Ricœurian hermeneutics of symbolic images. He made the point that the interpretation of symbols may never be isolated from texts since texts mediate and strengthen self-understanding as well as the understanding of others. In “Le symbole donne à penser” (1959), Ricœur agreed with Heidegger that any philosophical interpretation of symbols makes the interpret create an “existentiale” and thus enounce the ownmost potentialities of Dasein. Higuet asserted that Ricœur’s phenomenological hermeneutics took the Heideggerian notion of understanding into account. The Ricœurian notion of interpretation allows readers (as interprets of the text and of their own self: the Proustian influence on Ricœur should be noted, at the very least in Temps et récit) to undertake their Being-in-the-world in front of the world-text. In “Le modèle du texte: l’action sensée considérée comme un texte” (1971), Ricœur agreed with Heidegger (Being and Time, section 34) that the understanding of discourse is a project to renew one’s Being-in-the-world. Ricœur argued that understanding precedes and envelops explanation, while explanation analytically develops understanding. So, understanding requires “fore-understanding” (“Logique herméneutique?”, 1981; “Herméneutique et symbolisme”, 2006). Ricœur was influenced that Heidegger’s notion of understanding: understanding is then a dialectical response to the being-in-situation since it projects possibilities-to-be into one’s existential situation. Ricœur applied this notion to the world that is proposed by the text (the “world-text”). The world-text makes the reader reinterpret his/her own self and world (“La tâche de l’herméneutique”, 1972–1973; “La fonction herméneutique de la distanciation”, 1975; “Herméneutique de l’idée de révélation”, 1977; “Herméneutique de monde du texte”, 2006). However, Ricœur criticized the way Heidegger made understanding an ontological concept: understanding is then inherently linked to Dasein’s Being. It is a mode of being rather than a way of knowledge (“Existence et herméneutique”, 1965; “Logique herméneutique?”, 1981; see Heidegger, Being and Time, section 31). In “Phénoménologie et herméneutique: en venant de Husserl” (1975), Ricœur rightly seized that the Heideggerian question of the meaning of Being, as an ontological and phenomenological question, precedes any hermeneutic questioning about the “hidden” meaning, that is the forgotten meaning throughout the history of Western philosophy. However, Ricœurian hermeneutics is basically oriented towards readers’ reinterpretation of their selves, when being in front of the text. It is deeply concerned not only with texts, but also with actions as quasi-texts (“Expliquer et comprendre”, 1977; Temps et récit. I, 1983). Actions as quasi-texts may be read and re-read, interpreted and re-interpreted. In “Le modèle du texte: l’action
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sensée considérée comme un texte” (1971), Ricœur compared the autonomy of the text towards his/her author, on one hand, and the autonomy of the action towards his/her agent, on the other hand. Higuet argued that Tillich has develpped a religious phenomenology of culture based on Husserl’s phenomenology. Indeed, Tillich clearly referred to Husserl’s Ideas, when defining the phenomenological method. But Tillich explained that the phenomenological method “is only partially competent in the real of spiritual realities like religion” (Systematic Theology. I, 1951). In his excellent chapter about the phenomenological hermeneutics of images, Higuet has not taken “actions as quasi-texts” seriously. Moreover, he should have analyzed Tillich’s critique of the phenomenological method, when applied to religion. Theonomy and the “theologico-political”. In his chapter about the ambivalences of the “theologico-political” (Part III), Marc Boss remarkably described the Tillichian concept of theonomy as “the experience of the paradoxical immanence of religion into culture”. A theonomous conception of the theologico-political is grounded on a theology of culture, and thus on the unity between religion and culture, although such unity may be paradoxical. Boss even unveiled Tillich’s critique of anarchistic socialism, and then the way Tillich endorsed religious socialism. Boss also analyzed how Ricœur’s critique of political power was sociologically and philosophically grounded. In his chapter on power and peace (Part III), Matthew Lon Weaver rightly considered that the Tillichian world-self correlation was closely related to Heidegger’s notion of world. Nonetheless, Heidegger (Being and Time, section 14) described world as a characteristic of Dasein, and thus as an existentiale. In his Systematic Theology (vol. I, 1951), Tillich dealt with the “self having a world”. But Heidegger had a very different approach. If human being “has” an environment, the object of philosophical questioning is the meaning of this “having”. Heidegger (Being and Time, section 12) clearly stated that the “having” is grounded on the “Being-in”. “Having a world” is thus rooted in the Dasein’s Being-in (Being-in-the-world). In “Heidegger et la question du sujet” (1968), Ricœur explained that Heidegger’s distinction between the existential (ontological) and the existentiell (ontic) mirrors the interconnectedness between the ontologically based decisiveness towards possibitities-to-be (as an integral part of the structures of existence) and its actualization for an existing being. Ricœur believed that Heideggerian notions of care, anxiety, and Being-toward-death convey an ontological reflection about the worldliness of the world. Those notions do not have any psychological or anthropological dimension. The object of reflection is Dasein’s Being, not human being as such (“La tâche de l’herméneutique”, 1972–1973). Nonetheless, the being who is concerned with Being itself “experiences” his/her own existence as care (“as the general character of existence”), anxiety (“as the relation of man to nothingness”), and resoluteness, said Tillich (“Existential Philosophy: Its Histori-
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cal Meaning”, 1944). Such “experience” may only be ontically grounded. The way Being-in-the-world is open to the worldliness of the world is not a psychological phenomenon, but rather an existential structure. It precedes the awareness of this worldliness (“Préface aux Essais hérétiques”, 1981). Ricœur agreed with Heidegger’s argument that “we are ourselves the entities to be analyzed. The Being of any such entity is in each case mine” (“Individu et identité personnelle”, 1987; Heidegger, Being and Time, section 9). Ricœur interpreted such Heideggerian mineness as reflecting something universal. Without the term “in each case mine”, Dasein would not be an ontological category (Soi-même comme un autre, 1990). In his chapter about power and peace, Weaver would have benefited from describing Tillich’s and Ricœur’s interpretation of havingness and worldliness, as they follow from Heidegger’s works. Psychoanalysis, hermeneutics, and existentialism: In his excellent chapter, Benoit Mathot has very well described the grounds of Tillich’s existentialist and Ricœur’s hermeneutic approaches of psychoanalysis. He explained how Tillich’s existentialist approach of psychoanalysis was not welcome among many psychoanalysts. Indeed, Tillich was not clear about the frontiers between psychoanalysis and psychotherapy. In his “American period” (1933-1965), Tillich was in touch with various representatives of humanistic psychology, such as Carl Rogers and Rollo May. But, more importantly, Tillich analyzed existentialism from an historical and philosophical viewpoint, when discussing the nature of psychoanalysis. He believed that Pascal’s philosophy was “the first existentialist analysis of the human situation”. Although Tillich asserted that “Sartre is the psychological interpreter of Heidegger”, he made the point that Sartre and Heidegger have been unable to eradicate essentialism from their own philosophical discourse. Tillich saw that the Heideggerian attempt to define authentic and inauthentic existence (in Being and Time, 1927) inevitably develops essentialist assertions (“The Theological Significance of Existentialism and Psychoanalysis”, 1955). According to Tillich, although Heidegger tried to define humanism in an existential way (particularly, in his Letter on Humanism, 1946), he needed essence to talk about something existentially based. Mathot’s chapter shed new light on the way Tillich adopted an existentialist approach, when dealing with psychoanalysis. He has opened fascinating ways for future research about psychoanalysis and existentialism, particularly in Tillich’s works. Finally, in Paul Tillich and Paul Ricœur en dialogue, editors (Marc Dumas, Marc Boss and Benoit Mathot) have opened the way to numerous opportunities for future research, either on Ricœur’s or on Tillich’s works. Moreover, they have identified potential and fruitful crossroads between hermeneutic philosophy, theology of culture, and philosophy of religion. This is a huge achievement.
Michel Dion
Tillich Bibliography edited by Werner Schüßler In addition, see at the following address the online Tillich Bibliography that Werner Schüßler assembled, and that he continually updates: http://www.dptg.de
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2. Collected and Edited Volumes Boss, M. / Dumas, M. / Mathot, B. (Éds.), Paul Tillich et Paul Ricœur en dialogue. À Werner Schüssler, pour son 65e anniversaire (= Tillich Research / Tillich-Forschungen / Recherches sur Tillich, ed. by C. Danz / M. Dumas / V. Ehret / W. Schüßler, Vol. 22), Berlin/Boston 2022. Danz, C. / Schüßler, W. (Hrsg.), Paul Tillich in der Diskussion. Werkgeschichte – Kontexte – Anknüpfungspunkte. Festschrift für Erdmann Sturm zum 85. Geburtstag (= Tillich Research / Tillich-Forschungen / Recherches sur Tillich, ed. by C. Danz / M. Dumas / V. Ehret / W. Schüßler, Vol. 23), Berlin/Boston 2022.
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Contributors List Fábio Henrique Abreu Ph. D., Postdoc, Institut für Systematische Theologie und Religionswissenschaft, Evangelisch-Theologische Fakultät der Universität Wien, Austria Benjamin J. Chicka Ph. D., Lecturer, Philosophy and Religious Studies, Curry College, USA Christian Danz Dr. theol. habil., Professor für Systematische Theologie, Evangelisch-Theologische Fakultät der Universität Wien, Austria Michel Dion D. théol., Professeur titulaire, Faculté d’administration, Université de Sherbrooke, Sherbrooke, Canada Martin Fritz Dr. theol. habil., Priv.-Doz. für Systematische Theologie an der Augustana-Hochschule, Neuendettelsau, Wissenschaftlicher Referent an der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen, Berlin, Germany Dirk-Martin Grube Ph. D., Professor of Ethics, Faculty of Religion and Theology, Vrije Universiteit Amsterdam, The Netherlands Emil Lusser MTh, Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Institut für Systematische Theologie und Religionswissenschaft, Evangelisch-Theologische Fakultät der Universität Wien, Austria Benoît Mathot D. Theol., Professeur, Facultad Eclesiástica de Teología, Pontificia Universidad Católica de Valparaíso, Valparaíso, Chile Gerrit Mauritz M.A., Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Institut für Systematische Theologie und Religionswissenschaft, Evangelisch-Theologische Fakultät der Universität Wien, Austria https://doi.org/10.1515/9783110984729-016
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Jari Ristiniemi Ph. D., Professor, Department of Religious Studies, University of Gävle, Sweden Marc Röbel Dr. theol., Priv.-Doz. für Philosophische Grundfragen der Theologie an der Theologischen Fakultät Trier, Direktor der Katholischen Akademie Stapelfeld, Germany Werner Schüßler Dr. phil. habil., Dr. theol. (CAN), Professor für Philosophie, Theologische Fakultät Trier, Germany Friedrich Schumann MTh, Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Institut für Systematische Theologie und Religionswissenschaft, Evangelisch-Theologische Fakultät der Universität Wien, Austria Erdmann Sturm Dr. theol., Professor a.D., Evangelisch-Theologische Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, Germany Anne-Milla Wichmann Kristensen Ph. D. Fellow, Theology Faculty, University of Copenhagen, Denmark